Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Nehmen Sie bitte Platz. Die Sitzung ist eröffnet.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich begrüße Sie zu
unserer Plenarsitzung und rufe gleich den ersten Tagesordnungspunkt auf:
Abgabe einer Regierungserklärung durch die
Bundeskanzlerin
zum Europäischen Rat am 18./19. Februar
2016 in Brüssel
Hierzu liegen drei Entschließungsanträge der Fraktion
Die Linke vor. Über einen dieser Entschließungsanträge
werden wir nach Abschluss der Debatte namentlich abstimmen.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklärung 77 Minuten vorgesehen. Besteht dazu Einvernehmen? - Das ist offensichtlich der Fall. Also können wir
so verfahren.
Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat
die Bundeskanzlerin, Frau Dr. Angela Merkel.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Die Zukunft Großbritanniens als Mitglied der
Europäischen Union wird ein beherrschendes Thema des
morgen beginnenden Europäischen Rates sein. Wir werden uns dort gemeinsam mit den Erwartungen befassen,
die der britische Premierminister David Cameron im Namen Großbritanniens an die Europäische Union herangetragen hat.
Wir haben als Bundesregierung stets klargemacht,
dass wir für Ergebnisse arbeiten, von denen am Ende
nicht nur das Vereinigte Königreich selbst, sondern auch
Deutschland und ganz Europa profitieren. Denn es handelt sich bei den Anliegen David Camerons keineswegs
nur um britische Einzelinteressen. Bei einigen Tatsachen
oder Fragen muss man sogar sagen: Ganz im Gegenteil:
Es handelt sich in vielen Punkten auch um Anliegen, die
berechtigt und nachvollziehbar sind. Genau wie David
Cameron zum Beispiel halte auch ich es für erforderlich,
dass wir uns in der Europäischen Union deutlich mehr
für Wettbewerbsfähigkeit, Transparenz und Bürokratieabbau einsetzen. Deutschland und Großbritannien teilen
diese Überzeugung seit vielen Jahren.
({0})
Ich teile mit David Cameron darüber hinaus auch die
Auffassung, dass die Mitgliedstaaten, die eine andere
Währung als den Euro haben, in den für sie wichtigen
Fragen nicht übergangen werden dürfen. Unser Ziel muss
deshalb sein, Diskriminierung zu vermeiden, gleichzeitig aber eine Differenzierung zuzulassen, wo dies in der
Sache erforderlich ist. Das steht überhaupt nicht im Widerspruch dazu, dass die Europäische Wirtschafts- und
Währungsunion natürlich auch in Zukunft weiterhin die
für sie selbst notwendigen Entscheidungen eigenständig
treffen kann - und das auch tun wird. Denn die Erfahrung
aus der europäischen Staatsschuldenkrise hat gezeigt,
wie schnell zusätzliche Integrationsschritte erforderlich
werden können.
Ich erinnere daran, dass noch nicht alle Probleme,
die durch die Krise sichtbar geworden sind, bereits dauerhaft gelöst worden sind. Genau aus diesem Grunde
wollen Deutschland und Frankreich gemeinsame Vorschläge erarbeiten, wie die Europäische Wirtschafts- und
Währungsunion sinnvoll weiterentwickelt werden kann.
Deshalb ist es auch so wichtig, dass der Präsident des
Europäischen Rates, Donald Tusk, in seinen Vorschlägen klargestellt hat, dass keine zusätzlichen Hindernisse
für eine Vertiefung der Wirtschafts- und Währungsunion
geschaffen werden dürfen. Denn wenn einige in der Europäischen Union voranschreiten wollen, dann muss das
auch in Zukunft weiter möglich sein.
({1})
Dies steht im Übrigen auch in keinerlei Gegensatz zu
dem Anliegen David Camerons, eine gemeinsame Auslegung für das in den europäischen Verträgen verankerte
Ziel einer - wie es dort wörtlich heißt - „immer engeren
Union der Völker Europas“ zu finden. Auch hier sind wir
uns einig: Es muss immer die Möglichkeit weiterer Integration geben, aber eine Verpflichtung jedes einzelnen
Mitgliedstaats, sich an jedem Schritt zu beteiligen, gibt
es nicht. Eine immer engere Union bedeutet für mich vor
allem, dass die Europäische Union mit ganzer Kraft ihren
wesentlichen Aufgaben nachkommt und die dafür notwendigen Schritte geht. Die Prinzipien der Subsidiarität
und der Verhältnismäßigkeit, die wir in den europäischen
Verträgen im Übrigen fest verankert haben, bringen genau das zum Ausdruck.
Es ist natürlich darüber hinaus wichtig, wenn Großbritannien in diesem Zusammenhang auf die Bedeutung
der nationalen Parlamente hinweist. Bei uns in Deutschland besteht zwischen Parlament und Regierung ja bereits eine sehr enge Zusammenarbeit in Europafragen. In
den anstehenden Verhandlungen mit Großbritannien geht
es nun darum, die Einbindung der nationalen Parlamente
auch auf europäischer Ebene weiter zu verbessern. Das
gilt vor allem dann, wenn die nationalen Parlamente die
gerade von mir genannten Prinzipien von Subsidiarität
und Verhältnismäßigkeit in Gefahr sehen.
Meine Damen und Herren, das öffentlich wohl am
meisten diskutierte Anliegen aus britischer Sicht ist die
Beseitigung von Fehlanreizen in den Sozialsystemen.
Auch dieses Anliegen ist nachvollziehbar und berechtigt;
denn die Zuständigkeit für die jeweiligen Sozialsysteme
liegt nun einmal nicht zentral in Brüssel, sondern bei
den einzelnen Mitgliedstaaten. Deshalb ist es für mich
selbstverständlich, dass jeder Mitgliedstaat auch in der
Lage sein muss, sein Sozialsystem gegen Missbrauch zu
schützen.
({2})
Ich erinnere an die Diskussion, die wir hierzu auch in
Deutschland führen. Die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zum Beispiel hat gezeigt, dass es auch bei
uns Handlungsbedarf für die nationale Gesetzgebung
gibt, der allerdings stärker durch die Rechtsprechung
des Bundesverfassungsgerichts hervorgerufen wurde
als durch die europäische Rechtsprechung. Ich bin sehr
dankbar, dass Bundesministerin Nahles rechtliche Schritte gehen wird, die hier eine Lösung bringen.
({3})
Es gibt also keinen Dissenspunkt zwischen Großbritannien und Deutschland, wenn es um die Sozialsysteme
geht. Allerdings führt diese Debatte zu einem übergeordneten Punkt. Sie führt dazu, dass wir darauf bestehen,
bei Anpassungen auf europäischer Ebene die grundlegenden Errungenschaften der europäischen Integration
nicht infrage zu stellen. Das sind in der gegenwärtigen
Diskussion mit Großbritannien vor allem die Prinzipien
der Freizügigkeit und der Nichtdiskriminierung. Insofern
möchte ich hier noch einmal deutlich machen: Diese beiden Prinzipien stehen nicht zur Disposition.
({4})
Diese Grundhaltung jetzt mit den britischen Anliegen zu
vereinbaren, ist die Aufgabe, die es zu lösen gilt; und das
ist unser gemeinsames Ziel, auch wenn der Teufel wie so
oft im Detail steckt. Es gibt Vorschläge der Kommission;
aber wir werden darüber sicherlich auch noch intensive
Beratungen im Rat haben.
Natürlich werden wir diese Woche beim Europäischen
Rat keine Vertragsänderungen beschließen. Vielmehr
wird es darum gehen, zu vereinbaren, bei der nächsten
Überarbeitung der europäischen Verträge die inhaltliche Substanz unserer Einigung mit Großbritannien zu
berücksichtigen. Diese nächste Vertragsänderung muss
dann natürlich im Einklang mit den einschlägigen Prozeduren und den verfassungsrechtlichen Vorgaben bei
uns in Deutschland erfolgen; das versteht sich von selbst.
Wenn es also so weit ist, wird das Einvernehmen mit
dem Deutschen Bundestag herzustellen und ein Zustimmungsgesetz zu verabschieden sein.
Meine Damen und Herren, insgesamt halte ich die
Vorschläge, die der Präsident des Europäischen Rates,
Donald Tusk, vorgelegt hat, für eine sehr gute Verhandlungsgrundlage. Deutschland wird seinen Beitrag leisten,
damit ein für alle Seiten zufriedenstellendes Ergebnis
erzielt werden kann, nach Möglichkeit bereits beim morgen beginnenden Europäischen Rat.
Ich danke an dieser Stelle allen Kolleginnen und Kollegen im Kabinett sowie des Deutschen Bundestages, die
das Gespräch mit ihren britischen Partnern gesucht haben
und auf beiden Seiten für Verständnis geworben haben.
Ich bin überzeugt, dass es in unserem nationalen Interesse ist, dass Großbritannien ein aktives Mitglied in einer
starken und erfolgreichen Europäischen Union bleibt.
({5})
Deutschland hat mit Großbritannien einen Verbündeten, wenn wir uns in Europa für den Binnenmarkt, für
mehr Wettbewerbsfähigkeit und für Freihandel einsetzen.
({6})
Außerdem braucht Europa das außen- und sicherheitspolitische Engagement Großbritanniens, um unsere Werte
und Interessen in der Welt zu behaupten. Im Bewusstsein
dieser gemeinsamen Interessen und Werte führen wir die
Verhandlungen, am Ende aber - das wissen wir - werden die britischen Wählerinnen und Wähler entscheiden.
Vorher haben wir Europäer die Aufgabe, unser Bestes zu
geben, damit die britische Regierung mit überzeugenden
Argumenten für einen Verbleib des Vereinigten Königreichs in der Europäischen Union werben kann. Eine Einigung auf die britischen Reformanliegen ist hierfür ein
wichtiger Schritt.
Gleichzeitig müssen wir weit darüber hinaus beweisen, dass die Europäische Union in der Lage ist, auf die
großen globalen Herausforderungen unserer Zeit gemeinsame Antworten zu finden. Dazu gehört an allererster Stelle die Fluchtbewegung, die Europa - das darf
man wohl sagen - vor eine historische Bewährungsprobe stellt. Diese Frage wird das zweite große Thema des
Europäischen Rates sein, das wir morgen Abend beraten
werden.
Meine Damen und Herren, um es gleich vorwegzusagen: Ob der Rat ein Erfolg oder ein Misserfolg wird, das
entscheidet sich wahrlich nicht an der Frage der Kontingente. Auf dem Rat geht es nicht um die Vereinbarung
von Kontingenten. Wir machten uns in Europa auch lächerlich, wenn wir am Freitag, nachdem die vereinbarte
Verteilung von 160 000 Flüchtlingen nicht einmal ansatzweise erfolgt ist, obendrauf Kontingente beschlössen;
das wäre der zweite Schritt vor dem ersten.
Auf dem kommenden Europäischen Rat geht es vielmehr um etwas anderes. Es geht um diese Frage: Sind
wir mit unserem europäisch-türkischen Ansatz auf der
Grundlage der EU-Türkei-Agenda, die wir am 29. November letzten Jahres gemeinsam beschlossen haben, zur
umfassenden Bekämpfung der Fluchtursachen und zum
Schutz der Außengrenzen so weit vorangekommen, dass
es sich lohnt, diesen Weg weiterzugehen, weil mit ihm
die illegale Migration spürbar eingedämmt werden kann,
was die entscheidende Voraussetzung für legale Kontingente ist? Oder müssen wir aufgeben und stattdessen, wie
jetzt manche vehement fordern, die Grenze Griechenlands zu Mazedonien und Bulgarien schließen mit allen
Folgen für Griechenland und die Europäische Union
insgesamt? Das ist die Bewertungssituation für die Zwischenbilanz, die ich nach dem Rat vornehmen möchte.
Es versteht sich von selbst, dass ich meine Kraft darauf verwende, dass sich der europäisch-türkische Ansatz
als der Weg herausstellen kann, den es sich lohnt weiterzugehen.
({7})
Worum geht es dabei, und was können wir mit diesem
Ansatz erreichen? Unser gemeinsames Ziel ist es, die
Zahl der Flüchtlinge spürbar und nachhaltig zu reduzieren, um so auch weiterhin den Menschen helfen zu können, die unseres Schutzes wirklich bedürfen. Strittig in
der Debatte ist der Weg, wie wir dieses Ziel erreichen.
Die Bundesregierung setzt an drei Punkten an: Erstens.
Wir bekämpfen die Fluchtursachen. Zweitens. Wir stellen
den Schutz der EU-Außengrenze zwischen Griechenland
und der Türkei, also an der für die Flüchtlingsbewegung
zumindest im Augenblick entscheidenden Schengen-Außengrenze, wieder her und teilen die Lasten. Und drittens. Wir ordnen und steuern den Flüchtlingszuzug.
Zum ersten Punkt, zur Bekämpfung der Fluchtursachen. Wir in Deutschland haben ja Globalisierung bislang
vor allem über unsere Exporte und den Erfolg unserer
Unternehmen kennengelernt. Jetzt - das spüren wir - sehen wir eine ganz andere Seite der Globalisierung. Der
islamistische Terrorismus bedroht auch uns; das wissen
wir nicht erst seit den schrecklichen Terroranschlägen
von Paris. Direkt vor unserer europäischen Haustür wüten blutige Kriege und Konflikte, die Hunderttausende
das Leben kosten und Millionen Menschen entwurzeln.
Viele von ihnen suchen Schutz in der Türkei, im Libanon, in Jordanien, in Europa. Es steht außer Zweifel, dass
dauerhaft weniger Menschen nur dann zu uns kommen
werden, wenn wir dort ansetzen, wo sie herkommen, und
die Ursachen beheben, die sie in die Flucht treiben.
({8})
Wir sehen und hören es jeden Tag. Besonders akut stellt
sich diese Aufgabe mit Blick auf die Tragödie in Syrien.
In der letzten Woche hat die internationale Kontaktgruppe in München die Voraussetzungen für einen möglichen
Waffenstillstand in Syrien vereinbart.
Ich möchte an dieser Stelle ganz herzlich unserem
Bundesaußenminister danken.
({9})
Wenn ich seinen Tagesablauf vom letzten Donnerstag
bis zum letzten Sonntag nachverfolge und mir ansehe,
an wie vielen Diskussionsforen der Außenminister teilgenommen hat, die sich alle mit Konflikten in unserer
unmittelbaren Nähe befasst haben, dann kann ich einfach
nur sagen: Diplomatie und politische Lösungen sind in
dieser Zeit gefragt. Sie brauchen unglaubliche Ausdauer.
Sie erleben immer wieder Rückschläge; aber es ist jedes
Mal neu wert, dieses zu versuchen. - Deshalb der Dank.
({10})
Nach dieser Vereinbarung können jetzt hoffentlich einige Städte in Syrien mit Hilfsgütern versorgt werden.
Trotzdem ist, ohne diese Bemühungen in irgendeiner
Weise infrage zu stellen, die Lage unverändert deprimierend. Es wird statt weniger in diesen Tagen in einigen
Regionen mehr gekämpft, und statt weniger Leid gibt es
an vielen Stellen mehr Leid, nicht zuletzt ausgelöst durch
die Angriffe Russlands und der syrischen Regierungstruppen,
({11})
wie wir es in und um Aleppo leider sehen müssen, auch
in dem Gebiet bis zur türkischen Grenze, auch in der
Stadt Asas und an anderer Stelle.
Die jetzige Situation ist also immer noch untragbar.
Es wäre hilfreich, wenn es in Syrien ein Gebiet gäbe, auf
das keine der Kriegsparteien Angriffe fliegt. Mit den Terroristen des IS können wir nicht verhandeln; aber wenn
es gelänge, zwischen der Anti-Assad-Koalition und den
Assad-Unterstützern eine Vereinbarung über eine Art
Flugverbotszone im Sinne eines Schutzbereichs für die
vielen Flüchtlinge zu treffen,
({12})
rettete das viele Menschenleben und diente auch dem
politischen Prozess zur Zukunft Syriens. Ich glaube, wir
sollten nichts unversucht lassen.
({13})
Daneben steht für uns die Verbesserung der Lebensbedingungen syrischer Flüchtlinge im Mittelpunkt unserer
Anstrengungen - in den eingeschlossenen Gebieten an
der syrisch-türkischen Grenze wie in der gesamten Region. Die Syrien-Geberkonferenz am 4. Februar 2016
in London hat hierfür wichtige Weichen gestellt. Insgesamt kamen für humanitäre Hilfe - also Welternährungsprogramm, Schule, Arbeit - für Menschen in Syrien, im Libanon, in Jordanien und in der Türkei für 2016
5,9 Milliarden Dollar und für die Jahre 2017 bis 2020
5,4 Milliarden Dollar zusammen, alles in allem also über
11 Milliarden Dollar. Der Generalsekretär der Vereinten
Nationen hat uns noch einmal darauf hingewiesen, dass
dies die erfolgreichste Geberkonferenz in der Geschichte
der Vereinten Nationen war; denn bei noch keiner Geberkonferenz wurde an einem Tag so viel Geld gesammelt.
({14})
Wir leisten hier einen erheblichen Beitrag. Ich möchte
dem Finanzminister danken, natürlich auch dem Entwicklungsminister und dem Außenminister.
Wir haben uns entschieden, hier einen Schwerpunkt
zu setzen, weil wir uns im vergangenen Jahr sehr stark
mit der Frage beschäftigt haben, was Menschen in die
Flucht treibt, und gesehen haben, dass gerade die Kürzungen beim Welternährungsprogramm eine der wesentlichen Ursachen waren. Wir haben mit unserem Beitrag
jetzt neben dem sehr spannenden Programm „Cash for
Work“, womit Menschen in Arbeit gebracht werden, vor
allen Dingen einen Schwerpunkt auf das Welternährungsprogramm gesetzt. Wir als Bundesrepublik Deutschland
werden zu dem, was die Welternährungsorganisation als
Hilfe in Form von Lebensmitteln für Syrien und die umgebenden Länder als Bedarf für dieses Jahr angesetzt hat,
die Hälfte beitragen. Ein weiterer Teil ist auch schon gesichert, und wir werden darauf Wert legen, dass alsbald
klar ist, dass auch der Rest da ist, damit die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Welternährungsprogramms
nicht von Monat zu Monat Angst haben müssen, dass sie
die Rationen wieder kürzen müssen. Ich glaube, das ist in
unser aller Interesse.
({15})
Wir haben uns beim Besuch des irakischen Ministerpräsidenten al-Abadi entschieden, der irakischen Regierung einen Kredit, einen ungebundenen Kredit, in Höhe
von 500 Millionen Euro zu geben, insbesondere für die
Verwirklichung von Infrastrukturmaßnahmen, hier vor
allem für Infrastrukturmaßnahmen in Städten, die vom IS
befreit wurden; diese sind brutal zerstört, und sie müssen
schnell wiederaufgebaut werden, damit die Menschen in
ihre Heimat zurückkehren können.
Und wir haben die schon lange beratenen 3 Milliarden
Euro, mit denen die Europäische Union die Türkei bei
der Verbesserung der Lebensperspektiven der Flüchtlinge vor Ort unterstützt, nun endlich, sage ich, freigegeben; ich hoffe, dass sehr schnell auch Projekte realisiert
werden können. Denn wenn wir uns überlegen, dass in
Städten wie zum Beispiel Kilis genauso viele Flüchtlinge
wie einheimische Einwohner leben, dann ist klar, dass
es neuer Schulen und neuer Krankenhäuser bedarf. Das
muss jetzt auch schnell umgesetzt werden.
Meine Damen und Herren, die Türkei ihrerseits hat
eine Arbeitserlaubnis für Syrer in der Türkei vergeben zwar in unterschiedlicher Ausprägung, aber immerhin
gibt es jetzt eine Perspektive, dass syrische Flüchtlinge
oder Gäste, wie die Türkei sagt, auch Arbeitsmöglichkeiten haben.
Das führt zu dem zweiten Punkt, an dem die Bundesregierung ansetzt, der Wiederherstellung des Schutzes
der EU-Außengrenze zwischen Griechenland und der
Türkei, und damit zum berechtigten Wunsch und Anliegen der Türkei, Lasten zu teilen. Ich will daran erinnern:
In der Türkei sind im Augenblick 2,5 Millionen syrische
Flüchtlinge, und die Türkei hat 70 Millionen Einwohner.
Wir in Deutschland haben eine ungefähre Vorstellung
von dem, was das - auch für ein Land wie die Türkei bedeutet. Deshalb ist es richtig und gut, wenn wir versuchen, zwischen der Europäischen Union und der Türkei
Lasten zu teilen.
Die Türkei ihrerseits hat die Visumspflicht für Syrer
aus Jordanien und aus dem Libanon eingeführt, ebenso
im Hinblick auf Irak, Iran und Afghanistan. Meine Damen und Herren, wenn wir eine Visumspflicht für Syrer aus Jordanien und Libanon vertreten, dann bedeutet
das, dass dann auch wirklich die Lebensbedingungen
der Flüchtlinge in Jordanien und Libanon besser werden
müssen. Ich will auch hier daran erinnern: Der Libanon
hat 5 Millionen Einwohner - ich habe in London mit dem
libanesischen Ministerpräsidenten gesprochen -, und
dort sind deutlich mehr als 1 Million Flüchtlinge. Was
das für ein Land wie den Libanon bedeutet, der im Übrigen zwischen Regionalkonflikten und Regionalmächten
hin- und hergerissen ist, mag man sich vorstellen. Deshalb ist „Cash for Work“, die Schaffung von Unterbringungsmöglichkeiten und all das andere, was wir machen,
wichtig.
({16})
Wir haben in vielen Bereichen eine bilaterale Kooperation mit der Türkei vereinbart, insbesondere der
Bundesinnenminister. Es geht hier um polizeiliche Zusammenarbeit; die entsprechenden MoUs dazu sind unterschriftsreif. Es geht auch um das Technische Hilfswerk, das bereit ist, gerade jetzt an der türkisch-syrischen
Grenze zu helfen, wenn das gewünscht wird. Diese bilaterale Kooperation - das darf ich sagen - entwickelt sich
im Übrigen sehr gut.
Des Weiteren haben wir entschieden, dass wir die Situation auf der Ägäis verbessern müssen; das heißt, wir
müssen die Überwachung dort verbessern. Dazu gibt
es einen NATO-Einsatz. Warum ein NATO-Einsatz? Es
gibt die entsprechenden maritimen Einheiten. Es gibt
großen Bedarf, eine Küste, die 900 Kilometer lang ist,
systematisch zu überwachen und sozusagen Boote aufzubringen, die illegal Flüchtlinge von einer Seite auf
die andere bringen. Diese Mission kann natürlich nur in
Kooperation mit der türkischen Küstenwache erfolgen hier muss der Datenaustausch schnell gewährleistet sein,
damit die türkische Küstenwache ihre Arbeit aufnehmen
kann -, und sie muss in Kooperation mit der europäischen Grenzschutzagentur Frontex durchgeführt werden.
Die Türkei hat sich bereit erklärt, die Flüchtlinge, die im
Rahmen von Frontex, aber auch von NATO-Schiffen gerettet werden, wenn sie in Not sind, wieder in die Türkei
zu bringen.
Wir haben ein Rückübernahmeabkommen zwischen
Griechenland und der Türkei, das hinreichend schlecht
funktioniert, weil es sehr bürokratisch ausgestaltet ist.
Hier wird an einer Entbürokratisierung gearbeitet.
Meine Damen und Herren, der dritte Punkt, an dem
die Bundesregierung ansetzt, schließt nahtlos an die internationale und die europäische Ebene an. Im Übrigen
bin ich bei dem, was ich zum zweiten Punkt gesagt habe,
der Meinung, dass das, wo wir jetzt angekommen sind,
rechtfertigt, genau diesen Weg weiterzugehen.
Natürlich erwartet die Türkei andererseits, dass wir
die Beitrittsverhandlungen beleben. Im Übrigen will
ich auch sagen: In den Gesprächen, die wir mit der Türkei führen, geht es nicht nur um diese Punkte, sondern
auch um journalistische Freiheiten und um die Fragen:
Wie geht es mit den Kurden weiter? Wie kann man der
Jugend in den Regionen der Türkei, die heute stark in
Auseinandersetzungen verwickelt sind, Chancen für die
Zukunft geben? - Es ist also nicht so, dass wir nur über
einige Fragen sprechen und über andere nicht. Aber ohne
Gespräche wird es nicht gehen.
({17})
Ich glaube, es lohnt sich, diese Agenda fortzusetzen;
denn, meine Damen und Herren, wir als Europäische
Union müssen lernen, auch maritime Grenzen zu schützen. Das ist schwieriger, als Landgrenzen zu schützen.
Wenn wir das nicht lernen, wird uns das beim nächsten
Mal bei Italien, dem ja Libyen gegenüber liegt, auch
nicht gelingen. Das heißt also: Ein Kontinent, der das
nicht lernt, auch im Ausgleich und im Gespräch mit seinen Nachbarn - bei Libyen ist das zugegebenermaßen
schwer, solange es dort keine Einheitsregierung gibt;
deshalb arbeiten wir mit Hochdruck daran -, der das
nicht schafft, der nur mit Abschottung kurz hinter der
maritimen Grenze reagiert und sagt: „Wer auch immer
dort hinter dem Zaun sitzt, interessiert uns nicht“, kann
nicht die europäische Antwort sein - jedenfalls nach meiner festen Überzeugung.
({18})
National - das wissen Sie - haben wir vieles erreicht:
Die Ankommenden an der österreichisch-deutschen
Grenze werden inzwischen registriert und kontrolliert. Es
gibt einen einheitlichen Flüchtlingsausweis, der schrittweise eingeführt wird. Wir diskutieren in dieser Woche
über das Asylpaket II. Den Inhalt kennen Sie: Abbau von
Abschiebehindernissen, Beschleunigung der Verfahren.
Wir haben einen Kabinettsbeschluss für weitere sichere
Herkunftsländer gefasst, von dem ich hoffe, dass er bald
in Kraft treten kann. Und wir haben sehr schnell als Reaktion auf die Ereignisse in Köln Voraussetzungen geschaffen, dass wir schnellere Ausweisungen straffälliger
Flüchtlinge realisieren können.
({19})
Meine Damen und Herren, all das steht immer unter der
gleichen Überschrift: Die, die Schutz brauchen und suchen, sollen Schutz bekommen.
Im Übrigen will ich darauf hinweisen, dass trotz aller
kritischen Umfragen über 90 Prozent der deutschen Bevölkerung nach wie vor sagen: Wer vor Terror, Krieg und
Verfolgung flieht, soll in Deutschland die Möglichkeit
der Aufnahme und des Schutzes haben.
({20})
Ich finde das wunderbar.
Meine Damen und Herren, der Europäische Rat am
Donnerstag und Freitag hat zwei herausragende Themen: Großbritannien in der Europäischen Union und
die Flüchtlingsfrage. Wir sehen daran, dass sich die Europäische Union zurzeit gewaltigen Herausforderungen
gegenübersieht. Sie muss alles daransetzen, ihre Werte
und Interessen so zu vertreten, dass die Bürgerinnen und
Bürger in Europa sowie die Menschen außerhalb Europas den Eindruck haben, dass die Probleme erfolgreich
überwunden werden können, ohne dass Europa und im
Ergebnis alle Mitgliedstaaten der Europäischen Union
Schaden nehmen.
Mit dem Rat wird die Diskussion über beide Themen
nicht beendet sein. Er ist eine Etappe auf dem Weg, auf
dem Europa bislang nach jeder Krise stärker wurde. Ich
hoffe, dass das auch dieses Mal der Fall sein kann.
Genau das dient dann nämlich Europa und - davon bin
ich zutiefst überzeugt - dann auch dem Wohle Deutschlands, um im - ich zitiere Wolfgang Schäuble - „Rendezvous mit der Globalisierung“ wirklich bestehen zu
können. Das leitet mich. Dafür bitte ich um Ihre Unterstützung.
Herzlichen Dank.
({21})
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der
Kollegin Sahra Wagenknecht für die Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, zumindest diejenigen, die im Raum bleiben! Frau
Bundeskanzlerin, ich denke, gerade in der aktuellen
spannungsgeladenen Weltlage wäre es wichtig, ein einiges und handlungsfähiges Europa zu haben. In diesem
Sinne hielten wir auch Ihre Bemühungen um eine europäische Lösung der Flüchtlingsproblematik für richtig.
Aber wie ich gehört habe - das ist ja angesichts der ganz
breiten Koalition der Unwilligen nicht erstaunlich -, haben Sie dieses Anliegen aufgegeben.
Aber nicht nur in der Flüchtlingskrise, sondern auch in
vielen anderen Fragen ist die EU ja inzwischen geradezu zu einem Synonym für Zwietracht, Krise und Verfall
geworden. Dafür trägt auch die deutsche Regierung eine
Mitverantwortung.
({0})
Der europäische Scherbenhaufen ist zum einen der
Scherbenhaufen neoliberaler Verträge sowie undemokratischer und konzerngesteuerter Technokratie, zum anderen aber auch der Scherbenhaufen einer Arroganz, die,
wie Herr Kauder das einmal so unnachahmlich formuliert hat, ganz Europa deutsch sprechen lassen wollte. Ich
glaube, wer ernsthaft gedacht hat, Europa ließe sich von
Berlin aus regieren, der darf sich nicht wundern, wenn
ihm jetzt selbst der Wind ins Gesicht bläst.
({1})
Es gab eine Zeit, in der die große Mehrheit der Europäer mit der europäischen Einigung die Hoffnung auf
Wohlstand, Frieden und soziale Sicherheit verbunden
hat. Die heutige EU ist aber vor allem eine EU der wirtschaftlich Mächtigen und der Reichen. Wer die Schuldenbremse verletzt, der bekommt blaue Briefe aus Brüssel.
Eine Armutsbremse oder eine Obergrenze für Jugendarbeitslosigkeit, die zum Handeln verpflichten würde, gibt
es aber nicht. Im Gegenteil: Wenn eine Regierung, wie
die portugiesische oder im letzten Jahr die griechische,
auch nur ein bisschen etwas daran ändern will, dass in
ihrem Land so viele Menschen in Armut leben, dann gibt
es eine harsche Intervention aus Brüssel. Einige andere Länder hingegen, die alles daransetzen, Konzernen
lukrative Steuersparmodelle anzubieten, die woanders
die Steuereinnahmen wegschmelzen lassen, werden mit
politischen Spitzenposten für ihr Personal auf Brüsseler
Ebene geadelt.
Fast ein Viertel aller EU-Bürger lebt inzwischen in Armut, während sich die Zahl der europäischen Milliardäre
seit Beginn der Krise mehr als verdoppelt hat. Ich muss
Sie fragen: Da wundern Sie sich, dass sich immer mehr
Menschen von einem solchen Europa abwenden,
({2})
dass das Gefühl um sich greift, sie könnten wählen, wen
sie wollen, und am Ende kommt in diesem Europa doch
immer nur die gleiche neoliberale Politik heraus? Da
wundern Sie sich, dass unter solchen Bedingungen nationalistische Parteien immer mehr Zulauf haben? Wir
finden das erschreckend, aber erstaunlich finden wir das
nicht.
({3})
Auch die Briten, die gegen die EU sind - das zeigen
ja Umfragen -, machen sich vor allem Sorgen um die sozialen Folgen von Zuwanderung, um Lohndumping und
um Wohnungsmangel. Deswegen ist es völlig absurd,
dass Herr Cameron als Voraussetzung für den Verbleib
Großbritanniens jetzt ausgerechnet weiteren Sozialabbau
und Narrenfreiheit für den Finanzplatz London verlangt.
Noch absurder wäre es, solchen Forderungen nachzugeben. So etwas stabilisiert die EU nicht, sondern zerlegt
sie nur immer weiter.
({4})
Da man inzwischen schon Referenden machen muss,
um in der EU etwas zu erreichen, frage ich mich: Warum werden eigentlich nicht alle Menschen in der EU gefragt? Warum fragen Sie die Bevölkerung in Deutschland
nicht, was sie von den neoliberalen Verträgen hält?
({5})
Es spricht einiges dafür, dass auch bei uns immer weniger in einer marktkonformen Demokratie leben möchten,
in der Arbeitnehmer gegeneinander ausgespielt werden
und die soziale Ungleichheit immer größer wird.
Ein demokratiekonformes Europa, das den Sozialstaat
nicht abbaut, sondern absichert, wäre ein Projekt, das die
Menschen wieder für die europäische Idee begeistern
könnte.
({6})
Wenn Sie nicht wollen, dass Europa völlig in Nationalismus zerfällt, dann ändern Sie Ihre Politik und schaffen
Sie ein soziales und demokratisches Europa. Das ist die
einzige Chance dafür, dass dieses Europa überlebt. Sonst
gibt es doch keine.
({7})
Gerade auch außenpolitisch brauchen wir Handlungsfähigkeit. Frau Merkel, Sie seien erschrocken und
entsetzt über das menschliche Leid, das durch die Bombenangriffe entstanden ist. Das haben Sie angesichts der
russischen Luftangriffe auf Aleppo gesagt.
({8})
Ich stimme Ihnen zu: Was sich in und um Aleppo abspielt, ist brutal und barbarisch.
({9})
Die Luftangriffe, die Kämpfe und das Blutvergießen
müssen endlich gestoppt werden - ganz klar und so
schnell wie möglich.
({10})
Wir finden es aber schon erstaunlich, dass sich Ihr Entsetzen über die Gräuel und die Barbarei von Kriegen nur
dann Bahn bricht, wenn russische Maschinen ihre Bomben abwerfen.
({11})
Glauben Sie wirklich, dass das Sterben unter amerikanischen, britischen oder französischen Bomben mit Unterstützung deutscher Tornados weniger leidvoll ist?
({12})
Mindestens 1,3 Millionen Menschenleben - überwiegend Zivilisten - haben die sogenannten Antiterrorkriege
des Westens, die in Wahrheit immer Kriege um Rohstoffe
und Absatzmärkte waren, allein in den letzten anderthalb
Jahrzehnten ausgelöscht; Kriege, an denen Deutschland
indirekt oder direkt immer beteiligt war; Kriege, mit denen deutsche Waffenschmieden glänzende Geschäfte gemacht haben. 1,3 Millionen Tote, ungezählte Millionen
Verletzte und aus ihrer Heimat Vertriebene. Ich frage Sie,
Frau Merkel: Wo war da Ihr Entsetzen? Vor allen Dingen:
Wo sind die Konsequenzen, die Sie daraus ziehen?
({13})
Auch wir wissen, dass es in der Außenpolitik unvermeidlich ist, auch mit unangenehmen Regimen zu reden.
Aber es gibt doch einen Unterschied zwischen Reden
und Hofieren. Sie haben gerade wieder über die Bekämpfung von Fluchtursachen gesprochen. Sie haben über die
Gefahren des Terrorismus gesprochen. Und da wählen
Sie als Ihren bevorzugten Partner zur Lösung der Flüchtlingskrise ausgerechnet den Terrorpaten Erdogan,
({14})
der mit seiner blutigen Politik gegen die Kurden im eigenen Land und mit seiner Unterstützung von islamistischen Terrorbanden in Syrien geradezu eine personifizierte Fluchtursache ist. Das ist doch völlig irrational.
({15})
Die Verwandlung der Türkei in ein Flüchtlingsgefängnis
unter Oberaufseher Erdogan, der Europa grenzenlos erpressen kann, weil er den Schlüssel zu diesem Gefängnis
immer in der Tasche behält,
({16})
das ist doch keine Lösung, sondern eine moralische
Bank rotterklärung.
({17})
Inzwischen bombardiert die Türkei rücksichtslos auch
syrische Kurden, die zu den entschlossensten Kämpfern
gegen den „Islamischen Staat“ gehören. Der Chef der
Münchner Sicherheitskonferenz, Wolfgang Ischinger weiß Gott kein Freund der Linken -, spricht von der „gefährlichsten Weltlage seit dem Ende des Kalten Krieges“
und warnt vor der Gefahr eines nuklearen Konflikts. Und
Sie üben den türkisch-deutschen Schulterschluss. Wollen Sie sich allen Ernstes von diesem unberechenbaren
Erdogan in einen Krieg mit Russland hineinziehen lassen, nur weil er offenbar der Überzeugung ist, dass die
Al-Nusra-Front und andere islamistische Terroristen in
Syrien Unterstützung brauchen? Das ist doch eine völlig
absurde Politik. Das kann man doch nicht verantworten.
({18})
Nicht viel besser steht es um Ihren zweiten Verbündeten, die saudische Kopf-ab-Diktatur, bei der Herr
Steinmeier auf Festivals auftritt und für die Herr Gabriel
unverdrossen Waffenexporte genehmigt,
({19})
obwohl die Saudis Menschenrechte mit Füßen treten,
({20})
obwohl sie im Jemen einen Krieg angezettelt haben
und in Syrien ebenfalls islamistische Verbrecherbanden
hochrüsten und finanzieren.
({21})
Wer in Syrien wirklich einen Waffenstillstand will, der
muss doch endlich sämtliche Terrorbanden von der Zufuhr mit Waffen abschneiden.
({22})
Länder, die diese Terroristen unterstützen, die gehören
nicht umworben und hofiert, sondern die gehören unter
Druck gesetzt.
({23})
Das Erste, was Sie machen müssen, wenn Sie die
Flüchtlingszahlen wirklich reduzieren wollen, ist: Hören
Sie endlich auf - dazu fordern wir Sie auf -, weiter Waffen in diese Krisenregion zu liefern! Es gibt in Syrien
inzwischen unübersichtlich viele Kriegsparteien. Aber es
gibt so gut wie keine einzige Partei, die nicht mit deutschen Waffen kämpft. Selbst der IS tut das inzwischen.
Das ist doch eine Schande.
({24})
Sie haben es angesprochen: Natürlich muss auch die
Situation in den Flüchtlingscamps dringend verbessert
werden. Wir hoffen sehr, dass die Zusagen, die gemacht
wurden, tatsächlich eingehalten werden.
Noch eine Bitte, Frau Merkel: Werben Sie auf dem
morgigen EU-Gipfel für eine an europäischen Interessen
ausgerichtete Außenpolitik. Es gehört zu den europäischen Interessen, mit Russland wieder ein gutes Verhältnis zu haben statt eine immer weiter eskalierende Konfrontation. All das wären realistische Schritte zur Lösung
der Probleme.
({25})
Voraussetzung dafür aber wäre natürlich, dass diese
Regierung überhaupt wieder handlungsfähig wird, statt
den Hauptteil ihrer Kraft und ihrer Zeit mit internem
Gezänk und internen Wadenbeißereien zu vergeuden.
81 Prozent der Menschen haben inzwischen das Gefühl,
dass diese Regierung die Probleme nicht mehr im Griff
hat. Selbst eine Ihnen freundlich gesonnene Zeitung wie
Die Welt konstatiert, dass die Bundesregierung in Europa
noch nie so isoliert war wie gegenwärtig.
Deswegen gilt - damit komme ich zum Schluss -:
({26})
Sie können eben nicht beides haben: eine neoliberale Politik der sozialen Kälte in Europa und ein solidarisches
Miteinander. Das geht nicht zusammen. Der Neoliberalismus zerstört anteilnehmendes und mitfühlendes Handeln.
