Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Nehmen Sie bitte Platz. Die Sitzung ist eröffnet.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich begrüße Sie alle
herzlich. Ich habe einige amtliche Mitteilungen vorzutragen, bevor wir in unsere Tagesordnung eintreten.
Seit der letzten Sitzungswoche haben die Kollegen
Helmut Heiderich und Dr. Michael Fuchs ihren
65. Geburtstag und der Kollege Dr. Peter Ramsauer
seinen 60. Geburtstag gefeiert. Allen genannten Kollegen gelten noch einmal auch auf diesem Wege unsere
herzlichen Glückwünsche für das neue Lebensjahr.
({0})
Der Kollege Sebastian Edathy hat mit Ablauf des
6. Februar 2014 auf seine Mitgliedschaft im Deutschen
Bundestag verzichtet. Für ihn ist die Kollegin Gabriele
Groneberg nachgerückt. Auch sie möchte ich im Namen des Hauses begrüßen.
({1})
Sie hat bereits in früheren Legislaturperioden dem Bundestag angehört. Wir wünschen uns ein nahtloses Anknüpfen an die damalige gute Zusammenarbeit.
Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, haben wir
auch heute noch einige Wahlen durchzuführen.
Die Fraktion der CDU/CSU schlägt vor, dass im Verwaltungsrat der Deutschen Nationalbibliothek als
Nachfolger für den Kollegen Dr. Günter Krings der Kollege Ansgar Heveling als ordentliches Mitglied gewählt
wird. Die SPD-Fraktion schlägt für das gleiche Gremium als Nachfolger der Kollegin Brigitte Zypries den
Kollegen Burkhard Blienert als stellvertretendes Mitglied vor. Sind Sie mit diesen Vorschlägen einverstanden? - Das ist offenkundig der Fall. Dann sind der Kollege Heveling und der Kollege Blienert als Mitglied und
stellvertretendes Mitglied des Verwaltungsrates bestellt.
Als Nächstes schlägt die Fraktion der CDU/CSU für
das Kuratorium der Stiftung „Deutsches Museum“
vor, für den Kollegen Marco Wanderwitz als ordentliches Mitglied den Kollegen Ansgar Heveling - schon
wieder ({2})
und als dessen Nachfolger als stellvertretendes Mitglied
den Kollegen Dr. Philipp Lengsfeld zu wählen. Als
weiteres stellvertretendes Mitglied soll die Kollegin
Dr. Herlind Gundelach für die Kollegin Monika
Grütters gewählt werden. Jeder erfahrene Zuhörer stellt
fest, dass es sich hier regelmäßig um das Auswechseln
von jetzt der Bundesregierung angehörenden Kolleginnen und Kollegen durch Mitglieder aus den Fraktionen
handelt.
Die Fraktion der SPD schlägt für dieses Gremium
vor, für den ausgeschiedenen Kollegen Wolfgang
Thierse als ordentliches Mitglied die Kollegin Dr. Eva
Högl und als deren Nachfolgerin als stellvertretendes
Mitglied die Kollegin Hiltrud Lotze zu wählen. Als
weiteres stellvertretendes Mitglied soll hier die Kollegin
Christina Jantz für die Kollegin Aydan Özoğuz gewählt werden. Schließlich schlägt die Fraktion Die
Linke vor, als ordentliches Mitglied des Kuratoriums für
den ausgeschiedenen Kollegen Reiner Deutschmann die
Kollegin Sigrid Hupach und als stellvertretendes Mitglied die Kollegin Petra Pau für den ebenfalls ausgeschiedenen Kollegen Patrick Kurth zu wählen. Können
Sie sich auch das alles so vorstellen? - Das ist der Fall.
Dann sind die gerade genannten Kollegen und Kolleginnen für das genannte Kuratorium gewählt.
Für den Stiftungsrat der „Härtefall-Stiftung“
schlägt die Fraktion der CDU/CSU vor, als Nachfolger
für den ausgeschiedenen Kollegen Ernst-Reinhard Beck
den Kollegen Ingo Gädechens zu wählen. Die SPDFraktion schlägt als Nachfolger für den aus diesem Gremium ausgeschiedenen Kollegen Ullrich Meßmer den
Kollegen Dr. Karl-Heinz Brunner vor. Auch hierzu
würde ich gerne Ihr Einvernehmen feststellen. - Das ist
erkennbar der Fall.
Die Fraktion der CDU/CSU schlägt vor, als Nachfolgerin für die aus dem Beirat der Stiftung Datenschutz
ausgeschiedene Kollegin Rita Pawelski die Kollegin
Mechthild Heil zu wählen, und die SPD-Fraktion
Präsident Dr. Norbert Lammert
schlägt vor, als Schriftführer für den Kollegen SteffenClaudio Lemme den Kollegen Stefan Zierke zu wählen. - Auch da besteht offensichtlich Einvernehmen. Damit sind die gerade genannte Kollegin und der gerade
genannte Kollege für die genannten Funktionen bestellt.
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene
Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern:
ZP 1 Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion DIE LINKE
Haltung der Bundesregierung zur strafbefreienden Selbstanzeige bei Steuerhinterziehung
({3})
ZP 2 Unterrichtung durch die Bundesregierung
Fortschrittsbericht zur Lage in Afghanistan
Drucksache 18/466
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({4})
Innenausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
ZP 3 Beratung der Antrags der Fraktionen der CDU/
CSU und SPD
Änderung der Geschäftsordnung zur besonderen Anwendung der Minderheitenrechte in
der 18. Wahlperiode
Drucksache 18/481
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung
ZP 4 Wahl der Mitglieder des Beirats bei der Bundesnetzagentur für Elektrizität, Gas, Telekommunikation, Post und Eisenbahnen
Drucksache 18/491
ZP 5 Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Haltung der Bundesregierung zur Forderung
der bayrischen Staatsregierung nach einem
Moratorium für den Ausbau der Stromnetze
ZP 6 Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
CSU und SPD
Einsetzung eines Untersuchungsausschusses
Drucksache 18/483
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung ({5})
ZP 7 Erste Beratung des von den Fraktionen der
CDU/CSU und SPD eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des Abgeordnetengesetzes und eines … Gesetzes zur Änderung des Europaabgeordnetengesetzes
Drucksache 18/477
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung ({6})
Haushaltsauschuss mitberatend und gemäß § 96 der GO
ZP 8 Erste Beratung des von den Fraktionen der
CDU/CSU und SPD eingebrachten Entwurfs ei-
nes … Strafrechtsänderungsgesetzes - Erwei-
terung des Straftatbestandes der Abgeordne-
tenbestechung
Drucksache 18/476
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
ZP 9 Erste Beratung des von der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zum Übereinkommen der Ver-
einten Nationen gegen Korruption
Drucksache 18/478
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, so-
weit erforderlich, abgewichen werden.
Der für morgen früh vorgesehene Tagesordnungs-
punkt 13 wird abgesetzt. Stattdessen sollen als Zusatz-
punkte die Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur
Änderung des Abgeordnetengesetzes und des Europaab-
geordnetengesetzes auf Drucksache 18/477 und damit
verbunden die Beratung des Entwurfs eines Strafrechtsän-
derungsgesetzes auf Drucksache 18/476 sowie der Ent-
wurf eines Gesetzes zum Übereinkommen der Vereinten
Nationen gegen Korruption auf Drucksache 18/478 auf-
gerufen werden. Als Debattenzeit sind dafür 60 Minuten
vorgesehen. Darf ich auch für diese Änderung der Tages-
ordnung Ihr Einvernehmen feststellen? - Das ist so.
Dann haben wir das so beschlossen.
Wir kommen nun zum Tagesordnungspunkt 3 a bis
3 d:
a) Abgabe einer Regierungserklärung durch den
Bundesminister für Wirtschaft und Energie
Soziale Marktwirtschaft heute - Impulse für
Wachstum und Zusammenhalt
b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Jahreswirtschaftsbericht 2014 der Bundesregierung
Drucksache 18/495
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Energie ({7})
Finanzausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsauschuss
Präsident Dr. Norbert Lammert
c) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Jahresgutachten 2013/14 des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung
Drucksache 18/94
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Energie ({8})
Finanzausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsauschuss
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kerstin
Andreae, Oliver Krischer, Katharina Dröge, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Wettbewerbsfähigkeit durch Innovation und
Zukunftsinvestitionen sichern
Drucksache 18/493
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Zu der Regierungserklärung liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklärung 96 Minuten vorgesehen. - Auch das findet offenkundig Ihre Zustimmung. Dann haben wir das so vereinbart.
Das Wort zur Abgabe der Regierungserklärung hat
der Bundesminister für Wirtschaft und Energie, Sigmar
Gabriel.
({9})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Deutschland besitzt ein Erfolgsmodell für eine langfristig ökonomisch und sozial
nachhaltige Entwicklung: das Modell der sozialen
Marktwirtschaft. Dazu gehört beides: innovative, wettbewerbsfähige Unternehmen mit Unternehmerinnen und
Unternehmern, die zu einer höheren Investitionsquote
beitragen, und gute Löhne, die der Inflation und der Produktivität Rechnung tragen und den Spielraum für den
Wohlstandszuwachs der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ausschöpfen.
Der Jahreswirtschaftsbericht 2014 will die Aufmerksamkeit auf dieses deutsche Erfolgsmodell soziale
Marktwirtschaft richten, das sich nicht zuletzt nach den
Erschütterungen in der Finanzmarktkrise so glänzend
bewährt hat. Wir sagen: Lassen Sie uns das stärken, was
unserem Land in der Vergangenheit gutgetan hat: eine
Wirtschaftspolitik - und übrigens auch eine Energiepolitik -, die nicht nur einzelne Interessen bedient, sondern
die ganze Gesellschaft im Blick hat, und ein Versprechen
von Wohlstand, das allen sozialen Schichten etwas zu
bieten hat.
Fairer Wettbewerb, die Effizienz der Märkte nutzen
sowie eine gerechte Einbettung in soziale und ökologische Rahmenbedingungen sind in der Marktwirtschaft
keine Gegensätze, sondern Prinzipien, die sich ergänzen
und unsere Gesellschaft produktiver und lebenswerter
machen.
({0})
Meine Damen und Herren, in diesem Jahr liegt der
Ausbruch des Ersten Weltkrieges 100 Jahre zurück und
der Beginn des Zweiten Weltkrieges 75 Jahre. Im Rückblick wird klar: Nicht nur die Demokratisierung unseres
Landes war eine Lehre aus dieser Katastrophe, sondern
auch die Überwindung der scharfen sozialen Gegensätze
- von massenhafter Unsicherheit bis Arbeitslosigkeit
und Elend - war und bleibt eine Lehre unserer Geschichte. Wenn Historiker heute von der „geglückten
Demokratie“ der Bundesrepublik sprechen, meinen sie
damit auch und gerade den wirtschaftlichen Neuanfang,
für den Ludwig Erhard die Formel „Wohlstand für Alle“
gefunden hat. Natürlich gibt es auch in unserem Land
gute und weniger gute Traditionen; aber die soziale
Marktwirtschaft gehört zu den besten Traditionen der
deutschen Geschichte. An ihr wollen wir auch in Zukunft anknüpfen.
({1})
Ich verstehe die Wirtschaftspolitik der Bundesregierung als Angebot an engagierte Unternehmerinnen und
Unternehmer, an das Handwerk, an den Mittelstand und
auch an die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Denn
Wirtschaftspolitik ist eben auch immer Gesellschaftspolitik. Sie soll mithelfen, stabile, soziale, gerechte und
faire Rahmenbedingungen für unsere Gesellschaft zu
schaffen. Das Wirtschaftsministerium steht als Haus der
Wirtschaft Unternehmerinnen und Unternehmern deshalb ebenso offen wie den Vertretern der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und der Gewerkschaften.
Sie alle miteinander sind die Wirtschaft, und sie sind die
Sozialpartner unseres Landes.
In der Öffentlichkeit mag man sich vielleicht darüber
wundern, dass der Jahreswirtschaftsbericht vermutlich
zum ersten Mal in der Geschichte der Jahreswirtschaftsberichte ein Dokument ist, in dem steht, dass ein Wirtschaftsminister den Mindestlohn für richtig empfindet.
({2})
Das Protokoll vermerkt: Unruhe im Saal.
({3})
Das hatten wir hier aber schon schlimmer, Herr
Gabriel.
({0})
Insbesondere bei dem Thema, Herr Präsident. - Ich
will gar nicht auf die Frage eingehen, ob die Höhe des
Mindestlohns gerechtfertigt ist und ob er schnell genug
kommt. Das ist in der politischen Debatte umstritten. Ich
will vielmehr darauf hinweisen, dass der Mindestlohn
nicht nur wegen seiner Höhe oder wegen seines ökonomischen Beitrags für den einzelnen Arbeitnehmer von
Bedeutung ist. Es geht im Kern in der Debatte über die
soziale Marktwirtschaft nämlich darum, dass Arbeit und
Leistung ihren Wert haben müssen.
({0})
Der Wert der Arbeit und übrigens auch die Würde und
Wertschätzung des arbeitenden Menschen
({1})
müssen in einer sozialen Marktwirtschaft zum Ausdruck
kommen. Man kann wahrlich nicht sagen, dass ein Mindestlohn von 8,50 Euro eine überschäumende Wertschätzung ist.
({2})
Aber er ist zumindest eine Abkehr von dem unwürdigen
und entwürdigenden Zustand, dass Menschen den ganzen Tag arbeiten und hinterher trotzdem zum Sozialamt
gehen müssen. Damit muss in unserem Land Schluss
sein.
({3})
Die soziale Marktwirtschaft ist nicht deshalb groß geworden, weil die Menschen wussten, dass nach Arbeit
unmittelbar paradiesische Zustände eintreten. Aber sie
wussten - und das war die Lebenserfahrung auch meiner
Generation -, dass Arbeit sich lohnt und dass es Stück
für Stück besser werden kann. Der Spruch der Eltern an
die Adresse der Kinder „Du sollst es einmal besser haben als wir“ wurde in vielen Generationen der Republik
zur Realität.
Wir haben heute - das ist eines der Probleme der
Marktwirtschaft - einen gespaltenen Arbeitsmarkt. Wir
haben das Nichtvorhandensein von Mindestlöhnen. Wir
haben die Zunahme von Leih- und Zeitarbeit. Es gibt das
Werksvertragsarbeitnehmerunwesen. Das alles ist nicht
nur in ökonomischer Hinsicht ein Problem für die betroffenen Menschen, und es ist nicht nur sozial ungerecht,
sondern es ist im Kern gegen die Idee der Marktwirtschaft gerichtet, die besagt, dass Arbeit und Leistung
sich lohnen müssen und dass es Menschen durch Arbeit
in ihrem Leben besser gehen muss. Das ist das Problem
dieser Entwicklung.
({4})
Es ist richtig, dass der Mindestlohn Eingang in den
Koalitionsvertrag gefunden hat. Es ist übrigens auch gut,
dass er mit dem Angebot verbunden ist, zum System der
Tarifverträge zurückzukehren. Denn dass in Ostdeutschland 70 Prozent der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer keinen Tarifvertrag haben, ist ein Zustand, an dem
selbst die schnelle Einführung eines Mindestlohns von
8,50 Euro nichts ändern würde. Wir wollen nicht nur
Mindestlöhne. Wir wollen gute Tariflöhne in unserem
Land. Das ist das, was wir eigentlich erzeugen wollen.
({5})
Ich mache übrigens für den Gedanken kein Urheberrecht geltend. Einer der Gründerväter der sozialen
Marktwirtschaft, Walter Eucken, sozusagen der Ordoliberale unseres Landes, hat vor mehr als 60 Jahren präzise
das Gleiche formuliert. Lohnverfall hat er als Anomalie
des Arbeitsmarktes bezeichnet. Wo der Arbeitsmarkt
nachhaltig anomal, weil vermachtet ist, da wird - ich zitiere - „die Festsetzung von Mindestlöhnen akut“.
({6})
Darauf zu setzen, zeigt eine im Kern ordoliberale Vorstellung. Das Problem ist, dass in der Vergangenheit
manche das Buch von Ludwig Erhard zwar hochgehalten, aber möglicherweise nur die Klappentexte gelesen
haben.
({7})
- Das ist auch schon was? - Na ja.
Meine Damen und Herren, die Einführung eines Mindestlohns ist nicht nur sozialpolitisch, sondern auch wirtschaftspolitisch geboten. Der Mindestlohn ist sozusagen
Kernbestandteil der sozialen Marktwirtschaft. Hatten
wir Jahre, in denen die Steigerung von Löhnen und Gehältern nicht die Produktivitätsfortschritte und manchmal nicht einmal die Inflationsentwicklung widerspiegelten, so werden sich - das ist die Projektion des
Jahreswirtschaftsberichtes 2014 - Löhne und Gehälter
nun endlich wieder entlang von Produktivität und Inflationsrate entwickeln.
Ich habe gestern erleben müssen, dass meine Formulierung, es sei gut, wenn sich Löhne und Gehälter entlang von Produktivität und Inflationsrate entwickelten,
als Aufforderung zur Lohnzurückhaltung kritisiert worden ist. Ich habe - das will ich hier einmal deutlich sagen mit 19 Jahren meinen ersten Lehrgang bei der IG Metall
besucht, nämlich den Funktionärslehrgang 1. Das sollten
Sie auch einmal tun.
({8})
- Ein bisschen Humor muss auch in dieser Debatte sein.
({9})
Dort habe ich gelernt, was eine gewerkschaftliche Lohnforderung ist. Diese setzt sich zusammen aus dem Ausgleich der Inflationsrate, der Zunahme der ProduktiviBundesminister Sigmar Gabriel
tätsrate und, wenn Gewerkschaften richtig kräftig sind,
aus dem Element der Umverteilung. Zwei Drittel der
Forderung der IG Metall hinsichtlich der Zusammensetzung der Lohnsteigerung sind in diesem Jahreswirtschaftsbericht zu finden, und Sie von der Opposition kritisieren das immer noch. Also, ich verstehe Sie nicht.
({10})
Es ist volkswirtschaftliche Normalität und Grundlage jeder Tarifverhandlung, Tariferhöhungen daran zu orientieren, wie sich Produktivität und Inflationsrate entwickeln. Dann muss man schauen, ob man die Kraft hat,
noch ein bisschen mehr zu erreichen.
In unserem Land hatten wir in den letzten Jahren eher
sinkende Reallöhne. Jetzt haben wir mit einer Reallohnsteigerung von 1,1 Prozent die stärkste Steigerung seit
2010. Wir gehen in der Prognose davon aus, dass die
durchschnittliche Erhöhung der Löhne bei 2,7 Prozent
liegen wird. Das ist aber der Durchschnitt für die gesamte Volkswirtschaft. Natürlich wird es Tarifbereiche
geben, in denen die Lohn- und Gehaltsentwicklung darüber liegen wird.
Ich finde diese Lohnentwicklung in Deutschland gut;
denn wir sehen anhand der Jahresprojektion, dass das
wirtschaftliche Wachstum unseres Landes in den nächsten Jahren im Wesentlichen durch die Binnenkonjunktur
getragen werden wird.
({11})
Der Mindestlohn, die Verhinderung von Rentenkürzungen nach langen Arbeitsjahren und die gesellschaftliche
Akzeptanz von Erziehungsleistungen, die mit einer höheren Rente verbunden sind - das sind die Beschlüsse
der Bundesregierung zur Rentenpolitik -, stärken die
Kaufkraft im Land. Das ist auch wichtig, weil das prognostizierte Wirtschaftswachstum von 1,8 Prozent in
diesem Jahr sowie im kommenden Jahr und im weiteren
Verlauf von sogar 2 Prozent ganz wesentlich von der
Binnenkonjunktur getragen wird.
Deshalb gibt es die Entwicklung, dass Menschen wie
im letzten auch in diesem Jahr mit steigenden Einkommen rechnen können. Die Menschen in Deutschland haben übrigens das Gefühl, dass sich die Wirtschaft gut
entwickelt und sie keine Sorgen um ihre Arbeitsplätze
haben müssen. Das ist die Grundlage für den wirtschaftlichen Aufschwung. Das ist die Grundlage dafür, dass
wir auch im europäischen Vergleich einen Teil der Kritik, die die Europäer an uns haben, nämlich dass wir zu
geringe Löhne hätten, zurückweisen können; denn dann,
wenn sich die ökonomische Entwicklung unseres Landes
gut darstellt, gibt es Tarifabschlüsse mit höheren Löhnen.
Wir sehen, dass in diesem Jahr die Importe erheblich
zunehmen werden. Der Export, obwohl er nach wie vor
ein wichtiger Bestandteil der deutschen Wirtschaft ist,
treibt nicht alleine das Wirtschaftswachstum an. Deshalb
freuen wir uns darüber, dass die gute Lohn- und Einkommensentwicklung im letzten und in diesem Jahr dazu
führen wird, dass sich die Binnenkonjunktur in unserem
Land stärker entwickeln wird.
({12})
Meine Damen und Herren, die Exporte nehmen zu.
Das ist Ausdruck der hohen Wettbewerbsfähigkeit der
deutschen Industrie. Für die Importe gilt das aber eben
auch. Nur eine Bemerkung zum Thema Leistungsbilanzüberschuss: Durch die Importsteigerungen reduzieren
wir diesen Überschuss ein bisschen. Man sollte aber
auch noch einmal deutlich sagen, dass die hohen Exporte
unseres Landes vor allen Dingen Ausdruck der Innovationskraft und der hohen Produktivität unserer Unternehmen sind - nichts anderes.
({13})
Die Grundlage dieser hohen Produktivität sind Forschung und Entwicklung und die hohe Qualifikation unserer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Das ist die
Grundlage des Erfolges der Unternehmen und der guten
Exportzahlen.
({14})
Die deutsche Industrie zieht Vorleistungen ins Land,
die wir übrigens auch dringend brauchen; denn sie sind
Teil unserer und Teil der europäischen Wertschöpfungskette. Diese stützen auch die Erholung in Europa; denn
ein Großteil der Einfuhren der europäischen Länder
kommt von ihren europäischen Handelspartnern.
Meine Damen und Herren, zentrale Stütze des Aufschwungs in diesem Jahr wird aber, wie schon gesagt,
der private Konsum sein. Nach einer Steigerung des privaten Konsums um real 0,9 Prozent im letzten Jahr - das
entspricht einem Wachstumsbeitrag von 0,5 Prozentpunkten - erreichte der Konsumklimaindex im Januar
den höchsten Wert seit der Finanzkrise.
({15})
- Das Leben ist immer relativ, auch im Parlament.
({16})
Dass die Deutschen der Meinung sind, dass sie mehr
konsumieren können, weil sie höhere Einkünfte haben,
und glauben, dass ihre Jobs sicher sind, macht das doch
nicht schlecht.
({17})
Es ist schwer, das zu kritisieren. Selbst Sie müssten sich
eigentlich darüber freuen.
({18})
Ich dachte, 240 000 zusätzliche Arbeitsplätze und ein
Beschäftigungsstand mit einem Rekordwert von
42,1 Millionen Personen sind ein Grund zur Freude auch für Sie.
({19})
Die zweite wichtige Stütze für das Wirtschaftswachstum in diesem Jahr sind die Investitionen. Bei den Unternehmensinvestitionen haben wir im vergangenen Jahr
die Trendwende geschafft. Für das Jahr 2014 erwarten
wir einen spürbaren Anstieg um 4 Prozent.
Angesichts der zunehmenden Kapazitätsauslastung
investieren die Unternehmen verstärkt in neue Maschinen und Ausrüstungen. Das ist ein ausgesprochen positives Signal. Das Land braucht dringend neue Investitionen. Wir dürfen nicht zusehen, wie das Anlagekapital
der Unternehmen veraltet, wie die öffentliche Infrastruktur auf Verschleiß läuft und wie Straßen, Schienen, Brücken oder auch kommunale Gebäude vor die Hunde gehen, und wir dürfen auch die digitale Moderne nicht
verschlafen und müssen die Investitionen in Breitbandnetze vorantreiben - insbesondere im ländlichen Raum,
weil die kleinen und mittelständischen Betriebe dort ansonsten einen massiven Wettbewerbsnachteil hätten.
({20})
Der Blick auf die aktuell günstige Konjunkturlage
darf uns aber nicht die Augen davor verschließen lassen,
dass es natürlich auch erhebliche Risiken und Herausforderungen gibt. Ich will ein paar davon nennen:
Da ist erstens die Entwicklung im Euro-Raum. Wir
müssen nach wie vor um die Stabilisierung des EuroRaums und Europas kämpfen. Das heißt, neben der Konsolidierung und Strukturreformen müssen wir in Wachstum und Arbeit in Europa investieren.
Zweitens. Wir sehen es gerade in den Schwellenländern: Die Regulierung der Finanzmärkte, insbesondere
des Schattenbankenwesens, ist nach wie vor eine der
wichtigsten Aufgaben, vor denen wir stehen.
({21})
Dort entstehen die Risiken für die Realwirtschaft, und
ich kann nur hoffen, dass es uns trotz der Schwierigkeiten gelingt, die Bankenunion in diesem Jahr unter Dach
und Fach zu bekommen. Aufgrund der aktuellen Debatte
darauf zu schließen, dass sie ein Jahr später oder noch
später kommt, wäre, glaube ich, ein ganz schlechtes Signal für die Stabilität im Euro-Raum.
({22})
Aber auch im Inland gibt es eine ganze Reihe von Herausforderungen. Eine davon ist zum Beispiel die zu geringe Investitionsquote. Wenn wir das von der OECD
geforderte Niveau erreichen wollen, dann müssen wir
wesentlich mehr tun, als wir derzeit schaffen. Selbst die
erhöhten Investitionen durch die Bundesregierung im
Verkehrssektor, in Hochschulen und im Städtebau reichen nicht aus.
Ich bin gestern gefragt worden, welche Chance wir
haben, die öffentlichen Investitionen zu verstärken. Die
Debatte über die Finanzbeziehungen von Bund, Ländern
und Gemeinden, die wir im Koalitionsvertrag festgelegt
haben - es geht dabei darum, Aufgaben und Finanzverantwortung endlich wieder zusammenzubringen -, muss
im Ergebnis zur finanziellen Entlastung der Kommunen
führen; denn zwei Drittel der öffentlichen Investitionen
tätigen nicht Bund und Länder, sondern Städte und Gemeinden. Diese müssen wir in ihrer Finanzkraft wieder
stärken. Dann sind wir auch in der Lage, mehr zu investieren.
({23})
Wir haben erheblichen Nachholbedarf in der öffentlichen Infrastruktur. Wir haben Schwierigkeiten im Bereich der Energiekosten. Natürlich erhöhen wir mit unseren Beschlüssen zur Rente, zur Pflegeversicherung und
zum Arbeitsmarkt die Arbeitskosten der deutschen Wirtschaft. Das darf niemand verschweigen. Umso wichtiger
ist es, dass wir die Kosten nicht auch noch im Energiebereich und in anderen Bereichen weiter ansteigen lassen.
Unser ganzes Augenmerk muss daher darauf gerichtet
sein, im Rahmen der Energiewende Versorgungssicherheit und Kostenentwicklung in den Griff zu bekommen.
({24})
Ich verzichte heute auf eine Reihe von Bemerkungen zur
Energiepolitik, weil wir im Haus noch ausreichend Gelegenheit haben werden, darüber zu sprechen.
Die Dynamik der Unternehmensgründungen ist zurückgegangen. Wir haben Schwierigkeiten bei der Umsetzung von Forschungsergebnissen in industrielle Prozesse. Es gibt also eine Reihe von Herausforderungen,
die wir in unserem Land bewältigen müssen, um Rahmenbedingungen zu erhalten, mit denen wir dafür sorgen, dass diese wirtschaftliche Entwicklung nicht nur im
Moment als positiv erscheint, sondern auch nachhaltig
fortgeschrieben wird.
Ostdeutschland - das wird in der nächsten Woche die
Debatte um den Jahresbericht zum Stand der Deutschen
Einheit zeigen - hat bei allen Erfolgen immer noch erhebliche Investitions-, Produktivitäts- und Lohnlücken.
In der ostdeutschen Wirtschaft haben sich inzwischen industrielle Kerne gebildet. Gerade in dieser Woche war
ich bei einem Unternehmen in Leipzig, in dem eine
halbe Milliarde Euro in die Produktion investiert wurde.
Viele gute Beispiele zeigen: Die Reindustriealisierung in
Ostdeutschland ist in vielen Bereichen gelungen. Aber
wir dürfen bei der regionalen Wirtschaftsförderung nicht
nachlassen.
Diesem Ansatz entspricht auch die Idee, dass wir im
Zusammenhang mit der Reform der Gemeinschaftsaufgabe für die Förderung der regionalen Wirtschaft nicht
nur die Mittel wieder anheben, sondern in Zukunft auch
Förderstrukturen entwickeln, bei denen wir, wie das
meine Kollegin in Nordrhein-Westfalen immer sagt,
nicht nach Himmelsrichtungen fördern, sondern da fördern, wo der wirtschaftliche und soziale Nachholbedarf
am größten ist. Ohne Zweifel ist das auch in Zukunft in
weiten Bereichen Ostdeutschlands der Fall. Wir haben
Erfolge. Aber wir dürfen uns mit ihnen nicht zufriedengeben.
({25})
Nicht zuletzt ist auch die Deckung des Fachkräftebedarfs in den kommenden Jahren eine der größten Herausforderungen. Wir haben uns deshalb im KoalitionsBundesminister Sigmar Gabriel
vertrag die Allianz für Fachkräfte auf die Fahne
geschrieben. Ich bin allerdings - das gebe ich zu - bei
solchen Allianzen gelegentlich ernüchtert. Da wird oft
sehr viel besprochen. Aber am Ende muss man aufpassen, dass das, was verabredet ist, auch umgesetzt wird.
Wenn der Streit um Zuständigkeiten unsere einzige Aktivität ist, werden wir am Ende scheitern. Deswegen sollten wir uns konkrete Ziele setzen: weniger Schulabbrecher, mehr Ausbildungsplätze, bessere Vereinbarkeit von
Familie und Beruf, mehr Chancen für Frauen und natürlich auch ein für Zuwanderinnen und Zuwanderer offenes Land, das sich über diese Zuwanderung freut.
({26})
Wir mobilisieren in dieser Legislaturperiode 6 Milliarden Euro zur Entlastung von Ländern bei der Finanzierung von Kitas, Schulen und Hochschulen. 3 Milliarden Euro kommen dem Aufwuchs bei der universitären
Forschung zugute. Wir investieren in Köpfe, vor allem
auch in umsetzungsfähige und anwendungsnahe Ideen.
Das, was der Jahreswirtschaftsbericht abbildet, ist einerseits das Ergebnis einer guten wirtschaftlichen Entwicklung. Politische Rahmenbedingungen haben in den
letzten zehn Jahren dazu geführt, dass Unternehmen flexibel und innovativ sein konnten und Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ihre Qualifikation zugunsten der
wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit einsetzen konnten.
Der Bericht markiert andererseits die Herausforderungen, denen wir uns in diesem Jahr und in den kommenden Jahren stellen werden und bei denen wir auch nachhaltige Erfolge haben werden.
Eine der Möglichkeiten, den Erfolg fortzuschreiben,
ist die Neuverhandlung des Transatlantischen Freihandelsabkommens. Ich sage das deshalb, weil in der öffentlichen Debatte zu Recht Sorgen geäußert werden: hinsichtlich der Gefahr einer Absenkung von sozialen
Rechten, hinsichtlich der Gefahr von Lohndumping,
auch hinsichtlich der Absenkung von kulturellen Standards, die wir in unserem Land erreicht haben. Aber nur
die Sorgen zu formulieren und die Chancen eines Freihandelsabkommens zu verschweigen, ist auch nicht der
richtige Umgang mit diesem Thema. Ich finde, woran
wir ein Interesse haben müssen, ist, dass das Freihandelsabkommen nicht zum Dumpingabkommen wird, in
keinem Bereich. Dafür werden wir uns miteinander einsetzen.
({27})
Wir wollen keine neue Runde der blinden Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen. Das wollen wir nicht.
({28})
Aber wir wollen die Chance nutzen, zwischen der Europäischen Union und Amerika den größten Freihandelsmarkt der Welt zu erzeugen und übrigens damit in unserem Land und in anderen Ländern ganz erheblichen
wirtschaftlichen Erfolg und neue Arbeitsplätze zu schaffen. Ich glaube, wir brauchen beides.
({29})
Die Bundesregierung ist dazu bereit, eine transparente
Debatte über das Freihandelsabkommen zu führen. Ich
jedenfalls bin auch persönlich dazu bereit, zu erläutern,
wo aus meiner Sicht Risiken und Aufgaben liegen und
worauf man achten muss, damit erreichte europäische
und deutsche Standards nicht nivelliert werden. Aber ich
finde, wir müssen in der Öffentlichkeit auch darstellen,
was wir für Chancen mit diesem Freihandelsabkommen
haben, damit nicht der Eindruck entsteht, dies sei sozusagen ein Freihandelsabkommen für amerikanische
Spionage. Darum geht es gerade nicht, meine Damen
und Herren.
({30})
Nein, es geht darum, dass wir eine Chance schaffen
für viele, viele Leute in diesem Land, die Zukunftsperspektiven für sich und übrigens auch für ihre Kinder
brauchen. Das, glaube ich, geht, wenn man Debatten unideologisch, pragmatisch und unter Wahrung der eigenen
Interessen führt. So können wir gemeinsam wirtschaftlichen Erfolg für unser Land herstellen, und der bedeutet
immer Erfolg für Unternehmen, aber auch Erfolg und
faire und gerechte Arbeits- und Lebensbedingungen für
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Beides ist Gegenstand der sozialen Marktwirtschaft, und die wollen
wir weiterentwickeln.
Vielen Dank.
({31})
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der
Kollegin Sahra Wagenknecht für die Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Werte
Kolleginnen und Kollegen! Ich lese Ihnen einmal vor,
was ein tapferer Oppositionspolitiker vor etwa einem
Jahr an diesem Pult der schwarz-gelben Regierung entgegengeschleudert hat:
25 Prozent der Beschäftigten in Deutschland arbeiten in sogenannten prekären Beschäftigungsverhältnissen …
({0})
Jeder zweite neu zu besetzende Arbeitsplatz ist befristet. …
({1})
Wir reden in Deutschland nicht nur über Altersarmut. Wir reden auch über Jugendarmut, Familienarmut, die Armut der Alleinerziehenden … Früher
galt in unserem Land: Fleiß und Anstrengung lohnen sich. Heute führt nicht Leistung zum Aufstieg,
sondern Beziehungen, Herkunft, Vermögen, im
Zweifel Erbschaften. … 80 Prozent der Gemeinwohllasten werden von den ganz normalen Menschen … getragen. Nur 12 Prozent der Gemeinwohllasten tragen die Einkommensbesitzer von Kapital
und Vermögen.
So weit die Anklage.
Tja, der tapfere Oppositionspolitiker ist heute Wirtschaftsminister, redet von sozialer Marktwirtschaft und
guten Löhnen. Herr Gabriel, das ist vollkommen unglaubwürdig. Was wollen Sie an den hier kritisierten
Verhältnissen in der Substanz wirklich ändern? Gar
nichts wollen Sie ändern, wenn ich Ihren Koalitionsvertrag richtig gelesen habe.
({2})
Sachgrundlose Befristung verbieten? Fehlanzeige.
Werkverträge, Leiharbeit? Nichts als heiße Luft. Nach
neun Monaten soll es gleiche Bezahlung geben. Aber so
lange ist leider kaum einer in einem Unternehmen.
({3})
Kinderarmut? Altersarmut? Die Verbesserungen bei
der Rente, die Sie ja vornehmen, gehen aber an den
wirklich von Altersarmut Bedrohten oder Betroffenen
komplett vorbei. Oder gar Vermögensteuer oder höherer
Spitzensteuersatz für Reiche? Gott bewahre.
Während Sie hier den Macher spielen, Herr Gabriel,
ist Ihre Politik in Wahrheit jämmerlich, weil Sie alles
fortsetzen, was vorher der Fall war.
({4})
Jetzt erzählen Sie uns etwas von Beschäftigungsboom
und fröhlichen Konsumenten. Das ist wirklich sehr originell. Als uns Herr Rösler das Gleiche erzählt hat, sahen
die Ergebnisse so aus: 0,7 Prozent Wachstum 2012 und
0,4 Prozent Wachstum 2013, also Stagnation. Selbst
diese wäre ohne den riesigen Exportüberschuss nicht
möglich gewesen. Aber jetzt soll ja die große Konsumwelle auf Deutschland zurollen.
Nun habe ich mit Zustimmung zur Kenntnis genommen, dass Sie die Tarifforderungen zum Beispiel von
Verdi unterstützen. Ich hoffe, dass das nicht nur Dampfplauderei ist. Wenn das tatsächlich Koalitionsposition
ist, dann müssten diese Verhandlungen ja relativ schnell
zum Abschluss kommen. Das wäre ohne Zweifel gut.
({5})
Allerdings reicht das nicht. Es ist doch kein Zufall,
dass exakt seit der Agenda 2010 in Deutschland der
Konsum stagniert.
({6})
Schauen Sie sich doch die Einzelhandelsumsätze an! Ja,
es steigen die Ausgaben für Lebensmittel, Energie und
Mieten. Aber der Einzelhandel stagniert und hatte im
letzten Dezember sogar einen Einbruch zu verzeichnen,
und das nicht, weil die Menschen in Deutschland keine
Lust mehr haben, sich Geschenke zu Weihnachten zu
machen. Vielmehr stagniert der Einzelhandel, weil die
Lohnentwicklung nach wie vor mies ist. Das letzte Jahr
war eben kein positives Beispiel. Der Einzelhandel stagniert, weil die Rentenentwicklung nach wie vor miserabel ist, weil seit Jahren die Rentenerhöhungen noch nicht
einmal die Inflation ausgleichen.
Natürlich fressen auch die explodierenden Strompreise, die Sie nicht senken wollen, einen großen Teil
des Haushaltsbudgets der Menschen weg. Das heißt, es
liegt letztendlich daran, dass die Menschen schlicht nicht
mehr genug Geld im Portemonnaie haben, um sich den
Konsum leisten zu können, den sie sich liebend gern
leisten würden.
({7})
Daran wird sich nichts ändern, solange Sie an Leiharbeit,
Werkverträgen, Hartz IV und Rentenkürzungen festhalten.
({8})
Ich sage Ihnen zum Mindestlohn: Wir brauchen nicht
löchrige 8,50 Euro irgendwann, sondern endlich 10 Euro
die Stunde, und zwar sofort und flächendeckend. Das
entspricht auch dem Maßstab unserer europäischen
Nachbarländer.
({9})
Auch die Investitionen sollen plötzlich brummen, sagt
Herr Gabriel. Man fragt sich nur, warum. Etwa seit der
Jahrtausendwende investieren deutsche Unternehmen
deutlich weniger als ihre Wettbewerber, und das, obwohl
die Gewinne gerade großer Unternehmen wegen Lohndrückerei und Steuerentlastungen sprudeln wie nie zuvor. Aber was haben denn diese Unternehmen mit den
ganzen geschenkten Milliarden gemacht? Sie haben
jährlich etwa viermal so viel Dividenden ausgeschüttet
wie in den 90er-Jahren üblich. Sie haben die Gehälter ihres Topmanagements hochgetrieben, und sie haben über
300 Milliarden Euro als Barreserven gebunkert. Das
heißt, das ganze geschenkte Geld ist direkt auf die Konten der oberen Zehntausend geflossen. Mästung der Millionäre zulasten von Beschäftigten und öffentlichen Einnahmen, das war die Politik der Bundesregierung, und
genau diese Politik setzen Sie fort, Herr Gabriel.
({10})
Auch die öffentlichen Investitionen, von denen Sie
geredet haben, sind seit Jahren auf einem Tiefstand. Das
Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung hat im letzten
Jahr vorgerechnet, dass die öffentliche Hand 80 Milliarden Euro mehr im Jahr investieren müsste, um wenigstens den Verschleiß der öffentlichen Infrastruktur
- Straßen- und Schienennetze usw. - auszugleichen.
Jetzt kündigen Sie fröhlich mehr öffentliche Investitionen an. Angesichts der steuerpolitischen Entscheidungen
der Großen Koalition fragt man sich allerdings: Haben
Sie neuerdings eine Maschine zum Gelddrucken? Oder
wer soll es bezahlen, vielleicht am Ende die Autofahrer
über die Maut? Die kleinen Leute abzukassieren, weil
man sich an die Millionäre und Großverdiener nicht heDr. Sahra Wagenknecht
rantraut, das war schon der gemeinsame Nenner der letzten Großen Koalition. Aber eine solche Politik kann nur
in die Stagnation oder zu Schlimmerem führen. Das erleben wir ja europaweit.
({11})
Der Ökonom Paul Krugman hat vor kurzem festgestellt,
dass Europa heute eine schlechtere Wirtschaftsentwicklung vorzuweisen hat als nach der großen Weltwirtschaftskrise in den 30er-Jahren. Wer dafür verantwortlich ist,
sagt er auch, und zwar in ziemlich deutlichen Worten
- ich zitiere Krugman -:
Es stimmt schon, harthäutige, starrköpfige Konservative haben die Politik bestimmt, aber ermutigt
und begünstigt worden sind sie von rückgratlosen,
wirrköpfigen Politikern der gemäßigten Linken.
Rückgratlose, wirrköpfige Politiker, das ist das Urteil
des Wirtschaftsnobelpreisträgers Krugman über Leute
wie Sie, Herr Gabriel.
({12})
Nun habe ich zur Kenntnis genommen, Herr Gabriel,
dass jemand, der die EU-Kommission eher für einen
Hort des Wirtschaftsliberalismus und Wirtschaftslobbyismus als für ein glühendes Beispiel funktionierender Demokratie hält, in Ihren Augen ein Antieuropäer
ist.
({13})
Aber da muss ich Sie, Herr Gabriel, wirklich bemitleiden, weil Sie von Antieuropäern in diesem Sinne offensichtlich geradezu umzingelt sind. Ich erinnere mich
zum Beispiel daran, dass die Herren Habermas, NidaRümelin und Bofinger im letzten August einen Aufsatz
verfasst haben, nachdem sie sich mit Ihnen unterhalten
haben, in dem es hieß, dass die Entwicklung Europas als
- Zitat - „Umwandlung der sozialstaatlichen Bürgerdemokratie in eine marktkonforme Fassadendemokratie“
zu kritisieren ist. Fassadendemokratie! Dieses europafeindliche Machwerk hat die SPD bis heute auf ihrer
Webseite stehen. Also nicht nur in der Linken, Herr
Gabriel, offensichtlich auch in Ihrer Partei lauern die
Europafeinde.
({14})
Die waren es wahrscheinlich auch, die Jürgen
Habermas zu Ihrer letzten Klausur eingeladen haben, auf
der er Ihnen ziemlich deutlich gesagt hat, was er von Ihrer
Europapolitik hält. „Europaumarmende Sonntagsrhetorik“ sei das, während Sie gleichzeitig - ich zitiere
Habermas - „eine strikt anlegerfreundliche Politik“ betreiben, „um den Preis der politischen Entwürdigung
ganzer Völker“ und ihres sozialen Absturzes. Europäische Völker entwürdigen und in den sozialen Absturz
treiben und gleichzeitig die deutschen Steuerzahlerinnen
und Steuerzahler mit immer neuen Milliardenbeträgen
zur Rettung von Banken und Anlegern belasten, das ist
offensichtlich in Ihren Augen, Herr Gabriel, eine proeuropäische Politik. Da kann ich nur sagen: Wenn Europa
solche Freunde hat, dann braucht es keine Feinde mehr.
({15})
Die Linke jedenfalls wird Ihrer Europapolitik für
Banken und Millionäre auch in Zukunft vehement widersprechen, und das Gleiche gilt für Ihre Wirtschaftspolitik, die nichts daran ändern wird, dass dieses Land
sozial und wirtschaftlich immer tiefer gespalten ist.
({16})
Michael Fuchs ist der nächste Redner für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Frau
Wagenknecht, zuerst hatte ich überlegt, ob ich auf Sie
eingehe.
({0})
Aber wenn ich mir diesen Quatsch anhören muss, dann
tut das schon weh.
({1})
Es sind körperliche Schmerzen, die man hier erleidet,
und dann ist es besser, man vergisst es einfach und geht
gar nicht groß darauf ein. Denn Sie haben bis jetzt nicht
kapiert, dass es Deutschland gut geht. Ich würde gerne
einmal von Ihnen hören, dass Deutschland im Vergleich
zu anderen Ländern heute das führende Land in Europa
ist, dass wir und die Politik der Bundeskanzlerin dafür
gesorgt haben, dass es in Europa wieder aufwärtsgeht
und sich Länder langsam, aber sicher aus der Krise herausentwickeln.
({2})
Was ist denn mit Irland? Was ist mit Spanien? Was ist
mit Griechenland? Diese Länder sind auf dem Sprung,
aus der Krise, in der sie sich lange Jahre befunden haben,
({3})
wieder herauszukommen. Dafür können wir dankbar
sein. Das war eine vernünftige Politik, das war Konsolidierungspolitik. Nur, davon verstehen Sie einfach nichts;
Sie führen Ihr kommunistisches Gelaber immer weiter.
({4})
Deutschland geht es gut. Dafür haben eine Menge Politiker gesorgt. Ich bin fair genug, um zu sagen, dass das natürlich mit Gerhard Schröder und der Agenda 2010 angefangen hat.
({5})
Wir haben Maßnahmen ergriffen, die den Arbeitsmarkt
verbessert haben, und wir haben Maßnahmen ergriffen,
die dazu geführt haben, dass wir heute in Deutschland die
höchste Beschäftigungsrate haben, die es jemals gegeben
hat. Der Bundesminister hat vollkommen zu Recht eben
auf 42,1 Millionen Erwerbstätige in Deutschland hingewiesen. Diese Zahl hat es noch nie gegeben. Wir haben
knapp 30 Millionen sozialversicherungspflichtig Beschäftigte. Auch diese Zahl hat es noch nie gegeben. Das
ist eine Erfolgsstory, und die müssen wir weiterführen.
({6})
Die Beschäftigungslage ist so gut, wie es seit Jahrzehnten nicht der Fall war. Wir haben eine ständig sinkende Arbeitslosigkeit, wir haben die niedrigste Jugendarbeitslosigkeit in Europa, wir haben die niedrigste
Arbeitslosigkeit überhaupt in Europa. Vor allen Dingen
bei der Reduzierung der Jugendarbeitslosigkeit haben
wir ein Erfolgsmodell. Ich bin den Unternehmen dafür
dankbar, dass sie viel ausbilden; denn das ist der richtige
Weg.
({7})
Wir müssen auch weiterhin dafür sorgen, dass mehr
junge Menschen in Arbeit kommen. Wir haben, nach
dem OECD-Standard gerechnet, immer noch eine Jugendarbeitslosigkeit von ungefähr 7 Prozent. Das sind
immer noch 7 Prozent zu viel. Wir müssen den jungen
Leuten eine Perspektive geben.
Wenn ich den OECD-Standard auf andere Länder anwende - zum Beispiel auf Spanien, wo die Jugendarbeitslosigkeit bei annähernd 55 Prozent liegt; selbst
Frankreich, unser direktes Nachbarland, hat eine Jugendarbeitslosigkeit von 25 Prozent; in anderen Ländern ist
sie noch höher; in Griechenland liegt sie bei rund
60 Prozent -, stelle ich fest: Der Kampf gegen die Jugendarbeitslosigkeit ist eine zentrale europäische Aufgabe. Die Maßnahmen, die die Bundeskanzlerin der EUKommission angeraten hat, greifen. Das Ganze werden
wir weiter verfolgen.
Meine Damen und Herren, auch was den Aufschwung
angeht, ist Deutschland die Lokomotive. Die Wachstumszahl von 1,8 Prozent in diesem Jahr, die der Minister eben verkündet hat, ist konservativ geschätzt. Ich
gehe davon aus, dass der Finanzminister ein bisschen
den Daumen draufgehalten hat, damit diese Schätzung
nicht zu hoch ausfällt. Sie, Herr Gabriel, haben Ihre
Wachstumsschätzung nach Ihrem Jahreswirtschaftsbericht ausschließlich auf den Binnenmarkt konzentriert.
Danach erwarten Sie für den Export so gut wie kein
Wachstum. Doch da bin ich ein klein bisschen optimistischer als Sie. Beispielsweise haben die deutschen
Exporte nach China im letzten Monat ein Wachstum von
10,6 Prozent verzeichnet. Das ist natürlich schon ein Anzeichen dafür, dass es auch in dieser Ecke der Welt wieder vorwärtsgeht. Also können wir ziemlich sicher sein,
dass unser Exportwachstum stärker sein wird als projiziert. Ich bin so optimistisch, dass ich sage: Wir werden
beim Wachstum am Ende des Jahres auch das 2-ProzentZiel erreichen können. Das ist hervorragend.
Daraus resultiert, dass wir hier im Hohen Hause trotzdem alle jene Punkte diskutieren müssen, die wichtig
sind, damit wir das Ganze weiter und stärker unterstützen können. Es gibt nämlich eine ganze Reihe Risiken in
Deutschland. Ein zentrales Risiko ist die demografische
Entwicklung. Das Arbeitskräfteangebot hätte im Jahre
2013 eigentlich um 240 000 zurückgehen sollen; trotzdem wurden mehr Personen eingestellt. Das bedeutet,
dass verstärkt Zuwanderer aus dem Ausland eingestellt
worden sind und dass mehr Frauen und auch mehr ältere
Arbeitnehmer erwerbstätig geworden sind. Das ist erfreulich.
Wir haben in vielen Regionen und auch in vielen Berufen einen heftigen Fachkräftemangel. Das ist ein Problem, das wir angehen müssen. Wir müssen die Erwerbstätigkeit in unserem Land besser ausschöpfen.
Dabei müssen wir auch nach neuen Wegen suchen; denn
das wird nicht einfach sein. Gleichzeitig müssen wir
- Sie haben es eben erwähnt - die Zuwanderung qualifizierter Fachkräfte fördern.
Der Erfolg gibt uns recht: Die Zahl der Erwerbstätigen und der sozialversicherungspflichtigen Dauerbeschäftigten ist gewachsen. Frau Wagenknecht, Sie fangen immer wieder an, von der Zeitarbeit zu sprechen:
Wissen Sie eigentlich, wie viele Arbeitnehmer in
Deutschland überhaupt in Zeitarbeit beschäftigt sind?
Nur circa 2,1 Prozent der Beschäftigten sind in Zeitarbeitsunternehmen. Das heißt, wir reden über 850 000 bis
900 000 Personen, die in solchen Beschäftigungsverhältnissen sind. Für viele ist die Zeitarbeit eine Brücke in
den ersten Arbeitsmarkt, und das ist gut so.
({8})
- Wenn Sie den kennen.
Die Zahl der Erwerbstätigen zwischen 55 und 64 ist,
nebenbei gesagt, ebenfalls gestiegen. Es heißt die ganze
Zeit, dass zu wenig ältere Menschen im Erwerbsleben
stehen. Nein, das ist falsch: In den letzten vier Jahren ist
die Zahl der Erwerbstätigen zwischen 55 und 64 um
13 Prozent gestiegen. Das zeigt, dass es auch da eine
Veränderung gibt, dass also mehr ältere Menschen den
Weg in den Arbeitsmarkt gefunden haben. Auch das
halte ich für sehr gut.
Insofern habe ich ein bisschen ein Problem damit
- das ist einer der wenigen Punkte, wo wir uns nicht einig sind -, dass wir mit der Rente mit 63 unter Umständen das falsche Signal setzen. Ich möchte auf jeden Fall
- das halte ich für sehr wichtig -, dass wir Anreize für
Frühverrentungen begrenzen. Da helfen keine Appelle.
Wir müssen die gesetzlichen Regelungen so ausgestalten, dass wir ein vorzeitiges Ausscheiden aus dem Erwerbsleben nicht unterstützen.
({9})
Es kann nicht sein, dass jemand bereits mit 61 Jahren
in die Arbeitslosigkeit und mit 63 abschlagsfrei in Rente
geht. Das zu verhindern, dazu müssen Möglichkeiten gefunden werden. Eine Möglichkeit wäre, dass Zeiten der
Arbeitslosigkeit nach dem 1. Januar 2014 oder zumindest Zeiten der Arbeitslosigkeit unmittelbar vor Renteneintritt nicht berücksichtigt werden. Bei vorgeschalteter
Altersteilzeit sollte auch der Zugang in die Rente ab 63
nur mit entsprechenden Abschlägen möglich sein.
Das sind Punkte, die wir noch diskutieren müssen. Es
muss gerade aufgrund der demografischen Situation darauf geachtet werden, dass wir wertvolle Fachkräfte
nicht verlieren; denn der Arbeitsmarkt wird diese Fachkräfte brauchen.
({10})
Meine Damen und Herren, der Bundesminister sprach
zu Recht die Risiken der Energiewende an. Ich bin für
diese Energiewende;
({11})
sie muss umgesetzt werden. Aber wir müssen die Energiewende so ausgestalten, dass sie von den Bürgerinnen
und Bürgern und von den Unternehmen bezahlt werden
kann. Irgendwann hört die Akzeptanz bei der Bevölkerung für diese Energiewende auf, nämlich dann, wenn
sie nicht mehr bezahlbar ist, und da sehe ich große Risiken.
Wir haben Firmen, die absolut stromabhängig sind,
und zwar nicht deshalb, weil sie unbedingt Strom verbrauchen wollen. Sie würden alles daransetzen, weniger
Strom zu verbrauchen. Aber wenn sie technische Prozesse haben, beispielsweise Elektrolysen, dann brauchen
sie Strom. Sie brauchen dummerweise ein Elektron, das
den ganzen Prozess antreibt - wenn man ein ganz kleines bisschen über Physik oder Chemie weiß, dann kann
man das verstehen -; ohne das geht es nicht.
({12})
- Sie haben es immer noch nicht verstanden. Deswegen
muss ich es Ihnen noch einmal erzählen.
({13})
Genau dieses Problem ist nun einmal da, und das wissen wir auch. Deswegen müssen wir stromintensive Unternehmen unterstützen. Ich erwarte, dass wir dafür eine
vernünftige Lösung finden.
({14})
Es gibt einen zweiten Punkt, Herr Minister, bei dem
ich mit Ihnen nicht einig sein kann. In Ihrem Eckpunktepapier für Meseberg stand, dass die Eigenerzeugung von
Strom ebenfalls der EEG-Umlage unterfallen soll. Das
geht nicht.
({15})
Die industrielle Eigenerzeugung von Strom muss für bestehende Anlagen weiterhin von der EEG-Umlage befreit sein. Der Koalitionsvertrag sieht dies, nebenbei bemerkt, ausdrücklich vor. Bestandsschutz ist kein Privileg
nur der erneuerbaren Energien, sondern das muss natürlich auch für die Eigenstromerzeugung gelten.
({16})
Hier haben wir Vertrauensschutz zu gewährleisten. Daran müssen wir gemeinsam arbeiten. Wir müssen dafür
eine vernünftige Regelung finden.
Ich sehe mit Sorge, dass es Industrien gibt, die heute
schon darüber nachdenken, ob sie noch in energieintensive Anlagen in Deutschland investieren können. Ich
will dazu den VDMA anführen. Der hat eine Analyse
gemacht, nach der in den letzten fünf Jahren nur noch
etwa 85 Prozent der Mittel aus Abschreibungen reinvestiert werden. Das macht mir Sorge. Das bedeutet schlicht
und ergreifend, dass 15 Prozent woanders investiert werden. Ich gehe nicht davon aus, dass sich diese Unternehmen aus dem Markt verabschieden, aber sie investieren
nicht mehr in energieintensive Anlagen in Deutschland.
Wenn das der Fall ist, dann heißt das am Ende des Tages,
dass sie sich aus Deutschland verabschieden. Bei Unternehmen ist es, nebenbei bemerkt, nicht so, dass sie zum
Einwohnermeldeamt gehen müssen, um sich zu verabschieden. Das machen sie klammheimlich; auf einmal
sind sie weg.
Das muss verhindert werden; denn ich möchte, dass
dieses Land ein industrielles Land bleibt. Deutschland
ist der Industriestandort Nummer eins in Europa. Wir
müssen alles daransetzen, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass es das bleibt.
({17})
Wenn es nicht so bleibt und wenn wir nicht mehr geschlossene Wertschöpfungsketten haben, dann wird sich
dieses Land verändern, und zwar so, wie Sie es in großen
Teilen von Großbritannien beobachten können. Das ist
nicht meine Vorstellung von Deutschland.
({18})
Meine Damen und Herren, dafür werden wir bei der
Energiewende noch etliche schwierige Aufgaben zu lösen haben. Es muss eine EU-konforme Regelung für besondere Ausnahmen gefunden werden. Es muss dringend mit Kommissar Almunia verhandelt werden. Ich
weiß, dass der Minister schon auf dem Weg ist, das zu
tun. Wir müssen bis zum 1. Juli eine vernünftige Regelung haben, die die EU notifizieren kann. Wenn wir das
nicht schaffen, dann haben wir ein heftiges Problem für
die deutsche Wirtschaft. Das möchte ich nicht. Die Unternehmen, die jetzt befreit sind, müssen in wesentlichen
Teilen auch befreit bleiben. Die Grünen haben die Schienenbahnen berücksichtigt. Ob man nun die Straßenbahn
in Rostock als im internationalen Wettbewerb stehend
empfinden kann, weiß ich nicht; ich tue das nicht. Das
könnte zum Beispiel ein Bereich sein, den wir von den
Ausnahmen herausnehmen müssen, damit wir ein Opfer
an die EU liefern können. Das wird uns abverlangt werden. Darüber müssen wir nachdenken.
Ich bin froh, dass Sie eben das Transatlantische Freihandelsabkommen angesprochen haben. Das ist mit Sicherheit eine Riesenchance. Man sieht es, nebenbei bemerkt, an Bali, wo die letzte WTO-Verhandlung
stattgefunden hat. Die OECD hat ausgerechnet, dass allein Europa dadurch schon in den nächsten Jahren Exportchancen in Höhe von 60 Milliarden Euro zusätzlich
bekommt. Das zeigt: Solche Freihandelsabkommen sind
der richtige Weg. Daran werden wir gemeinsam arbeiten. Es hat keinen Sinn, die NSA-Problematik mit einem
Freihandelsabkommen zu verknüpfen. Das ist sicherlich
nicht der richtige Weg.
Ich bin davon überzeugt, dass dieser Jahreswirtschaftsbericht die Chancen, die wir haben, und ebenso
die Risiken aufzeigt. Wir müssen gemeinsam hart daran
arbeiten, die Risiken möglichst kleinzuhalten.
({19})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen erhält nun
der Kollege Anton Hofreiter das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ach, Herr Gabriel, es ist ja schön, wenn die
wirtschaftliche Lage bei uns gut ist. Es ist schön, wenn
die Löhne steigen. Es ist schön, wenn es den Menschen
einigermaßen gut geht. Aber erstens trifft das nicht auf
alle Menschen in unserem Lande zu, und zweitens ist
von einem Bundeswirtschaftsminister schon etwas mehr
zu erwarten, wenn er über die wirtschaftspolitischen Perspektiven spricht, als eine Beschreibung der derzeitigen
Lage. Da hätte man auch jemanden vom Statistischen
Bundesamt einladen können; der hätte das hier mindestens so inspiriert vorgetragen wie Sie.
({0})
Wenn Sie sagen, dass eine offene Gesellschaft, dass
Zuwanderung Voraussetzungen für ökonomischen Erfolg sind, dann geben wir Ihnen recht. Aber haben Sie eigentlich bemerkt, dass Sie in einer Koalition mit CDU
und CSU sind? Haben Sie eigentlich einmal mit Ihrem
Koalitionspartner darüber gesprochen,
({1})
der ja nicht nur Unsinn erzählt, sondern die Stimmung
im ganzen Land vergiftet? Sorgen Sie doch einmal dafür,
dass das abgestellt wird! Das ist nicht nur eine ökonomische Frage, sondern auch eine des Anstandes.
({2})
Herrn Fuchs möchte ich Folgendes sagen: Wenn man
schon die Linkspartei angreift, dann bitte nicht mit völligem fachlichen Unsinn.
({3})
Denn wenn Sie behaupten, Zeitarbeit sei eines der großen Sprungbretter auf dem Weg zu einer dauerhaften Beschäftigung, und die Statistiken sagen, dass es im besten
Falle 7 Prozent schaffen,
({4})
dann können Sie das nicht als Beispiel anführen. Lesen
Sie doch einfach einmal Ihre eigenen Statistiken; dann
werden Sie feststellen, wie es wirklich aussieht.
({5})
Zu Ihrer Energiewende. Sie haben gesagt, Sie wollen
die Energiewende. Erstens glaube ich Ihnen das nicht;
denn das ist mir völlig neu. Dass Sie eine Energiewende
von der Atomkraft hin zur Braunkohle wollen, könnte
man Ihnen vielleicht noch glauben.
({6})
Aber wenn Sie wirklich eine Energiewende wollen, die
dazu beiträgt, dass die Strompreise stabil bleiben, dann
müssen Sie sich doch um die kostengünstigsten Bereiche
der Stromproduktion kümmern.
({7})
Und was ist inzwischen die kostengünstigste Form der
Stromproduktion? Wir reden hier überhaupt nicht über
die ökologischen Kosten, die zum Beispiel Braunkohle
verursacht. Wir reden auch überhaupt nicht über das Risiko, das Atomkraft verursacht, sondern wir betrachten
das rein betriebswirtschaftlich.
({8})
Die kostengünstigste Form der Stromproduktion ist eine
Windkraftanlage an Land. Aber ausgerechnet diese Produktion wollen Sie deckeln. Das macht doch überhaupt
keinen Sinn. Selbst wenn Ihnen die Umwelt und die Lebensgrundlagen vollkommen egal sind: Es macht auch
ökonomisch keinen Sinn, ausgerechnet die kostengünstigste Form der Stromproduktion zu deckeln, wenn man
die Strompreise in den Griff kriegen will.
({9})
Aber schauen wir uns einmal an, was in Ihrem schönen Bericht steht und was die Bundesregierung in wirtschaftlicher Hinsicht eigentlich vorhat; davon ist bis jetzt
kaum gesprochen worden. Beim Lesen und Hören
musste ich manchmal an die eine oder andere Wahlkampfrede von Ihrem Kollegen Steinbrück denken. Er
hat Frau Merkel immer vorgeworfen, dass sie schöne
Pappschachteln ins Fenster stellt, in denen nichts drin ist.
Solche Pappschachteln werden nicht schöner, bloß weil
man sie rot anmalt, Herr Gabriel.
({10})
Schauen wir uns einmal einige dieser Pappschachteln
an, zunächst die Investitionsoffensive. Im Rahmen dieser Investitionsoffensive wollen Sie 1,2 Milliarden Euro
mehr für den Erhalt und Neubau im Bereich Straße ausgeben. Das klingt erst einmal gut; das ist scheinbar eine
hohe Summe. Das Problem ist bloß: Die gemeinsame
Expertenkommission der 16 Länder hat festgestellt, dass
7,2 Milliarden Euro notwendig sind, und zwar allein für
den Erhalt. Sie geben nur einen Bruchteil mehr für Erhalt und Neubau aus. Ist Ihnen eigentlich nicht klar, dass
zwischen 1,2 Milliarden und 7,2 Milliarden Euro durchaus ein relevanter Unterschied besteht? Oder gehen Sie
so nachlässig mit Zahlen um, wie das der ADAC tut?
Schauen wir uns den Bericht der OECD an. Laut
OECD ist Deutschland Schlusslicht bei den Investitionen. Der Durchschnitt der großen Industrieländer liegt
bei 20 Prozent des BIP. Wir liegen bei 17 Prozent.
({11})
Mit Ihrer Investitionsoffensive erreichen Sie
17,1 Prozent, das heißt, Sie steigern die Quote um
0,1 Prozent. Das nennen Sie Investitionsoffensive? Das
ist doch lachhaft. Das ist doch nicht ernst zu nehmen.
({12})
Sorgen Sie dafür, dass die Infrastruktur verbessert
wird, dass Straßen und Brücken saniert werden, anstatt
wie Don Quichotte gegen Windräder zu kämpfen! Bei
diesem Vergleich stellt sich natürlich die Frage, wer eigentlich Sancho Pansa ist. Beim Kampf gegen Windräder könnte es Horst Seehofer sein; aber das passt doch
nicht so ganz. Stoppen Sie also den Verfall!
Herr Finanzminister, es ist ja schön, dass der nominale Schuldenstand sinkt. Aber was haben wir von einem nominal sinkenden Schuldenstand, wenn de facto
die implizite Staatsverschuldung weiter steigt, weil Sie
die vorhandene Infrastruktur vergammeln lassen? Davon
haben wir nichts, sondern am Ende wird alles nur noch
teurer und die Lasten werden in die Zukunft verschoben.
Das ist in der Form einfach Unsinn.
({13})
Das Gleiche gilt für den Breitbandausbau. Ursprünglich war dafür noch 1 Milliarde Euro vorgesehen. Irgendwie ist die den Koalitionsverhandlungen zum Opfer
gefallen.
({14})
Woher wollen Sie denn das Geld dafür nehmen? Geld
dafür könnte man schon finden. Sie müssten auch gar
nicht die Steuern erhöhen. Es wäre schon schön, wenn
Sie sich an den Subventionsabbau herantrauen würden.
({15})
Laut Ihrem eigenen Bericht belaufen sich die jährlichen Subventionen auf 21 Milliarden Euro. Bauen Sie
doch wenigstens einen Teil davon ab, dann hätten Sie
Geld für Investitionen. Aber nein, Sie haben ja jetzt einen Minister für Ausländermaut auf der Straße und für
Daten. Vielleicht führen Sie ja noch eine Ausländermaut
für Datenverkehr ein. Geld kommt damit jedoch auch
nicht herein.
Herr Gabriel, Sie selbst haben ja, auch wenn Sie sonst
nicht viel von Wirtschaftspolitik, sondern vor allem von
Statistik gesprochen haben, in Ihrer Rede erwähnt, dass
eine Bankenunion notwendig ist, um die Probleme in
den Griff zu bekommen. Ja, eine Bankenunion ist notwendig. Darin sind sich die SPD-Fraktion und unsere
Fraktion auf europäischer Ebene einig. Aber die Bundesregierung blockiert eine effiziente Bankenunion.
({16})
Da stellt sich schon die Frage: Wer bestimmt denn
jetzt: die europäische Sozialdemokratie oder die Bundesregierung?
({17})
Unterlassen Sie das! Beenden Sie die Blockadehaltung
Deutschlands in der Frage der Bankenunion! Sorgen Sie
dafür, dass wir schnell Banken abwickeln können; denn
sie sind eine relevante Gefahr.
({18})
Herr Gabriel, wenn ich mir Ihre Rede insgesamt anschaue, dann kann ich nur feststellen - der Koalitionsvertrag hieß ja „Deutschlands Zukunft gestalten“ -: Es
war leider wieder bloß Statistik und „Deutschlands Zukunft verwalten“. Das ist zu wenig. Sorgen Sie für eine
andere Politik, damit „Wohlstand für Alle“ gilt. Mit dieser Politik, mit dem Verlesen von Statistiken oder ein
paar harmlosen Verwaltungsakten werden Sie dieses Ziel
mit Sicherheit nicht erreichen.
Vielen Dank.
({19})
Das Wort erhält nun der Kollege Hubertus Heil für die
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Lieber Kollege Hofreiter, ich war ja auch vier Jahre
lang Oppositionspolitiker. Wenn man als Oppositionspolitiker eine Rede hält, dann ist sie wirksamer, wenn
man nicht sozusagen alles in Bausch und Bogen verdammt und schlechtredet, sondern sich auf die Punkte
konzentriert, bei denen eine Regierung angreifbar ist. Insofern kann ich nur eines sagen: Ihre Rede ist der Sache
nicht angemessen gewesen. Die Opposition scheint noch
Hubertus Heil ({0})
zu üben. Der Bundeswirtschaftsminister regiert. Das ist
der Unterschied.
({1})
Ich habe Ihren Antrag gelesen.
({2})
- Hören Sie doch einmal zu.
({3})
Ich finde im Antrag der Grünen den einen oder anderen
sympathischen Punkt. Aber eines darf man doch bitte
einmal zur Kenntnis nehmen: Die Rede des Bundeswirtschaftsministers zum Jahreswirtschaftsbericht, die wir
heute gehört haben, unterscheidet sich von denen seiner
Vorgänger.
({4})
Oft haben Bundeswirtschaftsminister bei der Vorstellung
des Jahreswirtschaftsberichts im Wesentlichen die Lage
beschrieben, meistens sehr rosig
({5})
- ganz ruhig; nicht aufgeregt sein; ganz locker bleiben -,
und sich damit begnügt. Sie finden ganz tolle Begriffe
wie XXL-Aufschwung oder Ähnliches. Der Unterschied
ist: Dieser Bundeswirtschaftsminister hat ein realistisches Bild der wirtschaftlichen Entwicklung dieses Landes gezeichnet, mit allen Stärken, die wir haben, aber
auch mit allen Herausforderungen und Risiken. Er begnügt sich aber nicht damit, sondern er sagt, was diese
Bundesregierung tun will und tun wird. Das ist der Unterschied.
({6})
Politik heißt, die Wirklichkeit zu betrachten, sie aber
auch zu verändern. Das ist der Unterschied zur Vorgängerregierung.
({7})
Ich will Ihnen sagen, was konkret wir uns vorgenommen haben. Es geht um leistungsfähige Infrastrukturen,
die wir bereitstellen müssen, damit dieses Land wirtschaftlich erfolgreich bleibt. Es geht um die Sicherung
der Fachkräftebasis in diesem Land. Es geht - das hat
Sigmar Gabriel deutlich gemacht - um die Überwindung
der Spaltung am Arbeitsmarkt, weil die Spaltung nicht
nur ungerecht ist, sondern weil wir sie uns ökonomisch
mit Blick auf die demografische Entwicklung gar nicht
leisten können, weil wir Wohlstand und Teilhabe für alle
brauchen, nicht nur aus Gründen des gesellschaftlichen
Zusammenhalts, sondern auch aus Gründen der wirtschaftlichen Vernunft. Wir können uns Ausgrenzungen
von Menschen am Arbeitsmarkt durch schlechte Löhne
oder Dauerarbeitslosigkeit dauerhaft nicht leisten. Das
ist eine ökonomische Weisheit, meine Damen und Herren, die wir begriffen haben.
({8})
Es geht um Innovation, Forschung und Entwicklung.
Und es geht darum, die Energiewende zu gestalten, sowie nicht zuletzt darum, die nach wie vor schwelende
Krise im Euro-Raum in den Griff zu bekommen; denn
die ist mitnichten überstanden. Es gilt der Satz: Wir haben gute Chancen, diese Reformen jetzt zu stemmen,
weil wir in Deutschland eine gute wirtschaftliche Lage
haben. Es gilt aber nach wie vor auch der Satz: Wer morgen sicher leben will, muss heute für Reformen kämpfen. Das tun wir mit den im Jahreswirtschaftsbericht aufgezeigten Instrumenten.
({9})
Auch wenn Statistik Sie langweilt, Herr Kollege
Hofreiter,
({10})
sollte man sich trotzdem mit ein paar wirtschaftlichen
Fundamentaldaten zumindest auseinandersetzen. Es ist
nicht zu bestreiten, dass wir eine ganz ordentliche wirtschaftliche Entwicklung haben.
({11})
Die Prognose für dieses Jahr liegt bei 1,8 Prozent. Wir
sagen nicht, dass das ein Grund ist, sich zurückzulehnen.
Es ist mitnichten ein Grund, sich zurückzulehnen. Wir
können etwas daraus machen. Wir sollten darüber reden,
welches die Auseinandersetzungen der Zukunft sein
werden, welche Herausforderungen auf uns zukommen.
Es geht darum, dass wir uns dem demografischen
Wandel, dessen Folgen inzwischen auch den Arbeitsmarkt erfasst haben, stellen. Auf der einen Seite suchen
immer mehr Unternehmen händeringend qualifiziertes
Fachpersonal. Auf der anderen Seite gibt es in Deutschland nach wie vor viel zu viele Menschen, die abgehängt
sind. Die Frauenerwerbsbeteiligung in Deutschland erscheint zwar prozentual hoch, das Arbeitsvolumen aber
ist zu niedrig. Auch viele junge Leute sind abgehängt.
Nach wie vor verlassen Jahr für Jahr 70 000 junge Menschen in Deutschland die Schule ohne Schulabschluss.
1,5 Millionen Menschen zwischen 20 und 30 Jahren haben keine berufliche Erstausbildung. Wir haben viel zu
viele Menschen, die im erwerbsfähigen Alter sind, aber
zum alten Eisen gehören. Wir müssen nicht nur die
Frage der Ausbildung in den Vordergrund stellen, sondern auch die Frage der Weiterbildung und der Beschäftigungsfähigkeit von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern behandeln.
Arbeitnehmerrechte sind nicht nur Bürgerrechte, sondern sie sind in diesem Land auch ein Instrument, um
über Mitbestimmung für gute Arbeitsbedingungen und
Hubertus Heil ({12})
so dafür zu sorgen, dass Menschen auch beschäftigungsfähig bleiben können. Wir können es uns nicht mehr leisten, Menschen am Arbeitsmarkt auszugrenzen.
Wenn wir über Fachkräftesicherung reden, gehört
dazu auch, dass wir über qualifizierte Zuwanderung in
dieses Land reden müssen. Dafür brauchen wir nicht nur
gesetzliche Regelungen, sondern vor allen Dingen eine
Willkommenskultur, eine Weltoffenheit, die deutlich
macht, dass dieses Land von Einwanderung und Zuwanderung profitiert und keinen Schaden nimmt.
Deshalb, meine Damen und Herren, ist die eine oder
andere xenophobe Rede, die Politiker im Wahlkampf
halten, nicht nur unanständig, sondern auch ökonomisch
schädlich für dieses Land. Wir brauchen qualifizierte
Zuwanderung. Wir müssen die inländischen Potenziale
nutzen. Und wir brauchen Menschen, die zu uns kommen, damit sie hier arbeiten, lehren und leben. Das ist
die Erkenntnis, die wir aus der demografischen Entwicklung ziehen müssen. Deshalb ist es gut, dass wir hier einen Schwerpunkt setzen.
({13})
Es geht bei dem, was wir vorhaben, im Kern um eine
Strategie, die auf Investitionen setzt. Frau Wagenknecht,
Herr Hofreiter, es geht da um öffentliche Investitionen gar keine Frage! Diese Bundesregierung wird in dieser
Legislaturperiode 23 Milliarden Euro zusätzlich investieren, 6 Milliarden Euro in den Bereich Kitas, Schulen,
Hochschulen, 3 Milliarden Euro in den Bereich Forschung, 5 Milliarden Euro in den Bereich der Verkehrsinfrastruktur. Und ja, ich würde mir auch das eine oder
andere mehr wünschen. Aber es geht eben nicht nur um
öffentliche Investitionen, sondern im gleichen Maße um
die Bedingungen für private Investitionen.
Wir haben da ein Risiko, Herr Fuchs. Wir haben die
Situation, dass deutsche Unternehmen tatsächlich nicht
wenig investieren, vor allen Dingen große Unternehmen,
aber leider viel zu wenig in Deutschland. Das ist eine
Diskussion, die wir führen müssen. Dabei müssen wir
über die Standortbedingungen in diesem Land sprechen.
Ich rede davon, dass man für Innovationen auch Investitionen braucht, aber wir uns in diesem Land auch einmal
vor Augen führen müssen, dass wir bei der Herausforderung der Digitalisierung, bei dem technischen Fortschritt, der vor uns liegt, nicht abgehängt werden dürfen.
Da mache ich mir Sorgen. Wer weiß, dass der IKT-Anteil, der Anteil des Bereichs der Informations- und Kommunikationstechnologie an der Wertschöpfung, bei einem deutschen Auto heute 30 Prozent ausmacht, wer
weiß, dass der IKT-Anteil bei Autos im Jahr 2025 aufgrund technischen Fortschritts bei ungefähr 60 Prozent
liegen wird, und sich dann anschaut, wo die wesentlichen IKT-Unternehmen in der Welt sitzen, um dann festzustellen, dass nur noch 10 Prozent der Wertschöpfung
im Bereich der Informations- und Kommunikationstechnologie in Europa stattfindet, der muss sich auf lange
Sicht darum kümmern, dass wir in diesem Land und in
Europa insgesamt im Bereich der digitalen Wirtschaft
vorankommen. Deshalb, Herr Bundesminister, ist es gut,
dass dieses Thema im Jahreswirtschaftsbericht angesprochen wird. Ich bitte diese Bundesregierung ganz
herzlich darum, das Thema digitale Ökonomie, digitale
Agenda, Industrie 4.0 als Herausforderung zu begreifen,
die ähnlich groß ist wie das, was wir gerade im Bereich
der Elektromobilität erleben, dass wir also die Kräfte
bündeln müssen, wir Infrastrukturen benötigen, wir Investitionen in Bildung und Forschung brauchen, wir dafür sorgen müssen, dass wir da nicht zurückfallen, damit
wir die Chancen digitaler Wirtschaft auch für Deutschland und Europa nutzen können.
({14})
Ja, es geht um Innovationen, es geht auch um Integration in gute Arbeit. Dazu hat der Bundeswirtschaftsminister eine ganze Menge gesagt. Es geht letztendlich
auch um Internationalisierung. Deshalb bin ich dankbar,
dass der Bundeswirtschaftsminister da einen differenzierten Blick auf die Chancen und die Risiken der Freihandelspolitik und des internationalen Freihandelsabkommens geworfen hat. Wir in Deutschland diskutieren
ja ganz intensiv die Risiken. Es gibt viele Ängste in der
Bevölkerung, in der Wirtschaft übrigens auch, dass bestimmte Standards, die wir in Deutschland und Europa
gewohnt sind, abgesenkt werden könnten. Dagegen
muss man sich stemmen. Aber ich sage im gleichen
Atemzug: Es geht beim Thema Transatlantisches Freihandelsabkommen auch darum, die außen- und sicherheitspolitischen und ökonomischen Chancen zu sehen.
Wir haben vor einigen Jahren eine Rede von Präsident
Obama erlebt, in der er beschrieben hat, dass die Vereinigten Staaten von Amerika eine pazifische Nation
seien.
({15})
Er hat also einen Blick von der pazifischen Küste Kaliforniens in Richtung Fernost - so nennen wir es - geworfen. Es ist ohne Zweifel so, dass die Vereinigten
Staaten von Amerika auch eine pazifische Nation sind.
Aber wir müssen ein politisches und wirtschaftliches Interesse daran haben, dass die Vereinigten Staaten von
Amerika und Nordamerika insgesamt eben auch eine
transatlantische Beziehung haben. Meine Damen und
Herren, vor diesem Hintergrund muss man - bei allem,
was wir intensiv diskutieren, um sicherzustellen, dass
das Transatlantische Freihandelsabkommen nicht sozusagen ein wirtschaftsradikaler Trojaner in Europa wird über die Chancen dieses Abkommens reden und die Verhandlungen so gestalten, dass wir sie zum Nutzen
Deutschlands und Europas führen. Deshalb ist meine
ganz herzliche Bitte, in diesem Haus differenziert darüber zu reden. Ich muss schon sagen, dass mich da der
Beschluss von Bündnis 90/Die Grünen, bei denen ich
viele Atlantiker kenne, ein bisschen überrascht hat, weil
er ein bisschen zu sehr die Risiken und nicht die Chancen berücksichtigt.
Meine Damen und Herren, Politik fängt damit an, die
Wirklichkeit zu betrachten, um sie zu verändern.
({16})
Hubertus Heil ({17})
In diesem Sinne hat der Bundeswirtschaftsminister mit
dem Jahreswirtschaftsbericht eine realistische Betrachtung der Situation in diesem Land vorgelegt. Es geht
nicht darum, nur die rosarote Brille aufzusetzen. Aber es
geht eben auch nicht darum, alles in Grund und Boden
zu reden, Frau Wagenknecht. Wir brauchen Macher und
nicht Miesmacher, wenn es um die Wirtschaftspolitik in
diesem Land geht. Das ist der Unterschied zu diesem
Bundeswirtschaftsminister.
({18})
In diesem Zusammenhang -
Nein, nein, nicht „in diesem Zusammenhang“! Das
war ein hervorragender Schlusssatz, Herr Kollege Heil,
({0})
der sich nur schwerlich toppen lässt.
Dann versuche ich es, Herr Präsident, gar nicht erst. Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. Wir brauchen
tatsächlich Anpacker, und die gibt es in dieser Bundesregierung.
Herzlichen Dank.
({0})
Das Wort erhält nun der Kollege Michael Schlecht für
die Fraktion Die Linke.
({0}))
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren!
Herr Gabriel, Sie haben nicht nur jahrelang Tarifpolitik
betrieben, sondern in Gewerkschaftsschulen Tarifpolitik
auch unterrichtet. Nun haben Sie sich geoutet, dass
wichtige Dinge, die man Ihnen beigebracht hat, auch
hängengeblieben sind.
Es ist erfreulich, dass Sie herausstellen, dass sich faire
Tariferhöhungen mindestens an der Preissteigerungsrate
- an dem Ausgleich der Inflation - und natürlich auch an
der Produktivitätssteigerung orientieren müssen. Es ist
richtig - und ich finde es gut, dass Sie auch das herausgestellt haben -, dass es für Gewerkschafter immer angezeigt ist, bei den Tarifverhandlungen eine deutliche
Umverteilungskomponente herauszuholen, also mehr als
nur den Ausgleich der Preissteigerung und eine Anpassung an die Produktivitätssteigerung.
Gerade in diesen Zeiten ist das von außerordentlicher
Bedeutung; denn durch die Politik der letzten zehn,
zwölf Jahre, durch die Rahmenbedingungen, mit denen
Gewerkschaften konfrontiert waren, ist den Gewerkschaften ein dramatisches Lohndumping aufgezwungen
worden. Die Gewerkschaften konnten jahrelang - das
haben Sie selbst in Ihrer Rede eben angesprochen - nicht
einmal Lohnerhöhungen herausholen, die die Preissteigerungen und Produktivitätssteigerungen berücksichtigten. Vielmehr wurden sie gezwungen, sich auf niedrigere
Lohnabschlüsse einzulassen. Das muss jetzt ausgeglichen werden. Dafür ist in der Tat Jahr für Jahr eine massive Umverteilungskomponente notwendig.
({0})
Grundsätzlich kann ich die Grundsätze, die Sie formulieren, loben. Aber machen Sie etwas, damit diese
Grundsätze in der Realität auch umgesetzt werden können? Fehlanzeige! Als Gewerkschafter kann ich keine
Tariferhöhungen durchsetzen, indem ich den Unternehmern am Verhandlungstisch erzähle: Hört mal zu, es gibt
da jetzt einen Wirtschaftsminister, der dieses und jenes
sagt. - Das interessiert die im Regelfall nicht, sondern
Unternehmer interessiert immer nur, was in Tarifauseinandersetzungen und auch in Streikauseinandersetzungen durchgesetzt werden kann.
Die in der Vergangenheit im Rahmen der Agenda von
Ihnen durchgesetzte massive Deregulierung am Arbeitsmarkt führte zu Befristungen, Leiharbeit, Minijobs, Verunsicherung durch Hartz IV und Verängstigung der Beschäftigten. Das ist der Grund dafür, dass wir jetzt seit
über zehn Jahren ein dramatisches Lohndumping in unserem Land zu verzeichnen haben. Das muss geändert
werden.
({1})
Ändern Sie denn nun tatsächlich etwas an dieser verhängnisvollen Politik? Wieder Fehlanzeige! Es gibt
keine Veränderungen bei Befristungen; denn mit befristet Beschäftigten, das sage ich aus Erfahrung, streikt es
sich nicht besonders gut, weil sie natürlich Angst haben,
dass ihr Vertrag nicht verlängert wird. Es streikt sich
nicht besonders gut mit Leiharbeitskräften. Es streikt sich
auch nicht besonders gut mit Minijobbern - mittlerweile
sind es 7 Millionen -, die in atomisierten Arbeitsverhältnissen eingesetzt werden. Diese kennen im Regelfall nicht
einmal die Kollegen aus der Mittel- oder Spätschicht.
Unter solchen Umständen ist es sehr schwierig, Widerstand in Form einer Streikbewegung zu organisieren.
Ein Wille zur Veränderung ist in Ihrer Politik nicht
festzustellen. Es ist allerdings festzustellen, dass Sie im
zurückliegenden Wahlkampf zu all diesen Punkten wunderbare Forderungen formuliert haben. Aber mit politischen Kräften wie uns, die mit Ihnen in diesem Bereich
vorankommen wollten, wollten Sie in Form von Koalitionsverhandlungen nichts zu tun haben.
