Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Nehmen Sie bitte Platz. Die Sitzung ist eröffnet.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich begrüße Sie zur
15. Plenarsitzung des Bundestages.
Ich möchte Sie gerne darauf aufmerksam machen,
dass interfraktionell vereinbart wurde, den Vorschlag des
Rates über die Unterzeichnung - im Namen der Europäischen Union - eines Handelsabkommens zur Bekämpfung von Produkt- und Markenpiraterie auf Drucksache
18/419 Nr. C.16 sowie einen Vorschlag für einen Beschluss des Rates über den Abschluss des Handelsabkommens auf Drucksache 18/419 Nr. C.17 dem Ausschuss
Digitale Agenda zur Mitberatung zu überweisen. - So
richtig Unruhe kann ich nicht erkennen. Ich interpretiere
das als Zustimmung. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe nun die Zusatzpunkte 7 bis 9 unserer Tagesordnung auf:
ZP 7 Erste Beratung des von den Fraktionen der
CDU/CSU und SPD eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des Abgeordnetengesetzes und eines … Gesetzes zur Änderung des Europaabgeordnetengesetzes
Drucksache 18/477
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung ({0})
Haushaltsauschuss mitberatend und gemäß § 96 der GO
ZP 8 Erste Beratung des von den Fraktionen der
CDU/CSU und SPD eingebrachten Entwurfs eines … Strafrechtsänderungsgesetzes - Erweiterung des Straftatbestandes der Abgeordnetenbestechung
Drucksache 18/476
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
ZP 9 Erste Beratung des von der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zum Übereinkommen der Vereinten Nationen gegen Korruption
Drucksache 18/478
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
diese Aussprache 60 Minuten vorgesehen. - Auch hierzu
höre ich keinen Widerspruch. Dann können wir so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache und erteile zunächst dem
Kollegen Michael Grosse-Brömer für die CDU/CSUFraktion das Wort.
({1})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Das Bundesverfassungsgericht verlangt von
uns allen hier im Deutschen Bundestag, dass wir unsere
Entschädigung, unsere Vergütung selbst festlegen. Das
findet nicht jeder hier gut, aber diese Verpflichtung besteht, und deswegen müssen wir uns dieser Verpflichtung auch stellen.
In der öffentlichen Debatte geht die Tatsache, dass
wir immer selbst festlegen, was ein Bundestagsabgeordneter und damit wir selbst verdienen, häufig mit dem
Vorwurf einer Selbstbedienungsmentalität einher, was
natürlich für das Ansehen des Parlamentes und auch für
die Stellung des Abgeordneten insgesamt nicht immer
förderlich ist. Deswegen ist es richtig, dass man sich einmal grundsätzlich Gedanken macht: Was ist eigentlich
eine angemessene Vergütung für die Abgeordnetenleistung, für den Umfang der Tätigkeit eines Abgeordneten?
Da gibt es seit 1995 eine klare Vorgabe, die bereits
seit dieser Zeit im Abgeordnetengesetz normiert ist,
nämlich die Festlegung: Für unsere Arbeit hier im Deutschen Bundestag ist der Vergleichsmaßstab sinnvollerweise eine Tätigkeit auf Bundesebene, und zwar die Tätigkeit einer Person, die nicht weisungsabhängig ist,
sondern die wie wir eine spezielle Rechtsstellung in Anspruch nehmen kann. Deswegen orientiert sich die
Frage: „Was ist eine angemessene Vergütung für Abgeordnete?“, sinnvollerweise, wie ich finde, an dem Verdienst eines Bundesrichters, der auf Bundesebene eine
hohe Verantwortung hat, aber eben auch weisungsfrei
entscheidet.
Wir haben diese schon seit 1995 im Gesetz festgelegte Vergütung nie erreicht, unter anderem auch deshalb, weil wir uns selbst in den letzten zehn Jahren sechs
Nullrunden verordnet haben, sicherlich in den Einzelfällen immer berechtigterweise, weil die Gesamtsituation
aus unserer Sicht nicht geeignet war, um die Diäten zu
erhöhen.
Wir haben uns schon vor zwei Jahren darauf verständigt, eine unabhängige Sachverständigenkommission
einzurichten, die sich grundsätzlich über die Rechtsstellung des Abgeordneten Gedanken macht. Der Abschlussbericht dieser Kommission, die sich aus ehemaligen Ministern, aus Wirtschaftsvertretern, Vertretern der
Gewerkschaften, Professoren und Professorinnen zusammengesetzt hat, liegt seit März letzten Jahres vor.
Wir hatten ihn bereits in der letzten Legislaturperiode
anberaten und uns darauf verständigt, zu Beginn dieser
Legislaturperiode die notwendigen Schlussfolgerungen
daraus zu ziehen. Genau die diskutieren wir heute Morgen zu bester Zeit, damit die Debatte öffentlich beachtet
und verfolgt werden kann.
Wer sich diese Schlussfolgerungen ansieht, wird feststellen, dass die Kommission eines wirklich gut gemacht
hat: Sie hat sich mit dem Leitbild des Abgeordneten beschäftigt. Die Besonderheit ist, dass wir nicht weisungsabhängig sind, dass wir keine Amtsträger sind und dass
wir daher nicht wie ein Beamter verpflichtet sind, neutral zu arbeiten und zu entscheiden. Wir sind bewusst Interessenvertreter. Wir kümmern uns darum, was in
Deutschland vor sich geht. Wir vertreten unsere politischen Überzeugungen, aber wir sind natürlich auch Interessenvertreter der Menschen unseres Wahlkreises. Dort
werden wir gewählt, dort wollen wir Zustimmung haben.
Das ist Teil der Demokratie. Deswegen liegen uns die
Unternehmen und die Menschen in unserem Wahlkreis
mit all ihren Problemen besonders am Herzen.
Die Aufgabe eines Abgeordneten ist vielfältig. Wir
haben überlegt, welche Schlussfolgerungen wir daraus
ziehen müssen. Die Kommission hat gesagt: Die Vergütung, wie sie seit 1995 im Gesetz festgelegt ist, ist richtig. Deswegen schlagen wir heute in erster Lesung vor,
dass wir die derzeit bestehende Differenz in Höhe von
rund 830 Euro ausgleichen. Wir wollen in zwei Schritten
vorgehen, um dann das Niveau zu erreichen - es wurde
bereits 1995 durch eine Kommission festgelegt -, das einer angemessenen Entschädigung für die Tätigkeit eines
Abgeordneten entspricht.
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf machen wir außerdem einen wichtigen, sinnvollen und das System ein
Stück weit ändernden Schritt. Unser Vorschlag ist, dass
wir die Abgeordnetenentschädigung, sobald sie das entsprechende Niveau erreicht hat, an den Nominallohnindex koppeln. Das stellt uns nicht schlechter und nicht
besser als jeden abhängig Beschäftigten in Deutschland.
({0})
Das ist aus meiner Sicht ein sinnvoller Schritt. Wir werden uns daran genau orientieren. Wir werden zu Beginn
einer Legislatur eine entsprechende Entscheidung treffen
müssen. Die Entschädigung orientiert sich dann an der
Lohnentwicklung, wie sie in ganz Deutschland stattfindet. Wir sind somit nichts Besonderes, sondern Teil der
Gemeinschaft. Wir nehmen an der Lohnentwicklung genauso teil wie die abhängig Beschäftigten in Deutschland.
Das Ergebnis der Kommission beinhaltet auch die
Aussage, dass die Altersversorgung des Abgeordneten
zur Sicherung seiner Unabhängigkeit, im Übrigen auch
die seines Familienumfeldes, eine geeignete Maßnahme
ist und dass das damit verbundene Verfahren gut ist. Es
gab zwar unterschiedliche Auffassungen, gleichwohl
waren die meisten der Meinung: Eine Umstellung des
Systems würde nicht weniger Kosten verursachen.
Häufig wird argumentiert, dass wir üppig versorgt
seien. Natürlich verdienen wir deutlich mehr als der
Durchschnitt der Bevölkerung. Aber lassen Sie mich daran erinnern: Wir verdienen deutlich weniger als Manager oder andere Angestellte in der freien Wirtschaft, die
vielleicht auch nicht wesentlich mehr Verantwortung tragen als wir.
Was die Altersversorgung betrifft, darf man auch daran erinnern, dass die durchschnittliche Verweildauer eines Kollegen oder einer Kollegin im Deutschen Bundestag rund zwei Legislaturperioden beträgt. Das sind acht
Jahre. Das ist bei weitem nicht ein komplettes Arbeitsleben. Er oder sie wird auch andere Rentenversorgungsansprüche erworben haben und wird im Regelfall auch
nach der Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag weiter
in die Rentenversicherung einzahlen.
Das, was wir als Altersversorgungsansprüche geltend
machen, ist eben nur die Versorgung für einen überschaubaren, im Durchschnitt acht- bis neunjährigen Zeitraum, während dessen wir hier im deutschen Parlament
arbeiten dürfen; so darf man das ja sagen. Natürlich ist
es ein Privileg, Mitglied des Deutschen Bundestages zu
sein. Jedenfalls empfinde ich das so, und ich weiß, dass
viele Kollegen ebenso empfinden. Dennoch haben wir
gesagt: Wir wollen bei der Altersversorgung Änderungen durchführen, und zwar Änderungen zu unseren Lasten. Wir wollen den Höchstsatz von aktuell 67,5 Prozent
auf 65 Prozent senken, den man natürlich erst nach vielen Jahren Zugehörigkeit zum Deutschen Bundestag erreicht.
Sehr wichtig ist, wie ich finde, auch Folgendes: Wir
schaffen die Möglichkeit des vorgezogenen Bezuges der
Altersversorgung ab, der es in Einzelfällen ermöglicht
hätte, schon mit 57 Jahren Versorgungsansprüche geltend zu machen. Das schaffen wir ab, weil wir denken,
dass es angesichts der allgemeinen politischen und gesellschaftlichen Debatte über Demografie und die daraus
resultierenden notwendigen politischen Reaktionen erforderlich ist, dass wir hier Änderungen für uns durchführen. Es kann nicht sein, dass wir die Rente mit 67 gut
finden, aber bei uns keine Änderungen vornehmen. Wir
schaffen jetzt zwar für die Arbeitnehmer die Möglichkeit, nach 45 Beitragsjahren vorzeitig in Ruhestand zu
gehen, ansonsten ist ein vorzeitiger Ruhestand für sie
aber mit Abzügen verbunden. Genau so machen wir das
jetzt auch bei uns: Wer eher gehen will, muss Abzüge in
Kauf nehmen. Das war vorher nicht so. Ich denke, wir
haben diesbezüglich eine sinnvolle Änderung vorgeschlagen.
Wir werden auch die Strafen, die wir uns selbst auferlegen, verdoppeln. Wer hier unentschuldigt fehlt, muss
künftig pro Tag 200 Euro bezahlen. Ich finde, das ist angemessen und sinnvoll. Wenn man entschuldigt fehlt,
kostet das zwar auch noch Geld, aber nicht ganz so viel.
Das alles wollen wir mit weiteren Änderungen koppeln, auf die die Kolleginnen und Kollegen, die nach mir
sprechen, vielleicht noch eingehen werden. Wichtig ist,
dass die Änderungen, die ich gerade beschrieben habe,
mit notwendigen Änderungen in Bezug auf die Abgeordnetenbestechung gekoppelt werden. Dieses Feld ist neu
zu regeln; es ist ein extrem schwieriges Feld. Das haben
wir schon in der letzten Legislaturperiode festgestellt.
Die Anhörung hat gezeigt, dass wir in vielerlei Hinsicht
Schwierigkeiten haben, einen neuen Tatbestand zu
schaffen, der bestimmt genug ist und uns allen die Gewissheit gibt, nicht zu Unrecht verfolgt zu werden.
Eines ist klar: Für einen Abgeordneten, gegen den ein
Ermittlungsverfahren eingeleitet wurde, hat - unabhängig vom Ausgang - allein die Tatsache, dass gegen ihn
ermittelt wird, eine katastrophale Auswirkung auf seine
Wiederwahl, sofern er unter diesen Umständen überhaupt noch einmal kandidiert. Deswegen ist das schwierig. Wir stellen uns aber der Aufgabe, einen neuen Tatbestand zu kreieren, der strafwürdiges Verhalten erfasst
- natürlich muss Bestechlichkeit strafbar sein; das ist sie
in Teilen auch schon -, ohne dabei den Grundsatz des
freien Mandats nebst Beachtung der Besonderheiten des
politischen Prozesses aufzugeben.
Angesichts dessen stehen wir vor einer schwierigen
Aufgabe. Ich bin davon überzeugt, dass die Kolleginnen
und Kollegen im Rechtsausschuss sich dieser Aufgabe
stellen werden und es schaffen, die beste Lösung zu erarbeiten. Das ist nicht einfach. Das ist eine große Herausforderung. Viele meiner Kolleginnen und Kollegen haben die Sorge, dass es falsch geregelt wird. Wie das so
ist: Das Verfahren geht seinen normalen Gang. Wir beraten im Ausschuss. Ich bin sehr zuversichtlich, dass wir
gute Lösungen finden, wie wir sie auch bezüglich der
Rechtsstellung des Abgeordneten gefunden haben.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({1})
Die Kollegin Petra Sitte erhält nun das Wort für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Guten Morgen, liebe Kolleginnen und
Kollegen! Um allen Missverständnissen vorzubeugen,
sage ich es lieber gleich am Anfang: Die angemessene
Entschädigung für Abgeordnete ist eine demokratische
Errungenschaft, und das bleibt sie auch.
({0})
Bereits im antiken Griechenland wurden solche Diäten
eingeführt, um weniger wohlhabenden Schichten demokratische Teilhabe zu sichern. Diese Funktion üben Diäten im Grunde genommen immer noch aus.
Es ist schon etwas Besonderes, das Bundestagsmandat als Vollzeitberuf ausfüllen zu können und dabei aufgrund der Höhe der Diäten von weiteren Finanziers unabhängig zu sein. Das gilt nicht für alle Abgeordneten.
Ich kann mich an Abgeordnete wie Herrn Merz erinnern,
der, glaube ich, in 23 Aufsichtsräten gesessen hat.
({1})
Wie auch immer, prinzipiell sind wir unabhängig.
Die Ansprüche an unsere Arbeit, die Ansprüche an
die Mandatsausübung wachsen natürlich. Grüne und
Linke erfahren das ja jetzt gerade. Wir sollen sozusagen
den GroKo-Fanten bändigen, obwohl uns die notwendigen Instrumente dafür noch fehlen.
Wer im Parlament, dem demokratischen Korrektiv
von Regierungsarbeit, sitzt, sollte wirtschaftlich unabhängig sein. Allerdings handeln wir nicht im luftleeren
Raum. Wir haben ein konkretes gesellschaftliches Umfeld. Dort erleben die Menschen seit Jahren eine Spaltung der Gesellschaft: Zum einen gibt es eine große
Masse von Beschäftigten, die sich immer wieder die
Frage stellen, ob sie ihren Wohlstand auch morgen noch
sichern können, mag er auch noch so bescheiden sein.
Zum anderen gibt es eine relativ kleine Gruppe von sehr
Reichen, deren Einkommen und Vermögen in den letzten Jahren, insbesondere sogar nach der Krise, explodiert
sind.
Herr Grosse-Brömer, mein Amtskollege von der
CDU, hat gerade gesagt: Wir Abgeordnete wollen nicht
schlechter und nicht besser gestellt werden als alle anderen Beschäftigten auch außerhalb des Parlaments. - Dem
kann ich erst einmal uneingeschränkt zustimmen. Aber
wenn man es sich in der Praxis genau anschaut - deshalb
habe ich vom gesellschaftlichen Umfeld gesprochen -,
dann sieht man - auch wenn die Koalition versucht, uns
etwas anderes zu erzählen -, dass die Diäten seit 2000
von 6 623 Euro auf in diesem Jahr 8 252 Euro gestiegen
sind. Das ist immerhin ein Wachstum von 25 Prozent.
Die Bruttolöhne hingegen sind in dieser Zeit nur um
22 Prozent gestiegen. Nimmt man, insbesondere vor
dem Hintergrund ansteigender Lohnnebenkosten, die
Nettogehälter zum Maßstab, sieht die Bilanz - auch sie
zeigt einen Vorteil der Bundestagsabgeordneten - noch
schlechter aus.
Wir sind natürlich auch Profiteure der ungerechten
Steuerreform. Viele Abgeordnete profitieren beispielsweise von der Abgeltungsteuer auf Kapitaleinkünfte.
({2})
Abgeordnete profitieren beispielsweise durchaus auch
von der Absenkung des Spitzensteuersatzes. Das halten
wir für höchst problematisch. Auch das muss man hier
thematisieren.
({3})
Ganz dramatisch ist der Vergleich mit den unteren
Gehaltsklassen. Dazu gehört immerhin die überwiegende Zahl der Beschäftigten. Bei diesen hat es seit 2000
Reallohneinbußen gegeben. Angesichts der Zeitgleichheit dieser Vorgänge - Reallohneinbußen und Diätenerhöhung - ist das Vorhaben, die Diäten in sieben Monaten
um 830 Euro steigern zu wollen, höchst problematisch
und diskussionswürdig. Ich finde, die Koalition hätte ruhig erst einmal damit anfangen können, ihre Hausaufgaben aus dem Koalitionsvertrag zu machen, bevor sie die
Diäten erhöht.
({4})
Die Regelung unserer Altersversorgung - Sie haben
das Thema in Ihrem Beitrag erwähnt - steht im Widerspruch zu der der Beschäftigten oder anderer Bürgerinnen und Bürger. Sie sagen zwar, dass wir das Niveau der
Altersversorgung jetzt von 67,5 auf 65 Prozent senken
- man darf in diesem Zusammenhang nicht vergessen,
dass dem eine Diätenerhöhung vorausgeht -, allerdings
muten wir den Beschäftigten im Land langfristig zu,
dass das Rentenniveau bis zum Jahr 2030 auf 43 Prozent
abgesenkt wird. Nun frage ich nicht, ob die Altersversorgung der Abgeordneten nicht auch auf 43 Prozent gesenkt werden sollte, aber ich frage Sie: Wenn für uns
65 Prozent gelten sollen, wieso wird dann nicht auch das
Rentenniveau wieder angehoben?
({5})
Ich habe in meinen Abgeordnetensprechstunden genauso wie Sie durchaus Menschen - dazu zählen insbesondere altgeschiedene Frauen, die im Einigungsvertrag
vollkommen vergessen wurden -, die im Monat eine
Rente haben, die nicht einmal so hoch ist wie die jetzt
geplante Steigerung der Diäten. Insofern denke ich, dass
da ein bisschen Demut, ein bisschen Bescheidenheit angebracht wäre.
({6})
Die geplante Anhebung der Diäten steht in keinem
vernünftigen Verhältnis zur Lebensrealität der Menschen, die uns alle hier gewählt haben. Bei dieser Erhöhung werden die falschen Prioritäten gesetzt. Aus diesem Grund werden wir höchst kritisch in die Diskussion
gehen und diesem Teil des vorliegenden Gesetzentwurfs
nicht zustimmen.
({7})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Christine
Lambrecht für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich
möchte den Fokus in dieser Debatte doch auf das Gesamtpaket richten, das wir heute und in der nächsten Sitzungswoche hier beraten. Ich möchte darum bitten, es
genau so wahrzunehmen - als Gesamtpaket - und nicht
den Fokus allein auf einen Punkt zu richten, auch wenn
dieser Punkt ein entscheidender Punkt ist.
Niemand drückt sich davor, die Diskussion darüber
zu führen. Selbstverständlich gehört die Erhöhung der
Diäten mit zu diesem Paket; aber zu diesem Paket gehört
eben auch, dass wir bei der Altersversorgung für Abgeordnete deutliche Einschnitte vornehmen. Und es ist
auch richtig, dass wir endlich - nach zehn Jahren - ein
Gesetz gegen Abgeordnetenbestechung und -bestechlichkeit vorlegen. Dieses Gesamtpaket bitte ich Sie zu
betrachten.
({0})
In dieser Debatte wird immer gefragt, ob die Anhebung der Diäten, die jetzt vorgenommen werden soll - in
einer Dimension, die groß ist: 830 Euro insgesamt, über
zwei Schritte gestreckt -, okay ist. Das ist zugegebenermaßen richtig viel Geld. Aber jeder, der hier sitzt, wurde
nicht als Bundestagsabgeordneter geboren und bezog
nicht von Anfang an eine Bundestagsdiät. Wir alle haben
eine Biografie, wir alle haben schon andere Summen
verdient und wissen deswegen sehr wohl, was diese Erhöhung bedeutet. Ich musste mein Jurastudium finanzieren und habe am Anfang an einer Tankstelle kassiert, für
damals noch 7 D-Mark.
({1})
Aber die Frage, die wir stellen müssen - und die wir
in der Diskussion auch stellen -, ist doch: Was verdient
ein Bundestagsabgeordneter, was verdient eine Bundestagsabgeordnete? Das ist natürlich eine Frage in doppelter Bedeutung; denn was wir bekommen, steht im Abgeordnetengesetz. Aber was ist denn ein gerechtes Entgelt
für diese Arbeit, was wäre richtig? Was ist unsere gesellschaftliche Stellung, und mit welcher Berufsgruppe sind
wir zu vergleichen?
({2})
Über diese Frage, glaube ich, sollten wir einmal ausführlich diskutieren.
Ja, wir bekommen viel Geld, auch jetzt schon, und
zum Normalverdiener ist der Abstand auch groß. Es ist
nun einfach und populär, zu sagen: Warum verdient ihr
beispielsweise im Vergleich zu einer Verkäuferin so
viel? Aber ist der Vergleich mit der Verkäuferin richtig?
Wie arbeiten wir denn? Wir arbeiten in der Regel - zumindest derjenige, der seinen Job richtig macht - 60 bis
70 Stunden die Woche. Dazu kommen dann noch die
Wochenenden. An den Wochenenden sind wir ebenfalls
unterwegs: um die Entscheidungen, die wir hier treffen,
auch entsprechend zu begründen; da müssen wir Rede
und Antwort stehen. Das ist auch richtig und gut so. Wir
besuchen darüber hinaus Vereinsjubiläen, um unsere
Verbundenheit mit dem Ehrenamt zu zeigen. Das alles
kommt am Wochenende dazu. Außerdem müssen wir
auch noch in unseren jeweiligen Parteiorganisationen
unsere Entscheidungen begründen; auch das ist nicht immer einfach.
({3})
Wir müssen jederzeit erreichbar sein; gerade in Zeiten
von E-Mail und SMS steigert sich das Ganze auch noch
gewaltig. Wenn eine Sondersitzung angesetzt wird, müssen Bundestagsabgeordnete präsent sein. Sie müssen
sich für alles erklären, manchmal auch für Dinge, die sie
gar nicht selbst entschieden haben.
({4})
Und sie stehen im Fokus der Medien, und das manchmal
nicht nur mit Blick auf ihr berufliches Tun, sondern auch
auf ihre Privatsphäre.
Warum habe ich das so ausgeführt? Weil es einfach
wichtig ist, einmal zu sehen, was wir machen, welche
Verantwortung wir haben, in welchem Zusammenhang
unsere Arbeit steht. Das ist nicht zu vergleichen mit jemandem, der 39, 40, 42 Stunden abhängig beschäftigt
ist, sondern das ist etwas völlig anderes.
({5})
Als etwas völlig anderes muss es dann eben auch behandelt werden.
({6})
Wenn es etwas völlig anderes ist, bleibt die Frage: Mit
was ist es denn dann zu vergleichen? Wir sagen - ebenso
sagt es die Unabhängige Kommission -: Es ist in etwa
zu vergleichen mit der Tätigkeit eines Richters an den
obersten Gerichten. Auch er ist weisungsunabhängig
und trifft Entscheidungen, die bundesweit Gültigkeit haben. Das entspricht in etwa dem, was auch wir auf Bundesebene tun. Die obersten Richter erhalten Bezüge nach
der Besoldungsgruppe R 6.
Nicht jeder kann etwas mit der Besoldungsgruppe R 6
anfangen. Deswegen möchte ich einen Vergleich zu einer Berufsgruppe ziehen, deren Tätigkeit nach B 6 vergütet wird. Auch wenn diese Tätigkeit eine andere ist als
unsere, nämlich die von Landräten und Bürgermeistern
mittelgroßer Städte, möchte ich Sie fragen: Haben Sie
im Ernst das Gefühl, Sie verdienen - im Sinne von: zu
Recht verdienen - weniger als ein Landrat? Angesichts
der Tragweite der Entscheidungen, die wir zum Beispiel
zur Euro-Krise, zum Finanzmarkt, zu Auslandseinsätzen
der Bundeswehr, wo es um Leben und Tod geht, zu treffen haben, finde ich, dass R 6 bzw. B 6 sehr wohl die
richtige Bezugsgröße ist.
({7})
Dies steht seit 1995 im Gesetz. Jetzt wollen wir diesen Schritt gehen. Dies soll in zwei Stufen geschehen.
Danach soll unser Einkommen - damit entsprechen wir
wieder den Vorschlägen der Unabhängigen Kommission - jeweils an die Entwicklung des Nominallohnindexes gekoppelt werden. Dieser kann nach oben gehen,
aber rein theoretisch auch nach unten, entsprechend dem
Einkommen aller Beschäftigten. Damit kommen wir der
Forderung „Hört endlich auf, selbst darüber zu entscheiden und euch selbst zu geben, was ihr für gerecht haltet“
nach. Mit der Kopplung unseres Einkommens an diesen
Index wird die Forderung der Unabhängigen Kommission erfüllt.
({8})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir werden Einschnitte auch in Bezug auf die Altersversorgung beschließen. Die öffentliche Diskussion ging nicht in die
Richtung - zumindest nach meiner Wahrnehmung -, wir
würden zu viel verdienen und uns die Taschen füllen.
Dass Abgeordnete gut bezahlt werden, ist gesellschaftlich durchaus akzeptiert. Wo es Kritik gab, und zwar zu
Recht, das war bei der Altersversorgung. Deswegen gehen wir auch an diesen Komplex heran. Wir werden das
Niveau von 67,5 Prozent auf 65 Prozent für alle absenken. Das ist zugegebenermaßen kein Einschnitt, angesichts dessen man sagen kann, dass da richtig eingegriffen wurde.
Wo es aber einen richtigen Einschnitt geben wird, wo
es richtig weh tun wird - das ist richtig so -, ist, dass es
in Zukunft keine Möglichkeit mehr geben soll, abschlagsfrei in den sogenannten Vorruhestand zu gehen.
Bis jetzt kann man nach 18 Jahren Mitgliedschaft im
Deutschen Bundestag und bei Vorliegen von entsprechenden Anrechnungszeiten mit 55 bzw. 57 Jahren, je
nachdem wo das persönliche Renteneintrittsalter liegt,
abschlagsfrei in den Vorruhestand gehen. So etwas ist
aber nicht mehr zeitgemäß. Das ist nicht mehr vermittelbar. Deswegen streichen wir das. Es wird in Zukunft keinen abschlagsfreien Vorruhestand für Abgeordnete mehr
geben.
({9})
Jeder, der hier sitzt, kann sich ausrechnen, ob es ihn
betrifft; denn manchmal wird behauptet, es treffe kaum
jemanden. Es trifft all diejenigen, die in diesen Bundestag neu hinzugekommen sind oder die in ihrer zweiten
Legislaturperiode hier sind. Für uns in der SPD-Fraktion
bedeutet das: Von 193 Abgeordneten werden 109 Abgeordnete diese Möglichkeit nicht mehr in Anspruch nehmen können. Das ist eine ordentliche Zahl. Wenn man
den gesamten Bundestag betrachtet, dann sieht man,
dass circa die Hälfte der Abgeordneten in Zukunft diese
Möglichkeit nicht mehr in Anspruch nehmen kann. Auf
die Dauer gesehen wird das dann alle Abgeordneten betreffen. Ich finde schon, dass ein solcher Einschnitt
durchaus gewürdigt werden sollte. Wir werden diesen
Einschnitt vornehmen; denn er ist richtig.
({10})
Es gab in diesem Zusammenhang die Frage, warum
wir das System der Altersversorgung nicht insgesamt
umstellen, warum nicht jeder Abgeordnete einen bestimmten Betrag zur Verfügung bekommt und für sich
selbst vorsorgen muss. Auch das ist von der Kommis1112
sion geprüft worden, auch darüber wurde ausdrücklich
diskutiert. Die Mehrheit der Mitglieder der Kommission
schlägt uns vor, es bei dem bestehenden System zu belassen.
({11})
- Natürlich kann ich der Meinung einer Minderheit folgen, wenn ich deren Meinung für richtig halte. Aber
wenn man den Bericht der Kommission, der übrigens
bereits seit letztem Jahr auf dem Tisch liegt, richtig
durchliest, dann erfährt man, dass eine völlige Umstellung weder zu einem einfacheren Verfahren führen
würde und schon gar nicht für den Steuerzahler günstiger wäre. Damit würde ich etwas beschließen, was umständlicher wäre und mehr Geld kosten würde. Deswegen haben wir uns entschieden, diesen Schritt nicht zu
gehen.
({12})
Frau Kollegin Lambrecht, lassen Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Strengmann-Kuhn zu?
Na klar.
Bitte schön.
Vielen Dank, Frau Kollegin, dass Sie die Zwischenfrage zulassen. - Ich bitte Sie, noch einmal in den Bericht hineinzuschauen. Es ist nicht richtig, dass es eine
Mehrheitsposition zur Alterssicherung gab.
({0})
Fünf zu fünf zu eins.
({0})
Fünf zu fünf, richtig, und die eine Person ist für eine
komplette Privatisierung gewesen.
Ja, genau.
Das ist also ein ganz anderes Modell. Insofern gab es
an der Stelle ein Patt.
Fünf haben für Verbesserungen innerhalb des Systems plädiert; das ist das, was Sie beschrieben haben und
was im Gesetzentwurf steht. Die anderen fünf haben klar
gesagt: Abgeordnete sollen in die gesetzliche Rentenversicherung einzahlen.
Nein, nein.
Doch, ich kann es Ihnen vorlesen, wenn Sie gerne
möchten. Ich habe den Bericht hier vor mir liegen. Diese fünf plädieren also für ein Baukastenprinzip: gesetzliche Rentenversicherung plus Zusatzversorgung, die
es im öffentlichen Dienst über die betriebliche Altersversorgung auch gibt, plus private Alterssicherung. Das ist
das übliche Drei-Säulen-System, nach dem alle anderen
außerhalb des Bundestages in der Regel abgesichert
sind.
Nun komme ich zu meiner Frage: Wir bekommen pro
Jahr Mitgliedschaft im Bundestag einen Anspruch auf
monatliche Alterssicherung von gut 200 Euro. Wenn
man in die gesetzliche Rentenversicherung einzahlt und
so viel verdient wie wir als Bundestagsabgeordnete, erhält man einen Anspruch von knapp 60 Euro. Finden Sie
es wirklich gerecht, dass es beim Rentenanspruch einen
so großen Unterschied und eine so starke Besserstellung
für Bundestagsabgeordnete gegenüber denjenigen gibt,
die gleich viel verdienen, eine ähnlich hohe Verantwortung tragen und eine ähnliche Arbeitsbelastung haben?
Wäre es nicht viel gerechter, wenn wir alle - das haben
viele in der SPD bei vielen Rentendiskussionen, die ich
erlebt habe, vertreten - in die gesetzliche Rentenversicherung einzahlen würden?
Sie haben im Endeffekt schon die Begründung dafür
geliefert, warum dieses völlige Umschwenken in ein anderes System für den Steuerzahler zumindest nicht günstiger, sondern im Gegenteil sogar teurer wäre.
Wir haben uns in unserer Fraktion die Mühe gemacht,
auch mit den Kommissionsmitgliedern zu diskutieren,
und wir haben das ausführlich beraten. Sie haben das andere System genau beschrieben. Diejenigen, die für dieses Baukastensystem plädiert haben, sagen auch: Ja, die
Anrechnung in der gesetzlichen Rentenversicherung
wäre geringer. Deswegen müsste dafür ein Ausgleich gezahlt werden - wozu sie auch bereit wären.
({0})
- Diskutieren Sie vielleicht einmal mit den Kommissionsmitgliedern. Dann erhalten Sie solche Hintergrundinformationen. - Dadurch wäre die Alterssicherung genauso teuer.
Das heißt, um bei dem Baukastensystem auf den jetzigen Altersversorgungsanspruch zu kommen, müsste es
neben den Zahlungen in die gesetzliche Rentenversicherung noch etwas anderes geben, wodurch diese Differenz
kompensiert wird. Das würde dieses System teurer maChristine Lambrecht
chen. Deswegen entschließen wir uns, bei dem bisherigen System zu bleiben.
({1})
Für einen Systemwechsel, der weder einfacher noch
günstiger für den Steuerzahler ist - jetzt einmal im
Ernst -, sind wir in der Großen Koalition nicht zu haben.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, ich möchte
zum Schluss noch auf einen Punkt eingehen, um den es
hier neben der Diätenerhöhung und den Einschränkungen bei der Altersversorgung auch geht.
Ich freue mich als Sozialdemokratin, die in der letzten
Legislaturperiode gerade auch an der Erarbeitung des
einen heute vorliegenden Gesetzentwurfes maßgeblich
beteiligt war, dass es uns nun endlich gelingt, die Bekämpfung der Abgeordnetenbestechung und der -bestechlichkeit gesetzlich zu normieren. Seit 2003 waren
wir aufgefordert, an dem bisherigen Zustand etwas zu
ändern; denn 2003 wurde die UN-Konvention gegen
Korruption unterzeichnet - auch von der Bundesrepublik
Deutschland. Bis heute ist nichts geschehen.
Wir haben in der letzten Legislaturperiode - ich weiß
gar nicht, in welchem Rhythmus; wahrscheinlich war es
alle paar Wochen - häufig über dieses Thema diskutiert,
weil wir nach dem Motto „Steter Tropfen höhlt den
Stein“ immer wieder versucht haben, gerade in den Reihen der Union, aber insbesondere auch der FDP um Unterstützung dafür zu werben. Es ist uns nicht gelungen,
immer mit dem Hinweis darauf, es sei so kompliziert.
Es ist kompliziert, und die Umsetzung ist auch
schwierig; aber ich glaube, wir Abgeordnete entscheiden
über noch viel schwierigere Sachverhalte. Deswegen
trauen wir uns auch zu, einen entsprechenden Straftatbestand in § 108 e StGB zu normieren, sodass in Deutschland in Zukunft nicht nur der Stimmenkauf unter Strafe
gestellt werden kann - das heißt das, was hier im Parlament rein theoretisch stattfinden könnte -, sondern auch
die Bestechung und die Bestechlichkeit von Abgeordneten.
