Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Nehmen Sie bitte Platz . Die Sitzung ist eröffnet .
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich begrüße Sie alle herzlich und rufe unseren Zusatzpunkt 5, den Tagesordnungspunkt 17 sowie den Zusatzpunkt 6 auf:
ZP 5 Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einführung beschleunigter Asylverfahren
Drucksache 18/7538
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({0})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
17 . Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und SPD eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur erleichterten Ausweisung von
straffälligen Ausländern und zum erweiterten
Ausschluss der Flüchtlingsanerkennung bei
straffälligen Asylbewerbern
Drucksache 18/7537
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({1})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Haushaltsausschuss
ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Luise
Amtsberg, Dr . Franziska Brantner, Beate Walter-Rosenheimer, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Rechte von Kindern im Asylverfahren stärken
Drucksache 18/7549
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({2})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist hierfür
eine Aussprache von 96 Minuten vorgesehen . - Dazu
stelle ich Ihr Einvernehmen fest . Dann verfahren wir so .
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Bundesinnenminister Thomas de Maizière .
({3})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Beim Thema Flüchtlinge
erleben wir in unserem Land eine breite, tiefe Bandbreite von Stimmungen und Gefühlen, ja vielleicht eine
Spaltung zwischen Optimismus und Ernüchterung,
Tatendrang und Müdigkeit, Mit- und Gegeneinander,
Akzeptanz und Ablehnung, Gewalt und Versöhnung,
schwierigem Abwägen und einfachen Parolen, Hoffnung
auf Europa und Enttäuschung über Europa . All das ist
kein bloßes Beiwerk zu der großen Aufgabe, an deren
Lösung wir seit Monaten beharrlich arbeiten; es ist für
uns alle Anstoß und Mahnung . Wir werden unsere Verantwortung nach außen nur wahrnehmen können, wenn
wir in unserem Land und in unserer Gesellschaft den Zusammenhalt nach innen erhalten . Die Bundesregierung
tut alles dafür, diese Situation national, europäisch und
international zu bewältigen - unter Achtung unserer eigenen Interessen und mit Achtung gegenüber den zu uns
kommenden Menschen .
Lassen Sie mich ein paar Beispiele von vielen nennen .
Allein in den vier Monaten seit Oktober haben wir die
Zugangszahlen der Menschen aus dem Westbalkan drastisch reduziert . Insgesamt sind die Zahlen der Flüchtlinge
zurückgegangen . Das reicht noch nicht; aber die Richtung stimmt . Wir haben die Digitalisierung des Asylverfahrens geschaffen und geben seit kurzem einheitliche
Ankunftsausweise aus . Damit erhalten wir Klarheit über
die, die zu uns kommen, wo sie hingehören und was sie
können . Doppelzählungen hören auf und Selbstzuweisungen an einen Ort eigener Wahl auch . All das ist auch
für die Sicherheit unseres Landes wichtig .
Wir haben über den Bundeshaushalt massiv in Integration investiert . Auch hier ein Beispiel: In kürzester Zeit
haben wir 8 000 weitere Lehrkräfte für Integrationskurse
zugesagt .
Wir haben das Personal beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge aufgestockt . Seit Oktober wurden
dort 300 000 Nachregistrierungen durchgeführt sowie
Rückstände aus rund 130 000 Altverfahren abgebaut . Mit
fast 50 000 Entscheidungen im BAMF allein im Januar
wurde eine neue Rekordzahl erreicht . Ich weiß, auch hier
ist noch viel zu tun und zu verbessern, aber auch hier
stimmt die Richtung .
({0})
Meine Damen und Herren, mit dem heute vorliegenden Gesetzespaket verbinde ich drei Botschaften:
Die erste richtet sich direkt an die Menschen in unserem Land . Ihnen sage ich heute Folgendes: Wir arbeiten hart dafür, den Flüchtlingszustrom in unser Land
zu begrenzen und zu verringern, vorneweg die Bundeskanzlerin . Die Wahrnehmung von internationaler Verantwortung und das Eintreten für eine europäische Lösung
liegen in unserem nationalen Interesse .
Wir wissen, dass Ihre Bereitschaft zur Aufnahme
von Flüchtlingen auch davon abhängt, wie schnell über
Straftäter, Wirtschaftsflüchtlinge und andere Nichtschutzbedürftige entschieden wird und dass diese wieder
in ihre Heimat zurückgeführt werden . Ja, wir werden
mit den Menschen härter umgehen, die nur behaupten,
Schutz zu brauchen, aber in Wahrheit aus anderen Gründen nach Deutschland kommen oder mit Tricks oder falschen Angaben ihren Aufenthalt in Deutschland zu verlängern versuchen .
({1})
Wir begegnen allen Menschen, die zu uns kommen,
mit Respekt, aber ohne Naivität .
({2})
Wir regeln ein faires Asylverfahren und eine schnellere
Abschiebung der Menschen, die keinen Anspruch auf
Schutz haben .
Die vorliegenden Maßnahmen bilden einen gerechten
Ausgleich zwischen dem berechtigten Interesse an Begrenzung und unseren selbstverständlichen Verpflichtungen gegenüber Menschen, die Schutz brauchen . Es liegt
in der Verantwortung und im Interesse unseres Landes,
so lange wie möglich an Schengen festzuhalten . Das
heißt: Schutz der Außengrenzen und möglichst wenige
Kontrollen innerhalb Europas .
({3})
Wir werden weiterhin für einen europäischen Weg aus
der Flüchtlingskrise kämpfen, solange er auch bei der
Verringerung der Flüchtlingszahlen Erfolg verspricht .
Falls aber einige Länder versuchen sollten, das gemeinsame Problem einseitig und zusätzlich auf den Rücken
Deutschlands zu verlagern, so wäre das inakzeptabel und
würde von uns auf Dauer nicht ohne Folgen hingenommen .
({4})
Meine zweite Botschaft richtet sich an die Menschen,
die in den letzten Monaten in unser Land gekommen
sind . Auch an Sie wende ich mich direkt . Für die große Mehrheit von Ihnen ist es selbstverständlich, sich in
Deutschland, in dem Land, das Sie aufnimmt, anständig
und rechtstreu zu verhalten . Das ist gut, und das müssen
wir alle auch laut gemeinsam sagen .
({5})
Sie erhalten hier ein faires Asylverfahren, und die
Behörden werden so schnell wie möglich prüfen, ob Sie
in unserem Land bleiben können . Wenn Sie aber aus
asylfremden Gründen nach Deutschland kommen oder
versuchen, ohne Aussicht auf Erfolg einen Aufenthalt
zu begründen oder zu verlängern, werden Sie dieses Ziel
nicht erreichen . Wenn Sie versuchen, sich einem geregelten Verfahren an dem Ort zu entziehen, wohin Sie verteilt
werden, oder wenn Sie Ihre Chancen durch Täuschung
verbessern wollen, wird Ihnen das nicht gelingen . Wenn
Sie im Asylverfahren nicht mitwirkungsbereit sind, führt
das zu Nachteilen in Ihren Verfahren .
Für diejenigen unter Ihnen, die aus sicheren Herkunftsstaaten kommen oder sich einem ordentlichen Verfahren
verweigern, führen wir ein beschleunigtes Verfahren ein,
das mit weiteren Auflagen verbunden ist und nach Ablehnung Ihres Antrags in einer raschen Rückführung enden
wird .
Die vollen Asylbewerberleistungen erhalten Sie künftig nur dann, wenn Sie registriert sind und in der Ihnen
zugewiesenen Unterkunft wohnen . Wer sich an die Regeln hält, hat das schnell erreicht . Das gilt - ich wiederhole es - für die große Mehrheit der Asylsuchenden in
unserem Land . Für Sie ändert sich durch das neue Gesetz eigentlich ziemlich wenig . Wenn Ihr Asylantrag aber
rechtskräftig abgelehnt worden ist und es keinen wirklichen Duldungsgrund gibt, müssen Sie unser Land verlassen . Gehen Sie nicht freiwillig, werden die Behörden
Ihre Ausreisepflicht durchsetzen.
({6})
Meine Damen und Herren, Rückführungsversuche
scheitern oft daran, dass medizinische Gründe vorgebracht werden. Häufig wird geltend gemacht, dass die
medizinische Versorgung im Herkunftsland eine Rückführung ausschließt, weil sie nicht dem deutschen Standard entspricht . Auch manche medizinischen Atteste
scheinen nicht wirklich begründet zu sein, vor allem sogenannte Vorratsatteste . Wir regeln jetzt, dass es für eine
Abschiebung eine solide medizinische Versorgung im
Zielstaat geben muss, ausreichend und angemessen .
({7})
Das hohe Niveau der medizinischen Versorgung in
Deutschland muss aber nicht erfüllt werden .
({8})
Die medizinischen Standards in den Herkunftsländern
müssen so sein, dass den Menschen auch nach der Rückkehr gut geholfen werden kann . Gleichheit mit deutschen
Standards können und werden wir aber nicht gewährleisten . Das ist ehrlich, und das ist auch angemessen .
({9})
Meine Damen und Herren, der Gesetzentwurf sieht
außerdem eine Änderung beim Recht auf den Familiennachzug vor; darüber haben wir ja seit einigen Wochen
sehr heftig diskutiert .
({10})
Die Einschränkung des Familiennachzugs mag hart erscheinen .
({11})
- Sie ist hart, einverstanden . - Sie ist aber notwendig, um
eine Überlastung der Aufnahmesysteme in unserem Land
zu verhindern .
({12})
- Hören Sie gut zu! Der nächste Satz wird Sie vielleicht
noch mehr ärgern; aber ich halte ihn trotzdem für richtig . - Wir wollen nicht, dass Eltern ihre Kinder vorschicken, teilweise einer Lebensgefahr aussetzen, um anschließend selbst nachzukommen . Das wollen wir nicht .
({13})
Trotzdem gilt: Wenn es Härtefälle gibt, dann werden
wir sie auch weiterhin besonders berücksichtigen . Das
war ein wesentliches Ergebnis der Gespräche, die der
Kollege Maas und ich, um das Asylpaket II insgesamt auf
den Weg zu bringen, geführt haben . Das Außenministerium und das Innenministerium werden im Einvernehmen
die entsprechenden Entscheidungen treffen .
({14})
Mit der dritten Botschaft richte ich mich an die
Straftäter der Silvesternacht, die Asylbewerber sind . Ihnen sage ich heute klipp und klar: Für Sie ist kein Platz
in Deutschland .
({15})
Es gibt keinen dauerhaften Schutz in unserem Land für
die, die hier erhebliche Straftaten oder bestimmte Straftaten in Serie begehen . Ich sage Ihnen auch: Sie haben Ihre
eigenen Landsleute und Ihre wunderbaren Herkunftsländer in Misskredit gebracht . Sie haben dem Ansehen der
Flüchtlinge geschadet . Sie haben auch die in Deutschland schon lange lebenden Zuwanderer insgesamt der
Gefahr eines Generalverdachts ausgesetzt, was wir jeden
Tag auf den Straßen erleben .
({16})
Und Sie haben den Populisten, Demagogen und anderen
Scharfmachern Futter für ihre einfachen Denkmuster gegeben . All das haben diese Straftäter erreicht .
({17})
Wir haben Ihre Taten jetzt zum Anlass genommen,
das Ausweisungs- und Asylrecht gegenüber kriminellen
Ausländern zu verschärfen . Wir begründen ein schwerwiegendes Ausweisungsinteresse früher als bisher .
Wir werden auch die Anerkennung als Flüchtling, den
Flüchtlingsstatus, bei der Erreichung bestimmter Strafbarkeitsschwellen leichter versagen als bisher . All das ist
eine deutliche Botschaft, nicht nur an die Straftäter in der
Silvesternacht, sondern das ist auch für all die Menschen
mit ausländischen Wurzeln und die vielen Flüchtlinge
wichtig, die sich hier anständig verhalten und die sich
nichts haben zu Schulden kommen lassen . Auch diese
Menschen sind mittelbar Opfer der Neujahrsnacht . Auch
ihnen gegenüber tragen wir eine Verantwortung, die wir
mit diesem Gesetzespaket jetzt übernehmen .
({18})
Meine Damen und Herren, das Asylpaket II und der
vorliegende Entwurf eines Gesetzes zur erleichterten
Ausweisung sind ein harter und wichtiger Schritt eines
langen Weges . Ja, es ist eine Verschärfung des Asylrechts; da muss man gar nicht darum herumreden . Aber
diese Verschärfung ist nötig, und sie ist angemessen . Dieser Gesetzentwurf löst nicht alle Probleme - das hat auch
niemand behauptet -, aber einige wichtige .
Vor uns liegen weitere Aufgaben, vor allem die Reduzierung der Flüchtlingszahlen . Wir brauchen dafür
Zusammenhalt, Ausdauer und Augenmaß . Deutschland
bleibt ein Land mit Herz und ein Land mit Regeln .
Vielen Dank .
({19})
So viel Antrittsapplaus hatten Sie selten, Herr Kollege
Bartsch .
({0})
Das geht auch nicht von Ihrer Redezeit ab . - Der Kollege
Bartsch hat jetzt das Wort für die Fraktion Die Linke .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr
Kauder hat in dieser Woche nach der Regierungserklärung festgestellt:
Das Jahr 2016 wird zu einem Schicksalsjahr für
Europa und damit auch zu einem Schicksalsjahr für
unser Land . Im Jahr 2016 entscheidet sich wie noch
in keinem . . . Jahr zuvor, ob die Europäische Union
in Zukunft in der Lage ist, große Herausforderungen
zu bewältigen . . .
Ich glaube, angesichts der vielen Krisen - die Euro-Krise, das Erstarken nationalistischer Bewegungen und insbesondere die Herausforderungen durch die Flüchtenden - hat Herr Kauder hier recht .
({0})
Diese Herausforderungen - das ist auch völlig klar sind alles andere als leicht, und nicht auf alle Fragen
wissen wir hier die besten Antworten . Eine Aufgabe
sollte für uns alle aber klar sein: Keinesfalls dürfen wir
das vielfältige, ungebrochene Engagement - Herr de
Maizière hat von „Tatendrang“ gesprochen - der Tausenden durch Entscheidungen des Deutschen Bundestages
in irgendeiner Weise konterkarieren .
({1})
Das Engagement der Ehrenamtlichen und auch der Menschen in Behörden müssen und sollten wir unterstützen .
In dieser Situation ist eine Politik gefordert, die sich
durch Gradlinigkeit, Entschlossenheit und Sachlichkeit
auszeichnet und nicht von Stimmungsschwankungen
oder Stammtischen bestimmt wird . Von der Erfüllung
genau dieser Anforderung ist die Bundesregierung meilenweit entfernt .
({2})
In großer Hektik taumeln Sie mit Ihrer Politik durch
das Land und beschließen Sie ein Asylpaket nach dem
anderen . Heute erfolgt die erste Lesung des zweiten
Asylpakets, welches in einer Wahnsinnsgeschwindigkeit
ganz schnell vorgelegt worden ist . Das erste ist bereits
beschlossen, das dritte und das vierte werden folgen . Nahezu wöchentlich gibt es von der Bundesregierung neue
Ideen und Vorschläge . Chaos in der Bundesregierung!
({3})
Sie produzieren damit Zweifel und Ängste, und das ist
der Nährboden für rechtspopulistische Kräfte .
({4})
Offensichtlich ist einigen die humanistische Haltung
abhandengekommen . Ich will das einmal konkret für das
Asylpaket II darstellen: Im November haben die Vorsitzenden Merkel, Seehofer und Gabriel etwas beschlossen .
Dem Vizekanzler musste dann dreimal gesagt werden,
was er beschlossen hat . Danach gab es 27 verschiedene
Pirouetten . Am Ende liegt nun mehr oder weniger unverändert das auf dem Tisch, was im November behandelt
worden ist, und auf einmal muss es diese wahnsinnige
Geschwindigkeit geben . Aus der SPD wurde zehnmal
Nein gerufen, und am Ende haben Sie Ja gesagt . Das ist
so nicht zu akzeptieren .
({5})
Bei all diesem Chaos gibt es dann noch die besondere Partei CSU, deren Vorsitzender von „Herrschaft des
Unrechts“ spricht, Ultimaten stellt und mit dem Bundesverfassungsgericht droht . Das alles ist doch bundespolitischer Wahnsinn!
({6})
Offenbar haben in der CSU einige nicht begriffen, dass es
ein Grundrecht auf Asyl gibt .
Frau Merkel, obwohl Sie jetzt nicht hier sind, fordere
ich Sie auf: Schicken Sie die CSU in ihr Herkunftsland
zurück!
({7})
- Toni, du musst da durch . Ich weiß, das ist hart für dich .
({8})
Meine Damen und Herren, für uns alle muss der Satz
gelten: „Wenn wir jetzt anfangen, uns noch entschuldigen
zu müssen dafür, dass wir in Notsituationen ein freundliches Gesicht zeigen, dann ist das nicht mein Land .“ Dieser Satz sollte für uns alle und immer gelten .
({9})
Aber mit dem Asylpaket II bewegen Sie sich davon
weit weg . Herr de Maizière, das stimmt eben nicht, dass
Sie Probleme lösen . Die wirklichen Lösungen wären
schnelle Integration und Teilhabe, rechtsstaatliche und
zügige Verfahren . Ja, tun Sie das! Aber nehmen Sie vor
allen Dingen auch eine Korrektur der Fehlentwicklungen
beim Wohnungsbau, im Bildungswesen usw . und insbesondere bei der Finanzierung vor . Ihr Petitum ist: Verschärfung, Verschärfung, Verschärfung . Das kann nicht
sein .
({10})
Das Ergebnis wird sein, dass wir unzählige Rechtsstreitverfahren produzieren, dass Behörden und Gerichte zusätzlich belastet werden - von den Belastungen der betroffenen Menschen einmal ganz zu schweigen .
Ganz konkret wollen Sie handeln, indem Sie die Zuzugsbeschränkungen für Familienangehörige, sprich: für
Angehörige der unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge, verschärfen . Nach unserer Auffassung ist das rechtswidrig . Aber vor allen Dingen ist das doch unchristlich,
und es ist auch unmoralisch .
({11})
Sie haben von Respekt gesprochen . Was ist denn aus der
Familienpartei CDU und aus der Familienpartei CSU geworden, meine Damen und Herren?
({12})
Und wo ist der Aufschrei von der SPD geblieben?
({13})
Ich vermute, dass jeder hier im Haus schon mit unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen gesprochen hat .
Auch ich habe das unlängst in Dargelütz, einem kleinen
Dorf in meinem Wahlkreis, gemacht . Das sind erschütternde Gespräche . Da gibt es einerseits Zufriedenheit,
dass die Menschen hier sein können, aber andererseits
eben auch ganz viele Tränen . Da frage ich mich: Was war
denn da in den Kabinettssitzungen? Offensichtlich haben
die SPD-Minister zuerst gepennt und dann doch der inhumanen Regelung der CDU/CSU zugestimmt . Härtefälle,
Herr de Maizière? Jedes Flüchtlingskind in Deutschland,
das auf seine Eltern wartet, ist ein humanitärer Härtefall
und nichts anderes .
({14})
Die Verweigerung des Flüchtlingsnachzugs bleibt grundgesetz- und menschenrechtswidrig .
Ein besonderer Skandal ist der Umgang mit kranken
Flüchtlingen . Das ist eine Schande und unseres Rechtsstaates unwürdig, meine Damen und Herren .
({15})
Künftig soll, ungeachtet der Gefahren für Leib und Leben, abgeschoben werden, wenn ein ärztliches Attest
nicht unverzüglich vorgelegt wurde .
({16})
Das ist allein objektiv an vielen Stellen schlicht unmöglich . Aber noch schlimmer: Fachliche Gutachten und
Stellungnahmen von Psychologinnen und Psychologen
über vorliegende Traumatisierungen sollen im Gegensatz
zu ärztlichen Attests überhaupt nicht mehr berücksichtigt
werden . Ja, im Gesetz steht künftig eine Regelvermutung, nämlich dass keine gesundheitsbedingten Abschiebungshindernisse vorliegen .
Die Verschärfungen sind ein in Paragrafen gegossenes, pauschales behördliches Misstrauen, sowohl gegen
die erkrankten und traumatisierten Flüchtlinge als auch
im Übrigen gegen die behandelnden Ärzte . Hierfür gibt
es überhaupt keine Rechtfertigung .
({17})
Alle Studien zeigen, dass 40 Prozent der Asylsuchenden
Opfer traumatischer Erlebnisse wurden . Wenn wir in die
Länder schauen, zum Beispiel nach Syrien, werden die
Gründe dafür doch deutlich sichtbar .
Lassen Sie mich - obwohl ich weiß, dass das heute
hier nicht behandelt wird - noch eine Bemerkung zu den
sicheren Herkunftsstaaten machen . Es ist doch sehr bezeichnend, dass Sie dieses Thema jetzt hier ausklammern
und warten wollen, bis es vielleicht wieder einen grünen
Ministerpräsidenten in Baden-Württemberg gibt .
({18})
- Es gibt schlechtere Varianten; sagen wir es einmal so .
({19})
Meine lieben grünen Kolleginnen und Kollegen, ich finde es trotzdem inakzeptabel, so zu tun, als ob eine Altfallregelung das aufwiegen könnte . Das geht überhaupt
nicht . Entweder man hat eine Haltung, oder man hat keine Haltung .
({20})
Die drei Länder, um die es geht, sind nun einmal keine sicheren Herkunftsländer . In allen dreien gibt es die
Todesstrafe . In Marokko und Algerien steht Homosexualität unter Strafe . Schwule und Lesben kommen vor Gericht und müssen sogar ins Gefängnis . Diskriminierung
ist in diesen Ländern Gesetz . Ich würde sogar die These
wagen, dass das verfassungswidrig sein könnte .
Meine Damen und Herren, wir brauchen ein anderes Agieren . Wir dürfen nicht zulassen, dass in unserem
Land die Schwachen gegen die Schwächsten ausgespielt
werden .
({21})
Wirksame Maßnahmen zur Integration und Bekämpfung
von Fluchtursachen, das darf nicht nur eine Überschrift
bleiben . Eine soziale Offensive, mit der wir die Zukunft
in diesem Land gestalten, wäre notwendig . In diese Richtung sollten Sie handeln, statt hier falsche Aktivitäten
vorzugaukeln .
Deshalb werden wir als Linke diesem Gesetzentwurf
nicht zustimmen .
Herzlichen Dank .
({22})
Das Wort erhält nun die Kollegin Eva Högl für die
SPD-Fraktion .
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Am 27 . Januar dieses Jahres hat die Schriftstellerin Ruth Klüger in diesem Haus eine bemerkenswerte Rede gehalten .
({0})
Sicherlich erinnern sich viele von Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen, noch an den Schluss ihrer Rede . Mit
Ihrer Erlaubnis, Herr Präsident, möchte ich gerne zitieren:
. . . dieses Land, das vor 80 Jahren für die schlimmsten Verbrechen des Jahrhunderts verantwortlich
war, hat heute den Beifall der Welt gewonnen, dank
seiner geöffneten Grenzen und der Großzügigkeit,
mit der Sie syrische und andere Flüchtlinge aufgenommen haben und noch aufnehmen .
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir alle hier im Land
können gemeinsam sehr stolz auf die Willkommenskultur, auf die Hilfsbereitschaft und auf den gemeinsamen
Willen sein, dass wir Menschen, die ihre Heimat verlassen mussten, weil sie durch Krieg bedroht sind, weil sie
vor Folter und Verfolgung fliehen, hier in unserem Land
Schutz bieten .
Das Asylrecht und auch die Genfer Flüchtlingskonvention sind für uns kein Blatt Papier, sondern sie sind
eine gemeinsame Verpflichtung, die wir aus Überzeugung eingegangen sind . Deswegen, liebe Kolleginnen
und Kollegen, ist es richtig, dass wir unsere gemeinsamen
Anstrengungen darauf konzentrieren, die Fluchtursachen
zu bekämpfen und zu verringern und eine gemeinsame
Asylpolitik in Europa zu gestalten .
({2})
Wir reden heute über das Asylpaket II . Aber ich möchte ein paar Bemerkungen zu Europa machen . Es erschüttert uns alle gemeinsam, glaube ich, dass die 28 Mitgliedstaaten in der EU zurzeit weder den Willen noch die
Kraft haben, eine gemeinsame Asylpolitik zu gestalten
und das Thema Flüchtlinge gemeinsam anzugehen . Ich
finde, es kann doch wohl nicht sein, dass eine so reiche,
so wohlhabende und so starke Region wie Europa mit
über 500 Millionen Menschen sich so schwertut, Menschen Schutz zu bieten, und zwar überall in Europa: in
London, in Riga, in Prag und in Lissabon. Das finde ich
wirklich erschütternd .
({3})
Ich möchte einen weiteren Punkt erwähnen, weil er
auch für unsere Politik in Deutschland wichtig ist . Die
allgemeine Lage gefährdet gegenwärtig das, was Europa
ausmacht und was es so wertvoll macht, nämlich unsere
offenen Grenzen . Das ist das Beste und das Wertvollste,
was Europa hat . Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen
Sie uns alle gemeinsam daran arbeiten, dass wir diese
offenen Grenzen nicht aufs Spiel setzen . Das erfordert
unsere gemeinsame Energie und unsere ganze Anstrengung .
({4})
Ich habe diese Vorbemerkungen extra deshalb gemacht, weil das der Rahmen ist, in dem wir heute über
das Asylpaket II diskutieren . Wir müssen hier in Deutschland dafür sorgen, dass die Menschen, die zu uns kommen, registriert werden, dass sie ordentlich untergebracht
werden und dass sie versorgt werden . Wir müssen dafür
sorgen, dass die Verfahren zügig geführt werden;
({5})
denn wir wissen - das gehört zur Wahrheit dazu -: Nicht
alle können bleiben, nicht alle können Schutz bekommen .
Deswegen - das ist das A und O - müssen wir schnell darüber entscheiden, ob Menschen hierbleiben können, ob
sie hier Schutz erhalten können oder ob sie unser Land
wieder verlassen müssen .
({6})
Die beschleunigten Verfahren sind der Kernpunkt des
Asylpakets II; denn wir wissen auch: Viele Menschen
kommen zu uns, die leider keine Bleibeperspektive haben . Sie warten zurzeit monatelang darauf, ihr Anliegen
beim BAMF überhaupt vortragen zu können . Sie warten
dann wieder monatelang auf eine Entscheidung . Dieser
lange Zeitraum liegt an der hohen Arbeitsbelastung des
BAMF, auch an dem enormen Rückstand bei den unbearbeiteten Verfahren . Er liegt auch daran, dass das BAMF
auf diese Vielzahl von Menschen, die in kurzer Zeit zu
uns gekommen sind, nicht vorbereitet war . Deswegen
stelle ich fest: Diese Situation - ich denke, das sehen wir
alle so - ist nicht tragbar . Deshalb brauchen wir Änderungen in den Verfahren .
({7})
Schnelle Entscheidungen sind nicht unmenschlich .
Schnelle Entscheidungen sind richtig und wichtig .
Schnelle Entscheidungen sind nicht das Ende unserer
Willkommenskultur, sondern sie sind die Voraussetzung
für eine Willkommenskultur und die Voraussetzung für
ein Gelingen der Integration .
({8})
Natürlich ist es für uns alle hier im Haus, wie ich denke, keine einfache Entscheidung, den Familiennachzug
für subsidiär Schutzberechtigte für zwei Jahre auszusetzen . Darüber haben wir auch intensiv diskutiert; denn wir
alle miteinander wissen - das hat insbesondere die SPD
hervorgehoben -, dass Familie die Voraussetzung für ein
Gelingen der Integration in Deutschland ist .
({9})
Diese Entscheidung ist uns schwergefallen . Wir setzen
den Nachzug nur für subsidiär Schutzberechtigte für
zwei Jahre aus .
({10})
Wir erlauben eine Härtefallregelung .
({11})
Ich denke, dass das eine maßvolle Regelung ist, die man
hier auch verabschieden kann .
({12})
Ein weiterer wichtiger Punkt ist, dass wir die Rückführung erleichtern müssen .
({13})
Auch das gehört dazu . Diejenigen, die nicht hierbleiben
können, müssen unser Land schneller verlassen . Auch
das gehört zur Wahrheit dazu .
({14})
Deswegen schaffen wir mit dem Asylpaket II die Voraussetzungen, dass diese Rückführung wirksamer und
schneller erfolgen kann . Dazu gehört auch, kriminelle
Ausländer schneller auszuweisen . Auch das ist Bestandteil der Vorschläge, die heute beraten werden .
Dann, liebe Kolleginnen und Kollegen, möchte ich
noch etwas sagen, das mir sehr wichtig ist und worüber wir, denke ich, gemeinsam nachdenken sollten .
Wir haben in dieser Legislaturperiode viel auf den Weg
gebracht . Wir haben im Asylrecht viel geändert und im
Aufenthaltsrecht die Verfahren verbessert
({15})
und hoffentlich optimiert. Ich finde, wir sollten jetzt alle
gemeinsam dazu übergehen, diese Veränderungen wirken zu lassen .
({16})
Sie müssen jetzt erst einmal in Kraft treten und ihre Wirkung entfalten . Die Verwaltung muss sich darauf einstellen, und ich gehe davon aus, dass sie auch die richtige
Wirkung entfalten werden . Dann sollten wir uns alle gemeinsam in den nächsten Beratungen voll und ganz, mit
unserer ganzen Energie nicht nur auf die Fluchtursachen
und die Asylpolitik in Europa, sondern vor allen Dingen
auch auf die Integration konzentrieren .
({17})
Zu den nächsten Schritten, die wir gemeinsam verabreden, muss ein gutes Integrationskonzept gehören .
Herzlichen Dank .
({18})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat der Kollege Konstantin von Notz das Wort .
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es sind zweifellos ernste und herausfordernde Zeiten für unsere Gesellschaft, für Europa und für unsere Demokratie . Krieg
und Not in der Welt lassen so viele Menschen flüchten
wie seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs nicht mehr .
Von diesen Geflüchteten kommt ein Teil nach Europa
und auch zu uns nach Deutschland . Die Herausforderungen sind gigantisch .
Das verlangt von uns im Deutschen Bundestag eine
seriöse, verantwortungsvolle und ernsthafte Debatte .
Das, was heute vorliegt, das sogenannte Asylpaket II,
entspricht erneut diesen Anforderungen leider nicht .
Deswegen werden wir es ablehnen, meine Damen und
Herren .
({0})
Längst wissen wir doch, was es dringend zu tun gäbe .
Wir brauchen schnellere Asylverfahren, eine Stärkung
der Haupt- und Ehrenamtlichen und eine entschlossene
Bekämpfung der Fluchtursachen . Und vor allen Dingen
brauchen wir ein klares Bekenntnis zur Integration mit
Wort und Tat . Letzteres vermisst man heute ganz besonders, meine Damen und Herren .
({1})
Mit diesem überhastet erarbeiteten und sowohl parlamentarisch als auch mit den Verbänden vollkommen ungenügend beratenen Entwurf kommen wir nicht weiter .
Er ist aller Voraussicht nach verfassungswidrig, geht an
den tatsächlichen Problemen vorbei und leistet Populismus und Ressentiments Vorschub .
({2})
Während die Bundeskanzlerin - wie auch gerade
heute wieder - echte Lösungen sucht, ergehen Sie sich
seit Monaten in Scheindebatten um Obergrenzen, Grenzschließungen, Verabschiedungskultur, vermeintlich siDr. Eva Högl
chere Herkunftsländer und, ganz neu im Programm, nationale Abschiebepläne .
Der Familiennachzug nach frühestens zwei Jahren
fügt sich nahtlos ein . Dieses Vorgehen wird noch mehr
Frauen und Kinder auf die Schlauchboote treiben, meine
lieben Kolleginnen und Kollegen . Das ist Ihr Verständnis
vom Schutz der Familie . Das ist Ihr Bild, wie man der
Familie mit Achtung begegnet . Ich sage Ihnen: Es ist zynisch und schäbig, dass Sie das so machen .
({3})
Mit einer Verschärfung der Residenzpflicht bürokratisieren Sie weiter . Zusätzlich erleichtern Sie die Abschiebung von kranken und schwerkranken Flüchtlingen .
Dabei nehmen Sie billigend in Kauf, dass traumatisierte
Menschen, zum Beispiel Frauen, die Opfer von Vergewaltigungen wurden, schutzlos gestellt werden . Das ist
weder human, noch ist es christlich . Ich empfehle die Tageslosung vom heutigen Tag . Es ist Populismus, und es
ist hilflos sowie kontraproduktiv, und wir lehnen es aufs
Schärfste ab, meine Damen und Herren .
({4})
Bei den weiteren Einschränkungen der Leistungen für
Asylsuchende ignorieren Sie erneut die Vorgaben des
Bundesverfassungsgerichts . Dabei wissen Sie - so sagt
es das Bundesverfassungsgericht -: Die Menschenwürde ist migrationspolitisch nicht relativierbar . Schließlich
versagen Sie beim ausreichenden Schutz für Kinder, Jugendliche, Frauen und andere Personengruppen mit erhöhtem Diskriminierungsrisiko . Der eigens von der Bundesregierung Beauftragte mahnt dies so verzweifelt wie
erfolglos an . Das ist ein unhaltbarer Zustand .
({5})
Was ist eigentlich, liebe SPD, mit den versprochenen
Verbesserungen des letzten Pakets, gerade noch einmal
von Sigmar Gabriel öffentlich zugesagt? Wo befinden sie
sich? Nicht in diesem Paket! Klar ist doch: Menschen,
die über Jahre fliehen, alles zurücklassen und ihr Leben
vielfach riskieren, entscheiden sich bestimmt nicht, umzukehren, wenn sie für einen Sprachkurs, der nach Ihren
Worten, Herr Innenminister, oft gar nicht angeboten werden kann, zukünftig 10 Euro mehr zahlen müssen . Das ist
naive, träumerische, realitätsferne Politik .
({6})
Zusätzlich legen Sie heute einen Gesetzentwurf vor im Ministerium bezeichnenderweise Köln-Gesetz genannt -, mit dem Sie lediglich suggerieren, dass Sie zukünftig mehr und schneller abschieben . Faktisch ist eine
Abschiebung oft aber gar nicht möglich, weil zum Beispiel die Herkunftsstaaten nicht kooperieren und keine
Papiere ausstellen . Das wissen Sie, trauen sich aber nicht,
eine offene und ehrliche Debatte hierüber zu führen .
({7})
Stattdessen Abschiebepopulismus und komplettes Irrlichtern, leider besonders bei der CSU, Herr Mayer! Jetzt
wird es traurig: Orban und Putin, das sind nun die politischen Partner bzw . Koalitionspartner der CSU . Die
eigene Bundeskanzlerin, die eigene Regierung inklusive
Ihrer CSU-Minister, das ist die Herrschaft des Unrechts .
Das ist die Welt des Horst Seehofer im Jahr 2016 . Der
unlängst verstorbene Helmut Schmidt hat gesagt: „In der
Krise beweist sich der Charakter .“ Die Flüchtlingskrise
hat diesen Effekt im Guten wie im Schlechten . Wir erleben bis heute eine unfassbare Solidarität und Hilfsbereitschaft gegenüber den zu uns Kommenden . Aber das, was
die CSU hier seit Monaten abliefert, ist zum Schämen,
und es ist Wasser auf die Mühlen der Rechtsextremisten
in diesem Land .
({8})
Statt sich weiterhin in Scheindebatten und im wahrsten Sinne des Wortes in brandgefährlichem Populismus
zu ergehen, lassen Sie uns gemeinsam an tatsächlichen
Lösungen arbeiten . Herr Innenminister, wir bieten Ihnen
das wirklich an . Lassen Sie uns Integration gestalten! Wir
haben immer wieder Vorschläge gemacht . Lassen Sie uns
gemeinsam mit der Kanzlerin für Europa kämpfen, bevor
es zu spät ist . Wenn Sie dafür bereit sind, dann sind wir
an Ihrer Seite . Bis dahin sind wir es aber nicht .
Ganz herzlichen Dank .
({9})
Nächster Redner ist der Kollege Thomas Strobl für die
CDU/CSU .
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Mit allen Entscheidungen und Maßnahmen, die wir in
den letzten Monaten getroffen oder ergriffen haben, verfolgen wir ein einziges Ziel: eine spürbare und nachhaltige Reduzierung des Flüchtlingszustroms . Die Gesetze,
über deren Entwürfe wir heute beraten, sind nicht der einzige, wohl aber ein weiterer wichtiger Schritt auf diesem
Weg . Zur Reduzierung der Zahl gehört, dass wir beim
Flüchtlingszustrom konsequent unterscheiden zwischen
denen, die schutzbedürftig sind und hier Schutz bekommen sollen, und denen, die offensichtlich nicht schutzbedürftig sind und deswegen möglichst unverzüglich in
ihre Heimat zurückkehren müssen .
({0})
Dieser Gedanke hat uns beim ersten Asylpaket geleitet
und führt uns auch heute die Feder . Mit der Schaffung
besonderer Aufnahmeeinrichtungen, der Schaffung eines
zusätzlich beschleunigten Asylverfahrens für Migranten
aus sicheren Herkunftsstaaten und der Einführung verschärfter Sanktionen bei Verstößen gegen die Residenzpflicht werden wir die Anreize für eine Antragstellung
von offenkundig Nichtschutzbedürftigen noch einmal
deutlich reduzieren und nunmehr auf nahe null senken .
Hinzu treten die Einschränkungen beim Familiennachzug für neu ankommende subsidiär SchutzberechDr. Konstantin von Notz
tigte . Diese Einschränkungen beim Familiennachzug
sind unvermeidlich .
({1})
- Ich will Ihnen auf diesen Zwischenruf mit dem
„Quatsch“ einmal ein Zitat vorhalten . Ich zitiere:
‚Es ist nicht die unbedingte Voraussetzung, dass der
Familienclan aus Kabul oder Kandahar dann hierher
nachkommt‘,
({2})
… Alle seien sich bewusst, dass Flüchtlingszahlen
begrenzt werden müssten . Dazu gebe es jedoch nur
ganz wenige Möglichkeiten .
Ich zitiere weiter:
‚Eine davon ist die Begrenzung des Familiennachzugs für unbegleitete Minderjährige .‘ Wenn die Politik das nicht tue, müsse sie dem Volk sagen, dass
die Flüchtlingszahlen in den nächsten Monaten
nicht zurückgehen würden .
({3})
Die Schlepperbanden wüssten sehr genau von den
Diskussionen in Deutschland . Sie sammelten unbegleitete Kinder von 12 bis 18 Jahren ‚und schaffen damit ein neues großes Kontingent, das zu uns
kommt‘ . Es sei eine Realität, dass Familien Kinder
losschickten in der Hoffnung, später nachkommen
zu können . So sei es auch vor 36 Jahren in Vietnam
gewesen .
Dieser „Brandstifter“ - um Ihren Zwischenruf aufzugreifen - ist Rupert Neudeck, der 1979 mit Unterstützung des Schriftstellers Heinrich Böll - vielleicht
sagt Ihnen das noch etwas - das deutsche Komitee „Ein
Schiff für Vietnam“ gegründet hat, das im Rahmen der
späteren Flüchtlingsorganisation „Cap Anamur“ allein
11 000 Flüchtlinge vor der Küste Vietnams gerettet hat .
Ich finde, Rupert Neudeck ist unverdächtig.
({4})
Und das ist kein „Quatsch“ und das ist auch kein „Brandstifter“, sondern das ist eine Notwendigkeit im Interesse
der Flüchtlinge, die bei uns leben .