Die Lohnerhöhung, die Sie jetzt erwarten, ist außerordentlich bescheiden. Sie gehen von einem Plus von
2,7 Prozent aus, schreiben aber selbst in Ihren Bericht
hinein, dass die Einkommen aus Unternehmertätigkeit
und Vermögen um das Doppelte ansteigen sollen. Das
heißt, dass davon auszugehen ist, dass die Umverteilung
von unten nach oben sogar noch weiter zunimmt. Anscheinend finden Sie das gut. Das passt aber mit Ihren
sonstigen Reden nicht zusammen. Insofern entpuppen
sich Ihre sonstigen Reden als Sonntagsreden.
({2})
Sie haben von Lohnverfall gesprochen. Den gibt es in
der Tat. Daher ist es dringend notwendig, dass von politischer Seite gegengewirkt wird, dass Befristungs- und
Leiharbeitsregelungen zurückgenommen werden. Wir
müssen zu einer neuen Ordnung am Arbeitsmarkt kommen. Nur dann haben Gewerkschaften bei Streiks und
Auseinandersetzungen eine Chance, Lohnsteigerungen
entsprechend den Preis- und Produktivitätssteigerungen
sowie unter Umständen auch eine Umverteilungskomponente durchzusetzen. Die Politik muss aber die Rahmenbedingungen dafür schaffen.
Ich danke Ihnen.
({3})
Das Wort erhält nun der Kollege Joachim Pfeiffer für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Deutschland geht
es in der Tat gut. Das ist nicht vom Himmel gefallen,
sondern das ist das Ergebnis von harter Arbeit, von Reformen in den letzten zehn Jahren. Wir haben uns aus einer Abwärtsspirale mit immer mehr Arbeitslosen, mit
einer immer höheren Verschuldung und immer mehr Sozialausgaben durch Reformen herausgearbeitet und befinden uns nun in einer Aufwärtsspirale mit immer mehr
Beschäftigungsverhältnissen, höheren Steuereinnahmen
und weniger Sozialausgaben. Wir haben eine wettbewerbsfähigere Wirtschaft. Die Reformen bezogen sich
auf die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes, Technologieförderung und Gründungsförderung. Viele Dinge sind
zusammengekommen. Diese Reformen haben es ermöglicht, dass beispielsweise die Beschäftigungsschwelle in
Deutschland, die vor zehn Jahren noch bei 1,5 Prozent des
Wirtschaftswachstums lag, auf jetzt 0,5 Prozent zurückgegangen ist. Das heißt, wenn der Wirtschaftsminister für
dieses Jahr ein Wachstum von 1,8 Prozent voraussagt,
dann hat dies außerordentlich positive Beschäftigungseffekte in diesem Land.
Die Zahlen, die hier von Teilen der Opposition angeführt wurden - offensichtlich wurden bewusst falsche
Zahlen genannt; ich kann kaum glauben, dass Sie es
nicht besser wissen -, sind wirklich hanebüchen. Frau
Wagenknecht spricht davon, dass 25 Prozent der 42 Millionen Menschen in Deutschland prekär beschäftigt wären.
({0})
Es würde mich interessieren, woher diese Zahl kommt.
Gerade letzte Woche hat die Bundesagentur die Zahlen
zu den Aufstockern korrigiert.
({1})
Es gibt in diesem Land 47 000 Aufstocker, die Singles
sind, und 170 000, die in Mehrpersonenhaushalten wohnen. Das sind insgesamt circa 230 000 Aufstocker. Das
sind 0,5 Prozent von 42 Millionen und nicht 25 Prozent.
Ich glaube, da ist Ihnen das Komma ein bisschen verrutscht.
({2})
Behaupten Sie hier nicht irgendwelche Sachen, die wirklich hanebüchen sind!
Wenn ich den Kollegen Hofreiter höre, sehne ich
mich fast nach dem Herrn Trittin zurück; das muss ich
wirklich sagen. Das, was der erzählt hat, hatte wenigstens noch ein gewisses intellektuelles Niveau.
({3})
Auch Ihre Zahlen stimmen nicht, Herr Hofreiter. Sie behaupten, dass 7 Prozent in der Zeitarbeit Arbeit finden.
Allein der Klebeeffekt - dabei geht es um die Menschen,
die nach der Zeitarbeit beim Kundenunternehmen verbleiben - macht 15 Prozent aus. Das ist mehr als das
Doppelte von dem, was Sie insgesamt der Zeitarbeit zuschreiben.
({4})
Zwei Drittel der Menschen, die Zeitarbeit als Brücke
nutzen, bleiben über die Zeitarbeit hinaus dauerhaft in
Arbeit. Das ist die richtige Zahl. Wenn Sie nicht einmal
Statistiken richtig lesen können, sollten Sie vielleicht etwas leiser sein und hier nicht irgendwelche Behauptungen aufstellen.
({5})
Weil wir diese Reformen unternommen haben, haben
wir heute höhere Steuereinnahmen und sind wettbewerbsfähiger.
({6})
Deswegen können wir uns heute auch entsprechend etwas leisten in diesem Land. Deshalb werden wir jetzt
mit der Mütterrente und mit der Rente mit 63 Dinge umsetzen können, die vor zehn Jahren unmöglich waren.
Damals waren die Kassen leer, heute sind die Kassen
voll.
({7})
Wir müssen aber aufpassen, dass wir diese positive
Spirale nicht an mancher Stelle stoppen oder gar ins Gegenteil verkehren. Das ist wie beim Olympioniken: Wenn
der hart trainiert, kann er ganz oben auf dem Podest stehen. Es ist, glaube ich, unstrittig, dass Deutschland nicht
nur in Europa, sondern weltweit ganz oben auf dem
Podest steht. Wenn er nicht weiter trainiert, wenn er
nicht weiter hart arbeitet, dann wird er bei den nächsten
Olympischen Spielen in vier Jahren nicht automatisch
wieder auf dem Treppchen stehen. Deshalb sollten wir
uns genau anschauen, was wir tun.
Wir müssen aufpassen: Die Demografie ist, wie sie
ist. Deshalb sind heute die Probleme anders als vor 10,
15, 20 Jahren. Uns fehlen bis 2025 6,5 Millionen Fachkräfte. Sie alle sind nicht geboren, und so viele Fachkräfte werden wir sicher nicht durch Zuwanderung bekommen. Deshalb brauchen wir die älteren Menschen
im Arbeitsmarkt. Kollege Fuchs hat es schon angesprochen: Von 2000 bis heute, bis 2014, ist die Beschäftigungsquote der Älteren, der 55- bis 64-Jährigen, von
38 Prozent auf im letzten Jahr wahrscheinlich 65 Prozent
gestiegen. Das heißt, zwei Drittel der Menschen im Alter
von 55 bis 65 sind heute erwerbstätig und nicht mehr nur
38 Prozent. Die Menschen arbeiten länger. Das ist ein
Grund dafür, dass so viele Menschen in Beschäftigung
sind und wir weniger für Sozialausgaben, sei es Arbeitslosengeld, sei es Arbeitslosenhilfe, oder auch für Rente
ausgeben müssen.
Deshalb dürfen wir jetzt keine neuen Frühverrentungsmodelle einführen. Die Gefahr ist sehr konkret. Mir
wurde dieser Tage ein Beispiel eines mittelständischen
Unternehmens aus dem Sauerland zugetragen. Das Unternehmen stellt mit 35 Mitarbeitern Steuerungssysteme
für Fregatten her. In der Abteilung Prüffeld arbeiten vier
Mitarbeiter. Zwei davon könnten nach der jetzt angedachten Regelung bereits Ende 2014 statt wie bisher
Ende 2016 in Rente gehen. Qualifizierungen für jüngere
Mitarbeiter sind bereits im Gange; es dauert aber mindestens 18 Monate, bis diese beendet sind. Wenn die
jetzt angedachte Regelung umgesetzt werden würde,
würde der Fachkräftemangel verstärkt. Dieses mittelständische Hochtechnologieunternehmen wäre direkt davon betroffen. Auch dort würden Fachkräfte fehlen. Es
wäre dadurch bedroht. Insofern müssen wir uns ganz genau anschauen, was wir auf diesem Gebiet machen.
Herausforderungen, die wir angehen müssen, gibt es
in der Tat noch viele; hier kann ich dem Minister nur zustimmen. Ich nenne da die Bereiche Internet, digitale
Wirtschaft, Forschung und Entwicklung. Auch die Haushaltskonsolidierung müssen wir weiter vorantreiben.
Das Maastricht-Ziel, dass der Schuldenstand maximal
70 Prozent des Bruttoinlandsprodukts betragen soll,
müssen wir in dieser Legislaturperiode fest im Blick behalten; in der nächsten wollen wir auf 60 Prozent kommen.
Bei der Entbürokratisierung brauchen wir alle. Ich
freue mich, dass ich hier die Kollegin Andreae sitzen
sehe. Gestern Abend waren wir bei einer Veranstaltung,
wo sie sich sehr dafür eingesetzt hat, dass wir weiter entbürokratisieren und beispielsweise die steuerrechtlichen
Aufbewahrungsfristen verkürzen. Da holen wir Sie
gerne ins Boot. Sie hatten dort weiter ausgeführt, dass
man die Grünen hierfür auch im Bundesrat braucht, weil
es so viele grüne Landesminister gibt. In der Tat, wir hatten in der letzten Legislaturperiode zusammen mit der
FDP entsprechende Vorschläge gemacht. Diese sind im
Bundestag verabschiedet worden und dann leider im
Bundesrat nicht auf Gegenliebe gestoßen. Insofern sage
ich herzlichen Dank für die Ankündigung Ihrer Unterstützung auch im Bundesrat. Wenn wir unsere Vorschläge umsetzen können, bringen wir den Standort weiter voran.
Ein wichtiges Thema ist die Bekämpfung der Langzeitarbeitslosigkeit. Auch wenn wir beim Abbau der Arbeitslosigkeit erfolgreich waren - sie ist um über ein
Drittel gesunken -, verzeichnen wir bei der Zahl der
Langzeitarbeitslosen einen Rückgang um nur 25 Prozent. Das zeigt, dass wir das Thema angehen müssen. Im
Bundeshaushalt sind dafür 1,4 Milliarden Euro vorgesehen, unter anderem für spezielle Programme. Diese Programme müssen für die Qualifizierung, für die Förderung dieser Menschen genutzt werden und nicht, um sie
wegzusubventionieren. Manche fordern hier einen dritten Arbeitsmarkt, um die Langzeitarbeitslosen quasi
durch kommunale Arbeitsbeschaffungsprogramme wegzusubventionieren. Das ist nicht unser Ansatz. Vielmehr
wollen wir diese Arbeitslosen aktivieren. Jeder von ihnen müsste eigentlich jeden Tag ein Angebot für Qualifizierung oder auch für einen Arbeitseinsatz erhalten, um
zurück in den Arbeitsmarkt zu kommen. Es reicht nicht,
dass sie einfach nur finanziell unterstützt werden.
({8})
Lassen Sie mich auch noch ein paar Argumente zum
geplanten Transatlantischen Freihandelsabkommen anführen. Es geht nicht nur darum, dass wir wahrscheinlich
das letzte Mal die Chance haben, in Europa und Nordamerika inklusive Kanada weit ins 21. Jahrhundert hinein Standards zu setzen und Impulse zu geben, sondern
es geht auch darum, den größten Binnenmarkt der Welt
mit 800 Millionen Menschen zu schaffen. Es geht um
Wachstumsimpulse von 120 Milliarden Euro auf europäischer Seite und fast 100 Milliarden Euro auf amerikanischer Seite. Es geht auch um den Abbau nicht tarifärer
Handelshemmnisse und Chancen bei Beschaffungsprozessen. Diese Woche war der Chefunterhändler im Wirtschaftsausschuss. Er hat dort ganz klar gesagt, dass beispielsweise bei den Beschaffungsprozessen natürlich
auch in Amerika Standards gefunden werden, die dazu
führen, dass europäische Unternehmen dort besser agieren können als in der Vergangenheit. Erinnern wir uns an
den US-Auftrag über Tankflugzeuge, Stichwort Airbus/
EADS. So stellen wir uns den Beschaffungsprozess
nicht vor. Mit nichttarifären Hemmnissen wurde das
Ganze letztlich umgangen.
Lassen Sie uns auch einmal die Chancen eines solchen Abkommens sehen! Es werden ja immer nur Risiken und Gefahren betrachtet, sogar bei den von Frau
Künast - sie ist gerade nicht da - gern ins Feld geführten
Chlorhühnchen. Es wird so getan, als drohe Europa von
Chlorhühnchen überschwemmt zu werden. Wie ist denn
die Situation? In den USA wird Geflügel in der Tat seit
Jahrzehnten oder schon immer, um Salmonellenbefall
vorzubeugen, beim Schlachten mit keimtötenden Substanzen desinfiziert. Diese Chlorhühnchen dürfen
- Stand: heute - in Europa nicht importiert werden;
das ist richtig. Aber die USA haben bereits 2009 vor
dem Dispute Settlement Body der WTO eine entsprechende Klage eingereicht. Alle Gutachten der Europäischen Union besagen, dass Chlorhühnchen nicht gesundheitsschädlich sind. Was wird also passieren? Wenn
diese Klage erfolgreich ist, dann werden diese Chlorhühnchen, die manche hier als Symbol für den Untergang europäischer Standards betrachten, in unbegrenzter
Zahl und ungekennzeichnet nach Europa exportiert werden dürfen. Wenn es uns aber gelingt, im Rahmen der
TTIP-Verhandlungen Standards durchzusetzen und auch
über Mengen zu sprechen, dann haben wir die Chance,
hier etwas zu ändern. Das heißt, selbst bei den Chlorhühnchen ist die TTIP eine Chance zur Lösung und nicht
Ursache des Problems.
({9})
Das bitte ich Sie wirklich einmal in Betracht zu ziehen,
anstatt hier einseitig Emotionen zu schüren und aufzuhetzen.
Insoweit muss man sagen: Die Richtung stimmt. Wir
werden diesen Weg konsequent weitergehen, um Wachstum und Beschäftigung zu fördern. Nachhaltige Konsolidierung verbunden mit Technologiepolitik wird dazu
führen, dass Deutschland nach vier Jahren unter dieser
Koalition wiederum besser dasteht. Der Jahreswirtschaftsbericht, den wir heute diskutieren, ist ein wichtiger Meilenstein dafür.
Vielen Dank.
({10})
Nun erteile ich das Wort der Kollegin Katharina
Dröge für Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Sehr geehrter Herr Gabriel, angesichts der
Rede von Herrn Pfeiffer will ich meine Rede ein bisschen sachlicher anfangen: Ihr Jahreswirtschaftsbericht
enthält - das möchte ich sagen - durchaus einige richtige
Analysen. Sie sagen zum Beispiel zu Recht: Deutschland braucht eine stärkere Binnennachfrage. Die Reduzierung von ökonomischen Ungleichgewichten in Europa ist eine der zentralen Aufgaben bei der Lösung der
aktuellen Krise. Dieser Aufgabe muss sich endlich auch
Deutschland stellen, um die Europäische Union wirtschaftlich zu stabilisieren.
({0})
Dieser Teil des Jahreswirtschaftsberichts ist richtig, Herr
Gabriel. Das Problem an Ihrem Bericht ist allerdings die
fehlende Umsetzung; denn für eine stärkere Binnennachfrage und eine günstige wirtschaftliche Entwicklung
braucht es höhere Löhne und größere Investitionen,
nicht nur aktuell, sondern auch zukünftig. Was Sie zur
Investitionsförderung vorschlagen, wirkt auf mich jedoch eher wie der Scheinriese aus dem Kinderbuch Jim
Knopf und Lukas der Lokomotivführer - ich weiß nicht,
ob Sie dieses Buch kennen -: Je näher man Herrn Tur
Tur kommt, desto kleiner wird der Scheinriese.
({1})
Da bringt es auch nichts, wenn Sie sich hier - ich formuliere es jetzt einmal positiv - doch sehr selbstbewusst
hinstellen und große Ankündigungen machen. Sie müssen sich an Ihren Taten messen lassen, Herr Gabriel.
({2})
Für die Infrastruktur versprechen Sie 5 Milliarden
Euro. Das klingt erst einmal super. Das Problem ist allerdings: Sie wollen diese 5 Milliarden Euro über vier Jahre
investieren. Tatsächlich werden mindestens 7 Milliarden
Euro gebraucht - jährlich. Dasselbe bei den Kommunen:
Auch hier versprechen Sie 5 Milliarden Euro, und zwar
für die Eingliederungshilfe. Dieses Geld soll aber erst
mit dem Bundesteilhabegesetz kommen, und das kommt
wahrscheinlich erst in drei bis vier Jahren, also dann,
wenn Ihre Regierung wahrscheinlich gar nicht mehr im
Amt ist.
({3})
Bis dahin planen Sie nur mit 1 Milliarde Euro, und das
werden auch keine zusätzlichen Mittel sein. Da Sie in
der heutigen Debatte noch einmal betont haben, wie
wichtig gerade die Rolle der Kommunen für Investitionen in unserem Land ist, frage ich Sie: Wie sollen die
Städte und Gemeinden investieren, wenn jede dritte
Kommune in diesem Land gar nicht mehr in der Lage
ist, ihre Schulden zu bedienen?
({4})
Einige Ihrer Vorhaben sind noch nicht einmal Scheinriesen, sondern einfach gar nicht vorhanden. Ich will ein
Beispiel nennen: die energetische Gebäudesanierung.
Das ist meiner Meinung nach eine der wichtigsten Baustellen der Energiewende. 40 Prozent des Energieverbrauchs entstehen im Gebäudebereich. Hier gibt es immense CO2-Einsparpotenziale. Gleichzeitig gibt es
große Jobchancen in Deutschland. Die steuerliche Förderung dieser Maßnahmen kommt in Ihrem Jahreswirtschaftsbericht nicht vor. Aus meiner Sicht enthält Ihr Bericht noch eine ganze Reihe anderer Themen, die Sie
zwar richtig analysieren, aber bei denen Sie falsch ansetzen.
Mit Blick auf die Zeit möchte ich noch einen Punkt
ansprechen, der mir sehr wichtig ist, nämlich das EUamerikanische Freihandelsabkommen. Ich hatte Sie eigentlich darauf ansprechen wollen, dass Ihr 80-seitiger Bericht
nur einen Halbsatz zu diesem Freihandelsabkommen enthält. Da Sie das Thema in dieser Debatte aber angesprochen haben, bin ich erst einmal erleichtert; denn Sie haben erkannt, dass wir im Plenum über dieses Thema
diskutieren sollten.
({5})
Was Sie zum Freihandelsabkommen gesagt haben,
trägt aus meiner Sicht nicht zu der ernsthaften Debatte
bei, die wir dazu führen müssen. Sie hätten nämlich sagen müssen, wie wir es schaffen können, die Umwelt-,
Verbraucher- und Sozialschutzstandards in der Europäischen Union zu sichern. Das hätten Sie erklären müssen.
Denn selbst Herr Bercero, der Chefunterhändler der EU,
der, wie Herr Pfeiffer richtig sagt, am Montag bei uns im
Wirtschaftsausschuss war, hat bestätigt, dass es aktuell
Probleme mit dem Thema Investitionsschutzklausel gibt.
({6})
Wir denken uns das nicht aus. Es geht dabei nicht darum, über Risiken und Chancen zu reden. Das sind reale
Probleme. Ich will daher von Ihnen wissen: Wie sichern
Sie unsere Standards? Wie garantieren Sie, dass wir am
Ende nicht hier im Parlament ein Abkommen beraten
müssen, das zum Abbau dieser Standards führt?
({7})
Sie haben die Stichworte Wachstumseffekte und Arbeitsplatzeffekte im Hinblick auf die TTIP angesprochen. Ich möchte wissen, welche Wachstumseffekte es
bei der TTIP denn noch gibt, wenn Sie die Umwelt-,
Verbraucher- und Sozialschutzstandards ausklammern?
Denn ein Großteil der Wachstumseffekte beruht gerade
auf dem Abbau nicht tarifärer Handelshemmnisse. Was
für Wachstumschancen bleiben ohne diese Standards
also noch?
({8})
Ich finde, Sie müssen sich zu dieser Debatte äußern.
Wir müssen dahin gehend konkret miteinander diskutieren. Dieses Thema bewegt die Menschen nämlich gerade
wirklich.
({9})
Herr Gabriel, als ich mich auf die Rede vorbereitet
habe, ist mir aufgefallen, dass Sie zufällig genau
25 Jahre älter sind als ich. Da habe ich mir gedacht: In
25 Jahren, wenn ich so alt bin wie Sie jetzt,
({10})
dann hoffe ich, in einem Land zu leben, das heute die
richtigen Entscheidungen getroffen hat, in einem Land,
das nicht unter einem schlecht verhandelten Freihandelsabkommen leidet, in einem Land, das seine Städte verantwortlich finanziert, und in einem Land, in dem sich
die Menschen und die Wirtschaft darauf verlassen können, dass Straßen, Schienen und Brücken nicht zerbröseln.
({11})
- Nein, das ist der Job von Herrn Gabriel. - Damit müssen Sie heute anfangen.
({12})
Liebe Kollegin Dröge, herzlichen Glückwunsch zu
Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag.
({0})
Den Termin heute in 25 Jahren halten wir einmal fest.
Dann gucken wir, was daraus geworden ist.
({1})
- Ich denke, alle unmittelbar Angesprochenen dürfen
sich als eingeladen betrachten. Jedenfalls halten wir das
so im Protokoll fest.
Nächster Redner ist der Kollege Johann Saathoff für
die SPD-Fraktion.
({2})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wi stahn d’för, wi mutten d’dör - so würde
ein Ostfriese aus meiner Heimat in seiner Sprache eine
Situation beschreiben,
({0})
in der er vor großen Aufgaben steht und nicht zögern
möchte, diese Aufgaben auch in Angriff zu nehmen.
Diese Beschreibung passt meiner Meinung nach auch
auf den Jahreswirtschaftsbericht 2014 der Bundesregierung, den der Bundesminister für Wirtschaft und Energie, Sigmar Gabriel, vorgelegt hat.
Wir können mit Fug und Recht, gerade auch mit Blick
auf die europäischen Nachbarn, konstatieren, dass sich
die Wirtschaft und der Arbeitsmarkt in Deutschland in
guter Verfassung befinden. Trotzdem stehen wir vor einigen Herausforderungen, die zu bewältigen sind, damit
sich die wirtschaftliche Entwicklung der Bundesrepublik
auch weiterhin positiv im Sinne der Menschen unseres
Landes vollziehen kann.
Eine dieser Herausforderungen ist die Reform des Erneuerbare-Energien-Gesetzes, über die ich heute reden
möchte. Es gibt verschiedene Gründe, warum es einer
Reform des EEG bedarf.
Die erneuerbaren Energien in Deutschland sind aus
den Kinderschuhen längst herausgewachsen. Hinsichtlich der Maßnahmen zur Einführung sehen wir uns folglich von der Lebenswirklichkeit überholt. Längst haben
wir Ziele erreicht, die vor einigen Jahren noch als ehrgeizig beschrieben worden wären. 25 Prozent des erzeugten Stroms werden mit erneuerbaren Energien produziert. Das allein beweist den Erfolg der Energiewende
in Deutschland.
({1})
Nun ist es an uns, die Energiewende in eine neue
Phase zu führen. Der Minister hat dazu in seinen Eckpunkten die Leitlinien Kosteneffizienz, Wirtschaftlichkeit, Planbarkeit und Verlässlichkeit formuliert. Was es
bedeutet, wenn Planbarkeit und Verlässlichkeit nicht geJohann Saathoff
geben sind, das musste meine Heimat Ostfriesland in
den letzten Jahren schmerzlich erfahren. Circa 2 000
qualifizierte Arbeitsplätze sind bei uns im Bereich der
Offshorewindenergie in den vergangenen zwei Jahren
verlorengegangen. Nicht nur, aber auch deshalb ist es
wichtig, die Ausbauziele in den nächsten Jahren planbar
und verlässlich zu gestalten.
Dabei geht es nicht darum, die erneuerbaren Energien
auszubremsen. Vielmehr geht es darum, den Ausbaukorridor angemessen festzulegen. Durch die Verlängerung
des Stauchungsmodells bis 2019 wird gerade die Entwicklung im Bereich der Offshorewindenergie planbar
und verlässlich gesteuert. Wir benötigen die Windenergieanlagen auf See als einen Baustein der Erneuerbaren,
da die Offshorewindenergie mit über 4 000 Volllaststunden im Jahr für eine stetige Grundlast sorgt. Die angestrebten 6,5 Gigawatt bis zum Jahr 2020 sind ein ehrgeiziges Ziel.
Bei der Onshorewindenergie ist mit einem jährlichen
Ausbauziel von 2,5 Gigawatt sozusagen ein atmender
Deckel vorgesehen. Dieses Ziel ist in den letzten zehn
Jahren nur einmal überhaupt übertroffen worden. Deshalb dient dieses Ausbauziel in erster Linie der Planbarkeit hinsichtlich der Anpassung der Stromnetze
({2})
und sollte nicht als Beschränkung der erneuerbaren
Energien angesehen werden, Herr Hofreiter. Es bleibt
dabei: Wir wollen bis 2050 einen Anteil von 80 Prozent
erneuerbare Energien im Stromnetz erreichen.
({3})
Insbesondere weil wir die Energiekosten der Menschen im Auge behalten und Energie auch noch in Zukunft bezahlbar halten wollen, werden wir die Überförderungen abbauen. Die Überförderungen der letzten
Jahre waren beim Start der Energiewende zwingend erforderlich. Bei dem jetzt erreichten Ausbaustand der erneuerbaren Energie muss hier nun allerdings ein Umdenken einsetzen. Dabei möchten wir, dass die sehr positive
Entwicklung der direkten und indirekten Bürgerbeteiligung über Bürgerwindparks oder Bürgerenergiegenossenschaften weiter fortgesetzt werden kann.
({4})
Nicht zuletzt hängt auch die Akzeptanz der Bürgerinnen
und Bürger an der direkten Beteiligung bei der Umsetzung der Energiewende.
Zur Akzeptanz gehört auch Ehrlichkeit. Daher bin ich
dem Minister dankbar, dass er kürzlich klargemacht hat,
dass wir die Kosten für die Verbraucher nicht zulasten
der Energiewende senken werden. Es geht beim weiteren
Ausbau der Energiewende vielmehr darum, einen rasanten Kostenanstieg mit seinen Folgen für die Menschen
zu verhindern. Auch das trägt zur gerade erwähnten Akzeptanz der Energiewende durch die Bürgerinnen und
Bürger bei.
({5})
Ohne diese Akzeptanz - das muss uns allen klar sein würde es extrem schwer werden, die Energiewende umzusetzen. Problematisch erscheint mir, wenn bereits an oberster Stelle die Akzeptanz der Energiewende infrage gestellt
wird; über die Bedeutung der Kommunalwahlen in Bayern
für die Energiewende in Deutschland und Europa werden
wir noch in der Aktuellen Stunde debattieren können.
({6})
Unstrittig ist - das hat auch Frau Bundeskanzlerin deutlich gemacht -, dass wir die Leitungen brauchen. Beim
Netzausbau lautet die Devise: So viel wie nötig, aber so
wenig wie möglich.
Sehr geehrter Herr Minister, Sie haben in der gestrigen Ausschusssitzung das Struck‘sche Gesetz angesprochen. In diesem Zusammenhang würde ich gerne darüber berichten, was man mir in meiner Heimat nach
Bekanntgabe des Eckpunktepapiers mit in den Rucksack
gelegt hat. Bei uns stehen Windparks in einigen Gemeinden kurz vor der Genehmigung, die nicht nur in den jeweiligen Gemeinden, sondern auch mit den Gemeinden
und deren Bürgerinnen und Bürgern realisiert werden
sollen. Das sind Projekte, für die bereits Verpflichtungen
eingegangen und Verträge unterschrieben werden mussten. Angesichts des Vorlaufs für Windenergieprojekte
sollten wir uns - das ist meine Meinung - über die Stichtagsregelung noch einmal Gedanken machen.
({7})
Die Energiewende muss auch im europäischen Kontext betrachtet werden. Wenn der Sachverständigenrat
die Umsetzung der Energiewende in Deutschland als Alleingang bezeichnet, bedeutet das, dass wir vorangegangen sind und damit schon wesentlich mehr Fortschritte
gemacht haben als die anderen Mitgliedstaaten.
({8})
Vor allem den CO2-Zertifikaten möchte der Sachverständigenrat mehr Bedeutung beimessen. Dass CO2-Zertifikate für den Börsenpreis des Stroms eine wichtige Bedeutung haben, steht außer Frage. Der Weg zur
notwendigen Reduzierung der Zertifikate ist aber sehr
komplex, und wir haben es in Deutschland nicht allein in
der Hand, wie sich die EEG-Umlage entwickeln wird;
denn über die CO2-Zertifikate wird in Brüssel entschieden. Die wenigsten Mitgliedsstaaten wollen dieses
Thema so ambitioniert anfassen wie Deutschland. Deswegen sollten wir uns vehement für die 40-prozentige
Reduktion der Zertifikate einsetzen.
Bis zur Verabschiedung des Gesetzentwurfes im Juni
wird noch viel Arbeit auf uns alle zukommen. Vor dieser
Arbeit stehen wir nun, und da müssen wir durch - oder
wie wir Ostfriesen sagen: Wi stahn d’för, wi mutten
d’dör.
Besten Dank.
({9})
Auch Ihnen, Herr Kollege Saathoff, gratuliere ich
herzlich zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag.
({0})
Ich erlaube mir die Anregung, dass Sie dem schriftlichen Protokoll Ihrer Rede für den Anfang und den
Schluss die hochdeutsche Übersetzung hinzufügen,
({1})
um den Kreis derjenigen, die verstehen, was Sie meinen,
etwa mit dem der Wahlberechtigten in Deutschland deckungsgleich zu machen.
({2})
Nun erhält der Kollege Andreas Lenz für die CDU/
CSU-Fraktion das Wort.
({3})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Soziale
Marktwirtschaft heute - Impulse für Wachstum und Zusammenhalt“ - diesen Titel trägt der Jahreswirtschaftsbericht 2014, den wir heute diskutieren. Die Bundesregierung legt darin dar, mit welcher konjunkturellen
Entwicklung sie im laufenden Jahr rechnet. Außerdem
wird gezeigt, mit welchen wirtschafts- und finanzpolitischen Maßnahmen zur Erreichung der gesamtwirtschaftlichen Ziele - Stabilität des Preisniveaus, hoher Beschäftigungsgrad und außenwirtschaftliches Gleichgewicht
bei stetigem und angemessenem Wirtschaftswachstum beigetragen wird.
Soziale Marktwirtschaft heute: Das besagt, dass die
soziale Marktwirtschaft eben auch heute noch aktuell ist,
dass sie lebt und dass sie Garant bzw. Voraussetzung für
Wohlstand und sozialen Ausgleich ist.
Trotz des schwierigen internationalen Umfelds hat
sich die deutsche Wirtschaft im Jahr 2013 robust entwickelt. Das reale Wachstum des Bruttoinlandsprodukts
betrug 2013 0,4 Prozent. Aufgrund unseres aufnahmefähigen und flexiblen Arbeitsmarktes können wir mittlerweile jedoch auch bei einem moderaten Wachstum gute
Beschäftigungsdaten erzielen. Genau diese Aufnahmefähigkeit und Flexibilität müssen wir auch zukünftig erhalten.
Die Prognosen zeigen, dass wir positiv auf die gesamtwirtschaftliche Entwicklung blicken können. Für
2014 geht die Bundesregierung im Jahreswirtschaftsbericht von einem Wachstum des Bruttoinlandsprodukts
von 1,8 Prozent aus. Politik beginnt eben auch mit der
Betrachtung der Realität, und Statistiken zählen dazu.
Die EU-Kommission erwartet für den Euro-Raum ein
Wachstum von 1,1 Prozent. Deutschland ist damit wieder Wachstumslokomotive Europas. Positiv anzumerken
ist dabei, dass der Euro-Raum nach einer Phase der Stagnation wieder auf den Wachstumspfad zurückgekehrt
ist und selbst die Krisenländer erhebliche Fortschritte erzielen.
Wir befinden uns also auf einem guten Weg. Es gilt
jedoch, die Rahmenordnung so auszugestalten, dass das
Wachstum tragfähig ist. Deshalb gilt es, den Blick in die
Zukunft zu richten. Status-quo-Denken wäre dabei
schädlich. Ludwig Erhard sagte dazu: „Wohlstand … zu
bewahren, ist noch schwerer, als ihn zu erwerben.“
Die Bundesregierung nennt im Jahreswirtschaftsbericht wichtige Handlungsfelder, um die Grundlage für
Wohlstand, den gesellschaftlichen Zusammenhalt und
die hohe Lebensqualität in Deutschland zu sichern und
auszubauen. Die soziale Marktwirtschaft ist dabei Richtschnur.
Der Beschäftigungseffekt des prognostizierten Wirtschaftswachstums wird in 2014 voraussichtlich zu einem
Plus von 240 000 Beschäftigten führen. Damit erwarten
wir mit 42,1 Millionen Menschen, die 2014 erwerbstätig
sein werden, einen neuen Beschäftigungsrekord. Auch
die Bruttolöhne werden steigen, und zwar um 2,7 Prozent.
In der gestrigen Ausgabe des Handelsblatts war zu lesen: „Verkehrte Welt in Berlin“. Es wurde darauf Bezug
genommen, dass im Jahreswirtschaftsbericht des Ministers steht, man müsse bei der Lohnentwicklung die Produktivität beachten. - Meine sehr verehrten Damen und
Herren, das ist keine verkehrte Welt. Das ist ökonomische Realität. Wenn der Wirtschaftsminister ökonomisch
denkt, dann ist das doch vielmehr eine richtige, eine vernünftige Welt. Dadurch, dass der Wirtschaftsminister
heute schon Walter Eucken zitiert hat, wird klar: Wir
sind wirtschaftspolitisch auf einem guten und richtigen
Weg.
({0})
- Ich hätte Ihnen nicht zugetraut, dass Sie ihn kennen.
Andererseits muss ich gestehen, dass ich bei keinem Seminar der Gewerkschaften dabei war. Vielleicht können
wir uns diesbezüglich noch austauschen.
({1})
Treiber des Wachstums ist vor allem die binnenwirtschaftliche Nachfrageentwicklung. Diese Entwicklung
wird auch dazu führen, dass die Höhe der Importe
schneller wächst als die der Exporte. Damit wird sich der
Leistungsbilanzüberschuss leicht abbauen. Ich hoffe, die
Androhung der EU-Kommission, sich hinsichtlich der
deutschen Exportüberschüsse einzuschalten, ist damit
endgültig vom Tisch. Nichtsdestotrotz müssen die Strukturreformen in den Euro-Ländern fortgesetzt werden, um
deren Wettbewerbsfähigkeit dauerhaft zu stärken.
Um selbst wettbewerbsfähig zu bleiben, müssen wir
weiter in Bildung und Forschung investieren. Dabei
muss klar sein, dass der Großteil der ForschungsanstrenDr. Andreas Lenz
gungen von der Wirtschaft selbst geleistet wird und eben
nicht vom Staat. Nichtsdestotrotz ist es wichtig, dass der
Staat Anreize für Unternehmen setzt, um eben in Forschung, Innovation und Entwicklung zu investieren.
Deutschland braucht insgesamt mehr Investitionen.
Die Investitionsquote von 17 Prozent ist im internationalen Vergleich zweifelsohne zu gering. Aber man muss
eben ganz klar sagen, dass die Wirtschaft selbst die Investitionen leistet und eben nicht nur der Staat investieren kann. Der Staat jedoch investiert in den nächsten vier
Jahren - wir haben es gehört - mit 5 Milliarden Euro
kräftig in die öffentliche Infrastruktur. Es ist wichtig,
dass die Straßen, die Schienen und die Wasserwege entsprechend ertüchtigt werden.
Das klare Bekenntnis zu einem strukturell ausgeglichenen Haushalt mit dem Ziel, 2015 einen Bundeshaushalt ohne Nettoneuverschuldung aufzustellen, ist ein
wichtiges und richtiges Ziel. Nebenbei bemerkt: Es ist
das im Sinne der Generationengerechtigkeit wichtigste
Ziel, langfristig ausgeglichene Haushalte zu erreichen.
Letztlich entstehen dadurch auch Handlungsspielräume
für mehr staatliche Investitionen.
Die Finanzbeziehungen zwischen Bund und Ländern
werden bis 2019 neu geregelt. In diesem Zusammenhang
gilt es auch, den Länderfinanzausgleich so zu ändern,
dass die richtigen Anreize für mehr Eigenverantwortung
gesetzt werden. Ebenso gilt, dass finanziell solide ausgestattete Kommunen zum Funktionieren eines Gemeinwesens beitragen und ebenfalls erhebliche Investitionsleistungen erbringen können. Die Kommunen werden in
den nächsten Jahren um insgesamt 5 Milliarden Euro
entlastet, und zwar vorwiegend durch die Übernahme
der Kosten der Grundsicherung im Alter und die der Eingliederungshilfe. Damit werden auch mehr Investitionen
auf kommunaler Ebene erzielt und realisiert werden können.
Trotz der guten Entwicklung am Arbeitsmarkt mit erwarteten 42,1 Millionen Erwerbstätigen waren laut Bundesagentur für Arbeit im Januar dieses Jahres 3,13 Millionen Menschen arbeitslos gemeldet. Davon sind
1 Million Menschen langzeitarbeitslos. Wir müssen und
wir werden hier größere Anstrengungen unternehmen,
um gerade den Langzeitarbeitslosen eine Chance auf
Wiedereingliederung in das Arbeitsleben zu geben. Daher begrüßen wir alle im Bericht genannten integrierenden, qualifizierenden Maßnahmen, um besonders diese
Menschen bei der Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt zu unterstützen. Ebenso wichtig ist das Bekenntnis zu einem flexiblen, atmenden Arbeitsmarkt und flexiblen Arbeitsmarktmodellen. Letztlich bietet auch
Flexibilität Chancen für Arbeit.
Lassen Sie mich zu einem Punkt kommen, der nicht
im Wirtschaftsbericht steht, der jedoch trotzdem erwähnenswert erscheint. Durch die Abwehr von Steuererhöhungen,
({2})
insbesondere einer Substanzbesteuerung für kleine und
mittlere Unternehmen, konnten wir den Fortbestand und
die Fortführung der Familienunternehmen langfristig
schützen. - Da bin ich mir nicht so sicher,
({3})
wenn man Ihre Pläne genau anschaut. Das können wir
noch diskutieren,
({4})
aber ich glaube, das steht relativ eindeutig im Wahlprogramm.
Es steht zwar in keinem Bericht, dass in Zukunft
keine Substanzbesteuerung erfolgt. Ich glaube aber, es
ist trotzdem ein Erfolg und erwähnenswert.
Eine Steuervereinfachung bleibt ein Dauerthema.
Wünschenswert wären dabei eine Steuerstrukturreform
und das Angehen der kalten Progression.
({5})
Wichtig ist jedoch auch, Steuerflucht und Steuervermeidung auf internationaler Ebene einzudämmen.
({6})
Dazu ist eine bessere Abstimmung national geprägter
Steuerrechtssysteme und der Behörden notwendig.
({7})
Auf den Finanzmärkten gilt es, Haftung und Risiko
entsprechend den Prinzipien der sozialen Marktwirtschaft wieder in Einklang zu bringen.
({8})
Im Rahmen der Verhandlungen über Basel III und neuer
Eigenkapital- und Liquiditätsanforderungen gilt es besonders, das dreigliedrige deutsche Bankensystem nicht
infrage zu stellen, sondern langfristig zu erhalten. Auch
dieses Modell aus Genossenschaftsbanken, Sparkassen
und privaten Banken hat während der Krise stabilisierend gewirkt.
Der Bericht heißt „Soziale Marktwirtschaft heute Impulse für Wachstum und Zusammenhalt“. Wachstum
heute heißt auch Innovation und Digitalisierung. Innovation ohne Einsatz moderner Informations- und Kommunikationsmedien ist heute nicht mehr vorstellbar. Die Digitalisierung bietet unzählige Chancen für Innovation.
Die Digitale Agenda 2014-2017 ist daher ein richtiges
Signal. Mitentscheidend ist dabei, dass der Ausbau leistungsfähiger Breitbandnetze flächendeckend die Versorgung mit mindestens 50 Megabit pro Sekunde garantiert.
Die im Jahreswirtschaftsbericht aufgezeigten ersten
Schritte sind eine gute Grundlage für die zukünftige
wirtschaftspolitische Arbeit der Bundesregierung. Es
gilt, die Rahmenordnung langfristig so auszugestalten,
dass das Wohlstandsversprechen der sozialen Marktwirtschaft aufrechterhalten bleibt.
Herzlichen Dank.
({9})
Gabriele Katzmarek ist die nächste Rednerin für die
SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren! Der vorliegende Jahreswirtschaftsbericht
„Soziale Marktwirtschaft heute - Impulse für Wachstum
und Zusammenhalt“ unterscheidet sich vom Jahreswirtschaftsbericht 2013. Er unterscheidet sich dadurch, dass
Akzente für eine gute wirtschaftliche Entwicklung anders gesetzt werden.
Es ist ein Jahreswirtschaftsbericht, der Perspektiven
und Prognosen für zukünftiges Handeln der Bundesregierung aufzeigt und dabei den Menschen in den Mittelpunkt stellt, der den Fokus auf Investitionen und Innovation legt, der die Zukunft gestaltet,
({0})
um der Verantwortung für die Menschen in unserem
Land gerecht zu werden, wie wir es als SPD versprochen
und im Koalitionsvertrag vereinbart haben.
Wirtschaftspolitik ist auch immer Gesellschaftspolitik: Gut entlohnte Arbeit, Teilhabe und soziale Sicherheit sind für eine hohe Lebensqualität der Menschen in
Deutschland grundlegend. Sie setzt gute Bildungsmöglichkeiten und lebensbegleitendes Lernen voraus.
Zukunft, wie wir sie verstehen, entsteht nicht im Labor, nicht im Reagenzglas. Nein, die Zukunft, die wir
meinen, wird von Menschen, mit Menschen und vor allem für die Menschen gemacht.
({1})
Auch wenn Deutschland auf dem Arbeitsmarkt erhebliche Fortschritte gemacht hat, konnten nicht alle Menschen - das wissen wir - an der positiven Entwicklung
teilhaben. Mit unsicheren Beschäftigungsverhältnissen
und einer sich nur langsam schließenden Schere bei den
Einkommen werden wir uns als Sozialdemokraten nicht
abfinden.
({2})
Menschen brauchen gute Arbeit mit angemessener Bezahlung.
Wir dürfen uns nicht auf der positiven wirtschaftlichen Entwicklung ausruhen. Jetzt gilt es, Weichen zu
stellen. Wir setzen deshalb auf Innovation und Forschung, auf leistungsfähige Infrastrukturen und auf die
Integration von Arbeitskräften. Die im Wirtschaftsbericht angekündigten Maßnahmen finden unsere Zustimmung: Förderung des Zugangs beruflich Qualifizierter
zu den Hochschulen, bessere Verzahnung von beruflicher und hochschulischer Bildung, Förderung der Weiterqualifizierung der Beschäftigten, aber und insbesondere die Verbesserung der Wertigkeit der dualen
Ausbildung.
({3})
Qualifikation ist und bleibt einer der wichtigsten Faktoren zur Teilhabe, zur weiteren Entwicklung und Stärkung des Standorts Deutschland. Dabei darf - das ist
sozialdemokratische Position - kein junger Mensch verloren gehen. Insgesamt sind rund 1,4 Millionen junge
Menschen ohne Berufsabschluss. Das muss uns aufrütteln. Da sind wir in der Politik, aber da ist auch die Wirtschaft in der Verantwortung.
({4})
Von daher ist es folgerichtig, dass der Ausbildungspakt
zu einer Allianz für Aus- und Weiterbildung weiterentwickelt wird.
Ein weiterer Schwerpunkt des Jahreswirtschaftsberichts ist die Digitalisierung der Wirtschaft, der Arbeitswelt und des gesellschaftlichen Lebens. Sie legt die Basis für eine Vielzahl von Innovationen. Die im Bericht
angekündigte umfassende digitale Agenda ist deshalb
von besonderer Bedeutung. Der flächendeckende Breitbandausbau muss vorangebracht werden. Die Entwicklung digitaler Zukunftstechnologien muss gefördert und
die Digitalisierung der klassischen Industrie - hier nenne
ich als Stichwort „Industrie 4.0“ - muss begleitet werden.
({5})
Die Minidrohne, die unsere Buchbestellung in einer
halben Stunde nach dem Klick in unserem Garten landen
lässt, eine Industrie, in der Maschinen im Produktionsprozess selbst erkennen, wann die Grundprodukte zur
Neige gehen und diese eigenständig beim Zulieferer bestellen, Waren, die nicht mehr gefertigt, gelagert und bei
Bedarf geliefert werden, sondern über neue Techniken
direkt vor Ort im Wohnzimmer, in den Werkstätten, bei
den Weiterverarbeitern über 3-D-Drucker hergestellt
werden - verlockende Techniken? Sie bergen Chancen,
aber auch Risiken zugleich. Welche massiven Veränderungen diese neue industrielle Revolution auf dem traditionellen Arbeitsmarkt und bei den Arbeitsbeziehungen
haben wird, können wir heute nur erahnen. Deshalb ist
es wichtig, sich rechtzeitig und umfassend mit ihren
Auswirkungen auseinanderzusetzen.
Sehr geehrte Damen und Herren, lassen Sie mich zum
Schluss noch eines sagen: Es darf nicht sein, dass wir
Forschung und Entwicklung fördern, das heißt die Kopfarbeit in Deutschland, die anschließende Produktion dagegen im Ausland stattfindet.
({6})
Wir müssen dafür sorgen, dass Wertschöpfungsketten in
Deutschland bleiben. Sozialer Fortschritt, Teilhabe, ein
besseres Leben mit guter Arbeit in einer intakten Umwelt und nicht alleiniges Setzen auf Wettbewerb und ungezügelte Marktwirtschaft, das ist unser Zukunftsbild.
Dafür stehen wir mit unserer Politik als Sozialdemokraten.
({7})
Sehr geehrte Kollegin Katzmarek, das war Ihre erste
Rede hier im Hohen Hause. Ich beglückwünsche Sie
dazu und wünsche Ihnen viele weitere erfolgreiche Reden.
({0})
Nächster Redner für die CDU/CSU ist der Kollege
Andreas Lämmel.
({1})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Einer muss der Letzte sein, aber ich habe gerade
festgestellt, dass ich das gar nicht bin. Das ist auch gut.
Also, ich bin der Vorletzte.
Wenn man die heutige Diskussion über den Jahreswirtschaftsbericht verfolgt hat, dann musste man den
Eindruck gewinnen, dass Ihnen, Herr Minister, die Ohren geklungen haben angesichts des Lobes, das Ihrem
Haus und Ihnen entgegengebracht wurde. Gestern haben
Sie im Ausschuss gesagt, Sie seien Marktwirtschaftler.
Das haben wir alle gehört. Das lässt auf eine gute Zusammenarbeit hoffen.
Die Redner haben heute ganz überwiegend festgestellt, dass die Situation in Deutschland gut ist. Das ist,
glaube ich, Konsens in diesem Haus, bis auf die Fraktion
der Linken, die mit ihren links-halbradikalen Spinnereien nach wie vor versucht, Verwirrung zu stiften.
({0})
Sie haben mit Ihren Theorien schon eine ganze Volkswirtschaft gegen die Wand gefahren. Das wollen wir
nicht noch einmal mit Ihnen erleben.
({1})
Auch die guten Beschäftigungszahlen zeigen - auch
das ist Konsens in diesem Hause -, dass Deutschland in
den letzten Jahren einen sehr erfolgreichen Weg gegangen ist. Wer sich die ersten Seiten des Jahreswirtschaftsberichts anschaut, der stellt fest, dass 47 Handlungsfelder dargestellt sind, mit denen wir es in den nächsten
Jahren zu tun haben werden.
Eine erfolgreiche wirtschaftliche Entwicklung
braucht Unternehmer. Wir müssen leider feststellen, dass
die Zahlen von Unternehmensgründungen in den letzten
Jahren stark rückläufig waren. Das hat viele Gründe,
über die man diskutieren muss. Das fängt aus meiner
Sicht schon in der Schule an. Wenn die Lehrer Unternehmer als Ausbeuter darstellen, was soll denn dann junge
Menschen motivieren, sich nach der Schule selbstständig zu machen? Über das Verhältnis von Schule und
Wirtschaft muss man diskutieren. Ich denke, hier gibt es
viele Ansätze, um bei jungen Leuten die Motivation zu
wecken, sich später einmal selbstständig zu machen.
({2})
Lassen Sie mich zu dem Thema Investitionen kommen. Herr Heil, Sie hatten die kritische Situation vor allem bei den Investitionen der Wirtschaft angesprochen.
Das ist wirklich so, und das ist hochdramatisch. Wenn
man sich den Zeitverlauf seit 2005 anschaut, dann stellt
man fest, auf welch niedrigem Stand sich die Investitionen befinden. Dazu muss ich sagen: Die DDR ist zugrunde gegangen, weil der Kapitalstock völlig aufgezehrt und ruiniert gewesen ist.
({3})
- Wegen dieser Funktionäre, ganz genau. - Darüber
muss man diskutieren. Ich denke, es wird die Aufgabe
der nächsten Wochen und Monate sein, herauszufinden,
warum die Unternehmen so wenig investieren. Was ist
denn der Grund? Sind das die zu hohen Arbeitskosten,
sind das die zu hohen Energiekosten, sind das die Rahmenbedingungen insgesamt, die nicht stimmen? Es muss
einen Grund geben, und wir sollten das Problem sehr
ernst nehmen; denn nicht getätigte Investitionen sind immer ein Grund dafür, dass man schnell zurückfallen
kann.
({4})
Jetzt komme ich zum Thema der guten Fachkräfte.
Das Vorhandensein von Fachkräften ist ein Grund für
den wirtschaftlichen Erfolg der letzten Jahre. Hierzu
muss man sagen: Gute Fachkräfte gibt es dann, wenn die
Ausbildung gut ist. Wir in Deutschland haben das duale
System. Dieses duale System ist der Erfolgsgarant. Deswegen müssen wir das duale System in Deutschland
stärken. Wir dürfen es nicht aushöhlen lassen. Wir müssen es natürlich auf die Erfordernisse der Zukunft ausrichten, aber wir müssen an dem dualen System festhalten und dürfen uns nicht von irgendwelchen Leuten
einreden lassen, dass man etwa auf den Meisterbrief verzichten kann. Das sind gerade die Garanten für den Erfolg, und die dürfen wir uns nicht aus der Hand schlagen
lassen.
({5})
Herr Minister, bei einer Sache sehe ich die Welt schon
etwas skeptischer als Sie; das ist das Thema Mindestlohn. Der ist nun im Koalitionsvertrag beschlossen.
Trotzdem halte ich persönlich es nach wie vor für falsch,
dass wir als Politiker in die Tariffindung eingreifen sollen.
({6})
In diesem Zusammenhang stoße ich auf die Aussage im
Jahreswirtschaftsbericht, dass Produktivität und Lohnhöhe korrespondieren müssen. Das ist, glaube ich, die
entscheidende Aussage; denn wenn man das in eine mathematische Formel übersetzt, heißt das eigentlich, dass
dann, wenn eine gewisse Produktivität nicht erreicht
werden kann, auch der entsprechende Lohn nicht gezahlt
werden kann.
Was raten Sie einer Unternehmerin, die in einem
strukturschwachen Gebiet, etwa im Erzgebirge, aktiv
ist? In meinem konkreten Fall beschäftigt sie 25 Frauen,
sie stellt hochwertige Verpackungen her, und sie ist die
letzte in Deutschland verbliebene Herstellerin solcher
Verpackungen. Alle anderen deutschen Hersteller lassen
in China produzieren. Diese Dame hat es mir genau erklärt. Sie hat sich in China angeschaut, wie dort produziert wird. Sie sagte zu mir: Herr Lämmel, Sie beschließen den Mindestlohn im Deutschen Bundestag. Was
würden Sie mir denn jetzt empfehlen? Soll ich meine
25 Arbeitnehmerinnen entlassen? Soll ich meinen Betrieb schließen? Soll ich nach China gehen? Wie stellen
Sie sich das vor? Was ist Ihre Antwort darauf? - Ich
muss schon sagen: Das sind sehr schwierige Fragen, die
da gestellt werden.
Wenn hochbezahlte Gewerkschaftsfunktionäre durch
das Land tingeln - ja, Herr Heil, genau so ist es gewesen ({7})
und behaupten: „Alle Unternehmer, die keinen Mindestlohn zahlen, sind überflüssig“, dann ist die Welt für mich
schon ein bisschen verdreht. Mindestlöhne zu zahlen,
das mag in manchen Bundesländern kein Problem sein
- in Bayern oder in Baden-Württemberg; dort braucht
man darüber vielleicht überhaupt nicht zu diskutieren -;
aber Deutschland ist eben größer. Deswegen haben wir
uns sehr dafür eingesetzt, dass bei der Diskussion um
den Mindestlohn bedacht wird: Wir brauchen regionale
Differenzierungen. Wir brauchen längere Übergangsfristen, und wir brauchen auch Ausnahmen von dieser Mindestlohnregelung.
({8})
Insofern bin ich sehr gespannt. Es gibt ja noch keinen
Gesetzentwurf, der uns auf dem Tisch liegt.
({9})
Ich will Ihnen bloß sagen, Herr Minister: Das Ganze
ist nicht so einfach. Sie werden das sehen. Sie werden sicherlich gelegentlich auch einmal in die Ostgebiete reisen.
({10})
Dort wird Ihnen dieses Thema sicherlich sehr differenziert dargelegt werden; denn es ist für viele Branchen,
gerade in Sachsen, Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, ein Riesenproblem. Es liegt eben nicht an der Böswilligkeit von Unternehmen, dass sie den Mindestlohn
nicht zahlen wollen. Es liegt vielmehr genau an der Bedingung, die Sie im Jahreswirtschaftsbericht formuliert
haben: Produktivität und Lohnhöhe müssen korrespondieren. - Das ist aus meiner Sicht in der Diskussion um
den Mindestlohn immer zu beachten.
({11})
Mein letzter Punkt - er erscheint mir sehr wichtig; ich
denke, da haben wir insgesamt keinen Dissens -: Die
Stärkung der Innovationskraft unseres Landes muss
oberste Priorität haben. Sie, Herr Minister, werden diese
Frage berücksichtigen müssen, wenn Sie den Haushaltsentwurf für 2014 und bald auch für 2015 vorlegen werden. Wie gesagt, ich denke, darüber sind wir nicht so
sehr im Dissens, dass man die industrienahe Forschung
und die industrienahe Entwicklung auf hohem Niveau
fortführen muss. Denn gerade das ist ja sozusagen der
Vorlauf für zukünftige Erfolge der deutschen Wirtschaft.
Meine Damen und Herren, wenn man das zusammenfasst, dann kann man sagen: Der Jahreswirtschaftsbericht ist eine hervorragende Grundlage, um weiter über
die wirtschaftliche Entwicklung in unserem Land zu diskutieren. Ich empfehle jedem, sich die 47 Handlungsfelder vorzunehmen; denn sie enthalten den Stoff für die
Politik der nächsten Jahre. Das wird im Wirtschaftsausschuss und in den entsprechenden Gremien weiterhin
wichtig sein.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({12})
Danke, Herr Kollege Lämmel. - Nächster Redner ist
für die SPD der Kollege Ulrich Freese.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist - auch
nach zwei Stunden und zehn Minuten - immer so: Einer
muss abbinden. In meiner Region sagt man hin und wieder: Den Letzten beißen die Hunde.
Ich will als Gewerkschafter, der sein ganzes Leben
lang in industriellen Prozessen, ob als arbeitender oder
als entscheidender Mensch, gestanden hat, den Jahreswirtschaftsbericht 2014 aus einer anderen Betrachtungsrichtung angehen. Ich darf, mit Ihrem Einverständnis,
Herr Präsident, aus diesem Jahreswirtschaftsbericht zitieren:
Deutschlands Stärken liegen in einer mittelständisch geprägten und international wettbewerbsfähigen Wirtschaft, deren Kern auch weiterhin eine moderne, dynamische Industrie ist.
Mit diesem Zitat, meine sehr verehrten Damen und
Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, bekennt sich
die Bundesregierung, bekennt sich der Bundesminister
für Wirtschaft und Energie, Sigmar Gabriel, sehr eindeutig zum Industriestandort Bundesrepublik Deutschland.
({0})
Mit einem geflügelten Berliner Wort will ich anschließen: Und das ist auch gut so. Denn mit knapp einem Viertel der Bruttowertschöpfung ist das innovative
und hochproduktive verarbeitende Gewerbe nach wie
vor unbestritten das Rückgrat unserer Wirtschaft. Mit
der Qualität ihrer Produkte trägt die Industrie wesentlich
zur internationalen Wettbewerbsfähigkeit und zu unseUlrich Freese
rem Wohlstand bei; meine Kollegin Gabriele Katzmarek
hat darauf verwiesen. Nur dann, wenn wir erfolgreich
wirtschaften, nur dann, wenn wir Rohstoffe gewinnen,
sie veredeln und die daraus hergestellten Produkte verkaufen, werden wir in der Lage sein, gesellschaftliche
und soziale Entwicklungen in der Bundesrepublik
Deutschland auch weiterhin ordentlich und vernünftig zu
gewährleisten.
({1})
Deshalb ist wachstumsorientierte Wirtschaftspolitik
immer auch Industriepolitik; sie muss es auch sein. Viele
von Ihnen haben, wenn sie an Industrie denken, immer
nur große Unternehmungen im Kopf. Wenn ich über Industrie rede, dann meine ich nicht ausschließlich Konzerne oder Großunternehmen; denn ein Viertel aller
Beschäftigten arbeitet in kleinen und mittleren Unternehmen im industriellen Netzwerk. Konzerne und industrieller Mittelstand arbeiten gemeinsam mit vor- und
nachgelagerten Dienstleistern eng und erfolgreich zusammen. Das sind Voraussetzungen für eine lange, intakte Wertschöpfungskette, die auf gewachsenen festen
Strukturen beruht. Viele kleine Mittelständler eroberten
aus Deutschland heraus in schmalen Segmenten Marktanteile in ungeahnten Ausmaßen. Viele von uns kennen
mittelständische Unternehmen, die Absätze in der Ferne
haben und ohne diese Absätze dauerhaft nicht leben können.
Alle diese industriellen Bereiche, alle diese industriellen Netzwerke, die auf internationalen Märkten tätig
sind, haben an uns, die wir hier politische Verantwortung
tragen, einen sehr hohen Anspruch: nämlich die Rahmenbedingungen zu setzen, damit sie auf internationalen
Märkten mit ihren Produkten weiterhin wettbewerbsfähig sein können. Eine der Megaaufgaben - sie ist von
meinem Kollegen Saathoff und von anderen Diskutanten
schon beschrieben worden - wird sein, unsere Energiewende so zu gestalten, dass deutsche industrielle Produktion auf internationalen Märkten keine Chancen verliert, sondern ihre Chancen erhält und so zum Wohlstand
in Deutschland beitragen kann.
({2})
Deshalb, Herr Minister, lieber Sigmar Gabriel, ist es
richtig und wichtig, dass in den letzten Tagen Gespräche
mit dem BDI und mit den Gewerkschaften mit dem Ziel
stattgefunden haben, sich über Fragen auszutauschen
wie: Wie gehen wir mit der Befreiung energieintensiver
Unternehmen mit hoher Handelsintensität von der EEGUmlage zukünftig um, und wie sichern wir, dass nicht
durch Strompreise, die für die Industrie, für die wertschöpfende Wirtschaft in Deutschland wesentlich höher
sind als in anderen Ländern, Wettbewerbschancen vernichtet werden? Und welche Vereinbarungen werden wir
dazu treffen?
Gleichzeitig, meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, lieber Sigmar Gabriel, ist natürlich
die Eigenstromproduktion beim EEG mit zu beachten.
Viele Unternehmungen, die ich kenne - Sie kennen sie
auch -, haben in der Vergangenheit auf Eigenstromproduktion umgestellt - aus unterschiedlichen Gründen: aus
Gründen der Versorgungssicherheit und der Bezahlbarkeit etwa. Das, was sich im Bereich der Eigenstromproduktion entwickelt hat oder im Bau ist, muss wie vieles
andere in den Vertrauens- und Bestandsschutz einbezogen werden; ansonsten leisten wir der industriellen Entwicklung, der wirtschaftlichen Entwicklung einen Bärendienst.
Über gute Arbeitsverhältnisse, weitere Rahmenbedingungen und Innovation ist in erheblichem Maße geredet
worden. Ich will, da meine Zeit gleich abläuft, zwei Bemerkungen zu Diskutanten aus unserer Runde machen.
Herr Lämmel, zum Thema Mindestlohn haben Sie ein
Unternehmen als Beispiel angeführt. Das ist ein einziger
Betrieb, der dadurch möglicherweise gefährdet ist.
({3})
Aber es gibt viele Unternehmensverbände in Deutschland, die dringend darauf warten, dass wir endlich politisch handeln. Denn Tarifverträge oder Mindestlöhne
setzen auch faire Rahmenbedingungen für einen Wettbewerb der Unternehmen untereinander.
({4})
Sie verhindern, dass ein Wettbewerb zulasten der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer unter dem Stichwort
„Sozialdumping“ betrieben wird.
({5})
Ein zweites Thema will ich gerne aufgreifen, das Herr
Pfeiffer vorgetragen hat. Es ging um ein sauerländisches
Unternehmen, in dem Arbeitnehmer hochqualifizierte
Arbeit leisten. Meine tiefste Überzeugung ist: Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer wollen ja nicht alle
mit 63 Jahren von der Arbeit weg. Es gibt auch Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die sich wohlfühlen,
weil die Rahmenbedingungen gut sind und sie hochwertige, qualifizierte Tätigkeiten ausüben. Sie werden nicht
mit 63 in Rente gehen. Aber es gibt Tausende, Zehntausende von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, die
aufgrund ihrer Arbeitsbedingungen gar nicht in der Lage
sind, das originäre Renteneintrittsalter - sei es 65 oder
67 Jahre - zu erreichen. Sie gehen möglicherweise - das
zeigt der Anstieg der Zahl derjenigen, die eine Erwerbsunfähigkeitsrente beziehen - in den Bezug von Erwerbsunfähigkeitsrenten. Von daher ist das, worauf wir uns
gemeinsam verständigt haben, ein intelligentes Instrumentarium, um den Übergang von Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmern aus den Betrieben in die Rente in
beiderseitigem Interesse - in unternehmerischem Interesse und auch im Arbeitnehmerinteresse - flexibel zu
organisieren.
Ich weiß, meine Redezeit ist zu Ende. Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich darf mich für Ihre Aufmerksamkeit bedanken und freue mich auf spannende,
anregende Diskussionen in den Ausschüssen, in denen
ich tätig bin, insbesondere im Ausschuss für Wirtschaft
und Energie.
Herzlichen Dank.
({6})
Vielen Dank, Herr Kollege Freese. Das war Ihre erste
Rede in diesem Hohen Hause. Ich beglückwünsche Sie
dazu. Sie haben Ihre Rede mit der Bemerkung eingeführt, dass Sie diese wichtige Debatte „abbinden“. Ich
bin mir sicher, Sie werden bald auch derart wichtige Debatten eröffnen. Alles Gute!
({0})
Damit schließe ich die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 18/497. Wer
stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt
dagegen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag
ist damit mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und
Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der Linken
abgelehnt.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 18/495, 18/94 und 18/493 an die in
der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall.
Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 4 sowie den
Zusatzpunkt 2 auf:
4 Beratung des Antrags der Bundesregierung
Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an dem Einsatz der Internationalen Sicherheitsunterstützungstruppe in
Afghanistan ({1}) unter Führung der NATO
auf Grundlage der Resolution 1386 ({2})
und folgender Resolutionen, zuletzt Resolution 2120 ({3}) vom 10. Oktober 2013 des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen
Drucksache 18/436
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({4})
Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Haushaltsauschuss gemäß § 96 der GO
ZP 2 Unterrichtung durch die Bundesregierung
Fortschrittsbericht zur Lage in Afghanistan
Drucksache 18/466
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({5})
Innenausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 96 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Bundesminister Dr. Frank-Walter Steinmeier.
({6})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das
letzte Mal entscheiden wir über die Verlängerung des
ISAF-Mandates für Afghanistan. Der längste, härteste
und opferreichste Kampfeinsatz der Bundeswehr geht
nach zwölf Jahren am Ende dieses Jahres zu Ende. Ich
bin sicher: Über Erfolg oder Misserfolg werden wir auch
in diesem Hause noch streiten. Das muss auch so sein.
Lessons learned, das gehört dazu. Wir müssen analysieren - auch im Hinblick auf künftige Auslandseinsätze -:
Was lässt sich eigentlich erreichen, was aber auch nicht?
Das zu bewerten, ist Aufgabe der Öffentlichkeit und
auch Aufgabe dieses Parlaments.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das darf uns alles
aber nicht vergessen lassen, dass es Angehörige der
Bundeswehr, vieler ziviler Hilfsdienste, Polizisten und
Diplomaten waren, die in diesen letzten zwölf Jahren
den Kopf in Afghanistan hingehalten haben. Deshalb
vorab mein herzlicher Dank den Tausenden, die in diesen zwölf Jahren, von 2002 bis 2014, in Afghanistan
mehr als ihre Pflicht getan haben. Herzlichen Dank dafür!
({0})
Ich ahne es natürlich: Manche werden sagen - vielleicht schon heute -: Zwölf Jahre Einsatz in Afghanistan - zwölf verlorene Jahre.
({1})
- Ja, ich habe es erwartet.
({2})
Ich warne nur davor, so reflexhaft zu agieren. Wer erinnert
sich eigentlich noch, wie das damals begann? 3 000 Tote
beim Anschlag auf das World Trade Center, Anschläge islamistischer Attentäter auf Bali, Djerba und in Casablanca:
Überall dort sind auch Deutsche zu Opfern geworden.
Haben auch wir nicht damals befürchtet, dass das,
was da in Amerika seinen Ausgang genommen hat, bei
uns in Europa ankommen könnte, dass auch Menschen
in Berlin, Hamburg oder München zu Opfern werden
könnten? Europa ist nicht verschont geblieben. Hunderte
sind bei den Anschlägen in London und Madrid gestorben. Wir in Deutschland sind verschont geblieben, aber
die Angst, ob es Gesinnungsgenossen der Hamburger
Attentäter geben könnte, die vielleicht in Köln, Ulm,
Frankfurt oder anderswo zuschlagen könnten, war doch
auch hier unter uns. Damals war die Bedrohung jedenfalls nicht abstrakt, sie wurde gefühlt. Sie kam von
Attentätern, deren Blutspur ihren Ausgang in den Trainingscamps von Tora Bora oder anderswo in Afghanistan nahm.
Ja, vielleicht haben wir nicht an jedem Tag alles richtig gemacht in Afghanistan; das kann sein. Aber aus
meiner Sicht wäre es zynisch gewesen, nichts zu tun, andere vorzuschicken, um den Ausbildern des Terrors ihr
Handwerk zu legen, aber selbst hier in Deckung zu bleiben. Es ging auch um den Schutz unserer Bürger hier in
Deutschland.
({3})
Deshalb haben wir uns gemeinsam mit 40 anderen
Nationen entschieden, nach Afghanistan zu gehen. Vieles von den hehren Zielen, die auf dem Bonner Petersberg vereinbart worden sind, mögen wir nicht erreicht
haben. Aber jedenfalls ist Afghanistan heute nicht mehr
die Ausbildungszentrale für weltweiten islamistischen
Terrorismus.
({4})
Wenigstens das ist erreicht. Wer die Jahre des Terrors
und die Toten nicht vergessen hat, liebe Freunde, der
weiß auch: Schon damit ist viel erreicht.
({5})
Jetzt sind zwölf Jahre seit Beginn des Einsatzes in Afghanistan vergangen. Dieses Jahr 2014 ist ein Schlüsseljahr. Die internationalen Streitkräfte beenden ihren
Kampfeinsatz, ein neuer Präsident wird gewählt, und am
Ende dieses Jahres wird Afghanistan die volle Verantwortung für die eigene Sicherheit im Land übernehmen.
Während sich gegenwärtig Tausende von ISAF-Soldaten
in Kabul, Herat, Kandahar, Masar und anderswo auf den
Rückweg in die Heimat vorbereiten, bleibt für uns die
Frage: Haben sich die Anstrengungen, der Einsatz von
finanziellen Mitteln, die Opfer und die politischen Risiken gelohnt? Mit Blick auf das Ende des Jahres stellt
sich aber vor allem die Frage: Wie sichern wir eigentlich
das, was mit vielen Mühen in Afghanistan auf den Weg
gekommen ist?
Nun ist üblich geworden, kleinzureden, was auf den
Weg gekommen ist. Nach zwölf Jahren Einsatz - in fast
jedem Jahr begleitet durch viele schlechte Nachrichten hat sich das Interesse der Öffentlichkeit von Afghanistan
etwas abgewandt. Die Bilanz, die wir für Afghanistan zu
ziehen haben, ist gemischt; sie ist nicht eindeutig. Aber
geschönte Bilanzen helfen in der öffentlichen Debatte,
die wir vor uns haben, überhaupt nicht weiter. Die Hoffnungen von Petersberg sind in der einen oder anderen
Hinsicht unerfüllt geblieben. Es ist nicht einmal garantiert, dass das, was in Afghanistan in den letzten zwölf
Jahren entstanden ist, so bleibt. Das ist aber gerade das
Entscheidende. Was uns in den letzten Jahren aus dem
Blick geraten ist, ist für die Menschen in Afghanistan,
die 30 oder mehr Jahre Krieg und Bürgerkrieg hinter
sich haben, überlebenswichtig. Wir haben dort Schulen,
Straßen und Brunnen gebaut. Wir haben dabei geholfen,
dass 10 Millionen Kinder zur Schule gehen - von diesen
10 Millionen Kindern sind etwa 40 Prozent Mädchen und heute der elektrische Strom in Kabul stabiler fließt
als auf der anderen Seite der Grenze, in Pakistan. In vielen Regionen in Afghanistan gibt es eine medizinische
Basisversorgung, die nicht an unseren Maßstäben gemessen werden kann, die aber dazu geführt hat, dass die
Kindersterblichkeit deutlich gesunken ist.
({6})
Am Wochenende bin ich auf dem Flughafen Masar-iScharif gelandet. Er wurde jahrelang militärisch genutzt.
Wir haben ihn für die zivile Nutzung vorbereitet für den
Zeitpunkt, in dem die deutschen Soldaten dort abziehen.
Es ist der einzige Flughafen, jetzt auch Zivilflughafen, in
ganz Nordafghanistan und deshalb ein Wirtschaftsfaktor
mit ganz erheblichem Potenzial.
({7})
Da, wo wir konnten, haben wir geholfen, dass so etwas wie eine wache Zivilgesellschaft entsteht. Wir unterstützen junge Afghanen und noch mehr junge Afghaninnen, die ihre Gesellschaft moderner und offener
machen wollen, immer noch gegen harte Widerstände.
Ich darf Ihnen nach meinem letzten Besuch versichern:
Auch das trägt Früchte. Die Vorbereitungen der Wahlen
belegen, dass es zum gegenwärtigen Zeitpunkt Eintragungen in die Wahllisten gibt, wie es sie in diesem Umfang in der Vergangenheit nicht gegeben hat. Es gibt
ziemlich gute technische Vorbereitungen, Diskussionen
zwischen den Kandidaten in Hallen und im Fernsehen,
wie man es auch bei westlichen Wahlkämpfen sieht.
Das alles, meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, mag für viele bei uns zu wenig sein.
Aber das, was ich berichtet habe, ist für die Afghanen
unheimlich viel. Das verdient verteidigt zu werden. Dafür sollten wir einstehen.
({8})
Wenn ich sage, dass das verteidigt werden muss, dann
meine ich nicht in erster Linie uns. Es muss vor allen
Dingen von den Afghanen selbst verteidigt werden. Ich
finde, wir sollten den Afghanen über dieses Jahr hinaus
zur Seite stehen, aber anders als in den letzten zwölf Jahren, in geringerem Umfang, nicht mehr mit Kampfauftrag, aber unterstützend, damit die Afghanen den Übergang von fremder Verantwortung im eigenen Land hin
zu eigener Verantwortung organisiert bekommen. Das
sind wir nicht nur den Afghanen schuldig, sondern auch
uns selbst.
({9})
Wenn wir über ein Engagement nach dem Ende von
ISAF nachdenken, dann hat das Voraussetzungen. Darüber habe ich am Wochenende mit Präsident Karzai anderthalb Stunden lang gesprochen. Wir haben auch über
die Sicherheitslage gesprochen, die trotz größter afgha998
nischer Anstrengungen nicht überall unter Kontrolle ist.
Das kann man daran sehen, dass die Zahl der afghanischen Sicherheitskräfte nach wie vor erfreulich steigt.
Aber tragisch ist die Zahl der Verluste. Im Jahr 2013 sind
fast 5 000 afghanische Polizisten und Soldaten bei der
Ausübung ihrer Tätigkeit ums Leben gekommen. Das
zeigt, dass die Bedrohung durch radikale Kräfte im Land
weiterhin virulent ist. Natürlich können im Umfeld der
Präsidentschaftswahlen - das will ich nicht verschweigen - alte Konflikte längs der alten ethnischen Grenzen,
die wir noch in Erinnerung haben, jederzeit wieder aufbrechen. Ich habe deshalb dem Präsidenten in diesem
langen Gespräch gesagt: Wir sind, wahrscheinlich gemeinsam mit unseren Partnern in Europa, gern bereit,
den zivilen Wiederaufbau in Afghanistan weiterhin zu
unterstützen. Dazu gehört aus meiner Sicht auch die Ertüchtigung von Sicherheitskräften, Armee und Polizei, in
Afghanistan. Aber diese Bereitschaft ist natürlich an Voraussetzungen geknüpft. Erstens müssen wir willkommen sein. Das sind wir, glaube ich; jedenfalls versichern
das alle. Aber es reicht nicht aus, willkommen zu sein.
Darüber hinaus brauchen wir zweitens Rahmenbedingungen, auch Sicherheitsrahmenbedingungen, die einen
Aufenthalt nach 2014 erlauben.
Der Schlüssel zu diesen Sicherheitsrahmenbedingungen - das wissen Sie - ist das bilaterale Sicherheitsabkommen zwischen Afghanistan und den USA. Nur wenn
der Kern stimmt, wenn 8 000 bis 10 000 US-amerikanische Soldaten über 2014 hinaus in Afghanistan sind,
dann sind wir in der Lage, darüber nachzudenken, tatsächlich Aufgaben im Rahmen der Ausbildung, des Trainings und der Beratung der afghanischen Sicherheitskräfte zu übernehmen. Deshalb habe ich Karzai in aller
Offenheit und Klarheit gesagt: Es mag ein bilaterales
Abkommen zwischen Afghanistan und den USA sein,
aber es ist für uns die Voraussetzung dafür, über eine
weitere Unterstützung in Afghanistan nachzudenken.
({10})
Wie Sie wissen, ist das Abkommen bisher nicht unterzeichnet. Ich habe die Gründe und mögliche Lösungswege mit Karzai besprochen. Aber der Stand ist - das
will ich Ihnen in aller Offenheit sagen -: Es gibt keinen
festen Zeitplan für die Unterschrift. Karzai hat zu meiner
Zufriedenheit sehr eindeutig erklärt, Afghanistan werde
unterschreiben, aber es gebe bisher keinen Zeitplan für
die Unterschrift. Ich habe deshalb gesagt - weil man das
in einer solchen Situation sagen muss -, dass wir als
Bundesregierung nicht nur die Öffentlichkeit in
Deutschland, sondern auch dieses Parlament davon
überzeugen müssen, dass die Fortsetzung des Engagements in Afghanistan notwendig ist.
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Ströbele?
Ja.
Herr Minister Steinmeier, hat Ihnen Präsident Karzai
in dem langen Gespräch, das Sie mit ihm geführt haben,
erläutert, warum er nicht unterschreibt? Hat er insbesondere darauf hingewiesen, dass Afghanistan gemäß diesem Abkommen - es wird ja immer so abstrakt dargestellt - vor allen Dingen gegenüber den US-Soldaten auf
eine ganze Reihe von Souveränitätsrechten verzichtet,
dass er, weil das in der letzten Zeit immer wieder passiert ist, mit einer gewissen Berechtigung befürchtet,
dass die US-Truppen, die nach dem eigentlichen Abzug
in Afghanistan bleiben, eigentlich machen können, was
sie wollen, und zum Beispiel Aktionen durchführen, bei
denen wieder Zivilisten, Frauen, Kinder getötet werden?
Wie hat er denn erklärt, dass er die Unterzeichnung hinauszögert? Hat er vielleicht gesagt: „Ich kann mit den
Taliban nicht verhandeln, wenn ich gleichzeitig ein solches Abkommen unterschreibe, das ein weiteres militärisches Vorgehen der USA ermöglicht.“?
({0})
Herr Kollege Ströbele, umgekehrt wird ein Schuh
draus. Natürlich haben wir das in aller Ausführlichkeit
miteinander besprochen. Auch mich hat interessiert, ob
das Zögern bei der Unterschrift darauf zurückzuführen
ist, dass entweder einzelne Teile des Abkommens noch
umstritten und weiter verhandlungsbedürftig sind, oder
ob sich nach der Aushandlung der Vereinbarung Umstände ergeben haben, die bei diesem Abkommen, bei
diesem Agreement zusätzlich zu berücksichtigen sind.
Er hat mir eindeutig erklärt, das Abkommen sei ausgehandelt, es werde auch nicht ergänzt. Die Loya Jirga
habe dem Abkommen zugestimmt. Insofern gehe es
nicht um den Inhalt der getroffenen Vereinbarung. Es
gehe um eine Rahmenbedingung, die vor der Unterschrift erfüllt sein müsse, und das sei in der Tat, dass der
innerafghanische Versöhnungsprozess unter Einbeziehung der radikalen Kräfte, auch der Taliban, seinen Auftakt genommen haben müsse. Dieses sicherzustellen, darum geht es ihm und anderen in den nächsten Tagen und
Wochen. Ich hoffe, dass das bald dokumentiert werden
kann, damit die Unterschrift erfolgt. - Vielen Dank, Herr
Ströbele.
Ich habe dem afghanischen Präsidenten jedenfalls
sehr deutlich gesagt: Wenn wir im Deutschen Bundestag
über ein Nach-ISAF-Engagement sprechen, dann scheint
das aus afghanischer Sicht etwas Selbstverständliches zu
sein; aber für die deutsche Öffentlichkeit ist es das keineswegs. Bei der Unterschrift geht es um eine Frage der
Glaubwürdigkeit. Die Unterschrift unter das bilaterale
Security Agreement ist deshalb so wichtig, weil wir nur
dann in die Detailplanung des möglichen Engagements
für die Jahre 2015 und folgende eintreten können.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bin am Schluss
meiner Rede. Ich habe zum letzten Mal vor fünf Jahren,
im Jahre 2008, von diesem Pult aus um Zustimmung für
ein ISAF-Mandat gebeten. Ich erinnere mich noch gut an
die Debatte, die wir hier geführt haben. Damals haben
nicht wenige in diesem Hohen Hause gefordert, dass wir
uns sofort und einseitig aus dem ISAF-Einsatz ausklinken; Sie erinnern sich so gut wie ich.
({0})
Ich glaube, Herr Gehrcke, dass es gut war, dass wir zu
unserer Verantwortung gestanden haben und dass der
Grundsatz, den ich 2008 vertreten habe, bis heute gilt. Er
lautet: Wir gehen da gemeinsam rein und gemeinsam
raus.
Jetzt stehen wir vor der letzten Verlängerung des
ISAF-Mandates. Gemeinsam mit unseren Partnern und
im Einklang mit den Resolutionen des Sicherheitsrates
werden wir ISAF zum Ende dieses Jahres beenden. Ich
darf Sie im Namen der Bundesregierung um Ihre Zustimmung bitten.
Herzlichen Dank.
({1})
Nächster Redner ist Dr. Gregor Gysi, Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sie haben
recht, Herr Bundesaußenminister: Letztmalig wird der
Deutsche Bundestag heute über die Verlängerung des
Einsatzes der knapp 3 200 Bundeswehrsoldatinnen und
Bundeswehrsoldaten in Afghanistan beraten und entscheiden. Nach Abschluss des Jahres 2014 werden allerdings noch 600 bis 800 Soldatinnen und Soldaten vor
Ort bleiben, um bei der Ausbildung zu helfen sowie Beratung und Unterstützung zu gewähren.
({0})
Dazu habe ich mehrere Fragen. Die erste Frage lautet:
Warum kann die Ausbildung eigentlich nicht hier oder
anderswo stattfinden? Warum müssen unsere Soldaten in
Afghanistan bleiben? Meine zweite Frage: Selbst wenn
sie dort bleiben, dann ist es doch kein Kampfeinsatz
mehr. Müsste dann nicht die UN-Resolution dahin gehend geändert werden, dass nicht Kapitel VII der Charta
als Grundlage herangezogen wird, sondern Kapitel VI?
Dann dürften Soldaten wie im Inland nur noch in Notwehr schießen und in keinem anderen Fall; denn ein
Kampfeinsatz wäre damit untersagt. Meine Frage an Sie:
Werden Sie sich dafür einsetzen, dass in der UN-Resolution Kapitel VII durch Kapitel VI der Charta ersetzt
wird? Das wäre nämlich zwingend notwendig.
({1})
Sie haben über das Sicherheitsabkommen zwischen
den USA und Afghanistan gesprochen. Herr Ströbele hat
dazu eine richtige und wichtige Frage gestellt, mit der er
uns auch ein bisschen darüber informiert hat, um welche
Teile es geht. Abgesehen davon: Haben Sie eigentlich einen Plan B? Was passiert, wenn der Vertrag nicht zustande kommt? Ich habe versucht, das herauszubekommen; aber das weiß keiner. Das scheint mir wenig
systematisch, wenig koordiniert und wenig geplant zu
sein. Weshalb gibt es überhaupt den Abzug der Soldaten,
nicht nur der deutschen, sondern auch der anderer Nationen? Ich sage Ihnen: Das hängt mit dem Scheitern des
NATO-Krieges in Afghanistan zusammen. Es gibt keine
andere logische Feststellung.
({2}): Völ-
liger Quatsch!)
Der Einsatz war die falsche Antwort auf die Anschläge auf das World Trade Center am 11. September
2001 in den USA. Man hätte andere Wege gehen können. Schauen wir uns doch einmal die Bilanz nach
13 Jahren Krieg an - die haben Sie hier nicht benannt -:
über 70 000 Tote, unter den Toten Tausende Zivilistinnen und Zivilisten, auch Kinder und eben Frauen, allein
in Kunduz, auch von unseren Soldaten verursacht, bis zu
142 tote Zivilistinnen und Zivilisten und Hunderttausende Verwundete. Ich bitte, nicht zu vergessen, dass
auch 54 Bundeswehrsoldaten ihr Leben gelassen haben.
Das hat große Trauer und großes Entsetzen in deren Familien und bei deren Freundinnen und Freunden ausgelöst. Bisher waren mehr als 100 000 deutsche Soldatinnen und Soldaten in Afghanistan. Ein Drittel von ihnen
leidet unter posttraumatischen Belastungsstörungen. Das
sind über 30 000 Menschen. Wir werden sie noch jahrelang betreuen und behandeln müssen. Auch das ist ein
Ergebnis dieses Krieges.
Lassen Sie mich auch ein Wort zu den Kosten sagen
- gerade haben wir eine Wirtschaftsdebatte geführt; wir
führen auch Sozialdebatten -: Der ganze Krieg kostet
uns nach Einschätzung des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung bis Ende 2014 23 Milliarden Euro.
Was waren die Ziele, Herr Steinmeier, und was ist davon erreicht worden? Das erste Ziel lautete: Al-Qaida
muss vernichtet und die Ausbildung von Terroristinnen
und Terroristen durch al-Qaida verhindert werden. Das
ist aber nicht verhindert worden. Al-Qaida bildet weiter
Terroristinnen und Terroristen aus. Sie sagen, es ist ein
großer Erfolg, dass das nicht mehr in Afghanistan stattfindet? Jetzt findet das in Pakistan, im Jemen und in anderen Ländern statt. Das ist doch kein Erfolg, ganz im
Gegenteil.
({3})
Wie wollen Sie das lösen? Wollen Sie in diesen Ländern
jetzt auch Krieg führen? Was soll die Antwort darauf
sein?