Endlich kommen wir damit aus einer Reihe von Staaten heraus, die diese Konvention bisher noch nicht umgesetzt haben, wie Nordkorea, Syrien und andere, und
mit denen man eigentlich nicht in einem Zusammenhang
genannt werden will.
Es freut mich, dass unser Vorschlag trotz der Kritik,
dass wir nicht weit genug gehen, immerhin von Verbänden wie Transparency International oder LobbyControl
wahrgenommen und begrüßt wird. Es wird anerkannt,
dass sich in dieser Frage endlich etwas bewegt, dass sich
Deutschland wie auch andere Staaten endlich aufrafft,
diese Konvention umzusetzen.
Wir unterbreiten Ihnen also auch diesen Vorschlag. Es
geht um ein Gesamtpaket, bei dem wir der Meinung
sind: Es ist ausgewogen. Es geht in die richtige Richtung. Es nimmt ganz viele Vorschläge aus einer von uns
eingesetzten Unabhängigen Kommission auf.
Vielen Dank.
({2})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen spricht nun
die Kollegin Britta Haßelmann.
Meine Damen und Herren! Sehr geehrte Kolleginnen
und Kollegen! Sehr geehrter Herr Präsident! Wir reden
heute in erster Lesung über eine Änderung des Abgeordnetengesetzes. Das Verfahren, das Sie wählen, ist formal
nicht zu beanstanden, um das von vornherein zu sagen.
Aber ich finde das Verfahren in der Sache nicht angemessen. Die beiden Gesetzentwürfe, die heute erstmals
im Bundestag beraten werden - zum einen zur Änderung
des Abgeordnetengesetzes und zum anderen zur Abgeordnetenbestechung -, sollen am Montag in einer sehr
kurzfristig anberaumten Anhörung vertieft und schon
nächsten Freitag in zweiter und dritter Lesung verabschiedet werden. Ich halte es angesichts des Umfangs
der beiden Gesetze und der inhaltlich wirklich komplexen Fragen für politisch nicht in Ordnung, das so zu machen.
({0})
Die Unabhängige Kommission, auf die hier mehrfach
Bezug genommen wurde, wurde am 24. November 2011
eingerichtet und hat sich bis zum 31. März 2013 mit folgenden Fragen befasst: Wie soll eigentlich die Abgeordnetenentschädigung, die Besoldung von Abgeordneten,
aussehen? Wie soll künftig die Altersversorgung aussehen? Wie ist die Kostenpauschale zu bewerten? Wie
sieht es mit der Ausstattung der Abgeordneten aus?
Diese Fragen waren aus der Kritik hervorgegangen - das
wurde von außen an uns herangetragen -, dass wir als
Abgeordnete unsere Bezüge, die von einigen als zu hoch
empfunden werden, immer selbst festlegen und darüber
entscheiden.
Wir als Fraktion halten eine grundsätzliche Orientierung an der Besoldungsgruppe R 6 für angemessen; das
haben wir auch in der Kommission immer vertreten. Ob
man allerdings die Anhebung der Bezüge um 10 Prozent
innerhalb eines halben Jahres in zwei Schritten machen
sollte, darüber hätten wir einmal in Ruhe diskutieren sollen. Eine solche Anpassung hätten wir doch auch über
die Legislaturperiode strecken können.
({1})
Sie hätten mit den Fraktionen intensiv darüber reden
können.
Wir hätten sagen können: Eine grundsätzliche Orientierung an der Besoldungsstufe R 6 ist richtig. Denn es
gibt das unabhängige Mandat. Es gibt einen riesigen
Entscheidungsrahmen. Wir wirken an Gesetzen mit. Es
gibt das freie Mandat. Jeder und jede soll es ausüben
können, auch wenn er oder sie nicht sozial abgesichert
ist. Wir müssen unbestechlich sein. Es gibt viele Gründe
für die Orientierung an der Besoldungsstufe R 6. Aber
das Verfahren, das Sie jetzt dafür wählen, ist nicht in
Ordnung. Das ist das Problem der heutigen Diskussion.
({2})
Der weitaus wichtigere Punkt, der hier auch hätte diskutiert werden müssen, gerade mit den neuen Abgeordneten, ist der der Altersversorgung und der Altersentschädigung. Das ist im Kern unser Kritikpunkt, den wir
in der Grünenfraktion diskutiert haben. Es gab kein Einvernehmen in der Kommission. Das Votum fiel fünf zu
fünf aus, was die Frage der Beibehaltung des jetzigen
Systems mit kleinen Änderungen oder des Schwenks in
ein neues Baukastensystem auf der Grundlage der Einbeziehung in die gesetzliche Rentenversicherung angeht.
Angesichts eines so knappen Ergebnisses muss man
sagen: Die Abgeordneten des 18. Deutschen Bundestages hatten noch in keinem Ausschuss, in keiner Rechtsstellungskommission die Gelegenheit, diese beiden Modelle einmal in Ruhe zu bewerten; das ist das Problem.
Denn wir müssen uns insbesondere mit dem Thema der
Altersversorgung und Altersentschädigung der Abgeordneten beschäftigen. Es wird in der Öffentlichkeit als zutiefst ungerecht empfunden, dass wir im Gegensatz zu
anderen in sehr kurzer Zeit sehr hohe Rentenbezüge erwerben können. Das ist im Kern der kritische Punkt,
über den wir jetzt leider in der kurzen Zeit von einer Woche nicht diskutieren können. Das ist ein Problem.
({3})
Ich glaube, es ist wichtig, dass wir die ganzen Fragen
von Nebeneinkünften und Transparenz auch in diesem
Kontext mit diskutieren. Von daher hätten wir uns für
diese Reform mehr Zeit nehmen sollen. Was zum Beispiel die kurzfristig anberaumte Anhörung angeht, kann
es unser Experte aus der Kommission, der jahrelang daran mitgewirkt hat, nicht innerhalb einer Woche einrichten, zu dieser Anhörung zu kommen. Das ist ein Problem.
Ich halte also fest: grundsätzliche Orientierung an R 6
ja, aber keine so schnelle Anpassung von 10 Prozent in
einem halben Jahr. Vor allen Dingen ist aber die Altersversorgung grundsätzlich neu zu regeln, damit sie gerechter wird.
({4})
Max Straubinger ist der nächste Redner für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Wir diskutieren die beiden von den Fraktionen CDU/
CSU und SPD eingebrachten Gesetzentwürfe zum einen
zur Bezahlung der Abgeordneten und zum anderen zur
Erweiterung des Straftatbestandes der Abgeordnetenbestechung. Ich glaube, dass es sehr gute Vorschläge sind,
die es wert sind, dass in aller Sachlichkeit darüber diskutiert wird.
Deshalb, Frau Kollegin Sitte, sollte man keine falschen Zusammenhänge herstellen - ich werde später
noch darauf eingehen -, wie Sie es in der Diskussion gemacht haben. Denn es geht letztendlich darum, die
Rechtsstellung des Abgeordneten zu sichern - das haben
Sie bejaht - und natürlich auch die die Unabhängigkeit
wahrende Abgeordnetenentschädigung nicht infrage zu
stellen. Die Kollegin Haßelmann findet die Vorschläge
auch in der Höhe gerechtfertigt, und ich habe den Eindruck, dass auch Sie sie in der Höhe gerechtfertigt finden. Somit haben wir eigentlich eine große Gemeinsamkeit, die wir dann aber auch nach außen vertreten sollten.
({0})
Von daher geht es darum, diese Unabhängigkeit und
die besondere Stellung des Abgeordneten nach außen zu
vertreten, aber auch zu sichern. Das wollen wir mit den
beiden Gesetzentwürfen, die wir aufgrund der Ergebnisse der Kommission, die in der letzten Legislaturperiode eingesetzt worden ist, seit 2011 getagt hat und
2013 ihre Ergebnisse vorgelegt hat, eingebracht haben.
Wir orientieren uns sehr eng an diesen Vorschlägen. Man
könnte sicherlich über viele Bereiche noch diskutieren.
Aber, Frau Kollegin Haßelmann, wenn Sie schon feststellen, dass die Orientierung an R 6 bzw. das Äquivalent der Bezahlung eines Landrats oder Bürgermeisters
einer mittleren Stadt für die Entschädigung eines Abgeordneten gerechtfertigt ist, dann muss man das auch umsetzen, statt zu sagen, der in dem Gesetzentwurf für die
Anpassung angestrebte Zeitraum sei zu kurz. Wenn man
davon überzeugt ist, dass etwas richtig ist, dann gilt es,
dies auch umzusetzen, verehrte Kolleginnen und Kollegen.
({1})
Wenn wir uns jetzt über die Angemessenheit der Abgeordnetenentschädigung einig sind, dann geht es um
die weitere Frage der Angemessenheit einer Altersentschädigung. Ich glaube, dass wir trotz der unterschiedlichen Auffassung in der Kommission einen guten Weg
gefunden haben, darzustellen, dass die Abgeordnetentätigkeit nicht alleine damit endet, dass man eine, zwei
oder drei Legislaturperioden in diesem Hohen Haus Verantwortung getragen hat, sondern dass daraus auch eine
Altersentschädigung abzuleiten ist, die dem damaligen
Stand als Abgeordneter gerecht wird.
In diesem Sinne bin ich überzeugt davon, dass das
System, das wir derzeit haben und das sich vielleicht mit
dem der Beamten vergleichen lässt - auch wenn wir
keine Beamten sind -, richtigerweise anzuwenden ist.
Das System der gesetzlichen Rentenversicherung, in das
ein Arbeitnehmer einzahlt, kann deshalb nicht für uns
herangezogen werden.
Unter diesen Gesichtspunkten ist eine Regelung zu
finden, die berücksichtigt, dass wir Abgeordnete nicht
früher abschlagsfrei in Rente gehen können als diejenigen, die Mitglied der gesetzlichen Rentenversicherung
sind - Frau Kollegin Lambrecht hat das ausdrücklich
dargelegt -, und die gleichzeitig einen Bezug zur verantwortungsvollen Tätigkeit des Abgeordneten herstellt.
Das bedeutet, dass eine gewisse Höhe der Abgeordnetenentschädigung letztendlich die Grundlage für eine
entsprechende Altersentschädigung bildet. Das könnte
man in der gesetzlichen Rentenversicherung nicht erreichen, Herr Kollege Strengmann-Kuhn. Wenn wir Ihrem
Vorschlag folgen wollten, müssten wir zusätzliche private Vorsorge gewährleisten und die Abgeordneten entsprechend in die Lage versetzen. Aufgrund der Höhe der
Diäten sind wir als Abgeordnete aber steuerlich stärker
belastet als der Durchschnitt der Bevölkerung; auch das
gehört zur Wahrheit. Darüber hinaus müssen entsprechende Krankenversicherungsbeiträge abgeführt werden; das wird in der Regel vergessen.
Vor diesem Hintergrund bin ich der Meinung, dass die
Altersentschädigung im nun vorliegenden Abgeordnetengesetz angemessen zu berücksichtigen ist. Ich bitte,
dies nochmals zu bedenken und aufzunehmen.
Werte Frau Kollegin Sitte, das Abgeordnetengesetz
hat nicht zu berücksichtigen, ob einzelne Abgeordnete
Kapitaleinkünfte haben.
({2})
Es geht einzig und allein darum, ob ein Abgeordneter
unabhängig tätig sein kann. Es gibt sparsame Abgeordnete, die später möglicherweise Kapitaleinkünfte haben.
Es mag auch Abgeordnete geben, die vielleicht nicht
ganz so sparsam sind und deshalb nicht über Kapitaleinkünfte verfügen. Somit geht der Vergleich, den Sie gezogen haben, meines Erachtens fehl.
({3})
Festgestellt wurde auch, dass die Kostenpauschale in
der jetzigen Form richtig ist. Sie dient dazu, Einheitlichkeit herzustellen und die Abgeordneten im Hinblick auf
ihre Arbeit und Aufwendungen zu unterstützen. Das alles ist mittlerweile gerichtlich überprüft. Ich glaube, darüber brauchen wir uns nicht mehr zu streiten.
Ich bin sehr dankbar, dass die Kommission ein weiteres Thema aufgegriffen hat, nämlich den Fall, in dem ein
Abgeordneter bereits im Rentenalter ist und aufgrund
früherer beruflicher Tätigkeit Beiträge in die gesetzliche
Rentenversicherung eingezahlt hat. Wir alle sind uns in
diesem Haus einig, dass Anwartschaften in der gesetzlichen Rentenversicherung Eigentumscharakter haben und
Eigentumsschutz genießen. Deshalb sage ich ganz offen
- das haben mehrere Kolleginnen und Kollegen in der
vergangenen Legislaturperiode nicht verstanden -: Wenn
Sie im Rentenalter und zugleich aktiver Abgeordneter
sind, wurden Ihnen bislang 80 Prozent Ihrer Rentenanwartschaften zumindest während der Dauer der Abgeordnetentätigkeit gestrichen. Die Kommission hat das
aufgegriffen und schlägt vor, nur noch um 50 Prozent zu
kürzen. Ich bin aufgrund meines Rechtsverständnisses
der Meinung, dass überhaupt keine Kürzung erfolgen
sollte. Wenn Renten Eigentumscharakter haben, dürfte
eigentlich gar nicht gekürzt werden.
({4})
Aber der Vorschlag der Kommission stellt nun einmal einen Kompromiss dar. Diesen wollen wir umsetzen.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, ich glaube, dass
der Gesetzentwurf zur Änderung des Abgeordnetengesetzes sehr ausgewogen ist. Ich bitte die Oppositionsfraktionen von Linken und Grünen, sich durchzuringen,
die positiven Aspekte zu sehen, damit wir gemeinsam
der Verunglimpfung entgegenwirken können - dieser
Eindruck wird besonders dann erweckt, wenn über eine
Erhöhung der Diäten gesprochen wird -, Abgeordnete
seien Selbstbediener. Es geht darum, dass wir einen guten Anpassungsmechanismus für die Diäten finden. Der
soll darin bestehen, dass der Durchschnitt der Lohnsteigerung aller Lohnempfänger in diesem Lande zugrunde
gelegt wird. Ich glaube, das ist gerechtfertigt. Damit
werden künftige Diskussionen über die Steigerung der
Diäten, die dem Ansehen der Abgeordneten abträglich
sind, vermieden.
Frau Kollegin Sitte, ich habe gelesen, Sie würden die
Steigerungsraten der Diäten am liebsten an die Steigerungsraten des kommenden Mindestlohns koppeln. Lassen Sie uns doch einmal die Gewerkschaftsforderungen
bei Lohnverhandlungen betrachten. Dort wird darauf geachtet, dass die niedrigeren Einkommen etwas stärker
als die höheren angehoben werden. Wir würden, wenn
wir Ihrem Vorschlag folgen würden, eine höhere Diätenanpassung erzielen. Das würde jedoch nicht in Ihrem
Sinne sein, nehme ich an.
({5})
Unter diesem Gesichtspunkt ist der Anpassungsmechanismus, den wir gewählt haben und der sich auf den
Durchschnitt aller Lohnempfänger in Deutschland bezieht, sicherlich das bessere System.
({6})
In diesem Sinne bedanke ich mich sehr herzlich für
die Aufmerksamkeit und wünsche uns gute Beratungen.
({7})
Ich erteile das Wort nun der Kollegin Halina
Wawzyniak für die Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Mit dem vorliegenden Entwurf eines Gesetzes zur
Erweiterung des Straftatbestandes der Abgeordnetenbestechung scheint es so, als würde eine Never-ending
Story tatsächlich noch ein Ende finden.
({0})
In der letzten Legislaturperiode hatten die drei Oppositionsfraktionen jeweils einen Gesetzentwurf vorgelegt.
Mit dem damaligen Vorsitzenden des Rechtsausschusses, Siegfried Kauder, wurde sogar ein gemeinsamer
Kompromissentwurf erarbeitet, der hier aber leider nicht
durchsetzungsfähig war. Insofern finde ich es schon et1116
was schade, dass bei dem vorliegenden Gesetzentwurf
nicht versucht worden ist, alle Fraktionen mit ins Boot
zu nehmen. Das wäre wahrscheinlich an dem Verdikt
von Herrn Kauder gescheitert.
Diskussionswürdig ist Ihr Gesetzentwurf allemal;
denn er sieht die Bestrafung von Abgeordneten vor, die
einen rechtswidrigen Vorteil für sich selbst oder Dritte
als Gegenleistung fordern, sich versprechen lassen oder
annehmen. Das Wort „Gegenleistung“ macht schon
deutlich: Es muss eine Handlung oder eine Unterlassung
im Parlament im Zusammenhang mit dem Mandat erfolgen, um diesen Tatbestand zu erfüllen.
Nun schreiben Sie im Gesetzentwurf, dass die Gegenleistung für den Vorteil eine Handlung oder Unterlassung „im Auftrag oder auf Weisung“ sein muss. Ich
persönlich würde es besser finden, wenn wir die Formulierung „Handlung oder Unterlassung im Zusammenhang mit dem Mandat“ statt dieser Formulierung wählen
würden. Ich will aber auch deutlich darauf hinweisen,
weil ich die Kritik an dem Ausdruck „im Auftrag oder
auf Weisung“ kenne, dass eine Gegenleistung, die ja Bestandteil dieser Regelung ist, irgendwie vereinbart sein
muss. Wenn man jetzt Auftrag und Weisung nicht klassisch im rechtstechnischen Sinne versteht, ist es tatsächlich so, dass das irgendwie verabredet sein muss.
Der Vorteil dieses Gesetzentwurfs ist, dass er den Gesetzentwurf der SPD aus der letzten Legislaturperiode
um den zentralen Kritikpunkt bereinigt. Es ist nämlich
nicht mehr davon die Rede, dass ein ungerechtfertigter
Vorteil dann vorliegt, wenn er den parlamentarischen
Gepflogenheiten nicht entspricht, sondern es ist jetzt geregelt, dass kein ungerechtfertigter Vorteil vorliegt,
wenn die Annahme eines Vorteils im Einklang mit den
für die Rechtsstellung des Mitgliedes maßgeblichen Vorschriften steht. Das haben wir Linke immer gefordert.
Sie haben von uns gelernt. Weiter so!
({1})
Der Vorschlag entspricht dem Prinzip der Normenklarheit und verhindert Richterrecht. Dass wir als Linke
durchaus Probleme mit der einen oder anderen Verhaltensmaßregel haben, zum Beispiel, dass wir es nicht gut
finden, dass Abgeordnete Spenden entgegennehmen
können, steht auf einem anderen Blatt. Das können wir
mit diesem Gesetz nicht regeln; das will ich sehr deutlich
sagen.
({2})
Das müssen wir an anderer Stelle regeln. Aber noch einmal ein großes Lob an Sie von der SPD, dass Sie uns an
dieser Stelle gefolgt sind und eine Klarstellung vorgenommen haben.
({3})
Ich hoffe, wir können eine ernsthafte Debatte führen.
Lassen Sie mich an dieser Stelle anmerken: Der Seriosität des gesamten Vorhabens hilft es nicht, innerhalb
einer Woche eine Anhörung zu einem Gesetzentwurf sowie dessen zweite und dritte Lesung durchzuführen. Wir
haben nicht einmal die Chance, diese Anhörung vernünftig auszuwerten. Das geplante Vorgehen ist auch
nicht ganz sauber - um es einmal vorsichtig zu formulieren -; denn im Gesetzentwurf steht „Erweiterung des
Straftatbestandes der Abgeordnetenbestechung“. Bisher
gibt es den Straftatbestand der Abgeordnetenbestechung
nicht.
Ich hoffe, wir finden genügend Zeit, das vernünftig
miteinander zu diskutieren,
({4})
sodass Sie weitere Änderungsvorschläge aufnehmen, damit die Never-ending Story nicht irgendein Ende findet,
sondern tatsächlich ein gutes.
({5})
Eva Högl ist die nächste Rednerin für die SPD-Fraktion.
({0})
Guten Morgen, sehr geehrter Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren!
Liebe Frau Wawzyniak, ich nehme Ihr Lob sehr gerne
an. Das gilt natürlich auch für die gesamte SPD-Fraktion
und für alle Kolleginnen und Kollegen, die sich dafür
einsetzen, dass wir endlich einen Straftatbestand Abgeordnetenbestechung bekommen. Ich habe Ihre Rede so
verstanden, dass Sie sich mit uns freuen, dass wir kurz
davor sind, endlich einen Straftatbestand Abgeordnetenbestechung einzuführen. Herzlichen Dank für diese
Übereinstimmung!
({0})
Wir haben jetzt mehr als zehn Jahre lang diskutiert.
Am 9. Dezember 2003 hat Deutschland die UN-Konvention gegen Korruption unterzeichnet.
({1})
Natürlich sind die rechtlichen Detailfragen kompliziert.
Aber wir haben jetzt zehn Jahre lang intensiv diskutiert.
Wir hatten Anhörungen. Wir haben verschiedene Gesetzentwürfe diskutiert. Wir haben alles ausführlich miteinander besprochen. Deswegen ist es sehr richtig, dass
wir am Anfang dieser Legislaturperiode endlich diesen
Straftatbestand einführen. Die SPD-Fraktion hat sich
lange dafür eingesetzt. Ich bin sehr froh, dass die Große
Koalition das im Koalitionsvertrag vereinbart hat.
({2})
Ganz am Anfang dieser Legislaturperiode ist diese Vereinbarung ein Bestandteil dieses Gesamtpaketes. Sie gehört nämlich in dieses Paket, weil sie unsere Rechtsstellung als Abgeordnete betrifft. Dies ist ein guter Tag, und
es ist eine gute Nachricht, dass wir als Große Koalition
jetzt endlich handeln.
({3})
Worum geht es? Korruption ist ein ernstes Problem.
Sie führt zu wirtschaftlichem, politischem und gesellschaftlichem Schaden, und sie führt - das betrifft uns
alle hier im Deutschen Bundestag - zu einem Verlust des
Vertrauens in staatliche Organe und zu einem Verlust des
Vertrauens in das gesamte politische System. Es muss
uns Abgeordnete alle miteinander sehr besorgen, wenn
die Bürgerinnen und Bürger uns nicht mehr vertrauen
und unseren demokratischen Institutionen mit diesem
Misstrauen begegnen und damit letztlich unserer Demokratie schaden.
Insofern ist es so wichtig, die Bestechung von Abgeordneten endlich unter Strafe zu stellen; wir haben uns
lange dafür eingesetzt. Als SPD-Fraktion haben wir auch
weiter gehende Vorschläge gemacht, von denen ich
hoffe, dass sie hier irgendwann weiterverfolgt werden.
Ich denke zum Beispiel an die Einführung eines Lobbyregisters und die sogenannte legislative Fußspur.
({4})
Wir haben heute Morgen hier darüber diskutiert, dass
wir finanziell unabhängige Abgeordnete benötigen.
Dazu ist einiges gesagt worden. Wir haben auch darüber
gesprochen - das ist wichtig in diesem Zusammenhang -,
dass wir mit den Bürgerinnen und Bürgern, mit Lobbyistinnen und Lobbyisten selbstverständlich im Austausch
sind, dass wir auf Informationen und diesen Meinungsaustausch angewiesen sind. Aber wir dürfen uns niemals
von einzelnen Positionen abhängig machen, und wir dürfen uns niemals - deswegen haben wir das aufgegriffen,
Frau Wawzyniak - an Aufträge und Weisungen gebunden fühlen. Das besagt Art. 38 unseres Grundgesetzes.
Genau so haben wir es in unseren Gesetzentwurf geschrieben: dass wir uns an Aufträge und Weisungen
nicht gebunden fühlen und dass wir daran nicht gebunden sein dürfen.
({5})
Unser Gesetzentwurf setzt eine ganz konkrete Unrechtsvereinbarung voraus: Der Vorteil muss für eine
Gegenleistung gewährt werden. - Bestraft wird nur,
wenn es eine konkrete Gegenleistung gibt und wenn sich
daraus ein ungerechtfertigter Vorteil ableitet. Wir definieren diesen ungerechtfertigten Vorteil; ich habe das
diesbezügliche Lob selbstverständlich schon entgegengenommen. Wir schaffen mit diesem Gesetzentwurf eine
klare Regelung, nämlich dass der Vorteil dann nicht ungerechtfertigt ist, wenn er im Einklang mit den Regelungen steht, die für Abgeordnete gelten. Für uns sind das
selbstverständlich die Verhaltensregeln hier im Deutschen Bundestag. Das gilt aber in gleicher Weise auch
für die Kolleginnen und Kollegen in den Landtagen und
in den kommunalen Gebietskörperschaften.
Deswegen darf ich hier alle dazu auffordern: Lassen
Sie uns gemeinsam - gemeinsam! - diesen Gesetzentwurf auf den Weg bringen! Ich darf das so sagen: Wir
haben als Große Koalition jetzt einen exzellenten Gesetzentwurf vorgelegt. Wir haben alle rechtlichen Unklarheiten, so denke ich jedenfalls, beseitigt. Wir haben
einen praktikablen Gesetzentwurf vorgelegt. Wir können
das Unbehagen natürlich nicht gänzlich ausräumen, aber
es gibt selbstverständlich auch engagierte Staatsanwältinnen und Staatsanwälte, die ganz genau hinschauen
werden.
Die Regelungen, die wir jetzt schaffen werden - ich
hoffe, dass sie so in Kraft treten -, sind auf jeden Fall
klar. Es sind klare Handlungsanweisungen. Wir haben
einen praktikablen Gesetzentwurf vorgelegt; daran müssen wir als Abgeordnete ein Interesse haben. Deswegen
spreche ich ganz gezielt noch einmal die Kolleginnen
und Kollegen von der Opposition an: Lassen Sie es uns
doch schaffen, dass wir gemeinsam als Deutscher Bundestag ein Signal senden, die Bestechlichkeit und die
Bestechung von Abgeordneten unter Strafe stellen und
der Korruption damit eine deutliche Absage erteilen! Es
wäre ein wirklich gutes Signal zu Beginn dieser Legislaturperiode, wenn uns das gelänge. Wir haben mit dem
Gesetzentwurf einen guten Vorschlag gemacht.
Herzlichen Dank.
({6})
Nun erhält Katja Keul das Wort für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Die Geschichte der Abgeordnetenbestechung
geht ganz langsam los und beschleunigt dann derart,
dass man regelrecht Angst vor einem Crash haben muss.
Unter Rot-Grün wurde 2003 die Konvention der Vereinten Nationen gegen Korruption unterzeichnet. Seitdem werden wir jährlich gerügt, weil wir es anscheinend
nicht schaffen, die Abgeordnetenbestechung unter Strafe
zu stellen. Von allen Unterzeichnerstaaten haben allein
Saudi-Arabien, Sudan, Syrien, Myanmar und Deutschland die Konvention bis heute nicht ratifiziert - wirklich
nette Gesellschaft, in der wir uns da befinden!
({0})
2011 lagen sowohl Entwürfe von uns Grünen als auch
von der Linken vor. 2012 gab es dann auch einen Entwurf von der SPD, von dem wir Teile heute wiederfinden - aber leider genau die Formulierungen, die von den
Experten bei der Anhörung als begrenzt tauglich qualifiziert worden sind.
Bei allen Entwürfen hat die Union stets behauptet, sie
seien zu ungenau, zu unpräzise, zu schwammig. Unse1118
rem grünen Entwurf wurde vorgehalten, er enthalte unbestimmte Rechtsbegriffe, kurzum: die Materie sei bekanntermaßen so komplex und schwierig, dass man sie
leider, leider mal wieder nicht lösen könne.
Und jetzt? Es liegt was vor, ja. - Da hat sich sogar die
Union endlich bewegt, und das ist positiv.
({1})
Ansonsten sehe ich jede Menge unbestimmte Rechtsbegriffe: Wann ist zum Beispiel ein Vorteil ungerechtfertigt? Oder: Wann handelt ein Abgeordneter denn im
Auftrag oder auf Weisung? Genau genommen - das
kann ich Ihnen sagen - nie; das sagt ja schon Art. 38
Grundgesetz. Ein Abgeordneter ist an Aufträge und Weisungen nicht gebunden. Dann ist ja gut: Er kann den
Straftatbestand damit gar nicht erfüllen. Gute Idee!
Und weil das alles noch nicht sicher genug ist, stellen
Sie noch einmal klar, dass alles das nicht strafbar ist, was
den Verhaltensregeln entspricht. Ich zitiere Ihre Gesetzesbegründung:
Mit dem Verweis … wird dem Umstand Rechnung
getragen, dass für die von dem Tatbestand erfassten
Mandatsträger keine einheitlichen Regelungen gelten und entsprechende Vorschriften von der jeweiligen Vertretungskörperschaft innerhalb ihrer Autonomie und entsprechend den Gegebenheiten vor
Ort festgelegt werden sollten.
Toll, wie es Ihnen gelungen ist, dem Bestimmtheitsgebot
hier zu entsprechen!
Und weil das jetzt angeblich alles so einfach ist,
braucht man natürlich auch kein geordnetes Verfahren
mehr - geschweige denn eine vorbereitete Anhörung
von Experten mit anschließender gründlicher Beratung.
({2})
Wie man das macht? Ganz einfach: Sie informieren am
Montagabend die Fraktionsspitzen der Opposition, dass
Sie einen Gesetzentwurf haben, den Sie auch gleich auf
die Tagesordnung für Freitag setzen. Um eine Ausschussanhörung für den nächsten Montag zu beschließen,
({3})
ist es dann leider zu spät. Das muss also am Mittwoch im
Rechtsausschuss vorsorglich beschlossen werden, bevor
der Gesetzentwurf überhaupt überwiesen ist. Da es aber
leider auch schon zu spät ist, die reguläre Tagesordnung
für den Rechtsausschuss zu ergänzen, wird mal eben
eine Sondersitzung einberufen: eine halbe Stunde vor
der regulären Sitzung und mit dem einzigen Punkt: Vorsorgliche Vereinbarung einer Anhörung. Tolles Verfahren! Das Praktische an der Sache: Die Opposition konnte
ihre eigenen Anträge gar nicht mehr einreichen, und etliche Experten sind bis Montag auch gar nicht verfügbar.
Es wird auch nicht besser, wenn man zeitgleich mit
der Strafbarkeit der Bestechung auch noch schnell die
Diätenerhöhung vorbeiziehen lassen will. Oder ist es gar
umgekehrt? Soll die Strafbarkeit der Abgeordnetenbestechung die Diätenerhöhung besser aussehen lassen?
({4})
In der Eile ist Ihnen dann leider noch ein kleiner Fehler unterlaufen. Ging es nicht eigentlich darum, die UNKonvention von 2004 zu ratifizieren? Ach ja, da war etwas. Gut, wenn man eine Opposition hat, die an alles
denkt, auch wenn sie noch so klein ist.
({5})
Wir haben Ihnen dankenswerterweise noch schnell
den Gesetzentwurf zur Ratifizierung der Konvention
vorgelegt, damit Sie sich bei der nächsten Auslandsreise
nicht immer noch von Assad, Baschir und den anderen
netten Herren vorwerfen lassen müssen, wir seien in Sachen Korruption doch alle nicht besser als sie selbst. Sie
sehen also, wie sinnvoll es sein kann, auf die Opposition
zu hören, statt Gesetzgebung im Blindflug zu betreiben.
In diesem Sinne vielen Dank.
({6})
Letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt ist
die Kollegin Elisabeth Winkelmeier-Becker für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Wir diskutieren heute zwei Komplexe,
die mehr gemeinsam haben als den Wortbestandteil „Abgeordneten“. Beide betreffen den Kern des freien Mandats: in seiner Ausgestaltung und seinem Schutz. Bei
den Diäten geht es um die materielle Absicherung, bei
der Frage der Bestechung um den inhaltlichen Schutz
vor unzulässiger Beeinflussung.
Insofern, denke ich, müssen wir die Frage an den Anfang stellen: Was macht das freie Mandat aus? Was
kennzeichnet es im Idealfall? Dabei sehe ich einen Abgeordneten vor mir, der sich wirklich kümmert, der ansprechbar ist, der bei seinen Wählern ist, der Interessen
aufnimmt, sich diese anhört, sich dann in Bewegung
setzt und sich zur Wahrung dieser Interessen einbringt,
der sich die notwendigen Informationen beschafft, der
seine Prioritäten so setzt, wie er es möchte, der durchaus
auch politisch-taktisch denkt, weil er weiß, dass er die
Dinge nicht allein bewegen kann, sondern Kompromisse
machen muss und der bei alldem seinem eigenen Gewissen folgt, nicht an Aufträge und Weisungen gebunden
ist.
Daraus folgt zweierlei: Es ist erstens richtig, unter
Strafe zu stellen, wenn dieses freie Mandat käuflich gemacht wird. Das darf nicht sein. Das ist auch nicht vom
Grundgesetz geschützt. Zweitens darf die Regelung, die
wir treffen, das freie Mandat nicht einschränken. Sie darf
nicht dazu führen, dass gewünschtes, legitimes, erwartetes Verhalten sich verändert, dass Abgeordnete sich zurückziehen, weniger ansprechbar sind, sich weniger für
die Interessen einsetzen, weil sie zu Recht oder zu Unrecht fürchten, Gegenstand strafrechtlicher Ermittlungen
zu werden.
({0})
Deshalb muss klar sein: Wer erkennbar nur eigener
Überzeugung folgt, darf nicht dem Risiko strafrechtlicher Ermittlungen unterliegen, sondern muss auf der sicheren Seite sein, damit er auch weiter motiviert ist,
diese Überzeugung einzubringen.
Nun haben wir einen Gesetzentwurf vorgelegt, der die
bestehende Regelung zur Strafbarkeit von Abgeordnetenbestechung in § 108 e StGB erweitert. Wir haben dies
nicht deshalb getan, weil wir ein besonderes Korruptionsproblem in Deutschland hätten. Gerade in der letzten Woche hat die EU-Kommission Deutschland in ihrem Korruptionsbericht ein sehr gutes Testat ausgestellt.
Wir sind über Jahre hinweg beständig in der obersten
Gruppe der europäischen Staaten gewesen und haben
kein gravierendes Korruptionsproblem.
({1})
Trotzdem nehmen wir wahr, dass auch unser BGH Strafbarkeitslücken moniert, wo strafwürdiges Verhalten
nicht angemessen sanktioniert ist. Natürlich gefällt auch
uns nicht der Vergleich mit anderen Staaten, die die Konvention gezeichnet, aber nicht ratifiziert haben. Nordkorea hat es, glaube ich, jetzt sogar noch geschafft und
ist nicht mehr unter den Ländern, bei denen eine Ratifizierung noch aussteht. Das ist ein Vergleich, den wir uns
selber eigentlich nicht antun sollten.
({2})
Jetzt stehen wir also vor der nicht leichten Aufgabe,
einerseits strafwürdiges Verhalten zu sanktionieren, andererseits aber eben das freie Mandat nicht einzuschränken und darüber hinaus auch noch dem Bestimmtheitsgebot des Grundgesetzes gerade bei Strafnormen zu
genügen.