({5})
Wir schränken den Familiennachzug für subsidiär
Schutzberechtigte im Übrigen nicht aus Hartherzigkeit
ein, sondern aus der Einsicht in die Grenzen unserer
Möglichkeiten . Bis 2015 sind mehrere Hunderttausend
Syrer nach Deutschland geflohen, denen bereits heute
oder in Kürze das Recht auf vollen Familiennachzug zusteht .
({6})
Niemand weiß, wie viele Menschen in den Anrainerstaaten oder in Syrien selbst auf den Familiennachzug
warten und ihn geltend machen . Wir können jetzt bei
einem hohen Flüchtlingszustrom die Zahlen nicht auch
noch einmal durch Familiennachzug verdoppeln oder
verdreifachen .
({7})
Das ist der Kern: Wir brauchen eine Atempause . Wir
müssen auch einmal Luft holen können .
({8})
- Herr Hofreiter, da Sie in Ihren Interviews die Einschränkung des Familiennachzugs
({9})
als ein Integrationshindernis bezeichnen,
({10})
will ich Ihnen einmal sagen, was ein Integrationshindernis ist .
Das ist eine Regelung aus dem Jahr 2004, die Sie mit
dem damaligen Zuwanderungsgesetz geschaffen haben,
eine Regelung, die heute dafür sorgt, dass nach bestehender Gesetzeslage anerkannte Flüchtlinge ein unbefristetes Daueraufenthaltsrecht voraussetzungslos nach dem
Ablauf von drei Jahren erhalten . Gleichviel, ob man sich
auch nur irgendwie um Integration bemüht hat, gleichviel, ob man sich auch nur ein bisschen bemüht hat, die
deutsche Sprache zu lernen,
({11})
gleichviel, ob man sich nur ein bisschen bemüht hat,
für seinen Lebensunterhalt aus eigener Kraft zu sorgen,
gleichviel, ob man straffällig geworden ist: Es gibt automatisch nach drei Jahren ein Daueraufenthaltsrecht . Eine
solche Regelung schafft keine Integrationsanreize, sie ist
ein Integrationshindernis . Und das sollten wir aus dem
Weg räumen .
({12})
Herr Kollege Strobl, lassen Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Beck zu?
Thomas Strobl ({0})
Bitte .
Herr Strobl, grundsätzlich ist natürlich die Aufnahme
von Flüchtlingen etwas anderes als die Aufnahme von
Arbeitsmigranten . Deshalb wurde bis zum jetzigen Zeitpunkt vom Gesetzgeber von den Flüchtlingen, weil sie
ohnehin aufgrund ihres Schutzstatus dauerhaft bleiben
können, nichts zusätzlich verlangt .
Man kann natürlich diese Frage anders sehen und
sagen: Wir verlangen von Flüchtlingen und Migranten
bei der Integration das Gleiche . Aber wenn man das tut,
müsste man auch bei der Frage des Charakters der unbefristeten Aufenthaltserlaubnis rechtlich das Gleiche verlangen . Das unbefristete Aufenthaltsrecht eines Flüchtlings ist nämlich durch Wegfall des Asylgrunds jederzeit
widerrufbar; das ist bei Migranten nicht der Fall .
Wollen Sie die Gleichstellung bei den Integrationsanforderungen damit verbinden, dass Flüchtlinge in Zukunft nicht mehr das Damoklesschwert über sich spüren,
selbst bei einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis, dass
womöglich zum Zeitpunkt der Einbürgerung vom BAMF
die Flüchtlingseigenschaft wieder aberkannt wird? Das
wäre vielleicht ein konsistenter Vorschlag, dem man zumindest etwas abgewinnen könnte .
Herr Kollege Beck, es gibt möglicherweise einen
grundsätzlichen Unterschied in der Betrachtungsweise .
({0})
- Sie haben die Frage doch gestellt; jetzt müssen Sie
schon die Geduld haben, sich auch die Antwort anzuhören .
({1})
Für uns bedeuten Flüchtlingsschutz und die Gewährung von Asyl zunächst einmal ein Bleiberecht auf Zeit .
Wenn die Fluchtursachen beseitigt sind, wenn der Asylgrund wegfällt, dann ist es nach unserer Vorstellung so,
dass der Flüchtling wieder in seine Heimat zurückgeht
und beispielsweise beim Aufbau in seiner Heimat hilft .
Flüchtlingsschutz ist zunächst einmal ein Recht auf Zeit .
Deswegen ist eine Aufenthaltserlaubnis in Deutschland auch befristet . Wenn wir nun dazu übergehen, dem
Flüchtling ein Daueraufenthaltsrecht zu geben, dann
muss das doch sinnvollerweise zumindest an eine Integrationsbemühung geknüpft sein . Sonst macht das doch
keinen Sinn .
({2})
Jede Integrationspflicht läuft ins Leere, wenn wir das
nicht so machen . Deswegen müssen wir dieses Gesetz
zwingend ändern .
({3})
Mit Blick auf die Reduzierung des Flüchtlingsstroms das hat auch etwas mit der Grünenfraktion zu tun ({4})
bedauere ich sehr, dass wir heute die Erweiterung der
Liste der sicheren Herkunftsstaaten nicht im Deutschen
Bundestag beraten können . Es sind ganz überwiegend
ökonomische Motive, die Migranten aus Marokko, aus
Algerien und aus Tunesien zur Stellung eines Asylantrags in Deutschland veranlassen .
({5})
Die Anerkennungsquoten sind verschwindend gering .
Sie betrugen im Jahr 2015 für Marokko 2,29 Prozent, für
Algerien 0,98 Prozent und für die Tunesische Republik
0,00 Prozent . Mit der raschen Einstufung dieser Staaten
als sichere Herkunftsstaaten hätten wir frühzeitig auf die
seit kurzem stark steigenden Zahlen reagieren können .
({6})
Wenn auch immer und immer wieder anderes behauptet wird, auch wenn insbesondere Sie, meine Damen und
Herren von den Grünen, es nicht wahrhaben wollen - die
Erfahrung, die wir im Zusammenhang mit den Balkanstaaten gesammelt haben, macht eines ganz deutlich:
Eine Einstufung als sicheres Herkunftsland zeitigt unmittelbar Konsequenzen . Seit der Aufnahme der Westbalkan-Staaten in die Liste der sicheren Herkunftsstaaten
sind die Asylbewerberzahlen aus dieser Region drastisch
zurückgegangen . Heute kommen monatlich nur noch wenige Hundert Menschen von dort . Anfang 2015 waren es
noch 25 000 im Monat .
({7})
Wir hätten den Kreis der sicheren Herkunftsstaaten,
was den Westbalkan angeht, im Übrigen besser ein Jahr
früher erweitert . Doch das im Bundesrat zustimmungspflichtige Gesetz ist von Ihnen blockiert worden. Sie waren dagegen .
({8})
Das hatte im Übrigen eine unmittelbare Folge: Im
vergangenen Jahr kamen 150 000 Migranten aus dem
Westbalkan nach Deutschland, um hier einen Asylantrag
zu stellen . Den allergrößten Teil von ihnen werden wir
in einem komplizierten Verfahren zurückführen müssen . Die Entwicklung, die wir im Zusammenhang mit
dem Westbalkan erleben, darf sich im Hinblick auf die
Maghreb-Staaten und Nordafrika nicht wiederholen . Der
Maghreb darf kein zweiter Westbalkan werden .
({9})
Deswegen müssen wir in dieser Frage schnell handeln .
Es war schon ein bemerkenswerter Vorgang - Herr Innenminister Jäger kann gleich etwas dazu sagen -: Das
Asylverfahrensbeschleunigungsgesetz war noch nicht
beschlossen, da kündigten einige Länder bereits an, dass
sie wesentliche Teile dieses Gesetzes gar nicht umzusetzen gedenken: die dauerhafte Unterbringung von Asylbewerbern ohne Bleibeperspektive in den Erstaufnahmeeinrichtungen, Sachleistungen statt Bargeld . „Mit uns ist
das nicht zu machen“, erklärten einige Bundesländer .
({10})
Ich kann an dieser Stelle nur an die Länder appellieren, alle Teile der Asylgesetzgebung konsequent und
auch streng umzusetzen .
({11})
Dies gilt insbesondere für die schärferen Regeln der Abschiebung, wie sie im Asylpaket II festgelegt sind .
Alle gesetzlichen Regelungen laufen nämlich ins Leere, wenn es an dem Willen fehlt, das geltende Recht anzuwenden und ablehnende Bescheide konsequent durchzusetzen . Ich weiß: Abschiebungen sind nicht einfach;
sie sind auch nicht populär . Doch erst mit der konsequenten Durchsetzung negativer Bescheide können wir das
eindeutige Signal senden: Wer keines Schutzes bedarf,
der hat keine Bleibeperspektive in Deutschland und der
muss in seine Heimat zurückkehren .
({12})
Die Kollegin Jelpke hat nun das Wort für die Fraktion
Die Linke .
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr
Strobl, es ist wirklich zynisch, wenn man hier immer
wieder den Eindruck erweckt, als wenn Menschen, die
Schutz suchen, ob vor Krieg oder vor Armut, einfach
so herkommen, um hier unsere Sozialstrukturen in Anspruch zu nehmen . Damit wird hier immer wieder Misstrauen geschürt .
({0})
Das ist einfach unerträglich .
Meine Damen und Herren, ich möchte zunächst einmal sagen: Dies ist wirklich keine Sternstunde des Parlaments . Heute wird das Asylpaket II eingebracht, und
innerhalb von wenigen Tagen, nämlich schon nächste
Woche, soll es hier verabschiedet werden . Ich halte es für
einen ausgesprochen undemokratischen Vorgang,
({1})
dass sich die Regierung monatelang Zeit nimmt und ihren Showkampf und ihre Streitereien austrägt, während
dieses Parlament überhaupt keine Zeit haben soll, demokratisch und sorgfältig darüber zu beraten, was wirklich
nötig ist .
({2})
Das ist wirklich ein Skandal .
Es wird hier nur noch über Fragen diskutiert wie: Wie
können wir am schnellsten abschieben? Wie können wir
uns am besten abschotten? Wie können wir am besten
abschrecken? Genau dem entspricht der Inhalt dieses
Pakets: Das Asylrecht wird bis zum Gehtnichtmehr ausgehöhlt . Beispielsweise werden EU-Richtlinien einfach
zur Seite gelegt . Mitmenschlichkeit spielt hier überhaupt
keine Rolle mehr . Integrationsvorschläge gibt es von Ihrer Seite überhaupt nicht .
({3})
Das ist wirklich ein Schlag ins Gesicht all derjenigen
Menschen, die sich in diesem Land um Flüchtlinge bemühen .
Schauen Sie sich die vielen Stellungnahmen an - von
den Wohlfahrtsverbänden, von den Kirchen, von den
Flüchtlingsorganisationen .
({4})
Sie gehen von einer Willkommenskultur zu einer Willkommensunkultur über . Das machen wir nicht mit .
({5})
Beschleunigte Verfahren: Was passiert hier eigentlich? Ganz schnell werden weitere Staaten als sichere
Herkunftsstaaten eingestuft . Sonderlager mit 3 000 Plätzen und mehr werden eingerichtet .
({6})
Dann werden Menschen dorthin verbracht . Innerhalb
von drei Wochen soll das Asylverfahren einschließlich
gerichtlichem Verfahren abgeschlossen sein .
({7})
Diese Sonderlager, meine Damen und Herren, sind einfach nur ein Grauen . Dass ein Land wie Deutschland sich
so etwas wieder leistet, kann man einfach nur zurückweisen;
({8})
denn das individuelle Asylrecht haben auch diese Menschen, und das muss vernünftig geprüft werden .
({9})
Thomas Strobl ({10})
Nicht weniger perfide ist beispielsweise, dass schon
ein zweimaliger Verstoß gegen die Residenzpflicht - ein
solcher Verstoß liegt vor, wenn jemand zum Beispiel
ohne Genehmigung einfach mal von Berlin nach Brandenburg fährt - dazu führen kann, dass ein Asylantrag für
nichtig erklärt wird .
({11})
Wo sind wir denn, dass ein Grundrecht einfach mal eben
so ausgehebelt wird, nur weil ein Mensch vielleicht
Freunde besuchen will? Das kann ja wohl nicht wahr
sein!
({12})
Gleichzeitig haben Sie vor, die Standards für Abschiebungshindernisse zu senken, wenn es um den Gesundheitszustand geht . Sie gehen sogar so weit, festzulegen,
dass es demnächst kein Abschiebungshindernis mehr
sein soll, wenn Menschen von Bürgerkrieg und Flucht
traumatisiert sind . Das kann ja wohl nicht wahr sein!
Wissen Sie eigentlich, was es bedeutet, wenn das Gesetz fordert, innerhalb von zwei Wochen ein fachärztliches Gutachten beizubringen? Wie soll jemand, der der
deutschen Sprache nicht mächtig ist, in zwei Wochen ein
solches Fachgutachten beibringen? Auch der Psychologenverband kritisiert es ganz scharf, dass im Grunde genommen Menschen, die schwer krank sind, in Zukunft
einfach abgeschoben werden sollen . Diese Regelung ist
ein Skandal .
({13})
Was den Familiennachzug angeht: Sie haben immer
wieder versprochen, legale Wege zu schaffen, auf denen
Menschen hierherkommen können, nach Europa, nach
Deutschland kommen können . Und was machen Sie? Sie
betreiben hier wieder das Geschäft der Schleuser, indem
Sie die Menschen genau zu diesen Schleusern treiben,
weil die Menschen sonst überhaupt keine Möglichkeit
haben, hierherzukommen . Wir sehen tagtäglich, wie
Frauen und Kinder im Mittelmeer ertrinken . Auch hier
muss man wirklich fragen: Was ist das eigentlich für ein
Zynismus?
Sie haben ein Gesetz zum Beispiel mit den Kölner Ereignissen begründet .
Frau Kollegin .
Zu Recht werden die Kölner Ereignisse kritisiert . Und
was machen Sie jetzt? Den Schutz von Frauen und Kindern finden wir in diesem Gesetzentwurf heute nicht wieder, obwohl das versprochen wurde, sowohl von der SPD
als auch von der Union .
({0})
Meine Damen und Herren, es ist hier schon gesagt
worden: Jedes Kind, das aus einem Land flüchtet, ist ein
Härtefall . Was haben Sie eigentlich für eine Vorstellung
von der Situation, wenn Eltern ihre Kinder losschicken?
In Afghanistan zum Beispiel ist es so, dass die Warlords
und andere Kriegstreiber Jugendliche einkassieren und
ausbilden, um sie für den Krieg fit zu machen. Es kann
ja wohl nicht sein, dass wir so etwas mittragen bzw . dass
hier die UN-Kinderrechts-konvention einfach außer
Kraft gesetzt wird!
Frau Kollegin, Sie müssen zum Schluss kommen .
Ich komme zum letzten Satz .
Das Asylpaket ist ein Paket von Grausamkeiten . Wir
werden es auf gar keinen Fall mittragen, und wir werden
den Widerstand in der Bevölkerung unterstützen .
Ich danke Ihnen .
({0})
Nächster Redner ist der Bundesminister der Justiz,
Heiko Maas .
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich sitze regelmäßig mit dem Kollegen de Maizière
in Brüssel im JI-Rat . Dort vertreten wir die Flüchtlingspolitik der deutschen Bundesregierung . Ich würde Ihnen
wünschen, dass Sie sich einmal das anhören müssen, was
wir uns dort anhören müssen .
({0})
Sie sagen hier zur Flüchtlingspolitik der Bundesregierung: schäbig, inhuman, unchristlich, Skandal, Zynismus, Grausamkeiten . Schauen Sie sich mal in Europa
um! Es gibt kein anderes Land, das seiner humanitären
Verpflichtung gegenwärtig so gerecht wird wie Deutschland .
({1})
Die beiden Gesetzentwürfe, die heute vorliegen, haben ein gemeinsames großes Ziel:
({2})
Sie stärken die Handlungsfähigkeit des Staates . Das ist,
finde ich, ein ganz grundlegendes Problem geworden.
Wenn in Deutschland zu viele Menschen den Eindruck
gewonnen haben, dass der Staat die Kontrolle über die
Flüchtlingspolitik verloren hat, wenn zu viele Menschen
den Eindruck gewonnen haben, dass nach den EreigUlla Jelpke
nissen in Köln der Staat nicht mehr handlungsfähig ist,
weil er seine Gesetze dort nicht durchgesetzt hat, dann
geht es hier nicht mehr um eine Angelegenheit zwischen
Regierung und Opposition . Glauben Sie im Ernst, dass
die Bürgerinnen und Bürger zwischen Ihnen und uns unterscheiden? Jede der hier vertretenen Parteien ist in der
Verantwortung, entweder irgendwo in den Ländern oder
hier .
({3})
Es geht um die Handlungsfähigkeit des Staates .
({4})
Wenn Menschen den Glauben daran verloren haben,
dann ist es ihnen egal, welche Antworten sie von uns
oder von Ihnen bekommen .
({5})
Deshalb müssen wir mit dem, was wir hier vorlegen, vor
allen Dingen eins dokumentieren: Der Staat ist handlungsfähig, und er ist in der Lage, auf Herausforderungen
zu reagieren . Genau das tun wir .
({6})
Wir stellen sicher, dass unsere Behörden die Aufnahme der geflüchteten Menschen besser bewältigen können, als das bisher der Fall gewesen ist . Mit Blick auf die
Silvestervorfälle in Köln senden wir auch eine klare Botschaft aus, und zwar an alle - egal ob mit oder ohne Pass;
egal was für einen Pass sie haben -: Wer vor Verfolgung,
Krieg und Terror flieht, der findet bei uns Schutz. Aber
wer hierherkommt und dabei diesen Schutz ausnutzt, um
schwere Straftaten zu begehen, für den ist bei uns kein
Platz . Wir sind hilfsbereit, aber nicht blind .
({7})
Was die Veränderungen im Ausweisungsrecht angeht,
sage ich: Ja, sie sind eine Reaktion auf die Ereignisse in
Köln . Für sexuelle Übergriffe auf Frauen gibt es keine
Rechtfertigung und auch keine Entschuldigung .
({8})
Ich sage aber auch: Ein besserer Schutz für Frauen vor
sexueller Gewalt ist bitter nötig . Das hat mit Köln überhaupt nichts zu tun .
({9})
Dieses Bedürfnis gibt es nicht erst seit den Ereignissen
in Köln .
({10})
Das, was wir im Ausweisungsrecht verändert haben,
ist:
({11})
Wer schwere Straftaten begeht, wer vorsätzlich Straftaten gegen Leib und Leben, die körperliche Unversehrtheit, die sexuelle Selbstbestimmung oder gegen Ordnungskräfte begeht, wer als Serientäter Eigentumsdelikte
begeht, wird in Zukunft leichter ausgewiesen werden
können, und das ist auch richtig .
({12})
Wir haben die Voraussetzungen dafür herabgesetzt: In
Zukunft kann bei der Abwägung der Frage - es ist nicht
die Entscheidung -, ob eine Ausweisungsverfügung ergeht, bereits die Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe
auch auf Bewährung als ein schweres Ausweisungsinteresse zu einer Ausweisungsverfügung führen . Ich sage
das nicht nur mit Blick auf die Straftaten, für die wir das
qualifiziert haben, sondern auch mit Blick darauf, dass
in Deutschland niemand wegen Bagatelldelikten zu einer
Freiheitsstrafe verurteilt wird . Deshalb ist es auch gerechtfertigt, daran anzuknüpfen .
({13})
Herr von Notz, ja, die Ausweisungsverfügung hat noch
nichts mit der Abschiebung zu tun . Aber es ist nicht so,
dass wir die Probleme, die es dort gibt, einfach bestehen
lassen . Wir reden mit den Staaten, die nicht bereit sind,
ihre Staatsangehörigen zurückzunehmen, weil sie ihre
Papiere weggeworfen haben . Wir wollen Laissez-passer-Abkommen, wie wir sie mit anderen Staaten, etwa
auf dem Balkan, geschlossen haben, auch mit nordafrikanischen Staaten schließen . Natürlich muss eine Ausweisungsverfügung auch umgesetzt werden . Wir arbeiten daran genauso intensiv wie an diesem Gesetzentwurf,
weil wir nicht nur Verfügungen erlassen wollen, sondern
weil wir die Verfügungen auch durchsetzen wollen . Das
gehört dazu .
Meine Damen und Herren, die vorgeschlagenen Änderungen sind, wie ich finde, nicht nur verhältnismäßig,
sondern sie sind richtig, notwendig und maßvoll . Aber
ich sage auch: Das Gleiche kann ich nicht von allen
Wortmeldungen behaupten, die es in jüngster Zeit zu diesem Thema gegeben hat .
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Keul?
Gerne .
Vielen Dank für die Zulassung der Zwischenfrage . Herr Maas, Sie haben uns gerade erklärt, wie sinnvoll
und notwendig die Änderungen im Ausweisungsrecht
sind . Wir hatten ja eine Rechtsänderung gehabt, die gerade erst, zum 1 . Januar 2016, in Kraft getreten ist und
bereits ganz deutlich die Ausweisungsmöglichkeiten bei
Straftaten erhöht hat . Nur wenige Tage nach dem Inkrafttreten dieser Norm ändern wir diese Norm noch einmal .
Ich frage Sie daher: Haben Sie Erkenntnisse darüber,
dass die Rechtslage, wie sie ab dem 1 . Januar 2016 in
Deutschland gilt, in irgendeiner Weise zur Anwendung
gekommen wäre und sich gezeigt hätte, dass es dort Defizite gibt? Die Änderung eines Gesetzes wenige Tage
nach seinem Inkrafttreten scheint mir doch nicht wirklich
die Handlungsfähigkeit des Staates zu belegen, sondern
das scheint mir vielmehr die Simulation von Handlungsfähigkeit zu sein .
({0})
Doch, ich finde schon. Und ich mache auch gar keinen
Hehl daraus, dass diese Gesetzesänderung eine Reaktion
auf die Ereignisse in Köln gewesen ist . Es gibt Situationen, in denen der Staat - auch aus übergeordneten Motiven heraus - in der Lage sein muss, schnell zu reagieren
und Gesetze, die noch nicht lange in Kraft sind, noch einmal zu verändern .
({0})
Wir haben das getan . Ich bitte, das nicht auf die leichte
Schulter zu nehmen, weil wir nach diesen Ereignissen
eine schwierige Debatte, eine sehr emotionale Debatte in
Deutschland geführt haben . Es wurde von uns getan, weil
ich es für richtig halte, dass ein großes Ausweisungsinteresse schon vorliegen kann, wenn in Deutschland jemand
zu einer Freiheitsstrafe verurteilt wird .
Im Übrigen sage ich auch das: Wir wollen damit nicht
nur mögliche Opfer - sie hat es in Köln gegeben - besser vor Straftätern schützen, sondern wir wollen auch die
Hunderttausende von Flüchtlingen, die in diesem Land
angekommen sind und hier unbescholten leben, davor
schützen, dass sie mit solchen Kriminellen in einen Topf
geworfen werden . Deshalb mussten wir schnell reagieren .
({1})
Herr Minister, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage der Kollegin Haßelmann?
Nein, ich würde jetzt erst gerne selbst noch ein bisschen erzählen .
({0})
- Ja, ich komme auch schon zum Schluss . Über das Sexualstrafrecht werden wir hier, glaube ich, bei anderer
Gelegenheit noch einmal reden können . Darauf bin ich
schon sehr gespannt .
Meine Damen und Herren, ich will noch Folgendes
sagen: Über den richtigen Weg in der Flüchtlingspolitik
können wir alle lebhaft streiten . Auch das gehört zur Demokratie .
({1})
Ich finde es, ehrlich gesagt, gar nicht so schlecht, dass in
Deutschland wieder über Werte und nicht nur über Wohlstand und Wohlfahrt - das war in der letzten Zeit immer
so - diskutiert wird .
({2})
Natürlich: Diese Diskussion kann und soll auch leidenschaftlich geführt werden . Wenn man über Werte
und Überzeugungen redet, dann geht das nur mit Leidenschaft . Aber der Tonfall, mit dem das in der letzten
Zeit teilweise geschehen ist, bereitet mir auch als Justizminister Sorgen . Wenn es um die Flüchtlingspolitik der
Bundesregierung geht, dann greifen manche Kritiker zu
einer Rhetorik, die jedes Maß verloren hat . „Notstand“,
„Rechtsbruch des Staates“, „Herrschaft des Unrechts“:
Diese Parolen sind nicht nur juristisch hanebüchen, sie
sind politisch brandgefährlich .
({3})
In der Flüchtlingspolitik wird zu Recht Realismus
eingefordert . Zu diesem Realismus gehört für mich aber
auch, dass man eben nicht in hysterische Krisenrhetorik
verfällt . Solche Dinge, die dabei in den Raum gestellt
werden, lösen kein einziges Problem, sie schüren dagegen viele, viele Ängste . Vor allen Dingen: Wer mit solchen Worten die Legalität des Staates permanent infrage stellt, der stärkt Recht und Gesetz nicht, sondern er
schwächt sie .
({4})
Meine Damen und Herren, auch da haben wir als politisch Verantwortliche eine besondere Verantwortung für
das, was wir in der Diskussion in Deutschland - die ich
für notwendig halte - sagen . Ich halte es für gut, dass in
Deutschland wieder über Werte diskutiert wird und nicht
nur über Wachstumsprognosen . Aber wir alle, die wir uns
an dieser Debatte beteiligen, haben auch eine besondere
Verantwortung, mit den Worten, mit denen wir uns beteiligen, nicht dafür zu sorgen, dass die Spaltung größer
wird, sondern dafür zu sorgen, dass das, was in diesem
Land zurzeit geschieht, dazu führt, dass Menschen friedlich und gut zusammenleben .
({5})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Luise Amtsberg für
Bündnis 90/Die Grünen .
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Sehr geehrter Herr Bundesminister! Zu den zwingend erforderlichen Reformen im Sexualstrafrecht haben
Sie jetzt leider nichts gesagt . Insofern fällt es mir nach
wie vor schwer, zu glauben, dass im Fokus dieser ganzen
Initiativen tatsächlich der Schutz von Frauen vor sexueller Gewalt steht .
({0})
Aber kommen wir zu dem vorliegenden Entwurf . Ein
Gesetzentwurf, der den Wert der Familie infrage stellt,
der die Rechte und den Schutz von Kindern hintanstellt,
der Integration wissentlich auf Jahre behindert, der die
Betroffenen über ihre Zukunft in Deutschland verunsichert - auf einen solchen Gesetzentwurf kennt meine
Fraktion nur eine Antwort, und die ist Nein .
({1})
Nein, weil Humanität eben nicht für ein paar Monate
oder zwei Jahre mal pausieren kann, nur weil es innenpolitisch etwas unbequemer wird, nein, weil es nicht sein
darf, dass Grundrechte gerade dann, wenn sie gebraucht
werden, wenn sie sich beweisen müssen, preisgegeben
werden .
Das Recht auf Familienleben ist nicht nur im Grundgesetz, sondern auch in der Europäischen Menschenrechtskonvention und zahlreichen weiteren Vereinbarungen, wie zum Beispiel der UN-Kinderrechtskonvention,
verbrieft . Und trotzdem: Mit Ihrem Gesetz verweigern
Sie Menschen, die aufgrund von Lebensgefahr, von drohender Folter, Todesstrafe oder infolge von Bürgerkriegen nicht in ihre Heimat zurückkehren können, das Zusammenleben mit ihren Familien .
({2})
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, meine Fraktion
findet, dass das Recht darauf, mit seiner Familie zusammenzuleben, ausnahmslos für alle Menschen gilt, auch
für Flüchtlinge, allem voran für Kinder .
({3})
Denn Kinder - darüber wurde hier wenig gesagt - sind
die Hauptopfer von Krieg . Sie sind besonders verletzlich,
sie brauchen besonderen Schutz, in bewaffneten Konflikten, aber auch auf der Flucht . Sie brauchen besonderen
Schutz und unsere ungeteilte Aufmerksamkeit, auch hier
in Deutschland .
Kinder haben Kriege nicht zu verantworten . Deshalb
ist Ihr Plan, gerade bei Kindern, die alleine nach Deutschland gekommen sind, den Nachzug der Verwandten einzuschränken bzw . nicht zu erlauben, nichts anderes als
gemein und verantwortungslos .
({4})
Auf Ihrem Weg, die Zahl der Flüchtlinge in Deutschland zu reduzieren, setzen Sie bei den Schwächsten an,
ohne Wenn und Aber . Das kann einen eigentlich nur
sprachlos machen; denn wir wissen, dass die Folge ist,
dass insbesondere Frauen und Kinder - die Abgeordneten, die derzeit vor Ort sind, werden das bestätigen können - auf die Boote über das Mittelmeer gehen . Das ist
auch logisch .
Ich finde es wirklich bigott, wenn man sich am Anfang
der Debatte hinstellt und sagt: „Hier kommen nur junge
Männer nach Deutschland . Was ist denn eigentlich los?“,
und später, wenn sich sozusagen der Wind dreht und viele Kinder kommen, auf einmal sagt: „Die Eltern in den
Kriegs- und Krisengebieten, die ihre Kinder losschickten, sind verantwortungslos“, vor allen Dingen, wenn
man weiß - Frau Jelpke hat darauf hingewiesen -, dass
es manchmal der einzige Weg ist, sein Kind zu schützen .
({5})
Es ist falsch, Frau Högl, zu sagen, dass es nur zwei
Jahre sind. Für geflüchtete Erwachsene bedeutet der ausgesetzte Familiennachzug, dass sie im schlimmsten Fall
bis zu fünf Jahre von ihren Familien getrennt werden,
was nach meiner Auffassung einer dauerhaften Trennung
gleichkommt . Das Asylverfahren dauert ab Stellung des
Asylgesuchs meist mehr als zwölf Monate . Zwei Jahre
beträgt die Wartefrist für Familienangehörige . Zudem
müssen die Nachzugsberechtigten häufig länger als ein
Jahr auf einen Termin bei der jeweiligen deutschen Botschaft warten . Das macht am Ende vier bis fünf Jahre,
und deshalb müssen wir hier von einer dauerhaften Trennung von Familien sprechen .
({6})
Vielleicht noch mal zu den Zahlen . Ich habe dazu ja
eine Kleine Anfrage gestellt, Herr Strobl . Deshalb weiß
ich: Das Szenario, das Sie hier zeichnen, dass Millionen
von Familien nachkommen, ist einfach falsch .
({7})
Bedauerlicherweise ist es so, dass lediglich gut
18 000 Menschen im vergangenen Jahr von diesem Recht
Gebrauch machen konnten . Es ist doch nicht so, dass wir
überrannt werden von einer Situation, mit der wir nicht
umgehen können .
({8})
Integration ist ein Familienprojekt . Wer keine Hoffnung hat, seine Kinder und Partner zügig in Sicherheit
zu bringen, der wird sich in Deutschland nicht integrieren, der wird nicht glücklich, der wird hier auch nicht
wirklich ankommen können . Von daher sind Einschränkungen beim Familiennachzug nicht nur menschenrechtlich verantwortungslos, sondern auch mit Blick auf die
Integration und den gesellschaftlichen Zusammenhalt
verantwortungslos und kurzsichtig .
({9})
Das gilt im Übrigen auch für eine weitere Regelung
in Ihrem Gesetzentwurf: Sie möchten künftig pauschal
von allen Flüchtlingen Geld einbehalten, um Sprachkurse zu finanzieren - wohlgemerkt von allen, sogar von
denen, die überhaupt gar kein Anrecht auf Sprachkurse
haben . Das heißt, obwohl das Bundesverfassungsgericht
unmissverständlich klargemacht hat, dass die Menschenwürde migrationspolitisch nicht zu relativieren ist, verlangen Sie künftig sogar Geld für etwas, was gar nicht
allen zusteht . Dazu möchte ich sagen: Die Unterscheidung bezieht sich eben nicht auf „schutzberechtigt“ und
„nicht schutzberechtigt“, sondern auf die Schutzquote .
Das zeigt sich ganz wunderbar bei den Sprachkursen,
auf die nur Syrer, Iraner, Iraker und Eritreer ein Anrecht
haben, zum Beispiel Afghanen aber nicht . Herr Strobl,
Sie können mir sicherlich beispringen, wenn ich sage,
dass ein großer Teil dieser Menschen durchaus schutzberechtigt ist, hier für immer bleiben wird, also hier eine
Zukunft haben muss und deswegen an den Sprachkursen
partizipieren muss .
({10})
Lassen Sie mich zum Schluss - weil das in der Debatte traurigerweise umgeht - die verschärfte Regelung
für jene Flüchtlinge ansprechen, die aufgrund einer Erkrankung aus humanitären Gründen eigentlich nicht zurückgeschickt werden können . Man beruft sich dabei auf
innerstaatliche bzw . inländische Gesundheitsalternativen
und darauf, dass Behandlungen von schweren Krankheiten grundsätzlich in dem betreffenden Land möglich
sind . Fragen, ob kranke Menschen die Gesundheitsversorgung vor Ort überhaupt erreichen können, ob sie genügend Mittel zur Verfügung haben, wenn sie zurückgeschickt werden, ob es überhaupt die Möglichkeit gibt,
sich innerhalb des Landes ohne Gefahr zu bewegen, um
die Gesundheitsversorgung in Anspruch zu nehmen, haben überhaupt keinen Platz . Genauso befremdlich ist es,
dass es in Ihrem vorliegenden Gesetzentwurf heißt, dass
posttraumatische Belastungsstörungen keine schwerwiegenden Erkrankungen darstellen, wenn sie medikamentös behandelt werden können . Ich weiß nicht, wie viele
Ärzte und Therapeuten heute im Parlament anwesend
sind: Ich habe mir sagen lassen, dass das mit der Realität
sehr wenig zu tun hat .
({11})
Kurzum: Auch diese geplante Regelung wird zu einer
Ausweitung der Abschiebungen von kranken Menschen
führen . Das kritisieren wir aufs Schärfste . Ich würde mir
wirklich wünschen, Herr Strobl, dass Sie an dieser Stelle
vielleicht auch ein paar Menschenrechtler zitieren .
({12})
Man kann sich das nicht immer aussuchen, und es geht
nicht, dass man nur zitiert, wenn es gerade passt, an anderer Stelle jedoch gar nicht hinhört bzw . Verfahren im
Parlament durchführt, in denen wir nur eine Woche Zeit
haben, um uns mit Experten auszutauschen .
({13})
Ich komme zum Schluss . Neue Gesetze, die nicht einmal einen Tag die Luft der Inkraftsetzung atmen, bevor
sie durch ein neues ersetzt werden sollen, durchnummerierte Sammelpakete, die in Eilverfahren durch die parlamentarischen Beratungen gejagt werden, das kategorische Ignorieren der Bedenken aus der Zivilgesellschaft
und der Experten und auch das notorische Abwehren von
Vorschlägen, die wir durchaus vorgelegt haben - all das
wird Sie nicht zu Ihrem Ziel bringen,
({14})
dass Asylverfahren beschleunigt werden, dass geordnete
Verfahren stattfinden und dass wir wissen - das ist ja Ihr
Hauptanliegen -, wer sich hier in unserem Land befindet.
All das wird dazu nicht beitragen . Ihr Vorhaben ist einseitig und gegen die Rechte von Schutzsuchenden . Das
lehnen wir entschieden ab .
({15})
Für die CDU/CSU spricht jetzt der Kollege Stephan
Mayer .
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen! Sehr geehrte Kollegen! Ich bin der festen Überzeugung, dass unser Land derzeit vor einer der größten Herausforderungen seit Bestehen der Bundesrepublik steht .
Es geht aus meiner Sicht so stark wie schon lange nicht
mehr darum,
({0})
dass wir alle an den Stellen, an denen wir Verantwortung
tragen, dazu beitragen, dass der innere Zusammenhalt
unseres Landes nicht verloren geht . Ich sehe die große
Gefahr einer zunehmenden Polarisierung unserer Gesellschaft, einer Stärkung der Zentrifugalkräfte und eines
Auseinanderdiffundierens unserer Gesellschaft .
({1})
Das kann nicht in unserem Interesse sein . Das kann nicht
im Interesse der hier vertretenen Parteien sein .
({2})
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, insbesondere Herr Kollege Bartsch und Herr Kollege von
Notz, Sie können die CSU verunglimpfen, Sie können
die CSU und den bayerischen Ministerpräsidenten beschimpfen .
({3})
Ich sehe das sehr gelassen - das sage ich Ihnen ganz
ehrlich -; denn das hilft uns in Bayern . Je mehr Sie uns
beschimpfen, desto mehr profitiert die CSU in Bayern
davon . Aber ich sage auch - und das meine ich ganz
ernsthaft -: Wenn Sie dazu auffordern, nicht die Probleme zu benennen,
({4})
die sich in unserem Land stellen, wenn Sie dazu auffordern, die Ängste und Bedenken unserer Bevölkerung zu
ignorieren,
({5})
dann machen Sie genau das Gegenteil dessen, was wir
eigentlich wollen . Sie leiten Wasser auf die Mühlen der
Rechtspopulisten,
({6})
und Sie tragen mit dazu bei, dass sich unsere Bevölkerung weiter von der Politik abgrenzt .
({7})
Herr Bartsch, Sie fordern dazu auf, dass die CSU wieder in ihr Herkunftsland zurückkehren soll .
({8})
Ich bin der festen Überzeugung: Deutschland fährt gut
damit, dass Bayern ein fester Bestandteil Deutschlands
ist . Das meine ich ernst . Seit der Wiedervereinigung sind
über 2 Millionen Bundesbürger nach Bayern gezogen .
Also, so schlecht können die Bedingungen in Bayern
nicht sein. Bayern zahlt über die Hälfte des Länderfinanzausgleiches .
({9})
Herr Bartsch, was Sie mehr besorgen sollte - das meine ich auch ernst - als die CSU, ist, dass offenbar ein
Fraktionskollege von Ihnen einen ehemaligen RAF-Terroristen als Angestellten beschäftigen will, der wegen
neunfachen Mordes und elffachen Mordversuches verurteilt wurde .
({10})
Das ist schäbig . Das ist schändlich . Herr Bartsch, kümmern Sie sich um diese Angelegenheit und nicht um die
Befindlichkeiten der CSU!
({11})
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen von
der Opposition, ich sage Ihnen ganz klar: Es wird Ihnen nicht gelingen - so sehr Sie hier auch über die CSU
und über die Haltung der bayerischen Staatsregierung
schwadronieren -,
({12})
die CDU und die CSU auseinanderzudividieren . CDU
und CSU sind die Taktgeber, wenn es darum geht, die
Asylgesetzgebung sachgerecht und angemessen voranzubringen .
({13})
Herr Kollege Mayer, gestatten Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Dr . von Notz?
Sehr gerne . Selbstverständlich .
({0})
Herr Kollege Mayer, vielen Dank, dass Sie die Zwischenfrage zulassen . - Weil Sie mich direkt angesprochen haben, will ich Sie etwas fragen . Man kann die Linke ja immer kritisieren, für Praktikanten und so;
({0})
aber in Zeiten, in denen Ihr Ministerpräsident zu Wladimir Putin reist und mit ihm auf enge Kooperation macht,
sollte man sich zurückhalten .
({1})
Deswegen erwarte ich von Ihnen als innenpolitischer
Sprecher von der CSU eine Interpretation, ein klares Statement, wie denn bitte die Aussage von Herrn Seehofer „Herrschaft des Unrechts“ - zu interpretieren ist . Legen
Sie mir das einmal aus, damit ich das verstehe!