Zweitens. Es sollte ein Regimewechsel erreicht werden. Die Taliban sollten endgültig entmachtet werden.
Nun sprechen selbst die USA mit den Taliban darüber,
ob sie nicht bereit sind, in die Regierung zurückzukehren. Auch dieses Ziel ist also völlig verfehlt worden.
Drittens. Es wurde gesagt, dass die inneren Kämpfe
beendet werden müssen. Ist das wirklich gelungen? Seit
2013 nehmen die Kämpfe wieder deutlich zu. Heute sind
in Afghanistan 65 ehemalige Kämpfer aus den Gefängnissen entlassen worden - gegen den Willen der USA.
Nicht einmal darauf achtet die afghanische Regierung
jetzt noch. Es gibt einen gewaltigen Anstieg der Zahl der
Opfer, gerade im Jahr 2013. Herr Steinmeier, die UNOrganisation UNAMA stellt fest, dass das Jahr 2013 das
gewaltreichste Jahr in Afghanistan seit 2001 war. Wenn
Sie diesen Hintergrund sehen, beweist das doch das
Scheitern des Krieges. Die Gewalt hat nicht abgenommen, sondern zugenommen.
({4})
Allein im Jahr 2013 haben wir im Vergleich zum Vorjahr eine Verdoppelung der Verluste bei den afghanischen Streitkräften und bei der afghanischen Polizei zu
verzeichnen: 4 600 Gefallene auf deren Seite. Die Zahl
der zivilen Opfer hat sich im Vergleich zum Vorjahr um
700 erhöht. Das heißt, im Jahr 2013 gab es 8 615 zivile
Tote in Afghanistan. Im Verantwortungsbereich der
Bundeswehr, also in den nordafghanischen Provinzen,
gibt es eine dramatische Zunahme der Angriffe und
Kämpfe. Die Anzahl der sicherheitsrelevanten Vorfälle
ist im Jahr 2013 im Vergleich zum Jahr 2012 um 35 Prozent gestiegen. Das ist das Ergebnis.
Im Übrigen ist es wirklich nicht hinnehmbar - auch
das muss ich sagen, Herr Bundesaußenminister -, dass
die Zahlen, die Sie der Bevölkerung zur Verfügung stellen, immer knapper werden. Wir brauchen hier Transparenz. Wir müssen wissen, was dort passiert.
({5})
Das vierte Ziel war - darauf sind Sie ein bisschen eingegangen -, in Afghanistan in kultureller, humaner, demokratischer und rechtsstaatlicher Hinsicht einen Fortschritt zu erzielen. Schauen wir uns die Realitäten an:
2,7 Millionen Afghaninnen und Afghanen haben Afghanistan verlassen, sind geflüchtet. Die Zahl der Binnenflüchtlinge hat mit 590 000 ihren Höchststand erreicht.
Hinsichtlich der Lebenserwartung, des Lebensstandards
und der Bildung - Sie haben die Bildung erwähnt - hat
sich Afghanistan deutlich verschlechtert. Es nimmt jetzt
Platz 175 von 187 Ländern ein. Von Fortschritt kann da
gar keine Rede sein. Die Müttersterblichkeit liegt bei
500 pro 100 000 Geburten. Das ist im internationalen
Vergleich eine sehr hohe Zahl. 10 Prozent der Kinder
sterben vor Erreichen des fünften Lebensjahres. Nur
39 Prozent der Afghaninnen und Afghanen haben Zugang zu Trinkwasser. Nur 7,5 Prozent der Afghaninnen
und Afghanen haben Zugang zur Abwasserentsorgung.
7,5 Prozent! Die Gewalt gegen Frauen hat dramatisch
zugenommen: Im ersten Halbjahr 2013 gab es über
4 100 Fälle. Das ist die letzte Zahl, die wir bekommen
haben. Die Anbaufläche für Opium wurde während des
Krieges versechsundzwanzigfacht. Ich bitte Sie! Afghanistan ist heute Weltmeister im Opiumexport. Das alles
haben wir zugelassen. Das muss man ehrlicherweise hier
erklären.
({6})
Auch die Bundeswehr arbeitet inzwischen mit den Drogenbaronen zusammen.
({7})
- Ja.
({8})
- Natürlich stimmt das.
({9})
Die Menschenrechtsverletzungen nehmen zu. Die
UN-Organisation UNAMA bestätigt, dass es systematische Folterungen und Misshandlungen in den Gefängnissen, Plünderungen und Morde auch von Polizei und
Milizen der Warlords auch im deutschen Zuständigkeitsbereich, speziell in den Provinzen Kunduz und Baghlan,
gibt.
Ein Bericht des Afghanistan Analysts Network vom
November 2013 kommt zu dem Schluss, dass die Präsenz der Bundeswehr im Norden zwölf Jahre lang nichts
an der wirklichen Machtverteilung änderte und die Bundeswehrverantwortlichen am Schluss mit den stärksten
Machthabern, das heißt mit den Warlords und ihren Banden, kooperierten. Das sagt diese Organisation, nicht Die
Linke. Jede Vorstellung, dass die Bundeswehr Entwicklung vorantreiben kann, ist auch vom früheren Verteidigungsminister de Maizière in unserer Fraktion zu Recht
zurückgewiesen worden. Er hat gesagt: Die Bundeswehr
ist kein Entwicklungshelfer, sondern eine Armee. Eine
Armee - das sage ich Ihnen - hat gänzlich andere Aufgaben und ein gänzlich anderes Selbstverständnis.
Mit anderen Worten: Keines der Ziele wurde erreicht.
Den Afghaninnen und Afghanen geht es nicht besser,
sondern schlechter. Wir haben Tote verursacht und eigene Tote zu beklagen.
Dieser Krieg wurde hinsichtlich der Bundeswehr
durch SPD und Grüne, durch Bundeskanzler Schröder,
Kanzleramtschef Steinmeier, Verteidigungsminister
Scharping und Außenminister Fischer mit Zustimmung
von Union und FDP eingeleitet und durchgeführt. Wir,
die Linken, haben nicht nur dagegen gestimmt, sondern
immer wieder erklärt, dass man die Probleme der
Menschheit mit Kriegen nicht lösen kann. Im Gegenteil!
({10})
Ich hatte gehofft und hätte erwartet, Herr Steinmeier,
dass Sie heute das Desaster eingestehen und sich zumindest entschuldigen
({11})
bei den Afghaninnen und Afghanen sowie unseren Soldatinnen und Soldaten.
({12})
Ja, das hätte ich erwartet. Dass es ein völliges Desaster
ist, räumen Sie schon deshalb ein
({13})
- ich werde es Ihnen jetzt belegen -, weil Sie die afghanischen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen der Bundeswehr nach Deutschland einreisen lassen; denn dort befinden sie sich in Lebensgefahr.
({14})
- Ich sage ja nicht, dass das falsch ist. - Die Tatsache,
dass sie sich in Lebensgefahr befinden, beweist doch,
dass sie als Kollaborateure einer fremden Besatzungsmacht betrachtet und verfolgt werden und von der Bevölkerung nicht anerkannt und begrüßt werden.
({15})
Das ist doch das Problem, und das müssen Sie akzeptieren. Natürlich müssen wir sie jetzt in unser Land lassen darüber streiten wir nicht -, aber die Gründe dafür, dass
sie einer solchen Lebensgefahr ausgesetzt sind, sind interessant.
({16})
Was ist jetzt Ihre Schlussfolgerung, Herr Kauder?
Ihre Schlussfolgerung ist, dass die Bundeswehr jetzt
auch noch verstärkt nach Afrika gehen soll. Ich kann Ihnen nur sagen: Der Wahnsinn muss endlich aufhören.
Das wird höchste Zeit.
({17})
Kommen Sie doch endlich zur Besinnung!
({18})
Ich sage Ihnen: Deutschland kann ein wichtiges Land
auf der Erde sein, wenn wir uns weltweit für Frieden, für
Konfliktvorbeugung, gegen Hunger, Elend und Not, für
soziale Gerechtigkeit, für ökologische Nachhaltigkeit,
aber eben nicht für Kriege einsetzen und uns schon gar
nicht an ihnen beteiligen.
({19})
Als Nächstes erteile ich das Wort dem Bundesminister Dr. Gerd Müller.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Gysi,
Ihre Alternative des Wegduckens, die Sie hier gerade
dargelegt haben, ist absurd.
({0})
Es gab im Jahr 2001 angesichts der dramatischen Situation, in der sich das afghanische Volk befand, keine Alternative zu dieser Entscheidung.
({1})
Ich sage Ihnen, Herr Gysi: Entschuldigen Sie sich bei
denen, die mit Leben und Gesundheit für ein besseres
Afghanistan bezahlt haben!
({2})
Was sollen die Mütter und Väter der toten Soldaten und
zivilen Helfer angesichts Ihrer Rede denken?
({3})
Die ISAF-Soldaten gehen und die Entwicklungsexperten bleiben, das ist heute auch die Botschaft des
Entwicklungsministers. Meine Damen und Herren, uns
allen ist klar: Militärische Einsätze allein schaffen keinen Frieden.
({4})
Ein friedliches Afghanistan hat nur eine Chance mit einer nachdrücklichen, international und national abgestimmten Entwicklungszusammenarbeit. Die Ausgaben
für das Militär sind hoch, in Milliardenhöhe. Diese Investitionen waren nicht umsonst. Aber jetzt bedarf es einer Verstärkung der Investitionen in Friedensarbeit und
Aufbauleistung. Dazu brauchen wir ein abgestimmtes,
europäisch-internationales Gesamtkonzept, das auch von
der afghanischen Regierung getragen wird.
({5})
Notwendig ist - Außenminister Steinmeier hat es dargestellt - ein klares Bekenntnis des afghanischen Präsidenten, Herrn Karzai, und seines Nachfolgers sowie der
afghanischen Regierung zur Sicherheit, zur Zusammenarbeit, zur Bekämpfung der Korruption, zur Rechtssicherheit, zur Wahrung der Menschenrechte, zur Sicherung der Frauenrechte; denn unsere Hilfe, unser
Engagement ist an Konditionen gebunden. Unser Einsatz ist erfolgreich, unser Einsatz ist wirksam.
({6})
Das zivile Engagement, der großartige Einsatz der
vielen Organisationen, gilt ungeteilt den Menschen in
Afghanistan. Viele dieser Organisationen waren schon
vor ISAF in Afghanistan tätig. Die Zusammenarbeit mit
dem afghanischen Volk geht bis in die 50er-, 60er-Jahre
zurück. Die Ausgangslage in Afghanistan vor 20, 30,
50 Jahren war düster, schwierig, brutal, Herr Gysi.
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Hänsel?
Bitte. - Herr Präsident, dann müssen Sie aber meine
Uhr anhalten.
Selbstverständlich.
Danke schön. - Herr Minister, Sie haben gerade davon gesprochen, dass es im Rahmen des Sicherheitsabkommens mit den USA auch um Rechtssicherheit gehen
soll. Wie bewerten Sie den Tatbestand, dass mit diesem
Sicherheitsabkommen an der Straffreiheit für US-Soldaten und auch für Bundeswehrsoldaten festgehalten werden soll? Dabei wissen wir doch, dass zahlreiche Kriegsverbrechen in Afghanistan begangen wurden, kennen
Bilder wie die aus Abu Ghureib, kennen die Berichte der
UN, wissen, wie viele Zivilisten getötet wurden, wie
viele - illegale - gezielte Tötungen in Afghanistan und
Pakistan durchgeführt werden. Wie können Sie von
Rechtssicherheit auch für die Afghanen sprechen, wenn
es keinerlei Möglichkeit der Verfolgung dieser Verbrechen in Afghanistan geben soll?
Frau Kollegin, die Antwort darauf hat Ihnen bereits
der Bundesaußenminister gegeben.
({0})
Ich möchte mich der großartigen Arbeit unserer Entwicklungsorganisationen und unserer Partner in Afghanistan widmen; denn der Fokus - das möchte ich an dieser Stelle einmal sagen - lag in der AfghanistanDiskussion in den letzten zwölf Jahren allzu sehr auf
dem Militär. Das müssen wir auch gegenüber der deutschen Öffentlichkeit ein Stück zurechtrücken. Natürlich
würdigen wir alle zu Recht den großartigen Einsatz der
Soldatinnen und Soldaten; aber wir würdigen zugleich
den Einsatz der zivilen Experten, die genauso vor Ort ihr
Leben einsetzen.
({1})
Sie verdienen dieselbe Anerkennung. Natürlich sorgen
die Schutztruppen für ein Stück Sicherheit. Aber wer
baut die Krankenhäuser, die Schulen, die Wasserleitungen? Das sind die zivilen Experten, deren Einsatz vor
Ort großartig ist.
Der Herr Außenminister hat die Erfolge dargestellt;
ich möchte das nicht wiederholen. Wir wissen, dass es
Probleme gibt. Man muss aber auch die Fortschritte sehen: Seit 2000 hat sich das Bruttonationaleinkommen
Afghanistans verdoppelt. Besonders wichtig ist für mich,
dass die Frauen und Mädchen in Afghanistan auf dem
Weg zur Gleichberechtigung sind. 2001 gingen 1 Million
Jungen zur Schule. Heute sind es 9 Millionen Schüler,
und fast alle Mädchen haben Zugang zu Schulen. Ganz
besonders freue ich mich über den Austausch mit jungen
Afghanen, mit Eliten, an den deutschen Hochschulen,
den wir weiter ausbauen werden.
({2})
Ich sage noch einmal: Die Entwicklungsorganisationen vor Ort leisten diesen herausragenden Beitrag unabhängig vom Militär. Wir werden auch in Zukunft die
Sicherheit gewährleisten. Wir leisten diesen Beitrag in
Freundschaft mit dem afghanischen Volk seit nahezu
hundert Jahren; das können Sie in den Geschichtsbüchern nachschlagen. Die Freundschaft mit dem afghanischen Volk muss auch die Botschaft dieser Sitzung sein.
({3})
Der zivile Aufbau Afghanistans muss gelingen. Er ist
entscheidend für die Stabilität in der gesamten Region.
Deshalb hat die Bundesregierung zugesagt, bis 2016
jährlich bis zu 430 Millionen Euro in die wirtschaftliche,
soziale und politische Entwicklung Afghanistans zu investieren. Das ist eine hohe Summe. Ich sage an dieser
Stelle aber auch: Es ist eine weit geringere Summe als
die, die wir in militärische Einsatztruppen zu investieren
bereit waren. An dieser Stelle ist nun auch eine internationale bzw. europäische Friedensdividende gefragt, die
ich einfordern möchte.
Der Steuerzahler bzw. das deutsche Volk fragt zu
Recht: Wie wird dieses Geld eingesetzt? Die Amerikaner haben Probleme, die Wirksamkeit ihres Einsatzes
nachvollziehbar darzulegen; für uns gilt das nicht. Wir
werden in den Aufbau und in die Leistungsfähigkeit
rechtsstaatlicher Strukturen investieren.
Wir werden außerdem den Kampf gegen Korruption
in den Mittelpunkt rücken, da dieser von zentraler Bedeutung ist. Unser Geld muss bei den Menschen direkt
ankommen und darf nicht in korrupten Kanälen versickern.
({4})
Weiterhin setzen wir auf eine nachhaltige Wirtschaftsentwicklung und auf eine gute Lebensperspektive
für die Menschen. 400 000 junge Afghanen strömen jedes Jahr auf den Arbeitsmarkt. Unsere Investitionen fließen daher in die berufliche Ausbildung, in Mikrokredite
und in Wirtschaftspartnerschaften. Ohne zivile Strukturen kann es keine Stabilität geben.
Ein besonderes Augenmerk werden wir auch auf die
Wertschöpfungsketten und die Produktivitätssteigerung
in der Landwirtschaft legen. An dieser Stelle besteht ein
echtes Defizit. Afghanistan muss weg vom Mohnanbau.
Die Entwicklung läuft in den ländlichen Regionen in die
komplett falsche Richtung.
({5})
Wir setzen nachdrücklich - an diesem Beispiel sehen
die Kritiker auf der ganz linken Seite, was sich in Afghanistan in den letzten zehn Jahren getan hat - auf die Stärkung der Rechte der Frauen, auf die Integration der
Frauen in die Arbeitswelt und auf den gleichberechtigten
Zugang zu Schulen. Die Stärkung der Rechte der Mädchen und der Frauen ist uns sehr wichtig.
({6})
Wir setzen unsere Arbeit nicht nur in den Städten,
sondern auch außerhalb der Städte fort.
Wir brauchen außerdem eine breitere Basis. Afghanistan ist bereit für Investitionen. Dieser Aufruf geht an
unsere deutsche Wirtschaft. Die deutsche Wirtschaft hat
sich in Bezug auf Afghanistan bisher sehr stark - zu
stark, wie ich meine - zurückgehalten.
Herr Bundesminister, darf ich Sie fragen, ob Sie eine
Zwischenfrage der Kollegin Vogler gestatten?
Wieder links?
({0})
Vielen Dank, Herr Minister, dass Sie meine Zwischenfrage zulassen. Sie haben doch sicherlich genau
wie ich den Fortschrittsbericht zu Afghanistan Ihrer
Bundesregierung gelesen. Daraus geht sehr deutlich
hervor, dass der Opiumanbau, also der Umfang der
Mohnanbauflächen, in Afghanistan im letzten Jahr wieder zugenommen hat. Nun sagen Sie, Afghanistan müsse
weg vom Opium. Sie sagen aber überhaupt nicht, auf
welche Art und Weise Sie das gewährleisten wollen.
Dazu kommt, dass Sie es hier so darstellen, als ob
Entwicklungszusammenarbeit, Entwicklungshilfe und
Wiederaufbau nur unter dem Schutz bewaffneter Einheiten stattfinden können. Wesentliche Entwicklungsorganisationen in der Bundesrepublik Deutschland, etwa der
Dachverband VENRO, weisen das sehr deutlich zurück,
lehnen es ab und sagen: Unsere Helferinnen und Helfer
sind gerade da am sichersten, wo keine Bundeswehr und
keine ausländischen Truppen in der Nähe sind. Wie stehen Sie dazu?
Vielen Dank. - Es gibt Bereiche, in denen wir unsere
Ziele absolut nicht erreicht haben. Das ist zum Beispiel
bei der ländlichen Entwicklung und der Reduzierung des
Mohnanbaus der Fall. Wir müssen aber auch darüber reden, wer in diesem Fall die Verantwortung dafür trug.
Das war ein Einsatzbereich, der im Zuweisungsbereich
der Briten lag, und zwar ganz eindeutig.
({0})
Die Ziele wurden nicht erreicht.
Zur Frage der Sicherheit. Sie haben gehört, dass ich
sehr deutlich und sehr bewusst darauf hingewiesen habe,
dass die Entwicklungszusammenarbeit nicht erst 2001
begonnen hat. Der Einsatz von Entwicklungsexperten
- ich spreche nicht nur von Helfern - geht zurück bis in
die 20er-Jahre des letzten Jahrhunderts. Afghanistan
hat traditionell eine freundschaftliche Verbindung zu
Deutschland, und eine solche haben wir zum afghanischen Volk. Deshalb waren unsere Entwicklungshilfeorganisationen auch in den 50er-, 60er- und 80er-Jahren in
Afghanistan.
Schon 2001 war die Frage strittig: Schaffen die ISAFTruppen mehr Schutz oder weniger? Ich glaube, dass die
ISAF-Truppen auch für den zivilen Aufbau und die zivilen Aufbauhelfer mehr Schutz, mehr Sicherheit und
mehr und bessere Optionen gebracht haben.
({1})
Aus Gesprächen mit den Organisationen, die wir natürlich geführt haben, weiß ich: Es gibt unabhängig von
der ISAF-Truppe ein Sicherheitskonzept, das umgesetzt
wurde, das die Sicherheit der zivilen Aufbauhelfer auch
in den nächsten fünf bis zehn Jahren grundlegend gewährleistet. Die Organisationen im zivilen Bereich können dort auch ohne Soldaten arbeiten.
({2})
Wir erwarten selbstverständlich, dass in den nächsten
Jahren ein vernetztes Konzept von Außenministerium,
Verteidigungsministerium, nationalen und internationalen Organisationen vorgelegt wird. Aber unabhängig davon gibt es ein eigenes Sicherheitskonzept für die zivilen
Organisationen.
Ich nehme Ihre Frage zum Anlass, kritisch nachzufragen - das sollten wir alle tun -, welche Lehren wir aus
den Erfahrungen in Afghanistan für andere Krisenherde
ziehen können. Ich denke beispielsweise an den afrikanischen Kontinent. Wir im BMZ haben ein neues AfrikaKonzept entwickelt und werden in unserem Denken und
in unserer Politik einige neue Akzente setzen und Veränderungen vornehmen müssen. Das heißt, wir brauchen
eine Stärkung bei der Krisenprävention. Krisenprävention muss vor Interventionen kommen. Das ist ganz
zentral.
({3})
Wir brauchen einen Aufbau regionaler Krisenreaktionskräfte vor Ort. Wir brauchen höhere Investitionen
zur Stärkung der zivilen Strukturen und der Zivilgesell1004
schaft. Das kann ich am Beispiel von Mali darlegen. Das
Militär kann in das Land gehen und ein Stück weit Ordnung und Stabilität schaffen, es kann aber nicht Frieden
zwischen Freund und Feind schaffen. Um langfristig
Stabilität herstellen zu können, benötigen wir in Afghanistan und in Mali zivile Strukturen.
({4})
Hier müssen wir unsere Politik verändern.
Meine Damen und Herren, ich möchte nun nicht weiter auf unser Afrika-Konzept eingehen. Wir müssen aus
dem langjährigen Einsatz in Afghanistan die Lehren für
die Krisenbewältigung auch im Nahen Osten ziehen.
Angesichts von 6 Millionen Flüchtlingen in Syrien, der
instabilen Lage im Libanon, der Situation in Jordanien
müssen wir uns fragen: Wie lange schauen wir zu, bis
auch dort aus der Instabilität Krisen, Konflikte und
Kriege werden?
({5})
Wo ist unsere Krisen- bzw. Friedenskonzeption, dort
jetzt einzugreifen und Akzente zu setzen?
({6})
- Was das heißt, das kann ich Ihnen in der nächsten
Debatte zum Thema Afrika ganz konkret darlegen. Wir
haben uns dazu sehr genaue Überlegungen gemacht.
({7})
Meine Damen und Herren, ich möchte in Richtung
der Europäischen Union sagen: Die Mittel aus dem vollgefüllten EU-Entwicklungstopf müssen im Rahmen einer EU-Krisenpräventionsstrategie auch in Afghanistan
investiert und zentriert werden.
({8})
Ich gedenke in dieser Stunde natürlich der toten und
verletzten Soldatinnen und Soldaten und Entwicklungsexpertinnen und Entwicklungsexperten und deren Familien. Wir danken für die großartige Zusammenarbeit mit
den ISAF-Truppen und ihren großartigen Einsatz.
Ich sage noch einmal: Die Sicherheit ist natürlich zentral.
Zum Schluss möchte ich betonen: Afghanistan wird
uns weiter beschäftigen. Die Politik hat es leider an sich,
dass man kurzfristig reagiert. Wir beschließen das Mandat bis Ende des Jahres; wir brauchen aber eine mit den
Europäern und international abgestimmte Gesamtstrategie, ein friedenspolitisches Gesamtkonzept, das über
2016 hinausgeht und bis 2020/2030 reicht.
Herzlichen Dank.
({9})
Als nächstem Redner erteile ich das Wort Jürgen
Trittin, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber
Gregor Gysi, Sie dürfen der Bundesregierung nicht alles
glauben. Die Bundesverteidigungsministerin hat gesagt,
Deutschland solle sich mehr engagieren. Heute legt sie
aber ein Mandat vor, das vorsieht, künftig 3 000 Soldatinnen und Soldaten weniger im Ausland einzusetzen.
Der Kampfeinsatz soll 2014 beendet werden. Ein solches Mandat, ein geordneter Abzug und die Übergabe
der Sicherheitsverantwortung an die Afghanen, haben
wir sehr lange gefordert. Dieses Abzugsmandat ist überfällig, und deswegen fällt es mir leicht, zu sagen: Das
jetzt zu beenden, ist richtig.
({0})
Ich sage aber: Es ist auch an der Zeit, eine Bilanz zu
ziehen. - Ich habe damals der Regierung angehört, die
die Soldatinnen und Soldaten nach Afghanistan geschickt hat.
({1})
Deswegen und natürlich auch angesichts der Opfer der
Afghanen und der Deutschen muss man sich dieser
Frage sehr ernsthaft stellen.
Wenn ich nach diesen zwölf Jahren darüber nachdenke, dann komme ich nicht zu einer einfachen Wahrheit, sondern zu einem paradoxen Befund: Es war richtig, das Talibanregime zu stürzen.
({2})
Dennoch sind wir und ist die NATO in Afghanistan ein
Stück gescheitert. - Man muss sich beiden dieser Wahrheiten stellen.
({3})
Der internationale Terrorismus wäre eine größere Gefahr und diese Welt wäre erheblich unsicherer, wenn er
in Afghanistan noch einen Rückzugsraum hätte. Vor
2001 stand er übrigens regelmäßig unter dem Schutzschirm des pakistanischen Geheimdienstes. Das Leben
der Afghaninnen und Afghanen wäre erbärmlicher,
wenn die Taliban weiterhin in weiten Teilen des Landes
die Mädchen am Schulbesuch hinderten und Ehebrecherinnen und Oppositionelle nach Belieben steinigen
würden. Es ist übrigens nicht so, dass der Krieg in Afghanistan mit der Intervention des Westens angefangen
hat; dort herrschte zu dem Zeitpunkt Krieg.
({4})
Dennoch sind wir gescheitert. Ich zitiere: Die „Förderung von Sicherheit, Entwicklung und Rechtsstaatlichkeit“ ist „trotz großer und anerkennenswerter Anstrengungen“ nur unzureichend gelungen. - Das schreibt Herr
Papier für die Evangelische Kirche in Deutschland.
Wir sind von einem echten State Building weit entfernt. Die Sicherheitslage hat sich übrigens noch in
2013 gegenüber 2012 verschlechtert. Nach Angaben der
UNAMA ist die Zahl der zivilen Opfer noch einmal um
16 Prozent angestiegen, und auch die Zahl der Anschläge hat um 10 Prozent zugenommen.
Wir als internationale Gemeinschaft werden noch
über Jahre hinweg den afghanischen Sicherheitssektor
finanzieren, ausbilden und ausrüsten müssen. Von selbsttragender Sicherheit sind wir trotz der Übergabe der Sicherheitsverantwortung an die Afghanen ein ganzes
Stück entfernt.
({5})
Das ist der andere Teil der Wahrheit.
Worin hat dieses Scheitern bestanden? Ich glaube,
dass die EKD das an einem Punkt ganz klug beschrieben
hat. Sie hat ausgeführt:
Ein friedens- und sicherheitspolitisches Gesamtkonzept unter dem Primat des Zivilen,
- nicht unter Verzicht des Militärischen, sondern unter
dem Primat des Zivilen hat weitgehend gefehlt. Die enge Verknüpfung des
ISAF-Mandates mit der von den US-Amerikanern
als Teil des „War-on-Terror“ geführten Operation
„Enduring Freedom …“ hat die Glaubwürdigkeit
der Friedens- und Unterstützungsmission ISAF erheblich beeinträchtigt.
({6})
Das ist der Kern. Man kann keinen Rechtsstaat aufbauen, wenn man jede Nacht Drohnen zu extralegalen
Tötungen losschickt. Das zerstört die Glaubwürdigkeit
eines solchen Einsatzes und eines zivil-militärischen Ansatzes.
({7})
Wir dürfen nie wieder zulassen, dass auf einem Gebiet zwei sich gegenseitig ausschließende militärische
Operationen stattfinden, wie es dort der Fall gewesen ist.
Ich sage sehr deutlich: Mit dem Beginn von ISAF hätten
die OEF und auch diese ganzen Strategien beendet werden müssen, egal unter welchem Plakat sie gemacht
worden sind.
({8})
Dann gibt es einen zweiten Fehler, über den wir noch
gründlicher nachdenken müssen. Asymmetrische Kriege
- wir sprechen hier über Krieg - unterscheiden sich von
konventionellen Kriegen in einem wichtigen Punkt:
Konventionelle Kriege kennen am Ende häufig einen
Sieger und einen Verlierer. Asymmetrische Kriege kennen häufig
({9})
keine Sieger, sondern nur Verlierer.
({10})
Durch den Militäreinsatz wird das Kräfteverhältnis verschoben. Aber am Ende eines solchen Konflikts steht,
wenn er denn beendet wird, in der Regel eine Verständigung, irgendein Kompromiss zwischen den Konfliktparteien. Genau dieser richtigen Erkenntnis haben wir uns
viel zu lange entzogen.
Ich erinnere mich noch, wie der damalige SPD-Vorsitzende Kurt Beck insbesondere von der CDU/CSU
ausgelacht worden ist, als es hieß, es müsse mit den Taliban Gespräche geben. Uns schlug wegen dieser Forderung Empörung entgegen. Heute sind Sie selber froh,
dass der Botschafter Steiner im Auftrag der Bundesregierung den Taliban ein Büro in Katar angemietet und
Gesprächskanäle zu den USA eröffnet hat. Wir sind alle
gemeinsam besorgt, dass diese Gesprächskanäle am
Ende wegen der Fortsetzung des Drohnenkrieges zum
Erliegen gekommen sind.
({11})
- Nein, das hat ihm keiner gedankt. Er ist stattdessen
nach Indien strafversetzt worden.
({12})
Deswegen sage ich: In Afghanistan ist die NATO
nicht an zu wenig Militär gescheitert. Wir sind gemeinsam daran gescheitert, dass wir von Beginn an zu wenig
Entwicklung und zu wenig Willen zu einer politischen
Lösung auf die Tagesordnung gesetzt haben. Das ist der
Kern des Problems.
({13})
Das bleibt nicht ohne Konsequenzen. Man hat sich
einmal die NATO in der Rolle des globalen Dienstleisters für Sicherheit für die Weltgemeinschaft vorgestellt.
Ich sage Ihnen: Nach Afghanistan und Libyen wird es
dafür kaum neue Mandate geben. Auch und gerade unsere demokratischen Verbündeten unter den Schwellenländern werden das nicht mehr akzeptieren.
Dennoch glaube ich, dass der Bundespräsident recht
hat: Deutschland muss mehr internationale Verantwortung übernehmen. Der Bundespräsident hat das wie folgt
beschrieben: Das bedeutet nicht - ich zitiere - „mehr
Kraftmeierei“. Er setzt dagegen „auf Prävention, auf internationale Zusammenarbeit sowie auf die Entwicklung
von Frühwarnsystemen gegen Massenverbrechen“.
Deswegen müssen wir uns im Rahmen der Vereinten
Nationen mehr organisieren und engagieren. Da, wo das
Militäreinsatz bedeutet, wird es mehr DPKO und weniger NATO sein. Wir müssen mehr zivile Missionen auf
den Weg bringen. Deswegen ist eine gemeinsame europäische Außen- und Sicherheitspolitik künftig von
wachsender, zentraler Bedeutung.
Nur, werden wir, Herr Bundesaußenminister, dieser
Herausforderung auch gerecht? Sie haben in München
gesagt: Außenpolitische Verantwortung muss immer
konkret sein. - Ich frage die Bundesregierung: Wo sind
denn eigentlich die für Postkonfliktländer notwendigen
1 000 Polizeibeamtinnen und Polizeibeamte, die wir angeblich auf Stand-by vorhalten? Die gibt es nicht einmal
auf dem Papier.
Herr Kollege Trittin, denken Sie an die Redezeit.
Wenn wir über Früherkennung und Prävention reden:
Ist es wirklich klug, im Großkonflikt zwischen SaudiArabien und dem Iran die eine Seite mit Hermesbürgschaften hochzurüsten?
({0})
Aber, meine Damen und Herren - damit komme ich
zum Schluss -, es gibt einen einfachen Prüfstein dafür,
ob Deutschland seiner Verantwortung außenpolitisch gerecht wird - das hat der ehemalige Bundespräsident
Horst Köhler ganz gut formuliert, das ist eine Frage der
Glaubwürdigkeit -: Schaffen wir es wenigstens, wenn
wir schon die Zusagen für 2015 reißen, bis 2017 0,7 Prozent des Bruttosozialprodukts für Entwicklungshilfe auf
den Weg zu bringen? Das ist der Prüfstein für die Glaubwürdigkeit für mehr internationale Verantwortung, und
das ist die Frage, ob wir auch aus dem Scheitern in Afghanistan endlich etwas lernen.
({1})
Nächster Redner ist der Kollege Niels Annen, SPD.
({0})
Vielen Dank, Herr Präsident. - Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Ich finde, Herr Kollege Trittin, Sie
haben dieser Debatte einen Dienst erwiesen, weil Sie die
Diskussion auf den Punkt gebracht haben, die wir miteinander zu führen haben. Das ISAF-Mandat ist von Anfang an umstritten gewesen. Das ist auch in Ordnung.
Übrigens war das auch in meiner eigenen Fraktion und
Partei immer umstritten. Wir haben darum richtig gerungen. Ich glaube, das ist auch ein Teil der demokratischen
Auseinandersetzung.
Wir haben übrigens, weil wir darum gerungen haben,
auch mit dafür gesorgt - gemeinsam übrigens -, dass
dieses mehr Gegeneinander als Miteinander zwischen
ISAF und OEF beendet worden ist. Dass es ein Fehler
war, dass wir das nicht früher durchsetzen konnten, gestehe ich Ihnen gerne zu. Denn das ist ein Ausdruck dieser strittigen Debatten gewesen.
Ja, ich würde auch sagen, unsere Ziele in Afghanistan
waren hochgesteckt. Vielleicht waren sie auch zu hoch
gesteckt. Wir sind in vielerlei Hinsicht unvorbereitet in
diesen Einsatz gegangen. Das ist richtig. Aber niemand
konnte den Anschlag am 11. September vorhersehen.
Das ist auch ein Teil eines Reifeprozesses in diesem
Land gewesen.
Wir sind in Afghanistan zum Teil auf dem Boden der
Realität gelandet. Das war nicht immer einfach, vor allem für die Menschen, die wir nach Afghanistan geschickt haben: Soldatinnen und Soldaten, zivile Angehörige, Polizeibeamte und Diplomaten. Trotzdem, Herr
Trittin: „Gescheitert“ ist ein großes Wort. Darüber müssen wir in diesem Raum, in diesem Hauen Hose, Entschuldigung: Hohen Hause diskutieren.
({0})
- Ja, weil das nämlich auch in die Hose gehen kann.
({1})
- Ganz ernsthaft, Herr Kollege Gehrcke: Ich finde, die
Frage, ob dieser Einsatz gescheitert ist oder nicht, entscheidet sich nach 2014. Wir sollten alles dafür tun, dass
unser Einsatz dazu führt, dass das, was wir erreicht haben, und dass die Möglichkeiten, die wir für die Menschen in Afghanistan geschaffen haben, erhalten bleiben,
({2})
damit wir am Ende dieser Auseinandersetzung sagen
können, dass wir eben nicht gescheitert sind.
({3})
Ich will auch auf eines hinweisen: Der Bundeswehreinsatz hat auch unser Land und unsere politische
Sprache verändert. Wir reden heute von Krieg. Wir reden von Gefallenen, und wir reden von Veteranen. Wir
haben eine Diskussion, die notwendig ist - darauf ist
auch hingewiesen worden -, und wir haben eine Verpflichtung gerade für die Menschen, die wir dorthin geschickt haben.
Aber ich habe eine Bitte an diesem Tag, vor allem an
einen Teil der Opposition. Es ist ja in Ordnung, über die
Frage von Militäreinsätzen zu streiten. Ich respektiere
immer - wir haben auch in unserer eigenen Fraktion
diese Debatte -, wenn man sich grundsätzlich dagegen
ausspricht. Das ist eine legitime Position. Aber, Herr
Kollege Gysi, lassen Sie uns über die Lage in
Afghanistan reden.
({4})
Ihr Bezugspunkt ist doch ganz offensichtlich nicht die
Zeit der Talibanherrschaft gewesen; denn sonst könnten
Sie gar nicht zu solchen Ergebnissen kommen.
({5})
Die Lebenserwartung in diesem Land ist inzwischen höher. Viele Menschen dort haben Zugang zur Gesundheitsversorgung; das ist zuvor genannt worden.
Nicht nur unsere Gesellschaft, sondern vor allem auch
die Gesellschaft in Afghanistan hat sich durch den Einsatz verändert. Dort gibt es inzwischen in den großen
Städten eine Medienlandschaft, die ihresgleichen in der
Region sucht. Ein Großteil der Menschen in Afghanistan
- auch auf dem Land - verfügt über Zugang zu einem
Mobiltelefon. Das Meinungsmonopol der Dorfältesten
und der Mullahs ist in vielen Bereichen Afghanistans
längst gebrochen. Deswegen gibt es vitale Debatten über
alle Probleme, die es dort gibt, im afghanischen Parlament. Die entscheidende Frage, die sich uns allen stellt,
lautet: Sind wir fähig, nach Ablauf des ISAF-Mandats
eine Politik zu betreiben und eine Struktur zu entwickeln, die die Menschen, die auch von unserem Einsatz
profitiert haben, die zur Schule gehen und studieren, die
sich wieder auf Wahlen vorbereiten und für ein Parlament kandidieren können, in die Lage versetzen, über
die Zukunft ihres Landes selber zu entscheiden? Das ist
die Herausforderung, vor der wir stehen.
Ich bin der Meinung: Die kritische Debatte - auch
über Fehler, die wir in den letzten zwölf Jahren gemacht
haben - ist richtig. Meine Fraktion wird sich an dieser
Debatte beteiligen. Ich bin sehr dankbar, dass der Außenminister eine kritische - auch selbstkritische - Bilanz
gezogen hat. Aber wir dürfen über diese grundsätzliche
Debatte nicht vergessen, dass wir in den letzten zwölf
Jahren der afghanischen Gesellschaft Chancen gegeben
haben. Wir müssen den Menschen in Afghanistan helfen, diese Chancen wahrzunehmen. Deswegen werbe ich
nicht nur für Zustimmung, sondern auch dafür, dass wir
uns mit demselben Engagement über den richtigen Weg
streiten, wenn es nicht nur um militärische Fragen geht,
sondern um die Frage - das ist die Nagelprobe -, ob wir
in der Lage sind, mit zivilen, diplomatischen und politischen Mitteln dafür zu sorgen, dass Afghanistan als
Freund der Bundesrepublik Deutschland eine Zukunft
hat.
Herzlichen Dank.
({6})
Das Wort hat jetzt Philipp Mißfelder, CDU/CSU.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Zuerst möchte ich auf Bemerkungen von
zwei Kollegen in der Debatte eingehen. Herr Kollege
Gysi, Sie haben den Vorwurf erhoben, die Bundesrepublik Deutschland habe sich im Rahmen des ISAF-Mandats mit den Drogenbaronen in Afghanistan gemein gemacht. Das entspricht einfach nicht den Tatsachen, Herr
Gysi. Das weise ich mit voller Entschiedenheit zurück.
Es war oft Gegenstand der Debatten in diesem Hause
- der Entwicklungsminister hat das gesagt -, ob wir in
die Auseinandersetzung um den Drogenanbau aktiv eintreten sollten. Aus guten Gründen haben wir darauf verzichtet, das zu tun. Das heißt aber noch lange nicht, dass
wir uns mit den Drogenbaronen gemein gemacht haben.
Einen solchen Rückschluss lasse ich Ihnen an dieser
Stelle nicht durchgehen.
({0})
Herr Trittin, Sie haben ausführlich über den Beginn
des Mandats gesprochen. Sie waren damals quasi hautnah daran beteiligt. Der Kollege Annen hat sehr anschaulich deutlich gemacht, welch große Zäsur dieses
Mandat für unser Land war. Ich würde aber nicht davon
sprechen, dass das Mandat gescheitert ist und dass wir
die Ziele, die wir uns gesetzt haben, allesamt nicht erreicht haben.
Herr Kollege Mißfelder, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Hänsel?
Ja, bitte.
({0})
Danke schön. - Herr Mißfelder, bestätigen Sie denn
die Tatsache, dass der Halbbruder von Präsident Karzai,
Ahmed Wali, einer der größten Drogenbarone in ganz
Afghanistan war und deswegen auch ermordet wurde,
({0})
dass große Teile des afghanischen Parlaments einen Drogenhintergrund bzw. eine paramilitärischen Hintergrund
haben,
({1})
dass der Gouverneur von Masar-i-Scharif, Mohammed
Atta, einer der brutalsten Herrscher in der gesamten Region ist und Privatmilizen unterhält sowie dass es keine
Pressefreiheit in der ganzen Region gibt? Das ist ein offenes Geheimnis. Das können Sie in sämtlichen Tageszeitungen lesen; das können Sie bei der BBC sehen,
überall. Über Jahre hat die ISAF brutale Warlords unterstützt und ein Drogenregime mit ermöglicht, weil sie
diese Leute nie angegangen ist; denn sie hat sie gebraucht im Kampf gegen die Taliban.
Was die Familie Karzai betrifft, so würde ich mich
niemals hier hinstellen und sagen, dass alles einwandfrei
gelaufen ist. Ich glaube, jeder von uns weiß, wie schwierig führende Politiker in Afghanistan einzuschätzen sind.
Dem von Ihnen geäußerten Generalverdacht würde
ich allerdings schon widersprechen. Niels Annen hat es
ja gerade beschrieben. Es bewerben sich zurzeit elf oder
zwölf Kandidaten um das Präsidentenamt, wobei der
Ausgang der Präsidentschaftswahl ungewiss ist. Wir haben über die Jahre unzählige Parlamentarierdelegationen
aus Afghanistan bei uns gehabt. Ich wehre mich einfach
dagegen, dass so getan wird, als ob jeder Funktionsträger
oder jeder Würdenträger in Afghanistan automatisch ein
Schwerverbrecher wäre. Dem ist einfach nicht so.
({0})
- Natürlich ist uns das bekannt, was die Familie Karzai
angeht, selbstverständlich. Nur, Sie können sich, wenn
Sie vor Präsident Karzai stehen, sei es auf der Münchner
Sicherheitskonferenz oder bei anderen Begegnungen,
nicht die Leute backen. Wir sind doch nicht in der Position, jemanden aus unseren Reihen zum afghanischen
Präsidenten zu bestimmen. Wir haben vielmehr mit den
Leuten, die wir dort vorgefunden haben, in irgendeiner
Form kooperieren müssen. Da gibt es nun einmal Persönlichkeiten, die extrem zwielichtig sind; es gibt aber
auch gute Beispiele. Einer der engsten Berater von Präsident Karzai, Herr Spanta, war für die Grünen jahrelang
im Stadtrat in Aachen.
({1})
Mit dem haben Sie gute Gespräche geführt und wir auch.
Wir arbeiten daran, dass Good Governance, also gute
Regierungsführung, überhaupt eine Chance in diesem
Land hat. Und nur deshalb haben wir militärisch eingegriffen, um dafür überhaupt wieder Spielraum zu bekommen. Das war der Beweggrund für unsere Aktivitäten.
({2})
Ich will auf das zurückkommen, was Herr Trittin gesagt hat. Sie waren bei der Formulierung der ursprünglichen Ziele beteiligt. Zwar möchte ich nicht jedes Wort
von Joschka Fischer auf die Goldwaage legen, aber es gehört zur kritischen Betrachtung auch dazu - darüber sind
wir uns im Auswärtigen Ausschuss doch einig -, uns zu
fragen: Waren vielleicht die Ziele zu hoch, die wir uns gesetzt haben? Den kompletten Einsatz als gescheitert zu bezeichnen, geht mir zu weit; aber vielleicht waren die
Ziele etwas bzw. wesentlich zu hoch gegriffen.
Einen wichtigen Punkt möchte ich meinen eigentlichen Bemerkungen voranstellen, auch mit Blick auf den
Beitrag, den der Bundespräsident in München geleistet
hat. Das ist in dieser Debatte schon mehrmals von uns
gesagt worden. Von uns glaubt niemand, dass es rein militärische Lösungen von Konflikten gibt. Wir wählen immer den politischen Ansatz. Wir glauben aber, dass es,
um überhaupt wieder politischen Spielraum zu erreichen, manchmal als äußerstes Mittel notwendig ist, Militär einzusetzen. Deshalb diskutieren wir hier auch so intensiv. Deshalb ist auch das Parlament in einem so
großen Umfang wie bei kaum einem anderen Politikfeld
eingebunden und trifft letztendlich die Entscheidung autonom. Das geschieht alles vor dem Hintergrund, dass
wir in Deutschland den Parlamentsvorbehalt haben. Das
soll auch so bleiben.
({3})
Herr Kollege Mißfelder, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Kollegen Neu?
Ja, auch wenn ich ihn noch nicht kenne.
({0})
Herr Kollege Mißfelder, vor über vier Jahren kam es
zu diesem Vorgehen in Kunduz, bei dem über hundert
Menschen getötet worden sind. Ich habe seitdem nie von
irgendeiner Bundesregierung oder auch von Regierungsfraktionen ein Wort des Bedauerns über die getöteten
und verletzten Opfer gehört.
({0})
Stimmt nicht!
({0})
Eine Entschuldigung. - Sind Sie in der Lage, im Rahmen dieser Diskussion - heute findet ja auch eine gewisse Aufarbeitung statt - eine Entschuldigung gegenüber den Opfern und den Hinterbliebenen
auszusprechen?
Ich weiß nicht, ob ich als Parlamentarier überhaupt in
der Position bin, mich für etwas zu entschuldigen, nachdem wir als Regierungsfraktion ja die Bundeswehr vor
allem gegen Verdächtigungen in Schutz nehmen mussten. Ich sage Ihnen: Es gab selbstverständlich jederzeit
und von Anbeginn im Rahmen der Vorfälle von Kunduz
ein tiefes Bedauern. Selbstverständlich.
({0})
Glauben Sie denn, es sei uns egal gewesen, was damals
passiert ist? Wir versuchen ja bis heute, die richtigen
Schlüsse daraus zu ziehen, inklusive eine Antwort auf
die Frage zu finden, ob wir nicht die richtigen technischen Antworten darauf geben müssen, was Unterstützung der Soldaten, aber auch Aufklärungsmöglichkeiten
der Soldaten angeht.
Vorhin wurde über Drohnen unter einem anderen Gesichtspunkt diskutiert; es ging vor allem um Fragen wie
extralegale Tötungen, die von den USA ausgehen. Ich
möchte diesen Punkt ebenfalls ansprechen, weil oft etwas vermengt wird, was nichts miteinander zu tun hat:
Der Vorfall bei Kunduz 2009 wäre beim Einsatz einer
Drohne anders abgelaufen.
({1})
Vor diesem Hintergrund sage ich an dieser Stelle: Zu einer kritischen Betrachtung gehört auch, dass wir all den
Soldatinnen und Soldaten den besten Schutz sowie die
besten Möglichkeiten der Aufklärung zur Verfügung
stellen, um Risiken zu minimieren.
({2})
- Vielen Dank.
Das gibt mir die Gelegenheit, auch im Namen meiner
Fraktion an diesem wichtigen Tag so vielen Menschen,
die im Einsatz waren oder im Einsatz sind - die Veteranen sind vorhin schon erwähnt worden - und die hervorragende Arbeit für unser Land leisten, und deren Angehörigen an dieser Stelle zu danken.
({3})
Natürlich ist dieser Einsatz eine Zäsur. Als das zugrundeliegende Mandat am 16. November 2001 auf den
Weg gebracht worden ist, ist dem keine einfache Abstimmung vorausgegangen; schließlich war sie mit der
Vertrauensfrage verknüpft. Nach wie vor unter dem Eindruck der schrecklichen Ereignisse vom 11. September
2001 stehend, hat Gerhard Schröder damals von der „uneingeschränkten Solidarität“ mit Amerika gesprochen.
Dieser Solidarität sind wir wie noch nie zuvor in der Geschichte unseres Landes gerecht geworden. Schon damals hat Deutschland einen starken Beitrag geleistet.
Selbst wenn damals - übrigens in allen Parteien - sehr
strittige Diskussionen geführt worden sind, muss ich sagen, dass diese Diskussionen definitiv zu einem Reifungsprozess in unserem Land beigetragen haben. Ich
glaube, dass die kritische Betrachtung zu Beginn der
Diskussionen genauso wie jetzt, viele Jahre danach, dazugehört. Es gilt zu evaluieren, was gut und was schlecht
gelaufen ist.
Für uns bleiben nach dem Strategiewechsel, der in
London eingeleitet worden ist, bestimmte Aspekte wichtig, an denen wir festhalten wollen. Dazu gehört zum
Beispiel der Grundsatz „Gemeinsam hinein, gemeinsam
heraus“. Auch das ist - das hat der Bundesaußenminister
schon gesagt - ein Ausdruck von Verantwortung.
({4})
- Herr Gehrcke, natürlich sind andere aus Afghanistan
schon herausgegangen. Das sage ich auch mit Blick auf
Verbündete von uns. Wir leisten aber einen besonderen
Beitrag, indem wir an diesem Grundsatz festhalten.
Es ist auch nicht einfach, diese Entscheidung hier alle
zwölf Monate oder in Wahlkämpfen zu verteidigen. Wir
haben aber in Deutschland einen demokratischen Diskurs und haben die Entscheidung zur Diskussion freigegeben, und wir haben uns in Wahlkämpfen hingestellt
und gesagt: Dafür stehen wir ein. - Ich glaube, es war
die richtige Entscheidung, zu sagen: Gemeinsam hinein
und auch gemeinsam heraus.
({5})
Dieser wichtige Beitrag ist auch ein Ausdruck der Leistungsfähigkeit der Bundeswehr insgesamt.
Die Opfer sind vorhin schon angesprochen worden.
Jedes Opfer ist eines zu viel, sei es ein ziviles oder sei es
ein Soldat.
Wir wollen die Sicherheitsarchitektur in Afghanistan
weiter stärken. Dafür soll es eine Anschlussmission geben. Das Notwendige ist dazu gesagt worden. Wir erwarten Rechtssicherheit für diejenigen, die für uns dort
weiter tätig sein wollen. Wir erwarten aber auch Sicherheit insgesamt. Der Bundesentwicklungsminister hat
deutlich gemacht, welche Rahmenbedingungen für die
Entwicklungshelfer wir für die Zukunft erwarten. Das
wird uns vor große Herausforderungen stellen. Die Situation und damit die Sicherheitslage kann natürlich angespannter werden, wenn die ISAF-Mission insgesamt
beendet wird.
Wir stehen jetzt unmittelbar vor der Herausforderung
der Präsidentschaftswahlen und vor der Frage, wie es in
dem Land politisch weitergeht. Auch die Provinzräte
stehen zur Wahl an. Eines muss ich an dieser Stelle
schon sagen: Selbst wenn es viel daran auszusetzen gibt,
selbst wenn einem nicht jeder Kandidat, der sich bewirbt, passt, wäre es früher, unter der Herrschaft der Taliban, unvorstellbar gewesen, dass sich Frauen überhaupt
zur Wahl stellen.
({6})
Es wäre unvorstellbar gewesen, dass es überhaupt eine
Auswahl gibt, dass es Richtungsdiskussionen um die
beste Ausrichtung dieses Landes gibt. Alles, was jetzt
geschieht, findet noch auf niedrigem Niveau statt. Ich
rede das hier auch nicht schön. Ich sage nicht, dass wir
alle unsere Ziele erreicht haben. Aber nichtsdestotrotz ist
nicht alles schlecht in Afghanistan.
In der Debatte sind die Teilhabe am Bildungs- und
Gesundheitswesen angesprochen worden. Wenn wir zurückblicken werden, dann werden wir immer sagen können, dass es in dem Bereich, wo wir tätig waren, Erfolge
gibt: Insbesondere die Infrastruktur ist ausgebaut worden, die Elektrifizierung ist vorangetrieben worden,
Straßen sind gebaut worden, Brunnen sind gebaut worden. Das sind Erfolge, selbst wenn das hier manchmal
belacht worden ist und manche gesagt haben: Dafür ist
ein Militäreinsatz doch nicht da. - Wir haben immer einen gesamtheitlichen Ansatz verfolgt und gesagt: Im
Zentrum dieser Mission steht nicht nur die militärische
Absicherung, sondern auch der zivile Beitrag, der hoffentlich nachhaltig sein wird.
Wir setzen bei dem Anschlussmandat darauf, dass die
Sicherheitsstrukturen sich nachher ohne uns tragen. Deshalb wollen wir die Polizeiausbildung vorantreiben, was
eine sehr große Herausforderung ist; die Themen sind
schon angesprochen worden.
Dazu gehört auch eine kritische Überprüfung; wir
wollen ja darüber im Auswärtigen Ausschuss groß diskutieren. Ich nehme übrigens die Hinweise der evangelischen Kirche als Einladung wahr, uns damit auseinanderzusetzen. Ich teile nicht alles, was dort formuliert
worden ist; es ist aber auch nicht alles falsch, was dort
aufgeschrieben worden ist. Deshalb möchte ich dieses
Angebot annehmen und darüber diskutieren: Wie geht es
eigentlich nach ISAF weiter, und wie kann sich die Gesellschaft hier auch weiterhin verantwortlich gegenüber
den Menschen in Afghanistan zeigen?
Es ist vorhin gesagt worden, dass wir mit der heutigen
Debatte ein freundschaftliches Signal in Richtung des afghanischen Volkes aussenden wollen. Das wollen wir
auch tun. Deshalb noch einmal mein klares Bekenntnis
- ich richte es an diejenigen, die uns in den vergangenen
Jahren massiv unterstützt haben -: Wir wollen auch für
Ihre Sicherheit garantieren und für das, was in dem Rahmen möglich ist - mit Aufenthaltsgenehmigungen hier
und mit Sicherheit vor Ort; denn wir wollen nicht, dass
diejenigen, die uns über Jahre geholfen haben, schutzlos
denen ausgeliefert sind, die eventuell auf Rache sinnen.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({7})
Nächster Redner ist der Kollege Tom Koenigs, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wir haben eine dauerhafte, nachhaltige, alte und
intensive Beziehung zu Afghanistan, zum afghanischen
Volk. Ich hoffe, das bleibt so.
In den letzten zwölf Jahren sind Tausende Deutsche
nach Afghanistan gegangen: allein 129 724 Soldaten,
dazu zahllose Zivilisten, Polizisten, Peacekeeper, Entwicklungshelfer oder Experten, Mitarbeiter von internationalen Organisationen - wie ich -, von nationalen Botschaften, NGOs, Stiftungen usw. Uns alle hat eines
verbunden: eine Begeisterung, dorthin zu gehen und für
die richtige Sache einzustehen. Dort hat uns empfangen
eine Faszination, nicht nur von der Landschaft, sondern
auch vom afghanischen Volk, von den Afghanen selbst.
Ich kenne keinen, der länger als drei Monate in Afghanistan gewesen ist, der diese Faszination nicht gespürt
hat. Diese Faszination begeistert viele von uns nach wie
vor; auch darüber reden wir.
({0})
Es gibt einen weiteren Punkt, der neu für viele von
uns war: Das waren die internationalen Teams. Das war
neu für mich bei den Vereinten Nationen, für andere in
internationalen NGOs und für die Soldaten in multinationalen Einheiten. Es waren ja nicht nur die 28 Staaten der
NATO beteiligt, sondern es waren 50 Staaten, darunter
22 Nicht-NATO-Staaten beteiligt: von der Schweiz bis
Tonga, von der Mongolei bis zur Ukraine. Uns alle hat
die Begeisterung verbunden, für die richtige Sache einzustehen und aufseiten der Afghanen zu kämpfen, die
für Menschenrechte und Menschenwürde einstehen
- oft mit ihrem Leben -, die für Bildung und Gleichberechtigung sind, für Demokratie und Entwicklung.
Eine Zeit lang hat die Stabilisierungsmission der
ISAF auch funktioniert. Bis 2005 gab es keinen Krieg.
Eine Zeit lang hat das Peacekeeping funktioniert. Erst
als da „no peace to keep“ war, ist das umgeschlagen.
Eine Zeit lang ist es auch gelungen, gegen die totalitären
Kräfte anzukämpfen, gegen die Gotteskrieger und Ideologen, so ungefähr bis 2004/05. Der Irakkrieg, der Absturz der Amerikaner von ihrem Moral High Ground
durch die Geschehnisse in Abu Ghureib und Guantánamo haben dazu beigetragen, dass die Taliban sich
dann auch ideologisch neu formieren konnten, übrigens
international und von Pakistan aus.
Als Peacekeeper war ISAF bei den Afghanen populär.
Später erst, mit dem Eintritt der Kämpfe gegen die Aufständischen, mit der Counterinsurgency, schlug das um.
Es gibt eine Langzeituntersuchung über Meinungen im
Norden von Afghanistan. Noch 2007 waren 80 Prozent
der Leute der Meinung, dass ISAF die Sicherheit verbessert. 2013 waren es nur noch 15 Prozent. Oder: 2007 haben sich nur 5 Prozent der afghanischen Bevölkerung im
Norden vor ISAF gefürchtet; heute sind es 80 Prozent,
genauso viele, wie sich vor den Taliban fürchten. Deshalb ist es Zeit, abzuziehen.
({1})
Mit mehr Soldaten lässt sich nicht mehr ausrichten. Das
finden wir hier in Deutschland, und das finden auch die
Afghanen.
Einem Anliegen, das immer wieder an uns herangetragen wird, gerade von denen, die mit uns gearbeitet haben, den Parlamentarierinnen und Parlamentariern, den
Journalistinnen und Journalisten, den liberalen Demokraten in Afghanistan, auf deren Seite wir ja gekämpft
haben, müssen wir uns stellen, indem wir selbst eine
Antwort auf die Frage geben, was auf afghanischer Seite
jetzt von uns, von den Entwicklungspolitikern, von den
internationalen - zivilen - Organisationen erwartet wird.
Nebenbei bemerkt: Ich glaube, eine militärische Nachfolgemission wird es nicht geben; aber darüber werden
wir noch sprechen müssen. - Die Afghanen sagen sehr
deutlich, was sie von uns erwarten, und das können wir
auch leisten, nämlich Bildung, Ausbildung, Fortbildung,
Capacity Building, Bildungseinrichtungen, Universitätspartnerschaften, Bildungspartnerschaften.
({2})
Da geht sehr viel mehr, als in der Fantasie von DAAD
und GIZ existiert.
An Geld fehlt es ja nicht. Mit Geld kann man jedoch
keine Demokratie schaffen, wohl aber mit einer gestärkten Bildungselite, die in Afghanistan immer noch sehr
schwach ist. Ich wünsche mir von den Entwicklungspolitikern sehr, dass sie die geplanten 430 Millionen
Euro jährlicher Entwicklungshilfe - das ist ja ein Riesenbetrag - auch für Bildung einsetzen; denn das ist etwas,
was wir können und was die Afghanen von uns, von
Deutschland, erwarten.
({3})
Ich würde mir natürlich wünschen, dass diejenigen,
die in Zukunft nach Afghanistan gehen, die Begeisterung für unser Engagement teilen und auch weitertragen.
Diese Begeisterung wird diejenigen, die dort bleiben,
und auch diejenigen, die in schwieriger Situation dort
waren, weiterhin mit Afghanistan verbinden; sie wird
bleiben. In Afghanistan wird von unserem Einsatz nur
das bleiben, was sich in den Köpfen verändert hat. Entscheidend ist nicht das, was wir an Straßen, Brücken und
Brunnen gebaut haben, sondern das, was sich in den
Köpfen verändert hat. Dahin gehend etwas zu bewegen,
muss in der nächsten Zeit unser Ziel sein.
({4})
Ich erteile jetzt dem Kollegen Stefan Rebmann, SPD,
das Wort.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wir debattieren heute zum letzten Mal über
das durchaus und zu Recht umstrittene ISAF-Mandat der
Bundeswehr in Afghanistan. Die Menschen in Afghanistan fragen sich natürlich: Was wird aus uns? Wie sieht
unsere Zukunft aus? Welche Perspektiven haben wir?
Für die Menschen in Afghanistan rückt also immer mehr
in den Mittelpunkt, ob wir zu unseren Zusagen stehen
und dem Land nach dem Abzug der ISAF-Truppen weiterhin zur Seite stehen und es unterstützen.
In den vergangenen zwölf Jahren - darauf wurde
schon mehrfach hingewiesen - ist einiges erreicht worden, und viel zu viel ist nicht erreicht worden. Laut dem
von der Bundesregierung vorgelegten Fortschrittsbericht
gehen mittlerweile knapp 10 Millionen Kinder zur Schule,
3,6 Millionen davon sind Mädchen. Es gibt Verbesserungen im Gesundheitswesen, und die Müttersterblichkeit,
lieber Kollege Gysi, ist um mehr als zwei Drittel gesunken: von 1 600 Sterbefällen pro 100 000 Geburten auf
unter 500. Ich finde, das ist ein Erfolg, den man nicht
kleinreden sollte.
({0})
- Ich will das auch nicht in den Himmel loben, liebe
Kollegin Hänsel. Ich sage nur, dass es auch Erfolge
gibt. - Es gibt Fortschritte beim Aufbau von rechtsstaatlichen Institutionen und in der Verwaltung. Mehr Menschen haben Zugang zu Wasser. Die Energieversorgung
ist deutlich besser geworden, und auch die Infrastruktur
wurde verbessert; Kanäle, Brücken und Straßen wurden
vielerorts instand gesetzt oder neu gebaut. Die Medienlandschaft erfreut sich - auch darauf ist schon hingewiesen worden - einer Meinungs- und Pressefreiheit, die
größer ist als in so manchem die Olympischen Spiele
ausrichtenden Land der Gegenwart und der Vergangenheit.
({1})
Ich war im vergangenen Jahr mit der Kollegin Ute
Koczy von Bündnis 90/Die Grünen, die leider nicht
mehr im Bundestag ist, und mit der Kollegin RatjenDamerau von der FDP in Afghanistan. Wir haben auch
viel Positives feststellen können, wie etwa den Bau einer
Straße von Masar-i-Scharif zum Ali-Baba-Gate, wodurch Entwicklung überhaupt erst ermöglicht worden
ist. Die Bauern und die Menschen in den Dörfern haben
uns erzählt, wie diese Straße ihre Lebenssituation positiv
verändert hat, weil sie jetzt nicht mehr über vier Stunden, sondern weniger als eine Stunde brauchen, um in
die nächste Stadt zu kommen. Diese Straße rettet
schlichtweg Leben. Die Menschen sagen: Wir haben
jetzt endlich Zugang zu Bildung und medizinischer Versorgung, und wir können Handel betreiben. - Das alles
nur aufgrund einer einzigen Schotterstraße. Dadurch entsteht Entwicklung. Wir haben sehen können, wie am
Rand dieser Straße Gebäude gebaut werden, wie Handel
betrieben wird und sich Kleingewerbe ansiedelt. Ich
finde, auch das sind kleine Erfolge.
({2})
Wir haben auch viele Kinder getroffen bzw. gesehen,
die auf dem Weg zur Schule waren. Natürlich haben wir
dort auch erlebt, dass man uns gesagt hat: Wir können
gar nicht so viele Schulen und Lehrerinnen und Lehrer
zur Verfügung stellen, wie es Bedarf dafür gibt. Afghanistan ist ein junges Land mit einer jungen Bevölkerung.
Wir müssen einmal einsehen, begreifen und auch laut sagen: In diesem Land fehlt eine komplette Generation;
eine komplette Generation ist ums Leben gekommen
oder ihr wurde Bildung vorenthalten. Vor diesem Hintergrund ist es ein Erfolg, wenn jetzt so viele Kinder zur
Schule gehen können. Ich finde, das sollten wir hier
wirklich nicht kleinreden.
({3})
Ich treffe mich nachher hier im Reichstag mit einem
deutschen Mediziner, der sich seit Jahren in Afghanistan
engagiert, indem er eine Klinik für Frauen aufbaut, die
an Gebärmutter- oder Brustkrebs erkrankt sind. Das
zeigt, wie groß das Engagement ist.
Es zeigt sich aber auch, wo es noch gravierende Defizite gibt. Deshalb sage ich auch - wir sollten das nicht
ausblenden -: Wir haben bei dieser Reise mit Frauenrechtlerinnen und afghanischen Anwältinnen gesprochen, die sich oft unter Lebensgefahr für andere Frauen
engagieren. Sie haben uns Dinge erzählt, die die Vorstel1012
lungskraft sprengen und bei denen es einem die Sprache
verschlägt. Wir stellen fest, dass in Afghanistan Kinderund Frauenrechte nach wie vor nicht großgeschrieben
werden und es viele Behörden schlichtweg noch zulassen, wenn Gewalt gegen Frauen stattfindet. Das können
und das werden wir niemals akzeptieren.
({4})
- Auch generell, liebe Kollegin Hänsel.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir brauchen für
unser entwicklungspolitisches Engagement kein Bundestagsmandat, sondern den politischen Willen, Entwicklungspolitik umzusetzen und den Menschen in Afghanistan eine Zukunft zu geben. Die Botschaft muss
lauten: Wir lassen Afghanistan auch nach ISAF nicht im
Stich. Wir stehen zu unserer Verantwortung und zu unseren Zusagen. Wir erwarten aber auch, dass sich die afghanische Regierung an ihre Zusagen hält. Frank-Walter
Steinmeier hat vorhin schon deutlich darauf hingewiesen.
Zu unserem Hilfsversprechen gehört auch, dass wir
uns um die Menschen kümmern, die uns in den vergangenen Jahren zur Seite gestanden und geholfen haben
und deren Leben heute zum Teil bedroht ist. Ich bin der
Meinung: Wenn es nötig ist, dann müssen wir diesen
Menschen unkompliziert helfen und sie bei uns aufnehmen, damit sie hier eine Zufluchtsstätte haben.
Herr Kollege Rebmann, Sie denken an die Zeit?
Ich komme zum Schluss, mein letzter Satz. - Ich habe
in der Generaldebatte zur Entwicklungspolitik gesagt:
Eine gute Entwicklungspolitik ist genau betrachtet Friedenspolitik. - Lassen Sie uns mit den 430 Millionen
Euro eine gute Friedenspolitik machen, also eine gute
Entwicklungspolitik, die konsequent, zielgerichtet und
nachhaltig ist - für die Menschen in Afghanistan.
Herzlichen Dank.
({0})
Nächster Redner ist der Kollege Thorsten Frei, CDU/
CSU, dem ich hiermit das Wort erteile.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am
vorvergangenen Wochenende hat Bundespräsident
Joachim Gauck mit einer bemerkenswerten Rede die
Münchner Sicherheitskonferenz eröffnet. Ich glaube,
dass er sowohl in seiner Analyse der Situation als auch
in seinen Schlussfolgerungen bezüglich der Übernahme
von Verantwortung Deutschlands in der Welt richtig
liegt. Ich glaube vor allen Dingen auch, dass es wichtig
war, dass er einen öffentlichen Diskurs begonnen hat,
den wir in der Gesellschaft und auch hier im Parlament
miteinander führen müssen. Ich glaube, dass es richtig
und wichtig ist, dass wir uns mit Ziel und Richtung deutscher Außen- und Sicherheitspolitik im europäischen
Kontext damit beschäftigten, dass wir uns fragen, wie
wir uns positionieren, und dass wir im Auge behalten,
wie unsere engsten Verbündeten jahrzehntelang letztlich
für unsere gute Situierung mit Einsatz und Engagement
gekämpft haben. Jetzt geht es darum, dass Deutschland
entsprechend seiner Größe und wirtschaftlichen Stärke
die Verantwortung in der Welt, in der internationalen
Staatengemeinschaft übernimmt, die notwendig ist.
({0})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich glaube
allerdings auch, dass es wichtig ist, dass wir die richtigen
Maßstäbe setzen, dass es in der Tat - darauf haben die
Vertreter der Bundesregierung hingewiesen - darauf ankommt, einen vernetzten Ansatz zu wählen, dass es vor
allen Dingen auch auf die wirtschaftliche Entwicklung,
die Zusammenarbeit und die Diplomatie ankommt. Vor
diesem Hintergrund ist es richtig, was wir in den vergangenen zwölf Jahren in Afghanistan getan haben. Dieser
Einsatz war gut, richtig und notwendig. Ich werbe sehr
dafür, dass wir das Mandat heute ein letztes Mal verlängern, damit wir den Erfolg zu einem endgültigen Erfolg
machen können und den Weg weiter gut beschreiten
können.
({1})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, seit 2001
sind wir in Afghanistan. Mehr als 4 500 Tage haben auch
unsere Soldatinnen und Soldaten den richtigen Rahmen
für Stabilität und für Frieden gesetzt. Wir haben große
Opfer gebracht. Auch darauf hat Kollege Gysi hingewiesen. Allein der militärische Einsatz hat über 8 Milliarden
Euro gekostet. Vieles ist darüber hinaus passiert. Wir
werden uns nach 2014 im zivilen Bereich stark engagieren und dafür jährlich etwa eine halbe Milliarde Euro zur
Verfügung stellen. Es ist, wie ich glaube, wichtig, dass
wir jetzt diesen Einsatz in einem geordneten Abzug, in
einer Übergabe der Verantwortung an die afghanischen
Sicherheitsbehörden letztlich auch zu einem wirklichen
Erfolg werden lassen. Dafür müssen wir das Mandat erteilen.
Ich war neun Jahre lang Oberbürgermeister einer Garnisonsstadt. Ich weiß, was es bedeutet, wenn man Soldatinnen und Soldaten in den Krieg ziehen sieht. Ich weiß
auch, was es heißt, wenn sie nicht unversehrt oder gar
überhaupt nicht zurückkommen. 2009 beispielsweise
war das Jägerbataillon 292 aus Donaueschingen im Einsatz. Dabei ist ein Soldat im Feuergefecht gefallen. Vier
weitere Kameraden sind schwer verwundet und verletzt
worden. Natürlich wissen wir, dass 55 Bundeswehrsoldaten in diesem Einsatz gefallen sind. Die Opfer sind
groß, und deshalb möchte ich die Gelegenheit nutzen,
mich persönlich bei denen zu bedanken, die in den vergangenen zwölf Jahren auf der Grundlage der BeThorsten Frei
schlüsse dieses Hauses Verantwortung unmittelbar vor
Ort und unter schwierigsten Umständen übernommen
haben.
({2})
Verantwortung, meine sehr verehrten Damen und
Herren, heißt auch, dass wir diesen Einsatz zu einem guten Ende bringen. Aus dem Fortschrittsbericht der Bundesregierung der vergangenen Woche wird deutlich, dass
es sehr viel Licht, aber eben auch Schatten gibt. Richtig
ist, dass viele Mädchen in die Schule gehen können, dass
das afghanische Parlament zu 28 Prozent aus Frauen besteht, dass die Energie- und Wasserversorgung besser
gesichert ist, dass die Infrastruktur auf einem anderen
Niveau ist, als es vor dem Einsatz der Fall war, dass es
nach und nach gelingt, Sicherheitsverantwortung an die
afghanischen Sicherheitskräfte zu übergeben. Darüber
hinaus gibt es aber auch vieles, was jetzt wieder in Gefahr steht. Das sieht man daran, dass sich dort die Zahl
der getöteten Sicherheitsbediensteten im vergangenen
Jahr nach Übergabe der Verantwortung an die afghanischen Sicherheitsbehörden im Rahmen des Transitionsprozesses verdoppelt hat. Das kann man daran erkennen,
dass die Taliban versuchen, Stück für Stück Räume zurückzuerobern. Das kann man auch an vielen anderen
Punkten sehen, an denen dieser Auftrag eben noch nicht
zu einem guten Ende geführt wurde.
Deshalb ist es entscheidend, dass wir in diesem Jahr
im Land bleiben und damit auch einen guten Verlauf
der Präsidentschaftswahlen gewährleisten können. Ich
glaube, dass das auch ein deutliches Signal an das afghanische Volk sein kann, in der Zukunft selbst mehr Verantwortung zu übernehmen. Denn klar ist - auch das haben heute bereits mehrere Redner gesagt -, dass es am
Ende nicht das Militär allein sein kann, das die Probleme
dort löst. Es muss vor allen Dingen auch einen innerafghanischen Prozess der Versöhnung und des Miteinanders geben, damit die Voraussetzungen, die durch
die internationale Staatengemeinschaft geschaffen worden sind, am Ende zu einem guten Ergebnis für Staat und
Gesellschaft führen.
In diesem Sinne, meine sehr verehrten Damen und
Herren, glaube ich, dass es jetzt vor allen Dingen darauf
ankommt, die Erfolge der Vergangenheit zu sichern und
darauf zu achten, dass das, was aufgebaut wurde, nicht
leichtfertig wieder zerstört wird. Das ist unsere Verantwortung gegenüber denen, die für uns im Einsatz waren,
unsere Verantwortung in der internationalen Staatengemeinschaft, aber auch unsere Verantwortung gegenüber
dem afghanischen Volk.
Ich glaube, dass all das, was in der afghanischen Gesellschaft verbessert wurde, diesen Einsatz gerechtfertigt
hat und ihn in der Nachbetrachtung als Erfolg erscheinen
lässt. Deshalb ist es wichtig, heute die weitere Mandatierung für die Zeit bis zum Ende dieses Jahres zu beschließen und alles dafür zu tun, dass wir uns auch über das
Jahr 2014 hinaus in angemessener Weise in Afghanistan
engagieren können.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({3})
Herr Kollege Frei, das war Ihre erste Rede. Ich darf
Ihnen im Namen des ganzen Hauses dazu gratulieren.
({0})
Das Wort hat jetzt der Kollege Fritz Felgentreu, SPDFraktion.
({1})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich weiß
nicht, ob es Ihnen allen so ähnlich geht wie mir. Ich hatte
den Eindruck: Insbesondere die Kritik am fortgesetzten
ISAF-Einsatz wurde - weil das eben eine Debatte ist, die
schon sehr lange geführt wird - ein bisschen zu routiniert vorgetragen. Mir ist dabei ein Aspekt zu kurz gekommen, der gerade aus verteidigungspolitischer Sicht
Beachtung verdient: Der heute vorliegende Antrag der
Bundesregierung zur letztmaligen Verlängerung des
ISAF-Mandats ist doch auch ein Anlass zu verhaltener
Freude, und zwar deswegen, weil er eben eine echte Zäsur bedeutet; es ist wirklich und unwiderruflich die letzte
Verlängerung des ISAF-Mandats.
Der Auftrag, mit dem wir die Bundeswehr nach
Afghanistan entsandt haben, ist jetzt beinahe erfüllt. Die
Verantwortung für Sicherheit und Ordnung in den Einsatzgebieten liegt schon heute federführend bei den afghanischen Sicherheitskräften. Dabei werden sie allerdings immer noch von der Bundeswehr mit ihren
besonderen Fähigkeiten unterstützt.
Der Standort Kunduz, über den wir so viel geredet haben, ist schon im vergangenen Jahr an die afghanische
Armee übergeben worden. In den letzten zehn Monaten
des ISAF-Mandats werden Rückbau und Rückverlegung
im Zentrum stehen. Da frage ich mich schon, wie beispielsweise die Linke begründen kann, einem solchen
Rückbau- und Rückverlegungsmandat nicht die Zustimmung zu erteilen.
({0})
Eine Zeit großer Belastungen, ein Einsatz, in dem die
Bundeswehr und damit unser ganzes Land auch den
Schrecken des Krieges wieder kennengelernt haben,
steht vor dem Abschluss. Die SPD-Fraktion blickt anlässlich der vor uns liegenden Entscheidung mit Bewegung und Dankbarkeit auf das zurück, was die Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr und ihre Verbündeten
in Afghanistan erlebt, geleistet und auch erlitten haben.
Wir freuen uns insbesondere mit ihnen und ihren Familien darüber, dass dieser schwierigste Auftrag in der Geschichte der Bundeswehr nun zu Ende geht.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, trotzdem sind wir
uns selbstverständlich darin einig, dass wir diesem Einsatz nicht mit ungetrübter Freude zustimmen können;
denn wir erkennen natürlich auch die Gefahr - das ist
heute mehrfach angesprochen worden -, dass die
Gründe, die vor gut zwölf Jahren zu dem NATO-Einsatz
in Afghanistan geführt haben, wieder wirksam werden
könnten.
2001 haben wir erlebt, dass von einem unterentwickelten und scheinbar unendlich weit entfernten Land
wie Afghanistan eine konkrete Bedrohung für die Menschen in Amerika und in Europa ausgehen konnte. Das
deutsche Engagement in Afghanistan war deswegen immer darauf ausgerichtet, das Land auf einem Weg zu
Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und zum friedlichen
Aufbau einer Zivilgesellschaft zu begleiten; denn Wohlstand, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sind nach unserer festen Überzeugung die besten und zuverlässigsten
Garanten dafür, dass Afghanistan nicht wieder zu einem
Ursprungs- oder Rückzugsort des weltweiten Terrorismus werden kann.
({1})
Tatsächlich hat Afghanistan durch unsere Unterstützung Fortschritte gemacht. Dass die afghanischen Sicherheitskräfte nach allgemeiner Einschätzung in diesem
Jahr in der Lage sein werden, ohne Hilfe von außen die
geregelte Durchführung der Präsidentschafts- und Regionalwahlen am 5. April dieses Jahres zu gewährleisten, ist auch ein Erfolg der Berater- und Ausbildungstätigkeit der Bundeswehr.
({2})
Bei der Infrastruktur, der Bildung, den Frauenrechten
und nicht zuletzt beim durchschnittlichen Einkommen
steht Afghanistan heute ungleich besser da als zu Beginn
des Einsatzes. Besser heißt nicht gut, da sind wir uns alle
einig. Aber klar ist doch: Es hat auch Fortschritte gegeben. Diese Fortschritte sind und bleiben allerdings prekär. Sie haben vor allen Dingen keine nachhaltige wirtschaftliche Grundlage im eigenen Land, sondern sie
werden finanziell von den Gebernationen getragen.
60 Prozent der Menschen verdienen ihren Lebensunterhalt in der Landwirtschaft, deren erfolgreichster
Erwerbszweig, auf einer Anbaufläche von über
200 000 Hektar, der Anbau von Mohn ist. Allgegenwärtige Korruption stellt den Aufbau des Rechtsstaats infrage. Zwischen der Regierung und den Taliban - auch
das ist bereits angesprochen worden - herrscht immer
noch Krieg, in dem die afghanischen Sicherheitskräfte
in den ersten elf Monaten des vergangenen Jahres
4 600 Gefallene zu beklagen hatten.
Uns allen muss klar sein: Das Auslaufen des ISAFMandats am 31. Dezember 2014 entbindet uns und die
internationale Staatengemeinschaft nicht von der Verantwortung für Afghanistan. Um Rückschlägen vorzubeugen, um das Erreichte zu bewahren und um bei weiteren
Fortschritten zu helfen, werden Deutschland und die
Bundeswehr Afghanistan auch in Zukunft durch Beratung und Ausbildung unterstützen müssen. Es wird um
Hilfe zur Selbsthilfe und nicht um einen Kampfauftrag
gehen.
({3})
Die Voraussetzung dafür ist, dass die afghanische Regierung Deutschland und die NATO dazu einlädt, dass die
Sicherheit derer, die wir dort einsetzen könnten, gewährleistet ist und dass dieses Parlament seine Zustimmung
erteilt.
Zunächst aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, bitte
ich Sie, gemeinsam mit der SPD-Fraktion der von der
Bundesregierung beantragten Mandatsverlängerung zuzustimmen - und das eben mit der von mir erwähnten
verhaltenen Freude.
Vielen Dank.
({4})
Herr Kollege Felgentreu, auch Ihnen alles Gute und
die besten Glückwünsche des ganzen Hauses zu Ihrer
ersten Rede.
({0})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Elisabeth
Motschmann, CDU/CSU-Fraktion.
({1})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren!
Nichts ist gut in Afghanistan. All diese Strategien,
sie haben uns lange darüber hinweggetäuscht, dass
Soldaten nun einmal Waffen benutzen und eben
auch Zivilisten getötet werden.
Diesen Vorwurf erhob Margot Käßmann in ihrer denkwürdigen Predigt zum Neujahrstag 2010. Es ist schon
gediegen abwegig, dass man sich dahin gehend täuschen
kann, dass Soldaten Waffen benutzen.
Nichts ist gut in Afghanistan, beklagte übrigens auch
ihr Nachfolger im Amt, Nikolaus Schneider, vor drei
Wochen bei der Vorstellung einer Stellungnahme der
EKD zum Einsatz in Afghanistan. Er betonte, dass er
Käßmanns Aussage für im Wesentlichen zutreffend
halte. Ich teile diese Position nicht.
({0})
Herr Trittin, ich teile auch nicht Ihre Position, dass
diese Stellungnahme hilfreich sei. Wer hoffte, in dieser
Stellungnahme der EKD eine klare ethische Orientierung zu finden, wurde enttäuscht. Das Papier beinhaltet
die Ablehnung des Militäreinsatzes, gleichzeitig aber
auch seine Begründung unter bestimmten Bedingungen.
Das ist zu unklar.
({1})
Mit einer Doppelstrategie können wir den Einsatz unserer Soldaten nicht begründen.
({2})
Wenn wir erneut den Beschluss fassen, den Einsatz
unserer Soldaten in Afghanistan zu verlängern, müssen
wir hinter diesem Auftrag stehen, und zwar geschlossen,
und daran mangelt es so oft. Schließlich sind unsere Soldatinnen und Soldaten bereit, mit ihrem Leben für den
Schutz anderer einzustehen. Deshalb haben sie unseren
Dank verdient.
({3})
Wir sind seit nunmehr über einem Jahrzehnt an der
Mission beteiligt, in der es letztlich darum geht, die universell gültigen Menschenrechte durchzusetzen und zu
verteidigen. Wer davon ausging, dass beides konfliktfrei
oder auch zügig zu haben sei, war naiv. Afghanistan ist
seit langem Schauplatz bewaffneter Konflikte. Die Taliban, die Mitte der 90er-Jahre die Macht an sich rissen,
führten das Land und seine Menschen in eine internationale Isolation. Wer nicht vergessen hat, was damals los
war, wer die katastrophalen Verhältnisse, die katastrophalen Menschenrechtsverletzungen, insbesondere die
schlimme Situation der Mädchen und Frauen in Afghanistan nicht vergessen hat, der kann nicht so wie Sie,
Herr Gysi, über die Ergebnisse des ISAF-Einsatzes reden.
({4})
Das war schlimm.
Weil wir immer geneigt sind, über das Nichterreichte
zu reden, will ich in vier Punkten kurz sagen, was erreicht wurde:
Erstens. Die Sicherheitslage hat sich verbessert; Herr
Steinmeier hat es gesagt. Es werden keine Terroristen
mehr in Afghanistan ausgebildet, und das ist ein Erfolg.
Die Verkehrswege können von den afghanischen Kräften
selbst gesichert werden. Gleiches gilt für die Ballungsgebiete. Allerdings gibt es natürlich auch hier noch erhebliche Defizite.
Zweitens. Den Afghanen geht es deutlich besser, Herr
Gysi. Mehr Menschen als jemals zuvor haben heute Zugang zu Wasser und Strom. Das ist existenziell wichtig.
Angesichts dessen können Sie doch nicht so tun, als sei
es für die Menschen in dem Land nicht besser geworden.
Im Übrigen enthält die neue afghanische Verfassung einen umfassenden Grundrechtskatalog, und sie sieht eine
unabhängige Menschenrechtskommission vor. Darüber
hinaus haben die Afghanen die meisten völkerrechtlichen Verträge ratifiziert. Daran kann man jetzt anknüpfen. Darauf kann man aufbauen, auch wenn es an der
Umsetzung natürlich noch mangelt.
Drittens - das ist mir besonders wichtig - gibt es
wirklich Fortschritte für Frauen und Mädchen in diesem
Land: Die Lebenserwartung ist deutlich gestiegen. Die
Säuglings- und Müttersterblichkeit konnte signifikant reduziert werden. Der Anteil der Mütter, die bei der Geburt medizinische Hilfe erhalten, hat sich von 2003 bis
2011 versechsfacht. Die meisten afghanischen Kinder
konnten mittlerweile gegen die gefährlichsten Krankheitserreger geimpft werden. Gut 9 Millionen Kinder
- das ist hier wiederholt gesagt worden - gehen mittlerweile zur Schule. Davon sind fast 40 Prozent Mädchen.
Zum Vergleich: Unter den Taliban besuchten weniger als
eine halbe Million Kinder die Schule. Mädchen konnten,
wenn überhaupt, nur im Verborgenen lernen. Heute studieren Frauen in Afghanistan. Sie stellen sich zur Wahl.
Das ist doch ein Erfolg, und das dürfen wir nicht kleinreden.