Zentral ist die Frage der Unrechtsvereinbarung, das
synallagmatische Verhältnis zwischen dem versprochenen Vorteil und der dafür geforderten Handlung. Wir
werden - das ist in der Praxis die Schwierigkeit - selten
eine Vereinbarung finden, über der „Unrechtsvereinbarung“ steht nach dem Motto: Du machst das, und dafür
kriegst du das. - Vielmehr wird immer an Indizien angeknüpft werden. Da ist es sehr schwierig, objektive
äußere Merkmale zu finden, die eine klare Beurteilung
ermöglichen. Denn das freie Mandat umfasst alle Handlungsoptionen: Ob man eine Rede hält oder nicht, ob
man dafür oder dagegen spricht, ob man seine Meinung
ändert oder nicht, all das ist vom freien Mandat umfasst,
kann aber im Einzelfall auch auf einer Unrechtsvereinbarung beruhen.
Interessenvertretung ist unser Kerngeschäft, für uns
also etwas ganz Normales. Es gehört zu dem, was die
Bürger von uns erwarten und was jeder gute Abgeordnete, der seinen Beruf ernst nimmt, tut. Im Einzelfall
kann sein Handeln trotzdem auf einer Unrechtsvereinbarung beruhen.
Ein Merkmal ist der Vorteil. Unter Vorteil versteht jeder etwas anderes. Wenn Sie mich zum Beispiel zum
Fußballländerspiel in die VIP-Lounge von Bayern München einladen würden, würde ich sagen, ich sitze lieber
zu Hause auf der Couch und habe meine Ruhe.
({3})
Aber viele andere würden das vielleicht als Vorteil bezeichnen.
Frau Kollegin, Sie sollten noch einmal überlegen, ob
Sie das wirklich im Protokoll für jeden nachlesbar haben
wollen.
({0})
Ich stehe zu meinem Wort. - Es gibt viele Beispiele:
Darf ich jetzt nicht mehr zu einem parlamentarischen
Abend gehen? Muss ich dann schon irgendetwas befürchten? Klar ist: Das sind Dinge, die den Rahmen bilden für das, was von uns erwartet wird. Da finden die
Begegnung, die Kontaktaufnahme, die Information statt.
Deshalb können Dinge wie Geschäftsessen, parlamentarische Abende, auch Reisen mit einem entsprechenden
informativen und dienstlich relevanten Programm von
vornherein nicht zu den ungerechtfertigten Vorteilen gehören.
({0})
Jeder von uns braucht mindestens alle vier Jahre für
den Wahlkampf Spenden. Das sind handfeste finanzielle
Vorteile, ohne die das Ganze nicht zu bewältigen ist. All
das macht die Abgrenzung so schwierig.
Deshalb müssen wir die Sorge der Kollegen in diesem
Hause, aber auch die Sorge der Tausenden von Kollegen
in den Landesparlamenten, den kommunalen Parlamenten, der ehrenamtlich Tätigen ernst nehmen, dass auch
ein Verhalten, das im besten Einklang mit dem Mandat
steht, missverstanden werden und zu Ermittlungen führen kann. Ein Ermittlungsverfahren ist für jeden unangenehm, eine echte Belastung. Aber für Politiker ist es häufig der politische Tod. Da reicht es, dass die Immunität
aufgehoben wird, dass ermittelt wird. Welches Urteil am
Ende im Einzelnen gefällt wird, interessiert dann keinen
mehr.
Deshalb müssen wir mit zwei Ansätzen in die Diskussion gehen.
Frau Winkelmeier-Becker, darf der Kollege Ströbele
Ihnen noch kurz vor Schluss eine Zwischenfrage stellen?
Aber gerne.
Frau Kollegin, danke, dass Sie die Frage zulassen. Wir haben - darauf ist hingewiesen worden - leider sehr
wenig Zeit, das Thema zu beraten. Auch im Rechtsausschuss haben wir es nur anberaten können. Deshalb
stelle ich Ihnen hier noch einmal die Frage, die ich schon
im Ausschuss gestellt habe. „Aufträge und Weisungen“,
wie es im Grundgesetz heißt, haben ja zunächst nichts
mit Strafbarkeit zu tun. Sie haben dieses Merkmal jetzt
wieder in den Gesetzentwurf aufgenommen. Es stand
auch schon in früheren Gesetzentwürfen, sogar einmal in
einem von uns; aber wir haben das nachher nicht mehr
hineingenommen. Denn es gibt Fälle, bei denen es sich
ganz offensichtlich um Bestechung handelt, denen keine
Aufträge oder Weisungen vorausgehen, zum Beispiel
wenn der Abgeordnete oder die Abgeordnete selber zu
irgendeinem Unternehmer geht und sagt: Möchtest du
nicht für mich diese oder jene Leistung erbringen, wenn
ich mich so und so verhalte? - Da gibt es keinen Auftrag
und keine Weisung, sondern lediglich den Wunsch des
Abgeordneten selber. Sie wissen, dass das ein großes unbestimmtes Feld ist, das sehr schwer zu regeln ist. Wie,
meinen Sie, können Sie dieses Problem lösen, wenn es
bei Ihrer Formulierung bleibt? Wir haben ja eine andere
Formulierung vorgeschlagen, die unserer Ansicht nach
besser ist. Darüber werden wir uns im Rechtsausschuss
unterhalten. Aber das ist doch ein ganz offensichtliches
Problem.
Vielen Dank für die Frage. Die Formulierung „Aufträge und Weisungen“ ist ja Art. 38 Grundgesetz entnommen. Ich gehe nicht davon aus, dass Sie ein Problem
mit der Formulierung des Grundgesetzes haben. Wir
müssen uns Gedanken darüber machen, welche Tatbestände bzw. welche Sachverhalte darunterfallen sollen.
Sie nennen ein Beispiel, das nach meiner Bewertung
ganz klar unter „Aufträge und Weisungen“ fällt.
({0})
Denn man kann Aufträge und Weisungen auch einwerben. Wer hingeht und sagt: „Ich würde für einen gewissen Vorteil dieses und jenes machen; wäre das nicht in
deinem Interesse?“, der lässt sich einen Auftrag bzw.
eine Weisung geben, die an einen Vorteil geknüpft ist.
Das ist ein ganz klassischer Anwendungsfall der Vorschrift, die wir Ihnen zur Abstimmung vorlegen.
({1})
Im Gegensatz dazu ist das, was Gegenstand des Entwurfs der Grünen war, uferlos und wabernd und geht
wirklich auf krasse Weise am Bestimmtheitsgebot vorbei. Das haben wir auch der Anhörung im Rechtsausschuss, die im Herbst 2012 stattgefunden hat, entnommen. Der von uns heute vorgelegte Gesetzentwurf ist
dahin gehend eine deutliche Verbesserung.
({2})
Ich komme zurück zu den zwei Ansätzen, mit denen
wir Verbesserungen des Gesetzentwurfes erreichen wollen. Zentral für eine richtige Bewertung von strafwürdigem Verhalten einerseits und legitimer Ausübung des
freien Mandates andererseits ist die Kenntnis der parlamentarischen Zusammenhänge und Abläufe. Die Frage
ist, ob das bei der Staatsanwaltschaft und bei den Gerichten bereits in dem Maße verankert ist, wie es nötig
wäre. Deshalb plädiere ich dafür, sich einmal anzuschauen, wie wir die Kenntnis, die im Parlament selbst
vorhanden ist - beim Bundestagspräsidenten, den Gremien, der Rechtsstellungskommission, dem 1. Ausschuss
und dergleichen -, noch verbindlich in das Verfahren
einbinden können, sowohl was einen Verfahrensschritt
als auch die materielle Beurteilung angeht. Ich denke,
das könnte eine echte Qualitätsverbesserung bringen, die
auch die Schwierigkeiten in Hinblick auf das Bestimmtheitsgebot ein Stück weit ausgleichen könnte.
Der andere Punkt ist, dass wir uns wirklich Gedanken
darüber machen sollten, ob wir die Zuständigkeit bei der
Strafverfolgung konzentrieren, damit mit der Zeit die
entsprechende Expertise entsteht.
({3})
Das hatten die Linken in ihrem Gesetzentwurf netterweise bereits vorgeschlagen. Daran könnte man eventuell anknüpfen. So ist auch im Prozessrecht für andere
Bereiche eine Konzentration bei den OLGs geregelt.
Unsere Aufgabe ist es jetzt, hier eine praktikable und
sachgerechte Regelung zu finden. Es ist dann Aufgabe
der Staatsanwaltschaften und Gerichte, diese Regelung
mit Gespür für die parlamentarischen Besonderheiten
und für das freie Mandat umzusetzen. Diesen Appell
richte ich ganz bewusst auch an die Medien, die manchmal etwas vorschnell dabei sind, wenn irgendwo ermittelt wird. Denn dann und nur dann ist die Regelung ein
Gewinn für die Demokratie und für das freie Mandat.
Herzlichen Dank.
({4})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Gesetzentwürfe auf den Drucksachen 18/477, 18/476 und 18/478
an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Gibt es andere Vorschläge? - Das ist nicht
der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf:
Beratung des Antrags der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Präsident Dr. Norbert Lammert
Die Demokratie verteidigen im digitalen Zeitalter
Drucksache 18/182
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({0})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss für Kultur und Medien
Ausschuss Digitale Agenda
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
diese Aussprache 96 Minuten vorgesehen. - Auch hierzu
höre und sehe ich keinen Widerspruch. Also können wir
so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der
Kollegin Katrin Göring-Eckardt.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
„Lass uns lieber spazieren gehen, das können wir hier
drin nicht besprechen. Wir wissen nicht, ob es eine
Wanze gibt: in der Lampe oder im Telefon.“ - So war es
zu DDR-Zeiten. „Das sage ich Ihnen nicht am Telefon.
Lassen Sie uns mal lieber spazieren gehen“, schieb gestern ein Journalist über ein Telefonat mit einem Mitarbeiter des Bundeskanzleramtes. Nein, natürlich sind
diese beiden Dinge überhaupt nicht miteinander zu vergleichen. Natürlich ist es gut, dass wir nicht in einer Diktatur, sondern in einer Demokratie leben, wo solche
Dinge öffentlich werden und gesagt werden.
Ja, meine Damen und Herren, die digitale Revolution
hat unser Leben, hat unseren Alltag verändert wie vielleicht keine andere Entwicklung. Wir leben, wir kommunizieren, wir streiten online. Wir alle schätzen auf der einen Seite diese Chancen, diese Freiräume, diese
Möglichkeiten, die uns das Netz bietet. Auf der anderen
Seite sind wir seit mindestens einem Dreivierteljahr Zeuginnen und Zeugen des größten Geheimdienstskandals,
den die westlichen Demokratien je erlebt haben.
({0})
Die Ausmaße der Überwachung nehmen Dimensionen
an, die wir bisher nicht für möglich gehalten haben. Hier
wird die Axt direkt an die Wurzel unseres Rechtsstaates
gelegt. Genau das ist die Katastrophe.
({1})
Das kann und darf niemandem gleichgültig sein. Genau deswegen haben 562 Schriftstellerinnen und Schriftsteller weltweit ihre Stimme erhoben und fordern, die
Demokratie im digitalen Zeitalter zu verteidigen. Um
nicht weniger geht es, meine Damen und Herren.
({2})
Wir haben diesen Appell - und das ist er im wahrsten
Sinne des Wortes - zum Gegenstand unseres Antrags für
diese Debatte gemacht. Ich begrüße einige Unterzeichnerinnen und Unterzeichner heute hier im Plenum.
({3})
Die Besorgnis der Bürgerinnen und Bürger ist immens. Es sind nicht nur einige wenige, die sagen: Wir
haben ein Problem. Zugleich ist es so, dass die Bundesregierung, dass die Bundeskanzlerin immer noch nicht
aufgewacht sind und immer noch nichts tun, um die
Grundrechte der Menschen in diesem Land, in dieser
Republik zu schützen und zu sichern. Das ist der Skandal, über den wir in diesem Parlament reden müssen.
({4})
Nein, es geht nicht darum, den Hashtag „#Neuland“
in dieser Debatte fortzuführen, und zwar auch deswegen,
weil es überhaupt nichts mehr mit Ironie zu tun hat und
weil es überhaupt nicht lustig ist. Wir erleben, wie atemberaubend leichtfertig, wie atemberaubend oberflächlich
mit Grundrechten von Individuen, der Bürgerinnen und
Bürger umgegangen wird, aber auch mit den Rechten
der Unternehmen, der Wirtschaft, die sich heute fragen:
Sind eigentlich unsere Daten, ist unsere Unternehmenskommunikation in irgendeiner Weise sicher? Wenn Sie
sich schon nicht für die Individuen interessieren, dann
vielleicht doch für die Unternehmen in diesem Land, die
zutiefst verunsichert sind.
({5})
Was erleben wir? Wir sollen darauf vertrauen, dass
der ehemalige Kanzleramtsminister die Affäre für beendet erklärt hat. Pofalla beendet Dinge, das kennen wir
alle. Wir erleben erfolglose Reisen in die USA und hören, dass Geheimdienstler mit Geheimdienstlern Geheimes besprechen. Wir sind im Gegensatz zu Ihnen nicht
so überrascht, dass das No-Spy-Abkommen nicht zustande kommt. Dennoch war es das Einzige, was Sie als
Antwort vorweisen konnten. Wo sind wir denn, wenn
eine Bundesregierung es nicht für nötig hält, dafür zu
kämpfen, dass die Grundrechte der Bürgerinnen und
Bürger gegenüber ausländischen Geheimdiensten gewahrt werden?
({6})
„Ausspähen von Freunden, das geht gar nicht.“ Deutliche Worte immerhin. Hier ging es um das eigene
Handy. Aber wenn es um die Handys, um die E-MailPostfächer, um die Verbindungsdaten und die digitalen
Privaträume von Bürgerinnen und Bürgern geht, dann ist
Fehlanzeige. Ich finde das ignorant, ich finde das verantwortungslos, und ich finde, das verändert unseren Staat
und unsere Gesellschaft. Wenn eine Bundesregierung
nicht dafür eintritt, dass Bürgerinnen und Bürger Ge1122
heimnisse haben dürfen, dass sie Geheimnisse haben
dürfen sollen, wenn sie nicht dafür eintritt, zwischen
Terrorismusbekämpfung, die natürlich notwendig ist,
und massenhafter Ausspähung zu unterscheiden, dann
verändert das unsere Gesellschaft auf eine Weise, die wir
nicht zulassen wollen; denn hier muss die Demokratie
im Kern verteidigt werden.
({7})
Dann sind wir natürlich ganz schnell bei der europäischen Ebene. Sie hängen sich da nicht rein, Sie vermeiden sogar, das Thema auf EU-Ebene anzusprechen. Mit
der EU-Datenschutzverordnung wäre eine grundlegende
Veränderung auch zügig möglich gewesen. Doch stärkere Reformen und Veränderungen sind eben gerade auf
Treiben Deutschlands, der deutschen Bundesregierung
hin auf Eis gelegt worden - ein weiterer Skandal, ein
weiteres Nicht-hinsehen- und Nicht-handeln-Wollen,
meine Damen und Herren. Ein weiteres Mal sind hier die
Interessen der Bürgerinnen und Bürger nicht geschützt
worden; sie sind zum Freiwild für Überwachung geworden.
({8})
Mängel beim Grundrechtsschutz für 80 Millionen Bürgerinnen und Bürger und für Wirtschaftsunternehmen
können und dürfen nicht ausgesessen werden. Hier muss
man aktiv werden.
Sie halten die anlasslose Massenüberwachung der Bevölkerung weiterhin für ein geeignetes Instrument. Die
Vorratsdatenspeicherung soll in Deutschland kommen.
Ich sage Ihnen ganz klar:
Erstens. Wir werden alles tun, damit es nicht geschieht.
Zweitens sage ich an die Adresse von Herrn Maas:
Ihre Vorgängerin hat diese Sache ausgesessen. Das reicht
jetzt nicht mehr. Jetzt muss man aktiv werden und dafür
sorgen, dass das nicht passiert.
({9})
Wenn sich die Bundesregierung in diesem Skandal
der Wahrung der Grundrechte und der Menschenrechte
der Bürgerinnen und Bürger verpflichtet fühlt, dann gibt
es doch nur eine wirkliche Antwort, und das ist in einem
ersten Schritt die umfassende Aufklärung ohne jedes
Wenn und Aber sowie Schluss mit der Überwachung.
Ich sehe, dass Sie sich immer noch wegducken. Wer
musste denn den Untersuchungsausschuss beantragen?
Das waren die Oppositionsfraktionen in diesem Haus.
Wer musste denn dafür sorgen, dass es einen umfassenden Untersuchungsauftrag gibt? Das waren die Oppositionsfraktionen in diesem Haus. Ja, natürlich, wir wollen
auch wissen, inwiefern die deutschen Dienste an diesem
Überwachungsskandal beteiligt sind.
({10})
Deswegen ist es gut, dass der Untersuchungsausschuss
endlich eingesetzt wird.
Meine Damen und Herren, ich bin froh, dass die Zivilgesellschaft wach ist, dass sie den Schutz der Bürgerinnen und Bürger einfordert. Es liegt eine Klage beim
Generalbundesanwalt gegen die Bundesregierung vor so weit ist es schon gekommen.
Wenn es um den Grundrechtsschutz geht, sollte man
wissen:
Ein Mensch unter Beobachtung ist niemals frei …
So steht es in dem Appell der Schriftstellerinnen und
Schriftsteller. Ich kann nur sagen: Ja, genau so ist es.
Man hat als Mensch das Recht, etwas zu verbergen,
man hat als Mensch das Recht, bestimmte Dinge unverfügbar zu halten. Wir wollen nicht, dass sich unser
Schreiben und unser Reden, am Ende womöglich sogar
unsere Gedanken verändern, weil wir immer damit rechnen müssen, dass wir abgehört oder beobachtet werden.
Das verändert uns als Individuen. Ich sage klar und deutlich: Das können wir nicht zulassen; das wollen wir nicht
zulassen.
({11})
Ja, ich gehe sehr gern spazieren. Aber ich telefoniere
auch unheimlich gern mit meiner Freundin, und dann
tauschen wir Geheimnisse aus. Und darauf, verdammt
noch mal, haben wir ein Recht. Dieses Recht muss garantiert sein, nicht nur für mich, sondern für alle Bürgerinnen und Bürger.
Vielen Dank.
({12})
Thomas Jarzombek erhält nun das Wort für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
finde, das ist ein besonderer Augenblick. Wir haben gestern den neuen Ausschuss Digitale Agenda eingesetzt.
Meine Kollegen von der Arbeitsgruppe Innen, vor allem
Clemens Binninger, haben sich spontan entschieden, als
ersten Redner der Fraktion ein Mitglied unseres neuen
Ausschusses, nämlich mich, zu wählen. Dafür bedanke
ich mich.
({0})
Ich finde, das ist ein tolles Signal. Ich denke, das könnten die anderen Fraktionen künftig gut in ähnlicher
Weise handhaben.
({1})
Sie haben heute einen Antrag zum Thema „Demokratie im digitalen Zeitalter“ eingebracht. Wir haben in der
Enquete-Kommission - ich sehe hier vorne Konstantin
von Notz - lange über die Chancen des Digitalen für die
Demokratie geredet, über Formen der Bürgerbeteiligung,
von mehr Transparenz, von mehr Teilhabe. Dass Sie das
alles in Ihrem vorliegenden Antrag überhaupt nicht fokussieren, finde ich schade. Die Risiken, die Sie betrachten, sind nur ein Ausschnitt des Themas.
Die Zielsetzung Ihres Antrags - das macht auch der
Appell der 562 Schriftsteller deutlich - ist richtig. Die
Frage ist nur, ob die Konsequenzen, die daraus gezogen
werden, die passenden sind. Denn eines muss man feststellen: Wir wissen durch Edward Snowden viel darüber,
was die USA und auch Großbritannien machen. Wir wissen aber sehr wenig darüber, was in Russland und in
China passiert.
({2})
Ich glaube, es ist naiv, anzunehmen, wir könnten durch
ein einziges Abkommen mit den USA die gesamte Problematik lösen.
({3})
Zu einem weiteren Thema, den Unternehmen. Ich
glaube, dass die Situation hier möglicherweise viel gravierender ist. Schon vor Jahren habe ich verschiedentlich
darüber gebloggt und geschrieben, dass Google alle Eingaben personalisiert: die Suchanfragen der letzten neun
Monate, alle meine E-Mails, alle meine Kalendereinträge. Das erlaubt einen Einblick in das persönliche Leben, der schon ziemlich enorm ist, und wir haben es mit
einem privaten Unternehmen zu tun, das von keiner öffentlichen Stelle in irgendeiner Art und Weise kontrolliert wird. Wir können auch nur Mutmaßungen darüber
anstellen, wie sicher die Daten dort sind und mit wem
die Daten ausgetauscht werden.
Appelle helfen hier nicht weiter; denn das konstitutive Merkmal ist, dass die Menschen selbst ihre Daten
eingeben. Das ist vielleicht auch der Unterschied zu den
Vorgängen im Unrechtsstaat DDR, Frau Göring-Eckardt,
auf die Sie eben eingegangen sind. Die Daten werden
selbst eingestellt.
Lassen Sie mich heute die Gelegenheit nutzen, drei
sehr konkrete Bereiche anzusprechen, die Schwerpunkte
der Arbeit des Ausschusses Digitale Agenda bilden werden. Es ist wichtig, dass wir insgesamt aufrüsten.
Erstens. Die Frage ist: Wie sicher sind unsere Daten
unterwegs? Kann ich als Einzelperson wie als Unternehmen Privates privat halten? Als Stichworte sind hier „ITAirbus“ und „Schengen-Routing“ zu nennen. Doch diese
allein werden das Problem nicht lösen können, dafür
sind die Netze viel zu komplex.
Vergleichen wir die Situation im Internet mit der Situation im Straßenverkehr. Auf unseren Straßen fahren
durchaus auch Kriminelle, Terroristen und Bankräuber,
aber der Einzeltransporter muss gesichert sein. Im Straßenverkehr ist das der Fall, im Internet allerdings nicht.
Deswegen müssen wir uns des Themas Verschlüsselung
annehmen.
Man könnte sagen - in Anlehnung an ein Zitat von
Ron Sommer zur CeBIT-Eröffnung -, dass es sich mit
dem Thema E-Mail-Verschlüsselung ähnlich verhält wie
mit dem Thema Teenagersex: Alle reden darüber, kaum
einer tut es, und diejenigen, die es machen, die haben
meistens auch noch Schwierigkeiten damit.
({4})
Wir müssen erst einmal daran arbeiten, dass wir das
Thema E-Mail-Verschlüsselung einfacher machen. Wir
müssen es für die Menschen greifbarer machen. Wir
müssen Anreize setzen. Wir müssen uns überlegen, ob
man das Thema nicht auch gesetzlich flankiert: Ich
meine damit eine Pflicht zur verschlüsselten Verbindung
zwischen Clients und Servern, was einige Provider
schon einführen.
Die Initiative „E-Mail made in Germany“ ist eine
gute Initiative, weil sie dafür sorgt, dass sich die Menge
der verschlüsselten Daten insgesamt erhöht. Das muss
ein wesentliches Ziel sein. Letztendlich können Sie
heute alles knacken, aber diese Fähigkeit ist eine knappe
Ressource, und je mehr verschlüsselte Verkehre es gibt,
umso knapper wird die Ressource, diese zu dechiffrieren. Insofern brauchen wir möglichst viel verschlüsselten Verkehr. Um den Verkehr zu verschlüsseln, brauchen
wir mehr Algorithmen, für die andere Dienste oder Länder keinen Zweitschlüssel haben. Das ist ein ganz wichtiger Punkt. Wir müssen auf deutsche Forschung und
deutsche Algorithmen setzen.
Nicht zuletzt ist es so: Wenn Sie als Endanwender
eine E-Mail verschlüsseln wollen, dann brauchen Sie ein
E-Mail-Zertifikat. Wenn Sie das kostenlos bekommen
wollen, gehen Sie in der Regel zu einem amerikanischen
Provider. Das ist dann wie bei der Haustür: Sie bekommen zwar Ihren eigenen Schlüssel, aber wer noch eine
Kopie davon hat, das wissen Sie nicht. Deshalb sollte
sich der Ausschuss als Erstes darauf fokussieren, durch
eine Initiative dafür zu sorgen, dass jeder Bürger unseres
Landes kostenfreie E-Mail-Zertifikate von einer deutschen Stelle - das kann die Bundesdruckerei oder eine
Unternehmensinitiative sein - erhält. Das ist ein wichtiges Ziel.
({5})
Zum Zweiten ist es sehr wichtig - auch da müssen wir
konkret etwas machen -, dass sich die Plattformen ein
Stück weit wieder stärker an den europäischen Gesetzen
und dem europäischen Verständnis orientieren. Was helfen mir sichere Netze und Abkommen mit irgendwelchen Staaten, wenn jeder seine intimsten Daten bei
Google speichert oder sucht, wenn jeder seine privaten
Dateien bei Dropbox hochlädt und bei Facebook seine
gesamte soziale Kommunikation stattfinden lässt?
Daran wird eine klare Schwäche des Standorts
Deutschland deutlich: Hinter all diesen Plattformen stehen de facto keine europäischen Unternehmen. Selbst
die in Deutschland gegründeten Unternehmen sind mittlerweile keine europäischen Unternehmen mehr. Ich mache das an einem ganz konkreten Beispiel deutlich: Es
gibt ein Unternehmen aus - ich mag es als Düsseldorfer
kaum aussprechen - Köln. Diese Firma ist sehr erfolgreich. Sie hat eine Menge Algorithmen entwickelt, um
große Datenbestände - Big Data - untersuchbar zu machen. Diese Firma besitzt eine Reihe von Patenten. Sie
wurde in der ersten Stufe in Deutschland finanziert. Als
dieses Unternehmen auf den Weltmarkt wollte - dieses
Unternehmen hat inzwischen eine Finanzierung von
13,6 Millionen Dollar -, bekam es Finanzierungsmittel
fast ausschließlich im Silicon Valley, weil es hier keine
Investoren gibt. Die Entwicklungsabteilung dieses Unternehmens befindet sich zwar immer noch in Köln, aber
inzwischen hat es auch ein Büro mit 30 Mitarbeitern in
Palo Alto, und es gründet ein weiteres Büro in Boston.
Was ist das jetzt für eine Firma? Ist das eine deutsche,
eine europäische oder eine amerikanische Firma? Wie
verhält man sich in dieser Firma, wenn die NSA anklopft
und sagt: „Wir wollen gerne mit euch über Schnittstellen
reden“?
Hier wird eine Schwäche ganz deutlich. Ich finde es
gut, dass Unternehmen aus Deutschland wachsen. Ich
finde es auch gut, dass sie den Sprung auf den amerikanischen Markt schaffen. Aber dass wir selbst kein
Wachstumskapital zur Verfügung stellen können, ist eine
eklatante Schwäche, ein Nachteil. Daran müssen wir arbeiten.
Beim dritten Punkt geht es um die Frage, welche
schützenswerten Infrastrukturen und Technologien wir
hier noch haben. Führen wir uns noch einmal die Diskussion über den IT-Airbus und das Problem, dass die
Schnittstellen des Netzes, die Router, mittlerweile fast
alle von amerikanischen und chinesischen Unternehmen
kommen, vor Augen. Es gibt eine letzte Nische, in der es
noch deutsche Anbieter gibt. Es geht um die Endgeräte,
die Router, die bei Ihnen zu Hause stehen. Diese Geräte
haben eine besondere Bedeutung, nicht nur, weil sie die
erste und letzte Linie Ihrer Verteidigung sind, sondern
auch, weil diese Geräte bei Ihnen im Wohnzimmer stehen und weil sie die neue Schnittstelle für alles sind, was
in der Heimautomation stattfindet. Google hat nicht ganz
ohne Grund gerade für Milliarden von Dollar die Firma
Nest gekauft: um jetzt auf Ihre Thermostate und ich weiß
nicht was sonst noch alles zugreifen zu können.
Wenn wir nicht auch noch diesen, wie ich finde, datenschutzrechtlich extrem sensiblen Bereich verlieren
wollen, dann müssen wir dafür sorgen, dass die beiden
letzten deutschen mittelständischen Unternehmen, die
Endgeräte liefern, zumindest nicht kaputtgemacht werden. Deshalb haben wir im Koalitionsvertrag klar festgeschrieben, dass wir uns auch gesetzlich für das Thema
Routerfreiheit starkmachen wollen. Wir wollen, dass
niemand, insbesondere keine Kommunikationsunternehmen, Kunden am Ende zwingen kann, amerikanische
oder chinesische Endgeräte einzusetzen. Das ist, glaube
ich, ein wichtiges Thema, das wir gerade jetzt als Erstes
adressieren müssen.
({6})
Ich freue mich, dass wir die Chancen, die sich durch
unseren neuen Ausschuss ergeben, nutzen können. Wir
werden einen guten Dialog mit den Kollegen in den anderen Ausschüssen, insbesondere im Innenausschuss,
führen. Ich glaube, dass wir, wenn wir an diesen Themen
arbeiten, einen substanziellen Sprung nach vorne machen werden. Was mich an der Diskussion stört, ist, dass
wir zwar sehr lange über die Themen reden, bisher aber
nur sehr wenig über konkrete Lösungen. Das möchten
wir gerne in Angriff nehmen.
Vielen Dank.
({7})
Die Kollegin Wawzyniak hat nun das Wort für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Linke unterstützt den vorliegenden Antrag der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen in allen Punkten.
({0})
Das ist für uns eine Selbstverständlichkeit, weil wir Freiheit und Gerechtigkeit miteinander verbinden wollen.
({1})
Der Appell der Schriftstellerinnen und Schriftsteller
ist - das ist außerordentlich begrüßenswert - nicht der
einzige Appell geblieben. Mittlerweile gibt es zum Beispiel auch einen Aufruf von Wissenschaftlerinnen und
Wissenschaftlern gegen Überwachung. Der Appell der
Schriftstellerinnen und Schriftsteller hat aus unserer
Sicht einen ganz zentralen Vorteil: Er macht deutlich,
dass die Überwachung nicht allein auf das Handeln der
NSA reduziert werden kann. Im Überwachungsboot
sitzen Konzerne wie Staaten. Die Kapitäne im Überwachungsboot sind die Geheimdienste. Diese werden logischerweise immer alle technischen Möglichkeiten nutzen, um ihre Informationen zu bekommen. Das liegt im
Wesen von Geheimdiensten. Dagegen helfen keine Abkommen oder gesetzlichen Regelungen, dagegen hilft
nur die Auflösung von Geheimdiensten.
({2})
Der Aufruf der Schriftstellerinnen und Schriftsteller
gibt uns als Parlament aber auch einen Auftrag mit. Ich
bin davon überzeugt, dass allein der Aufruf an Staaten
und Konzerne, das Recht auf Privatsphäre, die Gedanken- und Meinungsfreiheit und die Unschuldsvermutung
zu respektieren, nicht zu einer Verhaltensänderung führt.
Wir als Gesetzgeber müssen unserer Aufgabe nachkommen, Staaten und Konzerne mit gesetzlichen Regelungen
zu zwingen, diese genannten Rechte einzuhalten.
({3})
Deshalb ist es vollkommen richtig und unterstützenswert, wenn die Grünen in ihrem Antrag fordern, Maßnahmen zur Wiederherstellung der benannten Rechte zu
ergreifen.
Im Übrigen - das kann nicht oft genug gesagt werden -: Der Vorratsdatenspeicherung ist eine endgültige
Absage zu erteilen.
({4})
Jetzt wird es für die Genossinnen und Genossen der Sozialdemokratie interessant: Es ist ein wenig absurd,
wenn der Justizminister im Rechtsausschuss ankündigt,
er werde, selbst wenn der EuGH die Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung für unzulässig erklärt, einen Gesetzentwurf zur Vorratsdatenspeicherung in Deutschland vorlegen und damit präventiv Druck für eine neue
Richtlinie entfalten. - Demokratie bedeutet eben gerade
auch, dass es keinen Generalverdacht gibt und dass eine
Totalüberwachung der Kommunikation der Einwohnerinnen und Einwohner nicht stattfindet. Vorratsdatenspeicherung ist das Gegenteil von Demokratie im digitalen Zeitalter.
({5})
Zur Verteidigung der Demokratie im digitalen Zeitalter sind mehr Maßnahmen erforderlich als die im Antrag
genannten, die sich weitgehend auf die Ausspähaffäre
konzentrieren. Das Recht auf Anonymität und damit die
Möglichkeit der anonymen Kommunikation darf nicht
infrage gestellt werden. Ein höchstmögliches Datenschutzniveau in den Voreinstellungen technischer Geräte
und sozialer Netzwerke muss Standard werden.
Ein Generalverdacht und ein in unseren Augen nicht
zu rechtfertigender Eingriff in die Privatsphäre sowie die
Kommunikationsfreiheit ist im Übrigen auch die nichtindividualisierte Funkzellenabfrage. Auch dieses Überwachungsinstrument gehört abgeschafft.
({6})
Demokratie im digitalen Zeitalter bedeutet aber auch,
dass Menschen verstehen, wie das Internet und Computer funktionieren. Nur wer versteht, wie etwas funktioniert, kann auch emanzipiert und selbstbestimmt damit
umgehen. Wir brauchen also sowohl in Schulen als auch
in der Aus- und Weiterbildung von Lehrerinnen und
Lehrern, Polizistinnen und Polizisten, Richterinnen und
Richtern sowie Staatsanwältinnen und Staatsanwälten
Medienbildung als integralen Bestandteil.
({7})
Das eine oder andere Kopfschütteln hervorrufende Urteil
der vergangenen Tage wäre uns so möglicherweise erspart geblieben.
({8})
Demokratie im digitalen Zeitalter zu verteidigen,
heißt, Einwohnerinnen und Einwohnern überhaupt Zugang zum digitalen Zeitalter zu ermöglichen. Demokratie hat auch immer etwas mit Informiertheit zu tun. Die
Bereitschaft, etwas zu verteidigen, was man nicht kennt,
dürfte nicht sehr ausgeprägt sein. Da bleibt der Koalitionsvertrag auf einer ziemlich abstrakten Ebene.
({9})
Zwar wird noch erkannt, dass der Breitbandausbau total
wichtig ist, aber die Große Koalition schreibt nicht, wie
sie ihn realisieren will. Sie hat ja sogar die entsprechenden Mittel aus dem Koalitionsvertrag gestrichen. Es findet sich kein Wort darüber, dass, wenn jede und jeder an
der Möglichkeit des Internets teilhaben können soll, ein
Computer notwendig ist und dass deshalb ein Computer
zum soziokulturellen Existenzminimum gehören muss;
andernfalls schließt man Menschen von der Demokratie
im digitalen Zeitalter aus.