({27})
Wenn Sie solidarische Lösungen wollen, dann ändern Sie die grundsätzliche Ausrichtung Ihrer Politik.
Nur dann hat Europa vielleicht irgendwann wieder eine
Chance.
({28})
Das Wort erhält nun Thomas Oppermann für die
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir erleben in diesen Monaten die wohl schwierigste Phase der
Europäischen Union. Da finde ich es ausgesprochen erfreulich, dass jedenfalls bei den Bleibeverhandlungen
mit Großbritannien der Wunsch nach Zusammenhalt
im Vordergrund steht. Wie es scheint, gibt es eine realistische Möglichkeit, sich mit Großbritannien zu verständigen, und bei allen grundsätzlichen Vorbehalten
gegenüber Sonderrechten finde ich: Diese Chance muss
genutzt werden. Wir können uns eine Europäische Union
ohne Großbritannien nicht vorstellen, meine Damen und
Herren.
({0})
Großbritannien ist nicht nur die zweitstärkste Volkswirtschaft in Europa; sie ist auch G-7-Mitglied und Vetomacht im UN-Sicherheitsrat. Es würde die EU nicht nur
innenpolitisch schwächen, sondern es würde vor allem
ihre außenpolitische Bedeutung herabsetzen und damit
unsere Möglichkeiten, in dieser Welt gemeinsam unsere
Interessen zu vertreten und unsere Werte zu verteidigen.
Deshalb lohnt sich die politische Anstrengung, mit Großbritannien einen Kompromiss zu erzielen, der Europa
festigt.
Ein Kompromiss kann aber nicht zur Folge haben,
dass sich die EU innerlich desintegriert. Wir werden keine Einigung akzeptieren, die einzelnen Mitgliedsländern
ein Veto gegen weitere Integrationsschritte gibt. Es kann
nicht sein, dass Nicht-Euro-Staaten die Integration der
Euro-Zone blockieren dürfen.
({1})
Gegenseitige Rücksichtnahme: Ja. Aber die Reformfähigkeit der Euro-Zone muss in jedem Fall erhalten bleiben.
({2})
Das von der Kanzlerin angesprochene Ziel der immer
engeren Union der europäischen Völker darf nicht so
aufgeweicht werden, dass auch die gutwilligen Staaten
daran gehindert werden, es zu verfolgen.
Und schließlich ist es legitim, die Wanderung in Sozialsysteme anderer EU-Staaten zu begrenzen. Wir wollen
die Arbeitnehmerfreizügigkeit als eine Grundsäule der
europäischen Freiheiten unbedingt erhalten. Aber damit
ist nicht gemeint, dass EU-Bürger frei wählen dürfen,
von welchem Sozialsystem sie ihre Leistungen beziehen
oder unterstützt werden möchten. Wenn alle Hilfesuchenden sich dort hinbegeben, wo es die höchsten Sozialhilfesätze gibt, und alle Unternehmen dort hingehen,
wo die niedrigsten Steuersätze gelten, dann kann Europa
nicht funktionieren. Jedenfalls haben wir dann in Europa
keine funktionierenden Sozialstaaten mehr.
({3})
Ich bin insgesamt zuversichtlich, dass wir eine Lösung
finden, die Großbritannien mittragen kann. Ich wünsche
Ihnen, Frau Bundeskanzlerin, dafür bei den Verhandlungen in den nächsten beiden Tagen eine gute Hand.
({4})
Meine Damen und Herren, 2015 sind 1,1 Millionen
Flüchtlinge nach Deutschland gekommen. Das sind so
viele wie in den 15 Jahren davor zusammen. Dahinter
steckt zuallererst eine großartige Leistung. Die Menschen in diesem Land, die vielen ehrenamtlichen Helferinnen und Helfer und die Beschäftigten im öffentlichen
Dienst haben unseren großen Respekt verdient. Auch
wenn es an vielen Stellen knirscht: Das, was bei der Aufnahme von Flüchtlingen geleistet wurde, ist und bleibt
außergewöhnlich.
({5})
Zugleich ist völlig klar: In dieser Geschwindigkeit
kann der Zuzug nicht weitergehen. Wir müssen die Zahl
der Flüchtlinge, die nach Deutschland kommen, deutlich
reduzieren, und zwar nicht um irgendwelcher Rechtspopulisten willen, sondern deshalb, weil inzwischen sogar
diejenigen, die den Flüchtlingen wohlgesonnen sind, sagen: Unsere Fähigkeit, Flüchtlinge aufzunehmen, ist begrenzt. Wir brauchen Zeit, um durchzuatmen. Wir brauchen auch Zeit, um die Voraussetzungen für Integration
zu schaffen. - Das wird nicht gelingen, wenn jeden Tag
weiterhin 3 000 oder mehr Flüchtlinge nach Deutschland
kommen.
Für diese Herausforderungen wird unsere Regierung
in diesem Jahr die geballte Kraft brauchen. Deshalb erwarte ich, dass alle in der Koalition an einem gemeinsamen Strang ziehen.
({6})
Ich finde, dass das Konzept der Regierung, wie es die
Kanzlerin vorgestellt hat, noch immer richtig ist:
Wir wollen erstens die Fluchtursachen bekämpfen und
die Lage der Flüchtlinge in der Krisenregion verbessern.
Wir haben auf internationalen Konferenzen den Erfolg
erzielt, dass nun 10 Milliarden Euro zur Verfügung stehen, um die Flüchtlinge im Nahen Osten besser zu versorgen. Das ist ein großer Schritt. Das kann noch nicht
das letzte Wort sein. Aber damit können wir etwas erreichen.
Wir wollen zweitens die Außengrenzen der Europäischen Union mithilfe von Frontex, aber auch mithilfe der
Türkei sichern und damit den Flüchtlingen einen legalen
Fluchtweg schaffen. Wir wollen drittens durch Kontingente den bisher von kriminellen Schleusern gesteuerten
Fluchtprozess unterbinden, den Menschen eine Möglichkeit eröffnen, legal und sicher nach Europa zu kommen,
und gleichzeitig die Zahl der Flüchtlinge reduzieren.
Ich halte das nach wie vor für die beste Lösung, um
die Flüchtlingsströme zu begrenzen, zuallererst aus
menschlicher Sicht; denn nur mit Kontingenten können
wir ganzen Familien eine sichere und legale Zuflucht ermöglichen. Auch aus europäischer Sicht ist das nach wie
vor der bessere Weg, weil das die einzige Möglichkeit
ist, die Renationalisierung der europäischen Binnengrenzen zu verhindern, die Freizügigkeit zu erhalten und die
Destabilisierung unserer südöstlichen Nachbarn und der
Balkanländer zu vermeiden.
Zur Wahrheit gehört aber auch: Die Koalition der Willigen ist zurzeit nicht groß. Einige wichtige Länder sind
nicht dabei. Aber das darf nicht dazu führen, dass sich jeder mit einseitigen Maßnahmen in Alternativen flüchtet,
nach dem Motto: Rette sich, wer kann! - Durch nationale
Alleingänge wird nichts, aber auch gar nichts in Europa
besser.
({7})
Frau Bundeskanzlerin, Sie haben eben deutlich gemacht, dass Sie genau mit dieser Botschaft nach Brüssel
fahren werden. Nach Lage der Dinge können wir in dieser Woche nur kleine Fortschritte erreichen. Aber es gibt
ein Mindestprogramm, das morgen vereinbart werden
muss: erstens eine schnelle Einsatzfähigkeit des europäischen Grenz- und Küstenschutzes und zweitens eine klare Zusage zum Hilfsfonds für die Türkei über 3 Milliarden Euro. Dazu muss mittelfristig auch ein zweistelliger
Milliardenbetrag aus dem EU-Haushalt zur Bekämpfung
der Fluchtursachen gehören. Ich finde, mit diesen Punkten kommt die klare Erwartung an die Mitgliedsländer
zum Ausdruck: Wenn wir das nicht schaffen, wird es sehr
schwierig.
Dass wir zur Lösung der Flüchtlingskrise mit der Türkei verhandeln müssen, ist natürlich keine einfache Situation. Die Türkei hat in den letzten Jahren immer wieder
demokratische Prinzipien wie die Gewaltenteilung, die
Unabhängigkeit der Justiz, den Rechtsstaat oder die Pressefreiheit ausgehöhlt. Ihr Vorgehen gegen die Kurden im
letzten Jahr war verheerend für den Aussöhnungsprozess
und vor allen Dingen für die vielen Menschen, die darunter gelitten haben. Ich habe deshalb durchaus Verständnis
für die Sorge, dass wir uns in eine zu große Abhängigkeit
von einem Land begeben, das unsere Werte und Normen
nicht ausreichend teilt. Aber die Türkei hat in den letzten
Monaten auch in einem Maße Flüchtlinge aufgenommen,
dem jeder in Europa - auch wir in Deutschland - Respekt
zollen muss.
Es erscheint geradezu paradox: Die Türkei gewährt in
vorbildlicher Weise 2,5 Millionen Irakern und Syrern Zuflucht, und gleichzeitig treibt sie kurdische Landsleute in
die Flucht. Die Situation in Aleppo zeigt uns doch, dass
auch die Türkei gerade jetzt auf unsere Hilfe angewiesen
ist. Was die Menschen im Augenblick in Aleppo erleben,
das ist eine furchtbare menschliche Tragödie. Die Bombenangriffe von Putin und Assad müssen sofort eingestellt werden, meine Damen und Herren.
({8})
Frau Merkel hat die in München vereinbarte Feuerpause erwähnt, die schwer umzusetzen ist. Ich bin
ebenfalls Außenminister Steinmeier dankbar dafür, dass
er auch verhandelt hat, dass die eingeschlossenen Menschen mit Lebensmitteln und Medikamenten versorgt
werden können.
({9})
Die größte Angst der Menschen in Syrien ist doch, dass
sie aufgrund der Angriffe monatelang eingeschlossen
und von Versorgung abgetrennt sind, sodass sie einen
elendigen Hungertod sterben müssen. Das treibt jetzt natürlich wieder Zehntausende in die Flucht. Ich hoffe, dass
es zusammen mit den Vereinten Nationen gelingt, die
Menschen in den eingeschlossenen Gebieten versorgen
zu können. Wir müssen an alle Kriegsparteien in Syrien appellieren, dass sie das auch zulassen, meine Damen
und Herren.
({10})
In dieser Situation können wir doch nicht von der Türkei verlangen, dass sie die Flüchtlinge von Aleppo auf
der einen Seite reinlässt, sie aber auf der anderen - der
europäischen - Seite nicht mehr rauslässt. Ein Kontinent
mit 500 Millionen Einwohnern kann nicht ein Land wie
die Türkei mit 70 Millionen Einwohnern darum bitten, an
seiner Stelle die humanitäre Flüchtlingskrise allein zu lösen. Ein solcher Vorschlag disqualifiziert sich von selbst.
({11})
Deshalb: Die Zusammenarbeit mit der Türkei steht
und fällt mit der Frage, ob wir bereit sind, ihr einen Teil
der Flüchtlinge abzunehmen. Wir sagen ganz klar: Wir
sind bereit. - Ob das funktioniert, hängt am Ende davon
ab, ob Sie, Frau Bundeskanzlerin, beim EU-Gipfel oder
auch danach genügend aufnahmebereite Länder finden,
die sich an den Kontingenten beteiligen.
Meine Damen und Herren, ich möchte noch etwas
zu einem Vorwurf sagen, der in diesen Tagen viele Bürgerinnen und Bürger umtreibt. Es steht der Vorwurf im
Raum, die Bundeskanzlerin habe mit ihrer Entscheidung, die Flüchtlinge aus Ungarn bei uns aufzunehmen,
geltendes Recht gebrochen, und sie tue es noch immer,
weil viele Flüchtlinge aus sicheren Drittstaaten nicht zurückgewiesen werden. Richtig ist, dass sich nach Artikel 16 a Absatz 2 des Grundgesetzes niemand auf das
Asylrecht berufen kann, der aus einem Mitgliedstaat der
Europäischen Gemeinschaft einreist. Aber nach europäischem Recht besitzt die Bundesrepublik Deutschland ein
Selbsteintrittsrecht. Sie kann jederzeit ein Asylverfahren
an sich ziehen, auch dann, wenn dafür nach den Dublin-III-Regeln ein anderer europäischer Staat zuständig
wäre.
Von diesem Selbsteintrittsrecht hat die Bundeskanzlerin mit ihrer Richtlinienkompetenz im letzten September Gebrauch gemacht. Aufgrund dessen sehen wir aus
humanitären und politischen Gründen vorübergehend
davon ab, Flüchtlinge in sichere Drittstaaten zurückzuschicken oder schon an der Grenze zurückzuweisen. Das
ist eine politische Ermessensentscheidung. Diese kann
man zwar kritisieren, aber die Rechtslage ist eindeutig.
Deutschland darf nach geltendem Recht Flüchtlinge aufnehmen, registrieren und versorgen.
({12})
- Augenblick. - Deshalb ist es für mich absolut unverständlich, wenn einige den Eindruck erwecken, die Bundesrepublik würde geltendes Recht brechen, oder - noch
schlimmer - die Bundesrepublik sei ein Unrechtsstaat,
in dem sich gleichsam eine Herrschaft des Unrechts ausbreite. Ich finde, das ist starker Tobak.
({13})
Historisch betrachtet ist es grober Unfug, die Bundesrepublik als einen Unrechtsstaat einzuordnen.
({14})
Aber vor allem ist es für die Bürgerinnen und Bürger eine
große Verunsicherung, wenn jetzt auch demokratisch gewählte Ministerpräsidenten den gleichen Unsinn erzählen wie Politiker von der AfD.
({15})
Viele Menschen in Deutschland liebäugeln damit, bei
den kommenden Landtagswahlen die AfD zu wählen,
weil wir bei der Flüchtlingskrise nicht schnell genug vorankommen. Ich möchte alle, die so denken, darum bitten:
Schauen Sie sich vorher genau an, wen Sie da wählen.
Inhaltlich ist die AfD eine rückwärtsgewandte Partei.
({16})
Sie polemisiert gegen den Mindestlohn, sie ist gegen die
Inklusion von Menschen mit Behinderungen, sie zweifelt den Klimawandel an, sie stellt die allgemeine Schulpflicht infrage, und sie will in Thüringen die Homosexuellen zählen lassen. Aber entscheidend ist am Ende: Die
AfD entwickelt sich immer mehr zu einer rechtsextremen
Partei. Sie vergleicht Flüchtlinge mit Barbaren, sie argumentiert rassistisch, sie relativiert den Nationalsozialismus, und sie schafft es nicht, die rechtsradikalen Mitglieder aus der Partei zu werfen.
({17})
Frau Petry hat jetzt den Schießbefehl an der Grenze ins
Gespräch gebracht. Diese Partei ist dabei, sich unaufhaltsam zu radikalisieren, diese Partei ist keine Alternative
für Deutschland, sondern eine Schande für Deutschland.
({18})
Diese Partei will Deutschland spalten. Lassen Sie uns
uns dem mit aller Kraft entgegenstellen! Lassen Sie uns,
so weit es geht, dabei zusammenarbeiten!
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({19})
Katrin Göring-Eckardt ist die nächste Rednerin für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Syrien, Flüchtlinge, Griechenland, Ukraine, neuer Rechtspopulismus, Kalter Krieg 2.0, Gefahr des Brexit - Europa ist in der kritischsten Phase seit seiner Gründung.
Frau Bundeskanzlerin, ich glaube, anders als andere
in Ihrer Regierung haben Sie die Probleme erkannt. Ich
glaube sogar, dass Sie persönlich die Kraft haben, sie
anzugehen, aber Ihre Regierung als Ganzes, Frau Bundeskanzlerin, hat sie leider nicht. Ihre Ministerriege ist
furchtbar mutlos - in einer Zeit, in der Entschlossenheit verlangt ist. Die drei Koalitionspartner streiten. Die
Deutschen verlieren Zutrauen und Zuversicht.
Im Sommer letzten Jahres konnten Sie Ihren Finanzminister gerade noch abhalten, den Grexit mit der Brechstange zu erzwingen. Heute herrscht weiter Chaos. Der
Innenminister bekommt die Asylverfahren auch nach
einem Jahr nicht in den Griff. Dem Vizekanzler muss
man dreimal sagen, dass er die Trennung von Familien
mitbeschlossen hat. Der Justizminister feiert es dann als
Sieg der Humanität, dass er einen Kompromiss verhandelt hat, auf den man sich vorher schon verständigt hatte.
Meine Damen und Herren, die Trennung von Familien ist
einfach nur kalt und herzlos, und sie ist auch eine Gefahr
für unser Land.
({0})
Glauben Sie eigentlich, irgendwer von Ihnen würde in
Ruhe eine Fremdsprache lernen, wenn sein Kind, wenn
seine Frau, wenn sein Enkelkind immer noch in einem
Kriegsgebiet wäre? Das würden Sie genauso wenig wie
ich in Ruhe machen können.
({1})
Die traurige Wahrheit ist: Seit dem 1. Januar 2016, also
in den letzten 48 Tagen, sind im Mittelmeer 403 Menschen ums Leben gekommen. Derzeit kommen übrigens
vor allem Kinder zu uns, und im Familienministerium
liest man nicht einmal die Gesetzentwürfe, oder man versteht sie nicht. Mich beschämt das.
({2})
Es geht weiter: Frau Hendricks äußert öffentlich Geldforderungen zum Wohnungsbau, als ob sie der Regierung
gar nicht angehören würde. Ja, bitte schön, verhandeln
Sie das doch, und setzen Sie das doch durch!
({3})
Dann kommt auch noch Horst Seehofer: „Herrschaft
des Unrechts“, „Obergrenzen“, Kuscheln mit Putin. Herr
Seehofer, Sie spielen mit dem Feuer; aber stark werden
Sie damit nicht und auch Deutschland nicht, das schon
gar nicht. Stark werden die Rechten, und stark werden
die Hetzer. Hören Sie damit auf, und zwar unverzüglich.
({4})
Was glauben Sie eigentlich, Herr Seehofer, wenn Sie
von „Herrschaft des Unrechts“ oder von „Unrechtsstaat“
reden, was ein Polizist denkt, der bei Ihnen an der bayerischen Grenze steht - tagaus, tagein - und dort für
Ordnung sorgt? Was denken Sie, wenn Sie ihm gegenüber sagen: „Hier gibt es eine Herrschaft des Unrechts“?
Polizisten wie er haben mittlerweile zwischen 600 und
1 000 Überstunden angesammelt. Mit Blick auf diese
Menschen können Sie doch nicht von „Herrschaft des
Unrechts“ reden, Herr Seehofer.
({5})
Wenn Sie wissen wollen, was ein Unrechtsstaat ist,
dann hätten Sie einmal mit der Opposition in Russland
reden sollen oder, besser gesagt, mit denjenigen davon,
die noch leben.
({6})
Oder Sie könnten hinschauen, was sonst noch passiert:
die Gründung von Russia Today Deutsch, die gezielte
Anstachelung der Russlanddeutschen, die Finanzierung
der Trollfabriken für soziale Medien und dann Bomben
auf Aleppo, das Reden von Kaltem Krieg durch den russischen Ministerpräsidenten auf der Sicherheitskonferenz in München. All das hätten Sie sich anschauen können, Herr Seehofer, und dann hätten Sie anders handeln
müssen, nicht als Nebenaußenminister, der alles nur noch
viel schlimmer macht, als es sowieso schon ist.
({7})
Meine Damen und Herren von der Koalition, Sie haben eine sehr große rechnerische Mehrheit in diesem
Haus, und Sie sind von Zoff und Kleingeist geprägt, und
das in national und international schwierigsten Zeiten.
Jetzt muss es darum gehen, Krisen zu managen, Verantwortung zu übernehmen, sich zu konzentrieren.
Doch was passiert? Frau Merkel, leider haben Sie Ihren Laden nicht im Griff, und Herr Gabriel macht dabei
noch mit: jeden Tag ein neuer Vorschlag, jeden Tag ein
neuer Streit, jeden Tag neue Verunsicherung, und zwar
bei allen: bei denen, die Angst haben, aus welchen Gründen auch immer, bei denen, die helfen, die alles managen, die ehrenamtlich oder in den Verwaltungen dieses
Landes tätig sind, die alles organisieren sollen, und natürlich auch bei den Geflüchteten.
Hier wird in Punktepapieren regiert. „Plan A 2“ heißt
es in diesen Wochen bei der CDU, „Agenda 2020“ schallt
es bei der SPD. Die Asylpakete werden nummeriert, weil
man sonst den Überblick verliert. Meine Damen und
Herren, diese Pakete haben noch nicht einmal das erreicht, was Sie wollten, nämlich dass Zahlen reduziert
werden. Noch weniger erreichen sie das, was eigentlich
so dringend notwendig wäre, nämlich die Integration.
Um die muss es doch hier jetzt gehen
({8})
und nicht um weitere Punktepapiere, durch die die Situation verschärft wird.
Herr Oppermann, so richtig ich Ihre Bemerkungen
zur rechtlichen Situation fand und so richtig ich übrigens
Ihre Bemerkungen zur AfD fand: Ich hätte schon gerne
gewusst, ob die Äußerungen der Kanzlerin am 4. September 2015 nur Ausdruck ihrer Richtlinienkompetenz
waren oder ob sie eine gemeinsame Entscheidung der
Regierung ausdrückten, zu der Sie auch stehen. Ich würde gerne wissen, ob Sie das richtig finden.
({9})
Ja, ich verlange keine sofortige Lösung für alle Probleme, auch nicht für die in der EU. Auf der Tagesordnung des Rates steht der Brexit. Ich kann nur hoffen, dass
dieses im Augenblick so schwache Europa noch gerade
so viel Ausstrahlung hat, so viel Verhandlungsbereitschaft und auch so viel europäische Klarheit, dass das gut
geht. Das Ergebnis müssen Sie nicht sofort erreichen. In
Europa müssen dicke Bretter gebohrt werden. Das kann
lange dauern. Aber klar ist auch: Manches der heutigen
Missstimmung hat seine Ursache eben auch in der Vergangenheit.
Herr Friedrich, Ihr früherer Innenminister, hat im
Jahr 2011 die Unterbringung der Lampedusa-Flüchtlinge noch als nationales Problem Italiens bezeichnet. Man
Katrin GöringEckardt
sieht sich, meine Damen und Herren, eben immer zweimal in der Europäischen Union.
({10})
Wir erleben jetzt die Retourkutsche dafür, dass wir das
damals nicht ernst genommen haben.
2011, meine Damen und Herren, begann der Syrien-Krieg. Jahre und Monate um Monate haben wir ignoriert, dass dort etwas getan werden muss.
({11})
Das ist die Fluchtursache, die wir selbst mit zu verantworten haben.
Es sind nicht die hohen Schulden, die Europa zerstören, und es ist auch nicht die humanitäre Herausforderung, den Bürgerkriegsflüchtlingen Schutz zu bieten übrigens: 80 Prozent der europäischen Bevölkerung sind
für eine solidarische Verteilung der Flüchtlinge innerhalb
Europas -; es ist der gigantische Vertrauensverlust, um
den es in allererster Linie geht. Genau darum muss es uns
gehen: dieses Vertrauen wiederherzustellen - in unserem
Land und auch in Europa.
({12})
Seien wir ehrlich: Unter all den Voraussetzungen, über
die hier geredet worden ist, gerade auch angesichts des
Bombardements in Aleppo, ist es schwer vorherzusagen,
wie viele Menschen noch nach Europa kommen werden.
Wir können das ehrlicherweise nicht sagen. Die globalen
Krisen erreichen uns. Es wird weiter schwierig sein. Wir
sind inzwischen in einem - so muss man das vielleicht
nennen - geordneten Notfallmodus.
Meine Damen und Herren, Europa ist in Gefahr und
damit auch die Stärke unserer auf Ausgleich gerichteten
Debatte und die politische Kultur. Auch hierzulande erstarkt der Rechtspopulismus. Unverhohlen fordert die
AfD - Frau Petry, Frau von Storch, Herr Höcke - den
Schießbefehl. Das setzt das Recht außer Kraft. Das setzt
die Menschlichkeit außer Kraft. Das setzt alles außer
Kraft, was unsere Demokratie ausmacht. Jedem, der die
AfD wählt, rufe ich zu: Sie wählen Spaltung und Gefahr.
Lassen Sie das! Kämpfen Sie mit uns für Zusammenhalt
und für die Demokratie in diesem Land!
({13})
Frau Göring-Eckardt, Sie achten bitte auf die Zeit.
Es gibt keine Union à la carte - nicht für Griechenland, nicht für uns, auch nicht für Großbritannien. Ich
hoffe sehr, dass dieses Europa zusammenbleibt und zeigt:
Nur gemeinsam kann man stark sein. - Ja, dazu braucht
es Menschen, die sagen: Wir schaffen das. - Es braucht
aber vor allem eine Regierung in diesem Land, die das
gemeinsam hinbekommen will und nicht in Klein-Klein,
in Hickhack und in Streit verfällt.
Vielen Dank.
({0})
Für die CDU/CSU-Fraktion hat Volker Kauder nun
das Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Das Jahr 2016 wird zu einem Schicksalsjahr für Europa
und damit auch zu einem Schicksalsjahr für unser Land.
Im Jahr 2016 entscheidet sich wie noch in keinem anderen Jahr zuvor, ob die Europäische Union in Zukunft
in der Lage ist, große Herausforderungen zu bewältigen,
oder ob sie sich im Klein-Klein von Bürokratie erschöpft.
Das Jahr 2016 wird durch die Entscheidung, die in
Großbritannien auf der Tagesordnung steht, zu einem
Schicksalsjahr. Von der Bundeskanzlerin, aber auch von
anderen Vorrednern ist etwas zu dem Satz deutlich gemacht worden, den man in den Wahlkreisen, bei Veranstaltungen immer wieder hören kann: Na und? Wenn die
Briten nur noch Extrawürste wollen, dann sollen sie eben
gehen. - Man kann sich natürlich bei mancher Forderung, die aus Großbritannien kommt, fragen: Muss das
wirklich sein? - Aber darüber wird ja nun bei diesem
Gipfel gesprochen. Eines ist klar - dazu braucht man
kein Hellseher oder Prophet zu sein -: Wenn Großbritannien sich entschließen würde, die EU zu verlassen, sähe
diese EU ganz anders aus und auf jeden Fall nicht stärker,
liebe Kolleginnen und Kollegen.
({0})
Deswegen ist es nun die nicht ganz leichte Aufgabe,
aus den Forderungen, die aus Großbritannien kommen,
und den Vorschlägen, die von der Kommission gemacht
werden, das Paket herauszukristallisieren, das - auch in
unserem Land - akzeptiert werden kann und das auch
Großbritannien dazu veranlassen kann, dabeizubleiben.
Ich glaube, dass man in den Grundfragen, die jetzt
gestellt werden, durchaus zu Kompromissen kommen
kann. Aber ob die Menschen in Großbritannien sich im
Herbst für den Verbleib in Europa aussprechen,
({1})
hängt, glaube ich, nicht in erster Linie davon ab, was jetzt
miteinander vereinbart wird, sondern es hängt davon ab,
was für einen Eindruck die EU zum Zeitpunkt der Entscheidung der Menschen in Großbritannien macht.
({2})
Katrin GöringEckardt
Deshalb ist das, was in der nächsten Zeit - am zweiten
Tag in Brüssel, aber auch in den Tagen danach - in Europa passiert, von entscheidender Bedeutung.
Kollege Oppermann hat zu Recht darauf hingewiesen:
Wenn immer mehr der Eindruck entsteht, dass in schwierigen Fragen der Nationalstaat die besseren Lösungen
hat, dann wird man die Menschen in Großbritannien weniger davon überzeugen können, dass man gemeinsam
Lösungen suchen muss. Ich kann nur sagen: Wir haben
doch aus unserer Geschichte gelernt, dass die großen
Aufgaben, die großen Herausforderungen, die in der
Vergangenheit zu großen Kriegen geführt haben, eben
gerade nicht von den Nationalstaaten gemeistert werden
können, sondern dass dafür die Zusammenarbeit in der
EU notwendig ist. Dass wir 70 Jahre ohne Krieg in Europa leben, verdanken wir nicht den Nationalstaaten in
Europa, sondern der Gemeinschaft der Europäer.
({3})
Deswegen wird es ganz entscheidend darauf ankommen, dass in Europa klar wird, dass die größte Herausforderung, die wir haben - ich sage: die größte nach dem
Zweiten Weltkrieg -, die Flüchtlingsbewegungen sind.
Da möchte ich schon klarstellen: Es geht in erster Linie
darum, dass eine gemeinsame Aufgabe, die wir in Europa vereinbart haben, jetzt auch gemeinsam durchgeführt
wird, nämlich der Schutz der Außengrenzen. Es hat niemand behauptet, dass wir keine Grenzen schützen und
sichern wollen. Unsinn, wenn das gesagt wird! Vielmehr
ist immer gesagt worden: Wir wollen dieses Europa, wie
es in den letzten Jahren gewachsen ist, dieses Europa der
Freizügigkeit, des freien Verkehrs von Waren und Menschen, erhalten; aber wir wollen natürlich auch die Kontrolle an unserer gemeinsamen Außengrenze behalten,
meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen.
Dafür sind jetzt erste Vereinbarungen getroffen worden. Ich kann nicht erkennen, dass es eine Verbesserung
der Lebensqualität in Europa wäre, wenn jeder kleine
Staat in Europa oder auch die größeren Staaten wieder
eine eigene Grenzsicherung vornähmen.
({4})
Das führt nicht zu dem Ziel, das wir in Europa miteinander erreichen wollen.
({5})
Deshalb ist die große Aufgabe die Sicherung der Grenzen.
({6})
Herr Kollege Kauder, lassen Sie eine Zwischenfrage
zu?
Nein!
({0})
- Ich will Ihnen einmal eines sagen: Es wäre gut, wenn
Sie einem Gedanken einmal eine Viertelstunde folgen
und sich nicht immer so aufführen würden, wie Sie es
hier auf der linken Seite immer tun.
({1})
Wir müssen die europäische Außengrenze sichern.
Dies können wir nicht allein, sondern dazu brauchen wir
auch die Türkei.
({2})
- Bei Ihnen - da bin ich sicher - gar nicht!
({3})
Wir brauchen also jetzt die Türkei. Insofern kann ich
verstehen, dass kritische Fragen kommen. Auch ich habe
Fragen an die Türkei. Wir vonseiten der CDU/CSU-Fraktion haben die Bundesregierung gebeten, dass mit der
Türkei, wenn es um die Frage ihrer Mitgliedschaft in der
Europäischen Union geht, als nächstes Kapitel das Kapitel „Religionsfreiheit und Menschenrechte“ aufgemacht
wird. Wir bleiben auch dabei, dass dieses Thema angesprochen werden muss.
Jetzt aber haben wir eine Aufgabe, die wir nur mit der
Türkei lösen können. Deswegen müssen wir das auch
so angehen. Und ich wünsche der Bundeskanzlerin viel
Erfolg im Hinblick darauf, dass es bei dem vereinbarten
Europa-Türkei-Paket bleibt.
In diesem Zusammenhang kann ich nur darauf hinweisen, dass die Bundeskanzlerin nach wie vor auch mit
Russland im Gespräch ist. Trotzdem muss es aber dabei
bleiben, dass die Sanktionen, die gegen Russland ausgesprochen worden sind, nicht zurückgenommen werden,
solange sich Russland nicht eines anderen Verhaltens befleißigt, meine sehr verehrten Damen und Herren.
({4})
Frau Wagenknecht, ein Politiker, der aktiv im Dienst
ist, hat sich um die augenblickliche Situation zu bemühen. Es bleibt dabei, dass es nicht darum geht - wie Sie
sagen -, was Amerikaner und andere in den anderthalb
Jahrzehnten zuvor gemacht haben. Darüber kann ich mit
Ihnen gerne einmal reden. Sie dürfen aber mit diesem
Hinweis nicht den Eindruck erwecken, dass Sie nicht
ernst nehmen wollen, was Russland gerade jetzt im Augenblick in Syrien anstellt. Das ist nicht in Ordnung! Da
nützt der Verweis gar nichts!
({5})
Lesen Sie einmal die Berichte, die wir aus Aleppo
bekommen. In denen steht, was dort passiert. Dort wird
ganz bewusst die Wohninfrastruktur und die Gesundheitsinfrastruktur von russischen Bombern zerstört, damit den
Menschen in und aus Syrien jede Rückkehrperspektive
genommen wird. Das ist nicht in Ordnung! So werden
Hunderttausende von neuen Flüchtlingen erzeugt. Dafür
ist Russland verantwortlich, meine sehr verehrten Damen
und Herren.
({6})
Wir stehen also vor wichtigen Entscheidungen, und
ich finde, dass wir der Bundeskanzlerin Erfolg wünschen
sollten. Wir sollten nicht die Frage stellen, was passiert,
wenn sie keinen Erfolg hat. Vielmehr sollten wir ihr jetzt
zunächst - und zwar nicht nur im Hinblick auf den 18.
und 19. Februar - Erfolg wünschen. Wir sollten ihr wünschen, dass die Verhandlungen, die jetzt stattfinden, zum
Erfolg für Europa werden, liebe Kolleginnen und Kollegen. Es macht mir große Sorgen, dass wir in ein Europa
hineinwachsen könnten, das am Ende dieses Jahres ganz
anders aussieht als am Anfang des Jahres. Das wäre für
niemanden gut und für niemanden ein Vorteil.
({7})
Es ist völlig unstrittig, dass wir zur Bewältigung der
Flüchtlingsbewegungen einen Mix aus nationalen und
europäischen Maßnahmen brauchen. Vielleicht brauchen
wir noch darüber hinausgehende internationale Maßnahmen, ein Bereich, in dem der Bundesaußenminister bereits tätig ist. Beim Blick auf diesen Mix aus nationalen
und europäischen Maßnahmen können wir feststellen,
dass auch die nationalen Maßnahmen wirken. Ich finde,
das muss man den Menschen in unserem Land noch viel
deutlicher sagen. Die Einstufung der Westbalkanstaaten
als sichere Herkunftsländer hat dazu geführt, dass der
große Flüchtlingsstrom aus diesem Gebiet, den es noch
im letzten Jahr gab, jetzt gegen null tendiert. Deswegen
war das ein Erfolg.
({8})
Sie müssen sich aber auch einmal anschauen, was es
für eine Quälerei war, bis wir die Grünen im Bundesrat mit im Boot hatten und diesen erfolgreichen Mix aus
nationalen und europäischen Maßnahmen beschließen
konnten.
In dieser Woche werden wir hier im Deutschen Bundestag das Asylpaket II beraten und nächste Woche verabschieden. Da wäre es natürlich richtig gewesen - Frau
Roth, gucken Sie mich nicht so traurig an ({9})
im Rahmen dieses Verfahrens im Bundestag auch ein
Gesetz zu verabschieden, durch das Marokko, Algerien
und Tunesien als sichere Herkunftsstaaten klassifiziert
werden.
({10})
Frau Göring-Eckardt, Sie kritisieren die Arbeit der
Bundesregierung. Da könnte ich natürlich darauf verweisen - das will ich mir aber verkneifen -, was für einen
Granatenstreit Sie im Augenblick bei den Grünen über
die Frage, was Herr Kretschmann darf und was nicht,
haben.
({11})
Wissen Sie - für den Fall, dass Sie mal Regierungsverantwortung haben -: Das schärft den Blick für das Notwendige.
({12})
Das ist der einzige Hinweis, den ich geben will.
Ich hätte mir gewünscht, dass jetzt gesagt würde: Wir
machen das, und dann reden wir im Bundesrat miteinander darüber, was für eine Zustimmung getan werden
muss. - Sie werden sich schwertun, den Wählerinnen
und Wählern im Land zu erklären, warum Sie etwas nicht
machen, das auch Sie für notwendig halten, nur weil Sie
quasi einen hohen Preis heraushandeln wollen. Das den
Menschen zu erklären, wenn man Regierungsverantwortung tragen will, ist sehr schwer. Das ist auch nicht in
Ordnung, um das mal klar und deutlich zu sagen.
({13})
Ich glaube, dass es notwendig ist, dass wir mit Blick
auf diese große Herausforderung gut und eng zusammenarbeiten - natürlich sowohl in der Koalition als auch dort,
wo es noch notwendig ist: im Bundesrat.
Es ist durchaus richtig, dass wir bei der einen oder anderen Frage in der letzten Zeit nicht den Eindruck von
Geschlossenheit vermittelt haben, wie es notwendig gewesen wäre. Ich will da gar keine Schuldzuweisungen
aussprechen, sondern nur den Fakt feststellen. Wir sollten so nicht vorgehen; daran müssen wir uns orientieren.
Wir müssen etwas vereinbaren und das, was vereinbart
ist, konkret umsetzen und so den Menschen zeigen: Ihr
könnt euch darauf verlassen, dass diese Regierungskoalition das Notwendige tut, um dem Problem an die Wurzel
zu gehen.
({14})
Der Kollege Oppermann hat mir gesagt, er müsse
das Plenum verlassen. Trotzdem kann ich ihm folgende
Passage nicht ersparen - die Erste Parlamentarische Geschäftsführerin sitzt da; sie kann es ihm dann sagen -:
Dazu gehört natürlich auch, dass wir in der Regierungskoalition nicht noch hier im Deutschen Bundestag dazu
beitragen, Fehlinterpretationen von Aussagen zu verstärken.
({15})
Das trägt nicht dazu bei, die Zusammenarbeit zu stärken,
liebe Kolleginnen und Kollegen.
({16})
Wissen Sie: Wenn wir eine Koalition eingehen, gilt für
mich der Grundsatz, den ich vom Kollegen Müntefering
gelernt habe. Er hat gesagt: Wenn Sie eine Koalition eingehen, müssen Sie den Erfolg wollen.
({17})
Ich sage Ihnen: Mir würde hier am Pult in diesem
Deutschen Bundestag auch manches einfallen zu manchem SPD-Politiker; das kann ich Ihnen nur sagen.
({18})
Aber wissen Sie: Über der parteipolitischen Profilierung
steht gerade in dieser Zeit unsere Verantwortung für dieses Land, liebe Kolleginnen und Kollegen. Wir tragen
Verantwortung für dieses Land!
({19})
Aschermittwoch ist vorbei. Deswegen verkneife ich mir
die eine oder andere Aussage. Mir geht es darum - und
davon wird viel abhängen -: Es ist ein Schicksalsjahr für
Europa. Es ist ein Schicksalsjahr für Deutschland, wie
es noch nie ein Schicksalsjahr gab. Damit hat diese Koalition eine große Verantwortung. Daran muss man sich
jeden Tag erinnern und sich das eine oder andere auch
mal verkneifen,
({20})
um mehr Gemeinsamkeit zu zeigen, als es in der letzten
Zeit der Fall war.
({21})
Für eine Kurzintervention erhält die Kollegin Hänsel
das Wort.