({5})
Die Rechtslage der Frauen hat sich seit dem Ende des
Talibanregimes deutlich gebessert, wenngleich wir natürlich wissen - ich bin nicht naiv -, dass die gewaltsame Bedrohung von Frauen noch ein ganz ernstes Problem ist.
Viertens. Deutliche Fortschritte - auch das ist schon
erwähnt worden - gibt es auch beim Wiederaufbau und
bei der wirtschaftlichen Entwicklung. Die staatlichen
Einnahmen haben sich seit 2002 mehr als verzehnfacht,
und das jährliche Pro-Kopf-Einkommen erhöht sich Jahr
für Jahr beträchtlich.
Man kann also durchaus den Blick auf die Dinge richten, die viel besser geworden sind. Aus all diesen Gründen können wir mit gutem Gewissen der Fortsetzung des
Mandats bis Ende des Jahres zustimmen. Allerdings
braucht Afghanistan - das ist ebenfalls gesagt worden auch in Zukunft unsere Unterstützung. Wenn unsere Soldaten Ende des Jahres das Land verlassen, dürfen sich
die Menschen in Afghanistan bitte nicht verlassen fühlen. Hilfe und Unterstützung - dann in anderer Form zu geben, bleibt unsere Aufgabe. Daher ist die Perspektive einer friedenssichernden Anschlussmission an das
ISAF-Mandat ab 2015 - dies wurde schon angesprochen - besonders wichtig; sie muss allerdings natürlich
auch auf Voraussetzungen basieren, die noch geschaffen
werden müssen.
Fazit. Die Lebenssituation in Afghanistan war vor
dem ISAF-Einsatz hoffnungslos. Heute haben viele
Menschen zumindest wieder eine Perspektive. Ich sage
ganz deutlich - auch Ihnen, Herr Gysi -: Jedes Kind, das
heute zur Schule geht, bedeutet Zukunft und Fortschritt.
Jedes Mädchen, jede Frau, die von den Bildungsangeboten profitiert, bedeutet Zukunft. Sie haben das alles
negiert und niedergemacht. Das kann nicht sein. Jeder
wirtschaftliche und gesundheitspolitische Fortschritt bedeutet Zukunft, jeder noch so kleine Meilenstein zur
Verwirklichung der Menschenrechte bedeutet Zukunft Zukunft für Afghanistan.
Deshalb danke ich abschließend allen, den Soldaten,
den Polizistinnen und Polizisten sowie den vielen Einsatzhelfern in den Hilfsorganisationen, für ihr Engagement, für ihre Hilfe für die Menschen in Afghanistan.
Das muss uns immer am meisten interessieren.
Vielen Dank.
({6})
Vielen Dank. - Frau Kollegin Motschmann, auch Ihnen darf ich ganz herzlich im Namen des Hauses gratulieren. Denn es war auch Ihre erste Rede.
({0})
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Reinhard Brandl,
CDU/CSU-Fraktion.
({1})
Vielen Dank. - Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Debatte heute und die Verabschiedung des Mandats nächste Woche markieren eine
Zäsur. Nach zwölf Jahren ist es das letzte Mal, dass wir
den ISAF-Einsatz mandatieren. Generationen von Abgeordneten haben sich damit befasst. Viele haben mit sich
gerungen, auch ich als junger Abgeordneter in den ersten
Jahren. Heute haben drei Abgeordnete ihre erste Rede zu
diesem Thema gehalten.
Einige Vorredner, insbesondere Herr Trittin und Herr
Gysi, haben die Gelegenheit genutzt, um bereits eine Bilanz des Einsatzes zu ziehen. Ich persönlich finde das
schwierig. Ich möchte Ihnen drei Gründe dafür nennen.
Erstens. Ob der Einsatz gescheitert oder letztlich doch
erfolgreich gewesen ist, wird sich erst nach einer gewissen Zeit, einige Jahre nach der Übergabe der Verantwortung an die Afghanen zeigen. Wir müssen dann sehen,
wie sie mit der Sicherheitslage, mit der Entwicklungslage in ihrem Land zurechtkommen. Das können wir
heute nicht beurteilen. Wir können heute nur die Ausgangschancen beurteilen. Wir würden uns wünschen
- das gestehe ich zu -, dass sie besser wären.
Zweitens. Wir wissen auch nicht, wie sich das Land
ohne den ISAF-Einsatz entwickelt hätte.
({0})
Alle Überlegungen dazu sind sehr hypothetisch. Denn
zur Wahrheit gehört auch - das hat Herr Trittin angesprochen -, dass die USA und die UN nach dem 11. September gar keine andere Möglichkeit hatten, als gegen
das Land und gegen die Taliban vorzugehen.
Zur Wahrheit gehört auch, dass sich Deutschland,
wenn wir uns damals nicht beteiligt hätten, außen- und
bündnispolitisch total ins Abseits gestellt hätte. Deutschland hätte dann im weiteren Verlauf, bei den Afghanistan-Konferenzen, überhaupt keine Rolle mehr gespielt.
({1})
Wir hätten im Bundestag große Reden halten können
- die Linken sind ja ganz groß darin -, was denn alles
falsch ist und was man hätte anders machen können;
({2})
aber faktischen Einfluss auf den Einsatz und auf die Entwicklung des Mandats hätten wir nicht gehabt.
({3})
Wer Einfluss möchte, muss auch Verantwortung übernehmen.
({4})
Mit der ersten Entscheidung, verehrte Kolleginnen und
Kollegen, die unsere Vorgänger einige Legislaturperioden vor uns 2001 getroffen haben, hat Deutschland Verantwortung übernommen. Zu dieser Verantwortung stehen wir bis heute.
({5})
Natürlich hätten wir uns alle einen anderen Verlauf
gewünscht; aber das ist ja gerade das Problem bei bewaffneten Auseinandersetzungen, dass man die Dynamik nie hundertprozentig vorhersehen oder gar hundertprozentig steuern kann. Herr Koenigs hat in seiner Rede
angedeutet, dass der ISAF-Einsatz von der Bevölkerung
anfangs positiv gesehen wurde, was sich allerdings nach
und nach verschlechtert hat.
Ich will noch einen dritten Punkt nennen, warum ich
glaube, dass es zu früh ist, um Bilanz zu ziehen - auf
diesen Punkt wurde heute noch gar nicht eingegangen -:
Afghanistan steht unmittelbar vor einer großen Bewährungsprobe. Das ist die Wahl am 5. April. Deutschland
hat sich bei der Vorbereitung dieser Wahl massiv eingebracht: bei der Verabschiedung der notwendigen Wahlgesetze und beim Aufbau eines Wählerverzeichnisses
sowohl für Kabul als auch für die Regionen. Vor 2004
gab es überhaupt keine Möglichkeit für Wahlen, weil
keine verlässlichen Daten über die Bevölkerung vorlagen.
Seit 2004 haben die Afghanen Stück für Stück die
Verantwortung für die Durchführung von Wahlen übernommen. Im April haben sie zumindest die Chance, sich
selbst eine demokratisch legitimierte Führung zu wählen. Wenn es ihnen gelingt, eine transparente und glaubhafte Wahl zu organisieren, deren Ergebnis sowohl von
den Siegern als auch von den Verlierern respektiert wird,
dann wäre das für das Land ein Riesenerfolg, dann fände
in Afghanistan zum ersten Mal ein friedlicher, demokratischer Machtübergang statt. Der internationalen Gemeinschaft stünde dann ein demokratisch legitimierter
Ansprechpartner zur Verfügung, mit dem man konstruktiv über die Zukunft des Landes sprechen könnte. Von
dem jetzigen Präsidenten Karzai - das wurde mehrmals
angesprochen - können wir in dieser Richtung leider
nichts mehr erwarten.
Scheitern die Wahlen, drohen neue Auseinandersetzungen und politische Instabilität, die vieles, was das
Land in den vergangenen Jahren - auch mit unserer Unterstützung - erreicht hat, wieder zunichtemachen könnten.
Ob die Wahlen erfolgreich sein werden, hängt wesentlich davon ab, ob die Afghanen am 5. April sicher
zur Wahl gehen können. Das wird eine Bewährungsprobe für die afghanischen Sicherheitskräfte, die von unseren Soldaten und Polizisten in den vergangenen Jahren
ausgebildet wurden. Die Bundeswehr hilft bei der VorDr. Reinhard Brandl
bereitung der Wahl, sie berät und unterstützt; Durchführung und Sicherung der Wahl liegen aber bei den Afghanen selbst. Ich habe dieses Beispiel auch deshalb
gewählt, weil es zeigt, wie zivile Unterstützung und die
Gewährleistung der Sicherheit ineinandergreifen müssen
und dass das eine ohne das andere nicht funktioniert.
In Zukunft - auch das ist mehrmals angesprochen
worden - werden zivile Hilfe und Entwicklungszusammenarbeit bei unserem Afghanistan-Engagement deutlich mehr in den Vordergrund treten. Das wurde heute
schon daran deutlich, dass der Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Dr. Gerd
Müller, zu diesem Punkt gesprochen hat. Seit ich 2009 in
den Bundestag gewählt worden bin, hat noch nicht ein
Minister aus diesem Ressort zur Verlängerung des ISAFEinsatzes gesprochen.
({6})
- Die Gründe seien dahingestellt. - Dass ein Entwicklungshilfeminister gesprochen hat, ist wichtig; denn das
Bild des deutschen Afghanistan-Engagements ist zumindest in der öffentlichen Wahrnehmung in Richtung Militär verzerrt worden. Wenn Sie heute auf der Straße die
Bevölkerung fragen, was Deutschland in Afghanistan
macht, dann denken wahrscheinlich die Allermeisten
vorrangig an den Einsatz unserer Soldaten. Das ist nachvollziehbar. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass wir in
Afghanistan jedes Jahr 430 Millionen Euro für zivile
Hilfe und Unterstützung investieren. Das ist mehr, als jedes andere Land von uns erhält. Wir sind der drittgrößte
Geber in Afghanistan nach den USA und Japan.
Das Geld ist an Bedingungen geknüpft; Minister
Müller hat es angesprochen. Die Bedingungen sind Korruptionsbekämpfung, Transparenz öffentlicher Einnahmen und Ausgaben und die Schaffung eines inklusiven
Wahlrechts. Daran sehen Sie, wie vernetzt der Ansatz ist
und wie alles zusammenwirkt.
Wir stehen langfristig zu dieser Unterstützung, gerade
im zivilen Bereich. Es wurden Vereinbarungen geschlossen, diese Hilfen auch zukünftig zu gewähren. Wir stehen langfristig zu unserer Verantwortung in Afghanistan,
auch wenn der militärische Anteil langsam reduziert
wird. Das Land und die Menschen werden uns hier noch
lange beschäftigen.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({7})
Vielen Dank. - Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 18/436 und 18/466 an die in der Tages-
ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind
Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Damit sind
die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 a und 5 b sowie
den Zusatzpunkt 3 auf:
5 a) Erste Beratung des von den Fraktionen
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und DIE
LINKE eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Sicherung der Oppositionsrechte
in der 18. Wahlperiode des Deutschen
Bundestages
Drucksache 18/380
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung ({0})
Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
b) Beratung des Antrags der Fraktionen BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und DIE LINKE
Änderung der Geschäftsordnung des
Deutschen Bundestages zwecks Sicherung
der Minderheitenrechte der Opposition im
18. Deutschen Bundestag
Drucksache 18/379
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung ({1})
Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union
ZP 3 Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
CSU und SPD
Änderung der Geschäftsordnung zur besonderen Anwendung der Minderheitenrechte in
der 18. Wahlperiode
Drucksache 18/481
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 60 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Damit ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Petra Sitte, Fraktion Die Linke.
({2})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die
Wahlentscheidung der Wählerinnen und Wähler vom
vergangenen September hat ja nun einiges durcheinandergewirbelt. Der Union ist der Koalitionsliebling abhandengekommen. Die FDP ist jetzt so frei, wie es ihr
Name auch tatsächlich verspricht. Von allen möglichen
Koalitionsvarianten musste es dann offensichtlich eine
riesige Zweckgemeinschaft von Union und Sozialdemokraten werden.
({0})
Die Opposition dagegen muss nunmehr mit weniger
Abgeordneten deutlich mehr leisten.
({1})
Ehrlich gesagt hatte ich mir die Steigerung politischer
Effizienz immer anders vorgestellt, aber daran arbeiten
wir.
({2})
Alle gemeinsam stehen wir jetzt vor dem Problem,
dass die Bürgerinnen und Bürger nicht nur das Recht auf
gutes Regieren, sondern eben auch das Recht auf gutes
Opponieren haben. Genau dafür müssen wir hier die Voraussetzungen schaffen.
({3})
Union und SPD als regierungstragende Fraktionen
haben mit einer Zweidrittelmehrheit quantitativ beste
Voraussetzungen, ihre politischen Projekte durchzusetzen. Die Oppositionsfraktionen dagegen bringen beste
qualitative Voraussetzungen mit,
({4})
um entsprechend dem Verfassungsauftrag die Regierung
zu kontrollieren und alternative Lösungsvorschläge zu
unterbreiten. Was uns nun wieder fehlt, ist Quantität;
aber davon sprachen wir bereits.
Um nun unsere klugen Inhalte wirkungsvoll einbringen zu können, benötigen wir auch umfassend die
Rechte einer parlamentarischen Opposition. Diese
Rechte - das wissen wir alle - sind nun einmal an Quoren gebunden. Wir müssen zur Ausübung dieser Rechte
mal über ein Drittel der Abgeordneten des Bundestages
verführen ({5})
- ich meine natürlich, verfügen -, mal über ein Viertel.
Aktuell besteht die Opposition aber nur aus einem Fünftel der Abgeordneten. Das ist allemal ein verfassungsrechtlich bedenklicher Zustand.
Grundbaustein der parlamentarischen Demokratie ist
aber auch die Opposition. Das Bundesverfassungsgericht beispielsweise hat in seiner Rechtsprechung der
Opposition immer eine herausgehobene Stellung zugedacht; man spricht unter Juristen von einer Chancengleichheit zwischen den die Opposition und die Regierung tragenden Fraktionen.
({6})
Aktuell kann sich die Opposition aber nicht chancengleich am Willensbildungsprozess des Parlaments beteiligen. Welche Rechte können wir derzeit nicht nutzen?
Das sind beispielsweise die Einberufung des Bundestages, die Einsetzung von Enquete-Kommissionen und
Untersuchungsausschüssen und die Durchführung von
öffentlichen Anhörungen. Schließlich können wir keine
Normenkontrollklage erheben. Nur zur Erklärung für
jene, die keine Juristen sind: Eine Normenkontrollklage
dient dazu, dass das Bundesverfassungsgericht Gesetze
auf ihre Verfassungsmäßigkeit überprüft, dahin gehend
also, ob sie verfassungsrechtlich unbedenklich sind.
Grundsätzlich sind wir uns hier in vielem einig. Das
zeigen sowohl der vom Bundestagspräsidenten vorgelegte Lösungsvorschlag als auch der Lösungsvorschlag
vonseiten der Koalition. Wie wir aber die Minderheitenrechte so regeln, dass sie sozusagen verlässlich ausgeübt
werden können, darüber gehen unsere Meinungen noch
auseinander.
Meine Damen und Herren, ein Teil der Oppositionsrechte wird in der Geschäftsordnung des Bundestages
geregelt. Okay, diese betrifft ausschließlich uns selbst,
also das Parlament. Wir brauchen also nur die Geschäftsordnung zu ändern, wie auch von der Koalition vorgeschlagen. Das ist unkompliziert. Da sind Sie uns ein
Stück entgegengekommen.
Ein anderer Teil der Oppositionsrechte findet sich
aber in verschiedenen Gesetzen. Davon sind nicht nur
die Abgeordneten betroffen, sondern auch andere Institutionen und Menschen, also Dritte. Deshalb müssen die
Minderheitenrechte auch direkt in den jeweiligen Gesetzen angepasst werden und dürfen nicht, wie es die Koalition will, nur im Rahmen eines Antrages bzw. innerhalb
der Geschäftsordnung festgelegt werden. Wir sind der
Bundestag. Wir sind Gesetzgebungsorgan. Wer hindert
uns daran, diese Gesetze zu ändern? Das verstehe ich,
ehrlich gesagt, gar nicht.
({7})
Nehmen wir als Beispiel das Untersuchungsausschussgesetz. Darin werden der Opposition unter anderem Rechte auf öffentliche Zeugenbefragungen zugedacht, aber eben nur, wenn dem ein Viertel der
Ausschussmitglieder zustimmt. Hier brauchen wir dringend und schnell eine Lösung; denn aktuell liegen Anträge zur Einsetzung des NSA-Untersuchungsausschusses vor. Wir müssen also auch hier dafür sorgen, dass die
Oppositionsrechte geklärt werden, insbesondere hinsichtlich Redezeiten und Zeugenanhörungen. Wenn wir
das nicht klären, droht die Situation, dass dieser Ausschuss bestimmte Fragen nicht aufklären kann und so
seiner Kontrollverantwortung nicht gerecht wird.
Meine Damen und Herren, um Vorbehalte abzubauen
und den Kolleginnen und Kollegen von Union und SPD
die Zustimmung vielleicht doch zu erleichtern, haben
wir gemeinsam mit den Grünen einen Kompromiss vorgeschlagen. Der Kompromiss besteht darin, dass wir
vorschlagen, dass zwei Fraktionen, die die Regierung
nicht tragen, gemeinsam - wohlgemerkt: gemeinsam Dr. Petra Sitte
ihre Minderheitenrechte geltend machen können. Das
heißt, wir müssen uns immer einigen. Diese Regelung
soll sowohl in der Geschäftsordnung als auch in den einzelnen Gesetzen nur für diese Legislaturperiode gelten.
Um uns als Opposition aber nicht widerstandslos Ihrer
Zweidrittelmehrheit auszusetzen - das liegt wohl auf der
Hand -, schlagen wir zugleich ein Widerspruchsrecht für
die Opposition vor; wir wollen es sozusagen GroKo-fest
machen.
Ich glaube, es ist an dieser Stelle durchaus angebracht, an die erste Rede des Bundestagspräsidenten in
dieser Legislaturperiode in diesem Haus zu erinnern. Ich
zitiere aus dieser Rede:
Die Kultur einer parlamentarischen Demokratie
kommt weniger darin zum Ausdruck, dass am Ende
Mehrheiten entscheiden, sondern darin, dass Minderheiten eigene Rechtsansprüche haben, die weder
der Billigung noch der Genehmigung durch die jeweilige Mehrheit unterliegen.
Der Präsident hat es schöner vorgetragen. Ich finde, das
ist sehr treffend gesagt.
({8})
In diesen Zusammenhang stellen Sie bitte unseren Vorschlag zum Widerspruchsrecht.
Schließlich will ich etwas zur härtesten Nuss dieses
Problemkreises sagen, nämlich zur Normenkontrollklage. Laut Grundgesetz wird dafür derzeit ja ein Viertel
der Mitglieder des Bundestages benötigt. Nun sind sich
die Juristen im Hinblick auf eine Anpassung nicht einig,
was ja nicht ganz selten passiert. Auf der einen Seite
sagen sie, man müsse das Grundgesetz ändern; auf der
anderen Seite sagen einige Verfassungsjuristen aber
auch, das müsse man nicht, man könne das Bundesverfassungsgerichtsgesetz ändern. Ich will den Dissens an
dieser Stelle gar nicht weiter erklären und vertiefen; das
alles können wir im Geschäftsordnungsausschuss diskutieren. Wir als Oppositionsfraktion haben uns in unserem
Kompromissvorschlag aber zunächst der Position angeschlossen, dass es reicht, das Bundesverfassungsgerichtsgesetz zu ändern.
Die Überprüfung von Gesetzen auf ihre Verfassungsmäßigkeit durch das Bundesverfassungsgericht bezeichnen manche Verfassungsjuristen als das Königsrecht der
Opposition. Gelingt es uns jetzt nicht, dieses Instrument
des Minderheitenschutzes zu gewährleisten, dann besteht das Problem, dass eine ganze Reihe von Gesetzen,
die wir hier verabschieden, der Kontrolle durch das Bundesverfassungsgericht definitiv entzogen ist, und zwar
deshalb, weil die Mitglieder der regierungstragenden
Fraktionen wohl kaum als Nächstes beim Bundesverfassungsgericht eine Normenkontrollklage einreichen,
wenn sie denn dann schon einmal ein Gesetz voller
Überzeugung verabschiedet haben.
({9})
Das Gleiche gilt im übertragenen Sinne natürlich auch
für die Landesregierungen, weil an allen Landesregierungen jeweils ein Partner dieser Großen Koalition beteiligt ist.
Fazit: Der Bundestag, seine Fraktionen und durchaus
auch die Mutterparteien haben den Willen der Wählerinnen und Wähler so umzusetzen, dass das Grundgesetz in
seinem Kern an dieser Stelle nicht ausgehöhlt wird. Wir
haben das Wirken des Bundestages demokratisch und
verfassungsrechtlich auf unbedenklichem Wege zu sichern. Lassen Sie uns also bitte in diesem Sinne eine Lösung diskutieren und auch kooperativ eine Lösung finden!
Danke schön.
({10})
Vielen Dank. - Es spricht jetzt der Kollege Michael
Grosse-Brömer, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Frau Dr. Sitte, weil Sie gerade den Bundestagspräsidenten zitiert haben: Ich habe auch noch einen
guten Satz aus seiner ersten Rede in dieser Legislaturperiode in Erinnerung. Der Bundestagspräsident hat seinerzeit sinngemäß gesagt: Eine Wahl zu gewinnen, ist nicht
per se verfassungswidrig.
({0})
Wir sind nach wie vor nicht bereit, uns dafür zu entschuldigen, dass uns die Wähler einen gewissen Zuspruch haben zuteilwerden lassen, der bei Ihnen nicht
ansatzweise so groß war.
({1})
Auch das gehört im Übrigen ins Parlament: Eine Mehrheitsentscheidung muss im Parlament hörbar und umsetzbar sein, genauso wie natürlich Minderheitenrechte
zu beachten sind.
Wir als Union haben immer gesagt: Wir wollen - weil
dies natürlich zu einer funktionierenden Demokratie gehört - auch eine hörbare und sichtbare Opposition. Wenn
Sie genau nachdenken - sowohl die Grünen als auch die
Linken -, dann werden Sie im Zweifel zu dem Schluss
kommen, dass die Union immer bereit war, mit Ihnen
darüber zu diskutieren, was erforderlich ist und was wir
tun können, damit die Opposition hörbar und sichtbar ist.
Wir widersprechen nur, wenn zwischendurch der Eindruck vermittelt wird, Sie hätten gar keine Rechte und
Schuld seien im Zweifel auch noch die Großkoalitionäre. Der Wähler hat bei der Wahl ein eindeutiges Wort
gesprochen. Mit den Grünen haben wir gute Sondie1020
rungsgespräche geführt. Die wollten nicht mit uns regieren. Jetzt sind sie in der Opposition und müssen damit
klarkommen. Das darf man auch nicht vergessen.
Es gehören also mehrere Aspekte zu dieser Debatte.
Deswegen würde ich an Ihrer Stelle meine Argumentation selbstreflektierend noch einmal überdenken.
Ich möchte auch darauf hinweisen, dass in keinem anderen Land in Europa die Rechte der parlamentarischen
Minderheit so gut ausgebaut sind wie in Deutschland;
auch das sollte man einmal sagen. Wir haben ein tolles
Grundgesetz,
({2})
in dem natürlich Wert darauf gelegt wird, dass Parlamentarismus und Demokratie eine große Rolle spielen und
Opposition gewährleistet ist. Die Kontrolle erfolgt natürlich durch das Parlament. Im Übrigen gehören dazu
nicht nur die Oppositionsfraktionen, sondern auch die
Regierungsfraktionen; das sollte man nicht vergessen.
Auch wir kontrollieren die Regierung.
({3})
Ich will jetzt nicht sagen, dass wir das zurzeit unter
Umständen sogar effizienter tun als Sie, aber auch das
gehört nun einmal zur Gesamtschau.
({4})
Wir verstehen uns doch alle als Parlamentarier. Wenn
die Regierung etwas Falsches tut, dann sagen wir das im
Zweifel auch, frei nach dem alten Gesetz: Selten geht ein
Gesetzentwurf so aus dem Parlament heraus, wie er hereingekommen ist. Daran sind häufig die Fraktionen beteiligt, die die Mehrheit haben.
Ich will nur einmal daran erinnern, dass sich Minderheitenrechte nicht nur auf die Opposition beschränken.
Jeder Abgeordnete hat ein Minderheitenrecht. Jeder
Abgeordnete hat Informations- und Mitwirkungsrechte.
Jede einzelne Fraktion hat Initiativrechte und kann
Aktuelle Stunden beantragen. Wir sind hier doch auf einem guten Weg.
Wir als Große Koalition - das sage ich jedenfalls für
unseren Teil, für die Union - wollen ein lebendiges Parlament. Wir haben im Hinblick auf die Redezeiten eine
Vereinbarung von über 30 Prozent zu Ihren Gunsten getroffen, obwohl sie gemäß Ihrem Wahlergebnis eigentlich nur einen Anteil von 20 Prozent hätten. Da ist schon
ein klares Entgegenkommen zu erkennen.
Dass Sie jetzt sagen, das alles reiche nicht, kann ich
verstehen. Man versucht ja, in Verhandlungen immer so
viel wie möglich herauszuschlagen. Aber Sie haben im
Zweifel Verständnis dafür, dass wir über den Weg der
Minderheitenrechte nicht Ihre schlechten Wahlergebnisse korrigieren können. Da bitte ich um Nachsicht; das
kann nicht unser Job sein. Wir müssen vielmehr eine effiziente Opposition garantieren; das ist unser aller Anliegen. Wir haben das in jeder Debatte deutlich gemacht,
wo auch immer das zur Diskussion stand, auch im Ältestenrat.
Was wir auch zu berücksichtigen haben, ist der verständliche Wunsch nach mehr Redezeit. Ihr Wunsch ist
natürlich, dass Sie deutlich mehr Redezeit bekommen,
als Ihnen vielleicht zusteht. Da sind wir schon auf einem
guten Weg. Auf der anderen Seite ist ein Grundsatz des
Verfassungsrechtes - Sie haben gerade die verfassungsrechtliche Lage beschrieben -, dass jeder einzelne Kollege der Union dieselben Rechte hat wie ein Kollege
oder eine Kollegin von den Linken.
Infolgedessen dürfen wir keine Regelungen treffen,
die Sie bevorzugen und andere Kollegen benachteiligen.
Es kann allenfalls darum gehen, dass Sie bessergestellt
werden, dass wir Ihnen also mehr zugestehen, als Ihnen
eigentlich zusteht. Aber ich bin nicht bereit, wie es zwischendurch von den Grünen gefordert wurde, zu sagen:
Es reicht nicht, die Opposition besserzustellen, sondern
die Regierungsfraktionen müssen auch schlechtergestellt
werden. - Da machen wir nicht mit. Es ist ganz klar darauf hinzuweisen, dass dadurch große verfassungsrechtliche Probleme entstehen würden.
Ich empfehle Ihnen, ein bisschen von der Mitleidsnummer herunterzukommen. Dies sieht auch die ansonsten für sie wohlmeinende Presse so. Ich habe in der
Süddeutschen Zeitung gelesen - ich zitiere -: Die Opposition
… setzt auf das Mitleid der Öffentlichkeit. … Larmoyanz aber ist keine parlamentarische Tugend. …
In den Zeiten der Großen Koalition von 1966 bis
1969 war die Opposition noch viel kleiner, sie war
nur halb so groß, sie bestand nur aus der FDP.
({5})
Die zeigte aber damals, dass klein nicht mickrig bedeuten muss … sie schaffte es deswegen, weil sie
die Zeit nutzte, sich zu erneuern …
({6})
Vielleicht hat die Süddeutsche Zeitung in dieser Hinsicht
auch ein paar Anregungen für Sie. Ich möchte mich da
gar nicht einmischen.
({7})
- Die FDP ist aus ihrer Zeit in der Opposition, soweit ich
das in Erinnerung habe, gestärkt hervorgegangen.
({8})
Ich glaube, die heutige Zeit der FDP hat mit der damaligen Zeit von 1969 nicht so viel zu tun.
Ich will noch einmal deutlich machen: Wir haben uns
natürlich bei der Umsetzung sehr viel Mühe gegeben
und sind den Wünschen der Opposition entgegengekomMichael Grosse-Brömer
men. Wir haben uns gefragt: Wer kann es neutraler, besser und rechtlich fundierter als der Bundestagspräsident
machen? Damit meine ich auch das Präsidium, Frau
Roth; gar keine Frage. Im Präsidium haben wir die kompetenten Leute sitzen. Das Präsidium hat uns einen guten
und ausgewogenen Vorschlag vorgelegt. Es hat vorgeschlagen: Das machen wir mit einem Beschluss. Das ist
rechtlich einwandfrei. - Das sagen nicht wir, sondern
das sagt das Bundestagspräsidium. Also wollten wir das
so machen.
Die Opposition hat aber gesagt: Nein, das ist uns nicht
weitgehend genug. Daraufhin haben wir gefragt: Wie
hättet ihr es denn gerne? Die Antwort war: Wir möchten
gerne, dass diese Neuregelungen in die Geschäftsordnung aufgenommen werden. Dazu haben wir gesagt:
Okay, auch da kommen wir euch entgegen.
({9})
Wir verstehen das. Nehmen wir diese Regelungen in die
Geschäftsordnung auf, damit Ihr etwas weiter gehender
Wunsch, der über das, was vom Bundestagspräsidenten
und vom Präsidium vorgesehen war, erfüllt wird.
({10})
Sie sehen, wir sind bemüht, Ihnen, soweit es geht und
unter Berücksichtigung der verfassungsrechtlichen Ansprüche der anderen Kolleginnen und Kollegen, entgegenzukommen. Das wird natürlich so weitergehen.
Ich möchte noch auf Ihren Wunsch nach einer Änderung beim Recht auf Normenkontrollklage eingehen,
Frau Dr. Sitte. Die Normenkontrollklage ist kein Minderheitenrecht; daran führt kein Weg vorbei, auch wenn
Sie dreimal darauf hinweisen. Ich brauche dazu auch gar
nicht unsere eigenen Fachleute zu zitieren, sondern ich
berufe mich auf die der Grünen. Sie haben dazu eine eigene Veranstaltung durchgeführt
({11})
und Frau Professorin Cancik eingeladen. Sie hat festgestellt:
Die Normenkontrolle beim Bundesverfassungsgericht gehört nicht zum Kernbestand einer wirkungsvollen Opposition.
Ich hoffe, Sie haben sich das genauso gemerkt wie
ich. Infolgedessen nehmen Sie bitte Abstand von der
Forderung nach einer Änderung des Quorums bei der
Normenkontrollklage. Sie ist nämlich kein Minderheitenrecht. Sie wird im Zweifel auch durchgeführt. Überzeugen Sie doch nur ein paar Kolleginnen und Kollegen
von uns, wenn Sie meinen, Sie hätten irgendwo einen
Einspruch.
({12})
Im Zweifel, wenn er berechtigt ist, sind wir doch immer
dabei.
Also, wir werden die Geschäftsordnung ändern, wir
kommen Ihnen entgegen. Wir haben eigentlich bei allen
Punkten, etwa beim Untersuchungsausschuss, schon unter Beweis gestellt: Wir stehen Ihnen nicht im Wege.
Ganz im Gegenteil: Wir helfen Ihnen, wo wir können.
Sie sind trotzdem unzufrieden. Das macht auch mich ein
bisschen unzufrieden. Ich hoffe, das wird insgesamt ein
Stück weit besser.
Wir beachten künftig den Gleichheitsgrundsatz. Da,
wo es sinnvoll und notwendig erscheint und Sie vielleicht nicht laut genug und sichtbar genug sind, müssen
wir weiter diskutieren. Wir haben einen exzellenten Vorschlag in Ergänzung des Ihrigen vorgelegt. Ich glaube,
wir haben damit eine gute Diskussionsgrundlage. Es ist
auf der einen Seite sehr wichtig, dass sich nach Wahlen
die Mehrheit der Stimmen im Parlament deutlich artikuliert, damit man weiß: Wer hat diese Wahlen gewonnen?
Wer hat die Mehrheit? Wer setzt was durch? Das ist eigentlich der Kernbegriff der Demokratie. Dazu, dass Sie
uns kritisieren und dass wir die Meinungen austauschen
müssen, müssen auf der anderen Seite auch Sie deutlich
vernehmbar sein.
({13})
Ich habe das Gefühl, das ist bei Ihnen der Fall, wie auch
die heutige Debatte im Zweifel zeigen wird.
Ich möchte mit Ihnen nicht ständig Debatten über
Verfahrensfragen führen.
({14})
Das ist irgendwie destruktiv. Wir sind bereit, Ihnen entgegenzukommen. Das haben Sie, glaube ich, in mehrfacher Hinsicht gespürt. Ich habe einige Beispiele genannt.
Die Bereitschaft besteht weiterhin. Wir haben jetzt ein
gutes Angebot dafür vorgelegt, dass Sie sich nicht mehr
über Verfahrensfragen Gedanken machen müssen, sondern sich mit Sachfragen befassen können. Denn dafür
ist das Parlament im eigentlichen Sinne da.
Lassen Sie uns über die richtige Politik streiten statt
darüber, ob Sie jetzt noch zwei Minuten Redezeit mehr
oder weniger haben. Ich freue mich auf die sachliche
Auseinandersetzung mit Ihnen, und ich freue mich,
wenn wir in der Lage sind, endlich diese Debatten über
Verfahrensfragen zu beenden.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({15})
Vielen Dank. - Es spricht jetzt die Kollegin Britta
Haßelmann, Bündnis 90/Die Grünen.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Meine Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter
Herr Kollege Grosse-Brömer, es geht nicht um ein paar
Verfahrensfragen, und es geht auch nicht um Larmoyanz
und Weinerlichkeit.
({0})
Es geht um die Verankerung von Oppositionsrechten und
Rechten der Minderheit. Wir sind in der besonderen Situation - die hoffentlich mit der nächsten Wahl im Jahr
2017 nicht wieder eintritt -,
({1})
dass wir ein Verhältnis von 80 zu 20 Prozent im Parlament haben. Minderheitenrechte rechtssicher zu verankern, ist nicht irgendeine Petitesse oder eine Verfahrensfrage, sondern ein ganz wichtiges Grundelement des
lebendigen Parlamentarismus.
({2})
Die Frage der Redezeit ist auch nicht irgendein
Thema. Natürlich kann man als Vertreter der Großen
Koalition sagen: Ob zwei Minuten mehr oder weniger,
darauf kommt es nicht an. Klar, das kann ich auch sagen,
wenn ich in so einer Fraktionsstärke vertreten bin wie
Sie oder die SPD.
({3})
Aber für eine Fraktion, die vielleicht vier oder sechs Minuten Redezeit hat, sind zwei Minuten ganz entscheidend.
Für Sie und für uns insgesamt als Parlament sind der
Austausch von Argumenten, Konzepten, Ideen und Kritik sowie die Bewertung von Gesetzentwürfen ganz entscheidend. Deshalb braucht jedes lebendige Parlament
auch im Interesse der Regierung, seien die Regierungsfraktionen noch so groß, das Prinzip von Rede und Gegenrede.
({4})
Ich verstehe nicht, warum Sie das nicht verstehen.
({5})
In ganz vielen Landtagen - kommen Sie mir jetzt
nicht wieder mit der Verfassung! - wird das Prinzip
„Rede und Gegenrede“ unabhängig von der Stärke der
Fraktionen gepflegt,
({6})
und zwar nicht nur in rot-grünen Landtagen. Im Land
Hessen zum Beispiel - es war bis vor kurzem schwarzgelb regiert, jetzt ist das Gott sei Dank nicht mehr der
Fall - gibt es seit Jahren das Prinzip von Rede und Gegenrede im Landtag. Jede Fraktion hat die gleiche Redezeit. Das Land fährt damit verdammt gut, weil das Parlament lebendige Debatten führt.
Wir haben an keiner Stelle die Mehrheitsverhältnisse
und die Spiegelung dieser Mehrheitsverhältnisse in Ausschussbesetzungen, Ausschussgrößen und Abstimmungsfragen auch nur ansatzweise infrage gestellt. Mit
dem Argument, die Redezeit stehe Ihnen nach dem
Wahlausgang so zu, liegen Sie aus meiner Sicht völlig
falsch. Das Prinzip von Rede und Gegenrede ist wichtig
für das Parlament insgesamt.
({7})
Nun zu der Frage, wo wir eigentlich stehen. Wir haben schon einiges hinbekommen. Wir Grüne haben zusammen mit den Linken beharrlich darauf insistiert, dass
sich etwas tut und dass die Minderheitenrechte so verankert werden, dass sie rechtssicher sind.
({8})
- Schauen Sie doch einmal in Ihren Koalitionsvertrag!
Dann wissen Sie ganz genau, dass Ihr Angebot, die Geschäftsordnung zu ändern, nicht von Anfang an galt.
({9})
In Ihrem Koalitionsvertrag steht: Wir verpflichten uns
als Parlament, der Opposition auch Minderheitenrechte
zu gewähren. - Ich finde, es hat sich gelohnt, dass wir
nicht gejammert, sondern gestritten und geworben sowie
Ideen und Konzepte in unserem Gesetzentwurf und unseren Anträgen vorgelegt haben, mit dem Ziel, bei den
Minderheitenrechten Rechtssicherheit zu erzielen. Wir
wollen nicht von Ihnen abhängig sein und unsere Rechte
verlieren, wenn Sie es sich in ein, zwei Monaten anders
überlegen. Deshalb insistieren wir so auf Rechtssicherheit. Sie haben sich nun bewegt und den Vorschlag gemacht, die Geschäftsordnung entsprechend zu ändern.
Das ist positiv zu bewerten.
({10})
Wir haben an dieser Stelle über mehrere Sachverhalte
zu diskutieren, zum Beispiel über Ihren Vorschlag zur
Einrichtung eines Untersuchungsausschusses. Sie billigen
uns in Ihrem Vorschlag betreffend die Geschäftsordnung
zu, dass die Zahl der Mitglieder des Untersuchungsausschusses nach dem vom Bundestag beschlossenen Verteilverfahren so bestimmt wird, dass die Fraktionen, die nicht
die Bundesregierung tragen, gemeinsam ein Viertel der
Mitglieder stellen. Somit wären wir berechtigt, die
Rechte eines Untersuchungsausschusses wahrzunehmen.
Aus unserer Sicht werden wir darüber noch im Geschäftsordnungsausschuss und in den Anhörungen diskutieren müssen; denn die gleichen Rechte sichern Sie
uns beim Verteidigungsausschuss nicht zu. Wir haben
aber schon einige Situationen erlebt, in denen sich der
Verteidigungsausschuss als Untersuchungsausschuss
konstituiert hat. Deshalb glauben wir, dass es sehr wichtig ist, das Untersuchungsausschussgesetz zu ändern und
auch dort für diese Legislaturperiode klar darzulegen,
dass entweder 25 Prozent der Abgeordneten oder die
zwei Fraktionen, die nicht die Regierung tragen, in der
Lage sein müssen, die Einrichtung eines Untersuchungsausschusses bzw. die Konstituierung des VerteidigungsBritta Haßelmann
ausschusses als Untersuchungsausschuss zu beantragen.
Das ist ein ganz wichtiger Punkt, über den wir gerade
diskutieren.
({11})
Der zweite Punkt betrifft die Frage, wie widerspruchsfest das ist, was wir hier vereinbaren. Auch darüber werden wir in den folgenden Anhörungen reden.
Der dritte Punkt, den meine Kollegin Petra Sitte
schon angesprochen hat, betrifft die Normenkontrollklage.
Beharrlichkeit zahlt sich jedenfalls aus. Im Interesse
des gesamten Parlaments ist es richtig, dass wir ein bisschen Druck machen. Wir werden nun über Ihren Antrag,
der eine Änderung der Geschäftsordnung vorsieht, sowie
unseren Antrag und Gesetzentwurf, der zusätzlich eine
Absicherung im Untersuchungsausschussgesetz vorsieht, beraten. Ich hoffe, dass wir sehr zeitnah zu einem
Ergebnis kommen. Auch uns ist daran gelegen, dass wir
das sehr schnell rechtssicher verbriefen.
({12})
Vielen Dank. - Das Wort hat jetzt die Kollegin
Dagmar Ziegler, SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Der Schutz der parlamentarischen Mitwirkungsrechte von Abgeordneten ist ein hohes Gut. Darüber sind wir uns alle sicherlich fraktionsübergreifend
einig. Aber von Beginn der Großen Koalition an ging bei
den Oppositionsfraktionen die Angst um, wir wollten
der Opposition nicht ihre Rechte zugestehen. Frau
Haßelmann, Ihr Redebeitrag hatte etwas von Schattenboxen. Sie haben von Anfang an bei uns offene Türen
eingerannt. Sie haben Ihre Forderungen gestellt, und wir
sind ihnen nachgekommen. Deshalb finde ich, dass Ihre
Aussage, Sie hätten sich alles erkämpfen müssen, fehl
am Platz ist. Wir haben Ihnen von Anfang an deutlich
gemacht, dass wir Ihnen Ihre Rechte zugestehen wollen.
({0})
Unser Antrag sieht vor, dass wir Ihnen während der
Dauer der 18. Legislaturperiode mehr parlamentarische
Rechte zugestehen, als Ihnen aufgrund Ihrer Mandate
von den Wählerinnen und Wählern in Deutschland zugestanden wurden. Das muss man erst einmal festhalten.
Das zeigt auch, dass wir diejenigen sind, die Ihnen etwas
zugestehen, was Ihnen nicht von vornherein zusteht. Das
mag jetzt am Wahlergebnis liegen, aber man muss es erst
einmal als Ausgangsbasis konstatieren.
Die Koalition möchte die Geschäftsordnung ändern,
aber wir wollen dabei auch flexibel und pragmatisch
bleiben. Es ist eine historisch ungewöhnliche Konstellation - das wurde bereits gesagt -, die wir im Bundestag
haben, nämlich dass wir es mit einer sehr breiten Regierungsmehrheit und einer sehr kleinen Opposition zu tun
haben. Aber wir halten es im Gegensatz zu Ihnen nicht
für zwingend erforderlich, mit umfassenden Gesetzesänderungen, die im Übrigen auch durch die Mehrheit des
Bundestages wieder geändert werden könnten und die
also nicht rechtssicher sind, wie Sie es sich vorstellen, zu
reagieren. Sie selbst sagen, dass Sie das nur für eine bestimmte Zeit auf den Weg bringen wollen. Damit ist
keine Garantie für die Ewigkeit gegeben. Insofern,
glaube ich, sind Sie mit den Gesetzesänderungen nicht
auf dem richtigen Weg.
Wir sagen: Wir sind politisch souverän. Wir bringen
die Erfahrungen der vergangenen Legislaturperioden
ein, und wir wollen maßvoll auf das Problem reagieren,
das uns ins Haus steht. 17 Wahlperioden sind wir mit unserer Geschäftsordnung gut umgegangen. Das hat sich
bewährt. Wir werden dem auch in dieser Konstellation
gerecht.
Wir halten die Gesetzesänderungen, die Sie beabsichtigen, für nicht richtig. Jeder denkbaren Opposition, unabhängig von der Anzahl ihrer Mitglieder oder deren politische Einigkeit in der Sache, per Gesetzesbeschluss das
Recht zuzusprechen, auf grundlegende Abläufe und Verfahrensweisen unserer parlamentarischen Demokratie Einfluss zu nehmen, öffnet - das sage ich mit Absicht - möglicherweise verantwortungslosem Verhalten und Versuchen
politischer Obstruktion Tür und Tor. Genau das ist es, was
wir verhindern möchten. Wir unterstellen das aber nicht der
jetzigen Opposition.
Die Väter und Mütter unseres Grundgesetzes und die
Verfasser unserer parlamentarischen Geschäftsordnung
haben nämlich aus gutem Grund die Einhaltung bestimmter Quoren für tiefgreifende Eingriffe in die Abläufe und Verfahrensweisen des Bundestages - Sie haben es genannt: Untersuchungsausschüsse, EnqueteKommissionen oder Einleitung eines Normenkontrollverfahrens - festgeschrieben, und sie haben nicht ohne
Grund die Erfahrungen der Weimarer Republik im Hinterkopf gehabt. Diese Erfahrungen, die unser heutiges
Verständnis von parlamentarischer Demokratie prägen,
nehmen wir zum Anlass, dies in der Geschäftsordnung
zu verankern.
Es sind nicht die Oppositionsfraktionen alleine, die
die Regierung kontrollieren - das sagte Herr GrosseBrömer dankenswerterweise schon -, sondern dieses
Recht nehmen wir uns schon als gesamtes Parlament.
Das ist nicht nur ein Recht, sondern auch eine Pflicht.
({1})
Auch dazu hat das Bundesverfassungsgericht etwas
Wertvolles am 13. Juni 1989 gesagt - ich zitiere -:
Alle Mitglieder des Bundestages haben … gleiche
Rechte und Pflichten. Dies folgt vor allem daraus,
daß die Repräsentation des Volkes sich im Parlament darstellt, daher nicht von einzelnen oder einer
Gruppe von Abgeordneten, auch nicht von der parlamentarischen Mehrheit, sondern vom Parlament
als Ganzem, d. h. in der Gesamtheit seiner Mitglieder als Repräsentanten, bewirkt wird.
Ich glaube, das ist ein ganz wesentlicher Punkt, den
wir immer im Hinterkopf haben müssen, wenn wir um
die Rechte von Minderheiten, die Rechte von Fraktionen
oder die Rechte der Opposition streiten.
Das Grundgesetz kennt den Begriff der Opposition
eben nicht und verbindet daher mit ihm auch keine gesonderten Rechte und Pflichten. Deshalb verstehen Sie
bitte unseren eingebrachten Antrag auf Änderung der
Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages als das,
was er tatsächlich, ehrlich und aus ganzem Herzen ist:
eine faire Handreichung der Mehrheitsfraktionen an die
Kollegen aus den Minderheitsfraktionen. Wir kommen
Ihnen damit bei der angemessenen Ausübung des Mandats der Abgeordneten der Minderheitsfraktionen entgegen und gestehen Ihnen mehr parlamentarische Rechte
und Freiheiten zu, als Ihnen aufgrund Ihrer Größe und
personellen Stärke nach Willen des Wählers rechtmäßig
zustehen.
Deshalb: Rennen Sie nicht nur offene Türen ein, sondern gehen Sie durch diese Tür, die wir gemeinsam aufgemacht haben.
Danke.
({2})
Vielen Dank. - Das Wort hat jetzt der Kollege
Dr. Konstantin von Notz, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Es geht heute um nichts Triviales. Es geht um die Funktionsfähigkeit des Parlaments - dieses Parlaments.
({0})
Es geht darum - die Kollegin Sitte hat es gesagt -, ob
trotz einer quantitativen großen Koalition die Qualität
unserer Demokratie erhalten bleibt.
({1})
Und es geht für Sie von der Großen Koalition darum, ob
Ihre Regierungszeit als Legislaturperiode erinnert wird,
in der trotz großer Mehrheiten ein lebendiger Parlamentarismus herrschte oder in der eine Große Koalition vier
Jahre lang weitgehend unkontrolliert Selbstgespräche
geführt hat. Vor dieser Entscheidung stehen wir.
({2})
Ich verweise einmal auf die Rednerliste von heute.
Nach meiner Rede können eigentlich alle hier nach
Hause gehen; dann nämlich, in der zweiten Halbzeit dieser Debatte, führen Sie Selbstgespräche. Das ist so langweilig, dass selbst aus Ihren Reihen, aus den Reihen der
Großen Koalition, kaum jemand bei diesem wichtigen
Thema da ist. Das ist ein Armutszeugnis.
({3})
Natürlich folgt die Stärke der Fraktionen dem Votum
der Wählerinnen und Wähler, Herr Grosse-Brömer. Das
Wahlergebnis ist berechtigterweise die Grundlage der
Verteilungsmechanismen in diesem Haus. Aber die Minderheitenrechte sind es eben auch, und deswegen geht es
nicht um das Jammern von Oppositionsabgeordneten
nach mehr Redezeit. Es geht um den essenziellen Bestandteil der Funktionsgewährleistung parlamentarischer
Kontrollmechanismen.
({4})
Diese Mechanismen dürfen nicht vom Gutdünken der
Koalition abhängen. Es müssen unverbrüchliche, launenunabhängige und deswegen festgeschriebene Rechte
der Opposition sein. Das sehen wir inzwischen zum
Glück gleich.
({5})
Wenn Sie nur einen Augenblick über Ursprung und
Sinn von Minderheitenrechten nachdenken, kommen Sie
auf den Mechanismus, Herr Kauder: Je kleiner die Opposition ist, desto stärker müssen ihre Rechte sein. Weil
die Korrektur der bestehenden Regelungen logischerweise in der Verantwortung der Mehrheit liegt, kommt
es eben auch auf die richtige Zustandsbeschreibung an:
Die Opposition ist nach unserer Verfassung nicht zu
klein; Ihre Koalition ist viel zu groß.
({6})
Wissenschaft und Rechtsprechung erkennen die besondere Bedeutung der Ausübung parlamentarischer
Opposition an. Die qualifizierte Große Koalition aber ist
als Fallkonstellation mit Blick auf die Funktionsfähigkeit des Parlaments im Grundgesetz nicht berücksichtigt.
Gerade in dieser Fallkonstellation besteht aber ein besonderer Bedarf an oppositioneller Kontrolle.
Dieses Plenum ist das Forum, in dem die Argumente
auf den Tisch müssen, damit die Öffentlichkeit versteht,
was hier warum entschieden wird. Es ist originäre Aufgabe des Parlaments, die Regierung zu kontrollieren,
Frau Kollegin Ziegler. Aber klar ist auch, dass dabei naturgemäß die Abgeordneten der Opposition etwas ehrgeiziger sind als die der Koalition.
({7})
Damit also der Parlamentsauftrag überhaupt erfüllt werden kann, muss die Opposition wahrnehmbar sein, eigene Rechte haben, sich Gehör verschaffen und im
Zweifel auch Druck aufbauen können, und da sind Ihre
Vorschläge bisher leider ungenügend.
({8})
Zum Schluss. Hören Sie auf mit diesem - ich habe es
jetzt mehrfach gehört - „Sie hätten es auch anders haben
können“. Wir haben ernsthaft verhandelt, und die Angebote der Union waren einfach zu dünn. Wenn man jetzt
den Koalitionsvertrag anschaut, dann sieht man: Sie sind
als Große Koalition den bequemen, den einfachen Weg
gegangen, und das ist auch Ihr gutes Recht. Niemand
kann die SPD verpflichten, bereit für Bündnisse mit der
Linken zu sein. Niemand kann von der CSU verlangen,
mit den Grünen koalieren zu müssen. Das stimmt. Aber
hören Sie einfach auf, uns und die Funktionsfähigkeit
dieses Parlaments für Ihre großkoalitionäre Bequemlichkeit in Haftung zu nehmen.
Ganz herzlichen Dank.
({9})
Vielen Dank. - Es spricht jetzt der Kollege Max
Straubinger, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Der Beitrag des Kollegen von Notz zeigt sehr deutlich,
dass sich die Oppositionsarbeit auch der Größe der jeweiligen Fraktion angepasst hat: Man ergeht sich fast in
Larmoyanz. Das ist nichts, was wir hier zu berücksichtigen haben.
Die Wahl hat ein ganz klares Ergebnis erbracht: Der
Wähler hat der Union fast die absolute Mehrheit zugesprochen, aber nicht ganz - leider -, und deshalb sind
wir auf eine Koalition angewiesen.
({0})
Das ist ein gutes Ergebnis. Diese Koalition wird auch
hervorragend für die Bürgerinnen und Bürger arbeiten.
Ich bin überzeugt, dass sie ihrem eigenen Anspruch gerecht werden wird, nämlich dass es in vier Jahren den
Bürgerinnen und Bürgern in Deutschland besser gehen
wird, als es ihnen jetzt geht.
({1})
Verehrte Damen und Herren, es ist wirklich müßig
- ich möchte hier an den Kollegen Grosse-Brömer anschließen -, uns hier ständig über neue Verfahrensregelungen, darüber, wie wir uns zu organisieren haben, und
Sonstiges zu unterhalten. Wir sollten zu geordneter Sacharbeit zurückkehren können, die nicht immer mit Fragen der Geschäftsordnung und Sonstigem überfrachtet
ist.
({2})
Mir geht es darum, in einem ganz normalen, schönen
und sachlichen Austausch eine Grundlage zu finden, Oppositionsrechte nicht nur zu achten, sondern zusätzlich
mit auszubauen. Dazu sind wir als Fraktionen, die die
Regierung stützen, bereit, unabhängig davon, dass es uns
schon auch wichtig ist, dass die Abgeordnetenrechte für
alle in diesem Hause gleich sind.
({3})
Verehrte Kollegin Haßelmann, ich kann Ihrem Vorschlag, dass jede Fraktion das gleiche Rederecht hat, was
die Zeitdauer angeht, nicht folgen. Ich glaube nicht, dass
die Qualität der Argumente an eine bestimmte Zeitdauer
gebunden ist;
({4})
die Qualität der Argumente bringt sich dadurch zum
Ausdruck, dass hier vernünftige und gute Vorschläge
eingebracht werden. Ich glaube, wir werden - das ist
Auftrag aller, der Kolleginnen und Kollegen in den Regierungsfraktionen genauso wie der in den Oppositionsfraktionen - gute Vorschläge ins Haus einbringen, wir
von den Regierungsfraktionen natürlich mit Unterstützung der Bundesregierung.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, es ist nicht nur
Aufgabe der Opposition, die Bundesregierung zu kontrollieren, sondern in verstärktem Maße auch derer, die
die Regierung stützen und mit stellen. Bezeichnenderweise heißt es ja in Bayern, dass die CSU die Oppositionsarbeit selbst übernehmen muss und das erkennbar
auch tut.
({5})
Von daher, glaube ich, sollten wir dies nicht immer nur
an der Minutenzahl messen, sondern an dem, was wir
tun.
Herr Kollege von Notz, Sie haben davon gesprochen,
dass wir sozusagen in Selbstgespräche verfallen würden.
({6})
Sie nutzen doch die Gelegenheiten, diese Selbstgespräche aufzuspießen. Nachfolgend haben wir eine Aktuelle
Stunde. Da wird von der Opposition versucht werden,
darzustellen, dass es in irgendeiner Sachfrage irgendwelche Differenzen unter den Regierungsparteien gibt, in
dem Fall insbesondere innerhalb der Union.
({7})
Von daher können Sie nicht von Selbstgesprächen reden.
Es ist eine fundierte Diskussion, die auch bei uns stattfindet und die zum Ausdruck bringt, dass wir bereit sind,
entsprechende Kontrolle gegenüber der Bundesregierung, aber auch gegenüber den Landesregierungen mit
auszuüben. Dies ist damit sichtbar geworden.
({8})
Mit dem gemeinsamen Antrag von Linksfraktion und
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen wird eigentlich nur
versucht, darzustellen, Sie von der Opposition hätten
keine Rechte. Das ist nicht der Fall. Die Rechte sind geregelt, einmal im Grundgesetz - das können die Juristen
wesentlich besser ausführen als ich -, zum anderen in
unserer Geschäftsordnung, und zwar für jeden Abgeordneten. Unabhängig davon, ob ein Abgeordneter einer
Regierungsfraktion oder einer Oppositionsfraktion angehört - es hat jeder das gleiche Fragerecht, es hat jeder im
Prinzip auch das gleiche Rederecht, wobei dies in einem
Parlament mit 631 Mitgliedern natürlich anders gestaltet
werden muss als in einer Bürgerschaft oder in einem
kleinen Landesparlament mit vielleicht 50 oder 60 Mitgliedern. Kollege Kauder, unser Fraktionsvorsitzender,
verdeutlicht immer: Wenn jeder Abgeordnete der CDU/
CSU-Bundestagsfraktion auch nur drei Minuten Redezeit in Anspruch nehmen würde, wären dafür 933 Minuten zu veranschlagen.
({9})
Ich glaube, dass dies grundsätzlich nicht im Sinne aller
sein kann - bei aller Wertigkeit und bei aller Fundiertheit, die die Beiträge garantiert haben würden. Es geht
auch um Funktionsfähigkeit.
Deshalb sind wir bereit, Rechte zuzugestehen und
auch den kleineren Fraktionen mehr Rederecht zuzubilligen. Ich glaube, das ist ein gutes Angebot, das auch zur
Lebendigkeit mancher Parlamentsdebatte beiträgt. Allerdings: Die Lebendigkeit einer Debatte war auch in der
Vergangenheit, als die Mehrheitsverhältnisse nicht so
eindeutig waren, wie sie jetzt sind, in der Regel von der
Lebendigkeit der Rednerinnen und Redner geprägt und
weniger von der Zahl der Redner. Das möchte ich durchaus betonen.
Werte Kolleginnen und Kollegen, ich glaube, der
Bundestagspräsident und das Präsidium haben, wie der
Kollege Grosse-Brömer schon dargelegt hat, hierzu gute
Vorschläge unterbreitet. Diese wollen wir gerne mit Ihnen gemeinsam umsetzen in dem Sinne, dass Sie vermehrte Rechte in Anspruch nehmen können, dass auch
ein Untersuchungsausschuss eingesetzt werden kann,
was Sie aufgrund der derzeitigen Mehrheitsverhältnisse
und der zugrunde zu legenden Zahlenarithmetik nicht
können. Deshalb bitte ich Sie: Schauen Sie sich unseren
Vorschlag an und studieren Sie ihn genau. Ich bin überzeugt: Damit wird eine fundierte Oppositionsarbeit möglich, die sich nicht nur zahlenmäßig ausdrückt, sondern
auch in einer qualitativen Auseinandersetzung der Redner, aber ebenso in den schriftlichen Anträgen. Die Oppositionsarbeit lebt ja nicht nur von dem, was hier mündlich vorgetragen wird, sondern auch von dem, was an
Anträgen mit fundierten, sachlichen Vorschlägen vorgelegt wird. Deshalb können wir hier gute Vereinbarungen
treffen.
In diesem Sinne herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({10})
Vielen Dank. - Das Wort hat jetzt für die SPD-Fraktion Sonja Steffen.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine Damen und Herren! Das Demokratieprinzip ist ein Mehrheitsprinzip. Das bedeutet, dass
die Mehrheit des Volkes entscheidet. Es gilt aber auch:
Jede Minderheit, die auf dem Boden der freiheitlichdemokratischen Grundordnung steht, muss die Möglichkeit haben, ihre Meinung zu äußern und dafür zu werben.
Demokratie - das wissen wir alle - ist nie statisch,
sondern immer ein fließender Prozess. Mehrheiten können hauchdünn sein oder riesengroß. Minderheiten können zu Mehrheiten werden und umgekehrt. Deshalb
müssen sowohl die Mehrheit als auch die Minderheit
verfassungsrechtlich garantierte Rechte genießen. Das
tun sie auch. Für den parlamentarischen Willensbildungsprozess bedeutet dies: Es muss sichergestellt sein,
dass Minderheiten die Möglichkeit haben, ihre Position
sichtbar zu artikulieren.
Diese Prinzipien sind in der Tat nach der letzten Wahl
auf die Probe gestellt worden. Mit der Bildung der Großen Koalition ist eine besondere Situation entstanden
- wir haben es heute schon gehört -: Die Regierungsfraktionen haben 504 der insgesamt 631 Sitze im Bundestag und stellen damit knapp 80 Prozent der Mitglieder des Deutschen Bundestages.
Selbstverständlich verfügen auch Sie, die Abgeordneten der Opposition, weiterhin über die Rechte, die jedem
Abgeordneten zustehen: Fragerecht, Rederecht usw.
Auch die Fraktionsrechte bleiben von den aktuellen
Mehrheitsverhältnissen unberührt. Jedoch sehen unser
Grundgesetz und die Geschäftsordnung auch verschiedene quorenabhängige Rechte vor. Es handelt sich hier
um Rechte, die der Unterstützung durch ein Viertel oder
durch ein Drittel der Mitglieder des Bundestages bedürfen. Dies sind tatsächlich durchaus bedeutende Rechte:
das sogenannte schärfste Schwert der Opposition, die
Einsetzung eines Untersuchungsausschusses, die Beantragung einer abstrakten Normenkontrolle, Vorlagen betreffend die Angelegenheiten der Europäischen Union,
aber auch die Einberufung von Sondersitzungen des
Bundestages. Diese Rechte sind den Oppositionsfraktionen aufgrund der aktuellen Mehrheitsverhältnisse zurzeit
verwehrt. Es ist völlig klar, dass es dadurch zu einer Beeinträchtigung der parlamentarischen Oppositionsarbeit
kommen kann. Nach unserem Demokratiemodell ist das
Bestehen einer kraftvollen Opposition - darin sind wir
uns, glaube ich, alle einig - aber von erheblicher Bedeutung.
Deshalb habe auch ich mich sehr gefreut, dass unser
Bundestagspräsident, Herr Lammert, gleich am Anfang
der Legislaturperiode darauf hingewiesen hat, dass die
Minderheitenrechte Bestand haben und geschützt werden müssen. Auch der Koalitionsvertrag fordert dies.
Wir haben das heute schon gehört. Ich zitiere einmal daraus. Dort heißt es:
Eine starke Demokratie braucht die Opposition im
Parlament. CDU, CSU und SPD werden die Minderheitenrechte im Bundestag schützen.
({0})
Die Frage ist: Wie ist dieser Schutz zu gewährleisten?
Dazu sind in den letzten Wochen verschiedene Varianten
diskutiert worden. Laut Koalitionsvertrag sollten die
Rechte der Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die
Grünen durch einen Parlamentsbeschluss ermöglicht
werden. Eine andere Variante, die uns heute vorliegt,
enthält der Antrag der Opposition.
Sie fordern in Ihrem Antrag gesetzliche Regelungen.
Die Quorenrechte sollen den beiden Oppositionsfraktionen zur gemeinsamen Ausübung zur Verfügung gestellt
werden, und Sie wollen die Gültigkeit ausdrücklich auf
die 18. Wahlperiode beschränken. Dabei haben Sie in einer Sache auch völlig recht: Wer eine wirksame Opposition für notwendig hält, darf sie nicht vom Wohlwollen
der Mehrheit im Einzelfall abhängig machen. Das sehen
wir auch so. Der Kollege Grosse-Brömer hat schon darauf hingewiesen.
Wir haben uns im Laufe der Diskussion von der
Variante Parlamentsbeschluss verabschiedet und sind Ihnen dadurch bereits erheblich entgegengekommen. Nun
haben wir einen Vorschlag vorgelegt, der einen guten
und vernünftigen Kompromiss darstellt, nämlich die Änderung der Geschäftsordnung in der 18. Wahlperiode.
Danach sollen die Rechte, die an ein bestimmtes Quorum gekoppelt sind, zukünftig auf Antrag aller Mitglieder der Fraktionen, die nicht der Bundesregierung angehören, wahrgenommen werden können.
Durch diese Geschäftsordnungsregelung wird sichergestellt, dass die Minderheit ihren Standpunkt in den
Willensbildungsprozess des Parlaments einbringen kann.
Einer Anpassung der entsprechenden Gesetze, wie Sie
das in Ihrem Antrag vorsehen, bedarf es nach unserer
Auffassung nicht. Die rechtliche Bindungswirkung der
Geschäftsordnung mag zwar geringer sein - darauf haben die Oppositionsfraktionen hingewiesen -, aber ich
möchte mir nicht vorstellen, welche öffentliche Wirkung
und Empörung ein Hinwegsetzen über diese Regelung
hervorrufen würde. Es besteht überhaupt keine Veranlassung, zu befürchten, dass der Schutz durch eine Regelung in der Geschäftsordnung an Wirkung verlieren
könnte.
Auch in diesem Verfahren gilt das Struck’sche Gesetz. Es wird mit Sicherheit an der einen oder anderen
Stelle noch Änderungen geben müssen. Ich hoffe, dass
wir gemeinsam zu einer Lösung kommen werden. Bisher haben wir im 1. Ausschuss oftmals Regelungen
überfraktionell und einheitlich vereinbaren können. Ich
hoffe, dass uns das auch in diesem Verfahren gelingen
wird.
Vielen Dank.
({1})
Vielen Dank. - Es spricht jetzt der Kollege Dr. Johann
Wadephul, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! An diese Worte möchte ich anknüpfen und der
Hoffnung Ausdruck verleihen - nach der Debatte kann
man das eigentlich auch, mit einer kleinen Einschränkung hinsichtlich der Rede des Kollegen von Notz -,
dass wir doch zu einer einvernehmlichen Regelung kommen.
({0})
- Ich komme gleich zu Schleswig-Holstein.
Erstens. Es ist hier über Qualität gesprochen worden.
Jeder für sich ist von der jeweiligen Qualität seiner Fraktion, seiner Partei sehr überzeugt. Qualität in einer Demokratie wird aber durch Wählerstimmen entschieden.
Da hilft es überhaupt nicht, zu sagen: Wir liefern hinterher die qualitativ besseren Beiträge. - Frau Kollegin
Sitte, so konnte man Sie verstehen. Nein, wer sich für
qualitativ besonders gut hält, der soll seine Arbeit entsprechend fortsetzen und danach streben, diese Qualität
bei den nächsten Wahlen auch in Wählerstimmen umzusetzen. Bei der letzten Wahl hat es eine eindeutige Qualitätsentscheidung gegeben, die die Unionsfraktion sogar
an die Grenze zur absoluten Mehrheit gebracht hat.
({1})
Wir haben das gute demokratische Recht, diese Entscheidung hier auch umzusetzen.
({2})
Zweitens. Mehrheitsbildung im Parlament - ich
komme jetzt gleich zu Schleswig-Holstein - ist das Ergebnis von Koalitionsverhandlungen. Herr Kollege von
Notz, es ist schon ein Aspekt - sicherlich nicht der maßgebliche, aber ein Aspekt - der Koalitionsverhandlungen
gewesen, und zwar auf allen Seiten, dass durch diese
Große Koalition eine übergroße Parlamentsmehrheit entsteht, die für einen lebendigen Parlamentarismus
({3})
- Sie sagen: nicht schön ist - an sich jedenfalls nicht erstrebenswert ist. Ich glaube, darin sind wir uns wahrscheinlich fast alle einig. Das heißt, es ist durchaus ein
Aspekt gewesen, der dafür gesprochen hat, dass man
eine kleine Koalition bildet. Man kann nicht alle Beden1028
ken zurückstellen, aber wir müssen bei der Geschichtsschreibung - wenn wir ein Jahr zurückgehen - genau
bleiben: Es waren die Grünen,
({4})
die die Koalitionssondierungen mit der Union beendet
haben.
({5})
Es war insbesondere der Kollege Robert Habeck aus
Schleswig-Holstein. Von ihm haben Sie sich in einer
Klausur ausführlich beraten lassen. Insofern ist er einer
der Vordenker der Grünen. Im Spiegel hat er am 25. September des vergangenen Jahres gesagt:
Wir sind weder personell noch konzeptionell auf
Schwarz-Grün vorbereitet.
({6})
Das ist das eigene Urteil. Davor können wir Sie nicht
retten. Das ist Ihre Eigenanalyse.
({7})
Dritter Punkt. Minderheitenschutz hat eine große Bedeutung. Das haben die Redner der Unionsfraktion und
der sozialdemokratischen Fraktion unterstrichen. Minderheitenschutz heißt - das hat das Bundesverfassungsgericht einmal in einem schönen einfachen Satz gesagt nicht Schutz vor Sachentscheidungen der Mehrheit.
({8})
Das muss man ganz eindeutig dazusagen. Das heißt, wir
haben das demokratische Recht, das, was wir als Mehrheitsentscheidung durchsetzen können und wollen, auch
in aller Differenziertheit, durchzusetzen. Ich bitte, das
nicht zu bezweifeln.
Vierter Punkt. Ich glaube, wir sollten im Parlament
Wert darauf legen, dass die Mandate gleichwertig sind.
Das wird gerade seitens der Linksfraktion immer wieder
betont. Hier erwähne ich zum zweiten Mal SchleswigHolstein, Herr Kollege von Notz: Auf diese Gleichwertigkeit legen beispielsweise die Abgeordneten der dänischen Minderheit im Parlament von Schleswig-Holstein
großen Wert. Wenn Sie das ernst nehmen, dann können
Sie nicht sagen: Alle Redebeiträge, die nach mir kommen, sind Selbstgespräche. - Ich nehme es einmal persönlich: Ich halte hier eine genauso wichtige Rede, wie
Sie sie gehalten haben. Da sollten wir keine Unterschiede machen.
({9})
Aber auch innerhalb einer Koalition kann es unterschiedliche Auffassungen geben. Der Kollege
Straubinger beispielsweise hat in einem mutigen Moment einen Vorgriff auf die Stromtrassendebatte gemacht.
({10})
Damals bei Rot-Grün gab es das möglicherweise auch.
({11})
- Frau Kollegin Roth dementiert es jetzt. Frau Kollegin
Roth, Sie standen immer stromlinienförmig hinter
Gerhard Schröder. Genau!
({12})
Das Parlament ist schon wichtig.
({13})
- Im Grundgesetz steht: „der Deutsche Bundestag“ und
nicht: „die Opposition“. Wir nehmen unsere parlamentarischen Rechte sehr ernst im Sinne des Struck’schen
Gesetzes, aber auch in dem Sinne, dass wir in Redebeiträgen - das merken Sie, wenn Sie hinhören - unterschiedliche Akzente setzen. Das findet doch ständig
statt, wenn die Mitglieder der Regierungsfraktionen reden. Es gibt auch unterschiedlichen Beifall. Diese Unterschiede gibt es natürlich auch weiterhin.
Natürlich üben wir unsere Rechte als Bundestag aus:
unsere Kontrollrechte, unsere Rechte der Bestärkung,
unsere Rechte des Einwirkens auf die Regierung in mannigfacher Art und Weise. Das machen wir schon gemeinsam; aber das machen auch Sie, und das sollten Sie gut
machen. Aber wir kontrollieren ebenso.
({14})
Letzter Punkt. Sie haben gesagt, das soll nicht von irgendwelchen Launen abhängig sein.
({15})
Abgesehen davon, dass der Fraktionsvorsitzende der
Union, Volker Kauder, und der Fraktionsvorsitzende der
SPD, Thomas Oppermann, im Allgemeinen nicht zu
Launen neigen
({16})
- es gibt jetzt einen etwas stärkeren Widerspruch aus der
SPD-Fraktion;
({17})
den wollte ich damit aber nicht verursachen -, will ich in
aller Ernsthaftigkeit sagen: Es haben alle - Präsident
Lammert ist im Hause zugegen - gesagt, dass wir Oppositionsrechte wahren wollen und dass wir die Opposition
mit Möglichkeiten ausstatten wollen, die sich aus dem
bisher niedergelegten Recht nicht ergeben. Sie sollten
uns bitte nicht unterstellen, dass wir bei der nächstbesten
Laune das alles vergessen. Das werden wir nicht. Wir
stehen zu unseren Aussagen; wir werden das umsetzen.
Ich setze darauf, dass wir im Geschäftsordnungsausschuss zu einer einvernehmlichen Regelung kommen.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({18})
Vielen Dank. - Letzte Rednerin in der Debatte ist die
Kollegin Dr. Katarina Barley, SPD-Fraktion.
({0})
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Ich darf die Debatte, die ich, obwohl sie
noch nach der alten Geschäftsordnung durchgeführt
wird, als durchaus lebendig empfinde, beschließen und
feststellen, dass wir uns wirklich in sehr vielem einig
sind, insbesondere im Hinblick auf die Grundlage, dass
wir in einem funktionierenden Bundestag, in einer funktionierenden Demokratie eine Opposition brauchen, die
Rechte hat, um effektiv und wirkungsvoll arbeiten zu
können.
Hier entscheidet die Mehrheit; das ist klar. Das muss
sie auch. So haben die Wählerinnen und Wähler entschieden. Herr Grosse-Brömer hat eben schon den Bundestagspräsidenten zitiert, aber nicht ganz vollständig.
Ich zitiere:
Klare Wahlergebnisse sind nicht von vornherein
verfassungswidrig, große Mehrheiten auch nicht.
So hat er das gesagt.
({0})
Dem können wir nur zustimmen.
({1})
- Das sagt noch nichts über die Qualität, genau. Aber um
die brauchen Sie sich zumindest bei uns keine Sorgen zu
machen.
({2})
Über die einzelnen Rechte ist nun wirklich schon viel
gesagt worden. Die Opposition soll nach unserem Entwurf natürlich die Möglichkeit haben, eine öffentliche
Sachverständigenanhörung im Fachausschuss zu beantragen. Das ist ein besonders wichtiges Recht. Denn wir
haben schon manchen Gesetzentwurf gesehen, der in
solch einer öffentlichen Sachverständigenanhörung
fachlich durchgefallen ist. Da liegt das Quorum bisher
bei 25 Prozent; wir wollen es auf 20 Prozent absenken.
Das genügt; denn die Minderheit von 20 Prozent haben
Sie.
Natürlich hat der Bundestag auch die Aufgabe, die
Regierung zu kontrollieren. Diesen Auftrag hat nicht nur
die Opposition; das ist jetzt schon mehrfach gesagt worden. Auch Peter Struck ist schon oft zitiert worden. Er
würde sich darüber freuen, dass wir alle uns einig darüber sind, dass kein Gesetz den Bundestag so verlässt,
wie es hineingekommen ist; das gilt insbesondere auch
für die Gesetzentwürfe der Regierung.
Wir werden uns mit der Umsetzung dieses Entwurfs
rechtlich, aber natürlich auch politisch binden. Wenn
man die Möglichkeit gewählt hätte, nur einen entsprechenden Beschluss zu fassen, hätte nicht wirklich die
Gefahr bestanden, dass wir uns das im Laufe der Legislaturperiode anders überlegen; das hätten uns weder Sie
noch die Öffentlichkeit noch unsere eigenen Wähler
durchgehen lassen.
Auch in diesem Punkt sind wir uns einig: Die Opposition muss ihre Stimme wirksam zur Geltung bringen. Im
Hinblick auf die Redezeit haben insbesondere wir von
der SPD-Fraktion eine Kröte zu schlucken. Denn die
Anpassung der Redezeiten wird dazu führen, dass die
beiden Oppositionsfraktionen zusammen in Kurzdebatten mehr Redezeit haben als wir von der SPD-Fraktion,
obwohl wir mehr Abgeordnete haben als die beiden Oppositionsfraktionen zusammen. Das nehmen wir in Kauf.
Es ist schon mehrfach darauf hingewiesen worden:
Der einzelne Abgeordnete oder die einzelne Abgeordnete hier in diesem Parlament hat bestimmte Rechte. Da
möchte ich noch etwas zu der Form sagen, in der wir die
Rechte der Minderheit, der Opposition hier festlegen
wollen. Sie fordern eine Änderung der gesetzlichen
Grundlagen, bei der abstrakten Normenkontrolle sogar
des Grundgesetzes. Ich persönlich hielte es für erforderlich; denn das Bundesverfassungsgerichtsgesetz so zu
ändern, dass es dem Grundgesetz widerspricht, hielte ich
für sehr fragwürdig. Es mag aus Ihrer Sicht in der momentanen Situation natürlich wünschenswert sein; aber
Sie übersehen da einen wichtigen Punkt: Wir Abgeordnete sind, wie schon mehrfach erwähnt, vor dem Gesetz
gleich. Wir haben gleiche Rechte und Pflichten, weil wir
alle zusammen diesen Deutschen Bundestag, die Legislative, bilden, der insgesamt die Pflicht und das Recht
hat, die Exekutive zu kontrollieren, insbesondere die
Bundesregierung. Das ändern wir in dieser Legislatur zu
Ihren Gunsten, und zwar nur zu Ihren Gunsten. Die
Rechte, die also 20 Prozent dieses Hauses in Anspruch
nehmen können, können nur Sie in Anspruch nehmen;
wir können das nicht. Das Gewicht, das die einzelnen
Oppositionsabgeordneten haben, wird größer als das Gewicht sein, das die einzelnen Abgeordneten der Regierungsfraktionen haben. Das ist in dieser Legislaturperiode auch in Ordnung.
Die Rechte der einzelnen Abgeordneten, auch der Abgeordneten der Regierungsfraktionen, sind keine Peanuts. Ich darf da vielleicht kurz an die Debatte in der
letzten Legislaturperiode zum Euro-Rettungsschirm erinnern, bei der es durchaus auch in den Koalitionsfraktionen einzelne Abgeordnete gab, die sich ihr Rederecht
sehr aktiv erstritten haben.
Wir brauchen eine Regelung für diese Legislaturperiode. Es wäre nicht richtig, die abstrakten Regelungen
und Gesetze zu ändern, vor allen Dingen nicht das
Grundgesetz, das uns schon viele Jahre begleitet hat und
uns noch viele Jahre begleiten wird. Der Ort, um Regelungen für die Besonderheiten dieser Legislaturperiode
zu treffen, ist die Geschäftsordnung, und dementsprechend werden wir handeln.
Vielen Dank.
({3})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 18/380, 18/379 und 18/481 an die in
der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla-
gen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe keinen
Widerspruch. Dann sind die Überweisungen so be-
schlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 17 a bis 17 c auf:
a) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung
des Schulobstgesetzes
Drucksache 18/295
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft ({0})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
b) Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht der Bundesregierung über den Stand
der Abwicklung des Fonds für Wiedergutmachungsleistungen an jüdische Verfolgte
- Stand 30. Juni 2013 Drucksache 18/30
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({1})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Haushaltsauschuss
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Katrin
Kunert, Diana Golze, Wolfgang Gehrcke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Rekrutierung von Minderjährigen für die
Bundeswehr beenden - Fakultativprotokoll
zur UN-Kinderrechtskonvention vollständig
umsetzen
Drucksache 18/480
Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuss ({2})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Es handelt sich hierbei um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 18 a bis 18 f auf.
Es handelt sich um Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Tagesordnungspunkt 18 a:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({3})
Sammelübersicht 1 zu Petitionen
mit der Statistik über die beim Deutschen Bundestag in der 17. Wahlperiode ({4}) eingegangenen bzw. erledigten Petitionen
Drucksache 18/391
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Die
Sammelübersicht 1 ist mit den Stimmen des gesamten
Hauses angenommen.
Tagesordnungspunkt 18 b:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({5})
Sammelübersicht 2 zu Petitionen
Drucksache 18/392
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 2 ist mit den Stimmen
aller Fraktionen angenommen.
Tagesordnungspunkt 18 c:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({6})
Sammelübersicht 3 zu Petitionen
Drucksache 18/393
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 3 ist mit den Stimmen aller
Fraktionen angenommen.
Tagesordnungspunkt 18 d:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({7})
Sammelübersicht 4 zu Petitionen
Drucksache 18/394
Vizepräsidentin Ulla Schmidt
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 4 ist mit den Stimmen
der Fraktionen CDU/CSU und SPD gegen die Stimmen
der Fraktion Die Linke bei Enthaltung der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Tagesordnungspunkt 18 e:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({8})
Sammelübersicht 5 zu Petitionen
Drucksache 18/395
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 5 ist mit den Stimmen
von CDU/CSU-Fraktion, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und SPD-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion
Die Linke angenommen.
Tagesordnungspunkt 18 f:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({9})
Sammelübersicht 6 zu Petitionen
Drucksache 18/396
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 6 ist mit den Stimmen
der CDU/CSU-Fraktion und der SPD-Fraktion gegen die
Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen und der Fraktion
Die Linke angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 6 a bis 6 g sowie
Zusatzpunkt 4 auf. Wir kommen zu Gremienwahlen,
die wir mittels Handzeichen durchführen werden.
Tagesordnungspunkt 6 a:
Wahl der Mitglieder des Kuratoriums der
Stiftung „Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland“
Drucksache 18/484
Dazu liegt ein gemeinsamer Wahlvorschlag aller
Fraktionen auf Drucksache 18/484 vor. Wer stimmt für
diesen Wahlvorschlag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Wahlvorschlag ist mit den Stimmen aller
Fraktionen angenommen.
Tagesordnungspunkt 6 b:
Wahl der Mitglieder des Kuratoriums der
„Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR“
Drucksache 18/485
Wir stimmen ab über den Wahlvorschlag der Fraktionen der CDU/CSU, SPD und Die Linke auf Drucksache 18/485. Wer stimmt für diesen Wahlvorschlag? Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Wahlvorschlag ist mit den Stimmen aller Fraktionen angenommen.
Tagesordnungspunkt 6 c:
Wahl eines Mitglieds des Stiftungsrates der
„Stiftung caesar“ ({10})
Drucksache 18/486
Wir stimmen ab über den Wahlvorschlag der Fraktion
der CDU/CSU auf Drucksache 18/486. Wer stimmt für
diesen Wahlvorschlag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Wahlvorschlag ist mit den Stimmen aller
Fraktionen angenommen.
Tagesordnungspunkt 6 d:
Wahl der Mitglieder des Stiftungsrates der
„Deutschen Stiftung Friedensforschung ({11})“
Drucksache 18/487
Wir stimmen ab über den Wahlvorschlag der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD auf Drucksache 18/487.
Wer stimmt für diesen Wahlvorschlag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist der Wahlvorschlag
mit den Stimmen aller Fraktionen angenommen.
Tagesordnungspunkt 6 e:
Wahl der Mitglieder des Senats des Vereins
„Hermann von Helmholtz-Gemeinschaft
Deutscher Forschungszentren e. V.“
Drucksache 18/488
Es liegt ein Wahlvorschlag der Fraktionen der CDU/
CSU und der SPD auf Drucksache 18/488 vor. Wer
stimmt für diesen Wahlvorschlag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Wahlvorschlag ist mit
den Stimmen aller Fraktionen angenommen.
Tagesordnungspunkt 6 f:
Wahl der Mitglieder des Parlamentarischen
Beirats der „Stiftung für das sorbische Volk“
Drucksache 18/489
Wir stimmen ab über den Wahlvorschlag der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD auf Drucksache 18/489.
Wer stimmt für diesen Wahlvorschlag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Wahlvorschlag ist mit
den Stimmen aller Fraktionen angenommen.
Tagesordnungspunkt 6 g:
Wahl von Mitgliedern des Stiftungsrates der
„Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur“
Drucksache 18/490
Hierzu liegt ein interfraktioneller Wahlvorschlag auf
Drucksache 18/490 vor. Wer stimmt für diesen Wahlvorschlag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? Der Wahlvorschlag ist mit den Stimmen aller Fraktionen
angenommen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 4 auf:
Wahl der Mitglieder des Beirats bei der Bundesnetzagentur für Elektrizität, Gas, Telekommunikation, Post und Eisenbahnen
Drucksache 18/491
Vizepräsidentin Ulla Schmidt
Dazu liegen Wahlvorschläge aller Fraktionen auf
Drucksache 18/491 vor. Wer stimmt für diese Wahlvorschläge? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? Die Wahlvorschläge sind mit den Stimmen aller Fraktionen angenommen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 5 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Haltung der Bundesregierung zur Forderung
der bayrischen Staatsregierung nach einem
Moratorium für den Ausbau der Stromnetze
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Dr. Julia Verlinden, Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten
Damen und Herren!
Wer A sagt und erneuerbare Energien haben will,
muss auch B sagen und für einen beschleunigten
Netzausbau sein.
({0})
- Jetzt kommt es!
({1})
So sagte es der Kollege der Union Dr. Joachim Pfeiffer
({2})
vor zwei Jahren anlässlich des Urteils des Bundesverwaltungsgerichts zum Stromnetzausbau in Thüringen.
({3})
Der bayerische Ministerpräsident Seehofer und sein
CSU-Kabinett sehen das jedoch bekanntermaßen ganz
anders. Sie haben letzte Woche angekündigt, den Netzausbau stoppen zu wollen. Darum frage ich jetzt Sie,
liebe Bundesregierung: Wie wollen Sie Ihren bayerischen Löwen wieder einfangen?
({4})
Die CSU kämpft im Augenblick gegen Beschlüsse, die
sie noch letztes Jahr im Bundestag und im Bundesrat
mitgetragen hat. Herr Seehofer blockiert nicht nur beim
Stromnetzausbau. Er will gleichzeitig den Ausbau der
Windkraft in Bayern durch Mindestabstände lahmlegen.
Das ist eine doppelte Sabotage der Energiewende, die
wir uns nicht leisten können.
({5})
Eines ist doch klar: Seehofers Eskapaden schaden dem
Projekt Energiewende in Deutschland. Sie schaden der
sicheren und nachhaltigen Stromversorgung in Bayern.