({2})
Vielen Dank, sehr geehrter Herr Kollege von Notz . Um auf Ihre erste Einlassung einzugehen: Ich sehe das
beileibe nicht so lapidar . Wenn ein ehemaliger RAF-Terrorist, der sich des neunfachen Mordes schuldig gemacht
hat, von einem Kollegen in diesem Haus als Angestellter
beschäftigt werden soll,
({0})
dann ist das aus meiner Sicht ein Skandal . Sonst zitieren
Sie ja doch immer so gerne Skandale .
({1})
Stephan Mayer ({2})
Jetzt zu Ihren beiden konkreten Fragen .
({3})
Der russische Präsident Putin ist mit Sicherheit kein einfacher Verhandlungspartner .
({4})
Ich sage auch ganz offen: Er hat zutiefst völkerrechtswidrig gehandelt, als die Krim annektiert wurde . Aber
eines gehört aus meiner Sicht auch mit zur Wahrheit: Wir
haben derzeit derart viele globale Konfliktherde,
({5})
und wir werden die Russen bei der Lösung dieser Konflikte brauchen, ob wir wollen oder nicht.
({6})
Man muss mit den Russen und auch mit dem russischen
Präsidenten sprechen, wenn es darum geht, die Situation
im Mittleren und im Nahen Osten in den Griff zu bekommen . Auch wenn es darum geht, den Ukraine-Russland-Konflikt zu lösen, muss man den Gesprächsfaden
mit den Russen wieder aufnehmen .
({7})
Herr Kollege von Notz, ich glaube nicht, dass in der
Weltgemeinschaft und zwischen den Staats- und Regierungschefs momentan zu viel gesprochen wird, sondern
ich glaube, dass zu wenig gesprochen wird, um das klar
zu sagen .
({8})
Der bayerische Ministerpräsident hat die Punkte, die es
anzusprechen gilt, bei seinem Besuch in Moskau sehr
wohl kritisch angesprochen .
({9})
Aber eines muss klar sein: Man muss miteinander reden .
Nur wenn wir miteinander reden, kommen wir bei der
Lösung dieser Konflikte weiter.
({10})
Zu Ihrer zweiten Frage, Herr Kollege von Notz, zum
Thema „Herrschaft des Unrechts“ .
({11})
Es ist nun einmal so - das ist auch die abgestimmte
Rechtsposition der Bundesregierung -, dass die Vorgänge an den deutschen Außengrenzen, insbesondere an der
bayerisch-österreichischen Grenze, derzeit so sind, dass
Zurückweisungen rechtlich möglich wären .
({12})
Es ist eine politische Frage, ob man zu dieser Maßnahme
greift .
({13})
Ich würde nicht zuallererst zu dieser Maßnahme greifen;
aber der Hinweis darauf, dass diese größtenteils unkontrollierte und unregistrierte Zuwanderung, insbesondere
Ende letzten Jahres,
({14})
nicht im Einklang mit deutschem Recht war, ist aus meiner Sicht vollkommen richtig und legitim .
({15})
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen,
CDU und CSU sind gemeinsam Taktgeber, wenn es darum geht, diese große Herausforderung in den Griff zu
bekommen . Vieles von dem, was jetzt im Rahmen des
Asylpakets II ansteht, hätten wir gerne - auch das sage
ich hier ganz offen - schon weitaus früher verabschiedet .
({16})
Nun hat es etwas länger gedauert; aber was lange währt,
wird endlich gut .
Wir verfolgen ganz deutlich drei Ziele:
Zum einen geht es darum, falsche Anreize zu reduzieren - mit Blick auf diejenigen, die kein Recht haben, in
Deutschland Asyl zu bekommen oder als Flüchtling anerkannt zu werden . Wir haben dazu - dies ist auch einmal
klar zu sagen - im letzten Jahr weitreichende Maßnahmen ergriffen . Ich bin der festen Überzeugung, wir sollten alle stärker über das reden, was wir im vergangenen
Jahr an gesetzlichen Maßnahmen verabschiedet haben,
zum Beispiel darüber, dass der gesamte Westbalkan jetzt
eine sichere Herkunftsregion ist, was dazu geführt hat,
dass kaum mehr ein Bewerber aus den sechs Ländern des
westlichen Balkans kommt; dass wir wieder zum Sachleistungsprinzip zurückgekehrt sind - das Sachleistungsprinzip hat Vorrang vor dem Geldleistungsprinzip -; dass
es die Möglichkeit gibt, Sozialleistungen für diejenigen
zu reduzieren, die ausreisepflichtig sind, unser Land aber
nicht verlassen . Das meine ich mit Reduzierung falscher
Anreize . Das ist ein elementares Ziel .
({17})
Stephan Mayer ({18})
Des Weiteren geht es darum, die Verfahren zu beschleunigen . Auch hier haben wir durchaus sehr weitreichende und auch sehr zielgerichtete Maßnahmen
vorangebracht . Wir haben im letzten Monat das Datenaustauschverbesserungsgesetz verabschiedet . Das führt
dazu, dass jetzt eine lückenlose Registrierung ermöglicht
wird - unmittelbar nach dem Eintritt in das Bundesgebiet .
Wir reichen ab Beginn des Februars einen Ankunftsnachweis an alle Flüchtlinge aus, die neu zu uns kommen . Auch dies ist ein wichtiger Bestandteil im Maßnahmenkatalog der Bundesregierung und der sie tragenden
Fraktionen .
Das dritte Ziel ist - das gehört auch zur Wahrheit mit
dazu -, dass wir natürlich alles dafür tun müssen, dass
die hohe Zahl derjenigen, die nach wie vor unser Land
erreichen, deutlich, drastisch und schnell reduziert wird .
Ich sage auch ganz offen: Natürlich ist mir eine europäische und internationale Lösung lieber, als es mir nationale Maßnahmen sind . Ich unterstütze nachdrücklich
unsere Bundeskanzlerin, wenn es darum geht, in Europa
und gegenüber vielen europäischen Hauptstädten dafür
zu werben, dass wir einen konzertierten gemeinsamen
Ansatz an den Tag legen, wenn es darum geht, diese
epochale Herausforderung, die auch Europa in die größte
Krise seit seinem Bestehen gestürzt hat, in den Griff zu
bekommen .
Nur - das gehört zur Wahrheit eben auch dazu -: Die
europäische Lösung lässt auf sich warten . Das liegt nicht
am fehlenden Einsatz und am fehlenden Engagement der
Bundeskanzlerin, sondern das liegt bedauerlicherweise
daran, dass immer mehr nationale Egoismen in vielen
Hauptstädten der Europäischen Union um sich greifen .
Deshalb - das sage ich ganz deutlich - müssen wir
auch als Nationalstaat weiterhin handeln . Das Asylpaket II ist ein wichtiger und maßvoller Bestandteil in diesem Maßnahmenkatalog .
Noch eines zum Thema „Aussetzung des Familiennachzugs“, weil das von Ihnen vielmals als inhuman und
skandalös diskreditiert wurde .
({19})
Bis zum 1 . August letzten Jahres war der Familiennachzug für subsidiär Schutzberechtigte ausgesetzt . Wir kehren schlichtweg nur zu dem Rechtszustand zurück, der
bis zum 1 . August 2015 gegolten hat,
({20})
an dem Sie auch nie irgendeinen Anstoß genommen haben .
({21})
Jetzt plötzlich sagen Sie, alles wäre unheimlich unmenschlich und skandalös . Bis zum 1 . August haben Sie
daran überhaupt keine Kritik geübt .
({22})
Um das auch zu sagen: Es ist bedauerlicherweise ein
häufig praktiziertes Geschäftsmodell der Schlepper und
Schleuser, dass sie minderjährige Kinder voranschicken,
um damit zu erreichen, dass diese ihre Eltern nachziehen
lassen können .
({23})
Wir dürfen dieses Geschäftsmodell der Schlepper und
Schleuser hier nicht zum Tragen kommen lassen . Ganz
im Gegenteil: Wir müssen ihnen einen Strich durch die
Rechnung machen .
({24})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir werden
mit diesem Gesetzespaket auch die Abschiebungen erleichtern . Gestatten Sie einige Bemerkungen zum Thema Abschiebungen . Die Abschiebungen haben sich vom
Jahr 2014 auf das Jahr 2015 verdoppelt . Das ist gut, aber
ich sage ganz offen: Da sind alle Länder aufgefordert,
sich noch mehr nach der Decke zu strecken und mehr
zu tun .
15 Bundesländer haben es geschafft, die Abschiebezahlen zu erhöhen . Bayern zum Beispiel hat sie vervierfacht . Ein einziges Bundesland war so erfolgreich - in
Anführungszeichen - und hat es geschafft, im Jahr 2015
weniger Personen abzuschieben als im Jahr 2014 . Das
war, Herr Bartsch, ausgerechnet das Bundesland, in dem
ein Linker Ministerpräsident ist - Gratulation!
({25})
Wenn dann dieser linke Ministerpräsident noch dazu
ankündigt, dass er nicht bereit ist, der Aufforderung des
Bundesinnenministers zu folgen, ausreisepflichte afghanische Staatsbürger zu melden und diese in ihr Heimatland abzuschieben, halte ich das für skandalös; das sage
ich klar, Herr Bartsch .
({26})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, noch eine
letzte kurze Bemerkung zum Ausweisungsrecht . Die
jetzt beabsichtigte Verschärfung des Ausweisungsrechts
ist sachgerecht, weil auch eines zur Wahrheit gehört: Wer
sich ein derart schädliches und schäbiges Verbrechen hat
zuschulden kommen lassen - Stephan Mayer ({27})
Herr Kollege Mayer, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage der Kollegin Brantner?
Selbstverständlich, sehr gerne .
Herr Kollege Mayer, ich wollte Sie fragen zu den Abschiebungen, die Sie erwähnt haben - vierfach höhere
Abschiebungszahlen in Bayern -, und zur Statistik . Ist
Ihnen bewusst, dass die Bayern als einzige alle, die sie
nicht mehr auffinden, mit zu denjenigen zählen, die freiwillig ausgereist sind?
Wenn man diese Zahlen herausrechnet - alle anderen
Bundesländer sagen nicht, dass diejenigen, die sie nicht
mehr auffinden, offensichtlich ausgereist sind -, ist der
Unterschied zwischen Bayern und den anderen Bundesländern gar nicht mehr so groß . Sind Sie auch dafür, dass
man das harmonisiert und sich darauf einigt, dass nur
noch die, von denen man sicher ist, dass sie ausgereist
sind, auch als Ausgereiste zählen?
({0})
Sehr verehrte Frau Kollegin Brantner, mir geht es ja
gar nicht darum, Bayern zu glorifizieren.
({0})
- Nein, das meine ich wirklich sehr ernst . - Ich habe zu
Beginn meiner Rede wirklich ernsthaft darauf hingewiesen, dass wir alle ein Interesse daran haben müssen, dass
der innere Zusammenhalt unseres Landes so bleibt, wie
er jetzt ist .
({1})
Ich sehe die große Gefahr, dass nicht nur Parteien auseinanderdiffundieren, sondern dass wir momentan auch
unser Land auf einen Weg bringen, auf dem es sich eher
auseinanderentwickelt als beieinanderbleibt .
Aber um eines klar zu sagen: Es ist nun einmal so,
dass die Abschiebepolitik in Bayern konsequenter und
effektiver ist als in vielen anderen Bundesländern .
({2})
Es gibt manche Bundesländer, die nicht einmal mehr
über entsprechende Möglichkeiten verfügen, abzuschiebende Personen in Gewahrsam zu nehmen . Manche Bundesländer wie Schleswig-Holstein machen es sich ganz
einfach: Sie haben überhaupt kein Abschiebegefängnis .
In der Konsequenz werden natürlich auch deutlich weniger Abschiebungen durchgeführt als in anderen Bundesländern .
({3})
Bayern und vor allem der bayerische Innenminister machen eine sehr konsequente Abschiebepolitik .
Um auch dies klar zu sagen: Nur durch konsequente und effektive Abschiebungen wird auch das richtige
Signal an die Länder gesetzt, in denen sich potenzielle
Flüchtlinge aufhalten - dass es unter diesen Gegebenheiten keinen Sinn mehr macht, sich auf diesen gefahrvollen, für viele bedauerlicherweise sogar tödlichen Weg
nach Europa zu machen -, weil dadurch festgestellt wird:
Wenn eine Person ausreisepflichtig ist, dann muss sie unser Land in der Konsequenz schnell und zügig verlassen .
({4})
Natürlich sind mir freiwillige Ausreisen lieber als
zwangsweise Abschiebungen . Natürlich wäre es schön,
wenn mehr Personen der Aufforderung nachkämen,
unser Land freiwillig zu verlassen . Aber in der letzten
Konsequenz muss der Staat natürlich handlungsfähig
bleiben und die Personen, die nicht bereit sind, freiwillig
die Rückreise anzutreten, zwangsweise in ihr Heimatland
zurückführen .
({5})
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen,
eine letzte Bemerkung zum Thema Ausweisungsrecht .
Die vorgeschlagene gesetzliche Regelung zur Verschärfung des Ausweisungsrechts ist alles andere als Symbolpolitik oder Aktionismus . Sie ist aus meiner Sicht eine
sehr maßvolle, sachgerechte Ergänzung des bisherigen
Ausweisungsrechts, weil klargemacht wird: Wenn sich
jemand ein schändliches Verbrechen gegen die sexuelle Integrität, gegen die körperliche Unversehrtheit, gegen das Leben oder gegen das Eigentum hat zuschulden
kommen lassen, dann hat er damit auch sein Bleiberecht
in Deutschland verwirkt und muss unser Land zügig verlassen .
({6})
In diesem Sinne: Ich glaube, das Gesetzespaket, das
heute eingebracht wird - das Asylpaket II und die Verschärfung des Ausweisungsrechts -, ist sachgerecht und
maßvoll . An diesem Gesetzespaket wird auch deutlich:
Die Bundesregierung und die sie tragenden Fraktionen
sind handlungsfähig . Wir stehen vor einer großen Herausforderung . Wir haben noch weitere große Herausforderungen und Probleme vor uns . Aber mit diesem Paket
werden wir konsequent reagieren . Deshalb bitte ich um
eine zügige Behandlung in den Ausschüssen und dann
auch um eine zügige Verabschiedung hier im Deutschen
Bundestag .
({7})
Nächster Redner ist Herr Landesinnenminister Ralf
Jäger .
({0})
Ralf Jäger, Minister ({1}):
Vielen Dank, Herr Präsident . - Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Der Satz „Wir schaffen das“ wird
irgendwann vermutlich in die Geschichtsbücher eingehen . Dieser Satz beinhaltet zunächst ein Versprechen, ein
Versprechen an die Flüchtlinge, die nach Deutschland
fliehen. Er ist zugleich aber auch eine Verpflichtung für
diejenigen, die ihn umsetzen sollen und müssen .
Wer ist eigentlich „wir“? Ein Dach über dem Kopf
organisieren, die Versorgung sicherstellen, die Flüchtlinge registrieren, sie medizinisch betreuen, die Sprachvermittlung organisieren, Kindergartenplätze zur Verfügung
stellen, die Beschulung organisieren, schlichtweg Integration leisten, das ist die Leistung der Länder, aber vor
allem der Kommunen .
({2})
Der Bund hat eine wichtige Aufgabe: Asylanträge zu bearbeiten .
({3})
Meine Damen und Herren, die Länder und ich selbst
erkennen die besonderen Bemühungen der Kanzlerin,
von Außenminister Steinmeier und auch von Herrn Bundesinnenminister de Maizière, eine europäische Lösung
im Hinblick auf den Flüchtlingsstrom nach Europa und
nach Deutschland zu suchen, ausdrücklich an . Aber in der
Zeit dieser Bemühungen geht das Tagesgeschäft für Länder und Kommunen weiter . Das bedeutet, dass sie jeden
Tag weitere, zusätzliche Menschen unterzubringen haben - jeden Tag zusätzliche . Von einer entspannten Lage
kann definitiv nicht gesprochen werden, auch wenn die
Zahlen jetzt etwas zurückgegangen sind . Allein in Nordrhein-Westfalen haben wir nur im Januar 19 000 Menschen nach dem Königsteiner Schlüssel untergebracht .
Tatsächlich sind übrigens 27 000 angekommen . All diese
müssen registriert, geröntgt und untergebracht bzw . beherbergt werden . Mit dem „wir“ im Satz „Wir schaffen
das“ sind auch unsere Kommunen gemeint, die Unglaubliches leisten .
({4})
Der Alltag in den Städten und Gemeinden ist zurzeit
24 Stunden am Tag, sieben Tage in der Woche, Obdachlosigkeit zu vermeiden . Das ist im letzten Jahr gelungen - im Übrigen auch durch unzählige Freiwillige, die
zum Teil ihren Jahresurlaub genommen oder mit ihrem
Arbeitgeber das Agreement getroffen haben, statt zu
arbeiten, in der Flüchtlingsunterbringung tätig zu sein .
Nach meinem Eindruck lässt das auch nicht nach . Das
alles ist in den Kommunen dieses Landes geleistet worden. In denselben Kommunen finden aktuell aber auch
Diskussionen darüber statt, die Grundsteuer B oder die
Gewerbesteuer erhöhen und Bibliotheken oder Jugendzentren schließen zu müssen, weil die Kosten der Flüchtlingsunterbringung so hoch geworden sind . Deshalb
meine Anregung: Man kann Haushaltsüberschüsse auch
dafür nutzen, die Kommunen in diesem Land zu entlasten .
({5})
Die Kommunen haben die größte Last zu tragen; sie
müssen die Menschen unterbringen und ihnen das vor
Ort auch erklären .
Das Asylpaket II ist wichtig . Das gilt auch in Bezug
auf das Thema Rückführung; denn ich bin zutiefst davon
überzeugt, dass es die große Akzeptanz, diese Willkommenskultur, die in Deutschland herrscht - allein im letzten Jahr wurden 1 Million Flüchtlinge aufgenommen -,
nur dann weiterhin geben wird, wenn der Rechtsstaat
deutlich macht, dass diejenigen, die keinen Schutz brauchen, zurückkehren müssen, und zwar so schnell wie
möglich, weil das nur fair ist, bevor Integrationsprozesse
beginnen und später abgebrochen werden müssen .
({6})
Das, was heute hier zum Asylpaket II und zur Rückführung beraten wird, kann nur der erste Schritt sein .
Auch wenn es zukünftig leichter sein soll, schneller zurückzuführen, steht die Rückführung immer nur am Ende
eines Asylverfahrens, und die Asylverfahren in Deutschland dauern trotz aller Anstrengungen und trotz aller Bemühungen des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge nach wie vor viel zu lange .
({7})
Herr Strobl, die durchschnittliche Bearbeitungsdauer des Asylantrags eines Asylsuchenden aus den
Maghreb-Staaten dauert ganz konkret 14,7 Monate nach
Antragstellung .
({8})
Bis zur Antragstellung hat dieser Mensch acht Monate
zu warten . Das heißt, weil diese Verfahren zu lange dauStephan Mayer ({9})
ern, sind Menschen, die eigentlich keinen Anspruch auf
Schutz haben, fast zwei Jahre hier .
({10})
Um auch das deutlich zu sagen, Herr Strobl: Ihre Argumentation, dass die Aufnahme der Westbalkanstaaten in die Liste der sicheren Herkunftsstaaten zu einem
Rückgang der Asylbewerber aus diesen Staaten geführt
hat, ist falsch .
({11})
Nicht dadurch, dass diese Staaten zu sicheren Herkunftsländern erklärt wurden, sondern lange davor - durch
Maßnahmen des Bundesinnenministers, des Bundesaußenministers und vieler anderer Beteiligte - ist es insbesondere in Albanien gelungen, die Menschen davor zu
bewahren, ihre eigene Existenz aufzugeben, Hab und Gut
zu verkaufen und die Schleuser zu finanzieren, um sich
dann irgendwann vor dem Nichts dort wiederzufinden.
({12})
- Herr Strobl, wenn Sie sich die Zahlen anschauen, werden Sie feststellen, dass diese Zahlen, lange bevor der
Deutsche Bundestag die Liste der sicheren Herkunftsstaaten erweitert hat, deutlich gesunken sind . Herr Strobl,
Ihre Argumentation hält einem Realitätscheck nicht
stand .
({13})
Meine Damen und Herren, die Ausweisung ist nicht
zugleich die Abschiebung .
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Strobl?
({0})
Ralf Jäger, Minister ({1}):
Von Herrn Strobl immer .
Verehrter Herr Minister Jäger, sind Sie bereit, Folgendes zur Kenntnis zu nehmen: Natürlich hat es viele
flankierende Maßnahmen - durch den Bundesinnenminister, durch den Bundesaußenminister - in den Westbalkanstaaten gegeben . Gleichwohl hatten wir die Situation,
dass über das gesamte Jahr 2014 knapp die Hälfte aller
Flüchtlinge, die nach Deutschland gekommen sind, vom
Westbalkan kamen - Schutzquote: null . Das ging noch
bis zum August des Jahres 2015 so . Im Herbst ist dann
unsere Gesetzgebung in Kraft getreten, mit der wir den
gesamten Westbalkan zu einer sicheren Herkunftsregion
gemacht haben, und exakt ab diesem Zeitpunkt sind die
Zahlen
({0})
auf nahezu null zurückgegangen .
Allein aufgrund dieses zeitlichen Zusammenhangs
finde ich, dass es eine gute Gesetzgebung gewesen ist,
die SPD und CDU/CSU im Deutschen Bundestag gemacht haben und der verschiedene Länder mit SPD-Regierungsbeteiligung zu Recht im Bundesrat zugestimmt
haben . Diese gute Gesetzgebung sollten wir aus den von
Ihnen zu Recht genannten Gründen schnellstmöglich
auch auf die Maghreb-Staaten übertragen .
({1})
Ralf Jäger, Minister ({2}):
Herr Strobl, Sie haben mich gefragt, ob ich bereit
bin, das zur Kenntnis zu nehmen: eindeutig nein, weil
es falsch ist .
({3})
Herr Strobl, Sie bekommen als Bundestagsabgeordneter
monatlich die statistischen Daten des Bundesamtes für
Migration und Flüchtlinge . Schauen Sie rein!
({4})
Dann werden Sie feststellen, dass im Februar 2015 exakt zur Zeit des rheinischen Karnevals - die Zahl der
Asylsuchenden aus dem Kosovo extrem gestiegen ist
({5})
- in der Tat: 1 500 am Tag, allein in Nordrhein-Westfalen
300 bis 400 pro Tag - und dass es durch Maßnahmen
im Kosovo, durch Kommunikation, durch Gespräche, die
Bundesminister und Landesminister im Kosovo geführt
haben, gelungen ist, diese Zahlen bis April/Anfang Mai
deutlich zu senken .
({6})
- Herr Strobl, Sie haben doch eine Frage gestellt und
wollen die beantwortet bekommen .
({7})
In der Zwischenzeit stiegen die Zahlen aus Albanien
ab April/Mai extrem an, über den ganzen Sommer . Es
hat uns wirklich vor eine extreme Herausforderung gestellt, für diese Menschen Betten und ein Dach über dem
Minister Ralf Jäger ({8})
Kopf zu organisieren . Aber Tatsache ist: Als der Deutsche Bundestag das Gesetz über sichere Herkunftsstaaten
beschlossen hat, waren diese Zahlen schon längst wieder
unten .
({9})
Ich will damit ja nicht sagen, dass dieses Gesetz falsch
ist . Ich will damit nur sagen: Allein ein Land in die Liste
der sicheren Herkunftsländer aufzunehmen, führt nicht
dazu, dass die Menschen dieses Land nicht verlassen
wollen, Herr Strobl .
({10})
Das müssen Sie jetzt bitte einmal zur Kenntnis nehmen .
Wir waren bei der Debatte an dem Punkt -
Herr Minister, der Kollege Beck möchte ebenfalls
eine Frage an Sie richten .
Ralf Jäger, Minister ({0}):
Selbstverständlich .
Einen Teil meiner Frage haben Sie schon durch die
Frage von Herrn Strobl beantwortet . Ich wollte Sie fragen, ob Sie sich mit mir gemeinsam auch daran erinnern,
dass zum Jahresanfang, nach der Erweiterung der Liste
der sicheren Herkunftsstaaten um drei Länder, einerseits
im Fall des Kosovo die Zahlen drastisch zurückgegangen
sind ({0})
das haben Sie gerade bestätigt - und andererseits im Fall
von Serbien, obwohl es zu diesem Zeitpunkt ein sicherer
Herkunftsstaat war, die Zahlen praktisch stabil geblieben
sind, was zeigt, dass es offensichtlich mehr auf die Informationspolitik in den Ländern ankommt als auf die
Einstufung als sicherer Herkunftsstaat, wenn man verhindern will, dass Menschen, die keinen Schutzanspruch
haben, sich auf die Reise machen .
({1})
Ralf Jäger, Minister ({2}):
Herr Beck, das ist präzise zutreffend .
({3})
Meine Damen und Herren, ich bin bei dem Punkt,
dass Ausweisung noch keine Abschiebung ist . Wenn
die Heimatstaaten ihre Staatsbürger nämlich nicht zurücknehmen - weil sie unkooperativ sind, weil sie sich
verweigern, Passersatzpapiere, die für die Rückführung
zwingend erforderlich sind, auszustellen -, dann helfen
auch im Gesetz verankerte leichtere Ausweisungen nicht
weiter . Im Gegenteil: Im Ergebnis werden die Zahlen der
Geduldeten in den Bundesländern steigen . Ich weiß, dass
der Bundesinnenminister und der Bundesaußenminister
zurzeit viele Flugmeilen leisten, um in dieser Frage Lösungen zu finden. Aber wir brauchen auch Ergebnisse.
Diskussionen über leichtere Rückführungen in sichere
Herkunftsstaaten, Herr Strobl, sind nur Makulatur, wenn
am Ende eine Abschiebung nicht durchgeführt werden
kann .
Meine Damen und Herren, all das sind Probleme, mit
deren Folgen die Länder, aber vor allem unsere Kommunen umgehen müssen, die sie aber selbst nicht lösen
können . Deshalb eine Bitte: Wir brauchen wirkliche Lösungen . Wir brauchen eine Aufrichtigkeit in der Flüchtlingspolitik .
({4})
Wir brauchen die Solidarität der Verantwortlichen . Zu
dieser Solidarität gehört auch, dass die Europäische Union keine Arbeitsgemeinschaft zur Verteilung von Fördermitteln ist, sondern auf Grundlage von Werten wie Humanität und Solidarität gegründet wurde .
({5})
Dieses Land verändert sich durch den Zustrom von
1 Million Flüchtlinge - wir wissen nicht, wie viele es
dieses Jahr sein werden - rasant . Dieses unglaubliche
Tempo gehen viele in diesem Land mit, manche sogar
mit Begeisterung . Manche Menschen in diesem Land haben Skepsis, andere machen sich Sorgen, manche haben
sogar Angst . Ich glaube, wenn man Menschen, die Angst
haben, nicht aus unserem gemeinsamen demokratischen
und politischen Koordinatensystem treiben will, dann
sollte man polternde Stammtischparolen und narkotisierende Scheinlösungen unterlassen .
({6})
Das gilt auch, Herr Strobl, für die Politik . Das bedeutet,
bei diesem Thema nicht gegenseitig mit dem Finger auf
sich zu zeigen . Vielmehr erwarten die Bürgerinnen und
Bürger von uns gemeinsame Lösungen .
({7})
Wer mit den Ängsten der Menschen spielt und glaubt,
dass man damit politische Geländegewinne erzielen
kann, der wird sich nach dem 13 . März dieses Jahres vielleicht darüber wundern, dass davon ganz andere profitiert
({8})
und Geländegewinne gemacht haben, obwohl wir doch
gemeinsam wollen, dass diese in einem demokratischen
Parlament nicht vertreten sind .
({9})
Minister Ralf Jäger ({10})
Meine Damen und Herren, zu dieser Sachlichkeit und
Ehrlichkeit gehört auch, zu sagen, dass es eine schnelle
Lösung für den Flüchtlingsstrom nach Deutschland nicht
geben wird, sondern dass wir weiterhin einen langen
Atem brauchen, dass wir aber im Rahmen dieser Sachlichkeit zugleich das wahrnehmen, was draußen passiert, Herr Strobl, und gelegentlich einen Realitätscheck
durchführen .
Es war für Länder und Kommunen ein hartes
Jahr 2015 . Die Länder haben inzwischen fast durchweg
stabile Aufnahmesysteme . Das kriegen wir hin .
({11})
Aber daran, ob unsere Kommunen ein solches Jahr noch
einmal schaffen, gibt es wirklich Zweifel .
({12})
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit .
({13})
Für die CDU/CSU-Fraktion spricht jetzt die Kollegin
Nina Warken .
({0})
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! In den letzten Tagen war viel
Kritik bezüglich der Gesetzentwürfe, die wir heute beraten, zu hören; auch in der Debatte wurde damit nicht
gespart . Wir hörten, das Asylpaket II sei gesetzeswidrig,
eine ungerechte Verschärfung - von einer Gängelung der
Flüchtlinge und einer Aushöhlung des Asylrechts war die
Rede; „Populismus“, „hilflos“ und „schäbig“ waren die
Worte - und dass das alles nichts bringen würde .
Wenn man aber so argumentiert, darf man sich folgenden Tatsachen nicht versperren: Tausende Menschen
kommen täglich zu uns, obwohl sie bereits in einem anderen Land Schutz gefunden haben oder Schutz finden
könnten .
({0})
Unter den Asylbewerbern sind auch Kriminelle, die bei
uns Straftaten begehen . In manchen Fällen wird ein Asylantrag nur gestellt, um Sozialleistungen zu bekommen .
Kinder und Jugendliche werden auf eine lebensgefährliche Reise geschickt, damit dann auch ihre Eltern nach
Deutschland kommen dürfen . Abgelehnte Asylbewerber
werden vor allem in rot-grün regierten Bundesländern
nur unzureichend abgeschoben . - All das ist inzwischen
Alltag in Deutschland geworden und findet deshalb kein
Verständnis in der Bevölkerung . Die Bürger erwarten
von uns, dass wir gegen Missbrauch und Fehlentwicklungen vorgehen, die mit dem Schutz vor Verfolgung rein
gar nichts zu tun haben .
({1})
Genau das tun wir mit den Gesetzentwürfen, die wir heute hier beraten .
Was Sie, werte Kollegen von der Opposition, wollen,
um die Lage zu bewältigen, ist auch heute offengeblieben . Außer Kritik war nicht viel zu hören .
({2})
Herr Jäger hat zwar Lösungen angesprochen, aber keine
Lösungen präsentiert . Kritisieren ist einfacher als konstruktive Mitarbeit, hilft uns aber kein Stück weiter .
({3})
Meine Damen und Herren, betrachten wir das Ganze
doch einmal vom Ende her: Wie würde es ohne die Maßnahmen weitergehen, die wir heute beschließen wollen?
Fangen wir mit dem beschleunigten Verfahren für
Asylbewerber an, die keine Bleibeaussicht haben . 2015
sind 1,1 Millionen Menschen nach Deutschland gekommen, die sich auf das Asylrecht berufen . Das sind aber
nicht nur Flüchtlinge, die Anspruch auf Schutz haben .
Nur 49 Prozent der 2015 gestellten Asylanträge wurden
positiv entschieden . Das heißt, dass bei mehr als der Hälfte keine Schutzbedürftigkeit festgestellt werden konnte .
Wenn wir bei Asylbewerbern, bei denen schon bei
der Ankunft absehbar ist, dass sie keine Bleibeaussicht
haben, nicht in kürzester Zeit entscheiden und sie in
ihre Herkunftsländer zurückführen, werden wir noch
mehr Anreize schaffen, ohne berechtigten Grund nach
Deutschland zu kommen . Deshalb ist es wichtig, dass
Asylbewerber aus sicheren Herkunftsstaaten, Folgeantragsteller und diejenigen, die gegen ihre Mitwirkungspflichten verstoßen oder die betrügen, für die Dauer des
Verfahrens in speziellen Einrichtungen - idealerweise in
Grenznähe - bleiben müssen . Das ist nicht nur ein klares
Signal im Sinne von „Wir nehmen nur wirklich Schutzbedürftige auf“, sondern entlastet auch deutlich unsere
Kommunen bei der Unterbringung .
({4})
Man kann dabei auch nicht von Gängelung oder Aushöhlung des Asylrechts sprechen . Nein, das sind wirkungsvolle Maßnahmen, die im Übrigen mit EU-Recht vereinbar sind .
Kommen wir zur Aussetzung des Familiennachzugs
für subsidiär Schutzbedürftige . Bei diesem Thema haben sich Grüne und Linke mit ihrer Kritik ja fast schon
überschlagen . Schauen wir uns aber einmal die Fakten
an: Seit Anfang des Jahres kommen weiterhin 2 000 bis
5 000 Menschen täglich bei uns an . Wir müssen davon
ausgehen, dass die Zahl der subsidiär Schutzbedürftigen
steigen wird . Wenn dann noch jeder ein Recht auf Familiennachzug hat, werden wir am Jahresende 2 Millionen
Flüchtlinge oder noch mehr haben . Die Aussetzung des
Familiennachzugs bei subsidiär Schutzbedürftigen ist daher in der jetzigen Situation notwendig .
Minister Ralf Jäger ({5})
Europarechtlich ist der Familiennachzug für diese
Gruppe nicht geboten . Wir sind das einzige Land in Europa, das subsidiär Schutzbedürftigen das Recht auf Familiennachzug gewährt, und es hat sich gezeigt, dass dies
ein Grund ist, warum Schutzsuchende unbedingt nach
Deutschland wollen .
({6})
Aus unserer Sicht ist es daher geboten, die im Übrigen auch das darf ich noch einmal klar sagen - erst zum
1 . August 2015 geschaffene Rechtslage wieder auszusetzen .
Lassen Sie mich im Zusammenhang mit dem Familiennachzug auch klarstellen: Unter optimalen Umständen
ist es natürlich wünschenswert und das Beste, wenn eine
Familie zusammenbleiben kann . Da bin ich ganz bei Ihnen . Die Forderung, dass wir beim Familiennachzug für
unbegleitete Minderjährige mit subsidiärem Schutz eine
Ausnahme machen und sie alle ihre Familien nachholen
können, wäre aber ein verheerendes Signal und unverantwortlich . Wir würden die falschen Anreize setzen, die
dazu führen, dass künftig noch mehr Kinder und Jugendliche alleine auf eine gefährliche Reise geschickt werden, damit sie dann ihre Eltern nachholen können . Neue
Schleppergeschäftsmodelle, die sich darauf konzentrieren, wären vorprogrammiert . Das sagt auch der schon
erwähnte Experte Rupert Neudeck .
Es ist auch schlichtweg falsch, zu behaupten, dass die
Aussetzung des Familiennachzugs für unbegleitete Minderjährige gegen das Grundgesetz, die UN-Kinderrechtskonvention oder die europäische Grundrechtecharta
verstößt . Die UN-Kinderrechtskonvention zum Beispiel
schreibt nicht vor, dass die Familienzusammenführung
in Deutschland erfolgen muss, und gewährt auch nicht
unmittelbar einen Anspruch darauf . Sie hat das Wohl
der Kinder und Jugendlichen im Blick, und das ist in
Deutschland gegeben . Kinder und Jugendliche werden in
Obhut genommen, betreut und versorgt und haben hier
eine Chance auf eine gute Ausbildung .
Liebe Kollegen, wenn auch Sie den Schutz und das
Wohl der Kinder und Jugendlichen im Blick haben, können Sie nicht ernsthaft eine solche Gefährdung der Kinder und Jugendlichen in Kauf nehmen wollen .
({7})
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, betrachten
wir schließlich noch die geplanten Maßnahmen zur Beseitigung von Rückführungshindernissen . Es leben zurzeit rund 200 000 Menschen in Deutschland, die eigentlich ausreisen müssten . Es mag in vielen Fällen zutreffen,
dass eine Ausreise, zum Beispiel aus gesundheitlichen
Gründen, nicht möglich ist . Aber wir müssen leider feststellen, dass in vielen Fällen Krankheiten vorgetäuscht
werden, nur um nicht abgeschoben zu werden . Das ist
gegenüber denjenigen, die tatsächlich unseren Schutz
brauchen, nicht gerecht . Wir müssen diesen Missbrauch
dringend abstellen . Das tun wir mit klaren gesetzlichen
Anforderungen an ärztliche Atteste und der Regelung,
dass Abschiebungshindernisse aus gesundheitlichen
Gründen nur noch bei lebensbedrohlichen Krankheiten
bestehen . Letzten Endes kommt es aber auf den politischen Willen der Landesregierungen an, die Ausreisepflichtigen tatsächlich abzuschieben. Wenn dort der Wille fehlt - auch das sage ich ganz deutlich -, können wir
auf Bundesebene noch so viel regeln .
Meine Damen und Herren, Sie sehen, wie wichtig und
gleichermaßen wirksam die Maßnahmen sind, über die
wir hier heute diskutieren, und dass sie auch rechtmäßig
sind . Kaum ein Land auf der Welt hat das Recht auf Asyl
in seiner Verfassung festgeschrieben wie wir in unserem
Grundgesetz . Wir behandeln die Menschen, die zu uns
kommen und Schutz suchen, anständig und haben die
höchsten Standards bei der Unterbringung und Versorgung von Flüchtlingen . Damit wir das alles aufrechterhalten können, müssen wir noch stärker differenzieren,
wer tatsächlich auf unseren Schutz angewiesen ist . Wir
müssen Missstände und Fehlentwicklungen korrigieren .
Lassen Sie uns deshalb die vorliegenden Gesetzentwürfe
in den Ausschüssen zügig beraten und beschließen .
Vielen Dank .
({8})
Nächster Redner ist der Kollege Burkhard Lischka für
die SPD .
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es sind
nicht die ersten und werden wohl auch nicht die letzten
Gesetzentwürfe zum Thema „Asyl und Flüchtlinge“ sein,
über die wir im Deutschen Bundestag beraten . Dafür ist
das Thema zu beherrschend . Das Thema polarisiert und
verunsichert viele . Es stellt aber auch sehr grundlegende
Fragen an uns: Was hält uns in Deutschland eigentlich
zusammen? Was verbindet uns in Europa? Welche Regeln müssen wir alle, egal ob Einheimische oder Einwanderer, akzeptieren? Was ist wünschenswert, und wo setzt
uns die Realität Grenzen?
Es gibt in diesen Tagen - genauso wie in anderen
besonders schwierigen Debatten - Protagonisten, die
die Illusion nähren, es gebe auf all diese Fragen eine
ganz einfache Antwort: Grenzen dicht und, wenn nötig,
auch Schusswaffengebrauch . Das ist die Alternative für
Deutschland, die in diesen Tagen aufgezeigt wird . Ausgerechnet Deutschland, ein Land, in dem bis vor gut
25 Jahren Schusswaffengebrauch und Schießbefehl traurige und menschenverachtende Realität an einem Teil
seiner Grenzen waren! Gerade dieses Land sollte sich
darin einig sein, nie wieder über Schüsse an der deutschen Grenze zu reden . Eine erbärmliche Alternative für
Deutschland wäre das sonst .
({0})
Nein, es sind viele Mosaiksteine, die wir in diesen
Tagen und Wochen für eine Lösung zusammensetzen
müssen, indem wir beispielsweise für eine zügige ReNina Warken
gistrierung der hier Ankommenden sorgen, für schnelle
Asylverfahren und Entscheidungen . Wer vor Krieg und
Bürgerkrieg flieht, genießt Schutz. Die anderen werden
wir zurückführen . Für all das präzisieren wir im Asylpaket II unsere gesetzlichen Grundlagen und Instrumente;
das ist auch richtig so . Aber es liegt jetzt am zuständigen
Bundesinnenminister, all das, was wir in den vergangenen Wochen und Monaten beschlossen haben, konsequent umzusetzen .