Danke schön, Herr Präsident. - Herr Kauder, weil Ihnen
immer alles Mögliche einfällt, möchte ich sagen: Wenn
ich Sie sehe, fällt mir vor allem immer Heckler & Koch
ein, die Rüstungsschmiede in Ihrem Wahlkreis in Baden-Württemberg. Mich wundert es schon: Sie thematisieren hier die Reduzierung der Flüchtlingszahlen, die
Kanzlerin will Fluchtursachen bekämpfen usw., aber Sie
erwähnen mit keinem Wort, dass Millionen von Kleinwaffen aus Ihrem Wahlkreis exportiert werden, wovon
die CDU durch Wahlspenden direkt profitiert. Das ist ein
Skandal.
({0})
Solange Sie zu den Rüstungsexporten nichts sagen, müssen Sie zum ganzen Thema Fluchtursachen schweigen.
Das ist eine verlogene Politik, die Sie hier betreiben, weil
es in der Realität anders aussieht.
In diesem Zusammenhang möchte ich Sie etwas fragen. Sie haben gerade erwähnt, es gehe jetzt um den
Schutz der Außengrenzen. Jetzt sollen NATO-Kriegsschiffe an die Grenzen geschickt werden. Ist das Grenzsicherung? Das, was Sie betreiben, ist eine Militarisierung, eine militarisierte Migrationsabwehr. Was werden
die Schiffe dort vorfinden?
({1})
Sie finden Schlauchboote mit Frauen und Kindern vor.
({2})
So ist die Realität vor Lesbos im Moment. Meine Frage
ist: Können Sie es mit den europäischen Werten, die Sie
hier vorne immer rauf und runter zitieren, vereinbaren,
dass Sie jetzt Kriegsschiffe gegen die Flüchtlinge einsetzen? Es gab im Januar schon 350 ertrunkene Menschen
vor Lesbos.
Vielleicht nehmen Sie einmal die Botschaft von Ai
Weiwei an, einem weltbekannten chinesischen Künstler,
der vor einigen Tagen hier am Pariser Platz Rettungswesten aufgehängt hat, als eine Mahnung an unseren humanitären Auftrag.
({3})
Axel Schäfer ist der nächste Redner für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Kollege Kauder hat völlig recht: Es ist tatsächlich ein
Schicksalsjahr für die Europäische Union. Kollege
Kauder hat mit Kritik an der SPD aber völlig unrecht.
Deshalb darf ich sie hier insgesamt zurückweisen.
({0})
Frau Bundeskanzlerin, das, was in der EU an Entscheidungen auf uns zukommt, kann man auf einen einfachen
Nenner bringen: Hält oder zerfällt die Gemeinschaft?
Wenn das die Frage ist, sollte dies auch die Tonlage, die
Ernsthaftigkeit und den gemeinsamen Willen in dieser
Diskussion im Bundestag bestimmen.
({1})
Lassen Sie uns einmal das wertschätzen, was wir in
diesem Deutschen Bundestag haben. Es gibt - erstens niemanden hier, der für einen Brexit, für einen Austritt
Großbritanniens aus der EU, ist. Zweitens gibt es in
diesem Haus keine nationalistische, keine rechtsextremistische Partei. Und es gibt - drittens - im Deutschen
Bundestag genauso wie im Europäischen Parlament
letztendlich die Kraft, die Verpflichtung und die Möglichkeit - wir werden sie nutzen -, dafür zu sorgen, dass
auf europäischen Gipfeln getroffene Entscheidungen nur
auf parlamentarischer Ebene in Recht umgesetzt werden.
Bei allem, was in Brüssel geschieht, ist klar: Die Abgeordneten in den Mitgliedstaaten und im Europäischen
Parlament haben das letzte Wort. Das muss hier heute
einmal deutlich ausgesprochen werden.
({2})
Worum es bei den Entscheidungen, die in den kommenden Monaten anstehen, geht, lässt sich letztendlich
auf eine ganz einfache Frage reduzieren: Werden wir weiterhin sagen: „Das wichtigste nationale Interesse bleibt
in allen Mitgliedstaaten die europäische Einigung“, oder
wird sich folgender Satz durchsetzen: „Wenn jedes Land
nur an sich denkt, ist an alle gedacht“?
Das, was wir in den letzten Jahren in Europa erlebt
haben, kann man nicht einfach mit dem Begriff „Populismus“ be- oder umschreiben; denn wir erleben einen
wachsenden Nationalismus. Ich glaube, dass es im Interesse aller vier Fraktionen hier in diesem Hause ist, dass
wir gemeinsam einem Nationalismus in den Staaten wie
in der Gemeinschaft widerstehen, dass wir uns ihm entgegensetzen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({3})
Denn es geht nicht mehr darum, ob wir eine andere europäische Politik - sozialer, nachhaltiger, mehr Gleichstellung, mehr Umweltbewusstsein - machen, sondern es
geht um die Frage: Wird die Europäische Gemeinschaft
erhalten, oder setzt man auf Zerstörung? Darum geht es
UKIP und Jobbik, darum geht es Frau Le Pen und Herrn
Wilders, FPÖ wie AfD. Das sind Kräfte, die Verhältnisse herbeiführen wollen, die es in der Vergangenheit so
nicht gegeben hat. Gleichzeitig sind es Kräfte, die uns
auf eine schiefe Bahn führen wollen, manchmal langsam,
manchmal mit Vehemenz. Mitterrand hat zu Recht gesagt: „Nationalismus heißt Krieg“. Machen wir uns die
Ernsthaftigkeit dieser Situation bewusst: Wer den Nationalismus übersteigert, wird irgendwann auch wieder zu
kriegerischen Auseinandersetzungen in Europa greifen.
Helmut Kohl hat diesbezüglich genauso recht wie der
verstorbene französische Präsident. Das ist die Herausforderung, vor der wir stehen.
({4})
Wir müssen uns unserer Verantwortung bewusst sein;
denn es ist klar, dass es bei den jetzt in Brüssel anstehenden Entscheidungen um die „Solidarität der Tat“ geht.
Es wird jetzt tatsächlich darauf ankommen, dass wir gemeinsame Lösungen finden. Ich sage bewusst jenen auf
der rechten Seite des Hauses: Es wird darauf ankommen,
uns bewusst zu machen, wer unser wichtigster Verbündeter ist, nämlich die EU-Kommission. Es muss aufhören,
dass wir bei Kleinigkeiten die EU-Kommission beschämen, wenn wir doch wissen: Sie ist die wichtigste Institution, die unsere Gemeinschaft zusammenhält. JeanClaude Juncker, auch Günther Oettinger und andere sind
die Partner, die wir brauchen, damit wir in Europa gemeinsam Erfolg haben.
({5})
Nächste Rednerin ist die Abgeordnete Gerda
Hasselfeldt, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Europa steht in diesen Zeiten zweifellos vor den größten Bewährungsproben überhaupt. Zum einen steht die
Entscheidung der Briten über ihren Verbleib in der Europäischen Union an. Zum Zweiten gibt es immer noch
die Problematik der Staatsschuldenkrise. Die Problematik der Verschuldung in vielen europäischen Ländern ist
nicht gelöst. Zum Dritten haben wir in den vergangenen
Monaten erkennen müssen, dass der islamistische Terror
vor Europa nicht haltmacht. Hunderttausende von Menschen fliehen aus Krisen- und Kriegsgebieten und machen sich auf den Weg nach Europa. - Diese Probleme
betreffen uns alle in Europa, und sie können nicht durch
nationale Entscheidungen und Maßnahmen allein gelöst
werden. Vielmehr bedarf es einer Lösung auf europäischer und internationaler Ebene. Das muss uns allen klar
sein.
Zum Referendum in Großbritannien, zu den Vorschlägen der Briten zum Verbleib Großbritanniens in der Europäischen Union: Wir haben in der CSU-Landesgruppe
den britischen Premierminister David Cameron zu Gast
gehabt und uns ausgiebig mit dessen Vorschlägen befasst. Auch wenn man nicht alles akzeptieren kann, muss
man sagen: Die wesentlichen Punkte gehen in die richtige Richtung. Sie sind nicht nur geeignet, dafür zu sorgen,
dass die Briten einem Verbleib in Europa, der notwendig
Axel Schäfer ({0})
ist, zustimmen können, sondern sie gehen auch in die
richtige Richtung, wenn es darum geht, Europa positiv
weiterzuentwickeln; und auch das ist notwendig.
({1})
Es ist richtig, auf mehr Wettbewerbsfähigkeit zu setzen,
es ist richtig, gegen Bürokratie in Europa anzugehen, es
ist richtig, den nationalen Parlamenten mehr Gewicht zu
geben, und es ist richtig, dem Sozialmissbrauch in Europa die Stirn zu bieten.
({2})
Seitens der CSU-Landesgruppe haben wir schon vor
zwei Jahren konkrete Vorschläge dazu gemacht. Ich bin
sehr dankbar dafür, dass jetzt überlegt wird, die Höhe des
Kindergeldes an die Lebenshaltungskosten in den Ländern anzupassen, in denen die Kinder tatsächlich leben.
Das ist meines Erachtens der richtige Ansatz.
({3})
Bei diesem Gipfel geht es zum Zweiten um das Thema, das uns seit Monaten in Europa, aber gerade auch
bei uns im Land, intensiv beschäftigt, nämlich um die
Bewältigung der Flüchtlingskrise. Wir haben in Europa
in den letzten Monaten bei diesem Thema immer wieder Hoffnung gehabt. Wir haben Versprechungen gehört,
aber auch so manche Enttäuschung erlebt. Die nationalen Interessen gewinnen immer stärker an Gewicht, und
es wird immer schwieriger, in Europa Kompromisse zu
finden. Für niemanden, der dort Verantwortung trägt und
Verhandlungen zu führen hat, ist diese Aufgabe leicht.
Dabei ist bei diesem Thema europäische Solidarität in
ganz besonderer Weise gefragt, weil kein Nationalstaat
diese Probleme allein bewältigen kann.
({4})
Deshalb müssen wir hier ganz genau überlegen: Was
können wir tun, und was müssen wir tun? Dabei geht es
zum einen um die Verbesserung der Lebensverhältnisse
in den Krisengebieten und auch in den Flüchtlingslagern.
Ich erkenne das Engagement des Außenministers in der
Syrien-Problematik ausdrücklich an und danke dafür.
({5})
Ich erkenne auch das Engagement unseres Entwicklungshilfeministers für eine Verbesserung der Lebensbedingungen der Menschen in den Krisengebieten an,
und ich erkenne auch ausdrücklich die Bemühungen der
Verteidigungsministerin in Sachen NATO-Mission in der
östlichen Ägäis in den letzten Tagen an.
({6})
Das sind die richtigen Ansätze. Dazu gehört auch das
Ergebnis der Geberkonferenz in London. Ich danke der
Bundeskanzlerin und der gesamten Bundesregierung,
insbesondere dem Finanzminister und dem Entwicklungshilfeminister, dafür, dass die Weichen von Deutschland aus gestellt worden sind und dass bei dieser Geberkonferenz das beste Ergebnis erzielt worden ist, das mit
Blick auf UN-Hilfswerke je erzielt worden ist. Das ist der
richtige Ansatz.
({7})
Zum anderen geht es aber auch darum, die Außengrenzen der Europäischen Union zu sichern. Wir müssen
uns darüber im Klaren sein, dass die Freizügigkeit in der
Europäischen Union nur dann gesichert und gewährleistet werden kann, wenn es uns tatsächlich gelingt, die Außengrenzen der Europäischen Union effektiv zu sichern.
({8})
Nur dann wird dies gelingen. Wenn dies nicht gelingt,
werden wir immer wieder zu der Diskussion über die Sicherung nationaler Grenzen innerhalb Europas zurückkommen. Deshalb hat dies oberste Priorität.
({9})
Was können wir dazu tun?
Zum Ersten gehört die Stärkung von Frontex dazu. Es
gibt einen Vorschlag der Kommission. Bei einem Vorschlag darf es aber nicht bleiben, sondern er muss auch
realisiert werden.
Zum Zweiten gehören die Verhandlungen mit der Türkei dazu. Ich begrüße es - ich finde das auch zwingend
notwendig -, dass mit der Türkei gesprochen und verhandelt wird. Erste Ergebnisse liegen auf dem Tisch. Es
geht darum, dass die Flüchtlinge in der Türkei Arbeitsmöglichkeiten haben; es geht um die Rücknahme jener
Menschen, die aus Drittstaaten wie der Türkei zu uns
kommen, also darum, dass die Türkei diese Menschen
zurücknimmt; es geht aber auch um die Visapflicht in
Bezug auf die Herkunftsstaaten, um nur einige Punkte
zu nennen. Die Verhandlungen dazu laufen. Ich wünsche
den Verhandlungsführern dabei viel Erfolg. Wir wissen,
dass dieses Problem ohne die Türkei nicht zu lösen ist.
Wir wissen aber auch - das sage ich für die CSU-Landesgruppe ganz dezidiert -, dass dies nicht mit der Frage
eines möglichen Beitritts der Türkei zur Europäischen
Union zusammenhängen darf; das kann nicht am Ende
stehen.
({10})
Daneben sind aber auch nationale Maßnahmen notwendig. Wir haben eine ganze Menge auf den Weg gebracht: das Asylpaket I und jetzt auch das Asylpaket II wir werden es in dieser Woche in erster Lesung beraten,
und nächste Woche steht sein Abschluss bevor - mit
Maßnahmen, die dazu dienen können, die Flüchtlingszahlen zu begrenzen. Das ist zwingend notwendig; denn
die Aufnahmekraft, die Integrationskraft unseres Landes
ist an der Grenze angelangt. Deshalb sind im Übrigen
auch die Bemühungen in Europa wichtig. Es geht darum,
die Zahlen zu reduzieren.
({11})
Als Ergänzung zu Asylpaket I und Asylpaket II muss
ich aber auch sagen: Es reicht nicht, nur die Gesetze zu
verabschieden, sondern die verabschiedeten Gesetze
müssen auch angewandt werden.
({12})
Da haben wir noch ein bisschen zu tun, insbesondere in
den Bundesländern.
({13})
Es kann nicht angehen, dass wir Erleichterungen bei der
Abschiebung beschließen und die Bundesländer, die dafür zuständig sind, diese Erleichterungen dann nicht annehmen und das, was beschlossen ist, nicht umsetzen,
meine Damen und Herren.
({14})
Das hat auch mit dem Thema Rechtsstaat zu tun.
({15})
Es ist Ausfluss des Rechtsstaates, dass man sich so verhalten muss, wie es die Gesetze, die beschlossen wurden,
vorsehen.
({16})
Zu diesen nationalen Maßnahmen gehört auch die Änderung bei der Anerkennung im Hinblick auf sichere Herkunftsstaaten. Volker Kauder hat schon deutlich darauf
hingewiesen, welche positiven Auswirkungen die entsprechende Änderung bezüglich der Westbalkan-Staaten
hatte. Es nützt uns nichts, wenn das, was auf den Weg gebracht wurde, was von der Bundesregierung auch schon
beschlossen wurde, nicht auch schnell umgesetzt wird.
Wir könnten die Einstufung der Maghreb-Staaten als sichere Herkunftsstaaten genauso zügig umsetzen, wie wir
es beim Asylpaket II tun. Ich bedaure sehr, dass unser
Koalitionspartner dazu nicht in der Lage war
({17})
und dass die Grünen jetzt schon einen Preis dafür haben
wollen.
({18})
Wenn es uns mit der Reduzierung der Flüchtlingszahlen
ernst ist, dann müssen wir diese Änderung so schnell wie
möglich umsetzen,
({19})
und wir dürfen sie nicht irgendwohin schieben.
({20})
Es wäre auch hilfreich - nicht nur für das Klima in der
Koalition, sondern auch für die Sache -,
({21})
wenn Äußerungen von Unionsministerpräsidenten, im
Besonderen von dem aus Bayern, nicht falsch interpretiert
({22})
und die falschen Interpretationen dann auch noch in diesem Haus vom Koalitionspartner wiederholt würden,
meine Damen und Herren.
({23})
Das dient nicht der Lösung des Problems.
({24})
Wir sollten alle Kraft daransetzen, die Probleme zu lösen; dazu sind wir da. Das Problem ist viel zu ernst, um
sich an irgendwelchen Begriffen aufzuhängen.
({25})
Wir sollten ernsthaft an der Lösung der Probleme arbeiten. Das sind wir den Menschen in unserem Land schuldig.
({26})
Es gibt gerade ein bisschen Erregung wegen der Zeitüberschreitung. Aber das wird bei den beiden nächsten
Rednern der CDU/CSU-Fraktion angerechnet.
({0})
Insofern können alle entspannt bleiben.
Nächster Redner ist der Kollege Manuel Sarrazin,
Bündnis 90/Die Grünen.
Verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen aus der Unionsfraktion! Vor genau zwei Jahren, am
17. Februar 2014, hat Wladimir Putin einen Vertrag mit
dem ukrainischen Präsidenten Janukowytsch über eine
ukrainisch-russische Partnerschaft unterschrieben. Nebenbei wurden 3 Milliarden Dollar Kredit ausgezahlt, 12
weitere Milliarden wurden versprochen.
Das ist gerade einmal zwei Jahre her. Wenn man wie
Herr Kauder vom Schicksalsjahr 2016 spricht, sollte man
vielleicht einen Blick zurück in die nahe Vergangenheit
werfen. Angesichts der Herausforderung, die sich seitGerda Hasselfeldt
dem beispielsweise in der russischen Politik in unserer
Nachbarschaft zeigt - Herr Kauder hat eindrucksvoll
dargestellt, was Sie davon halten, was in Syrien unter
russischem Einsatz passiert -, sollte man sich überlegen:
Wird Europa dieser Herausforderung wie auch anderen
Herausforderungen eher mit Großbritannien oder eher
ohne Großbritannien gerecht?
Wir sollten uns aber auch überlegen, ob wir der Herausforderung, die beispielsweise die russische Politik
in unserer Nachbarschaft oder in Syrien bedeutet, eher
gerecht werden, wenn wir den Glauben daran vermitteln,
dass wir, die Europäische Union und Deutschland, in
dieser Flüchtlingskrise zusammenstehen können und das
schaffen, oder wenn wir den Eindruck erwecken, eine
Regierung zu haben, die zerfasert, auseinanderfällt und
immer mehr zum Vorlagengeber für all diejenigen wird,
die nicht mehr den Glauben haben und ihn auch nicht
haben wollen, dass Europa in dieser Situation zusammenstehen kann. Das ist doch das, was Europa letztlich
gefährdet und was Herrn Putin stark macht.
({0})
Wenn man von einem Unrechtsstaat redet oder wenn
Gefahr droht, dass die europäischen Werte beispielsweise bei Maßnahmen, die mit der Türkei vereinbart werden, nicht mehr durchgehalten werden können, wird das
Europa sehr in seinem Kern treffen. Ich bin davon überzeugt, dass diese Schwäche sowohl im Inneren wie im
Äußeren zu einer ernsthaften Gefährdung werden wird.
Deswegen ist mein Appell an Sie wie auch an alle anderen: Ob in der Diskussion um die Referendumskampagne in Großbritannien oder in der Debatte in Ihrer
Partei über den richtigen Weg in der Flüchtlingskrise vergessen Sie nicht, dass das Werben für die europäische
Lösung, das Werben für den Zusammenhalt in Europa,
das Werben für das gemeinsame Projekt der Weg ist, der
überzeugt, und lassen Sie davon ab, so zu tun, als wäre
ein Rückfall in nationale Lösungen der Weg.
Über Einigkeit, Herr Kauder, freue ich mich, aber ich
erwarte eigentlich von Ihrer Partei, dass Sie Ihrer Verantwortung in Europa auch insofern gerecht werden, als ein
Zweifel, ob Deutschland hierzu eine klare Haltung hat,
nicht aufkommen darf.
Vielen Dank.
({1})
Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abgeordneten Gunther Krichbaum, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ja,
wir sind für einen Verbleib Großbritanniens in der Europäischen Union. Ich glaube, es gibt viele Gründe, die
dafür sprechen, dass wir dieses Land in der Europäischen
Union halten. Es sind außenpolitische Erwägungen, sicherheitspolitische Erwägungen, aber sicherlich auch Erwägungen der Stabilität.
Aber was man auch dazu sagen muss - bei dieser Debatte kommt es vielleicht ein wenig zu kurz -: Es ist vor
allem für Großbritannien selbst von Vorteil, Mitglied in
der Europäischen Union zu bleiben. Am Ende des Tages
müssen die Briten selbst darüber entscheiden. Aber was
hieße es denn, aus der Europäischen Union auszuscheiden? Von heute auf morgen würde ein Land den freien
Zugang zum Binnenmarkt verlieren. Das bedeutet in der
Konsequenz, dass man alle Güter bzw. Waren, die man in
die Europäische Union, in den Binnenmarkt hineinexportieren möchte, neu zertifizieren lassen muss. Das kostet
Geld. Was Geld kostet, kostet Wettbewerbsfähigkeit, und
was Wettbewerbsfähigkeit kostet, kostet am Ende auch
Jobs.
Es gibt dann die Möglichkeit - Modell Schweiz -,
einseitig den Acquis communautaire zu akzeptieren.
Das geschähe aber natürlich zu dem Preis, diesen nicht
mehr mitgestalten zu können. Es mag ja sein, dass das
im Falle der Schweiz funktioniert, aber beim drittgrößten
Mitgliedsland der Europäischen Union funktioniert das
sicherlich nicht.
Das wird an einem Beispiel deutlich: an der Finanzmarktregulierung. Würde Großbritannien aus der Europäischen Union ausscheiden, käme es aller Wahrscheinlichkeit nach sehr schnell zu strengeren Regeln auf den
Finanzmärkten. Großbritannien könnte diese dann akzeptieren oder eben auch nicht. Auch das steht in Großbritannien am Ende zur Entscheidung. Das Land selber
muss darüber befinden, ob es tatsächlich einen Vorteil
aus dem Austritt hat.
Ganz nebenbei: Die Ursache dafür, dass wir überhaupt
über dieses Referendum reden, ist eine ganz andere. Es
war Cameron, der zunächst versuchte, parteiinterne Kritiker - Liam Fox, Bill Cash und wie sie alle heißen - und
natürlich auch die UKIP zu besänftigen. Gelungen ist das
nur sehr begrenzt. Deswegen wählte er in seiner ersten
Bloomberg Speech dieses Referendum als Ventil.
Ich glaube, es ist nicht die Zeit, in eine Art Rosinenpickerei zu verfallen. Dieses Europa ist keine Multiple-Choice-Veranstaltung. Deswegen: Ein Sonderweg
Großbritanniens darf nicht der Weg für die Europäische
Union werden. Das würde uns nicht stärken, sondern
schwächen.
({0})
Wir stehen noch - aber auch das ist die Entscheidung
von Großbritannien - vor einer weiteren Frage. Unsere
schottischen Kollegen sagen uns nämlich: Würde Großbritannien aus der Europäischen Union ausscheiden,
dann würden wir das Unabhängigkeitsreferendum von
heute auf morgen erneut auf den Tisch legen. - Deswegen sage ich es mit einem Satz: Die Europäische Kommission darf in den Verhandlungen sehr selbstbewusst
auftreten; denn Großbritannien hat am Ende des Tages
sehr viel zu verlieren. - Aber noch einmal: Es ist die Entscheidung der Bürger selbst.
Ein letztes Wort natürlich zu den Flüchtlingen. Ich
glaube, gerade bei dem jetzt bevorstehenden Gipfel
kommt es sehr stark darauf an, ob wir als Europa imstande sind, hier mit einer Stimme zu sprechen. Es geht eben
nicht nur um die Frage der Flüchtlinge, sondern auch darum, ob unsere europäische Idee, die Idee der Solidarität, weiterleben kann. Dabei kommt es entscheidend auf
uns - auch im Deutschen Bundestag - an und darauf, ob
wir die Problemlösungskompetenz besitzen oder ob die
Bürger meinen, sie müssten deswegen eine andere Partei
wählen.
Nein, in die deutschen Parlamente darf nie wieder eine
Partei mit einem derart völkischen Gebaren einziehen,
wie es die AfD verkörpert.
({1})
Um eines klar und deutlich zu sagen: Die Menschen an
der deutschen Grenze zu erschießen, ist und bleibt keine
Alternative für Deutschland.
Vielen Dank.
({2})
Letzter Redner in der Aussprache ist der Abgeordnete
Thorsten Frei, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Europa ist vor diesem Europäischen Rat und in der Situation, in der er stattfindet, in keiner guten Lage. Außenminister Steinmeier hat am vergangenen Wochenende
davon gesprochen, dass Europa ein gefährliches „Krisengebräu“ umgibt. Ich glaube, dass diese Darstellung
durchaus richtig ist. Von außen drohen uns Gefahren,
und es gibt einen Krisenbogen um Europa; aber auch im
Innern gibt es große Probleme. Es herrscht Uneinigkeit,
und für viele Problemstellungen der Zeit haben wir nicht
die richtigen Lösungsmechanismen.
Zu den Verhandlungen über den Verbleib Großbritanniens in der Europäischen Union ist schon einiges gesagt
worden. Ich glaube, es geht in der Tat um viel mehr. Es
geht um die Frage der Strahlkraft der Gemeinschaft. Es
geht um die Bindungswirkung. Es geht um die Attraktivität Europas. Es geht nicht zuletzt darum, ob die Europäische Union glaubwürdiger Akteur auf der Weltbühne
bleibt oder eben nicht.
Da sind einige wesentliche Punkte zu benennen. Die
Briten haben die größte und stärkste Armee in Europa.
Sie stellen 15 Prozent des Bruttoinlandsprodukts der europäischen Wirtschaft. Darüber hinaus kommen sie, wie
ich finde, mit guten Argumenten. Als Beispiele nenne ich
die Frage der Subsidiarität, in der Europa durchaus Nachholbedarf hat, und die Frage der Wettbewerbsfähigkeit.
Es geht darum, dass wir uns nicht an europäischem Mittelmaß orientieren, sondern die Weltspitze Benchmark
für unsere Politik ist.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, es geht auch
darum, dass wir in der wichtigsten Frage, nämlich der
Bewältigung der Flüchtlingskrise, glaubwürdig bleiben.
({0})
Die Frage ist, ob wir es schaffen, in der Krise beisammenzustehen und uns nicht entzweien, wenn es schwierig wird. Wir müssen auf der Basis einer gemeinsamen
Haltung dafür sorgen, die Zahl der Flüchtlinge, die nach
Europa kommen, zu verringern und die Außengrenzen zu
sichern. Auf dieser Basis müssen wir weiterkommen.
Ich glaube, dass sich die Staats- und Regierungschefs
auf ihrem Treffen in Brüssel bewusst sein müssen, dass
die Zeit drängt, dass wir zügige Lösungen benötigen, um
tatsächlich vorwärtszukommen. Es geht dabei um nichts
Geringeres als um die Glaubwürdigkeit der Union und
um die Frage, ob wir Solidarität als bestimmendes Merkmal einer Gemeinschaft tatsächlich leben.
Solidarität in Europa gilt eben nicht nur bei der Bewältigung von Staatsschuldenkrisen. Solidarität in Europa gilt nicht nur nach Terroranschlägen. Solidarität
in Europa gilt auch dann, wenn es um die Bewältigung
der Folgen von Kriegen und Bürgerkriegen um Europa
he rum und um internationale Wanderungsbewegungen
geht.
Dabei, meine sehr verehrten Damen und Herren, muss
man im Blick behalten, dass es nicht nur um Zahlungen
aus Strukturfonds geht, dass es nicht nur darum geht,
Waren möglichst ohne Grenzen exportieren zu können,
sondern dass es letztlich um unsere Werte, um unsere Art,
zu leben, um die Freiheit auf dem Kontinent und darüber
hinaus geht. Das sollte doch dazu beitragen, zu gemeinsamen Lösungen zu kommen, wenn wir wissen, dass wir
in der Zielsetzung einig sind.
Klar ist auch, dass man dann, wenn es auf dieser Basis
nicht gelingt, zu Lösungen zu kommen, auch über Alternativen nachdenken muss. Da sollte jeder wissen, was
auf dem Spiel steht. In diesem Sinne geht es in Brüssel
um viel. Wir können unserer Bundeskanzlerin bei der
Bewältigung dieser Aufgaben nur viel Glück und Erfolg
wünschen.
Herzlichen Dank.
({1})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über drei Entschlie-
ßungsanträge der Fraktion Die Linke und stimmen zuerst
über den Entschließungsantrag auf Drucksache 18/7543
ab, für den namentliche Abstimmung verlangt wurde.
Danach gibt es noch zwei weitere Abstimmungen. Nur
die erste Abstimmung ist namentlich.
Ich bitte jetzt die Schriftführerinnen und Schriftführer,
die vorgesehenen Plätze einzunehmen. - Sind alle Plätze
besetzt? - Das ist der Fall. Ich eröffne damit die Abstim-
mung.
Sind noch Mitglieder des Hauses anwesend, die ihre
Stimme noch nicht abgegeben haben? - Das ist nicht der
Fall. Dann schließe ich die Abstimmung und bitte die
Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung
zu beginnen.1)
Wir setzen nun die Abstimmungen über die Entschlie-
ßungsanträge der Fraktion Die Linke fort.
Entschließungsantrag auf Drucksache 18/7544. Wer
stimmt für den Entschließungsantrag? - Wer stimmt
dagegen? - Wer enthält sich? - Dann ist der Antrag mit
den Stimmen von CDU/CSU und SPD bei Zustimmung
durch die Linke und Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen abgelehnt.
Entschließungsantrag auf Drucksache 18/7545. Wer
stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält
sich? - Keiner. Damit ist der Entschließungsantrag mit
den Stimmen der Fraktionen CDU/CSU, SPD und Bünd-
nis 90/Die Grünen bei Zustimmung der Fraktion Die Lin-
ke abgelehnt.
Ich muss Ihnen noch mitteilen, dass zur namentlichen
Abstimmung verschiedene Erklärungen nach § 31 der
Geschäftsordnung des Bundestages vorliegen.2)
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 2 auf:
Befragung der Bundesregierung
Die Bundesregierung hat als Thema der heutigen Ka-
binettssitzung mitgeteilt: Vierter Bericht zur Tragfä
higkeit der öffentlichen Finanzen.
Das Wort für den einleitenden Bericht hat der Bun-
desminister der Finanzen, Herr Dr. Wolfgang Schäuble. -
Bitte, Herr Bundesminister.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Bundesregierung hat in ihrer Kabinettssitzung heute Vor-
mittag den Bericht des Bundesfinanzministers über die
Tragfähigkeit unserer öffentlichen Finanzsysteme zur
Kenntnis genommen. Wir haben seit 2005 die Übung,
dass wir einmal in der Legislaturperiode einen solchen
Tragfähigkeitsbericht erstellen, der für den öffentlichen
Gesamthaushalt - also Bund, Länder und Kommunen
plus die gesetzlichen Sozialversicherungen - mit der Per-
spektive auf das Jahr 2060 unter Berücksichtigung der
absehbaren Veränderungen in der Bevölkerungsstruktur
und bei Unterstellung, dass die gesetzlichen Rahmenbe-
dingungen nicht verändert werden, ausweisen soll, wie
sich dieser öffentliche Gesamthaushalt entwickelt.
Je nachdem, welche wirtschaftliche Entwicklung und
welche Entwicklung beim Lebensalter man unterstellt,
ergibt sich nach den Berechnungen der unabhängigen
Wissenschaftler, dass wir bis 2060 eine auf den angespro-
chenen Annahmen basierende Tragfähigkeitslücke von
1) Ergebnis Seite 15155 C
2) Anlage 2
1,2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts bis zu 3,8 Prozent
im ungünstigsten Fall, also bei einer stärkeren Steigerung
der Lebenserwartung oder bei einem geringeren gesamtwirtschaftlichen Wachstum, haben können. Der Bericht
ist insofern ein Frühwarnsystem mit Blick auf den Handlungsbedarf, den wir im Gesamtbereich der Finanz- und
Sozialpolitik sowie der Wirtschaftspolitik haben. Er
weist auch aus, dass es eine Reihe von Stellschrauben
gibt, mit denen wir rechtzeitig diesen Entwicklungen gegensteuern können.
Ich will im Vergleich zum letzten Tragfähigkeitsbericht 2011 zwei Elemente nennen. Auf der einen Seite
hat unsere Finanz- und Haushaltspolitik mit dem erfreulichen Ergebnis, dass wir seit 2014 keine Neuverschuldung im Bundeshaushalt mehr haben - eine ähnliche
Entwicklung ist in Ländern und Kommunen zu beobachten -, erreicht, dass die Tragfähigkeitslücke nicht größer
geworden ist, obwohl bei allen Annahmen das Rentenpaket 2014 und eine wahrscheinlich zutreffende, genauere Modellierung der zu erwartenden Entwicklung in der
Pflegeversicherung im Hinblick auf die Tragfähigkeitslücke zusätzlich 0,6 Prozentpunkte ausmachen. Trotzdem
hat sich die Lücke nicht vergrößert. Das zeigt: Wir können mit einer konsequenten Finanz- und Haushaltspolitik
gegensteuern.
Es gibt eine Reihe von Stellschrauben, an denen wir
drehen können. Die wichtigste Stellschraube ist die
strukturelle Erwerbsbeteiligung, also Bekämpfung von
Dauerarbeitslosigkeit, Frauenerwerbstätigkeit und - ganz
entscheidend - Lebensarbeitszeitverlängerung. Jedes
Jahr, um das die Lebensarbeitszeit verlängert wird, verringert die Tragfähigkeitslücke langfristig ganz enorm.
Darüber hinaus müssen wir auf die Kosteneffizienz in
den sozialen Sicherungssystemen achten. Das ist ein wesentlicher Punkt, genauso wie die Finanz- und Haushaltspolitik. Das sind die wesentlichen Stellschrauben, die wir
berücksichtigen können und die auch im Bericht im Einzelnen ausgewiesen werden.
Der Bericht weist außerdem aus, dass wir insbesondere jetzt ein Window of Opportunity, das heißt die Gelegenheit zum Handeln, haben, wo die geburtenstarken
Jahrgänge noch im Erwerbsleben stehen. Diese Gelegenheit wird sich Ende des kommenden Jahrzehnts dramatisch reduzieren. Deswegen ist der Handlungsbedarf
nicht erst in die Jahre kurz vor 2060 zu schieben. Vielmehr müssen wir in dieser Legislaturperiode und in den
nächsten Legislaturperioden entsprechend gegensteuern.
Jetzt besteht dazu Gelegenheit, wo die geburtenstarken
Jahrgänge noch im Erwerbsleben stehen.
Insgesamt gibt der Bericht keinen Anlass zur Panik.
Aber er sollte uns Anstoß zu einem energischen, zielgerichteten Handeln sein.
Vielen Dank.
({0})
Vizepräsident Peter Hintze
Herzlichen Dank, Herr Bundesminister. - Erster Fragesteller ist der Kollege Dr. Lindner, Bündnis 90/Die
Grünen.
Vielen Dank, Herr Präsident. Vielen Dank, Herr Minister, für Ihren Bericht. - Sie haben eben in einem sehr
freundlichen Ton davon gesprochen, dass man die Effizienz in den sozialen Sicherungssystemen erhöhen müsse.
Mir ist dabei schlagartig die Frage nach der Finanzierung
der geänderten gesetzlichen Grundlagen der Rentenversicherung zu Beginn der Legislaturperiode - ich nenne als
Stichwort die Rente mit 63 - eingefallen. Die Erkenntnis ist nicht neu, dass zum Beispiel die Rücklagen in der
Rentenkasse in den kommenden Jahren aufgebraucht
sein müssten. Welche Schlussfolgerungen ziehen Sie
als Finanzminister daraus? Würden Sie die gesetzlichen
Änderungen, die getroffen worden sind, eher rückgängig
machen, oder würden Sie eine andere Finanzierung wählen?
Kollege Lindner, die Antwort ist sehr einfach. Der
Koalitionsvertrag hat sich in allen Teilen als ein sehr gutes Instrument erwiesen, um in dieser Legislaturperiode
solide Haushaltspolitik zu betreiben. Deswegen hat der
Finanzminister großes Interesse daran, in jedem Punkt
auf der Einhaltung des Koalitionsvertrags zu bestehen.
Das gilt auch für die bevorstehenden Haushaltsverhandlungen. Alle Maßnahmen, die im Koalitionsvertrag nicht
als vorrangiger Bedarf ausgewiesen sind, müssen aus den
jeweiligen Einzelhaushalten finanziert werden.
Deswegen kann ich Ihre Frage nur damit beantworten,
dass ich zu allen Teilen des Koalitionsvertrags stehe.
Nächste Fragestellerin ist Frau Dr. Lötzsch, Fraktion
Die Linke.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Herr Minister Schäuble,
mein Vorredner von den Grünen hat nach der Effizienz
des Sozialsystems gefragt. Ich frage nach der Effizienz
des Steuersystems. Wäre es nicht angesichts des Erfordernisses, die öffentlichen Haushalte gut zu finanzieren,
wichtig, unser Steuersystem effizient zu gestalten?
Wir haben die Situation, dass große Vermögen in immer weniger Händen konzentriert sind. Und wir haben
die Situation, dass in diesem und in den kommenden
Jahren sehr große Erbschaften gemacht werden. Wäre es
nicht die beste Idee, Herr Minister Schäuble, die Vermögensteuer anzuheben und eine ordentliche Erbschaftsteuer einzuführen, um unser Finanzsystem auf ordentliche
Füße zu stellen?
({0})
Frau Kollegin Lötzsch, ich bin anderer Ansicht als
Sie, was Sie nicht überraschen wird. Ich glaube, dass
wir bei dem Steuersystem und insgesamt in der Politik
darauf achten müssen, dass wir die Voraussetzungen für
ein nachhaltiges Wachstum unserer Wirtschaft erhalten.
Das ist ein zentrales Anliegen der gesamten Finanz- und
Wirtschaftspolitik nicht nur der Bundesregierung; darum
muss man auch in Europa wieder und wieder kämpfen.
Bei jeder steuerpolitischen Entscheidung, insbesondere bei jeder Entscheidung in Bezug auf Substanzsteuern,
muss man sehr genau bedenken: Wie wirkt sich das angesichts der Mobilität von Kapital, Investitionen, Arbeitsplätzen in der globalisierten Welt auf die Rahmenbedingungen, auf die wirtschaftliche Entwicklung in unserem
Land, auf die Investitionsbereitschaft aus?
Die Kanzlerin hat vorhin liebenswürdigerweise meine
Bemerkung von dem „Rendezvous mit der Globalisierung“ zitiert. Das erleben wir in der Steuer- und Finanzmarktpolitik natürlich genauso wie in anderen zentralen
Bereichen. Wir können viele Entscheidungen nur noch
zielführend treffen, wenn wir deren Auswirkungen auf
die Verlagerung von Investitionen im Blick haben. Weitere Substanzbesteuerungen würden im Zweifel zu weniger Investitionen, zu weniger Wachstum, zu weniger
Beschäftigung, zu weniger Steuereinnahmen sowie zu
höheren Schulden und zu weniger sozialer Sicherheit
führen. Deswegen halten wir die Politik für falsch.