Weil in Bayern nach und nach die Atomkraftwerke vom
Netz gehen, muss der Atomstrom ersetzt werden, und
zwar geht das mit Energieeffizienz und erneuerbaren
Energien. Die Forderung nach dem Netzausbaustopp
hingegen gefährdet insbesondere die Versorgungssicherheit in Bayern. Genau diese Versorgungssicherheit stellen Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union,
doch immer wieder in den Mittelpunkt Ihrer Argumentation.
Es ist eine absurde Diskussion, die wir hier im Augenblick ertragen müssen. Auf der einen Seite begründet
Minister Gabriel seinen geplanten langsameren Ausbau
der erneuerbaren Energien unter anderem damit, dass der
Netzausbau ja noch nicht ausreichend vorangeschritten
sei. Auf der anderen Seite argumentiert Herr Seehofer,
dass wir den Netzausbau in dem Umfang ja gar nicht
mehr bräuchten wegen der geplanten Deckelung der erneuerbaren Energien. Meine Damen und Herren, da
beißt sich doch die Katze in den Schwanz.
({6})
Natürlich müssen die Stromnetze und der Ausbau der
erneuerbaren Energien aufeinander abgestimmt sein. Die
Planung muss auch dynamisch angepasst werden. Wir
Grüne wollen, dass das alles zügig vorangeht. Liebe
Bundesregierung, es verunsichert die Menschen und Investoren, wenn Sie mit Ihrer Politik einen Schritt vor
und dann wieder zwei Schritte zurückgehen,
({7})
wenn Sie die Energiewendepläne der engagierten Bürgerinnen und Bürger sowie der Unternehmen blockieren
und ausbremsen und ständig andere Aspekte der Energiewende öffentlich infrage stellen. So wird das nichts.
({8})
Wir Grüne wollen, dass die Netzinfrastruktur fit gemacht wird für eine Stromversorgung zu 100 Prozent aus
erneuerbaren Energien. Deswegen ist der Netzausbau
richtig. Er muss beschleunigt werden, und zwar naturverträglich und mit transparenter Planung, die die Menschen vor Ort einbezieht. Wir brauchen also neue Leitungen für erneuerbare Energien. Dabei geht es nicht nur
darum, den Strom von Nord nach Süd fließen zu lassen,
sondern es geht auch darum, die schwankende Erzeugung der erneuerbaren Energien großräumig auszugleichen und eine dezentrale Bürgerenergiewende zu ermöglichen.
({9})
Darüber, wie diese neuen Stromleitungen aussehen
sollen, haben wir Grüne andere Vorstellungen als die
vorherige Bundesregierung noch im letzten Jahr. Für uns
ist die Verlegung der Netze unter die Erde eine Möglichkeit, die gesellschaftliche Akzeptanz für das Projekt
Energiewende zu erhöhen.
({10})
Darum hatte die Fraktion der Grünen letztes Jahr in einem Antrag gefordert, dass es mehr Möglichkeiten der
Erdverkabelung geben muss.
({11})
Ausgerechnet auch mit den Stimmen der CSU ist dieser
Antrag der Grünen letztes Frühjahr hier im Bundestag
abgelehnt worden. Wenn es Ihnen ernst wäre mit einer
größeren Akzeptanz für den Netzausbau, warum haben
Sie dann damals Ihre Chance nicht genutzt, sich hier klar
zu positionieren und unserer Forderung zuzustimmen?
({12})
Schließen möchte ich jetzt mit den Worten des
Unionskollegen Fuchs, der ja nach mir reden wird.
({13})
Er hat letztes Jahr anlässlich der Regierungserklärung
zur Energieinfrastruktur gesagt: „Wer den Netzausbau
will, der muss auch dafür sorgen, dass er in allen Bundesländern umgesetzt wird.“
({14})
- Ja, in dem Punkt haben Sie recht. - Ich sehe jetzt die
Bundesregierung in der Verantwortung. Ich wünsche mir
von der Bundesregierung sehr viel mehr Mut, Mut für
die Energiewende, Mut für unsere gesellschaftliche
Chance, mit dem Klimaschutz endlich ernst zu machen.
Vielen Dank.
({15})
Vielen Dank. - Frau Kollegin Verlinden, das war Ihre
erste Rede. Ich gratuliere Ihnen im Namen des gesamten
Hauses dazu.
({0})
Jetzt spricht, wie bereits angekündigt, der Kollege
Dr. Michael Fuchs für die CDU/CSU-Fraktion.
({1})
Verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Verehrte Kollegin Verlinden, Sie haben
insofern ein bisschen Glück, als ich bei der Erwiderung
auf eine Erstlingsrede eine gewisse Beißhemmung habe.
({0})
Ich werde also nicht so deutlich sein, wie ich es eigentlich aus Gründen der Gerechtigkeit sein müsste.
Eines wollen wir festhalten: Wenn Sie mehr Erdverkabelung fordern, dann sagen Sie bitte gleichzeitig dazu,
dass das ungefähr achtmal so teuer wird, und dann sagen
Sie bitte schön auch, wer das bezahlen soll.
({1})
Sie sind ja die Fraktion, deren Wähler mit weitem Abstand am wohlhabendsten sind. Ihre Wähler können das
vielleicht bezahlen, aber die Bürgerinnen und Bürger
werden Ihnen das mit ziemlicher Sicherheit nicht danken, einmal abgesehen davon, dass das ganze System dadurch wesentlich komplizierter, komplexer und schlechter ausbaubar werden würde.
Fest steht eines: Wir brauchen die Ost-Süd-Trasse, die
jetzt gebaut werden soll. Damit wären wir beim nächsten
Problem, das ich mit den Grünen habe: Sie haben in Ostbayern vor kurzem, am 28. Januar 2014 - also gar nicht
lange her -, eine Versammlung abgehalten, auf der Sie
sich ausdrücklich gegen jeden Bau dieser Ost-Süd-Passage ausgesprochen haben.
({2})
- Ich habe das für Sie mitgebracht, ich habe selbst die
Plakate dabei, Herr Krischer; Sie können das alles gleich
bei mir abholen.
({3})
Deswegen, meine sehr geehrten Damen und Herren von
den Grünen, ist es scheinheilig, wenn Sie hier anderslautende Anträge stellen. So etwas lassen wir hier nicht stehen. Es kann nicht sein, dass Sie in Bayern riesige Veranstaltungen machen, auf denen Sie die Leute gegen das
Amprion-Vorhaben aufhetzen, während Sie hier Aktuelle Stunden nutzen, um die Politik der CSU infrage zu
stellen. Die CSU hat auch nicht gesagt, sie will es nicht,
sondern sie hat gesagt, sie möchte ein Moratorium verhängen,
({4})
um innerhalb dieser Phase festzulegen, wo der 50-Kilometer-Korridor verlaufen soll. Das ist die Strategie der
CSU. Dafür kann man Verständnis haben; allerdings
dürfen sie sich damit nicht drei Monate aufhalten, sondern das muss so schnell wie möglich gehen. Denn eines
steht fest: Windstrom nützt uns nichts, wenn er nicht
nach Süddeutschland transportiert werden kann. Der
Strom wird im Süddeutschland gebraucht. Knapp
50 Prozent des Strombedarfs in Bayern werden heute
noch durch Kernkraftwerke gedeckt. Die Kernkraftwerke werden jetzt eines nach dem anderen abgeschaltet. Das erste wird Grafenrheinfeld sein; wenn ich richtig
informiert bin, geht dieses Kernkraftwerk 2015 vom
Netz.
Bis dahin muss die Thüringer Strombrücke fertiggestellt sein. Wer sich heute gegen die Thüringer Strombrücke wehrt, der muss wissen, dass Verzögerungen
beim Bau der Thüringer Strombrücke dazu führen können, dass das Kernkraftwerk Grafenrheinfeld länger am
Netz bleiben muss; denn anders ist diese Strommenge
kaum zu ersetzen.
({5})
Deswegen muss die Thüringer Strombrücke so bald wie
möglich gebaut werden. Jeder ist da in der Verantwortung: die Grünen genauso wie wir, wie die CSU und wie
alle anderen Parteien in diesem Hohen Hause. Die Energiewende kann nur dann funktionieren, wenn alle bereit
sind, daran mitzuarbeiten. Das heißt auch, dass wir gemeinsam versuchen müssen - mit den Übertragungsnetzbetreibern -, die Netze so schnell wie möglich auszubauen und dafür zu sorgen, dass der Ökostrom in die
Netze eingespeist wird, sowohl auf der Ebene der Hochspannungs-Gleichstrom-Übertragung als auch in den
Verteilnetzen, die bis in die kleinen Bereiche reichen.
Ich habe das in meinem eigenen Wahlkreis erlebt: Da
wurde gerade eine wunderbare Solaranlage gebaut; dummerweise war das Netz noch nicht da. Das führt erstens
dazu, dass Kosten entstehen, die wir nicht brauchen können, und zweitens führt es zu Instabilitäten im Netz, die
verhindert werden müssen; denn es gibt Unternehmen,
in denen selbst Millisekundenschwankungen erhebliche
technische Schwierigkeiten auslösen. Wir werden alle
gemeinsam daran arbeiten müssen, das zu verändern.
Der Ausbau der Netze ist für mich der Flaschenhals
der gesamten Energiewende. Wenn es uns nicht gelingt,
parallel zum Ausbau der Nutzung erneuerbarer Energien
die Netze auszubauen, dann wird diese Energiewende
- davon können Sie ausgehen - scheitern,
({6})
und dann sind Sie mit daran schuld: weil Sie vor Ort am
allermeisten dagegen tun.
({7})
Fahren Sie bitte einmal in den wunderschönen Schwarzwald, nach Atdorf - ich war letzte Woche da -: Da hängt
an jedem Baum ein grünes Plakat, dass an dieser Stelle
kein Pumpspeicherwerk gebaut werden dürfe.
({8})
Wir brauchen diese Pumpspeicherwerke aber zur Stabilisierung. Das ist die Scheinheiligkeit, die ich den Grünen
vorwerfe. So können Sie mit uns nicht umgehen. Wir
werden Sie stellen, wir werden dafür sorgen, dass alle
Leute erfahren, dass die Grünen die größten Verhinderer
des Netzausbaus sind.
({9})
Danke schön.
Jetzt spricht die Kollegin Eva Bulling-Schröter, Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
In Bayern regiert das energiepolitische Chaos.
({0})
Die CSU, die die Atomkraft stets unterstützt hat, ist unfähig, umzuschalten, sie hat keinen Plan für eine zukunftsfähige Energieversorgung in Bayern.
Natürlich ist der Wegfall der bayerischen Stromerzeugungskapazitäten durch AKW bis 2022 eine Herausforderung. Hier rächt sich, dass sich die CSU jahrzehntelang auf AKW fixiert und über Ökostrom gelacht hat. So
soll es offensichtlich auch weitergehen: Die Staatsregierung will lieber die Kapazität der Reaktoren von Gundremmingen hochschrauben, anstatt ernsthaft nach vorne
zu schauen. Ich halte das für einen Skandal.
({1})
Ich sage auch: Liebe CSUler, aufwachen!
({2})
Die Zukunft wird erneuerbar sein, auch in Süddeutschland, trotz CSU.
({3})
Energien aus Wind, Sonne und Biomasse, die die
Bürger gewinnen, müssen und werden die Energieversorgung bestimmen. Hocheffiziente Blockheizkraftwerke bieten sich als Brückentechnologie an, um Flauten und Dunkelheit zu überbrücken.
Gerade im Bereich der Windkraft aber wirft München
Knüppel zwischen die Beine, neuerdings sogar mit Rückenwind aus Berlin. Irrwitzige Abstandsregelungen aus
dem Hause Seehofer treffen auf ruinöse Vergütungs- und
Deckelungsregeln von Sigmar Gabriel. Laut Arbeitsentwurf für das neue EEG soll für die Berechnung des maximalen Zubaus nicht einmal der Rückbau alter Windmühlen gegengerechnet werden. Entsprechend früh wird
der Deckel zuklappen, und entsprechend stark werden
die Fördersätze zusätzlich gekappt.
Selbst wenn der Deckel noch offen ist, macht das Vergütungsmodell die Windkraft im Süden platt. Das wiederum spielt fröhlich Horst Seehofer in die Hände. Für den
ist diese preiswerte Technologie schließlich Teufelszeug.
Kein Wunder, dass die CSU gleich noch eine Schippe
drauflegt. Sollte es doch einmal besonders gute Standorte geben, darf dort bestimmt keine Anlage hin. Denn
nach dem Willen der bayerischen Fürsten sollen sie über
2 Kilometer von der Wohnbebauung entfernt sein.
({4})
Ich sage: Absurder geht es kaum! Das sagt übrigens auch
ein Teil Ihrer Parteispitze.
Ich frage mich inzwischen, was die Stromlücke in
Bayern und Baden-Württemberg füllen soll, wenn die
letzten süddeutschen AKW vom Netz gehen. Nun bedient sich Horst Seehofer auch noch des Misstrauens
vieler Bürgerinnen und Bürger gegen den Netzausbau.
Wir von der Linken sagen: Dieses Misstrauen vieler
Menschen an sich ist nicht unberechtigt.
({5})
Das ist es überhaupt nicht, im Gegenteil. Schließlich
liegt dem Netzentwicklungsplan ein krudes Szenario zugrunde. Es lässt die Kohleverstromung ewig im Hochbetrieb weiterlaufen, obwohl die Ökostrommenge ständig
steigt. RWE, Vattenfall und Eon lassen grüßen - wieder
einmal.
({6})
Insofern ist die Förderung von Bürgerinitiativen, die
Bundesnetzplanung zu überarbeiten, vollkommen richtig. Ich unterstütze das explizit.
({7})
Die Linke hat dies selbst immer gefordert. Denn wir
wollen einen regenerativen Stromverbund, aber keine
Kohlestromautobahnen.
Sicher brauchen wir im Süden auch Stromtrassen. Die
Frage ist aber, wie viele und für wen. Die Staatsregierung in Bayern betreibt an dieser Stelle blanken Populismus. Das ist kein Wunder; schließlich stehen die Kommunalwahlen vor der Tür. Ein solches Verhalten sind wir
von der CSU ja gewöhnt.
({8})
Die CSU fordert heute ein Moratorium für den Bau
von Höchstspannungstrassen für exakt die Korridore, an
denen sie bis gestern nichts auszusetzen hatte. Dem Bundesbedarfsplan hat die CSU hier im Haus letztes Jahr zugestimmt,
({9})
im Gegensatz zu den Linken. Sie haben gewusst, welchem Vorhaben Sie da zustimmen. Sie sollten einem
Bayern nicht erzählen: Das haben wir ja gar nicht gewusst.
({10})
Die CSU spielt verlogen den Volkstribun gegen den
Netzausbau. Da frage ich mich: Was ist denn mit stromgeführten Blockheizkraftwerken? Sie könnten diese unterstützen; das wäre sinnvoll. Was ist mit Irsching 5?
Lassen Sie es pleitegehen, oder kümmern Sie sich endlich um Gaskraftwerke?
Der Eindruck verfestigt sich, dass München die Energiewende schlicht gegen die Wand fahren will. Ich sage
Ihnen: Das lassen wir einfach nicht zu. Wir unterstützen
die Initiativen vor Ort, auch die bei mir im Wahlkreis.
({11})
Aus Berlin wird München dann auch noch unterstützt.
Dazu kann ich nur sagen: Bravo, Herr Gabriel. Ändern
Sie Ihre Politik. Die Leute in Bayern warten darauf, auch
Ihre Wähler.
({12})
Vielen Dank. - Das Wort für die Bundesregierung hat
jetzt der Parlamentarische Staatssekretär Uwe
Beckmeyer.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Mich hat die Rede meiner Vorrednerin etwas
ratlos gemacht.
({0})
Wichtig ist doch, in diesem Hause festzustellen, dass wir
den Netzausbau brauchen. Ich denke, diese Feststellung
ist unumstößlich. Bis auf die letzte Rednerin haben alle
anderen Redner - das habe ich so verstanden - dem nicht
widersprochen. Wir brauchen, damit die Energiewende
gelingen kann, leistungsfähige Stromtrassen. Wir wollen
die Energiewende. Hierzu erfahren wir in diesem Hause
breite Unterstützung.
Der Anteil von Strom aus erneuerbaren Energien ist
in den vergangenen Jahren massiv erhöht worden. Das
hat, denke ich, auch eine breite Unterstützung in diesem
Hause gefunden. Es wird weiteren Zubau der erneuerbaren Energien geben. Dazu trägt die Reform des Erneuerbare-Energien-Gesetzes bei, die wir jetzt auf den Weg
bringen. Deshalb ist es nur logisch, wenn wir gleichzeitig auch den Netzausbau beschleunigen. Ich muss hinzufügen - wer die Diskussion der letzten Jahre verfolgt hat,
weiß das -: Die Zeit drängt. Wir sind mit dem Netzausbau schon ein wenig hinterher.
({1})
- Ich komme gleich dazu. Sie haben im Bundestag
jüngst Fragerecht dazu gehabt. Ihre Frage ist auch beantwortet worden.
Die Aufgabe für die Übertragungsnetzbetreiber ist,
die Netze so auszubauen und zu ertüchtigen, dass die
energiewirtschaftlichen Herausforderungen in den
nächsten Jahren sicher bewältigt werden können. Die
Bundesregierung hat in der letzten Legislaturperiode
dazu einen entsprechenden Gesetzentwurf vorgelegt.
Dieser ist in diesem Hause mit sehr breiter Mehrheit verabschiedet worden.
Im Bundesbedarfsplangesetz ist vorgesehen, dass diverse Netzanschlusspunkte miteinander verknüpft werden. Unter den Verknüpfungen sind drei, die Bayern erreichen bzw. durch Bayern führen: Das ist das Vorhaben
mit der Nummer fünf, eine Gleichstromleitung von Bad
Lauchstädt nach Meitingen - der sogenannte Korridor D -, das Vorhaben mit der Nummer vier, eine
Gleichstromleitung von Wilster/Schleswig-Holstein
nach Grafenrheinfeld in Bayern und das Vorhaben mit
der Nummer drei, eine Gleichstromleitung von Brunsbüttel nach Großgartach; das ist Korridor C. - Wir haben
diese entsprechenden Vorgaben gemacht, um - das ist
das Entscheidende - eine hohe Versorgungssicherheit in
Deutschland zu erhalten, damit der Strom auch dort ankommt, wo er gebraucht wird.
Der Strom muss in Zukunft - ich glaube, auch das ist
unumstritten - verstärkt über weite Strecken transportiert werden. Dafür benötigen wir neue Stromtrassen von
Norden nach Süden. Wer das infrage stellt, der hat sich
mit der aktuellen Lage nicht ausführlich genug beschäftigt.
({2})
Wir müssen also alles dafür tun, damit der Netzausbau
nicht weiter stockt und auch nicht ausgebremst wird.
Zum Thema Moratorium will ich nur Folgendes sagen. Ein Moratorium hat rechtlich keine Wirkung. Es ist
eine reine politische Willensbekundung, die im Verfahren überhaupt nicht vorgesehen ist.
({3})
Planungsstopp für Netzausbauprojekte, die vom Energiegesetzgeber energiewirtschaftlich bestätigt worden
sind, wären am Ende nicht das, was wir benötigen. Das
habe ich bereits ausgeführt: Der Wille dieses Hauses, des
Gesetzgebers, ist aber, dass wir den Bundesbedarfsplan
zügig umsetzen. Es wäre fatal, wenn wir diesen nun wieder infrage stellen würden, zumal er ein Beleg dafür ist,
mit welcher Intensität und mit welcher Energie dieses
Haus daran arbeitet, dass die Übertragungsnetzbetreiber
tätig werden.
Der entscheidende Punkt ist: Die Bundesnetzagentur
prüft in diesem Verfahren die Vorhaben. Sie bestätigt nur
die Vorhaben, die unter veränderten Rahmenbedingungen mit hoher Wahrscheinlichkeit erforderlich sind, und
zwar einmal jährlich. Auch das ist gesetzlich verankert,
sodass eine Anpassung in den nächsten Jahren jährlich
stattfinden kann. Auch das ist eine logische Folge aus
den Erfahrungen, die wir in der Vergangenheit gesammelt haben.
Die 2013 auf Basis unseres Gesetzes festgelegten
Vorhaben sind entscheidend dafür, um uns in die Zukunft zu bringen.
Ich will an dieser Stelle deutlich sagen: Diese Maßnahmen beruhen auf realistischen Bedarfsermittlungen.
Sie sind, glaube ich, eine notwendige Basis für das, was
wir uns vorgenommen haben, und ich bin der festen
Überzeugung, dass der Gesetzgeber aktuell keinen
Grund hat, dieses erneut infrage zu stellen. Dieses Gesetz gilt, solange es kein neues Gesetz gibt.
Derzeit bereiten die Übertragungsnetzbetreiber die
Anträge für neue Stromtrassen vor. Geplant ist auch ein
Dialog mit den Bürgerinnen und Bürgern vor Ort, um sie
sehr frühzeitig - auch über förmliche Verfahren - einzubinden. Ich glaube, das ist notwendig, und wir müssen
das genau beobachten. Wir müssen auch mit den Netzbetreibern besprechen, in welcher Art und Weise sie den
Dialog führen. Es gibt hier ganz unterschiedliche Erfahrungen. Einige tun das sehr intensiv, einige gehen eher
formal vor. Netzbetreibern, die das sehr formal angehen
- es werden 1 000 Leute eingeladen, denen das dann von
einer Mitarbeiterin erklärt wird -, ist zu sagen: Das ist zu
wenig. - Wir müssen als Gesetzgeber, als Deutscher
Bundestag, dafür sorgen - das gilt auch für die Bundesregierung -, dass ein ernsthafter Dialog stattfindet.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, die Energiewende geht uns alle an. Wir wollen, dass sie gelingt. Sie
wird nur gelingen, wenn wir beim Netzausbau alle an einem Strang ziehen. Deshalb müssen wir die Sorgen und
Befürchtungen der Bürger ernst nehmen, wenn wir ihnen
die Netzausbaubedarfe zu vermitteln versuchen. Am
Ende des Tages wird es darum gehen, dass Leitungen gebaut werden. Leitungen müssen her! Diese müssen bald
realisiert werden.
Es ist also notwendig, dass wir für Akzeptanz sorgen.
Das ist eine sicherlich anspruchsvolle Aufgabe, aber ich
glaube, es gibt anspruchsvollere. Ich denke, dass der
Bundestag und die politischen Parteien ihren Aufgaben
in dieser Frage gerecht werden müssen.
Mein letzter Gedanke. Einzelinteressen werden uns
hierbei nicht weiterhelfen, sondern wir müssen die Einzelinteressen zurückstellen. Das gilt auch für die vermeintlichen Einzelinteressen von Ländern. Wir dürfen
nicht zur Verunsicherung beitragen, sondern wir müssen
den Umwelt- und Klimaschutz als Zentrum unseres politischen Tuns verstehen. Dazu gehört auch eine erfolgreiche Energiewende.
Wir haben die Instrumente für eine verlässliche und
langfristige Netzausbauplanung verabschiedet. Ich denke,
dass wir sie jetzt auch nutzen müssen. Nutzen wir sie,
damit der Netzausbau kommt! Einen Stopp der Energiewende können und wollen wir uns in der Bundesrepublik
Deutschland nicht leisten.
Herzlichen Dank.
({4})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat der Kollege Dieter Janecek das Wort.
Es ist schon sehr bezeichnend, sehr verehrte Damen
und Herren, dass kein Redner der CSU an dieser Debatte
teilnimmt. Ich kann gut verstehen und nachvollziehen,
dass Sie nicht den Mut aufbringen, hier die Position der
eigenen Staatsregierung zu vertreten.
({0})
- Ja, die reden erst sehr spät, weil sie sich so erst einmal
anhören können, was man auch Gescheites dazu sagen
kann; ich weiß das.
Herr Dr. Fuchs, Sie haben lange recherchieren müssen, um einen aus der grünen Basis zu finden, der vielleicht dagegen ist.
({1})
Ich kann Ihnen eine ganze Staatsregierung und ein Landtagswahlprogramm präsentieren, das ich selbst verantwortet habe und in dem wir diesem Trassenausbau zu
100 Prozent zugestimmt haben. So ist die Faktenlage,
und erzählen Sie nicht diese Ammenmärchen von den
Grünen vor Ort. Es ist die CSU, die vor Ort blockiert.
({2})
Diese CSU vollbringt gerade ein Wunderwerk. Sie
werden das erste Land sein, das die Energiewende ohne
den Ausbau der Windenergie, ohne Photovoltaik und
ohne Stromtrassen vollzieht. Das ist eine technologische
Meisterleistung: eine Energiewende auf der Basis von
heißer Luft. So schaut es aus in Bayern.
({3})
Das von der Staatsregierung ausgerufene Moratorium
zum Trassenausbau, das übrigens vom Staatssekretär gerade dankenswerterweise als reine Luftnummer dargestellt worden ist, weil es rechtlich keine Bindungswirkung hat, ist scheinheilig. Denn Sie haben genau vor
einem Jahr diesem Bundesnetzbedarfsplan im Bundestag
zugestimmt, und Sie haben unseren Vorschlag, Erdverkabelung vor Ort zu ermöglichen, abgelehnt. Das ist die
Faktenlage.
({4})
Wer läuft dagegen in Bayern Sturm? Das sind nicht
nur die Menschen vor Ort, die sich zu Recht sorgen;
denn die Informationspolitik von Amprion ist alles andere als gut. Übrigens frage ich mich: Warum sind Sie
nicht frühzeitig auf die Menschen zugegangen? Warum
haben Sie keine entsprechenden Angebote gemacht? In
Schleswig-Holstein denkt man zum Beispiel darüber
nach, die Bürger zu beteiligen und ihnen über den Netzausbau eine Rendite zu verschaffen. Das wäre eine Möglichkeit, das Ganze positiv zu wenden.
Die bayerische Wirtschaft und der DIHK sind erstaunt, wie Sie die Energiewende in Bayern umsetzen
wollen: ohne Trassen, ohne Erdgas, ohne Windenergie,
ohne Photovoltaik. Vielleicht haben Sie angesichts der
Energiewende verstanden, dass Netze nun einmal billiger als Speicher sind - das ist der aktuelle Sachstand -,
und zwar bis zu 80 Prozent. Kohle ist leider auf absehbare Zeit billiger als Gas. Ich bin sehr gespannt, wie Sie
ein eigenes bayerisches Konzept auf den Weg bringen
wollen.
({5})
Kommen wir zu den Fakten. Ja, die weiträumige
Übertragung von Strom durch HGÜ-Leitungen ist definitiv ein Eingriff. Das müssen wir den Betroffenen vor
Ort klar und deutlich sagen. Es ist die Verantwortung der
Politik, dazu zu stehen. Das tun Sie nicht. Aber es hat
auch Vorteile, wenn Sie HGÜ-Leitungen statt der bisherigen 380-kV-Netze nutzen: Sie haben geringere Übertragungsverluste. Sie haben keine Blindleistung. Sie haben deutlich geringere Belastungen durch elektrische
und magnetische Felder. Sie haben eine hohe Transportkapazität. Sie haben bessere Möglichkeiten der Erdverkabelung. All das sind Chancen; die muss man doch darstellen.
({6})
Aber das Einzige, was Sie können und was Sie tun,
ist, zu verunsichern und Investoren in den Ruin zu treiben. Bayern ist zurzeit der Totengräber der Energiewende. Was Kommunen und Bürgergenossenschaften in
die Hand genommen haben, machen Sie innerhalb weniger Wochen und Monate zunichte. Die Windabstandsregelungen führen dazu, dass gerade noch 7 Prozent der
Projekte verwirklicht werden können. Gegen die Energiewende in Bayern sind Stuttgart 21 oder der Berliner
Flughafenausbau solide Infrastrukturplanungen.
({7})
Was die Logik angeht, muss ich an die heutigen
Worte von Herrn Seehofer denken. Er sagte, man könne
davon ausgehen, dass auch Kohlestrom durch die Trasse
von Nord nach Süd fließt. - Ja, vielen Dank für die Einsicht,
({8})
dass möglicherweise auch Braunkohlestrom nach Bayern fließen könnte. Ist das der Punkt? Je weniger erneuerbare Eigenproduktion Sie in Bayern zulassen - das
machen Sie gerade konsequent -, desto höher ist der
Trassenbedarf. So wird ein Schuh daraus.
Die Grenzkosten bei Windstrom liegen bei nahe null.
Wenn es an der Strombörse Windstrom im Überfluss
gibt: Was geht dann zuerst in die Leitungen, Braunkohleoder Windstrom? Haben Sie sich das überlegt? Es wird
Windstrom sein. Deswegen ist es reine Panikmache, zu
behaupten, dass Bayern praktisch von Kohlestrom abhängig sein könnte. Das wird dann eintreten, wenn Sie
die Energiewende in Bayern nicht endlich konsequent
vorantreiben.
({9})
„Bayern könnte zum Modell für eine gescheiterte
Energiewende werden.“ Das schreibt nicht die taz, sondern die FAZ, die linker Umtriebe unverdächtig ist. Sie
sind auf dem besten Weg dazu - leider. Stellen wir uns
der Realität: Was Sie, insbesondere von der CSU, wirklich wollen, ist in aller Konsequenz die Rückkehr zur
Atomenergie. Das ergibt sich zwingend aus Ihren Maßnahmen. Sie sprechen das nur nicht offen aus.
({10})
Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege
Dr. Joachim Pfeiffer das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist leider
wie so oft: Beim Umbau der Energieversorgung beginnt
das Schwarze-Peter-Spiel.
({0})
Das hilft uns aber, fürchte ich, an dieser Stelle nicht weiter.
Lassen Sie mich versuchen, zumindest ein paar Fakten anzusprechen. Zunächst ist in der Tat festzustellen,
dass es beim Gesamtumbau der Energieversorgung nicht
gelungen ist - das haben wir alle zusammen versäumt -,
den Ausbau der Erzeugung mit dem Ausbau der Netze
so zu synchronisieren, dass das Hand in Hand geht.
({1})
Das war von Anfang an so, egal, wer daran beteiligt war.
Nehmen wir einmal die dena-Netzstudie I. Diese Studie hat sich 2005 das erste Mal mit dem Thema auseinandergesetzt. Ihre Objektivität ist von niemandem zu
bestreiten und auch nicht zu überbieten. Alle Beteiligten,
ob Netzbetreiber, ob Erzeuger, egal welcher Art, Länder,
Kommunen, waren daran beteiligt.
Darin kam man übereinstimmend zu der Ansicht, dass
bis 2010 850 Kilometer Übertragungsnetz neu zu bauen
und 400 Kilometer zu ertüchtigen sind. Das ist überhaupt nicht gelungen. Wir hatten für 2010 eine Zielmarke von 12,5 Prozent erneuerbare Energien. Es waren
aber bis dahin schon 17 Prozent.
Dann haben wir mehrfach nachgesteuert, in welcher
Konstellation auch immer, zum Beispiel in der Großen
Koalition mit dem Energieleitungsausbaugesetz 2009.
Vorgesehen waren 24 Maßnahmen. Bis heute haben wir
gerade einmal 15 Prozent realisiert. Bis 2015, also
nächstes Jahr, wollten wir damit fertig werden.
Zu der Veränderung der Erzeugungsstruktur und dem
hinterherhinkenden Netzausbau kommt hinzu, dass
Deutschland in Europa mittlerweile Transitland Nummer eins für Strom ist. Das ist auch gut und richtig so.
Wir wollen einen europäischen Binnenmarkt für Strom.
Wir wollen transeuropäische Netze ausbauen.
Niemand baut Netze aus Lust und Tollerei, etwa weil
er sonst nichts zu tun oder Geld übrig hat.
({2})
- Nein, niemand macht das. - Vielmehr ist der Bedarf
objektiv nachgewiesen, und es wird mehrfach nachgesteuert. Wir haben gemeinsam - ich glaube, sogar wir
alle - dem Netzausbaubeschleunigungsgesetz und dem
Netzentwicklungsplan zugestimmt, sodass die Bundesnetzagentur jetzt jährlich die gesamte Netzplanung überprüft. Nicht umsonst sind auch einige Korridore bzw.
Netze zurückgestellt worden, weil der Bedarf noch nicht
vorhanden ist oder vielleicht auch gar nicht entsteht.
Aber hier den Eindruck zu erwecken, als wäre kein
Netzausbau notwendig, wenn man etwas Dezentralität,
Vor-Ort-Erzeugung oder Speicherung macht und ansonsten ein paar Einsparungen vornimmt, ist doch hanebüchen. Damit werden die Leute bewusst angelogen. Das
muss ich in aller Deutlichkeit sagen.
Wie sieht die Situation aus? Die Versorgungssicherheit wurde erwähnt. Die Netze sind heute unter Stress.
Nehmen wir das TenneT-Netz, dieses Übertragungsnetz.
2003 gab es dort drei Eingriffe ins Netz. 2010 waren es
290 Eingriffe. 2013 waren es bereits über 1 000 Eingriffe, also im Schnitt jeden Tag drei; früher gab es im
ganzen Jahr nur drei Eingriffe. Das heißt, wir spielen in
der Tat mit der Versorgungssicherheit, und das sollten
wir auch deutlich machen, statt scheinheilig in dem einen oder anderen Punkt Schwarzer Peter zu spielen.
({3})
- Das sage ich allen. Ich komme gleich dazu.
Ich will noch etwas zur Dezentralität sagen. Ich
komme aus der Region Stuttgart, wie man unschwer hört.
In der Region Stuttgart leben 2,6 Millionen Einwohner.
Die Region Stuttgart hat eine Spitzenlast in der Größenordnung von 3 000 Megawatt und einen Jahresenergiebedarf von 20 Terawattstunden. Wollten Sie diesen in der
Region Stuttgart mit Onshorewind aus 1-Megawatt-Anlagen decken, dann bräuchte man 11 000 Windräder. Jetzt
sagen Sie zu Recht: Wir bauen heute keine 1-MegawattAnlagen, sondern 2- oder 3-Megawatt-Anlagen. - Dann
sind wir aber immer noch bei 3 000 Anlagen - nur um
Ihnen einmal die Dimension zu veranschaulichen.
Im Moment sind wir in der Regionalplanung - ich bin
Fraktionsvorsitzender in der dortigen Regionalversammlung - dabei, mit Hochdruck Standorte auszuweisen.
Wenn dabei am Ende 50 Standorte mit zwei bis drei Anlagen herauskommen - dabei sind der Rote Milan und
alles, was vielleicht sonst noch passiert, nicht berücksichtigt -, dann zeigt das, welche Diskrepanz es dabei
gibt.
Meine Damen und Herren, erwecken Sie also bitte
nicht den Eindruck, dass durch Dezentralität der Netzausbau ersetzt werden kann.
({4})
Das ist ein Ammenmärchen; das stimmt nicht. Das sage
ich allen hier und auch in den Bundesländern.
Jetzt zum Thema Erdkabel. Erdkabel sind nicht nur
achtmal teurer, wie der Kollege Fuchs gesagt hat, sondern leider weder technisch ausgereift, noch erhöhen sie
die Akzeptanz, wenn die Übertragung im Wechselstrom
erfolgt.
({5})
Die Eingriffe sind mindestens so groß wie bei Freileitungen. Es ist für die Trasse eine Vegetationsschneise von
9 Metern Breite freizuhalten. Vorteil wäre: Im Winter
liegt kein Schnee auf den Leitungen. Wir haben es mit
dem EnLAG ermöglicht. Es ist bis heute nichts dergleichen realisiert worden, und zwar nicht allein aus Kostengründen, sondern auch wegen der Akzeptanz. Es ist ein
Ammenmärchen, den Leuten zu erzählen: Wenn wir für
das Hochspannungsnetz Erdkabel verlegen, dann wird es
funktionieren.
Das ist also auch insofern falsch. Deshalb sage ich abschließend: Hören wir bei dieser Frage auf mit der
Kleinstaaterei und dem Föderalismus! Das sage ich allen
von A wie Albig über K wie Kretschmann bis zu S wie
Seehofer. Uns den Schwarzen Peter gegenseitig zuzuschieben, hilft überhaupt nicht.
Herr Kollege.
Wenn im Bundesrat alle dem Netzausbau und dem
Energieprogramm zustimmen, dann aber jeder sein eigenes Energieprogramm macht, führt uns dies nicht zum
Erfolg. Da ist mittlerweile in der Tat der Föderalismus
der Haupthemmschuh und nicht die Parteipolitik - das
ist mein Eindruck -, und zwar von Schleswig-Holstein
bis nach Bayern. Deshalb gilt - Sie haben darauf richtigerweise hingewiesen -: Wer A sagt, muss auch B sagen. Wer also A zum Energieprogramm sagt, muss auch
B zum Netzausbau sagen. Der Netzausbau muss vorangetrieben werden, der ja in diesem Hause mit großer
Mehrheit beschlossen wurde.
({0})
Ich kann nur alle - auch die Bundesländer - auffordern,
mitzumachen.
({1})
Kollege Pfeiffer, bitte kommen Sie jetzt zum Schluss.
Ich bin am Schluss, obwohl ich noch viel zu sagen
hätte.
({0})
Davon bin ich fest überzeugt.
Für die Fraktion Die Linke hat der Kollege Ralph
Lenkert das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Geehrte Kolleginnen
und Kollegen! Herr Pfeiffer, die Linke hat dem NABEG,
dem EnLAG, dem Energiewirtschaftsgesetz und dem
Netzausbaubedarfsplan nicht zugestimmt. Wir haben immer gesagt: Dieser Netzausbau ist überzogen. - Das sagt
jetzt auch die CSU. Ich gratuliere!
({0})
Aber die Linke fordert als Alternative eine dezentrale
Stromerzeugung. Dazu braucht es Windräder und Stromspeicher auch in Ihrem geliebten Bayern. Das ist logisch,
und das müssen auch Sie von der CSU einsehen.
({1})
Schauen wir nun auf den Netzausbau; da liegt einiges
im Argen. Erstens. Die Basisdaten für den Ausbau stammen von 2010. Wir erinnern uns: Damals wollten Sie
noch längere Laufzeiten der Atomkraftwerke. Grundlage
waren auch die nicht abgestimmten Energiekonzepte der
einzelnen Bundesländer. Damals gingen Sie vom massiven Neubau von Kohle- und Gaskraftwerken und von
25 Gigawatt Windkraft im Meer aus. Das alles sind inzwischen überholte Annahmen.
Zweitens. CDU, SPD, Grüne und bis vor vier Wochen
die CSU betonten, der Netzausbau sei alternativlos.
Wirklich? Das Gesetz besagt: Der erneuerbare Strom hat
Vorrang; er geht zuerst ins Netz. - Im Norden und Osten
gibt es viele Kohlekraftwerke. Weitere sind geplant oder
im Bau. Diese Kraftwerke können Strom für etwa
3,5 Cent je Kilowattstunde anbieten. Das klingt günstig.
Im Süden gibt es Strombedarf, und dort stehen umweltfreundliche Gaskraftwerke wie Irsching 5. Dort kostet
der Strom circa 4,5 Cent je Kilowattstunde. Das klingt
teuer.
Weil die Transportkapazität für Strom zwischen Nord
und Süd begrenzt ist, kann oft nur Windstrom transportiert werden. Für Kohlestrom fehlt der Platz. Also werden die Kohlekraftwerke heruntergefahren, und das Gaskraftwerk Irsching liefert klimafreundlichen Strom, der
in der Herstellung 1 Cent mehr kostet als der aus Kohle.
Wenn dann die Stromtrassen von der Küste bis zu den
Alpen stehen, ändert sich Folgendes: Windkraftanlagen
liefern weiter Strom ins Netz, und für den Restbedarf an
Strom brummen die klimafeindlichen Kohlekraftwerke.
Das umweltfreundliche Irsching 5 wird abgeschaltet.
Irsching 5 würde pleitegehen. Aber nachts - ohne Solarstrom - und bei großflächiger Windstille fehlt dann die
Reserve. Deshalb wird Irsching 5 als Notreserve be1040
triebsbereit gehalten. Die Kosten werden auf die
Netzentgelte aufgeschlagen.
Fließt Strom von der Nordsee nach München, entstehen bei 800 Kilometer Weg 20 Prozent Übertragungsverluste. Dadurch wird das Netzentgelt höher. Auch die
Baukosten der Netze werden natürlich über das Netzentgelt gedeckt. Großkunden brauchen keine Netzentgelte
zu zahlen. Sie profitieren jedoch vom Netzausbau mit
Strompreisen von unter 4 Cent je Kilowattstunde. Für
Verbraucherinnen und Verbraucher sowie Handwerksbetriebe steigt dagegen das Netzentgelt um mehr als
1 Cent je Kilowattstunde, mehr als man durch den Kohlestrom spart. Eine solche Kostenumverteilung lehnt die
Linke ab.
({2})
Wer profitiert eigentlich noch vom Netzausbau? Die
großen, zentralen Energieerzeuger, die dadurch - nur auf
dem Papier - billigen Strom liefern können und somit
lokale Bürgerenergiegenossenschaften und Stadtwerke
ausbremsen und ihr Monopol ausbauen. Auch die Bauindustrie verdient am Bau von Stromtrassen. Finanzinvestoren von Stromleitungen strahlen; denn denen bringt jeder Euro, der in den Netzausbau fließt, fette 9 Prozent
Rendite. Wir fordern statt Traumrenditen umweltfreundlichen, bezahlbaren Strom für die Menschen.
({3})
Die Linke will erstens, dass in der Netzplanung die
Stilllegung von konventionellen und Atomkraftwerken
berücksichtigt wird,
({4})
zweitens, dass in die Planung die Potenziale einer regionalen Energiespeicherung zum Beispiel durch die Verknüpfung von Stromnetzen mit Wärmespeichern einfließen,
({5})
drittens, dass die Übertragungsnetze vergesellschaftet
werden, damit kein Profitinteresse mehr am Stromleitungsbau besteht und es einheitliche Netzentgelte geben
wird,
({6})
viertens, dass die großen Stromerzeuger an den Transportkosten des Stromes beteiligt werden, und fünftens,
dass das Stromsystem so dezentral wie möglich und nur
so zentral wie nötig gestaltet wird.
({7})
Das will übrigens auch der Bundesverband mittelständische Wirtschaft, sonst nicht unbedingt unser Unterstützer.
({8})
Deshalb fordert die Linke eine Netzplanung, die aktuelle Daten zur Grundlage hat und realistisch die Bedarfe abdeckt, und vor allem will die Linke, dass die
Kosten gerecht verteilt werden.
Stoppen Sie den Netzausbau, bis Sie Klarheit bei den
Berechnungen haben. Das schützt vor Fehlinvestitionen,
uns alle vor unnötiger Landschaftsverschandelung und
verhindert den Akzeptanzverlust der Energiewende. In
Meerbusch-Osterath, in Hessen, Niedersachsen, Thüringen
und Bayern haben die Bürgerinnen und Bürger recht mit
ihrer Ablehnung der Ausbaupläne für 380- und 500-kVLeitungen, und Sie täten gut daran, diese Initiativen ernst
zu nehmen.
({9})
Das Wort hat der Kollege Hubertus Heil für die SPDFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Ich glaube, dass hinter dieser Debatte über
Stromtrassen eine tiefergehende Frage steckt, nämlich
wie es insgesamt um die Akzeptanz von Infrastrukturen
in diesem Land bestellt ist. Wenn man sieht, dass viele
Bürgerinnen und Bürger bei allen möglichen Infrastrukturprojekten, vor allem bei denjenigen, die tatsächlich
oder vermeintlich mit Veränderungen und Belastungen
verbunden sind, skeptisch sind, dann muss man sich mit
den Ursachen dieser Skepsis auseinandersetzen.
Die Ursachen mögen sehr unterschiedlich sein. Es
mag Einzelinteressen geben; da gibt es Ängste und Sorgen, und es gibt manchmal das Gefühl, dass Infrastrukturen den Menschen nicht helfen oder nützen würden.
Deshalb finde ich es geradezu fahrlässig - das sage ich
auch mit Blick auf den Vorredner -, die Akzeptanz für
notwendige Infrastrukturen, zumal für solche, die zum
Gelingen der Energiewende in diesem Land beitragen,
infrage zu stellen.
({0})
Wenn die Linke stolz darauf ist, dass Horst Seehofer bei
ihr abschreibt, dann ist das an sich schon ein Hinweis,
dass das irgendwie alles nicht stimmt.
({1})
Einmal ganz ernsthaft an dieser Stelle: Worum geht es
denn im Kern? Wir haben die Energiewende nicht erst
gestern, auch nicht seit Fukushima, sondern im
Jahre 2000 begonnen. Es geht um eine doppelte Energiewende. Es geht um den geordneten Ausstieg aus der
Atomkraft, und es geht um sehr ehrgeizige Klimaschutzziele. Wir versuchen, diese Energiewende unter den Bedingungen eines Industrielandes zu realisieren, wie es
kein anderes in Europa gibt. Viele schauen auf uns und
fragen, ob das gelingen kann. Es gibt inzwischen Sorgen, auch was die Preisentwicklung oder die Akzeptanz
der Energiewende insgesamt betrifft.
Hubertus Heil ({2})
Aber eines ist doch ohne Frage richtig: Wenn man die
Energiewende zum Erfolg bringen will, dann darf man
nicht verkennen, in welcher Situation wir in Deutschland
sind. Zur Erinnerung: Im Jahr 2000 hatten wir einen
Atomausstieg organisiert, der etwas anders als der war,
der seit Fukushima gilt. Damals wurde zwischen der
Energiewirtschaft und der Politik in Deutschland vereinbart, dass es auch die Möglichkeit gibt, beim Übergang
zum Ausstieg aus der Atomkraft Reststrommengen von
AKW zu übertragen. Das hat uns eine gewisse Flexibilität gegeben, auch im Ausgleich.
Das gilt beim neuen Ausstieg so nicht; es gibt vielmehr fest definierte Ausstiegszeitpunkte. Das führt dazu,
dass wir in einer Situation, in der wir Lastschwerpunkte
und Verbrauchsschwerpunkte im Süden Deutschlands
haben, weil Bayern und Baden-Württemberg ohne Zweifel hocherfolgreiche Wirtschaftsländer sind, ein besonderes Problem haben. Deshalb sage ich etwas deutlicher
als der Staatssekretär, der das sehr vornehm ausgedrückt
hat und dem ich für seinen sachlichen Beitrag zur Aufklärung sehr herzlich danke: Man muss aufpassen - das
ist an die Adresse der Bayerischen Staatsregierung gerichtet -, ob die Bayerische Staatsregierung - auch der
Ministerpräsident - mit ihrer Art des Zickzackkurses
nicht dem Freistaat Bayern, dem sie eigentlich verpflichtet ist, Schaden zufügt. Diese Frage muss man sich stellen.
({3})
Bayern ist auf Versorgungssicherheit angewiesen. Der
Freistaat Bayern ist ein hochattraktiver und hocherfolgreicher Industriestandort.
({4})
Die Menschen in Bayern sind darauf angewiesen, dass
sie Versorgungssicherheit haben, dass es keine Blackouts
gibt, dass man sich darauf verlassen kann, dass alles
funktioniert.
Jetzt schauen wir uns einmal die aktuelle Situation an:
Im Jahre 2015 wird Grafenrheinfeld vom Netz gehen;
das ist Konsens im gesamten Haus. Selbst die Betreiber
rechnen nicht mehr damit, dass, egal was jetzt politisch
passiert, die Restlaufzeiten dieses AKW verlängert werden. Wir hoffen alle, dass die Trasse im Thüringischen
dann zur Verfügung steht.
({5})
Eine Gewissheit haben wir auch da nicht. Das müssen
wir sagen, wenn wir ehrlich miteinander sind ({6})
bis auf die Linke, die vielleicht auch gegen diese Trasse
war. Ich weiß es nicht.
({7})
Ich sage Ihnen: Das wird nicht ausreichen. Wir
werden weitere Trassen brauchen. Schauen Sie sich zum
Beispiel die Hochspannungs-Gleichstrom-Übertragungsleitung, die Trasse von Itzehoe nach Grafenrheinfeld an. Das ist eigentlich die Verbindung von drei alten
AKW-Standorten, vom Standort Brokdorf über den
Standort Grohnde bis hin zu Grafenrheinfeld.
({8})
Der Hintergrund ist die Tatsache, dass wir im Norden
mutmaßlich mehr erneuerbare Energien haben, offshore
und onshore, und dass diese erneuerbaren Energien einen Beitrag zum Ersatz von Atomkraftwerken in Süddeutschland leisten müssen.
Das kann man doof finden. Man kann sagen: Dann
muss man in Bayern vollständig für einen Ersatz sorgen.
- Unabhängig davon, dass ich glaube, dass jede Form
von länderspezifischen Träumen von Energieautarkie etwas naiv ist, geht eins nicht: dass Horst Seehofer jahrelang die Windkraft in Bayern ausbremst und jetzt verhindert, dass Strom aus erneuerbaren Energien aus anderen
Bundesländern zufließen kann. Das ist ökonomische Kamikazepolitik und bestimmt nicht vernünftig.
({9})
Deshalb habe ich die Hoffnung - sie richtet sich namentlich an den Kanzleramtsminister, der mit den Bundesländern im Gespräch ist -, dass wir es schaffen, den
Konsens über den notwendigen Netzausbau in diesem
Land zu erneuern.
Nun will ich eins zum Stand der Debatte sagen: Wir
können jetzt alle mit dem Finger aufeinander zeigen. Wir
haben Widerstand aus Unionskreisen erlebt; auch bei
den Grünen gibt es ein paar Bürgerinitiativen. Ich sage
Ihnen: Die Wahrheit ist, dass die Vertreter der Bürgerinitiativen gegen die geplanten Trassen alle möglichen Parteibücher haben. Darunter gibt es auch welche aus meiner Partei. Sie sehen diese Planungen aus örtlicher
Betroffenheit kritisch. Darunter sind CDU-Bürgermeister, Grüne. Die Linke ist immer mit dabei. Das ist ja gar
keine Frage, wenn es um Protest geht.
({10})
Ich finde, unsere Aufgabe im Deutschen Bundestag
ist es, die Sorgen der Menschen ernst zu nehmen, Bürgerbeteiligung zu organisieren, Naturverträglichkeit zu
beachten. Aber am Ende des Tages, wenn wir der Überzeugung sind, dass unser Land für eine sichere, saubere
und bezahlbare Energieversorgung neue Infrastrukturen
braucht, muss man stehen und darf sich nicht wegducken; sonst ist man nicht glaubwürdig. Diese Glaubwürdigkeit braucht die Energiewende, die braucht unser
Land.
({11})
Für die CDU/CSU-Fraktion spricht nun der Kollege
Karl Holmeier.
({0})
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen
und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Die Menschen haben uns mit einem hervorragenden
Ergebnis gewählt, damit wir ihre Interessen vertreten.
Genau das macht die CSU, und genau das macht auch
die Bayerische Staatsregierung. Genau das ist es, was
uns einige jetzt vorwerfen, die diesen Auftrag offensichtlich nicht so ernst nehmen wie wir.
({0})
Um auf die heiße Luft zurückzukommen: Wir in Bayern sind führend im Bereich der Energiewende.
({1})
Herr Janecek, wir erzeugen mit erneuerbaren Energien
heiße Luft, und Sie plappern nur heiße Luft.
({2})
Das Ziel der Großen Koalition ist es, das Zeitalter der
erneuerbaren Energien so schnell wie möglich zu erreichen. Die Welt schaut gespannt auf Deutschland, ob uns
diese große Aufgabe gelingt. Wir werden sie meistern;
sie wird uns gelingen. Ich sage Ihnen aber auch: Sie wird
nur gemeinsam mit den Menschen gelingen. Wir werden
das nicht an den Köpfen der Menschen vorbei schaffen
können. Der Umbau der Energieversorgung erfordert
verschiedenste Maßnahmen. Ein ganz entscheidender
Bereich dabei ist der Ausbau der Stromnetze. Man
könnte sagen: Die Netze sind die Lebensadern der Energiewende; ich glaube, da sind wir uns einig.
({3})
Um den Anteil der erneuerbaren Energien an der
Stromerzeugung zu erhöhen und eine sichere Energieversorgung zu gewährleisten, müssen wir dringend die
Netze ausbauen; das ist ganz klar. Daran besteht auch
kein Zweifel. Wir brauchen darüber hinaus mehr Übertragungsnetze und mehr Verteilnetze. Dies ist notwendig, weil es nicht in allen Regionen möglich sein wird,
den Energiebedarf auf Dauer mit erneuerbaren Energien
zu decken. Das betrifft besonders - auch dies wurde gesagt - den Süden Deutschlands mit der Wirtschaftsstärke
Bayerns. Um den Ausbau der Stromnetze voranzubringen, haben wir bereits in den letzten Jahren einige Maßnahmen und Gesetze auf den Weg gebracht; ich glaube,
ich brauche sie nicht im Einzelnen zu nennen. Das zeigt:
Wir haben einen Plan, wie wir den Ausbau der Übertragungsnetze in einem großen Schub voranbringen wollen.
Verantwortungsvolle Politik heißt aber auch, auf Veränderungen zu reagieren und diese nicht einfach zu ignorieren. Dazu gehört zum Beispiel, dass wir uns vielleicht
noch einmal genau anschauen müssen, ob es nicht an einigen Stellen möglich ist, statt Freileitungen zu verlegen,
in Richtung Erdverkabelung zu gehen.
({4})
Prüfen sollten wir auch, ob wir nicht die Abstandsflächen zwischen Stromleitungen und Wohnbebauung vergrößern sollten. Darüber hinaus sollten wir berücksichtigen, dass die Novellierung des EEG ansteht.
({5})
Wir sollten schauen, ob diese Novellierung auch Auswirkungen auf den Netzausbau haben wird.
({6})
Deshalb sollten wir vor neuen Entscheidungen erst einmal den Gesetzentwurf zur Novellierung des EEG abwarten. Herr Gabriel hat gesagt, dass er den bis Ostern
vorlegen wird.
({7})
Bis Ostern ist nicht mehr lange hin, und ich bin zuversichtlich, dass Herr Gabriel diesen Zeitplan einhält.
Schließlich, meine Damen und Herren, dürfen wir
nicht vergessen, die Menschen auf unserem Weg in das
Zeitalter der erneuerbaren Energien mitzunehmen. Dieses Mitnehmen hat nichts mit Populismus zu tun.
({8})
Ich sage Ihnen voraus: Der Umstieg auf die erneuerbaren
Energien wird nur dann ein Erfolg sein, wenn wir die
Akzeptanz der Bevölkerung haben. Durch die Demonstrationen haben wir gesehen, dass das nicht immer der
Fall ist.
Wir wollen das Zeitalter der erneuerbaren Energien so
schnell wie möglich erreichen;
({9})
ich glaube, darin sind wir uns alle einig. Dabei müssen
wir die Bezahlbarkeit und vor allem auch die Versorgungssicherheit wahren; darin sind wir uns sicherlich
ebenfalls einig. Wir müssen aber auch daran denken, die
Energiewende gemeinsam mit den Menschen zu gestalten und nicht über sie hinweg, nur um am Ende vielleicht
ein paar Monate schneller zu sein. Die Entscheidung der
Bayerischen Staatsregierung zu diesem Moratorium ist,
glaube ich, der richtige Weg. Wir verlieren vielleicht ein
Vierteljahr; aber das können wir sicherlich aushalten.
Herzlichen Dank.
({10})
Der Kollege Dirk Becker hat für die SPD-Fraktion
das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Holmeier, ich bin Ihnen für Ihren letzten Satz sehr
dankbar; denn Sie haben die Debatte jetzt endlich auf
den Punkt konzentriert: In Bayern sind Kommunalwahlen. - Das ist der Punkt.
({0})
Sie haben zu Recht gesagt, dass Sie für die Interessen
der Menschen antreten und eintreten. Das nehmen wir
alle für uns in Anspruch.
Wir wissen doch, wie die Debatte zustande kam. Es
hat eine Veranstaltung mit einem Übertragungsnetzbetreiber wegen einer Trasse gegeben. Die Veranstaltung
ist aus dem Ruder gelaufen, weil es Proteste gab. Herr
Seehofer hat das mitbekommen und gesagt: Da muss ich
mal rein. Jetzt gebe ich wieder den Rächer der Enterbten
und stelle das alles infrage. - Das ist der Hintergrund.
({1})
Wir sollten diese Debatte jetzt einkochen. Es geht hier
nicht um die grundsätzliche Frage der Zustimmung zur
Energiewende oder der Ablehnung der Energiewende;
trotzdem darf man so etwas nicht durchgehen lassen.
Der Netzausbau ist ein hochsensibles Thema. Dafür
braucht man Verlässlichkeit und Investitionssicherheit.
Jede Rumeierei, jede Infragestellung macht das zunichte,
was gerade auch Sie in den letzten drei Jahren in all den
Planungsverfahren zum Netzausbau mit hinbekommen
haben.
({2})
Von daher darf man das, was Herr Seehofer da macht,
nicht durchgehen lassen.
Herr Dr. Pfeiffer, Sie haben zu Recht gesagt, wir sollten jetzt mit dem Schwarzer-Peter-Spiel aufhören. Das
muss ich heute auch mit Blick auf die Bayerische Staatsregierung sagen. Die Tickermeldungen reißen nicht ab.
Jetzt meldet sich Frau Aigner zu Wort und sagt, die
Staatsregierung mache Druck auf die Bundesnetzagentur
und den Bundesenergieminister. Sigmar Gabriel sei dafür verantwortlich und zuständig, wenn in Bayern nun
das Licht ausgehe.
({3})
Ich stelle fest: Die Dame war selbst seit 2008 Mitglied
der Bundesregierung. Was hat sie in der Zeit getan, um
an der Stelle für Abhilfe zu sorgen?
({4})
Es kann doch nicht sein, dass jemand, der bis vor zwei
Jahren noch für die Laufzeitverlängerung gestimmt hat
und Bayern damit in einem guten Lichte sah, jetzt auf
einmal solche Töne anschlägt. Ich sage: Hört auf mit
dem Schwarzer-Peter-Spiel! Das hilft uns allen nicht.
({5})
Wir müssen gemeinsam ein Interesse daran haben.
Herr Fuchs, Sie haben ja zu Recht gesagt: Das Thema
Netzausbau ist mit dem Thema Energiewende untrennbar verbunden. Wir haben uns in der Großen Koalition
nicht mit dem Ausbaukorridor beschäftigt, weil wir so
viel Spaß daran hätten, sondern weil wir ihn erst einmal
mit dem Netzausbau synchronisieren müssen. Es gibt bei
vielen Projekten Verzögerungen.
Eines aber will ich in Richtung Bayern sagen. Herr
Seehofer wird heute zitiert, er habe sich noch kein Urteil
über die Stromtrasse gebildet. Er hat aber letztes Jahr im
Bundesrat zugestimmt. Ich kann nur allen Kollegen
empfehlen: Bevor man über Stromtrassen abstimmt,
sollte man sich ein Urteil bilden. Denn eines will ich
auch feststellen - nur zur Versachlichung -: Die Stromtrasse, an der sich jetzt der Streit entzündet, nämlich die
Süd-Ost-Passage, war Bestandteil sowohl des Leitszenarios B, das jetzt gilt, als auch des Szenarios A - das war
der Rahmen, der den Ausbau der erneuerbaren Energien
im Endeffekt noch stärker gedrosselt hätte - und wurde
als unverzichtbar eingestuft. Von daher wusste Herr
Seehofer seit 2011 um die Notwendigkeit dieser Trasse.
Darauf möchte ich angesichts der Bedeutung für das Gesamtstromsystem hinweisen.
Ich will mit Blick auf Bayern die drei Stromtrassen,
die von Bedeutung sind, noch einmal kurz nennen.
Hubertus Heil hat eben eine angesprochen: die SuedLink-Trasse, 800 Kilometer durch Deutschland. Viele
Kollegen werden in ihrem Wahlkreis betroffen sein. Ich
komme aus Lippe; da geht sie am Rand vorbei. Auch der
Kollege Zertik von der CDU ist davon unmittelbar betroffen.
({6})
Ich kann Ihnen aber versprechen: Diese Trasse, die wir
auch für Bayern bauen, werde ich in meinem Wahlkreis
verteidigen; denn das Stromsystem in Deutschland besteht aus 16 Ländern. Es ist für mich selbstverständlich,
dass ich mir in meinem Wahlkreis keinen schlanken Fuß
mache, auch wenn es hier um Bayern geht. Ich erwarte
aber das Gleiche vom bayerischen Ministerpräsidenten.
({7})
Die zweite Trasse ist die Thüringer Strombrücke, 450
Kilometer, zum größten Teil auf bayerischem Gebiet.
Die finden die Bayern toll. Diese beiden Trassen berühren Bayern von der Ausbauproblematik her kaum.
Aber an der dritten Trasse lässt sich der Zorn des Ministerpräsidenten anscheinend festmachen: Das ist die
Süd-Ost-Passage, die zum großen Teil auf bayerischem
Gebiet gebaut wird, aber zuallererst dazu dienen soll,
Strom aus erneuerbaren Energien im Osten Deutsch1044
lands abfließen zu lassen, damit er nicht weiter über Polen und Tschechien läuft; denn die haben die Nase voll
davon, dass unser Strom in ihre Netze drückt und da den
Markt versaut.
({8})
Es ist ein Zeichen der Solidarität, auch mit unseren
Nachbarn im Osten, dass wir zu dieser Trasse stehen, die
den deutschen Strommarkt besser organisiert.
({9})
Meine Hoffnung, mein Wunsch und meine sichere
Annahme lauten: Am 17. März ist die Messe gelesen,
und der ganze Wind ist so schnell verflogen, wie er gekommen ist; denn dann sind die Kommunalwahlen in
Bayern vorbei. Ich gehe davon aus, dass dann allseits
wieder Vernunft einkehrt und die energiepolitische Gesamtverantwortung gesehen wird.
Vielen Dank.
({10})
Die Kollegin Barbara Lanzinger hat jetzt für die
Unionsfraktion das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Wenn die Energiewende gelingen soll, was wir
alle wollen, auch in Bayern, dann müssen wir wichtige
Entscheidungen treffen,
({0})
die zugegebenermaßen sicherlich nicht immer ganz einfach sind und die uns in der Diskussion und im Ablauf
einiges abverlangen: Differenziertheit in der Diskussion,
Sachlichkeit, Ehrlichkeit und Transparenz, aber auch
den Mut zu durchaus kontroverser Diskussion und zu der
Aussage, dass bei allen Entscheidungen gelten muss:
Gründlichkeit vor Schnelligkeit. Das ist im Übrigen
auch eine Aussage des DGB.
Ich möchte erwähnen: Wir haben nicht nur im März
in Bayern Kommunalwahlen, sondern es gibt, soweit ich
weiß, in diesem Jahr in allen Bundesländern Kommunalwahlen.
({1})
Auch dort gibt es Probleme; das muss man der Ehrlichkeit halber hinzufügen.
Vor dem Hintergrund der Reformierung und Neujustierung - ich sage bewusst: Neujustierung - des EEG
und der Gestaltung eines Marktdesigns entstehen neue
energiepolitische Rahmenbedingungen, an die wir unsere Planung der Stromtrassen anpassen müssen, dezentral und zentral. Wir können das eine ohne das andere
nicht zielführend umsetzen.
Wenn wir mit der Reform des EEG tatsächlich langfristig erfolgreich sein wollen, dann müssen wir - das
möchte ich an dieser Stelle ganz deutlich erwähnen auch bei der Speicherforschung noch einen gehörigen
Zahn zulegen. Die Speicher sind aus meiner Sicht ein
wichtiges Teilstück des funktionierenden Ganzen. Wir
müssen das hoffentlich bald nutzbare Potenzial eng an
die zukünftige Marktintegration der erneuerbaren Energien koppeln. Versorgungssicherheit, Bezahlbarkeit,
Wettbewerbsfähigkeit und Planbarkeit für alle Menschen, vor allem für unsere Wirtschaft, stehen über allem. Lassen Sie uns unter diesen Vorgaben das EEG reformieren und die Kapazitätsmärkte diskutieren.
Ich bin schon der Meinung, dass es uns gut ansteht, zu
überprüfen, ob der eingeschlagene Weg weiterhin der
richtige ist oder ob wir nicht vielleicht doch Veränderungen vornehmen müssen. Dabei bin ich überzeugt, dass
wir eine Gleichstromtrasse brauchen, welche in relativ
kompensierter Form - das wissen wir alle - viel Energie
transportieren kann. Bayern hat die Schaffung der rechtlichen Grundlagen für den Netzausbau unterstützt. Jedoch müssen wir erst einmal den ersten Schritt vor dem
zweiten machen: erst EEG-Reform und Kapazitätsmärkte klären, dann wissen wir, was wir brauchen.
Frau Dr. Verlinden, die Planung muss dynamisch angepasst werden; da gebe ich Ihnen recht.
({2})
Für den Ausbau der Netze bedeutet dies: Zunächst muss
eine Analyse der Veränderung energiepolitischer Rahmenbedingungen erfolgen. Erst dann kann eine zielführende Diskussion unter Einbindung der Bürger stattfinden. Wir planen keinen Strategiewechsel; aber
Gründlichkeit geht vor Schnelligkeit. Wir werden klären
müssen, wie stark wir in den nächsten Wochen und Monaten in die bestehenden energiepolitischen Rahmenbedingungen eingreifen, wie wir sie ändern - eventuell
sogar komplett. Gerade wegen der Brisanz der anstehenden Veränderungen gilt umso mehr: Gründlichkeit vor
Schnelligkeit.
({3})
Schließlich dürfen wir nicht außer Acht lassen: Was
jetzt genehmigt und gebaut wird, können wir nicht so
einfach rückgängig machen. Auch hier gilt Nachhaltigkeit im Denken und Handeln. Es gilt, die Sachlage bedacht anzugehen.
({4})
Bis 2017 sollen die Planfeststellungen erfolgen. Ein
paar Wochen Planungs- und Aufklärungszeit sind hier,
wie es der Kollege Karl Holmeier schon formuliert hat,
durchaus vertretbar. Die Energiewende ist ein Generationenprojekt, aber vor allem ein Bürgerprojekt. Wir müssen schon den Mut haben, zu sagen: Okay, vielleicht waBarbara Lanzinger
ren wir hier zu schnell. Nehmen wir uns die Zeit, um die
Bürger an der Energiewende teilhaben zu lassen, und erklären wir ihnen das Warum und Wieso, damit sie verstehen können, wie wichtig der Bau einer Stromtrasse
ist. - Anscheinend haben wir das alle so nicht gemacht.
({5})
- Das gilt auch für Sie.
Nehmen wir die Bürger mit durch eine offene und
transparente Diskussion über Alternativen zu den Freileitungen. Zum Thema Erdverkabelung sei in diesem
Zusammenhang nochmals gesagt: Lügen wir uns doch
nicht selber in die Tasche! Auch hier gilt Klartext. Erdkabel sind nicht so einfach unter die Erde zu buddeln. Es
sind riesige Erdbewegungen und riesige Abstände nötig.
Wer behauptet, Erdkabel seien 1,6-mal so teuer, dem
sage ich: Sie sind mindestens achtmal so teuer wie Freileitungen. Das müssen wir den Leuten sagen. Das Ganze
war damals wohl auch nicht so akzeptiert. Wir brauchen
deshalb auch eine Gesetzesänderung.
Wie bei vielen Großprojekten und starken Eingriffen
in die Natur, in das Eigentum der Menschen und eventuell in die Gesundheit kann ein erfolgreicher Netzausbau
nur im Konsens mit der Bevölkerung und den Kommunen und nicht über deren Köpfe hinweg mit viel Sensibilität gelingen. Es ist unprofessionell, wenn man glaubt,
wie beim Netzbetreiber Amprion geschehen, es genüge,
vor ein paar Hundert Menschen die Trassenführung vorzustellen, und sich dann wundert, wenn alle brüllen.
({6})
Das geht so nicht. Auch deshalb, denke ich, sollten
wir einfach noch einmal überlegen. Wir brauchen glaubwürdige Bürgerdiskussionen bzw. Bürgerdialoge.
({7})
Gerade wegen dieser Brisanz würde ich mich freuen,
wenn die Bundesregierung gemeinsam mit der Bundesnetzagentur und den Netzbetreibern Kriterien für bürgerfreundliche und konstruktive Dialoge aufstellt. Wir setzen darauf, durch Transparenz Akzeptanz zu schaffen.
Vielen Dank.
({8})
Das Wort hat der Kollege Florian Post für die SPDFraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen
und Kollegen! Wahnsinnig leid haben mir in den letzten
Tagen einige Abgeordnete der Unionsfraktion getan,
nämlich die Gruppe der CSU-Bundestagsabgeordneten.
Ich möchte nur einige Überschriften aus der Presse der
letzten Tage zitieren: „Seehofers Amoklauf“, schreibt
die Frankfurter Rundschau. „Crazy Horst landet Volltreffer“, schreibt die taz. „Seehofers aberwitzige Energiewende“ ist in der Berliner Zeitung zu lesen. Und
selbst ein Minister aus dem Kabinett Seehofers wird mit
den Worten zitiert:
Seehofer verliert im Moment nicht an Macht, sondern an Respekt.
({0})
Mit der Forderung nach einem Stopp des Netzausbaus hat Ihr Parteivorsitzender mal wieder eine seiner
atemberaubenden Wendungen vollzogen. Er stellt damit einen Beschluss infrage, den er selbst mit zu verantworten hat. Ich denke, Herr Kollege Holmeier
- Sie haben gerade gesprochen -, Sie haben im Juni
vergangenen Jahres dem Bundesbedarfsplangesetz
ebenfalls zugestimmt. Aber nicht nur die CSU-Abgeordneten im Bundestag haben zugestimmt, sondern auch
die Bayerische Staatsregierung im Bundesrat.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen von der CSU,
wie erklären Sie eigentlich den Bürgern vor Ort, warum Sie und Ihre CSU-geführte Staatsregierung
- auch Ihr Parteivorsitzender - damals zugestimmt
haben und nun von dieser Zustimmung wieder abrücken? Welche Antwort haben Sie darauf, wie der Ausstieg aus der Atomenergie ohne den nötigen Netzausbau
gelingen kann?
Worum geht es hier eigentlich? Wir haben uns
- mit breiter Zustimmung in der Bevölkerung - dazu
entschieden, als erstes Industrieland aus der Atomenergie auszusteigen. Das ist zentraler Bestandteil des
Mammutprojekts Energiewende. Aber das funktioniert nicht, indem wir fordern, dass alles bleibt, wie es
ist. Dafür sind Anstrengungen notwendig, gerade in
Bayern, da sich dort der Anteil am Atomstrom noch auf
circa 50 Prozent beläuft. Eine dieser Anstrengungen
wird sein, dafür zu sorgen, dass wir Strom, den wir jetzt
schon durch Windkraft im windreichen Norden erzeugen
können, in den Süden transportieren. Dafür brauchen wir
ein Netz, das dies leisten kann. Darüber waren sich im
Sommer noch alle einig. Auch von Ministerpräsident
Seehofer kam kein vernehmbarer Widerspruch.
Sorgen von Bürgern müssen ernst genommen werden,
und der Netzausbau muss so verträglich wie möglich gestaltet sein.
({1})
Abstandsregelungen von Leitungen zu Wohngebieten
müssen eingehalten werden. Natürlich geht es auch um
transparente Aufklärung der Bürgerinnen und Bürger.
Ich bin in diesem Zusammenhang dem Kollegen Uli
Grötsch sehr dankbar, dass er gestern einen Vertreter des
Übertragungsnetzbetreibers Amprion in die bayerische
Landesgruppe eingeladen hat. Von den bayerischen
SPD-Abgeordneten wurde dies mehr als deutlich angemahnt.
Es ist legitim, dass Bundesländer ihre Interessen vertreten. Das ist nichts Neues und keine bayerische Erfindung. Das machen die SPD-geführten Bundesländer ge1046
nauso. Dass aber auf populistische Weise angesichts der
schubweise auftretenden Stimmungsschwankungen des
bayerischen Ministerpräsidenten
({2})
das gesamte Projekt der Energiewende gefährdet wird,
schadet nicht nur dem Projekt, sondern in zunehmender
Weise dem Industriestandort Bayern. Das sage nicht nur
ich; das sagt auch der Hauptgeschäftsführer der Industrie- und Handelskammer für München und Oberbayern,
Peter Driessen, der in der Vergangenheit nicht durch sozialdemokratische Umtriebe aufgefallen ist.
({3})
Kollege Hubertus Heil hat daher recht, wenn er Ministerpräsident Seehofer als wirtschaftspolitischen Kamikazen und Störfall der Energiewende bezeichnet.
({4})
Seehofer argumentiert nun, durch das EEG-Eckpunktepapier wäre die Geschäftsgrundlage für erteilte Zustimmungen entfallen. Das zieht nicht. Neue Fördersätze
und ein neues Fördersystem verändern doch nicht die
energiepolitischen Ausgangsbedingungen. Vielmehr
wird versucht, die Kostendynamik des Ökostromausbaus
zu bremsen. Herr Holmeier, Sie haben gerade gesagt, wir
sollten in aller Ruhe den Gesetzentwurf zur Novellierung des EEG abwarten. Ihr Ministerpräsident und Parteivorsitzender erklärt aber schon die Geschäftsgrundlage für entfallen, wenn ein EEG-Eckpunktepapier
vorliegt. Das passt doch hinten und vorne nicht zusammen.
({5})
Sowohl die Bundeskanzlerin als auch der Bundesminister für Wirtschaft und Energie haben sich zum geforderten Moratorium von Horst Seehofer in den letzten
Tagen eindeutig und einmütig geäußert. Ich weiß auch,
dass hier in den Reihen der CSU viele sitzen, die Energiepolitik ernsthaft betreiben wollen und von ihrem eigenen Parteivorsitzenden geradezu hängen gelassen werden.
Horst Seehofer muss klar sein: keine Windräder in
Bayern dank seiner 10H-Regelung, Forderung nach einem Moratorium für Stromtrassen; sein groß angekündigter Bayernplan „Biogas“ wird von den eigenen
Ministerien zerfetzt; er ist gegen alles, was irgendwo
von irgendwem irgendwann Protest auslösen könnte dann aber noch zu behaupten, dass man zur Energiewende steht, ist ungefähr so, als wenn ich die Existenz
der eierlegenden Wollmilchsau bejahen würde. Ich
denke, Ministerpräsident Seehofer glaubt selber, dass er
diese in puncto Energiewende gefunden hat.
Danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({6})
Kollege Post, das war Ihre erste Rede im Deutschen
Bundestag. Herzlichen Glückwunsch zur Absolvierung
Ihrer Rede, fast in der vorgesehenen Redezeit! Für Ihre
weitere Arbeit wünschen wir Ihnen viel Erfolg.
({0})
Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege
Thomas Bareiß das Wort.
Liebe Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen
und Herren! Lieber Herr Post, auch von meiner Seite
herzlichen Glückwunsch zu Ihrer ersten Rede, auch
wenn wir noch ein bisschen üben müssen, wo denn hier
im Hause der Freund und wo der Feind steckt.
({0})
Aber das kriegen wir in den nächsten Wochen auch noch
hin; davon bin ich überzeugt.
Zu Beginn ist mir ein Punkt sehr wichtig. Wir sollten
zur Kernfrage der Grünen zurückkommen, nämlich zu
der Frage, wie die Bundesregierung zum Leitungsausbau
steht. Diese Debatte hat gezeigt, dass sich die Bundesregierung und beide Koalitionsfraktionen klar und deutlich
zum Leitungsausbau bekennen
({1})
und diesen in den nächsten Jahren auch Stück für Stück
voranbringen.
({2})
Das hat auch diese Debatte gezeigt.
Wir werden aber in allen Regionen, in allen gesellschaftlichen Gruppen Akzeptanzprobleme bekommen;
wir haben sie auch schon. Deshalb müssen wir meines
Erachtens sehr sensibel mit diesem Thema umgehen. Da
möchte ich die Kolleginnen und Kollegen der Grünen
ein bisschen um Demut und leisere Töne bitten.
({3})
Ich habe hier ein Beispiel aus Bayreuth - eines von vielen-, wo es in der Lokalpresse folgende Überschrift gab:
„Zwischen CSU und Grüne passt kein Blatt Papier“.
({4})
Die Grünen sind also vor Ort dabei, wenn es darum geht,
den Ausbau mancher Leitungen infrage zu stellen und
kritische Fragen zu stellen, wenn es um den Netzausbau
geht.
Alle, die Energiepolitik betreiben und vor Ort aktiv
sind, erleben, dass es zwar eine hohe Zustimmung zur
Energiewende gibt; über 70 Prozent der Menschen in
unserem Land halten die Energiewende für richtig.
Wenn es aber darum geht, die Energiewende vor Ort umzusetzen, dann gibt es oft große Fragezeichen, dann
müssen wir für Akzeptanz kämpfen. Da stehen wir alle
zusammen in der Verantwortung.
Verantwortung tragen auch die Unternehmen - die Kollegen der CSU haben das angesprochen -: Amprion, TenneT, TransnetBW und 50Hertz müssen vor Ort sensibel mit
den Gefühlen und Sorgen der Menschen umgehen, müssen
transparente Verfahren wählen und vor allen Dingen auch
die kommunalen Mandats- und Amtsträger mitnehmen
und sie vorher informieren,
({5})
weil sie den Ausbau der Leitungen vor Ort Stück für
Stück begleiten müssen.
Aber auch hier im Hohen Haus muss von allen Fraktionen mehr Verantwortung übernommen werden. Wir
dürfen uns nicht herausreden, indem wir sagen, der
Netzbau sei vollkommen überdimensioniert; das habe
ich auch heute wieder gehört. Manche sagen, dass wir
Offshorewindkraftanlagen und deshalb auch den Netzausbau gar nicht brauchen. Ich finde es immer ganz abstrus, wenn es heißt: Der Braunkohlestrom verstopft die
Netze, und solange Braunkohlestrom in die Netze fließt,
brauchen wir keine neuen Leitungen. - Diese Argumentationen werden vor Ort keine Akzeptanz für den Netzausbau bringen. Deswegen müssen wir aufpassen, wie
wir vor Ort auftreten.
Meine Damen und Herren, wir müssen den Energiekonsens, den wir immer wieder besprochen haben, auch
in die Tat umsetzen. Wir können nicht immer nur darüber sprechen, wo wir aussteigen wollen, sondern müssen auch darüber sprechen, wo wir einsteigen wollen.
Wir brauchen neue Leitungen, wir brauchen Windräder,
auch in Baden-Württemberg und Bayern.
({6})
Wir brauchen aber auch hocheffiziente Kohlekraftwerke,
um die Schwankungen in den Zeiten auszugleichen, in
denen wir nicht genügend Strom aus Wind und Sonne
haben. Hier brauchen wir einen breiten Energiekonsens,
den ich in diesem Hause leider nicht überall erkennen
kann.
({7})
Sie von den Grünen haben sich immer weggeduckt,
wenn es darum ging, den entsprechenden Gesetzen in
diesem Haus zuzustimmen, um den Leitungsausbau voranzubringen; daran haben sich vorhin einige nur nicht
mehr ganz so erinnert.
({8})
Sie haben dem NABEG nicht zugestimmt. Dem Bundesbedarfsplan, bei dem wir gemeinsam versucht haben,
den Bedarf beim Leitungsausbau zu ermitteln, und bei
dem wir gesagt haben, dass wir den Leitungsausbau
Stück für Stück umsetzen wollen, haben Sie auch nicht
zugestimmt. Immer wenn es ernst wurde, haben Sie sich
weggeduckt.
Politik braucht Glaubwürdigkeit. Wenn wir glaubwürdig sein wollen, dann müssen wir den Menschen
nicht nur erklären, wie wir es machen. Wir müssen nicht
nur transparent sein, sondern auch erklären, warum wir
die Leitungen brauchen. Wir brauchen diese Leitungen,
weil wir in den nächsten zehn Jahren Stück für Stück
sechs Kraftwerke mit enormen Kapazitäten im Süden
unseres Landes verlieren werden, gerade in leistungsstarken Zentren des Südens, wo viel Industrie ist, wo
viele Wirtschaftsunternehmen angesiedelt sind.
({9})
Im Norden werden wir in den nächsten Jahren extrem in
den Ausbau von Windkraft investieren. Allein Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern planen einen Zubau von jeweils 8 Gigawatt, Niedersachsen 14 Gigawatt,
Schleswig-Holstein 13 Gigawatt. In den nächsten zehn
Jahren werden wir allein im Norden einen Zubau von 43
Gigawatt haben. Das bedeutet eine enorme Transformation im Rahmen unserer Energieversorgung. Wir müssen
den Norden mit dem Süden verbinden. Deshalb brauchen wir die Leitungen dringender denn je. Wir müssen
gemeinsam für den Bau dieser Leitungen kämpfen. Das
können wir nur mit den Bürgern machen und nicht gegen
die Bürger. Deshalb fordere ich alle auf, dieses Projekt
mitzugestalten.
Herzlichen Dank.
({10})
Die Aktuelle Stunde ist damit beendet.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf:
Beratung des Antrags der Bundesregierung
Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter
deutscher Streitkräfte an der EU-geführten
Ausbildungsmission EUTM Mali auf Grundlage des Ersuchens der malischen Regierung
sowie der Beschlüsse 2013/34/GASP und
2013/87/GASP des Rates der Europäischen
Union ({0}) vom 17. Januar 2013 und vom 18.
Februar 2013 in Verbindung mit den Resolutionen 2071 ({1}), 2085 ({2}) und 2100
({3}) des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen
Drucksache 18/437
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({4})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Vizepräsidentin Petra Pau
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Haushaltsauschuss gemäß § 96 der GO
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Ich höre dazu
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Bevor ich die Aussprache eröffne, warte ich, bis
die notwendigen Umgruppierungen in den Fraktionen
abgeschlossen sind. Liebe Kolleginnen und Kollegen
- das gilt fraktionsübergreifend -, ich bitte diejenigen,
die an der folgenden Debatte nicht mehr teilhaben können oder wollen, uns trotzdem zu ermöglichen, hier fortzufahren und die notwendigen Gespräche gegebenenfalls außerhalb des Plenarsaals zu führen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Bundesministerin der Verteidigung, Dr. Ursula von der Leyen.
({5})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Bundeswehr ist seit etwa 20 Jahren bei Einsätzen in
Afrika dabei. In den vergangenen Tagen habe ich an verschiedenen Stellen für unser Engagement in Afrika geworben. Daraufhin hat manch einer reflexhaft einen Einsatz in Afrika mit einem Kampfeinsatz gleichgesetzt,
entweder weil er es nicht besser weiß oder aber weil er
nicht wahrhaben will, was die Einsätze der Bundeswehr
tatsächlich beinhalten.
Bei der großen Mehrheit der Einsätze - das betrifft
übrigens alle Einsätze auf afrikanischem Boden - engagiert sich die Bundeswehr als Teil der internationalen
Gemeinschaft. Es sind Einsätze für Ausbildung, Training, Aufbau guter Regierungsführung und staatlicher
Institutionen. Die Leistungen unserer Soldatinnen und
Soldaten sind in Afrika hoch angesehen, vor allem wenn
es darum geht, wie dabei agiert wird, nämlich auf Augenhöhe. Diese Leistungen sollten wir nicht verdruckst
beiseiteschieben; vielmehr sollten wir uns ihnen in einer
öffentlichen Debatte widmen. Die Leistungen unserer
Soldatinnen und Soldaten verdienen unsere Anerkennung.
({0})
Afrika bietet ein zwiespältiges Bild. In einigen Regionen erleben wir wirtschaftlichen Aufschwung, sinkende
Armut und politische Stabilität. Daneben gibt es andere
Regionen mit Bürgerkriegen und unfassbaren Verbrechen, Flüchtlingsströmen, Hunger und Not. All diese
Probleme stehen meist in einem ganz direkten Zusammenhang. Manche dieser Probleme sind nicht nur „afrikanische“ Probleme, sondern auch Folge dessen, wie wir
als hochindustrialisierte Nationen leben, und auch Folge
dessen, wie europäische Kolonialherren Grenzen quer
durch Ethnien gezogen haben. Diese Probleme verstärken sich gegenseitig und drohen von einem Staat auf den
anderen überzuspringen. Die Auswirkungen dieser Konflikte sind verheerend für die Menschen in der Region.
Wir spüren sie bis nach Europa.
Neben der Tatsache, dass Europa durchaus seinen Anteil am Ursprung dieser Konflikte hat, gibt es einen
zweiten Aspekt, den ich unter dem Begriff der Verantwortung für das Handeln, aber auch für das Nichthandeln festmachen möchte. Wir haben nicht vergessen: Vor
20 Jahren kam es in Ruanda zu einem der schrecklichsten Völkermorde in der afrikanischen Geschichte mit
etwa 1 Million Toten. Vor 15 Jahren sind im Kongo bis
zu 3 Millionen Menschen in einem blutigen Bürgerkrieg
abgeschlachtet worden. Beide Tragödien, Ruanda und
Kongo, fanden vor den Augen der Welt, unter den Augen der Vereinten Nationen statt. Die Welt zeigte sich
unfähig, gelegentlich auch unwillig, zu handeln. Das
heißt nicht, dass Handeln immer die einzige richtige Option ist. Aber es zeigt eben auch, dass zu langes Abwarten auch seine Folgen hat.