({1})
Das erwarten wir von Ihnen, Herr de Maizière, und daran
werden wir Sie in den nächsten Monaten auch messen .
({2})
Ein weiteres Signal geht von den heutigen Gesetzentwürfen insbesondere beim Ausweisungsrecht aus . Eine
freie Gesellschaft muss nicht homogen sein . Sie hat Platz
für unterschiedliche Ethnien, Religionen und auch Meinungen . Aber es muss klar sein, welche Regeln gelten .
Dazu gehört: Wer hier nach Deutschland kommt, muss
unsere Gesetze respektieren . Wenn er grob dagegen verstößt, indem er schwere Straftaten begeht, muss er unser
Land wieder verlassen . Ja, Einwanderung bietet viele
Chancen für eine Gesellschaft, die älter wird und der in
den nächsten Jahren Millionen Fachkräfte fehlen werden .
Aber eine Einwanderungsgesellschaft ist auch anstrengend . Wir müssen uns darauf einlassen, denjenigen, die
zu uns kommen, unsere Regeln zu erklären . Andersherum müssen sich die Einwanderer darauf einlassen, ihre
neue Heimat zu verstehen und unsere Gesetze zu respektieren . Beides gehört zusammen, und beides wird uns
noch viel Mühe kosten .
Eines ist aber auch klar: Wer das Flüchtlingsproblem
nicht als europäisches Problem sieht, belügt in diesen
Tagen sein Publikum . Natürlich können wir Grenzen
schließen und ignorieren, dass Millionen Flüchtlinge
unter erbärmlichen Bedingungen leben . Klar geht das .
Augen zu und durch . Die Frage ist nur: Und dann? Wie
lange geht das gut? Wie lange geht es uns gut?
Deutschland ist ein Land, das gut dasteht . Das hat viel
mit offenen Grenzen, mit offenen Handelswegen, mit einem freien Reise- und Warenverkehr zu tun, mit stabilen
Nachbarländern . Da steht in diesen Tagen verdammt viel
auf dem Spiel . Deshalb war und ist es richtig, dass gerade
die deutsche Bundesregierung immer und immer wieder
versucht, zumindest in Ansätzen zu einer europäischen
Lösung zu kommen . Reden, verhandeln, streiten, wieder
reden und verhandeln - alles ohne Erfolgsgarantie, wohl
wissend, dass dieses Europa gerade in der Flüchtlingsfrage auch krachend scheitern kann .
Aber ist das wirklich schwache Politik, ist das naive
Politik, oder ist es nicht naiv, zu glauben, bei einem Europa der geschlossenen Grenzen und der Grenzzäune wären alle Probleme gelöst?
({3})
Nein, liebe Kolleginnen und Kollegen, es zeichnet gerade demokratische Politik aus, dass sie die Fähigkeit besitzt, Dinge, auch wenn sie schwierig sind, zum Guten zu
wenden. Ich finde, dieses Bemühen hat gerade in diesen
Tagen jedwede Unterstützung verdient .
Recht herzlichen Dank .
({4})
Abschließende Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin Andrea Lindholz für die CDU/CSU .
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Integration der vielen Schutzbedürftigen in Deutschland
kann nur funktionieren, wenn wir die viel zu hohen Zuwanderungszahlen spürbar und dauerhaft senken; denn
nur eine kontrollierte Migration ermöglicht auch eine
vernünftige Integration .
({0})
Wir müssen aber auch unsere demokratischen Grundwerte wie die Religionsfreiheit, die Meinungsfreiheit, aber
auch die Gleichberechtigung von Mann und Frau kompromisslos vertreten und einfordern .
Die Übergriffe in der Silvesternacht in Köln und anderen Städten waren ein gezielter Angriff auf die Würde der
betroffenen Frauen . Sehr geehrter Herr Minister Jäger,
ich hätte mir heute von Ihnen gewünscht und es auch erwartet, dass Sie hier zwei, drei Sätze zu den Übergriffen
in Köln sagen,
({1})
vielleicht auch etwas zu den Frauen und zu dem, was ihnen dort passiert ist . Stattdessen ergießen Sie sich in einem Zahlenspiel, was die Frage der Rückführungen oder
des Rückgangs der Zahlen aus dem Westbalkan angeht .
Ich will Ihnen eines sagen: Sie haben sicherlich recht,
wenn viele Maßnahmen dazu beigetragen haben, aber
eine Maßnahme ist die Einordnung als sichere Herkunftsstaaten,
({2})
weil sie zu einer Beweislastumkehr führt und weil sie das sage ich Ihnen als Juristin, aber das haben uns auch
Sachverständige bestätigt - natürlich zu schnelleren Verfahren, zu kürzeren Zeiten bei den Bescheiden und damit
auch zu einer gewissen - ({3})
- Das ist überhaupt keine Märchenstunde, Herr Kollege
Notz . Sie sind, glaube ich, auch Jurist, und Sie wissen,
dass es genauso ist, dass es zu einer Beweislastumkehr
führt .
({4})
Das alles zusammen genommen führt zu einem Rückgang . Es ist richtig und wichtig, dass wir bei einer Anerkennungsquote von noch nicht einmal 1 Prozent, von
unter 1 Prozent, diese Schritte gegangen sind .
({5})
Frau Kollegin Lindholz, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Brantner?
Ich lege diesen einen Gedanken noch zu Ende dar .
Ein weiterer Hinweis: In keiner Weise sind Sie darauf
eingegangen, wie die Abschiebungen in Nordrhein-Westfalen vorgenommen werden . Dort kommt auf zwölf Ausreisepflichtige eine Abschiebung. In Bayern liegt das
Verhältnis bei eins zu vier .
({0})
Auch dazu haben Sie heute nichts gesagt . Ich würde
hier von Ihnen auch erwarten, dass Sie Vorschläge an
die Bundesregierung machen, die hier seit Monaten verschiedenste Gesetzespakete, die auch gewirkt haben und
wirken werden, auf den Weg gebracht hat .
({1})
Jetzt kann die Kollegin Brantner die Zwischenfrage
stellen .
Über die Zahlen und über die Statistikbildung der
Bayern haben wir schon gesprochen . Aber ich möchte,
weil Sie die Frauenrechte und den Schutz von Frauen angesprochen haben, von Ihnen gern noch einmal hören,
warum es die CDU wirklich verhindert hat, dass es zum
Schutz von Frauen und Kindern in Flüchtlingsunterkünften kommt, dass dort das Bundeskinderschutzgesetz gilt,
wenn Sie doch die Frauenrechte so hochhalten .
({0})
Frau Kollegin, bei uns in Deutschland gilt das Kindeswohl nach dem Gesetz überall und in allen Einrichtungen
in Bayern und in Deutschland .
({0})
Ich erwarte von Ihnen einen Blick ins Gesetz; da können
Sie es nämlich nachlesen . Ich muss Ihnen das hier also
nicht noch erklären .
({1})
- Schauen Sie doch in das SGB; da steht es drin .
({2})
- Ich habe Ihnen die Frage beantwortet .
In der Debatte, so auch heute, wird oft über die Täter
geredet, und es gab schnell auch Forderungen nach mehr
Integrationshilfen . Was wir aber brauchen, sind Signale
an die Frauen, sind Signale an die Opfer und klare Signale des Gesetzgebers . Wer die deutsche Gastfreundschaft derartig missbraucht, der hat keine Hilfe verdient,
sondern der muss gehen .
({3})
Ich kann Ihnen als Fachanwältin für Familienrecht,
die zwölf Jahre lang auch viele Frauen vertreten hat,
nur sagen: Solche Übergriffe auf Frauen haben für diese
Betroffenen ganz gravierende Folgen . Sexuelle Gewalt
ist ein gesamtgesellschaftliches Phänomen . Ich begrüße
es ausdrücklich, dass der Bundesjustizminister mit uns
gemeinsam an einer Verschärfung des Sexualstrafrechts
arbeitet . Ich hoffe und wünsche mir auch, dass wir das
zeitnah umsetzen können und in diesem Zusammenhang
auch unsere Asylgesetze entsprechend anpassen und
auch noch verschärfen, weil nur dann Übergriffe wie die
von Köln im Wiederholungsfall zur Ausweisung führen
können . Ich bitte, das nicht zu vergessen .
Fast alle der bisher ermittelten Tatverdächtigen aus
der Silvesternacht haben Migrationshintergrund . Straftaten wie diese sind Gift für die Aufnahme- und Hilfsbereitschaft in Deutschland . Sie schaffen ein Gefühl der
Unsicherheit im öffentlichen Raum, und sie gefährden
den sozialen Frieden und die Akzeptanz . Die Mehrheit
der Migrantinnen und Migranten und der Flüchtlinge in
Deutschland - ich will das ausdrücklich sagen - lebt hier
friedlich und ist um Integration bemüht . Sie ist genauso
wie die große Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger in
Deutschland daran interessiert, dass wir klare Ausweisungen von Straftätern aus Deutschland fordern und auch
durchführen .
Wir dürfen solch kriminelles Verhalten gegen das Eigentum, das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die
sexuelle Selbstbestimmung und die Angriffe auf Vollzugsbeamte nicht einfach dulden . Es ist daher richtig,
dass wir in Zukunft auch solche Verurteilungen immer als
schweres Ausweisungsinteresse gewichten oder dass die
Verurteilung zu einem Jahr, auch wenn die Strafe zur Bewährung ausgesetzt wird, künftig ein besonders schweres Ausweisungsinteresse darstellt . Das ist ein wichtiges
Signal . Ich habe für keinen Verständnis, der jetzt schon
wieder in den Raum wirft, unsere Gesetze seien verfassungswidrig . Wir müssen den Opfern erklären, wie wir
als Rechtsstaat damit umgehen wollen, und das muss im
Vordergrund stehen .
({4})
Sehr geehrter Herr Kollege Beck, ich will Ihnen eines
sagen: Ich erwarte von den Menschen, die hierherkommen und die vor Flucht und Verfolgung fliehen oder aus
anderen Gründen zu uns kommen, dass sie sich integrieren und an unsere Gesetze halten . Das ist kein Widerspruch, sondern das ist ein Zweiklang .
({5})
Daher muss ich auch keine Asylgesetze ändern, wenn ich
Integration einfordere .
({6})
Unsere Gesetze, alles, was wir hier beschließen, werden nur wirken, wenn sich auch die Abschiebepraxis in
den Ländern verbessern wird und wenn die zuständigen
Behörden rechtzeitig - auch in dem Fall der Verschärfung - über Ermittlungsverfahren informiert werden . Wir
regeln jetzt aktuell, dass erst die Einleitung eines Strafverfahrens dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge gemeldet wird . Wir haben aber jetzt schon in § 72 des
Aufenthaltsgesetzes geregelt, dass die Ausländerbehörde
über ein Ermittlungsverfahren zu informieren ist . Es ist
daher ein Widerspruch, wenn die Ermittlungsverfahren
den Ausländerbehörden praktisch sofort gemeldet werden müssen, aber das Bundesamt für Migration und
Flüchtlinge die Kenntnis erst mit Einleitung eines Strafverfahrens erhält .
Frau Kollegin, gestatten Sie noch zum Schluss Ihrer
Redezeit eine Zwischenfrage des Kollegen Beck?
Ich wäre dafür, dass wir an dieser Stelle nochmals eine
Änderung erwägen .
Zum Abschluss: Ich begrüße ganz ausdrücklich die
verschärften Regelungen im Asylpaket II . Es ist wichtig,
dass wir klarmachen, dass wir Schnellverfahren einleiten
und Abschiebehindernisse beseitigen . Auch das haben
wir in den letzten Monaten genügend ermittelt . Wir müssen jetzt endlich die Ergebnisse umsetzen . Das tun wir
hiermit .
Ich gestatte nun die Zwischenfrage des Herrn Kollegen Beck .
({0})
Das war jetzt besonders klug, weil es somit die Möglichkeit der Erwiderung gibt . - Herr Kollege Beck, Sie
haben das Wort .
Obwohl Frau Lindholz so eindeutig für die Einhaltung
von Regeln ist, scheint sie selber sie besonders leger auszulegen .
Frau Lindholz, Sie haben gerade gesagt, Sie wollten
von den Flüchtlingen jetzt auch ein bisschen mehr Integrationsbereitschaft verlangen . Wären Sie bereit, jedem
Geflüchteten und nicht nur den Geflüchteten aus vier
Ländern einen Rechtsanspruch auf einen Integrationskurs einzuräumen?
({0})
Das Entscheidende ist doch, dass sich die Leute integrieren wollen, wir aber die Integrationskapazitäten
nicht zur Verfügung stellen . Deshalb ist es doch politischer Klamauk für den Stammtisch und für das AfD-Publikum, wenn Sie hier neue Pflichten gerieren, statt den
Leuten die Chance zu geben, sich zu integrieren, Deutsch
zu lernen und unsere Werte kennenzulernen .
({1})
Ich bedanke mich ausdrücklich für diese Zwischenfrage; ich kann Ihnen damit ausführlicher antworten . Sehen
Sie, das ist genau der Unterschied zwischen Ihnen und
uns . Sie würden am liebsten jedem, der hierherkommt,
von Anfang an das volle Integrationsprogramm zubilligen .
({0})
Wir sagen: Wir müssen klar unterscheiden zwischen denjenigen, die einen Schutzanspruch haben, Herr Kollege
Beck, und denjenigen, die keinen Schutzanspruch haben .
Dazwischen werden wir auch weiterhin unterscheiden
müssen, weil nach wie vor ungefähr jeder dritte Asylantrag unberechtigt ist . Ich möchte den Menschen nicht das
Signal geben, sie könnten dauerhaft hierbleiben,
({1})
sondern ich will ihnen das Signal geben, dass sie zurückmüssen . Deutschland kann nicht alle Flüchtlinge dieser
Welt aufnehmen, erst recht nicht die ohne einen Anspruch nach dem Asylgesetz und nach der Genfer Flüchtlingskonvention .
({2})
Herr Kollege Beck, sagen Sie doch einfach, Sie würden
gern die Türen aufmachen und alle hereinlassen!
({3})
Dann erklären Sie den Bürgerinnen und Bürgern, wie
wir Millionen von Menschen in diesem Land integrieren
wollen!
Vielen Dank .
({4})
Damit schließe ich die Aussprache in dieser Debatte .
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 18/7538, 18/7537 und 18/7549 an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen . - Ich sehe keinen Widerspruch . Dann ist das so
beschlossen .
Wir kommen jetzt zum Tagesordnungspunkt 18:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Menschenrechte und
humanitäre Hilfe ({0})
zu dem Entwurf des EU-Jahresberichts 2014
über Menschenrechte und Demokratie in der
Welt
Ratsdok. 9593/15
Drucksachen 18/5982 Nr. A.47, 18/7552
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
diese Aussprache 60 Minuten vorgesehen . - Ich höre keinen Widerspruch . Daher gehe ich auch hier davon aus,
dass Sie alle damit einverstanden sind . Dann ist das so
beschlossen .
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem
Redner für die Bundesregierung Herrn Staatsminister
Michael Roth das Wort .
Guten Morgen, Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Der Jahresbericht der Europäischen Union über Menschenrechte und Demokratie in der Welt sagt schon eine
ganze Menge über das Selbstverständnis der EU aus .
Wir verstehen uns eben nicht als ein reiner Binnenmarkt,
sondern wir sind vor allem eine Wertegemeinschaft .
Grundwerte wie Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, kulturelle und religiöse Vielfalt sowie vor allem Minderheitenschutz müssen wir nicht nur bei uns in Europa vorleben, sondern wir setzen uns auch dafür ein, dass diese
Werte weltweit Bestand haben .
Auch wenn der Bericht nicht mehr ganz druckfrisch
ist, so ist er doch in vielen Teilen unvermindert aktuell .
Dass Menschenrechte an vielen Orten dieser Welt missachtet, gebrochen, verletzt werden, ist leider auch in
diesem Jahr, in diesen Stunden traurige Realität . Unser
gemeinsames Engagement, liebe Kolleginnen und Kollegen, bleibt also weiterhin dringend geboten .
Deshalb setzen wir uns mit unseren europäischen
Partnern auf vielfältige Art und Weise für die Menschenrechte ein . Wir tun dies bilateral in politischen Gesprächen, in Menschenrechtsdialogen und in vertrauensvoller
Zusammenarbeit mit vielen Nichtregierungsorganisationen in aller Welt . Wir tun dies aber auch in den multilateralen Gremien: in den Vereinten Nationen, im Europarat
und - in diesem Jahr möchte ich das ganz besonders erwähnen - in der OSZE .
Wir nutzen bei unserer Menschenrechtspolitik den
ganzen Instrumentenkasten: mal mit deutlichen, offenen
Worten, beispielsweise in Resolutionen des Menschenrechtsrats, die Missstände klar benennen und notfalls
auch Sanktionen nach sich ziehen, und in anderen Fällen
suchen wir eher das direkte Gespräch hinter verschlossenen Türen . Wir gehen dabei stets so vor, wie es die besondere Lage erfordert und wie wir den Betroffenen am
besten helfen können; denn unser oberster Leitsatz ist:
Wir wollen denjenigen, die wir vor Menschenrechtsverletzungen schützen wollen, keinen Schaden zufügen .
Das Auswärtige Amt ist das Menschenrechtsministerium . Aber eines ist auch klar: Wir sind keine Nichtregierungsorganisation wie Amnesty International . Uns
darf es nicht darum gehen, mit plakativen Kampagnen
möglichst viel öffentliche Aufmerksamkeit zu erreichen;
auch das ist wichtig . Opfern von Menschenrechtsverletzungen nachhaltig zu helfen, gelingt aber nur selten
mit dem Lautsprecher, sondern eher im vertraulichen
Gespräch . Dafür müssen wir auch mit den schwierigen
Partnern reden: mit China, Russland, Iran, Saudi-Arabien
und derzeit auch mit der Türkei . Beziehungen abbrechen,
Reisen absagen, Belehrungen über die heimischen Medien erteilen, ja, das ist einfach . Aber wer glaubt, dass
Außenpolitik so funktioniert, der irrt .
Wenn wir wirklich etwas bewirken wollen, wenn wir
tatsächlich politische Prozesse anstoßen wollen, dann
gelingt das nur, wenn wir miteinander reden . Das gemeinsame Auftreten und Handeln mit unseren Partnern
und Freunden in der Europäischen Union und durch den
Europäischen Auswärtigen Dienst ist sehr wichtig; denn
nur, wenn wir geschlossen auftreten, können wir etwas
erreichen und werden wir auch ernst genommen .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, im vergangenen
Jahr hatte unser Botschafter Rücker in Genf den Vorsitz
im Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen . Wir haben damit an sehr sichtbarer Stelle Verantwortung übernommen und in einem zunehmend polarisierten Umfeld
unseren Ruf als Brückenbauer gefestigt . Einer unserer
Schwerpunkte war dabei die engere Beteiligung der Zivilgesellschaft an der Arbeit des Menschenrechtsrats .
Ich weiß, dass das unsere Menschenrechtspolitiker und
-politikerinnen hier in besonderer Weise umtreibt; denn
weltweit werden zivilgesellschaftliches Engagement zunehmend eingeschränkt und Menschenrechtsverteidiger
eingeschüchtert. Die Mittel sind perfide, und sie sind
teilweise erbärmlich . Sie fangen bei restriktiver Gesetzgebung zur Finanzierung von Nichtregierungsorganisationen an und reichen bis zu willkürlichen Inhaftierungen
oder gar Entführungen im Ausland .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ein Thema möchte
ich hier erwähnen, das nicht nur mir, sondern auch vielen anderen besonders am Herzen liegt; es taucht auch
im Bericht der EU prononciert auf . Es ist die Lage der
LGBTI, der Schwulen und Lesben . Es ist beschämend: In
mehr als 70 Staaten auf der Welt werden Lesben, Schwule, Bisexuelle, Transgender-Personen und Intersexuelle
immer noch strafrechtlich verfolgt. Häufig drohen ihnen
lange Haftstrafen - und in einigen Staaten in Afrika und
in der arabischen Welt sogar das Todesurteil .
Doch lassen wir uns von diesen furchtbaren Nachrichten nicht entmutigen! Über die vergangenen Jahrzehnte
gab es in vielen Ländern beeindruckende Fortschritte
bei der Durchsetzung der Menschenrechte von LGBTI .
Wer hätte denn vor ein paar Jahren wirklich gedacht,
dass Länder wie Brasilien, Argentinien oder Südafrika
mit den skandinavischen Ländern gleichziehen und die
gleichgeschlechtliche Ehe einführen?
Die Bundesregierung setzt sich weltweit für
LGBTI-Rechte ein, mit öffentlichkeitswirksamen Projekten ebenso wie in Gesprächen mit Regierungen und
vor allem mit der Zivilgesellschaft . Auf vielen meiner
Reisen begegne ich Vertreterinnen und Vertretern der
LGBTI-Gruppen, die mir von Gewalt, Verfolgung und
einem Leben in dauerhafter Angst berichten . Das erlebe
ich gerade dort, wo sexuelle Minderheiten noch viel stärker unter Druck stehen als hierzulande, wie in der Türkei,
in Bulgarien oder auf dem westlichen Balkan .
Meine sehr geehrten Damen und Herren, nicht zuletzt
angesichts der politischen Entwicklung der vergangenen Jahre, insbesondere des wachsenden islamistischen
Terrors, aber auch der wachsenden Islamfeindlichkeit in
Europa, werden wir uns der Religions- und Weltanschauungsfreiheit weiter annehmen müssen . Die Bundesregierung wird dem Bundestag im Sommer einen Bericht dazu
vorlegen . Die Formen der Unterdrückung des Rechts auf
Religions- und Weltanschauungsfreiheit sind vielfältig .
Dabei ist die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte
doch ganz eindeutig: Jeder hat das Recht auf Gedanken-,
Gewissens- und Religionsfreiheit . Dieses Recht schließt
eben auch die Freiheit ein, seine Religion bzw . Weltanschauung zu wechseln oder auch gar keiner Religion
mehr angehören zu wollen . Diese Freiheit gilt für Christen, Juden, Muslime genauso wie für andere Menschen,
und sie gilt eben auch weltweit .
Wir können die Werte im Ausland nur dann glaubwürdig einfordern, wenn wir sie auch zu Hause strikt achten .
Es reicht eben nicht, wenn Menschenrechte nur auf dem
Papier Bestand haben . Sie müssen im täglichen Miteinander gepflegt und verteidigt werden. In einer offenen,
liberalen Gesellschaft ist das nicht nur die Kür, sondern
auch die Pflicht für jeden von uns. Menschenrechte sind
eben kein generöses Geschenk, das man irgendjemandem einmal so mit auf den Weg geben kann .
Menschenrechte sind eine unverhandelbare Grundlage unseres Zusammenlebens . Dafür stehen wir ein . Ich
gebe zu: Das ist nicht immer ganz einfach . Aber es ist
vor allem auch für die Europäische Union unerlässlich,
wenn wir das bleiben wollen, was wir immer waren: eine
Wertegemeinschaft .
Vielen Dank .
({0})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Annette Groth für
die Fraktion Die Linke .
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuhörerinnen auf der Tribüne! Herr Roth, Sie haben
leider vergessen, die Europäische Menschenrechtskonvention zu erwähnen; denn die EU ist vertraglich verpflichtet, dieser Europäischen Menschenrechtskonvention beizutreten . Aber der Prozess wird blockiert - erst
von den Mitgliedstaaten und jetzt vom Europäischen
Gerichtshof . Was heißt das? Es gibt derzeit und auch in
absehbarer Zukunft keinen individuellen Rechtsschutz
gegen Menschenrechtsverletzungen durch EU-Organe .
Das muss wirklich dringend korrigiert werden . Ich bitte
Sie: Setzen Sie sich dafür ein!
({0})
Es ist nicht neu, dass der EU-Menschenrechtsbericht
insbesondere die Menschenrechtsverletzungen außerhalb
der EU anprangert . Dagegen werden die Menschenrechtsverletzungen in den EU-Mitgliedstaaten weithin unter
den Tisch gekehrt . Das nenne ich heuchlerisch . Heute
sind in nahezu allen EU-Staaten Armut, Ausgrenzung
und Arbeitslosigkeit für viele Menschen Realität . Allein
in Griechenland sind mehr als 3,5 Millionen Menschen
direkt von Armut bedroht . Über 20 Prozent der Kinder
und älteren Menschen leben unterhalb der Armutsgrenze .
Das ist doch ein Skandal im reichen Europa .
({1})
Die Schere zwischen Arm und Reich wird immer größer, weil das neoliberale Wirtschaftssystem einige wenige bevorteilt - zum Beispiel Banken und Großkonzerne - und andere - die Mehrheit, wie Kleinbäuerinnen,
Rentnerinnen und Arbeitnehmerinnen - stark benachteiligt . Auch das muss geändert werden .
({2})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, an mehreren Stellen des Menschenrechtsberichts ist von Flüchtlingen die
Rede - wir hatten gerade die Debatte dazu -, aber kein
Wort davon, dass 2014 über 3 400 Menschen im Mittelmeer ertrunken sind, weil sie in die EU wollten . Das ist
doch der große Skandal vor unserer eigenen Tür, der sich
seit der Zeit immer weiter verschlimmert hat . Seit dem
Jahr 2000 sind mindestens 25 000 Menschen im Mittelmeer gestorben . Das ist entsetzlich . Es wird so weitergehen, wenn wir keine legalen Einreisemöglichkeiten in die
EU schaffen .
({3})
Das Dublin-System muss endlich durch eine solidarische Flüchtlingspolitik ersetzt werden . Stattdessen
werden immer neue Polizei- und Militäreinsätze zur
Flüchtlingsbekämpfung beschlossen, als könnte die BeStaatsminister Michael Roth
kämpfung von Schleppern oder die Zerstörung von Booten die Flüchtlinge davon abhalten, über das Meer zu uns
zu kommen . Wir brauchen legale und sichere Fluchtwege
und Einreisemöglichkeiten . Das ist eine Forderung, die
die Linke schon lange stellt .
({4})
Jetzt werden an den EU-Außengrenzen „Hotspots“
eingerichtet. In ihnen wird eine Klassifizierung der Geflüchteten in „gute“ und „schlechte“ Flüchtlinge vorgenommen. Ziel dieser Klassifizierung ist, viele daran zu
hindern, überhaupt zu uns zu kommen . Aber wohin sollen sie denn gehen? In meiner Funktion als Berichterstatterin für den Europarat war ich letzte Woche im Libanon
und in Jordanien . Diese beiden Länder haben, wie allgemein bekannt, die meisten Geflüchteten aus Syrien aufgenommen . Viele Flüchtlinge leiden an Hunger, weil die
Nahrungsmittelversorgung aufgrund fehlender Gelder
nicht ausreicht . Ich habe gerade viele Frauen getroffen,
die sichtlich unterernährt waren . In den letzten beiden
Wochen eines Monats reicht das Geld von der internationalen Gemeinschaft nur noch für Brot . „Wir haben Hunger“, haben mir viele gesagt .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn es um die sogenannte Abwehr der Flüchtlinge geht, scheint für die
EU die Einhaltung der Menschenrechte keine Rolle zu
spielen . Das zeigt sich insbesondere an der unerträglichen Taktiererei mit dem türkischen Ministerpräsidenten
Erdogan . Jetzt soll die deutsche Polizei sogar mit der türkischen bei der Fluchtabwehr zusammenarbeiten . Skandalös!
Erdogan führt einen furchtbaren Krieg gegen die eigene Bevölkerung, insbesondere gegen die Kurdinnen und
Kurden, und er schiebt sogar Flüchtlinge nach Syrien ab .
Wissen Sie, dass in etlichen kurdischen Gebieten seit Wochen ein 24-stündiges Ausgehverbot besteht? Das heißt,
Menschen erhalten keine medizinische Versorgung, können nicht einkaufen . Teilweise ist die Wasser- und Stromversorgung unterbrochen . Das ist ein Verbrechen, das wir
wirklich lautstark anprangern müssen!
({5})
Darum empfinde ich es mehr als schändlich, dass der
Türkei Visaerleichterungen für türkische Staatsangehörige und 3 Milliarden Euro als Belohnung für die Flüchtlingsabwehr versprochen wurden . Stattdessen sollten
wir Druck auf die türkische Regierung ausüben und sie
nachdrücklich auffordern, die Kampfhandlungen und die
extralegalen Hinrichtungen, die es auch gibt, sofort einzustellen und den Dialog mit den Kurdinnen und Kurden
wieder aufzunehmen .
({6})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wie bei der Türkei werden die Menschenrechtsverletzungen, die auch
von anderen EU-Partnern begangen werden, teilweise schweigend hingenommen . So werden im aktuellen
EU-Forschungsrahmenprogramm Horizon 2020 Projekte
der EU-Sicherheitsforschung gemeinsam mit Israel betrieben und finanziert, obwohl Israel massiv Menschenrechtsverletzungen in den palästinensischen Gebieten
begeht . Israelische Rüstungsunternehmen, die von der
Besatzungspolitik im großen Stil profitieren und dazu
beitragen, werden im Rahmen von Horizon 2020 gefördert . So sind auch wir mit unseren europäischen Steuergeldern an den Menschenrechtsverletzungen in der Region beteiligt .
Viele NGOs und kirchliche Organisationen fordern
darum schon seit Jahren die Aussetzung des EU-Israel-Assoziierungsabkommens, das in Artikel 2 alle Vertragspartner zur Einhaltung der Menschenrechte verpflichtet. Wir machen uns mitschuldig, wenn wir zu
diesen Menschenrechtsverletzungen in Israel/Palästina
schweigen . Wir sollten wirklich alles versuchen, dieses
EU-Assoziierungsabkommen mit Israel auszusetzen .
({7})
- Das wäre das richtige Signal! Das hatten wir schon einmal bei Sri Lanka .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir unterstützen
ausdrücklich die Aussagen im Bericht zur Todesstrafe .
Die Linke fordert seit vielen Jahren die Bundesregierung
auf, sich in allen Gesprächen mit Staaten, die die Todesstrafe verhängen, klar für ihre Abschaffung einzusetzen .
Doch stattdessen scheinen wirtschaftliche Interessen immer mehr vor Menschenrechte gestellt zu werden . Die
Waffenlieferungen an Saudi-Arabien sind dafür ein besonders krasses Beispiel; sie sollten sofort aufhören .
({8})
Nicht erwähnt wird der völkerrechtswidrige Einsatz
von Kampfdrohnen zur Tötung von Menschen . Seit vielen Jahren verletzen die USA die Souveränität anderer
Staaten und bringen Menschen durch Kampfdrohnen
um, ohne Anklage, ohne Gerichtsurteil und ohne den
Betroffenen die Möglichkeit zu geben, sich zu verteidigen . Besonders skandalös ist, dass für dieses Morden die
US-amerikanischen Stützpunkte in Deutschland missbraucht werden . Die US-Basis in Ramstein spielt dabei
eine besonders große Rolle .
Nicht genug: Jetzt will die Bundesregierung auch
noch waffenfähige Drohnen anschaffen . Will sie sich
an diesen völkerrechtswidrigen Morden beteiligen, oder
wozu brauchen wir überhaupt Kampfdrohnen?
({9})
Das ist eine echte Frage, auf die ich eine Antwort haben
möchte .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir fordern seit
langem die Bundesregierung auf, sich für eine grundlegende Weiterentwicklung des EU-Menschenrechtsberichts einzusetzen . Wir erwarten, dass in einem solchen
Bericht auch die Menschenrechtsverletzungen aufgrund
der EU-Handels- und Finanzpolitik sowie der Waffenexporte der EU-Mitgliedstaaten klar benannt werden . Solange aber mit zweierlei Maß gemessen wird und unsere
geopolitischen und wirtschaftlichen Interessen im Vordergrund stehen, ist es um die Menschenrechte nicht gut
bestellt . Das müssen wir alle zusammen ändern .
Danke schön .
({10})
Für die CDU/CSU-Fraktion spricht jetzt die Kollegin
Erika Steinbach .
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau
Kollegin Groth, Ihre einseitige Sicht auf den Staat Israel
hat schon etwas Unanständiges .
({0})
Man mag nicht alles für richtig halten; aber Ihre Kritik ist
zu plakativ und zu einseitig . Das möchte ich einmal ganz
deutlich sagen .
({1})
Der EU-Jahresbericht 2014 über Menschenrechte und
Demokratie in der Welt zeigt das Engagement der Europäischen Union für Menschenrechte auch außerhalb
unserer eigenen Grenzen und macht auch die Fülle von
Initiativen und das Engagement deutlich, mit denen die
Europäische Union für Menschenrechte eintritt . Aber der
Bericht zeigt auch - das ist für den, der es sehen will, deutlich erkennbar -, dass sich die menschenrechtspolitischen
Herausforderungen, was Fluchtbewegungen in Richtung
EU anbelangt, bereits im Berichtszeitraum 2014 abgezeichnet haben . Diese Erkenntnisse haben leider seitens
der Europäischen Union nicht dazu geführt, rechtzeitig
politisch darauf zu reagieren und Vorsorgemaßnahmen
zu ergreifen . Man hat weggeschaut .
Heute haben wir - die vorangegangene Debatte hat
das deutlich gemacht - mit den Folgen dieser Unterlassung der Europäischen Union in Form der Flüchtlingsströme zu tun und müssen in einer Situation, in der man
dem fast ausgeliefert ist, damit umgehen . Man hätte das
verhindern können . Da stellt sich schon die Frage, warum die Europäische Union weltweit agiert, aber nicht
die für sie selbst wichtigen, elementaren Schlüsse aus
ihren Erkenntnissen zieht, um diesen Kontinent, diese
Europäische Union letzten Endes zu schützen .
In Deutschland und auch in Europa ist die politische
Debatte in den vergangenen Monaten - das zeigt jede
Plenardebatte - von keinem anderen Thema so geprägt
worden wie von der aktuellen Flüchtlingskrise . Nach
den Zahlen des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen sind weltweit inzwischen mehr als 60 Millionen
Menschen auf der Flucht vor Gewalt, vor Krieg, vor
Armut und massiven Menschenrechtsverletzungen wie
zum Beispiel den Terroraktionen des sogenannten „Islamischen Staates“ . Aber wir wissen auch - das zeigen
Studien -, dass bei 400 Millionen Menschen der Wunsch
vorhanden ist, sich auf den Weg zu machen . Sie sitzen
geistig sozusagen auf gepackten Koffern .
({2})
Wir wissen das, und darauf muss man auch reagieren .
Noch nie seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges wurden so viele Menschen Opfer von Flucht, Vertreibung
und Armut wie in diesen Jahren . Über 1 Million dieser
Migranten sind im vergangenen Jahr allein zu uns nach
Deutschland gekommen . Die Aufnahme und Unterbringung so vieler Menschen in so kurzer Zeit stellt unsere
gesamte Gesellschaft vor gigantische Herausforderungen . Wir können den vielen ehrenamtlichen Helfern immer wieder nur ganz herzlich danken . Sie leisten Hervorragendes .
({3})
Die Integration all derer, die eine Bleibeperspektive
haben, wird eine ungleich noch größere Aufgabe sein als
das pure Unterbringen .
({4})
Essen, Trinken, ein Dach über dem Kopf, das ist der einfachere Teil der Situation . Hätte die Europäische Union
die Kenntnisse, die im vorliegenden Bericht nachzulesen
sind, rechtzeitig in Handlungen und konkrete Maßnahmen umgesetzt, wäre die jetzige akute Massenwanderung in Richtung Europa wahrscheinlich so gar nicht
nötig gewesen . Man hätte den Menschen vor Ort Essen
und Trinken in ausreichendem Maße geben können . Sie
haben recht, Frau Groth, wenn Sie darauf hinweisen, dass
die Mittel nicht bereitgestellt worden sind .
Viele der Ankommenden sind in autoritären, patriarchalischen Gesellschaften aufgewachsen und geprägt
worden . Die massiven Menschenrechtsverletzungen, mit
denen wir uns im Menschenrechtsausschuss permanent,
immer und immer wieder auseinandersetzen müssen sie spiegeln sich auch im EU-Menschenrechtsbericht wider -, haben das Leben und den Alltag dieser Menschen
in ihren jeweiligen Herkunftsländern bestimmt und geprägt . Gerade vor diesem Hintergrund muss der Wertekanon unseres Grundgesetzes die unverhandelbare Grundlage für jede Integration sein . Zentrale Freiheitsrechte
wie die Religions- und die Meinungsfreiheit, die Rechte
Homosexueller, aber auch die Gleichstellung von Mann
und Frau, das muss den Ankommenden vermittelt werden . Wir müssen das am Ende durchsetzen, auch durchsetzen wollen und nicht - laissez faire - sagen: Jeder soll
so leben, wie er es aus seinem Herkunftsland gewohnt
ist . Das ist keine einfache Aufgabe .
Wir müssen heute selbstkritisch feststellen, dass es in
den vergangenen Jahrzehnten leider nicht ausreichend
gelungen ist, eine wirkliche Integration aller bisherigen
Zuwanderer in unsere deutsche Gesellschaft zu erreichen . Gerade in der zweiten und dritten Generation muslimischer Familien zeichnen sich aktuell sogar Rückschritte ab, was man eigentlich nicht für möglich hält .
Das hat eine repräsentative Studie des WissenschaftsAnnette Groth
zentrums Berlin für Sozialforschung unter der Leitung
des Soziologen Ruud Koopmans ergeben . Er hat einen
Forschungsbericht über religiösen Fundamentalismus in
sechs westeuropäischen Ländern, darunter auch Deutschland, erstellt . Nach diesem Bericht ist fast die Hälfte der
Muslime, die in diesen sechs europäischen Ländern leben, der Auffassung, dass es nur eine gültige Auslegung
des Korans gibt, dass Muslime zu den Wurzeln ihrer Religion zurückkehren sollen und dass religiöse Gesetze
wichtiger sind als weltliche . Diesen Befund für Europa
halte ich für besorgniserregend .
Deutliche Integrationsdefizite zeigen sich hier bei uns
in Deutschland auch in der Zunahme einer gewachsenen
Paralleljustiz . Sie entsteht überall dort, wo auf Stammes- und Clanstrukturen zurückgegriffen werden kann,
nicht nur im Bereich des Zivil- und Strafrechts, sondern
vermehrt auch im Bereich der Familiengerichtsbarkeit .
Das steht in weiten Teilen im Widerspruch zu unserem
Grundgesetz und zu unserem Familienrecht . Die krassesten Abweichungen sind hier die Missachtung des
Heiratsfähigkeitsalters bei Kinderehen, die es hier in
Deutschland gibt - sie werden abseits unserer normalen
Regularien geschlossen -, die Vielehen und die Duldung
von Zwangsehen . Experten schätzen den Anteil sogenannter Imam-Ehen hier in Deutschland auf mindestens
10 bis 20 Prozent .
Die zusätzliche Aufnahme von 1 Million Zuwanderern
aus stark autoritären, patriarchal geprägten muslimischen
Staaten stellt unsere Gesellschaft vor eine umso größere
integrationspolitische Herausforderung . Wichtig ist gerade vor dem Hintergrund dieser starken Zuwanderung aus
diesen Kulturkreisen - das sind ja sehr unterschiedlich
strukturierte Gegenden - die offensive Einforderung der
Anerkennung und Befolgung deutscher Gesetze . Das ist
eine zentrale Integrationsherausforderung .