({0})
Die nächste Frage stellt der Abgeordnete Kindler,
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Sehr geehrter Herr Minister Schäuble, Sie haben auch den Dritten Bericht zur
Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen angesprochen,
der 2011 noch während der großen Finanzkrise aufgestellt wurde. Es gibt eine Fortschreibung dieses Berichts
aus Ihrem Haus von 2014, wonach das ungünstigste Szenario ein Schuldenstand von 180 Prozent im Jahr 2060
ist. Jetzt haben wir 220 Prozent. Das ist eine Zunahme
um 40 Prozent zwischen der Fortschreibung des Dritten
Berichts und Ihrem Bericht jetzt, also eine deutliche Verschlechterung.
Andererseits haben Sie sich trotzdem für eine gute
Haushalts- und Finanzpolitik gelobt bzw. gesagt, das sei
ein Teil dessen. Das macht auch der Bericht. Ich würde
sagen, das hängt viel mit der EZB-Politik und den Zinsen
sowie den guten Steuereinnahmen zusammen.
Können Sie einmal sagen, was Sie im Haushaltsbereich konkret gemacht haben, wenn Sie energisch anpacken wollen? Wo haben Sie zum Beispiel Subventionen
abgebaut? Laut Umweltbundesamt belaufen sich die
Subventionen auf mehr als 52 Milliarden Euro jedes Jahr.
Diese sollen abgebaut werden. Bisher ist noch nichts passiert. Wo wollen Sie denn ernsthaft an den Subventionsabbau im Bundeshaushalt herangehen?
Herr Kollege Kindler, wir haben ja schon ein paar
Haushaltsdebatten geführt. Der letzte Tragfähigkeitsbericht ist von 2011, und der jetzige ist vom Februar 2016.
Wie ich vorher ausgeführt habe, hat sich die Tragfähigkeitslücke insgesamt gegenüber 2011 nicht vergrößert.
Wir haben zwar, wie ich erwähnte, aus dem Rentenpaket und aus einer genaueren Modellierung der künftigen
Entwicklung der Pflegeversicherung eine stärkere Lücke,
haben das aber durch die Nullverschuldung in den vergangenen Jahren und die konsequente Finanzpolitik, die
wir 2011 nur vorgezeichnet hatten, doch wieder ausgeglichen.
Die Finanzpolitik der vergangenen Jahre war dadurch
gekennzeichnet, dass wir das Ausgabenvolumen im
Bundeshaushalt von 2010 bis einschließlich 2015 nicht
erhöht haben. Das hat es in der Geschichte der Bundesrepublik überhaupt noch nicht gegeben. Das war aber
schon angelegt, als wir gesagt haben, dass wir die Ausgaben so lange nicht erhöhen werden, bis wir kein Defizit
mehr haben, und dass wir erst parallel zum Anstieg der
Einnahmen die Ausgaben wieder erhöhen werden. Das
machen wir im Jahr 2016.
Wir haben in derselben Zeit die Ausgaben für Bildung
und Forschung im Bundeshaushalt um 60 Prozent gesteigert. Es sind also nicht nur die geringeren Zinsen, die zu
Buche schlagen. Die Zinsausgaben sind in der Tat geringer geworden. Im Entwurf für 2010, den ich vorgefunden
habe, als ich das Amt im Herbst 2009 übernommen habe,
fand sich noch ein Defizit von 86 Milliarden Euro. Im
Jahr 2014 sind wir dann auf null gekommen. 2014 waren
die Zinsausgaben 4 Milliarden Euro weniger als 2010.
Das erklärt also nicht die Differenz von 86 Milliarden
Euro.
Wir haben klare Prioritäten gesetzt. Wir haben in dieser Legislaturperiode die Ausgaben für die Infrastruktur - Straße, Schiene, Wasserstraße, Luftverkehr und
Netzinfrastruktur - erheblich erhöht. Wir haben die Leistungen für die Kommunen wesentlich aufgestockt, und
wir haben in anderen Bereichen Leistungen nicht erhöht.
Das ist der Schlüssel für den Erfolg dieser Finanzpolitik.
Nächster Fragesteller ist der Abgeordnete Claus, Fraktion Die Linke.
Herr Finanzminister, ich will Sie fragen, wie Sie den
Kritiken begegnen, die im Zusammenhang mit Ihrem
Bericht heute öffentlich geworden sind. Im Kern wird
Ihnen unterstellt, es handle sich hier um ein durchsichtiges Manöver unmittelbar vor der Aufstellung des Haushalts für 2017 - ich will daran erinnern, dass der Bericht
ursprünglich schon im Oktober des vergangenen Jahres
vorgetragen werden sollte -, um den Spardruck auf die
Ressorts zu erhöhen. Um eine dieser Kritiken herauszugreifen, zitiere ich Ihren Koalitionspartner, wenn Sie
gestatten:
Dass der Bundesfinanzminister den 4. Tragfähigkeitsbericht nutzt, um mit gespielter Besorgnis vor
allem die Ideen der sozialdemokratischen Ressorts
einzuhegen, ist ein sehr durchsichtiges Spiel.
So der Abgeordnete Johannes Kahrs. Ich hätte schon erwartet, dass Sie auf die Kritiken eingehen, Herr Bundesminister.
Der Abgeordnete Kahrs hat in der letzten Haushaltsdebatte - die liegt so lange noch nicht zurück; die war Ende
November - von diesem Pult aus - ich habe sehr sorgfältig zugehört, wie Sie, Herr Kollege Claus, im Zweifel
auch - sehr klar gesagt, dass die Politik der Nullverschuldung absolut richtig ist und dass er sie zu 100 Prozent unterstützt. Er hat zwischendurch den Eindruck erweckt, als
habe er sie erfunden. Ich habe in der Koalition nie einen
Streit um das Copyright geführt, weil ich das albern finde. Ich teile da die Ermahnung von Herrn Kauder: Wenn
man eine Koalition macht, muss man den gemeinsamen
Erfolg wollen.
({0})
Im Übrigen trifft mich die Kritik gar nicht so sehr. Ich
habe gerade hier gesagt: Wir müssen nicht in Panik ausbrechen wegen dieses Berichts, aber wir sollten ihn als
Mahnung zu zielgerichtetem Handeln auffassen. Aber
die Tatsache, dass wir im vergangenen Jahr durch einige glückliche Sonderumstände einen Überschuss erzielt
haben, ist von manchen in der Öffentlichkeit, auch im
Parlament - ich glaube, nicht in der Regierung, aber man
weiß es nie ganz genau - dahin gehend missverstanden
worden, man hätte jetzt Spielräume.
Der Überschuss wird durch die Entwicklungen in
der Flüchtlingsfrage mehr als aufgebraucht werden. Die
Bundeskanzlerin hat in ihrer Regierungserklärung heute
sehr genau beschrieben, wozu wir ihn nutzen. Wir nutzen
ihn nicht nur zur Erhöhung der Leistungen an die Kommunen. Wir bezahlen für jeden Flüchtling vom ersten
Tag der Registrierung bis zum Abschluss des Verfahrens
670 Euro monatlich. Dazu gibt es die Spitzabrechnung
im Jahr 2017. Das wird eine teure Veranstaltung.
Wir finanzieren - die Kanzlerin hat es erwähnt - den
Hochkommissar der Vereinten Nationen für Flüchtlinge,
das UN-Welternährungsprogramm, die Türkei-Hilfe und
weitere bilaterale Hilfen, weil es die Politik der Bundesregierung ist, die Finanzmittel konzentriert dafür einzusetzen, dass die Regionen, aus denen die Flüchtlinge
heute fliehen müssen, so stabilisiert werden, dass nicht
mehr so viele Flüchtlinge nach Europa kommen. Damit
entlasten wir auch ein Stück weit die schwierigen Beratungen im Europäischen Rat.
Aber wenn das so ist, muss der Finanzminister in der
Tat mahnen, dass für anderes nicht mehr viel Geld vorhanden ist. Das ist die Realität.
SvenChristian Kindler
Nächste Fragestellerin ist die Abgeordnete Hajduk,
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Minister, mit dem Tragfähigkeitsbericht liegt
uns sicherlich ein Dokument vor, in dem ehrlicherweise deutlich wird, dass mit dem Thema „ausgeglichener
Haushalt“ die Aufgaben für die öffentlichen Finanzen bei
weitem nicht erledigt sind. Wenn man dann einsteigt und
sieht, dass wir demografiebedingt eine Tragfähigkeitslücke haben - es kommt ja darauf an: was ist die analytische Grundlage? -, dann erkennt man: Möglicherweise
ist auch die Perspektive der Finanzsituation in Deutschland im Vergleich zu anderen Ländern - ich betone jetzt:
Perspektive - vergleichsweise nicht gut.
Vor diesem Hintergrund möchte ich Sie fragen: Was
halten Sie eigentlich für das richtige Zeitfenster - setzen
wir die Lücke einmal bei 2,5 bis 3 Prozent von unserem
Bruttoinlandsprodukt an; auch Sie haben eine entsprechende „range“ angegeben -, diese Tragfähigkeitslücke
zu schließen?
Ich meine, das müsste eher schneller als langsamer geschehen, weil wir eine enorm günstige Beschäftigungslage haben und demografiebedingt viele Menschen im
aktiven Arbeitsleben stehen. Das heißt, eigentlich muss
man versuchen, die Tragfähigkeitslücke von Ende dieses
Jahrzehnts bis Mitte des nächsten Jahrzehnts zu schließen. Können Sie mir einmal sagen, in welchen Bereichen
Sie einen relevanten Beitrag sehen wollen, zum Beispiel
in den sozialen Sicherungssystemen? Zugegeben, was
die öffentlichen Haushalte angeht: Den Kernhaushalt im
engeren Sinne haben Sie ins Lot gebracht. Können Sie
einmal aufzeigen, in welchen Bereichen Sie den größten
Beitrag sehen wollen, um diese Lücke zu schließen, und
bis wann dies geschehen soll?
Ein kurzer Verfahrenshinweis: Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat mich gerade gebeten, ich möge
den Bundesminister darauf hinweisen, dass das Aufleuchten der roten Lampe bedeute, er solle aufhören, zu
reden. Das gilt natürlich auch für die Fragesteller; wenn
ich das der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mal liebevoll zurückmelden darf. Also: Beide bemühen sich um
die vereinbarte Prägnanz und Kürze.
Herr Bundesminister.
Herr Präsident, ich bedanke mich. So liebenswürdig
bin ich selten auf die Einhaltung der Redezeit aufmerksam gemacht worden.
Frau Kollegin Hajduk, ich habe gesagt: Der Tragfähigkeitsbericht weist aus, dass wir jetzt ein Window of
Opportunity haben, weil wir eine günstige Beschäftigungslage haben, weil die geburtenstarken Jahrgänge
noch im Erwerbsleben sind. Das wird sich erst Ende des
kommenden Jahrzehnts - das habe ich ausgeführt - ändern. Deswegen stimme ich mit Ihnen überein: Wir sollten die nächsten Legislaturperioden dazu nutzen. Sie
werden von mir aber nicht erwarten können - das läge
nun wirklich nicht im Rahmen meiner Zuständigkeit -,
dass ich Ihnen jetzt ein Regierungsprogramm für die
nächsten Legislaturperioden im Rahmen der Regierungsbefragung über den Tragfähigkeitsbericht vorstelle.
Der Tragfähigkeitsbericht weist aus, dass jede kommende Regierung, übrigens auch in den Bund-Länder-Verhandlungen, darauf achten muss, dass die Systeme auch anreizgerecht sind, damit die Lücke nicht
zu groß wird. Im Übrigen liegt die Differenz zwischen
1,2 Prozent und 3,8 Prozent.
Wunderbar. - Das bezieht sich jetzt nicht auf die Lücke, sondern auf die Einhaltung der Redezeit.
Nächster Fragesteller: Kollege Dr. Troost, Fraktion
Die Linke.
Herr Präsident! Herr Minister, ich möchte erst einmal
zum Ausdruck bringen, dass ich es für eine Zumutung
halte, dass wir über einen Bericht diskutieren, der uns
nicht vorliegt, den wir nicht kennen, der, was die Modellierung betrifft, natürlich davon lebt, welche Annahmen in ihn eingeflossen sind. Insofern muss man wirklich überlegen, wie man die Diskussion dann, wenn wir
Kenntnis haben, fortsetzen kann.
({0})
Vor dem Hintergrund, dass wir in vielen Fällen nicht
wissen, was in den nächsten zwei, drei Jahren passiert,
wie sich die Konjunktur entwickelt, wie es mit den
Flüchtlingen weitergeht und, und, und - bekanntlich
kann jeder mit Excel einen Trend auf einen Zeitraum von
20, 30 oder 40 Jahren verlängern und kommt zu irgendeinem Ergebnis -, möchte ich gerne erfahren, was Sie in
der Frage der Zuwanderung modelliert haben. Ich habe
gehört, einmal geht man von 100 000 Zuwanderern pro
Jahr aus, alternativ von 200 000. Wie sieht es aus, wenn
es 300 000 Zuwanderer sein werden?
Ich möchte an die Frage von Frau Lötzsch anknüpfen.
Ich denke dabei gar nicht an eine konkrete Steuer oder an
die Frage: Sozialversicherung, Bürgerversicherung oder
vieles andere mehr. - Es ist doch unwahrscheinlich, dass
man einfach unterstellt: In den nächsten 40 Jahren wird
sich an diesen Systemen nichts verändern lassen, um auf
eventuell entstehende Lücken reagieren zu können.
Herr Kollege Troost, was Ihren Vorwurf der Zumutung anbetrifft: Das kann ich nicht akzeptieren.
({0})
Das Kabinett hat diesen Bericht heute zur Kenntnis genommen. Bevor ihn das Kabinett nicht zur Kenntnis genommen hat, kann der zuständige Bundesminister einen
solchen Bericht auch nicht dem Parlament zustellen. Das
kann er erst hinterher tun. Da die Regierungsbefragung
unmittelbar nach der Kabinettssitzung stattfindet, liegt es
im System, dass zu dieser Stunde der Bericht dem Parlament nicht vorliegen kann. Ich bitte, den Vorwurf der
Zumutung ausdrücklich zurückzunehmen. - Punkt eins.
Punkt zwei. Es ist ein Bericht, der von Wissenschaftlern mit bestimmten Annahmen erstellt wird. Bei der Demografie gibt es unterschiedliche Varianten: Der Anstieg
der Lebenserwartung fällt einmal ein bisschen stärker
und einmal ein bisschen schwächer aus.
Beim Arbeitsmarkt ist die Flüchtlingszuwanderung
noch nicht berücksichtigt. Man hat gesagt: Wir wissen
zum jetzigen Zeitpunkt nicht, wie die Vor- und Nachteile
der Zuwanderung sind; das hängt mit der Integration zusammen. Das haben wir zu diesem Zeitpunkt noch nicht
berechnen können. - Ich werfe das den Wissenschaftlern
auch nicht vor.
Bei der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung geht es
um die Frage der totalen Faktorproduktivität ab 2020.
Die kann mehr oder weniger stark ausfallen.
Das alles weist der Bericht aus. Daraus ergeben sich
die verschiedenen Varianten. Das ersetzt nicht das politische Handeln. Dieser Bericht hat den Sinn, eine langfristige Perspektive zu geben - als einen Rahmen für die
politischen Entscheidungen, die wir im demokratischen
Prozess treffen.
Nächste Fragestellung: die Abgeordnete Deligöz,
Bündnis 90/Die Grünen.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Herr Minister, zur
Tragfähigkeit von Sozialversicherungssystemen gehört,
dass sie tatsächlich sozial absichern. In diesem Zusammenhang würde mich interessieren, ob Sie sich im Bereich der Rente neben dem Rentenpaket auch die Entwicklung bei der Grundsicherung im Alter angeschaut
haben. Es gibt durchaus die Annahme, dass die Rentenversicherung nicht armutsfest genug ist und dass dadurch
die Kosten im Bereich der Grundsicherung steigen werden. Inwieweit ist diese Annahme bei Ihnen in die Tragfähigkeitsuntersuchung mit eingeflossen, und welche
Konsequenzen werden Sie daraus ziehen?
Die Annahme dieses Tragfähigkeitsberichtes ist - so
ist das Regelwerk, das 2005 eingeführt worden ist; es war
damals, glaube ich, eine rot-grüne Koalition, die das zum
ersten Mal gemacht hat -, dass die gesetzlichen Rahmenbedingungen unverändert bleiben. Dass sich diese Bedingungen bis 2060 nicht ändern, ist nicht realistisch, aber
man erstellt solche Langfristprognosen unter der Ceteris-paribus-Annahme; anders ist eine solche Modellrechnung nicht möglich.
Deswegen untersucht dieser Tragfähigkeitsbericht
nicht, wie sich das Rentensystem tatsächlich auf die soziale Lage auswirkt. Das ist eine Fragestellung, mit der
sich regelmäßig der Rentenbericht befasst; den verantwortet federführend das Bundesarbeitsministerium.
Der Tragfähigkeitsbericht hat die Aufgabe, zu ermitteln: Ergibt sich unter den erwartbaren, vorhersehbaren
Entwicklungen, etwa Veränderungen in der Bevölkerungsstruktur, bei den gegebenen Grundbedingungen Ceteris-paribus-Annahme - eine Tragfähigkeitslücke?
Nicht mehr und nicht weniger!
Nächster Fragesteller ist der Abgeordnete Pitterle,
Fraktion Die Linke.
Herr Minister, ich kenne den Bericht leider auch nicht.
Aus den Gründen, die ich gerade erläutert habe.
Aus den Gründen, die Sie genannt haben. - Deswegen
möchte ich nachfragen. Wir werden am Freitag die Einsetzung des Parlamentarischen Untersuchungsausschusses zu den Cum-ex-Geschäften beschließen. Welche
Annahmen liegen dem Bericht zugrunde, was Rückzahlungen im Zusammenhang mit diesen Cum-ex-Geschäften betrifft? Wie viele Millionen oder Milliarden Euro
werden der Staatskasse als Rückzahlung im Zusammenhang mit solchen Geschäften zugutekommen?
Herr Kollege Pitterle, mit allem Respekt: Ich habe
jetzt schon ein paarmal erklärt, was der Tragfähigkeitsbericht ist und was er nicht ist. Er ist auch keine Steuerschätzung. Über Cum-ex-Geschäfte werden wir lange
diskutieren; der Untersuchungsausschuss wird es auch
tun. Sie wissen, dass wir in der rechtlichen Aufarbeitung,
sowohl finanzgerichtlich als auch strafrechtlich, erst ganz
allmählich vorankommen. Das ist wahnsinnig kompliziert und aufwendig. Nichts davon geht in die Berechnungen dieses Tragfähigkeitsberichts ein.
Der Abgeordnete Dr. Murmann, CDU/CSU-Fraktion,
ist der nächste Fragesteller.
Damit die Zahl der Fragesteller nicht völlig unproportional zu den Wahlergebnissen ist, möchte auch ich eine
Frage stellen,
({0})
wobei mir klar ist, dass damit die Proportionalität nicht
hergestellt werden kann.
Sie haben gesagt, die Möglichkeit der Schließung der
Tragfähigkeitslücke ergebe sich im Wesentlichen über
die Demografie; das sei ein Element. Nun haben wir in
Deutschland zum Glück viele junge Unternehmen, die an
den Start gehen, die am Anfang aber erst noch durch eine
Verlustphase gehen. Sie bemühen sich, diese Unternehmen zu stützen. Inwieweit sehen Sie denn die Möglichkeit, dass gerade ein kontinuierlicher Fluss durch junge
Unternehmen und deren Finanzierung mit Wagniskapital
in Zukunft zur Schließung dieser Tragfähigkeitslücke
beitragen kann?
Ich habe ja eine der variablen Annahmen, die Entwicklung der gesamtwirtschaftlichen Faktorproduktivität, angesprochen. Je stärker innovatorische Kräfte in
unserer Wirtschaft wirken, umso stärker wird sich auch
die Produktivität erhöhen, und damit wird die Tragfähigkeitslücke tendenziell geschlossen. Deswegen habe
ich in der Antwort auf eine vorangegangene Frage schon
darauf hingewiesen, dass wir von 2010 bis 2014, ohne
dass die Ausgaben im Bundeshaushalt insgesamt gestiegen sind, die Ausgaben für Bildung und Forschung um
über 60 Prozent erhöht haben. Auch das ist ein Beitrag.
Die Politik, Wagniskapital stärker zur Unterstützung von
Start-ups einzusetzen, werden wir konsequent fortsetzen,
ebenso wie die Forschungsförderung.
Letzte Frage zu dem Thema der Befragung der Bundesregierung - danach können noch Fragen zu sonstigen
Themen an die Regierung gestellt werden - noch einmal
von der Abgeordneten Deligöz, Bündnis 90/Die Grünen.
Ich würde gerne noch einmal zur Tragfähigkeit der
Sozialversicherungssysteme kommen. In dem Bericht
wird auch stehen, dass die Beitragsautonomie der Krankenkassen einen Beitrag dazu leistet, die Tragfähigkeit
zu stärken. Im Moment bedeutet das aber lediglich eine
Erhöhung der Zusatzbeiträge für die Arbeitnehmer. Sind
Sie nicht der Meinung, dass es angesichts der guten Konjunktur an der Zeit wäre, im Sinne des Solidaritätsprinzips auch die Arbeitgeber einzubeziehen, um die Tragfähigkeit zu steigern und zu stabilisieren?
Frau Kollegin, es gilt Folgendes - das möchte ich auch
anderen Kollegen gerne sagen -: Der Tragfähigkeitsbericht wird dem Parlament zugestellt und wird dann Anlass - das ist Sache des Parlaments - für vielfältige Diskussionen und Beratungen sein, so wie wir im Übrigen
auch die Entwicklung der gesetzlichen Sozialversicherungssysteme immer wieder parlamentarisch beraten und
übrigens auch gesetzgeberisch gestalten.
Für den Tragfähigkeitsbericht als solchen ist die Frage,
wie das Beitragsaufkommen der gesetzlichen Krankenversicherung entsteht - ob durch die Arbeitgeber, durch
die Arbeitnehmer oder sonst wie -, irrelevant. Wenn es
ein Bundeszuschuss ist, ist es natürlich nicht irrelevant;
dann beeinflusst es die Lücke. Der Tragfähigkeitsbericht
behandelt Ihre Frage also nicht, weil sie irrelevant ist.
Das soll Sie aber nicht daran hindern, in anderen Debatten - über die Gestaltung des Gesundheitswesens zum
Beispiel - über diese Frage kräftig zu streiten.
Danke schön. - Wir kommen jetzt zu den Fragen zu
sonstigen Themen der Kabinettssitzung. Dazu gibt es
eine Wortmeldung, und zwar vom Abgeordneten Volker
Beck, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident, das ist eine Frage, die vor allen Dingen
das Innenministerium betrifft. Deshalb will ich Herrn
Krings vorwarnen. Ich weiß nicht, wer die Frage für die
Regierung am Ende beantworten wird.
Die Europäische Kommission hat am 10. Februar dieses Jahres eine Kommunikation der Kommission an das
Europäische Parlament und den Rat über die Implementierung der prioritären Aktionen auf der Europäischen
Migrationsagenda zugeleitet. Dabei wird die Frage erörtert: Was ist ein sicherer Drittstaat? Die Europäische
Kommission geht davon aus, dass ein sicherer Drittstaat
auch ein Staat sein könnte, der die Genfer Flüchtlingskonvention unterzeichnet hat, aber dies mit territorialem
Vorbehalt. Ein solcher Fall ist die Türkei, die die Genfer
Flüchtlingskonvention für Flüchtlinge aus asiatischen
Staaten nicht, zumindest nicht völkerrechtlich verbindlich, anwendet.
Ich wollte deshalb die Rechtsauffassung der Bundesregierung, die mit dieser Frage in den Räten zu tun haben
wird, dazu wissen, wie sie Artikel 38 und Artikel 39 der
entsprechenden Richtlinie zu gemeinsamen Verfahren
für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes auslegt. Denn in Artikel 39 steht unter Ziffer
2 a zur Definition eines sicheren Drittstaates ausdrücklich als zwingende Voraussetzung: „die Genfer Flüchtlingskonvention ohne geografischen Vorbehalt ratifiziert
hat und deren Bestimmungen einhält“.
Teilen Sie meine Auffassung, dass das zwingende Voraussetzung ist und dass insofern die Kommission ihre
Vorlagen hier nachbessern muss? Oder wie sieht das die
Bundesregierung?
Herr Präsident, da diese Frage nicht Gegenstand der
heutigen Kabinettssitzung gewesen ist, bitte ich um
die Erlaubnis, dass der Parlamentarische Staatssekretär
Krings zu der Frage Stellung nehmen kann.
Das machen wir so. - Bitte, Herr Staatssekretär Professor Krings.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lieber Kollege Beck, mir ist der genaue Inhalt dieser Kommunikation der EU-Kommission nicht bekannt.
Grundsätzlich begrüßt die Bundesregierung die Bestrebungen, einen einheitlichen europäischen Katalog - jedenfalls als Mindestkatalog - für sichere Herkunftsstaaten zu definieren, weil es dann eine größere Klarheit bzw.
Transparenz für alle Seiten geben würde. Zu dieser konkreten Auffassung ist die Meinungsbildung in der Bundesregierung meines Wissens noch nicht abgeschlossen.
Gibt es weitere Fragen zu sonstigen Themen? - Das
ist nicht der Fall. Dann schließe ich die Regierungsbefragung.
Bevor wir zur Fragestunde kommen, verkünde ich das
von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung über den
Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke zur Abgabe
einer Regierungserklärung durch die Bundeskanzlerin
zum Europäischen Rat am 18./19. Februar 2016 in Brüssel, Drucksache 18/7543: abgegebene Stimmen 589. Mit
Ja haben gestimmt 120, mit Nein haben gestimmt 469.
Enthalten hat sich niemand. Der Entschließungsantrag ist
damit abgelehnt.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 589;
davon
ja: 120
nein: 469
enthalten: 0
Ja
DIE LINKE
Dr. Dietmar Bartsch
Herbert Behrens
Karin Binder
Matthias W. Birkwald
Heidrun Bluhm
Eva Bulling-Schröter
Sevim Dağdelen
Dr. Diether Dehm
Klaus Ernst
Nicole Gohlke
Annette Groth
Dr. Andre Hahn
Dr. Rosemarie Hein
Inge Höger
Andrej Hunko
Sigrid Hupach
Ulla Jelpke
Susanna Karawanskij
Kerstin Kassner
Katja Kipping
Jan Korte
Jutta Krellmann
Katrin Kunert
Caren Lay
Sabine Leidig
Ralph Lenkert
Michael Leutert
Stefan Liebich
Thomas Lutze
Birgit Menz
Cornelia Möhring
Niema Movassat
Norbert Müller ({0})
Dr. Alexander S. Neu
Thomas Nord
Petra Pau
Harald Petzold ({1})
Martina Renner
Michael Schlecht
Dr. Petra Sitte
Kersten Steinke
Dr. Kirsten Tackmann
Azize Tank
Frank Tempel
Alexander Ulrich
Kathrin Vogler
Halina Wawzyniak
Harald Weinberg
Birgit Wöllert
Jörn Wunderlich
Hubertus Zdebel
Sabine Zimmermann
({2})
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Luise Amtsberg
Kerstin Andreae
Annalena Baerbock
Volker Beck ({3})
Dr. Franziska Brantner
Agnieszka Brugger
Katja Dörner
Katharina Dröge
Harald Ebner
Dr. Thomas Gambke
Matthias Gastel
Kai Gehring
Anja Hajduk
Britta Haßelmann
Dr. Anton Hofreiter
Bärbel Höhn
Dieter Janecek
Uwe Kekeritz
Sven-Christian Kindler
Maria Klein-Schmeink
Tom Koenigs
Sylvia Kotting-Uhl
Oliver Krischer
Stephan Kühn ({4})
Christian Kühn ({5})
Renate Künast
Markus Kurth
Monika Lazar
Steffi Lemke
Nicole Maisch
Peter Meiwald
Irene Mihalic
Beate Müller-Gemmeke
Özcan Mutlu
Dr. Konstantin von Notz
Friedrich Ostendorff
Cem Özdemir
Lisa Paus
Brigitte Pothmer
Tabea Rößner
Claudia Roth ({6})
Corinna Rüffer
Elisabeth Scharfenberg
Ulle Schauws
Dr. Gerhard Schick
Dr. Frithjof Schmidt
Kordula Schulz-Asche
Dr. Wolfgang StrengmannKuhn
Dr. Harald Terpe
Markus Tressel
Jürgen Trittin
Dr. Julia Verlinden
Beate Walter-Rosenheimer
Dr. Valerie Wilms
Nein
CDU/CSU
Stephan Albani
Peter Altmaier
Artur Auernhammer
Dorothee Bär
Thomas Bareiß
Norbert Barthle
Günter Baumann
Maik Beermann
Manfred Behrens ({7})
Veronika Bellmann
Sybille Benning
Dr. Andre Berghegger
Dr. Christoph Bergner
Ute Bertram
Peter Beyer
Steffen Bilger
Clemens Binninger
Peter Bleser
Dr. Maria Böhmer
Wolfgang Bosbach
Klaus Brähmig
Michael Brand
Dr. Reinhard Brandl
Helmut Brandt
Dr. Helge Braun
Heike Brehmer
Cajus Caesar
Gitta Connemann
Alexandra Dinges-Dierig
Alexander Dobrindt
Michael Donth
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Hansjörg Durz
Iris Eberl
Jutta Eckenbach
Dr. Bernd Fabritius
Hermann Färber
Uwe Feiler
Dr. Thomas Feist
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Dirk Fischer ({8})
Axel E. Fischer ({9})
Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Dr. Astrid Freudenstein
Dr. Hans-Peter Friedrich
({10})
Michael Frieser
Dr. Michael Fuchs
Hans-Joachim Fuchtel
Alexander Funk
Ingo Gädechens
Dr. Thomas Gebhart
Alois Gerig
Eberhard Gienger
Cemile Giousouf
Reinhard Grindel
Ursula Groden-Kranich
Hermann Gröhe
Klaus-Dieter Gröhler
Michael Grosse-Brömer
Astrid Grotelüschen
Markus Grübel
Manfred Grund
Oliver Grundmann
Monika Grütters
Dr. Herlind Gundelach
Fritz Güntzler
Olav Gutting
Christian Haase
Florian Hahn
Gerda Hasselfeldt
Matthias Hauer
Mark Hauptmann
Dr. Stefan Heck
Dr. Matthias Heider
Helmut Heiderich
Mechthild Heil
Frank Heinrich ({11})
Uda Heller
Jörg Hellmuth
Rudolf Henke
Michael Hennrich
Ansgar Heveling
Dr. Heribert Hirte
Christian Hirte
Robert Hochbaum
Thorsten Hoffmann ({12})
Karl Holmeier
Margaret Horb
Bettina Hornhues
Charles M. Huber
Anette Hübinger
Hubert Hüppe
Thomas Jarzombek
Sylvia Jörrißen
Dr. Franz Josef Jung
Andreas Jung
Xaver Jung
Dr. Egon Jüttner
Bartholomäus Kalb
Hans-Werner Kammer
Steffen Kampeter
Steffen Kanitz
Alois Karl
Anja Karliczek
Bernhard Kaster
Dr. Stefan Kaufmann
Dr. Georg Kippels
Volkmar Klein
Jürgen Klimke
Axel Knoerig
Jens Koeppen
Markus Koob
Carsten Körber
Hartmut Koschyk
Kordula Kovac
Michael Kretschmer
Rüdiger Kruse
Bettina Kudla
Dr. Roy Kühne
Günter Lach
Uwe Lagosky
Dr. Karl A. Lamers
Andreas G. Lämmel
Katharina Landgraf
Ulrich Lange
Barbara Lanzinger
Dr. Silke Launert
Paul Lehrieder
Dr. Katja Leikert
Dr. Philipp Lengsfeld
Dr. Andreas Lenz
Philipp Graf Lerchenfeld
Dr. Ursula von der Leyen
Antje Lezius
Ingbert Liebing
Matthias Lietz
Andrea Lindholz
Dr. Carsten Linnemann
Patricia Lips
Wilfried Lorenz
Dr. Claudia Lücking-Michel
Dr. Jan-Marco Luczak
Daniela Ludwig
Karin Maag
Yvonne Magwas
Thomas Mahlberg
Dr. Thomas de Maizière
Gisela Manderla
Matern von Marschall
Hans-Georg von der Marwitz
Andreas Mattfeldt
Stephan Mayer ({13})
Reiner Meier
Dr. Michael Meister
Maria Michalk
Dr. h.c. Hans Michelbach
Dr. Mathias Middelberg
Dietrich Monstadt
Karsten Möring
Marlene Mortler
Volker Mosblech
Elisabeth Motschmann
Carsten Müller ({14})
Stefan Müller ({15})
Dr. Andreas Nick
Helmut Nowak
Dr. Georg Nüßlein
Julia Obermeier
Wilfried Oellers
Florian Oßner
Dr. Tim Ostermann
Henning Otte
Ingrid Pahlmann
Sylvia Pantel
Martin Patzelt
Dr. Martin Pätzold
Ulrich Petzold
Dr. Joachim Pfeiffer
Sibylle Pfeiffer
Eckhard Pols
Thomas Rachel
Kerstin Radomski
Alois Rainer
Dr. Peter Ramsauer
Eckhardt Rehberg
Lothar Riebsamen
Josef Rief
Dr. Heinz Riesenhuber
Dr. Norbert Röttgen
Erwin Rüddel
Anita Schäfer ({16})
Andreas Scheuer
Karl Schiewerling
Jana Schimke
Norbert Schindler
Tankred Schipanski
Heiko Schmelzle
Christian Schmidt ({17})
Gabriele Schmidt ({18})
Ronja Schmitt
Patrick Schnieder
Dr. Ole Schröder
Dr. Kristina Schröder ({19})
Bernhard Schulte-Drüggelte
Dr. Klaus-Peter Schulze
Uwe Schummer
Armin Schuster ({20})
Christina Schwarzer
Detlef Seif
Johannes Selle
Reinhold Sendker
Dr. Patrick Sensburg
Bernd Siebert
Thomas Silberhorn
Johannes Singhammer
Tino Sorge
Carola Stauche
Dr. Frank Steffel
Dr. Wolfgang Stefinger
Albert Stegemann
Peter Stein
Erika Steinbach
Sebastian Steineke
Johannes Steiniger
Christian Frhr. von Stetten
Dieter Stier
Rita Stockhofe
Gero Storjohann
Stephan Stracke
Max Straubinger
Matthäus Strebl
Karin Strenz
Thomas Stritzl
Thomas Strobl ({21})
Lena Strothmann
Michael Stübgen
Dr. Sabine Sütterlin-Waack
Dr. Peter Tauber
Antje Tillmann
Astrid Timmermann-Fechter
Dr. Hans-Peter Uhl
Dr. Volker Ullrich
Thomas Viesehon
Michael Vietz
Volkmar Vogel ({22})
Sven Volmering
Christel Voßbeck-Kayser
Kees de Vries
Marco Wanderwitz
Nina Warken
Albert Weiler
Marcus Weinberg ({23})
Dr. Anja Weisgerber
Peter Weiß ({24})
Sabine Weiss ({25})
Ingo Wellenreuther
Karl-Georg Wellmann
Marian Wendt
Waldemar Westermayer
Kai Whittaker
Peter Wichtel
Annette Widmann-Mauz
Heinz Wiese ({26})
Klaus-Peter Willsch
Elisabeth WinkelmeierBecker
Oliver Wittke
Dagmar G. Wöhrl
Barbara Woltmann
Tobias Zech
Heinrich Zertik
Emmi Zeulner
Dr. Matthias Zimmer
Gudrun Zollner
SPD
Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Heike Baehrens
Ulrike Bahr
Heinz-Joachim Barchmann
Dr. Katarina Barley
Doris Barnett
Klaus Barthel
Dr. Matthias Bartke
Sören Bartol
Bärbel Bas
Uwe Beckmeyer
Lothar Binding ({27})
Burkhard Blienert
Willi Brase
Dr. Karl-Heinz Brunner
Marco Bülow
Martin Burkert
Dr. Lars Castellucci
Petra Crone
Bernhard Daldrup
Dr. Daniela De Ridder
Sabine Dittmar
Martin Dörmann
Elvira Drobinski-Weiß
Siegmund Ehrmann
Michaela Engelmeier
Dr. h.c. Gernot Erler
Petra Ernstberger
Saskia Esken
Karin Evers-Meyer
Dr. Johannes Fechner
Dr. Fritz Felgentreu
Elke Ferner
Dr. Ute Finckh-Krämer
Christian Flisek
Gabriele Fograscher
Dr. Edgar Franke
Ulrich Freese
Dagmar Freitag
Michael Gerdes
Martin Gerster
Iris Gleicke
Angelika Glöckner
Ulrike Gottschalck
Kerstin Griese
Gabriele Groneberg
Michael Groß
Uli Grötsch
Wolfgang Gunkel
Bettina Hagedorn
Rita Hagl-Kehl
Metin Hakverdi
Sebastian Hartmann
Michael Hartmann ({28})
Dirk Heidenblut
Hubertus Heil ({29})
Marcus Held
Wolfgang Hellmich
Dr. Barbara Hendricks
Heidtrud Henn
Gustav Herzog
Gabriele Hiller-Ohm
Petra Hinz ({30})
Thomas Hitschler
Dr. Eva Högl
Matthias Ilgen
Frank Junge
Josip Juratovic
Thomas Jurk
Oliver Kaczmarek
Johannes Kahrs
Ralf Kapschack
Gabriele Katzmarek
Ulrich Kelber
Marina Kermer
Cansel Kiziltepe
Arno Klare
Lars Klingbeil
Dr. Bärbel Kofler
Birgit Kömpel
Anette Kramme
Dr. Hans-Ulrich Krüger
Christine Lambrecht
Christian Lange ({31})
Dr. Karl Lauterbach
Steffen-Claudio Lemme
Burkhard Lischka
Gabriele Lösekrug-Möller
Hiltrud Lotze
Kirsten Lühmann
Dr. Birgit Malecha-Nissen
Caren Marks
Katja Mast
Hilde Mattheis
Dr. Matthias Miersch
Klaus Mindrup
Susanne Mittag
Bettina Müller
Detlef Müller ({32})
Dr. Rolf Mützenich
Dietmar Nietan
Ulli Nissen
Mahmut Özdemir ({33})
Aydan Özoğuz
Markus Paschke
Christian Petry
Jeannine Pflugradt
Detlev Pilger
Sabine Poschmann
Florian Post
Achim Post ({34})
Dr. Wilhelm Priesmeier
Florian Pronold
Dr. Sascha Raabe
Dr. Simone Raatz
Martin Rabanus
Mechthild Rawert
Stefan Rebmann
Gerold Reichenbach
Dr. Carola Reimann
Andreas Rimkus
Sönke Rix
Petra Rode-Bosse
Dennis Rohde
Dr. Martin Rosemann
René Röspel
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Michael Roth ({35})
Susann Rüthrich
Bernd Rützel
Sarah Ryglewski
Johann Saathoff
Annette Sawade
Dr. Hans-Joachim
Schabedoth
Axel Schäfer ({36})
Dr. Nina Scheer
Marianne Schieder
Udo Schiefner
Dr. Dorothee Schlegel
Ulla Schmidt ({37})
Matthias Schmidt ({38})
Dagmar Schmidt ({39})
Elfi Scho-Antwerpes
Ursula Schulte
Swen Schulz ({40})
Ewald Schurer
Stefan Schwartze
Andreas Schwarz
Rita Schwarzelühr-Sutter
Rainer Spiering
Norbert Spinrath
Svenja Stadler
Martina Stamm-Fibich
Sonja Steffen
Peer Steinbrück
Dr. Frank-Walter Steinmeier
Christoph Strässer
Kerstin Tack
Claudia Tausend
Michael Thews
Dr. Karin Thissen
Franz Thönnes
Carsten Träger
Ute Vogt
Dirk Vöpel
Gabi Weber
Bernd Westphal
Dirk Wiese
Gülistan Yüksel
Dagmar Ziegler
Stefan Zierke
Dr. Jens Zimmermann
Manfred Zöllmer
Brigitte Zypries
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 3 auf:
Fragestunde
Drucksache 18/7509
Ich rufe die mündlichen Fragen auf Drucksache 18/7509 in der üblichen Reihenfolge auf.