Am Jahresende 2012 drohten Mali und seine fast
14 Millionen Einwohner zum Opfer radikalislamistischer Terroristen zu werden. Die malische Bevölkerung
spricht heute noch von dem Albtraum, der damals über
sie hereingebrochen ist. Was das bedeutet hätte, zeigte
sich in den Städten, die innerhalb kürzester Zeit von Terrorgruppen eingenommen worden sind: Gewalt gegen
Tausende Menschen und Vertreibung, Zerstörung einzigartiger Kulturgüter und Barbarei. Timbuktu und Gao boten ein Bild der Verzweiflung: Frauen sind gesteinigt
worden; Menschen, die gestohlen haben, sind die Gliedmaßen abgehackt worden. Das waren „probate“ Mittel
bei Bestrafung.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es war das beherzte
Eingreifen Frankreichs, das weiteres Vordringen der terroristischen Gruppen verhindert hat. Es rettete die Existenz Malis. Genau so sagt es die malische Bevölkerung
heute immer wieder. Frankreich hat damals viel riskiert.
Es hat Gefallene zu beklagen. Frankreich hat damals
aber auch das Zeitfenster für das Engagement eines breiten Bündnisses von Staaten aus Afrika, Europa und anderen Teilen der Welt geöffnet, die Mali beim Wiederaufbau stabiler staatlicher Strukturen helfen.
Anders als in Afghanistan finden wir in Afrika supranationale Strukturen vor, auf denen wir aufbauen können, zum Beispiel die Afrikanische Union, zum Beispiel
ECOWAS.
Wie Sie wissen, waren wir in der letzten Woche mit
einigen Kolleginnen und Kollegen in Mali, um uns einen
Überblick über die Mission zu verschaffen. Uns wurde
dabei sehr deutlich: Mali erholt sich, der Wiederaufbau
schreitet voran. Eine demokratische Wahl hat stattgefunden. Es gibt eine junge Regierung, die den Aufbau einer
stabilen Regierung verfolgt. Die NGOs vor Ort versichern uns nicht nur, dass in Teilen des Landes die Wirtschaft langsam wieder Tritt fasst, sondern auch, dass sie
ihre Arbeit in Teilen des Landes wieder aufnehmen können, aus denen sie geflohen sind, zum Beispiel in Gao.
Ich kann nur sagen, dass ich Hochachtung empfinde,
wenn ich sehe, wie hart die Menschen in Mali an ihrer
Zukunft arbeiten.
({1})
Das Land und seine Menschen sind sehr selbstbewusst.
Sie wollen ihr Schicksal selber in die Hand nehmen. Das
war eine der Hauptnachrichten, die uns der Präsident
von Mali in unseren Gesprächen mitgeteilt hat. Aber er
hat ebenso deutlich angesprochen, dass Mali immer
noch Hilfe braucht, dass, um einen nachhaltigen Erfolg
zu erzielen, die Anwesenheit der internationalen Gemeinschaft weiterhin notwendig ist. Das heißt für unseren Bereich, den militärischen Bereich, dass die Ausbildung der malischen Streitkräfte weiter geleistet werden
muss.
Die existenzielle Gefahr für Mali, die 2012 akut bestand, ist im Augenblick gebannt. Aber es gibt im Norden noch Landesteile, in denen die Sicherheitslage sehr
angespannt ist. Auch die humanitäre Lage in diesen Teilen ist besorgniserregend.
Deshalb ist auch von entscheidender Bedeutung, dass
der Versöhnungsprozess, eine Grundbedingung der Vereinten Nationen, die dort mit ihrer Mission sind, fortschreitet. Er ist bei weitem noch nicht so weit gediehen,
dass wir von einer echten, dauerhaften Annäherung von
Nord und Süd sprechen könnten. Deshalb ist es auch so
wichtig, dass wir weiterhin dafür sorgen, dass die Voraussetzungen gegeben sind, dass alle Gruppen an den
Verhandlungstisch kommen und dass die Entwaffnung
der Aufständischen beschleunigt wird. Das ist die einzige Möglichkeit, um ein offenes Zeitfenster und damit
eine Voraussetzung für einen dauerhaften Frieden zu
schaffen; dieser könnte daraus resultieren.
Mali ist für uns mit seiner EUTM-Mission ein
Schwerpunkt in Afrika. Wir wollen diesen Schwerpunkt
intensivieren. Das bedeutet mehr Engagement. Daher
wird die Bundesregierung die Mandatsgrenze von
EUTM auf 250 Soldatinnen und Soldaten anheben und
bitten, dieses Mandat hier im Bundestag auszugestalten
und anzunehmen. Dies gibt der Bundeswehr die Möglichkeit, die Ausbildung der malischen Armee fortzusetzen und die Beratungsleistungen für das Verteidigungsministerium und die Führungsstäbe zu erweitern. Es gibt
die Möglichkeit, dass Soldatinnen und Soldaten der
Bundeswehr im Rahmen der Mission Sicherungsaufgaben zum Schutz der Mission selbst übernehmen. Wir
konnten uns selber davon überzeugen, dass die Bundeswehr die sanitätsdienstliche Versorgung für die Mission
bereitstellt, übrigens selbstverständlich auch für die malischen Streitkräfte.
Ich möchte an dieser Stelle noch einmal betonen, dass
ein Mentoring, also eine direkte Unterstützung der militärischen Operationen im Land, in dem Mandat ganz
klar ausgeschlossen ist. Vor diesem Hintergrund kommt
Mali in der Art und Weise, wie wir an die Dinge herangehen, eine Vorreiterrolle zu. Unser Ziel im vernetzten
Ansatz muss sein, dass Afrika für seine Sicherheit und
Stabilität selbst sorgen kann. Das will es auch. Solange
das noch nicht ohne Weiteres aus eigener Kraft geht,
müssen wir helfen, es dazu in die Lage zu versetzen.
Dass das möglich ist, zeigt ein beeindruckendes Einzelbeispiel. Jean Bosco Kazura ist Offizier der Streitkräfte Ruandas. Er hat vor 20 Jahren erlebt, was die
Gräueltaten im Konflikt zwischen Hutu und Tutsi angerichtet haben. Heute ist er Generalmajor, und er ist der
Kommandeur der VN-Mission MINUSMA zur Stabilisierung in Mali. Er hat nicht vergessen, wie verzweifelt
die Ausgangslage vor 20 Jahren in Ruanda gewesen ist
und wie es dazu gekommen ist, aber er hat auch nicht
vergessen, was man mithilfe der Staatengemeinschaft
und dann auch aus eigener Kraft erreichen kann. Es ist
nur die Geschichte eines Einzelnen, aber ich bin der festen Überzeugung, dass Afrika mehr solcher Geschichten
braucht.
Vielen Dank.
({2})
Das Wort hat der Kollege Niema Movassat für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die
Bundesregierung hat in den letzten Tagen weitreichende
außenpolitische Veränderungen angekündigt, und unter
diesem Aspekt ist auch das hier diskutierte Bundeswehrmandat für Mali zu sehen. Sie, Frau von der Leyen, und
Herr Steinmeier haben wie sogar der Herr Bundespräsident dieser Tage oft von der deutschen Verantwortung
gesprochen. Verantwortung ist nichts Verwerfliches. Sie
meinen damit aber schlicht: mehr deutsche Soldaten ins
Ausland. Sie nutzen den Begriff der Verantwortung, um
die Öffentlichkeit auf mehr Bundeswehreinsätze vorzubereiten. Das ist verantwortungslos.
({0})
Der Erste Weltkrieg jährt sich dieses Jahr zum
100. Mal. Das sollte zumindest ein Grund sein, darüber
nachzudenken, wohin Krieg, wohin Intervention und
wohin der Einsatz militärischer Gewalt am Ende führen
können. Es gibt keine Verantwortung, mehr Soldaten zu
entsenden und sich immer öfter an Kriegen zu beteiligen.
({1})
Der ehemalige CDU-Bundestagsabgeordnete Jürgen
Todenhöfer schrieb vor wenigen Tagen:
Was um Himmels willen will Ursula von der Leyen
in Zentralafrika und Mali? Ja, Deutschland muss
mehr Verantwortung in der Welt übernehmen. Aber
nicht für Rohstoffkriege, sondern für den Frieden.
Wenn Sie schon nicht der Linken glauben, dann glauben
Sie wenigstens Ihrem Parteifreund!
({2})
Schauen wir uns das Mandat und die Lage in Mali
einmal genauer an! Die Bundesregierung schreibt in ihrem Antrag:
Europäischen Partnernationen wird zudem der notwendige Raum gegeben, um ihre Beiträge
- in Afrika neu zu priorisieren.
Ich übersetze: Die Bundeswehr bildet malische Soldaten
aus. Das ist natürlich kein Krieg; aber mit diesem Einsatz wollen Sie explizit den Franzosen den Rücken freihalten, die in Mali Krieg führen. Das ist also Beihilfe
zum Krieg - was genauso abzulehnen ist wie ein Kampfeinsatz selbst.
({3})
Es ist doch kein Geheimnis, dass Frankreich in Afrika
handfeste Interessen hat. In Mali und der Region sind es
zum Beispiel die Uranvorkommen, die für die französischen Atomkraftwerke unersetzlich sind.
({4})
Auch sonst verfügt Mali über zahlreiche Rohstoffe.
Frankreich mit seiner fatalen Kolonialvergangenheit in
Afrika ist bis heute tief verstrickt in viele blutige Konflikte um Rohstoffe und Einflusssphären. Es ist verantwortungslos, dass Sie das völlig ausblenden
({5})
und sich auf den Beifahrersitz Frankreichs setzen.
({6})
Aber das passt zu Ihrer neuen Strategie, in Afrika militärisch präsenter zu sein.
({7})
Aus Ihrer Sicht ist ein Einsatz in Mali wohl auch hilfreich, um die Bundeswehr auf künftige Einsätze in
Afrika vorzubereiten.
Dass militärische Lösungen keinen Erfolg bringen,
zeigt die bisherige Bilanz des Einsatzes: Es hat nicht einmal ein Jahr gedauert, dass die Bevölkerung dem gerade
noch umjubelten Papa Hollande mit größtem Misstrauen
begegnet. Die Sicherheitslage in Mali hat sich nicht verbessert. Laut UN-Generalsekretär haben sich die terroristischen Gruppen lediglich neu organisiert. Die Zahl
der Sprengstoffattentate nimmt zu. Viele Staatsdiener
kehren trotz üppiger Zulagen nicht auf ihre Posten im
Norden zurück: weil es zu gefährlich ist, weil sie Angst
um Leib und Leben haben.
({8})
Zudem sind 400 000 Menschen auf der Flucht. Es droht
eine Hungerkatastrophe, unter der bis zu 4 Millionen
Menschen leiden müssten.
({9})
All das nimmt die Bundesregierung nicht einmal zur
Kenntnis. Sie schwadroniert in ihrem Antrag gar von einer zunehmenden Verbesserung der humanitären Lage.
Das nenne ich Realitätsverweigerung.
({10})
Die Bundesregierung schreibt, sie wolle die „territoriale Einheit“ und die Souveränität Malis sicherstellen.
Das finde ich gut; aber da gibt es einige Fragezeichen:
Nach der Rückeroberung von Kidal im Norden wurde
die Region von den Franzosen nicht an die malische Regierung übergeben, sondern an die MNLA-Rebellen,
also die Hauptverantwortlichen für die Krise, die ihren
Hauptsitz in Frankreich haben. Mittlerweile hat die malische Regierung zwar endlich die Kontrolle; aber genaue
Aufklärung über den gesamten Vorgang täte dringend
not.
({11})
Frankreich verhandelt außerdem gerade ein Militärabkommen mit Mali: Die Franzosen wollen dauerhaft eigenständige Militäroperationen auf malischem Hoheitsgebiet durchführen. Die Kosten für verursachte Schäden
soll Mali tragen. - Das ist ein Kolonialvertrag, wie er im
Buche steht. Das geht gar nicht!
({12})
Ich möchte drei Forderungen formulieren als echten
Beitrag einer deutschen außenpolitischen Verantwortung
für Mali: Erstens. Verhindern Sie, dass Frankreich dieses
Militärabkommen durchdrückt. Zweitens. Mit einem
Militärbündnis Frankreich/Deutschland in Afrika setzen
Sie den bislang guten Ruf Deutschlands und seiner Entwicklungszusammenarbeit in der Region leichtfertig
aufs Spiel. Deshalb: Beenden Sie die deutsche Militärmission in Mali! Drittens. Stocken Sie die Mittel für humanitäre Hilfe, zivilen Friedensdienst und Entwicklungszusammenarbeit auf!
Abschließend: Hören Sie auf, Verantwortung und
Militäreinsätze gleichzusetzen! Die Menschen in
Deutschland durchschauen dieses Spiel: Bei einer aktuellen Infratest-Umfrage haben 75 Prozent Nein zu
mehr Militäreinsätzen der Bundeswehr gesagt.
({13})
Hören Sie darauf!
Danke für die Aufmerksamkeit.
({14})
Für die SPD-Fraktion hat der Kollege Rainer Arnold
das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Mit Blick auf die Linken sage ich: Nicht die Franzosen,
sondern wir Europäer haben ein gemeinsames Interesse
an Stabilität und Sicherheit für die Menschen auf unserem Nachbarkontinent.
({0})
Die Franzosen haben aufgrund ihrer Geschichte in
Afrika bestimmt eine größere Verantwortung; das ist
wohl wahr. Eigentlich könnte Mali ein Lehrstück für die
Politik sein, auch für die Linken. Die erste Lehre müsse
eigentlich sein: Es rächt sich, wenn die Staatengemeinschaft zu lange zuschaut, während auf Tausenden von
Kilometern im Norden eines Landes die Staatlichkeit kaputtgeht und kriminelle und terroristische Banden dort
die Macht übernehmen. Dies holt uns ein; das hat uns
Mali gelehrt.
({1})
Das Zweite, was man lernen kann, ist: Wer die legitimen Rechte von ethnischen Minderheiten im Land allzu
lange unterdrückt, wird früher oder später Konflikte haben. Auch dies war in Mali durch die Tuareg letztendlich
so.
Die dritte Lehre: Wer selbstzufrieden in einem wohlhabenderen Teil eines Landes sitzt, wie in Mali im Süden, und achtlos mit den Problemen im Norden umgeht,
wird sich am Ende nicht wundern dürfen, dass ihn die
Probleme einholen.
Ein Viertes muss man anhand von Mali auch lernen:
Wenn wir so lange warten, bis sich fundamentale Islamisten am Ende auch aus kriminellem Interesse mit
Minderheiten verbinden, die durchaus auch für legitime
Rechte kämpfen, dann ist es zu spät für schöne Worte
und Diplomatie.
Eine Kollegin der Linken ist mit nach Mali gereist.
Ich weiß nicht, wie man nach so einer Reise zu der Einschätzung kommen kann, in Mali hätte sich nichts verändert. Uns wurde dort von morgens bis abends nicht von
einem deutschen Schreibtisch aus, sondern von Menschen, die in Mali leben und arbeiten, gesagt, wie froh
sie über dieses internationale und französische Engagement sind und wie sehr sie dafür danken. Können Sie
vielleicht einmal 30 Sekunden darüber nachdenken,
({2})
was passiert wäre, wenn Frankreich nicht fünf Minuten
vor zwölf auch mit militärischer Gewalt übelsten menschenverachtenden Terroristen Einhalt geboten hätte, die
auch noch den Süden unter ihre Macht bekommen wollten?
({3})
Was wäre heute mit den Menschen am Niger los? Können Sie darüber einmal ein bisschen nachdenken, ehe Sie
hier solche Thesen behaupten?
({4})
Wir wissen aber auch: Militärische Gewalt wird die
Probleme bei solchen Konflikten am Ende nicht lösen.
Terroristen lassen sich nicht, wie im Krieg, durch eine
Niederlage besiegen. Wir alle wissen, dass Diplomatie,
Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung von Menschenrechten nur durch das gemeinsame Eingreifen - auch
von Militär und Polizei - erfolgreich erreicht werden
können.
Das gilt umso mehr in einem Land, in dem junge
Menschen die Hälfte der Bevölkerung stellen. Mehr als
die Hälfte der malischen Bürgerinnen und Bürger ist
15 Jahre alt oder jünger. Wenn die keine ökonomische
Perspektive haben, dann hat man tickende Zeitbomben
auf der Welt.
Mein Rat ist dringend, die Thesen, dass die neue Bundesregierung einen Paradigmenwechsel will und plötzlich alles Militärische im Vordergrund steht, wenigstens
einmal ein bisschen einzuordnen und darüber nachzudenken, was Sie hier behaupten.
({5})
- Hören Sie einfach einmal zu, Herr Kollege.
An dieser europäischen Mission in Mali sind 23 europäische Länder beteiligt. Nicht die Deutschen retten die
Welt, sondern hier sind 23 Partner mit 570 Soldaten aktiv. Deutschland stellt davon aktuell weniger als 100.
Wie kann man sich denn darüber aufregen, dass man
jetzt darüber diskutiert und nächste Woche darüber entscheidet, dass zu Ausbildungszwecken 70 Ausbilder
mehr nach Mali entsendet werden sollen, damit die Menschen dort in Zukunft auch nachhaltig selbst mit ihren
Problemen umgehen können? Wo ist hier der Aufreger?
Das ist sinnvoll und vernünftig; das ist Hilfe zur Selbsthilfe.
Ich will den Einsatz der Soldaten überhaupt nicht geringschätzen, aber uns wurde dort sehr deutlich gemacht:
Ihr Deutschen tut mit relativ wenig Aufwand sehr Vernünftiges und könnt mit dieser Ausbildungsmission viel
Positives bewirken.
Schauen wir auf die andere Mission in Mali, die von
den Vereinten Nationen geführt wird. Dort ist es ähnlich.
Die Deutschen stellen drei Flugzeuge und halten zusätzlich ein Tankflugzeug bereit, das in Wirklichkeit gar
nicht gebraucht wurde.
6 400 Soldaten aus den Nachbarstaaten Malis helfen
den Menschen in diesem Land. Das heißt, Afrika ist
schon auf einem spannenden Weg, da es plötzlich möglich ist, dass Nachbarstaaten intervenieren, um schlimmeres Leid zu verhindern. Es sind nicht die Deutschen,
sondern es sind 6 400 afrikanische Soldaten, die dort in
erster Linie für Stabilität sorgen.
Kollege Arnold, gestatten Sie eine Zwischenfrage
oder Bemerkung des Kollegen Liebich?
Ja, gerne.
Herr Kollege Arnold, Sie haben die kritischen Hinweise meines Fraktionskollegen zurückgewiesen. Nun
hat sich auch Ihr ehemaliger Staatssekretär Walther
Stützle zu der Politik geäußert, die die Bundesregierung
gegenwärtig für Afrika plant. Er hat explizit mit Verweis
darauf, was bei der Münchener Sicherheitskonferenz
vorgetragen wurde, gesagt, dass es weniger Truppen und
mehr politische Konzepte braucht.
({0})
Wie reagieren Sie denn auf diese Kritik?
({1})
Was soll das, den Einsatz von militärischen Fähigkeiten und unser Engagement im zivilen Bereich immer gegeneinander aufzurechnen? Wir brauchen im Zweifelsfall von beidem mehr. Wir brauchen Engagement da, wo
es notwendig ist. Wir brauchen da, wo Politik versagt,
leider auch militärisches Engagement.
Aber lassen Sie doch bitte einmal die Kirche im Dorf.
Wie kommen Sie zu der These, dass Deutschland immer
mehr Militär losschickt? In der Spitze hatten wir 10 000
Soldaten für internationale Einsätzen bereitstehen. Im
Augenblick sind es 4 850 Soldaten insgesamt, und es
werden weniger. Schauen Sie doch einmal, was in Afrika
tatsächlich los ist. Zurzeit sind etwa 70 000 Soldaten in
Friedensmissionen der Vereinten Nationen mit einem
Gewaltmonopol, so wie wir es uns vorstellen, im Einsatz. Von diesen 70 000 Soldaten kommen circa 6 500
Soldaten aus Bangladesch, fast alle anderen sind aus der
Afrikanischen Union. Knapp 100 deutsche Soldaten sind
im Rahmen dieser zehn Missionen der Vereinten Nationen tätig. Diese 100 Soldaten waren bis vor wenigen Tagen zum Teil nicht einmal bewaffnet, nicht einmal zum
Selbstschutz.
Sie aber reden daher, als ob die Deutschen munter in
Kriege nach Afrika ziehen wollen.
({0})
Das ist wirklich Unfug. Hören Sie doch mit dieser Halbwahrheit auf.
({1})
Sie ist schlimmer als die Lüge.
({2})
Diese Bundesregierung wird das Notwendige tun. Hier
im Parlament gibt es keinen, den es zu mehr militärischem Engagement drängt, überhaupt niemanden.
({3})
Wir machen es uns doch bei jedem Einsatz schwer.
Deshalb ist auch der Parlamentsvorbehalt gut und wichtig. Wir wissen aber auch: Es kann Situationen geben, in
denen es ethisch nicht besser ist, wenn wir uns zurücklehnen und sagen: „Ohne uns!“, aber gleichzeitig in
Kauf nehmen, dass unsere Partner in Europa und in der
NATO diese Aufgaben erledigen. Es sind nicht deren
Probleme, sondern es sind unsere gemeinsamen Probleme.
So verstehe ich auch die notwendige Debatte. Mit der
Rede des Bundespräsidenten ist sie nicht abgeschlossen,
sie hat gerade begonnen. Es zeigt sich auch mit Blick auf
ein paar Kollegen der CSU: Wir müssen sie auch innerhalb des Parlamentes führen. Aber sie ist gut und richtig.
Wir werden am Ende feststellen, welche Interessen, welche Rolle und welche Verantwortung Deutschland in der
Welt hat. Niemand wird es nach militärischen Interventionen drängen. Aber wir werden die Dinge im zivilen,
militärischen, polizeilichen und staatlichen Bereich mit
den Menschenrechten viel enger und besser verzahnen,
als dies in der Vergangenheit der Fall war. Das ist ein
ganz wichtiger Weg, den Sie doch eigentlich unterstützen müssten.
Wir haben eine gemeinsame Verantwortung. Die Welt
wird nicht besser, wenn Deutschland so tut, als ob Entscheidungen von der EU, von der NATO oder von den
Vereinten Nationen über uns kommen, einfach so, sondern Deutschland muss sich in der öffentlichen Debatte
ehrlich machen. Die EU sind auch wir, die NATO sind
auch wir. Wir haben eine Verpflichtung und ein nationales, wohlverstandenes Interesse, Prozesse und Entscheidungen in internationalen Organisationen mitzugestalten.
({4})
Dieses Engagement zu verstärken, das ist ein gewisser Paradigmenwechsel. Er ist notwendig. Er ist am
Ende gut und richtig: für Deutschland, für Europa und,
wie ich denke, ein Stück weit für die Welt. Damit erheben wir nicht den Anspruch, dass wir Deutschen die
Welt retten, sondern dass wir ein kleines, aber angemessenes Rädchen im Gefüge der Staatengemeinschaft sind.
Herzlichen Dank.
({5})
Zu einer Kurzintervention hat die Kollegin Christine
Buchholz das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Da mich bzw. uns der Herr Kollege Arnold direkt angesprochen hat, möchte ich die Gelegenheit nutzen, an dieser Stelle Position zu beziehen. Ich war genauso wie Sie
in der letzten Woche mit der Ministerin in Mali. Sie haben mir bzw. dem Kollegen Movassat vorgeworfen, er
würde die Realitäten und das, was uns Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner in Mali gesagt haben, nicht
zur Kenntnis nehmen.
Ich möchte zunächst feststellen: Es wirft ein Schlaglicht auf die Art und Weise, wie offizielle Reisen dieser
Delegation vorbereitet werden, wenn man sich nur mit
den Menschen trifft, die ein Bild der Situation in dem
Land zeichnen, wie man es selbst erwartet. Teil dieser
Reise waren keine Gespräche mit Oppositionellen in
Mali, beispielsweise mit Persönlichkeiten wie der ehemaligen Kulturministerin Aminata Traoré, die dem militärischen Engagement des Westens und der afrikanischen Staaten in Mali sehr wohl kritisch gegenübersteht.
Wir haben auch nicht mit den Initiativen gesprochen, die
sich vor Ort gegen die Ausbeutung der Uranvorkommen
in Mali und die Interessenpolitik der westlichen Staaten
zur Wehr setzen. Von daher weise ich die pauschale Kritik an dem Beitrag meines Kollegen zurück, weil wir den
Blick tatsächlich weiter ausrichten auf das, was auch die
offizielle Politik in Mali ist.
Als zweiten Punkt möchte ich meinen Kollegen absolut unterstützen. Im Zentrum standen nicht die problematischen Entwicklungen in Mali selbst. Nicht angesprochen wurde die prekäre Nahrungsmittelsituation, die
der Kollege Movassat beschrieben hat, aber auch nicht
die Situation der Flüchtlinge. In den Nachbarländern
sind weiter 160 000 Flüchtlinge, die nicht zurückkommen. Er hat auch beschrieben, dass es sehr schwierig ist,
die Binnenflüchtlinge zurückzuführen. Das ist die Aufgabe. Verantwortung würde tatsächlich bedeuten, dies
ins Zentrum zu stellen.
Von daher bitte ich Sie, nicht unredlich den Kollegen
gegen mich auszuspielen, sondern auch die Eindrücke,
von denen Sie meinen, dass sie die komplette Realität in
Mali zeigen, zu hinterfragen und zu sehen, ob es nicht
auch andere Realitäten gibt, die Sie zur Kenntnis nehmen könnten.
({0})
Zur Entgegnung hat der Kollege Arnold das Wort.
Frau Kollegin Buchholz, Sie waren mit dabei. Es ist
wahr, dass überall in den Gesprächen, die wir geführt haben, deutlich gesagt wurde, wie wichtig das Engagement
ist und dass die Sicherheitslage in weiten Bereichen des
Nordens besser ist, dass ein großer Teil der Flüchtlinge,
wenn nicht alle, zurückgekommen ist und dass in Mali
Armut herrscht, aber zum Glück niemand verhungert.
Ich sage damit nicht: Es ist alles gut in diesem Land.
Nichts ist gut, wenn man strenge Maßstäbe anlegt und es
mit uns vergleicht. Aber für die Verhältnisse in Afrika
war Mali viele Jahre lang eigentlich eher auf einem positiven Weg, auch im Bereich der Entwicklung der Demokratie. Die Aufständischen im Norden haben dies alles
zerstört.
Fest steht doch: Ohne das internationale Engagement
wäre das auch im Süden endgültig zu Bruch gegangen.
Wir hätten einen Failing State, der Rückzugsraum für
Terroristen, Kriminelle und Menschen wäre, die die
Scharia weiter verbreiten wollen. Dieser Staat hätte dies
geboten.
Sie müssen sich und uns die Frage beantworten: Wäre
dies allein mit freundlichen und guten Worten und den
Mitteln der Diplomatie zu verhindern gewesen? Ich sage
Ihnen: Nein. Wer so brutal und gewalttätig ist, wie wir es
in Nordmali erlebt haben, der hört nicht auf gut gemeinte
Ratschläge. Dem muss man sich leider auch mit Waffengewalt entgegenstellen.
Mich hat sehr beeindruckt, was Erhard Eppler uns vor
vielen Jahren auf einem Parteitag gesagt hat: Wer militärische Gewalt anwendet - Deutschland wendet in Mali
gar keine an; das wurde schon angesprochen -, macht
sich möglicherweise auch ein Stück weit schuldig. Wer
sie aber nicht anwendet, obwohl er damit etwas verhindern könnte, muss sich fragen, ob er sich damit nicht
auch schuldig macht.
({0})
Frau Buchholz, Sie tun mir unrecht. Sie waren während der Reise eine konstruktive, kollegiale Mitreisende,
ohne Wenn und Aber. Sie sind von dieser Reise zurückgekommen und haben sinngemäß in die Blocks der Journalisten diktiert: Die deutschen Soldaten sind nicht dort,
um die malischen Soldaten auszubilden, sondern eigentlich deshalb, um sich selbst zu trainieren, um weiter afrikanische Kriege führen zu können. - So stand es in der
Presse. Ich finde es eine Ungeheuerlichkeit. Das meine
ich auch damit, dass jemand die Augen verschließt,
wenn er eine solche Reise macht.
Unrecht tun Sie mir aus folgenden Gründen, Frau
Kollegin Buchholz:
Erstens hatten wir auf dieser Reise auch Gelegenheit,
mit anderen Sichtweisen konfrontiert zu werden, zum
Beispiel auf der Terrasse beim Botschafter, wo auch Vertreter von Nichtregierungsorganisationen anwesend waren.
Zweitens, Frau Kollegin, war es nicht meine erste
Mali-Reise, und im dortigen Büro der Friedrich-EbertStiftung haben wir außerordentlich gutes Personal, das
das Land kennt und uns inhaltlich, was die Situation angeht, gut zuarbeitet. Ich habe auch mit Vertretern von
vielen Nichtregierungsorganisationen in Deutschland
und in Mali sprechen können.
Unter dem Strich kann man zu keiner anderen Erkenntnis kommen, als dass das Stoppen der Terroristen
- auch mit militärischen Mitteln - notwendig war, dass
die Situation zum Glück umgekehrt wurde und dass Mali
nun auf dem Weg der Besserung ist, dass es aber noch
viele Jahre dauern wird, bis in Mali eine tragfähige und
gute Stabilität, die auch wirtschaftliche Chancen bietet,
entsteht.
Übrigens hat Mali kein Uran. Gegenteilige Behauptungen sind nichts anderes als ein Märchen. Mali hat
Gold, aber kein Uran.
({1})
Sie sollten nicht einfach Behauptungen übernehmen und
in den Raum stellen, die überhaupt nicht zutreffen.
Herzlichen Dank.
({2})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat die Kollegin Agnieszka Brugger das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir führen gerade eine intensive öffentliche und teilweise auch
aufgeregte Debatte über den außenpolitischen Kurswechsel der neuen Bundesregierung. Frau Ministerin
von der Leyen, ganz so unbeteiligt, wie Sie und die
Koalitionsfraktionen das dargestellt haben, sind Sie daran nicht; denn Sie sind zum Teil mit sehr unglücklichen
Formulierungen und auch vielen Schlagworten in diese
Debatte gegangen. Das wurde eben so verstanden, als ob
es um „Mehr Militäreinsätze in Afrika“ ginge und dass
das sicherheitspolitische Ruder abrupt herumgerissen
werden sollte.
Sie führen diese Diskussion auch, ohne die Abgeordneten des Bundestags einzubeziehen.
({0})
Wie man den Medienberichten entnehmen kann, stoßen
Sie damit auch in den eigenen Reihen, in den Reihen der
Unionsfraktion, auf Unmut. Und ich finde: völlig zu
Recht. Sie gehen die Dinge nämlich auch in der falschen
Reihenfolge an. Die Regierung, also Sie, der Außenminister und der Minister für Entwicklungszusammenarbeit, muss sich doch zunächst auf Ziele und ein Gesamtkonzept einigen. Erst wenn Sie sich darüber im
Klaren sind, sollten Sie damit ins Parlament und die Öffentlichkeit gehen und darüber diskutieren. So sieht eine
kohärente Politik aus.
({1})
Diese aufgeregte Debatte verhindert aber auch, dass
wir uns fundiert mit den spezifischen Konflikten, ihren
Ursachen und ihren Lösungen beschäftigen.
Meine Damen und Herren, heute debattieren wir zum
zweiten Mal über die Beteiligung der Bundeswehr an der
europäischen Ausbildungsmission in Mali. Ziel ist es,
die malischen Streitkräfte langfristig in die Lage zu versetzen, die Sicherheit im Land zu wahren und die Zivilbevölkerung zu schützen. Am Ende muss es auch eine
Armee sein, vor der die Bürgerinnen und Bürger Malis,
egal welche Hautfarbe sie haben, keine Angst haben
müssen. Der deutsche Beitrag zur Ausbildung malischer
Sicherheitskräfte ist sinnvoll. Allein kann und wird er
aber nicht darüber entscheiden, ob am Ende des Weges
in Mali wieder Frieden, Stabilität und Sicherheit einkehren.
({2})
Um das zu erreichen, brauchen wir einen wirklichen
politischen und gesellschaftlichen Wandel in Mali, der
die Konfliktursachen angeht. Hier geht es um politische
Unterstützung, um ziviles Engagement und vor allem
auch um Entwicklungszusammenarbeit; denn die Sicherheitskräfte können ihre Aufgaben nur erfüllen, wenn sie
demokratisch und rechtsstaatlich verankert sind und Teil
eines funktionierenden Staatswesens sind.
Ich selbst war kurz nach dem Beginn dieser Mission
2013 in Koulikoro vor Ort. Nun hatte ich ein Jahr später
auf der Reise mit der Ministerin die Möglichkeit, zu sehen, was sich in Mali verändert hat. Es hat sich einiges getan. Noch vor einem Jahr stand Mali vor der Zerreißprobe.
Verschiedenste Rebellenorganisationen, islamistische,
dschihadistische und kriminelle Gruppen und Kämpfer,
die teilweise schwer bewaffnet nach dem Libyen-Konflikt
in Mali eindrangen, brachten in kürzester Zeit den Norden
des Landes unter ihre Kontrolle. Das Ausmaß der Gewalt war - das muss man sich einmal klarmachen - unfassbar und erschreckend. Über 500 000 Malierinnen
und Malier waren gezwungen, die Flucht zu ergreifen. Die
malische Regierung und die malischen Streitkräfte waren
nicht in der Lage, dieser Gewalteskalation zu begegnen.
Erst die Intervention der französischen Truppen und die
Präsenz der anschließenden VN-Mission MINUSMA, die
noch heute in Mali für Sicherheit sorgt, konnten diesen
Vormarsch stoppen und den Norden des Landes aus der
Schreckensherrschaft befreien.
Heute, ein Jahr später, hat sich die Situation eindeutig
zum Positiven verändert, auch wenn sicher noch lange
nicht alles gut ist. Die Sicherheitslage hat sich verbessert. Vielerorts im Norden bleibt sie aber weiterhin noch
angespannt und fragil. Während im letzten Jahr aber
noch unklar war, ob überhaupt Wahlen so schnell nach
der Krise durchgeführt werden können und ob am Ende
das Ergebnis von der malischen Bevölkerung akzeptiert
werden würde, ist nun ein erster, ein allererster Grundstein für ein funktionierendes Staatswesen gelegt worden. Die Menschen in Mali haben einen Präsidenten und
ein Parlament gewählt. Als Nächstes stehen die Kommunalwahlen an, die gerade in Mali von besonderer Bedeutung sind. Die Vorbereitungen hierzu dürfen nicht aus
dem Blickfeld der internationalen Gemeinschaft verschwinden.
Damit in Mali der Frieden auch langfristig eine
Chance hat, gibt es eine ganz zentrale Herausforderung:
Das ist die Versöhnung zwischen dem Süden und den
Gruppen im Norden des Landes, insbesondere mit den
Tuareg. Immer wieder gerät dieser Versöhnungsprozess
ins Stocken. Beide Seiten müssen von der internationalen Gemeinschaft in die Pflicht genommen werden, diesen Prozess mit allem Nachdruck, mit Ernsthaftigkeit,
aber auch mit der Bereitschaft zum gegenseitigen Verständnis endlich voranzubringen.
({3})
Am Ende wird aber für eine wirkliche Aussöhnung
weniger entscheidend sein, wer Vorsitzender der Versöhnungskommission ist, sondern ob es vor Ort und auf lokaler Ebene gelingt, einen Ausgleich zu schaffen und
auch die Menschenrechtsverletzungen und Verbrechen,
die passiert sind, auf beiden Seiten aufzuarbeiten, zu bestrafen, zu ahnden oder auch zu vergeben.
Meine Damen und Herren, es gibt einen Hoffnungsschimmer für Mali. Es ist an uns, die Menschen in Mali
dabei zu unterstützen, diese positive Entwicklung bei allen Schwierigkeiten und Herausforderungen auf einen
guten Weg zu bringen. Die europäische Ausbildungsmission liefert dazu einen kleinen, aber, wie ich finde, sehr
effizienten Beitrag. Entscheidend wird am Ende aber
sein, den Versöhnungsprozess und den politischen Wandel in Mali zu unterstützen. Hier können und hier müssen wir mehr tun.
Vielen Dank.
({4})
Das Wort hat der Kollege Philipp Mißfelder für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit dieser
Debatte wollen wir deutlich machen, dass wir uns in Zukunft früher, entschiedener und auch substanzieller in
die Afrika-Politik einbringen wollen. Das wirft zum einen ein Schlaglicht auf das, was wir schon seit vielen
Jahren tun, ist aber auch im Lichte der Debatte in den
vergangenen zwei Wochen zu sehen.
Wir sagen deutlich, dass wir die Politik der militärischen Zurückhaltung nicht aufgeben wollen, weder generell noch speziell im Falle von Afrika, verdeutlichen
aber zugleich, dass es der Anspruch der Regierungsfraktion der CDU/CSU ist, sich, was die Afrika-Politik
angeht, deutlicher zu positionieren. Deshalb danke ich
insbesondere unserem Fraktionsvorsitzenden für seine
Initiative, ein eigenes Afrika-Konzept in den nächsten
Monaten auf den Weg zu bringen,
({0})
in dem umfassend deutlich gemacht wird, dass wir militärische Komponenten als äußerstes Mittel sehen, aber
vor allem die Elemente der wirtschaftlichen Zusammenarbeit, der entwicklungspolitischen Zusammenarbeit, der
außenpolitischen Zusammenarbeit und natürlich auch
die Vertiefung im Bildungsbereich, die Menschenrechtspolitik sowie weitere Politikfelder im Auge behalten.
Dafür werden wir sehr viel Energie in den nächsten Monaten aufwenden.
({1})
Wir haben ein zum Teil falsches Afrika-Bild; denn
häufig ist dieses Afrika-Bild von Misswirtschaft, Korruption oder auch von zweistelligen Inflationsraten
geprägt. Dabei ist Afrika eigentlich einer der großen
Chancenkontinente und zudem ein Kontinent, der sich
unmittelbar vor unserer Haustür befindet. Der IMF
kommt in seiner jüngsten Afrika-Betrachtung insgesamt
zu der Einschätzung, dass das Wachstumspotenzial im
Durchschnitt bei 5,5 Prozent liegt; das ist ja ein erhebliches Potenzial. Ich glaube, dass das gerade für Investoren aus Deutschland und für die Exportnation Deutschland sehr große Chancen bietet.
Die Situation ist von Land zu Land natürlich unterschiedlich. Aber auch in der Nähe von Mali gibt es großes Potenzial. Nigeria beispielsweise hat große Chancen,
und die Wachstumsmotoren Äthiopien, Kenia und
Uganda sind weitere positive Beispiele für Länder, in denen sich Investitionen lohnen würden.
Ein Problem entsteht aber dann, wenn sich ein Land,
das auf einem guten Weg ist, wie es bei Mali der Fall ist,
zurückentwickelt. Genau das ist an dieser Stelle passiert.
Mali galt über Jahre hinweg als ein Musterland für die
Kooperation im Bereich Entwicklungszusammenarbeit.
Mali galt jahrelang als ein tolerantes Land mit wirtschaftlichen Wachstumsperspektiven. Es hat sich nach
2012 leider ein sehr krisenhaftes Szenario ergeben, weil
die Regierungstruppen und die separatistischen Tuaregrebellen in einen ständigen Kampf miteinander geraten
sind, wodurch beinahe eine große humanitäre Katastrophe
entstanden wäre, wenn die Franzosen nicht so beherzt eingegriffen hätten. Vor diesem Hintergrund möchte ich zitieren, was unser Bundesaußenminister Frank-Walter
Steinmeier gesagt hat, nämlich dass nur durch das
schnelle Handeln der Franzosen Mali davor gerettet worden sei, von islamistischen Fundamentalisten überrannt
zu werden.
({2})
Diese Nothilfe Frankreichs muss allerdings auch multinational unterstützt werden. Das ist auch das Ziel unserer Afrika-Konzeption. Es geht nicht an, dass einzelne
Länder vorauseilen, vielmehr muss unser langfristiges
Ziel sein, dass die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union in die Lage versetzt
wird, Probleme gemeinsam zu definieren und gemeinsam zu agieren. Insofern bleibt es trotz allem Dank an
Frankreich unsere Aufgabe, verstärkt zusammenzuarbeiten und Probleme vielleicht auch früher anzugehen.
Das sehe ich als einen Beitrag zu dem, was wir unter
dem Schlagwort „Mehr Verantwortung“ verstehen.
„Mehr Verantwortung“ heißt aus unserer Sicht nicht
zwingend mehr Militär, sondern mehr Koordinierung,
mehr abgestimmtes Handeln. Das ist das, was wir in den
Unterausschüssen, zum Beispiel im Unterausschuss Zivile Krisenprävention und vernetzte Sicherheit, in den
vergangenen vier Jahren deutlich gemacht haben, und
wir wollen das mit unserem Afrika-Konzept unterstreichen.
Kollege Mißfelder.
Deshalb unsere Zustimmung zu diesem Mandat.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({0})
Sie hätten noch Redezeit. Eigentlich wollte ich Sie
fragen, ob Sie dem Kollegen Ströbele eine Frage oder
Bemerkung gestatten.
Wenn Sie mir das noch erlauben. Bei Herrn Ströbele
habe ich ja noch nie Nein gesagt, glaube ich. Deshalb:
Bitte.
Dann hat er das Wort.
Sehr nett, Herr Kollege Mißfelder, dass Sie das noch
zulassen. - Man kann in der Tat darüber reden, dass man
die Menschen in Mali nicht alleinlassen darf, sondern
dass man sich da engagieren soll.
Meine Kritik zielt dahin - da spreche ich Sie als Mitglied der Koalition an, die es in der vorigen Legislaturperiode gab und die schon 2012 für Mali Verantwortung
getragen hat; Sie haben das ja auch angesprochen -:
Meinen Sie tatsächlich, dass die Hilfe, die man da leisten
soll, ausgerechnet dieser malischen Armee zugutekommen soll?
Die malische Armee ist bis 2012 von Deutschen ausgebildet worden. Man hatte gehofft, dass sie nicht nur
militärische Fähigkeiten vermittelt bekommt, sondern
auch Demokratie, ziviles Engagement und Ähnliches.
Als die Krise begann, hat diese malische Armee, die die
Deutschen ausgebildet haben, die damals legitime Regierung weggeputscht. Die Bundesregierung - Ihre damalige Bundesregierung! - hat daraufhin selbstverständlich die militärische Ausbildung gestoppt, weil sie
gesagt hat: Wir können doch nicht die ausbilden, die dort
geputscht haben. - Den malischen Soldaten ist danach
sehr viel vorgeworfen worden, auch die Beteiligung an
Gräueltaten, zum Beispiel in der Auseinandersetzung
mit den Tuareg im Norden des Landes. Sie wollen nun,
dass deutsche Soldaten ausgerechnet diese Armee wieder ausbilden. Dass das der Beitrag zur Bewältigung der
Krise in Mali sein soll, kann doch nicht wahr sein!
Es ist ja nicht so, dass in diesem Konflikt irgendeine
Seite eine weiße Weste hätte. Das hat niemand behauptet.
({0})
Trotzdem ist unser Anspruch, dass wir gerade dadurch,
dass wir in Mali präsent sind, auch auf die Strukturen
dieser Armee Einfluss ausüben. Ich glaube, das ist ein
vernünftiger Beitrag. Wenn wir jetzt hier eine wie auch
immer geartete materielle Unterstützung in größerem
Umfang diskutieren würden, dann müsste man das sicherlich kritisch sehen. Aber hier geht es um eine Ausbildungsleistung, von der wir uns natürlich erhoffen,
dass sie sich positiv auf die Armee auswirkt.
Im Detail werden weder Sie noch ich jetzt hier beurteilen können, ob ausgerechnet die von Ihnen skizzierten
Personenkreise immer noch in den Positionen sind, in
denen sie vorher waren.
({1})
Das können mit dem Wissensstand, den wir haben, weder Sie noch ich jetzt sagen. Das müssen wir also in der
anstehenden Ausschussberatung noch einmal klären.
Dazu haben wir dort dann Gelegenheit und können uns
auch zu Wort melden.
({2})
Für die SPD-Fraktion hat der Kollege Christoph
Strässer das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Diese Diskussion hat viele Ebenen. Wir reden ja nicht
nur über Mali; wir reden auch über Verantwortung, wir
reden über unser Verhältnis zu Afrika - in Klammern:
Afrika hat über 50 Staaten mit ganz unterschiedlichen
Gesellschaften, mit ganz unterschiedlichen Strukturen,
mit ganz unterschiedlichen Problemen, Risiken und
Chancen.
Wir reden aber eben auch über Verantwortung. Das,
finde ich, macht diese Diskussion so spannend. Ich persönlich und viele, die sich an dieser Diskussion beteiligen, definieren Verantwortung etwas anders als Sie, die
Sie wirklich mit einem Beißreflex in diese Diskussion
hineingehen. Für mich heißt Verantwortung, hinzuschauen, zu sehen: Wo sind die Probleme? Wo können
wir helfen? Wir können eben nicht nur und auch nicht in
erster Linie mit Militär helfen, sondern nur dann, wenn
gar nichts anderes mehr geht. Verantwortung zu übernehmen, meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen
und Kollegen, heißt für mich in allererster Linie, präventiv zu wirken, dafür zu sorgen, dass solche Katastrophensituationen, wie wir sie in vielen Bereichen dieses
Kontinents haben, gar nicht erst entstehen. Es gibt eine
Menge an Instrumenten, eine Menge an Methoden, eine
Menge an Mitteln, um diesen Weg zu gehen. Dafür muss
man sich aber zu dieser Verantwortung bekennen; und
das sollten wir hier aus meiner Sicht auch tun.
({0})
Ich will nur ein Beispiel dafür nennen, wo wir mit unserer Verantwortung möglicherweise ganz intensiv gefordert sind. Ich sage jetzt nur wenige Sätze zur Zentralafrikanischen Republik.
Kollege Strässer, bevor Sie das tun, müssten Sie mir
bitte die Frage beantworten, ob Sie der Kollegin Heike
Hänsel eine Frage oder Bemerkung gestatten.
Sicher, selbstverständlich; dafür sind wir ja hier.
({0})
- Dafür nicht, okay. Aber trotzdem.
Danke schön, Frau Präsidentin. - Herr Strässer, wir
hören jetzt ständig, eigentlich schon gebetsmühlenartig
in den letzten Wochen, den Satz: Wir müssen mehr Verantwortung übernehmen. - Ich möchte einmal fragen:
Erstens. Haben eigentlich die Bundesregierungen der
letzten Jahre oder Jahrzehnte keine Verantwortung übernommen?
({0})
Ist das die Schlussfolgerung? Ist es so, dass wir in
Deutschland - die letzte Große Koalition, die rot-grüne
Bundesregierung usw. - keine Verantwortung übernommen haben und jetzt Verantwortung übernehmen müssen? Was ist denn das für eine Bewertung Ihrer eigenen
Politik der letzten Jahre? Erklären Sie mir diesen Satz
doch einmal!
Zweitens. Frau von der Leyen selbst hat gesagt: Die
Bundeswehr hat jetzt nach dem Abzug aus Afghanistan
mehr Kapazitäten frei für Afrika. - Jetzt möchte ich
nachfragen: Wieso unterstellen Sie uns, wir würden das
militärisch interpretieren? Das sind doch die Worte von
Frau von der Leyen. In der Stuttgarter Zeitung können
Sie es nachlesen: „Bundeswehr hat noch Kapazitäten“.
Könnten Sie das bitte einmal bewerten?
Sie reden hier inflationär und stichwortartig von Verantwortung. Wenn Sie einmal richtig lesen, dann sehen
Sie, dass da steht: Wir übernehmen
({0})
- ich rede jetzt für mich und für uns - mehr Verantwortung. Dieses „mehr“ heißt nicht „mehr Soldaten“ und
nicht „mehr Militär“, sondern: mehr hinschauen, mehr
Probleme erkennen und damit umgehen. Wir reden hier
doch gerade über ein Mandat, das hier mit breiter Mehrheit von Schwarz-Gelb, SPD und Grünen beschlossen
worden ist, und damit über die Verantwortung, die wir
2013 in Mali mit übernommen haben.
Natürlich hat jede Bundesregierung ihre Verantwortung auf verschiedenen Ebenen wahrgenommen. Aber
der Anstoß, sich endlich einmal dazu zu bekennen, darüber zu reden und darüber nachzudenken: „Wie ist eigentlich Deutschlands Rolle in der Welt? Welche Rolle
spielen wir eigentlich?“, ist jetzt von dieser Bundesregierung gekommen. Ich finde den richtig und wichtig. Es
ist unsere Aufgabe, hier im deutschen Parlament mit der
Regierung darüber zu reden, Wege zu finden und auch
überzeugend gegenüber unserer Gesellschaft zu erklären, wo die Verantwortung für unser Land angesichts der
Mittel, die wir haben, liegt. Darüber möchte ich in der
Zukunft gern ganz sachlich und ganz fachlich reden.
Ich sage: Da steht nicht an erster Stelle das Militär.
Aber ich sage auch: Wenn es eine Situation gibt wie in
Mali, dann muss man sich im Endergebnis auch dazu bekennen, dass zu dieser Verantwortung im Zweifel gehört,
die Rechte von Menschen, die durch Hunger, durch Tod
oder durch andere Dinge bedroht sind, im Zweifel und
im Ernstfall auch mit militärischen Mitteln zu schützen;
anders werden wir unsere Verantwortung insgesamt
nicht wahrnehmen können, meine Damen und Herren.
({1})
Ich wollte aus einem ganz bestimmten Grund auf die
Zentralafrikanische Republik zu sprechen kommen. Da
gibt es ja unterschiedliche Warnsignale, Warnhinweise
zu dem, was auf uns zukommt. Damit beginnt natürlich
auch wieder eine Diskussion über die Rolle Deutschlands und das Zur-Verfügung-Stellen von einem oder
zwei Transportflugzeugen. Man muss sich einmal überlegen, was das an Verantwortung bedeutet.
Sie werden wahrscheinlich mitbekommen haben, dass
Amnesty International gestern einen Bericht veröffentlicht hat; ich habe ihn einmal mitgebracht. Amnesty
International ist ja bekanntlich keine Organisation, die
dazu neigt, militärische Maßnahmen und Reaktionen zu
rechtfertigen. In diesem Bericht - ein ähnlicher Bericht
wurde im Übrigen bereits vorher von Human Rights
Watch, einer anderen großen Menschenrechtsorganisation, veröffentlicht - wird nachdrücklich auf die Verantwortung hingewiesen. Das Statement an die internationale Staatengemeinschaft lautet: Wenn ihr vor Ort seid,
auch mit den Mitteln im Rahmen einer internationalen
Intervention, dann sorgt bitte dafür, dass der Schutz der
Zivilisten gewährleistet wird. Amnesty International fordert die internationale Staatengemeinschaft auf, hier
mehr zu tun und die Intervention, die im Moment dort
läuft, wieder insbesondere von den „bösen Franzosen“
geleitet, so durchzuführen, dass sie den Schutz der Zivilbevölkerung gewährleisten kann. Ich finde, das sollten
wir zur Kenntnis nehmen und uns der Verantwortung
nicht entziehen, sondern Unterstützung leisten. In der
Zentralafrikanischen Republik droht - das sagen viele
Menschen - ein Genozid wie in Ruanda, und das kann
die Weltgemeinschaft nicht hinnehmen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({2})
Ich glaube, dass man an dieser Stelle wirklich in der
Sache streiten muss; das ist doch überhaupt keine Frage.
Ich respektiere jeden, der vor einem pazifistischen Hintergrund den Einsatz von Militär ablehnt. Aber man
muss dann auch Konsequenzen ziehen und zugeben,
dass man an bestimmten Entwicklungen mitschuldig
wird. Rainer Arnold hat an dieser Stelle Erhard Eppler
zitiert. Die Auseinandersetzung über diese Verantwortung und die Wahrnehmung der Verantwortung, auch
zum Schutz der Menschenrechte - das sage ich ganz
deutlich -, zu führen, das ist aller Ehren wert und stünde
diesem Hohen Hause wirklich gut zu Gesicht.
Sie haben die Umfragen angesprochen und darauf
hingewiesen, dass 75 Prozent der Deutschen gegen militärische Interventionen seien. Aber Sie haben nicht gesagt, dass mehr als 60 Prozent der deutschen Bevölkerung gesagt haben: Die These von mehr Verantwortung
Deutschlands in der Welt ist richtig; das unterstützen
wir.
({3})
Das zeigt, dass es einen gesellschaftlichen Diskurs zu
diesem Thema gibt. Diesen gesellschaftlichen Diskurs
sollten wir wirklich allen Ernstes und ohne Schaum vor
dem Mund führen.
({4})
Letzter Punkt, liebe Kolleginnen und Kollegen. Wir
beschäftigen uns mit Afrika. Auch hier kann man die
Frage stellen, warum das eigentlich erst jetzt ein Thema
ist. Die Bundesregierung hat in der letzten Legislaturperiode ein Afrika-Konzept verabschiedet; meine Fraktion
hat das im Jahre 2012 getan. Darin stehen viele gute,
richtige und wichtige Dinge, die es fortzuführen gilt.
Mein Wunsch und meine dringliche Bitte, gerade als jemand, der sich seit vielen Jahren mit den Entwicklungen
in Afrika auseinandersetzt, ist: Nehmen wir die Vorlagen, die es vonseiten der Bundesregierung und der Fraktionen gibt, und stellen wir den Kontinent Afrika ins
Zentrum unserer politischen Auseinandersetzungen! Da
ist nicht alles gut, und da ist nicht alles schlecht. Es gibt
vieles, bei dem man genau hinschauen muss, wo man etwas verändern kann, mit vielen unterschiedlichen Methoden. Aber das sollte für mich und für uns ein Anlass
sein, Afrika, unseren Nachbarkontinent, einmal ins Zentrum unserer Debatten zu stellen. Wenn das das Ergebnis
dieses Anstoßes und dieser Diskussion wäre, wäre ich
sehr froh darüber. Ich würde mich freuen, wenn wir daran gemeinsam weiterarbeiten könnten.
({5})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/437 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf:
Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU,
SPD, DIE LINKE und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Einsetzung eines Ausschusses Digitale Agenda
Drucksache 18/482
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Nadine Schön für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Digitale Themen beherrschen seit Wochen
und Monaten Nachrichtensendungen und TV-Shows mit
leider eher negativ besetzten Themen wie NSA, Wirtschaftsspionage oder auch Hackerangriffe. Die Digitalisierung ist aber auch Thema Nummer eins bei den großen Entscheidern in der Wirtschaft, in diesem Fall eher
positiv besetzt; denn in der Digitalisierung sehen die
Bosse der Unternehmen die größten Wachstumspotenziale für den Mittelstand, für die Industrie, aber auch zunehmend für die Dienstleistungsbranche. Digitale Themen, das wissen wir alle, sind im Alltag von jedem von
uns angekommen: bei Verkehr und Mobilität, bei Familie, Verwaltung, sogar bei Gesundheit und Pflege.
Wir stellen fest, dass die Interneteuphorie, die es in
den letzten Jahren gab, einem eher pragmatischen Ansatz gewichen ist. Man geht mit Pragmatismus und Realismus an die Aufgaben heran. Denn wir alle wissen:
Die Digitalisierung bringt Gefahren und Risiken mit
sich. Sie ist aber auch der Quell großer Wachstumschancen, und sie ermöglicht Partizipation und Teilhabe. Auch
diese gesellschaftlichen Aspekte sollte man nicht außer
Acht lassen.
Die Digitalisierung prägt alle Lebensbereiche. Deshalb ist es richtig, dass digitale Themen ab jetzt auch im
Deutschen Bundestag einen Platz haben. Wir setzen
heute den ersten Ausschuss zur digitalen Agenda im
Nadine Schön ({0})
Deutschen Bundestag ein. Ich freue mich sehr, dass wir
das hier in großer Übereinstimmung zwischen den Fraktionen tun können.
({1})
Der Ausschuss Digitale Agenda wird zum Motor der
digitalen Agenda werden. Was heißt das? Das heißt zuallererst, dass wir die Regierung in den nächsten Wochen
und Monaten dabei unterstützen, ihre digitale Agenda zu
formulieren. Ich bin sehr froh, dass mit den beiden
Staatssekretärinnen, die heute auf der Regierungsbank
sitzen, Frau Bär und Frau Zypries, zwei Kolleginnen in
der Kerngruppe der Regierung Mitverantwortung tragen,
die mit uns zusammen die digitale Agenda in den Koalitionsverhandlungen verhandelt haben. Mit Minister de
Maizière haben wir einen kompetenten und engagierten
dritten Akteur in der Kerngruppe der Regierung, in der
die digitale Agenda ausgestaltet werden wird.
Ich glaube, dass wir mit dem Koalitionsvertrag wirklich sehr gute Grundlagen gelegt haben. Sie können auf
vieles zurückgreifen. Aber eines ist auch klar: Die digitale Agenda der Bundesregierung kann nicht die Kumulation von Einzelstrategien sein. Nein, wir brauchen eine
Gesamtstrategie, die das große Ganze im Auge hat, eine
Gesamtstrategie, die Deutschland national, international,
ja weltweit zum Vorreiter machen wird. Wenn in den
nächsten Jahren an Digitalisierung gedacht und gefragt
wird: „Welches Land hat die Chancen und Potenziale am
besten begriffen und für sich umgesetzt?“, dann sollte
- das ist meine Vorstellung - immer an Deutschland gedacht werden. In diesem Zusammenhang tragen die Regierungskommission, aber vor allem auch der neue Ausschuss eine ganz große Verantwortung.
({2})
Der Ausschuss Digitale Agenda wird der Motor der
Umsetzung sein. Das beinhaltet zwei Dinge. Das heißt
zum einen, dass wir die Fachausschüsse in ihrem Tagesgeschäft begleiten. Das heißt zum anderen aber auch,
dass wir die großen Fragen stellen.
Zur Begleitung der Fachausschüsse: Wir alle stellen
fest, dass eigentlich in allen Ausschüssen - im Wirtschaftsausschuss, im Verkehrsausschuss, im Gesundheitsausschuss - digitale Themen eine Rolle spielen, von
E-Health über Industrie 4.0 bis zum Thema Smart Grids.
Erst gestern habe ich mich auf der Berlinale mit der Vertreterin einer Initiative für Behinderte unterhalten, die
dafür kämpft, dass Behinderte einen besseren Zugang zu
kulturellen Ereignissen haben. Was war ihre Antwort auf
die Frage, wie das umgesetzt werden kann? Durch digitale Lösungen. Deshalb gehört die Beschäftigung mit digitalen Lösungen eben auch in den Kulturausschuss.
Ich behaupte, dass auf der Suche nach Lösungen noch
viel zu selten an die großen Potenziale der Technik, an
die großen Potenziale der Digitalisierung gedacht wird.
Deshalb ist eine ganz große Aufgabe dieses neuen Fachausschusses, sein Wissen in die Fachausschüsse hineinzutragen, damit die Fachpolitiker das große Wissen, was
sich hier bündelt, nutzen können. Ich kann den Fachpolitikern nur anbieten und an sie appellieren: Nutzen Sie
diese Kompetenz! Im Ausschuss Digitale Agenda sammelt sich die Fachkompetenz unserer Fraktionen zu diesem Thema. Das bietet ganz viel Potenzial, auch für alle
anderen Ausschüsse.
({3})
Wir wollen aber auch die großen, übergeordneten Fragen stellen und uns nicht im Klein-Klein verlieren. Wir
wollen auch nicht, wie das in den letzten Tagen vonseiten der Linken gesagt wurde, quatschen.
Dafür ist uns die Zeit viel zu schade. Wir wollen die
großen Fragen stellen und gemeinsam überlegen: Wie
können wir die digitale Souveränität in Deutschland voranbringen? Oder: Wie schaffen wir es, dass die Startups, die guten und innovativen Unternehmen in unserem
Land europaweit und weltweit Erfolg haben?
Auch das ist ein Gesichtspunkt in der NSA-Debatte:
Wir können uns nicht beklagen, dass wir von ausländischen IT-Lösungen abhängig sind, wenn unsere eigenen
Unternehmen nicht die Kraft haben, es zum Welterfolg
zu bringen. Wir müssen uns die Frage stellen: Wie schaffen wir es, dass Deutschland, dass Europa mit seinen
Unternehmen bei den großen Playern weltweit dabei ist,
dass deutsche und europäische Lösungen im Kern der
IT-Kompetenz großer Unternehmen stehen? Dieser Ausschuss hat hier eine große Verantwortung.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Innovationszyklen in diesem Bereich sind enorm. Wir erleben, dass
sich die Welt durch die Digitalisierung sehr schnell
dreht. Es wird für diesen Ausschuss eine Herausforderung werden, mit dieser Innovationsgeschwindigkeit
Schritt zu halten. Aber das ist unsere Aufgabe. Die
Kunst wird darin bestehen, das Tagesgeschäft des Ausschusses zu betreiben und gleichzeitig immer einen
Schritt voraus zu sein und zu schauen: Was liegt vor
uns? Worauf werden wir in Zukunft zu reagieren haben?
Das ist eine große Herausforderung für den Ausschuss.
Ich weiß, dass er sie meistern kann, weil aus allen Fraktionen sehr kompetente Abgeordnete Mitglied im Ausschuss sind.
Deshalb wünsche ich uns allen, dass wir möglichst
viel Erfolg haben, dass wir viel miteinander diskutieren
und wenig gegeneinander; denn die Themen sind zu
wichtig und die Herausforderungen zu groß, dass wir
uns im Klein-Klein verlieren. Die digitale Agenda ist
eine große Herausforderung für uns alle; zusammen mit
den Experten in der Wirtschaft, in der Gesellschaft und
auch mit den Aktivisten im Internet. Wir wollen das gemeinsam angehen.
Ich freue mich auf eine gute Zusammenarbeit.
({4})
Vielen Dank, liebe Kollegin. - Schönen guten Tag
von meiner Seite aus. Die nächste Rednerin in der
Debatte ist Halina Wawzyniak für die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen
und Kollegen! Wir debattieren heute die Einsetzung eines neuen Ausschusses, des Ausschusses Digitale
Agenda. Das gab es noch nie. Dass es ihn nun gibt, ist in
allererster Linie der Enquete-Kommission „Internet und
digitale Gesellschaft“ zu verdanken, die die Einsetzung
dieses Ausschusses einmütig gefordert hat. Aber auch
zahlreichen Netzaktivistinnen und Netzaktivisten ist es
zu verdanken, die nicht müde wurden, netzpolitische
Themen auf die Tagesordnung zu bringen und die Wichtigkeit des Themas so oft zu betonen, dass selbst die
Union irgendwann einsehen musste, dass man Netzpolitik nicht mal so nebenbei abfrühstücken kann.
({0})
Nun haben wir also einen Ausschuss, der sich allein
mit netzpolitischen Themen befasst. Das hätten wir
schon vor zwei Monaten haben können, hätte es da nicht
diverse Zwistigkeiten innerhalb der Großen Koalition
gegeben. Das ging sogar so weit, dass man nicht richtig
wusste, wie der Ausschuss überhaupt heißen soll. Wenn
Sie sich nicht einmal über den Namen einig werden können, will ich gar nicht wissen, wie es ist, wenn es um Inhalte geht. Das werden sicherlich vier spannende Jahre
mit Ihnen.
({1})
Ich persönlich hätte es im Übrigen ganz gut gefunden,
wenn der Ausschuss „Internet und digitale Agenda“ geheißen hätte. Das sagt am besten aus, worum es geht. Im
Übrigen müssten wir dann nicht auf Twitter diskutieren,
wie der neue Hashtag heißt.
Alles gut also? Leider nicht. Die Große Koalition
bleibt auf halbem Weg stecken. Anstatt die Netzpolitik
bei einem Ansprechpartner zu bündeln, zum Beispiel in
Gestalt eines Staatssekretärs - da gibt es relativ viele -,
bleibt das Thema in der Bundesregierung zersplittert und
auf zahlreiche Ministerien aufgeteilt. Der eine Minister
kümmert sich um den Breitbandausbau, ein anderer um
die Netzneutralität, wieder ein anderer kümmert sich um
Urheberrecht und Datenschutz, dann gibt es noch einen
für den Verbraucherschutz. Ich könnte das jetzt weiterführen und würde auf ungefähr elf Ministerien kommen,
die sich irgendwie mit netzpolitischen Themen beschäftigen.
Dann gibt es, wie man so hört, gleich Gerangel
zwischen Superminister Gabriel und Doch-nicht-Internetminister Dobrindt um einzelne Referate. Alle wollen
irgendwie bei der Netzpolitik mitreden. Das ist eigentlich schön; denn es zeigt, dass das Thema angekommen
ist. Besser spät als nie, könnte man sagen. Doch Kompetenzgerangel bringt uns irgendwie nicht weiter, erst recht
nicht in der Sache.
({2})
Der Ausschuss könnte wiederum einen Beitrag leisten, dieses Kompetenzgerangel aufzulösen. Doch das
kann nur funktionieren - jetzt kommen wir zu des Pudels
Kern -, wenn er bei netzpolitischen Themen federführend ist.
({3})
Andernfalls besteht nämlich die Gefahr, dass die Netzpolitikerinnen und Netzpolitiker der Fraktionen zwar
nett miteinander reden, das Ganze aber doch zu einer
Spielwiese verkommt und der Ausschuss am Ende überhaupt nichts mehr zu entscheiden hat.
Nun sagt der Einsetzungsbeschluss - ich möchte gar
nicht drum herumreden, dass es durchaus Streit darüber
gab, ob Grüne und Linke ihn mittragen - im Hinblick
auf die Federführung nicht wirklich aus, was gemeint ist.
Ich hätte mir da etwas mehr Klarheit gewünscht. In der
Begründung steht, dass er „in der Regel mitberatend tätig werden“ soll. Glücklicherweise stimmen wir nicht
über Begründungen ab, und deswegen hat der Bundestag, also alle Abgeordneten, die Möglichkeit, netzpolitische Initiativen federführend und nicht mitberatend in
den Ausschuss Digitale Agenda zu überweisen. Von
dieser Möglichkeit sollten wir tatsächlich Gebrauch
machen.
({4})
Ich jedenfalls kann Ihnen versichern: Wann immer
Sie irgendetwas, das vorwiegend Netzpolitik betrifft, federführend in einen anderen Ausschuss überweisen wollen, werden wir darüber hier im Parlament abstimmen
lassen. Denn das Parlament entscheidet, ob der Ausschuss Digitale Agenda in netzpolitischen Themen eine
wichtige Rolle spielen wird. Jede und jeder von Ihnen,
die Sie hier alle sitzen, wird persönlich mitentscheiden
dürfen, ob ein netzpolitisches Thema federführend im
Ausschuss Digitale Agenda oder in einem anderen Ausschuss behandelt wird.
Trotz der Mängel wird die Linke die Einsetzung des
Ausschusses mittragen - ich habe darauf hingewiesen -,
weil wir es wichtig finden, dass es einen solchen Ausschuss überhaupt gibt. Und jetzt liegt es an uns, diesen
Ausschuss mit Leben zu füllen. Ob das funktioniert - ich
wiederhole mich da gerne -, liegt an uns allen, die wir
hier im Parlament sitzen.
({5})
Danke schön, Frau Kollegin. - Als Nächster hat Lars
Klingbeil für die SPD in der Aussprache das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich will in aller Deutlichkeit sagen: Ich finde,
das ist schon ein bedeutender Tag hier im Parlament. Wir
haben es in der letzten Legislatur erlebt, dass das Thema
Netzpolitik in der parlamentarischen Arbeit immer mehr
Raum eingenommen hat. So gab es die Beratungen in
der Enquete-Kommission „Internet und digitale Gesellschaft“. Wir haben in dieser Legislatur 22 Ausschüsse
eingesetzt, die es so oder so ähnlich schon in der letzten
Legislatur gab. Hinzu kommt nun ein 23. Ausschuss,
nämlich der Ausschuss Digitale Agenda. Das zeigt, dass
wir als Parlament anerkennen, dass sich hier neue Themenfelder entwickelt und wir ihre Bedeutung erkannt
haben. Wir sagen: Hier im parlamentarischen Raum
muss es Beratungen über diese Themen geben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bin auch froh
darüber, dass wir es geschafft haben, einen gemeinsamen
Einsetzungsbeschluss hinzubekommen, dass auch die
Oppositionsfraktionen zustimmen, dass wir, das Parlament insgesamt, ein Zeichen setzen müssen.
({0})
Liebe Kollegin Wawzyniak, ich erkenne an, dass Sie
versucht haben, das Haar in der Suppe zu finden. Das ist
Aufgabe der Opposition. Aber ich sage Ihnen: Freuen
Sie sich doch über den gemeinsamen Erfolg, dass es
diesen Ausschuss geben wird. Wie etwa über die Frage
der Vorratsdatenspeicherung entschieden wird, hängt sicherlich nicht von der organisatorischen Frage ab, ob der
Ausschuss federführend oder mitberatend tätig wird,
sondern vom politischen Diskurs.
({1})
Also kann ich Sie nur einladen, die politische Debatte zu
führen und die Auseinandersetzung zu suchen.
({2})
Ich wusste gar nicht, dass die Linken so struktur- und
gremienverliebt sind, wie Sie es gerade dargestellt haben.
({3})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, dieser Ausschuss
Digitale Agenda wird der zentrale Ort hier im Bundestag
sein, an dem wir, das Parlament, die digitale Agenda der
Bundesregierung koordinieren, sie besprechen, immer
wieder eigene Impulse setzen und da, wo es nötig ist,
auch mal Anstöße geben. Die Kollegin Schön hat erwähnt, dass sich mindestens zwei Staatssekretärinnen
darum kümmern werden.
Aber ich will erwähnen, dass es weitere Ministerien
gibt, die sich mit Netzpolitik befassen werden: Auch das
Ministerium der Justiz und für Verbraucherschutz wird
sich kräftig in netzpolitische Fragen einmischen. Ich
sehe hier Herrn Krings, Staatssekretär im Innenministerium. Auch das Innenministerium wird sich einmischen.
Und ich bin mir sicher: Es werden weitere Ministerien
folgen. Netzpolitik ist ein Querschnittsthema, das von allen Häusern bearbeitet wird, und das ist gut so. Wir
haben auch in der Enquete diskutiert, wie man ein
Thema wie die Netzpolitik organisatorisch aufstellen
kann, und waren uns einig, dass es ein Querschnittsthema ist. Deswegen ist es richtig, dass es in vielen Häusern behandelt wird und vom Parlament in einem zentralen Ausschuss koordiniert wird.
Frau Wawzyniak, Sie haben angesprochen, dass es ein
Verdienst von vielen ist, dass dieser Ausschuss kommt.
Das will auch ich hier sagen. Unter denjenigen, die dafür
gesorgt haben, dass dieser Ausschuss kommt, sind auch
Kollegen, die jetzt nicht mehr im Parlament sitzen. Ich
will aber auch Sachverständige aus der Enquete erwähnen, die fleißig mitdiskutiert haben, die mitgekämpft und
für einen einstimmigen Beschluss gesorgt haben und die
heute sicherlich verfolgen, was wir hier machen. Aber es
war auch das Engagement von Netzaktivistinnen und
Netzaktivisten, das dafür gesorgt hat, dass das Thema
hier im Parlament angekommen ist.
2009 führten wir große Debatten über Netzsperren,
über ACTA und über Vorratsdatenspeicherung, die sicherlich fortgesetzt werden. Es gibt viele, die das Thema
Netzpolitik auf die gesellschaftliche Agenda gesetzt
haben. Diese Themen sind nun in der Mitte des Parlaments angekommen. Deswegen ist heute ein bedeutender Tag für unser Parlament.
({4})
Wir haben allen Grund, uns über die Einsetzung des
Ausschusses zu freuen; aber mit der Arbeit geht es jetzt
erst los. Es liegen viele Themen vor uns, die wir nun hier
im Parlament ernsthaft bearbeiten müssen. Ich will drei
Themen nennen, die uns Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten in diesem Ausschuss wichtig sind.
Erstens. Es geht darum, die digitale Spaltung in
Deutschland zu stoppen. Wir müssen dafür sorgen, dass
alle in unserem Land den gleichen Zugang zum schnellen Internet haben. Ich bin Minister Dobrindt dankbar,
dass er in den letzten Wochen viele Initiativen angekündigt hat.
({5})
Seien Sie sich sicher: Wir als Ausschuss werden diese
tatkräftig begleiten; denn uns geht es darum, die Spaltung im Bereich Breitband in unserem Land zu beenden.
Wir brauchen Zugang zum schnellen Internet, und zwar
flächendeckend; denn es geht um die Gleichwertigkeit
der Lebensverhältnisse, aber auch darum, wirtschaftliches Wachstum und neue Geschäftsmodelle zu ermöglichen.
Unter dem Begriff, digitale Spaltung zu beenden, verstehen wir allerdings mehr als nur den flächendeckenden
Zugang zum schnellen Internet. Für uns gehören auch
die Bereiche digitale Kompetenz und Netzneutralität
dazu. Wir als SPD werden diese Themen ebenfalls in
den Ausschuss einbringen.
({6})
Ein zweiter wichtiger Punkt, den wir im Ausschuss
intensiv diskutieren wollen, ist die wirtschaftliche Entwicklung. Die digitale Wirtschaft hat enorme Potenziale.
Es geht uns darum, die wirtschaftliche Entwicklung und
das Wirtschaftswachstum zu stärken und die Entstehung
von Arbeitsplätzen zu fördern. Das betrifft Start-ups,
aber auch das Projekt „Industrie 4.0“, das wir begleiten
wollen. Es wird dazu führen, dass sich in Deutschland
viele Potenziale entfalten können.
Der dritte Bereich, der uns wichtig ist: Wir müssen
die richtigen Konsequenzen aus der Affäre rund um die
NSA ziehen. Wir haben gesehen: Vertrauen ist verloren
gegangen. Ich warne davor, in IT-Nationalismus zu verfallen, aber wir müssen in der Tat darüber diskutieren,
was Deutschland machen kann, wenn es darum geht,
Forschung und Entwicklung, Initiativen im Bereich der
Medienkompetenz und die digitale Selbstständigkeit zu
stärken. Es muss aber auch darum gehen, internationale
Abkommen und Verträge voranzutreiben, etwa das NoSpy-Abkommen. Wir wollen, dass die Menschen dem
Internet wieder vertrauen können. Aktuell ist das nicht
der Fall.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie sehen: Es liegen
viele Aufgaben vor uns. Der Ausschuss Digitale Agenda
wird der Ort sein, an dem wir das Ganze koordinieren.
Wir behandeln kein Nischenthema, sondern ein Querschnittsthema mitten im Parlament. Mit dem Einsetzungsbeschluss kann die Arbeit des Ausschusses jetzt
Gott sei Dank losgehen. Ich will mich bei allen bedanken, die in den letzten Wochen massiv daran gearbeitet
haben, dass es zu diesem Beschluss gekommen ist.
Herzlichen Dank.
({7})
Vielen Dank, Herr Kollege. - Als nächsten Redner
rufe ich auf Dr. Konstantin von Notz, Bündnis 90/Die
Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Zeit der Erkenntnis ist vorbei; die hatten wir in der
17. Wahlperiode. Viele der jetzt diesem Ausschuss zugehörigen Abgeordneten und die 17 Sachverständigen haben das Defizit des Bundestages in Sachen Internet und
Digitalisierung in drei Jahren mit viel Fleiß behoben.
Herausgekommen sind 400 Handlungsempfehlungen,
viele davon wurden hier fraktionsübergreifend beschlossen, zwei von ihnen waren von zentraler Bedeutung.
Die erste zentrale Handlungsempfehlung war, für eine
bessere Koordinierung der Netzpolitik auf Regierungsebene zu sorgen. Diese Empfehlung entstand aus der
Erkenntnis, dass die Arbeit praktisch auf allen netzpolitischen Großbaustellen der letzten Jahre - die Breitbandversorgung, die Netzneutralität, das Urheberrecht,
der Datenschutz und vieles mehr - aufgrund des Zuständigkeitsstreits der in großer Zahl beteiligten Ministerien
liegengeblieben ist. Was hat die Große Koalition aus dieser guten Handlungsempfehlung gemacht? Statt sich um
die erforderliche Koordination und Themenbündelung
zu kümmern, wurde ein weiteres Ministerium, das Verkehrsministerium, für zuständig erklärt. Das führt dazu,
dass man nun immer - Achtung, Herr Dobrindt, jetzt
wird es interessant - wenn man kein Netz hat, an die
CSU denkt: mit Laptop und Lederhose, aber leider ohne
Netz. Dieses Zuständigkeitspotpourri ist inkonsequent
und ungenügend.
({0})
Die zweite zentrale Handlungsempfehlung lautet, einen ständigen Vollausschuss im Bundestag einzurichten.
In der Enquete-Kommission hatten wir das Problem erkannt, dass der Unterausschuss Neue Medien zwar hochinteressante Aufgabenfelder, aber für kein Thema die
Federführung hatte. Heute setzen wir einen Vollausschuss ein, aber wieder ohne federführende Zuständigkeit, nicht einmal für ein einziges Thema. Das wird nicht
reichen, um die Netzpolitik angemessen in diesem Parlament zu verankern.
Sie haben selbst im Dezember letzten Jahres gemerkt,
dass es so eben nicht geht. Deswegen haben wir den
Ausschuss nicht zusammen mit den 22 ständigen Ausschüssen eingesetzt. Sie haben es sträflich versäumt, dieses Problem in den Koalitionsverhandlungen entschieden anzugehen. Dieses Versäumnis war in den letzten
zwei Monaten nicht mehr heilbar. Wenn Sie schon bei
der Umsetzung dieser zwei zentralen Handlungsempfehlungen nichts hinbekommen, dann sehe ich, ehrlich gesagt, auch bezüglich der 398 anderen schwarz-rot.
({1})
Der Kollege Koeppen - erst einmal herzlichen Glückwunsch zum neuen Amt; ich hoffe auf eine gute Zusammenarbeit ({2})
hat vor wenigen Wochen gesagt, der Ausschuss solle
dazu dienen, die netzpolitische Debatte zu entideologisieren. Ich gehe davon aus, dass dies vor allem an den
Kollegen Heveling gerichtet war. Ich nenne Stichworte,
die er benutzt: „Kampf um Mittelerde“ und „Digitales
Blut muss fließen“. Insofern ist „Entideologisieren“ immer total richtig.
Aber Ihrer Kernthese von der „Nische“, Herr
Koeppen, die heute Morgen über den Ticker lief, widerspreche ich. Ich mahne Differenzierung an. Das Internet
und die Digitalisierung sind sicherlich von überragender
Bedeutung für unsere Gesellschaft, für die Wirtschaft
und im Hinblick auf die NSA-Affäre auch für die Zukunft unseres Rechtsstaates. Aber es geht doch nicht darum, diesen Bereich aus der Nische herauszuholen. Das
ist gesellschaftlich längst passiert. Es geht darum, ihm in
diesem Parlament einen der Wirklichkeit entsprechenden Platz zu verschaffen. Aber dafür ist der Ausschuss,
den Sie hier einrichten, leider zu wenig.
({3})
Warum ist Ihnen das nicht gelungen? Es ist Ihnen
nicht gelungen, weil in Ihren Fraktionen die Netzskeptiker und -gegner - ich sehe Herrn Kauder gar nicht mehr;
eben war er noch da - in der Mehrheit sind. Die wollen
eben keinen netzpolitischen Ausschuss mit Relevanz in
diesem Hohen Hause. Der Parlamentarische Geschäftsführer der Union, Kollege Grosse-Brömer, lässt sich mit
den Worten zitieren, der Ausschuss biete die Möglichkeit, auch mal grundsätzlicher zu diskutieren - grundsätzlicher! Das reicht angesichts der historischen Bedeutung nicht, um weiche Knie zu bekommen.
({4})
Das gibt die Richtung vor. Das ist gegenüber den Sachverständigen und Abgeordneten, auch gegenüber den
Abgeordneten der Union und der SPD, eine Unverschämtheit im Hinblick auf die Arbeit, die wir in den
letzten drei Jahren geleistet haben.
({5})
Dass Sie sich das gefallen lassen, ist ein Armutszeugnis.
Zum Schluss eine Bemerkung zum Titel. Nach dem
fraktionsübergreifend verabschiedeten Wunsch des Parlaments - dafür haben auch Sie gestimmt - sollte dieses
Gremium „Ausschuss für Internet und digitale Gesellschaft“ heißen. Danach haben Sie „Gesellschaft“ herausgestrichen. Nun sprachen Sie vom Ausschuss „Internet
und Digitale Agenda“ - AIDA. Nun ja. Nun wurde auch
das Wort „Internet“ wegrationalisiert. Der Ausschuss bekommt den Wirtschafts-PR-Namen „Digitale Agenda“.
So steht es auch im Koalitionsvertrag. Digitale Wirtschaft
ist wichtig - da stimme ich völlig zu, Kollegin Schön -,
aber das ist in der Reduzierung eben nicht korrekt. Geholfen haben Sie dem Thema mit dieser Namensschrumpfkur nicht. Wir werden der Einsetzung dieses Ausschusses dennoch zustimmen, weil ein Ausschuss besser ist
als kein Ausschuss.
({6})
Kommen Sie bitte zum Ende.
Frau Präsidentin, ich komme zum Ende. - Kein Ausschuss ist nicht besser als dieser Ausschuss. Wir werden
weiter Initiativen voranbringen, konstruktiv mitarbeiten
({0})
und die Umsetzung bekannter Handlungsempfehlungen
und neuer Ideen vorantreiben. An uns wird die Netzpolitik in dieser 18. Wahlperiode auf jeden Fall nicht scheitern.
Ganz herzlichen Dank.
({1})
Danke, Herr Kollege von Notz. - Nächster Redner in
der Debatte ist Ulrich Lange für die CSU/CDU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich bedanke mich zunächst für die Umbenennung
unserer Fraktion in CSU/CDU-Fraktion.
Das mache ich nur bei bestimmten Rednern und Rednerinnen.
Nur bei bestimmten Rednern. Danke!
Von unserem Haus wird ein wesentlicher Schub für dieses absolut wichtige Zukunftsthema ausgehen. Die Digitalisierung - das ist hier jetzt mehrfach angesprochen worden ist Voraussetzung für Wachstum und Wohlstand. Sie umfasst inzwischen alle Lebensbereiche. Das wird auch
klar, wenn man sich hier umschaut. Der Kollege von
Notz zeigt dies gerade in besonderem Maße; er kann ja
ohne digitales Werkzeug bzw. Spielzeug gar nicht mehr
auskommen.
Sowohl der Unterausschuss Neue Medien als auch die
Enquete-Kommission - auch das ist mehrfach angesprochen worden - haben die Handlungsempfehlung ausgesprochen, diesen Ausschuss einzusetzen. Bei aller leiser,
aber typischer Oppositionskritik - diese gehört hier dazu
- sind Sie ja mit uns der Meinung - das zeigt auch Ihre
Zustimmung -, dass dies ein richtiger, wichtiger und guter Schritt ist. Ich bin mir sicher, dass der Ausschuss
seine Arbeit erfolgreich aufnehmen wird. Bereits im Koalitionsvertrag haben wir die digitale Agenda im Wesentlichen beschrieben: „Chancen für eine starke Wirtschaft, gerechte Bildung und ein freies und sicheres
Internet“.
Als Verkehrspolitiker und verkehrspolitischer Sprecher meiner Fraktion - den Verkehrspolitikern liegt dieser Ausschuss ja auch am Herzen - sage ich, dass es
wichtig war, die Verkehrspolitik um die digitale Infrastruktur zu erweitern. Denn dort sehen wir große Chancen und Handlungsfelder. Der Breitbandausbau wurde bereits angesprochen, auch und insbesondere - erlauben Sie
mir, das so zu sagen - der Ausbau im ländlichen Raum. Das
ist vergleichbar mit einer Autobahnauffahrt; diese wollen
wir ja auch in allen Regionen unseres Landes haben.
Dass es sich um ein Querschnittsthema handelt, das in
mehreren Ministerien verankert ist, muss ich auch nicht
wiederholen. Das haben wir bereits gehört. Das macht
den Ausschuss, lieber Kollege von Notz - das können
Sie gleich so twittern oder facebooken; ich weiß nicht,
was Sie gerade machen -, so wichtig. Dieser Ausschuss
Digitale Agenda wird einen Modernisierungsschub geben.