Mit Blick auf die aktuelle Flüchtlingskrise muss uns
allen eines bewusst sein: Integration kann jetzt nur dann
erfolgreich sein, wenn es gelingt, die Zahl der ankommenden Flüchtlinge und Migranten deutlich zu reduzieren . Nur dann besteht auch eine Chance, die bislang Angekommenen in unsere Gesellschaft zu integrieren .
({5})
Warum sage ich das? An die Europäische Union müssen wir die Forderung richten, weitsichtiger und verantwortungsvoller als bislang gewonnene Erkenntnisse in
politisches Handeln umzusetzen . Die Europäische Union muss, um diese Zuwanderung zu bewältigen - sie ist
schwer zu bewältigen, auch bei allerbestem Willen; und
der gute Wille ist in Deutschland ja erkennbar -, jetzt mit
der Afrikanischen Union in einen permanenten, dauerhaften Dialog eintreten . Sie muss das tun, um den Menschen in Afrika eine Zukunftsperspektive zu geben und
die Afrikanische Union nicht aus ihrer Verantwortung zu
entlassen. Das ist ein Defizit der Europäischen Union.
Dieses Defizit hat auch dazu geführt, dass wir in der heutigen Lage sind . Im Interesse Europas, aber auch Afrikas,
aber insbesondere im Interesse der Menschen - die meisten möchten ja gerne in ihrer Heimat bleiben - braucht es
diesen offensiven Dialog .
Danke schön .
({6})
Vielen Dank . - Nächster Redner ist der Kollege Tom
Koenigs für Bündnis 90/Die Grünen .
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist Freitagmittag . Da kann man über alles reden:
Europäische Union, Afrikanische Union, Paralleljustiz .
Das zeigt ein bisschen, wie beliebig das Thema genommen wird . Der Bericht, der der Diskussion heute zugrunde liegt, ist auch relativ beliebig . Das Unbehagen, das
man in einer solchen Diskussion hat, liegt daran, dass
der Entschließungsantrag eigentlich auch beliebig ist . Da
wird von allem ein bisschen geredet, über das, was wirklich ist, wird aber nicht geredet .
({0})
Ich fand es interessant, dass der Staatsminister sagt:
„Das Auswärtige Amt ist das Menschenrechtsministerium .“ Wie eine menschenrechtsgeleitete Außenpolitik
eigentlich aussehen sollte, könnte und müsste, steht aber
leider weder in dem Bericht der Kommission von 2014
noch in dem Entschließungsantrag . Auch in Ihrer Rede
haben Sie nicht gesagt, ob es wirklich eine Perspektive
für die deutsche auswärtige Politik ist, das in den Mittelpunkt zu stellen .
({1})
Der Bericht befasst sich leider nicht mit den Staaten
der Europäischen Gemeinschaft selbst, sondern richtet
sich nur nach außen . Gut, das kann man machen; aber
man muss dann auch der Kohärenz wegen sagen: Passt
das denn zu dem, was wir in unseren Mitgliedstaaten machen, was die Europäische Kommission den Mitgliedstaaten abfordert? Oder wird irgendetwas über die Performance, über den Umgang mit früheren Empfehlungen
gesagt? Dazu gibt es eigentlich nichts . In dem Antrag,
den Sie vorgelegt haben, wird behauptet, Menschenrechte gewinnen ein immer größeres Gewicht in der Europäischen Gemeinschaft .
({2})
Stimmt das eigentlich?
({3})
Stimmt das eigentlich, dass wir da als Menschenrechtler sozusagen auf dem Vormarsch sind? Wenn man sich
ansieht, dass es auf der Welt Organisationen wie Boko
Haram oder ISIS gibt, die sich explizit auf ihre schwarzen
Fahnen geschrieben haben: „Wir sind gegen Menschenrechte; wir kämpfen gegen die Menschenrechte“, dann
kann man eigentlich nicht sagen, dass man Fortschritte
gemacht hätte . Ich glaube eher, dass wir in einer Abwehrschlacht sind - wenn man das so militärisch sieht .
({4})
Gegen Boko Haram und ISIS ist bisher übrigens nur etwas Militärisches erfunden worden . Wie man damit menschenrechtlich umgeht? Ich weiß es nicht .
Im Antrag steht, die Menschenrechtspolitik der EU sei
„kohärenter und effizienter“ geworden. Es wäre schön,
wenn das so wäre .
({5})
Wenn Sie die Effizienz überhaupt prüfen würden,
müssten Sie die Instrumente mit dem, was erreicht worden ist, vergleichen . Ein Instrument, auf das Sie sich
auch in Ihrem Antrag intensiv beziehen, sind die 37 Menschenrechtsdialoge . Helfen sie eigentlich etwas? Hat einmal jemand eine Analyse gemacht, was diese Menschenrechtsdialoge wirklich bringen?
({6})
Der Staatssekretär hat gesagt, man verhandele lieber
hinter geschlossenen Türen . Die Menschenrechtsdialoge
sind öffentlich . Bringen sie irgendetwas?
({7})
Haben andererseits die ganz starken Mittel, die Sanktionen, jemals etwas gebracht für die Menschenrechte, oder
bringen sie wirklich etwas? Was ist da erreicht worden?
Der Bericht bringt leider auch keine Projektevaluierung . Die Europäische Gemeinschaft hat auch keine Institution, um Menschenrechtsprojekte zu evaluieren .
({8})
Aber ist es nicht eigentlich so, dass die wirklich harten Instrumente der Menschenrechtspolitik, Sanktionen,
immer nur genutzt worden sind, wenn es um geostrategische Machtpositionen ging, etwa in der Ukraine, in Syrien, aber auch beim gemeinsamen Standpunkt Kuba?
Ich frage mich auch: Ist bei der Kampagne gegen die
Todesstrafe das, was wir da machen, eigentlich effektiv?
Bringt das irgendetwas? Denken wir darüber nach, welche Auswirkungen das eigentlich hat?
Das Europaparlament hat in seiner Entschließung - in
Ihrer ist das leider nicht der Fall - zu Recht gesagt, eine
bessere Übersicht über die Auswirkungen der EU-Maßnahmen sowie über die erzielten Fortschritte wäre sinnvoll . Übrigens: Die Entschließung des Europaparlaments
ist sehr viel gehaltvoller als das, was hier gesagt wird .
({9})
Schließlich zur Kohärenz: Ist die europäische Politik
kohärent mit dem, was über Menschenrechte gesagt wird,
({10})
zum Beispiel die Fischereipolitik mit dem Kampf gegen
den Hunger? Oder die Handels- und Freihandelspolitik
mit dem Transparenzgebot? Nehmen wir nur einmal
TTIP: Ist das eigentlich ein kohärentes Verfahren? Oder
sind die Menschenrechte vielleicht nur Zierrat von einer
anderen, sehr viel wichtigeren Politik?
Ich sehe bei der Europäischen Gemeinschaft, bei der
gemeinsamen europäischen Außenpolitik, leider nicht
diese Kohärenz, auch nicht die Leitfunktion, die bei der
Wertedebatte immer wieder genannt wird .
Wenn man dann nach innen schaut, sieht man - da
bröckelt es an allen Stellen; das ist wirklich des Berichtes
wert - das Vordringen von menschenrechtsfeindlichen
Gruppen und von nationalistischen Parteien. Wo findet
sich noch das Diskriminierungsverbot in Ungarn oder bei
Parteien wie der Le-Pen-Partei, Front National? Das ist
eine Partei, die sich auf Diskriminierungen aufbaut, die
AfD ebenfalls . Diese Bewegungen entstehen gegen das
Diskriminierungsverbot .
Es geht aber auch um solche Tendenzen wie in Großbritannien, das nicht nur irgendwann vielleicht aus der
EU austreten will, sondern sich auch nicht mehr den
Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte unterwerfen will . Auch das sind Tendenzen, die
die Europäische Kommission in ihrem Bericht eigentlich
betrachten würde .
Deshalb würde ich mir wünschen, dass der nächste
Bericht den Blick nach innen und nach außen wendet,
auf Effizienz und Kohärenz wirklich Wert legt und sich
darüber Gedanken macht, kritisch bei den Ursachen und
Wirkungen ist, Maßnahmen evaluiert und die Mitgliedstaaten in die Pflicht nimmt. Das wäre ein Bericht, der
dann auch der breiteren Diskussion an einem schönen
Donnerstagmittag mit einer Beteiligung von mehr als
36 Kolleginnen und Kollegen wert wäre . Ich hoffe, dass
wir bei das beim nächsten Bericht über 2015 haben werden .
Dass der Bericht die gesamte Flüchtlingsfrage überhaupt nicht erwähnt, ist bedauerlich . Anderseits: Ihr
Entschließungsantrag, den Sie vorlegen, ist so „motherly love and apple pie“, dass man gar nicht dagegen sein
kann .
({11})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Angelika Glöckner,
SPD .
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Menschenrechtsverletzungen von
heute sind die Flüchtlingsströme von morgen; das waren vor wenigen Wochen meine Worte in diesem Hohen
Hause . Vor dem Hintergrund der aktuellen Flüchtlingsbewegungen, glaube ich, hat dieser Satz an Aktualität
nichts verloren .
({0})
Nach wie vor sind 60 Millionen Menschen weltweit
auf der Flucht . Freiheitsrechte haben in den letzten Jahren weltweit stetig abgenommen . Mehr als die Hälfte der
Weltbevölkerung lebt noch immer unterdrückt und in
undemokratischen Regimen . Terror, Kriege und Gewalt
nehmen weltweit zu . Dies alles zeigt uns: Eine umfassende Menschenrechtspolitik sowie der Einsatz für mehr
Demokratie in der Welt sind wichtiger denn je .
({1})
Die grundlegenden Menschen- und Freiheitsrechte
bilden das Fundament einer Gesellschaft . Die EU muss
daher ihre Außenbeziehungen und ihre gesamte Politik
nach diesen Werten ausrichten . Deutschland hat sich
zudem in Artikel 21 des Vertrages über die Europäische
Union dazu verpflichtet. Ich befürworte es außerordentlich, dass wir heute über den uns vorgelegten EU-Jahresbericht aus dem Jahr 2014 debattieren - den Blick nach
vorne gerichtet, Herr Koenigs - und dass wir auch erkennen, wo Handlungsbedarfe sind . Ich glaube, niemand
hat heute gesagt, dass alles, was bisher getan wurde, in
Ordnung ist . Ich habe eher das Gefühl, dass viele versucht sind, einzuschätzen, wo wir etwas zum Besseren
verändern können .
Der Rechenschaftsbericht zeigt zunächst die vielen
Aktivitäten der Europäischen Union im Bereich der
Menschenrechtspolitik auf . Er schafft Transparenz . Er
vergleicht den Istzustand mit den gesteckten Zielen . Vor
allem aber bietet er eine sehr gute Diskussionsgrundlage
für die zukünftige Ausrichtung unserer Menschenrechtspolitik .
Die EU hat für Menschenrechte und Demokratieentwicklung vieles getan . Zu nennen ist beispielsweise das
große Engagement der Hohen Vertreterin Frau Federica
Mogherini in der Außenpolitik . Sie hat eigens einen Sonderbeauftragten für die Europäische Union installiert,
der die Aufgabe hat, die Menschenrechtspolitik nach außen hin spürbarer und sichtbarer zu machen . Auch der
Ausbau der Menschenrechtsdialoge und der vielfältigen
Konsultationen sind Beispiele, die belegen, dass vieles
unternommen wird .
Was der Bericht aber auch zeigt, ist, dass wir uns noch
stärker auf die Umsetzung konkreter Ziele konzentrieren
müssen . Ziele zu beschreiben, ist ein erster wichtiger
Schritt . Die Ziele auch zu erreichen, wird ein weiterer
wesentlicher Schritt sein, den wir machen müssen . Zielgerichtetes Agieren ist wichtig . Denn noch immer sind
viel zu viele Menschen von Hunger und größter Armut
betroffen . Noch immer werden Kinder gezwungen, mit
Waffen zu kämpfen oder als Kindersklaven zu arbeiten .
Noch immer werden Frauen unterdrückt; sie sind wehrlos Willkür und Gewalt ausgesetzt . Hier muss die EU mit
ihrer Menschenrechtspolitik vorankommen . Daher muss
sie die Menschenrechte in ihre gesamten Wirtschaftsund Handelsbeziehungen stärker einbeziehen .
({2})
Es ist zum Beispiel sehr wichtig, im Vorfeld von Handels- und Investitionsabkommen Folgeabschätzungen
für die Menschenrechte vorzunehmen; das gilt auch mit
Blick auf TTIP . Natürlich erwarten wir für unsere Union auch immer positive Wachstumseffekte durch unsere
Handels- und Wirtschaftsaktivitäten mit Ländern außerhalb der EU . Dies muss aber eng einhergehen mit der
Verbesserung der menschenrechtlichen Situation in anderen Ländern . Handelsabkommen sind und bleiben ein
wichtiges Instrument, das Armut und Unterdrückung in
einer globalisierten Welt zurückdrängen kann, wenn diese für die Ärmsten in der Welt positive Effekte hervorrufen .
Wichtig für ein effektives Handeln ist auch, dass sich
die Mitgliedstaaten und die EU in ihrem Handeln miteinander abstimmen . Deshalb ist es gut, dass die EU ihren Mitgliedstaaten verbindlich vorgibt, nationale Aktionspläne zu erstellen . Diese sind ein ganz wesentliches
Instrument zur Umsetzung der UN-Leitprinzipien für
Wirtschaft und Menschenrechte, die von allen Mitgliedstaaten der Europäischen Union garantiert werden .
Neben diesen nationalen Aktionsplänen gibt es weitere Instrumente, zum Beispiel die Europäische Nachbarschaftspolitik und die Entwicklungszusammenarbeit .
Nach dem Prinzip „Mehr für mehr“ werden hier Anreize
geschaffen . Wenn sich Partnerländer menschenrechtskonform verhalten, werden sie bevorzugt behandelt . Ich
finde, es ist ein guter Ansatz, Anreizsysteme zu schaffen,
anstatt in der Hoffnung, dass irgendwo ein zartes Pflänzchen wächst, mit der Gießkanne zu verteilen . Daneben
muss das wirtschaftliche Betätigungsfeld in der globalisierten Welt mehr auf faire und rechtsbasierte Grundlagen gestellt werden .
Doch nicht nur die Nationalparlamente und die EU
tragen Verantwortung für die Entwicklung der Menschenrechte in der Welt, sondern gerade auch die weltweit agierenden Unternehmen können und müssen bei
ihrem globalen Handeln entscheidende Akzente setzen .
Das Europäische Parlament hat nunmehr die
CSR-Richtlinie zur sozialen Verantwortung von Unternehmen verabschiedet . Mit der Umsetzung in nationales
Recht in allen EU-Mitgliedstaaten wird hier ein erster
wichtiger Schritt hin zu mehr Unternehmensverantwortung vollzogen .
Es kann nicht angehen, dass Unternehmen in fernen
Ländern Kinder für einen Hungerlohn arbeiten und Menschen in baufälligen Gebäuden produzieren lassen sowie
auf Kosten der Umwelt und der Gesundheit der Menschen produzieren . Die Unternehmen werden sich mit ihren Lieferketten auseinandersetzen müssen und können
sich nicht mehr hinter ihrer Unwissenheit verstecken . Sie
müssen in die Pflicht genommen werden, Verantwortung
für die Menschenrechte zu übernehmen .
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, die Instrumente
für die Stärkung von Menschenrechten stehen bereit . Es
gilt jedoch, sie auszubauen, aufeinander abzustimmen
und vor allem mit hinreichenden Ressourcen auszustatten und intelligent zu nutzen . Wenn uns das gelingt, dann
haben wir für die Zukunft eine Chance, Hunger und mangelnder Gesundheitsversorgung, krankmachenden und
lebensbedrohenden Umwelteinflüssen und einem Leben
ohne Bildung und in Perspektivlosigkeit entgegenzuwirken . Genau diese Umstände fördern fragile Gesellschaften und Strukturen und sind letztlich auch geeignet, weitere Menschenrechtsverletzungen hervorzurufen und im
schlimmsten Fall sogar neue Flüchtlingsbewegungen in
Gang zu setzen, und das darf die EU und dürfen wir nicht
zulassen .
({3})
Wir dürfen aber auch nicht vergessen, dass wir selbst
mit gutem Beispiel vorangehen müssen, wenn wir nach
außen etwas vorgeben . Wer die Befolgung von Freiheitsrechten im Ausland fordert, der muss sie auch selbst
einhalten . Hier haben wir in einigen Mitgliedstaaten der
EU in den letzten Jahren einen deutlichen Nachholbedarf
gesehen .
Wenn man die Diskussionen in den letzten Tagen und
Wochen verfolgt hat - auch die aktuelle Diskussion über
den möglichen Austritt Großbritanniens aus der EU -,
dann hat man teilweise schon den Eindruck gewonnen,
dass die EU nichts anderes als eine Wirtschaftsgemeinschaft ist . Die Europäische Union ist aber eben nicht nur
eine Wirtschaftsgemeinschaft, sondern auch ein gemeinsames Wertegebilde . Zusammenhalt, Offenheit und Toleranz gegenüber Neuem haben die Europäische Union
stark gemacht . Genau das sind die Werte, die uns nun
auch helfen können, die schwierigen Zeiten zu überwinden .
Eine erfolgreiche europäische Außenpolitik für mehr
Menschenrechte und Demokratie in der Welt hilft den
Menschen in der Welt und auch der EU und ihren Mitgliedstaaten, den Zusammenhalt zu stärken . Abschottung
und Intoleranz, wie von der AfD immer wieder propagiert, haben weder unser Land noch die EU erfolgreicher
gemacht .
Eine Welt mit mehr Menschenrechten und Demokratie
gibt es nur mit einer starken EU .
({4})
Ich bitte Sie deshalb um Ihre Zustimmung zur Beschlussempfehlung der Koalition .
Herzlichen Dank .
({5})
Für die CDU/CSU spricht jetzt der Kollege Thorsten
Frei .
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Dass wir heute den EU-Jahresbericht 2014 über Menschenrechte und Demokratie in der Welt diskutieren, mag
in einer schnelllebigen und digitalisierten Welt geradezu
seltsam anmuten . Vieles davon ist ja Geschichte .
Andererseits, Herr Staatsminister, ist das aber eben
tatsächlich auch ein starkes Dokument und ein starker
Ausdruck dafür, dass Europa eben nicht nur eine Wirtschaftsgemeinschaft ist, sondern ganz im Gegenteil auch
eine wertegeleitete Gemeinschaft, in deren Mitgliedstaaten die Menschenrechte nicht nur Verfassungsrang
haben, sondern in der auch der Anspruch besteht, ein
Mindestmaß an Menschenrechten über den Kontinent
hinaus in der gesamten Welt durchzusetzen . Das ist der
wesentliche Punkt, um den es geht .
Wenn man sich den Bericht anschaut, findet man
eindrücklich dargelegt, wie mit ausdifferenzierten Instrumentarien versucht wird, auf die unterschiedlichen
Verhältnisse einzugehen: Dialogformen, Fördermöglichkeiten, institutionelle Möglichkeiten, Aktionen und Aktionspläne, die passgenau auf die einzelnen Erfordernisse
zugeschnitten sind .
Das aus meiner Sicht Stärkste und Überzeugendste ist,
dass wir in Europa starke, aufgeklärte und auch selbstbewusste Zivilgesellschaften haben, die die Basis dafür
bilden, dass das letztlich passieren kann .
({0})
Ich glaube, dass das der Exportschlager für Menschenrechte in der Welt schlechthin ist, meine sehr verehrten
Damen und Herren .
({1})
Für die Politik ist natürlich auch entscheidend, dass
sie Menschenrechte nicht bloß als schmückendes Beiwerk betrachtet, sondern als essenzielle Prämisse für die
Durchsetzung der eigenen Politik . Wenn wir uns dazu
drei Beispiele anschauen, wird, glaube ich, deutlich, dass
das auch so praktiziert wird: etwa gegenüber Russland,
wo man aufgrund der Lage den institutionalisierten Menschenrechtsdialog aussetzen musste; etwa gegenüber Eritrea, wo man seit 2008 die Entwicklungszusammenarbeit
eingestellt hat, weil ansonsten die Gefahr bestanden
hätte, dass der dortige Diktator, Isayas Afewerki, diese
Mittel für Repressionen gegen die eigene Bevölkerung
eingesetzt hätte . Und es gibt auch das umgekehrte Beispiel, etwa gegenüber Weißrussland, wo man aufgrund
der Verbesserung der Lage Sanktionen wieder aufheben
konnte . Ich bin wirklich davon überzeugt, dass ein dauerhafter, konzentrierter Dialog letztlich dazu führt, dass
man nach und nach deutliche Verbesserungen erreicht .
Mir ist natürlich klar, dass man immer wieder auch an
Grenzen stoßen wird . Beispielsweise in Syrien, wo wir
Menschenrechtsverletzungen von ganz unterschiedlicher
Seite haben, sowohl vom Assad-Regime wie auch vom
sogenannten „Islamischen Staat“ . Natürlich darf man die
Menschen dort in dieser Situation nicht im Stich lassen,
auch wenn die klassischen Dialogformen und Dialogforen der Menschenrechtspolitik dort nichts mehr ausrichten können .
Ich glaube, dass gerade an dieser Stelle deutlich
wird, dass Menschenrechtspolitik immer auch Bestandteil eines ganzen Instrumentenkastens der Außenpolitik ist, dass es immer auch um Diplomatie geht, dass
es um wirtschaftliche Zusammenarbeit geht - und dass
es manchmal auch notwendig ist, an einzelnen Stellen
mit militärischen Mitteln einzugreifen . Ich will das an
drei Beispielen verdeutlichen: Menschenrechtspolitik in
diesem Sinne ist es dann eben auch, wenn man den IS
militärisch bekämpft . Menschenrechtspolitik ist es auch,
wenn man Pufferzonen schafft, in denen die Zivilbevölkerung sicher leben kann . Und Menschenrechtspolitik ist
es auch, wenn man gerade in dieser Region die Anrainerstaaten so unterstützt, dass Flüchtlinge möglichst in
der Region bleiben können . Wenn man sich die Debatte
darüber anschaut, dann wird deutlich - Frau Kollegin
Steinbach hat das in ihrer Rede ja ventiliert -, dass wir
die Schwerpunkte vielleicht nicht immer ganz richtig
setzen . Wir könnten mit unserer Politik sehr viel mehr
erreichen, wenn wir die Schwerpunkte so setzten, dass
die Menschen in der Region blieben, anstatt dass sie sich
nach Europa und nach Deutschland aufmachten .
Anfang des Monats war in der Tageszeitung Die Welt
zu lesen, dass wir in Deutschland für dieses und für das
kommende Jahr für die Flüchtlingsunterbringung gesamtstaatlich etwa 50 Milliarden Euro aufwenden müssen . Schauen wir uns einmal an, was man mit diesen
Mitteln in den Herkunftsländern erreichen könnte . Ich
will da einfach nur die Zahl erwähnen, die der Bundesminister Müller immer wieder nennt; er sagte: Wenn die
Europäische Union die Kraft hätte, 10 Milliarden Euro
aufzuwenden, dann bestünde die Chance, 8 Millionen
Menschen ein ganzes Jahr lang nicht nur zu ernähren,
sondern auch für Gesundheitsversorgung und Bildungsperspektiven zu sorgen .
({2})
Was würde es denn bedeuten, die Menschen in der Region zu unterstützen? Da gelänge es, mit 350 Euro ein
ganzes Jahr lang die Ernährung für einen Flüchtling sicherzustellen, mit 150 Euro ein Zelt mit entsprechender
Infrastruktur zur Verfügung zu stellen und mit weiteren
500 Euro jedem Flüchtling Perspektiven in Bildung und
Arbeit aufzuzeigen . Daran wird deutlich, dass man schon
mit 1 000 Euro ein ganzes Jahr lang alle grundlegenden
menschenrechtlichen Bedürfnissen eines Flüchtlings zufriedenstellen könnte . Deshalb müssen wir, glaube ich, in
diesem Bereich noch deutlich mehr tun, als wir es heute
machen .
Wenn ich demgegenüber die genannten 50 Milliarden Euro zugrunde lege, dann bedeutet das in Wahrheit
nichts anderes, als dass man alle 60 Millionen Menschen,
die weltweit auf der Flucht sind, tatsächlich in den Herkunftsländern und -regionen angemessen versorgen und
unterbringen könnte . Vor dieser Wahrheit darf man doch
den Blick nicht verschließen . Deswegen muss auch klar
sein, dass wir für die Menschen mit Geld viel mehr in
den Herkunftsregionen erreichen können, als wenn sie
als Flüchtlinge zu uns kommen .
({3})
Vor diesem Hintergrund möchte ich noch zwei Bemerkungen machen .
Ich glaube, dass es ein schönes Ergebnis der Londoner
Geberkonferenz am 4 . Februar war, knapp 10 Milliarden
Euro zusammenzutragen . Es war ein starkes Zeichen der
Bundesregierung, dazu 2,3 Milliarden Euro beizusteuern . Es ist eher beschämend, andere Beiträge zu sehen,
etwa den der USA in Höhe von 850 Millionen Euro, etwa
den Beitrag Russlands - nämlich gar nichts . Auch der
Beitrag der Europäischen Union insgesamt könnte deutlich höher sein .
Im europäischen Kontext müssen wir uns verstärkt
darüber Gedanken machen, ob wir mit unserer Politik eigentlich die richtigen Schwerpunkte setzen . Wir machen
doch letztlich weiter so wie gehabt, als ob nichts gewesen
wäre . Es kann doch nicht sein, dass sich beispielsweise in den Strukturfonds der Europäischen Union weiter
80 Milliarden Euro befinden, die letztlich für die Optimierung von Rad- und Wanderwegen ausgegeben werden, anstatt dass das Geld dort konzentriert wird, wo wir
tatsächlich etwas erreichen könnten, wo wir tatsächlich
etwas zur Bewältigung der Flüchtlingskrise unternehmen
könnten, die eben keine deutsche ist, sondern eine europäische . Deshalb erwarte ich auch, dass Deutschland in
diesem Fall die Probleme und die Lasten, die sich daraus
ergeben, nicht alleine schultern und tragen muss, sondern
dass wir dafür die notwendige europäische Solidarität
finden. Das täte hier not. Auch das gehört zum Kontext,
wenn wir über den Menschenrechtsbericht 2014 sprechen .
Herzlichen Dank .
({4})
Der Kollege Frank Heinrich hat für die CDU/
CSU-Fraktion das Wort .
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Es gibt Themen, die sind von großer Bedeutung, und doch führen sie politisch ein Schattendasein;
der eine oder andere Kollege hat darauf schon hingewiesen . Menschenrechte gehören sehr oft dazu .
Auch wenn wir die Bedeutung der Menschenrechte
als ein Querschnittsthema, das alle Politikfelder durchzieht , in unserem Parlament begreifen und als solches
formuliert haben - machen wir uns da doch nichts vor -:
Debatten zu Menschenrechtsthemen finden oft vor leeren
Rängen statt ({0})
Sie haben hier vorhin 36 Abgeordnete im Saal gezählt;
ich weiß nicht, ob es inzwischen ein paar mehr geworden
sind - und oft zu Zeiten, die nicht unbedingt zentral am
Tag liegen .
Die humanitäre Hilfe oder auch die Entwicklungszusammenarbeit sind im Ranking der politischen Bedeutsamkeit ebenfalls ziemlich weit unten angesiedelt . Doch
dann - plötzlich! - stehen ebendiese Themen direkt vor
unseren Augen, im Zentrum der politischen Debatte .
Man möchte fast sagen: im Auge des Sturms . Auch heute
ist das so, nicht nur allein wegen des Menschenrechtsberichts, den wir heute behandeln und anlässlich dessen
wir heute reden. Im Februar 2016 findet diese Debatte
freilich unter einem neuen Namen statt, nämlich unter
dem Begriff „Fluchtursachen bekämpfen“ . Fluchtursachenbekämpfung ist das Gebot der Stunde; mein Kollege Thorsten Frei hat das eben sehr deutlich gemacht . Ich
möchte daran hautnah anknüpfen .
Wir debattieren den Entwurf des EU-Jahresberichts 2014
über Menschenrechte und Demokratie in der Welt . Deshalb stimmt natürlich, dass wir sowohl die ganze Welt
als auch uns selbst in Augenschein nehmen müssen . Die
Welt hat sich seither aber gravierend verändert . Der Sommer 2015 war eine Zäsur für die Flüchtlingspolitik . Aber
schon 2014 hat der Bericht festgestellt - ich zitiere -,
dass die verschiedenen Formen von Migration eine
bedeutende Herausforderung für die Außenpolitik
der EU darstellen, für die sofortige, wirksame und
dauerhafte Lösungen erforderlich sind, damit sichergestellt werden kann, dass die Menschenrechte
von Menschen in Not, wie etwa denjenigen, die vor
Krieg und Gewalt fliehen, entsprechend den europäischen Werten und internationalen Menschenrechtsnormen geachtet werden .
Deshalb bekundet der Bericht
seine große Besorgnis und seine Solidarität mit den
zahlreichen Flüchtlingen und Migranten, die als Opfer von Konflikten, Verfolgung, Versäumnissen der
Regierungen, Schleusernetzen, Menschenhandel,
extremistischen Gruppen und kriminellen Vereinigungen gravierenden Menschenrechtsverletzungen
ausgesetzt sind;
- insofern kommt das in dem Bericht doch vor; denn daran wird erinnert bekundet zudem tiefe Trauer angesichts der tragischen Todesfälle unter den Menschen, die versucht
haben, die Außengrenzen der EU zu erreichen; …
Auch entsprechende Forderungen wurden in dem Bericht
aufgestellt, nämlich - ich zitiere weiter dass es dringend notwendig ist, die Ursachen der
Migrationsflüsse zu beseitigen und dazu die externen Aspekte der Flüchtlingskrise anzugehen …
Damit sind wir genau an dem Punkt, den mein Vorredner
genannt hat . Wie gesagt, die Feststellungen und die Forderungen, die daraus abgeleitet wurden, sind schon im
Rückblick auf das Jahr 2014 formuliert worden .
Schauen wir uns heute um, stellen wir uns die Frage: Wie steht die Welt an diesem Tag im Jahr 2016 da?
Menschen ertrinken auf dem Weg über das Mittelmeer .
Menschen werden auf der Balkanroute missbraucht und
gedemütigt . Menschen sterben im Kugel- und Granatenhagel von Islamisten . Menschen verhungern als Folge
von Bürgerkriegen und Umweltkatastrophen . Menschen
flüchten, weil sie die Hoffnung auf eine Zukunft für ihre
Kinder verloren haben . - Das kann und darf uns nicht
kaltlassen, und - das zeigt auch unsere Debatte - das tut
es auch nicht . Sowohl die Zivilgesellschaft als auch die
Politik lässt das nicht kalt .
Ich kann mich erinnern: Im vergangenen Jahr - noch
vor dem Sommer - haben wir darüber gesprochen, und
zwar kurz nach der Katastrophe mit den 700 Toten auf
dem Mittelmeer . Ich erinnere mich, dass ich damals
meine emotionalste Rede gehalten habe . Ich habe davon
gesprochen, dass die Propheten des Alten Testaments in
einem solchen Fall von Trauer und Elend ihren Mantel
zerrissen haben, um auch anderen deutlich zu machen,
was in ihnen vorgeht .
Wir müssen handeln . An dieser Stelle kann ich der
Frau Bundeskanzlerin nur zustimmen, die gesagt hat:
Wenn wir jetzt noch anfangen müssen, uns dafür
zu entschuldigen, dass wir in Notsituationen ein
freundliches Gesicht zeigen, dann ist das nicht mein
Land .
Schön ist, dass wir uns eben nicht zu entschuldigen
brauchen . Um es klar zu sagen: Deutschland zeigt ein
freundliches Gesicht . Die Welt schaut auf uns . Wir haben Verantwortung übernommen . Ich bin stolz auf das,
was vor allem Bürger des Landes, aber inzwischen auch
Verwaltungen bzw . viele Menschen an den Schaltstellen
und auch die Politik auf den Weg gebracht haben . Navid
Kermani hat es an dieser Stelle zu uns als Parlamentarier
gesagt: „Danke, Deutschland .“
Dabei dürfen wir aber nicht naiv sein . Wir müssen
die Befürchtungen ernst nehmen . Wir müssen unsere
Ressourcen im Blick behalten . Wir müssen den sozialen
Frieden im Inneren und in Europa sichern . Und wir müssen den Rechtsstaat ertüchtigen, um ihn handlungsfähig
zu erhalten . Dazu gehört auch, dass wir am Schluss nur
wirklich Schutzbedürftige aufnehmen .
Joachim Gauck hat es am Tag der Deutschen Einheit
in einen, wie ich finde, prägnanten Satz gefasst: „Unser
Herz ist weit . Aber unsere Möglichkeiten sind endlich .“
Darum hat der Deutsche Bundestag Asylpakete auf den
Weg gebracht; wir haben ja unter anderem auch heute
Morgen darüber diskutiert . Wir werden weiterhin Maßnahmen ergreifen, damit unsere Hilfe wirklich bei denen
ankommt, die sie am dringendsten brauchen, bzw . da,
wo die Menschenrechtsverletzungen gravierendst sind .
Darum müssen und werden wir alles tun, soweit es in
unserer Macht steht, um die Fluchtursachen konkret und
nachhaltig zu bekämpfen .
Der EU-Jahresbericht weist dabei an vielen Stellen
den richtigen Weg . Es steht zugleich außer Zweifel: An
Frank Heinrich ({1})
vielen Stellen bleibt er zu weich, und an anderen Stellen
legt er da, wo noch kräftig etwas zu bearbeiten ist, den
Finger in die Wunde . Dieser Bericht sagt auch, dass wir
diesen Weg mit viel Elan und der nötigen finanziellen
Ausstattung weitergehen müssen . Es sei daran erinnert,
dass jeder Euro, den wir in die Fluchtursachenbekämpfung vor Ort investieren, ein Vielfaches an Geld spart
gegenüber dem, was wir für die Unterbringung und Versorgung von Flüchtlingen in der EU investieren müssen .
Noch einmal - die vom Kollegen Frei genannten Zahlen waren einprägsam -: Die 1 000 Euro, mit denen wir
jedem vor Ort nach allen Maßstäben der europäischen
Menschenrechtswahrnehmung Sicherheit und Versorgung bieten können, reichen hier bei uns möglicherweise
nur für einen Monat . Jeder Euro verringert menschliches
Leid . Im Bericht wird deutlich, dass die EU und die Weltgemeinschaft einheitlich handeln und zusammenarbeiten
müssen . Deshalb drängt Deutschland auf eine gemeinsame Lösung .
Der Bericht erinnert daran, dass die EU „verpflichtet
ist, eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik . . . zu
entwickeln“ . Gefordert werden „eine verstärkte Kohärenz“ - das Wort fiel mehrfach; da stimme ich laut zu „zwischen der Innen- und Außenpolitik der EU“ - ich
denke, das gilt auch für unser Land -, der „Ausbau der
Zusammenarbeit und Partnerschaften mit den betroffenen Drittländern“ und eine engere Zusammenarbeit „mit
den Vereinten Nationen und ihren Organisationen“, also
denen, die auch daran arbeiten . Dafür muss sichergestellt
werden, dass „die EU und ihre Mitgliedstaaten . . . mit einer Stimme sprechen“, sodass man deren Botschaft dann
auch tatsächlich hört .
Während wir hier debattieren und ich hier spreche, tagt
der Europäische Rat . Bundeskanzlerin Angela Merkel
wird dort genau diese Position vertreten; sie hat uns das
hier vor zwei Tagen deutlich gemacht . Wir brauchen eine
gemeinsame europäische Strategie zur Verteilung der
Flüchtlinge, zur Sicherung der EU-Außengrenzen und
zur Bekämpfung der genannten Fluchtursachen .
Was heißt das konkret? Das Hauptwerkzeug ist und
bleibt der Menschenrechtsdialog; mehrere meiner Vorredner, auch der Staatsminister Roth, haben genau das
erwähnt . Ein zentraler Gesprächspartner muss die Zivilgesellschaft sein . Doch wir müssen auch grundsätzlicher
denken: Damit eine Zivilgesellschaft überhaupt Menschenrechtsverteidiger, Initiativen und NGOs hervorbringen kann, müssen die Grundbedürfnisse gestillt und
die Grundmenschenrechte gewahrt sein, ohne das eine
gegen das andere aufzuwiegen . Ich stimme vollkommen
mit dem Entwicklungsminister überein, der die Schwerpunkte der EZ bei der Grundversorgung setzt . Der Gründer der Heilsarmee, William Booth, hat einmal gesagt:
Einem hungrigen Magen kann man nicht predigen . Übersetzt auf unser heutiges Thema bedeutet das: Von
einem Menschen, der täglich um seine Existenz kämpft,
kann ich nicht erwarten, dass er seine demokratischen
Grundrechte wahrnimmt und eine veränderte Gesellschaft mitgestaltet . Das sind die drei Themen: Leben,
Nahrung, Grundversorgung . Es ist keine Relativierung,
wenn wir das eine und das andere fordern .
Es ist sicherlich richtig, dass in einem solchen wertenden Bericht mehrere Staaten, beispielsweise China,
wegen Verletzung von Menschenrechten, die uns sehr
wichtig sind, kritisiert werden . Aber wir müssen auch
würdigen, dass in China in demselben Jahrzehnt, über
das wir da reden, mehr als 100 Millionen Menschen aus
extremer Armut herausgekommen sind .
Kollege Heinrich, kommen Sie bitte zum Schluss .
Ich komme zum letzten Absatz . Danke schön .
Um die elementaren Bedürfnisse wirklich zu erfassen
und wirksam zu helfen, müssen wir die Schnittstelle zwischen humanitärer Hilfe und Entwicklungszusammenarbeit neu und eleganter definieren; das ist eine spannende Herausforderung . In der Anhörung am vergangenen
Mittwoch waren sich alle Experten darin einig .
Kollege Heinrich, Sie haben zwar nichts über die
Länge des Absatzes gesagt . Aber Sie müssen jetzt einen
Punkt setzen .
Wir dürfen nicht nur Brände löschen, sondern müssen auch Brandursachen beseitigen . Ich schließe mich
der Forderung an, dass wir das im Zusammenspiel von
Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft tun müssen und
diese nicht gegeneinander ausspielen dürfen . Nur dann
werden wir Fluchtursachen wirklich wirksam beseitigen .
Ich danke Ihnen für Geduld und Aufmerksamkeit .
Danke schön .
({0})
Ich schließe die Aussprache .
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Ausschusses für Menschenrechte und
humanitäre Hilfe auf Drucksache 18/7552 zu dem Ent-
wurf des EU-Jahresberichts 2014 über Menschenrechte
und Demokratie in der Welt. Der Ausschuss empfiehlt, in
Kenntnis der Unterrichtung eine Entschließung anzuneh-
men . Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschluss-
empfehlung ist mit den Stimmen der CDU/CSU-Frakti-
on, der SPD-Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke an-
genommen .
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 19 a und 19 b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Sabine
Zimmermann ({0}), Matthias W . Birkwald,
Susanna Karawanskij, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion DIE LINKE
Frank Heinrich ({1})
Schutzfunktion der Arbeitslosenversicherung
stärken
Drucksache 18/7425
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({2})
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales ({3}) zu dem Antrag der Abgeordneten Sabine Zimmermann ({4}), Jutta
Krellmann, Klaus Ernst, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion DIE LINKE
Programm für gute öffentlich geförderte Beschäftigung auflegen
Drucksachen 18/4449, 18/5158
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen . - Ich höre keinen Widerspruch . Dann ist so beschlossen .