Wir kommen zuerst zum Geschäftsbereich des Auswärtigen Amtes. Die Fragen 1 und 2 des Abgeordneten
Andrej Hunko, die Fragen 3 und 4 der Abgeordneten
Agnieszka Brugger sowie die Frage 5 der Abgeordneten
Sevim Dağdelen werden schriftlich beantwortet.
Wir kommen nun zur Frage 6 des Abgeordneten Omid
Nouripour:
Setzt sich nach Kenntnis der Bundesregierung der Trend
einer steigenden Anzahl von Binnenvertriebenen in Afghanistan fort, und welche Regionen Afghanistans sind nach
Kenntnis der Bundesregierung von diesem Trend besonders
betroffen ({41})?
Zur Beantwortung steht Herr Staatsminister Roth bereit.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Lieber Herr Kollege Nouripour, die Bundesregierung erhebt zur Anzahl der Binnenvertriebenen in Afghanistan keine eigenen Daten. Sie stützt sich in diesem
Zusammenhang auf Erkenntnisse der Vereinten Nationen und der Internationalen Organisation für Migration,
IOM. Auf diese Angaben beziehe ich mich jetzt auch.
Danach handelte es sich Mitte des Jahres 2015 um
rund 950 000 Binnenvertriebene; diese Zahl stieg bis
Ende 2015 auf rund 1,17 Millionen. UNAMA, die Unterstützungsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan, weist darauf hin, dass eine große Anzahl der Binnenvertriebenen aus den Provinzen Kunduz, Badakhshan,
Baghlan, Takhar und Nangarhar kommt. Aufgrund der
besseren Wirtschaftslage lassen sich viele Binnenvertriebene in größeren Städten wie Kabul, Herat und Masar-iScharif nieder.
Die Internationale Organisation für Migration sieht als
Gründe für den Anstieg die Sicherheitssituation und Naturkatastrophen - Sie werden sich daran erinnern, dass es
im Oktober und Dezember vergangenen Jahres schwere
Erdbeben in Afghanistan gab -, aber auch rückkehrende
afghanische Flüchtlinge aus Pakistan und dem Iran.
Haben Sie eine Zusatzfrage, Herr Nouripour? - Bitte
schön.
Herzlichen Dank, Herr Präsident. - Herr Staatsminister, ich habe das nicht ganz verstanden. Können Sie noch
einmal genauer erklären, was das mit der ökonomischen
Situation zu tun hat? Sie haben ja gerade selbst gesagt,
dass die internationalen Organisationen darauf hinweisen, dass sich zum Beispiel - das steht aber an erster
Stelle - die Sicherheitslage geändert hat. Sie haben auch
mehrere Provinzen genannt, von denen wir wissen, was
dort passiert ist. Allen voran nenne ich Kunduz und die
Geschehnisse dort - zum Beispiel der Fall der Stadt bzw.
ihre Eroberung durch die Taliban im letzten Jahr -, die in
der deutschen Öffentlichkeit sehr bekannt sind. Ich habe
deshalb nicht verstanden, was das mit der ökonomischen
Situation zu tun hat.
Ich habe auf mehrere Gründe hingewiesen, die dazu
geführt haben, dass die Zahl der Binnenflüchtlinge zugenommen hat. Sie haben in Ihrer Frage einen Aspekt, die
Sicherheitslage, angeführt. Die hat sich in einigen Regionen verschlechtert. Das sind aber nicht unsere Informationen, sondern Angaben, die wir von den internationalen
Organisationen erhalten haben. Hierzu gehört auch die
Information, dass es eine Reihe von Binnenvertriebenen
gibt, die sich aufgrund einer erhofften besseren wirtschaftlichen Situation in den größeren Städten, vor allem
Masar-i-Scharif, Kabul und Herat, niederlassen.
Sie haben noch eine Zusatzfrage?
Ja.
Bitte schön, Herr Kollege Nouripour.
Es verwirrt mich zutiefst, dass Sie jetzt das altbekannte Phänomen Landflucht in die Kategorie Binnenflüchtlinge bzw. Binnenvertreibung einsortieren. Ich will Sie
aber jenseits davon etwas fragen.
Sie haben auch davon gesprochen, dass es Leute gibt,
die zum Beispiel aus Pakistan zurückgekommen sind.
Dadurch sei die Zahl der Binnenflüchtlinge gestiegen. Das ist völlig richtig. Binnenflüchtling ist man ja nicht,
wenn man aus einem anderen Land zurückkommt und
dann nach Hause geht. Man ist Binnenflüchtling, wenn
man eben nicht nach Hause gehen kann, etwa weil es
das eigene Haus nicht mehr gibt oder es infolge einer
Enteignung mittlerweile andere Eigentümer hat. Die betroffenen Menschen - bis zu 300 000 allein im letzten
Jahr - gelten als Binnenflüchtlinge. Meine Frage lautet:
https://unama.unmissions.org/sites/default/files/unama_protection_of_civilians_armed_conflict_midyear_report_2015_final_august.pdf
https://unama.unmissions.org/sites/default/files/unama_protection_of_civilians_armed_conflict_midyear_report_2015_final_august.pdf
https://unama.unmissions.org/sites/default/files/unama_protection_of_civilians_armed_conflict_midyear_report_2015_final_august.pdf
Ist es nicht eindeutig, dass es keinesfalls zur Stabilität des
Landes beiträgt, wenn jetzt in solch großer Zahl Binnenflüchtlinge zurückkommen, die die Sorge haben müssen,
nicht unterzukommen und nicht versorgt zu werden?
Ich habe doch darauf hingewiesen, dass es sich hierbei nicht um eigene Erkenntnisse handelt, sondern wir
uns auf die Angaben von internationalen Organisationen
beziehen. Das habe ich so vorgetragen. Ich stelle mich
ja nicht hier hin, Herr Kollege, und behaupte, dass die
Sicherheitslage nicht schwierig sei. Sie ist einer der wesentlichen Gründe, warum die Zahl der Binnenflüchtlinge zugenommen hat. Aber es gibt eben mehrere Gründe. Das sind die Erkenntnisse, die vor allem diejenigen
Organisationen, die in Afghanistan aktiv sind und dort
Verantwortung tragen, gewonnen haben.
Eine Zusatzfrage vom Kollegen Ströbele. Bitte.
Danke, Herr Präsident. - Sie haben Herat und Kabul
als sichere Orte genannt. Heißt das, dass das die Orte
oder auch Gegenden sind, die der Bundesinnenminister
im Sinn hatte, als er bei seinem letzten Besuch in Afghanistan noch einmal betont hat, dass es ganze Gegenden
und Provinzen in Afghanistan gibt, in die die Menschen,
die insbesondere nach Deutschland geflohen sind, zurückkehren sollen, weil sie dort sicher sind? Bisher wurde es immer sehr vermieden, die Orte zu nennen.
Danke, Herr Kollege Ströbele. Ihre Frage gibt mir
Gelegenheit, klarzustellen: Ich habe bezogen auf Masari-Scharif, Herat und Kabul nicht von sicheren Orten gesprochen. Ich habe nur darauf hingewiesen, dass sich
dort eine größere Zahl von Binnenflüchtlingen aus wirtschaftlichen Gründen - weil man dort bessere Perspektiven unterstellt - niedergelassen hat.
Die Frage der Sicherheitslage kann so pauschal nicht
beantwortet werden. Im Übrigen hängt es sehr stark von
der individuellen Situation des jeweiligen Afghanen oder
der jeweiligen Afghanin ab. Ich könnte Ihnen jetzt ein
paar Beispiele nennen. Bei einem Paschtunen, der nach
Kabul geht, besteht grundsätzlich überhaupt kein Gefährdungspotenzial. Wenn man aber beispielweise zum
Christentum konvertiert ist und dann nach Kabul geht,
könnte durchaus ein erhöhtes Gefährdungspotenzial
vorliegen. Das würde dazu führen, dass beispielsweise
bei einem Asylantrag in Deutschland eine positive Entscheidung getroffen werden könnte. Es geht also um den
jeweiligen Einzelfall. Das macht es so schwer, pauschal
zu sagen: Diese Region, diese Stadt ist für alle unsicher
bzw. sicher.
Zusatzfrage der Abgeordneten Hänsel, Fraktion Die
Linke.
Danke schön. - Herr Staatsminister, wenn ich Sie so
höre, dann muss ich davon ausgehen, dass nach Ihrer
Meinung kein Krieg in Afghanistan herrscht. Wie würden Sie es denn beschreiben? Der UN-Report, der jetzt
veröffentlicht wurde, spricht ja von über 11 000 Toten im
letzten Jahr. Meine Frage lautet daher: Würden Sie sagen,
dass es keinen Grund gibt, aus diesem Land zu fliehen,
weil man nicht unbedingt direkt von der gewalttätigen
Situation betroffen ist? Dabei haben wir doch Krieg! Die
Situation können Sie doch gar nicht anders bezeichnen.
Sie können in Kabul jederzeit von einer Bombe zerfetzt
werden. Wie gehen Sie denn damit um? Sie melden Ihre
Besuche nicht einmal an, wenn Sie in die Region fahren. Sie alle fahren klammheimlich, unangekündigt und
halten sich nur in Militäreinrichtungen auf. Sie bewegen
sich von Militäreinrichtung zu Militäreinrichtung, alles
hochgesichert. So finden die Besuche doch statt: hinter
meterhohen Sandsäcken.
({0})
Frau Kollegin Hänsel, ich mache mir Ihre Definition
von Krieg ausdrücklich nicht zu eigen. Aber angesichts
der Tatsache, dass die Anerkennungsquote bei Flüchtlingen aus Afghanistan im Asylverfahren 47 Prozent beträgt, würde ich niemals von großer Sicherheit in ganz
Afghanistan sprechen. Es gibt durchaus nachvollziehbare Gründe dafür, dass Menschen aus Afghanistan in
der Bundesrepublik Deutschland als Asylbewerber anerkannt werden.
Die in den Medien häufig dargestellte Bewertung der
Bedrohungslage bezieht sich aber nicht auf die gesamte
Bevölkerung, sondern insbesondere auf die Bedrohung
afghanischer Einheiten, vor allem administrativer Einrichtungen, der Sicherheitsorgane des Landes, westlicher
Staatsangehöriger, deutscher und verbündeter Truppen,
von Personal und vor allem auch von Einrichtungen der
Vereinten Nationen oder deren Hilfsorganen sowie von
Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen. Ich will
die Sicherheitslage überhaupt nicht relativieren; aber die
militante Bedrohung in Afghanistan ist für die Zivilbevölkerung niedriger und als weniger gefährlich einzustufen als für die Institutionen, die ich eben genannt habe.
Man muss das sehr differenziert betrachten, Frau Hänsel.
Der Kollege Volker Beck hat das Wort.
Ich möchte das Innenministerium fragen, ob es die
Aussagen des Auswärtigen Amts in dieser Fragestunde
teilt, dass die Sicherheitslage innerhalb Afghanistans sehr
unterschiedlich ist und deshalb zu Recht auch Flüchtlinge aus Afghanistan als schutzbedürftig anerkannt werden
müssen.
Frau Präsidentin, ich spreche heute für die Bundesregierung, und ich spreche deshalb auch für das Bundesinnenministerium.
Da Sie das Wort schon haben, behalten Sie es auch.
Entschuldigung, ich wollte mich nicht in Ihre originären Kompetenzen einmischen. Aber wenn ich die Geschäftsordnung richtig verstanden habe, dann spricht immer nur ein Haus für die gesamte Bundesregierung.
Das ist völlig richtig. Deshalb habe ich auch gesagt,
dass Sie das Wort behalten.
Insofern kann ich nur wiederholen, was ich gesagt
habe. Ich gehe fest davon aus, dass das die Meinung der
gesamten Bundesregierung ist.
({0})
Ich rufe die Frage 7 der Abgeordneten Heike Hänsel
auf:
Hat die Bundeskanzlerin bei ihrem letzten Besuch in der
Türkei konkret Menschenrechtsverletzungen ({0}) angesprochen, und welche
Konsequenzen zieht die Bundesregierung aus den Reaktionen
seitens der türkischen Regierung bzw. des türkischen Präsidenten?
Herr Staatsminister.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Liebe Frau Kollegin Hänsel, ich kann Ihnen versichern, dass die Lage der
Menschenrechte regelmäßig Thema in Gesprächen der
Bundesregierung mit den türkischen Regierungsvertretern ist. Ich beziehe mich dabei nicht nur auf die jüngsten
Regierungskonsultationen zwischen der türkischen und
der deutschen Regierung, sondern auf eine Fülle von
Begegnungen. Sowohl die Bundeskanzlerin als auch der
türkische Ministerpräsident Ahmet Davutoglu haben in
der Pressekonferenz darauf hingewiesen, dass sowohl
der Konflikt mit der PKK als auch die Arbeitsbedingungen von Journalisten in der Türkei Gegenstand der Gespräche waren, die kürzlich hier in Berlin stattgefunden
haben.
Ich kann Ihnen auch versichern, dass die Bundesregierung die innenpolitischen Entwicklungen in der Türkei
weiterhin sehr aufmerksam verfolgen wird.
Ich würde gerne nachfragen. - Die Kanzlerin war ja
in der Türkei, und just an dem Tag gab es ein großes
Massaker in mehreren Städten im Südosten der Türkei,
vor allem in Cizre. Dort hatten Zivilisten wochenlang
in einem Keller ausgeharrt. Es gab auch internationale
Hilfsappelle, dass diese Menschen Zugang zu Nahrung
und zu medizinischer Versorgung erhalten müssen. Infolge der Attacken der türkischen Armee sind Menschen
verblutet. Die Menschen konnten nicht einmal ihre Toten
auf den Straßen bergen. Es herrschte Ausnahmezustand.
Es wurde auf alles geschossen, was sich bewegte. Just an
dem Tag, an dem die Kanzlerin dort war, wurden diese
Zivilisten in dem Keller erschossen. Das Haus wurde gestürmt, und sie wurden erschossen.
Wir hatten uns mit einem Brief an die Kanzlerin gewandt, weil auch Angehörige von Menschen aus meinem
Wahlkreis dort sind. Deswegen meine Frage: Hat die
Kanzlerin darauf reagiert? War das Gegenstand der Gespräche? Wie stellt sich die Bundesregierung vor darauf
zu reagieren?
Frau Kollegin Hänsel, die Bundesregierung ist in ständigem Dialog mit der Türkei über die dramatische Situation der Kurdinnen und Kurden. Wir lassen uns dabei von
drei Botschaften leiten.
Die erste Botschaft ist: Selbstverständlich ist es das
legitime Recht der türkischen Regierung, gegen terroristische Aktivitäten der PKK vorzugehen.
Zweitens. Die türkische Regierung steht vor allem in
der Pflicht, die Verhältnismäßigkeit der Mittel zu wahren,
insbesondere wenn es um Zivilisten geht.
Der dritte Aspekt: Wir fordern die türkische Regierung auf, wieder an den Verhandlungstisch zurückzukehren. Der damalige Ministerpräsident Erdogan hat den
Friedens- und Versöhnungsprozess mit den Kurdinnen
und Kurden eingeleitet. Er wurde jetzt beendet. Wir sehen keine militärische Lösung; wir sehen eine Lösung im
Dialog, im Austausch.
Eine Nachfrage haben Sie noch.
Ja, danke schön. - Da würde ich gerne noch einmal
nachhaken. Sie kritisieren ja zu Recht das Aushungern
der Zivilbevölkerung in Städten in Syrien. Wie kann es
sein, dass Sie bezogen auf den Südosten der Türkei, wo
Städte wochenlang abgeriegelt sind - kein Strom, kein
Wasser, keine Gesundheitsversorgung, kein Zugang zu
Nahrungsmitteln -, wo der Ausnahmezustand herrscht,
nicht massiv Kritik äußern, auch öffentlich, sondern
nur sagen: „Das wurde mal angesprochen“? Wie kann
es sein, dass man, obwohl dieser Zustand fortbesteht,
Erdogan neue Versprechungen macht, dass man ihm die
Eröffnung neuer EU-Beitrittskapitel anbietet, ihm 3 Milliarden Euro und AWACS-Flugzeuge usw. anbietet, dass
man also zur Tagesordnung übergeht, obwohl dort Menschen im Ausnahmezustand leben und ausgehungert werden? Wie können Sie das gegenüber der Öffentlichkeit
überhaupt rechtfertigen, und in welcher Weise setzen Sie
sich dafür ein, dass es real wieder zu einem Friedensprozess kommt? Dieser Friedensprozess wurde ja von
Erdogan beendet. Er selbst hat offiziell gesagt, für ihn sei
der Friedensprozess beendet.
Ihre Wahrnehmung ist falsch, Frau Abgeordnete
Hänsel. Wir gehen nicht zur Tagesordnung über; vielmehr werden diese drängenden Themen fortwährend angesprochen. Aber wir wollen im Dialog bleiben, und wir
müssen im Dialog bleiben. Ich weiß nicht, welche Alternative uns als Bundesregierung zur Verfügung steht. Ich
könnte eine Fülle von kritischen, auch sehr deutlichen
öffentlichen Bekundungen benennen.
Im Übrigen ist das, was wir derzeit tun, sicherlich keine Belohnung für irgendetwas, was die Türkei tut oder
nicht tut. Insbesondere die Öffnung weiterer Kapitel,
die von der Bundesregierung unterstützt wird - in den
Kapiteln 23 und 24 geht es um Demokratie, um Rechtsstaatlichkeit, um die Unabhängigkeit der Justiz und die
Freiheit der Medien -, ist für uns eine Chance, um die
Defizite in einem strukturierten Dialog mit der Türkei offen und fair zu besprechen.
Der Herr Kollege Beck hat noch eine Nachfrage.
Öffnung der Kapitel und Unterstützung der Türkei bei
der Versorgung von Flüchtlingen - geschenkt. Das muss
man in dieser Situation machen, und Gespräche müssen
auch immer sein. Es gibt aber etwas, wofür mir jedes Verständnis fehlt. Daher möchte ich von Ihnen wissen, wie
Sie den Schutz sowohl der Flüchtlinge als auch der Menschenrechte sicherstellen wollen, wenn wir jetzt zusammen mit dem türkischen Militär Flüchtlinge in türkischen
Gewässern aufbringen, um das Refoulement-Verbot zu
umgehen, und dabei kurdische Flüchtlinge zurückschicken, bei denen nicht davon ausgegangen werden kann,
dass sie in der Türkei anständig behandelt werden. Diese Flüchtlinge riskieren, womöglich ins Gefängnis zu
kommen - vielleicht sogar im besten Fall -, wenn ihnen
nichts Schlimmeres droht.
Herr Abgeordneter Beck, geschenkt ist hier gar nichts.
({0})
- Sie müssen schon mir überlassen, wie ich auf Ihre Frage antworte. - Erstens anerkennen wir außerordentlich,
dass die Türkei 2,5 Millionen Flüchtlinge aufgenommen
hat. Zweitens anerkennen wir auch, dass die Türkei mit
der Europäischen Union nach zukunftsweisenden und
nachhaltigen Lösungen sucht. Das ist ein nicht ganz einfaches Unterfangen; das will ich Ihnen gerne zugestehen.
Die NATO-Mission dient der Unterstützung der Aktivitäten gegen die Schlepperkriminalität. Ich finde, wir
dürfen hier nicht den Bock zum Gärtner machen. Es sind
die Schlepper, die mit der Not der Menschen Millionen
und Milliarden verdienen. Ihnen das Handwerk zu legen
und dadurch die Flüchtlinge zu schützen und sie sicher
zurückzubringen, ist sicherlich ein Interesse, das wir alle
teilen sollten.
({1})
- Die Türkei ist ebenso wie andere Staaten in Europa
dazu verpflichtet, gemäß internationaler Menschenrechtskonventionen, unter anderem der Europäischen
Menschenrechtskonvention, und auch gemäß der eigenen
nationalen Gesetzgebung mit Flüchtlingen umzugehen.
({2})
- Wir gehen davon aus, dass sich die Bundesregierung an
ihre eigene nationale Gesetzgebung und an die Europäische Menschenrechtskonvention hält. Was denn sonst?
({3})
- Das sollten Sie vielleicht einmal laut sagen.
({4})
Das werden wir überprüfen.
Herr Ströbele, Sie haben auch noch das Wort. - Ich erinnere daran, dass wir noch eine Aktuelle Stunde haben.
Es geht ganz schnell. - Herr Staatsminister, Sie behaupten also, der NATO-Einsatz in der Ägäis diene
dem wirksamen Schutz vor Schleppern. Geht die Bundesregierung davon aus, dass sich auf diesen maroden
Schlauchbooten, um die es die ganze Zeit geht, auch
nur ein einziger Schlepper aufhalten könnte - dass sie
möglicherweise lebensmüde sind, weil sie ja wissen,
wie gefährlich das ist -, oder ist es nicht so, dass dieser NATO-Einsatz in Wirklichkeit allein dazu dient, die
Flüchtlinge in die Türkei zurückbringen zu lassen oder,
wenn man sie aus dem Wasser fischt, selber in die Türkei
zurückzuholen, also zu verhindern, dass Flüchtlinge nach
Europa, insbesondere nach Griechenland, kommen und
dass deshalb das Argument „Schlepper“ nur ein Vorwand
ist?
({0})
Ich habe schon darauf hingewiesen, dass die wesentliche Gefahr für die Flüchtlinge in der Tat von den verantwortungslosen Machenschaften der Schlepperbanden
ausgeht, und dafür wird auch noch Geld bezahlt. Ich habe
ebenso deutlich gemacht, wie der unterstützende Auftrag
der NATO aussieht. Daher möchte ich mich jetzt nicht
wiederholen.
Herr Nouripour.
Herzlichen Dank, Frau Präsidentin. - Herr Staatsminister, damit ich das verstehe, was die Bundeskanzlerin
vorhin gesagt hat: Habe ich es richtig verstanden, dass,
wenn die Leute bei diesem NATO-Einsatz in griechischen Gewässern aufgegriffen werden, sie in die Türkei
gebracht werden?
Ja, grundsätzlich werden sie in die Türkei zurückgebracht. Das ist richtig.
Im Übrigen sind die NATO-Schiffe an das internationale Recht genauso gebunden wie alle anderen Schiffe
auch. Wenn Menschen in Seenot sind, sind die Besatzungen verpflichtet, diese Menschen zu retten und sie in Sicherheit zu bringen. Die Flüchtlinge bzw. die Menschen,
die in Seenot sind, können aber nicht darüber entscheiden, wo sie gesichert untergebracht bzw. wohin sie gebracht werden.
Die Kollegin Keul hat das Wort zu einer Nachfrage.
Vielen Dank. - Ich bitte um Entschuldigung, dass jetzt
noch mehr Nachfragen kommen, aber inzwischen bin
auch ich relativ verwirrt. Denn wir hatten beim Marineeinsatz auf dem Mittelmeer vor den libyschen Küstengewässern gelernt, dass die Flüchtlinge nicht nach Libyen
gebracht werden dürfen, weil das gegen ein international
geltendes Refoulement-Verbot verstoßen würde.
Jetzt verstehe ich nicht ganz: Wieso gilt dieses Verbot
vor Libyen, aber vor der Türkei irgendwie nicht? Den
Unterschied müssten Sie mir erklären.
Wir gehen bei der Rückübernahme der Flüchtlinge
durch die Türkei davon aus, dass sich die Türkei an das
internationale Recht, an die Europäische Menschenrechtskonvention und an das eigene nationale Recht hält.
Damit schließe ich diesen Geschäftsbereich.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums des Innern.
Ich rufe Frage 8 der Abgeordneten Heike Hänsel auf:
Inwieweit ist die Äußerung des Bundesinnenministers
Dr. Thomas de Maizière: „Aber die Türkei, wenn wir von ihr
etwas wollen, wie, dass sie die illegale Migration unterbindet, dann muss man auch Verständnis dafür haben, dass es
dann im Wege des Interessenausgleichs auch Gegenleistungen gibt.“ ({0}), im Sinne der Warnung
der Demokratischen Partei der Völker ({1}) an die Bundeskanzlerin und die EU vor einem „Tauschhandel“ mit der Türkei so zu verstehen, dass die Bundesregierung mit Rücksicht
auf die erhoffte Mitarbeit Ankaras in der Flüchtlingsabwehr zu
schweren Menschenrechtsverletzungen und illegaler Willkür
in der Türkei schweigt ({2}), und ist
die Bundesregierung Berichten nachgegangen, dass die Türkei
systematisch Bürgerkriegsflüchtlinge zurück nach Syrien abschiebt und damit gegen internationales Recht verstößt ({3})?
Herr Staatssekretär, Sie haben das Wort.
Frau Präsidentin! Frau Hänsel! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Menschenrechtslage in der
Türkei und insbesondere im Südosten des Landes ist
ständiger Gegenstand von Beratungen der Bundesregierung mit der türkischen Regierung, etwa auch bei den
deutsch-türkischen Regierungskonsultationen am 22. Januar 2016. Insofern können Sie ganz unbesorgt sein, dass
das Thema Menschenrechte im bilateralen Kontakt wie
auch im europäischen Kontakt eine große Rolle spielt.
Die Bundesregierung unterstützt im Übrigen den
EU-Türkei-Aktionsplan von November 2015. Darin
bekunden die Europäische Union und die Türkei unter
anderem die Absicht, syrische Flüchtlinge in der Türkei
besser zu unterstützen und bei der Eindämmung irregulärer Migration besser kooperieren zu wollen.
Im Gegenzug bekundet die Türkei ihre Absicht, unter
anderem die Kapazitäten ihrer Küstenwache zu erhöhen,
die Verfahren bei Rückübernahme von nicht schutzbedürftigen Migranten zu beschleunigen und Maßnahmen
zu ergreifen, um die Teilhabe von Flüchtlingen auch am
Wirtschaftsleben in der Türkei zu erhöhen.
Vielen Dank.
Frau Hänsel.
HansChristian Ströbele
http://www1.wdr.de/daserste/monitor/sendungen/schmusekurs-mit-erdogan-100.html
http://www1.wdr.de/daserste/monitor/sendungen/schmusekurs-mit-erdogan-100.html
http://www.tagesschau.de/ausland/tuerkei-abschiebung-101.html
http://www.tagesschau.de/ausland/tuerkei-abschiebung-101.html
Danke schön. - Da habe ich eine Rückfrage. Es
ging vor allem um die Äußerung von Innenminister de
Maizière, der sagte: Wenn wir von der Türkei wollen,
dass sie die illegale Migration unterbindet, muss man
auch Verständnis dafür haben, dass es im Wege des Interessenausgleichs auch Gegenleistungen gibt. - Bei Monitor wurde er zitiert.
Deswegen meine Frage: Das hört sich nach einem
ganz üblen Tauschhandel an. Wir hatten zuvor die Diskussion. Das zeigt doch, dass es darum geht: Die Türkei
soll die Flüchtlinge für uns aufhalten, bei sich halten,
oder es wird sogar billigend in Kauf genommen, dass sie
nach Syrien geschickt werden. Hierzu gibt es auch Berichte in der Tagesschau, dass die Türkei gegen internationales Recht Flüchtlinge wieder in das Bürgerkriegsland
Syrien abschiebt, damit wir hier diese Flüchtlinge nicht
aufnehmen müssen. Wie können Sie das vereinbaren,
dass Sie es in Kauf nehmen, dass die Rechte von Flüchtlingen derart verletzt werden?
Herr Staatssekretär.
Danke schön, Frau Präsidentin. - Zunächst einmal,
Frau Abgeordnete: Wir nehmen es in keiner Weise in
Kauf, dass Rechte von Flüchtlingen verletzt werden.
Zum Zweiten weiß ich nicht, was Sie hören, wenn Sie
Mitgliedern der Bundesregierung zuhören. Ich kann nur
sagen: Die Gegenleistung, die hier in Rede steht, sind
natürlich die 3 Milliarden Euro, die die Europäische Union zur Verfügung stellt, um die weit über 2 Millionen
Flüchtlinge, die zum Teil seit Jahren in der Türkei sind,
besser zu behandeln und stärker wirtschaftlich zu integrieren.
Ich finde es auch ganz besonders wichtig - das darf
ich herausgreifen -, dass möglichst alle syrischen Kinder, die dort leben, auch zur Schule gehen können, was
zurzeit nicht der Fall ist. Man kann jetzt sagen, es sei
grundsätzlich ohnehin die Aufgabe eines aufnehmenden
Staates, das sicherzustellen, aber angesichts der großen
Zahl haben wir Verständnis dafür, dass die Türken hier
um Hilfe und Unterstützung bitten.
Wenn Sie das als Tauschhandel ansehen: Wenn das
den syrischen Flüchtlingen dort zugutekommt, dann ist
das auch gerne ein Tauschhandel. Jedenfalls soll mit diesen Mitteln der Europäischen Union, die ich als Gegenleistung bezeichnen würde, dafür gesorgt werden, dass
sich die Menschen, gerade die syrischen Flüchtlinge, dort
besser aufhalten können.
Frau Hänsel.
Diese Hilfe erreicht vielleicht einen Teil der Flüchtlinge, aber für die anderen Flüchtlinge, die zum Beispiel
an der Grenze zu Griechenland von den NATO-Schiffen
aufgegriffen - das haben wir ja gerade gehört - und ausnahmslos auf die türkische Seite zurückgeschickt werden, bedeutet das eine massive Verletzung ihrer Rechte.
Das gilt besonders für kurdische Staatsbürger der Türkei, die jetzt vor Erdogan fliehen. Sie werden von den
NATO-Schiffen aufgegriffen und wieder in das Land ihres Peinigers zurückgebracht.
Das, was hier passiert, ist eine Verletzung des internationalen Rechts, und das meine ich mit „Tauschhandel“.
Man nimmt es in Kauf, dass hier die Flüchtlingsrechte
massiv verletzt werden und dass die Türkei - das ist bekannt; es gibt entsprechende Berichte - syrische Flüchtlinge inhaftiert und nach Syrien abschiebt.
Herr Staatssekretär.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Zunächst einmal
teile ich Ihre Rechtsauffassung in keiner Weise, und die
Türkei ist auch kein Land von Peinigern, sondern ein
Land, in dem über 2 Millionen syrische Flüchtlinge Aufnahme finden, allerdings zu Bedingungen, die dringend
verbesserungsbedürftig sind.
({0})
Das, was wir hier als Gegenleistung oder Leistung der
Europäischen Union zugesagt haben, wird natürlich auch
den Flüchtlingen zugutekommen, die einen vergeblichen
Weiterfluchtversuch nach Europa unternommen haben.
Ich rufe die Frage 9 des Abgeordneten Omid Nouripour
auf:
Inwiefern ist nach Ansicht der Bundesregierung die von
Bundesinnenminister Dr. Thomas de Maizière geplante Praxis der Abschiebung von Afghaninnen und Afghanen ({0}) vereinbar mit der Einschätzung des Auswärtigen Amts,
nach der sich die Sicherheitslage in Afghanistan verschlechtert
habe ({1})?
Herr Staatssekretär.
Frau Präsidentin! Lieber Kollege Nouripour! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Die Frage ist ja im
Kontext der Reise meines Ministers nach Afghanistan
gestellt.
({0})
http://www.spiegel.de/politik/deutschland/fluechtlinge-rueckfuehrung-nach-afghanistan-kaum-moeglich-a-1062500.html
http://www.spiegel.de/politik/deutschland/fluechtlinge-rueckfuehrung-nach-afghanistan-kaum-moeglich-a-1062500.html
http://www.spiegel.de/politik/deutschland/fluechtlinge-rueckfuehrung-nach-afghanistan-kaum-moeglich-a-1062500.html
- „Unser aller Minister!“ Umso besser! Es ist wert, für
das Protokoll einmal festzuhalten, dass Herr Nouripour
bestätigt: unser aller Minister. Das ist eigentlich noch
schöner formuliert.
Also: Die Frage ist im Kontext der Reise unseres unser aller - Bundesministers Thomas de Maizière nach
Afghanistan vom 31. Januar 2016 bis 2. Februar 2016
gestellt, und es geht hier um die Vereinbarung eines gemeinsamen Vorgehens zur Rückführung abgelehnter afghanischer Asylbewerber.
Alle Gesprächspartner erkannten die Verpflichtung
Afghanistans zur Rückübernahme seiner Staatsangehörigen nach entsprechender Entscheidung ihres Status
durch deutsche Behörden dem Grunde nach an. Über
dieses Ergebnis hat Herr Bundesminister Dr. de Maizière
seine Amtskollegen in den Ländern mit Schreiben vom
5. Februar 2016 auch entsprechend informiert.
Mit Beschluss vom Dezember 2015 stellte die Innenministerkonferenz bereits einvernehmlich fest, dass die
Sicherheitslage Afghanistans eine Rückkehr ausreisepflichtiger afghanischer Staatsangehöriger grundsätzlich
erlaubt. Dabei kommt es immer auf den Einzelfall und
auf die einzelne Konstellation an. Die Sicherheitslage in
Afghanistan bleibt natürlich weiterhin volatil. Sie weist
starke regionale Unterschiede auf und lässt sich für die
Zivilbevölkerung nicht pauschal bewerten, sondern
hängt von den Regionen und den Umständen des Einzelfalles ab.
Vor allem in größeren Städten, wie Kabul, Herat und
Masar-i-Scharif - das haben wir gerade auch vom Staatsminister aus dem Auswärtigen Amt gehört -, gibt es trotz
Anschlägen ein vergleichsweise normales Alltagsleben,
weshalb es auch die meisten Binnenmigranten dorthin
zieht. Die afghanische Regierung hat ihrerseits öffentlich
beispielhaft die Provinzen Bamiyan, Pandschschir und
Kabul als sicher eingeschätzt.
Im Asylverfahren erfolgt immer eine Einzelfallprüfung, bei der die konkrete Situation berücksichtigt wird.
Daneben erfolgt auch eine individuelle Prüfung der
Rückführung. Das ist also eine weitere Einzelfallprüfung. Die Bundesregierung ist sich, wie Sie auch aus den
Antworten des Herrn Staatsministers und mir ersehen, in
ihrer Bewertung hier natürlich einig.
Herr Nouripour.
Ich möchte gerne den armen Staatsminister in dessen
Abwesenheit in Schutz nehmen, weil er sich auch auf
Nachfrage meines Kollegen Ströbele dagegen verwahrt
hat, er hätte diese Städte als sicher bezeichnet. Ich erinnere mich sehr gut daran, wie sich im Verteidigungsausschuss beim Thema Kunduz alle einig waren.
Die Frage, die der Staatsminister vorhin nicht beantwortet hat, die aber sehr viel mit Ihrer Antwort zu tun
hat - er hat davon gesprochen, dass sehr viele Menschen
zum Beispiel nach Pakistan zurückgehen und nicht mehr
in ihre Häuser können, weil es sie nicht mehr gibt oder
sie anders verwendet werden -, ist, inwieweit denn nach
Ihrem Verständnis diese Welle von Rückkehrern einen
Beitrag zur Instabilität in Afghanistan leistet. Das war in
den letzten Jahren stets so.
Zunächst einmal habe ich im Zusammenhang mit
diesen Städten ausdrücklich das Wort „sicher“ nicht
genannt. Ich habe nur beschrieben, dass viele Afghanen in diese Städte ziehen, die sich offenbar nach ihrer
Selbsteinschätzung dort besser aufgehoben fühlen als in
anderen Teilen des Landes. Aus deren Sicht ist es dort sicherlich sicherer als in manch anderen Teilen des Landes.
Insgesamt müssen wir auch sehen, dass es innerhalb ein
und derselben Provinz Unterschiede in der Sicherheitslage zwischen der Provinzhauptstadt und ländlicheren
Gebieten gibt. Ich habe das Wort „sicher“ im Zusammenhang mit einer Äußerung der afghanischen Regierung in
Bezug auf drei Provinzen benutzt, die ich eben genannt
habe.
Ich gehe fest davon aus, dass die Zahl der Rückkehrer aus Deutschland - sowohl freiwillige Rückkehrer als
auch Rückkehrer durch Abschiebungen, wenn sie denn
nötig sind - in der nächsten Zeit nicht in einer Größenordnung sein wird, die die Stabilität des Landes in irgendeiner Weise gefährden kann.
Herr Nouripour.
Ich möchte gerne wissen, welche Erkenntnisse die
Bundesregierung über das Hauptthema der Gespräche
und der Rede von Präsident Ghani am letzten Wochenende in München hat, nämlich über die Aktivitäten und
über die Ausbreitung von ISIS in Afghanistan, was bekanntermaßen etwas mit Sicherheit zu tun hat.
Über die konkrete Rede oder die Gespräche, die im
Zweifelsfalle am Rande oder auf der Münchner Sicherheitskonferenz geführt worden sind und die gewöhnlich
nicht öffentlich sind, habe ich jetzt keine präsenten Erkenntnisse.
({0})
- Gut, ISIS in Afghanistan ist sicherlich ein wichtiges
Thema. Wenn es eine öffentliche Rede war, brauchen Sie
nicht Erkenntnisse von mir. Dann können Sie die öffentliche Rede ja nachlesen.
({1})
- Ich habe die Frage vielleicht nicht verstanden. Vielleicht versuchen Sie es noch einmal. - Frau Präsidentin,
ich maße mir ständig das Wort an. Ich bitte vielmals um
Entschuldigung.
Herr Nouripour, Sie können die Frage präzise wiederholen. Das wäre hilfreich.
Herzlichen Dank für Ihre Geduld, Toleranz und Nachsicht, Frau Präsidentin. - Herr Staatssekretär, das Thema
ISIS spielte eine sehr zentrale und prominente Rolle in allen Ausführungen des Präsidenten Ghani und nach seiner
eigenen Aussage auch in seinen bilateralen Gesprächen.
Meine Frage lautet: Was weiß die Bundesregierung darüber, und wie schätzt die Bundesregierung die Ausbreitung und Expansion von ISIS, was für die Sicherheitslage vor Ort ein großes Thema ist, in Afghanistan ein?