({10})
Demokratie und Teilhabe am digitalen Zeitalter bedeuten auch, Netzneutralität gesetzlich festzuschreiben;
denn nur die gesetzliche Festschreibung der Netzneutralität verhindert ein Zweiklasseninternet. Das, was gerade
auf europäischer Ebene verhandelt wird, lässt vermuten,
dass dort, wo Netzneutralität drauf steht, am Ende nicht
Netzneutralität drin ist.
Ein wesentlicher Bestandteil von Demokratie ist
Klarheit der Rechtsnormen. Insofern sind klare, an das
digitale Zeitalter angepasste Normen des Urheberrechts
für alle von Nutzen. Denn durch klare Gesetzgebung ist
allen erkennbar, was erlaubt ist und was nicht. Das Urheberrecht ist an das digitale Zeitalter anzupassen. Um Urheberrinnen und Urhebern zu ermöglichen, von ihrer Arbeit zu leben, und gleichzeitig den Zugang zu Wissen
und Kultur für Nutzerinnen und Nutzer zu ermöglichen,
brauchen wir ein verändertes Urhebervertragsrecht.
({11})
Wir Linke haben in der letzten Legislaturperiode einen
umfangreichen Vorschlag zur Novellierung des Urhebervertragsrechts unterbreitet, der genau das gewährleisten
würde. Wenn Sie mir zustimmen, dass zur Demokratie
auch die Möglichkeit gehört, sich zu informieren, dann
schaffen Sie endlich die Depublizierungspflicht im öffentlich-rechtlichen Fernsehen ab! Wir können es auf
eine ganz einfache Formel bringen: Was mit öffentlichen
Geldern finanziert wurde, soll auch für alle öffentlich
zugänglich sein.
({12})
Das müsste dann übrigens auch für die Gutachten des
Wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestages
gelten.
Beim Aufruf der Schriftstellerinnen und Schriftsteller
gerät ein wenig aus dem Blick, dass es auch im Internet
um die Eigentumsfrage geht. Es sind nicht nur Staaten
und ihre Geheimdienste, die die Freiheit des Internets
bedrohen, sondern auch Monopole, die sich ihre eigenen
Gesetze machen und ihre marktbeherrschende Stellung
ausnutzen. Sie sammeln Daten und können ebenso Bewegungsprofile erstellen wie staatliche Behörden. Wir
müssen für eine rechtliche Einhegung der Monopole sorgen. Deshalb fänden wir es gut, wenn genossenschaftliche und commonsbasierte Initiativen unterstützt würden.
Es wäre auch gut, wenn bei der Auftragsvergabe durch
öffentliche Stellen konsequent auf Open Source gesetzt
würde.
Der Titel des Antrages der Grünen lautet: Die Demokratie verteidigen im digitalen Zeitalter. - Ich habe bereits gesagt, dass wir diesen Antrag befürworten. Wenn
wir es alle ernst meinen mit der Verteidigung der Demokratie auch im digitalen Zeitalter, dann sollten wir als
Allererstes bei allen Gesetzen, die hier verabschiedet
werden, eine Demokratievereinbarkeitsprüfung vornehmen. Gerechtigkeit und Freiheit zusammenzudenken, ist
eine lohnenswerte Aufgabe, der sich die Linke widmen
wird.
({13})
Ich erteile das Wort jetzt dem Kollegen Matthias
Schmidt für die SPD-Fraktion.
({0})
Vielen Dank. - Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Damen und Herren auf den Zuschauertribünen! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten heute einen Antrag der Grünen, der die Intention verfolgt, die Demokratie zu verteidigen. In Berlin sagen wir dazu: Das ist auch
gut so.
({0})
Gestatten Sie mir als neuem Abgeordneten, die letzten
Wochen ein wenig Revue passieren zu lassen.
({1})
- Genau. - Ich habe den Eindruck, dass wir viele lebhafte Debatten hatten - heute Morgen im Übrigen
auch -; das spricht insgesamt dafür, dass die Demokratie
in unserem Land intakt ist.
({2})
„Die Demokratie verteidigen im digitalen Zeitalter“, wie
der Antrag der Grünen betitelt ist, gibt dem Thema jedoch
einen anderen Zungenschlag. Der Antrag der Grünen fußt
- Frau Kollegin Göring-Eckhardt hat das ausgeführt - auf
einem Aufruf, den 562 namhafte Schriftstellerinnen und
Schriftsteller
({3})
unterzeichnet haben. Dieser Aufruf hat völlig zu Recht
großen Widerhall gefunden. Auch wir begrüßen den
Aufruf, steht er doch in einer direkten Tradition mit
Willy Brandt, der schon vor fast fünf Jahrzehnten angefangen hat, mehr Demokratie zu wagen, und das auch
umgesetzt hat.
({4})
Zu Zeiten Willy Brandts sah die Demokratie verständlicherweise völlig anders aus: Über ihr lag noch der lange
Schatten des Nationalsozialismus. Willy Brandts Intention war es, Licht und Luft an die Demokratie heranzulassen. Er wollte Menschen zum Mitmachen bewegen,
die Vielfalt des Lebens zeigen und Freude an der Demokratie wecken. Bei der Generation meiner Eltern hat er
dies in vorbildlicher Weise geschafft.
({5})
Er hat es sogar bei meinen Eltern persönlich geschafft;
sie haben sich nämlich auf dem Platz hier vor dem
Reichstag inmitten von 750 000 Menschen kennengelernt, als sie Willy Brandt zuhörten.
({6})
Konrad Zuses Erfindung, den Computer, gab es damals schon sehr lange; trotzdem dauerte es bis in die
90er-Jahre, bis der Computer die Welt völlig veränderte.
Heute haben wir scheinbar grenzenlose Möglichkeiten.
Was sich in den letzten Jahren getan hat, ist mit dem
Wort „rasant“ nur sehr unzureichend beschrieben.
Wir begreifen aber langsam: Datennutzung bedeutet
auch Datenverantwortung. Das richtet sich einerseits
persönlich an uns als Nutzer, andererseits aber auch an
den Staat, der den Auftrag hat, uns vor unlauteren Machenschaften zu schützen. Der Aufruf der Schriftstellerinnen und Schriftsteller führt uns vor Augen: Wenn uns
dies nicht gelingt, ist am Ende sogar die Demokratie gefährdet.
Über die Demokratie und die Kernelemente, die sie
ausmachen, könnten wir lange philosophieren. Im Zusammenhang mit dem Aufruf sind besonders zu nennen:
die Meinungsfreiheit und der Schutz der Privatsphäre
und damit der Schutz der im Privaten geäußerten freien
Gedanken. Wenn der Kern dieser Elemente angetastet
wird, sind wir alle aufgefordert aufzubegehren. Hier im
Rund sitzen 631 natürliche Verteidiger der Demokratie,
die dies jeden Tag mit Leidenschaft tun.
({7})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen,
dass wir die Intention Ihres Antrags teilen, möchte ich an
drei Punkten festmachen. Der Fall Snowden hat uns zum
wiederholten Male, aber in völlig neuer Dimension vor
Augen geführt, welche Konsequenzen Whistleblowing
Matthias Schmidt ({8})
für den Informanten nach sich zieht. Edward Snowden
hat seine berufliche und private Perspektive in den Vereinigten Staaten verloren und damit einen sehr hohen
Preis für sein couragiertes Handeln bezahlt. Auch in
kleinerer Dimension wie beim Gammelfleischskandal
oder der Anzeige von Insidergeschäften zeigte sich, dass
Menschen ein hohes Risiko eingehen, wenn sie Missstände, Korruption oder Skandale anzeigen. Es ist egal,
wo sie dies tun: Ob in Unternehmen, Behörden oder in
Institutionen, in allen Fällen verloren sie ihre Arbeitsstellen oder waren anderen Repressalien ausgesetzt.
({9})
Diese Fälle machen deutlich: Die vorhandenen gesetzlichen Bestimmungen schützen Informanten nicht ausreichend vor Risiken und Benachteiligungen. Wir brauchen
ein Gesetz, das diesen Schutz klar und umfassend regelt.
Unsere Initiative dazu fand in der letzten Wahlperiode
leider keine Mehrheit.
({10})
In der Sache halten wir diesen gesetzlichen Schutz jedoch nach wie vor für dringend geboten und werden dies
entsprechend dem Koalitionsvertrag in Angriff nehmen.
({11})
Lassen Sie mich zu einem weiteren Punkt kommen,
der mit dem Fall Snowden in enger Verbindung steht,
dem Datenschutz. Wir brauchen einen Datenschutz, der
den Erfordernissen einer digitalisierten Welt gerecht
wird. Dazu gehört zum einen, dass die Datenbestände
von Unternehmen und Privatpersonen vor dem illegalen
geheimdienstlichen Zugriff geschützt werden.
({12})
Zum anderen gehört dazu aber auch, dass der Transfer personenbezogener Daten EU-einheitlichen und wirksamen
Datenschutzrichtlinien unterliegt. Wir brauchen Transparenz hinsichtlich der Datenweitergabe an Drittstaaten,
ausdrückliche Einwilligungsregelungen sowie angemessene Strafen bei Datenschutzverstößen.
({13})
Das beinhaltet auch, dass Daten wieder gelöscht werden können, um das Selbstverfügungsrecht der Menschen an ihren Daten zu sichern. Die Fortschritte bei den
Verhandlungen auf EU-Ebene zu einer einheitlichen europäischen Datenschutz-Grundverordnung weisen in die
richtige Richtung; Kollege Reichenbach wird später daran anknüpfen.
Diese EU-Datenschutz-Grundverordnung muss dann
auch Grundlage der Verhandlungen über ein neues SafeHarbor-Abkommen werden. Das Datenschutzniveau von
nach dem Safe-Harbor-Verfahren zertifizierten Unternehmen muss künftig den Standards einer EU-Datenschutz-Grundverordnung entsprechen, da das Datenschutzgefälle zwischen einzelnen Mitgliedsländern der
EU und den USA offenkundig groß ist. Wir brauchen daher auf der einen Seite eine Vereinheitlichung nach EURecht, auf der anderen Seite ein Abkommen, das bei der
Datenweitergabe Datensicherheit auf eben diesem angestrebten einheitlichen Niveau garantiert.
Allein mit der kurzen Darstellung dieser drei Handlungsfelder - Whistleblower-Schutz, EU-Datenschutz,
Safe-Harbor-Abkommen - wird deutlich: Hier greifen viele
verschiedene Rädchen ineinander und verzahnen sich. Das
ist ein komplexes Unterfangen, das sich nicht so einfach
in Form einer Punkteliste abarbeiten lässt, so sehr wir
das Anliegen der Schriftstellerinnen und Schriftsteller
auch teilen und deren Engagement schätzen. Das lassen
Sie mich an dieser Stelle ausdrücklich betonen.
Ihr Antrag, liebe Kolleginnen und Kollegen von den
Grünen, trägt zwar in einigen Punkten auch unsere
Handschrift, Ihre Aufbereitung in dem Antrag wird der
Komplexität jedoch nicht gerecht.
({14})
Wir brauchen eine verantwortungsbewusste, strategisch
kluge und zielgerichtete Herangehensweise, die Verfahrensschritte mit politischen Ebenen und Kompetenzen
abstimmt. Das haben wir als SPD-Fraktion fest im Blick.
Dafür haben wir uns in der Vergangenheit eingesetzt,
und das wird sich auch in unserem Regierungshandeln
abbilden.
({15})
Lassen Sie mich zum Schluss noch etwas zum Aufruf
der Schriftstellerinnen und Schriftsteller sagen:
Wir haben verstanden, dass das massenhafte Ausspähen privater Daten das Sicherheitsgefühl der Menschen
erschüttert. Wir haben verstanden, dass der Eingriff in
die Privatsphäre der Bürgerinnen und Bürger das Grundvertrauen in demokratische Strukturen zerstört. Wir haben verstanden, dass die illegale Überwachung von
Menschen einen inakzeptablen Bruch der Grundrechte
darstellt. Wir haben nicht zuletzt auch verstanden, dass
der Schutz der Demokratie vor diesem Hintergrund
gebietet, alle notwendigen und möglichen Schritte zu
unternehmen, um dem unkontrollierten Zugriff auf die
Privatsphäre des Menschen verbindliche Grenzen zu setzen.
({16})
Das Recht, frei und unbeobachtet Gedanken und Meinungen zu äußern, ist eine tragende Säule unserer Verfassung. Dem sind wir in unserem Tun als Abgeordnete
verpflichtet.
({17})
Matthias Schmidt ({18})
Seien Sie versichert, dass wir den Aufruf der
562 Schriftstellerinnen und Schriftsteller sehr ernst nehmen und daraus einen Handlungsauftrag ableiten. Die
SPD wird auch im 151. Jahr ihres Bestehens vehement
und unverändert für unsere Demokratie eintreten.
Herzlichen Dank.
({19})
Lieber Kollege Schmidt, ich gratuliere Ihnen herzlich
zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag und wünsche Ihnen alles Gute für die weitere parlamentarische
Arbeit.
({0})
Nun erhält der Kollege Konstantin von Notz das Wort
für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Schriftstellerinnen und Schriftsteller auf der Tribüne, Ihr Appell kommt in einer Zeit, in der die Bürgerrechte im Feuer stehen. Er ist ein wichtiges Zeichen gegen Ohnmacht und Gleichgültigkeit.
({0})
Sie haben zu Recht erkannt: Massenhafte Überwachung behandelt jeden einzelnen Bürger als Verdächtigen und zerstört rechtsstaatlich historische Errungenschaften wie die Unschuldsvermutung. Sie mahnen:
Ein Mensch unter Beobachtung ist niemals frei; und
eine Gesellschaft unter … Beobachtung ist keine
Demokratie mehr.
So ist das.
({1})
Wenn wir die Bürgerrechte in der digitalen Welt verlieren, verlieren wir sie in allen Lebensbereichen. Der
Deutsche Bundestag ist deswegen in der Pflicht, das mit
aller Kraft zu verhindern.
Dieser Appell ist bei weitem nicht der einzige. Es gibt
unzählige Petitionen von Millionen Menschen, gerade
auch von DDR-Bürgerrechtlerinnen und -Bürgerrechtlern, Appelle von Hunderten internationalen Organisationen, Zusammenschlüsse von Professorinnen und Professoren, Initiativen von Kirchen und Gewerkschaften,
Aufrufe von Verbänden und Berufsgeheimnisträgern,
Appelle von verschiedensten Wirtschaftsverbänden. Sie
alle haben eines gemeinsam: Sie zeigen, dass der Unmut
über die Untätigkeit dieser Bundesregierung, die heute
hier übrigens nur sehr spärlich vertreten ist, immer größer und die Debatte nicht nur hier im Parlament, sondern
auch gesellschaftlich immer breiter geführt wird.
({2})
Es geht hier nicht um die immer wieder bemühte Abwägung zwischen Freiheit und Sicherheit. Es geht hier
um die anlasslose Massenüberwachung der Bürgerinnen
und Bürger und die Frage, ob diese totalitären Überwachungsmethoden in einem Rechtsstaat überhaupt zulässig sein können. Wir sagen: Nein.
({3})
Herr Kollege Jarzombek, in diesem Zusammenhang
sage ich Ihnen: Verschlüsselungstechnologien usw. sind
super interessant, aber bei diesem Antrag geht es heute
eben auch darum, welche Rolle die deutschen Geheimdienste spielen.
({4})
Deswegen sollte sich Ihre Fraktion endlich dazu bekennen, dass das für den PUA ein wichtiger Untersuchungsauftrag ist.
({5})
Die traurige Haltung der Union zu diesem Thema insgesamt ist ja hinlänglich bekannt. Ich sage nur: „Supergrundrecht“ Sicherheit statt Aufklärung und Verteidigung der Bürgerrechte.
Im Wahlkampf und in FAZ-Artikeln interessiert sich
die SPD für Aufklärung, Edward Snowden und die Netzpolitik. Ich habe gehört, Sie wollen die neue Netzpartei
werden. Ihr sozialdemokratischer Präsident des Europäischen Parlamentes, Martin Schulz, schreibt dazu durchaus zutreffende und erfreuliche Artikel.
({6})
Er schreibt frei nach Adorno, die Verdinglichung des
Menschen müsse verhindert werden. - Recht hat der
Mann. Aber das ist die Theorie in der SPD. In der Praxis
stimmen die sozialdemokratischen Abgeordneten im EP
dann eben gegen einen sicheren Aufenthalt für Edward
Snowden.
({7})
Sie streichen sämtliche diesbezüglichen Passagen aus
der Beschlussvorlage.
({8})
Dabei hat Herr Oppermann, der leider nicht da ist, explizit mit Snowden im Wahlkampf im vergangenen Jahr
geworben. Er hat ihm eine „hohe Glaubwürdigkeit“ bescheinigt und ihn einen „offenkundig wertvollen Zeugen“ genannt. Das war im Wahlkampf. Solche Sätze hört
man von Ihnen jetzt überhaupt nicht mehr. Der Kollege
Oppermann war es auch, der im Wahlkampf sagte, man
müsse neu und kritisch über die Vorratsdatenspeicherung
nachdenken, um anschließend die Einführung ebendieser Vorratsdatenspeicherung in den schwarz-roten Koalitionsvertrag hineinzuschreiben. So geht es nicht. Und so
wird es nix mit Ihren bürgerrechtlichen Ambitionen,
liebe Freundinnen und Freunde der SPD.
({9})
Im Jahr 2010 erklärte das Bundesverfassungsgericht
die Umsetzung der Vorratsdatenspeicherung der letzten
Großen Koalition für verfassungswidrig. Das Gericht
entwickelte das Merkmal des „diffusen Gefühls des Beobachtetseins“. Dieses Gefühl teilen nach dem NSASkandal Millionen von Menschen, wenn sie im Netz
kommunizieren, sich informieren oder einfach nur ihr
Handy dabei haben.
Gestern bezeichnete der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Voßkuhle, die NSA-Affäre als „sehr unappetitlich“. Und man hört: Um sich zu schützen, nehmen die Richter in ihre Besprechungen schon seit
längerem weder Handys noch Laptops mit. „Wir sitzen
mit Papier und Stift da“, sagt ein Richter des Ersten Senats.
Herr Kollege Dr. von Notz, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Binninger?
Selbstverständlich.
Herr Kollege von Notz, wir führen diese Debatte
- wenn auch mit unterschiedlicher Betonung - nun innerhalb der letzten Wochen zum dritten Mal. Ich gebe
Ihnen gerne recht, dass Sie die Probleme in ihrer Dramatik zutreffend beschreiben und dass die Auswirkungen
für unsere Demokratie, für das Verhalten der Menschen
mehr als schwerwiegend sind und uns alle besorgt machen müssen. Ich glaube, da sind wir sehr nahe beieinander.
Es gibt etwas, was mich stört. Ich habe vorhin Ihrer
Kollegin Göring-Eckardt und jetzt auch Ihnen sehr genau zugehört. Da keine Redner mehr von Ihnen sprechen
dürfen,
({0})
muss ich jetzt meine Frage stellen.
Ja, nur zu.
Was ich bei allen Debatten vermisst habe: Neben der
Problembeschreibung und der Zuweisung von Schuld an
die Bundesregierung oder wahlweise die SPD liefern Sie
selber leider keinen einzigen konkreten Vorschlag, was
zu ändern ist. Warum denn nicht? Haben Sie nichts zu
bieten, oder erschöpft es sich in Kritik?
({0})
Herr Kollege Binninger, vielen Dank für die Frage. Wir bieten anlassbezogen massenhaft Antworten auf
dieses Problem.
({0})
- Ja, ich habe verstanden. Sie fragen nach konkreten
Antworten. - Wir haben Vorschläge ohne Ende gemacht,
wie man auf europäischer Ebene Druck erzeugen kann.
Wir haben gesagt, dass man das SWIFT-Abkommen, das
PNR-Abkommen, das Safe-Harbor-Abkommen aufkündigen kann
({1})
- natürlich können wir das -, um in eine vernünftige
Verhandlungsposition zu kommen. Ich hege den Verdacht - ich glaube, im Herzen tun Sie das auch -: Dass
die Amerikaner mit einem solchen Schulterzucken auf
unsere Vorwürfe reagieren, hat damit zu tun, dass wir
selbst ein Rädchen in diesem System der anlasslosen
massenhaften Überwachung sind.
Wir wollen das aufklären. Dass wir hier in diesem
Hohen Hause in den letzten Wochen dreimal zu diesem
Thema, wie Sie richtig sagten, gesprochen haben, liegt
eben nicht an der Bundesregierung. Die Kanzlerin hat
sich zu dieser größten Überwachungsaffäre überhaupt
noch nicht verhalten, außer zu sagen: Das geht so nicht.
({2})
Sie sind sprachlos. Sie klären nicht auf. Wir haben Vorschläge gebracht, und zwar eine Menge. Sie aber agieren
nicht. Sie sind die Bundesregierung. Sie sind in der Verantwortung. Und so geht es nicht.
({3})
Noch einmal zum Bundesverfassungsgericht - dann
komme ich zum Ende -: Der Richter des Ersten Senats
sagt ferner, in Telefonaten werde darauf geachtet, keine
Interna preiszugeben. Das zeigt: Selbst Verfassungsorgane, selbst unser höchstes Gericht lebt unter dem unmittelbaren, nicht nur diffusen, sondern sehr konkreten
Gefühl des Beobachtetseins. Wenn das so ist, meine Damen und Herren, dann ist es allerhöchste Zeit, unsere
Freiheit und unseren Rechtsstaat zu verteidigen. Danke
für diesen Appell! Dieses Parlament und diese Bundesregierung sind in der Pflicht, endlich zu reagieren. Ich
freue mich sehr darauf, wenn Sie diese Debatte erneut
auf die Tagesordnung setzen, Herr Binninger.
Ganz herzlichen Dank.
({4})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Tim Ostermann,
CDU/CSU. Bitte sehr.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Von Mark Twain
ist das Zitat überliefert:
Es ist töricht, sich im Kummer die Haare zu raufen.
Noch nie ist Kahlköpfigkeit ein Mittel gegen Probleme gewesen.
Wenn man in den letzten Monaten und gerade auch
heute die Beiträge aus der Opposition verfolgt hat, dann
kann man schon eine Vielzahl an lichten Häuptern erkennen. Offensichtlich liegt das an der Haarerauferei,
die seit Bekanntwerden der NSA-Affäre öffentlichkeitswirksam betrieben wird.
Damit wir uns nicht falsch verstehen: Die Empörung
ist nachvollziehbar. Auch ich war empört - und bin es
immer noch -, als ich von der Massenüberwachung
durch amerikanische und britische Geheimdienste erfahren habe. Das Ausmaß hat mich fassungslos gemacht. Es
kommt jedoch ein Punkt, an dem Empörung zu einem
Hindernis wird. Empörung konzentriert sich nämlich nur
auf das Problem. Mark Twain wollte uns mit seinem
Sinnspruch dagegen mitteilen, dass man Lösungen findet, indem man das Problem versachlicht und indem
man vor allem eines an den Tag legt: Besonnenheit.
Wir sind uns in dem Ziel einig: Die Ausspähungen
müssen unterbleiben. Die Verletzung deutschen Rechts
muss aufhören. Über das Wie sind wir uns allerdings bislang nicht einig. Wir beraten heute einen Antrag der
Grünen. Wenn ich den Antrag lese, komme ich zu dem
Ergebnis, dass die vorgeschlagenen Maßnahmen wenig
zielführend sind und nur ein weiteres Ventil der Empörung darstellen.
({0})
Ich möchte dies an einigen Beispielen deutlich machen: Sie wollen den Generalbundesanwalt anweisen
lassen, ein förmliches Verfahren einzuleiten und geheimdienstliche Straftaten zu verfolgen. Derzeitiger Stand ist
bekanntlich, dass der Generalbundesanwalt prüft, ob er
ein formales Ermittlungsverfahren aufnimmt. Dem Vernehmen nach wird er in der nächsten Woche eine Entscheidung verkünden.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich finde, wir sollten darauf vertrauen, dass der Generalbundesanwalt die
richtige Entscheidung trifft,
({2})
eine Entscheidung, die vor allem auf der Grundlage juristischer Überlegungen getroffen werden muss.
({3})
Daher sind konkrete Anweisungen der Bundesregierung
an Herrn Range wenig sinnvoll, weder in die eine noch
in die andere Richtung.
Sie wollen die USA vor dem UN-Menschenrechtsausschuss mit einer Staatenbeschwerde belegen. Diese
Beschwerde ist, seit sie 1966 eingeführt wurde, noch von
keinem Staat erhoben worden - nicht ein einziges Mal.
Tagtäglich gibt es auf unserem Planeten schreckliche
und grausame Menschenrechtsverletzungen. Und Sie
wollen dieser Verfahrensart ausgerechnet wegen Ausspähaktivitäten zur Premiere verhelfen. Und dann auch
noch gegen die Vereinigten Staaten von Amerika.
({4})
Auch das ist für mich ein klarer Fall von Empörungspolitik. Das ist kopfloser Aktionismus.
({5})
Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und
Kollegen, wir sollten uns stattdessen auf Lösungen konzentrieren. Ich sehe hier drei Ansätze:
Erstens. Wir müssen unseren Verbündeten weiterhin
mit aller Vehemenz klarmachen, dass auch sie sich auf
deutschem Boden an deutsches Recht zu halten haben.
Eines muss dabei aber auch klar sein: Tragfähige Lösungen können wir nur mit den Amerikanern und Briten zusammen erreichen, aber nicht gegen sie. Das ist das Einmaleins der internationalen Beziehungstheorie.
Zweitens. Wir müssen auch auf Ebene der EU und der
UN für unsere Vorstellung von Netzpolitik eintreten.
Entscheidend ist dabei die Frage: Für welche Netzpolitik
stehen wir überhaupt? Sie ist aus meiner Sicht noch nicht
befriedigend beantwortet worden. Ebenfalls unbeantwortet ist die Frage nach der normativen Ausgestaltung
der Netzpolitik. Wie genau sollen die Regeln aussehen,
die Freiheit und Sicherheit in der richtigen Balance halten? Aber selbst wenn wir Regeln aufstellen, bleibt immer noch die Frage, wie wir diese durchsetzen wollen.
Und dies führt mich zu meinem dritten Punkt, den
technologischen Kapazitäten. Mit ein Grund für die
große Empörung über die Ausspähung ist doch der Umstand, dass wir von ihr kalt erwischt worden sind. Wir
waren offensichtlich nicht vorbereitet. Die Ausspähaktivitäten haben uns vor Augen geführt, dass in Deutschland technologisch ein Nachholbedarf besteht. Dass wir
zum Aufholen in der Lage sind, steht für mich außer
Zweifel. Sie werden mir beipflichten, dass wir Deutsche
mit die besten Autos in der Welt bauen, ich meine sogar:
die besten. Trotzdem müssen deutsche Autobauer auf
Software und Betriebssysteme amerikanischer Firmen
zurückgreifen.
({6})
Oder nehmen Sie das Beispiel Maschinenbau: Deutsche
Firmen gehören zu den Weltmarktführern. Die wesentlichen Komponenten für IT und Telekommunikation, die
sie verwenden, kommen aber nahezu allesamt aus den
USA, China oder Korea. Hier besteht ein Ungleichgewicht, das wir bisher ignoriert haben.
Während wir mit unseren Partnern verhandeln, werden andere Länder ihre Algorithmen und Trojaner nicht
einmotten. Mit diesen Staaten sind Verhandlungen von
vornherein aussichtslos und zum Scheitern verurteilt.
Wir müssen auf diese Bedrohung umgehend reagieren.
Damit meine ich nicht, dass wir nun zur Gegenspionage
ansetzen sollten ({7})
oder überhaupt könnten. Aber eine gewisse Robustheit
gegen Angriffe von außen darf und muss schon sein.
Den Ausbau unserer technologischen Abwehrfähigkeit haben wir selbst in der Hand. Ich denke da etwa an
die Stärkung des BSI - auch in finanzieller Hinsicht -,
die verstärkte Bereitstellung von Forschungsmitteln,
aber auch an die Formulierung einer neuen, an die Herausforderungen der digitalen Welt angepassten Sicherheitsstrategie.
Ich bin mir sicher, dass die digitale Agenda, die die
Bundesregierung bis Sommer vorlegen wird, Antworten
geben wird.
({8})
Ebenso bin ich davon überzeugt, dass der Untersuchungsausschuss, den wir einsetzen werden, Antworten
formulieren wird.
Ohne wildes Haareraufen und symbolische Empörungspolitik, dafür sachlich und besonnen, so müssen
wir diese Aufgabe angehen.
({9})
Vielleicht wird dann auch deutlicher, was sich hinter der
Spähaffäre aus meiner Sicht vor allem verbirgt: ein
Weckruf an uns, ein Weckruf, der dazu führen muss, unseren digitalen Rückstand aufzuholen.
Vielen Dank.
({10})
Herr Kollege Dr. Ostermann, das war Ihre erste Rede
im Deutschen Bundestag. Ich beglückwünsche Sie dazu
und wünsche Ihnen viele weitere erfolgreiche Reden.
({0})
Ich erteile jetzt das Wort der Kollegin Petra Pau, Die
Linke.
({1})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Linke fordert seit Monaten eine zügige, umfassende und
öffentliche Aufklärung aller Umstände des sogenannten
NSA-Datenskandals; meine Kollegin Halina Wawzyniak
hat es bereits gesagt. Deshalb unterstützt die Linke auch
den vorliegenden Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen.
({0})
Der NSA-Skandal ist der bislang größte Angriff auf
Bürgerrechte und Demokratie in der Geschichte der
westlichen Zivilisation. Im Bundeskanzleramt müssten
eigentlich alle Alarmglocken schrillen. Aber da herrscht
Grabesstille. Die Linke hat dafür überhaupt kein Verständnis.
({1})
Dass massiv gegen verbriefte Bürgerrechte verstoßen
wurde und wird, liegt auf der Hand. Dazu gehören das
Postgeheimnis ebenso wie der Datenschutz. Ausgehöhlt
werden zudem der Rechtsstaat, die Pressefreiheit und die
Schweigepflicht von Ärzten oder Geistlichen sowie anderes mehr. Das Grundgesetz wird nicht verteidigt, sondern entwertet. Ich frage Sie: Kann es einen größeren
Ernstfall geben? Ich glaube, kaum.
({2})
Erinnern wir uns: Im Volkszählungsurteil hatte das
Bundesverfassungsgericht das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung und damit den Datenschutz
begründet. Im Urteil hieß es sinngemäß: Bürgerinnen
und Bürger, die nicht mehr wissen oder nicht mehr wissen können, wer was über sie weiß, sind als Mensch
nicht mehr souverän. Wer als Mensch nicht mehr souverän ist, kann auch als Bürger kein Souverän sein. Eine
Demokratie ohne Souveräne ist aber undenkbar.
({3})
Niemand kann heute mehr wissen, wer was über sie oder
ihn weiß. Um diese Dimension geht es hier, um die Bedrohung der Demokratie. Das wiederum darf keine Partei hier im Bundestag einfach aussitzen.
Ich konstatiere: Das Internet und die Geheimdienste
sind zu einer unheiligen Allianz verkommen. Schon
wird öffentlich über das Ende des Internets philosophiert. Die Freiheit des Internets und geheime Dienste
widersprechen sich. Also muss man sich entscheiden.
Die Linke sagt: für das Internet und gegen Geheimdienste.
({4})
Denn das ist die zweite große Dimension des NSASkandals: die Freiheit des Internets als soziale, kulturelle
und wirtschaftliche Grundlage der Zukunft. Ein geheimes Antispionageabkommen zwischen Geheimdiensten
ist dafür ein Witz ohne Lacher.
({5})
Das taugt vielleicht für die nächste James-Bond-Folge,
aber nicht für das richtige Leben.
({6})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Michelle
Müntefering, der ich hiermit das Wort erteile.
({0})
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Eine Bemerkung vorab: Ich bin gerade etwas mehr als
100 Tage hier, und das ist meine erste Rede an diesem
Pult. Ich habe mich aber im Plenarsaal umgesehen. In
diesen kleinen Schubladen vor Ihnen kann man nicht nur
gut Bonbonpapiere verschwinden lassen, sondern darin
findet sich auch das vielleicht stärkste Stück deutscher
Demokratie. Darin liegt ein Buch, so groß wie eine Postkarte, das Stück Papier, das nichts von seiner Kraft und
von seiner Stärke eingebüßt hat seit dem Tag, an dem es
von unseren Müttern und Vätern verabschiedet wurde;
ich müsste wohl eher sagen: von unseren Großmüttern
und Großvätern. Das Grundgesetz zu beschützen, dazu
haben wir uns gemeinsam verpflichtet. Um nichts weniger geht es auch in dieser Debatte heute hier: die Demokratie verteidigen im digitalen Zeitalter.
({0})
„Ungefährdet ist Demokratie nie“ - so formulierte es
Heinz Westphal, ehemals Bundestagsvizepräsident und
Abgeordneter meiner Heimatstadt Herne. Er sprach aus
den Erfahrungen einer anderen Zeit, einer Zeit fernab
der Demokratie, die uns ewig Mahnung bleiben muss,
auch meiner Generation. Heute ist Demokratie in
Deutschland - bei allen Abstrichen - ein gelungener Teil
unseres Zusammenlebens. Ungefährdet jedoch ist sie
auch heute nicht, auch nicht in einer veränderten, in einer digitalisierten Welt. Das gilt insbesondere mit Blick
auf Möglichkeiten der Überwachung, der Aufzeichnung,
Speicherung und Analyse durch die von Menschen gemachten Maschinen. Das hat uns Edward Snowden
schmerzvoll vor Augen geführt.
Dass zahlreiche Schriftstellerinnen und Schriftsteller
jetzt aufschreien: „Ein Mensch unter Beobachtung ist
niemals frei; und eine Gesellschaft unter ständiger Beobachtung ist keine Demokratie mehr“, muss uns zum
Handeln bewegen. Aufklärung muss der erste Schritt
sein. Für diese Aufklärung allerdings gilt der Satz einer
deutschen Schriftstellerin, die diesen Aufruf nicht mehr
unterzeichnen konnte, Ingeborg Bachmann: „Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar.“
Als Parlamentarier brauchen wir den Mut, den Menschen nichts vorzumachen und uns selbst auch nicht.
Meine Generation ist mitten in die digitale Revolution
hineingeboren. Die Schallplattensammlung tragen wir
täglich im Handy mit uns herum. Wir zoomen Bildschirme per Fingerzeig, und wir fragen nicht nach dem
Weg, sondern programmieren das Navigationssystem.
Wenn wir Fragen stellen, dann antworten manchmal
auch Wikipedia oder Siri; das ist die digitale Gesprächspartnerin aus dem iPhone.
Aber Digitalisierung ist viel mehr. Sie verändert wirtschaftliche Zusammenhänge. Sie eröffnet neue Geschäftsmodelle, sie wirkt sich auf das staatliche Handeln
aus, und sie reicht auch tief in die Privatheit des Einzelnen. Wir sind in der Verantwortung dafür, ob wir unser
Wissen für ein selbstbestimmtes Leben und für den Fortschritt nutzen, ob wir die Chancen erkennen und die Risiken in den Griff kriegen.