Ich eröffne die Aussprache . Das Wort hat die Kollegin
Sabine Zimmermann für die Fraktion Die Linke .
({5})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Erinnern Sie sich noch: Vor zwölf Jahren bekam
ein Facharbeiter, wenn er arbeitslos wurde, erst Arbeitslosengeld und dann Arbeitslosenhilfe . Sie hatten alle in
die Arbeitslosenversicherung eingezahlt und konnten
sich auf die Solidarleistung im Fall von Arbeitslosigkeit
verlassen . Und dann kamen Sie, liebe Kolleginnen und
Kollegen der SPD und von Bündnis 90/Die Grünen
({0})
- die CDU/CSU hat zugestimmt -, mit Ihren unsäglichen
Hartz-IV-Gesetzen . Ich muss das hier so deutlich sagen:
mit diesen unsäglichen Hartz-IV-Gesetzen .
({1})
- Warten Sie einmal, Herr Whittaker, was ich dazu zu
sagen habe .
Ein Facharbeiter, ein Ingenieur oder jeder, der heute
arbeitslos wird, geht im Regelfall nach zwölf Monaten
gnadenlos in Hartz IV, obwohl er nach wie vor mitunter
Jahrzehnte in die Arbeitslosenversicherung eingezahlt
hat . Dazu, meine Damen und Herren, sagt die Linke: Das
ist ungerecht, und vor allen Dingen stürzt es viele Leute
in Armut .
({2})
Soll ich Ihnen einmal sagen, wie ich das nenne? Ich
nenne das eine der wirklich größten politischen Fehlleistungen der letzten zwölf Jahre mit katastrophalen Auswirkungen auf den Sozialstaat .
({3})
- Ja, Sie können da lachen, Kollege Bartke,
({4})
aber diejenigen, die in diesem Hartz-IV-System gefangen
sind, können nicht mehr lachen .
Ihre unsozialen Gesetze haben auch zur Folge, dass
mittlerweile über zwei Drittel der Erwerbslosen nicht im
Bereich der Arbeitslosenversicherung betreut werden,
sondern im Hartz-IV-System . Sie brauchen sich doch
bloß die Zahlen anzuschauen . So ist es doch . - Ich weiß,
dass Sie das nicht hören wollen .
({5})
Aber wer die Geister rief . . . - es ist einfach so .
({6})
Fast ein Viertel der Beschäftigten, die erwerbslos werden, bekommen direkt Hartz IV . Immer mehr Erwerbslose können nämlich keine Ansprüche auf Arbeitslosengeld
erwerben, oder das Arbeitslosengeld ist so niedrig, dass
sie zusätzlich noch mit Hartz-IV-Leistungen aufstocken
müssen .
Ich möchte Sie wirklich einmal fragen, meine Damen
und Herren von der SPD und vom Bündnis 90/Die Grünen: Wie können Sie das eigentlich mit Ihrem Gewissen
vereinbaren? Das würde mich wirklich einmal interessieren .
({7})
Sie haben die Rahmenfrist, in der Ansprüche auf Arbeitslosengeld erworben werden können, von drei auf zwei
Jahre verkürzt, die Arbeitslosenhilfe abgeschafft und prekäre Beschäftigung wie Leiharbeit und Minijobs ausgeweitet . Und wir haben den größten Niedriglohnsektor in
ganz Europa . Auch wenn Sie es nicht hören wollen: Ich
muss es an dieser Stelle sagen .
({8})
Mittlerweile ist für jeden - egal ob hoch qualifiziert,
jahrelang studiert oder Facharbeiter - jede Arbeit zumutbar . Arbeit zu jedem Preis ist angesagt, und das ist
auf der Tagesordnung, meine Damen und Herren . Wenn
einer nicht spurt - das kommt ja noch dazu; da haben
Sie sich ja noch etwas „Gutes“ einfallen lassen -, dann
kommen noch Sperrzeiten und Sanktionen darauf, damit
noch richtig Druck auf die Menschen gemacht werden
kann . Und dann werden sie unter dem Strich noch drangsaliert . Das ist das Monster, das Sie hier in Deutschland
installiert haben, meine Damen und Herren .
({9})
Hier wurden und werden Qualifikationen in Größenordnungen vernichtet, Menschen werden regelrecht gebroVizepräsidentin Petra Pau
chen . Ich weiß nicht, ob Sie fern von der Realität sind,
aber ich weiß das von sehr vielen Menschen .
Dieses Monster, dieses Geschwür Hartz IV schwächt
dauerhaft das soziale Immunsystem unseres Landes, und
Sie geben immer noch die falsche Medizin darauf .
({10})
Sie können die Langzeitarbeitslosigkeit nicht bekämpfen, wir haben immer noch mehr als 3 Millionen Menschen, die einen Zweitjob und einen Drittjob brauchen .
Und da sagen Sie: „Die Welt ist in Ordnung“? Nein, die
Welt ist eben nicht in Ordnung .
({11})
Durch das enorme Schleifen der Arbeitslosenversicherung wurde eine gewaltige Lohnspirale in Gang gesetzt . Das führte dazu, dass wir einen der größten Niedriglohnsektoren in Europa haben . Das, meine Damen und
Herren - das muss ich Ihnen so deutlich sagen -, ist nicht
unsere Vorstellung von einer guten Arbeitsmarktpolitik .
({12})
Stellen Sie sich vor, Sie selbst würden in diese Situation
kommen . Wie unwürdig ist es doch eigentlich, dass Menschen von ihrem Lohn nicht leben können. Ich finde das
unanständig . Wenn man darüber nachdenkt, erkennt man,
dass das auch noch verdeckte Wirtschaftsförderung ist .
Ich habe mir die Zahlen herausgesucht: Jährlich werden
10 Milliarden Euro an Steuergeldern für Lohnsubventionierung gezahlt . Das ist eine verdeckte Wirtschaftsförderung. Das können Sie doch nicht gutheißen. Ich finde,
das ist ein Skandal .
({13})
Die Arbeitslosenversicherung muss wieder gestärkt
werden, und sie muss auch zum Hauptinstrument der sozialen Sicherung bei Erwerbslosigkeit werden . Dazu will
ich Ihnen einige unserer Vorschläge nennen: Erweiterung
der Rahmenfrist von zwei auf drei Jahre, Anspruch auf
Arbeitslosengeld bereits nach vier Monaten Beitragszeit,
für langjährige Beitragszahlerinnen und -zahler wird die
Anspruchsdauer auf Arbeitslosengeld erweitert, ebenso
für ältere Erwerbslose und auch für Menschen mit Behinderungen, und zur Vermeidung von ergänzendem HartzIV-Bezug wird ein Mindestarbeitslosengeld eingeführt .
Gerechtigkeit auf dem Arbeitsmarkt gilt selbstverständlich auch für Flüchtlinge . Nun suchen Sie wieder
einmal nach Wegen, um bei Flüchtlingen durch die Hintertür den Mindestlohn zu unterlaufen .
({14})
- Die CDU zum Beispiel .
({15})
- Ja, aber es wird trotzdem nicht besser . Das, was Sie
vorhaben, wird ja schlimmer; es heißt ja, sie sollen jetzt
erst Praktika machen, und da bekommen sie noch nicht
einmal Lohn, sondern nur eine Praktikumsvergütung .
Das ist doch die Schweinerei dabei . Es ist doch blanker
Populismus, was Sie hier machen .
({16})
Eine starke Arbeitslosenversicherung und eine gute
Arbeitsförderung - das sind die Hauptpfeiler eines Sozialstaates, wie wir ihn uns vorstellen . Wie der Rest des
Hauses dieses sieht und wie er zum Sozialstaat steht,
werden wir sehen und hören .
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit .
({17})
Das Wort hat der Kollege Albert Weiler für die CDU/
CSU-Fraktion .
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Verehrte Damen und Herren auf der Tribüne! Liebe Fernsehzuschauer! Bevor ich inhaltlich
starte, muss ich hier meine Bestürzung und Ablehnung
zum Ausdruck bringen: Der Abgeordnete Diether Dehm,
Linkspartei, beschäftigt seit einigen Jahren aus Steuermitteln den Ex-RAF-Terroristen und verurteilten Mörder
Christian Klar . Dieser sollte uneingeschränkt Zugang
zum Bundestag bekommen .
({0})
Der Feind der Demokratie hat nichts im Herzstück unserer Demokratie zu suchen, meine Damen und Herren!
({1})
Die Linkspartei sollte sich gut überlegen, wen sie auf Ihre
Listenplätze setzt . Herr Dehm sollte sich überlegen, ob er
hier im Deutschen Bundestag an der richtigen Stelle ist .
({2})
Nun zum eigentlichen Thema . Liebe Kolleginnen und
Kollegen von der Linksfraktion, unter dem Deckmantel
Ihres Antrags zur Stärkung der Schutzfunktion der Arbeitslosenversicherung steckt mal wieder jede Menge
düstere Wahlkampfpolemik,
({3})
die nicht widerspruchslos hingenommen werden kann .
({4})
Sabine Zimmermann ({5})
Ihre Antragsbegründung ist derart widersprüchlich und Märchenhaftigkeit - teilweise realitätsfern, dass es einem
die Socken auszieht .
({6})
In Ihrem Antrag monieren Sie, dass die Senkung der
Arbeitslosenversicherungsbeiträge von 6,5 Prozent im
Jahr 2006 auf heute 3 Prozent die Arbeitgeber in Deutschland entlastet habe . Das stimmt . Allerdings sind die vielen Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
ebenso Nutznießer dieser Senkung . Ich sage da nur: mehr
Netto vom Brutto . Dass diese Beitragssenkung natürlich
auch mit der enormen Reduzierung der Arbeitslosigkeit
in Deutschland zu tun hatte, verschweigen Sie . Ebenso
verschweigen Sie, dass die Unternehmen in Deutschland
die eingesparten Gelder investiert und Arbeitsplätze geschaffen haben .
({7})
Der aktuelle Jahreswirtschaftsbericht der Bundesregierung bestätigt dies eindrucksvoll . 43,3 Millionen Erwerbstätige, eine solche Zahl gab es in der Geschichte
der Bundesrepublik noch nie, und die Tendenz ist steigend . Ihre Mär von der Zunahme unsicherer Arbeitsverhältnisse ist schlichtweg falsch . Das Gegenteil ist aktuell
der Fall .
({8})
Richtig ist - hier muss ich mich wiederholen -: Es gibt
immer mehr Normalarbeitszeitverhältnisse . Seit 2010
gab es eine Zunahme regulärer Arbeitsverhältnisse um
1,5 Millionen . Dagegen sind die Zahlen bei befristeter
und geringfügiger Beschäftigung sowie bei der Zeitarbeit gesunken . Das bestätigt das Statistische Bundesamt .
Wenn Sie in Ihrem Antrag davon schreiben, dass ein
Viertel aller Beschäftigten, die nach einer sozialversicherten Arbeit arbeitslos werden, direkt in das Hartz-IVSystem fallen, dann heißt das doch im Umkehrschluss,
dass die Arbeitslosenversicherung für drei Viertel aller
Beschäftigten funktioniert .
({9})
Die Schutzfunktion der Arbeitslosenversicherung ist also
stark .
Sie argumentieren in Ihrem Antrag vom Januar 2016
mit Zahlen von 2014 . Damit verblenden Sie die Wahrheit, weil Sie anscheinend der Bundesregierung den Erfolg nicht gönnen .
({10})
Durch unsere gute und stabile Politik hat sich auch die
Zahl der ALG-I-Bezieher mit zusätzlichem Hartz-IV-Bezug verringert . Die Zahlen der BA belegen das deutlich .
Aktuell sind 85 500 ALG-I-Bezieher auf zusätzliche
Leistungen aus dem SGB II angewiesen . Es sind also
nicht, wie Sie mit Ihrer veralteten Zahl von 2014 vortäuschen wollen, 96 593 . Aktuell sind es zwar immer noch
zu viele ALG-I-Bezieher, aber die Tendenz geht deutlich
nach unten .
Man muss stark bezweifeln, dass mit Ihren Vorschlägen die Arbeitslosenversicherung gestärkt wird . Sie fordern unter anderem ein Recht auf Arbeit .
({11})
Aber wo bleibt die Pflicht zur Arbeit? Sie wollen Sperrzeiten und Sanktionen abschaffen;
({12})
entsprechende Vorlagen bringen Sie immer wieder in
den Bundestag ein . Jeder Arbeitnehmer - und auch jeder
Bundestagsabgeordnete - wird sanktioniert, wenn er seiner Arbeit nicht nachkommt oder die Arbeit ablehnt . Sie
fordern das generelle Recht für Arbeitslose, sanktionslos auch gute Arbeit ablehnen zu dürfen . Das kann nach
meinem gesellschaftlichen Verständnis nicht richtig sein,
und es ist beschämend für jeden, der arbeitet .
({13})
Zudem wollen Sie die Arbeit in Deutschland teurer
machen, indem Sie die - in Anführungszeichen - „kapitalistischen Arbeitgeber“ Sonderabgaben zahlen lassen
wollen . Die Absenkung der Hürden für den Bezug von
Arbeitslosengeld wäre mit Kosten in dreistelliger Millionenhöhe verbunden . Ihre Vorschläge zur Änderung der
Rahmenfristen würden der Agentur für Arbeit zwischen
300 Millionen und 450 Millionen Euro Mehrkosten auferlegen . Diese Vorschläge schaden der Arbeitslosenversicherung . Deshalb müssen wir den Antrag ablehnen .
({14})
Wir sollten aber gemeinsam unsere Bemühungen darauf konzentrieren - das gebe ich Ihnen als Rat mit -,
dass wir die Menschen aus der Arbeitslosigkeit in Arbeit
bringen . Deshalb ist es gut und richtig, dass die Bundesregierung mit dem Arbeitslosenversicherungsschutz- und
Weiterbildungsstärkungsgesetz den Zugang zur beruflichen Weiterbildung insbesondere für Geringverdiener,
für Geringqualifizierte, für Langzeitarbeitslose und für
ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer verbessern
will und wird .
({15})
Das macht den entscheidenden Unterschied aus: Sie
wollen möglichst viele Menschen in die Arbeitslosenversicherung hineinziehen . Wir wollen den Menschen Wege
aus der Arbeitslosigkeit ermöglichen und sie in Arbeit
bringen .
Vielen Dank .
({16})
Das Wort hat die Kollegin Brigitte Pothmer für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen .
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Auf dem
roten Teppich hat die Berlinale gerade die glamouröse
Seite des Films präsentiert . Aber der Film und übrigens
auch andere Bereiche der Kunst und Kultur haben eine
überaus dunkle Seite . Nicht alle gehen mit Gagen wie
George Clooney nach Hause . Viele arbeiten unter höchst
prekären Bedingungen am Rande der Armutsgrenze . Über
diese Schattenseite des Films habe ich in dieser Woche
mit zwei Vertretern des Berufsverbandes Kinematografie
gesprochen . Sie haben mir erzählt, dass Filmschaffende
im Regelfall Höchstbeträge in die Arbeitslosenversicherung einzahlen und im Falle der Arbeitslosigkeit keinen
Cent herausbekommen .
({0})
Das hat damit zu tun, dass diese Leute befristet arbeiten
und die Befristungen sogar nur von sehr kurzer Dauer
sind . Filmschaffende, aber nicht nur die, sondern auch
andere in der Kunst und Kultur, brauchen dringend eine
bessere Absicherung bei Arbeitslosigkeit .
({1})
Die, meine Damen und Herren, haben Sie von der
GroKo ihnen auch versprochen, und zwar bereits für
Ende 2014 .
({2})
Passiert ist nichts . Es gibt diese unwirksame Regelung,
mit der Sie 0,7 Prozent - in Worten: null Komma sieben
Prozent - derjenigen erreichen, die Sie selber als betroffen definiert haben. Herr Weiler, wenn man eine solche
Bilanz vorgelegt hat, dann sollte man sich mit Kritik an
denjenigen etwas zurückhalten, die hier konkrete Vorschläge machen .
({3})
Jetzt haben Sie vor der Lösung des Problems, das Sie
selber identifiziert haben - deswegen haben Sie im Koalitionsvertrag eine Vereinbarung dazu getroffen -, endgültig kapituliert . Lieber Herr Weiler, wissen Sie, was
das in einem normalen Betrieb bedeuten würde? Das
wäre Arbeitsverweigerung! Ich wünschte mir, Sie bekämen dafür endlich mal eine Sanktion .
({4})
Markus Paschke - du redest gleich nach mir -, was ich
besonders peinlich finde, ist: Ihr habt zu diesem Thema
eine Pressemitteilung gemacht, und in dieser Pressemitteilung rühmt ihr euch tatsächlich, die Phase der Unsicherheit für diese Menschen beendet zu haben . Meine
Damen und Herren, da muss ich noch einmal die lachende Koralle bemühen .
({5})
Ihr habt nicht Unsicherheit beendet, ihr habt die letzte
Hoffnung begraben, und zwar nicht nur für die Filmschaffenden . Film- und Kulturschaffende sind in diesem
Bereich eine negative Avantgarde . Ihr alle wisst selber,
dass solche Beschäftigungsverhältnisse zunehmen . Befristungen, Projektarbeit, Selbstständigkeit, das sind
keine Zukunftsszenarien, die man gemütlich unter dem
Stichwort „Arbeiten 4 .0“ diskutiert; das ist gesellschaftliche Realität für sehr viele Menschen .
({6})
Sabine Zimmermann hat es gesagt: Ein Viertel derjenigen, die in die Arbeitslosenversicherung einzahlen, bekommen keinen Cent heraus . Das ist nicht nur eine große
Gerechtigkeitslücke, Herr Weiler; das delegitimiert das
System der Arbeitslosenversicherung . Jeder, der nichts
herausbekommt, wird sich doch überlegen, ob er nicht
Wege findet, in Zukunft nicht mehr einzahlen zu müssen.
Frau Nahles hat den Dialogprozess „Arbeiten 4 .0“ gestartet . Im Rahmen dieses Dialogprozesses hat sie auch
ein eigenes kleines Filmfestival zum Thema „Zukunft
der Arbeit“ veranstaltet . Ich kritisiere das gar nicht; ich
gehe gern ins Kino, und das ist mal wieder eine Gelegenheit . Aber ihr solltet euch bewusst sein, dass jede und
jeder, die in dem Abspann genannt wird, prekär arbeitet,
in die Arbeitslosenversicherung einzahlt und keinen Cent
herausbekommt. Ich finde, es ist einer Arbeitsministerin
unwürdig, sich mit diesen Themen zu schmücken, aber
für die Filmschaffenden nichts, aber auch gar nichts zu
tun .
({7})
Sie werden nicht nur dafür bezahlt, dass Sie hier über
Zukunftsprobleme reden; Sie werden auch dafür bezahlt,
dass Sie heutige Probleme lösen . Wir haben Ihnen schon
2015 einen Vorschlag vorgelegt, wie diese Probleme zu
lösen sind . Übernehmen Sie diese Vorschläge! Und ich
verspreche Ihnen: Ich werde keine Urheberrechte geltend
machen . Ich bitte Sie: Tun Sie endlich was, in Gottes Namen!
Danke schön .
({8})
Das Wort hat der Kollege Markus Paschke für die
SPD-Fraktion .
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Kollegin Zimmermann, das einzige Monster hier in Deutschland ist das, das Sie immer wieder an die Wand malen .
({0})
Ich würde vorschlagen: Lassen Sie uns doch lieber
schauen, wo wir etwas verbessern können, und darüber
diskutieren, statt immer die Monster an die Wand zu malen, die es eigentlich gar nicht gibt .
({1})
Ich habe auch etwas zu loben . In dem Antrag gibt es
einige Punkte, die sich ganz gut anhören, und Sie benennen auch einige wichtige Baustellen . Damit hatte Ihre
Rede aber leider nicht ganz so viel zu tun .
({2})
Die Verlängerung der Rahmenfrist zum Beispiel oder
auch generell die Idee eines erweiterten Zugangs zur Arbeitslosenversicherung finden unsere Zustimmung; das
ist kein Geheimnis . Dazu gehört für mich noch ein ganz
zentraler Punkt, nämlich eine Antwort auf die Frage: Was
machen wir mit denen, die den Anforderungen auf dem
ersten Arbeitsmarkt zurzeit nicht gewachsen sind? Auch
diesen Menschen müssen wir eine Chance zur gesellschaftlichen Teilhabe bieten; denn das Gefühl, gebraucht
zu werden und seinen Beitrag leisten zu können, ist ein
wesentlicher Bestandteil unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens .
({3})
Dabei geht es manchmal einfach nur um Teilhabe oder
darum, einen sinnvollen Beitrag für diese Gesellschaft zu
leisten. Ich finde, da gibt es eine kluge Idee: Statt Arbeitslosigkeit finanzieren wir einfach Arbeit. Passiv-Aktiv-Tausch nennt sich das .
({4})
Es ist ein ganzheitliches Konzept, bei dem wir die Menschen in den Mittelpunkt stellen .
({5})
Das wird auch in einem Ihrer Anträge gefordert . Aber ich
sage an dieser Stelle noch einmal: Es ist ein bisschen zu
einfach, 200 000 Plätze für ein Förderprogramm, wie es
in Ihrem Antrag steht, zu fordern, und dies völlig ohne
Kriterien, die zum Beispiel Mitnahmeeffekte ausschließen .
Zum Passiv-Aktiv-Tausch gilt es hier noch dicke Bretter zu bohren, auch und insbesondere bei unserem Koalitionspartner . In einer idealen Welt wäre es ja ganz einfach: Die Fachpolitiker sind sich weitgehend einig, dass
das ein gutes Instrument ist, und wir brauchen eigentlich
nur noch den Bundesfinanzminister an unserer Seite.
Kollege Paschke, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung der Kollegin Zimmermann?
Ich würde das gerne erst zu Ende führen .
({0})
Natürlich muss man ehrlich sein und feststellen: Der
Passiv-Aktiv-Tausch kostet erst einmal Geld .
({1})
Daran, den Bundesfinanzminister vom langfristigen Nutzen einer so klugen Investition zu überzeugen, arbeiten
wir unermüdlich .
({2})
Lasst es uns doch einfach einmal tun, und dann werden
wir auch feststellen - davon bin ich überzeugt -, dass es
langfristig volkswirtschaftlich günstiger ist, Arbeit statt
Arbeitslosigkeit zu finanzieren. Denn wir verhindern damit auch die Spaltung unserer Gesellschaft in die, die viel
arbeiten, und in die, die nicht arbeiten dürfen .
Kommen wir zurück zu Ihrem Antrag zur Arbeitslosenversicherung . Wirklich zukunftsorientiert sind die
Vorschläge in Gänze dann leider doch nicht . Oder anders
ausgedrückt: Sie beschäftigen sich eher mit der Frage
„Wie können wir die Asche bewahren?“, während die
SPD mehr die Frage stellt: Wie können wir das Feuer
weitertragen?
({3})
Für mich ist klar: Wir stärken die Arbeitslosenversicherung nur, wenn wir sie zu einer Arbeitsversicherung weiterentwickeln und so Schritt halten mit den Anforderungen unserer Zeit .
Die Gefahr einer Dequalifikation wächst für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer . Die immer schneller
fortschreitende Entwicklung von Technik, Maschinen
und Arbeitsprozessen verlangt nach erweiterten und
teilweise auch völlig neuen Kenntnissen . Hier gilt es anzusetzen und die Menschen aktiv dabei zu unterstützen,
ihre Qualifikationen zu halten und zu erweitern. Das sehe
ich - neben der Absicherung im Falle von Arbeitslosigkeit - als zentrale Aufgabe einer zukunftsorientierten Arbeitsversicherung . Das Feuer weitertragen - das machen
wir .
Mit dem von Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles
vorgelegten Gesetzentwurf zur Stärkung der beruflichen
Weiterbildung und des Versicherungsschutzes in der Arbeitslosenversicherung tun wir nämlich genau das: Wir
investieren in eine berufliche Weiterentwicklung und
Weiterbildung . Wir öffnen die Aus- und Weiterbildung
auch für Menschen, die bisher nicht so viele Erfolge in
unserem Bildungssystem hatten . Außerdem belohnen wir
Grund- und Weiterbildung und motivieren zum Weitermachen bis zu einem erfolgreichen Abschluss .
Außerdem verbessern wir die Möglichkeit einer freiwilligen Weiterversicherung in der Arbeitslosenversicherung, damit wir gerade die Menschen, die sich selbstständig gemacht haben oder Verwandte pflegen, davor
schützen, ihre Ansprüche zu verlieren .
({4})
Das sind nur einige Punkte, Brigitte, die mit diesem Gesetz umgesetzt werden . Damit machen wir einen ersten
Schritt in Richtung einer zukünftigen Arbeitsversicherung .
({5})
Die Rolle der Opposition ist da ein wenig einfacher .
Sie kann immer sagen: Der Schritt ist zu kurz . Oder: Es
ist zu wenig bzw . zu viel . - Ich bin da ganz pragmatisch:
Lieber viele kleine Schritte in die richtige Richtung als
ein großer Schritt zurück . Daher werden wir den Antrag
heute ablehnen .
Danke .
({6})
Der Kollege Kai Whittaker hat für die CDU/
CSU-Fraktion das Wort .
({0})
Frau Präsidentin! Werte Kollegen! Wenn man Ihnen,
Frau Kollegin Zimmermann, in dieser Debatte zugehört
hat - das gilt aber auch für andere Debatten -, kann man
sagen, dass Mark Twain mit folgender Feststellung doch
recht hatte:
Das Problem mit der Linken ist, daß die meisten aus
Haß gegen die Reichen Kommunisten geworden
sind und nicht aus Liebe zu den Armen .
Denn nur so ist es zu erklären, warum Sie eine so lieblose
Idee haben, Arbeitslose in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen parken zu wollen . 200 000 Menschen sollen nach
Ihren Vorstellungen Bauklötzchen stapeln oder Supermarkt spielen .
({0})
In Ihrem Antrag steht aber kein Wort, wie Sie die
Wirtschaft stärken und Arbeitsplätze schaffen wollen .
Aber das wundert mich, ehrlich gesagt, nicht wirklich .
Die Linke hat es noch nie verstanden, in diesem Land
Arbeitsplätze zu schaffen . Deshalb konzentrieren Sie
sich auch darauf, Arbeitslosigkeit in Ihrer Wahrnehmung
erträglicher zu machen . So erleichtern Sie Ihr Gewissen .
Das ist alles, was Sie tun . Sie wollen Geld sozusagen auf
das Problem schmeißen . Das hilft aber, ehrlich gesagt,
nicht .
({1})
Ich bin nicht der Einzige, der das so sieht . Schauen wir
uns ein paar Studien an: Das ifo-Institut hat 2009 - ich
zitiere - Folgendes festgestellt:
Die Ergebnisse der Studie zeigen, dass negative
Effekte aus öffentlich geförderter Beschäftigung
. . . insbesondere in Ostdeutschland zu verzeichnen
sind .
Auch die SPD-nahe Friedrich-Ebert-Stiftung hat 2012
festgehalten:
Die bisherigen Evaluationsergebnisse geben Anlass
zur Skepsis, ob öffentlich geförderte Beschäftigung
in großem Umfang zum Marktersatz dienen kann .
Und für die letzten Zweifler hier im Plenum habe ich
auch noch eine Studie vom IAB aus dem Jahr 2012 . In
ihr wurde festgestellt:
Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen haben nachweislich keine Beschäftigungswirkung, sind also wirkungslos .
Ich halte fest: Sie, die Linken, wollen Menschen in
Arbeitslosigkeit parken, anstatt ihnen Chancen zu bieten .
({2})
Wir als Union haben, Frau Kollegin Pothmer, 2015 ebenfalls Vorschläge gemacht, wie wir mit diesem Thema
umgehen wollen . Wir sind felsenfest davon überzeugt,
dass wir noch einmal an den Instrumentenkasten herangehen müssen .
Ich möchte ein paar Beispiele bringen . Die freie Förderung ist immer noch zu starr . Gute Ideen vor Ort in
den Jobcentern werden durch Paragrafenreiter sozusagen aus dem Sattel gehoben . Echte Begleitungen fehlen .
Nicht jeder Langzeitarbeitslose, der zwei, drei oder vier
schwerwiegende persönliche Probleme hat, schafft allein
den Weg zurück in den Arbeitsmarkt . Er braucht Hilfe,
Begleitung, Assistenz und Beratung .
({3})
Ich möchte noch einen weiteren Aspekt ansprechen .
Die Hälfte der Langzeitarbeitslosen hat keine Berufsausbildung . Deshalb treten wir dafür ein, dass Langzeitarbeitslose eine Ausbildung machen können . Denn die Alternative dazu wäre doch, dass sie einen perspektivlosen
Aushilfsjob annehmen . Es ist nicht mein Anspruch, es ist
nicht der Anspruch der Unionsfraktion, Perspektivlosigkeit zu verwalten; wir wollen Perspektiven schaffen .
({4})
Auch die schwersten Fälle geben wir nicht so schnell
auf wie Sie . Wir haben vorgeschlagen, die Integrationsbetriebe für Langzeitarbeitslose zu öffnen, ihnen einen
geschützten Raum anzubieten, in dem sie echte Arbeit
am ersten Arbeitsmarkt haben,
({5})
anstatt geparkt zu werden, wie in Ihrem Antrag vorgeschlagen .
({6})
Ich finde, auch ein anderes Thema müssen wir einmal grundsätzlicher ansprechen . Die Frage, die sich
mir stellt, ist folgende: Ist es wirklich sinnvoll, dass die
Hälfte der Jobcentermitarbeiter ihre Zeit damit verbringt,
exakt auszurechnen, wer wie viel Geld bekommt? Wäre
es nicht viel besser, wenn sie Arbeitslose tatsächlich in
Jobs vermitteln würden?
({7})
Ich finde, diese Frage ist nicht trivial, gerade vor dem
Hintergrund der vielen Flüchtlinge, die jetzt in dieses
Land kommen und bald in den Jobcentern aufschlagen
werden .
Die Logik des SGB II war es doch, jedem arbeitslosen Bürger eine pauschale Leistung zu zahlen; aber die
Bilanz nach zehn Jahren ist doch etwas ernüchternd,
wie ich kurz an einem Beispiel zeigen möchte: Bei der
Warmwasserzuschlagsberechnung wird geschaut, ob ein
Hartz-IV-Empfänger das Warmwasser in seiner Wohnung mit einem Boiler erhitzt oder nicht . Wenn er es tut,
dann wird nachgeschaut, ob sich mit diesem Warmwasser nur ein Erwachsener oder noch ein Jugendlicher oder
ein Kind duscht, weil es dann Zuschläge gibt .
({8})
Vor kurzem hat das Jobcenter im Unstrut-Hainich-Kreis wegen einer nicht geleisteten Nachzahlung
von 10 Cent darüber nachgedacht, das Bundessozialgericht anzurufen .
({9})
Das muss man sich einmal vorstellen: Wegen 10 Cent
werden Gerichte angerufen, weil uns Einzelgerechtigkeit wichtiger erscheint und weil es im Gesetz steht, aber
nicht, weil irgendwelche wild gewordenen Jobcentermitarbeiter Arbeitslose drangsalieren wollen .
Ich weiß, das ist ein Extrembeispiel - gar keine Frage -, aber es zeigt, dass wir oft mit Hartz-IV-Empfängern
um Kleinstbeträge ringen . Es macht deutlich, dass wir
mehr Pauschalierungen im Hartz-IV-System brauchen .
Es macht auch deutlich, dass wir aufhören müssen, uns
bei Hartz IV um Kleinigkeiten zu kümmern . Dazu gehören eben solche Placeboprogramme, wie Sie sie in Ihrem
Antrag vorschlagen .
Wir müssen die Jobcenter in Deutschland endlich in
die Lage versetzen, sich um die Menschen zu kümmern
anstatt um sich selbst .
({10})
Denn es ist nicht so entscheidend, wie viel Geld wir in
einen Menschen investieren, sondern, wie viel Zeit wir
uns für ihn nehmen .
Danke schön .
({11})
Der Kollege Dr . Matthias Bartke hat für die SPD-Fraktion das Wort .
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lieber
Herr Whittaker, es ist nicht richtig, dass Beschäftigungsmaßnahmen im Bereich der aktiven Arbeitsmarktpolitik
ein Parken von Arbeitslosen sind .
({0})
Das ist es mit Sicherheit nicht . Da muss ich direkt die
Linke in Schutz nehmen .
Angesichts der Kritik, die Sie an den teilweise nicht
vorhandenen Pauschalierungen und Bagatellgrenzen geäußert haben, möchte ich sagen: Nach meiner Kenntnis
war es insbesondere die CDU im Bundesrat, die diese
Regelung verhindert hat .
({1})
Bevor ich jetzt zu viel Beifall von Ihnen kriege, möchte ich ganz grundsätzlich etwas zur Agenda 2010 sagen .
Das, was Sie, Frau Zimmermann, hier gesagt haben, ist
in meinen Augen völlig geschichtsvergessen .
({2})
Als Gerhard Schröder die Agenda 2010 eingeführt hat,
war Deutschland der kranke Mann Europas . Heute sind
wir der prosperierendste Sozialstaat auf dem ganzen
Kontinent .
({3})
Das ist unweigerlich mit dem Namen Gerhard Schröder
verbunden .
Ich sage Ihnen auch: Es hat bei der Agenda 2010 zwei
Fehlentwicklungen gegeben . Die erste Fehlentwicklung
war, dass wir den Niedriglohnsektor deutlich zu groß gemacht haben .
({4})
Um dem entgegenzuwirken, haben wir den Mindestlohn
eingeführt .
({5})
In Deutschland verdient jetzt jeder mindestens 8,50 Euro
pro Stunde . Da gab es eine Partei, die dem nicht zugestimmt hat, und das war Ihre Partei .
({6})
Die zweite Fehlentwicklung war, dass die Leiharbeit
deutlich ausgebaut wurde, dass da zu viel passiert ist . Um
dem entgegenzuwirken, werden wir jetzt eine völlig neue
Regelung im Bereich des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes vorlegen . Da sollten Sie sich nicht schon wieder
enthalten; denn dann würde die Geschichte schon wieder
gegen Sie sein .
({7})
Frau Zimmermann, Ihr Antrag ist deutlich besser als
das, was Sie hier gesagt haben .
({8})
Auch ich sage: Menschen in prekären und flexiblen
Beschäftigungsformen brauchen natürlich eine Absicherung . Auch wir glauben: Wenn wir diese Menschen
schützen wollen, dann muss die Arbeitslosenversicherung völlig neu aufgestellt werden .
({9})
Besonderen Bedarf sehe ich bei den überwiegend
kurzfristig Beschäftigten . Im letzten Jahr hat mich eine
Schauspielerin aus meinem Wahlkreis Hamburg-Altona
angeschrieben . Ich kann ihren Unmut absolut nachvollziehen: Sie wird für einzelne Theaterstücke engagiert,
führt dafür hohe Beiträge an die Arbeitslosenversicherung ab und erhält nach Ende des Engagements trotzdem
nur Hartz IV . Das ist frustrierend .
({10})
- Das, was Frau Pothmer dazu gesagt hat, stimmt ja auch .
({11})
Im Koalitionsvertrag haben wir daher vereinbart, dass
wir für die Sonderregelung für überwiegend kurzfristig
Beschäftigte eine Anschlussregelung finden. Geplant war
zum Beispiel eine Verlängerung der Rahmenfrist auf drei
Jahre . Leider haben wir mit unserem Koalitionspartner
in diesem Punkt keine Einigung erreicht . Stattdessen hat
das Bundeskabinett die Sonderregelung bis 2018 verlängert . Das ist besser als nichts - das muss man auch einmal sagen -,
({12})
aber das hilft natürlich nur der Gruppe, bei der die Sonderregelung auch greift . Der Schauspielerin aus Altona
hilft das leider nicht . Eine weiter gehende Nachfolgeregelung ist daher unbedingt notwendig .
({13})
Wir werden zu Ihrem Antrag und zu einem Antrag der
Grünen im April eine Anhörung im Ausschuss durchführen . Dabei werden wir uns mit den Details befassen und
überlegen, wo wirklich Handlungsbedarf besteht .
Unsere Aufgabe ist es, Arbeitslosigkeit zu vermeiden .
Unser Ziel ist es daher, die Arbeitslosenversicherung zu
einer Arbeitsversicherung weiterzuentwickeln. Qualifizierung und Weiterbildung, das sind die Stichworte . Sie
sind für den gesamten Verlauf des Erwerbslebens zentral .
Sie sorgen für den Erhalt der Beschäftigungsfähigkeit .
Nach unserer Vorstellung geht es zum einen um den sozialrechtlichen Anspruch auf Qualifizierung im Fall von
Arbeitslosigkeit, es geht aber auch um den arbeitsrechtlichen Anspruch gegenüber dem Arbeitgeber, um Qualifikation zu sichern und zu erhalten .
Wir haben schon in der letzten Legislatur einen entsprechenden Vorschlag gemacht . Ministerin Nahles verfolgt ihn mit dem Dialogprozess „Arbeiten 4 .0“ weiter .
Sie will die Arbeitslosenversicherung um Elemente ergänzen, die einen Anspruch auf Qualifikations- und Weiterbildungsberatung für Arbeitnehmer schaffen . Sie sagt:
„Die Kunst wird darin bestehen, im Wandel alle an Bord
zu behalten .“
Wir müssen die Risiken von beruflichen Übergängen
und Erwerbsunterbrechung besser absichern . Gleichzeitig wollen wir Chancen für Neuanfänge und berufliches
Fortkommen eröffnen; denn immer seltener üben Menschen denselben Beruf ein Leben lang am selben Ort für
dasselbe Unternehmen aus . Nur ein präventiver Ansatz
kann daher diesen Risiken ausreichend entgegenwirken .
Aber im Dialogprozess „Arbeiten 4 .0“ denken wir
noch viel weiter . Wir stellen nicht nur die Frage der Absicherung, sondern auch die Frage: Wie wollen wir morgen
arbeiten? Inwiefern wird Technik die Arbeit verändern
und wie den Bedarf an Berufen und Qualifikationen? Wir
wollen mit unseren Antworten die Chancen, nicht die
Ängste in den Vordergrund stellen .
Der Dialogprozess ist im vergangenen Jahr gestartet
und soll dieses Jahr abgeschlossen werden . Das Arbeitsministerium hat dafür unter anderem einen Beraterkreis
mit Experten aus Wissenschaft und betrieblicher Praxis
zusammengestellt . Die Sozialpartner und alle Bürger sind
eingeladen, sich einzubringen . Meine Bitte am Schluss:
Beteiligen auch Sie sich dabei .
Vielen Dank .
({14})
Für die CDU/CSU-Fraktion hat der Kollege Matthäus
Strebl das Wort .
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Im vierten Quartal 2015 gab es einen kräftigen Zuwachs der Erwerbstätigenzahl . Die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung verzeichnete sowohl
in Westdeutschland wie auch in Ostdeutschland ein
erhebliches Wachstum . Die Arbeitslosenquote ist zum
Anfang des Jahres erneut gesunken . Zum Vergleich: Im
Januar 2015 lag die Zahl der Arbeitslosen bei 3,03 Millionen, ein Jahr später, also im Januar dieses Jahres, reduzierte sich die Zahl auf rund 2,9 Millionen . Diese Zahlen
sprechen für eine gute, erfolgreiche Arbeitsmarktpolitik
dieser Koalition . Die Arbeitslosenversicherung und ihre
Finanzierung sind gut aufgestellt . Deshalb erkenne ich
keinen Änderungsbedarf .