Ich kann Ihnen dazu ad hoc keine vernünftige und seriöse Einschätzung geben. Das ist sicherlich Gegenstand
der Beobachtungen im Auswärtigen Amt. Ich habe - ich
glaube, das ist von der Sache her näher an der Frage, die
Sie gestellt haben - von den Gesprächen des Bundesinnenministers berichtet, speziell zu der Frage: Erlaubt
die Sicherheitslage in Afghanistan insgesamt eine Rückführung von Menschen aus Afghanistan? Dazu gab es
konstruktive Gespräche. Insofern ist eine Rückführung
grundsätzlich möglich. Das ist die Position der Bundesregierung.
Es ist auch wichtig, ein klares Signal zu senden - das
wir bei dieser Reise mit den afghanischen Stellen gemeinsam gegeben haben -, dass auch die afghanische
Regierung ihre Bevölkerung auffordert, nicht auszureisen, nicht nach Deutschland oder in andere Länder Europas aufzubrechen, auch in Kenntnis der Sicherheitslage,
die im Land sehr unterschiedlich ist und die von Faktoren
beeinflusst wird, die Sie gerade genannt haben.
Frage 10 der Abgeordneten Sevim Dağdelen wird
schriftlich beantwortet.
Genau. Die hätte ich jetzt auch nicht beantworten können.
Damit kommen wir zur Frage 11 des Abgeordneten
Volker Beck:
Ist die Bundesregierung zurückblickend der Meinung,
dass die verkündete Grenzöffnung für Flüchtlinge durch die
Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel vom 4. September 2015
rechtlich gesehen Unrecht war, und warum sieht die Bundesregierung darin keine Verletzung von Artikel 16 a des Grundgesetzes?
Herr Staatssekretär.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. Dazu liegen mir in der
Tat die Unterlagen vor. - Frau Präsidentin! Meine Damen
und Herren! Lieber Herr Kollege Beck! Die Bundesregierung hält an ihrer Auffassung fest, dass das parlamentarische Fragerecht und Informationsrecht keinen Anspruch
auf die Abgabe rechtlicher Bewertungen vermittelt.
Ich darf Ihnen allerdings dazu noch sagen, dass die
Bundesregierung natürlich keine rechtswidrigen Entscheidungen trifft und schon gar nicht in Bezug auf den
Umgang mit Flüchtlingen, die an unsere Grenzen gelangen. Auch hat es hier, wie Sie vielleicht annehmen, keine
Änderung einer rechtlichen Bewertung gegeben. Soweit
die Fragestellung impliziert, dass am 4. September 2015
eine, wie Sie es nennen, „Grenzöffnung für Flüchtlinge
durch die Bundeskanzlerin“ verkündet worden ist, muss
ich Ihnen ganz klar sagen: Dem ist nicht so gewesen.
Herr Kollege Beck.
Das erstaunt mich jetzt. Denn vorhin in der Debatte
über die Regierungserklärung war diese Entscheidung
zwischen Herrn Oppermann, der Kanzlerin und Frau
Göring-Eckardt ein Thema. Heißt das, die Bundesregierung teilt nicht die Auffassung des Fraktionsvorsitzenden
Thomas Oppermann, dass es sich um eine rechtmäßige
Entscheidung gehandelt hat, die sowohl vom Asylgesetz
gedeckt ist - § 18 ist es, glaube ich -, was den Grenzübertritt betrifft, als auch von dem Selbsteintrittsrecht nach
der Dublin-III-Verordnung?
Herr Staatssekretär.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Ich weiß nicht, ob
Sie mir gerade nicht zugehört haben oder ob ich erkältungsbedingt etwas undeutlich spreche. Ich habe ausdrücklich gesagt, dass die Bundesregierung keine rechtswidrigen Entscheidungen trifft und die Entscheidung
natürlich rechtmäßig war auf der Grundlage deutschen
und europäischen Rechts und dass sich an der rechtlichen
Bewertung, dass es sich um eine rechtmäßige Entscheidung handelt, nichts geändert hat.
Könnten Sie dann dem Hohen Hause und der deutschen Öffentlichkeit, weil es offensichtlich einen entsprechenden Bedarf gibt, noch einmal die Rechtsgrundlagen
für die Rechtmäßigkeit dieser Entscheidung erläutern?
Ich glaube, das ist wichtig, weil es sowohl im Hohen
Hause Leute gibt, die sie anzweifeln, als auch draußen
in der Gesellschaft. Ich finde es gerade in diesen Zeiten,
wo Hasardeure auf unseren Straßen Menschen verhetzen,
gut, wenn wir erläutern, warum die Entscheidungen der
Bundesregierung rechtmäßig sind. Ich bin da ganz bei
Ihnen; ich möchte es bloß noch einmal aus berufenerem
Munde als aus meinem hier hören.
In Ihrer Frage hatten Sie konkret danach gefragt, ob es
sich um einen Verstoß gegen Artikel 16 a des Grundgesetzes handelt.
({0})
- Ich will das in den Kontext stellen. - Diese Frage war,
wenn ich das, mit Verlaub, so sagen darf, ein bisschen
neben der Sache, weil ein Grundrecht immer nur einen
Mindeststandard vorgibt und natürlich sowohl die Exekutive als auch die Legislative nicht daran gehindert sind,
mehr an Rechten und an Schutz zu gewähren, als das
Grundrecht vorsieht. Artikel 16 a - das stimmt - gewährt
diesen Schutz nicht.
Es gibt zunächst einmal das Asylgesetz, das hierbei
eine Rolle spielt, und das ist mit dem europäischen Recht
zusammen zu lesen und wird zum Teil auch dadurch
überlagert. Das europäische Recht in Gestalt der Dublin-Verordnung zwingt nicht dazu, von Zurückweisungen
abzusehen, ermöglicht es aber, von Zurückweisungen abzusehen.
({1})
Vielen Dank. - Dann komme ich zur Frage 12, ebenfalls des Kollegen Beck:
Inwiefern würde sich nach Auffassung der Bundesregierung die Bestimmung von Marokko zum sicheren Herkunftsstaat auf das Territorium der Westsahara bzw. die Volksgruppe
der Sahrauis erstrecken, und warum erwähnt die Begründung
des Gesetzentwurfs der Bundesregierung zur Einstufung der
Demokratischen Volksrepublik Algerien, des Königreichs Marokko und der Tunesischen Republik als sichere Herkunftsstaaten nicht, dass sich „sahrauische politische Aktivisten,
Protestierende, Menschenrechtsverteidiger und Medienschaffende ... mit einer Reihe von Einschränkungen in ihren Rechten ... konfrontiert ({0}) und ... häufig festgenommen, gefoltert oder anderweitig misshandelt und strafrechtlich verfolgt
({1})“ ({2})?
Frau Präsidentin, darf ich antworten?
Aber sicher.
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lieber Kollege Beck! Vor der Einstufung des Königreichs Marokko
als sicherer Herkunftsstaat hat sich die Bundesregierung
anhand von Rechtslage, Rechtsanwendung und allgemeinen politischen Verhältnissen ein Gesamturteil über die
für eine Verfolgung bedeutsamen Verhältnisse in dem
Staat gebildet.
Bei der Einstufung als sicherer Herkunftsstaat wird
zwar zunächst kraft Gesetzes vermutet, dass ein Antragsteller aus einem solchen Staat nicht verfolgt wird. Diese Vermutung kann jedoch durch den Antragsteller im
Rahmen seines Asylverfahrens widerlegt werden. Jeder
Antrag wird nach wie vor individuell geprüft. In jedem
Asylverfahren wird weiterhin eine persönliche Anhörung
durchgeführt, in der der Antragsteller seine Situation im
Herkunftsstaat vortragen und gegebenenfalls seinen Anspruch auf einen Schutzstatus in Deutschland belegen
kann, natürlich auch mit den Argumenten, die Sie in Ihrer
Frage ansprechen.
Herr Kollege Beck.
Ich möchte Sie bitten, Herr Krings, auch den zweiten Frageteil meiner schriftlich eingereichten Frage zu
beantworten, nämlich warum die Bundesregierung den
Bericht von Amnesty International vom 2. Februar 2016
und die darin geschilderten Menschenrechtsverletzungen
an sahrauischen Aktivisten und die Unterdrückung des
sahrauischen Volkes in der besetzten Westsahara mit keiner Silbe erwähnt.
Herr Abgeordneter, der Bericht ist sozusagen das, was
zusammenfassend aus allen Sachvorträgen und Sacherkenntnissen herauszudestillieren ist. Das sind auch
Zulieferungen des Auswärtigen Amts. Ich gehe selbstverständlich davon aus, dass auch der Bericht, den Sie
ansprechen, beim Auswärtigen Amt in eine Gesamtbewertung mit eingeflossen ist
({0})
und im Ergebnis allerdings zu keiner anderen Entscheidung geführt hat als diejenige, die wir Ihnen vorschlagen.
Bitte, Herr Beck.
Gestatten Sie zwei Sätze vorweg. Ich finde es erstaunlich, dass ein seit 1975 von Marokko widerrechtlich besetztes und annektiertes Gebiet, wo die UN jedes Jahr ihr
Mandat verlängern, um den dort geltenden Waffenstillstand zu überwachen, in keiner Weise bei der Einschätzung über einen sicheren Herkunftsstaat Einfluss nimmt.
Sie können das am Ende verwerfen. Aber es ist keine
Nickeligkeit, wenn praktisch 50 Prozent des betroffenen
Territoriums Bürgerkriegsgebiet sind und die UN dort
Volker Beck ({0})
Truppen vorhalten, um ein Referendum durchzuführen;
das hat bislang nicht stattgefunden.
Ich möchte Sie fragen, ob das, was ich in der marokkanischen Ausgabe von Libération gelesen habe, beabsichtigt ist:
L’annonce du Maroc comme un pays sûr par l’Allemagne est presque une reconnaissance de la souveraineté du Royaume sur son Sahara. C’est un gain
diplomatique énorme. Ceci d’autant plus que les
opérations d’expulsion des migrants irréguliers marocains vont être accompagnées par des investissements allemands au Maroc dont l’augmentation est
déjà fort perceptible.
Die marokkanische Regierung bewertet also die Anerkennung als sicheren Herkunftsstaat als Anerkennung der
Souveränität Marokkos über das Gebiet der Westsahara.
Ist das von der Bundesregierung beabsichtigt, und wenn
es nicht beabsichtigt ist, wie will sie dieser Wahrnehmung in der Völkergemeinschaft entgegentreten?
Herr Staatssekretär.
Frau Präsidentin, ich würde gerne in deutscher Sprache antworten, wenn es erlaubt ist.
({0})
Das sollten Sie auch. Sonst hätte ich mir auch noch
einen kleinen Hinweis gestattet.
({0})
Ich darf damit beginnen, dem Kollegen Beck zu seinem doch leidlich guten Französisch - jedenfalls viel
besser als meines - zu gratulieren. Ich bedanke mich,
dass er das Zitat übersetzt hat. Mein Französisch hätte
wahrscheinlich nicht ausgereicht.
Sie gehen davon aus, die Hälfte des Territoriums sei
Bürgerkriegsgebiet. Diese beiden Annahmen kann ich so
nicht stehen lassen. Zuerst können Sie Wüstenquadratkilometer nicht mit dichtbesiedeltem Gebiet vergleichen.
({0})
Des Weiteren wollen Sie ein bestimmtes Bild erzeugen,
das ich gleich leider zerstören muss, Herr Kollege Beck.
Im Übrigen geht es dort dank des UN-Einsatzes weitestgehend - weitestgehend! - friedlich zu.
({1})
Ich finde es außerdem sehr mutig, dass Sie die völkerrechtliche Lage mit einem Halbsatz aus Ihrer Sicht offenbar perfekt bewertet haben. Die UN, die sich seit Jahrzehnten mit diesem Konflikt befassen, gehen an dieser
Stelle von einer sehr viel komplexeren Lage aus.
Falls Sie die Sorge haben, dass mit der Einbeziehung
oder Auslassung eines Halbsatzes oder Satzes bzw. der
Erwähnung eines Berichts irgendeine völkerrechtliche
Stellungnahme der Bundesregierung verbunden ist - ich
finde es gut, dass Sie diese Frage so gestellt haben -, kann
ich Ihnen sagen, dass es sich hier um keinerlei Positionierung der Bundesregierung in einer völkerrechtlichen
Frage handelt; das möchte ich an dieser Stelle klarstellen.
Man könnte sogar darüber nachdenken, ob nicht die Einbeziehung dieses Themas, verbunden mit einer bestimmten Entscheidung, Ihr Argument eher erhärtet. Ich kann
Sie jedenfalls beruhigen: Die Bundesregierung verbindet
hier mit dem Vorschlag, Marokko als sicheres Herkunftsland einzustufen, keine völkerrechtliche Stellungnahme.
({2})
Herr Ströbele hat das Wort. Ich bitte den Kollegen,
sich der deutschen Sprache zu bedienen, weil das die Geschäftssprache im Deutschen Bundestag ist.
({0})
- Man kann auch mit Quellenhinweisen arbeiten, Herr
Kollege Beck.
Bei mir besteht die Gefahr nicht, dass ich Französisch
spreche, weil ich auf der Schule darin ganz schlecht
war. - Also auf Deutsch.
Gut.
Herr Staatssekretär, zunächst nur ein Punkt zur völkerrechtlichen Lage: Marokko ignoriert seit vielen Jahren eine eindeutige UNO-Resolution in Bezug auf die
Sahrauis, ohne dass die Bundesregierung irgendetwas
daran geändert hat. Meine Frage geht vielmehr dahin:
Hat die Bundesregierung bei der Zuordnung der Länder Marokko, Tunesien und Algerien zu den sicheren
Herkunftsländern beispielsweise die Situation der Homosexuellen in diesen Ländern berücksichtigt und zur
Kenntnis genommen, dass Menschen dort nur wegen ihVolker Beck ({0})
rer Homosexualität verfolgt, ins Gefängnis gesperrt und
gefoltert werden?
Herr Staatssekretär.
Danke schön. - Zunächst zu Ihrer Vorbemerkung: Ich
habe nicht in Abrede gestellt, dass es dort Verletzungen
von UN-Resolutionen geben mag. Ich habe nur deutlich
gemacht, dass mit dem Vorschlag, Marokko als sicheres Herkunftsland zu bestimmen, keine völkerrechtliche
Aussage verbunden ist.
Für alle diese drei Staaten hat natürlich die Menschenrechtslage insgesamt eine Rolle gespielt: die Rechtslage
im Abstrakten - das, was als Gesetzeslage im Gesetzbuch verzeichnet ist -, aber auch die Rechtspraxis, die
Rechtsanwendung. Der von Ihnen genannte Punkt ist
dabei berücksichtigt worden. Insofern ist es im Einzelfall immer noch möglich und durch das Verfahren auch
sichergestellt, dass die Vermutung, die mit dem sicheren
Herkunftsstaat einhergeht, in solchen Konstellationen
auch widerlegt werden kann.
Die Kollegin Keul erhält das Wort zu einer Frage.
Ich habe mich bei der Lektüre der Gesetzesbegründung - Marokko als sicherer Drittstaat - auch ein bisschen gewundert, weil auffällt, dass die Begriffe wechseln. Es heißt, im Hoheitsgebiet Marokkos gebe es keine
Menschenrechtsverletzungen. Nun frage ich mich: Was
meint die Bundesregierung mit „Hoheitsgebiet Marokko“?
Was die besetzten Gebiete betrifft, so gewährt Marokko keinerlei Zugang für internationale Menschenrechtsbeobachter. Wir Parlamentarier bekommen dort keine
Einreiseerlaubnis, und auch der UN-Sonderbeauftragte
Christopher Cross bekommt schon seit Jahren, obwohl
die UNO darauf besteht, keine Einreisegenehmigung für
die besetzten Gebiete. Zivilisten, die dort 2010 ein Protestcamp organisiert hatten, sind anschließend vor einem
Militärgericht zu lebenslangen Freiheitsstrafen verurteilt
worden. All dies sind starke Indizien dafür, dass die Menschenrechtslage zumindest in den besetzten Gebieten
sehr prekär ist.
Jetzt frage ich noch einmal: Warum spricht die Bundesregierung in der Gesetzesbegründung immer vom
„Hoheitsgebiet Marokko“? Meint sie auch die besetzten
Gebiete, oder meint sie nur das Kernland Marokko?
Herr Staatssekretär.
Vielen Dank. - Wenn Menschenrechtsverletzungen
begangen werden oder Menschenrechtsgruppen der Zutritt verweigert wird, bin ich mit Ihnen in der Kritik und
im Protest dagegen einig. Meines Wissens erstreckt sich
der Begriff „Hoheitsgebiet“ gerade nicht auf diese Gebiete - dann würden wir ja eine Hoheit über die Gebiete
implizit anerkennen -, sondern damit ist das unstrittige
marokkanische Territorium gemeint. Das ist jedenfalls
mein Kenntnisstand.
Der Kollege Nouripour hat noch eine Frage.
Herzlichen Dank, Frau Präsidentin. - Herr Staatssekretär, in der Begründung des Gesetzentwurfs steht:
Die Todesstrafe wird verhängt ... Missionierungen
sind verboten, die ({0}) Konvertierung eines Muslims ist unter Strafe gestellt. ... Die in der
Verfassung garantierte Unabhängigkeit von Gerichten und Richtern ist in der Praxis nicht immer
gewährleistet. ... Oppositionelle Gruppierungen
und Nichtregierungsorganisationen machen u. a.
Einschränkungen bei Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit geltend.
- Und so weiter und so fort. Das ist Algerien.
Meine Frage lautet: Hat die Bundesregierung, nachdem sie das Label „sicherer Herkunftsstaat“ vergeben
hat, das in diesen Ländern so verstanden wird, wie der
Kollege Beck es gerade beschrieben hat - ich bin außenpolitischer Sprecher meiner Fraktion, rede viel mit
Botschaftern und kann das nur bestätigen -, ernsthaft
weiterhin vor, diesen Ländern gegenüber Menschenrechtspolitik geltend zu machen, und wenn ja, wie? Wie
wollen Sie mit den Ländern über Demonstrationsverbote
willkürlicher Art, Einschränkungen der Pressefreiheit,
die Situation in den Gefängnissen und die Nichtunabhängigkeit der Justiz sprechen, wenn Sie ihnen vorher erklärt
haben, dass es sichere Herkunftsstaaten sind?
Herr Staatssekretär.
„Sicherer Herkunftsstaat“ ist ein Begriff des nationalen Rechts, des nationalen Asylrechts. Es ist kein völkerrechtlicher Begriff und ist auch keiner, mit dem wir auf
der internationalen Bühne operieren. Dass die Gefahr
besteht, dass die Länder diesen Begriff so missbrauchen, das will ich Ihnen ausdrücklich zugestehen. Insofern werden wir mit unserer Menschenrechtspolitik auch
deutlich machen, dass das in keiner Weise eine Akzeptanz für Menschenrechtsverletzungen ist.
Es ist ein Signal an die Menschen, dass in aller Regel - mit ganz wenigen Ausnahmen, das können wir auch
in den entsprechenden Anerkennungs- und Schutzquoten
HansChristian Ströbele
nachlesen - der Weg nach Deutschland, nach Europa
nicht der richtige ist. Dieses Signal wollen wir damit geben und im Verwaltungsverfahren auch die tatsächlichen
Zahlen abbilden. Es ist kein Begriff des Völkerrechts
oder der internationalen Politik. Es hindert uns auch
nicht daran, dort weiterhin unsere Menschenrechtsargumente vorzutragen.
Vielen Dank. - Frau Keul, ich will Sie nur darauf hinweisen: Nach unserer Geschäftsordnung haben diejenigen Kolleginnen und Kollegen, die die Frage eingereicht
haben, die Möglichkeit, zwei Nachfragen zu stellen.
Alle anderen Kolleginnen und Kollegen können nur eine
Nachfrage stellen. Ich bitte um Verständnis dafür.
Die Fragen 13 und 14 der Abgeordneten Corinna
Rüffer, Frage 15 der Abgeordneten Jelpke, die Fragen 16
und 17 des Abgeordneten Dr. André Hahn und Frage 18
der Abgeordneten Marieluise Beck ({0}) werden
schriftlich beantwortet.
Ich rufe jetzt die Frage 19 des Abgeordneten HansChristian Ströbele auf:
In welcher Weise kooperiert das Bundesamt für Verfassungsschutz ({1}) zwecks weiterer Aufklärung mit dem
Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof ({2}) bei
dessen laufendem Ermittlungsverfahren wegen Unterstützung
ausländischer Terrorvereinigungen gegen einen bekannten sowie mehrere noch zu identifizierende BfV-Mitarbeiter, die den
Ex-Verbindungsmann des BfV, Irfan Peci ({3}), im Herbst
2009 zu mehreren Geldspenden aus BfV-Geldern an zwei islamistische Vereinigungen veranlassten, welche er auch medial
über vom Bundesnachrichtendienst ({4}) finanzierte Server
unterstütze ({5}), und
wann wird das BfV dem GBA die noch gesuchten oben genannten Personen namhaft machen sowie administrative, organisatorische und personelle Konsequenzen aus den verfahrensgegenständlichen Vorgängen ziehen?
Herr Staatssekretär.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Lieber Herr Ströbele, das Bundesamt für Verfassungsschutz kooperiert mit dem Generalbundesanwalt
bei dem in Rede stehenden Ermittlungsverfahren weitest
möglich.
Herr Ströbele.
Herr Staatssekretär, Sie behaupten doch nicht, dass
das eine vollständige Antwort auf meine Frage ist, schon
gar keine weise. Aber ich will Ihnen dazu vorhalten, was
man der Berliner Morgenpost am 14. Februar entnehmen
konnte, nämlich dass der Generalbundesanwalt bestätigt
hat, dass ein solches Ermittlungsverfahren bei ihm gegen
den Herrn Peci, einen ehemaligen Mitarbeiter des Bundesverfassungsschutzes oder etwas Ähnliches - einen
Zusammenarbeiter mit dem Bundesverfassungsschutz -,
geführt wird. Was aber viel interessanter ist, ist, dass
auch gegen Mitarbeiter des Bundesamtes für Verfassungsschutz, das dem Innenministerium untersteht, ein
Ermittlungsverfahren läuft und dass in einem Fall die
Person bekannt ist und in dem anderen Fall die zwei Personen nicht bekannt sind.
Ist das Innenministerium bereit, dem Generalbundesanwalt diese Namen zur Verfügung zu stellen, oder muss
dieser beim Verfassungsschutz eine Durchsuchung beantragen?
Herr Staatssekretär.
Zunächst einmal war das insofern eine vollständige
Antwort, als es sich um ein laufendes Ermittlungsverfahren handelt und in einer öffentlichen Sitzung keine
Details von laufenden Ermittlungsverfahren verkündet
werden können. Das wäre ganz wichtig festgehalten zu
werden. Wenn Sie allerdings ausdrücklich danach fragen,
kann ich erst einmal darauf hinweisen, dass ich bereits in
meiner ersten Antwort bestätigt habe, dass es ein solches
Ermittlungsverfahren gibt. Ich kann auch sagen: Ja, unter
anderem auch gegen Mitarbeiter des Bundesamtes. Nach
unseren bisherigen Erkenntnissen ist an diesen Vorwürfen nichts dran. Es sind also unhaltbare Vorwürfe. Aber
noch einmal: Ich will gar nicht mehr sagen, weil es sich
hier um ein laufendes Ermittlungsverfahren handelt und
ich dazu in öffentlicher Sitzung nichts sagen kann.
Herr Ströbele.
Dann will ich das noch konkreter machen. Der Zeitung
ist auch zu entnehmen - das hat die Zeitung jetzt nicht
erfunden, sondern das ergibt sich aus einer Antwort des
Generalbundesanwalts an die Zeitung -, dass gegen einen namentlich bekannten und weitere namentlich nicht
bekannte Mitarbeiter ermittelt wird. Die Namen der nicht
bekannten Mitarbeiter kann doch der Verfassungsschutz
dem Generalbundesanwalt geben. Ist die Bundesregierung bereit, diese Namen herauszugeben, ja oder nein?
Ich kann auf meine Antwort verweisen, Herr Kollege Ströbele, wenn es die Präsidentin gestattet, dass das
Bundesamt für Verfassungsschutz weitest möglich mit
dem Generalbundesanwalt kooperiert, das heißt auch, im
Rahmen der rechtlichen Möglichkeiten auch Informationen zur Verfügung stellen wird.
http://gruenlink.de/13r9
http://gruenlink.de/zy6
Vielen Dank. - Wir kommen zum Geschäftsbereich
des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales. Die
Frage 20 der Abgeordneten Veronika Bellmann wird
schriftlich beantwortet.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft. Die Fragen 21 und 22 der Abgeordneten Bärbel Höhn werden
schriftlich beantwortet.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Verteidigung. Die Frage 23 des Abgeordneten Harald Weinberg wird zurückgezogen.
Ich rufe jetzt die Frage 24 der Abgeordneten Katja
Keul auf:
Seit wann sind die AWACS-Luftfahrzeuge über der Türkei
im Einsatz, und wie viele deutsche Soldatinnen und Soldaten
sind an diesem Einsatz beteiligt ({0})?
Herr Staatssekretär.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Frau Kollegin Keul, in der Türkei finden regelmäßig Flüge mit
NATO-AWACS-Luftfahrzeugen statt, die allerdings hinsichtlich des Zwecks voneinander zu unterscheiden sind.
Erstens wird regelmäßig in der Türkei die nationale
Übung NEXUS ACE durch NATO-AWACS-Luftfahrzeuge unterstützt. Derzeit findet vom 16. Februar bis
zum 18. Februar 2016 ein Übungsdurchgang statt. Zweitens werden seit Februar 2015 im Rahmen der bisherigen Rückversicherungsmaßnahmen regelmäßig Flüge
entlang der türkischen Schwarzmeerküste im östlichen
Schwarzen Meer sowie angrenzender Länder durchgeführt.
Angesichts der instabilen Lage entlang der südöstlichen Grenze der Allianz haben die NATO-Verteidigungsminister auf ihrem Oktobertreffen im Jahre 2015 darüber
hinaus die Erarbeitung von Maßnahmen zur Rückversicherung der Türkei, sogenannte Tailored Assurance Measures - kurz: TAM -, beauftragt, die am 18. Dezember
2015 vom NATO-Rat beschlossen wurden.
Die see- und luftseitigen Maßnahmen der NATO umfassen eine intensivierte Unterstützung der integrierten
NATO-Luftverteidigung der Türkei, darunter den verstärkten Einsatz der AWACS-Aufklärungsflugzeuge zur
Luftraumaufklärung über der Türkei ebenso wie einen
verstärkten Einsatz der stehenden maritimen Einsatzverbände der NATO im östlichen Mittelmeer.
Flüge im Rahmen dieser sogenannten TAM für die
Türkei haben noch nicht stattgefunden. Eine entsprechende Entscheidung des Supreme Allied Commander
Europe zum Beginn der Flüge soll voraussichtlich noch
im Februar erfolgen. Eine Angabe zur Anzahl eingesetzter deutscher Soldatinnen und Soldaten kann nicht gemacht werden. Die Zusammensetzung der Luftfahrzeugbesatzung nach Nationalität unterscheidet sich von Flug
zu Flug und wird nicht erfasst.
Frau Keul, Ihre erste Nachfrage.
Ich habe eine Nachfrage zu den Fähigkeiten der
AWACS-Flugzeuge, sowohl dazu, wie sie jetzt dort sind,
als auch dazu, wie sie bei TAM eingesetzt würden. Wäre
es möglich, über die Daten, die die AWACS-Flugzeuge
aufnehmen, beispielsweise festzustellen, wer im Norden
Syriens Luftangriffe geflogen hat? Es ist zum Beispiel
umstritten, wer am Montag die Kliniken getroffen hat.
Die einen sagen: Es war die russische Seite. Die russische Seite sagt: Nein, es war die alliierte Seite. Wären
die AWACS in der Lage, hierüber Aufklärung zu geben?
Wären sie auch in der Lage, beispielsweise eine Flugverbotszone im Norden Syriens zu überwachen?
Herr Staatssekretär.
Frau Kollegin Keul, Ihre Frage bezog sich ja ausdrücklich auf AWACS-Luftfahrzeuge über der Türkei.
Ein Einsatz von NATO-AWACS-Luftfahrzeugen über
Syrien findet nicht statt.
Natürlich haben diese Luftfahrzeuge einen gewissen Bereich, den sie aufklären können; aber das ist natürlich umso geringer in Bezug auf Syrien, je weiter
Flüge von Syrien entfernt durchgeführt werden. Wie
gesagt, Ihre Frage bezog sich auf AWACS-Luftfahrzeuge über der Türkei. Jedenfalls findet ein Einsatz von
NATO-AWACS-Luftfahrzeugen über Syrien nicht statt.
Frau Keul, Ihre zweite Nachfrage.
Das war jetzt keine Antwort auf meine Frage. Natürlich weiß ich, dass die AWACS über der Türkei auch
Daten aus Syrien erfassen. Ich glaube, es war eigentlich
deutlich, dass ich das meinte. Ich kann jetzt aber nicht
noch einmal nachfragen, weil ich nur noch eine Zusatzfrage stellen darf.
Diese Zusatzfrage würde ich gern zur Einordnung der
Tatsache durch die Bundesregierung stellen, dass türkische Regierungsmitglieder bereits den Einsatz von Bodentruppen in Syrien diskutieren und dass Ankara bereits
von türkischem Territorium aus Syrien beschießen lässt.
Wenn deutsche Soldaten in den AWACS-Flugzeugen
sind, ist das dann nicht ein bewaffneter Einsatz, über den
wir hier beschließen müssten?
Frau Kollegin Keul, um es noch einmal ganz klar zu
sagen, auch im Hinblick auf Ihre erste Nachfrage zu Ihrer
eigentlichen Frage, die sich auf AWACS-Luftfahrzeuge
über der Türkei bezog:
({0})
Die Türkei ist NATO-Mitglied; sie ist kein Kriegsgebiet,
sondern unser Verbündeter. Wenn wir uns über dem Territorium unseres Verbündeten an Luftaufklärungsmaßnahmen beteiligen, bedarf es dazu selbstverständlich keines Mandats. Der Einsatz unserer deutschen Soldaten im
Rahmen mandatierter Einsätze, was den jüngst beschlossenen Einsatz mit Tornados über Syrien angeht, genauso
was unseren Einsatz im Nordirak zur Unterstützung der
kurdischen Peschmerga angeht: Diese Einsätze erfolgen
selbstverständlich mandatskonform. Es wird selbstverständlich dafür Vorsorge getroffen, dass deutsche Soldaten, die an mandatierten Luftüberwachungsaktionen
teilnehmen, die dabei ermittelten Daten nur in mandatskonformer Weise verwenden. Dafür ist in vielfältiger
Weise Vorsorge getroffen. Ich nenne als Stichworte in
diesem Zusammenhang „Red Card Holder“ etc.
({1})
Ich rufe die Frage 25 des Abgeordneten Dr. Alexander
Neu auf:
Welche Typen von Schiffen, U-Booten, Flugzeugen oder
Drohnen haben die an der EU-Militärmission EUNAVFOR
MED beteiligten Nationen bislang eingesetzt ({0}),
und welche Haltung vertritt die Bundesregierung hinsichtlich
der Frage, inwiefern Ziel und Zweck der eigentlich gegen
Fluchthelfer ausgerichteten Operation ({1}) auch auf die Ausbildung
oder technische Unterstützung der militärischen oder polizeilichen libyschen Grenzüberwachung ({2})
erweitert werden sollte?
Herr Staatssekretär, Sie haben das Wort.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Herr Kollege Neu,
seit Beginn von EUNAVFOR MED Operation Sophia
am 22. Juni 2015 haben insgesamt neun Nationen Schiffe
oder Luftfahrzeuge dem Operationshauptquartier der EU
in Rom unterstellt. Der Operation waren weder U- Boote
noch unbemannte Luftfahrzeuge direkt unterstellt. Im
Rahmen einer nationalen Unterstellung haben Italien und
Griechenland U-Boote eingesetzt und mit Aufklärungsergebnissen zur Operation beigetragen. Kenntnisse über
einen Einsatz von unbemannten Luftfahrzeugen der beteiligten Nationen im Rahmen einer nationalen Unterstellung liegen der Bundesregierung nicht vor. Die Nationen
haben sich bislang gemäß offizieller Veröffentlichung
durch den European External Action Service wie folgt
beteiligt: Belgien: Fregatte „Leopold I“, Hubschrauber
Bluebird Alouette; Deutschland: Fregatten „Schleswig-Holstein“ und „Augsburg“, Korvette „Ludwigshafen am Rhein“, Einsatzgruppenversorger „Frankfurt am
Main“ und „Berlin“, Tender „Werra“ und Minenjagdboot
„Weilheim“; Frankreich: Fregatte „Courbet“, Seefernaufklärer Falcon 50, Hubschrauber FR AS 565 Panther;
Griechenland: Seefernaufklärungsflugzeug Erieye EMB145H; Italien: Flugzeugträger „Cavour“ und „ Garibaldi“,
Hubschrauber EH101; Luxemburg: Seefernaufklärer
LUX SW3 Merlin III; Slowenien: Korvette „Triglav“;
Spanien: Fregatten „Numancia“ und „Canarias“, Seefernaufklärer P-3M Orion und Vigma D-4, Hubschrauber
SH-60B LAMPS III und AB 212; Vereinigtes Königreich: Fregatte „Richmond“, Multifunktionsforschungsschiff „Enterprise“, Hubschrauber AW101 Merlin Mk2
und Lynx Mk 8.
Die Bundesregierung weist den in der Fragestellung
genutzten Ausdruck der Fluchthelfer in diesem Zusammenhang entschieden zurück.
Mit EUNAVFOR MED Operation Sophia wird unter anderem gezielt gegen die organisierte Kriminalität
im Mittelmeer vorgegangen. Das Mandat zielt auf die
Unterbindung des perfiden Geschäftsmodells der Menschenschmuggel- und Menschenhandelsnetzwerke im
südlichen und zentralen Mittelmeer. Die Ausbildung und
Unterstützung libyscher maritimer Sicherheitsbehörden
ist nicht Teil des Mandats der Operation.
Eine Erweiterung des Mandats der Operation um
zusätzliche Aufgaben wie Ausbildung oder technische
Unterstützung ist aus Sicht der Bundesregierung an das
Vorliegen zusätzlicher politischer, rechtlicher und militärischer Voraussetzungen geknüpft. Diese sind derzeit
nicht gegeben.
Herr Kollege Neu, Sie haben das Wort. - Keine Nachfrage. Okay.
Dann rufe ich die Frage 26 auf, die ebenfalls vom Abgeordneten Dr. Neu gestellt wird:
Inwiefern stand ein in der fünften Kalenderwoche 2016 unter Beteiligung deutscher Kriegsschiffe abgehaltenes Manöver des ständigen maritimen Einsatzverbandes der NATO im
Mittelmeer mit der türkischen Marine im Zusammenhang mit
einer etwaigen gemeinsamen Militäroperation in der Ägäis,
um dort Fluchthelfer aufzuspüren und aufzubringen ({0}), und
was ist der Bundesregierung aus der Planung und Evaluierung
des Manövers darüber bekannt, welche der dort eingesetzten
Schiffe, Flugzeuge, U-Boote oder Satellitenkapazitäten die
beteiligten Nationen auch im Rahmen einer solchen Operation
gegen Fluchthelfer in der Ägäis einsetzen würden?
Herr Staatssekretär.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Herr Kollege Neu,
am Ständigen Marine-Einsatzverband 2 der NATO ist
Deutschland mit dem Einsatzgruppenversorger „Bonn“
als Flaggschiff des Verbandes im ersten Halbjahr 2016
beteiligt. Der Verband nimmt regelmäßig an Übungen
und anderen Vorhaben teil. Die Planung, Durchführung
und Auswertung dieser Vorhaben erfolgt längerfristig
und liegt nicht in nationaler Verantwortung, sondern
wird im Rahmen der NATO-Kommandostruktur erarbeitet und nachbereitet.
Das im Zeitraum vom 1. Februar bis zum 4. Februar
2016 durchgeführte Manöver des Ständigen Marine-Einsatzverbandes 2 der NATO mit der türkischen Marine fand in dem obengenannten Kontext statt und stand
daher nicht in einem Zusammenhang mit der geplanten
gemeinsamen Militäroperation in der Ägäis. Es diente
der Steigerung der Interoperabilität und Zusammenarbeit
innerhalb des Verbandes. Erkenntnisse zur Übungsauswertung dieses Manövers seitens der NATO liegen der
Bundesregierung nicht vor.
Aus diesen routinemäßig stattfindenden Vorhaben der
ständigen Marineeinsatzverbände der NATO lassen sich
keine Ableitungen treffen, welche Fähigkeiten einzelne
Nationen in konkrete Einsätze künftig gegebenenfalls
einmelden.
Herr Dr. Neu. - Keine Nachfrage.
Ich rufe die Frage 27 des Kollegen Hans-Christian
Ströbele auf:
Welche Angaben macht die Bundesregierung zum geplanten und von der NATO beschlossenen Einsatz der Bundesmarine im Rahmen der NATO in der Ägäis, insbesondere zu
den konkreten Aufgaben der Bundeswehr, dessen Zielen und
dessen Rechtsgrundlage, aber auch zu der Ausstattung und
Bewaffnung der eingesetzten Schiffe der Bundesmarine, und
wie wird die Bundesregierung sicherstellen, dass sich der Einsatz nicht gegen die Flüchtlinge auf ihrer Flucht vor Krieg und
Verfolgung aus der Türkei nach Europa, insbesondere nicht
gegen deren Freiheit und Freizügigkeit, die ihnen auch durch
deutsches, europäisches und internationales Recht garantiert
werden, richtet und auswirkt?
Der Staatssekretär hat das Wort zur Beantwortung.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Herr Kollege
Ströbele, während des Verteidigungsministertreffens am
10. Februar 2016 haben Griechenland, die Türkei und
Deutschland die NATO um Unterstützung bei der Flüchtlings- und Migrationskrise gebeten. Die NATO-Verteidigungsminister haben am 11. Februar den Supreme Allied Commander Europe - kurz: SACEUR - beauftragt,
Maßnahmen zur Unterstützung zu entwickeln. Auf der
Grundlage der bisherigen Autorisierungen hat SACEUR
angewiesen, den Ständigen Marine-Einsatzverband 2 der
NATO in die Ägäis zu verlegen. Derzeit ist beabsichtigt,
spätestens bis zum 24. Februar 2016 den NATO-Rat mit
den weiteren militärischen Planungen zu befassen.
Der beauftragte NATO-Verband wird derzeit durch
Deutschland geführt. Es besteht die Absicht, diesen
Verband mit der Aufklärung, Überwachung und Beobachtung des Seegebietes zwischen den Küsten der Türkei und Griechenlands zu beauftragen. Der deutsche
Einsatzgruppenversorger „Bonn“ ist ausgestattet mit
Navigationsradar sowie TV- und Infrarotkamera. Seine
Grundbewaffnung umfasst vier Marineleichtgeschütze,
vier Maschinengewehre sowie schultergestützte Flugkörper zur Flugabwehr. Mit dem beabsichtigten Beitrag
zum Lagebild sollen Griechenland und die Türkei bei der
Wahrnehmung ihrer hoheitlichen Aufgaben unterstützt
werden. Die Staaten sollen so in die Lage versetzt werden, den gesetzwidrigen Menschenschmuggel und die illegale Migration über den Seeweg besser zu unterbinden.