({1})
Unsere Aufgabe ist es, wieder eine Balance zwischen
Freiheit und Sicherheit zu finden. Das geht; das kann
man hinkriegen.
Es ist offensichtlich: Der Missbrauch durch Geheimdienste, auch durch Unternehmen und staatliche Institutionen hat zu großem Vertrauensverlust geführt. Wenn
ich schon von Generationen spreche: Nicht nur meine
Generation hat in den letzten Jahren einen tiefen Vertrauensverlust in Bezug auf demokratische Prozesse, rechtsstaatliches Handeln und den Primat der Politik erlitten.
Doch gerade für die jungen Menschen im Land ist die
tiefe Bindung zwischen Deutschland und den USA
längst nicht mehr selbstverständlich, auch nicht selbst
erlebt. Weil aber Amerika nicht nur in der Beziehung zu
Deutschland ein besonderes Land ist, muss man es ansprechen: Es gibt sie noch, die Hoffnung auf die Zukunft
der Demokratie. Deswegen ist es fatal, wenn diese Hoffnung Risse bekommt.
Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier hat an
dieser Stelle ein Völkerrecht für das Internet gefordert.
Ich will einen Schritt weitergehen: Es braucht multilaterale Verabredungen darüber, wie man miteinander umgeht, und darüber, was man nicht tut.
({2})
Eine Cyberrechtskonvention etwa müsste von Deutschland aus in der Welt vorangetrieben werden. Sie könnte
von anderen Ländern - nicht nur in Europa - unterstützt
und ratifiziert werden. Das wäre ein Schritt in die richtige Richtung.
Wir müssen darauf achten, dass sich in einer digitalisierten Welt ein Ideal nicht durchsetzt: „Je berechenbarer, desto gesünder, effizienter und funktionsfähiger der
Mensch“; denn das können unsere Großväter und Großmütter nicht gemeint haben mit „Die Würde des Menschen ist unantastbar“. Das Grundgesetz verbietet es,
den Menschen zum Informationsobjekt zu machen.
({3})
Die Herausforderungen stammen aus der analogen
Welt; aber sie sind geblieben. Es gilt, sie zu übertragen.
Wir müssen darüber entscheiden, wie ein digitaler Markt
auch ein demokratiekonformer Markt sein kann, wie der
Staat die Rechte der Bürger auch im weltweiten Netz geMichelle Müntefering
währleistet, wie Eingriffe in die Privatsphäre geahndet
werden. Dann kann es gelingen, die Demokratie in der
digitalisierten Welt nicht bloß zu verteidigen, sondern sie
durch Mitbestimmung, Aufklärung und Bildung für eine
neue Generation, für eine digital mündige Generation zu
stärken.
Deswegen noch ein paar Worte zu den Forderungen
der Bündnisgrünen. Ja, wir müssen Menschen schützen,
die ihr Leben einsetzen, um Rechtsstaatlichkeit zu bewahren. Diejenigen, die Grundrechte verletzen, müssen
sich erklären und verantworten. Ein Parlament, das
Grundrechte schützen soll, muss auch über Risiken informiert sein. Hier gilt es aber auch, unseren selbstgewählten
Vertretern im Parlamentarischen Kontrollgremium zu
vertrauen. Bezüglich der Vorratsdatenspeicherung kann
man Minister Maas nur unterstützen, die Unterscheidung
des EuGH jetzt abzuwarten.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, Sie erwecken
hier den Eindruck, als würden wir nichts oder das Falsche tun. Aber wir haben einen ersten Schritt gemacht
- wir haben einen NSA-Untersuchungsausschuss eingesetzt -, und einen zweiten Schritt machen wir mit dem
Einsetzen des Ausschusses Digitale Agenda. Einen dritten machen wir mit der Überführung der Stiftung Datenschutz in die Stiftung Warentest, und einen vierten, indem wir auch Datenschutz und Bürgerrechte vor dem
Hintergrund eines Marktwächters „digitale Welt“ stärken.
Ich sage Ihnen auch, wo in Ihrem Antrag Verbesserungsbedarf besteht: Auf dem verbraucherpolitischen
Auge nämlich ist er blind. Der Bürger als Verbraucher
wird in Ihrem Antrag kein einziges Mal erwähnt. Es sind
aber die Verbraucher, die Bücher, Filme und Reisen im
Internet kaufen, die über das Netz private Beziehungen
pflegen und ihrem Computer sensible Daten anvertrauen.
Sie müssen wir vor Missbrauch schützen. Deswegen muss
es zukünftig auch eine gesetzliche Regelung dazu geben,
dass Unternehmen, die etwa im Scoringverfahren mit
Daten handeln, verpflichtet werden, gegenüber einer Behörde anzuzeigen, welche Daten sie verwenden. Hier ist
der Gesetzgeber gefordert.
Klagen und Anklagen stellen nicht Vertrauen wieder
her. Verbraucherbildung, Verbraucherinformation und
Verbraucheraufklärung kommen bei Ihnen jedoch überhaupt nicht vor.
Techniken zum Schutz der Privatsphäre zu fördern,
kann ein richtiger Ansatz sein; ganz sicher werden der
verstärkte Einsatz von Verschlüsselungstechniken, hohe
Datenschutzstandards und eine Technikfolgenabschätzung für Infrastrukturen wichtiger.
Klare Regeln braucht es ebenfalls: Persönliche Daten
zu missbrauchen, muss ebenso bestraft werden, wie eine
Tonne mit Chemikalien in den Wald zu schmeißen.
({4})
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, es gibt viel zu
tun im digitalen Zeitalter, auch wenn wir dem Antrag der
Bündnisgrünen heute so nicht zustimmen. Wir werden
aber im Ausschuss noch im Detail darüber sprechen, mit
welchen Mitteln wir unsere Demokratie im digitalen
Zeitalter verteidigen. Einen ersten Aufschlag hat die
GroKo gemacht.
Ich freue mich, dass ich mithelfen darf, bedanke mich
für Ihre Aufmerksamkeit und schließe mit einem traditionell analogen Gruß aus meiner Heimat, dem Bergmannsgruß: Glück auf!
({5})
Kollegin Müntefering, ich gratuliere Ihnen zu Ihrer
ersten Rede im Deutschen Bundestag und wünsche Ihnen viel Erfolg für Ihre weitere Arbeit.
({0})
Das Wort hat die Kollegin Andrea Lindholz für die
CDU/CSU-Fraktion.
({1})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Im Kern dreht sich die heutige Debatte nicht
nur um das völlig inakzeptable Vorgehen einiger Nachrichtendienste, sondern um eine der zentralen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts: Wie können wir unsere
nationalen Rechte in einer globalen Ordnung verankern
und sie gleichzeitig von der realen Welt in eine grenzenlose und sich stetig weiterentwickelnde digitale Welt
übertragen?
Als Antwort auf diese komplexe Frage gibt unser Koalitionsvertrag als Ziel ein „Völkerrecht des Netzes“ aus,
um den Grundrechten der Bürgerinnen und Bürger auch
im grenzenlosen Internet Geltung zu verschaffen. Dieses
Ziel ist im Grundsatz absolut richtig. Natürlich brauchen
wir auch im Internet verlässliche Regeln, die dem Einzelnen den Schutz seiner Grundrechte, den Schutz vor
Kriminalität, staatlicher Willkür oder unternehmerischem Missbrauch sichern. In diesem Punkt herrscht Einigkeit. Wir diskutieren heute also nicht über das Ziel,
sondern über den richtigen Weg dorthin.
Wenn man den Maßnahmenkatalog des Antrags
durchliest, bekommt man den Eindruck, Deutschland
solle diesen schwierigen Weg unbedingt allein gehen. Es
wird unter anderem gefordert, dass die USA sich vor
dem UN-Menschenrechtsausschuss verantworten sollen
und dass Großbritannien auf EU-Ebene mit einem Vertragsverletzungsverfahren überzogen wird. Ich kann verstehen, dass man angesichts der schwerwiegenden Vorwürfe
und des unannehmbaren Verhaltens hart durchgreifen
möchte. Diese Maßnahmen sind langfristig aber nicht
zielführend.
Ein „Völkerrecht des Netzes“, das diesen Namen verdient, werden wir niemals gegen die USA und Großbritannien durchsetzen können, sondern nur gemeinsam mit
ihnen.
({0})
Man darf nicht vergessen, dass Länder wie Russland
oder China dieses Thema ganz anders beurteilen.
Natürlich müssen wir Amerikanern und Briten klarmachen, dass der Rechtsstaat im digitalen Zeitalter nicht
an Landesgrenzen aufhört und dass wir die aktuellen
Vorkommnisse auf das Schärfste verurteilen. Das Internet darf für niemanden ein rechtsfreier Raum sein.
Die Bundesregierung lässt dem Generalbundesanwalt zu Recht freie Hand bei der Entscheidung, ob ein
Ermittlungsverfahren eröffnet wird. Allein mit deutschem Strafrecht aber - das ist unabhängig vom Ergebnis seiner Prüfung - werden wir die Bürgerrechte im globalen Netz nicht schützen.
Bereits in der Debatte im November wurden an dieser
Stelle einige Aufgabenfelder für uns aufgezeigt. In
Deutschland muss das IT-Sicherheitsgesetz verabschiedet werden und müssen Sicherheitslücken in unserer
IT-Infrastruktur konsequent geschlossen werden. Auf
europäischer Ebene müssen wir die EU-DatenschutzGrundverordnung gewissenhaft umsetzen. Innenminister
Friedrich hat erst in dieser Woche im Innenausschuss geäußert: Sie muss sitzen.
({1})
- Entschuldigung! Danke. Innenminister de Maizière.
Die Rede von US-Präsident Obama zur NSA-Affäre
vom 17. Januar war kein Grund zum Jubeln. Obama hat
aber öffentlich anerkannt, dass einer demokratischen Nation wie den USA die Bürgerrechte anderer Nationen
nicht gleichgültig sein dürfen. Die US-Regierung sieht
endlich Handlungsbedarf. Im Kongress und in der Bevölkerung wird die Kritik an den eigenen Diensten immer lauter. Diesen Prozess des Umdenkens müssen wir
vorantreiben. Die bisherigen Interventionen der Bundesregierung haben dazu sicherlich beigetragen.
Wenn wir aber nun, wie im Antrag gefordert, die bestehenden Abkommen mit den USA einseitig aufkündigen, dann frieren wir den laufenden Dialog ein.
({2})
Das seit 2010 diskutierte Datenschutzabkommen zwischen der EU und den USA wäre dann endgültig hinfällig. Die bestehenden Abkommen - darin sind wir uns
doch einig - sollen reformiert und ausgebaut werden.
Auch in den Beratungen zum Freihandelsabkommen mit
den USA muss der Datenschutz neben vielen anderen
Fragen, die dort zu klären sind, eine zentrale Rolle spielen. Solche Verträge zwischen der EU und den USA sind
doch der beste Ansatz, um unsere Standards in den USA
nachhaltig zu verankern. Würden wir den Forderungen
im Antrag folgen, gefährdeten wir die notwendigen Verhandlungen. Deswegen ist dieser Antrag abzulehnen.
Der Antrag enthält aber auch obsolet gewordene Forderungen. Die Kontrolle der deutschen Geheimdienste
obliegt dem Parlamentarischem Kontrollgremium. Zudem werden wir den NSA-Untersuchungsausschuss einsetzen. Wir hoffen, damit neben Transparenz auch für
Aufklärung zu sorgen.
Ich möchte an dieser Stelle auf die grundsätzliche
Notwendigkeit von handlungsfähigen Geheimdiensten
hinweisen. Diese Meinung teilt im Übrigen auch Edward
Snowden. Er hat in einem Internet-Chat geschrieben:
Nachrichtendienste müssen eine Rolle spielen. Die
Leute auf der Arbeitsebene bei NSA, CIA oder jedem anderen Mitglied der nachrichtendienstlichen
Gemeinschaft sind nicht unterwegs, um euch zu
kriegen. Es sind gute Leute, die versuchen, das
Richtige zu tun.
Ich plädiere daher dafür, die Diskussion über Bürgerrechte im Netz auf eine strategische Weise zu führen.
Letztendlich bringt uns das beste Abkommen nichts,
wenn es nur bilateral geschlossen oder auf der Entscheidungsebene ignoriert wird.
Rechtsstaatliche Werte müssen in einer Demokratie
für Entscheidungsträger selbstverständliche Grundlage
ihres Handelns sein. Wir brauchen einen fundamentalen
Kulturwandel im Umgang mit dem Internet und unseren
digitalen Möglichkeiten auf allen Ebenen. Wir müssen
auch erkennen: Je mehr Bereiche unseres Alltages wir in
das Internet verlagern, desto dringender werden natürlich Fragen nach dem Verhältnis von Sicherheit und
Freiheit im Netz. Wer die Vorratsdatenspeicherung nicht
einführen will - wir werden dazu in der nächsten Woche
sicherlich noch Diskussionen in diesem Hause führen -,
muss den Opfern und Angehörigen bei schweren Straftaten und Gefahr für Leib und Leben erklären, warum er
diese Vorratsdatenspeicherung ablehnt.
({3})
Laut Polizeilicher Kriminalstatistik stieg die Internetkriminalität allein im Jahr 2012 um fast 8 Prozent. Die
Delikte aus dem Bereich „Datenveränderung, Computersabotage“ nahmen um 134 Prozent zu. Die Dunkelziffer dürfte noch höher sein; denn bekanntermaßen werden
viele Verbrechen im Internet, in der digitalen Welt gar
nicht erst zur Anzeige gebracht.
Freiheit und Sicherheit sind zwei Seiten derselben
Medaille. Es gibt keine echte Freiheit im weltweiten
Netz, wenn dort das Recht des Stärkeren herrscht, egal
ob es ein Geheimdienst, ein Wirtschaftsunternehmen
oder ein einzelner krimineller Hacker ist. Nur gemeinsam können wir internationale Lösungen finden - nur
miteinander, nicht gegeneinander -, um unsere bürgerlichen Grundrechte, so wie es im Antrag gefordert wird, in
der digitalen Welt zu verankern.
({4})
Der Kollege Gerold Reichenbach hat für die SPDFraktion das Wort.
({0})
Es tut mir leid. Ich gratuliere Ihnen gern zu Ihrer ersten Rede, wenn das so ist. Der Präsident hat mir leider
keine entsprechende Nachricht hinterlassen.
({1})
- Ich wurde gerade darauf aufmerksam gemacht. Dann
gratuliere ich zur zweiten Rede.
({2})
Allerdings wollen wir das nicht zur Regel werden lassen, weil wir sonst nicht mit der Tagesordnung durchkommen.
Gerold Reichenbach hat das Wort.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr geehrte Schriftsteller auf der Tribüne, Sie haben mit
Ihrem Apell auf ein grundlegendes Problem aufmerksam
gemacht, dem wir als Parlamentarier, als Staat und als
Gesellschaft beim Eintritt in dieses neue digitale Zeitalter gegenüberstehen. Auch der Präsident des Europäischen Parlaments, unser Spitzenkandidat für die Europawahl, Martin Schulz - das ist ja schon erwähnt worden -,
hat in dieser Woche in einem beeindruckenden Aufsatz
das totalitäre Potenzial des Internets und der digitalen
Revolution deutlich gemacht. Er hat das treffend beschrieben: Wir stehen vor großen Herausforderungen. Übrigens, lieber Herr Konstantin von Notz, bei allem
Bemühen, sich in der Opposition zu profilieren, sollten
Sie hier nicht wahrheitswidrig behaupten, die SPD-Abgeordneten hätten im Europaparlament gegen die sichere
Aufnahme von Snowden gestimmt. Sie haben dafür gestimmt.
({0})
Die Möglichkeiten und Vorteile dieser neuen, digitalen Ära, von der viele sagen, sie werde prägender sein
als die industrielle Revolution, sind vielfältig. Sie betreffen den Wirtschaftsbereich, das Privatleben, die alltägliche Lebensführung, und die Möglichkeiten werden noch
immens steigen. Die Kehrseite dieser Medaille aber ist,
dass wir die Netze und ihre Nutzer besser schützen müssen; das ist eine wachsende Erkenntnis. Trotz dieser Erkenntnis, die schon oft, zuletzt in der Enquete-Kommission „Internet und digitale Gesellschaft“, thematisiert
wurde, haben uns die Offenbarungen von Snowden ein
Stück weit erschreckt. Das ist unter anderem Anlass für
die heutige Debatte. Es geht um den Umgang mit Datenkraken wie Google und Facebook, und es geht um die
Gefahr für unsere Demokratie, die von undurchsichtig
agierenden und unkontrollierten Nachrichtendiensten
und von der Zusammenarbeit zwischen beiden ausgeht.
Um es grundlegend zu formulieren: Es geht um unser
Demokratieverständnis in einem digitalen Zeitalter. Es
geht darum, wie wir den Anspruch des Grundgesetzes
- die Kollegin Müntefering hat es formuliert - auch im
digitalen Zeitalter umsetzen.
Dem Grundgedanken, dass der Staat die Bürgerinnen
und Bürger grundsätzlich schützen muss und dass umgekehrt der Bürger grundsätzlich vor der Übermacht des
Staates geschützt werden muss, folgt jetzt die Erkenntnis, dass dies bei weitem nicht reicht, dass es auch um
den Schutz der Daten im privaten und im persönlichen
Bereich geht. Dies gilt insbesondere im Verhältnis privater Organisationen und Wirtschaftsunternehmen zum Individuum. Denn viele Daten, die die Nachrichtendienste
nutzen - ich habe es angesprochen -, haben sie gar nicht
selbst erhoben. Vielmehr greifen die Dienste, teilweise
sogar auf legalem Wege, auf Daten zurück, die private
Wirtschaftsunternehmen en masse sammeln. Da ist es,
liebe Kollegen von der CDU, auch nicht damit getan, zu
sagen, jeder wisse, welche Daten er ins Interstellt stellt.
Niemand wusste, welche Daten die berühmte App
„Angry Birds“, die man gerne benutzt hat, um zu spielen, auf dem Smartphone abgreift und wohin diese Daten
gehen. Niemand wollte diese Daten bewusst für andere
ins Netz stellen. Die Leute, die die App benutzt haben,
wollten nur spielen; sie haben nicht mitbekommen, dass
sie sowohl von dem App-Produzenten als auch von der
NSA bis ins letzte Detail ausspioniert worden sind. Davor gilt es die Menschen in Zukunft zu schützen.
({1})
Die Intention der Wirtschaftsunternehmen für ihre
Datensammelwut ist die gleiche wie die der Nachrichtendienste, nämlich die Kontrolle über das Individuum.
Deswegen ist diese Agglomeration auch so gefährlich
für unsere Demokratie. Bei den einen geht es um das Individuum als Wirtschaftsobjekt, als Marktteilnehmer;
bei den anderen geht es um das Individuum als Staatsbürger und als potenzieller Gefährder. Das hat Konsequenzen weit über die Grenzen des Staates hinaus. Denn
die zunehmende Entgrenzung, die der digitalen Entwicklung zu eigen ist und die zum Teil auch ihre Vorteile ausmacht, ist gleichzeitig die neue Herausforderung. Datenschutz ist heute nicht mehr nur eine Frage des Schutzes
von Persönlichkeitsrechten, sondern auch eine Frage der
nationalen Sicherheit und der nationalen Souveränität.
({2})
Wenn Staaten die Fähigkeit verlieren, sich schützend vor
ihre Bürger zu stellen, egal ob gegenüber dem Ausspionieren durch fremde Mächte oder gegenüber dem Anspruch international agierender Konzerne, sich nicht
mehr an deutsches oder europäisches Recht halten zu
müssen, dann verlieren sie langfristig ihre Legitimation.
Das ist die eigentliche Herausforderung, vor der wir stehen.
({3})
Wir alle wissen: Das den Staaten zur Verfügung stehende Zoll- und Grenzregime ist in der digitalen Zeit
wirkungslos geworden. Wir müssen uns einmal anschauen, was die eigentliche Qualität dessen ist, was
Snowden offenbart hat. Bei aller Schwere des Vorgangs
ist es dennoch nicht die Tatsache, dass das Handy der
Kanzlerin und die Handys von Regierungsmitgliedern
ausspioniert wurden. Solche Abhöraktionen kennen wir
schließlich aus den letzten Jahrhunderten.
({4})
Die eigentlich neue Qualität ist, dass aufgrund der erhobenen Daten amerikanische Behörden in einer Art und in
einem Umfang Kontrolle über die Bürger der Bundesrepublik Deutschland erlangt haben, wie dies früher
noch nicht einmal möglich war, wenn man militärisch
einmarschiert ist und das Land besetzt hat. Das ist die eigentlich neue Qualität, der wir gegenüberstehen. Man
könnte es sogar auf die Spitze treiben und sagen: Im digitalen Zeitalter verliert zum Teil sogar das Militärische
seine Schutzfunktion.
Demokratie bedeutet für uns vor allem die Freiheit
des Einzelnen. Sie kann aber nur fortbestehen, wenn wir
es als Staat schaffen, die Integrität der informationstechnischen Systeme, die zum Teil Abbild der Persönlichkeit
und der eigenen persönlichen Ausdrücke, Empfindungen, Regungen und Beziehungen sind, zu schützen, was
durch das Grundgesetz und die Urteile des Bundesverfassungsgerichts zur Volkszählung, zur Vorratsdatenspeicherung und zu den sogenannten Bundestrojanern sichergestellt werden soll. Das ist die eigentliche Aufgabe,
dir vor uns liegt. Ich sage auch - durchaus konform mit
kritischen Stimmen -: Das werden wir nicht schaffen, indem wir die Überwachung weiter ausdehnen. Wir dürfen
nicht nur kritisieren, was andere an Kontrolle und Überwachung anstreben, sondern müssen auch zwischen der
Einengung der Freiheit und einer gebührend umfassenden Sicherheit qualitativ abwägen. Mit dieser Abwägung
werden wir uns jeden Tag befassen müssen. Das geht
nicht mit einem ideologischen Ja oder Nein. Dafür ist
dieser Abwägungsgegenstand viel zu schwierig.
({5})
Kollege Reichenbach, gestatten Sie eine Frage oder
Bemerkung der Kollegin Wawzyniak?
Ja, klar.
Kollege Reichenbach, ich möchte Sie direkt fragen.
Sie haben gerade über das Urteil des Bundesverfassungsgerichts gesprochen. Wie, denken Sie, soll das
Recht auf informationelle Selbstbestimmung eingehalten
werden, wenn der Justizminister, wie im Rechtsausschuss angekündigt, selbst bei einer Unzulässigkeit der
Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung ein deutsches
Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung vorlegen möchte,
und zwar präventiv, bevor eine neue EU-Richtlinie vorliegt, um mit diesem Gesetz auf eine neue Richtlinie
Einfluss zu nehmen? Ich frage Sie: Wie wollen Sie das
Recht auf informationelle Selbstbestimmung sicherstellen, wenn ohne EU-rechtliche Grundlage die Vorratsdatenspeicherung in Deutschland eingeführt werden soll?
({0})
Liebe Halina, die umständliche Art und Weise, wie du
deine Frage formulieren musstest, zeigt mir eigentlich
schon, dass du Heiko Maas offensichtlich falsch verstanden hast.
({0})
Er hat nicht gesagt, dass er für den Fall, dass die Richtlinie für unzulässig erklärt wird, ein Gesetz vorbereiten
wird. Das ist völliger Unsinn.
({1})
Wenn der Europäische Gerichtshof sagt, dass die Richtlinie als Ganze mit den europäischen Menschenrechten
nicht vereinbar ist, dann wird ein Rechtsstaat wie die
Bundesrepublik Deutschland nicht hingehen und sagen:
Aber wir machen trotzdem ein Gesetz, das auf dieser
Richtlinie basiert. - Das wäre ja geradezu rechtswidrig.
Das steht gar nicht zur Debatte.
({2})
Die Frage ist am Ende: Wie urteilt der Europäische
Gerichtshof? Welche Teile der Richtlinie werden aufgehoben? Welche Teile haben weiterhin Bestand? Gibt es
weiterhin - und darum geht es im Koalitionsvertrag eine Umsetzungspflicht? Oder: Ist durch das Urteil des
Europäischen Gerichtshofes die Umsetzungspflicht für
die Staaten, die die Richtlinie noch nicht umgesetzt haben, entfallen? Gibt es lediglich eine Übergangsfrist für
die Staaten, die sie bereits umgesetzt haben, und zwar so
lange, bis der europäische Gesetzgeber das Ganze neu
geordnet und neu aufgesetzt hat? Darum geht es. Es geht
nicht darum, nach dem alten Motto zu verfahren:
Schnurzegal, was die in Brüssel machen. Wir machen
das schon. - Dieses Bild, das Sie von der Koalition aus
CDU/CSU und SPD zu zeichnen versuchen, ist grundlegend falsch.
({3})
Lassen Sie mich zum Gegenstand zurückkommen.
Die Frage ist am Ende: Wie können wir das durchsetzen? Das wird nicht mit der Silver Bullet oder mit dem
Grundsatz „one fits all“ geschehen können. Dazu brauchen wir das Marktortprinzip, die Durchsetzung von Datenschutzanforderungen im Rahmen einer europäischen
Datenschutzverordnung gegenüber dem privaten Bereich, wonach Staaten von diesen Ansprüchen nicht einfach freigestellt werden und wonach jemand, der gesetzGerold Reichenbach
widrig Daten an Dritte preisgibt, ohne dass es ein
Abkommen zur Weitergabe gibt - egal wie die Rechtslage im jeweiligen Land ist -, Strafe fürchten muss. Wir
brauchen aber nicht nur das Marktortprinzip, sondern
auch das Prinzip der informierten Zustimmung. Dazu
gehört natürlich, dass wir die Daten, die wir in Europa
schützen, nicht relativ unkontrolliert bzw. mit schwacher
Kontrolle an Drittstaaten weitergeben oder weitergeben
lassen. Das heißt, wir müssen die europäischen Abkommen auf den Prüfstand stellen. Ich begrüße durchaus,
dass das Europäische Parlament die Kommission aufgefordert hat, das Safe-Habor-Abkommen auf den Prüfstand zu stellen und aufzukündigen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Edward Snowden
gehört unser Dank, die Debatte angestoßen zu haben.
({4})
Die Frage ist nicht, ob, sondern welche Konsequenzen
wir aus der NSA-Affäre ziehen müssen. Dazu kann der
Untersuchungsausschuss einen Beitrag leisten. Dem
sollten wir nicht mit dem, was die Grünen in der letzten
Legislaturperiode beantragt haben, vorgreifen.
Sehr geehrte Damen und Herren, Frau Präsidentin,
ich komme zum Schluss. Wir Sozialdemokratinnen und
Sozialdemokraten sehen es als Aufgabe an - das steht in
der Tradition unserer 150-jährigen Geschichte -, dafür
zu sorgen, dass das neue, digitale Zeitalter zu einem
Zeitalter der Freiheit und des Wohlstandes der Bürger
und nicht zu einem Zeitalter des fremdbestimmten Individuums durch Wirtschaftsinteressen und Kontrolleure
wird. Dafür werden wir uns in dieser Legislaturperiode
und in dieser Koalition einsetzen.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({5})
Zu einer Kurzintervention hat der Kollege Konstantin
von Notz das Wort.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Geschätzter Kollege
Reichenbach, weil Sie mich direkt angesprochen haben,
möchte ich klarstellen: Ich habe nichts Wahrheitswidriges behauptet, sondern es ist so. Bei einer Abstimmung
im Innenausschuss des EP in der letzten Woche haben
leider auch die SPD-Abgeordneten dem Antrag von Linken und Grünen, Edward Snowden Schutz zu gewähren,
nicht zugestimmt. Sie haben stattdessen die Vorlage verändert und daraus einen Prüfauftrag gemacht. Das zeigt
zum wiederholten Male: Wenn es in Bürgerrechtsfragen
ernst wird, dann ist auf Sie leider kein Verlass.
({0})
Sie haben das Wort zur Erwiderung.
Lieber Konstantin von Notz, ich mag dich ganz gerne.
Wir haben in vielen Bereichen durchaus gut zusammengearbeitet. Ich denke, wir werden das auch in Zukunft
tun.
({0})
Hinter deiner Frage steckt die alte Überheblichkeit,
die wir im Parlament immer wieder erleben: Wenn die
Grünen, manchmal auch die Linkspartei, in einem Antrag ein Thema oder eine Forderung formulieren, dann
ist jeder, der diesem Antrag nicht zustimmt, ihrer Meinung nach zugleich gegen das Thema oder die Forderung. Genau das ist falsch.
({1})
So geht das in einer Demokratie, die auf eine differenzierte Debatte angewiesen ist, nicht.
({2})
Das ist das Instrument der Schwarz-Weiß-Malerei, dessen wir uns nicht bedienen sollten.
({3})
Die Wahrheit ist, dass wir dem Antrag der Grünen
nicht zugestimmt, sondern eine Formulierung eingebracht haben, die auch den Schutz von Edward Snowden
intendiert und besagt: Es muss im Detail geprüft werden,
wie der Schutz vorzunehmen ist. - Wenn Ihnen Geheimdienstler sagen, dass die Forderung nach dem Schutz
von Edward Snowden zwar relativ leicht ausgesprochen
ist, aber nur schwer realisiert werden kann, dann muss
man diese Warnung ernst nehmen. Man kann das nicht
proklamatorisch mit einem scharfen Satz in der Resolution des Europäischen Parlaments wegfegen. Differenziertheit bedeutet nicht, dagegen zu sein, sondern offenbart im Gegenteil ernsthaftes Bemühen um die Sache.
({4})
Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun die Kollegin
Nina Warken das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Der Schutz der Bürgerinnen und Bürger muss
nach wie vor unser oberstes Ziel sein. Das betrifft zum
einen den Schutz vor Terrorismus und Kriminalität, ob
aus dem In- oder Ausland. Das betrifft zum anderen aber
auch den Schutz vor Ausspähung und Überwachung.
Diese beiden Seiten von Freiheit und Sicherheit bedingen sich gegenseitig. Sie miteinander in Einklang zu
bringen, ist jedoch nicht immer einfach.
Gemäß dem vorliegenden Antrag der Grünen soll der
Bundestag einen Aufruf von zahlreichen Schriftstellerin1138
nen und Schriftstellern unterstützen, in dem das Verhalten Deutschlands mit dem Fehlverhalten von anderen
Staaten und Unternehmen auf eine Stufe gestellt wird.
Wenn wir dem folgen, billigen wir, dass unser Land als
Überwachungsstaat beschrieben wird, der seine Bürger
- weil es ja technisch ganz einfach möglich ist -, wo es
nur geht, bespitzelt und ihre persönlichen Daten stiehlt.
Dem kann ich nur ganz entschieden widersprechen.
({0})
Es ist richtig: Die Privatsphäre der Bürgerinnen und
Bürger muss geschützt werden; da gebe ich dem Aufruf
recht. Das Internet und die modernen Kommunikationsmittel machen das zu einer immer größeren Herausforderung. Ebenso richtig ist, dass das systematische Ausspähen unserer Bürger durch US-Geheimdienste wie der
NSA in keinem Verhältnis zu berechtigten Sicherheitsinteressen steht, schon gar nicht, wenn es um das Abhören
von Regierungsmitgliedern geht. Zwischen befreundeten
Staaten ist das keine Art des Umgangs.
Die Bundesregierung und wir Innenpolitiker sind
hier, anders als von der Opposition behauptet, nicht tatenlos.
({1})
Der Dialog mit unseren amerikanischen Partnern wird
auf politischer Ebene konsequent weitergeführt und der
Druck auf sie erhöht. Nur so erreichen wir ein Umdenken auf amerikanischer Seite. Gleichzeitig müssen und
werden wir in dieser Sache im Interesse unserer Bürgerinnen und Bürger für größtmögliche Aufklärung sorgen.
({2})
Trotzhaltungen und die Blockademaßnahmen, die die
Opposition in ihrem Maßnahmenkatalog fordert, würden
diesen Prozess allerdings nur torpedieren und die Fronten verhärten.
({3})
Man darf außerdem nicht vergessen, dass dank der Informationen unserer amerikanischen Verbündeten bei
uns in Deutschland bislang glücklicherweise jeder Versuch eines Terroranschlages noch im Vorfeld vereitelt
werden konnte. Auch das vergisst der Aufruf der Schriftstellerinnen und Schriftsteller. Sie schreiben, dass Menschen unter Beobachtung niemals frei sind.
({4})
Aber ein Mensch, der sich bedroht fühlen muss, ist auch
nicht frei. Unser Ziel muss es sein, ein ausgewogenes
Maß zwischen Sicherheit und Freiheit herzustellen. Dafür brauchen wir unsere Partner in Europa, in Amerika
und in der ganzen Welt.
({5})
Bei der Diskussion über die Sicherheit im digitalen
Zeitalter wäre es falsch, wenn wir uns nur auf die NSAAffäre konzentrieren würden. Wir sollten nicht vergessen, welche Gefahr andere Staaten für unsere Unternehmen in puncto Wirtschaftsspionage darstellen. Das Gleiche gilt für Kriminelle, die die Daten unserer Bürger
stehlen, um sie für ihre Machenschaften zu missbrauchen.
Wie der Fall der entdeckten Botnetze und der 16 Millionen gestohlenen Zugangsdaten zeigt,
({6})
fühlen sich die Menschen in Deutschland im Internet
nicht mehr sicher. Aufgrund der jüngsten Entwicklungen
haben die Menschen ein erhöhtes Sicherheitsbedürfnis,
dem wir gerecht werden müssen. Deshalb wehre ich
mich dagegen, dass die Opposition diese Debatte jetzt
nutzen will, um unsere eigenen Sicherheitsbehörden zu
schwächen. Das würde die Umsetzung der von ihr geforderten Maßnahmen nämlich bedeuten.
({7})
Terroristen und Kriminelle operieren global und halten sich weder an Gesetze noch an internationale Abkommen. Deshalb werden wir auch in Zukunft einen engen Informationsaustausch mit unseren Verbündeten
brauchen. Gleichzeitig sollten wir darauf hinarbeiten,
technologisch unabhängiger zu werden. Das erreichen
wir, indem wir vermehrt auf IT-Lösungen made in Germany setzen und indem unsere Sicherheitsbehörden im
IT-Bereich personell und technisch besser ausgestattet
werden. Ebenso brauchen wir das geplante IT-Sicherheitsgesetz. Dieses verpflichtet Anbieter, mehr für den
Schutz ihrer Kunden zu tun. Gleichzeitig müssen Unternehmen Hackerangriffe künftig melden, damit gegen sie
wirksam vorgegangen werden kann.