Es bestätigt sich auch - wie schon gesagt wurde -,
dass die Reformen aus früheren Jahren sinnvoll und
richtig waren . Natürlich gibt es auch eine Stagnation bei
der Zahl der Langzeitarbeitslosen . Wir müssen deshalb
weiterhin für Langzeitarbeitslose und hinzukommend
verstärkt auch für Flüchtlinge geeignete Programme entwickeln und anbieten .
Allein im Januar 2016 haben 791 000 Personen an einer arbeitsmarktpolitischen Maßnahme teilgenommen .
Öffentlich geförderte Beschäftigung ist eines der klassischen Instrumente der Arbeitsmarktpolitik . Der Anteil
der öffentlich geförderten Beschäftigung ist in den letzten Jahren jedoch rückläufig.
({0})
Während der Anteil der öffentlich geförderten Beschäftigung im August 2012 noch bei etwa 129 000 Stellen lag,
lag er im August 2015 bei etwa 98 000. Diese rückläufige
Tendenz lässt sich auf einen Rückgang der Arbeitslosenzahlen und auf Maßnahmen nach § 45 SGB III zurückführen .
Über den Nutzen dieser Beschäftigung außerhalb des
ersten Arbeitsmarktes gibt es die unterschiedlichsten
Auffassungen . Ich halte öffentlich geförderte Beschäftigung nicht für ein Allheilmittel gegen Langzeitarbeitslosigkeit . Aufgrund der niedrigen Integrationsquoten
und der hohen Kosten hätte ich bei einem Ausbau der
öffentlich geförderten Beschäftigung Bedenken . Es bestünde die Gefahr, dass Langzeitarbeitslose dauerhaft in
subventionierten Beschäftigungsverhältnissen gelassen
würden, ohne dass neue Perspektiven in Betracht gezogen würden . Öffentlich geförderte Beschäftigung sollte
nur als Ultima Ratio in Betracht kommen, nämlich dann,
wenn eine Integration in den ersten Arbeitsmarkt nach
mehrfachen Versuchen unmöglich erscheint .
Ich halte es für äußerst zielführend, dass für junge Erwachsene unter 25 Jahren die öffentlich geförderte Beschäftigung nur in Ausnahmefällen in Betracht kommt .
Gerade für diese Altersklasse kommen durchaus effektivere Arbeitsmarktinstrumente infrage .
Bei der Integration von Langzeitarbeitslosen in den
ersten Arbeitsmarkt müssen wir uns stärker auf folgende
Fragen konzentrieren und individuelle Antworten geben:
Was können wir tun, damit eine Integration in den ersten Arbeitsmarkt gelingt? Welche Stärken müssen wir
fördern, und welche Arbeitsmarktinstrumente sind vielleicht sinnvoll?
Werte Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich einige Sätze zu den Veränderungen der Arbeitslosenzahlen
sagen . Uns allen ist bewusst, dass sich durch den Zuzug
von vielen Flüchtlingen die Anzahl der SGB-II-Leistungsbezieher erheblich erhöhen wird . Wir müssen verschiedene Instrumente für Menschen mit einer Bleiberechtperspektive anbieten . Arbeitsgelegenheiten können
für sie ein erster Einstieg sein . Gleichwohl sollten andere Möglichkeiten wie Sprachkurse, Anerkennung von
Zeugnissen und Praktika nicht vernachlässigt werden .
Ein Arbeitsplatz ist und bleibt der Schlüssel für eine erfolgreiche Integration .
({1})
Mit dem Gesetz zur Stärkung der beruflichen Weiterbildung und des Versicherungsschutzes in der Arbeitslosenversicherung werden wir die Instrumente
der beruflichen Weiterbildung weiter stärken. Zu den
Förderungsprogrammen zählen insbesondere umschulungsbegleitende Maßnahmen, die Förderung von
Grundkompetenzen in den Bereichen Lesen, Schreiben
und Mathematik, Weiterbildungsprämien und Weiterbildungsförderung in kleineren und mittleren Unternehmen .
Gerade geringqualifizierte Menschen ohne Schul- oder
Berufsabschluss haben damit die Möglichkeit, ihre Fähigkeiten zu erweitern . Auch die zeitliche Verlängerung
von Maßnahmen zur Aktivierung und beruflichen Eingliederung bei einem Arbeitgeber halte ich für Menschen
mit mehreren Vermittlungshemmnissen für besonders
sinnvoll .
Ich bin davon überzeugt, dass wir mit unserem Gesetzentwurf gut aufgestellt sind . Wir werden die beiden
Anträge der Fraktion Die Linke deshalb ablehnen .
Herzlichen Dank .
({2})
Ich schließe die Aussprache .
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/7425 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen . Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall . Dann ist die Überweisung
so beschlossen .
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Soziales
zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel
„Programm für gute öffentlich geförderte Beschäftigung
auflegen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/5158, den Antrag der
Fraktion Die Linke auf Drucksache 18/4449 abzulehnen . Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gegen die
Stimmen der Fraktion Die Linke angenommen .
Ich rufe Tagesordnungspunkt 10 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Kultur und Medien
({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Ulle Schauws, Tabea Rößner, Katja Dörner,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Grundlagen für Gleichstellung im Kulturbetrieb schaffen
Drucksachen 18/2881, 18/7351
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen . - Ich höre keinen Widerspruch . Dann ist so beschlossen .
Ich eröffne die Aussprache . Das Wort hat die Kollegin
Ursula Groden-Kranich für die CDU/CSU-Fraktion .
({1})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine Damen und Herren! Das Thema Gleichstellung - ob im Kulturbetrieb oder ganz allgemein - beschäftigt dieses Parlament und andere Parlamente schon
seit vielen Jahren .
In der letzten Wahlperiode gab es schon einmal einen fast wortgleichen Antrag der Grünen, und am
27 . Juni 2012 gab es auch schon einmal eine öffentliche
Anhörung mit ganz ähnlichen Leitfragen und Experten,
wie wir sie im letzten Jahr, am 11 . November, erlebten .
({0})
Um es gleich vorwegzunehmen: Auch in dieser letzten
Anhörung gab es keine bahnbrechenden neuen Erkenntnisse, und auch die wirklich namhaften Sachverständigen
konnten uns keine konkreten Rezepte für neue Gesetzesmaßnahmen nennen .
Genau das aber war mit Blick auf unsere Rechtssituation auch zu erwarten . Denn wir haben schließlich
schon das Allgemeine Gleichstellungsgesetz, wir haben
ein Grundgesetz, das Diskriminierung verbietet, und wir
haben ein Bundesgremienbesetzungsgesetz . Woran liegt
es also, dass Gleichstellung immer noch ein Problem ist?
({1})
- Ich komme gleich auf Rheinland-Pfalz zu sprechen,
Frau Rößner . Das kommt gleich . - Wurden die bestehenden Gesetze nicht konsequent angewendet? Oder reichen
selbst die besten Gesetze bei bestmöglicher Anwendung
allein noch nicht aus? Ich denke, beides ist der Fall . Wir
müssen die bereits vorhandenen Gesetze besser anwenden, und wir müssen darüber hinausgehen und dürfen
uns nicht oder zumindest nicht ausschließlich auf eine
Bundesgesetzgebung verlassen .
Um wirkliche Gleichstellung zu erreichen, müssen
wir außerdem eine gesamtgesellschaftliche Debatte führen, nicht nur eine politische . Dabei will ich in aller Deutlichkeit sagen, dass dies natürlich keine Entschuldigung
für politische Versäumnisse sein darf .
Aber nochmals: Gleichstellung ist nicht nur Aufgabe
des Gesetzgebers, sondern der gesamten Gesellschaft,
genauso wie im Übrigen Gleichstellung nicht nur Frauensache ist, sondern die Männer mindestens ebenso stark
fordert und im Idealfall ebenso gewinnen lässt . Gerade
deshalb bin ich - vermutlich nicht nur ich - immer wieder erstaunt, dass insbesondere im Kulturbetrieb das Thema Gleichstellung noch derart optimierungsbedürftig ist .
Gerade bei den Kulturschaffenden, die sich doch selbst
gern als die Vorreiter einer modernen Gesellschaft und
eines emanzipierten Frauenbildes verstehen, sollte man
doch den höchsten Grad an real existierender Gleichberechtigung vermuten .
({2})
Nicht nur die scheinbar aufmüpfigen Schauspielerinnen in Hollywood weisen in den letzten Jahren vermehrt
darauf hin, dass Rückständigkeit, Chauvinismus und patriarchalische Strukturen keineswegs auf konservative
Berufsbranchen beschränkt sind, wo man dies erwarte .
({3})
Was können und sollten wir als Politikerinnen also
konkret tun, um die Gleichstellung nicht nur im Kulturbetrieb voranzubringen?
({4})
Lassen Sie mich dazu, liebe Kolleginnen und Kollegen,
etwas genauer auf den vorliegenden Antrag der Grünen
eingehen . Die erste und vielleicht wichtigste Forderung
nach validem Datenmaterial zur Situation weiblicher
Kulturschaffender wird, so denke ich, von allen Fraktionen unterstützt . Zu diesem Zweck hatte der Deutsche
Kulturrat bereits für die Jahre 1994 bis 2014 in der Untersuchung „Frauen im Kultur- und Medienbetrieb“ den
Anteil von Frauen in Führungspositionen betrachtet .
({5})
Die Forderung nach aktuellem Datenmaterial ist ebenfalls so gut wie erfüllt; denn die Studie wird vom Deutschen Kulturrat fortgesetzt . Wir erwarten die Ergebnisse
noch in diesem Quartal .
Bemerkenswert ist allerdings Folgendes: Als der Kulturrat 2005 wegen der Fortsetzung der Studie „Frauen
in Kunst und Kultur“ auf die Kultusministerkonferenz
zugegangen ist, hatte diese zunächst kein Interesse . Nur
dank der Initiative der Kulturstaatsministerin Professor
Grütters
({6})
Vizepräsidentin Petra Pau
wurde die Studie nun doch umfänglich fortgesetzt .
({7})
Das ist ein gutes Beispiel dafür, dass die Länder, gerade
auch die rot-grün regierten, leider auch im Kulturbetrieb
oftmals ihrer eigenen Verantwortung nicht nachkommen,
gleichzeitig aber den Bund zum Handeln auffordern .
Wie dem auch sei: Die Ergebnisse der Studie „Frauen
im Kultur- und Medienbetrieb“ werden in den nächsten
Wochen erwartet . Insofern war der vorliegende Antrag
zum jetzigen Zeitpunkt ohnehin nicht zielführend . Dennoch sind wir uns, denke ich, alle einig, dass die Gleichstellung im Kulturbetrieb zügig und drastisch verbessert
werden muss . Denn schon die heute verfügbaren Statistiken, zum Beispiel die der Künstlersozialkasse, zeigen
deutlich, dass sich die Situation von Frauen im Kunstbetrieb zumindest in einigen Sparten zwar durchaus verbessert hat, dass es aber noch längst keinen Anlass zur
Entwarnung gibt .
({8})
Hier wie auch in anderen Bereichen sollten vor allem
zwei Ziele angestrebt werden:
Erstens sollte der Bund mit gutem Beispiel vorangehen und die Umsetzung des Bundesgremienbesetzungsgesetzes sehr viel strenger als bisher kontrollieren .
({9})
Zweitens ist die Vereinbarkeit von Beruf und Familie mit längeren Öffnungszeiten von Behörden, flexi bleren
Arbeitszeiten und hochwertiger Kinderbetreuung - gerade für Frauen in Kunst und Medien von essenzieller
Bedeutung . Denn ähnlich wie in der Politik sind auch
in diesen Branchen per definitionem höchst familienunfreundliche Arbeitszeiten Fakt; das war übrigens auch in
der öffentlichen Anhörung ein Thema .
({10})
Auch die Forderung der Grünen, mehr Frauen in Jurys
zu entsenden, ist absolut nachvollziehbar . Dies würde
endlich der Tatsache Rechnung tragen, dass Frauen einen
Großteil der Produzenten und Konsumenten ausmachen .
Nicht nachvollziehbar ist dagegen der Ruf nach einer
paritätischen Vergabe von Preisen und Förderprojekten .
Der Garant künstlerischer Freiheit sollte hier immer Vorrang haben .
({11})
Für mich steht fest: Frauen dürfen nicht dafür bestraft
werden, dass sie Frauen sind . Sich aber nur durch das
Frausein für ein Stipendium oder einen Preis zu qualifizieren
({12})
- das gilt übrigens genauso umgekehrt -, das haben die
hervorragenden Künstlerinnen in unserem Land ganz bestimmt nicht nötig .
({13})
Dazu passt ein Erlebnis, das ich genau heute vor einer
Woche in Aachen hatte . Dort wurde der Deutsch-Französische Parlamentspreis verlieren . Es hat mich besonders
gefreut, dass alle drei Preise an Frauen gingen . Wie unser
Bundestagspräsident Professor Lammert so schön sagte:
Dieser Fall ist im Statut nicht vorgesehen . - Er ist aber
auch nicht ausgeschlossen und von daher umso erfreulicher .
({14})
Genau diese Offenheit im Ergebnis wünsche ich mir an
ganz vielen Stellen .
({15})
Dass es leider auch die Länder mit grüner Regierungsbeteiligung versäumen, mehr an Frauen zu denken, zeigt
die Verleihung der Carl-Zuckmayer-Medaille des Landes
Rheinland-Pfalz .
({16})
In den letzten drei Jahren wurden ausschließlich Männer
damit geehrt .
({17})
- Ja, sorry; aber es ist ein Landespreis, Frau Rößner . Da
sind Sie durchaus beteiligt . Es liegt also nicht immer nur
am Bund .
({18})
Sinnvoll finde ich beispielsweise die Forderung der
Initiative „Pro Quote Regie“ nach einer Erhöhung des
Frauenanteils bei Regisseuren
({19})
bis 2020 auf 42 Prozent . Ein solches Quorum ist im Gegensatz zur starren Quote eine durchaus vernünftige und
realitätsnahe Forderung, die ich, ebenso, wie es auch
Staatsministerin Grütters tut, nur unterstützen kann .
({20})
Die Beauftragte für Kultur und Medien geht übrigens
auch im eigenen Haus mit gutem Beispiel voran . Von
den Führungspositionen in ihren 27 Fachreferaten sind
inzwischen 12 mit Frauen und 15 mit Männern besetzt,
({21})
was immerhin einem Frauenanteil von 44 Prozent entspricht .
({22})
Mit diesem guten Beispiel sollten eigentlich alle Ministerien und alle Häuser in öffentlicher Hand auf allen Ebenen vorangehen .
({23})
- Ich schließe doch niemanden aus . Das ist doch völlig
entspannt .
({24})
- Das ist auch schön .
Mir bleibt also Folgendes festzuhalten: Gesetzliche
Maßnahmen und vor allen Dingen ihre konsequente
Umsetzung auf Bundesebene sind sicherlich sinnvoll .
Gerade im Kulturbetrieb unterliegen viele wichtige Entscheidungen aber der Länderhoheit . Hier kann der Bund
gar nicht alles regeln, selbst dann nicht, wenn es gewollt
oder wünschenswert wäre . Von daher appelliere ich ausdrücklich auch an die Oppositionsparteien, Forderungen,
wie die aus dem heutigen Antrag, vehement auch in den
eigenen Reihen und in den von Ihnen mitregierten Ländern zu vertreten;
({25})
denn egal ob im Bund oder in den Ländern: Die Gleichstellung von Männern und Frauen muss eine Selbstverständlichkeit werden . Dazu können wir alle beitragen:
({26})
als Politikerinnen, als Mütter, als Töchter, als Arbeitgeberinnen, als Erzieherinnen und in jeder anderen Rolle,
die wir unserem Privat- und Berufsleben ausfüllen .
({27})
Als Mentorinnen müssen wir Frauen auch dazu animieren, eine mögliche Niederlage in Kauf zu nehmen,
sich aber auf jeden Fall dem Wettbewerb zu stellen .
Den vorliegenden Antrag der Grünen lehnen wir ab .
Ich bin aber zuversichtlich, dass wir mit einer konsequenten Umsetzung der vorhandenen Rechtsmittel, mit
einer breit geführten Gleichstellungsdebatte und mit einem kritischen Blick bei der Gremienbesetzung noch einiges für die Gleichstellung im Kulturbetrieb erreichen
können .
Vielen Dank .
({28})
Das Wort hat die Kollegin Sigrid Hupach für die Fraktion Die Linke .
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wie Sie alle
wissen, ist derzeit Berlinale . Letzten Montag war ich in
der Bubble der Initiative Pro Quote Regie am Potsdamer
Platz .
({0})
Diese Initiative hatte zu Gesprächen, Diskussionen und
Statements rund um die Gleichstellung eingeladen . Im
vergangenen Jahr hat sie für viel Aufregung gesorgt,
indem sie einfach pure Fakten zur Benachteiligung von
Frauen im Filmbereich in die breite Öffentlichkeit getragen hat .
Seit dem Wochenende liegt nun auch der zweite Diversitätsbericht des Bundesverbandes Regie vor . Danach
sind die Zahlen für 2014 noch schlimmer als die der Jahre 2010 bis 2013 . 2014 führten Frauen bei der ARD nur
bei 11,2 Prozent aller Filme und Serien in der Primetime
Regie . Beim ZDF waren es sogar nur 8,4 Prozent .
Eine Ursache dafür liegt unter anderem in der ungleichen Verteilung der Fördermittel . 83 Prozent aller Filmfördermittel gehen in Deutschland an Männer, und nur
17 Prozent werden für Filme bereitgestellt, bei denen
Frauen Regie führen . Bei Filmen mit einem Budget von
über 5 Millionen Euro hat 2014 übrigens keine einzige
Frau Regie geführt, und das liegt nicht daran, dass es zu
wenige Frauen in diesem Bereich gibt; denn 42 Prozent
der Absolventinnen und Absolventen der Filmhochschulen sind Frauen .
Keineswegs büßen diese sehr gut ausgebildeten Absolventinnen kurz nach dem Diplom auf geheimnisvolle
Weise einen Großteil ihres Könnens und ihrer Kreativität
ein . Nein, es liegt daran, dass die Gremien und die Jurys,
die über die Vergabe von Projekten und Fördermitteln
entscheiden, männlich dominiert sind .
({1})
Das belegen auch die Zahlen einer Studie der Filmuniversität Babelsberg: Fünf Jahre nach Studienabschluss
arbeiteten 100 Prozent der Regisseure in ihrem Beruf,
aber nur 25 Prozent der Frauen . Die Aufträge bekamen
die Männer, so ihre Angabe in der Studie, auf Empfehlung .
Diese Zahlen sollten uns vor allem deswegen alarmieren, weil es hier um die Vergabe von öffentlichen Geldern geht .
In Kürze wird, wie meine Kollegin schon sagte, der
Deutsche Kulturrat eine Studie vorlegen, die wohl auch
die strukturellen Hürden aufzeigen wird, mit denen die
Frauen im Kultur- und Medienbereich zu kämpfen haben .
Als wir im Ausschuss den vorliegenden Antrag der
Grünen beraten haben, hat die CDU/CSU-Fraktion ihre
Ablehnung damit begründet, dass man erst einmal das
Zahlenmaterial abwarten müsse, um dann konkrete
Schlussfolgerungen ziehen zu können . Und um wirklich
nichts verändern zu müssen, fügte sie noch hinzu, dass
man nicht in den künstlerischen Wettbewerb eingreifen
dürfe - ein altbekanntes Totschlagargument: Der Bessere setzt sich durch . Aber wenn man sich nur etwas mit
der Situation von Frauen im Kultur- und Medienbetrieb
auseinandergesetzt hätte, wüsste man schon längst, was
zu tun ist .
Wir Linke sagen deshalb: Wir brauchen verbindliche
Vorgaben für die Vergabe von Fördergeldern, Preisen und
Stipendien und für die Zusammensetzung der Auswahlgremien .
({2})
Unter den 15 Nominierungen für den Preis der Leipziger
Buchmesse sind übrigens auch nur fünf Frauen, im Bereich Sachbuch/Essayistik keine einzige .
Wir brauchen außerdem die Aufhebung von Altersgrenzen bei Stipendien und Preisen . Denn Frauen über
35 und mit Kindern haben es besonders schwer .
Wir brauchen ein regelmäßiges Gender-Monitoring,
({3})
auch, um den Erfolg oder das Nichtwirksamwerden von
Maßnahmen transparent nachverfolgen und gegebenenfalls korrigieren zu können .
Weiterhin brauchen wir kluge Ideen wie zum Beispiel
das Vorspielen hinter dem Vorhang. Denn findet das Probespiel von Orchestermusikerinnen und -musikern hinter
dem Vorhang statt, erhöht sich die Chance für Frauen, in
den Vorrunden weiterzukommen, um 50 Prozent, in der
Finalrunde sogar um 300 Prozent .
Wir brauchen auch wirksame Mittel gegen prekäre
Lebens- und Arbeitsverhältnisse im Kultur- und Medienbereich;
({4})
denn Frauen sind wie immer auch da stärker betroffen .
Helfen könnten da gleiche Löhne, Ausstellungsvergütungen, Mindesthonorare oder auch neue Arbeitszeitmodelle .
Und ja: Vor allem brauchen wir die Quote bei der Besetzung von Leitungsfunktionen, Gremien und Jurys und
vor allen Dingen wirksame Sanktionen bei deren Nichteinhaltung .
({5})
Die Filmemacherin Maria Mohr sagte bei der Anhörung zum vorliegenden Antrag den aufschlussreichen
Satz: „Kunst ist immer Training und Talent .“ Frauen
wird die Gelegenheit zum Training jedoch systematisch
genommen .
Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und
Kollegen von der Koalition, bei der anstehenden Novelle des Filmförderungsgesetzes bietet sich nun eine gute
Chance, mit ganz konkreten Maßnahmen die festgefahrenen Strukturen endlich aufzubrechen und damit für mehr
Gleichstellung und mehr Gerechtigkeit zu sorgen . Dazu
gehört auch eine Quotenregelung, die keineswegs einen
vermeintlich freien Wettbewerb verzerrt, sondern einen
verzerrten Wettbewerb korrigiert .
({6})
Denn Qualität entsteht durch Vielfalt . Eine Quote gewährleistet diese Vielfalt und damit eben auch die Qualität .
({7})
Die Kollegin Hiltrud Lotze hat für die SPD-Fraktion
das Wort .
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr verehrten Damen und Herren auf der Besuchertribüne! Ich sehe auch eine Menge junger Frauen, die
dieses Thema vielleicht ganz besonders interessiert .
({0})
Vor 115 Jahren, 1901, hat der Karikaturist Bruno Paul in
einer Satirezeitschrift geschrieben:
Sehen Sie, Fräulein, es giebt zwei Arten von Malerinnen, die einen möchten heiraten und die anderen
haben auch kein Talent .
({1})
Damals war die Überzeugung weit verbreitet, dass es
gegen die Natur der Frau ist, künstlerisch tätig zu sein .
Das hat sich Gott sei Dank geändert . Damals gab es tolle
Künstlerinnen, und auch heute gibt es viele großartige
Künstlerinnen und einflussreiche Frauen in der Kunstund Kulturszene .
2012 dann fragte die Wochenzeitung Die Zeit in einem Artikel: „Haben Frauen die Macht im Kunstbetrieb
übernommen?“ Nun, wenn das so wäre, dann würden wir
heute nicht hier stehen, sondern könnten uns zufrieden
zurücklehnen . Stattdessen debattieren wir heute zu Recht
den Antrag der Grünen zum Thema „Gleichstellung im
Kulturbetrieb“ .
Man könnte denken, dass der moderne und auch experimentierfreudige Kunst- und Kulturbereich die tradierten Rollenbilder längst abgestreift hat und dass es in
diesem Bereich allein auf Kompetenz, Kreativität und
Ideenreichtum ankommt, wenn es ums Weiterkommen
geht . Schön wär’s! Noch heute sind viele Frauen im
Kunst- und Kulturbereich strukturell benachteiligt .
Gerade im Kunstbereich bleibt Erfolg männlich . Öffentliche Museen und private Sammler kaufen mehrheitlich Werke männlicher Künstler . Die Arbeiten männliSigrid Hupach
cher Künstler erzielen höhere Verkaufspreise . Männliche
Künstler sind bekannter . Die Künstlerin Sibylle Zeh hat
sich einmal das Künstlerlexikon von Reclam zur Hand
genommen und den Status quo festgestellt . Sie hat alle
Namen männlicher Künstler übertüncht . Am Ende blieb
eine Handvoll Namen weiblicher Künstler übrig .
In unserer Fachanhörung im November 2015 im Ausschuss haben wir Erkenntnisse gewonnen, mit denen wir
jetzt weiterarbeiten können . Die Grünen fordern in ihrem
Antrag eine verbesserte und vor allem aktuelle Datengrundlage zu Frauen im Kunst- und Kulturbereich; das
haben wir hier eben schon gehört . Das können wir im
Prinzip abhaken, weil wir in Kürze die Studie des Deutschen Kulturrates erwarten, die von der BKM mitfinanziert wurde .
Viele der Punkte, die von den Expertinnen angesprochen worden sind, kennen wir auch aus anderen Berufssparten: die Unvereinbarkeit von Beruf und Familie, der
Karriereknick wegen der Familie, die ungleiche Bezahlung von Frauen und Männern und die berühmte gläserne
Decke . All das sind Symptome, die in unserer Berufsgesellschaft branchenübergreifend vorkommen . Ein Beispiel ist die Buchbranche . Sie ist weiblich . Über 80 Prozent der Beschäftigten in dieser Branche sind Frauen .
Aber auf der Leitungsebene sind es nur 16 Prozent Frauen . Der Gender Pay Gap ist in der Buchbranche sogar
noch größer als in anderen Bereichen .
Für uns von der SPD ist Geschlechtergerechtigkeit
keine Worthülse . Mit der Frauenquote für die Wirtschaft
haben wir einen Meilenstein gesetzt . Ein Entgeltgleichheitsgesetz wurde von der Familienministerin Manuela
Schwesig auf den Weg gebracht .
({2})
Die beiden Ministerinnen Andrea Nahles und Manuela
Schwesig haben mit dem Programm „Kita Plus“ ein
überzeugendes Konzept vorgelegt, mit dem es Eltern erleichtert werden soll, in den Randzeiten eine Betreuung
für ihr Kind zu bekommen . Sie sehen also: Wir drehen an
den Stellschrauben, die die Situation auch für die Frauen
im Kunst- und Kulturbereich verbessern werden .
Nun wissen wir: Kunst und Kultur haben für unsere
Gesellschaft eine enorme Bedeutung . Sie hinterfragen
gesellschaftliche Entwicklungen kritisch . Sie begleiten
sie . Sie provozieren oder befördern sie . Sie schaffen auf
jeden Fall ein Bewusstsein, unter anderem auch in der
Geschlechterdebatte . Es ist doch klar: Es würde etwas
Wichtiges fehlen, nämlich die Hälfte der Welt, wenn dieser Prozess nur alleine durch die männliche Sichtweise
geprägt wäre . Wir müssen es Frauen ermöglichen, in die
Schlüssel- und Leitungspositionen zu kommen, damit
eben in Kunst und Kultur auch die weibliche Sicht vertreten wird und zum Ausdruck kommt .
Während ich hier stehe und darüber rede, merke ich,
dass ich ein Unbehagen dabei verspüre, dass wir auch im
Jahr 2016 immer noch begründen müssen, warum und
wieso Frauen in allen Bereichen gleichberechtigt vertreten sein müssen .
({3})
Eigentlich müssten wir diesen Zustand doch irgendwann
hinter uns lassen . Wir sind die Hälfte der Welt . Deswegen
müssen wir auch überall zur Hälfte repräsentiert sein .
({4})
Gleichzeitig sind der Kultur- und auch der Medienbetrieb, den ich immer mit einschließe, sehr heterogen .
Genauso heterogen und so differenziert muss man ihn
betrachten und untersuchen . Die Frage ist nämlich: Reden wir von öffentlichen Kultureinrichtungen, von kulturwirtschaftlichen Betrieben oder von freiberuflicher
Tätigkeit?
Der Antrag der Grünen benennt zu Recht einzelne
Missstände . In ihm werden auch analog einzelne Maßnahmen vorgeschlagen . Diese gehen in die richtige
Richtung, aber sie erfassen eben nicht das Bild in seiner
Gesamtheit . Ich habe schon aufgezählt, was die Knackpunkte sind: Vereinbarkeit von Familie und Beruf durch
Betreuungsmöglichkeiten außerhalb der gängigen Zeiten, transparente Kostenstrukturen usw . Auch die Altersarmut von Künstlerinnen der ersten Stunde und prekäre
Arbeitsbedingungen bleiben unerwähnt .
({5})
Auch diese Kriterien können und müssen bei den vom
Bund finanzierten und bezuschussten Institutionen, Förderprogrammen und Projekten berücksichtigt werden .
({6})
Für den Medienbereich seien beispielhaft eine Anpassung des Urheberrechtsvertrages mit dem Ziel der angemessenen Vergütung und die Zahlung von Mindesthonoraren bei der Fördermittelvergabe zu nennen .
({7})
Wir haben daher im Ausschuss aus den eben genannten Gründen den Antrag abgelehnt
({8})
und haben uns vorgenommen, sobald die Studie des
Deutschen Kulturrates vorliegt, in der die Thematik umfassend analysiert und aufbereitet wird, zielgerichtetere
Maßnahmen zu formulieren .
Wir haben uns im Koalitionsvertrag klar zum Grundsatz „Kultur für alle“ bekannt . Geschlechtergerechtigkeit
gehört ebenso dazu wie Inklusion und die kulturelle ÖffHiltrud Lotze
nung . Jede und jeder Einzelne soll ohne Barrieren, seien
es die in den Köpfen oder die tatsächlich vorhandenen,
an der Kultur teilhaben können .
Ich habe es schon gesagt und wiederhole es gerne: Natürlich müssen Frauen auch in Kunst und Kultur gleichberechtigt vertreten sein und auch die guten Jobs erreichen können .
Vielen Dank .
({9})
Die Kollegin Ulle Schauws hat für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort .
({0})
Vielen Dank, Frau Präsidentin . Vielen Dank, Herr
Kollege . - Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich
weiß nicht, wer von Ihnen schon den Film „Suffragette“
gesehen hat .
({0})
Er ist gerade Anfang Februar angelaufen . Darin geht es
um den erbitterten Kampf für das Wahlrecht von Frauen
in England . Die Suffragetten haben etwas sehr Richtiges
gefordert, und zwar Taten statt Worte .
({1})
Und sie waren damit am Ende erfolgreich . Das wissen
wir .
Genau darum geht es . Wenn es um die Gleichstellung
von Frauen geht - auch im Kulturbetrieb -, dann braucht
es Taten . Dann braucht es auch die Taten dieser Bundesregierung .
Frau Grütters, Sie haben genau vor einem Jahr in Ihrer
Eröffnungsrede zur 65 . Berlinale gesagt, der Anteil von
Frauen dürfe gerne höher sein . Darin stimme ich Ihnen
voll und ganz zu .
({2})
Doch wie steht es aktuell um die Präsenz von Frauen
im deutschen Film? Die aktuellen Zahlen vom Bundesverband Regie sind ziemlich niederschmetternd - die
Kollegin hat es schon erwähnt -: Die Benachteiligung
von Frauen hat weiter zugenommen . Der Anteil von Regisseurinnen bei deutschen Kinofilmen ist von 22 Prozent
auf 19 Prozent gesunken . Weiterhin führt nur bei einem
von fünf Kinofilmen eine Frau Regie. Im High-Budget-Bereich, also bei Filmen mit einem Budget ab 5 Millionen Euro, saß 2014 keine einzige Frau mehr auf dem
Regiestuhl, und das alles, obwohl 42 Prozent derjenigen,
die an den Filmhochschulen ihren Abschluss machen,
Frauen sind . Das macht das Ausmaß der Benachteiligung
noch deutlicher. Ich finde, so geht es nicht weiter.
({3})
Meine Damen und Herren, der Tagesspiegel fragt in
einem Artikel ganz aktuell zu Recht: „Wo sind eigentlich
die Regisseurinnen?“ Gute Frage . Ich gebe sie weiter an
die zuständige Ministerin: Was hat die Bundesregierung
bisher getan, um die Situation von Frauen im Kulturbetrieb zu verbessern?
An der Stelle möchte ich Frau Groden-Kranich korrigieren: Die Studie des Kulturates erfasste den Zeitraum
von 1995 bis 2000, das heißt, auch die letzten Jahre der
Regierung der CDU/CSU . An der Stelle ist nichts passiert . Deswegen ist es mehr als überfällig, dass die Beauftragte für Kultur und Medien nach diesem langen
Zeitraum endlich die Ursachen für diese Schieflage mit
neuen Zahlen angeht, auch damit nicht der Eindruck erweckt wird, hier würde ein Automatismus weitergeführt .
Das müssen wir klarstellen, weil Sie sich eben auf
2014 bezogen haben . Es war ein kürzerer Zeitraum, und
in den elf Jahren der CDU/CSU-Regierung ist nicht viel
passiert .
Auch die aktuellen Zahlen aus anderen Bereichen der
Kultur zeigen kein positives Bild . Insbesondere an Theatern und in Orchestern sind Frauen in Führungspositionen ebenfalls stark unterrepräsentiert .
Ein aktueller Blick nach NRW zeigt: Nur 7 Prozent
der Intendantenstellen an kommunalen Theatern waren
2009 bis 2011 mit Frauen besetzt . Was glauben Sie, wie
hoch der Anteil bei den Philharmonien war? Ich sage
es Ihnen: Es gab keine einzige Generalmusikdirektorin .
Chancengleichheit sieht anders aus .
({4})
Fakt ist, dass Frauen in vielen Kultursparten, insbesondere in den Leitungspositionen - also da, wo es um
Macht und Entscheidungsbefugnisse geht -, stark unterrepräsentiert sind . Das haben übrigens alle Sachverständigen im Ausschuss bestätigt . Da steht die Kultur der
Wirtschaft in nichts nach .
Deswegen haben wir Grünen den Antrag von 2014 mit
entsprechenden Änderungen und weiter gehenden Forderungen noch einmal eingebracht, damit sich endlich
etwas ändert . Wir fordern Sie noch einmal eindrücklich
auf: Verteilen Sie öffentliche Gelder endlich geschlechtergerecht!
({5})
Dafür müssen die Kriterien für den Etat der Bundesbeauftragten für Kultur und Medien so angepasst werden,
dass sie Frauen und Männer gleichermaßen berücksichtigen .
Wir brauchen auch eine paritätische Besetzung von
Führungspositionen und Intendanzen in Kultureinrichtungen, die vom BKM gefördert werden . Schließlich ist
auch bei der Vergabe von Preisen und Förderprojekten
eine geschlechtergerechte Verteilung notwendig . Nur so
kann mehr künstlerische Freiheit für Frauen entstehen
und damit logischerweise auch mehr kulturelle Vielfalt .
Auch wenn ich es angesichts der Unterrepräsentanz
von Frauen im Kulturbetrieb und der fehlenden Taten
der Bundesregierung unangebracht finde, immer wieder
darüber sprechen zu müssen, ob eine Quote zu Wettbewerbsverzerrungen oder Qualitätsverlusten führt, möchte
ich noch einmal deutlich sagen: Nein, führt sie nicht, im
Gegenteil .
({6})
Denn gerade die Tatsache, dass Frauen in allen Sparten
fast nur 10 Prozent des Etats der Männer haben, ist etwas, was doch offenkundig nichts mit Qualität zu tun hat,
rein gar nichts . Ein Beispiel sind preisvergebende Jurys .
Beim ECHO Jazz 2016 wurden 4 Frauen, aber 52 Männer nominiert . Erzählen Sie mir nichts von Qualität!
({7})
Ich wiederhole es: Die Schieflage besteht trotz einer steigenden Zahl von Absolventinnen in den künstlerischen
und filmischen Studiengängen. Es mangelt auch nicht an
gut ausgebildeten und talentierten Frauen .
Die Regisseurin Maria Mohr von Pro Quote Regie - diese Gleichstellungsinitiative muss man explizit
hervorheben; sie leistet hervorragende Arbeit, auch auf
der Berlinale - hat es in unserer Anhörung im Ausschuss
treffend auf den Punkt gebracht: „Die Quote ist nicht
wettbewerbsverzerrend . Sie korrigiert einen verzerrten
Wettbewerb .“
({8})
Es kann nicht sein, dass uns die künstlerische Qualität
und Kreativität von Frauen verloren geht, weil strukturelle Hürden beim Zugang und im weiteren Verlauf des Berufslebens nicht beseitigt werden . Diskriminierung von
Frauen kann und darf nicht unter dem Scheinargument
der künstlerischen Freiheit gerechtfertigt werden . Sorgen
Sie also mit gezielten Maßnahmen endlich für Chancengleichheit für Frauen im Filmbereich, in der Musikbranche, an den Theatern und bei den Philharmonien . Die
Zeit ist mehr als reif dafür .
({9})
Frau Kollegin Schauws, das Wort „Zeit“ war ein gutes
Stichwort . Sie müssen jetzt einen Punkt setzen .
Ich komme jetzt zum Schluss .
Das Frauenwahlrecht wurde aus vielen Gründen lange
verhindert . Ein Grund war sicherlich Angst vor Veränderungen . Ich sage Ihnen allen dazu nur: Seien Sie doch
ein bisschen mutig, und bringen Sie zusammen mit uns
gerechte Strukturen im Kulturbetrieb auf den Weg . In
zweieinhalb Jahren wird das Frauenwahlrecht 100 Jahre
alt . Es wäre schön, wenn wir uns bis dahin auf den Weg
gemacht hätten, die Lage für Frauen zu verbessern und
den Kulturbetrieb vielfältiger zu machen .
Vielen Dank .
({0})
Das Wort hat die Kollegin Dr . Astrid Freudenstein für
die Unionsfraktion .
({0})
Vielen Dank, Frau Präsidentin . - Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Unser Thema kommt komisch daher . Ausgerechnet im Kulturbereich sollen es Frauen besonders
schwer haben . Ausgerechnet im Kulturbereich gibt es
weniger weibliche als männliche Führungskräfte . Ausgerechnet im Kulturbereich verdienen Frauen schlechter
als Männer . Ausgerechnet im Kulturbereich - so überschreiben Sie Ihren Antrag, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen - müssen die Grundlagen für die
Gleichstellung von Männern und Frauen überhaupt erst
geschaffen werden, und das im Jahre 2016. Ich finde das
seltsam, und viele, mit denen ich über dieses Thema gesprochen habe, finden das ebenfalls seltsam, vermutlich
deshalb, weil wir der Kultur eigentlich das Anderssein
zuschreiben, weil wir dort keine Hierarchien, keine gläsernen Decken und keine Männerbünde vermuten,
({0})
weil wir männliche Strukturen immer sehr stark in der
Wirtschaft und auch in der Politik ansiedeln, aber eigentlich nicht so sehr im Bereich des Kulturellen . Und dann
so etwas: Sie zeichnen das Bild einer Kulturszene, die
sich quer durch alle Sparten als rückständige Machozone
entpuppt . Dafür werden Zahlen bemüht und Statistiken
herangezogen .
Das kommt für mich komisch daher und ist auch unglaubwürdig . Auf jeden Fall ist es das Thema wert, sich
genauer damit zu befassen . Denn fest steht, dass Frauen
Karriereprobleme haben . Sie haben Probleme, an Aufträge zu kommen, und sie haben Probleme, richtig gutes
Geld zu verdienen .