Angesichts der bisherigen Vorgaben seitens der NATO
ist es nicht beabsichtigt, Zwangsbefugnisse gegen Schiffe und Boote mit Migranten an Bord auszuüben. Daher
ist eine Einbeziehung in bewaffnete Unternehmungen
nicht zu erwarten.
Die Türkei hat zugesagt, auf See gerettete Flüchtlinge,
die aus der oder durch die Türkei kommen, wieder aufzunehmen. Die militärischen und politischen Gremien wurden von den NATO-Verteidigungsministern während des
Verteidigungsministertreffens am 11. Februar 2016 beauftragt, konkrete Details auszuarbeiten. Die Ergebnisse
dieser Arbeiten bleiben zunächst abzuwarten.
Herr Kollege Ströbele, ich würde noch eine Nachfrage von Ihnen zulassen. Wir werden dann aber die Fragestunde schließen müssen, weil die Zeit dann abgelaufen
ist. Also eine Nachfrage noch, und dann beenden wir die
Fragestunde.
Danke, Frau Präsidentin. - Herr Staatssekretär, darauf
muss man erst einmal kommen. Bei der Gründung der
NATO - das habe ich ja miterlebt - ist, glaube ich, niemand darauf gekommen, dass man diese NATO braucht,
um Flüchtlinge abzuwehren. Das ist nun wirklich eine
neue Idee.
Aber meine Frage: Wenn die Schiffe der Bundesmarine - das haben wir vorhin schon gehört - Menschen
aufnehmen, die geflohen sind vor Krieg, Hunger, Vertreibung, Bomben und Ähnlichem und die offenbar in
der Türkei auch nicht, ohne Not zu leiden, untergebracht
werden konnten, und sie in die Türkei zurückbringen,
also damit praktisch die Flucht beenden, ist dann nicht
auch nach Auffassung der Bundesregierung das Maß
überschritten? Wie kann die Bundesregierung so etwas
anordnen, anstatt die Flüchtlinge woanders hinzubringen, wie es etwa im Falle der libyschen Flüchtlinge geschieht, die nicht nach Libyen, sondern nach Italien, zum
Beispiel nach Lampedusa, zurückgebracht werden? Das
heißt, können die Flüchtlinge -
Herr Ströbele, Sie haben Ihre Zeit schon überschritten.
({0})
Herr Staatssekretär.
Herr Kollege Ströbele, dieser Einsatz dient selbstverständlich nicht der Bekämpfung von Flüchtlingen.
Ich glaube, die NATO-Mitgliedstaaten - die besonderen Lasten, die die Türkei zu tragen hat, wurden bereits
erwähnt - und in Sonderheit Deutschland haben keinen
Nachholbedarf im Hinblick auf Solidarität und Aufnahmebereitschaft bezüglich Flüchtlingen. Von daher weise
ich den Vorwurf, die NATO diene hier der Bekämpfung
von Flüchtlingen, seitens der Bundesregierung in aller
Entschiedenheit zurück. Es geht um die Bekämpfung
krimineller Menschenhandels- und Schleusernetzwerke,
nicht um die Bekämpfung von Flüchtlingen.
({0})
Selbstverständlich ist es in der Tat ein rechtlicher, politischer und faktischer erheblicher Unterschied, was die
Verhältnisse in Libyen einerseits und in der Türkei andererseits angeht. Die Türkei fällt ausdrücklich nicht unter
den sogenannten Non-Refoulement-Grundsatz, wonach
eine Rückführung in Länder nicht erlaubt ist, in denen
Menschen aufgrund ihrer Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen
Gruppe oder politischen Überzeugung Folter oder andere
schwere Menschenrechtsverletzungen drohen. Dies ist
bei der Türkei nicht der Fall.
({1})
Von daher fällt die Türkei nicht unter das sogenannte Refoulement-Verbot.
Es ist zu Recht schon darauf hingewiesen worden:
Seenotrettung ist die Aufgabe eines jeden Schiffes, das
auf Menschen in Seenot trifft. Die Menschen, die aus
Seenot gerettet werden, haben einen Anspruch darauf, in
einen sicheren Hafen gebracht zu werden. Sie haben keinen Anspruch darauf, in ein Land oder einen Hafen ihrer
Wahl gebracht zu werden. Genau diese Voraussetzung eines sicheren Hafens erfüllen auch die türkischen Häfen.
Im Übrigen habe ich darauf hingewiesen, dass die
konkreten Planungen noch in der Erarbeitung sind und
nach ihrem Abschluss unter anderem rechtlich durch die
Bundesregierung zu würdigen sind.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, alle weiteren Fragen
werden schriftlich beantwortet. Ich schließe die Fragestunde.
Ich rufe den Zusatzpunkt 1 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion DIE LINKE
Verschärfung kriegerischer Auseinanderset
zungen in Syrien nach den Angriffen der Tür
kei auf syrischkurdisches Gebiet
Als erster Redner in der Aktuellen Stunde hat
Wolfgang Gehrcke von der Fraktion Die Linke das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Ich bin eigentlich sehr froh, dass wir die Chance haben,
in dieser Aktuellen Stunde über die Lage in Syrien zu
debattieren. An erster Stelle bin ich darüber sehr froh,
weil ich möchte, dass die syrischen Flüchtlinge hier
in Deutschland bzw. in Europa verstehen, akzeptieren
und auch fühlen, dass uns die Lage in ihrem Land nicht
gleichgültig ist und wir sie nicht als Belastung, sondern
als Opfer einer Politik wahrnehmen, an der Europa - und
auch unser Land - einen Anteil hat. Das soll die Botschaft sein. Ich sage in aller Demut: Ich möchte, dass die
syrischen Flüchtlinge dieses Gefühl auch hier aus dem
Bundestag mitnehmen.
({0})
Wenn man über die Situation in Syrien nachdenkt,
kommt man also zu dem Schluss, dass Europa einen Anteil daran hat. Schauen Sie einmal auf die Grenzen im
Nahen Osten. Die sind mit dem Lineal gezogen worden.
Sie sind ein Ergebnis kolonialer Politik. Vieles an Unsicherheit resultiert daraus. Da haben wir etwas abzutragen.
Ist es nicht so, dass dieser verfluchte Krieg der USA
bzw. des Westens im Irak ein ganzes Land zerschlagen
hat und dass sich erst infolge dieses Krieges ISIS bzw.
IS und andere entwickeln konnten? Ist es nicht so, dass
heute das Gleiche in Libyen und im Jemen passiert? Wir
haben allen Anlass, auch über die eigene Verantwortung
nachzudenken.
Es war ein großes Verdienst der sozialdemokratischen
Kollegen, dass es damals unter Gerhard Schröder die Linie war, Nein zum Krieg im Irak zu sagen. Die Kanzlerin
ist damals ja noch in die USA gefahren und hat sich beim
amerikanischen Präsidenten entschuldigt. Sie wollte diese Entscheidung rückgängig machen. Ich finde, wir alle
haben Veranlassung, uns erst einmal mit uns selber auseinanderzusetzen.
Ist es nicht so, dass es europäische Länder - darunter
leider auch Russland - sind, die in Syrien bombardieren?
Ich habe immer geradlinig die Meinung vertreten: Bomben schaffen keinen Frieden. Und dabei bleibt es auch.
Mit Bomben kann man die Verhältnisse in einem Land
nicht verändern.
({1})
- Ja klar, für wen denn sonst?
({2})
- Ich habe das doch eben gesagt. Ihr alle habt Feindbilder
im Kopf. Feindbilder lohnen sich nicht - weder im Parlament noch anderswo. Ich habe deutlich gesagt, dass ich auch was Russland, andere europäische Länder und die
USA angeht - gegen die Bombenangriffe in Syrien bin.
Und ich sage noch einmal: Bomben schaffen keinen Frieden, egal wer sie abwirft. Das kann man auch verstehen.
({3})
Ich denke, wir sollten darüber reden und uns verständigen, was die Zielsetzung einer solchen Aktuellen
Stunde ist. Meine Fraktion bzw. ich verfolgen eigentlich
zweierlei. Wir sind der Auffassung, dass man eine Syrien-Politik machen muss, bei der wir eine Chance haben,
dass das Töten und Morden aufhört. Das steht für uns
an erster Stelle. Weiter wollen wir, dass Syrien ein einheitlicher, säkularer Staat bleibt und demokratisiert wird.
Das ist Punkt 1 der Wiener Vereinbarung, die zu Syrien
getroffen wurde. Keine andere Fraktion im Bundestag
verficht so konsequent die Wiener Vereinbarung wie die
Fraktion Die Linke. Wir wollen, dass das praktische Politik wird. Wenn man das will, muss man über ein paar
Fragen stärker nachdenken.
Seit Tagen beschießt die Türkei - ein enger Bündnispartner unseres Landes und NATO-Mitglied - kurdisch-syrisches Gebiet. In der Türkei sammeln sich
türkische und saudi-arabische Truppen. Ein Bodeneinsatz ist nicht ausgeschlossen. Wolfgang Ischinger hat
auf der Münchener Konferenz gesagt: Wenn das passiert, ist - weil Russland und andere aufeinandertreffen
könnten - auch eine atomare Auseinandersetzung nicht
auszuschließen. Auch ehemalige NATO-Militärs sagen,
dass das ein Super-GAU wäre. Ist es nicht furchtbar, dass
wir wieder in einer Zeit leben, wo wir den Gedanken an
einen großen Krieg nicht verdrängen können? Wir alle
müssten eine wirkliche Friedenspolitik entwickeln.
Wenn das passiert, ist Deutschland mittendrin. Wir
sollten die Tornados - wir gehen vor das Verfassungsgericht und klagen die Ihnen sowieso weg ({4})
sofort zurückziehen; denn wir dürfen uns nicht mit Militärwerkzeugen an einem Krieg beteiligen, der uns möglicherweise weit mehr als die jetzige Komponente mit in
den Abgrund reißt. Deswegen wollten wir diese Aktuelle
Stunde. Deswegen wollten wir über das reden, was passiert. Ich bin gespannt, was Ihre Position dazu ist, und ob
Sie die Courage haben, mal endlich zu sagen: Wir wollen
nicht, dass unser Land immer wieder in solche Kriege
hineingezogen wird. - Das wollte ich Ihnen vortragen.
Schönen Dank.
({5})
Vielen Dank. - Als nächster Redner hat Jürgen Hardt
von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
In der Aktuellen Stunde beschäftigen wir uns mit einem
Thema, das heute bereits Gegenstand der Regierungserklärung der Bundeskanzlerin war. Wenn Herr Gehrcke
hier reklamiert, dass die linke Fraktion das Wiener Verhandlungsergebnis zu Syrien am besten unterstützt, dann
muss ich sagen: Das, was die Bundeskanzlerin hier heute
in ihrer Regierungserklärung zu diesem Thema vorgetragen hat, war auch eine ganz klare und überzeugende
Unterstützung dieser Politik, die im Übrigen vom Bundesaußenminister wesentlich mitgestaltet und geprägt
worden ist.
({0})
Wenn ich die Überschrift der Aktuellen Stunde, die die
Linke beantragt hat, lese - „Verschärfung kriegerischer
Auseinandersetzungen in Syrien nach den Angriffen der
Türkei auf syrisch-kurdisches Gebiet“ -, dann denke ich,
Herr Gehrcke, dass Ihre Brille ein wenig schief sitzt;
({1})
ich meine jetzt Ihre politische Brille. Denn die Verschärfung der Lage in Syrien ist natürlich ganz klar zuvorderst
dadurch eingetreten, dass die russische Luftwaffe im Verbund mit den Truppen des Diktators Assad die Zivilbevölkerung und die Opposition bekämpft, in Aleppo und
in anderen Regionen des Landes eine humanitäre Katastrophe verursacht und ein verheerendes Blutbad angerichtet hat, was dazu geführt hat, dass sich Zehntausende
von Flüchtlingen zusätzlich auf den Weg gemacht haben.
Wir können nur an Russland, an Assad und an alle anderen appellieren, die Beschlüsse vom Donnerstag vergangener Woche in München - Waffenstillstand innerhalb
einer Woche; die Woche läuft leider bald aus - sofort
umzusetzen und einen Zugang für einen humanitären
Einsatz zu ermöglichen, damit die Grundvoraussetzung
dafür, dass Friedensgespräche im Sinne der Wiener Verhandlungen möglich sind, eintritt, nämlich ganz konkret
die Waffen schweigen und das Blutvergießen ein Ende
hat.
({2})
Ich glaube, das, was den Wiener Prozess aussichtsreich macht, ist tatsächlich, dass er eben nicht ein aus
weiter Entfernung gesteuerter Prozess ist, sondern die
Partner in der Region konkret und massiv mit eingebunden werden und insbesondere auch die beiden Kontrahenten Saudi-Arabien und Iran in den Prozess einbezogen werden. Das Papier, das wir als Ergebnis der Wiener
Konferenz kennen, ist beachtlich. Es sieht ein säkulares,
rechtsstaatliches Syrien als Folge eines Friedensprozesses vor, der sich in den nächsten 18 Monaten vollziehen
sollte. Das ist ein sehr ambitioniertes, voll und ganz unterstützenswertes Ziel.
Was Deutschland gegenwärtig leistet, ist Unterstützung im Kampf gegen den IS. Der IS ist nach Assad die
zweite Pest, die über die Bevölkerung in Syrien hineingebrochen ist. Ich glaube, dass eine wirksame Bekämpfung des IS in Syrien, aber eben auch im Norden des Irak
und in anderen Teilen der Region bis hin nach Libyen nur
dann möglich ist, wenn sich die Kräfte einig sind, wenn
es gelingt, in Syrien eine Situation herbeizuführen, in der
eine wie auch immer getragene Regierung der nationaWolfgang Gehrcke
len Einheit mit Unterstützung anderer geschlossen gegen
den IS kämpft. Solange Assad und Russland gegen die
Oppositionskräfte kämpfen, wird sich der IS die Hände
reiben und weiter ausbreiten und entfalten können. Das
haben die Menschen in diesem Land nicht verdient.
Wie sieht die Zukunft aus? Ich glaube, dass es immer
wieder den Versuch geben sollte, ein Schweigen der Waffen zu erreichen. Vor allem wäre es wichtig, dass diejenigen, die den Kampf gegen den IS führen - er soll auch
in dem Fall, dass die Waffen im Bürgerkrieg in Syrien
schweigen, weiterhin geführt werden -, Wege finden,
sich darüber zu verständigen und zu verifizieren, welche
Ziele tatsächlich Angriffsziele sind.
Wir haben in den letzten Wochen immer dann ein
absolutes Tohuwabohu an Meldungen gehabt, wenn
entsprechende Luftschläge Russlands stattgefunden haben. Russland behauptete: Wir haben den IS bekämpft. Durch neutrale bzw. westliche Kräfte wurde verifiziert:
Die Luftschläge haben nicht den IS getroffen, sondern
die Opposition.
Nur wenn - das ist der wunde Punkt bei der Vereinbarung vom Donnerstag letzter Woche - die strittige Frage:
„Wer ist Terrorist, was ist ein bekämpfungswürdiges Ziel,
und was ist nicht zu bekämpfen?“ in den nächsten Tagen zwischen den großen beteiligten Kräften tatsächlich
befriedigend geklärt werden kann, wird es eine Chance
geben, den Waffenstillstand umzusetzen. Den Menschen
in Syrien ist das dringend zu wünschen. Den Menschen
in Syrien gilt unser Mitgefühl in dieser schwierigen Situation.
Herzlichen Dank.
({3})
Vielen Dank. - Als nächster Redner hat Omid
Nouripour von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das
Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Erlauben
Sie mir, mit einem vermeintlich unbedeutenderen Thema anzufangen. Allein in dieser Woche sind vier Krankenhäuser und zwei Schulen in Syrien durch Bombardements zerstört worden. Der Außenminister hat gesagt:
Das ist ein trauriger Tiefpunkt der Auseinandersetzungen
in Syrien. Er hat recht. Ich glaube, dass es in dieser Situation wichtig ist, an die von inzwischen 51 Staaten unterzeichnete freiwillige Selbsterklärung zu erinnern, in der
es darum geht, dass Schulen in Kriegssituationen nicht
angegriffen werden. Es ist sehr bedauerlich, dass sich
die Bundesregierung trotz der aktuellen Situation immer
noch weigert, dieser Erklärung beizutreten.
({0})
Wir können Sie wirklich nur anflehen: Gehen sie mit
gutem Beispiel voran, und unterzeichnen Sie die Safe
Schools Declaration.
({1})
- Dann hört das nicht auf. Aber, verflucht noch mal, es
ist doch das Mindeste, dass wir mit gutem Beispiel vorangehen!
({2})
Es ist doch eindeutig, dass wir eine Vorbildfunktion einnehmen wollen! Wenn Sie sich hier hinstellen und moralisierende Reden über die Welt da draußen halten, aber
nicht bereit sind, vor der eigenen Tür zu kehren, dann
wird sich eben nichts ändern! Verdammt noch mal!
({3})
Die Bundesregierung hat sich bisher nicht einmal bequemt zu erklären, warum sie dieser Erklärung nicht beigetreten ist, während alle anderen europäischen Staaten
dies getan haben. Ich bitte die Bundesregierung darum,
etwas sachlicher mit diesem Thema umzugehen als der
Kollege hier.
({4})
Jetzt aber zum Thema der Aktuellen Stunde und zur
Rede des Kollegen Gehrcke. Es ist richtig: Die Türkei
trägt zurzeit massiv zur Verschärfung der Situation in Syrien bei; dazu wird meine Kollegin Roth nachher deutlich
mehr sagen. Aber manchmal sind halbe Wahrheiten Lügen. Ich freue mich, dass das Wort „Russland“ tatsächlich
gefallen ist; das ist wirklich nicht normal, das ist auch
relativ originell. Nur, verehrter Wolfgang Gehrcke, Sie
haben es immer noch nicht geschafft, von diesem Pult
aus das Wort „Assad“ im Zusammenhang damit, wer die
Verantwortung in Syrien hat, über die Lippen zu bringen.
({5})
Ich glaube, das zeigt, wie dramatisch die Diskussion in
Ihrer Partei ist.
Wenn Sie sagen, die Flüchtlinge sollen einmal sehen,
was da passiert, dann schlage ich vor: Gehen Sie doch
zu den Flüchtlingen hin, und fragen Sie sie, weswegen
sie geflohen sind. - Es ist doch eindeutig, dass die große Mehrheit der Menschen wegen Assad flieht. Es wäre
wundervoll, wenn die Linke das einmal zur Kenntnis
nehmen würde und nicht immer nur davon reden würde,
dass der Westen an allem schuld ist, was auf dem Planeten passiert. Natürlich hat der Westen eine riesige Verantwortung, aber es gibt auch noch ein paar andere, deren
Ideologie sich noch ganz weit hinten am Sozialismus oriJürgen Hardt
entiert. Das wäscht aber niemanden rein von der großen
Verantwortung, wenn es um Fassbomben, um den Ruin
der Städte und um die Chemiewaffen geht, die in Syrien
vom Himmel gefallen sind.
Schauen wir uns an, was die Russen zurzeit machen.
Es ist eindeutig: Da geht es um das Verhindern einer
politischen Lösung, und dabei wird die Doppelstrategie
verfolgt, nämlich einmal, dass Aleppo fällt, und wir uns
dann, wenn es am Ende nur noch zwei relevante Gruppen
gibt, nämlich Assad und ISIS, für eine der beiden Seiten
entscheiden sollen. Das halte ich für eine unerträgliche
Variante. Aber es geht ebenso darum, Flüchtlinge zu produzieren. Ich finde, das muss man so benennen. Es ist
unerträglich, dass Flüchtlinge in diesem dreckigen Spiel
mittlerweile zum Spielball der Geostrategie geworden
sind.
({6})
Und in dieser Situation fährt ein Ministerpräsident nach
Moskau und sagt auf einer Pressekonferenz, Deutschland
sei ein Unrechtsstaat. Aber das Wort „Aleppo“ habe ich
von Herrn Seehofer nicht ein einziges Mal gehört. Das
halte ich für einen handfesten Skandal.
({7})
In der gegenwärtigen Situation - für die die Bundesregierung nicht viel kann; es ist ja nicht die Schuld
der Bundesregierung, dass die Situation so dramatisch
ist - gibt es drei, vier Punkte, um die man sich kümmern
muss. Das Erste ist Erwartungsmanagement. Die Bundeskanzlerin hat ja damit, dass sie sagt: „Es wäre schön,
wenn es in Syrien Orte gäbe, wo keine Bomben fallen“,
recht. Nur, was folgt daraus? Ich weiß es nicht. Eine Nofly-Zone sehe ich nicht. Das ist derzeit keine ernsthafte
militärische Option. Und ich glaube auch, dass man mit
den Erwartungen und Hoffnungen der Menschen nicht so
spielen sollte.
Das Gleiche gilt für die Frage, was man in Wien
macht. Herr Kollege Gehrcke, natürlich haben wir die
Konferenz in Wien unterstützt; das haben wir alle getan.
Wir haben aber im Übrigen auch darauf hingewiesen,
dass es bei dem Kongress in Wien eine Asymmetrie gab,
nämlich dadurch, dass Assad faktisch mit am Tisch saß,
aber die Opposition nicht.
({8})
Damit bin ich bei dem Zweiten, was die Bundesregierung machen sollte. Es gibt eine moderate Opposition.
Ich meine zum Beispiel auch die Gruppierungen in Gaziantep. Ja, wir treffen Vertreter dieser Gruppierungen;
das stimmt. Wolfgang Gehrcke trifft sie, und wir treffen
sie; das ist richtig. Die Unterstützung dieser Gruppierungen verlief aber so: Erst haben sie Geld bekommen, dann
haben sie keins bekommen, dann haben sie wieder Geld
bekommen, dann hat man ihnen keins gegeben, dann hat
man es ihnen versprochen, um dann zu sagen: Wenn ihr
nicht zu den Modalitäten, die wir uns wünschen, nach
Genf kommt, dann bekommt ihr keins. - Ich glaube
nicht, dass man auf diese Art und Weise eine politische
Lösung voranbringt.
({9})
Das Zentrale ist jetzt die humanitäre Hilfe, und
zwar in den Nachbarstaaten genauso wie in Syrien
selbst. Wenn man sich anschaut, dass derzeit mindestens 400 000 Menschen unter Belagerungen leiden und
bedroht sind von einer Waffe namens Hunger - das ist
ein schlimmes Kriegsverbrechen -, dann stellt sich die
Frage, wie man diesen Menschen helfen kann. Es geht
nicht nur um Verhandlungen mit Assad, sondern auch
um die 200 000 Menschen, die von ISIS belagert sind.
Denen kann man nicht erklären, warum die westlichen
Länder im Stande sind, Bomben abzuwerfen, aber keine
Essenspakete.
Es geht natürlich auch um die Nachbarstaaten. Ich war
am Samstag das vierte Mal in Saatari, dem größten Lager im Nahen Osten. Die einzige Konstante der letzten
vier Jahre ist das territoriale Wachstum. Die Gesichtsfarben werden immer blasser, und die Leute, die letztes
Jahr noch gefragt haben, wie man helfen kann, fragen
gar nicht mehr. Es gibt eine unglaubliche und immense
Ratlosigkeit, die uns ein Stück weit verpflichtet, diesen
Menschen zu helfen und dafür zu sorgen, dass nicht noch
mehr Länder kollabieren, wie das im Fall Irak bereits
passiert ist. Es ist ein Wunder, dass der Libanon als feste
Größe noch besteht. Im Fall von Jordanien ist das nicht
anders.
Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.
Diese Länder brauchen eindeutig und ganz dringend
unsere Unterstützung.
({0})
Als nächster Redner hat Niels Annen von der
SPD-Fraktion das Wort.
({0})
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Lieber Kollege
Nouripour, ich glaube, wir alle teilen Ihre Empörung
über die Lage in der Region. Ich glaube aber - so ist das
jedenfalls bei mir angekommen -, dass die Verbindung
der Kritik, die Sie vorgetragen haben - darüber kann man
ja sachlich diskutieren -, mit den jüngsten Bombardierungen in Aleppo zu einer missverständlichen Botschaft
führen kann. Ich glaube, davon haben wir alle nichts. Insofern konnte ich die Reaktion meiner Kolleginnen und
Kollegen der Unionsfraktion wirklich verstehen; das teile ich auch.
Lassen Sie uns über die Lage sprechen. Ich will mich
auf das beziehen, was der Kollege Hardt hier vorgetragen
hat. Wissen Sie, Herr Gehrcke, ich freue mich ja über Ihr
Lob für die Arbeit unseres Außenministers und unserer
Bundeskanzlerin hinsichtlich der Einleitung eines politischen Prozesses. Ich nehme Ihnen das auch ab. Ich glaube, dass das, was Sie hier vorgetragen haben, wirklich
ehrlich gemeint war.
({0})
Man muss aber doch auch zur Kenntnis nehmen, dass
genau zu dem Zeitpunkt, während der vereinbarte Prozess lief - das ist ja keine theoretische Debatte, sondern
die Vertreter des Regimes und die Vertreter der Opposition saßen mit dem UN-Vermittler in Genf und haben
gesprochen; sie waren im Rahmen der Proximity Talks
dabei, die direkten Verhandlungen vorzubereiten -, die
Luftwaffe von Assad mit Unterstützung der russischen
Luftwaffe die Angriffe auf Aleppo intensiviert hat. Daraus, dass das genau zu dieser Zeit passiert ist, kann man
keinen anderen Schluss ziehen, als dass diese Gespräche
unterbrochen und verhindert werden sollten. Dazu muss
man doch einmal etwas sagen. Ich finde es ja völlig in
Ordnung, dass man auch über die anderen Akteure in diesem Krieg redet. Zu diesen anderen Akteuren gehört auch
die Türkei. Übrigens hat heute auch die Bundeskanzlerin
gesagt, wo sie da kritische Punkte sieht. - Aber dass Sie
das hier nicht zum Thema machen, während in Aleppo
gebombt wird, finde ich wirklich ein starkes Stück.
({1})
Das, was wir im Moment tun können, um den politischen Prozess voranzutreiben, ist von daher, wie ich
glaube, extrem kompliziert. Ich kann uns allen nur raten, nicht den Eindruck zu erwecken, dass wir uns auf
die Seite einer der Konfliktparteien stellen. Wir müssen
vielmehr an der Seite der Menschen in Syrien stehen. Wir
müssen diejenigen sein - ich bin dankbar dafür, dass der
Außenminister das in den Verhandlungen immer wieder
in den Mittelpunkt gerückt hat -, die für die Weltgemeinschaft Partei ergreifen. Es waren doch die ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates, die bei den Verhandlungen
zum Teil ihren eigenen Vermittler vergessen hatten.
Wir benötigen am Ende des Prozesses die Legitimität
der Vereinten Nationen. Deswegen ist es so zentral, dass
wir mit Herrn de Mistura jemanden haben, der nicht nur
sprechfähig mit den unterschiedlichen Gruppierungen
der Opposition und mit dem Regime ist, sondern auch
die Unterstützung der wichtigen Länder auf der Welt hat.
Dazu gehört Deutschland, dazu gehören aber vor allem
die Staaten, die zwingend dazu beitragen müssen, dass
dieser Prozess vorangeht, und dazu gehört in der Tat die
Türkei.
Auch ich bin über die Entwicklung, über den Beschuss
syrischen Territoriums, besorgt. Aber man darf es sich
nicht so leicht machen, wie Sie, Herr Gehrcke, es hier
tun. Sie haben gesagt, Sie würden davor warnen, dass wir
uns mit Militärinstrumenten an einem Krieg beteiligen.
({2})
Zunächst einmal: Wir liefern - das wissen Sie genauso
gut wie ich - Informationen, und wir tragen zu einem
Lagebild bei. Diesbezüglich kann man unterschiedlicher
Meinung sein; darüber haben wir hier diskutiert. Aber
aus Ihrer Fraktion heraus - das ist dokumentiert; das ist
in diesem Hause vorgetragen worden - sind die militärischen Erfolge der kurdisch-syrischen Milizen mehrfach
bejubelt worden. Sie sind übrigens mit militärischen Mitteln erreicht worden.
({3})
Ich will auch von diesem Rednerpult aus sagen: Wir
haben großen Respekt vor dem, was die YPG im Kampf
gegen den sogenannten „Islamischen Staat“ geleistet hat.
Es gehört aber dazu, auch darauf hinzuweisen - Sie haben ja gesagt, dass Bomben keinen Frieden schaffen -,
dass es amerikanische Bomben waren, die Ziele getroffen haben, die von genau diesen Milizen markiert worden
sind und dadurch die Grundlage für deren militärischen
Erfolge geliefert haben. Man kann sich das Leben also
auch leicht machen.
Dieser Krieg ist in einer Art und Weise komplex, dass
man es selbst in fünf Minuten nicht schafft, alle unterschiedlichen Akteure zu benennen. Sie sagten, dass die
USA einen Krieg im Irak geführt haben,
({4})
gegen den wir gewesen sind. Dann haben Sie den Krieg
im Jemen genannt, und dann haben Sie den Krieg in Libyen genannt. Zum Glück haben Sie am Ende noch die
russische Offensive erwähnt. Ich will an dieser Stelle
sagen: Die Türkei engagiert sich militärisch. Saudi-Arabien unterstützt bestimmte Milizen, von denen uns nicht
alle gefallen; auch das haben wir hier mehrfach erwähnt.
Russland bombardiert Aleppo. Auch unser türkischer
Bündnispartner hat sich in den vergangenen fünf Kriegsjahren häufig ambivalent verhalten.
({5})
Aber eines fällt schon auf, Herr Gehrcke: Sie versuchen,
auch mit dem Titel dieser Aktuellen Stunde, die Schuld
an der Situation einem Akteur in die Schuhe zu schieben. Einem einzigen Akteur! Damit, glaube ich, helfen
Sie weder den Menschen in Syrien, noch helfen Sie der
deutschen Öffentlichkeit, das, was dort wirklich passiert,
nachvollzuziehen. Sie helfen übrigens auch nicht - das
steht im Gegensatz zu dem, was Sie hier behauptet haben - den Bemühungen um Frieden von Frank-Walter
Steinmeier.
Herzlichen Dank.
({6})
Vielen Dank. - Als nächster Redner hat Dr. Andreas
Nick von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Fast 500 000 Menschen haben seit dem Ausbruch des
Bürgerkriegs in Syrien ihr Leben verloren. Jeder zehnte
Syrer ist im Krieg entweder getötet oder verletzt worden. Mehr als 10 Millionen Menschen, über die Hälfte
der ursprünglichen Bevölkerung, sind auf der Flucht.
Der Machthaber Assad führt, unterstützt von Russland,
dem Iran und schiitischen Milizen, einen Krieg gegen
das eigene Volk. Die anhaltenden Bombardements der
Zivilbevölkerung durch das Assad-Regime und Russland
schaffen tagtäglich unendliches Leid für Zehntausende
von Menschen. Mit 50 getöteten Zivilsten in Schulen
und Krankenhäusern, auch solchen von Médecins sans
Frontières, hat der Bürgerkrieg in Syrien einen weiteren
traurigen Tiefpunkt erfahren; und das kann durchaus als
Kriegsverbrechen bezeichnet werden.
Wir sind entsetzt über die weitere Verschärfung der
humanitären Katastrophe im Land. Neben dem Verlust
unzähliger Menschenleben schmerzt auch das Ausmaß
der Zerstörung. Aleppo, einst eine blühende Metropole,
deren Altstadt mit dem Basar zum UNESCO-Weltkulturerbe gehörte, wurde in eine Trümmerlandschaft verwandelt. Jetzt werden Wohnviertel komplett zerstört. Der fast
2 000 Jahre alten christlichen Gemeinde - 15 bis 20 Prozent der Einwohner in Aleppo waren Christen, überwiegend Aramäer und Armenier - droht die Auslöschung.
Aleppo ist noch mehr zum Brennpunkt des Krieges in
Syrien geworden. Die syrische Opposition in der Stadt
wird von allen Seiten attackiert: von Assad im Süden,
von den kurdischen YPG-Milizen im Westen, vom „Islamischen Staat“ im Osten und von Russland aus der
Luft. Sollten die Regierungstruppen und ihre Verbündeten Aleppo vollständig einkreisen und auch den letzten
Fluchtweg abschneiden, könnte die Nahrungsmittelversorgung für fast 300 000 Menschen in der Stadt endgültig
zusammenbrechen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, dies zielt auch auf
die Türkei und auf uns in Europa. Denn wie der Journalist Jan Fleischhauer in den letzten Tagen festgestellt hat:
Wer die Menschen in Syrien erst aus ihren Häusern
bombt, damit sie sich nach Norden aufmachen, und
dann dort die rechtsradikalen Kräfte unterstützt, die
gegen eine Aufnahme Stimmung machen, ist jedenfalls kein Freund Europas ...
Wir unterstützen die Forderung der Bundeskanzlerin
nach einer Flugverbotszone über Syrien, um den Menschen zumindest einen sicheren Zufluchtsort zu bieten.
Auch die Türkei begrüßt den Vorschlag; sie fordert seit
langem eine internationale Schutzzone im Norden Syriens.
({0})
Denn die Türkei ist unmittelbar vom syrischen Bürgerkrieg in ihrer Nachbarschaft betroffen. Das Land hat in
den vergangenen Jahren über 2,5 Millionen Flüchtlinge
aus Syrien aufgenommen.
({1})
Momentan warten über 30 000 Menschen an der Grenze,
die vor russischen Bomben geflohen sind. Eine friedliche
Beendigung des Bürgerkriegs in Syrien und ein Ende der
Kampfhandlungen in Aleppo liegen im ureigenen Sicherheitsinteresse der Türkei.
Natürlich würden wir uns auch von der Türkei bei aller nachvollziehbaren Betroffenheit ein deutlich höheres
Maß an militärischer Zurückhaltung wünschen. Es wäre
sicherlich klug, nicht auf jede Provokation entsprechend
zu reagieren. Aber, um es noch einmal deutlich zu sagen:
Nicht die militärischen Reaktionen der Türkei haben die
Auseinandersetzungen um Syrien verschärft, sondern
die Bombardements Tausender Zivilisten durch syrische
Machthaber und ihre Schutzmächte.
({2})
Wir dürfen auch nicht übersehen, dass die Türkei als unser NATO-Partner offenkundiges Ziel einer russischen
Destabilisierungsstrategie geworden ist.
({3})
Das gilt für die regelmäßigen Verletzungen des türkischen Luftraums, aber auch für die Unterstützung der
PYD.
({4})
Auf der Münchener Sicherheitskonferenz hat Ministerpräsident Medwedew beklagt, wirtschaftliche Sanktionen seien eine willkürliche Verletzung internationalen
Rechts. Gilt das dann nicht auch für die russischen Wirtschaftssanktionen gegen die Türkei?
Ein weiterer Schritt der russischen Provokationsstrategie gegenüber der Türkei wird ja derzeit in der Duma
vorbereitet. Abgeordnete wollen den bald 100 Jahre alten
Vertrag von Kars, der die Grenzen zwischen der Türkei,
Armenien und Georgien regelt, für nichtig erklären. Somit wird die territoriale Integrität der Türkei auch an einer weiteren Stelle infrage gestellt - nicht nur im Süden
und Osten, sondern auch im Norden des Landes.
Mit der heutigen Themenstellung wird von der Linken
ja erneut versucht, den Eindruck zu erwecken, als sei die
Türkei für die Eskalation der militärischen Lage verantwortlich.
({5})
Auch wenn Sie hier mittlerweile fast im Wochenrhythmus die entsprechende parlamentarische Begleitmusik
liefern: Es wird Ihnen nicht gelingen, den Deutschen
Bundestag oder die deutsche Öffentlichkeit über die
wahren Verantwortlichkeiten der Tragödie in Syrien zu
täuschen.
({6})
Vielen Dank.
({7})
Als nächste Rednerin hat Sevim Dağdelen von der
Fraktion Die Linke das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir
stehen aktuell vor einer neuen brandgefährlichen internationalen Eskalation der Lage in Syrien. Manche sprechen von einer seit dem Ende des Kalten Krieges nicht
gekannten Zuspitzung.
Mit dem türkischen Beschuss syrischer Kurden droht
der türkische Präsident Erdogan, den Krieg in Syrien und
in der Region weiter auszuweiten. Der türkische Präsident will die NATO und auch Deutschland in einen Krieg
gegen Russland verwickeln,
({0})
um unter anderem einen Zusammenschluss der Kantone der syrischen Kurden in Rojava zu verhindern. Und
was macht die Bundesregierung? Ich frage mich: Warum
verurteilt die Bundesregierung diesen türkischen Völkerrechtsbruch nicht klar und deutlich?
({1})
Ist Ihnen Ihr Bündnis mit Erdogan zur Flüchtlingsabwehr so wichtig, dass Sie selbst zum Weltkriegsroulette
Erdogans schweigen wollen?
Die Bundesregierung redet in puncto Syrien immer
wieder von moderaten Rebellen; wir haben es heute hier
auch noch einmal erfahren. Auf die Fragen der Linksfraktion hin, wer die denn seien, kommt keine Antwort
dieser Bundesregierung. Die Bundesregierung weiß
nämlich nicht, sagt sie, wer moderat ist und wer nicht.
({2})
Deshalb möchte ich die Gruppen, die von der Türkei im
syrischen Bürgerkrieg in der aktuellen Situation und in
der aktuellen Auseinandersetzung unterstützt werden, im
Einzelnen benennen.
Da wäre zum einen die Al-Nusra-Front. Diese
Dschihadisten sind der syrische Ableger der al-Qaida,
also der islamistischen Terrororganisation, deren Führer
Osama Bin Laden war und derentwegen die USA vor
15 Jahren den weltweiten Krieg gegen den Terror begonnen haben, meine Damen und Herren - eine Gruppe,
die in Sachen Terror und Kopf-ab-Islam mit den barbarischen Grausamkeiten des IS konkurriert.
Dann gibt es noch die Ahrar al-Scham, eine islamistische Terrorgruppe, über die der Bundesnachrichtendienst
berichtet, sie werde von der türkischen Regierung mit
Waffen beliefert, eine islamistische Terrororganisation,
die im Mai letzten Jahres vom Bundesgerichtshof hier in
Deutschland als eine islamistische terroristische Vereinigung beurteilt und eingestuft wurde. Ahrar al-Scham ist
besonders durch ihre Massenmorde an den alevitischen
Minderheiten in Syrien berüchtigt, wie Human Rights
Watch berichtet.
Wenn Sie von der Union und auch Sie von der SPD
sich die Unterstützung dieser islamistischen Terrorbanden durch ihren Verbündeten, die Türkei - die türkische
Regierung, ihr Partner, meine Damen und Herren! -, vor
Augen führen, muss Ihnen das doch zumindest zu denken geben, ob Ihr Pakt mit Erdogan der richtige Weg ist,
um den Menschen in der Region dort zu helfen.