In Sachen Datenschutz ist Datensicherheit nach wie
vor die beste Lösung. Neben verbesserten Verschlüsselungsmöglichkeiten sollten wir anstreben, dass der innerdeutsche Datenverkehr nur über Datenleitungen und
Server in Deutschland verläuft. Dann wäre auch das
Bundesdatenschutzgesetz, das im internationalen Vergleich das höchste Schutzniveau bietet, voll anwendbar.
Bei allen erforderlichen staatlichen Maßnahmen ist
aber auch jeder Einzelne selbst gefordert, etwas für seine
Sicherheit zu tun und verantwortungsvoll mit seinen Daten umzugehen. Mit sicheren Passwörtern, Vorsicht beim
Öffnen von E-Mail-Anhängen und einem kritischen Umgang mit Angeboten im Internet ist jedoch schon viel erreicht. Dafür müssen wir die Bürgerinnen und Bürger
noch mehr sensibilisieren.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das sind die Maßnahmen, die wir jetzt Schritt für Schritt umsetzen müssen, um Freiheit und Sicherheit im digitalen Zeitalter zu
gewährleisten. Ich bin mir sicher, dass die Bundesregierung mit dem Bundesinnenminister das gemeinsam mit
uns konsequent tun wird.
Vielen Dank.
({8})
Kollegin Warken, das war Ihre erste Rede im Deutschen Bundestag, dazu herzliche Glückwünsche. Ich
hebe besonders hervor, dass Sie nicht nur in der Redezeit
geblieben sind, sondern für Ihre Fraktion solidarisch sogar noch Redezeit gespart haben.
({0})
Das Wort hat der Kollege Dr. Volker Ullrich für die
Unionsfraktion.
({1})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor zwei Monaten haben 562 Schriftsteller einen Appell zur Verteidigung der Demokratie im digitalen Zeitalter unterzeichnet. Sie sorgen sich um die Würde des Menschen, um
den Schutz unserer Daten und um die Folgen massenhafter Ausspähung. Diese Sorgen teilen wir.
Unsere Befürchtungen und Sorgen gehen aber noch
weiter. Wir fragen uns auch: Was können die Gegner unserer Freiheit im Netz noch bewirken? Wie sieht es mit
Terrorismus aus, mit organisierter Kriminalität, mit
Netzwerken widerwärtiger Menschen, die das Wohl unserer Kinder bedrohen, oder mit Hackerangriffen gegen
unsere Versorgungsstrukturen? Das alles sind Angriffe
auf unsere Freiheit. Wir sehen: Der Rechtsstaat kann nur
so stark sein kann, wie er auch den Schutz unseres Gemeinwesens und dessen, was uns wichtig ist, gewährleistet. Es ist eben doch das alte Spiel zwischen Sicherheit
und Freiheit.
({0})
Ein Minimum an Sicherheit kann niemals maximale
Freiheit gewährleisten.
({1})
Wir müssen Sicherheit und Freiheit nicht nur in die Balance bringen, sondern auch darauf achten, dass die Sicherheit so groß ist, dass der Mensch frei leben kann.
({2})
Wir tragen gemeinsam Verantwortung für das, was
jetzt zugunsten unserer Demokratie im digitalen Zeitalter geschieht. Deswegen sind Lösungen angebracht: Gesetzentwürfe, Verordnungen. Das ist wesentlich wichtiger als die Litanei der Empörung. Das ist auch
wesentlich wichtiger, als Befürchtungen und Angst zu
schüren. In diesem Zusammenhang sei an eine Rede erinnert, die Ernst Wiechert vor annähernd 90 Jahren vor
Abiturienten gehalten hat. Er hat damals so ähnlich formuliert: Ich weiß nicht, ob ich euch etwas gegeben habe,
aber ich hoffe, dass ich euch etwas genommen habe,
nämlich die Angst, die Angst vor der Zukunft, die Angst
vor der Politik und die Angst vor dem Leben. - Es ist unsere Aufgabe als Politiker, jetzt, in einer Situation, in der
Menschen Befürchtungen haben, in der Menschen vielleicht besorgt sind und Ängste haben, diese Ängste zu
nehmen, aber diese Ängste nicht in einem Antrag zu formulieren, der keine Lösungen aufzeigt.
({3})
Lassen Sie uns gemeinsam daran arbeiten, dass die zivilisatorischen Errungenschaften des Internets, die Akquise von Wissen, das Ausleben von Meinungsfreiheit,
das Knüpfen von Kontakten und die Erleichterung des
täglichen Lebens, unter Berücksichtigung von Datenschutz und Schutz der Privatsphäre erhalten bleiben.
Lassen Sie uns gemeinsam daran arbeiten, dass die Demokratie im digitalen Zeitalter ähnlich gut funktioniert,
wie die Demokratie im analogen Zeitalter funktioniert
hat. Lassen Sie uns gemeinsam die Demokratie im digitalen Zeitalter leben, eine Demokratie, welcher die Menschen vertrauen, weil sie den Rechtsstaat und unsere
Grundrechte schützt.
({4})
Kollege Dr. Ullrich, das war Ihre erste Rede im Deutschen Bundestag. Ich wünsche Ihnen sehr viel Erfolg für
Ihre weitere Tätigkeit und hebe hervor, weil das gar
keine Selbstverständlichkeit ist, dass Sie mit Ihrer Redezeit sehr gut haushalten konnten.
({0})
Als letzter Redner in dieser Debatte hat der Kollege
Marian Wendt für die Unionsfraktion das Wort.
({1})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! In der Debatte, die wir heute führen, wurden die
Probleme und Chancen der digitalen Welt aufgeführt.
Ich bin sehr dankbar, dass wir diese Debatte geführt haben. Ich bin der festen Überzeugung, dass wir gerade
erst am Beginn des Weges zur Neuregelung des Internets
und des Lebens und Wirkens darin stehen.
Insofern danke ich den Grünen für den Antrag und die
Möglichkeit einer Debatte.
({0})
Das war es dann aber auch schon mit dem Lob; denn leider kann ich ansonsten kaum Positives über den Antrag
berichten.
({1})
- Sechs Minuten zwanzig. - Meine Vorredner haben die
wesentlichen Kritikpunkte bereits benannt. Was mich
insbesondere stört, ist die sehr unreflektierte Intonation
Ihrer Begründung. Wer Ihre Zeilen gelesen und Ihre Debattenbeiträge verfolgt hat, könnte glauben, die Bundesrepublik sei ein autokratisches Entwicklungsland und
stünde erst am Beginn des demokratischen Zeitalters.
({2})
- Ich habe hier sehr gut gelesen und der Debatte zugehört. - In dem Antrag ist zum Beispiel davon die Rede,
dass das Persönlichkeitsrecht und die Unverletzlichkeit
des Individuums - ich zitiere - „inzwischen null und
nichtig“ seien. Mit welcher Leichtigkeit Sie hohe Verfassungsgüter unseres demokratischen Rechtsstaates verworfen sehen wollen, ist schon sehr bedenklich.
({3})
Das Recht der Opposition auf Kritik in allen Ehren, aber
ich finde, viele Ihrer Formulierungen sind maßlos übertrieben. Ihr Antrag ist pauschalisiert und greift insgesamt
zu kurz.
Ich möchte deswegen die Möglichkeit nutzen, hier in
der Debatte zwei Punkte zu betonen: erstens die Eigenverantwortung der Bürgerinnen und Bürger bei der Sicherheit im Internet und zweitens das Verhältnis von Internet und Demokratie, so wie es die Überschrift des
Antrages erahnen lässt.
Zum ersten Punkt möchte ich Folgendes sagen: Eigenverantwortung im Internet und im Umgang mit digitalen Medien spielt eine sehr wichtige Rolle. 80 Prozent
der Menschen in unserem Land nutzen das Internet zumindest gelegentlich, die breite Mehrheit der Internetnutzer hegt aber Misstrauen gegenüber dem Medium.
Nach einer Umfrage des Verbandes BITKOM halten
80 Prozent der Menschen in unserem Land ihre persönlichen Daten im Internet für nicht sicher.
({4})
Es ist natürlich richtig: Politik und Wirtschaft tragen
Verantwortung für mehr technische und rechtliche Sicherheit im Netz - was auf diesen Feldern geleistet wird,
haben meine Vorredner angesprochen -, aber das ist
eben nur eine Seite der Medaille. Auf der anderen Seite
sind ein größeres Sicherheitsbewusstsein und mehr Eigenverantwortung der Internetnutzer notwendig. Das
Thema Bildung, besonders bei jungen Menschen, spielt
dabei eine wichtige Rolle. Dem trägt die Koalition mit
der Strategie „Digitales Lernen“ Rechnung. Gemeinsam
mit den Ländern und Akteuren aus dem Bildungsbereich
wollen wir die Chancen der neuen Medien für gute Bildung entschlossen nutzen, entwickeln und umsetzen. Zudem wollen wir zusammen mit den Ländern die Weichen
für neue Profile im Fachbereich Informatik stellen, um
das Zukunftsthema IT bei jungen Menschen noch stärker
zu fördern und damit die Eigenverantwortung zu stärken.
Allgemein gesprochen ist der Bereich Eigenverantwortung natürlich ein breites Feld mit vielen Aspekten.
Das fängt bei grundsätzlichen Fragen an wie: „Welche
Daten gebe ich im Netz von mir preis?“, „Was zahle ich
als Nutzer für Dienste von E-Mail-Providern und Betreibern von sozialen Netzwerken, die eigentlich kostenlos
sind?“. Hier sollte einerseits der Grundsatz gelten: so
wenig Persönliches wie möglich, so viel wie nötig. Andererseits muss den Internetnutzern auch klar sein, dass
sie bei kostenlosen Angeboten im Internet oftmals mit
ihren persönlichen Daten zahlen.
Wer das nicht möchte, kann auf viele Alternativanbieter zurückgreifen. Gerade in Deutschland und besonders
hier in Berlin gibt es beispielsweise viele E-Mail-Anbieter, die hinsichtlich Datenschutz und Verschlüsselung
sehr benutzerfreundliche Angebote machen. Wir können
mit den Unternehmen und gesellschaftlichen Initiativen
noch mehr erreichen. Sicherheit muss eine Selbstverständlichkeit für die Internetnutzer werden, für die jeder
etwas tun kann. Aspekte wie die Verschlüsselung und
Anonymisierung der Daten im Netz dürfen keine Nischenthemen für IT-Begeisterte sein.
({5})
Sie müssen bei der breiten Mehrheit der Internetnutzer ankommen. Das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik, das in den letzten Monaten sehr oft
gerügt wurde, sendet hierfür wichtige Impulse, zum Beispiel mit Initiativen wie „Deutschland sicher im Netz“
und dem „Safer Internet Day“. Insofern plädiere ich mit
Nachdruck dafür, die Verunsicherung aufgrund der nachrichtendienstlichen Aktivitäten auch als Chance zu begreifen. Durch verstärkte Information und Aufklärung
können Internetnutzer befähigt werden, sich selbst im
Netz zu schützen und sensibel mit persönlichen Daten
umzugehen.
Zu meinem zweiten Gedanken, dem Verhältnis von
Internet und Demokratie. Das Internet ist als Medium für
eine demokratische Gesellschaft wichtig. Es kann dabei
helfen, demokratische Verfahren zu vereinfachen und zu
verbessern. Damit kann das Internet für eine höhere Akzeptanz unseres demokratischen Miteinanders sorgen.
Allerdings warne ich vor zu viel Träumerei. Denn Demokratie findet nicht nur online statt. Das mussten die
Grünen leidvoll erfahren, als sich an ihrer Kandidatenkür für die Europawahlen im Netz nur 22 676 Menschen
beteiligten.
({6})
Wahlberechtigt waren 380 Millionen. Das ist eine Wahlbeteiligung von 0,006 Prozent.
({7})
Diese Zahlen zeigen, dass wir gerade außerhalb des
Internets mehr Menschen für unser demokratisches System begeistern müssen. Ein Beispiel dafür fand gestern
statt, als über 11 000 Menschen ein klares Zeichen für
unsere Demokratie gesetzt haben. Sie haben eine Menschenkette für Freiheit, für Demokratie und für RechtsMarian Wendt
staatlichkeit durch Dresden gebildet. Dieses gesellschaftliche Engagement der Menschen gestern hat mir
wieder einmal gezeigt, dass Demokratie eben mehr ist
als ein Klick auf den Gefällt-mir-Button.
Demokratie braucht den persönlichen Einsatz der
Bürgerinnen und Bürger offline vor Ort. Das Medium
Internet kann nie eine hinreichende Bedingung für ein
demokratisches Gelingen sein.
({8})
Selbst Bill Gates hat das erkannt. Er hat einmal gesagt:
„Die Informationstechnologie ist kein Allheilmittel. Das
ist natürlich eine Enttäuschung für all diejenigen, die
von PC und Internet die Lösung aller Menschheitsprobleme erwarten.“
Sie sehen: Wir stehen im Bereich der Netzpolitik und
der digitalen Agenda noch vor vielen Herausforderungen. Wir alle, Parlament und Gesellschaft, sind aufgefordert, uns hier einzubringen und aktiv daran mitzuwirken.
Der pauschale Antrag der Grünen greift hier leider zu
kurz. Deshalb können wir ihm nicht zustimmen.
Vielen Dank.
({9})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/182 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Erleichterung der Bewältigung von Konzerninsolvenzen
Drucksache 18/407
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz ({0})
Finanzausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Sobald die offensichtlich erforderlichen Umgruppierungen in den Fraktionsreihen abgeschlossen sind, kann
ich auch die Aussprache eröffnen. - Ich eröffne die Aussprache.
Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär
Christian Lange.
({1})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Weder das europäische noch das deutsche Insolvenzrecht enthält bisher Regelungen dafür, wie die Insolvenz eines gruppenangehörigen Unternehmens mit einem für die Gläubiger möglichst optimalen Ertrag
abgewickelt werden kann.
Dies ist, so meine ich, angesichts der gesamtwirtschaftlichen Bedeutung dieser Unternehmen zumindest
bemerkenswert. So hat die Monopolkommission in ihrem Hauptgutachten aus dem Jahr 2010 festgestellt, dass
zwar nur 6,3 Prozent der in den Unternehmensregistern
verzeichneten Unternehmen gruppenzugehörig sind, die
gruppenzugehörigen Unternehmen jedoch - das ist gewaltig - einen Umsatzanteil von 70 Prozent und einen
Beschäftigungsanteil von 53 Prozent auf sich vereinen.
Ergänzend sei noch auf die Folgenabschätzung der EUKommission zur Novellierung der Europäischen Insolvenzverordnung hingewiesen, wonach EU-weit 2 100 Unternehmen pro Jahr von einer Insolvenz ihrer Unternehmensgruppe betroffen sind.
Diesem Defizit wollen wir mit dem vorliegenden Gesetzentwurf nun abhelfen. Dabei wollen es bei einem
- wenn ich das einmal so ausdrücken darf - minimalinvasiven Eingriff belassen: Die haftungsrechtliche Unabhängigkeit der einzelnen Gesellschaften soll auch in
der Insolvenz nicht grundlegend durchbrochen werden.
Wir haben deshalb einer Konsolidierung der Haftungsmassen eine eindeutige Absage erteilt.
({0})
Der Schwerpunkt des Gesetzentwurfes liegt vielmehr
auf einer Harmonisierung der einzelnen Verfahren über
die konzernangehörigen Gesellschaften. Über Gerichtsstands- und Verweisungsregelungen wird eine abgestimmte Durchführung der Verfahren angestrebt, um so
möglichst mehrere oder alle Verfahren über gruppenangehörige Schuldner bei einem Gericht bündeln zu können.
Eine wesentliche Schwachstelle des geltenden Rechts
besteht darin, dass für die einzelnen insolventen Gesellschaften der Unternehmensgruppe mehrere Gerichte zuständig sein können, von denen unterschiedliche Insolvenzverwalter bestellt werden. Dies erfordert einen
erheblichen Abstimmungsbedarf sowohl auf der Ebene
der Gerichte als auch auf der Ebene der Insolvenzverwalter. Um diesen Abstimmungsbedarf, der in den Verfahren zu Reibungsverlusten führen kann, möglichst gering zu halten, sind im Entwurf mehrere Ansätze
vorgesehen:
Zum einen wird für insolvente Gesellschaften, die einen Eigenantrag stellen, die Möglichkeit eröffnet, einen
Gruppengerichtsstand zu begründen. An diesem Gruppengerichtsstand sollen die Insolvenzverfahren über
weitere gruppenangehörige Gesellschaften geführt werden können, sodass der Abstimmungsbedarf auf der
Ebene der Insolvenzgerichte vollständig entfällt. Das
Gericht erhält nun die Möglichkeit, für alle bei ihm konzentrierten Verfahren einen einzigen Insolvenzverwalter
zu bestellen, sodass auch insofern kein Koordinierungsbedarf mehr besteht. Dabei versteht es sich von selbst,
dass das Gericht darauf zu achten hat, dass bei dieser
Person keine unüberwindlichen Interessengegensätze
auftreten, die auch durch die Bestellung eines Sonderinsolvenzverwalters nicht ausgeräumt werden können.
Wird kein Gruppengerichtsstand begründet und müssen deshalb die Insolvenzverfahren bei unterschiedlichen Gerichten geführt werden, sieht der Gesetzentwurf
mehrere Regelungen vor, die die Zusammenarbeit zwischen den Gerichten, aber auch zwischen den Gerichten
und den Verwaltern gegenüber dem geltenden Recht verbessern.
Der für die Praxis bedeutsamste Bereich dürfte dabei
die Zusammenarbeit der Insolvenzverwalter sein. Nur
bei deren enger Kooperation kann es gelingen, im Interesse der Gläubiger den Mehrwert zu heben, der in den
konzernrechtlichen Verflechtungen angelegt sein kann.
Die Notwendigkeit einer Abstimmung ist insbesondere
dann unerlässlich, wenn die einzelnen Unternehmen der
Gruppe so eng verwoben sind, dass sie ohne die Leistungen der anderen nicht überlebensfähig sind.
Aber nicht nur den Insolvenzgerichten und den Verwaltern wird eine enge Kooperation vorgeschrieben;
vielmehr sollen auch die Gläubiger in den Abstimmungsprozess einbezogen werden. Der Gesetzentwurf
sieht deshalb die Schaffung eines Gruppengläubigerausschusses vor, in dem sich die Gläubigerausschüsse der
gruppenangehörigen Schuldner abstimmen können.
Besteht ein darüber hinausgehender Harmonisierungsbedarf, dem nicht mit den eben geschilderten Instrumenten ausreichend Rechnung getragen werden
kann, wird im Gesetzentwurf die Möglichkeit eröffnet,
ein besonderes Koordinationsverfahren einzuleiten. Dieses Verfahren ist weitgehend auf Konsens angewiesen
und sieht als Schwerpunkt die Ausarbeitung eines Koordinationsplans vor, mit dem die Einzelverfahren aufeinander abgestimmt werden können. So kann der Plan
etwa Vorschläge zur Wiederherstellung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit und zur Beilegung gruppeninterner Streitigkeiten enthalten. Ebenso können in ihm
Vereinbarungen zwischen den Insolvenzverwaltern angeregt werden.
In seiner Stellungnahme hat der Bundesrat die Bundesregierung um Prüfung zu drei Punkten gebeten. Diese
betreffen die Schwellenwerte, bei deren Erreichung ein
Antrag auf Begründung eines Gruppengerichtsstandes
gestellt werden kann, die gerichtsinterne Zuständigkeitsverteilung bei diesem Gericht und die Kosten des Koordinationsverfahrens. Die Bundesregierung wird dieser
Bitte um Prüfung im weiteren Verlauf des Gesetzgebungsverfahrens gerne nachkommen.
Lassen Sie mich abschließend festhalten, dass mit
diesem Gesetzentwurf keine radikale Neuausrichtung
angestrebt wird; vielmehr sollen bereits vorhandene Lösungsansätze für eine Bewältigung von Gruppeninsolvenzen maßvoll fortentwickelt werden. Ich bin zuversichtlich, dass mit diesem Gesetzentwurf gerade auch im
Interesse der betroffenen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ein weiterer wichtiger Schritt zur Rettung
angeschlagener, aber erhaltenswerter Unternehmen und
damit hin zu einer besseren Sanierungskultur getan wird.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({1})
Das Wort hat der Kollege Richard Pitterle für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir reden heute über einen Gesetzentwurf, der sich mit Insolvenzen in Konzernen beschäftigt. Pleiten von Unternehmen gibt es leider immer
wieder. Im letzten Jahr waren insgesamt 26 300 Unternehmen betroffen, im Jahr davor 28 720. Diese Pleiten
lösen bange Fragen bei den betroffenen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern und ihren Familien aus. Sie fragen sich: Wird es möglich sein, das Unternehmen zu sanieren und die Arbeitsplätze zu erhalten? Findet sich ein
Investor für eine Fortführung des Unternehmens? - Aber
auch viele Lieferanten, Handwerker und andere kleine
Selbstständige trifft eine Insolvenz nicht selten hart.
Die Baumärkte Praktiker und Max Bahr, der Hersteller von Socken und Strumpfwaren Kunert, der TV-Hersteller Loewe, der Billigstromanbieter Flexstrom - alles
Konzerne -, die Prokon-Gruppe - deren Konkurs
machte jüngst Schlagzeilen -, ihnen allen ist gemein,
dass sie nicht nur für die Muttergesellschaft, sondern
auch für jede einzelne Tochtergesellschaft separat Insolvenz anmelden mussten. Allein nach der Pleite des Arcandor-Konzerns mit den Tochtergesellschaften Karstadt
und Quelle 2009 wurden 54 einzelne Insolvenzverfahren
eröffnet. Dies ist mit der Einsetzung entsprechend vieler
Insolvenzverwalter verbunden, die ausschließlich die Interessen der jeweiligen Tochtergesellschaft vertreten und
das noch übrig gebliebene Vermögen einzeln verwerten.
Das Gleiche gilt für die Insolvenzgerichte. Jedes Insolvenzverfahren wird isoliert abgewickelt - ohne Abstimmung mit den Beteiligten der anderen Insolvenzverfahren.
Dadurch werden die Verhandlungen zur Sanierung und
eine mögliche Rettung des Gesamtkonzerns erheblich
erschwert, mit der Folge, dass die gesamte Insolvenzmasse nicht optimal verwertet werden kann.
Das Ganze im Konzern ist mehr wert als die Summe
seiner Einzelteile. Deshalb wird in der Krise und der Insolvenz zunächst meistens versucht, den Konzern als
Unternehmensverbund weiter zu erhalten und entweder
gemeinschaftlich zu sanieren oder zu verwerten. Heute
- das heißt mit dem bestehenden Insolvenzrecht - geht
der Gesamtkonzern als Einheit und damit der eigentliche
Wert verloren. Das muss sich ändern.
Daher besteht Handlungsbedarf. Die Initiative für
eine gesetzliche Regelung geht aber wieder einmal nicht
von der Bundesregierung aus, sondern kommt aus Europa. Bereits am 12. Dezember 2012 hat die EU-KomRichard Pitterle
mission dem Europäischen Rat und dem Europäischen
Parlament einen Vorschlag für eine Reform der Europäischen Insolvenzverordnung vorgelegt. Ziel ist die EUweite Etablierung einer Rettungs- und Sanierungskultur
für Unternehmen in der Krise.
Es ist gut, zu wissen, dass sich wenigstens aufgrund
der Aktivitäten auf europäischer Ebene in Deutschland
etwas bewegt und weiter bewegen wird. Von dieser Bundesregierung kommt bisher nichts, und es ist in dieser
Legislaturperiode - siehe Koalitionsvertrag - auch nicht
viel zu erwarten.
Dabei gibt es viel Handlungsbedarf. Der Abbau von
Bürokratie ist seit vielen Jahren ein Topanliegen der mittelständischen Wirtschaft.
({0})
Die Menschen in Deutschland warten dringend auf einen
Abbau der kalten Progression und des sogenannten Mittelstandsbauchs
({1})
und fordern - gerade in diesen Wochen - die Bekämpfung von Steuerumgehung, Steuerbetrug und Steuerhinterziehung.
({2})
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf zur Erleichterung der Bewältigung von Konzerninsolvenzen sollen
unter anderem die Betrachtung des Konzerns in den Vordergrund gestellt und insbesondere Reibungs- und Wertverluste reduziert werden. Insofern beschreiten Sie mit
dem Gesetzentwurf grundsätzlich den richtigen Weg.
Die Interessen der Beschäftigten werden aber wieder
nicht ausreichend berücksichtigt. Hierzu zähle ich nicht
nur die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, sondern
auch die Betriebsräte und Gewerkschaften. Wir wollen
entsprechende Beteiligungs- und Mitbestimmungsrechte
für die Vertretungen der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter eingefügt sehen,
({3})
zum Beispiel für den Konzernbetriebsrat. Darum wird
sich die Linke im weiteren Beratungsprozess zum Gesetzentwurf ganz besonders kümmern.
Wir werden darauf achten, dass auf jeden Fall die Arbeitnehmerrechte gewahrt werden, die beim letzten Mal
in den Beratungen über das Gesetz zur weiteren Erleichterung der Sanierung von Unternehmen - besser bekannt
unter dem Kürzel ESUG - am Ende doch noch dem neoliberalen Mainstream geopfert wurden.
Es gibt also noch einiges am Gesetzentwurf zu verändern. Hierbei bieten wir der Bundesregierung eine konstruktive Mitarbeit an.
({4})
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({5})
Für die CDU/CSU-Fraktion spricht nun der Kollege
Professor Dr. Heribert Hirte.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Liebe Zuhörer! Das Bild des Bürgers vom
Unternehmen ist noch immer geprägt von der einzelnen
Gesellschaft, meistens der GmbH oder der Aktiengesellschaft. Die wirtschaftliche Realität - wir haben es schon
gehört - ist aber eine völlig andere. Unternehmensgruppen, teilweise bestehend aus mehreren Hundert einzelnen Gesellschaften, bestimmen das Geschehen. Das gilt
nicht nur für die bekannten Multis, sondern auch für
viele Mittelständler und sogar Handwerker.
Schon lange hat unsere Rechtsordnung auf dieses
Phänomen reagiert. So verlangen die Offenlegungsvorschriften des Bilanzrechts eine zusammengefasste Darstellung aller Konzernunternehmen, um ein den tatsächlichen Verhältnissen entsprechendes Bild der Vermögens-,
Finanz- und Ertragslage des - so ist es gemeint - gesamten Konzerns zu vermitteln.
Eine kleine Bemerkung am Rande mit Blick auf die
ADAC-Diskussion: Für Vereine ist das bedauerlicherweise noch nicht so.
({0})
Im Gesellschaftsrecht wird das Phänomen Konzern an
zahlreichen Stellen aufgegriffen. Es begründet unter hier
nicht weiter interessierenden Voraussetzungen Durchgriffsmöglichkeiten, Haftung, Zurechnung usw. Auf der
Grenze zum Arbeitsrecht tragen schließlich der Konzernbetriebsrat und die konzernweite unternehmerische
Mitbestimmung dem Vorliegen einer Unternehmensgruppe Rechnung.
Stiefmütterlich behandelt wird der Konzern aber noch
immer im Insolvenzrecht. Hier steht die einzelne natürliche oder juristische Person im Vordergrund, genauso wie
im 19. Jahrhundert, als mit der Konkursordnung die Vorgängerin unserer heutigen Insolvenzordnung geschaffen
wurde. Das ist wenig überzeugend, wie wir schon gehört
haben; denn dadurch werden die sogenannten Synergievorteile, wie wir das heute neumodisch nennen, die bei
der lebenden Großorganisation Konzern den Gesellschaftern, Gläubigern und damit auch den Arbeitnehmern zugutekommen, in der Abwicklung vergeudet.
Das Insolvenzverfahren, etwa über die angehörigen
Unternehmen einer Unternehmensgruppe, kann in Itzehoe, Garmisch-Partenkirchen und Saalfeld mit jeweils
unterschiedlichen Insolvenzverwaltern stattfinden. Die
Praxis - dazu zählen auch die Insolvenzgerichte - hat
hier im Wege von Auslegung und Vereinbarung zwar
durchaus praktikable Lösungen entwickelt, beispiels1144
weise ein einheitliches Insolvenzverfahren in Köln. Das
knüpft natürlich an die Bemerkung des Düsseldorfer
Kollegen Jarzombek an, der Köln schon ins Spiel gebracht hat.
({1})
- Zustimmung von der Linken: Vielen Dank! - Für die
notwendige Rechtssicherheit reicht dies aber nicht aus,
zumal wir uns hier in einer Konkurrenz vor allem mit
England befinden. Es ist relativ leicht möglich, den sogenannten Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen
eines Unternehmens nach England zu verlegen und dann
doch das ganze Insolvenzverfahren über eine Unternehmensgruppe einheitlich abzuwickeln. Handeln ist daher
geboten.
({2})
Wo konkret liegt das Problem? Fünf Fragenkreise lassen sich ausmachen: erstens die divergierende örtliche
Zuständigkeit der Insolvenzgerichte, wie gerade gehört;
zweitens die Tatsache, dass dann noch unterschiedliche
Insolvenzverwalter in den verschiedenen Verfahren tätig
sind; drittens, dass wir es mit unterschiedlichen Insolvenzmassen zu tun haben; viertens die Frage, wie das
eine Verfahren auf das andere Verfahren einwirkt; und
fünftens und letztens, ob man einen Masterplan machen
kann, mit dem man das gesamte Unternehmen einheitlich sanieren kann.
Der hier vorgelegte Regierungsentwurf, der im Sinne
einer die parteilichen Alltagskonflikte durchaus positiv
überstrahlenden rechtspolitischen Kontinuität noch unter
der früheren Bundesregierung erarbeitet wurde und dessen erste Vorarbeiten noch auf die letzte Große Koalition
zurückgehen und nicht etwa erst durch EU-Vorgaben beeinflusst wurde, bildet den Abschluss - sicher nur vorläufig - einer Novellierungstrias aus dem ESUG - dieser
Begriff fiel eben schon -, also dem Gesetz zur weiteren
Erleichterung der Sanierung von Unternehmen, der
Restschuldbefreiung und schließlich der Konzerninsolvenz, die alle das Insolvenzrecht grundlegend modernisieren wollen. Sie teilen das Ziel einer Erhaltung von
Werten und Arbeitsplätzen durch „Sanierung vor Zerschlagung“. Das ist ein richtiger Weg.
({3})
Der Entwurf adressiert positiv drei der genannten Fragestellungen und einen weiteren explizit negativ. Diese
„Selbstbeschränkung“ - minimalinvasiv, wie wir das
eben gehört haben - ist zunächst zu begrüßen; denn in
den streitigen Fragen, in denen noch keine endgültige
Klarheit besteht, sollte der Gesetzgeber nicht autoritativ
eingreifen.
Als Erstes ermöglicht er eine einheitliche örtliche Zuständigkeit für das Insolvenzverfahren der verschiedenen
konzernangehörigen Unternehmen bzw. Gesellschaften.
Der Gesetzentwurf stellt für diesen Ort im Grundsatz auf
das sogenannte Prioritätsprinzip ab, also den Ort, an dem
zuerst ein Insolvenzantrag gestellt wurde. Das erscheint
mir überzeugend, weil es nur für einen frühzeitig gestellten Eigenantrag gilt und Missbrauch in Form von Zuständigkeitserschleichungen auch noch durch andere
Maßnahmen verhindert wird.
Zweitens stellt er klar, dass in solchen Fällen ein einheitlicher Insolvenzverwalter bestellt werden darf, dass
also gerade nicht, wie bisher teilweise behauptet wurde,
zwischen den einzelnen insolventen Gesellschaften so
starke Konflikte bestehen, dass immer - kostenintensiv unterschiedliche Verwalter bestellt werden müssen. Soweit das gleichwohl der Fall ist, sollen sie zur Zusammenarbeit verpflichtet werden.
Drittens will der Entwurf die Möglichkeit einer freiwilligen Koordination durch ein besonderes neues Koordinationsverfahren schaffen, also einen Masterplan.
Zusammengefasst: Was das Gesellschaftsrecht zusammengeführt hat, das soll das Insolvenzrecht nicht
scheiden.
({4})
Das ist im Ansatz richtig und wichtig; denn die durch
die Neuregelung klargestellte Möglichkeit, die Insolvenzverfahren verschiedener konzernangehöriger Unternehmen an einem Ort und in einer Hand abzuwickeln, spart
Kosten. Das ist gut für die Gläubiger, die Arbeitnehmer
und damit für die Menschen in unserem Land.
({5})
Was der Entwurf andererseits nicht vorschlägt: Weder
werden die Insolvenzverfahren der einzelnen konzernangehörigen Unternehmen als solche zusammengefasst,
noch - und erst recht nicht - werden die Vermögensmassen der einzelnen Gesellschaften zusammengefasst. Das
entspricht der Selbstständigkeit juristischer Personen
auch im Konzern. Würde man anders vorgehen - es gibt
durchaus Stimmen, die das fordern -, würde die Möglichkeit der Kreditvergabe an die einzelnen Gesellschaften nachhaltig beeinträchtigt. Denn als Gläubiger
braucht man Berechenbarkeit, und das heißt auch: Man
muss vorher wissen, mit wem man nachher in einem
Boot sitzt, wenn die Mittel des Kreditnehmers nicht
mehr reichen.
Der Regierungsentwurf ist - ich sagte es bereits noch von der alten Bundesregierung erarbeitet worden.
Naturgemäß kann er daher das nicht berücksichtigen,
was wir als CDU/CSU mit der SPD im Koalitionsvertrag
im Hinblick auf das Insolvenzrecht vereinbart haben und da gibt es durchaus einiges. Wenn es aber zu Recht
darum geht, die Sanierungsmöglichkeiten von Unternehmen im Interesse von Gläubigern und Arbeitnehmern zu
verbessern, können wir diese Fragen nicht ausblenden.
Sie sollten daher meines Erachtens in diesem Gesetzgebungsverfahren mit abgehandelt werden.
Der Koalitionsvertrag spricht insoweit zum einen davon, das Insolvenzanfechtungsrecht auf den Prüfstand zu
stellen - im Interesse der Planungssicherheit des Geschäftsverkehrs. Das betrifft vor allem die sogenannte Vorsatzanfechtung, die - das ist sicher richtig - durch die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zu einem scharfen
Schwert ausgestaltet wurde. Jedenfalls gehört die lange
Frist von zehn Jahren auf den Prüfstand; denn irgendwann einmal muss sich ein Unternehmer - das gilt im
Übrigen auch im Steuerrecht - darauf verlassen können,
dass er Unterlagen nicht mehr aufbewahren muss.
({6})
Bei dieser Gelegenheit wird man wahrscheinlich auch
auf mögliche Fehlsteuerungen durch die Vergütungsregelungen für Insolvenzverwalter ein Auge werfen
müssen; denn sie sind möglicherweise auch ein Grund
für die Klagen des Mittelstandes über zu weit gehende
Insolvenzanfechtungen.