({0})
- Der Ausschuss für sich und die positiven Ergebnisse,
die wir dort erzielen werden. - Es geht um Teilhabe an
technischen Innovationen. Es geht um Zugang zur digitalen Welt, und es geht letztlich um Chancen- und Generationengerechtigkeit in ganz Deutschland.
({1})
- Ja, es gibt auch Senioren, die das machen,
({2})
so wie Sie.
({3})
Vor diesem Hintergrund - das halte ich auch für ganz
wichtig; das möchte ich unterstreichen - hat unser Bundesminister Alexander Dobrindt mit innovationswilligen
Unternehmen die Netzallianz initiiert. Ein erstes Treffen
ist schon in Bälde abzusehen. Ich glaube, dass wir auch
von dort neue Impulse für eine leistungsstarke Netzinfrastruktur und für einen leistungsstarken Netzzugang - der
Ausschuss wird sich ja unter anderem mit diesen Themen befassen - bekommen.
Die Ausführungen zeigen - letztlich sind sie ja bei allen Rednern relativ deckungsgleich, wenn ich jetzt einmal von den kleinen Verästelungen absehe -,
({4})
dass es notwendig ist, das Thema Digitalisierung gesamtheitlich zu denken und zu diskutieren. Es ist notwendig, der Handlungsempfehlung zu folgen und diesen
Ausschuss einzusetzen. Die Einsetzung des Ausschusses
ist gut. Sie erfolgt rechtzeitig, und die Themen sind gut
umschrieben.
Wir freuen uns auf die Zusammenarbeit im Ausschuss
Digitale Agenda. Wir freuen uns auf einen Modernisierungsschub in unserem Land.
Herzlichen Dank.
({5})
Vielen Dank, Herr Kollege. - Als Nächster hat das
Wort Sören Bartol für die SPD.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich freue mich, dass wir heute mit der Unterstützung aller Fraktionen den neuen Ausschuss Digitale Agenda als
23. ordentlichen Ausschuss des Deutschen Bundestages
einsetzen. Ich finde, das ist ein großer Erfolg der Netzpolitiker aller Fraktionen, die in der letzten Legislaturperiode in der Enquete-Kommission „Internet und digitale
Gesellschaft“ gearbeitet haben.
Wir Sozialdemokraten haben in den letzten Monaten in
intensiven Diskussionen - auch mit unserem Koalitionspartner - dafür gesorgt, dass die Forderung der Netzpolitikerinnen und Netzpolitiker nach einem eigenen Ausschuss
zu einem Anliegen des gesamten Deutschen Bundestages
wurde. Wir waren damit erfolgreich. Das haben uns viele
Kolleginnen und Kollegen von den Grünen und von den
Linken wohl nicht zugetraut.
({0})
Ich habe ein bisschen das Gefühl, das ist wohl auch der
Grund, warum insbesondere von dem Kollegen von
Notz von den Grünen eine doch relativ kleinkarierte Kritik gekommen ist.
({1})
Aber am Ende ist es gut, dass sich alle Fraktionen dafür
entschieden haben, diesen Antrag zu unterstützen.
Wir erleben heute einen wichtigen Moment: Die
Netzpolitik verlässt den Katzentisch des Parlaments und
rückt in die Mitte der parlamentarischen Arbeit. Die Zeiten, in denen Netzpolitik ein Randthema war, sind vorbei. Mit der Einrichtung des neuen Ausschusses wird der
Deutsche Bundestag der Realität in unserer Gesellschaft
endlich gerecht. Der neue Ausschuss wird das bündeln
und zusammenführen, was zusammen beraten und entschieden gehört. Lieber Kollege Notz, ich hätte da von
Ihnen etwas mehr parlamentarisches Selbstbewusstsein
erwartet.
({2})
Schließlich ist der Deutsche Bundestag mit der Einrichtung dieses Ausschusses einen Schritt weiter als die
Bundesregierung, in der mindestens vier verschiedene
Ressorts für Netzthemen zuständig sind.
Was auch gut ist: Wir machen uns nicht zum Schiedsrichter, wer in dieser Regierung nun wirklich der wahre
Internetminister ist. Wir ordnen den neuen Ausschuss
keinem bestimmten Ministerium zu. Dieser Ausschuss
versteht sich als Querschnittsgremium. Fragen der digitalen Gesellschaft lassen sich nicht auf Einzelthemen
wie Sicherheit, Kriminalitätsbekämpfung im Internet,
Start-ups/Unternehmensgründungen oder das Verlegen
neuer Breitbandkabel reduzieren.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Einrichtung dieses Ausschusses ist kein Wert an sich. Die Digitalisierung unseres Lebens ist eine gesellschaftspolitische
Frage, die wir in dem neuen Ausschuss behandeln müssten.
Die Veröffentlichungen über die Aktivitäten des amerikanischen Geheimdienstes NSA haben in den letzten
Monaten die Welt aufgerüttelt. Im Kern geht es um die
Frage, wie wir den Schutz unserer Privatsphäre auch in
einer digitalen Gesellschaft garantieren können. Der
Ausschuss Digitale Agenda hat aber nicht die Funktion,
die NSA-Affäre aufzuklären - das muss in einem zuständigen Untersuchungsausschuss geleistet werden. Der
neue Ausschuss wird aber Antworten geben müssen, wie
wir die Persönlichkeitsrechte im Zeitalter der Digitalisierung zukünftig schützen können.
Es muss auch darum gehen, die digitale Spaltung der
Gesellschaft zu verhindern. Die Teilhabe aller Bevölkerungsgruppen muss doch unser aller gemeinsamer Anspruch sein! Alle Bürgerinnen und Bürger müssen im Internet gleichberechtigt aktiv werden können und am
Ende auch denselben Zugang zu allen Inhalten haben.
Wir müssen auch den Charakter des Internets als freies
und offenes Medium erhalten. Jegliche Diskriminierung
im Netz müssen wir verhindern. Wir brauchen eine funktions- und leistungsfähige Netzinfrastruktur für alle; nur
so können sich attraktive und stabile Dienste entwickeln,
die den persönlichen und dann auch den ökonomischen
Nutzen mehren.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich wünsche allen,
die in dem neuen Ausschuss Mitglied werden, dass sie in
ihrer Arbeit genau so erfolgreich werden wie die Mitglieder des zuletzt eingerichteten Hauptausschusses, der
hier vor 28 Jahren gegründet wurde - das ging heute
schon durch die Presse -: des Umweltausschusses.
Von den restlichen Mitgliedern des Hauses wünsche
ich mir die Aufgeschlossenheit, sich mit der Fachexpertise der Netzpolitiker auseinanderzusetzen und diese bei
den Entscheidungen im Parlament auch aufzunehmen.
Ich wünsche uns allen dabei einen langen Atem und
freue mich persönlich auf die Arbeit.
Vielen Dank.
({3})
Vielen Dank, Sören Bartol. - Ich darf darauf hinweisen, dass 1998 noch ein anderer Hauptausschuss gegründet worden ist - ich weiß das, weil ich die Vorsitzende
war -: der Menschenrechtsausschuss.
({0})
Auch dieser Ausschuss hat dem Parlament sehr gutgetan.
({1})
- Danke schön, dass Sie mir zustimmen - nicht dass ich
Vorsitzende war, sondern dass der Ausschuss eingerichtet wurde.
({2})
Als letztem Redner in dieser Debatte gebe ich das
Wort Jens Koeppen von der CDU/CSU-Fraktion.
({3})
Vielen Dank. - Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Fast auf den Tag genau vor zwei Jahren,
am 8. Februar 2012, gab es eine kleine Pressekonferenz
mit dem damaligen Vorsitzenden der Enquete-Kommission „Internet und digitale Gesellschaft“, Axel Fischer
- Sie werden sich erinnern -, und mir als Obmann meiner Fraktion. Wir haben auf dieser Pressekonferenz
nichts anderes getan, als für das netzpolitische Thema
„Das Internet und die digitale Gesellschaft“ einen ständigen Bundestagsausschuss zu fordern.
Das ist zwei Jahre her. Ein Jahr danach hat die Enquete-Kommission dieses Thema in einer Handlungsempfehlung aufgegriffen und es zur Hauptforderung gemacht; Sie haben es gerade erwähnt. Heute, zwei Jahre
später, ist es, wie gesagt, so weit: Der Ausschuss Digitale Agenda gründet sich.
({0})
Ich finde, das ist ein sehr großer Erfolg aus der EnqueteKommission heraus - übrigens für uns alle.
({1})
Sie können jetzt fragen - das verstehe ich sogar, und
ich mache auch einen Haken dahinter -: Ist es nicht viel
zu spät? Haben wir in diesem Haus nicht zu wenig agiert
und zu lange reagiert? Das ist ein bisschen wie vergossene Milch. Man kann diese Fragen mit Ja beantworten.
Ich sehe das übrigens auch so: Man hätte den Ausschuss
vielleicht auch schon vor acht Jahren in die Mitte der
politischen Entscheidungen rücken können.
Es gab aber auch zwei Enquete-Kommissionen; das
darf man nicht vergessen. Aus diesen Enquete-Kommissionen heraus sind später in den Ausschüssen wichtige
Gesetzentwürfe entstanden, und aus unserer EnqueteKommission entsteht jetzt, wie gesagt, der Ausschuss.
Dass die Mehrheit diesen Ausschuss jetzt letztendlich
begrüßt und dem vorliegenden Antrag dazu wahrscheinlich zustimmen wird, finde ich sehr gut, und ich bedanke
mich ausdrücklich dafür, dass das Ganze letztendlich
noch zu einem guten Ende geführt wurde.
Dieser 23. Ausschuss arbeitet - das will ich ganz klar
sagen - auf Augenhöhe mit den anderen Ausschüssen.
Wir haben die gleichen Rechte, aber, Herr von Notz, wir
haben auch die gleichen Pflichten. Wir haben in der Enquete-Kommission immer einen Hauptausschuss gefordert. Das ist kein Unterausschuss und auch keine Enquete-Kommission.
({2})
Wir müssen die Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages einhalten. Deshalb möchte ich, dass wir weni1066
ger palavern und debattieren, sondern wirklich am
Thema dranbleiben.
({3})
Wir wollen kein Schattenboxen betreiben. Das kam
mir hier wieder ein bisschen so vor; darüber bin ich ein
wenig traurig.
({4})
Über die Federführung kann man lange streiten: Ist das
gerechtfertigt? Ist das nicht gerechtfertigt? Ist das ausreichend oder nicht ausreichend?
Aus meiner Sicht ist das - ich sage es einmal so - eine
logische Konsequenz der Arbeitsweise des Deutschen
Bundestages, weil es zurzeit keine direkte Spiegelung in
der Bundesregierung gibt. De facto gibt es nämlich mehr
oder weniger drei federführende Ministerien, die sich die
Federführung teilen. Mit der Mitberatung sind wir aus
meiner Sicht ziemlich gut dran.
Der Ausschuss Digitale Agenda ist ein wertvolles Instrument. Wir können hier zusammenführen, was zusammengehört, und wir sind im Bundestag Vorreiter bei
dieser Zusammenführung.
Dieses Querschnittsthema verdient einen selbstbewussten Ausschuss und übrigens auch selbstbewusste
Abgeordnete. Ich bin froh, dass wir uns in diesem Ausschuss in fast derselben Besetzung wie in der EnqueteKommission wiederfinden und daran anknüpfen können,
wo wir aufgehört haben.
Für mich wiegen die Chancen der Mitberatung übrigens schwerer als das Fehlen der Federführung; denn Sie
dürfen nicht vergessen, dass wir als Hauptausschuss
nach der Geschäftsordnung auch die Möglichkeit der
Selbstbefassung haben. Wir reagieren also nicht nur auf
die digitale Agenda der Bundesregierung, sondern wir
dürfen uns natürlich auch eigene Inhalte vornehmen und
eigene Impulse setzen, weil das Thema zu wichtig ist, als
letztendlich nur durch die einzelnen Fachpolitiker betrachtet zu werden. Das wäre nicht mehr zeitgemäß. Wir
sollten den gesamten Facettenreichtum betrachten, den
das Thema in sich trägt, und wir wollen das Thema der
Lebenswirklichkeit der Gesellschaft anpassen.
In der nächsten Woche wird sich der Ausschuss konstituieren. Bis dahin kommt noch ein bisschen Arbeit in
Bezug auf das Sekretariat auf uns zu; Sie alle kennen
das. Danach sollten wir aber unverzüglich an die Arbeit
gehen.
Ich würde Sie alle natürlich sehr gerne so schnell wie
möglich einladen, gemeinsam unsere eigene digitale
Agenda aufzustellen; das ist mir ganz wichtig.
({5})
Es liegt an uns Abgeordneten, was wir dann daraus machen. Wir sollten weniger palavern und bedauern bzw.
beklagen, was alles nicht geht, und stattdessen selbstbewusst an die Arbeit gehen und natürlich auch so miteinander diskutieren - auch streitig -, dass am Ende des
Tages letztlich etwas dabei herauskommt.
Wenn wir unsere Arbeit - da bin ich ganz sicher - gut
machen, werden wir ein guter Impulsgeber sein. Dann
wird man sagen: Ja, sie haben an diesem Thema aktiv
gearbeitet, weniger reaktiv. Man wird auch sagen: Es ist
eine gute Entscheidung, dass wir den Ausschuss Digitale
Agenda eingesetzt haben. Ich wünsche uns dafür gutes
Gelingen. Ich wünsche uns eine gute und kollegiale, natürlich auch streitbare Zusammenarbeit. Das Thema ist
es auf alle Fälle wert.
Vielen Dank.
({6})
Vielen Dank, Herr Kollege. - Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den interfraktionellen Antrag auf Drucksache 18/482 zur Einsetzung des Ausschusses Digitale Agenda. Wer stimmt für
diesen Antrag? - Das ist einfach. Es stimmen die CDU/
CSU-Fraktion, Bündnis 90/Die Grünen, die SPD und die
Linksfraktion zu. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Das Ergebnis ist einstimmig. Der Antrag ist damit angenommen. Damit ist der Ausschuss Digitale
Agenda eingesetzt.
({0})
Ich wünsche dem Ausschuss und den Abgeordneten,
die in diesem Ausschuss arbeiten werden, von Herzen
viel parlamentarische Kreativität. Ich wünsche dem Ausschuss viel Erfolg in diesem wichtigen Bereich unserer
Lebensrealität. - Vielen herzlichen Dank.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 sowie Zusatzpunkt 6 auf:
9 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Dietmar Bartsch, Katrin Göring-Eckardt,
Dr. Gregor Gysi, Britta Haßelmann, Dr. Anton
Hofreiter, Jan Korte, Dr. Konstantin von Notz,
Dr. Petra Sitte, Hans-Christian Ströbele,
Dr. Sahra Wagenknecht, weiterer Abgeordneter
und der Fraktionen DIE LINKE und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Einsetzung eines Untersuchungsausschusses
Drucksache 18/420
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung
ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Stephan
Albani, Katrin Albsteiger, Niels Annen, Ingrid
Arndt-Brauer, Rainer Arnold, Artur
Auernhammer, Heike Baehrens, Ulrike Bahr,
Heinz-Joachim Barchmann, Dr. Katarina Barley,
Vizepräsidentin Claudia Roth
Dr. Hans-Peter Bartels, weiterer Abgeordneter
und der Fraktionen der CDU/CSU und SPD
Einsetzung eines Untersuchungsausschusses
NSA
Drucksache 18/483
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Nachdem dann alle Kolleginnen und Kollegen Platz
genommen haben, eröffne ich die Aussprache und gebe
das Wort Hans-Christian Ströbele von Bündnis 90/Die
Grünen, der die Aussprache beginnen wird.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Zunächst die gute Nachricht: Es wird einen Untersuchungsausschuss zur Aufklärung des NSA-Skandals im
Deutschen Bundestag geben. Das war nicht immer
selbstverständlich. Im Sommer des letzen Jahres war die
Union zunächst der Meinung, da gebe es gar nichts aufzuklären, alles sei aufgeklärt und die Vorwürfe seien
vom Tisch. Danach hat sich ihre Meinung geändert, und
sie war der Ansicht, die ganze Sache solle in einem anderen Gremium aufgeklärt werden. Aber seit dem Jahreswechsel hat sich die Auffassung noch einmal geändert: Die Union ist geläutert, und die Kolleginnen und
Kollegen scheinen einsichtig geworden zu sein.
({0})
So weit die gute Nachricht. Die schlechte Nachricht
ist, dass diese Einsicht nicht sehr weit reicht.
({1})
Die Union und die SPD haben nicht etwa das gemacht,
was man in so einem Falle macht, wenn man vernünftig
handeln will, und haben eben nicht gesagt: Okay, es gibt
einen Antrag von Bündnis 90/Die Grünen und den Linken. Sie arbeiten schon lange an diesem Thema und haben jetzt etwas Schönes vorgelegt. Dieser Antrag ist ausführlich, aber nicht zu dick. Wir schließen uns diesem
Antrag an.
Vielmehr haben beide Fraktionen gerade noch rechtzeitig zur heutigen Sitzung einen eigenen Antrag eingebracht, der etwas länger ist und der eine ganze Reihe von
zusätzlichen Punkten enthält, die aber gar nicht der Aufklärung dienen, sondern bei denen es eher darum geht,
was man in einer Enquete-Kommission grundsätzlich
machen sollte.
Das bedeutet, dass wir nicht heute und auch nicht
diese Woche - wie das nächste Woche wird, muss man
sehen - die Einsetzung dieses Untersuchungsausschusses, der eigentlich kommen soll, beschließen können.
Das ist schlecht, weil uns das wichtige Zeit kostet, die
wir für die Aufklärung nutzen könnten. Jetzt müssen wir
uns mit den Anträgen auseinandersetzen.
({2})
Unser Antrag hat den Vorteil, dass wir im Zentrum
unserer Aufklärungsbemühungen nicht nur die NSAAffäre sehen - wir wissen nämlich, dass das ein schwieriger Punkt wird -, sondern unter anderem auch folgende
Fragen: Was haben die Deutschen damit zu tun? Was hat
die Bundesregierung davon gewusst? Was hat sie damit
zu tun gehabt? Was haben die deutschen Nachrichtendienste damit zu tun gehabt? Was haben die Deutschen
wissen müssen? Was haben sie vielleicht sogar an Informationen aus dem Ausspähen durch die NSA erfahren?
Das können wir angehen. Dazu können wir Zeugen
hören und Akten heranziehen. Dafür haben wir das Personal. Damit können wir gut arbeiten. Das steht eigentlich im Zentrum unserer Bemühungen in Deutschland.
({3})
Die Union fordert als ersten wichtigen Punkt - das hat
mich zunächst sehr gewundert - Aufklärung darüber,
was die NSA eigentlich alles gemacht hat. Ich habe noch
im Ohr, dass gesagt wurde - auch vom Kollegen
Binninger -: Das können wir eigentlich gar nicht aufklären, weil wir die Zeugen und Akten aus den USA nicht
bekommen. - Damit hat der Kollege Binninger recht.
Wir haben diese Erfahrungen in verschiedenen Untersuchungsausschüssen gemacht. Aber er hat dabei zunächst
übersehen, dass es in Europa einen Zeugen gibt, der die
ganze Affäre in Gang gebracht hat und mit seinen Enthüllungen dazu beigetragen hat, dass wir uns damit beschäftigen und dass sich die ganze Welt damit befasst.
Deshalb frage ich mich, wie Sie, der gleichzeitig sagt:
„Dieser Zeuge weiß aber nichts“, diesen Punkt aufklären
wollen. Ich sage auch: Wir müssen das aufklären, aber
dafür brauchen wir die Zeugenaussage des Edward
Snowden hier in Deutschland, und zwar unter solchen
Verhältnissen, dass er einen sicheren Aufenthalt in
Deutschland bekommt. Daran kommen wir nicht vorbei.
({4})
Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage oder
-bemerkung des Kollegen Binninger?
Ja.
Bitte.
Herr Kollege Ströbele, nachdem Sie mich ein paarmal
erwähnt und gesagt haben, ich würde behaupten, der
Zeuge wisse nichts, möchte ich Ihnen vorhalten und Sie
fragen, ob es nicht stimmt, dass Edward Snowden selber
laut Pressemeldungen oder möglicherweise auch, als Sie
bei ihm waren, gesagt hat, dass er keine Informationen
über diesen Vorgang mehr hat und dass er alle Informationen, die er, wie auch immer, gewonnen hat, weltweit auf drei Personen verteilt hat und er nichts mehr
dazu beitragen kann. Das war doch die Aussage von
Snowden.
({0})
Wie kommen Sie dann dazu, zu sagen: „Er weiß etwas
und kann etwas beitragen“? Dem widerspricht Snowden
selber. Deshalb kann er kein Zeuge im Untersuchungsausschuss sein.
Herr Kollege Binninger, ich bin sehr dankbar für
diese Frage. Ich bin immer an einem guten Verhältnis zu
Ihnen interessiert. Nur, in diesem Punkt haben Sie vollständig unrecht. Ich habe von diesem Platz, aber auch
von vielen anderen Plätzen aus gesagt: Ich war in Moskau, und die erste Frage, die ich an Herrn Snowden gestellt habe, die zentrale Frage, über die wir fast anderthalb Stunden geredet haben, war: Herr Snowden, wissen
Sie etwas? Wissen Sie mehr, als in Ihren Dokumenten
steht? - Herr Snowden hat diese Fragen mit einem klaren Ja beantwortet. Das war eine Botschaft aus Moskau.
Hinzugefügt hat er: Ich bin auch bereit, wenn ich einen
sicheren Aufenthalt in Deutschland bekomme, nach
Deutschland zu gehen.
Dass er alle seine Dokumente an Journalisten gegeben hat, die sie jetzt sukzessive veröffentlichen, heißt
nicht, dass er selber nach acht Jahren Geheimdiensttätigkeit, erst bei der CIA und dann fünf Jahre bei der NSA,
keine eigenen Erkenntnisse hat. Er kann Ihnen zum Beispiel erklären, warum er gerade diese Dokumente ausgewählt hat, was diese Dokumente bedeuten und welche
Relevanz sie haben. Das müssen wir uns im Laufe der
Zeit erst langsam erarbeiten. Aber Herr Snowden kann
das auf den Punkt bringen. Damit würden wir einen erheblichen Beitrag zur Aufklärung und zur Erklärung seiner Dokumente haben, der weltweit von Bedeutung
wäre, nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa,
in Brasilien, Mexiko und in anderen Ländern.
({0})
Es gibt eine weitere schlechte Nachricht, wobei das
Ganze jetzt dadurch verzögert wird, dass Sie einen eigenen Antrag eingebracht haben und wir uns damit auseinandersetzen müssen, wie wir Sie davon überzeugen
können, sich unserem Antrag anzuschließen. Wir sind
bereit, über alles zu reden, auch über alle Einzelheiten,
und zu sehen, welche Ihrer Punkte vielleicht wichtig und
aufzunehmen sind. Die zweite schlechte Nachricht ist,
dass, während wir hier diskutieren, die Ausspioniererei
durch die NSA weitergeht. Es gibt heute eine Tickermeldung vom Bundesverfassungsgericht, die Sie nachlesen
können. Der Präsident des Bundesverfassungsgerichts
hat die Besorgnis, dass auch das höchste deutsche Gericht - also nicht nur die Bundesregierung, die Kanzlerin, der frühere Kanzler und die ganze deutsche Bevölkerung - ausgespäht worden ist.
Alle Verzögerungen, die sich nun ergeben, bedeuten,
dass in Deutschland und in der Welt weiterhin spioniert
wird, ohne dass irgendetwas dagegen getan wird; denn
der amerikanische Präsident betont immer wieder, ein
No-Spy-Abkommen werde es nicht geben, weder mit
Frankreich noch mit Deutschland.
Vor diesem Hintergrund ist das einzig Richtige und
Wesentliche, an dem wir uns jetzt orientieren sollten,
das, was Edward Snowden angesprochen hat - das ist
ein guter Satz; den können Sie in der Zeit nachlesen -:
Nicht die Enthüllung von Fehlverhalten ist für den
anschließenden Ärger verantwortlich, sondern das
Fehlverhalten selbst.
Ich führe das etwas weiter aus: Nicht der Enthüller
von Fehlverhalten, Gesetzwidrigkeiten und strafbaren
Handlungen der NSA in Deutschland und den USA ist
verantwortlich für den Ärger, sondern die NSA, die das
gemacht hat, ist ursächlich dafür verantwortlich. - Deshalb müssen wir uns dringend damit befassen, was im
Einzelnen passiert ist, um die geeigneten Gegenmaßnahmen möglichst schnell zu ergreifen, damit wir anfangen
können, dieses Übel zu bändigen - sofort werden wir es
sicherlich nicht loswerden - und etwas dagegen zu tun.
({1})
Danke, Herr Kollege Ströbele. - Als nächster Redner
spricht Thomas Silberhorn für die CDU/CSU.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Vorhin haben wir den neuen Ausschuss Digitale Agenda
eingesetzt. Nun beraten wir über die Einsetzung eines
Untersuchungsausschusses. Man sieht: Hier entfaltet
sich die ungebremste Arbeitswut dieses Hauses.
Herr Ströbele, da Sie Eile anmahnen: Wir werden sicherlich noch eine Woche Zeit benötigen, um über beide
Anträge auf Einsetzung eines Untersuchungsausschusses
intensiv zu beraten. Wir diskutieren darüber seit letztem
Sommer. Fast wöchentlich erreichen uns - jetzt in immer
geringerer Taktzahl - neue Enthüllungen, die die
deutsch-amerikanischen Beziehungen nicht gerade verbessern. Ich erinnere nur an die jüngste Nachricht, dass
auch das Handy des vormaligen Bundeskanzlers
Gerhard Schröder abgehört wurde. Das ist genauso inakzeptabel wie die Überwachung des Handys der Bundeskanzlerin. In beiden Fällen müssen wir uns dagegen
sehr deutlich verwahren. Das Ausmaß gezielter Spionage hätte wohl niemand für möglich gehalten. Vor allem der Anspruch auf vollständige Erfassung, Überwachung und Speicherung von Daten ist mit unserem
Rechtsverständnis nicht vereinbar. Wir müssen in diesem Hause darüber nachdenken, wie wir damit umgehen. Aufklärung tut jedenfalls not; darin sind wir uns einig.
Die Union war anfangs durchaus zurückhaltend, was
die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses angeht
- Sie haben das zu Recht angesprochen -, aber nicht
ohne Grund. Es ist natürlich zweifelhaft, ob ein Untersuchungsausschuss tatsächlich wesentliche neue Informationen zutage fördern kann. Schließlich geht es um
Nachrichtendienste anderer Staaten, hier der USA und
Großbritanniens. Deswegen werden wir Vertreter dieser
Staaten nur schwerlich als Zeugen bekommen können;
da sollten wir uns und der Öffentlichkeit nichts vormachen. Der Ausschuss wird also eher Umwege finden
müssen, um an Informationen heranzukommen, die zuverlässige Aussagen über die Tätigkeit der NSA und des
britischen Dienstes ermöglichen.
Wir erkennen aber ausdrücklich an, dass die Menge
an Enthüllungen und Informationen zur Arbeit der amerikanischen und der britischen Dienste umfassend aufgearbeitet werden muss. Gerade in den letzten Monaten
sind neue Aktivitäten bekannt geworden, die nahelegen,
dass wir eine systematische Untersuchung durch den
Deutschen Bundestag brauchen. Deswegen legen wir als
Koalition einen Antrag auf Einsetzung eines Untersuchungsausschusses vor. Sie können unserem Antrag
entnehmen, dass wir nicht mit unangenehmen Fragen
sparen, weder in Bezug auf die vorherigen Bundesregierungen - ich spreche ganz bewusst im Plural - noch in
Bezug auf die Arbeit deutscher Nachrichtendienste. Wir
malen uns die Welt also nicht, wie sie uns gefällt. Im Gegenteil: Wir greifen alle wesentlichen Punkte aus dem
Antrag der Opposition auf.
Es wird also einen Untersuchungsausschuss geben.
Wir sind im Grundsatz auch mit dem Untersuchungsgegenstand einverstanden. Das Ob steht nicht infrage. Aber
über das Wie - wie genau der Untersuchungsgegenstand
formuliert ist - müssen wir noch sprechen.
({0})
- Herr Ströbele, bitte.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage oder eine Zwischenbemerkung?
Sie müssen das Wort erteilen. Bitte schön.
Ja, normalerweise mache ich das.
Entschuldigung.
Aber wir kommen ja zum gleichen Ergebnis. - Bitte,
Herr Ströbele.
Herr Kollege, das Problem, zu dem wir überall gefragt werden, ist: Warum haben Sie denn überhaupt einen eigenen Antrag eingebracht? Denken wir das einmal
zu Ende: Wenn wir, das heißt die Linken und die Grünen
zusammen, unseren Antrag durchbringen können und
auch Sie theoretisch Ihren Antrag durchbringen, sollen
wir dann zwei Untersuchungsausschüsse einrichten? Das
kann doch wohl nicht wahr sein. Das ist auch schon in
früheren Legislaturperioden erörtert worden.
Wenn Sie auf einem eigenen Antrag beharren, kann
das doch nur bedeuten, dass Sie unseren Antrag verdrängen wollen. Das werden wir auf gar keinen Fall zulassen.
Ich erkenne an, dass Sie in den letzten Tagen den einen
oder anderen Satz von uns in Ihren Antrag übernommen
haben. Das ist aber offenbar so schnell und schusselig
geschehen, dass derselbe Satz zweimal in Ihrem Antrag
auftauchte. Vielleicht machen wir es uns einfacher: Sie
ziehen Ihren Antrag zurück und sagen uns, bei welchen
Punkten Sie noch zusätzlichen Bestimmtheitserfordernissen Rechnung tragen wollen und bei welchen Punkten
nicht.
Vielen Dank, Herr Kollege Ströbele, für diese Frage. Die Beantwortung dieser Frage ist der wesentliche Gegenstand meiner Rede. Wir haben deshalb einen eigenen
Antrag vorgelegt, weil Ihr Antrag bei der Formulierung
des Untersuchungsgegenstandes an mehreren Stellen zu
unbestimmt ist. Wir sind in dieser Frage nicht ganz frei;
denn die Bestimmtheit des Untersuchungsgegenstandes
ist eine verfassungsrechtliche Anforderung, die wir erfüllen müssen und die das Bundesverfassungsgericht
konkretisiert hat.
({0})
Insofern ist das nicht L’art pour l’art, sondern das dient
im Übrigen auch dem Schutz von Betroffenen. Der Untersuchungsausschuss ist mit den scharfen Schwertern
der Strafprozessordnung ausgestattet. Deswegen ist es
ein Gebot der Rechtsstaatlichkeit, den Untersuchungsgegenstand exakt zu bestimmen.
Wenn Sie mir gestatten - Sie dürfen gerne Platz nehmen; so viel Zeit will ich gar nicht in Anspruch nehmen -,
will ich den Konkretisierungsbedarf Ihres Antrages ganz
kurz erläutern. Wenn es zum Beispiel um die Überwachung der Kommunikation von und nach Deutschland
geht, wollen Sie nach Ihrem Antragsentwurf ganz allgemein ausländische Nachrichtendienste erfassen und nur
insbesondere US-amerikanische und britische Nachrichtendienste. Das ist zu wenig. Oder anders formuliert: Es
ist zu viel, wenn man ganz allgemein alle erfassen will.
Für die Bestimmtheit ist es zu wenig.
An anderer Stelle ist von Kontrollinstitutionen die
Rede. Aber warum werden sie nicht konkret benannt?
({1})
Es ist doch klar, worum es gehen soll: um das Parlamentarische Kontrollgremium, um die G-10-Kommission
und um die Bundesbeauftragte für den Datenschutz und
die Informationsfreiheit. Wenn man das weiß, kann man
es auch hinschreiben. Dann ist es klar.
Schließlich sollten wir in zeitlicher Hinsicht für den
gesamten Untersuchungsgegenstand auf den 11. September 2001 abstellen und nicht nur für Einzelfragen einen Zeitraum definieren. Deswegen muss an mehreren
Stellen der Untersuchungsgegenstand nach unserer Auffassung deutlich präziser gefasst werden. Das ist der
Grund, weshalb wir einen eigenen Antrag vorlegen.
Im Übrigen ist ein solcher Untersuchungsausschuss
kein Selbstzweck. Die Erkenntnisse, die dort gewonnen
werden, sollen unsere Sicherheit nicht gefährden, sondern, im Gegenteil, sie sollen uns helfen, dass wir für
mehr Sicherheit in Deutschland sorgen können und dass
wir damit auch mehr Freiheit für unsere Bürger sichern
können. Wir leben insoweit nicht auf einer Insel der Seligen.
Ich will nur daran erinnern, dass erst jüngst wieder
Berichte bekannt geworden sind, dass meist junge Leute
sich fanatisieren und dazu verleiten lassen, nach Syrien
zu fahren, um dort im Bürgerkrieg zu kämpfen. Wenn
diese Leute zurückkommen, sind sie ein Gefahrenpotenzial in unserer Gesellschaft, das wir nicht unterschätzen
dürfen. Der Generalbundesanwalt führt nach meinen
letzten Informationen sechs Ermittlungsverfahren gegen
deutsche Staatsangehörige im Zusammenhang mit Syrien durch. Wenn es zutrifft, was in Medien behauptet
worden ist, nämlich dass al-Qaida deutschen Dschihadisten in Syrien die Pässe wegnimmt, um diese Pässe bei
Anschlägen in Europa zu verwenden, dann ist das ein
alarmierendes Zeichen, das wir wirklich ernst nehmen
müssen.
Wir müssen die Aktivitäten solcher Kämpfer und wir
müssen ihre Reisebewegungen überwachen. Dazu brauchen wir auch die Erkenntnisse von befreundeten Diensten, mit denen wir uns austauschen. Wir dürfen bitte
nicht vergessen, dass Hinweise dieser befreundeten
Dienste bereits mehrfach maßgeblich dazu beigetragen
haben, dass Anschläge in Deutschland verhindert werden konnten.
({2})
Deswegen darf der Untersuchungsausschuss nicht dazu
führen - das ist kein Vorwurf, sondern eine Sorge, die
wir formulieren wollen -, dass unseren deutschen Diensten der Saft abgedreht wird und sie dann auch keine Informationen von befreundeten Diensten mehr erhalten.
Vielmehr müssen wir die Globalisierung der Gefahr im
Auge behalten. Dann ist klar: Wenn ein konkreter Verdacht auf schwere Straftaten besteht, dann ist der Austausch von Informationen unserer Dienste unverzichtbar
für unsere Sicherheit.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir wollen,
dass der NSA-Komplex intensiv untersucht wird. Wir
wollen nicht weniger aufklären als die Oppositionsfraktionen; wir wollen es nur etwas genauer, mit einer präziseren Formulierung des Untersuchungsgegenstandes.
Daher sind wir bereit, über diese Formulierung zu reden.
Ich darf unser Gesprächsangebot dazu ausdrücklich erneuern. Ich denke, der Geschäftsordnungsausschuss ist
der richtige Ort, um diese Diskussion ernsthaft fortzusetzen. Unser Anliegen wäre, beide Einsetzungsanträge zu
einem zusammenzuführen. Bei gutem Willen auf allen
Seiten sollte das machbar sein.
Der Untersuchungsausschuss kann einen wichtigen
Beitrag dazu leisten, die richtigen Schlüsse zu ziehen für unsere Bürger, für die Unternehmen und für den
Staat als Ganzes. Unser gemeinsames Ziel sollte es sein,
damit bei der Datensicherheit, bei der Spionageabwehr
und beim Schutz von Bürgerrechten künftig besser gewappnet zu sein.
Vielen Dank.
({3})
Herzlichen Dank, Herr Kollege. - Als Nächste spricht
in dieser Debatte Martina Renner für die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Lassen Sie uns endlich beginnen: mit der parlamentarischen Aufklärung zu einem der größten - wenn nicht gar
dem größten - Geheimdienstskandal in der Geschichte
der Bundesrepublik.
({0})
- Da klatschen Sie, Frau Dr. Högl.
Ich würde Sie gern persönlich ansprechen. Sie wissen, wie sehr ich Sie für Ihre Arbeit im NSU-Untersuchungsausschuss schätze. Aber die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses zum NSA-Skandal jetzt mit
Scheinargumenten zu verhindern, schadet doch dem
überwiegend gemeinsam formulierten Aufklärungswillen, wie er auch von Ihrer Fraktion in den letzten Monaten immer wieder vorgetragen wurde. Ich kann auch
nicht das Argument des Kollegen Thomas Silberhorn
nachvollziehen, dass unser Antrag nicht präzise sei. Er
ist präzise formuliert. Ich denke, dieses Vorgehen soll
der ganzen Aufklärungsdebatte ein Stück weit den
Schwung nehmen. Das dürfen wir an keiner Stelle zulassen. Denn, wie der Kollege Ströbele zu Recht schon gesagt hat, die Bespitzelung geht weiter, und deswegen
muss der Ausschuss endlich zum Arbeiten kommen.
({1})
Was ist denn zu untersuchen? Die Überwachung von
Internet, Mails und Telekommunikation durch US-amerikanische und britische Dienste war und ist möglicherMartina Renner
weise so umfassend, dass von einem Generalangriff auf
die Rechte der Bürgerinnen und Bürger, der Unternehmen und des Staates gesprochen werden muss. Ich finde,
die Bundesregierungen haben diese Rechte deutschen
und ausländischen Geheimdiensten zur Verfügung gestellt - durch Worte, durch Taten und durch Unterlassungen.
Wir brauchen einen Untersuchungsausschuss zur
NSA-Affäre nicht allein zur Aufklärung des Ausmaßes
der Überwachung und all dessen, worauf uns Edward
Snowden in seinem mutigen und couragierten Einsatz
aufmerksam gemacht hat. Wir brauchen einen Untersuchungsausschuss auch, um für die Zukunft Konsequenzen zu ziehen und die drängende Frage zu beantworten,
wie Bürgerinnen und Bürger, wie Unternehmen, wie Behörden, wie Regierungen, aber wie auch die Kanzlerin
vor Überwachung und Ausforschung geschützt werden
können.
({2})
Für meine Fraktion gibt es drei zentrale Aspekte, die
geklärt werden müssen:
Erstens. Wie und in welchem Umfang haben ausländische Geheimdienste - dabei bleiben wir: ausländische
Geheimdienste - private, unternehmerische und behördliche Kommunikation seit 2001 überwacht, gespeichert
und verarbeitet?
Zweitens - auch das ist wichtig -: Inwieweit waren
deutsche Behörden und Geheimdienste durch Abkommen, Techniktransfer, aber auch Datenaustausch an der
Überwachung beteiligt, haben davon gewusst oder möglicherweise sogar profitiert? Ein Untersuchungsausschuss muss auch die Frage klären, inwieweit eine Art
Kollaboration der Geheimdienste diesseits und jenseits
rechtlicher und internationaler Bindungen stattgefunden
hat.
Drittens. Beantwortet werden muss auch die Frage,
wie wir als Parlament die zunehmende Privatisierung sicherheitssensibler Infrastrukturen bewerten, insbesondere im Bereich der Geheimdienste, und welche Konsequenzen für effektiven Grundrechtsschutz daraus
gezogen werden müssen.
Dabei geht es uns als Linken nicht darum - das wollen wir deutlich sagen -, zurückzuspitzeln und eine Art
gigantische Aufrüstungsschlacht der Geheimdienste zu
befördern. Es muss darum gehen, sich gemeinsam auch
mit den anderen europäischen Ländern zu verständigen,
wie wir die Unkultur des anlasslosen Generalverdachts
gegen die Bürger und Bürgerinnen beenden und die Ausforschung von Unternehmen und Behörden stoppen oder
wenigstens wirksam erschweren.
({3})
Deshalb bleibt es für uns auch so wichtig, zu untersuchen, wie die Bundesregierung und die bundesdeutschen
Behörden seit den ersten Enthüllungen durch Edward
Snowden zur Bespitzelungspraxis reagiert haben. Nur
zur Erinnerung - Herr Ströbele hat das auch schon reflektiert -: Die Bundesregierung fiel zuerst auf durch
wenig Eigeninitiative zur Aufklärung, leere Versprechungen, fast schon naiv anmutende Vertrauensbekundungen zu den Verbündeten und ein Stück weit auch
technische Ahnungslosigkeit.
Und genau hier - bei der Frage der Regierungsreaktionen auf die Snowden-Enthüllungen - gibt es einen
zentralen Unterschied zwischen unserem gemeinsamen
Antrag und dem Antrag der Fraktionen der Großen
Koalition: Wir bestehen darauf, dass Edward Snowden
als sachverständiger Zeuge geladen wird und dafür seine
Sicherheit und sein Schutz gewährleistet werden.
({4})
Wir sagen: Es muss jetzt schnell zu einer Einigung
auf Grundlage eines weit gefassten und dennoch zielgerichtet und exakt formulierten Untersuchungsauftrags
kommen, der auch die Rechte der Opposition wahrt. Wir
werden einer weiteren Verzögerung nicht mehr zustimmen können. Wenn es zu diesem Vorgehen kommt, wenn
beide Entwürfe nun in den zuständigen Ausschuss des
Bundestages gehen, kann es für uns eigentlich nur einen
Weg geben: Die Regierungsfraktionen benennen die
zwei, drei, vier für sie unerlässlichen Punkte oder die zu
überarbeitende Formulierung, wir prüfen gemeinsam, ob
diese übernommen werden können, und dann gibt es auf
Grundlage unserer Vorlage einen gemeinsamen Antrag.
({5})
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, als Linke haben
wir auch aufgrund der Auseinandersetzung mit unserer
eigenen Geschichte eine klare Haltung zu Geheimdiensten. Sie sind nicht zu bändigen und einer Demokratie
abträglich. Wir sagen klar: Wir wollen keine Abhörzentralen, nicht von Freunden, nicht von Konkurrenten,
nicht von unseren eigenen Geheimdiensten. Die Freiheitsrechte sind elementare Rechte, und sie müssen im
Internetzeitalter eher mehr als weniger verteidigt werden. Das ist eine große Aufgabe für den Untersuchungsausschuss und eine Herausforderung für alle, die sich der
Aufgabe stellen werden - im Interesse der Bürger- und
der Grundrechte.
({6})
Vielen Dank, Kollegin Martina Renner. - Ich glaube,
das ganze Haus gratuliert Ihnen zu Ihrer ersten Rede hier
im Deutschen Bundestag.
({0})
Wir wünschen Ihnen viel Erfolg bei Ihrer parlamentarischen Arbeit.
Die nächste Rednerin in der Debatte - sie gratuliert
noch schnell - ist Dr. Eva Högl für die SPD.
({1})
Liebe Frau Renner, auch von mir herzlichen Glückwunsch zur ersten Rede! Auf gute Zusammenarbeit!
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Lassen Sie mich damit beginnen, meiner Enttäuschung Ausdruck zu verleihen. Ich bin enttäuscht darüber, dass wir es als Parlament trotz der wegweisenden
Erfahrungen im NSU-Untersuchungsausschuss bisher
nicht geschafft haben, bei einem Thema, das uns alle
hier seit Monaten beschäftigt und zu dem immer neue
Einzelheiten bekannt werden, an einem Strang zu ziehen.
({0})
Wir haben als Koalition noch letzten Dienstag, also
vor der förmlichen Einbringung unseres eigenen
Antrags, auf der Ebene der Ersten Parlamentarischen
Geschäftsführer angeboten, fraktionsübergreifend einen
gemeinsamen Antragstext zu erarbeiten. Leider wurde
das von der Opposition rigoros abgelehnt.
({1})
Damit haben wir zunächst einmal die Chance vertan,
auch gegenüber denjenigen, deren Verhalten wir in den
nächsten Jahren untersuchen wollen, ein klares Zeichen
zu setzen, nämlich das Zeichen, dass das gesamte Parlament hier mit einer Stimme spricht und unisono Aufklärung verlangt. Das ist mehr als bedauerlich.
({2})
Frau Kollegin, erlauben Sie eine Zwischenfrage?
Mir ist heute nicht nach einer Zwischenfrage; ich
würde gern im Zusammenhang ausführen.
({0})
Wenn sie die Zwischenfrage nicht zulassen möchte,
dann braucht sie sie auch nicht zuzulassen.
Frau Haßelmann kann das ja nachher noch vortragen.
({0})
Frau Högl hat das Wort.
Die im Raum stehenden Vorwürfe massenhafter
schwerer Bürgerrechtsverletzungen eignen sich nicht für
die Inszenierung einer von der Mehrheit gebeutelten Opposition. Das sage ich hier ganz deutlich. Sie eignen sich
schon deshalb nicht, weil wir als Koalition ein ebenso
großes Interesse an der umfassenden Aufklärung der
Vorwürfe haben wie die Abgeordneten der Opposition.
Und dieses Interesse haben wir nicht erst seit dieser Woche.
({0})
Bereits im Oktober letzten Jahres hat Thomas
Oppermann hier im Plenum öffentlich zu Recht die Einsetzung eines Parlamentarischen Untersuchungsausschusses zum NSA-Skandal gefordert,
({1})
um eine umfassende und gründliche Aufklärung der
schweren Vorwürfe zu ermöglichen. Damit ist ganz klar,
dass wir, die Abgeordneten der Koalition, ein hohes und
berechtigtes Interesse an der Aufklärung haben.
Das Recht, hier Aufklärung zu verlangen - auch das
sage ich Ihnen ganz deutlich -, steht nicht nur der Opposition zu, sondern allen Kolleginnen und Kollegen dieses
Hauses.
({2})
Wir wollen im Deutschen Bundestag aufklären, inwieweit die Bürgerinnen und Bürger, aber auch
Wirtschaftsunternehmen einer massenhaften verdachtsunabhängigen Erfassung und Speicherung ihrer
Kommunikationsdaten und -inhalte durch amerikanische
und britische Dienste ausgesetzt sind. Wir wollen hier
gemeinsam aufklären, ob und inwieweit deutsche
Stellen, insbesondere unsere Nachrichtendienste, von
derartigen Praktiken wussten, daran beteiligt waren oder
in irgendeiner Weise Nutzen daraus gezogen haben. Wir
wollen, wenn sie nichts wussten, wissen, warum sie
nichts wussten und warum sie nichts dagegen unternommen haben.
({3})
Darüber hinaus wollen wir herausarbeiten, wie wir die
Grundrechte auf Privatheit und informationelle Selbstbestimmung, die schließlich zum Kern unserer Verfassung
gehören, auch in Zukunft bestmöglich schützen können.
Das Aufklärungsinteresse der Opposition - das ist die
gute Nachricht, und das eint uns hier - geht grundsätzlich in dieselbe Richtung. Und doch begegnet Ihr Antrag
erheblichen Bedenken, die ich gerne an dieser Stelle
deutlich machen will.
Ihr Antrag ist an mehreren Stellen unklar und unpräzise und entspricht nicht den Vorgaben des Bestimmtheitsgrundsatzes. Das hat der Kollege Silberhorn hier
anhand bestimmter Formulierungen schon ausgeführt. In
Ihrem Antrag sind auch Formulierungen enthalten, die
so unklar sind, dass dadurch die Kompetenzen des Deutschen Bundestages und auch des Untersuchungsausschusses teilweise überschritten würden.
Ich will ein Beispiel nennen: Der Oppositionsantrag
sagt viel zu ausländischen Nachrichtendiensten. Darunter fallen weltweit alle ausländischen Nachrichtendienste
bis auf unsere eigenen. Das ist keine klare Eingrenzung
dessen, was untersucht werden soll, und es wäre von einem Ausschuss überhaupt nicht leistbar, alle ausländischen Nachrichtendienste zu erfassen. Wir können auch
nicht untersuchen, ob die Handlungen ausländischer
Staaten in anderen ausländischen Staaten rechtswidrig
waren. Auch das übersteigt unsere Kompetenz, und es
fehlt ein Bezug zu Deutschland bei dieser Fragestellung;
denn Deutschland will ja nicht eine Weltgrundrechtspolizei sein. Insofern können wir das nicht untersuchen.
({4})
Wir können hier nur Missstände mit klarem Bezug zu
Deutschland untersuchen, und genau darauf zielt der Antrag der Koalition, zum Beispiel bei der Frage, inwieweit
amerikanische und britische Dienste Grundrechte in
Deutschland verletzt haben. Genau darum geht es.
({5})
Dabei geht es auch um die Untersuchung einer möglichen Beteiligung oder einer Nutznießung deutscher
Dienste hinsichtlich solcher Praktiken. Unser Interesse
ist, das aufzuklären.
Ein weiteres Kernproblem des Oppositionsantrags ist,
dass nicht deutlich genug unterschieden wird zwischen
der massenhaften, verdachtsunabhängigen Erfassung
und Speicherung von Daten einerseits und der anlassbezogenen Tätigkeit im Einzelfall andererseits. Das ist eine
ganz wichtige Unterscheidung, die wir hier auch treffen
müssen. Darauf kommt es im Detail sehr an.
Ich bin aber jedenfalls froh darüber - auch das will
ich sagen, nachdem ich eben von meiner Enttäuschung
gesprochen habe -, dass deutlich geworden ist, dass Sie
mit Ihrem Antrag nicht die gesamte nachrichtendienstliche Tätigkeit zum Gegenstand des Untersuchungsausschusses machen wollen, sondern dass es auch Ihnen darum geht, ebendiese massenhafte, verdachtsunabhängige
Gewinnung von Kommunikationsdaten zu untersuchen.
Dann müssen Sie es aber, Kolleginnen und Kollegen von
der Opposition, genau so auch in Ihrem Antrag formulieren.
({6})
Ich will ganz deutlich sagen, dass der Antrag nicht
nur rechtlichen Bedenken begegnet, sondern meiner und
unserer Meinung nach auch inhaltlich viel zu kurz greift.
Das fängt bereits damit an, dass Sie nur von Überwachung von Kommunikationsvorgängen sprechen. Es
geht aber darum, bereits die Erfassung und die Speicherung von Daten in den Blick zu nehmen; denn diese haben bereits Eingriffscharakter, unabhängig davon, ob sie
später ausgewertet werden. Das ist eine ganz wichtige
Unterscheidung. Da setzt unser Antrag sogar früher an
und ist insoweit auch viel präziser. Außerdem wollen wir
durch den Untersuchungsausschuss klären, inwieweit
Botschaften und militärische Standorte in Deutschland
für die Kommunikationserfassung genutzt wurden. Auch
das ist ein wichtiger Gesichtspunkt, zu dem Sie nichts
sagen.
({7})
Wir wollen auch aufklären, inwieweit Wirtschaftsunternehmen von den Maßnahmen betroffen waren und was
deutsche Stellen genau hierüber wussten. Auch dazu findet sich im Oppositionsantrag sehr wenig.
Schließlich haben wir in unseren Antrag Reformaspekte aufgenommen. Wir wollen nämlich auch den
Reformbedarf unter die Lupe nehmen. Diesen Aspekt
dürfen wir auf keinen Fall vernachlässigen. Es ist Aufgabe unseres Staates und dieses Parlaments, die Grundrechte der Privatheit und der informationellen Selbstbestimmung effektiv zu schützen und dafür Sorge zu
tragen, dass die Bürgerinnen und Bürger die Möglichkeit
haben, sicher elektronisch zu kommunizieren. Daran
müssen wir hier als Parlamentarier gemeinsam arbeiten.
Wer also genau hinschaut und unseren Antrag liest
- das ist vielleicht ganz hilfreich, wenn wir gegenseitig
ganz genau schauen, was in den Anträgen steht -, sieht,
dass in unserem Antrag die Anliegen der Opposition
nicht nur halbherzig, weil wir gedacht haben, dass das
zum guten Ton gehört, sondern umfassend aufgegriffen
und handwerklich sauber ausformuliert worden sind.
Wir haben weiterhin die Fragen zum Rechercheprojekt
„Geheimer Krieg“ sowie danach, ob die Auskünfte der
alten Bundesregierung nach den Enthüllungen von
Edward Snowden zutreffend oder ausreichend waren,
aufgegriffen. Auch das haben wir aus Ihrem Antrag
übernommen. Deswegen bitte ich Sie, liebe Kolleginnen
und Kollegen von der Opposition, jetzt ganz inständig
darum: Legen Sie beide Anträge einmal nebeneinander.
({8})
Prüfen Sie sorgfältig, inwieweit Ihr Aufklärungsinteresse nicht von unserem Antrag abgedeckt ist. Ich bin
sehr sicher, dass bei der Prüfung dann nicht mehr viel
übrig bleibt.
({9})
Ich möchte eins ganz deutlich sagen: Es kommt nicht
häufig vor, dass die Mehrheit - wir haben hier eine große
Mehrheit - mit der Opposition ein und dasselbe Ziel verfolgt.
({10})
Wenn das ausnahmsweise einmal der Fall ist, dann sollten wir hier als Parlamentarierinnen und Parlamentarier
auch bereit und in der Lage sein, im Interesse einer bestmöglichen Aufklärung und Regierungskontrolle zusammenzuarbeiten.
({11})
Dafür möchte ich an dieser Stelle noch einmal ganz
ausdrücklich werben, gerade weil wir hier - Frau
Renner, Sie haben es angesprochen - in der letzten
Legislaturperiode sehr gute Erfahrungen damit gemacht
haben, gemeinsam aufzuklären und gemeinsam Perspektiven zu formulieren.
Deshalb hoffe ich wirklich, dass wir bei den Beratungen im Geschäftsordnungsausschuss doch noch zu einem gemeinsamen und verfassungsgemäßen Antragstext
kommen und die Einsetzung des Untersuchungsausschusses gemeinsam beschließen können. Das muss unser Ziel sein. Das hat auch Frau Renner ganz am Anfang
gesagt, weshalb ich an dieser Stelle aus voller Überzeugung geklatscht habe. Im Interesse der Bürgerinnen und
Bürger müssen wir hier sehr schnell, aber auch auf der
Grundlage einer sehr sorgfältigen Formulierung, mit der
parlamentarischen Aufklärungsarbeit beginnen. Dafür
können wir heute den Startschuss setzen.
Herzlichen Dank.
({12})
Vielen Dank, Frau Kollegin. - Das Wort zu einer
Kurzintervention hat die Kollegin Britta Haßelmann.
Vielen Dank, Frau Präsidentin! - Liebe Kollegin
Högl, Sie hatten mich ja persönlich wegen der Runde der
Ersten PGFs angesprochen. In der Tat haben wir natürlich beide Anträge bzw. Ihren Antragsentwurf und unseren Antrag in einer ersten Runde diskutiert.
Ich will hier noch einmal deutlich sagen: Der Eindruck, den Sie hier zu vermitteln versuchen, wir hätten
das alles rigoros abgelehnt, ist so nicht zutreffend. Wir
haben Ihnen am Dienstagabend - beide Fraktionen zusammen; Petra Sitte und ich - nach intensiver Beratung
in den Fraktionen schriftlich mitgeteilt, dass wir selbstverständlich gerne bereit sind, mit Ihnen das Gespräch
zu suchen über die Frage „Ergänzungen, Präzisierungen
hinsichtlich eines gemeinsamen Untersuchungsauftrages“, dass wir aber nicht bereit sind, materiell oder
substanziell hinter unseren Untersuchungsauftrag zurückzugehen. Das ist der wesentliche Unterschied.
Sie können doch ganz deutlich öffentlich sagen, dass
Sie an einem Punkt unserem Untersuchungsauftrag nicht
folgen wollen - bislang zumindest, vielleicht ändert sich
das noch im Laufe der Beratungen; ich hoffe darauf. Sie
waren bisher nicht bereit, auf die Frage, welche Verantwortung und welche - auch aktive - Rolle deutsche
Dienste in diesem Kontext - Stichwort „Ringtausch“ haben, einzugehen. Das ist für die Grünen und die Linken mit Blick auf die materielle und auch substanzielle
Seite unseres Untersuchungsauftrages sehr wichtig. Also
hören Sie auf, so zu tun, als wären wir nicht gesprächsbereit. Wir haben schriftlich dargelegt, dass wir bereit
sind, zu reden. Worüber wir zu reden bereit sind, weiß
auch jeder. Sie können gerne einmal öffentlich erklären:
Warum sind Sie nicht bereit, beim Thema „Ringtausch
und Verantwortung deutscher Dienste“ mitzuarbeiten?
Dies ist etwas, was sich mir nicht erschließt. Warum haben Sie bisher solche Gegenwehr geleistet?
({0})
Danke, Frau Kollegin. - Frau Högl, wenn Sie mögen,
haben Sie die Möglichkeit, zu antworten.
Frau Präsidentin! Liebe Frau Haßelmann, ich nutze
die Gelegenheit gerne, darauf kurz zu antworten. Zunächst einmal werte ich Ihre Intervention als ein Signal,
dass wir noch zueinanderkommen. Das ist unser gemeinsames Anliegen. Ich habe das ausgeführt. Bei den Beratungen im ersten Ausschuss haben wir die Chance, die
beiden Anträge nebeneinanderzulegen. Es wäre eine vertane Chance, wenn wir nicht gemeinsam einen Untersuchungsauftrag beschließen. Ich drücke das hier noch einmal ganz deutlich aus, dass uns allen dies sehr am
Herzen liegt. Es wäre auch ein starkes Signal in Richtung derjenigen, die wir kontrollieren wollen.
Dann muss ich Ihnen noch einmal ganz deutlich sagen - das habe ich eben ausgeführt -: Wir haben Ihre
Aufklärungsanliegen in unseren Antrag übernommen.
({0})
Wir gehen sogar darüber hinaus. Die Detailfragen
({1})
klären wir jetzt bei der Beratung im ersten Ausschuss.
Dann hoffe ich, dass wir zueinanderkommen.
Vielen Dank.
({2})
Vielen Dank, Frau Dr. Högl. - Als letzter Redner dieser Aussprache hat Dr. Patrick Sensburg für die CDU/
CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wir sind uns in diesem Haus zumindest einig
- so habe ich es in der Debatte festgestellt -, dass verdachtsunabhängige, massenhafte Erfassungen und Auswertungen von Daten deutscher Bürger und Unternehmen durch ausländische Dienste nicht akzeptabel sind.
({0})
Ich hätte mir gewünscht, Herr Kollege Ströbele, dass
Sie in Ihrer Rede nicht die Hälfte der Redezeit darauf
verwendet hätten, zu diskutieren, welchen Untersuchungsumfang die Koalition für einen entsprechenden
Untersuchungsausschuss vorgesehen hat, sondern tiefer
in die Materie eingedrungen wären. Sie haben uns vorgeworfen, der Antrag sei nicht weitreichend genug, haben dann die Besorgnis des Präsidenten des Bundesverfassungsgerichtes betont. In Ihrem Antrag jedoch wird
das Bundesverfassungsgericht gar nicht erwähnt. In unserem Antrag steht es: als oberstes Verfassungsorgan.
Sie benennen es gar nicht. Allein daran sieht man, dass
Ihr Antrag nicht weitreichend ist. Unserer ist weitreichender. Ich hätte mir gewünscht, dass Sie inhaltlich
mehr in die Materie einsteigen, als es hier am Rande zu
diskutieren.
({1})
Das Abfangen von Daten der Regierung, aber auch
der Abgeordneten stellt nach dem deutschen Strafgesetzbuch einen Straftatbestand dar.
({2})
Nicht umsonst ermittelt derzeit der Generalbundesanwalt in diese Richtung. Für die kommende Woche hat
der Generalbundesanwalt diesbezüglich eine Einschätzung angekündigt.
Darüber hinaus dürfen wir nicht akzeptieren, dass das
Recht auf informationelle Selbstbestimmung, dass
Rechte auf geschützte Kommunikation per Telefon, per
E-Mail, per SMS oder auch auf Datenplattformen, auf
Kommunikationsplattformen massiv angegriffen werden.
({3})
Dies geschieht alles ohne demokratische Kontrolle durch
deutsche Gerichte oder Behörden - und das gegenüber
deutschen Bürgern.
Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage oder
Bemerkung der Kollegin Renner?
Ich möchte noch gerne einen Satz sagen, dann ist Gelegenheit dazu. Dann macht die Frage noch mehr Sinn.
Gut.
Ich glaube, wird sind uns in diesem Haus einig, dass
wir diesbezügliche Vorkommnisse, die wir seit Juni letzten Jahres erleben mussten, in einem Untersuchungsausschuss aufarbeiten wollen.
Jetzt kann die Kollegin die Frage stellen.
Jetzt, Frau Kollegin Renner, wenn Sie mögen.
Herr Dr. Sensburg, Sie haben, wie andere Rednerinnen und Redner der Regierungskoalition, darauf abgestellt, zu sagen: Wir müssen uns auf die anlasslose
Überwachung durch die Dienste der USA und Großbritanniens konzentrieren. Es steht auch die Überwachung
des Mobilfunks der Kanzlerin, aber auch des ehemaligen
Kanzlers Schröder im Raum. Ich frage Sie: Zählt das
etwa zur anlasslosen Überwachung? Doch sicherlich
nicht. Es gibt doch aufgrund der Enthüllungen schon
jetzt konkrete Hinweise darauf, dass gezielt abgehört
wurde. Das war meine erste Frage.
Ich würde gerne eine zweite Frage anfügen. Wir wissen doch auch aus der Praxis der Geheimdienste und den
Ermittlungen im NSU-Untersuchungsausschuss, wie
schnell ein Geheimdienst einen Anlass konstruiert, um
tätig werden zu können. Deswegen stelle ich die konkrete Frage: Wollen Sie den Untersuchungsauftrag tatsächlich nur auf die anlasslose Überwachung konzentrieren, oder sind Sie bereit, den Untersuchungsgegenstand
auch auf alle anderen Geheimdiensttätigkeiten auszuweiten?
({0})
Herzlichen Dank für die Frage. Wir stellen fest, dass
Sie unheimlich viele Aspekte in Ihren Antrag einbeziehen. Da ist einmal der Zeitraum: Sie grenzen in Ihrem
gesamten Antrag den Zeitraum nicht ein; nur bezüglich
einzelner Punkte ist der Zeitraum eingegrenzt. Ich habe
mich schon gefragt: Wollen Sie im Grunde die Arbeit
der NSA bis 1952 zurückverfolgen? Ist das Ihr Untersuchungsauftrag? Sie haben den Zeitraum nicht eingegrenzt.
({0})
Sie grenzen auch nicht ein, welche Behörden in den
Blick genommen werden sollen. Wollen Sie im Grunde
schauen, welche Sicherungsmaßnahmen auf den Computern deutscher Behörden stattfinden, bis hin zum Geschäftszimmer oder zum Soldaten einer Kompanie? Wie
soll ein Untersuchungsausschuss ein solches Volumen
leisten und auch Behörden und nachgeordnete Einrichtungen in den Blick nehmen? Das ist ein sehr großes Volumen. Sie sind da unpräzise. Ich könnte jetzt viele weitere Aspekte benennen.
Ich komme jetzt zu Ihrer Frage, ob auch verdachtsbezogene und anlassabhängige Überwachungen oder nur
verdachtsunabhängige und anlassunabhängige Überwachungen einbezogen werden sollen. Wenn man die verdachtsbezogenen, anlassabhängigen Fälle mit einbezieht, dann hat man einen Untersuchungsauftrag, der
jedweden Datenaustausch bis hin zur gewollten interna1076
tionalen Rechtshilfe umfasst. Wir leisten in Deutschland
aufgrund internationaler Abkommen in weiten Bereichen Rechtshilfe für unsere Partnerstaaten. All das ist in
Ihrem Vorschlag eines Untersuchungsauftrags enthalten.
Denken Sie mal an den großen Bereich des Austausches
von Steuerdaten, an das FATCA-Abkommen zur Steuerhinterziehung - das ist ein Abkommen mit den USA -:
All das wäre von dem Untersuchungsauftrag, den Sie
vorschlagen, mit abgedeckt.
Ich muss ganz ehrlich sagen, welcher Gedanke mir so
ein bisschen kam, als ich Ihren Antrag las. Sie wollen
untersuchen: unbefristete Datengewinnung und quasi
grenzenlose Datensammlung zu einem unbestimmten
Personenkreis. Ich habe den Eindruck gewonnen, dass
Sie da fast auf der gleichen Argumentationslinie sind,
wie man es von der NSA gewohnt ist.
({1})
Meine Damen und Herren, ich glaube, man sollte
nicht einfach Daten, egal aus welcher Quelle, sammeln
und dann schauen, wie man sie nutzen kann, sondern einen präzisen Auftrag formulieren. Das ist der Grund,
warum wir einen eigenen Antrag eingebracht haben.
Frau Haßelmann, ich muss es an dieser Stelle leider
betonen: Die gemeinsamen Gespräche sind dadurch geendet, dass Sie gesagt haben: Wir möchten an der Stelle
keinen gemeinsamen Antrag einbringen.
({2})
Sie haben nicht erkannt, dass unser Antrag im Grunde
weitreichender ist und Ihnen nutzen würde.
({3})
Es ist in der Runde der PGF besprochen worden, und ich
hätte mir gewünscht, dass man da zusammenkommt und
den weitreichenderen Antrag nimmt. Vielleicht tun wir
doch beide Anträge zusammen, Frau Haßelmann.
({4})
Herr Kollege, erlauben Sie eine weitere Zwischenfrage oder -bemerkung, und zwar vom Kollegen Dr. von
Notz?
Gerne.
Vielen Dank, Herr Kollege, dass Sie die Zwischenfrage zulassen. Ich würde gerne wissen, woher Sie diese
Information haben; denn ich meine bei dem Gespräch, in
dem das verhandelt wurde, was Sie gerade ansprachen,
im Gegensatz zu Ihnen dabei gewesen zu sein. Wir haben explizit gesagt, dass wir bereit sind, den entsprechenden Teil des Antrags der Großen Koalition unter unseren Antrag zu packen, sodass kein Wort von dem, was
Sie wollen, verloren geht. Ist es nicht vielmehr so, dass
Sie versuchen, genau das, was hier im Raum steht, was
relevant und auch aufklärbar ist, nämlich die Rolle der
deutschen Dienste und der internationale Ringtausch von
Daten, zu verbrämen und nicht aufzuklären?
({0})
Ganz herzlichen Dank für Ihre Frage und die gleichzeitige Bestätigung, dass Sie unserem Antrag nicht folgen wollten, obwohl er weitreichender ist. Sie haben das
Angebot gemacht, einen Teil unseres Antrags unter Ihrem einzufügen. Ihr Antrag reicht aber an vielen Punkten
nicht aus. Ich muss nicht das wiederholen, was die Kollegin Högl und der Kollege Silberhorn zu Recht gesagt
haben. Ich könnte Ihnen noch einmal darlegen - durch
Ihre Zwischenfrage wäre genug Redezeit vorhanden -,
dass Ihr Antrag an vielen Punkten - ich will es mal so
sagen - etwas dünn formuliert und an vielen Stellen zu
unbestimmt, verfassungswidrig und nicht weitreichend
genug ist.
Ich glaube nicht, dass es eine besonders kluge Entscheidung wäre, unseren Antrag unter Ihren zu packen,
wie Ihr sehr freundliches Angebot suggeriert. Wäre es
nicht sinnvoll, wenn man die Größe hätte, zu sagen: Wir
legen beide Anträge zusammen und machen das Beste
draus. Die Einladung von unserer Seite besteht. Wir sollten den Weg gemeinsam gehen. Das Signal der Geschlossenheit unseres Parlamentes wäre für die Arbeit
des Untersuchungsausschusses sicherlich deutlich
zweckdienlicher.
({0})
Meine Damen und Herren von der Opposition, ich
will Ihnen einen weiteren Grund nennen, warum es klug
wäre, mit uns zusammenzuarbeiten. In unserem Antrag
gehen wir nicht nur auf die Verletzung der Rechte der
Bundesregierung oder der Abgeordneten ein. Wir haben
in einem ganzen Abschnitt dargelegt, in welchem Bereich uns der Schutz der informationellen Selbstbestimmung, der Privatsphäre, des Fernmeldegeheimnisses, der
Integrität und Vertraulichkeit informationstechnischer
Systeme wichtig ist, gerade in Bezug auf die Bürgerinnen und Bürger. Allein dieser große Bereich muss uns
wichtiger oder zumindest genauso wichtig sein wie das
Abhören von staatlichen und behördlichen Institutionen.
Wo in Ihrem Antrag ist der große Bereich, in dem Sie
auf die Rechte der Bürgerinnen und Bürger rekurrieren?
Herr Ströbele hat etwas lapidar über unseren Antrag gesagt, dass er - ich darf Sie zitieren - „etwas dicker ist“.
Stimmt, er ist dicker, weil er einen ganzen Abschnitt
über die Rechte von Bürgerinnen und Bürgern enthält.
Es ist uns wichtig, dass diese im Antrag enthalten sind.
Von daher: Lassen Sie uns doch beide Anträge zusammenfügen. Es macht Sinn.
({1})
An einigen Punkten finden Sie die Informationen
zwischen den Zeilen, Herr Kollege Ströbele.
({2})
Gerade von Ihnen hätte ich erwartet, dass Sie mehr auf
die Rechte von Bürgerinnen und Bürgern eingehen. Im
Zweifel werden wir es machen.
Letztendlich müssen wir uns fragen: Welche Ergebnisse erhoffen wir uns von einem Untersuchungsausschuss? Es handelt sich zwar nicht um eine EnqueteKommission, aber wir sollten in diesem Zusammenhang
versuchen, die Fragen zu beantworten, ob wir in
Deutschland nicht eine stärkere Verschlüsselung von Daten brauchen, ob wir nicht mehr nationale Knotenpunkte
und eigene Datennetze brauchen und ob wir ausreichend
sowohl in die IT-Infrastruktur als auch in den IT-Standort Deutschland investieren.
Man muss sich schon die Frage stellen, warum ein
Großteil der Unternehmen, deren Daten möglicherweise
abgeschöpft werden, ihren Sitz nicht in Europa, sondern
in den Vereinigten Staaten hat. Sind wir gegenüber der
IT-Branche ausreichend freundlich, oder müssen wir
nicht weitere Anreize schaffen, damit die Unternehmen
hierbleiben? Ich könnte mir vorstellen, dass uns der Untersuchungsausschuss Ansatzpunkte für die Beantwortung dieser Fragen liefert.
All dies können wir gemeinsam leisten. Wenn wir uns
nicht in Geschäftsordnungsdebatten oder in verdeckten
Debatten über antiamerikanische Klischees verlieren,
dann könnten wir uns gemeinsam dieser Aufgabe widmen. Der erste Ansatz wäre, dass wir uns zeitnah - Kollege Silberhorn hat darauf hingewiesen - im Geschäftsordnungsausschuss wiederfinden, um über das
Zusammenführen beider sicherlich guter Anträge zu beraten.
Danke schön für Ihre Aufmerksamkeit.
({3})
Vielen Dank, Herr Kollege. - Damit schließe ich die
Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 18/420 und 18/483 an den Ausschuss
für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Ja, das sind
Sie. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Feststellung des Wirtschaftsplans
des ERP-Sondervermögens für das Jahr 2014
({0})
Drucksache 18/273
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Energie ({1})
Drucksache 18/500
Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, die sich mit
dem vorherigen Thema beschäftigt haben, entweder
draußen weiterzureden oder diesem spannenden Tagesordnungspunkt 10 zu lauschen.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort für die Bundesregierung hat Frau Staatssekretärin Iris Gleicke.
({2})
Liebe Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Kleine
und mittlere Unternehmen verdienen unsere besondere
Aufmerksamkeit. Sie erwirtschaften mehr als jeden zweiten Euro und stellen über die Hälfte aller Arbeitsplätze in
Deutschland. Kleine und mittlere Unternehmen, KMU,
beschäftigen über 15 Millionen Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer, und die Beschäftigungserwartungen steigen weiter. Nach aktuellen Befragungen wollen mehr
KMU neue Arbeitsplätze schaffen als streichen.
Die Unternehmen beurteilen ihre Geschäftslage so
gut wie seit langem nicht mehr. Damit sich der positive
Trend fortsetzt, damit der Mittelstand seine Leistungsfähigkeit weiterhin entfalten kann, ist er von einem gut
funktionierenden Finanzierungsangebot abhängig. Die
Bedingungen sind derzeit so gut wie selten zuvor. Die
Eigenkapitalquoten der kleinen und mittelständischen
Unternehmen sind in den letzten Jahren gestiegen. Dadurch verbessert sich ihr Rating und damit wiederum ihr
Zugang zur Fremdfinanzierung. Das historisch niedrige
Zinsniveau führt zu günstigen Konditionen bei Bankkrediten. Der Zugang zu Krediten war für Mittelständler in
den letzten zehn Jahren nie besser als derzeit.
Der Bankkredit ist und bleibt logischerweise die
wichtigste Fremdfinanzierungsquelle für kleinere und
mittlere Unternehmen. Glücklicherweise haben wir ein
gut funktionierendes Bankensystem. Sparkassen, Volksund Raiffeisenbanken stellen die Kreditversorgung des
Mittelstandes zum allergrößten Teil sicher. Das ist ein
Hausbankensystem, bei dem die langjährigen Geschäftsbeziehungen im Vordergrund stehen. Wir als Ostdeutsche wissen, dass gerade Volks- und Raiffeisenbanken
sowie Sparkassen die Kreditversorgung in den neuen
Bundesländern sichergestellt haben.
Auch wenn die Situation zurzeit recht gut aussieht,
stehen aktuell Herausforderungen an, die unsere Aufmerksamkeit erfordern. Wir haben trotz historisch niedriger Zinssätze und eines guten Kreditzugangs eine Investitionslücke. Gerade im letzten Jahr war die
Kreditnachfrage verhalten. Aber wir haben eben auch
besondere Investitionsbedarfe. Gerade der Bevölkerungswandel und eine nachlassende Gründungsdynamik
verändern die Anforderungen an Unternehmen und an
die Gesellschaft. Diese Investitionszurückhaltung kann
sich aber ganz schnell wieder ändern. Es gibt eine Studie
der Volks- und Raiffeisenbanken - sie heißt „Mittelstand
im Mittelpunkt“ -, nach der viele der befragten kleinen
und mittleren Unternehmen innerhalb des nächsten halben Jahres Investitionen planen.
Vor diesem Hintergrund sprechen wir heute über die
Förderung des Mittelstands aus dem ERP-Sondervermögen. Der vorgelegte Wirtschaftsplan hat zum Ziel, die
Wettbewerbsfähigkeit von kleinen und mittleren Unternehmen zu stärken. Er dient damit vor allem der Schaffung und der Sicherung von Arbeitsplätzen - ich will
hinzufügen: von guten Arbeitsplätzen - und hilft damit,
den Finanzierungsbedarf der KMU zu decken. Für das
Jahr 2014 stehen für die Förderung rund 340 Millionen Euro zur Verfügung. Damit kann ein Kreditvolumen
in Höhe von 6,3 Milliarden Euro an kleine und mittlere
Unternehmen zugesagt werden. Damit ist die ERP-Wirtschaftsförderung weiterhin eine verlässliche Unterstützung des Mittelstands. Sie hilft, die größenbedingten
Nachteile von KMU gegenüber den ganz großen Unternehmen abzumildern. Das gilt in ganz besonderem Maße
für die kleinteilige, mittelständisch geprägte ostdeutsche
Wirtschaft. Auch das will ich an dieser Stelle sagen.
({0})
Wir haben vier Schwerpunkte gesetzt: Wir wollen erstens die Gründungsfinanzierung sicherstellen und uns
zweitens mit der Innovationsfinanzierung beschäftigen.
Die dritte Säule ist die Exportfinanzierung und die vierte
die Regionalförderung. Dort stehen zinsgünstige und
lange laufende Darlehen für den Mittelstand bereit. Daneben bietet aber auch die ERP-Förderung Beteiligungskapital an. Ich weiß, dass das ein ganz wichtiger Schwerpunkt bei der Mittelstandsfinanzierung ist.
Ich will ein Beispiel aus dem Regionalförderprogramm nennen. Unternehmen, die in strukturschwachen
Regionen investieren, erhalten günstige Kredite. Das gilt
- auch das ist mir wichtig - in Ost und West gleichermaßen und folgt einer modernen Finanzierungsförderung,
die wir weiter ausbauen wollen.
({1})
Die Vergabe von Fördermitteln aus dem ERP-Sondervermögen ist nach wie vor eine sehr effiziente Form der
Wirtschaftsförderung. Sie ist bei Unternehmen und Banken etabliert und ergänzt sinnvoll das Angebot der Kreditwirtschaft in Bereichen, die besonderer Unterstützung
bedürfen. Wir haben gestern ja nicht nur im Wirtschaftsausschuss, sondern auch im Tourismusausschuss darüber
geredet. Gerade der Tourismus leidet immer wieder darunter, darstellen zu müssen, wo seine Entwicklungspotenziale liegen.
Deshalb ist es mir wichtig, an dieser Stelle noch eine
besondere Förderform anzusprechen: den MezzaninDachfonds. Es gibt auch eine Mikromezzaninförderung,
bei der ganz kleine Kredite von bis zu 10 000 Euro gefördert werden. Das ist im Bereich des Tourismus und
im Bereich der Dienstleistungen besonders attraktiv und
hilft gerade den ganz kleinen Keimzellen in der Wirtschaft.
({2})
Die Kreditwirtschaft wird in die Vergabe der Fördermittel mit einbezogen. Das ist wichtig, damit die Anträge kaufmännisch geprüft werden. Das senkt die Wahrscheinlichkeit für einen Ausfall des Förderkredits und
eine Belastung der öffentlichen Haushalte.
Aus all diesen Gründen bin ich von der Richtigkeit
des von uns gewählten Ansatzes und der Wichtigkeit des
ERP-Wirtschaftsplangesetzes, insbesondere für den Mittelstand, überzeugt. Deshalb bitte ich Sie heute hier um
Ihre Zustimmung.
Herzlichen Dank.
({3})
Danke, Frau Kollegin Gleicke. - Der nächste Redner
ist Thomas Lutze für die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Die heutige Vorlage trifft auf unsere Zustimmung,
da das ERP-Sondervermögen weiterhin zur Förderung
von verbilligten Krediten für kleine und mittelständische
Unternehmen genutzt werden soll. Entgegen früherer
Befürchtungen meiner Fraktion - ich erinnere an die
16. Wahlperiode - ist es wohl so, dass der Substanzerhalt
des Sondervermögens auch unter dem Dach der Kreditanstalt für Wiederaufbau, also der KfW, gesichert ist.
Deshalb werden wir dem vorliegenden Gesetzentwurf
zustimmen.
Wir fordern aber mehr Transparenz bei der Aufteilung
der Mittel auf die einzelnen Förderprogramme. Die sehr
grobe Einteilung in die Finanzierungszwecke ist nicht
zufriedenstellend. Eine wirksame Kontrolle durch das
Parlament braucht ausreichende Transparenz. Denn sosehr die mittelständische Wirtschaft die Unterstützung
braucht, sollten wir an dieser Stelle doch etwas genauer
differenzieren. Der Titel des Förderschwerpunktes Exportfinanzierung ist uns zu pauschal gewählt. Die Krise
in Europa ist immer noch nicht ausgestanden, ganz im
Gegenteil: Sie hält Griechenland und andere Länder
noch immer in Atem. Die unsozialen Kürzungen müssen
die Bevölkerungen der betroffenen Länder im Prinzip allein ausbaden. Sie sind Resultat einer völlig verfehlten
Finanzpolitik in Europa.
Eine Ursache für die Krise ist das wirtschaftliche Ungleichgewicht der Euro-Länder. Deutschland trägt mit
seiner Politik der Reallohnsenkung und der Exportorientierung ganz entscheidend zu diesem Ungleichgewicht
bei. So kann eine Lösung der aktuellen Krise nur mit einer langfristigen Senkung der Exportquote Deutschlands
gelingen. Unserer Meinung nach braucht es Maßnahmen
zur Stärkung der Binnennachfrage.
({0})
Das ERP-Sondervermögen sollte mit einer noch aktiveren Industriepolitik den Strukturwandel hier im Land
begleiten. Wir müssen der Deindustrialisierung gerade
der ostdeutschen Bundesländer, aber auch zunehmend
vieler Regionen im Westen unserer Republik entgegenwirken. Die Linke fordert mittelfristig neben der Benennung von Förderzwecken auch Ausschlusskriterien bei
der Auswahl der zu fördernden Unternehmen. Firmen,
die ihr Geld mit Rüstung oder mit Waffenexporten verdienen, sollten keine Förderung erhalten.
({1})
Unternehmen, die klimaschädliche oder Atomtechnologien verkaufen oder exportieren, stehen der Energiewende, über die wir uns ja im Großen und Ganzen einig
sind, eindeutig im Weg. Auch an dieser Stelle sollte es
klare Ausschlusskriterien geben.
({2})
Nur so kann man verhindern, dass zum Beispiel die
energetische Gebäudesanierung, die man unterstützt,
durch den Bau eines Kohlekraftwerkes im Ausland
durch eine deutsche Firma, ebenfalls gefördert, wieder
konterkariert wird.
Ebenfalls nicht von billigen Krediten profitieren sollten Firmen, die die Rechte der Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer nicht achten oder sittenwidrig niedrige
Löhne zahlen.
Auch wenn das ERP-Sondervermögen nicht mehr direkt vom Bundeswirtschaftsministerium verwaltet wird,
sind die Einflussmöglichkeiten des Staates sehr hoch.
Diese im privaten Sektor nicht vorhandenen Möglichkeiten können und müssen genutzt werden, um ethische und
ökologische Maßstäbe zu setzen.
Die Linke spricht sich dafür aus, das ERP-Sondervermögen auch langfristig zu erhalten, zweckgebunden für
die Wirtschaftsförderung. Hierbei müssen das Handwerk
- die Frau Staatssekretärin hat das richtig gesagt - und
der Mittelstand wieder mehr gefördert werden, sie müssen viel mehr im Fokus der Förderung stehen.
Das Ziel der Förderung müssen mehr Beschäftigung
und eine größere Binnennachfrage sein. Öffentliche Stellen, aber auch wir Abgeordnete in unseren Wahlkreisen
können einen Beitrag dazu leisten, die Fördermöglichkeiten durch ERP und KfW noch bekannter zu machen.
In dem Bundesland, aus dem ich komme - dem Saarland -,
werden manche Programme kaum, andere gar nicht genutzt. Ich glaube, das ist auch in vielen anderen Regionen so. Das muss sich dringend ändern.
Vielen Dank.
({3})
Danke, Herr Kollege.
Nächste Rednerin in der Debatte ist Astrid
Grotelüschen für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten
Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und
Herren! Auf der Grundlage des Marshallplans und des damit zusammenhängenden Abkommens zwischen den
USA und der Bundesrepublik Deutschland wurde Anfang
der 50er-Jahre eine Summe von 6 Milliarden D-Mark mit
dem sogenannten European Recovery Program, kurz
ERP genannt, vertraglich als Sondervermögen bestimmt,
das seither vom Bund zum Zwecke der Wirtschaftsförderung verwaltet wird. Damals wurde festgelegt, dass
erstens ein Substanzerhaltungsgebot gilt - das heißt,
dass letztendlich nur die Erträge verwendet werden dürfen -, und zweitens, dass die Verwendung des Sondervermögens unter parlamentarische Kontrolle zu stellen
ist.
Mit dem uns vorliegenden Gesetzentwurf über die
Feststellung des Wirtschaftsplans des ERP-Sondervermögens für das Jahr 2014 diskutieren wir über eine seit
sechs Jahrzehnten andauernde Erfolgsgeschichte in Bezug auf die finanzielle Förderung der deutschen Wirtschaftsunternehmen, die die Bundesregierung auch im
Jahr 2014 fortführen wird.
({0})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, heute Vormittag haben wir alle die Ausführungen zum Jahreswirtschaftsbericht verfolgt und die wichtigen Eckpunkte
erfahren. Mitgenommen haben wir, dass die Ausgangssituation für die deutsche Wirtschaft gut ist. Den Prognosen zufolge dürfen wir in Deutschland mit einem Wachstum von 1,8 Prozent rechnen. Mehr als 42 Millionen
Menschen sind erwerbstätig; das sind so viele wie noch
nie in der Geschichte der Bundesrepublik. Was ganz entscheidend ist: Die Zeichen für 2014 stehen bei den Bürgern und bei der Wirtschaft auf Optimismus und Aufschwung. Die psychologisch so wichtige Botschaft „Uns
geht es gut“ ist das Verdienst einer umsichtigen Politik
der Kanzlerin und der von uns getroffenen begleitenden
Weichenstellungen in den entscheidenden Bereichen
Haushaltskonsolidierung, Verzicht auf jegliche Steuererhöhungen, klares Bekenntnis zum Industriestandort
Deutschland und letztlich auch Anerkennung der herausragenden Rolle unseres erfolgreichen deutschen Mittelstandes.