({1})
Welche Gründe kann es dafür geben? Mir fallen mehrere
ein . Ein Grund kann sein, dass diejenigen, die entscheiden, die Drehbücher, die Kunstwerke oder die Bewerberin schlichtweg nicht gut finden. Sie meinen, dass das,
was angeboten wird, den Publikumsgeschmack nicht
trifft, dass es nicht spannend genug ist, dass es sich nicht
gut verkauft, dass die Bewerberin nicht die notwendige
Qualifikation mitbringt.
Das ist zunächst ein ganz normaler Vorgang und keine
Ungerechtigkeit . Das passiert jeden Tag in PersonalabUlle Schauws
teilungen in dieser Republik, das läuft dann auch in der
Kultur unter dem Begriff der „Freiheit der Kunst“ . Denn
über Geschmack kann man streiten - auch über den Geschmack von Redaktionen und Findungskommissionen .
({2})
Es gibt auch eine zweite Möglichkeit, warum Frauen
im Kulturbereich nicht zum Zuge kommen: Die Drehbücher, die Kunstwerke, die Bewerberinnen sind gut, aber
die, die entscheiden, haben schlichtweg keine Ahnung,
({3})
oder es sind durchgängig Frauenhasser, Frauenhasserinnen; sie geben den Zuschlag der Bewerberin deswegen
nicht, weil sie eine Frau ist .
({4})
Dafür fehlt mir zugegebenermaßen so ein bisschen die
Fantasie . Das wäre auch verboten, und das wäre strafbewehrt - Gott sei Dank .
({5})
Oder es sind einfach nur zu viele Männer in den Entscheidungsgremien .
An dem Punkt wollen Sie ja ansetzen .
({6})
Sie unterstellen nämlich, dass mehr Frauen in die Jurys
und Gremien müssten, weil die sich dann wiederum öfter
für Frauen entscheiden würden .
({7})
Ich muss Ihnen sagen, dass es dafür bisher keinen Anhaltspunkt gibt . Zum Beispiel sind die Redaktionen der
großen Fernsehanstalten, von denen Sie sprachen - ARD
und ZDF -, überwiegend schon weiblich besetzt . Ob sich
das auswirkt, das zeigt uns vielleicht die neue Studie, auf
die wir alle warten .
({8})
Möglichkeit drei, warum Frauen nicht so sehr zum
Zuge kommen, ist, dass es vielleicht tatsächlich so ist,
dass das, was Frauen anbieten, nicht passt . Die Frage,
ob die Unterrepräsentanz von Frauen im Kulturbereich
damit zu tun hat, dass Frauen öfter als Männer am Publikumsgeschmack vorbeiproduzieren, darf man zumindest
stellen, meine ich .
({9})
Eine Studie der Uni Rostock hat zum Beispiel ergeben, dass Frauen besonders häufig Dramen inszenieren,
Männer sich hingegen lieber mit Komödien beschäftigen .
Das sagt natürlich nichts über die Qualität der Arbeit von
Frauen aus, aber fest steht, dass Komödien beim Publikum besser ankommen . Daran werden wir allerdings mit
Quoten auch nichts ändern können .
Dann gibt es noch eine vierte Möglichkeit: Die Frauen
können gar nicht so sehr zum Zuge kommen wie Männer,
weil sie sich nämlich nicht so oft bewerben wie Männer .
({10})
Das ist ein Punkt, der mir tatsächlich wichtig ist . Ich
sitze seit acht Jahren im Personalausschuss meiner Heimatstadt, in Regensburg . Und eine Konstante gibt es
dort, und zwar quer durch alle Bereiche der öffentlichen
Verwaltung und durch den gesamten Kulturbereich: Wo
auch immer eine Führungsposition ausgeschrieben ist,
bewerben sich deutlich weniger Frauen als Männer .
({11})
Selbstzweifel sind offenbar zunächst einmal eine weibliche Eigenschaft . Ich meine aber schon, dass wir erst dann
eine paritätische Besetzung einfordern können, wenn sich
auf die Positionen, für die großen Projekte auch wirklich
so viele Frauen wie Männer bewerben .
({12})
Bis dahin müssen wir Frauen immer und immer wieder
ermutigen, ihren Hut auch wirklich in den Ring zu werfen .
({13})
Ich meine tatsächlich, dass die Frauen an dem Punkt
an sich arbeiten müssen, sie müssen sich bewerben . Das
glaube ich tatsächlich .
({14})
Im Kulturbereich kommt erschwerend hinzu, dass die
Arbeitszeiten alles andere als familienfreundlich sind .
Film, Tanz, Theater - all das findet abends statt. Das
Museum hat am Montag zu, ist aber am Wochenende offen . Und zur Vernissage kann man auch nicht am Dienstagmittag einladen, wenn der Sohn im Kindergarten ist .
Mütter von kleinen Kindern haben es in der Kultur ausgesprochen schwer . Und an diesen zeitlich ungünstigen
Rahmenbedingungen können auch alle Quoten nichts
ändern .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich meine, dass wir
bei dem Thema in erster Linie dort ansetzen müssen, wo
wir der Branche und dann auch den Frauen wirklich helfen können: Wir brauchen höhere Produktionsetats bei
den Fernsehanstalten und bessere Honorarvereinbarungen, wir brauchen im Sozialversicherungsrecht Regelungen, die dem freien Dasein der Künstler gerecht werden,
und wir brauchen vor allem eine dauerhaft gute finanDr. Astrid Freudenstein
zielle Ausstattung der Kommunen, die nämlich einen
Großteil der Kulturförderung in unserem Land tragen .
Und das schaut in den Bundesländern sehr unterschiedlich gut aus .
Geschlechterquoten können hilfreich sein, um Prozesse anzustoßen . Bei der Vergabe von Aufträgen sind
sie jedoch mit Sicherheit nicht hilfreich . Wir vergeben
nämlich auch öffentliche Bauaufträge nicht paritätisch an
Frauen und Männer, sondern an die Firma, die die geforderte Qualität zum besten Preis anbietet .
Wir lassen bei öffentlichen Architektenwettbewerben
auch nicht gleich viele Frauen und Männer gewinnen . Ich
finde das im Übrigen richtig, und ich würde mir wünschen, dass auch in der Kultur die Qualität das entscheidende Kriterium bleibt .
Herzlichen Dank .
({15})
Das Wort hat der Kollege Burkhard Blienert für die
SPD-Fraktion .
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das Bemühen um Gleichberechtigung von Frauen und Männern
ist ein ursozialdemokratisches Anliegen, das sich wie ein
roter Faden durch die Geschichte meiner Partei und deren Politik zieht . Aktuell ist das auch durch die Arbeit
von Ministerin Manuela Schwesig wieder sehr deutlich
geworden . Dass dieses Feld immer noch beackert werden
muss, zeigt uns aber auch, wie zäh und tief verwurzelt
die Widerstände sind, mit denen wir es hier zu tun haben .
In Politik und Parteien, in Verwaltung, Wirtschaft und
im gesellschaftlichen Zusammenleben hat sich in den
vergangenen Jahrzehnten in der Genderfrage vieles zum
Besseren entwickelt . Aber - keine Frage - es gibt immer noch jede Menge zu tun, auch im Kultur- und Medienbereich. Als filmpolitischer Sprecher richte ich den
Blick speziell auf den Filmbereich, weil das ein Bereich
ist, den wir uns in Kürze genauer anschauen werden . Am
Sonntag werden bei der Berlinale die Silbernen und Goldenen Bären verliehen . Die Chance, dass eine Regisseurin geehrt wird, ist auch in diesem Jahr wiederum nicht
sehr groß; denn von 23 Filmen im Wettbewerb sind nur 2
von Frauen gemacht .
Das hat jetzt aber nichts mit der Auswahl von Dieter
Kosslick zu tun . Er war Pressesprecher der Leitstelle für
die Gleichstellung der Frau, wie es in seiner Biografie
heißt, und ist daher über jeden Verdacht erhaben . Er setzt
sich sehr stark für die Gleichstellung ein . Das zeigt auch
die Besetzung der Berlinale-Jury: Vier Frauen und drei
Männer entscheiden über die Preise, und Meryl Streep
hat den Vorsitz . Es zeigt sich aber auch, dass die internationale Situation von Filmemacherinnen sehr schwierig
ist .
Auch bei der Oscar-Verleihung werden wir das gleiche Bild haben . Es ist nicht nur so, dass schwarze Filmemacher dort kaum vertreten sind - dieses Mal gar nicht -,
sondern dass es auch zu wenige Frauen gibt . Auch dort ist
es kein Wunder, wenn 77 Prozent der Stimmberechtigten
in der Academy Männer sind . Die deutsche Film- und
TV-Branche befindet sich daher leider Gottes in bester
Gesellschaft, wenn es um fehlende Gleichstellung geht .
Das haben die Zahlen deutlich gemacht, die hier schon
präsentiert worden sind . Sowohl bei den Produktionen
von ARD und ZDF als auch im Kinobereich ist der Anteil
der Regisseurinnen 2014 sogar von 22 auf 19 Prozent zurückgegangen . Bei den Filmen mit Budgets über 5 Millionen Euro sinkt ihr Anteil tatsächlich auf null . Das heißt,
man kann nicht verneinen, dass wir da noch eine Menge
zu tun haben . Das sind Hausaufgaben, die wir machen
müssen .
Wir haben eine gute Anhörung im Ausschuss gehabt .
Darüber bin ich froh . Es hat eine sehr interessante und
ausgewogene Diskussion stattgefunden . Meine Kollegin Hiltrud Lotze ist eben in ihrem Redebeitrag darauf
eingegangen . In der Debatte über die Novellierung des
Filmförderungsgesetzes werden wir entsprechende Maßnahmen ergreifen . Im ersten Diskussionsentwurf ist enthalten, dass die Fördergremien paritätisch besetzt werden
sollen .
({0})
Auch der Verwaltungsrat und das Präsidium der FFA
sollen sich analog zum Bundesgremienbesetzungsgesetz
am Gleichstellungsgebot orientieren . Dann werden wir
den Blick noch auf andere Instrumente richten müssen,
zum Beispiel auf die Gleichstellung im Aufgabenkatalog
der FFA sowie auf ein regelmäßiges Monitoring, das an
der Stelle zwingend geboten ist .
Einiges ist schon passiert, und das sollte man auch erwähnen, zum Beispiel der Maßnahmenkatalog der ARD .
Auch bei der Degeto gibt es nun eine Selbstverpflichtung;
sie will 20 Prozent der Regiestühle mit Regisseurinnen
besetzen - ein erster Ansatz, um die Gleichstellung voranzubringen . Das Thema wird uns noch weiter verfolgen . Es ist auch mit der Ablehnung des Antrags hier noch
nicht beendet . Ich glaube, dass wir bei der Novellierung
des FFG notwendige und sinnvolle Ergänzungen parlamentarisch umsetzen können . Die Argumente sind auf
der Seite der Gleichstellung, und das werden wir auch
nutzen .
Vielen Dank .
({1})
Ich schließe die Aussprache .
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Kultur und Medien zu dem Antrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Grundlagen für
Gleichstellung im Kulturbetrieb schaffen“ . Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 18/7351, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/2881 abzulehnen . Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der CDU/CSU-Fraktion
und der SPD-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion
Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen .
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung ({0}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Richard Pitterle,
Dr . Gerhard Schick, Dr . Sahra Wagenknecht,
Dr . Dietmar Bartsch, Katrin Göring-Eckardt,
Dr . Anton Hofreiter, Jan van Aken, Luise
Amtsberg und weiterer Abgeordneter
Einsetzung eines Untersuchungsausschusses
Drucksachen 18/6839, 18/7601
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen . - Ich höre keinen Widerspruch . Dann ist so beschlossen .
Ich eröffne die Aussprache . Das Wort hat der Kollege
Richard Pitterle für die Fraktion Die Linke .
({1})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Cum-ex, das klingt nicht nur suspekt,
sondern ist, drastisch gesagt, schlicht eine Schweinerei .
Heute setzen wir auf gemeinsamen Antrag von Linken
und Bündnis 90/Die Grünen einen Untersuchungsausschuss zu den Cum-ex-Geschäften ein .
Cum-ex-Geschäfte waren Aktiengeschäfte schwerreicher Investoren, die im Zeitraum von 1999 bis 2012
praktiziert wurden . Aktien wurden um den Dividendenstichtag kurz hintereinander einmal mit - „cum“ - und
einmal ohne - „ex“ - Dividende gehandelt . Das führte
dazu, dass am Ende der Transaktionen zwei Personen
jeweils eine Bescheinigung über die auf die Dividende
gezahlte Kapitalertragsteuer erhielten, obwohl diese nur
einmal gezahlt worden war . Beide konnten sich diese
Zahlung dann jeweils erstatten oder anrechnen lassen . Im
Klartext: Einmal in die Staatskasse einzahlen, zweimal
aus der Staatskasse kassieren . Der dadurch entstandene
Schaden für den Fiskus und damit für die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler dürfte sich nach bisherigen
Schätzungen auf 12 Milliarden Euro belaufen . Erst 2012
wurden diese Geschäfte durch eine Gesetzesänderung
unterbunden .
Die wichtigsten Fragen, die der Untersuchungsausschuss zu klären haben wird, sind folgende: Wie kann es
sein, dass die Bundesregierung, allem voran das Bundesfinanzministerium, jahrelang keine wirksamen Maßnahmen gegen diese Machenschaften getroffen hat, obwohl
das Ministerium schon 2002 in einem Schreiben des
Bankenverbandes auf die Cum-ex-Geschäfte hingewiesen wurde?
({0})
Was haben die zuständigen Finanzminister Steinbrück
und Eichel davon gewusst?
({1})
Für mich geht es nicht nur darum, subjektives Versagen der einzelnen Akteure herauszuarbeiten, sondern
auch darum - das ist viel wichtiger -, die Mechanismen
aufzuspüren, die einen Fehler so lange fortwirken ließen .
({2})
Es geht nicht allein um die Aufarbeitung der Vergangenheit, sondern auch um die Lehren für heute und für die
Zukunft. Denn aus der Branche wird mir zugeflüstert,
dass die Cum-cum-Geschäfte, die zurzeit laufen, auch
nicht besser seien als Cum-ex .
({3})
Bei Cum-ex sollen mehr als 100 Finanzdienstleister
im In- und Ausland in diese Machenschaften verwickelt
gewesen sein . Nach und nach kommt die Lawine ins
Rollen . Die DZ Bank, das Zentralinstitut der Genossenschaftsbanken, will sich von Mitarbeitern trennen, die in
Cum-ex-Geschäfte verstrickt waren . Sie musste bereits
100 Millionen Euro an das Finanzamt nachzahlen .
Die HypoVereinsbank musste ebenfalls bereits 1 Million Euro Bußgeld zahlen . Der Maple Bank sind die
Cum-ex-Geschäfte nun vollends zum Verhängnis geworden . Sie musste wegen hoher Steuerrückforderungen von
der BaFin, der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht, geschlossen werden .
Wir Linke können übrigens stolz darauf sein, dass wir
einen großen Anteil daran haben, dass diese Geschichte
überhaupt aufgearbeitet wird . Bereits in der letzten Legislaturperiode haben wir durch unsere Fragen zu dem
Thema die Bundesregierung ins Schwitzen gebracht, und
es zeigt sich immer mehr, dass wir den Nagel auf den
Kopf getroffen haben .
({4})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Großen
Koalition, den von uns geforderten Sonderermittler zur
Aufarbeitung der Cum-ex-Geschäfte haben Sie leider
verhindert und stattdessen selbst einen Untersuchungsausschuss vorgeschlagen . In der ersten Lesung des Antrags haben Sie dann mehrfach betont, dass Sie an der
Aufklärung konstruktiv mitarbeiten wollen .
({5})
Es hat mich gefreut, dass die SPD entgegen ihrer ursprünglichen Ankündigung einer Enthaltung gestern im
GO-Ausschuss für den Antrag in der heute vorliegenden
Fassung gestimmt hat .
({6})
Auch die CDU sollte sich hier einen Ruck geben;
({7})
Vizepräsidentin Petra Pau
denn es geht um eine Aufklärung im Interesse der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler .
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit .
({8})
Das Wort hat der Kollege Christian Hirte für die CDU/
CSU-Fraktion .
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! 30 Millionen Euro - so viel soll Uli Hoeneß
an Steuern hinterzogen haben; ein hübsches Sümmchen .
({0})
Der Fall des einstigen Präsidenten des FC Bayern löste
in Deutschland eine polarisierende Debatte über Steuerbetrug und Steuerflucht aus. Doch angesichts möglicher
Enthüllungen rund um die sogenannten Cum-ex-Geschäfte sind Uli Hoeneß und andere Steuersünder wahrlich ganz kleine Fische .
Heute entscheiden wir über die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses zu Cum-ex-Aktiengeschäften .
Der GO-Ausschuss hat die notwendigen Vorarbeiten geleistet, sodass wir nun über einen kompetenz- und verfassungskonformen Einsetzungsantrag entscheiden können .
Dank an die Kollegen aus dem GO-Ausschuss, namentlich vor allem an den Kollegen Dr . Stefan Heck, der für
uns dort Berichterstatter war und darauf verzichtet hat,
hier zu sprechen, sodass ich das heute tun darf .
({1})
Was sich gelegentlich wie ein Trinkspruch anhört cum und ex -, könnte sich durchaus zu einem der spannendsten Wirtschaftskrimis der Bundesrepublik entwickeln . Es sollen Banken aus dem In- und Ausland den
deutschen Fiskus jahrelang mit dubiosen Aktiengeschäften um Milliarden von Euro gebracht haben, indem sie
sich durch Finanztransaktionen um den Dividendenstichtag herum eine einmal entrichtete Kapitalertragsteuer
vom Finanzamt gleich mehrfach erstatten ließen . Weil
Aktien so schnell gehandelt werden, dass offenbar nicht
alle hinterherkommen, ist bei solchen Geschäften gelegentlich unklar, wem die Aktien am Dividendenstichtag
eigentlich gehören, sodass wirtschaftliches und rechtliches Eigentum auseinanderfallen können . So können
gleich zwei Handelspartner von ihren Banken in den Genuss einer Steuerbescheinigung kommen, die bares Geld
wert ist .
Als erste deutsche Bank hat im Dezember letzten Jahres - wir haben es gerade schon gehört - die HypoVereinsbank aus München einen Bußgeldbescheid wegen
Cum-ex-Geschäften akzeptiert . Die von der HVB eigentlich erhoffte Erstattung blieb aus, weil das Bundeszentralamt für Steuern zu ermitteln begann und Steuerfahnder hinter den gewaltigen Summen der Aktientransfers
illegale Cum-ex-Geschäfte witterten . Nun musste die
Bank nicht nur die Steuern zurückzahlen, sondern auch
eine Geldbuße in Höhe von knapp 10 Millionen Euro
zahlen .
Wegen zweifelhafter Steuergeschäfte mit Dividendentiteln stehen für Banken und andere Investoren Millionenbeträge auf dem Spiel . Nicht nur die HypoVereinsbank,
auch die Commerzbank bzw . Dresdner Bank, die HSH
Nordbank und die Schweizer Bank Sarasin haben sogenannte Cum-ex-Geschäfte mittlerweile eingeräumt . In
der letzten Woche setzte die BaFin - auch das haben wir
gehört - wegen Steuerrückforderungen in dreistelliger
Millionenhöhe und der damit einhergehenden bilanziellen Überschuldung sogar den Handel der Maple Bank
aus . Eine Reihe früherer Bankenvorstände muss sich auf
Regressforderungen einstellen . Nicht zuletzt die WestLB
und viele andere Institute und Beteiligte sind im Fokus
der Ermittler .
Die Kreditinstitute und Beteiligten stellen sich auf
hohe Steuernachzahlungen ein . Das wird wohl auch nötig sein, wie die Causa HVB zeigt . Liegen nämlich Umgehungstatbestände mit Verschleierungscharakter und
kollusiven Absprachen vor, sind diese Cum-ex-Deals
nicht nur illegal, sondern auch steuer- und strafbar . Hier
sind bislang die Steuer- und Strafermittlungsbehörden
aber genau ihren Aufgaben nachgekommen . Darüber hinaus sollen jetzt neben den genauen tatsächlichen und
rechtlichen Umständen mit dem neu zu bildendenden
Untersuchungsausschuss auch die Verantwortlichkeiten
von Politik und anderen Beteiligten aufgeklärt werden .
Das Wort „Skandal“ wird ja meist inflationär benutzt,
und auch die Kollegen Schick und Pitterle nutzen dieses
Wort sehr gern - vielleicht etwas zu gern .
({2})
Und wer weiß: Möglicherweise werden wir im Laufe unserer Untersuchungen noch so manches finden, was uns
mit dem Kopf schütteln lässt .
({3})
Wir sollten daher die Arbeit des Untersuchungsausschusses nicht mit allzu großen Tönen, Superlativen und
Pathos belasten . Wir sind hier nämlich nicht auf Skalpjagd, sondern wir sollten versuchen, unvoreingenommen
Sachverhalte, Rechtslage und Verantwortlichkeiten aufzuklären .
({4})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir stehen vor einer
schwierigen Aufgabe, die sich anders als bei Uli Hoeneß
vielleicht nicht im allergrellsten Scheinwerferlicht der
Presse und der Medien abspielen wird . Deshalb möchte
ich dringend davor warnen, dass Linke und Grüne Vorverurteilungen in skandalisierender Weise vornehmen .
Das soll der Ausschuss ja eigentlich erst aufklären .
({5})
Wer dies tut, weil es ihm in den politischen Kram passt,
kann der Arbeit des Untersuchungsausschusses nicht gerecht werden .
({6})
Der Themenkomplex ist schwierig, die Aktenlage unübersichtlich, und die Rechtslage lässt Raum für mancherlei Interpretationen, vielleicht auch für Überraschungen . Gerade deshalb sollten wir sehr sorgfältig prüfen .
In diesem Sinn werden wir als Union konstruktiv an der
Aufarbeitung mitarbeiten .
({7})
Ich persönlich freue mich darauf .
Vielen Dank .
({8})
Das Wort hat der Kollege Dr . Gerhard Schick für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ab kommender Woche werden wir den wohl größten
Steuerskandal untersuchen,
({0})
den die Bundesrepublik Deutschland bislang erlebt hat
und hoffentlich je erleben wird . Unser Ziel ist, dass wir
endlich aufhören, unsere Steuergelder an Trickser und
Betrüger am Finanzmarkt zu verschleudern .
({1})
Es ist zahlreichen Millionären und über 120 Finanzinstituten gelungen, uns Steuerzahlern und Steuerzahlerinnen zwischen 2002 und 2012 geschätzte 12 Milliarden
Euro aus der Tasche zu ziehen . 12 Milliarden Euro: Damit
hätten wir in diesen zehn Jahren 24 000 Lehrerinnen und
Lehrer kontinuierlich beschäftigen und bezahlen können .
Das ging nicht, weil einige Leute eine große Umverteilungsmaschine von Bürgern zu Banken und Millionären
in Gang gesetzt haben, die sozusagen kontinuierlich Geld
von unten nach oben pumpt . Wir Grünen wollen, dass
diese Umverteilungsmaschine gestoppt wird .
({2})
Denn das Problem ist ja - das hat der Kollege Pitterle
angesprochen -, dass diese damalige Umverteilungsmaschine leider in wohl nur leicht veränderter Form heute
weiter arbeitet und weiter viel Steuergeld von uns allen
verloren geht an Leute, die am Finanzmarkt tricksen . Ich
will, dass der Staat seine redlichen Bürgerinnen und Bürger vor solchen Betrügereien schützt; denn diese skrupellosen Banker, Steuerberater und Investoren gefährden
den Zusammenhalt unserer Gesellschaft .
({3})
Doch wir als Abgeordnete dürfen uns nicht damit
begnügen, die Missetäter zu verurteilen, sondern wir
müssen uns fragen, was alles schiefgelaufen ist, damit
diese über zehn Jahre ungeschoren ihr Unwesen treiben
konnten . Genau dies soll im Untersuchungsausschuss
geschehen . Wir wollen untersuchen, und zwar ohne Vorverurteilungen, vielmehr Fragen stellen, warum das Bundesministerium der Finanzen über zehn Jahre brauchte,
dem Treiben ein Ende zu gebieten, obwohl es an Hinweisen nicht mangelte . Warum hat auch die Bankenaufsicht nur zugesehen, obwohl Banken solch hohe Risiken
eingegangen sind, dass eine erste jetzt schon deswegen
geschlossen wurde? Wieso wurde eigentlich die Steuerverwaltung so spät aktiv, obschon Steuererstattungen
beansprucht wurden, die an Höhe überhaupt keinen Sinn
mehr ergaben? Und warum haben wir eigentlich Landesbanken im öffentlichen Eigentum, wenn auch diese die
Öffentlichkeit ausplündern? Das sind keine Vorverurteilungen, sondern das sind ganz konkrete Fragen .
Herr Hirte, den Begriff „Schweinereien“ für all dies
hat Ihr eigener Kollege Olav Gutting - und nicht ich - in
einer der früheren Debatten, die wir zu diesem Thema
beantragt hatten, genannt .
({4})
Aber ich finde, recht hat er. Eine Schweinerei ist es. Deshalb soll man es auch so benennen .
({5})
Leider wird die Koalition unserem Antrag zur Einsetzung eines Untersuchungsausschusses heute nicht zustimmen . Sie haben, Herr Hirte, keinerlei Begründung
dafür genannt, warum Sie meinen, dass man diese Fragen nicht aufklären sollte . Ich würde mich freuen, wenn
die Vertreterinnen und Vertreter der Koalition uns mal
erklären würden, warum sie nicht mit uns zustimmen .
Ich hoffe, dass Sie - nachdem Sie unseren Antrag auf
Einsetzung eines Sonderermittlers abgelehnt haben und
auch andere Wege der gemeinsamen Aufarbeitung mit
uns nicht gehen wollten - jetzt trotzdem konstruktiv die
gemeinsame Aufarbeitung im Ausschuss mittragen werden . So habe ich Sie verstanden . Ich hoffe, dass das in der
Praxis dann auch so sein wird .
({6})
Denn diese Aufarbeitung ist zentral .
Noch immer wissen viele Bürgerinnen und Bürger
nichts von dem, was da passiert ist . Und immer, wenn
ich davon spreche, fragen mich Menschen erschüttert,
warum sie eigentlich noch nichts davon erfahren haben .
Ich meine, Politik und Medien dürfen sich nicht immer
nur mit den einfachen Dingen beschäftigen . Wir müssen
die großen Probleme angehen, auch wenn es kompliziert
wird .
({7})
Wie gesagt, diese Geschäfte gehen in einer etwas anderen Form weiter . Und es gibt immer noch Leute an den
Finanzmärkten, die skrupellos genug sind, die Allgemeinheit zu schädigen und jede Schwäche, die es da gibt,
zu nutzen . Dieses ewige Hase-und-Igel-Spiel zwischen
einigen Experten am Finanzmarkt und uns als Gesellschaft muss endlich beendet werden . Für uns Grüne geht
es bei dieser ungewollten Umverteilung von unten nach
oben um Fairness und Gerechtigkeit, aber letztlich auch
um die Verlässlichkeit unseres Staates . Für diese Werte
treten wir ein .
Danke .
({8})
Das Wort hat der Kollege Andreas Schwarz für die
SPD-Fraktion .
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir
werden noch heute die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses zu den sogenannten Cum-ex-Geschäften
beschließen . Dabei handelt es sich um Geschäftsmodelle
von Banken und Anlageberatern, deren Renditeversprechen allein auf einer mehrfachen Erstattung und Anrechnung von Kapitalertragsteuern beruhte .
Der Gesetzgeber hat diesen Gestaltungen der Finanzindustrie durch eine Umstellung der Kapitalertragsteuererhebung ab 2012 faktisch den Boden entzogen . Dies
bedeutet aber nicht, dass sie bis dahin legal waren . Im
Gegenteil: Auch der Direktor des Max-Planck-Instituts
für Steuerrecht und Öffentliche Finanzen, Wolfgang
Schön, bezeichnet diese Geschäfte als illegal . Er geht
sogar - ich zitiere - noch weiter: Hier wurde nicht nur
versucht, Steuern zu sparen, sondern man hat den Fiskus
sogar systematisch gemolken .
Es ist für mich völlig unverständlich, dass findige Finanzberater noch immer der Auffassung sind, diese Art
von Betrug sei legal . Nein, das ist es nicht . Man muss
sich das mal auf der Zunge zergehen lassen: Wie kann
man es für legal halten, sich die Kapitalertragsteuer zum
Teil gleich mehrfach erstatten zu lassen, obwohl sie nur
einmal gezahlt wurde und folglich die Finanzämter - auf
Kosten der Allgemeinheit - mehr Steuern erstatteten, als
sie einnahmen? Liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist
nicht legal, das ist kriminell .
Richtig ist, dass die steuerfachliche Bewertung der
fraglichen Cum-ex-Geschäfte im Schrifttum umstritten
ist . Auch steht höchstrichterliche Rechtsprechung hierzu noch aus . Inzwischen liegen uns aber Urteile zweier
Kölner Gerichte vor, die den Anfangsverdacht der Steuerhinterziehung von Banken bei Cum-ex-Geschäften bestätigen . Norbert Walter-Bojans hat vollkommen Recht,
wenn er laut FAZ vom 15 . Dezember 2015 - ich zitiere sagt:
Die Banken können sich nach eindeutigen Gerichtsurteilen jetzt nicht mehr mit unklarer Rechtslage
herausreden .
Die Cum-ex-Geschäfte sind mit tatkräftiger Unterstützung der Banken allesamt von sehr wohlhabenden
Menschen getätigt worden, die sich gerne zur Elite unseres Landes zählen . Ich frage: Was ist daran Elite, sein
Vermögen auf Kosten der Allgemeinheit auf solch dreiste
Art und Weise unrechtmäßig zu vermehren? Es ist an der
Zeit, dass diese Leute endlich zur Besinnung kommen .
Um eines klarzustellen: Niemand möchte es vermögenden Menschen verwehren, ihr Geld gewinnbringend
anzulegen . Gleichwohl gilt aber auch, dass sie ihren
Pflichten nachkommen und ihre Steuern zahlen müssen
und nicht der Allgemeinheit die Mittel beispielsweise für
die Finanzierung wichtiger Infrastrukturprojekte vorenthalten dürfen .
Gern zitiere ich hierzu noch einmal Norbert Walter Borjans:
Banken und Investoren, die sich einmal gezahlte Steuern trickreich mehrfach vom Staat erstatten
lassen, begehen keine lässliche Sünde, sondern unternehmen einen systematischen Raubzug in Milliardenhöhe bei öffentlichen Kassen, in die ehrliche
Steuerzahler zuvor eingezahlt haben .
Er sagte weiter:
Ich kann nur dazu raten, dass die Täter jetzt ihre
Lehren daraus ziehen, für die Vergangenheit reinen
Tisch machen und sich von kriminellen Geschäftsmodellen zum Schaden der Allgemeinheit verabschieden .
Aus dem Ankauf der letzten Steuer-CD durch das
Land NRW haben sich Anhaltspunkte gegen 129 Banken
und Finanzdienstleister ergeben . Dies wird die bereits
laufenden umfangreichen Ermittlungen der Strafverfolgungsbehörden natürlich nochmals forcieren . Dafür gilt
dem Land NRW ausdrücklich Dank .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der ursprüngliche
Antrag der Opposition auf Einsetzung des Untersuchungsausschusses wies diverse verfassungsrechtliche
Probleme auf . Diese haben die Abgeordneten des 1 . Ausschusses intensiv diskutiert und mit der vorgelegten Neufassung behoben . Insbesondere musste die Untersuchung
auf den Kompetenzbereich des Bundes beschränkt werden .
Für uns als SPD war es zudem wichtig, nicht nur die
Rolle der öffentlichen Banken, sondern auch die der privaten Banken und Finanzdienstleister zum Gegenstand
der Aufklärung zu machen . Wenn man ein Bild interpretieren und bewerten möchte, muss man das Gesamtbild
betrachten und nicht nur einzelne Facetten . Nur so könDr. Gerhard Schick
nen wir dem Untersuchungsauftrag auch wirklich gerecht werden .
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir hegen Zweifel,
ob wir das parlamentarische Instrument des Untersuchungsausschusses hier tatsächlich brauchen; denn wir
haben Strafverfolgungsbehörden, die inzwischen die
Arbeit sehr intensiv aufgenommen haben . Dieser Auffassung sind nicht nur wir in der Politik, sondern ist auch
beispielsweise Klaus Ott, der als Redakteur der Süddeutschen Zeitung auf Grundlage des Informationsfreiheitsgesetzes des Bundes Zugang zu den Akten des BMF erhielt .
Dennoch gilt: Unter Vorsitz unseres Kollegen
Dr . Hans-Ulrich Krüger werden wir die Aufklärungsaufgabe, die uns das Parlament heute übertragen wird, mit
großem Engagement verfolgen und vorantreiben . Wir
haben in dieser Legislaturperiode bei der Bekämpfung
der Steuerkriminalität schon viele wichtige Erfolge erzielt - gemeinsame Erfolge dieses Hauses . Wir haben die
Regelungen zur strafbefreienden Selbstanzeige deutlich
verschärft und den internationalen Datenaustausch durch
die Implementierung der OECD-Standards deutlich verbessert, erfreulicherweise auch mit den Stimmen der
Grünen . Sogar die Linken haben diese Gesetzesverschärfungen nicht abgeschreckt; sie haben sie zum Teil mitgetragen . Es gibt also in diesem Haus offenkundig eine
sehr gute Chance auf breite Mehrheiten für Maßnahmen
gegen Steuerhinterziehung und Steuerbetrug . Da kann
man ja schon fast von einem Konsens sprechen .
Meine Bitte: Lassen Sie uns doch in der bevorstehenden Ausschussarbeit daran anknüpfen und die Aufklärungsarbeit gemeinsam vorantreiben . Wer weiß womöglich ergeben sich auch noch Ideen für künftige
gemeinsame Gesetzesinitiativen . Denn eines ist klar:
Wer gegen Steuerkriminalität vorgeht, hat die SPD-Bundestagsfraktion immer an seiner Seite .
({1})
Ich komme zum Schluss . Sehr geehrter Herr Kollege
Hirte, Herr Kollege Pitterle, Herr Kollege Dr . Schick, wir
freuen uns auf die gemeinsame Arbeit und bieten allen
Beteiligten unsere gute Zusammenarbeit an .
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit .
({2})
Das Wort hat der Kollege Philipp Graf Lerchenfeld für
die CDU/CSU-Fraktion .
({0})
Verehrte Frau Präsidentin! Hohes Haus! Mit dem Untersuchungsausschuss, den wir heute einsetzen und der
sich in der kommenden Woche konstituieren wird, werden wir uns auf eine Zeitreise begeben . Die Zeitreise beginnt im Jahr 1998, als Steuergesetze geändert wurden,
die dazu geführt haben, dass Türen geöffnet wurden für
diese Machenschaften .
Kollege Schick, es war der von Ihnen gestützte Finanzminister Eichel, der diese Sachen vorbereitet hat .
({0})
Sie waren an der Regierung beteiligt . Insofern kann ich
Ihnen nur sagen: Hätten Sie damals ein bisschen weiter
vorausgeschaut, dann hätten Sie vielleicht auch erkannt,
welche unsäglichen Tätigkeiten Sie ausgelöst haben .
({1})
Lassen Sie mich zurückkommen zum Cum-ex-Geschäft und zur Änderung des Einkommensteuergesetzes
in den 90er-Jahren, die, wie gesagt, diesen dubiosen Geschäften die Tür geöffnet hat .
Im Jahr 2002 - damit sind wir beim nächsten Punkt
unserer Zeitreise - wurden dem Bundesfinanzministerium erste Hinweise gegeben, dass ungerechtfertigte Erstattungen von Banken in großem Umfang vorgenommen wurden . Es wurde aber nichts gemacht . Man hat
nicht reagiert . Nun, man kann vielleicht sagen, dass es
immer eine Zeit dauert, bis Steuererklärungen abgegeben, Steuerbescheide erlassen und die notwendigen Betriebsprüfungen bei den Steuerpflichtigen durchgeführt
werden; dann gibt es eventuell noch Gerichtsverfahren
vor Finanzgerichten . Alles das zieht sich hin . Finanzbehörden haben nur eine verzögerte Möglichkeit, gesicherte Kenntnisse über Steuergestaltungen zu erlangen .
Ich denke, es ist wirklich an der Zeit, dass wir uns mit
diesem Thema beschäftigen . Ich freue mich, im Untersuchungsausschuss die Gelegenheit zu haben, diese hochkomplizierte Materie zu durchleuchten .
So einfach, wie es den Anschein hat und wie derzeit
auch immer berichtet wird, ist der Sachverhalt doch
nicht; denn es gab immer wieder höchstgerichtliche Urteile, die deutlich gemacht haben, dass eben kein Fall gemäß § 42 AO vorliegt . Der BFH hat unter Berufung auf
§ 50 c Einkommensteuergesetz, der inzwischen weggefallen ist, festgestellt, dass kein missbräuchlicher Tatbestand beim Dividendenstripping vorlag . Insofern wird es
interessant werden, sich auch mit den Finanzgerichtsurteilen - heute ist wieder eines vom Hessischen Finanzgericht in der FAZ veröffentlicht worden - zu beschäftigen,
um festzustellen: Was ist denn der Hintergrund? Was ist
die rechtliche Frage? Ich denke, dass wir in den Finanzgerichtsurteilen durchaus Erhellendes für unseren Untersuchungsausschuss finden werden.
Es wurde schon gesagt, dass inzwischen Geldbußen
verhängt wurden . Die HVB hat - lieber Kollege Pitterle,
das zur Korrektur - 9,8 Millionen Euro Geldbuße bezahlt
und nicht 1 Million Euro, wie Sie vorhin gesagt haben .
Die Maple Bank ist, wie gesagt, inzwischen unter Moratorium gestellt worden, weil sie die Rückstellungen nicht
bilden konnte, die notwendig wären für die entsprechenden Rückerstattungen der Steuern . Spektakuläre Fälle
wie der des Unternehmers Müller, der die Bank Sarasin
in der Schweiz verklagt hat und damit deutlich machen
wollte, dass er von der Bank falsch beraten wurde, haben
öffentliche Aufmerksamkeit erregt .
Ich denke, wir haben eine große Aufgabe vor uns, um
die Sachverhalte, die im Fragenkatalog aufgeführt sind,
aufzuklären . Ich wünsche uns dazu gute Beratungen . Ich
hoffe, dass wir mit den Erkenntnissen, die wir gewinnen
werden, dazu beitragen, in Zukunft kriminelle Machenschaften bei missbräuchlicher Steuergestaltung zu verhindern .
Vielen Dank .
({2})
Ich schließe die Aussprache .
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung zu dem Antrag der Abgeordneten Richard Pitterle, Dr . Gerhard Schick, Dr . Sahra
Wagenknecht, Dr . Dietmar Bartsch, Katrin GöringEckardt, Dr . Anton Hofreiter, Jan van Aken, Luise
Amtsberg und weiterer Abgeordneter zur Einsetzung eines Untersuchungsausschusses. Der Ausschuss empfiehlt
in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/7601,
den Antrag auf Drucksache 18/6839 in der Ausschussfassung anzunehmen . Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält
sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen
der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen bei Enthaltung der Koalitionsfraktionen angenommen .
({0})
Damit ist der 4 . Untersuchungsausschuss der 18 . Wahlperiode eingesetzt .
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung .
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 24 . Februar 2016, 13 Uhr, ein .
Die Sitzung ist geschlossen . Ich wünsche Ihnen alles
Gute bis dahin .