Zweitens geht es um die Anfechtung von Lohnzahlungen, also um die Frage, ob ein Insolvenzverwalter vor
der Insolvenz gezahlte Löhne von einem Arbeitnehmer
zurückfordern darf. Hier hat die Rechtsprechung in der
jüngeren Zeit zwar durchaus schon mit Augenmaß gewisse Grenzen eingezogen. Eine Klarstellung durch den
Gesetzgeber könnte aber durchaus helfen.
({7})
Diese dürfte dann aber nicht zu einer sektoralen Ausnahme werden, will man nicht den Grundsatz der Gläubigergleichbehandlung insgesamt infrage stellen. Andererseits darf man nicht vergessen, dass die Anfechtung
von Lohnzahlungen eine Antwort der Praxis auf die gesetzlichen Neuregelungen war, mit denen vor einigen
Jahren die Anfechtung der Zahlung von Steuern und Sozialversicherungsbeiträgen erschwert wurde. Die Diskussion um diese Frage muss daher hier mit einbezogen
werden, wenn man nicht sogar durch andere Mittel wie
etwa Prozesskostenhilfe oder eine Insolvenzverwalterkostenversicherung sicherstellt, dass Insolvenzverfahren gerade in den kritischen Fällen, also Fälle geringer
Masse, eröffnet werden können bzw. zu einem frühen
Zeitpunkt ausreichende liquide Masse zur Unternehmensfortführung zur Verfügung gestellt wird.
Noch eine Bemerkung zum Steuerrecht: Hier gibt es
im Schnittbereich zum Insolvenzrecht reihenweise Unklarheiten, die wie Blei auf dem Erfolg einer Sanierung
lasten. Wenn wir, wie die Bundesregierung das mit dem
hier vorliegenden Gesetzentwurf zu Recht will, die
Möglichkeiten einer Sanierung von Unternehmen verbessern wollen, dann müssen wir diese steuerrechtlichen
Fragen mit in den Blick nehmen.
({8})
Ein letzter Punkt betrifft, wiederum mit Blick auf das
Sanierungsziel, die Beseitigung von möglichen Fehlern
beim schon angesprochenen ESUG, der ersten Stufe der
Insolvenzrechtsreform. Sehen wir von Kleinstfragen ab,
rückt hier vor allem der Fall Suhrkamp in den Blick. Er
hat deutlich gemacht, dass beim Insolvenzrecht heute
Möglichkeiten eröffnet werden, an die man früher nicht
zu denken gewagt hätte. Ob das zu gesetzgeberischen
Maßnahmen führt, wird man zumindest zu diskutieren
haben.
Damit aber genug. Lassen Sie uns die Dinge gemeinsam anpacken, um Unternehmenssanierungen im Interesse von Gläubigern und Arbeitnehmern zu verbessern.
Vielen Dank.
({9})
Kollege Hirte, das war Ihre erste Rede im Deutschen
Bundestag. Herzlichen Glückwunsch dazu und alles
Gute für Ihre Arbeit!
({0})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun die
Kollegin Katja Keul das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Konzerninsolvenzrecht, das hört sich so an, als gäbe es kaum ein
Thema, das weniger Menschen vor Spannung vom Hocker reißen könnte. Die wenigsten dürften Insolvenzverwalter zu ihrem Bekanntenkreis zählen; und dann geht es
hier auch noch um Konzerninsolvenzverwalter. Ganz anders wirken dagegen folgende Zahlen: 2007 entfielen
rund 70 Prozent des Umsatzes und 53 Prozent der Beschäftigten aller Unternehmen in Deutschland auf konzernverbundene Unternehmen. Das heißt, dass jeder
zweite privat Beschäftigte von einer Konzerninsolvenz
betroffen sein könnte - vielleicht doch ein Grund, sich
genauer anzusehen, was hier geregelt werden soll.
Um was geht es also? Als Konzern bezeichnet man
den Zusammenschluss mehrerer Unternehmen zu einer
wirtschaftlichen Einheit unter der Leitung eines herrschenden Unternehmens. Rechtlich bleiben die Unternehmen selbstständige juristische Personen mit eigener
Buchführung und eigener Bilanz. Ihre wirtschaftliche
und finanzielle Unabhängigkeit haben sie allerdings zugunsten der gemeinsamen Konzernleitung abgegeben.
Sie haften nicht füreinander, sondern jeder für sich. Dieser Grundsatz der Haftungstrennung soll mit dem vorliegenden Gesetz nicht angetastet werden. Das lässt sich
zwar durchaus begründen, gottgegeben ist dieses Gebot
allerdings nicht. Man könnte schon auf die Idee kommen, einmal zu hinterfragen, warum Unternehmen, die
ihre wirtschaftliche und finanzielle Unabhängigkeit an
eine gemeinsame Leitung abgeben, nicht auch bei Fehlern dieser Leitung gemeinsam den Schaden tragen sollen.
({0})
Es ist auf der anderen Seite durchaus nachvollziehbar,
dass bei einer Insolvenz eines Unternehmens nicht immer gleich eine Insolvenz des ganzen Konzerns angeordnet werden soll. Schließlich treten die Einzelunternehmen ja auch selbstständig gegenüber den Kunden und
Banken auf. Die sollten sich schon auf die Solvenz des
jeweiligen Vertragspartners verlassen dürfen und nicht
erst den ganzen Konzern unter die Lupe nehmen müssen.
Aus ähnlichen Gründen lässt sich auch nachvollziehen, dass für jedes insolvente Unternehmen ein eigenständiges Verfahren vorgesehen ist. In der Praxis wurde
allerdings schon bisher oft ein und derselbe Verwalter
für die unterschiedlichen Verfahren eingesetzt. Die
Frage war, ob dies zum Regelfall gemacht werden sollte.
Sie haben sich entschieden, dies dem Ermessen des Gerichts zu überlassen. Aufgrund der zahlreichen denkbaren unterschiedlichen Fallkonstellationen finde ich auch
dies durchaus schlüssig.
Ganz offensichtlich macht es aber in der Praxis Sinn,
die verschiedenen Insolvenzverfahren innerhalb eines
Konzerns an einem Gerichtsstand zu bündeln. Dann verstehe ich allerdings nicht, warum wir als Gesetzgeber
nicht auch eindeutig festlegen, welches Gericht das sein
soll. Gerichtsstand am Konzernsitz - das wäre eine eindeutige und klare Regelung, die sich allen Versuchen des
Rosinenpickens und der Manipulation entziehen würde.
({1})
Hier sehe ich für die Zurückhaltung in Ihrem Entwurf
keinen wirklich überzeugenden Grund.
Noch mutloser wird es dann, wenn es um die Koordination der unterschiedlichen Verfahren geht. Sie wollen
die Insolvenzverwalter verpflichten, das zu tun, was die
im Sinne bestmöglicher Verwertung ohnehin tun sollten:
kooperieren. Der künftige Koordinationsverwalter soll
aber nicht übergeordnet oder gar weisungsbefugt sein.
Das hört sich für mich so an wie: Wasch mir den Pelz,
aber mach mich nicht nass!
({2})
Entweder haben die Insolvenzverwalter auch bislang
schon aus purer Vernunft kooperiert - dann bräuchte es
dafür keine gesetzliche Änderung -, oder sie haben es in
der Praxis gerade nicht so wirklich hinbekommen. Dann
aber braucht es deutlich mehr als ein „Bitte! Bitte!“ ohne
jedwede Durchschlagskraft.
({3})
Die EU-Kommission war da mit ihrem Vorschlag wechselseitiger Mitwirkungsrechte deutlich mutiger. Wenn
Sie so etwas aus Angst vor Blockaden nicht wollen, können Sie ja stattdessen den Weg über eine Stärkung des
Koordinationsverwalters gehen.
Bevor Sie allerdings ein wirkungsloses Gesetz verabschieden, weil Ihnen nichts Besseres einfällt, sollten Sie
lieber gar kein Gesetz machen.
({4})
Denn letztlich, Herr Kauder, ist jede Rechtsänderung
eine Belastung für die Praxis und sollte gut begründet
sein. Ihre Gesetzesbegründung enthält allerdings mehr
Gründe, warum Sie alle möglichen Regelungen gerade
nicht vornehmen. Noch haben Sie Gelegenheit, nachzubessern. Wir werden Sie dabei kritisch begleiten.
Vielen Dank.
({5})
Der Kollege Dr. Karl-Heinz Brunner hat nun für die
SPD-Fraktion das Wort.
({0})
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten
Kolleginnen und Kollegen! Auch an die Adresse der Zuhörerinnen und Zuhörer sage ich: Heute Morgen hat in
einer großen Debatte über die Fragen betreffend das Abgeordnetenrecht und die Abgeordnetenbestechung der
Kollege Grosse-Brömer von einem Arbeitsparlament gesprochen. Deshalb sage ich Ihnen, die Sie heute als
Zuhörerinnen und Zuhörer sowie Vertreter des Hohen
Hauses da sind: Herzlichen Dank, dass Sie zu dem Tagesordnungspunkt, der tatsächlich Arbeit in unserem
Hause bedeutet, noch anwesend sind, bevor wir alle ins
Wochenende gehen dürfen!
({0})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, seien wir
doch ehrlich: Wenn wir das Wort Insolvenz hören, dann
geht es uns, soweit wir nicht von Berufs wegen schon
damit zu tun haben, wie den meisten Menschen in diesem Land: Man denkt - der Kollege der Linken hat es
schon gesagt - an das Wort Pleite, man denkt an das Unternehmensende, man denkt an den Verlust von Arbeitsplätzen, an mehr im Augenblick leider nicht. Jedoch an
die Chancen für Unternehmen, an die Chancen für Gläubiger, an die Chancen für Arbeitsplätze und an die Chancen für die betroffenen Menschen - daran denkt man
nicht; nicht, weil es zu wenige Beispiele in unserem
Land für sehr wohl gelungene Insolvenzen gibt, sondern
weil wir zu wenig über Erfolgsmodelle und Erfolge berichten.
Weil es gerade im Rahmen unserer wirtschaftlichen
Entwicklung stets neue Unternehmensgründungen, Unternehmenskonstruktionen, Holdings, Gesellschaften und
gesellschaftsrechtliche Formen gibt - der Kollege von
der Union hat es angesprochen -, von denen wir gestern
noch sagten, dass es sie nie geben wird, die aber schon
morgen auf dem Tablett sind, wird es immer schwieriger,
das zu verfolgen, was unser Ziel sein muss: Zerschlagung verhindern, Sanierung ermöglichen. Verfahren wie
bei Kirch, Babcock Borsig, BenQ, Arcandor/Quelle und
anderen haben gezeigt, dass wechselseitige Blockade zu
Rechtsstreitigkeiten führt oder - ganz banal - auch nur
persönliche Eitelkeiten - wer ist der Beste, der Größte? zu einem Misserfolg führen können. Da ich beruflich
viel als Auftragnehmer von Gläubigern an Gläubigerversammlungen teilgenommen habe, kann ich davon ein
Lied singen. Um echte Chancen bei Konzerninsolvenzen
zu eröffnen, sind für solche Verfahren eine klare Struktur
und eine klare Zuständigkeit dringend erforderlich.
Zugegeben, der Titel „Gesetz zur Erleichterung der
Bewältigung von Konzerninsolvenzen“ klingt sperrig
und lässt auf den ersten Blick vermuten, dass nur Neuregelungen von Verfahrensabläufen geregelt sind. Jedoch,
es steckt mehr dahinter. Ich nehme es vorweg: Der
hierzu eingeschlagene Weg ist aus meiner Sicht und der
der SPD-Fraktion gut.
({1})
Er ist gut, auch wenn mit dem Gesetz nur die Probleme
der Vergangenheit und noch nicht die der Zukunft, die
wir noch nicht kennen, die uns aber täglich ereilen können, gelöst werden. Warum? Unsere Wirtschaftswelt hat
sich geändert, das Insolvenzrecht hingegen hinkt noch
hinterher. Wir versuchen nun, dieses nicht mehr zulasten
von Schuldnern und Gläubigern, von Gerichten und Gesetzgeber zu modernisieren. Wir modernisieren vielmehr, indem wir einen bemerkenswerten Weg einschlagen, nämlich ohne mit der bewährten Praxis und der
bewährten Rechtsprechung zu brechen.
Anders als der Vorschlag der Europäischen Kommission und anders als der Vorschlag der Kommission der
Vereinten Nationen für internationales Handelsrecht
knüpft dieser Gesetzentwurf an die bestehende Rechtslage, an die bestehende Rechtsprechung und an unsere
Rechtsliteratur an und schafft klare Bestimmungen, was
Regelungen für den Gerichtsstand betrifft. Er schafft bei
Zuständigkeitskonzentrationen eine einheitliche Richterzuständigkeit. Er ermöglicht die Zusammenarbeit zwischen Verwaltern und Gerichten auf einer soliden Rechtsgrundlage. Die Abstimmung der Einzelverfahren wird
durch ein neues Koordinierungsverfahren verbessert.
Außerdem wird geregelt, dass ein einziger Verwalter
verantwortlich für einen abgestimmten Koordinierungsplan ist. Letztendlich wird auch sichergestellt, dass alle
Werte eines Konzerns im Verfahren berücksichtigt werden und damit optimale Verwertungsergebnisse erzielbar
sind.
Aus meiner Sicht nimmt dieser Gesetzentwurf nicht
nur die Herausforderungen an, sondern er regelt auch mit
Vernunft und Augenmaß das, was zu regeln ist. Genauso
wichtig wird es aber sein, im weiteren Gesetzgebungsverfahren die Anregungen des Bundesrats ernsthaft zu prüfen, Kostenexplosionen bei den Verwaltervergütungen
zu vermeiden, den Ländern bei der Umsetzung die nötigen Spielräume zu geben, den Mitarbeitern das nötige
Handwerkszeug zu geben und, nicht zuletzt, unserer altbekannten guten Tante GmbH & Co. KG eine vernünftige Rolle bei Konzerninsolvenzen zu geben.
Auf die öffentliche Anhörung und die weiteren Beratungen bin ich gespannt, nicht zuletzt aufgrund der Anregungen des Koalitionsvertrags.
Eins weiß ich jedenfalls, meine Damen und Herren:
Mit dem Insolvenzrecht wird es uns auch in den nächsten Wochen, Monaten und Jahren nicht langweilig.
Herzlichen Dank.
({2})
Für die CDU/CSU-Fraktion spricht nun der Kollege
Alexander Hoffmann.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Geschätzte Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich freue mich, dass ich meine erste Rede in diesem Haus zu einem Thema halten darf, das auf den ersten Blick durchaus sehr trocken, spröde und abstrakt herüberkommt. Aber schon beim zweiten Hinsehen
merken wir, dass wir ganz schnell mitten im Leben ankommen. Denn die Zielsetzung dieses Gesetzentwurfs
ist die Vermeidung suboptimaler Verwertungsergebnisse,
die Vermeidung eines Gegeneinanderarbeitens der verschiedenen Insolvenzverwalter mit unterschiedlichen
Verwertungsstrategien, die Vermeidung unproduktiver
Verfahrensverzögerungen. Das zeigt: Der Gläubigerschutz steht im Mittelpunkt dieses Gesetzentwurfs und
damit der Schutz von Unternehmen, von Handwerksbetrieben, aber vor allem auch von Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmern.
Bisher ließen sich zentrale negative Auswirkungen
durch dezentrale Insolvenzbewältigung in Konzernen eigentlich nur dadurch einschränken, dass alle Beteiligten
guten Willens waren, zusammenzuarbeiten. Das hat allenfalls für eine Abmilderung gereicht; aber ausschließen konnte man negative Konsequenzen eigentlich nie.
Mit diesem Gesetzentwurf wollen wir die Voraussetzungen dafür schaffen, dass auch Konzerninsolvenzen
künftig rechtssicher und effektiv bewältigt werden können. Dies ist umso wichtiger, als es gerade im Rahmen
von Konzerninsolvenzen oftmals um eine Vielzahl von
Arbeitsplätzen geht und dort beträchtliche Vermögenswerte auf dem Spiel stehen.
Dabei baut der Gesetzentwurf auf den Zielbestimmungen des geltenden Insolvenzrechts auf, insbesondere
auf § 1 Insolvenzordnung, und konkretisiert diese Zielbestimmungen praxistauglich und gut orientiert. Es soll
die Realisierung solcher Insolvenzbewältigungsstrategien ermöglicht werden, die den Gesamterlös für alle
Gläubiger im Vergleich zum unkoordinierten Nebeneinanderherlaufen der verschiedenen Verfahren - so will ich
es einmal nennen - verbessern, ohne dabei aber eine
Schlechterstellung von Gläubigern einzelner Konzernteile zu verursachen.
Dabei erliegt dieser Entwurf gerade nicht der Versuchung - das ist ganz wichtig -, ein konsolidiertes Konzernverfahren einzuführen. Sie wissen, im Konzern- und
im Gesellschaftsrecht gelten die Grundsätze der rechtlichen Trennung und der Selbstständigkeit. Diesen Grundsätzen würde eine Massekonsolidierung voll und ganz
widersprechen. Auch unter dem Gesichtspunkt der
Rechtsklarheit und der Rechtssicherheit im Geschäftsverkehr wäre dies nicht zu vermitteln; denn sonst müsste
sich zukünftig ein Gläubiger, zum Beispiel im Vorfeld
einer Kreditvergabeentscheidung, zunächst einmal darüber klar werden, in was für einer wirtschaftlichen, in
was für einer finanziellen Situation der Konzern insgesamt und seine Teile sind, bevor er dann mit der entsprechenden Schuldnergesellschaft kontrahieren kann.
Die flexiblen Koordinierungsmechanismen, die hier
zum Einsatz kommen sollen - ich will es einmal das
Handwerkszeug nennen -, wurden von meinen Vorrednern schon dargestellt. Lassen Sie mich daher nur noch
handverlesen auf Einzelheiten eingehen.
Neben die allgemeine Gerichtsstandregelung, wie wir
sie kennen, in § 3 Insolvenzordnung tritt nun die Möglichkeit eines Gruppengerichtsstands auf Antrag des
Schuldners. Dabei ist wichtig, dass das nicht als eine
ausschließliche Gerichtsstandregelung ausgestaltet ist,
was eine flexible Handhabe ermöglicht. Denn es kann
auch weiterhin Konstellationen geben, wo kein erhöhter
Koordinierungsbedarf gegeben ist; da erscheint die alte
Regelung durchaus praktikabel.
Die Voraussetzungen für den Gruppengerichtsstand
stellen für mich einen praxistauglichen Ansatz dar. Allerdings möchte ich schon anregen, einmal den Versuch
zu unternehmen, diese Voraussetzungen positiv zu formulieren. Das ist besser, als über eine Negativformulierung im Ausschlussverfahren quasi das Pferd von hinten
aufzuzäumen und so den Anwendungsbereich zu eröffnen. Im Zusammenhang mit einer Negativformulierung
erschweren nämlich Formulierungen wie „nicht offensichtlich“ und „in der Regel“ in meinen Augen eher die
Bestimmtheit.
Der hier zu beratende Entwurf - das ist vorhin schon
angesprochen worden - greift die Vorschläge der EUKommission gerade nicht auf. In den Vorschlägen - Sie
kennen sie - war die Rede davon, dass die einzelnen Insolvenzverwalter der gruppenangehörigen Unternehmen
in den jeweils anderen Verfahren bestimmte Mitwirkungsrechte eingeräumt bekommen sollen, zum Beispiel
das Recht auf Teilnahme an einer Gläubigerversammlung oder auch das Vorschlagsrecht bezüglich eines Reorganisationsplans.
Stattdessen soll nach dem vorliegenden Gesetzentwurf das Koordinationsverfahren eingeführt werden, das
als wesentliches Kernelement die Bestellung eines Koordinationsverwalters zum Gegenstand hat. Das ist, meine
Damen, meine Herren, der bessere Ansatz, weil er folgende Vorteile auf sich vereint: Das Koordinationsverfahren ist funktionaler, es ist weniger missbrauchsanfällig - Mitwirkungsrechte können nämlich immer wieder
dazu verwendet werden, zu blockieren -, und es ist vor
allem verbindlicher; das ist ein ganz wichtiger Punkt, ansonsten wäre der Koordinationsverwalter - die Kollegin
Keul hat es vorhin schon angesprochen - auf ein „Bitte!
Bitte!“ angewiesen. Genau das ist hier nicht der Fall.
Über die allgemeine Haftungsnorm des § 60 Abs. 1 Insolvenzordnung entsteht ja quasi eine faktische Bindung
der Verwalter an die Vorschläge aus dem Koordinationsverfahren. Daher ist es richtig, das Gesetz einfach einmal
mit einem begleitenden Blick - so will ich es nennen der Praxis zu überlassen, ohne konkrete Durchsetzungsmechanismen vorzusehen.
Lassen Sie mich abschließend, meine Damen, meine
Herren, noch ganz kurz etwas zum Kostenrecht sagen,
weil immer wieder Vorschläge laut werden, dass man
parallel ein Kostenrecht schaffen müsse. Ich rate davon
ab, den vorliegenden Entwurf unnötig aufzublasen. Er
zielt doch ab auf die Vermeidung von gegenseitigem
Blockieren, Gegeneinanderarbeiten oder sogar Prozessieren der Insolvenzverwalter. Ich glaube, dass genau
dank dieser Zielrichtung erreicht wird, dass wir zukünftig keine Explosion der Verfahrenskosten mehr in dem
bisher bekannten Maß erleben werden.
({0})
In diesem Sinne, meine Damen, meine Herren, denke
ich: Wir sind auf dem richtigen Weg. Gehen wir ihn weiter!
Gestatten Sie mir ganz zum Schluss, dass ich Ihnen
einen schönen Valentinstag wünsche. Im Interesse Ihrer
Partnerinnen und Partner empfehle ich Ihnen: Machen
Sie was daraus!
Vielen Dank.
({1})
Kollege Hoffmann, das war Ihre erste Rede im Deutschen Bundestag. Ich gratuliere Ihnen im Namen des gesamten Hauses.
({0})
Das war auch die letzte Rede im Rahmen dieses Tagesordnungspunktes. Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/407 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Nicole
Gohlke, Diana Golze, Dr. Rosemarie Hein, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
BAföG-Reform zügig umsetzen
Drucksache 18/479
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({1})
Haushaltsauschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Nicole Gohlke für die Fraktion Die Linke.
({2})
Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Das
Thema BAföG zeigt wie so viele andere Themen - Vorratsdatenspeicherung, Energiewende oder Zuwanderung -, wie tief die Gräben in der Großen Koalition sind.
Wenn man sich die Schärfe der Auseinandersetzung und
die gegensätzlichen Positionen von SPD und Union anhört, dann wird auch klar, warum das Thema BAföG im
Koalitionsvertrag - angeblich - vergessen wurde. Sie
mussten es offenbar ausklammern, damit die Koalition
überhaupt zustande kommt.
({0})
Jetzt haben SPD und Union zwar einen Koalitionsvertrag; den Preis dafür zahlen aber die Studierenden. Für
die steigen seit Jahren die Lebenshaltungskosten, seit
Jahren explodieren die Mieten, und seit Jahren decken
die BAföG-Sätze das nicht mehr ab.
({1})
Die 20. Sozialerhebung des Studentenwerks hat dazu ja
die aktuellen Zahlen geliefert. 54 Hochschulstädte wurden betrachtet. Nur in Chemnitz lagen die Wohnkosten
unterhalb der Pauschale von 224 Euro, die im BAföGSatz dafür vorgesehen ist. Überall sonst sind die Ausgaben für Miete und Nebenkosten höher, und Wohnheimplätze sind absolute Mangelware. Die 448 Euro, die die
BAföG-Geförderten im Durchschnitt bekommen, reichen also offensichtlich vorne und hinten nicht aus. Das
muss sich dringend ändern.
({2})
Ich finde, es ist einfach skandalös, dass es die Bundesregierung in so einer Situation und bei so einer Faktenlage fertigbringt, die Ergebnisse des aktuellen
BAföG-Berichts dann auch noch als Erfolg zu verkaufen. Da feiert sich das Ministerium doch ernsthaft dafür
- „abfeiern“ müsste man eigentlich sagen -, dass die
Zahl der BAföG-Empfänger auf dem höchsten Stand seit
30 Jahren ist, vergisst dabei aber zu erwähnen, dass auch
die Zahl der Studierenden wegen doppelter Abiturjahrgänge, geburtenstarker Jahrgänge und gestiegener Studierneigung auf einem Höchststand ist. Das ist aber beileibe nicht das Verdienst dieser Regierung.
({3})
Mit irgendwelchen Tricks machen Sie dann aus weniger mehr. Mit irgendwelchen Tricks machen Sie aus
einer eigentlich sinkenden Gefördertenquote eine steigende. Fakt ist aber doch, dass 2012 von den knapp
2,4 Millionen Studierenden gerade einmal 440 000 BAföG
bezogen haben. Das sind die Zahlen. Eine einfache
Rechnung genügt, um festzustellen: Das sind mickrige
18,7 Prozent. Wenn die Regierung jetzt auf 28 Prozent
kommt, ist das schlicht Rechentricks geschuldet. Damit
machen Sie vielleicht Ihre Statistiken schöner, aber eben
nicht die Wirklichkeit.
({4})
Zu Recht wird jetzt schon fast einmütig eine BAföGErhöhung gefordert. Sogar Frau Wanka wird ja nicht
müde, zu wiederholen, dass eine BAföG-Reform kommen werde. Man fragt sich eben nur: Wann und wie? Die
SPD fordert völlig richtig, die Lastenverteilung beim
BAföG so zu ändern, dass der Bund die gesamten Kosten trägt, weil sonst eine Erhöhung wohl angesichts der
kommenden Schuldenbremsen an den klammen Länderhaushalten scheitern könnte.
({5})
Da beißt die SPD bei ihrem Koalitionspartner aber auf
Granit. Die Union weist die SPD-Vorschläge rüde zurück. Ministerin Wanka erklärt, die SPD wolle sich aus
der Verantwortung ziehen.
({6})
Und Sie, Herr Rupprecht, sagen, es gebe für eine andere
Aufteilung keinen Grund, weil die Schuldenbremse
schließlich auch für den Bund gelte.
({7})
Herr Rupprecht, die Schuldenbremse ist ja nicht vom
Himmel gefallen.
({8})
Die haben Sie mit den Stimmen aller Parteien mit Ausnahme der Linken eingeführt.
({9})
Sie entpuppt sich immer mehr als eine soziale Bremse
und als eine Bildungsbremse.
({10})
Es ist schon krass, wie Sie einfach über die katastrophale Situation der Länderhaushalte hinweggehen. Gerade hat Sachsen-Anhalt die Zuschüsse für die Studentenwerke mehr als halbiert. Die Konsequenzen tragen
natürlich wieder die Studierenden. Die zahlen jetzt höhere Semesterbeiträge und mehr für Wohnheim und
Mensaessen. Der Bund hätte im Gegensatz zu den Ländern ja auch die Möglichkeit, die Einnahmen zu erhöhen. Er könnte Steuern erhöhen und damit zur Abwechslung auch einmal die Reichen treffen.
({11})
Das war ja auch die Forderung der SPD - vor der Wahl
natürlich -, weil sie weiß, dass man substanzielle Verbesserungen ohne Steuergerechtigkeit nicht finanziert
bekommt. Da kann ich nur sagen: Augen auf bei der
Wahl des Koalitionspartners!
({12})
Kolleginnen und Kollegen, das BAföG ist unbestritten die zentrale Säule der Studienfinanzierung. Deswegen hat die Linke einen Antrag für eine umfassende und
zügige Reform des BAföG eingebracht. Lassen Sie uns
das unsoziale Stipendienprogramm, das Deutschlandstipendium, das es in diesen Koalitionsvertrag geschafft
hat, endlich zu den Akten legen.
({13})
Von diesem Deutschlandstipendium profitieren bislang
nicht einmal 0,6 Prozent der Studierenden.
({14})
Es wird ja mittlerweile auch vom Bundesrechnungshof
kritisiert, weil gerade einmal 60 Prozent der Gelder tatsächlich bei den Studierenden ankommen, während der
Rest für Werbung, PR und Verwaltung rausgeschmissen
wird.
({15})
Die Linke fordert stattdessen eine Erhöhung der
BAföG-Sätze und Freibeträge um mindestens 10 Prozent. Das würde endlich den gestiegenen Lebenshaltungskosten der Studierenden Rechnung tragen, und es
würde den Kreis der BAföG-Empfängerinnen und -Empfänger ausweiten.
({16})
Wir wollen, dass das BAföG wieder in einen Vollzuschuss umgewandelt wird, damit sich junge Menschen
nicht durch das Studium verschulden müssen. Das
BAföG muss endlich an die veränderten Studienbedingungen im Bologna-System angepasst werden. Masterstudiengänge müssen uneingeschränkt gefördert werden
können, und die Altersgrenzen müssen abgeschafft werden.
({17})
Kolleginnen und Kollegen, die Studierenden, die übrigens heute hier von einer Delegation des studentischen
Dachverbandes fzs, deren Mitglieder ich an dieser Stelle
ganz herzlich grüßen möchte, vertreten werden, erwarten
von Ihnen ein schnelles Handeln, das ihre Situation substanziell verbessert. Muten Sie den Studierenden nicht
eine weitere Hängepartie mit ewigen Verhandlungen
({18})
zwischen Bund und Ländern oder jetzt zwischen den
Koalitionspartnern Union und SPD zu! Sie haben hier
die Chance, schnell und unbürokratisch unserem Antrag
zuzustimmen. Damit könnten Sie jetzt nachholen, was
Sie in den Koalitionsverhandlungen so sträflich versäumt haben.
Vielen Dank.
({19})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, als nächster Redner
hat Dr. Stefan Kaufmann das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Der vorliegende Antrag der
Linken, Frau Gohlke, enthält enttäuschenderweise nichts
Neues.
({0})
Ich bin davon ausgegangen, dass Sie als nunmehr größte
Oppositionspartei im Bundestag die Politik der Bundesregierung etwas seriöser und konstruktiver begleiten.
Aber weit gefehlt. Es wird nur gefordert: Erhöhung der
Fördersätze, massive Ausweitung des Berechtigtenkreises
({1})
bis hin zur Forderung nach einem rückzahlungsfreien
Vollzuschuss für alle BAföG-Empfänger. Und wer soll
das Ganze bezahlen, Frau Gohlke? Natürlich der Bund.
Sie fordern alles, und der Bund soll zahlen. So einfach
kann man sich Oppositionsarbeit natürlich auch machen.
({2})
Wie sagte schon Konrad Adenauer? Alles, was die
Sozialisten von Geld verstehen, ist die Tatsache, dass sie
es von anderen haben wollen.
({3})
Anhand von drei Punkten möchte ich heute einen
konstruktiven Aufschlag machen:
Erstens. Die Bundesregierung hat - es wurde schon
angesprochen - am 29. Januar dieses Jahres den aktuellen BAföG-Bericht beschlossen. Noch nie gab Deutschland so viel Geld für BAföG aus. Um rund eine halbe
Milliarde Euro ist die Fördersumme im Berichtszeitraum
2010 bis 2012 auf insgesamt 3,34 Milliarden Euro angestiegen. Auch das sollten Sie bitte zur Kenntnis nehmen,
Frau Kollegin.
({4})
Insofern können die Weiterentwicklungen unter der
CDU/CSU-geführten Bundesregierung in der Vergangenheit ja nicht so gering gewesen sein. Ich erinnere nur
an die 2008 mit der SPD gemeinsam beschlossene große
BAföG-Reform. Im Zuge dieser Reform haben wir die
Bedarfssätze um 10 Prozent und die Freibeträge um
8 Prozent angehoben. Außerdem haben wir im Jahre
2010 die 23. BAföG-Novelle verabschiedet - mit einer
weiteren Anhebung der Bedarfssätze um 2 Prozent und
der Freibeträge um 3 Prozent. Wir haben die Altersgrenze für das Masterstudium auf 35 Jahre angehoben;
({5})
auch das sollten Sie, Frau Gohlke, bitte zur Kenntnis
nehmen. Wir haben die Auslandsförderung ausgeweitet.
Wir haben den Höchstsatz auf 670 Euro pro Monat angehoben und vieles mehr.
Nun kann man natürlich immer sagen, das sei nicht
genug. Aber kleinzureden brauchen wir diese BaföGReformen auch nicht, meine Damen und Herren.
({6})
Noch einmal zurück zum aktuellen BAföG-Bericht,
der ganz klar feststellt: Die Entwicklung der Bedarfssätze ist immer noch oberhalb des Preisindexes, und die
Freibeträge sind stärker gestiegen als die Preise und die
Einkommen. Auch das mögen Sie bitte zur Kenntnis
nehmen.
({7})
Doch kann es aus meiner Sicht nicht immer nur darum gehen, dass wir die Sätze und Freibeträge anheben.
Wir müssen zu strukturellen Weiterentwicklungen beim
BAföG kommen.
({8})
Ich denke dabei beispielsweise an eine bessere Vereinbarkeit des BAföG mit dem zweistufigen Studiensystem
aus Bachelor und Master.
({9})
Darin sind wir uns vielleicht sogar einig. Auch über eine
bessere Absicherung von Studierenden mit Kindern
müssen wir diskutieren.
({10})
Zudem sind Verbesserungen bei der BAföG-Vorauszahlung notwendig.
Der zweite Punkt. Die Bundesregierung will eine
BAföG-Reform. Man kann weder der aktuellen noch der
Vorgängerregierung vorwerfen, hier nichts getan zu haben. Bereits nach Vorlage des letzten BAföG-Berichtes
2012 hat die Bundesregierung den Ländern Gespräche
über mögliche Anpassungen und auch über eine inhaltliche Fortentwicklung des BAföG angeboten. In vielen
Gesprächen und Treffen auf Ministerebene bis hin zur
Abteilungsleiterebene verständigte man sich zwar auf inhaltliche Änderungen; eine Novelle scheiterte aber an
der fehlenden Finanzierungszusage der Länder.
Auch die Anfang 2013 eingesetzte Staatssekretärsarbeitsgruppe konnte hier keine Einigung erzielen, was
ebenfalls an der fehlenden Bereitschaft der Länder, den
gesetzlich vorgeschriebenen Finanzierungsanteil zu leisten, lag. Bekanntlich hat diese Finanzierungsverweigerung der Länder auch dazu geführt, dass im Koalitionsvertrag keine konkrete Zusage einer BAföG-Reform
festgeschrieben werden konnte, obwohl wir diese doch
alle hier als Bildungspolitiker wollen.