({3})
Erdogan und auch Davutoglu geht es allein darum,
die Vernichtungspolitik der islamistischen Terrorbanden
gegen die Kurden und andere Minderheiten in Syrien zu
unterstützen, und Sie liefern weiter deutsche Waffen, mit
denen tagtäglich Kurden in der Türkei und in Syrien von
türkischen Sicherheitskräften oder eben von islamistischen Terrorhelfern Erdogans ermordet und massakriert
werden.
In diesem Moment, in dem wir hier sitzen und debattieren, schießen türkische Panzerhaubitzen T-155 Fırtına
auf syrische Kurden. Eingebaut in diese Kriegsmaschinerie ist auch ein Motor der Firma MTU aus Friedrichshafen, und die deutsche Außenpolitik begleitet diese Rüstungsexportpolitik recht freundlich. Ich finde, das ist eine
Schande für die deutsche Außenpolitik, meine Damen
und Herren.
({4})
Deshalb fordern wir Sie auf: Beenden Sie Ihr verbrecherisches Bündnis mit Erdogan. Ja, es ist ein verbrecherisches Bündnis, weil Sie diejenigen unterstützen, die in
Syrien den Terror auch in die kurdischen Gebiete tragen.
Ich mache hier wirklich keinen Hehl daraus:
({5})
Mein Herz schlägt für die mutigen Frauen und auch
Männer, die sich dort mit Leib und Leben dem islamistischen Terror entgegenstellen. Meine Solidarität gehört
den kurdischen Frauenbataillonen, die ihr Leben und die
Freiheit gegen die reaktionären Schergen verteidigen,
die von der Türkei und von Saudi-Arabien hochgerüstet
werden, welche wiederum von Ihnen, meine Damen und
Herren, hochgerüstet werden.
Jetzt hat sich die Bundeskanzlerin auch noch dazu
verleiten lassen, eine Flugverbotszone, also das, was der
türkische Präsident Erdogan schon seit Jahren fordert, zu
fordern. Ich frage mich wirklich: Reicht Ihnen die FlugDr. Andreas Nick
verbotszone in Libyen nicht, wo es zu Zehntausenden Toten gekommen ist und wo der IS fast schon den größten
Teil der Mittelmeerküste dieses Landes kontrolliert? Haben Sie denn überhaupt keine Konsequenzen aus dieser
falschen Politik der Flugverbotszone in Libyen gezogen?
({6})
Ich frage mich zudem, warum Sie hier die Bombardierungen der Russen kritisieren, aber die der NATO-Staaten und Saudi-Arabiens und der Türkei mit unterstützen.
Wir als Linke sagen: Bomben schaffen keinen Frieden nicht russische, aber eben auch nicht die Bomben der
USA oder dieser Koalition der Willigen.
({7})
Wir brauchen, meine Damen und Herren, einen sofortigen Waffenstillstand in Syrien - und das ohne Vorbedingungen. Wenn Sie tatsächlich unter Beweis stellen
wollen, dass Sie auch einen Frieden in der Region und
in Syrien wollen, dann setzen Sie sich dafür ein, dass die
bisher effektivste Kraft gegen die Barbaren des IS am
Boden, nämlich die Kurden, auch am Verhandlungstisch
sitzen und an den Verhandlungen teilnehmen können.
Vielen Dank.
({8})
Als nächste Rednerin hat Michelle Müntefering von
der SPD-Fraktion das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Erst gestern habe ich mit Koordinatoren der humanitären Hilfe in
Syrien gesprochen. Sie hatten die ganze Nacht nicht geschlafen und waren sichtlich verzweifelt, weil vorgestern
wieder Krankenhäuser und auch Schulen bombardiert
worden sind, wobei auch Ärzte und Krankenschwestern
getötet wurden. Nach ihrer Auskunft gibt es jetzt schon
zu wenig Menschen im Land, die Hilfe leisten können.
Viele von ihnen fürchten selbst um Leib und Leben und
fliehen. Wie dramatisch die humanitäre Lage in Syrien
ist, davon zeugt auch die Verzweiflung dieser beiden Helfer.
Ganz entscheidend in dieser Situation ist, dass sie
nicht weiter eskaliert, dass die unterschiedlichen Akteure
nun deeskalieren, anstatt sich auf eigene Faust militärisch noch intensiver am Konflikt zu beteiligen. Das gilt
natürlich auch für die Türkei. Es reicht aber nicht, das
von europäischer Seite einfach zu fordern. Es bedarf konstruktiver und lösungsorientierter Zusammenarbeit mit
unserem türkischen Nachbarn, mit unserem türkischen
Partner, anstatt widersprüchliche Signale zu senden.
({0})
Als Außenpolitikerin muss man ja immer bemüht
sein, die Welt durch unterschiedliche Brillen, aus unterschiedlichen Sichtweisen zu betrachten. Aus Sicht der
Türkei ist eben die Politik der EU zumindest auch das:
widersprüchlich. Immer wieder wurde die Türkei von
Politikerinnen und Politikern, auch aus Deutschland,
dafür kritisiert, dass sie die über 900 Kilometer lange
Grenze zu Syrien zu durchlässig für Terroristen gemacht
hat. Zu selten wurde erwähnt, dass diese offenen Grenzen der Türkei auch dazu gedient haben, über 2 Millionen Menschen ins Land zu lassen, mehr als die gesamte
Europäische Union aufgenommen hat. Die EU hat nun
3 Milliarden Euro an Hilfe versprochen. Davon ist aber
noch kein Cent geflossen. Unterdessen sind in der Türkei seit 2011 150 000 Kinder von syrischen Flüchtlingen
geboren worden. Wir sprechen - so ist mein Eindruck immer von diesen Menschen, als sei es eine Masse. Aber
das ist keine Masse. Das sind Menschen.
Die Türkei hat nun die Grenzen geschlossen. Wir sehen, wie sich eine neue, zusätzliche humanitäre Katastrophe auf syrischer Seite abspielt. Nach Aleppo geraten
noch einmal eine halbe Million Menschen in Not. Die
Türkei hilft auch hier wieder. Es wurden provisorische
Unterkünfte errichtet. Auch auf türkischer Seite werden
die Anstrengungen verstärkt, Aufenthaltsräume zu schaffen. Das ist nichts Neues; das geschieht schon länger.
Aber jetzt kommt noch einmal eine neue Dimension hinzu. Es ist gut, dass das Auswärtige Amt reagiert und die
Hilfe des THW angeboten hat.
Sehr verehrte Damen und Herren, die Türkei hat ein
essenzielles sicherheitspolitisches Interesse in Syrien.
Dafür soll der 90 Kilometer lange Korridor dienen, den
Ankara nun bombardiert, damit die YPG, die syrischen
Kurden, ihn nicht einnehmen. Dieses Interesse der Türkei wird uns immer wieder vorgetragen, vielleicht auch
vor dem Hintergrund der Frage: Was passiert, wenn Syrien und der Irak zerfallen und die Grenzen des Sykes-Picot-Abkommens nicht mehr gelten? Sind dann auch die
türkischen Grenzen wieder verhandelbar?
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das rechtfertigt diese Bombardements keineswegs. Um es klar zu sagen: Ich
finde sie nicht richtig; denn es wird weder militärisch
erfolgreich sein, der YPG den Weg aus der Luft abzuschneiden, noch wird es zu einer Deeskalation beitragen,
die wir so dringend brauchen. Vielmehr kann es auch
den Konflikt mit Russland befeuern. Aber derzeit werden
die Verhältnisse am Boden komplizierter. Die moderate
Opposition ist geschwächt und zerfasert, anstatt sich geschlossen gegen Assad und den IS zur Wehr zu setzen.
Kein Akteur sollte in so einer Lage eigene Interessen in
den Vordergrund stellen, sondern alle sollten an einem
gemeinsamen politischen Prozess konstruktiv mitarbeiten. Entgrenzung der Mittel dürfen wir dabei nicht hinnehmen. Deswegen sind Frank-Walter Steinmeier und
die Bundesregierung auf dem richtigen Weg. Das, was
die Menschen in den Städten und Dörfern jetzt brauchen,
sind Hilfe, Medizin, Nahrung und Schutz.
Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie
mich noch einen Punkt aus meinem gestrigen Gespräch
mit den Helfern in das Hohe Haus tragen. Die junge Generation in Syrien radikalisiert sich mehr und mehr, weil
sie Hilflosigkeit spürt und immer öfter vor der Alternative steht: Assad oder „Islamischer Staat“. Ich frage mich:
Was geschieht mit dieser Generation, die zwischen den
Fronten zerrieben wird, die keine Sicherheit, keine Perspektive, keine Arbeit hat? Was passiert, wenn die Situation noch weitere Jahre so bleibt? Wir müssen helfen,
diese Entwicklung umzukehren und Frieden zu schaffen.
Und dafür müssen als Erstes die Waffen schweigen.
Herzlichen Dank.
({1})
Vielen Dank. - Als nächste Rednerin hat Claudia Roth
von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Gerade erreicht uns die Nachricht - Sie haben es sicher
auch gehört -, dass es in Ankara eine schwere Explosion gegeben hat. Das ist eine schreckliche Entwicklung.
Diese schreckliche Gewalttat zeigt, dass die Blutspur von
Suruc, Diyarbakir und Istanbul jetzt in Ankara angekommen ist. Ich glaube, wir alle hoffen, dass es bei dieser
Gewalttat möglichst wenig Verletzte gegeben hat.
Wenn wir in diesen Tagen nach Syrien schauen, dann
blicken wir immer tiefer in einen Abgrund aus Gewalt,
Vertreibung und Elend. Doch während die internationale
Gemeinschaft in Wien und München versucht, auf diplomatischem Weg eine Lösung oder zumindest eine Waffenruhe in Syrien zu erreichen, wird diese internationale
Gemeinschaft gleichzeitig auch immer stärker Teil der
kriegerischen Auseinandersetzungen.
In Syrien geht es doch längst nicht mehr um einen
Bürgerkrieg, in dem um die zukünftige Ausrichtung
des Landes gekämpft wird, also um die Frage, ob diese demokratisch, islamistisch oder despotisch sein soll.
Vielmehr haben wir es in Syrien längst und jeden Tag
mehr mit einem Stellvertreterkrieg zu tun, in dem es um
die regionale Herrschaft zwischen dem Iran, der Türkei
und Saudi-Arabien geht, aber auch immer mehr um eine
globale Dimension mit dem Eintritt Russland als aktive,
aggressive Kriegspartei an der Seite Assads und mit den
durchaus zweifelhaften Bündnissen und Bündnispartnern vieler westlicher Staaten.
Vor ein paar Tagen wurde eine Waffenruhe in Syrien für Ende dieser Woche vereinbart: ein ganz kleines
Zeichen der Hoffnung in einem fürchterlichen, seit fünf
Jahren dauernden Krieg. Doch was wir seitdem erleben,
ist nicht etwa ein Abebben der Kämpfe, die Versorgung
der Eingeschlossenen und Hilfe für die Geflüchteten,
sondern wir erleben eine weitere brutale Eskalation der
Gewalt und eine stetige Verschlimmerung der humanitären Lage, die sich mehr und mehr auch auf den Irak
ausweitet.
Die Kämpfe um Aleppo haben noch einmal an Intensität zugenommen und Tausende von Menschen zu
Flüchtlingen gemacht. Erst vor wenigen Tagen wurden
Schulen und Kliniken bombardiert und damit gezielt die
Zivilgesellschaft ins Visier genommen. Seit fünf Tagen
greift nun auch die Türkei aus der Luft massiv Stellungen
der Kurden in Syrien an. Ich werde mich daher jetzt mit
der Rolle der Türkei beschäftigen.
Die Politik der Bundesregierung, die sich mit hohem
Engagement diplomatisch um eine Befriedung der Lage
in Syrien bemüht, gerät hier in eine Sackgasse. Sie hat
sich in der Flüchtlingsfrage gegenüber der Türkei in eine
so fatale Abhängigkeit manövriert, dass sie jetzt darauf
verzichtet, die massive Eskalation des Krieges auch - ich
sage: auch - durch das Vorgehen der türkischen Regierung zu kritisieren. Man hat den Eindruck, es wird de
facto hingenommen. Es zeigt sich, wie verheerend es ist,
wenn Außenpolitik zum Instrument einer unter Druck
geratenen Innenpolitik wird und ihr dadurch der Kompass für die Werteorientierung verloren geht.
({0})
Wenn man die Lösung der Flüchtlingskrise in die
Hände eines Staatschefs wie Erdogan gibt, der vor einigen Tagen offen zugegeben hat, dass es ihm vor allem um
die „Bekämpfung des säkularen Terrorismus“ geht - damit meint er natürlich die kurdische Opposition; es geht
gerade nicht um die Bekämpfung von Daesh, um die es
eigentlich gehen müsste -, dann ist das genau das Gegenteil von dem, was das erklärte Ziel der Bundesregierung
bzw. unser Ziel ist.
Die fatale Strategie des NATO-Partners ist es, Schutzzonen in Syrien zu errichten, die, lieber Dr. Nick, nichts
anderes wären als - das ist die Angst der Kurden - große
Haftlager für Flüchtlinge auf syrischem Gebiet. Strategie
ist, die Grenze zwischen der Türkei und Syrien geschlossen zu halten, wodurch doch heute schon Zehntausenden
Menschen die Flucht in sicheres Gebiet gar nicht mehr
möglich ist. Sie können nicht mehr sicher sein.
Außerdem geht es Erdogan ganz offensichtlich darum, den Kampf gegen die kurdische Zivilbevölkerung nichts anderes ist das, was wir in den kurdischen Städten
in der Türkei erleben - jetzt auch auf kurdische Gebiete
in Syrien auszuweiten.
({1})
Mit massiven Bombardements und mit dem gefährlichen Gedankenspiel über den Einsatz türkischer Bodentruppen eskaliert auch - ich sage immer: auch - der
NATO-Partner Türkei diesen Krieg weiter.
Ich sage Ihnen: Es ist ein Armutszeugnis, wenn nun
von denen, die immer gegen eine geordnete und menschenrechtsgeleitete Annäherung an die Türkei waren darüber haben wir jahrelang gestritten -, fast kleinlaut
die Politik Erdogans hingenommen wird, und zwar zu einem Zeitpunkt, wo dieser innen- und außenpolitisch die
autoritären Daumenschrauben anzieht wie nie zuvor. Ich
habe von Ihnen kein Wort zur Zerstörung der christlichen
Kirchen in Diyarbakir gehört. Das, was dort passiert ist,
ist ein richtiges Verbrechen. Warum sind Sie da so still?
Warum sind Sie da so leise?
({2})
Ich habe sehr bedauert, dass Angela Merkel, als sie in
der Türkei war, sinngemäß gesagt hat, jedes Land habe
das Recht, gegen Terroristen im eigenen Land vorzugehen. Mit Verlaub, das war eins zu eins das, was die türkische Regierung in ihrem Sprech vorgibt. Ich sage: Verantwortliche Politik wäre, endlich deutliche Kritik auch
am brandgefährlichen türkischen Vorgehen zu üben, um
eine weitere Eskalation des Krieges zu verhindern.
({3})
Das erwarte ich von der Bundesregierung.
Vielen Dank.
({4})
Vielen Dank. - Als nächster Redner hat Dr. Johann
Wadephul von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Kollegin
Roth, das lädt wirklich zur Debatte ein. So soll es auch
sein. Weil sonst über vieles in diesem Haus in diesem Zusammenhang Konsens besteht - mit Ausnahme einiger
Positionen, die die Linksfraktion einnimmt -, will ich auf
die Türkei eingehen. Wir als Unionsfraktion jedenfalls
finden uns in der eigentümlichen Rolle wieder, dass wir
in den Debatten zum Teil als Verteidiger oder als Versteher der Türkei auftreten müssen.
({0})
- Die Welt ist ein bisschen komplizierter, als Sie von der
Linksfraktion das darstellen. Das haben wir heute auf
schreckliche Art und Weise wieder einmal erfahren.
({1})
Frau Kollegin Roth, als Sie - das richte ich nicht nur
an die Adresse der Grünen, sondern auch an die Adresse
unseres verehrten Koalitionspartners - uns damals, als
es in Europa wohlfeil war, aufgefordert haben, für die
Vollmitgliedschaft der Türkei in der Europäischen Union
einzutreten, war es Angela Merkel, die nach Ankara gefahren ist und gesagt hat: Das können wir uns nicht vorstellen. - Es wäre damals einfach gewesen, nachzugeben
und zu sagen: Das ist eine tolle Türkei; sie passt mit ihren
Wertvorstellungen und ihrer Politik in die Europäische
Union.
({2})
Aber nein, die Union hat eine klare Linie beibehalten:
Die Türkei ist ein Partner, aber kein Land, das nach unseren Wertvorstellungen Vollmitglied in der EU werden
kann. Klare Linie damals wie heute!
({3})
Herr Kollege Nouripour, Sie wachen aus einem
träumerischen Schlaf auf. Darunter leiden Sie, und die
Schmerzen verarbeiten Sie nun verbal im Plenum.
({4})
Aber wir haben immer einen realistischen Blick auf die
Türkei gehabt. Wir haben uns nie die Illusion gemacht,
dass die Türkei die Werte der Europäischen Union voll
teilen würde. Deswegen artikulieren wir - die Bundeskanzlerin hat das heute von diesem Rednerpult aus gesagt - auch die vorhandenen Probleme.
Sie haben darauf hingewiesen, dass diejenigen, die aus
Aleppo geflohen sind, nun auf syrischem Gebiet verfolgt
werden. Die Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses
in der Assemblée nationale hat uns heute darauf hingewiesen, dass die Republik Frankreich bereits sage und
schreibe 60 Flüchtlinge im Rahmen des Kontingents aufgenommen hat. Ich halte es vor diesem Hintergrund für
wohlfeil, aus europäischer Sicht die Türkei, die 2,5 Millionen Flüchtlinge aufgenommen hat, zu kritisieren. Das
ist der Situation und dem Engagement der Türkei nicht
angemessen. Da sollten wir uns ein wenig zurückhalten.
({5})
Es ist doch unverkennbar - ob die Linksfraktion darauf absichtlich oder unabsichtlich hereinfällt, lasse ich
einmal dahingestellt -, dass Moskau in der jetzigen Situation jede Chance nutzt, einen Keil zwischen dem
NATO-Partner Türkei und anderen NATO-Mitgliedern
zu treiben. Kollege Gehrcke, Sie haben das erkannt. Wir
werden auf jeden Fall nicht darauf hereinfallen, weil wir
bei aller Kritik, die wir an der Türkei üben, natürlich
wissen, dass die Türkei in schwierigen Zeiten wie diesen
ein wichtiger NATO-Partner ist. Das können wir in einer
solchen Situation nicht einfach infrage stellen. Zu dieser
Partnerschaft und den Verträgen stehen wir.
({6})
Dazu gehört natürlich, dass wir uns jetzt auch die
Frage stellen: Warum gibt es diese türkische Reaktion?
Wir stimmen doch vollkommen darin überein: Niemand
möchte eine militärische Antwort der Türkei, wie sie
hier beschrieben worden ist. Das ist doch vollkommen
unstreitig. Aber es ist eine Reaktion der Türkei darauf,
dass die YPG in Regionen vordringt, die die Türkei als
Interessenssphäre definiert.
({7})
- Ich stelle es doch nur so dar, wie es ist. Ich legitimiere
das nicht. Man muss es aber verstehen.
Die Kollegen der Linksfraktion sind bei dem Ukraine-Konflikt nicht müde geworden, uns vorzuhalten, welche Interessen Russland in seinem Vorfeld hätte, die es
militärisch auf noch sehr viel rigorosere Art und Weise
Vizepräsidentin Claudia Roth
auf der Krim und in der Ostukraine durchgesetzt hat. Ich
halte Ihnen vor: Da hatten Sie jedes Verständnis für russische Interessen. Wenn die Türkei jetzt irgendein Interesse in ihrem Vorfeld artikuliert, dann haben Sie dafür
gar kein Verständnis. Das ist eine zwiespältige Position,
die nicht trägt und die zeigt, dass Ihre Position insgesamt
nicht konsistent ist.
Das Einzige, was wir in dieser schrecklichen Situation verantwortungsvoll machen können, ist das, was die
Bundeskanzlerin auf dem Gipfel in London getan hat,
nämlich dafür zu sorgen, dass wir hinreichend finanzielle Mittel zur Verfügung haben, um den geschundenen
Menschen zu helfen. Ich denke, das ist das Wertvollste,
was im Sinne der Menschlichkeit in den letzten zwei Wochen geschehen ist. Dafür gilt der Bundeskanzlerin unser
Dank.
Vielen Dank.
({8})
Als nächster Redner hat Frank Schwabe von der
SPD-Fraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Es ist schon ein paarmal angesprochen worden, aber auch
ich will es noch einmal sagen. Auf der einen Seite bin
ich froh darüber, dass wir miteinander über ein wichtiges
Thema reden. Auf der anderen Seite legen Sie den Fokus
nur auf eine in der Tat durchaus problematische Entwicklung und verengen damit das Problem. Ich finde schon,
dass man anlässlich des Bombardements Russlands und
der dramatischen Folgen, die das bewirkt, auch einen anderen Titel für die Aktuelle Stunde hätte wählen können.
({0})
Es ist gut, dass über dieses Thema geredet wird. Aber
wenn Sie von schwerwiegenden Situationen reden, dann
muss man zunächst einmal das erwähnen, was Russland
in Aleppo veranstaltet.
Ein Problem der außenpolitischen, entwicklungspolitischen und menschenrechtspolitischen Debatte weltweit, aber auch generell hier im Hause - das will ich
als Menschenrechtspolitiker sagen - ist das Rosinenherauspicken, auch wenn Sie gerade Russland für die Bombenangriffe kritisiert haben. Das passiert leider allzu oft.
So werden bestimmte Dinge in der internationalen Auseinandersetzung zumindest nicht hinreichend beleuchtet.
Der Konflikt in Syrien ist hochkomplex. Ich weiß
gar nicht, wer von sich behaupten kann, das Ganze einigermaßen umfassend zu verstehen. Aber wir sehen das
menschliche Leid. Einige von uns - ich muss einmal in
die Reihen gucken - kommen gerade aus einer Anhörung
des Menschenrechtsausschusses mit 14 Organisationen
zur Situation der humanitären Hilfe, in der wir uns noch
einmal haben schildern lassen, wie dramatisch die Situation eigentlich ist: Es gibt 250 000 bis 500 000 Tote - da
gibt es mittlerweile unterschiedliche Schätzungen - und
knapp 2 Millionen Verletzte. Das heißt, über 10 Prozent
der Bevölkerung Syriens sind entweder tot oder verletzt.
Wir haben 13 bis 14 Millionen Vertriebene oder Menschen, die auf Hilfe angewiesen sind, davon 5 Millionen
außerhalb und 7 Millionen innerhalb des Landes.
Frappierend finde ich - da wird noch einmal deutlich, wie dramatisch die Lage ist - die Entwicklung der
Lebenserwartung. In Syrien lag die Lebenserwartung
im Jahr 2010 bei 70 Jahren, im letzten Jahr lag sie bei
55 Jahren. Daran sieht man, was in fünf Jahren Dramatisches passiert ist. Auch wenn wir hier nicht die Debatte
von heute Mittag führen, müssen wir doch sehen, dass
das die Realität ist, vor der wir unsere europäische und
deutsche Flüchtlingspolitik diskutieren müssen. Das ist
wirklich eine Bewährungsprobe für unser Wertekorsett,
wahrscheinlich die größte Bewährungsprobe seit dem
Zweiten Weltkrieg.
Das Leid - das muss gesagt werden - wird in der
Hauptsache durch den syrischen Machthaber Assad und
aktuell leider durch die massiven russischen Luftangriffe
verursacht. Es ist gut, dass die russischen Luftangriffe so habe ich das verstanden - über die Fraktionsgrenzen
hinweg im Deutschen Bundestag kritisiert werden.
Russland muss sich an das humanitäre Völkerrecht
halten, und jeder Versuch, zivile oder nichtmilitärische
Einrichtungen zu zerstören oder Vertreibungen durch
Aushungern oder durch die Hinnahme von Aushungern
zu organisieren, ist unerträglich und muss international
gebrandmarkt werden.
({1})
Bezüglich der Türkei gibt es, glaube ich - das wird
unterschiedlich akzentuiert -, eine relativ hohe Übereinstimmung hier in diesem Haus, nämlich dass die Türkei
eine durchaus ambivalente Rolle spielt. Auf der einen
Seite würdigen wir die große Aufnahmebereitschaft und
danken für die Dialogbereitschaft, die sicherlich ein zentrales Momentum auch in der innenpolitischen und der
europapolitischen Debatte ist, auf der anderen Seite gibt
es problematische Entwicklungen in der Türkei im Bereich der Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit und der
Menschenrechte. Das steht ein bisschen im Schatten der
Syrien-Krise. Es gibt auch eine massive Verschärfung
des Konflikts mit Kurden in der Türkei, aber auch mit
Kurden in Syrien und anderen Ländern.
Es gibt noch etwas, was mir wirklich Sorge bereitet.
Ich habe vor einem Jahr gedacht, dass mir eigentlich am
meisten Sorge bereitet, dass Erdogan und Putin ähnliche
Typen sind. Ich dachte: Menschenskinder, wenn die zusammen agieren - man sieht, dass sie im Inland sehr ähnlich gegen Menschenrechtsorganisationen vorgehen -,
dann ist das das größte Problem. Ich habe mittlerweile
den Eindruck, dass es viel problematischer ist, dass diese
beiden Personen und ihre Länder gegeneinander agieren
und dass eine Auseinandersetzung bevorstehen könnte.
Ich mag mir nicht ausmalen, welche Auswirkungen das
haben könnte.
Deswegen sind wir uns einig darin, dass wir verhindern müssen, dass es zu einer solchen Auseinandersetzung kommt, und dass wir das bei all den politischen
Dingen berücksichtigen müssen, die wir gut und richtig
finden. Ich halte Schutzzonen zum Beispiel für richtig.
Ich finde es aber falsch, wenn wir sie als strategisches
Mittel einsetzen würden und ihre Einrichtung zu weiteren Konflikten führen würde.
Zum Schluss will ich noch etwas sagen. Wir sollten
gemeinsam mäßigend auf die syrischen Kurden einwirken. Es macht keinen Sinn, wenn im Zuge des aktuellen
Konflikts versucht wird, dort strategische Ziele zu erreichen. Da gibt es sicherlich einen Einfluss, den der Westen
hat, den die Vereinigten Staaten haben, den aber auch die
Linke hat. Vielleicht sollte man den syrischen Kurden
einmal sagen: Überlegt noch einmal, ob ihr in dieser Situation den Konflikt noch weiter verschärfen wollt.
Ich glaube, dass der Außenminister alles tut, um in
Gesprächen und Verhandlungen zu einer friedlichen Lösung zu kommen. Es wäre gut, wenn das Haus ihn in aller
Breite dabei unterstützt.
({2})
Als nächster Redner hat Roderich Kiesewetter von der
CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wenn wir die
Debatte der letzten Stunde betrachten, so können wir eine
Zweiteilung sehen: auf der einen Seite eine erhebliche
emotionale Betroffenheit wegen toter Kinder, zerstörter
Krankenhäuser und Millionen Menschen auf der Flucht,
auf der anderen Seite bleierne Nüchternheit, großes Entsetzen über die Art und Weise, wie dort vor Ort Machtpolitik ausgestaltet wird.
Wir Deutsche kommentieren nicht nur, sondern wir
versuchen, durch vielfältige diplomatische Vermittlungen zu helfen, nicht nur in den Prozessen in Wien oder in
Genf, sondern auch, gerade in der letzten Woche, was die
Flüchtlingsrückführung oder auch die Flüchtlingsverteilung mit Blick auf Griechenland und die Türkei angeht.
All dies zusammen darf den Blick nicht verstellen,
dass wir auch vor Herausforderungen stehen, was die
Türkei angeht. Es geht nicht nur um nicht eingelöste
innenpolitische Versprechen in der Türkei, es geht auch
nicht nur um die Sorge der Türken vor einer Destabilisierung - ich erinnere an die fast bürgerkriegsähnlichen
Zustände im Südosten der Türkei -, mir macht auch das
Verhalten der Türkei mit Blick auf Libyen Sorge. Ich
würde mir da eine konstruktivere Rolle wünschen.
({0})
Dennoch darf uns das nicht den Blick darauf verstellen, dass sich die Türkei Sorgen um den Bestand ihres
eigenen Landes macht, der auch durch verschiedene
kurdische Gruppen, durch kurdischen Terrorismus gefährdet ist. Ausnehmen möchte ich davon die kurdische
Regionalregierung im Nordirak. Aber die Gemengelage
ist so schwierig. Sie ist nun einmal so, dass sie uns zur
Positionierung zwingt. Auf der anderen Seite können wir
es nicht zulassen, dass Russland die Türkei und auch uns
permanent provoziert und ein Vakuum in Syrien und im
Irak ausfüllt, das wir, der Westen, zu füllen nicht bereit
sind. Auch das dürfen wir nicht vergessen.
Ich glaube, dass es ganz entscheidend ist, dass wir die
Türkei in bestimmten Bereichen stärken. Die Türkei ist
seit 1952 NATO-Mitglied und damit länger als Deutschland. Wir sollten die Türkei dort unterstützen, wo sie bei
der Unterstützung der kurdischen Regionalregierung im
Norden Iraks hilfreich ist, und auch dort, wo sie eine
große Last für Europa übernimmt. Die Türkei mit einem
Drittel der Wirtschaftskraft Deutschlands nimmt doppelt
so viele Flüchtlinge auf. Das verdient nicht nur Anerkennung, sondern auch langjährige Unterstützung, nicht nur
durch Deutschland, sondern auch durch die Europäische
Union.
({1})
Der Blick in die Region zeigt aber auch, dass durch
das Vorgehen der USA seinerzeit 2003 im Irak und die
Folgewirkungen, die wir bis heute zu tragen haben und
an denen die USA - das darf ich als überzeugter Transatlantiker sagen - leiden, ein Vakuum entstanden ist, das
nunmehr durch eine wesentlich agilere saudische Vorgehensweise ausgefüllt wird, die wir noch nicht richtig
einordnen können, aber die wir sehr deutlich als einen
Machtfaktor wahrnehmen. Hinzu kommt, dass der Iran
im Hintergrund, im Schatten Russlands agiert und die
schiitischen Milizen unterstützt und auch durch die entfrorenen Gelder aufgrund der aufgehobenen Sanktionen
mehr Mittel zur Unterstützung von Konflikten und Aufständen in der Nachbarschaft zur Verfügung hat.
Es geht natürlich auch um die Rolle, die wir als Europäische Union wahrnehmen müssen. Dazu muss ich
eindeutig sagen: Die Bemühungen der Bundesrepublik
durch den Außenminister, durch die Verteidigungsministerin und vor allem durch die Bundeskanzlerin in den
letzten Wochen waren äußerst konstruktiv. Wenn wir an
die Unterstützung der Peschmerga denken, wenn wir
an die Einbeziehung von AWACS denken, wenn wir an
die Verhandlungen zwischen Griechenland und der Türkei denken und wenn wir an die letzten Verhandlungen
in München mit dem Versuch denken, möglichst rasch
einen Waffenstillstand zustande zu bringen, dann wird
deutlich: Uns Deutschen liegt daran, eine diplomatische
Lösung zu erreichen.
Aber in der Europäischen Union streiten wir über
die interne Verteilung einer relativ geringen Anzahl von
Flüchtlingen - wir haben heute im Auswärtigen Ausschuss einen interessanten Austausch mit den Kollegen
der französischen Nationalversammlung -; wir streiten
um kleine Zahlen, statt dass wir uns als Europäer um
diese Region intensiver kümmern. Wir dürfen sie nicht
Russland überlassen. Wir dürfen sie auch nicht dem Iran
überlassen oder dem Machtkampf zwischen Sunniten
und Schiiten. Es ist ein ganz wichtiger Punkt, dass wir
uns dort humanitär, politisch und, wenn es sein muss, in
gewisser Weise auch militärisch engagieren.
Ich befürchte, dass nur einige wenige Länder der Europäischen Union dazu bereit sind, während die anderen
durch innenpolitische Probleme gebunden sind, und dass
wir mittlerweile vor der Herausforderung stehen, ein
Kind europäischer Einsatzbereitschaft zu zeugen, auch
wenn es wahrscheinlich nie geboren wird, weil der fehlende europäische Zusammenhalt dem entgegensteht.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie uns nicht
nur auf die Türkei schauen, sondern lassen Sie uns auch
schauen, wie wir uns als deutsche Parlamentarier im
Rahmen einer europäisch verantwortlichen Sicherheitspolitik stärker als Europäer in dieser Region einbringen
und dies nicht Russland, dem Iran oder einer isolierten
Türkei überlassen.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({2})
Als letzter Redner in der Debatte hat Alexander
Radwan von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Als Schlussredner darf ich jetzt alles zusammenfassen; es wurde schon sehr viel gesagt. Lassen Sie mich
zuvor auf einige von Ihnen genannte Punkte kurz eingehen.
Ich habe bei dieser Debatte den Eindruck - das ist sehr
verständlich -: Es schwingt sehr viel Wut und Hilflosigkeit angesichts der Situation in Aleppo mit. Ich verweise
auf die Schulen und die Krankenhäuser, die bombardiert
wurden. Wir haben den Eindruck: Nach jeder Debatte,
die wir hier geführt haben, nehmen die Hilflosigkeit und
das Chaos zu statt ab. Der Terror wird nicht weniger, die
Zahl der Flüchtlinge wird nicht geringer, sondern das
spitzt sich immer weiter zu.
Es gibt widerstrebende Interessen. Darum finde ich
es in dieser Debatte bemerkenswert, dass zumindest in
den Redebeiträgen - ich werfe Ihnen nicht vor, nicht differenzieren zu können - eigentlich klar zum Ausdruck
kommt: Einer ist schuld. In Syrien haben wir das Regime
und die Rebellen; relativ wenig wurde in der heutigen
Aktuellen Stunde über den Terrorismus und den IS gesprochen. Wir haben den Iran. Wir haben die Türkei. Wir
haben Saudi-Arabien. Wenn es um Gespräche mit diesen
drei Staaten geht, komme ich nicht zu dem Schluss: Mit
dem einen darf man nicht reden, mit dem anderen schon.
({0})
- Das klang vorhin bei Mitgliedern Ihrer Fraktion anders.
Dann haben wir die USA, Russland und Europa. Es
geht um die Frage, wie der Kollege Roderich Kiesewetter
gerade gesagt hat, welche Rolle die EU zukünftig übernimmt. Dazu haben wir die Situation, dass aktuell die
Vorbereitungen dafür laufen - die Frage ist, ob es so
kommen wird -, dass die Türkei die Aufgabe übernimmt,
ein Stück weit gegenüber Syrien tätig zu werden. Dann
haben wir natürlich die Bedenken, Frau Roth: Wie wirkt
sich das auf die NATO aus? Es hat jedes Land eben seine
eigenen Interessen.
Ich glaube, es ist nicht falsch, wenn ich sage: In der
Analyse und in dem, was wir uns wünschen, haben wir
hier großen Konsens. Wir wollen, dass der Krieg da unten
endlich aufhört. Wir haben auch relativ schnell Konsens,
wenn es darum geht, humanitäre Hilfe und finanzielle
Hilfen vorzubereiten und dort wirksam werden zu lassen.
Aber bei der Diplomatie sieht das schon anders aus.
Da hatten wir Gespräche in Wien und in Genf. Wir hatten
das Gespräch in München. Dann haben wir es natürlich
mit Zielen zu tun, die die Türkei national mit Blick auf
die Kurden verfolgt und die die Entwicklung in der Türkei betreffen. Es gibt die Gruppierungen im Iran, die in
diesem Bereich ihre Interessen sehr stark vertreten. Russland ist zu nennen und jetzt auch Saudi-Arabien.
Ich möchte etwas anregen. Wir sollten einmal darüber
nachdenken, wie wir einen wichtigen Player aus der sunnitischen Welt, der in diesem Hause regelmäßig kritisiert
wird - es geht um das bevölkerungsreichste Land in dieser Region, nämlich Ägypten -, mehr in die Verantwortung nehmen können, wenn es darum geht, die Wogen
zu glätten. Das Ziel muss ja sein, einen diplomatischen
Weg zu finden, einen Interessenausgleich zu erreichen.
Manche haben momentan das Gefühl, sie müssten die
Chance nutzen, Fakten zu schaffen. Das verurteilen wir
alle natürlich zutiefst.
Es gab jetzt den Vorschlag einer Flugverbotszone; da
unterstützen wir in der CDU/CSU-Fraktion die Kanzlerin nachdrücklich. Es gab die Forderung nach einem
Waffenstillstand. Es geht nicht darum, darüber zu diskutieren, was wünschenswert ist oder wie wir die Türkei
und wie wir möglicherweise den Iran oder auch Saudi-Arabien gern sehen würden. Wenn wir dieses Ziel haben - es gibt keinen hier im Saal, der gegen einen Waffenstillstand ist -, dann ist aber die Frage: Wollen wir es
bei Appellen belassen? Werden wir irgendwann einmal
die Debatte führen müssen: „Was ist unser Beitrag, um
dieses Ziel zu erreichen?“? Sehen Sie es mir nach, wenn
ich sage: Ich glaube nicht, dass allein der Appell aus diesem Hause heute reichen wird, um einen Waffenstillstand
zu bewirken. Um diese Diskussion drücken sich manche
in diesem Haus herum.
({1})
Aufgrund unserer Verantwortung werden wir in Deutschland und Europa gemeinsam - ich hoffe, auch schnell eine Debatte führen müssen, die zumindest erste Schritte
bewirkt.
Zum Thema Diplomatie möchte ich nur noch sagen:
Ich bin der festen Überzeugung, dass sowohl der Außenminister als auch die Kanzlerin in den Gesprächen mit
der Türkei, mit Saudi-Arabien und mit dem Iran deutlich
zu verstehen gegeben haben, was sie von der Situation
halten. Aber, meine Damen und Herren, Diplomatie findet nicht auf der Frontpage der Bild-Zeitung statt.
({2})
- Ich hatte den Eindruck, dass man Ihrer Fraktion das
teilweise sagen muss; sonst würde ich es ja nicht sagen. Ich habe auf jeden Fall das nötige Vertrauen.
Ich finde es - abschließend - bemerkenswert, dass es
ausgerechnet die CDU und inzwischen auch die CSU
sind, die dafür gerügt werden, dass sie, obwohl sie gegen den Beitritt der Türkei zur EU sind, mit der Türkei
sprechen und natürlich auch mit Russland. Wir sprechen
mit Russland,
({3})
wir sprechen mit dem Iran, und wir sprechen mit
Saudi-Arabien. Sie wissen genauso gut wie ich: Das ist
die Grundvoraussetzung für diplomatische Lösungen.
({4})
Vielen Dank.
({5})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Aktuelle Stunde
ist beendet.
Wir sind damit auch am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Donnerstag, den 18. Februar 2016,
9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen. Ich wünsche Ihnen einen
schönen Abend.