Ich komme zu meinem dritten Punkt: der Verantwortung der Länder. Dass jetzt nicht nur die Linkspartei,
sondern auch andere Mitglieder dieses Hauses die Bundesländer in ihrer Verweigerungshaltung unterstützen,
bedauere ich sehr. Ich bitte Sie alle, liebe Kolleginnen
und Kollegen, als Bildungspolitiker darüber noch einmal
nachzudenken. Wo sind wir denn hier eigentlich? Ich
denke da zum Beispiel an die Aussage des grünen Ministerpräsidenten Kretschmann, der sagte, dass der Bund
den Ländern das Geld einfach überlassen solle, es ihm
aber - ich zitiere - „so fern wie der Mond“ liege, zu akzeptieren, dass der Bund über diese Gelder auch nur mitentscheiden kann.
({11})
Wie kann man denn als gewählter Bundestagsabgeordneter eine solche Haltung unterstützen? Das kann ich
wirklich nicht verstehen.
({12})
Viele Länder haben die politische Entscheidung getroffen, dass sie für Studierende kein Geld übrighaben;
als Beispiel wurde Sachsen-Anhalt genannt. Das geht
nicht. Ich habe mir einmal die Finanzen der Länder angeschaut. Nach dem aktuellen Monatsbericht des Bundesfinanzministeriums haben die Länderhaushalte im
Jahr 2013 mit einem nahezu ausgeglichenen Ergebnis
abgeschlossen, und zwar mit einem Finanzierungsdefizit
von 0,5 Milliarden Euro. Der Bund hingegen hat 22 Milliarden Euro Schulden gemacht. Liebe Kolleginnen und
Kollegen, auch für uns im Bund gilt die Schuldenbremse. Das wird immer wieder gern vergessen. Wie
wollen wir denn je einen ausgeglichenen Haushalt erreichen, wenn wir hier bedingungslos dem Verlangen der
Länder nach mehr Geld nachgehen?
Beim BAföG ist es besonders wichtig, dass Bund und
Länder gemeinsam in der finanziellen Verantwortung
bleiben. Das hat sich seit der Entstehung des BAföG in
der Hochzeit der sozialliberalen Koalition von Willy
Brandt auch bewährt. Daran sollten wir nicht rütteln.
({13})
Es ist wichtig, dass die Länder dabei bleiben. Bitte denken sie auch darüber noch einmal nach.
Abschließend möchte ich meine Punkte zusammenfassen. Erstens. Das BAföG ist die tragende Säule der
Studienfinanzierung. Es ist erfolgreich, aber es gibt Reformbedarf. Zweitens. Die Bundesregierung ist beim
BAföG engagiert und versucht mit Nachdruck, Verbesserungen für die Studierenden zu erreichen. Drittens. Die
Bundesländer müssen sich ihrer finanziellen Verantwortung für die Studierenden in Deutschland stellen und ihren Beitrag leisten, zumindest aber die vereinbarten
35 Prozent beim BAföG zahlen.
Zusammenfassend: Wenn die Länder zu ihrer finanziellen Verantwortung stehen, dann können wir uns hier
im Bundestag schnell über Weiterentwicklungen beim
BAföG verständigen. Das muss unser parteiübergreifendes, gemeinsames Ziel sein. Die Studierenden haben das
verdient. Wir als Gesetzgeber werden auch daran gemessen, ob wir gerade bei diesem wichtigen Zukunftsthema
vorankommen. In diesem Sinne: Lassen Sie uns gemeinsam konstruktiv daran arbeiten!
Danke sehr.
({14})
Als Nächster spricht der Kollege Kai Gehring.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ach, Herr Kaufmann, ich bin nach Ihrer Rede eigentlich
nicht viel schlauer. Mir ist noch immer nicht klar, was
die Bundesregierung bzw. die 80-Prozent-Mehrheit des
Deutschen Bundestages in Bezug auf das BAföG will.
Sie haben viel in die Vergangenheit geblickt, aber nicht
nach vorn. Das ist gerade zu Beginn einer Legislatur
echt schlecht.
({0})
Die Freude über mehr Geförderte und Höchststände
bei den BAföG-Ausgaben von Bund und Ländern kann
dem wachsenden Reformdruck beim Bundesausbildungsförderungsgesetz nicht vernebeln. Stark gestiegene
Studierendenzahlen führen logischerweise zu höheren
BAföG-Ausgaben. Aber schauen wir doch etwas tiefer
in den neuen BAföG-Bericht: Die Förderbeträge sind im
letzten Jahr gesunken. Es sinkt die Gefördertenquote. Es
sinkt der Anteil der Studierenden, die eine maximale
Förderung erhalten. Nicht einmal ein Fünftel der Studierenden bezieht BAföG-Leistungen, aber fast zwei Drittel
müssen neben dem Studium jobben. All das sind Warnzeichen. Das BAföG verliert an Attraktivität. Anstatt am
unsinnigen Deutschlandstipendium festzuhalten, brauchen wir endlich eine mutige BAföG-Reform.
({1})
Das BAföG als Bildungsgerechtigkeitsgesetz und Sozialleistung mit Rechtsanspruch braucht eine Frischzellenkur. Wir als Grüne wollen den Empfängerkreis vergrößern und das Mittelschichtsloch verkleinern. Wir
wollen das BAföG familienfreundlicher machen und auf
vielfältigere Studierendenschaften ausrichten. Wir wollen auch, dass die Ausbildungsfinanzierung durch ein
Weiterbildungs-BAföG fit gemacht wird für das lebenslange Lernen. Perspektivisch wollen wir das BAföG
zum Zwei-Säulen-Modell erweitern; denn für mehr Bildungsaufstieg und Teilhabe braucht es eine beherzte Erneuerung.
({2})
Statt über solch konkrete Inhalte einer BAföG-Novelle zu reden, streiten Union und SPD darüber, ob der
Bund künftig einen größeren Finanzierungsanteil beim
BAföG schultert. Doch was bringt ein anderer Finanzierungsschlüssel den Studierenden? Diese Frage muss die
SPD beantworten. Den Schlüssel für die Finanzminister
der Länder zu ändern, macht keinen Sinn. Für uns ist
entscheidend, was bei Schülern und Studierenden ankommt.
Das BAföG kostet Geld, aber es zahlt sich aus: sozial-,
bildungs- und wirtschaftspolitisch; denn es ist für viele
junge Menschen gerade aus einkommensärmeren Arbeiterfamilien die zentrale Geldquelle, um überhaupt studieren zu können. Bei unserem Bildungskastensystem
können wir uns Stillstand beim BAföG nicht erlauben.
({3})
Das BAföG ist ein Bundesgesetz. Deswegen sind
Bundesregierung und Koalitionsfraktionen an der Reihe,
endlich einen konkreten Gesetzentwurf auf den Tisch zu
legen. Nur über einen ganz konkreten Gesetzentwurf
können wir dann im Bundestag beraten und mit den Ländern und in den Ländern debattieren. Die Koalitionskontroverse zwischen CDU, CSU und SPD um die Finanzierung des BAföG ist eine Regierungsselbstblockade
zulasten der Studierenden in unserem Land.
({4})
Im Wahlkampf haben Union und SPD eine zügige Reform des BAföG versprochen. Im Koalitionsvertrag findet sich dazu kein einziges Wort. Trotzdem verkündet
Ministerin Wanka, die übrigens der Debatte heute leider
nicht beiwohnt, wacker: Das BAföG wird erhöht. - Passiert ist danach aber nichts.
Ähnlich verlief es beim BAföG-Bericht. Im ersten
Entwurf sollte es noch eine „substanzielle Erhöhung“
und „strukturelle Weiterentwicklung“ des BAföG geben.
Am Morgen der Kabinettsbefassung war das Wort „substanziell“ verschwunden. Zwei Stunden später war von
einer BAföG-„Erhöhung“ überhaupt keine Rede mehr.
Von wegen schnelle BAföG-Reform! Nichts von den Interviewankündigungen der Ministerin ist bisher eingelöst. Nichts ist angegangen worden.
Diese Niederlage am Kabinettstisch haben Sie - das erkennt man, wenn man Zeitung liest und zuhört - Finanzminister Schäuble und Vizekanzler Gabriel zu verdanken. Aber es kommt noch besser: Wenige Tage nach
seinem Nein am Kabinettstisch fordert Gabriel in seiner
Rolle als SPD-Chef lautstark eine zügige BAföG-Erhöhung. Sorry, liebe SPD, aber das ist an Doppelzüngigkeit
nicht zu überbieten.
({5})
Sie müssen sich fragen lassen: Warum sind 250 Millionen Euro für eine BAföG-Novelle neuerdings eine Provokation für die Länder? Vor einem halben Jahr hat die SPD
im Wahlkampf landauf, landab versprochen, pro Jahr zusätzlich 10 Milliarden Euro für Bildung auszugeben. Ein
Vierzigstel davon für eine BAföG-Novelle zu investieren,
muss dank sprudelnder Steuereinnahmen möglich sein.
Keinesfalls darf das BAföG Ihrem 160-Milliarden-Rentenpaket zum Opfer fallen. Die Studierenden brauchen
eine Perspektive.
({6})
Diese Perspektive wird seit vier Jahren vermisst. Seit
vier Jahren warten Schüler und Studierende auf eine bessere Ausbildungs- und Studienfinanzierung. Die Fördersystematik und die Lebensrealität der Studierenden driften
immer weiter auseinander. Alle, die aus Altersgründen
aufgrund ihres Bildungsweges oder ihres Aufenthaltsstatus nicht gefördert werden, sind ein unverantwortlicher
Verlust für eine echte Bildungsrepublik. Also nehmen
Sie die Analyse des BAföG-Berichtes endlich ernst! Beenden Sie die Selbstblockade! Legen Sie eine BAföGKai Gehring
Reform vor! Noch 2014 muss es ein höheres und besseres BAföG geben.
({7})
Als nächster Redner spricht der Kollege Oliver
Kaczmarek.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wenn
man einmal in den BAföG-Bericht schaut, dann sieht
man, dass sich darin die besondere Bedeutung des
BAföG auch 43 Jahre nach seiner Einführung dokumentiert. 3,4 Milliarden Euro geben Bund und Länder gemeinsam für das BAföG aus. 440 000 Studierende werden gefördert. Ich gebe zu, Frau Gohlke, dass die Quote
der Geförderten stagniert. Indem Sie aber so tun, als ob
alle Studierenden BAföG-berechtigt seien, rechnen Sie
die Quote der Geförderten herunter und schmälern damit
den Erfolg des BAföG. Ich finde es nicht ehrlich, wie
Sie an der Stelle argumentieren.
({0})
Über die Hälfte aller Studierenden aus einem bildungsfernen Haushalt, die es überhaupt an eine Hochschule geschafft haben, erhalten BAföG. Das zeigt: Mit
keinem anderen Finanzierungsinstrument sind wir in
ähnlicher Weise in der Lage, soziale Verantwortung für
die Studienfinanzierung zu übernehmen. Das BAföG ist
deshalb - im Gegensatz zu allen anderen Finanzierungsmodellen, die wir hier auch kontrovers diskutiert haben ein Erfolgsmodell der Studienfinanzierung, und das
muss auch in den nächsten Jahren so bleiben.
({1})
Es ist aber auch völlig klar: Das BAföG muss mit der
Zeit gehen. Das heißt, es muss das Leben der Studierenden und die veränderten Studienbedingungen aufnehmen
und ihnen, so gut es geht, gerecht werden. Unbestritten
ist dies bei den gestuften Studiengängen am deutlichsten
sichtbar; das ist hier in der Debatte schon gesagt worden.
Über die einzelnen Maßnahmen müssen wir dann diskutieren.
Das BAföG muss aber auch die Veränderungen im
Leben der Studierenden und deren Eltern aufgreifen.
Studierende kommen heute auf unterschiedlichen Wegen
in die Hochschule, sind teilweise älter, studieren mit Familie, machen Teilzeitstudiengänge. All diese Dinge
müssen wir berücksichtigen.
Ich will eine Anmerkung zu den Teilzeitstudiengängen machen. Es ist uns ein besonderes Anliegen, Studierende zu fördern, die sich in einem Teilzeitstudium, einem dualen Studium oder einem berufsbegleitenden
Studium befinden, weil drei Viertel dieser Studierenden
Erststudierende sind, also diejenigen, die als Erste aus
ihrer Familie überhaupt eine Hochschule besuchen. Deswegen geht es hier um eine besondere Gerechtigkeitsfrage, mit der wir uns auseinandersetzen müssen.
({2})
Auch die Familiensituation muss berücksichtigt werden. Familien mit ein oder zwei Kindern und einem
Facharbeitergehalt sind heute nicht in der Lage, ohne
BAföG ein Studium zu finanzieren.
({3})
Deswegen ist die Freibetragsregelung aus unserer Sicht
eine wichtige Regelung, weil sie den Kreis der Geförderten erweitert und auf der anderen Seite dazu beiträgt,
dass mehr von dem, was an BAföG ausgezahlt werden
kann, bei den Studierenden ankommt.
Uns allen ist aber auch klar: Chancengleichheit und
Bildungsgerechtigkeit kosten Geld. Aber das ist gut angelegtes Geld. Denn der Staat ermöglicht mit dieser Förderung, dass Studierende aus allen sozialen Schichten
bessere Chancen auf dem Arbeitsmarkt erlangen. Dadurch bekommt der Staat die bereitgestellten Mittel über
erhöhte Einnahmen aus Steuern und Sozialversicherungsbeiträgen zurück. Insofern ist das BAföG eine vorausschauende und nachhaltige Investition.
({4})
Es macht aber keinen Sinn, meine Damen und Herren, jetzt hier einen fiktiven Wunschzettel zum politischen Programm zu erheben.
({5})
Da möchte ich eine Anmerkung zum Antrag der Linken
machen. Ich werde jetzt nicht alles in Grund und Boden
reden; denn viele der Forderungen, die Sie erheben, sind
fraktionsübergreifend diskutiert worden. Aber Sie bleiben an vielen Stellen unklar. Sie verzichten auf jede
Aussage zur Finanzierung. Das finde ich, offen gesagt,
unehrlich. Sie suggerieren den Studierenden: Schreibt
auf, was ihr braucht; wir machen das, und um die Finanzierung kümmern wir uns später. - Das finde ich unehrlich. Ich unterstelle, dass das nicht dem entspricht, was
Studierende tatsächlich erwarten können.
({6})
Was aus Sicht der Studierenden wirklich Sinn macht, ist
eine BAföG-Novelle, die substanziell ist und tatsächlich
umgesetzt wird, also nicht auf der Ebene des politischen
Wunschdenkens verharrt.
({7})
Eine kurze Anmerkung zu einem Punkt des Antrags,
den ich richtig finde; das möchte ich betonen. Sie haben
die Förderung von Studierenden mit Behinderung angesprochen. Ich finde das richtig. Ich glaube nur, dass wir
das weniger in der BAföG-Debatte berücksichtigen sollten als bei der Reform der Eingliederungshilfe, die sich
die Große Koalition auf die Fahnen geschrieben hat,
weil es hierbei um bedarfsgerechte Assistenzen usw.
geht. An der Stelle bin ich mit Ihnen einer Meinung; ich
glaube nur, dass wir das an anderer Stelle diskutieren
müssen.
({8})
Herr Kollege Kaczmarek, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Gohlke?
Gerne.
Danke für die Möglichkeit zur Zwischenfrage. - Ich
habe mich jetzt natürlich angesprochen gefühlt, weil Sie
sagten, wir stellten Forderungen auf und suggerierten,
dass man sie einfach so umsetzen könne. Sie haben ja
selber gerade zugestanden, dass viele unserer Forderungen zum Beispiel in Ihrem Wahlprogramm standen oder
in der letzten Legislaturperiode auch von Ihnen, von der
SPD, aufgestellt wurden.
({0})
Sie haben in Ihrem Wahlprogramm ziemlich deutlich gemacht, wie Sie diese Sachen finanzieren wollen, zum
Beispiel über Maßnahmen für mehr Steuergerechtigkeit
wie Erhöhung der Einkommensteuer und Einführung einer Millionärsteuer.
({1})
Sie haben aber davon Abstand genommen. Deswegen
frage ich: Wer suggeriert hier was? Haben Sie nicht vielleicht vor der Wahl falsche Wahlziele suggeriert, weil sie
bei den Studierenden oder in der Bevölkerung ganz gut
ankommen, und sind jetzt nicht mehr bereit, dazu zu stehen?
({2})
Nein, das muss ich zurückweisen. Die Ursache dafür,
dass wir das nicht umsetzen können, sind nicht falsche
Versprechungen, sondern es ist ein schlechtes Wahlergebnis. Wir bilden eine Koalitionsregierung und haben
uns darauf geeinigt, dass wir ohne finanzielle Mehrausgaben und Steuererhöhungen versuchen, die Vorhaben
umzusetzen.
({0})
Sie werden sehen, dass wir finanzielle Spielräume für
die BAföG-Novelle eröffnen. Das ist kein Wunschdenken.
({1})
Eine Anmerkung zum Schluss. Natürlich ist das
BAföG eine Aufgabe von Bund und Ländern, die beide
gemeinsam wahrnehmen. Wer eins und eins zusammenzählen kann, weiß doch, dass die Länder einer BAföGNovelle dann zustimmen werden, wenn sie ihrer Meinung nach auch zustimmungsfähig ist. Das ist keine
Hexerei, sondern das ist das kleine politische Einmaleins.
Es ist auch eine Binsenweisheit, dass wir frühzeitig
über eine mit den Bundesländern gemeinsam getragene
Novelle sprechen müssen. Partnerschaft in Bezug auf
BAföG muss in diesem Sinne heißen, dass keiner der
beiden Partner den anderen in finanzielle Bedrängnis
bringt und die finanziellen Forderungen überzieht. Wir
müssen eine faire finanzielle Lösung zwischen Bund und
Ländern finden. Das ist selbstverständlich und auch ein
Gebot der politischen Rationalität. Wir sollten das unaufgeregt angehen. Ich bin zuversichtlich, dass Bund
und Länder das gemeinsam hinbekommen.
({2})
Die gute Botschaft dieser Debatte ist: Das BAföG
wird modernisiert und verbessert werden. Die zweite
gute Nachricht ist: Das wird von niemandem mehr infrage gestellt.
({3})
Im Gegenteil: Diejenigen, die noch vor einigen Jahren
das BAföG als alten Karren oder als Auslaufmodell bezeichnet haben,
({4})
sind einem dramatischen Irrtum unterlegen und befinden
sich derzeit Gott sei Dank auf dem Weg der Besserung.
Heute geht es darum, das BAföG noch besser und zeitgemäßer zu machen. Wir sollten uns damit nicht allzu
viel Zeit lassen.
Herzlichen Dank.
({5})
Als nächste Rednerin hat die Kollegin Katrin
Albsteiger das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Das BAföG ist eine
Erfolgsgeschichte. Das BAföG ist ein systemrelevanter
Teil unserer Gesellschaft. Das BAföG ist gelebte Verantwortung gegenüber der jungen Generation.
({0})
Ihr Antrag hingegen ist genau das Gegenteil davon. Er
ist ein Schnellschuss, frei nach dem Motto „Wir fordern
jetzt einfach mal das Maximum“, also die schöne heile
Welt. Es geht Ihnen nur um den Effekt und nicht darum,
ein nachhaltiges Konzept vorzulegen. Wir hingegen haben immer betont, dass Bildungspolitik auch generationengerecht sein muss.
Die Ausgangslage ist gut. Die Bundesregierung gibt
so viel Geld für Bildung und Forschung aus wie nie zuKatrin Albsteiger
vor. Schon in den Jahren 2010 bis 2013 haben wir in diesem Bereich 13 Milliarden Euro mehr investiert.
({1})
Gleichzeitig haben wir uns auf den Weg gemacht, die
Haushalte zu konsolidieren. Das ist in Bezug auf Generationengerechtigkeit ein ganz wichtiger Punkt. Genau
diesen Weg wollen wir jetzt konsequent weitergehen, indem wir weitere 9 Milliarden Euro in den Bereich Bildung und Forschung investieren.
({2})
Das darf ich an dieser Stelle auch einmal sagen: In Zeiten solch großer Rentenpakete ist das ein richtiges und
wichtiges Signal an die junge Generation.
({3})
Wir als CDU/CSU-Fraktion haben innerhalb des Budgets vor, die BAföG-Bedarfssätze und auch die Freibeträge zu erhöhen. Aber das muss man erst einmal anständig durchrechnen. Hier darf es keinen Schnellschuss
geben.
Sie haben sich immerhin die Mühe gemacht, einen
hübschen Forderungskatalog aufzustellen. Dort finden
sich Forderungen wieder wie die nach einer Erhöhung
der Bedarfssätze um mindestens 10 Prozent, dem rückzahlungsfreien Vollzuschuss oder der elternabhängigen
Förderung. Das ist keine Initiative, sondern „Wünsch dir
was“ und sonst gar nichts.
({4})
Am Ende packen Sie ihre linke Agenda wie die Forderung nach Erhöhung der Einkommen-, Vermögen- und
Erbschaftsteuer in Ihren BAföG-Antrag. Ich frage mich
ernsthaft: Was hat das darin verloren? Absolut gar
nichts!
({5})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, statt pauschal das
Maximum zu fordern, wollen wir es anständig durchrechnen. Die junge Generation hat auf lange Sicht überhaupt nichts davon, wenn man einfach imposante Pakete
schnürt, das Umsetzungskonzept aber offen bleibt. Es
wäre ja geradezu absurd und völlig abwegig - das muss
man sich einmal vorstellen -, wenn wir jetzt das Geld,
das Sie im Rahmen Ihrer großen Reform ins BAföG stecken wollen, durch Steuererhöhungen und Aufnahme
neuer Schulden finanzieren würden, und das im selben
Umfang.
Oder eine andere Idee: Wäre es vielleicht toll, wenn
wir das Geld einfach aus anderen wichtigen und richtigen Bildungs- und Forschungsinitiativen nehmen würden? Das ist das Prinzip „rechte Tasche - linke Tasche“.
Das bringt uns überhaupt gar nichts. Das ist nicht generationengerecht und aus dem Grund auch nicht mit uns
zu machen.
({6})
Andere Instrumente wie beispielsweise das Deutschlandstipendium erklären Sie unerklärlicherweise für gescheitert.
({7})
Dabei ist auch das eine Erfolgsgeschichte: 14 000 Stipendiaten wurden Ende 2012 gefördert. Das sind immerhin 9 000 mehr als im Jahr davor. Zusammen mit dem
Ausbau der Begabtenförderungswerke haben wir es seit
2005 geschafft, die Anzahl der Stipendien fast zu verdreifachen. Wir haben die Anzahl der Stipendien von
16 400 auf 48 000 erhöht.
({8})
Deutschland muss zugegebenermaßen - auch das will
ich sagen - im Bereich der Stipendien noch einiges tun.
Da gibt es noch ein bisschen aufzuholen.
({9})
Dabei setzen wir aber nicht, wie Sie es so gerne tun, allein auf den Staat, sondern auch auf private Träger, auf
Förderer aus der Wirtschaft. Auch das ist wichtig. Diesen Weg wollen wir als CDU/CSU-Fraktion konstruktiv
begleiten.
({10})
Noch ein Wort zum Bürokratieabbau: Ein Ansatzpunkt für die BAföG-Reform muss sein, die komplizierte Antragstellung praxisnäher und stärker am Studenten orientiert zu gestalten. Das ist wichtig, damit der
Vergabeprozess beschleunigt werden kann und das Geld
schneller dort ankommt, wo es wirklich gebraucht wird,
nämlich bei den Studenten.
({11})
Zusammengefasst heißt das: Wir brauchen keinen
Schnellschuss, sondern ein solides Konzept. Wir wollen
bei der Weiterentwicklung des BAföG den Anforderungen der Studenten Rechnung tragen; dafür setzen wir uns
ein. Wir wollen daneben die Auswirkungen des Bologna-Prozesses im Blick behalten. Das alles muss basieren auf dem Prinzip der Nachhaltigkeit. Das sind wir der
jungen Generation schuldig.
Vielen Dank.
({12})
Dies war die erste Rede der Kollegin. Herzlichen
Glückwunsch!
({0})
Jetzt hat die Kollegin Saskia Esken das Wort.
({1})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das Bundesausbildungsförderungsgesetz, das BAföG, steht für
ein zentrales gesellschaftliches Versprechen. Es steht für
den Aufstieg durch Bildung und Leistung. Es steht für
Eltern, die sich eine bessere Zukunft für ihre Kinder
wünschen, und es steht für die Unterstützung junger
Menschen, die sich weiterentwickeln möchten.
Das Versprechen des Aufstiegs durch Bildung und
Leistung ist das Kernthema der Sozialdemokraten seit
mehr als 150 Jahren. So kann es nicht verwundern, dass
eine SPD-geführte Regierung das BAföG erfunden und
eingeführt hat. Alle bedeutenden Reformen und Weiterentwicklungen des BAföG wurden von Regierungen auf
den Weg gebracht, an denen die SPD beteiligt war.
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Wir können deshalb versichern: Auch bei der jetzigen
Regierung können sich die jungen Menschen und ihre
Eltern auf die SPD verlassen. Wir werden gemeinsam
mit dem Koalitionspartner dafür sorgen, dass gestiegene
Lebenshaltungskosten und Einkommen ebenso berücksichtigt werden wie der Wandel von Lebens- und Studienbedingungen.
Über die Notwendigkeit einer grundlegenden Reform
sind wir uns nicht nur in der Regierungskoalition durchaus einig. Ich bin deshalb zuversichtlich, liebe Kollegen
von der Linken, dass wir für die Ausgestaltung und die
Finanzierung einer BAföG-Reform mit Substanz einen
gemeinsamen Weg finden werden.
Auch wenn die Zahl der Studienanfänger und mit ihr
die Zahl der BAföG-Empfänger immer weiter ansteigt
und wir damit die Erfolgsgeschichte des BAföG erzählen können, müssen wir feststellen: Bei der Frage der
Bildungsgerechtigkeit liegt immer noch ein weiter Weg
vor uns. Eines zeigt uns die Bildungsberichterstattung,
zum Beispiel der Ländervergleich des IQB oder auch der
letzte PISA-Bericht, bei allen positiven Entwicklungen
immer wieder deutlich auf: Weiterhin ist in Deutschland
die soziale Herkunft sehr bestimmend für den Bildungserfolg und damit auch für den Hochschulzugang.
Es überrascht deshalb nicht, dass auch weiterhin
hauptsächlich der Nachwuchs von Akademikern den
Weg an die Hochschulen findet. Drei Viertel der Kinder,
bei denen ein Elternteil oder beide Elternteile einen
Hochschulabschluss haben, nehmen später selbst ein
Studium auf. Bei Facharbeiterfamilien beträgt dieser Anteil nur 25 Prozent. Soziale Gerechtigkeit und Chancengleichheit dürfen aber nicht nur auf dem Papier stehen.
Diese hehren Ziele müssen mit Leben gefüllt werden.
Das BAföG bildet hierfür eine wichtige Basis.
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Alle Eltern - hier in diesem Hause und darüber hinaus - wünschen sich eine gute Zukunft für ihre Kinder.
Dieser Wunsch bezieht sich nicht nur auf das persönliche
Leben, sondern auch auf den Erfolg am Arbeitsmarkt. Dabei wird die Qualität der Bildung und Ausbildung als Voraussetzung für den Erfolg auf dem Arbeitsmarkt angesehen. Die vergleichsweise geringen Zahlen arbeitsloser
Fachkräfte und Akademiker zeigen ja auch, dass das
nicht ganz falsch ist.
Deshalb ist der Wunsch nach der bestmöglichen Bildung und Ausbildung in diesem Zusammenhang zentral.
Ob „bestmöglich“ dann eher mit einem Hochschulstudium oder einer Facharbeiterausbildung zu verwirklichen ist, ist eine Frage der persönlichen Neigung und
Sichtweise. In der Sorge aber, ob diese bestmögliche Bildung und Ausbildung der Kinder auch finanziell leistbar
ist, stellt das BAföG gerade für die Eltern eine große
Entlastung dar.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, das Versprechen des Aufstiegs durch Bildung und Leistung war
und ist für uns Sozialdemokraten - darauf will ich gerne
noch einmal zurückkommen - die Grundlage für das
BAföG als soziales Leistungsgesetz. Hierauf wird die
SPD auch in Zukunft ein besonderes Augenmerk legen
und dies in die Regierungsarbeit mit einfließen lassen.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
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Auch Ihnen, liebe Kollegin Esken, ganz herzlichen
Glückwunsch zu Ihrer ersten Rede!
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Als nächste Rednerin hat die Kollegin Cemile
Giousouf das Wort.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Liebe Besucher! Hätte die
Linksfraktion einen Blick in den 20. BAföG-Bericht und
in die Presse geworfen, hätte sie sich diesen Antrag
sparen können. Ich bin der Auffassung: Auch Ihre
Wählerinnen und Wähler verdienen es, dass wir in diesem Hohen Haus substanziell über Studienfinanzierung
debattieren statt über Scheinanträge. Der hier vorliegende Antrag verzerrt die Realitäten und impliziert, die
Regierung würde die Studierenden und Schüler dieses
Landes im Stich lassen. Er bietet auch keine einzige realistische Finanzierungsgrundlage.
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Konkret fordern Sie, Frau Gohlke, fordert die Linke,
den Darlehensanteil des BAföG zu streichen. Stattdessen
soll ein Vollzuschuss ausgezahlt werden. Als ehemalige
BAföG-Empfängerin möchte ich einem Steuerzahler
nicht vermitteln müssen, warum ein in der Regel gut verdienender Akademiker seine Ausbildung in voller Höhe
staatlich bezuschusst bekommen soll. Die heutige Regelung, dass die Hälfte der BAföG-Zahlung als zinsloses
Darlehen ausgezahlt wird, ist fair. Schüler und AuszubilCemile Giousouf
dende bekommen diese Leistung ohnehin als darlehensfreien Vollzuschuss.
Weiterhin fordern Sie in Ihrem Antrag, die Bedarfssätze drastisch zu erhöhen und die Altersgrenzen abzuschaffen. Im Jahr 2008 wurde das BAföG um 10 Prozent
und im Jahr 2010 das Höchstalter auf 35 Jahre erhöht.
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Aber Sie wollen das BAföG zu einer statischen Rundumversorgung degradieren: nach dem Prinzip Gießkanne ein bedingungsloses Grundeinkommen für alle.
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Ihre Maximalforderungen aus dem linken Wünsch-dirwas-Katalog wollen Sie durch neue Schulden und höhere Steuern finanzieren. Mit Verlaub: Das kann wirklich kein Mensch ernst nehmen.
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Die Forderung, das Deutschlandstipendium abzuschaffen, gehört inzwischen offenbar zu einer Art Antragsfolklore der Opposition.
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Um es noch einmal klarzustellen: Das Stipendium ist
keine Alternative zum BAföG. Etwa ein Viertel der Stipendiaten erhielten dieses zusätzlich zu ihrem BAföG.
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Wenn man die freiwerdenden Mittel aus dem Deutschlandstipendium den BAföG-Empfängern auszahlen
würde, käme man auf eine Summe von 1,50 Euro. Ich
kann mir nicht vorstellen, dass das eine ernsthafte Forderung von Ihnen sein kann.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, Deutschland ist die
Bildungsrepublik in Europa. Wir haben die niedrigste
Jugendarbeitslosigkeit, und unser Ziel ist es, jedes Kind
nach seinen Begabungen zu fördern. Unsere Bilanz ist so
gut wie seit Jahren nicht mehr. Auch das können Sie
nicht schlechtreden, auch wenn Sie sich noch so viel
Mühe geben; die Ergebnisse des BAföG-Berichts bestätigen das. Bund und Länder haben 2012 insgesamt
3,3 Milliarden Euro und damit 18 Prozent mehr für
BAföG ausgegeben als noch 2010. Die Zahl der Geförderten betrug 2012 im Jahresdurchschnitt 630 000. Das
waren 45 000 Studierende und Schüler mehr als noch
vor drei Jahren. Die Förderbeiträge für Studierende und
für Schüler sind angestiegen: Schüler bekommen heute
50 Euro mehr im Monat. Wir konnten 54 000 Studierenden eine Ausbildung im Ausland ermöglichen; so etwas
ist sonst - da gebe ich der Kollegin aus der SPD recht privilegierten Familien vorbehalten. 67 000 Geförderte
haben eine ausländische Staatsangehörigkeit. Das ist ein
Zeichen dafür, dass unser Bildungssystem und unser
Fördersystem durchlässiger geworden sind.
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Neben dem BAföG wurden im Jahr 2012 175 Millionen Euro in die Förderung von besonders begabten Studierenden investiert. Was für die Kollegen der Linkspartei eine Elitenförderung darstellt, ist eine Anerkennung
von gesellschaftlichem Engagement, das nicht weniger
zählt als gute Noten; denn ein Land, das seine besten
Köpfe nicht fördert, ist nicht zukunftsfähig.
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Das Drei-Säulen-Modell unserer Studienfinanzierung
- BAföG, Begabtenförderung und Studiendarlehen - hat
sich bewährt. Immer mehr junge Menschen können unabhängig von sozialen und nationalen Hürden in unserem Land erfolgreich ihre Ausbildung machen. Ich bin
aber überzeugt, dass wir die Studienfinanzierung noch
verbessern können: indem wir, wie meine Kolleginnen
und Kollegen schon gesagt haben, die Übergänge zwischen den Abschlüssen erleichtern, indem wir junge Eltern, die in Teilzeit studieren, unterstützen und indem
wir die BAföG-Anträge flächendeckend online zugänglich machen.
Das BAföG, liebe Kollegen von der Linksfraktion,
wird weiterentwickelt; unsere Bildungsministerin, Frau
Wanka, hat das klar und deutlich gesagt. Der Bund hat
die Arme weit geöffnet.
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Es ist nur konsequent, dass Bund und Länder auf diesem
Gebiet weiter zusammenarbeiten, wie sie es seit über
40 Jahren tun.
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Es wird bei der Lastenverteilung bleiben, dass der Bund
65 Prozent und die Länder 35 Prozent tragen. Wir sehen
da auch ein wenig unsere Fürsorgepflicht gegenüber den
Ländern. Wir wollen, dass auch die Länder sagen können: Liebe Studierende, wir unterstützen euch und tragen Verantwortung für eure Ausbildung.
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Ich würde mir wünschen, dass Sie, liebe Kolleginnen
und Kollegen von der Linken, auf Ihre Parteikollegen
einwirken; denn während Sie hier mit fadenscheinigen
Anträgen fordern, dass das BAföG verbessert wird, fallen unter der rot-roten Landesregierung in Brandenburg
jährlich 450 000 Unterrichtsstunden aus.
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Das wäre doch einmal ein Punkt, wo sich Einsatz richtig
lohnen würde.
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Auch Ihnen, Kollegin Giousouf, herzlichen Glückwunsch zu Ihrer ersten Rede!
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, damit ist die Debatte beendet. Ich schließe die Aussprache.
Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/479 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Damit, liebe Kolleginnen und Kollegen, sind wir am
Schluss unserer heutigen Tagesordnung angekommen.
Ich wünsche Ihnen ein schönes Wochenende und gute
Arbeit.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 19. Februar 2014, 13 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.