({1})
Nach dem vorliegenden Gesetzentwurf beläuft sich
das ERP-Sondervermögen für 2014 - die Staatssekretärin hat es eben auch schon erwähnt - auf ein Volumen
von 793,3 Millionen Euro. Das Bundesministerium für
Wirtschaft und Energie wird zudem ermächtigt, Kredite
bei der Kreditanstalt für Wiederaufbau bis zur Höhe von
30 Prozent dieses festgestellten Betrages aufzunehmen.
Somit können insbesondere mittelständische Unternehmen und Angehörige freier Berufe im Rahmen dieser
veranschlagten Mittel zinsgünstige Finanzierungen mit
einem Volumen von insgesamt rund 6,1 Milliarden Euro
abrufen.
Damit wird der Kern dieses Förderprogramms ganz
deutlich: Das ERP-Sondervermögen gibt Hilfe zur
Selbsthilfe, indem Kapital zu sehr günstigen Bedingungen in Bezug auf Zinssatz und Haftungskriterien zur
Verfügung gestellt wird. Dieser Ansatz ist natürlich besonders wichtig, weil er gerade auf die kleinen und mittelständischen Betriebe abzielt, denen es oft an Eigenkapital mangelt oder bei denen es zu Problemen bei der
Fremdfinanzierung kommt.
({2})
Deshalb ist es natürlich auch entscheidend, dass dieses zur Verfügung stehende Kreditvolumen optimal eingesetzt wird, das heißt, wir brauchen eine zielgerichtete
Förderung, die gleichzeitig mit einem ganz einfachen
Antragsverfahren erreicht werden kann. Daher begrüße
ich es ausdrücklich, dass weder für Unternehmen noch
für die Verwaltung 2014 neue Informationspflichten eingeführt werden. Zusätzlich - das ergibt sich aus meinem
Selbstverständnis heraus - ist es aber natürlich unsere
Aufgabe und muss es unsere Zielsetzung sein, nicht nur
den Status quo zu halten, sondern in Zukunft auch
Hemmnisse und Überregulierungen abzubauen. Insgesamt sollen Unternehmen so in die Lage versetzt werden, notwendige Investitionen zu tätigen; denn Investitionen sind für die Weiterentwicklung der Wirtschaft in
unserem Land entscheidend.
In diesem Zusammenhang haben wir heute Morgen
auch über die Notwendigkeit der Erhöhung unserer Investitionsquote diskutiert, die bisher bei 17 Prozent liegt;
denn die Investitionstätigkeit ist nicht nur die Schlüsselgröße für die aktuelle Entwicklung in unserer deutschen
Volkswirtschaft. Wir alle wissen, dass Investitionen
langfristig auch entscheidend für den Wohlstand in unserem Land sind. Deshalb ist auch die Förderung von Unternehmen in den ERP-Schwerpunktbereichen Gründungs- und Innovationsfinanzierung, Regionalförderung
und Exportfinanzierung ein unverzichtbares Instrument,
das maßgeblich zum Erhalt und zur Schaffung von Arbeitsplätzen, zur Produktivitätssteigerung und zum Erhalt der Wettbewerbsfähigkeit beiträgt.
({3})
Meine Damen und Herren, um die gerade genannten
Ziele zu erreichen, muss die ERP-Wirtschaftsförderung
stetig evaluiert und fortentwickelt werden. So wurde das
Programm letztmalig im Jahr 2012 verändert. Kern der
Neuordnung war auch die Konzentration auf eine verbesserte Gründungsförderung, auf die ich auch ganz
kurz eingehen möchte.
Das Wirtschaftsministerium hat sein Förderinstrumentarium in dieser Zeit beständig ausgebaut, um insbesondere Unternehmen in der frühen Unternehmensphase
den Zugang zu Kapital zu erleichtern. Hier sind insbesondere das ERP-Innovationsprogramm mit zinsgünstigen Darlehen und auch die neuen Maßnahmen zugunsten der Finanzierung von innovativen Start-ups zu
nennen. Gerade diese Finanzierung von marktnaher Forschung sowie von Produktions- und Verfahrensinnovationen stellt besonders mittelständische Unternehmen und
auch Unternehmensgründer wegen der Schwierigkeit der
Besicherung und der kurzfristig nicht immer gegebenen
Rentabilität, die man dann darstellen muss, vor besondere Herausforderungen.
Insgesamt muss es unser Anspruch sein, das Ohr immer an unseren Unternehmen zu haben und damit das Instrumentarium der Förderung auf die Zukunft gerichtet
auszugestalten. Deshalb freue ich mich sehr, dass zum
Thema ERP-Förderung in dieser Legislaturperiode wiederum ein Unterausschuss gebildet wird, dessen Mitglied ich sein werde und in dem wir gemeinsam - hier
können sicherlich auch die Anregungen des Kollegen
Lutze, die er gerade in seiner Rede ausgeführt hat, mit
aufgegriffen werden - über Effektivität, Transparenz und
natürlich inhaltliche Schwerpunkte diskutieren werden.
Hoffentlich gelingt es uns dort auch, gute Weichenstellungen im Sinne der Unternehmen zu erreichen, die anschließend von einer passgenaueren Förderung hoffentlich profitieren können.
Die Ressorts haben dem Gesetzentwurf zugestimmt.
Einwände des Bundesrates, der schon im Herbst 2013,
wie ich lesen konnte, dem Ganzen zugestimmt hat, gab
es nicht, sodass ich für die CDU/CSU-Fraktion zusammenfassend feststellen kann: Wir sind uns einig, dass wir
mit der ERP-Förderung ein wichtiges Instrument zur
Wirtschaftsförderung in unseren Händen halten. Dabei
gilt natürlich nach wie vor der Grundsatz: Wir können
als Politik nur Anreize setzen und für passende Rahmenbedingungen sorgen; denn die Kreativität und auch die
Initiative zur Umsetzung müssen von einzelnen Menschen, von den Unternehmen kommen.
Aber gerade weil es in diesem Punkt um eine Motivation, um eine Anerkennung geht, müssen wir als Politikerinnen und Politiker dem Mittelstand immer wieder
unsere Wertschätzung signalisieren, so wie wir es zum
Beispiel im Koalitionsvertrag sehr passend, wie ich
finde, formuliert haben. Hier wird der Mittelstand als
„innovationsstarker Beschäftigungsmotor“, der „regionale Verbundenheit mit Internationalisierung“ verbindet,
beschrieben.
Ich denke, wir brauchen in dieser Legislaturperiode
eine Politik, die dem Rückgrat unserer Wirtschaft, dem
Mittelstand, den Rücken stärkt. Ich bin mir sicher, dass
wir mit der ERP-Förderung ein Stück weit dazu beitragen können.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({4})
Herzlichen Dank, Frau Kollegin. - Der nächste Redner in der Debatte ist Dr. Thomas Gambke für Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
- Pardon. Entschuldigen Sie, das ist mir entgangen. Wir
gratulieren Ihnen, Frau Grotelüschen, von Herzen zu Ihrer ersten Rede im Bundestag.
({1})
Vizepräsidentin Claudia Roth
Wir wünschen Ihnen viel Erfolg bei Ihrer Arbeit als Parlamentarierin hier im Bundestag.
Nach dieser Gratulation fangen wir noch einmal
an. Herr Gambke, Sie haben für Bündnis 90/Die Grünen
das Wort.
Danke schön. - Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Das ERP-Sondervermögen ist nach dem
Krieg ein wichtiges Instrument gewesen, Deutschland
wieder aufzubauen. Damals gab es eine klare Ausrichtung: Da Deutschland am Boden lag, mussten Häuser
gebaut und die Infrastruktur bereitgestellt werden. Es
war ein wichtiges Programm.
Heute dient es dem Mittelstand. Es dient den erneuerbaren Energien und der Gründung von Unternehmen.
Aus diesem Grund kann ich als Mittelstandsbeauftragter
meiner Fraktion ganz klar sagen: Wir als Grüne werden
dem Entwurf zustimmen.
Angesichts der Debatte hier muss ich aber ein bisschen Wasser in den Wein gießen,
({0})
und zwar aus folgendem Grund: Mit diesem Programm
sollen Investitionen und auch Innovationen gefördert
werden. Wir beobachten nicht erst seit drei oder vier Jahren - Michael Fuchs hat das heute gesagt und das mit
den Energiekosten begründet -, sondern seit 20 Jahren,
dass der Umfang von Investitionen in Deutschland leider
zurückgeht. Da sollten wir uns nicht besoffenreden und
das auf die Energiekosten schieben. Das wäre viel zu
kurz gesponnen. Wir sollten uns auch nicht besoffenreden, weil es im Mittelstand - Sie haben es erwähnt eine erfreuliche Entwicklung in Form einer Eigenkapitalstärkung gibt.
Vielmehr müssen wir uns mit der Frage auseinandersetzen, warum wir gute und wichtige Förderprogramme
haben, gleichzeitig aber eben nicht die Investitionen ausgelöst werden, die wir volkswirtschaftlich alle für wichtig erachten. In der Szene werden dazu zwei Gründe genannt: Erstens. Es gibt zu wenig Risikokapital; dieses
Programm wirkt dem entgegen. Zweitens. Es gibt zu wenig qualitativ hochwertige Projekte. Warum ist das so?
Ich komme noch einmal auf den Jahreswirtschaftsbericht
zu sprechen. Da reden wir uns an den schönen Wachstumsraten besoffen.
({1})
Was bedeuten diese Wachstumsraten? Dahinter
steckt, dass wir die Frequenz, mit der wir heute einen
Flachbildschirm in unserem Haushalt wechseln, von
vielleicht vier Jahren auf zwei Jahre verkürzen. Sie wird
damit begründet, dass der Flachbildschirm dann doppelt
so groß ist. Ich behaupte, die Inhalte sollten doppelt so
gut werden.
({2})
Aber ist nicht die fehlende Ausrichtung, die wir nach
dem Krieg beim Aufbau hatten, der Grund, warum heute
nicht oder zumindest nicht in dem Umfang investiert
wird, den wir wollen? Brauchen wir nicht eine Ausrichtung, die eben nicht nur auf den schnellen Konsum setzt,
sondern auf die notwendigen Änderungen in der Wirtschaft? Das heißt heute, dass wir Ressourcen und Energie sparen müssen und dass wir nicht nur ökologischer
handeln, sondern auch leben müssen. Wenn wir diese
Ziele nicht setzen, dann werden wir am Ende keine Investitionen auslösen, die wichtig sind.
({3})
Ich denke, dass wir über die Zielvorgabe möglicherweise streiten, aber auf jeden Fall reden müssen.
Ich fand eines bemerkenswert. Ich habe ein bisschen
das Wort Mittelstandsförderung bei Herrn Gabriel vermisst, aber er hat auch zu wenig von den Inhalten geredet. Wir müssen uns mit den Inhalten beschäftigen.
Ich sage es noch einmal: In den letzten 20 Jahren sind
die Investitionen in diesem Lande ständig zurückgegangen. Das ist keine grüne Meinung. Ich saß mit dem Vorstandsvorsitzenden eines DAX-Konzerns auf einem Podium, der zu mir sagte: Lieber Herr Gambke, kümmern
Sie sich bitte einmal um die Inhalte und Investitionen
und nicht vordergründig um andere Dinge! - Stattdessen
beschäftigen wir uns damit, unsere Rentenkassen zu
plündern. Ich glaube, dass wir die Diskussion darüber
wieder auf den richtigen Pfad bringen müssen, damit wir
in Deutschland mit dem Geld, das vernünftigerweise
vorhanden ist, wirklich das Richtige tun.
Ich kann noch eine kurze Bemerkung machen. Wir
müssen uns auch mit der Frage beschäftigen, wer überhaupt entscheidet. Wir reden von risikobehafteten Projekten. Ich komme vom Fach und muss Ihnen sagen: Die
Entscheidungsstrukturen, die wir heute in Deutschland
haben, sind vielfach nicht geeignet, um risikobehaftete
Projekte erstens zu bewerten, zweitens entsprechend zu
entscheiden und sie drittens dann umzusetzen.
Auch das Thema fehlt mir in der Debatte. Ich hätte
mir gewünscht, dass wir zu diesem Thema eine Debatte
eröffnet hätten, die in diesem Hause so wichtig wäre,
nämlich darüber, die Ziele für Innovationen und Investitionen richtig zu setzen. Denn dann würden wir das Geld
an die richtigen Stellen bringen.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({4})
Vielen Dank, Herr Kollege Gambke.
Jetzt muss ich noch etwas richtigstellen: Frau
Grotelüschen hat nicht die allererste Rede in diesem
Haus gehalten, sondern sie ist nach einer kleinen Pause
in dieses Haus zurückgekehrt. Das heißt, in dieser Legislaturperiode war es ihre allererste Rede.
({0})
Vizepräsidentin Claudia Roth
- Ach, Mensch! Aber als Abgeordnete hat sie das erste
Mal gesprochen. Also Gratulation! Sie mögen mir verzeihen: Ich kenne noch nicht alle Biografien aus dem
Effeff.
({1})
Danke, Thomas Gambke. - Als nächster Redner jetzt wird es aber wieder eine Premiere - hat Matthias
Ilgen für die SPD das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr
Kollege Gambke, weil Sie so viel von Besoffenreden gesprochen haben, würde ich gerne nachher mit Ihnen einen Schnaps trinken, auf dass wir uns gemeinsam an den
guten Zahlen dieses Jahres erfreuen können. Denn ich
finde, sie geben Anlass zur Freude.
({0})
Wir reden heute über das ERP-Sondervermögen und
die Frage, wie man damit umgeht. Ich möchte mit einem
Zitat des damaligen US-Außenministers George Marshall einsteigen, der in einer Rede am 5. Juni 1947 an der
Harvard University folgende Worte sprach:
Unsere Politik richtet sich … gegen Hunger, Armut,
Verzweiflung und Chaos. Ihr Zweck ist die Wiederbelebung einer funktionierenden Weltwirtschaft,
damit die Entstehung politischer und sozialer Bedingungen ermöglicht wird, unter denen freie Institutionen existieren können.
Das war damals nach dem Krieg - Sie haben das angesprochen, Herr Kollege - die Grundlage für den Wiederaufbau auch in der Bundesrepublik Deutschland.
Es ist aber gut und klug, dass wir schon damals in einigen Nuancen anders mit den Mitteln aus dem Marshallplan umgegangen sind, als unsere europäischen
Nachbarn dies vielleicht getan haben. Wir haben nämlich einen großen Teil dieses Vermögens erhalten und
schütten seit sechseinhalb Jahrzehnten im Grunde genommen lediglich Zinsgewinne aus, die wir für die Verbilligung von Krediten einsetzen, wie wir eben schon
mehrfach gehört haben, womit wir über die Jahre eine,
wie ich finde, hervorragende Mittelstands- und Kleinunternehmerförderung in diesem Land aufgebaut haben.
Das wollen wir auch in diesem Jahr fortsetzen.
({1})
Wie wir gehört haben, bewirken circa 340 Millionen
Euro einen Hebel von 6,7 Milliarden Euro an Krediten in
diesem Bereich. Wenn man sich die volkswirtschaftlichen Effekte, die dadurch entstehen - vom gesamten
Kreditvolumen werden oft nur 10 bis 15 Prozent durch
eine Hausbank gewährt -, und die gesamte volkswirtschaftliche Wertschöpfung anschaut, dann stellt man
fest, dass es sich um einen gewaltigen Hebel handelt, der
mit diesem im Vergleich zu den Mitteln des Bundeshaushalts kleinen Geld ausgelöst wird.
Ich stimme ausdrücklich der Bewertung unseres Bundesministers Sigmar Gabriel zu, der in den vergangenen
Tagen gesagt hat: Es ist richtig, dass wir einen Schwerpunkt auf Unternehmensgründungen und Innovationen
setzen, dass wir aber auch schauen müssen, was wir in
Zukunft in der Wachstumsphase von Unternehmen machen werden. - Hier wird man sehen, ob das Programm
in den nächsten Jahren anzupassen ist. Wir haben
schließlich Aufholbedarf gegenüber den angelsächsischen Ländern, wenn es um Beteiligungskapital bzw.
Venture Capital geht. Wir müssen darüber nachdenken,
wie wir es schaffen, Risikofinanzierung auch in Wachstumsphasen sicherzustellen, also dann, wenn die Unternehmen über die erste Schwelle der Gründung hinweg
sind und meistens die größten Schwierigkeiten haben,
entsprechende Angebote auf dem Markt zu finden, wenn
sie wachsen wollen. Wir werden als SPD-Fraktion im
Wirtschaftsausschuss darauf achten, dass wir hier in Zukunft ein Stück aufholen.
({2})
Ebenso wichtig wird es sein, auf den Forschungsbereich zu achten. Auch hier kann man von den Angelsachsen manchmal lernen. Wir sollten genau hinschauen, was
die Angelsachsen in ihren Exzellenzclustern rund um
Universitäten - bei uns auch rund um Fachhochschulen - tun, um Existenzgründungen zu erleichtern und
beispielsweise einen jungen Hochschulabsolventen zu
motivieren, nach seinem Studium eine marktreife Produktidee zügig in eine Geschäftsidee umzusetzen, ein
Unternehmen zu gründen und so wirtschaftliche Effekte
zu erzielen. Ein Mangel in Deutschland ist, dass das zu
lange dauert. Es gibt gute erste Modellansätze, zum Beispiel das Business-Angels-Modell. Die Schwierigkeit
ist, dass wir in Deutschland zu langsam sind. Auf diese
Art Venture Capital zu generieren, ist zwar erfolgreich.
Aber das Problem ist einfach, dass es bis zu fünf Jahre
dauert. Das ist eine Innovationsbremse. Ich hoffe, dass
wir das in den nächsten Jahren ein Stück weit korrigieren
können. Dabei müssen wir auch über andere Maßnahmen nachdenken.
Ich möchte auch schließen mit einem Zitat von Herrn
Marshall, das ich ganz gut finde: „Kleine Taten, die man
ausführt, sind besser als große, die man plant.“ In diesem
Sinne wird die SPD-Fraktion dem Gesetzentwurf zustimmen.
Vielen Dank.
({3})
Im Namen des ganzen Hauses gratuliere ich Kollege
Ilgen zu seiner ersten Rede.
({0})
Ich beglückwünsche ihn ausdrücklich dafür, dass er die
vorgegebene Redezeit eingehalten hat. Das ist ein gutes
Beispiel für alle Kolleginnen und Kollegen im fairen
Umgang miteinander.
({1})
Als Letztem in dieser Debatte erteile ich das Wort
dem Kollegen Dr. Andreas Lenz, CDU/CSU-Fraktion.
({2})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Ursprünge des ERP-Sondervermögens liegen gut 60 Jahre
zurück. Damals gewährten die USA mit dem Marshallplan finanzielle Wiederaufbauhilfe für Deutschland. Aus
dem damit gebildeten Sondervermögen werden seitdem
Gelder vergeben. Ich persönlich bin das erste Mal auf
den Begriff „ERP“ - European Recovery Program während meiner Bankausbildung gestoßen, als ich recht
alte Kreditverträge zu Gesicht bekam, die auch noch auf
mechanischen Schreibmaschinen geschrieben worden
waren. Da wir vorhin über die Einsetzung des Ausschusses Digitale Agenda gesprochen haben, mag einem das
ziemlich antiquiert vorkommen. Aber das bezeugt natürlich auch die Langfristigkeit der ausgereichten Kredite.
Mit dem ERP-Wirtschaftsplangesetz werden in diesem Jahr Mittel aus dem ERP-Sondervermögen in Höhe
von rund 793 Millionen Euro bereitgestellt. Im Rahmen
dieser Mittel ermöglichen sich Ausleihungen für die verschiedenen Kreditprogramme in Höhe von rund 6,4 Milliarden Euro.
Die Festlegung des Wirtschaftsplans für das ERPSondervermögen hat jedes Jahr aufs Neue zu erfolgen.
Man kann schon sagen, dass es ein Glücksfall war, dass
Deutschland neben anderen europäischen Ländern in
den Genuss von Geldern des Marshallplans kam. Ein
fast noch größerer Glücksfall war es aber, dass die damaligen Entscheidungsträger mit den Hilfsgeldern verantwortungsvoll und klug umgingen. Durch den Einsatz der
Gelder in Zinsverbilligungsdarlehen konnte ein Hebel
erreicht werden, der die ursprünglichen Hilfsgelder um
ein Vielfaches erhöht hat. Die Kreditprogramme aus
dem ERP-Sondervermögen haben seitdem auf vielfache
Weise positive Auswirkungen auf die deutsche Wirtschaft und vor allem auf den deutschen Mittelstand gehabt.
Heute helfen ERP-Förderungen beispielsweise zahlreichen Existenzgründern und mittelständischen Unternehmen. Wir haben heute bei der Debatte zum Jahreswirtschaftsbericht gehört, dass wir Gründer und
Innovationen brauchen. Gerade Existenzgründer sowie
kleine und mittlere Unternehmen stoßen immer noch auf
Finanzierungsschwierigkeiten. Sie haben oft wenig Eigenkapital oder zu geringe Sicherheiten. Dadurch bedingt sind hohe Kreditkosten. Auch hier setzen die Programme an, indem sie helfen, Existenzgründungen zu
ermöglichen und Innovationen zu fördern.
Zu den einzelnen Programmen. Die ERP-Programme
legen das Hauptaugenmerk auf die Finanzierungserfordernisse des Mittelstandes, auf Unternehmensgründungen, die Regionalförderung, die Beteiligungsfinanzierung und die Exportfinanzierung.
Unter die Gründungsfinanzierung fällt das ERP-Kapital zur Gründung, das vor allem Existenzgründer in der
gewerblichen Wirtschaft unterstützt. Zudem wird der
klassische zinsverbilligte und langfristige ERP-Gründerkredit vergeben. Seit 2013 gibt es zusätzlich den Hightechgründerfonds, der technologieorientierten Neugründungen mit hohem Kapitalbedarf eine Finanzierung auf
Basis von Beteiligungskapital bietet. Das Volumen der
Gründerkredite beträgt rund 3,7 Milliarden Euro.
Ein zweiter Punkt ist das Regionalförderprogramm.
In allen förderberechtigten Regionen Deutschlands, also
vornehmlich im Osten Deutschlands, aber auch im Osten
Bayerns, steht das Regionalförderprogramm zur Verfügung, welches vor allem für kleinere und mittlere Unternehmen Fördermöglichkeiten bietet. Dieses Programm
umfasst rund 300 Millionen Euro.
Ein dritter Programmschwerpunkt ist die Innovationsfinanzierung. Sie unterstützt die Unternehmen bei der
Markteinführung von innovativen Produkten. Dieses
Programm umfasst rund 1 Milliarde Euro an geplanten
Kreditausreichungen.
Jetzt habe ich eine Frage: Heute Vormittag gab es ein
Glas Wasser. Ob es vielleicht möglich wäre, auch jetzt
eines bereitzustellen?
Im Notfall wird das gereicht. Wir lassen es gleich
bringen.
({0})
Das wäre nett. Ich nehme auch, wie es meinem Wahlkreis Erding-Ebersberg angemessen ist, gerne ein Weißbier,
({0})
obwohl wir bei der nüchternen Betrachtung der Tatsachen bleiben wollen.
({1})
Als letzter Punkt des ERP-Programmes stehen die
ERP-Exportfinanzierungsprogramme zur Verfügung,
welche ebenfalls rund 1 Milliarde Euro ausmachen. Die
durch die Programme verwirklichten Förderziele haben
wir auch im Koalitionsvertrag festgeschrieben. Ich bin
mir sicher, dass wir damit gute Voraussetzungen für den
Wirtschaftsstandort schaffen.
Lassen Sie mich noch einmal auf den Jahreswirtschaftsbericht zu sprechen kommen. Dieser betont, wie
gesagt, die Wichtigkeit von Firmengründungen und
Innovationen für den Wirtschaftsstandort. Es geht also
darum, den Übergang von der innovativen Idee zum Produkt zu begleiten und zu unterstützen, ein Prozess, der
auch immer Risiken beinhaltet. Christian Morgenstern
hat dies poetisch formuliert, indem er meinte: „Jede
Schöpfung ist ein Wagnis.“ Manchmal muss der Mut
eben ein wenig angestoßen werden. Das gelingt uns mit
zielgenauen ERP-Programmen. Ebenso wichtig ist es,
Innovationen von Hochschulen in marktfähige Produkte
umzusetzen. Auch hierfür bieten die ERP-Programme
Ansätze.
Der Gefahr, dass sinnvolle und für unser Land wichtige Innovationen und Unternehmensgründungen unterbleiben, müssen wir weiter entschieden begegnen. Gerade in Zeiten, in denen sich die Beschäftigung Gott sei
Dank auf einem Rekordniveau befindet, überlegen sich
junge potenzielle Firmengründer zweimal, ob sie in einen sehr aufnahmefähigen Arbeitsmarkt gehen und damit eine relative Sicherheit erlangen oder ob sie das
Wagnis einer Unternehmensgründung auf sich nehmen.
Erlauben Sie mir noch einen kleinen Ausblick. Gerade während der aktuellen Niedrigzinsphase wird die
Frage laut, ob man Zinsverbilligungsmaßnahmen überhaupt noch braucht. Diese Frage ist sicher berechtigt; jedoch werden gerade bei Existenzgründungen immer
noch hohe Risikoaufschläge von den Banken gefordert.
Ein viel wichtigerer Punkt bei den ERP-Krediten ist
jedoch deren Langfristigkeit. Diese Langfristigkeit
kombiniert mit einer Zinsvergünstigung ermöglicht es
den Unternehmensgründern und den mittelständischen
Unternehmern, ERP-Kredite eigenkapitalähnlich zu betrachten. So ermöglichen gerade ERP-Kredite aufgrund
ihres Kapitalcharakters auch angesichts der Basel-IIIDebatte den kleinen und mittelständischen Unternehmen
eine weiterhin ausreichende Kreditversorgung. Uns geht
es nicht nur um DAX-Konzerne und um deren Vorstände, mit denen Herr Franke, wie wir gehört haben,
gerne spricht. Uns als Union geht es um den Mittelstand.
({2})
Wenn man in die Zukunft schaut, sieht man, dass gerade die Energiewende große Chancen bietet, auch bezüglich des ERP-Sondervermögens. Dabei gilt es, sich
unideologisch über Eigenkapitalbeteiligungen am Netzausbau, Stichwort „TenneT“, oder auch am Offshoreausbau zu unterhalten. Auch hier bieten sich Chancen.
Der ERP-Wirtschaftsplan leistet auch in 2014 mit
seinen Förderansätzen einen wichtigen Beitrag zur
Stärkung der kleinen und mittleren Unternehmen und
des Handwerks, unterstützt Innovationen und trägt zur
Schaffung neuer Arbeitsplätze bei. Die Kreditprogramme des ERP-Sondervermögens sind eine einmalige
Erfolgsgeschichte.
Ich freue mich wirklich, mit Ihnen für das ERP-Wirtschaftsplangesetz 2014 stimmen zu dürfen, und bedanke
mich für die Aufmerksamkeit.
({3})
Wir kommen damit zur Abstimmung über den von
der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines
Gesetzes über die Feststellung des Wirtschaftsplans
des ERP-Sondervermögens für das Jahr 2014. Der
Ausschuss für Wirtschaft und Energie empfiehlt in sei-
ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/500,
den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Druck-
sache 18/273 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. -
Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist in zweiter Beratung einstimmig angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich von den Plätzen
zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich?
- Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 11 a und 11 b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kathrin
Vogler, Cornelia Möhring, Diana Golze, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Den Bundesratsbeschluss zur rezeptfreien
Pille danach schnell umsetzen
Drucksache 18/303
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kordula
Schulz-Asche, Ulle Schauws, Dr. Harald Terpe,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Selbstbestimmung bei der Notfallverhütung
stärken - Pille danach mit Wirkstoff Levonorgestrel schnell aus der Verschreibungspflicht entlassen
Drucksache 18/492
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({0})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich bitte die Kollegen, die uns verlassen wollen, das
jetzt zu tun, und die, die hierbleiben wollen, Platz zu
nehmen, damit wir in Ruhe in die Beratung eintreten
können.
Ich erteile als erster Rednerin das Wort der Kollegin
Birgit Wöllert, Fraktion Die Linke.
({1})
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Mit
unserem Antrag, den Bundesratsbeschluss zur rezeptfreien Pille danach schnell umzusetzen, folgt meine
Fraktion, Die Linke, der Mehrheit der SPD-geführten
Bundesländer und dem Land Baden-Württemberg im
Bundesrat. Auch der Sachverständigenausschuss für
Verschreibungspflicht im Bundesinstitut für Arzneimittel- und Medizinprodukte gab im Januar bereits zum
zweiten Mal die Empfehlung, Levonorgestrel in Zubereitung zur Notfallkontrazeption aus der Verschreibungspflicht zu entlassen. Weltgesundheitsorganisation und
Europarat treten ebenfalls für die Freigabe ein. Die Empfehlungen der wissenschaftlichen Expertinnen und Experten sind eindeutig. Auch die praktischen Erfahrungen
in den meisten europäischen Ländern sprechen für die
Entlassung aus der Verschreibungspflicht.
({0})
Studien und Untersuchungen nach jahrzehntelanger
Erfahrung ergaben:
Erstens. Levonorgestrel ist für die Anwendung zur
Nachverhütung medizinisch unbedenklich.
Zweitens. Es wirkt umso sicherer, je früher es nach
ungeschütztem Sexualkontakt eingenommen wird.
Drittens. Die Informationen zur Anwendung der Pille
danach können auch von sehr jungen Frauen gut verstanden werden, und die Einnahme erfolgt auch ohne ärztliche Intervention korrekt.
Viertens. Die rezeptfreie Pille danach hat in den einzelnen Ländern nicht, wie von einigen Kollegen, vor allem aus der CDU/CSU-Fraktion, befürchtet, zu einem
veränderten Verhütungsverhalten oder einem riskanteren
Sexualverhalten geführt.
({1})
Im Bundesrat gab es 2013 eindeutige Voten und Aufträge für die Entlassung aus der Verschreibungspflicht,
so zuletzt am 8. November 2013.
Nun ist die Frage: Was hält einen Gesundheitsminister davon ab, einer solchen Aufforderung des Bundesrates zu folgen? Nun ist der Herr Bundesminister heute leider nicht da, aber ich denke, die Frau Parlamentarische
Staatssekretärin wird ihm das gern übermitteln. Dankenswerterweise hat er uns seine Beweggründe, warum
er zu dieser Auffassung kommt, über Interviews mit der
Presse bereits mitgeteilt. - Schön!
({2})
Der Herr Bundesminister erklärt, er sorge sich um die
Gesundheit der Frauen. Er sagt:
Wir brauchen einen zügigen, diskriminierungsfreien Zugang zur „Pille danach“, und wir brauchen
eine gute Beratung.
Das war ein Zitat von ihm aus der Welt am Sonntag.
Bis dahin, denke ich, ist das alles in Ordnung. Herr
Minister, da sind wir völlig einer Meinung; das können
Sie ihm ausrichten, Frau Parlamentarische Staatssekretärin. Es gibt gar keinen Dissens.
Nun geht das Zitat aber mit einer Schlussfolgerung
weiter. Er sagt:
Das
- gemeint ist die Beratung ist am besten gewährleistet, wenn es bei der Verschreibungspflicht bleibt.
Für mich ist die Frage: Möchte Minister Gröhe damit
sagen, eine Apothekerin oder ein Apotheker kann diese
Beratung nicht durchführen? Damit sind wir nun überhaupt nicht einverstanden. Die Pille danach soll es ja
nicht am Kiosk oder im Supermarkt geben. Sie bleibt
apothekenpflichtig.
({3})
„Zügig und diskriminierungsfrei“, wie von Herrn
Minister selbst formuliert, heißt doch nichts anderes als:
so schnell verfügbar wie möglich.
({4})
Die Aussage, dass in Deutschland eine zügige ärztliche
Beratung meist innerhalb weniger Stunden ermöglicht
werden könne, geht in vielen Regionen unseres Landes
schon längst an der Realität vorbei. Ich lebe in der Niederlausitz, einer überwiegend ländlichen Gegend mit
schon häufig unterdurchschnittlicher fachärztlicher Versorgung. Die Wege bis zu einer Gynäkologin oder einem
Gynäkologen sind oft ziemlich lang. Ab freitagnachmittags sind nur noch die Rettungsstellen der Krankenhäuser erreichbar, und nicht in jedem Ort, in dem es eine
Rettungsstelle im Krankenhaus gibt, ist dann auch eine
Apotheke geöffnet.
({5})
Da kommen ganz schnell schon mal 30 Kilometer Entfernung von der Stelle, wo man sich beim Arzt beraten
lassen soll, bis zur nächsten Apotheke zusammen, und
dann muss man auch noch zum Wohnort. Da frage ich:
Ist das schnell und zügig?
Was also tun im Notfall? Hat frau nicht selbst Führerschein und Auto, muss sie jemanden fragen. Dann muss
sie zu einer Ärztin oder einem Arzt, wo sie alles noch
einmal erklären muss. Dann kommt die Apotheke. Alles
zusammen sind das ziemlich viele Hürden.
Dabei rede ich noch nicht von den finanziellen Aufwendungen, die notwendig sind, um an das Notfallpräparat zu kommen. Sexuelle Selbstbestimmung und Frauengesundheit zusammenzubringen, darum geht es uns
allen. Was aber soll der Hinweis von Herrn Minister
Gröhe, in einzelnen Fällen könne es auch schwere Nebenwirkungen geben? Hier wird unzulässig übertrieben
und Angst geschürt.
({6})
Levonorgestrel ist als Wirkstoff seit über 40 Jahren auf
dem internationalen Markt, ohne dass schwerwiegende
Probleme bekannt geworden wären.
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, 1994 erklärten in Kairo auf der internationalen Konferenz über Bevölkerung und Entwicklung 179 Staaten die Familienplanung zum Menschenrecht. Damit wurde ein
Richtungswechsel eingeleitet: von einem überwiegend
bevölkerungspolitischen Ansatz zu einem Ansatz, der
sich am einzelnen Menschen und an den allgemeinen
Menschenrechten orientiert. Das schließt das Recht auf
Entscheidung hinsichtlich der eigenen Fortpflanzung
ebenso ein wie das Recht von Frauen, über ihre Sexualität selbstbestimmt und verantwortungsbewusst zu entscheiden.
({7})
Wir dürfen die Augen jedoch nicht davor verschließen, dass sich nicht wenige Frauen Verhütungsmittel
nicht mehr leisten können oder in Abwägung mit anderen Notwendigkeiten ihre Prioritäten anders setzen müssen. Die ökonomische Realität vieler Frauen, vor allem
alleinerziehender junger Frauen, zeigt, dass sie überdurchschnittlich oft an der Armutsgrenze leben. Gerade
deshalb muss mit der Entlassung aus der Verschreibungspflicht eine Regelung zur Kostenerstattung durch
die gesetzliche Krankenversicherung einhergehen, damit
es wenigstens keine Verschlechterung für Frauen bis zu
20 Jahren gibt.
({8})
Sehr geehrte Frau Staatssekretärin, werte Kolleginnen
und Kollegen, wie es immer so schön heißt: Bei Risiken
und Nebenwirkungen fragen Sie Ihren Arzt oder Apotheker. Da bei der Pille danach das größte Risiko für die
Frauen der Faktor Zeit ist, sollten wir dem kleinen Wörtchen „oder“ mehr Bedeutung beimessen und eine Rezeptfreiheit der Pille danach zügig auf den Weg bringen.
({9})
Seit gestern gibt es dazu eine Unterschriftensammlung
im Internet. Innerhalb von 36 Stunden kamen dabei
schon 20 000 Unterschriften zusammen. Auch deshalb
stimmt meine Fraktion der Überweisung der Vorlagen in
den Gesundheitsausschuss zu. Ich denke, eine breite Diskussion kann uns helfen, das berechtigte Anliegen doch
noch mit einer Mehrheit auf den Weg zu bringen.
Vielen Dank.
({10})
Das war, liebe Kolleginnen und Kollegen, die erste
Rede der Kollegin Birgit Wöllert im Deutschen Bundestag. Dazu gratuliere ich Ihnen im Namen des gesamten
Hauses.
({0})
Ich muss einmal die Geschäftsführer der Linken fragen: Eben ist gesagt worden, dass Sie der Überweisung
zustimmen wollen. Mir liegt ein Antrag vor, direkt abzustimmen. Ist das damit geändert?
({1})
- Okay, danke schön.
Jetzt hat für die Bundesregierung die Frau Parlamentarische Staatssekretärin Annette Widmann-Mauz das
Wort.
({2})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wir debattieren heute verschiedene Anträge
der Oppositionsfraktionen mit dem Ziel, den Arzneimittelwirkstoff Levonorgestrel, eine Variante der Pille danach, aus der Verschreibungspflicht zu entlassen. Anders
als immer wieder behauptet wird, ist bei Frauen und
Mädchen das Informationsbedürfnis bei diesem Thema
groß. Das merkt jeder, der einmal in die entsprechenden
Foren im Internet geschaut hat. Die Einträge zeigen aber
auch ganz deutlich, dass es in diesen Fällen - sie reichen
von der klassischen Verhütungspanne über ungeschützten Sex bis hin zu Vergewaltigungen - nicht nur ein großes Informations-, sondern auch ein Beratungsbedürfnis
bei den Betroffenen gibt. Die Frage, ob es dann überhaupt noch eine Notfallverhütungsmethode gibt und,
wenn ja, wie und bis wann sie wirkt, welche Nebenwirkungen auftreten können und welche Kosten entstehen,
ist das eine.
Es geht aber um noch mehr: Es geht um die sehr individuelle und unterschiedliche Betroffenheit von Frauen
und Mädchen in solchen Situationen. Wer die Pille danach braucht, hat ganz konkret Angst - Angst vor einer
möglichen Schwangerschaft - und braucht zeitnah und
niederschwellig kompetente medizinische Hilfe. Das ist
mehr als die bloße Abgabe eines Medikaments, und es
erfordert auch mehr, als in der Regel am Nachtschalter
einer Apotheke oder gar von einer Versandapotheke,
ganz zu schweigen von einer Pick-up-Stelle, geleistet
werden kann.
({0})
Das sind Information, Aufklärung, Beratung und gegebenenfalls eine eingehende Untersuchung und psychosoziale Begleitung. Gerade in solchen Notsituationen hat
sich ein vertrauensvolles und geschütztes Arzt-Patienten-Verhältnis in unserem Land bewährt. Hier kann das
geeignete Mittel zur Notfallkontrazeption ausgewählt
und über individuelle Risiken und Nebenwirkungen gesprochen und können im Übrigen auch weitere Risiken
wie zum Beispiel sexuell übertragbare Krankheiten abgeklärt werden. All das steht auf dem Spiel, wenn es zu
einer Entlassung aus der Verschreibungspflicht kommt.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das können wir
doch nicht wollen. Uns geht es gerade nicht, wie häufig
unterstellt wird, darum, einer Frau die Pille danach vorzuenthalten oder gar eine moralische Bewertung von Sexualverhalten vorzunehmen. Nein, im Mittelpunkt unserer Entscheidung muss die Gesundheit der Frauen
stehen, die medizinischen Aspekte und ihre sexuelle
Selbstbestimmung.
({2})
Beides gehört zusammen. Deshalb müssen wir sehr
sorgfältig abwägen. Dabei spielen mehrere Gesichtspunkte eine Rolle: zum einen die schnelle Verfügbarkeit
- es wurde bereits angesprochen -, zum anderen die
Wirksamkeit und ebenso die gesundheitlichen Risiken,
die mit hochdosierten Hormonpräparaten verbunden
sind.
Sie wissen es alle: Es gibt die Pille danach mit zwei
verschiedenen Wirkstoffen. Je nach Zeitpunkt der Einnahme und Verlauf des Zyklus einer Frau, je nach Körpergewicht können entweder beide Wirkstoffe oder nur
einer oder beide nicht mehr geeignet sein.
Frau Staatssekretärin, es gibt den Wunsch einer Zwischenfrage der Kollegin Vogler von der Linken. Mögen
Sie diese zulassen?
Ja, lasse ich gern zu.
Bitte schön, Frau Kollegin.
Vielen Dank, Frau Staatssekretärin, liebe Kollegin
Widmann-Mauz, dass Sie diese Zwischenfrage zulassen. Ich muss auf zwei Aspekte eingehen.
Zum einen tun Sie hier so, als würden wir mit unserem Antrag das Ansinnen verfolgen, Frauen, die eine
psychosoziale oder gesundheitliche Beratung brauchen,
davon abzuhalten, eine Frauenärztin oder einen Frauenarzt aufzusuchen. Ich möchte Sie bitten, unseren Antrag
noch einmal zu lesen. Das ist nicht der Fall. Wir wollen
lediglich Frauen die Möglichkeit geben, selber zu entscheiden, ob sie in einer solchen Situation, in der vielleicht ein Kondom geplatzt oder etwas anderes passiert
ist, einen Arzt oder eine Ärztin aufsuchen wollen oder
ob sie das nicht für notwendig halten. Denn auch das gehört zur Selbstbestimmung dazu: dass ich selber entscheide, wann und von wem ich mich beraten oder gegebenenfalls körperlich untersuchen lasse.
Zum anderen möchte ich Sie fragen, ob Sie mir erklären können, wofür wir eigentlich eine Bundesbehörde
wie das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte haben, das extra einen Sachverständigenausschuss
eingerichtet hat, der kompetent und unabhängig von Einzelinteressen analysieren und beurteilen soll, ob ein Medikament verschreibungspflichtig sein soll oder nicht,
wenn die Bundesregierung die Entscheidung dieses Ausschusses offensichtlich überhaupt nicht interessiert.
({0})
Wir beraten das Thema ja schon länger. Wir haben in
der letzten Wahlperiode auch eine Anhörung durchgeführt. Jetzt haben Sie mir auf eine schriftliche Anfrage
geantwortet, dass die Bundesregierung die Verschreibungspflicht unter Einbeziehung aller Aspekte und in einem angemessenen Zeitrahmen prüfen möchte.
Nun frage ich Sie: Meinen Sie nicht, dass die Diskussionen der Vergangenheit und die Entscheidung des
Bundesrates und die Entscheidung des BfArM-Sachverständigenausschusses dazu drängen, dass eine Entscheidung in dieser Sache einigermaßen „zügig“ - ich zitiere
den Bundesgesundheitsminister - erfolgen sollte?
({1})
Liebe Frau Kollegin Vogler, zu Ihrer ersten Frage: Ich
unterstelle niemandem etwas. Umgekehrt lässt sich auch
die Bundesregierung nicht unterstellen, sie wolle die
Pille danach Frauen vorenthalten, nur weil sie Wert auf
die ärztliche Beratung legt.
({0})
Ich glaube, diese Klarstellung sollte bei dieser Gelegenheit vorgenommen werden. Im Gegenteil: Wir nehmen
die Argumente, die Sie und andere Experten vorgebracht
haben, sehr ernst. Deshalb versuche ich, in dieser Debatte den Abwägungsprozess darzustellen.
Ich werde im Laufe meiner Rede auf die zweite
Frage, die Sie gestellt haben, eingehen. Wenn Sie mir
gestatten, würde ich jetzt die Argumentation schlüssig
und nachvollziehbar fortsetzen. Es ist wichtig, dass wir
die verschiedenen Aspekte abwägen. Hierzu gehören die
Aspekte der Schnelligkeit - ich habe es angesprochen und der Wirksamkeit und die Frage, wie wir damit umgehen.
Ich hatte gerade begonnen, auszuführen, dass wir hier
zwei Wirkstoffe haben. Wenn ein Wirkstoff aus der Verschreibungspflicht entlassen würde, wären in der Konsequenz die Frauen, die nicht zum Arzt gehen - aus welchem Grund auch immer; das ist ihnen unbenommen -,
auf ein Medikament festgelegt, und zwar unabhängig davon, ob es in der konkreten Situation für die Frau das
medizinisch richtige und geeignetste Präparat ist. Auch
das muss der Bundesgesundheitsminister abwägen.
Wir wollen, dass der Anspruch, den wir an unser Gesundheitswesen stellen - die beste Versorgung der Patienten in unserem Land -, auch realisiert wird. Mit dieser Meinung stehen wir im Übrigen nicht alleine. Auch
die deutsche Ärzteschaft mit ihrem Bundesärztekammerpräsidenten, die Kassenärztliche Bundesvereinigung, der
Verband der Frauenärzte und die gynäkologischen Fachgesellschaften sehen das so. Das haben sie in einer Anhörung vor dem Deutschen Bundestag in der letzten
Legislaturperiode dargelegt. Auch der Sachverständigenausschuss beim BfArM und die WHO haben gewichtige Argumente. Diese nehmen wir ernst und wägen wir
ab. Ich muss an dieser Stelle schon deutlich machen,
dass die WHO sicherlich andere Länder vor Augen
hatte, als sie ihren Beschluss gefasst hat;
({1})
denn nicht in allen Ländern - auch nicht in Europa - haben die Menschen einen so niedrigschwelligen, flächendeckenden und umfassenden Zugang zu medizinischer
Versorgung wie in Deutschland.
({2})
Bei uns ist die Situation nun einmal anders.
({3})
Die Zahlen sprechen für sich. Die Pille danach wurde allein im letzten Jahr weit über 400 000-mal verschrieben.
Ganz offenkundig kommt unser System also gut mit der
Herausforderung klar, Patientin und Arzt schnell zusammenzubringen. Das müssen wir doch auch berücksichtigen.
Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, argumentieren, der Sachverständigenausschuss
sehe keine Gründe, die gegen eine Freigabe sprächen.
Wenn ich den Beschluss richtig gelesen habe, dann hält
der Sachverständigenausschuss eine umfassende Beratung vor der Abgabe der Pille danach für erforderlich.
Länder wie Großbritannien oder die Schweiz, die die
Pille danach aus der Verschreibungspflicht entlassen haben, fordern deshalb in den Apotheken umfangreich dokumentierte Auskünfte der Frauen. Mir liegt hier ein
Protokollformular aus der Schweiz vor. Ich zitiere aus
dem Fragenkatalog. Da heißt es: Hatten Sie seit der letzten Periode noch ein anderes Mal ungeschützten Geschlechtsverkehr? Oder: Wie schützen Sie sich normalerweise vor einer Schwangerschaft?
({4})
Gar nicht, Kondom, Pille, Spirale, natürliche Methode
usw.? - Ich sage Ihnen: Glauben Sie mir, diese Fragen
bespricht eine Frau lieber vertraulich mit einem Arzt in
der Praxis oder einem Krankenhaus als im Verkaufsraum
einer Apotheke.
({5})
Im Übrigen ist die Empfehlung des Sachverständigenausschusses nicht neu. Eine entsprechende Äußerung
gab es schon im Jahr 2003; das haben Sie richtig dargestellt. Auch Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt
und beide Nachfolger in ihrem Amt sind diesem Votum
damals nicht mit einer entsprechenden Rechtsverordnung nachgekommen.
({6})
Im Übrigen gibt es keine politischen Zwangsläufigkeiten, diese Empfehlungen umzusetzen. Das muss immer von den politisch Verantwortlichen abgewogen werden. Sie beziehen sich ja auf die Mehrheiten im
Bundesrat. Es ist nur erstaunlich, dass der Bundesrat in
derselben Sitzung den Bundesgesundheitsminister aufgefordert hat, die Rezeptpflicht für Migränepräparate der
Gruppe der sogenannten Triptane beizubehalten, und
zwar entgegen dem Votum des Sachverständigenausschusses.
({7})
Man kann sich nicht die Dinge heraussuchen, die einem
passen. In der Politik muss man Verantwortung übernehmen und abwägen.
({8})
Es gibt Argumente dafür und dagegen, mit denen wir
uns auseinandersetzen müssen; aber es gibt keine
Zwangsläufigkeit. Wir wägen die Argumente im Interesse der Frauen ab.
({9})
Ich fasse zusammen: In der Bundesregierung will niemand einer Frau die Pille danach vorenthalten. Wir wollen im Interesse der Gesundheit der Frauen aber auch
nicht auf die ärztliche Beratung verzichten. Das stärkt
Frauen in ihrer Selbstbestimmung und gibt ihnen Sicherheit.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({10})
Als Nächste hat die Kollegin Kordula Schulz-Asche,
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, das Wort. Bitte schön.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau
Staatssekretärin Widmann-Mauz, das war wirklich eine
etwas seltsame Rede;
({0})
denn Anlass dafür, dass wir heute über das Thema Pille
danach diskutieren - das Thema ist ja nicht vom Himmel
gefallen -, ist, dass im Januar 2014 das Bundesinstitut
für Arzneimittel und Medizinprodukte, also die Fachleute, die die Bundesregierung zur Verfügung hat, um
sich beraten zu lassen, zum wiederholten Male die Aufhebung der Verschreibungspflicht für die Pille danach
mit dem Wirkstoff Levonorgestrel empfohlen hat. Das
ist der Grund, warum wir heute darüber reden, inwieweit
wir es schaffen, hier die Verschreibungspflicht aufzuheben.
({1})
Mir ist völlig unverständlich, wie der neue Gesundheitsminister Gröhe in einer seiner ersten Amtshandlungen erklären konnte - Sie haben es gerade auch getan,
Frau Staatssekretärin -, er wolle trotzdem an der Verschreibungspflicht festhalten, und zwar zum Wohle der
Gesundheit von Frauen. Heißt das denn, dass das Bundesinstitut Empfehlungen ausspricht, die zulasten der
Gesundheit von Frauen gehen? Wenn das der Fall ist,
dann müssen Sie diese Experten doch entlassen.
({2})
Wer sind denn die Expertinnen und Experten, auf die Sie
sich stützen? Das müssen Sie meiner Meinung nach
transparent machen. Die Entscheidung, ob ein Medikament aus der Verschreibungspflicht entlassen werden
kann, darf nur auf der Grundlage wissenschaftlicher Bewertungen erfolgen, nicht aber aufgrund von Ideologien
und ökonomischen Interessen Einzelner.
({3})
Die Pille danach mit dem Wirkstoff Levonorgestrel
gilt seit sehr vielen Jahren als bewährtes und sicheres
Arzneimittel und ist in ganz Europa - außer in Deutschland, Polen und Italien - rezeptfrei erhältlich und wird
von der Weltgesundheitsorganisation empfohlen. Auch
in Deutschland werden die Gegner immer weniger. Zurück bleiben die organisierte Ärztelobby sowie Teile der
CDU und natürlich der CSU. Ich hoffe, dass das heutzutage nicht mehr reicht, um das Selbstbestimmungsrecht
von Frauen in Notfällen infrage zu stellen.
({4})
Die Pille danach muss bis maximal 72 Stunden nach
ungeschütztem Geschlechtsverkehr eingenommen werden, um eine Schwangerschaft zu verhindern. Eine bereits eingetretene Schwangerschaft kann durch das Medikament nicht beendet werden. Die Pille danach ist also
ein Verhütungs- und kein Abtreibungsmittel.
({5})
Bereits hier sitzen Sie falschen Beratern auf, wenn Sie
eine gegensätzliche Position vertreten, wie Sie es gerade
getan haben.
Aufgrund der derzeitigen Rezeptpflicht ist eine ärztliche Verschreibung notwendig. Die Pille danach wirkt
aber umso besser, je früher sie eingenommen wird. Das
ist ein weiterer Grund dafür, die Verschreibungspflicht
abzuschaffen. Über die Hälfte der ärztlichen Verordnungen erfolgt in Deutschland montags und dienstags - das
zeigt doch, dass eine vernünftige Beratung am Wochenende nicht stattfindet -, und dann ist die Wirkung unter
Umständen bereits reduziert. Das ist ein Risiko, dem
man Frauen ohne besonderen Grund nicht weiter aussetzen darf.
({6})
Frau Staatssekretärin Widmann-Mauz, Sie haben
recht: Natürlich bedarf es auch bei rezeptfreien Medikamenten wie der Pille danach umfassender Aufklärung
und Beratung in der Apotheke und gegebenenfalls auch
des Verweises auf andere Experten. Das ist übrigens ein
wesentlicher Bestandteil unseres Antrages. Ich war eigentlich davon ausgegangen, dass Sie das gelesen haben.
({7})
Es geht ja nicht nur um mögliche Nebenwirkungen
des Medikaments, sondern auch darum, die Kompetenzen von Frauen durch die Beratung zu stärken, um
selbstbestimmt entscheiden zu können, ob sie die Pille
danach nehmen möchten oder nicht. Um diese Beratung
geht es uns. Wir müssen natürlich dafür sorgen, dass sie
in bester Qualität erfolgen kann. Aber ich kann beim
besten Willen nicht verstehen, warum unsere hochqualifizierten Apothekerinnen und Apotheker diese Beratung
nicht mindestens genauso gut leisten können sollen wie
der Bereitschaftsdienst am Wochenende, beispielsweise
durch einen Hals-Nasen-Ohren-Arzt.
({8})
Entscheidend ist doch, dass endlich die Lebensrealität
und die Rechte von Frauen, ganz besonders dann, wenn
sie in Not geraten sind, berücksichtigt werden. Dazu gehört auch die Kostenübernahme, die ebenfalls Teil unseres Antrages ist. Bei einem Medikament mit überflüssiger Rezeptpflicht sollten sie selbstbestimmt entscheiden
können, ob sie es anwenden oder nicht.
Ich freue mich sehr über den großen Zuspruch, die die
derzeit laufende Petition bereits bekommen hat. Frauen
haben das Recht auf Beratung. Aber niemand hat das
Recht, sie zu bevormunden,
({9})
weder Ideologen oder Ärzteverbände noch ein Bundesgesundheitsminister oder seine Staatssekretärin.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({10})
Das war die erste Rede unserer Kollegin Kordula
Schulz-Asche im Deutschen Bundestag. Ich gratuliere
Ihnen dazu im Namen des ganzen Hauses.
({0})
Als Nächster hat das Wort der Kollege Dr. Karl
Lauterbach, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Es wurde schon über die Sicherheit der Pille da1090
nach mit dem Wirkstoff Levonorgestrel gesprochen. Das
Produkt ist seit 1966 auf dem Markt. Seit mehr als
20 Jahren wird es als Pille danach eingesetzt. Im Jahr
2013 wurde es 460 000 Mal verschrieben. In 79 Ländern
ist es rezeptfrei erhältlich. Die Weltgesundheitsorganisation - bei allem Respekt vor dem medizinischen Sachverstand des Ministers oder der Staatssekretärin ({0})
zieht in ihrer Bewertung der Pille danach das Fazit:
Die sorgfältige evidenzbasierte Bewertung zeigt,
dass die Nachverhütungsmethode auf der Basis von
LNG sehr sicher ist. Sie wirkt nicht abortiv oder
schädigend auf eine bereits bestehende Schwangerschaft. Nebenwirkungen sind selten und verlaufen
in der Regel mild.
Was will man mehr? Im Wesentlichen ist er einer der sichersten Wirkstoffe, die auf dem Markt sind.
({1})
Mittlerweile gibt es zu diesem Wirkstoff kaum mehr
Studien. In der letzten großen Auswertung der neueren
Studien mit der Beteiligung von insgesamt 10 500 Frauen,
die das Produkt eingenommen hatten, wurde darauf hingewiesen, dass die Wirksamkeit zwischen 52 und
94 Prozent liegt - das ist keine so gute Wirksamkeit -,
aber dass der entscheidende Faktor, der die Wirksamkeit
bestimmt, die Zeit ist.
({2})
Das Wichtigste im Zusammenhang mit dem Wirkstoff
ist: Wie früh wird er eingenommen?
({3})
Der jetzt vorgetragene Vorschlag trägt allerdings nicht
zur Lösung bei.
({4})
Das Hauptproblem ist, dass das Produkt zu spät eingenommen wird, und dazu leistet Ihr willkürlicher Vorschlag einen Beitrag. Das ist nicht schön.
({5})
Die Kollegen von der Union - davor habe ich großen
Respekt - weisen auf die in der Regel qualitativ hochwertige Beratung durch den Apotheker hin.
({6})
Das wäre die Gelegenheit, die Apotheker zu verteidigen;
denn über diesen Wirkstoff können sie ohne Wenn und
Aber beraten.
({7})
Es wird aber nicht verboten, die Frauenärztin zu konsultieren. Der Frau, die dem Apotheker die Beratung nicht
zutraut, die glaubt, dass der Apotheker das nicht schafft,
wird es doch nicht verboten, zur Frauenärztin zu gehen
und sich weitergehend beraten zu lassen. Es geht doch
nicht um das Verbot der Beratung durch den Arzt, sondern um eine Ergänzung in Form einer Beratung durch
den Apotheker.
({8})
Hier sollen die Rechte der Frauen gestärkt werden und
nicht die Rechte der Gynäkologen eingeschränkt werden, was Sie natürlich berechtigterweise befürchten.
({9})
Ich komme zum Fazit: Es scheint hier so zu sein, dass
Frauen in einer Notlage - das ist sicherlich immer eine
Notlage ({10})
das Recht auf Hilfe ohne gute Begründung, also willkürlich, vorenthalten werden soll. Das ist nicht zeitgemäß.
({11})
Herr Kollege Dr. Lauterbach, Frau Kollegin Vogler
fragt nach einer Zwischenfrage oder Zwischenbemerkung. Lassen Sie sie zu?
Ja, okay.
({0})
Vielen Dank, Herr Kollege Lauterbach, dass Sie die
Zwischenfrage zulassen. Ich richte meine Frage an Sie,
weil ich annehme, dass Sie den nötigen medizinischen
Sachverstand mitbringen, um die Frage beantworten zu
können.
({0})
In einer Ausgabe des arznei-telegramms - das ist Ihnen sicherlich bekannt - aus dem vergangenen Jahr wird
unter Bezugnahme auf eine Studie über die Präparate,
die im Fall einer Verhütungspanne als Notfallverhütungsmittel verordnet werden können, gesagt, welches
Präparat verordnet werden sollte. Kolleginnen und
Kollegen von der Union laufen derzeit überall herum
und sagen: Wenn man Levonorgestrel in der Apotheke
frei kaufen könnte, dann würde das aus ihrer Sicht bessere Mittel, Ulipristalacetat, den Frauen möglicherweise
vorenthalten werden. Nun kommt das arznei-telegramm
aber zu dem Schluss - dabei bezieht es sich auf das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte -, dass
eine höhere Wirksamkeit von Ulipristalacetat gegenüber
Levonorgestrel nach wie vor nicht belegt ist. In der Stellungnahme heißt es - ich zitiere -:
In der Tat sehen wir den Vorteil von Levonorgestrel
vor allem in den langjährigen Erfahrungen, die mit
diesem Wirkstoff bestehen. Dabei sind nach epidemiologischen Studien fetale Fehlbildungen … nicht
zu erwarten. Für Ulipristalacetat gibt es hingegen
weiterhin kaum Sicherheitsdaten. Zudem ist dieser
Wirkstoff an unter 18-Jährigen kaum geprüft.
Würden Sie mir zustimmen, dass die Argumentation,
die wir von Unionskollegen oft hören, dass Ulipristalacetat das bessere Mittel sei und man eine Freigabe, also
den Wegfall der Verschreibungspflicht von Levonorgestrel deswegen nicht in Betracht ziehen könne, nicht von
medizinischem oder pharmakologischem Sachverstand
geprägt ist?
({1})
Sagen wir es einmal so: Ich habe die Studie im Rahmen meiner Vorbereitung auf diese Rede gesehen. Es ist
ganz klar - das ist unisono die Expertenmeinung -, dass
LNG, also der hier zur Debatte stehende Wirkstoff, der
frei vergeben werden soll, besser untersucht ist. Er ist
schlicht besser untersucht und somit sicherer. Ob die
Wirksamkeit die gleiche ist, weiß man heute nicht. Wenn
ich als Arzt etwas zu empfehlen hätte, würde ich auf den
sicheren und besser untersuchten Wirkstoff zurückgreifen,
({0})
und zwar schlicht und ergreifend, weil klar bewiesen ist,
dass es, wenn es trotz des Einsatzes von LNG zu einer
Schwangerschaft kommt, nicht zu einer Schädigung des
Kindes kommt. Das ist aus meiner Sicht der wichtigste
Punkt. Darauf würde ich den größten Wert legen.
({1})
Das Produkt ist, aus dieser Perspektive heraus betrachtet,
sicher: Wenn es nicht wirkt, da zu spät eingenommen,
nimmt das Kind keinen Schaden. Darauf käme es mir in
diesem Zusammenhang besonders an.
({2})
Ich will noch einen Punkt ansprechen. Hier wurde gesagt, dass das Produkt 460 000 Mal eingenommen worden ist. Dies sei Beweis dafür, dass die geltende Regelung greift. Ich warne vor dieser Schlussfolgerung: In
50 Prozent der Fälle wurde es zu spät eingenommen und
wirkte deshalb nicht. Es ist 460 000 Mal verschrieben
worden. Wie viele ungewollte Schwangerschaften trotzdem entstanden sind und dann abgebrochen werden
mussten, geht aus dieser Statistik nicht hervor. Die
Hauptnebenwirkung einer zu späten Einnahme ist die
Abtreibung. Ich glaube, wir hier im Saal sind alle der
Meinung, dass eine vermeidbare Abtreibung vermieden
werden sollte, insbesondere wenn das so sicher und so
leicht geht.
({3})
Zum Abschluss. Wir dürfen die Realität nicht verkennen: Was passiert denn, wenn eine Frau beispielsweise
im Internet liest, dass es zeitlich knapp wird, dass sie den
Frauenarzt kaum noch aufsuchen kann, um die Pille danach einnehmen zu können? Viele greifen dann zur
Selbstmedikation, indem sie mehrere Pillen mit einem
anderen Wirkstoff auf einmal einnehmen oder sich Pillen
mit diesem Wirkstoff bei Bekannten oder Freundinnen
besorgen. Machen wir uns bitte nichts vor: Jeder Arzt
weiß, dass eine weit verbreitete Praxis die ist, dass man
dann bei Freundinnen und Bekannten nachfragt, womit
sie verhüten, um dann auszurechnen, wie man auf die
Menge Wirkstoff kommt, mit der man glaubt, die Wirkung der Pille danach darstellen zu können. Das ist eine
sehr gefährliche Praxis. Ich persönlich würde mich aus
ärztlicher Sicht mit dem sicheren Wirkstoff, den der
Apotheker aushändigt, wohler fühlen. Diese weit verbreitet Praxis sollte man nicht in Kauf nehmen.
In der Summe macht es den Eindruck, dass hier die
Freiheitsrechte der Frauen eingeschränkt werden sollen,
dass hier ein Exempel statuiert werden soll und man
sagt: Ein bisschen Strafe muss sein. Geht zumindest zum
Frauenarzt! - Das halte ich für eine nicht angemessene
Position.
({4})
Das sehen übrigens auch die Frauenärzte so.
In der Apotheke werden Wirkstoffe wie Aspirin, Paracetamol und Ibuprofen verkauft, die, wenn sie unsachgemäß eingenommen werden, sehr viel gefährlicher
sind.
({5})
Aspirin verursacht Magenblutungen. Paracetamol hat,
wenn es zu hoch dosiert eingenommen wird, schwerste
Leberschäden zur Folge; das wird mir die Kollegin hier
bestätigen. Ibuprofen führt, wenn es zu hoch dosiert eingenommen, wird, Herr Henke, zu Schädigungen der
Nieren. Ich könnte ohne Mühe die mir nicht mehr zur
Verfügung stehende Redezeit mit weiteren Beispielen
füllen.
Das mit der Redezeit stimmt, Herr Kollege
Lauterbach.
Es gibt viel gefährlichere Wirkstoffe, die von Apothekern, denen von der Union ja immer wieder zu Recht
Kompetenz zugesprochen wird, rezeptfrei verkauft werden. Seien wir ehrlich: Hier soll ein Exempel an den
Frauen gegen ihre Freiheitsrechte statuiert werden. Das
ist nicht richtig.
({0})
Als Nächster erteile ich das Wort Kollegin Emmi
Zeulner, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Auch wenn die Debatte zur Rezeptfreiheit eines Präparates zur Notfallverhütung, nämlich Levonorgestrel, kurz LNG, strittig ist, sind wir uns in einem
Punkt doch alle einig: Wir wollen, dass Frauen in
Deutschland, die in eine Notsituation geraten sind, sich
sicher sein können, eine schnelle und objektive Beratung
zu erhalten, eine Beratung in einem geschützten Raum
unter vier Augen;
({0})
denn die Empfänger der Pille danach sind eben nicht nur
Frauen, die mitten im Leben stehen, sondern auch Minderjährige oder - schlimmer noch - Frauen, denen Gewalt angetan wurde. Deswegen ist für mich die zentrale
Frage: Was ist uns wichtig? Den einfacheren Weg zu gehen oder den besseren?
Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen möchten, dass
mit der Rezeptfreiheit von LNG ein niedrigschwelliger
und zeitnaher Zugang zur Notfallverhütung ermöglicht
wird.
({1})
In diesem Zusammenhang wird häufig der erschwerte
Zugang zu ärztlicher Versorgung im ländlichen Raum
angeführt.
({2})
Ich selbst stamme aus dem ländlichen Raum und kann
sagen
({3})
- vielleicht liegt es daran, dass es Bayern ist; tut mir
leid -,
({4})
dass der Notfalldienst der Gynäkologen sowie die Notfallversorgung durch die Krankenhäuser funktionieren.
Wir wissen selbstverständlich, dass wir aufpassen müssen, dass dies auch in Zukunft so bleibt. Aber die Rundum-die-Uhr-Bereitschaft, wie wir sie in Deutschland
haben, ist einmalig. Für jede Frau ist somit vor Ort eine
zeitnahe Versorgung mit dem Notfallmedikament sichergestellt.
An der Besonderheit dieses Bereitschaftsdienstes
möchte ich anknüpfen. Ein Vergleich mit der Situation in
anderen Ländern bezüglich der Freigabe von LNG kann
nur bedingt gezogen werden. Es ist nachvollziehbar,
dass der schnelle Zugang zu LNG in anderen Staaten nur
durch eine Rezeptfreiheit gesichert werden kann. Nicht
jedes Land hat eine medizinische Versorgung, die mit
dem deutschen Standard vergleichbar ist. Deutschland
hingegen weist keine Versorgungslücken auf, die eine
Freigabe von LNG nötig machen würden.
({5})
Im internationalen Vergleich haben wir eine beispielhaft
niedrige Zahl von Schwangerschaftsabbrüchen: Auf
1 000 Frauen kommen 6,2 Abbrüche. In anderen europäischen Ländern - ohne Verschreibungspflicht - ist die
Rate bis zu dreimal so hoch.
Hier sei deutlich gesagt: Die Freigabe des Präparats
hat nirgends zu einem wirkungsvollen Rückgang der
Zahl der Schwangerschaftsabbrüche beigetragen. Wäre
hier ein Rückgang zu erkennen, wäre die Debatte selbstverständlich eine andere.
({6})
In dieser Debatte wird immer wieder bemängelt, dass
das Selbstbestimmungsrecht der Frau durch die Rezeptpflicht eingeschränkt wird. Natürlich will ich als Frau
selbstbestimmt leben. Aber ich kann Ihnen sagen: Ich
habe nicht das Gefühl, dass mein Selbstbestimmungsrecht mit dem Gang zum Arzt mehr eingeschränkt wird
als mit dem Gang zum Apotheker.
({7})
Vielmehr bietet der Besuch beim Arzt die Möglichkeit
einer fachlichen, ganzheitlichen und individuellen Beratung in einem geschützten Raum. Mit der Weitergabe
dieses hochpotenzierten Hormonpräparats allein ist es
nicht getan. Die Aufklärung über die Gefahren von Geschlechtskrankheiten, eventuelle Impfungen und eine
Abstimmung des möglicherweise notwendigen weiteren
Vorgehens - auch in Bezug auf die weitere Verhütung sind unbedingt mit einzubeziehen.
({8})
Hinzu kommt die wichtige Abwägung, welches Präparat verschrieben werden soll. Das weiterhin verschreibungspflichtige Präparat Ulipristal kann bis zu 120 Stunden nach dem Geschlechtsverkehr eingenommen werden
und ist wirksamer; deswegen gilt es in der Notfallmedizin aktuell als Standardtherapie. Nur durch den Gang
zum Arzt hat man die Wahl zwischen den beiden
Präparaten. Als Krankenschwester ist es mein Prinzip,
das Beste für die Patientin zu tun. Was ist, wenn Ulipristal das Beste für die Patientin wäre, sie aber nicht davon
erfährt?
Ein weiterer Punkt ist, dass das Präparat, würde es
freigegeben, im Internet auf Vorrat bestellt werden
könnte. Im Gegensatz zu den Grünen bin ich nicht der
Meinung, dass das Internet allein zu einer informierten
Entscheidung führen kann.
({9})
Wie stellen Sie sich das vor: Multiple Choice für die
Pille danach? Eingabe bei Google?
Die Option einer rezeptfreien Pille danach durch eine
Apotheke kommt für mich nur infrage, wenn eine ganzheitliche, individuelle, fachlich fundierte Beratung in einem geschützten Raum gesichert ist. Kann dies wirklich
nachts am Apothekenfenster gewährleistet werden? Und
wenn ja: Wird dann nicht der Grundsatz der Trennung
von Beratung und Verkauf gefährdet? Eine medizinische
Empfehlung sollte im besten Fall unabhängig von jeglichen Verkaufsperspektiven sein.
Nach Abwägung zwischen dem einfacheren und dem
besseren Weg muss ich daher zu dem Schluss kommen,
dass ich mich für die Beibehaltung der Rezeptpflicht und
somit für den besseren Weg entscheide.
({10})
Das war die erste Rede unserer Kollegin Emmi
Zeulner im Deutschen Bundestag. Wir gratulieren ihr
dazu herzlich.
({0})
Ich erteile als nächster Rednerin der Kollegin
Mechthild Rawert von der SPD-Fraktion das Wort.
({1})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ja - und das freut mich -, wir führen diese
Diskussion ohne Schaum vorm Mund, anders als es der
Minister befürchtet hatte. Ja, wir übernehmen Verantwortung: Deswegen fordern wir, dass Levonorgestrel
aus der Verschreibungspflicht entlassen wird.
({0})
Wir wollen - das ist den meisten nicht neu, spätestens
seitdem in der letzten Legislaturperiode entsprechende
Anträge eingebracht worden sind -, dass die Verschreibungspflicht in diesem Fall aufgehoben wird. Es ist allerdings das erste Mal, dass wir Sozialdemokraten dies
in einer Großen Koalition mit der CDU/CSU fordern. Es
ist auch das erste Mal, dass uns eine Entschließung des
Bundesrates vorliegt, in der er fordert, die Verschreibungspflicht aufzuheben.
Über die Sicherheit der Pille danach wurde hier zu
Recht gesagt: Nebenwirkungen sind kaum bekannt. Das
sagen mittlerweile Wohlfahrtsverbände, das sagt pro familia, das sagen aber auch die Apotheker, viele Experten
und Expertinnen und mittlerweile auch - das freut mich
besonders - viele junge Frauen. Diese Diskussion ist
keine Diskussion nur der Experten und Expertinnen und
auch keine Diskussion mehr nur - in Anführungszeichen - altbackener Feministinnen. Nein, das ist eine von
vielen jungen Frauen in den sozialen Medien geführte
Diskussion. Es ist dennoch keine Frauendiskussion, sondern eine gesellschaftspolitische Diskussion- und das ist
gut so.
({1})
Seit 2003 erklärt der zuständige Sachverständigenausschuss für Verschreibungspflicht beim Bundesinstitut
für Arzneimittel und Medizinprodukte, es gebe keine
Gründe mehr für die Verschreibungspflicht. Dies wurde
vor ein paar Wochen noch einmal bestätigt. Warum also
hält das Ministerium an der Verschreibungspflicht fest?
Warum sollen wir als Große Koalition an der Verschreibungspflicht festhalten?
Für mich stellt sich aber auch noch eine andere Frage:
Darf das Ministerium überhaupt an der Verschreibungspflicht festhalten?
({2})
Das Parlament hat das Bundesministerium zwar dazu ermächtigt - ich verweise auf § 48 Abs. 2 des Arzneimittelgesetzes -, die Verschreibungspflicht für Arzneimittel
mit Zustimmung des Bundesrates durch Rechtsverordnung zu regeln. Das bedeutet aber nicht, dass willkürlich
gemacht werden kann, was dem einzelnen Politiker, der
einzelnen Politikerin, dem einzelnen Minister, der einzelnen Ministerin gefällt.
Man muss sich an Spielregeln halten.
({3})
Die Spielregeln lauten, dass die Verschreibungspflicht
aufzuheben ist, wenn keine wissenschaftlichen Gründe
für eine Verschreibungspflicht bestehen. Genau das hat
der Sachverständigenausschuss zu beurteilen. So wurde
es auch in § 53 AMG erwähnt. Wofür bräuchten wir
sonst eigentlich Sachverständigenausschüsse und Experten und Expertinnen, wenn deren Rat sowieso nicht
zählt?
({4})
Das Arzneimittelrecht nennt genau zwei Kriterien, unter
denen eine Verschreibungspflicht begründet ist: erstens eine
zu befürchtende signifikante Gesundheitsgefährdung und
zweitens, wenn ein häufiger Missbrauch des Medikaments nachzuweisen ist.
Für beide Kriterien trägt das Bundesgesundheitsministerium die Beweislast. Es muss nachweisen, dass die
Pille danach gefährlich für die Gesundheit der Frauen ist
und dass sie falsch eingenommen wird. Beides kann es
nicht.
({5})
Sie können nicht nachweisen, dass die Frauen nicht in
der Lage sind, das Medikament richtig zu nutzen, und
Sie können auch keine signifikante Gesundheitsgefahr
nachweisen.
Wir haben in der Anhörung genügend darüber diskutiert. Ich will mich hier nicht wiederholen.
Eine Verschreibungspflicht beinhaltet die Annahme,
dass die ärztliche Beratung immer besser ist als der Rat
und die Beratung in der Apotheke.
({6})
Das überzeugt mich nicht.
({7})
Eine Frau kann im Notfall sowohl in der Apotheke als
auch in der Arztpraxis oder im Krankenhaus gut oder
schlecht beraten werden. Wenn ich hier nur daran denke
- vorhin ist Bayern genannt worden -, dass der Bereitschaftsdienst in Bayern reduziert worden ist und in den
Notfallstationen häufig Orthopäden und sonstige Fachmediziner, aber auf keinen Fall Gynäkologen sitzen,
({8})
dann frage ich mich, ob das tatsächlich die fachmedizinische Beratung ist, die Sie hier stets bei der Pille danach
unterstellen.
({9})
Was macht den Orthopäden kompetent für eine gynäkologische Beratung? Das habe ich auch noch nicht verstanden.
({10})
Für die Verschreibungspflicht können nach dem Arzneimittelrecht keine politischen Gründe entscheidend
sein, und vor allen Dingen können politische Gründe
keinen Grundrechtseingriff rechtfertigen.
Aber wie gesagt: Ich will mich hier zurückhalten.
({11})
Wir werden ja auch im Ausschuss noch intensive Debatten führen.
Auf eines sei zum Abschluss hingewiesen. Es gibt
eine vergleichbare Situation im Ausland. In den USA
entschied im letzten Jahr ein Gericht den Streit zwischen
der amerikanischen Arzneimittelbehörde und der Politik.
Die Arzneimittelbehörde hatte seit langem die Freigabe
der Pille danach mit dem Namen „Plan B“ empfohlen,
aber die Politik bzw. das Gesundheitsministerium konnte
sich dazu nicht durchringen. Ein US-Bundesrichter entschied schließlich zugunsten der Freigabe des Medikaments bzw. der Aufhebung der Altersbeschränkung gegen den Willen des Gesundheitsministeriums.
({12})
Ich will nicht hoffen, dass wir wieder in die Situation
kommen, über diese Angelegenheit gerichtlich entscheiden zu lassen; denn wir sind das Parlament. Wir tragen
Verantwortung. Wir nehmen Verantwortung wahr.
({13})
Deswegen freue ich mich auf die lebhafte Diskussion im
Ausschuss. Ich freue mich auf die Überweisung. Ich
freue mich darüber, dass wir viele Aspekte diskutieren
werden.
Seien wir mutig. Werben wir auch für die Onlinepetition. Ich würde mich freuen, wenn diese vielfach unterschrieben würde.
Danke schön für Ihre Aufmerksamkeit.
({14})
Als letzter Rednerin in dieser Debatte erteile ich das
Wort der Kollegin Karin Maag, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Liebe Kollegin Rawert, ich finde es schön, dass Ihnen
die Große Koalition jeden Tag so viel Freude bereitet.
Uns auch.
({0})
Nichtsdestotrotz möchte ich die Diskussion vom
Kopf wieder auf die Füße stellen. Frau Kollegin Rawert,
hormonelle Verhütungsmittel, gemeinhin die Pille genannt, sind in Deutschland aus gutem Grund verschreibungspflichtig, weil sie nämlich Wirkungen und Nebenwirkungen haben.
({1})
Es gibt unterschiedliche Arten von Pillen mit unterschiedlichen Hormonen. Es gibt Risikofaktoren: HerzKreislauf-Probleme, Thromboserisiko, Übergewicht
usw.
({2})
Am Anfang, bevor ein Arzt eine Pille verschreibt,
steht jedenfalls ein Beratungsgespräch und die entsprechende Untersuchung. Wenn wir heute über die Entlassung von Levonorgestrel aus der Rezeptpflicht reden,
dann kommt mir eins viel zu kurz: Der Hormongehalt in
der Einzeldosis Levonorgestrel ist 50-mal höher als der
bei der sogenannten Minipille und etwa 10-mal höher als
der Gestagengehalt in der normalen Pille. Wir hören
auch auf Sachverständige. Professor Rabe hat dies in der
Anhörung letztes Jahr sehr deutlich hervorgehoben. Ich
jedenfalls meine, der Beratungsbedarf wird nicht geringer.
Jetzt will ich auf die Behauptung eingehen, die Erfahrungen in den anderen Ländern mit der Rezeptfreiheit
seien immer positiv. Das stimmt einfach nicht. In Großbritannien ist die Pille danach seit zwölf Jahren rezeptfrei. Die Abbruchraten sind um 7,7 Prozent gestiegen. In
Frankreich ist die Pille danach seit 1999 rezeptfrei. Die
Abbruchraten sind mehr als doppelt so hoch wie in
Deutschland. In Deutschland ist die Pille danach nicht
rezeptfrei, aber bei uns sinken die Abbruchraten seit
zehn Jahren kontinuierlich.
Die ärztlichen Fachverbände jedenfalls sehen den Beratungsbedarf und haben sich für den Erhalt der Rezeptpflicht ausgesprochen. Es gibt dann die Plattitüde, die
Frauenärzte würden ja an der Verordnung verdienen.
Das tun sie nicht. In jedem Bundesland bringt das den
Ärzten zwischen 19 und 22 Euro pro Quartal. Darin ist
die Beratung für die Notfallverhütung selbstverständlich
eingeschlossen.
Die Rezeptpflicht ist aus meiner Sicht notwendig,
weil nur so eine Beratung sichergestellt werden kann.
({3})
Frau Kollegin Maag, es gibt den Wunsch nach einer
Zwischenfrage oder Zwischenbemerkung der Kollegin
Schulz-Asche. Lassen Sie sie zu?
Ich will die Debatte nicht unnötig verlängern, Frau
Schulz-Asche. Sie hatten schon die Möglichkeit, hier
Ihre Ausführungen zu machen.
Die Rezeptpflicht ist notwendig. Ich will einfach,
dass verschiedene Aspekte berücksichtigt werden, wie
der, dass es zum Beispiel beim ungeschützten Geschlechtsverkehr in der Zeit des Eisprungs überhaupt nur
in 5,5 Prozent der Fälle zu einer Schwangerschaft
kommt. Das heißt, vielfach wäre die hormonelle Belastung durch die Pille danach gar nicht nötig. Mit der Einnahme von Levonorgestrel sinkt die Rate von 5,5 auf
3 Prozent. Verhindert werden also 40 bis 50 Prozent der
ungewollten Schwangerschaften, aber nur dann, wenn
das Präparat innerhalb von 24 Stunden eingenommen
wird. Danach sinkt die Sicherheit ab. Bei einem Körpergewicht von über 70 Kilogramm sinkt die Wirksamkeit
exorbitant. Darüber muss man meines Erachtens aufklären. Das ist umso nötiger, weil die ellaOne, also das Ulipristalacetat, mit 80 bis 85 Prozent verhinderter Schwangerschaften deutlich erfolgreicher ist. Sie wirkt bis zu
fünf Tagen nach dem ungeschützten Geschlechtsverkehr.
Das sicherste Mittel überhaupt zur Verhinderung einer ungewollten Schwangerschaft ist die Spirale, die als
Notfallkontrazeptiva gegeben werden kann. Sie kann bis
zu fünf Tage nach dem ungeschützten Geschlechtsverkehr eingelegt werden.
Sie sehen, das sind Dinge, über die man reden muss.
Das weiß die Patientin nicht ohne Weiteres.
Es geht uns sicher nicht darum, meine Damen und
Herren von den Linken und von den Grünen, das reproduktive Selbstbestimmungsrecht - das Wort ist fürchterlich - zu beschneiden.
({0})
Wir wollen mit der Rezeptpflicht zum einen den Weg in
die informierte Entscheidung erleichtern. Zum anderen
wollen wir vermeiden, dass sich viele Frauen, ohne womöglich bessere Alternativen der Notfallverhütung zu
kennen, auf das einfacher zugängliche, aber weniger
wirksame oder möglicherweise individuell weniger passende Produkt einlassen. Das hielte ich tatsächlich für
fatal.
Ich will noch auf den Sachverständigenausschuss eingehen, der im Übrigen - Frau Widmann-Mauz hat darauf hingewiesen - eine Beratung generell für notwendig hält. Das
BfArM hat mitgeteilt, dass es die sogenannte Anwendungssicherheit von Levonorgestrel für hoch hält. Das ist richtig.
Anwendungssicherheit heißt aber, dass das Produkt für die
Patientin leicht handhabbar ist und sie selbst etwa im
Hinblick auf Dosierung oder Portionierung keine Fehler
machen kann. Damit ist doch nicht darüber entschieden,
ob es andere bessere bzw. wirksamere Produkte für die
Patientin am Markt gibt.
({1})
Es ist ein isolierendes Risikoprofil. Das ist mir
schlicht nicht genug. Mir geht es allein um die Frage, ob
die Patientin gut oder am besten versorgt ist. Das entscheidet der Arzt.
({2})
Dass die Entscheidung natürlich auch im geschützten
Raum fallen muss, wurde schon mehrfach angesprochen.
Es geht dabei um Fragen wie: Ist der Geschlechtsverkehr
möglicherweise nicht einvernehmlich gewesen, mit allen
gesundheitlichen Folgen? Kann man da behilflich sein?
Das alles kann der Frauenarzt in seinen Räumen in Ruhe
mit der Patientin besprechen, aber sicher nicht der Apotheker,
({3})
dessen Kompetenz ich grundsätzlich schätze, in seiner
Apotheke, im Notfalldienst oder schlimmstenfalls durch
den Nachtrezeptschlitz. Das halte ich in diesen Fällen für
den falschen Weg.
Deshalb gibt es übrigens auch eine flächendeckende
ärztliche Versorgung. Sie ist bei uns noch flächendeckend. Ich verstehe den Ansatz, dass es um den ländlichen Raum geht und dass wir den guten Zugang zur Notfallverhütung erhalten müssen. Aber dabei hilft es nicht,
die Anforderungen herunterzuschrauben. Wir müssen
dafür Sorge tragen, dass wir die Versorgung hochhalten.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, nicht erwähnt
wurde bisher, dass Sie mit der Entlassung aus der Rezeptpflicht auch die Kostenübernahme durch die Kran1096
kenkassen aufs Spiel setzen. Auch würde das Werbeverbot entfallen.
({4})
All das berücksichtigen Sie nicht. Aus all diesen
Gründen bleibe ich dabei, dass die Rezeptpflicht für das
Levonorgestrel, die bestehen bleiben muss, sicher der
gute und richtige Weg ist.
Danke.
({5})
Ich gebe der Kollegin Kordula Schulz-Asche das
Wort zu einer Kurzintervention.
Frau Kollegin Maag, ich habe mich zu einer Zwischenfrage gemeldet, und Sie sehen, dass Sie keine Zeit
sparen, weil ich mich jetzt melde.
Ich möchte eine Anmerkung machen und Ihnen eine
ganz konkrete Frage stellen. Sie haben gesagt, es sei
letztendlich immer die Entscheidung des Arztes. Darin
möchte ich Ihnen ausdrücklich widersprechen. Wir sprechen hier über einen Bereich - die Pille danach -, in dem
es in erster Linie auf die Entscheidung der Frau ankommt.
({0})
Es kommt darauf an, dass die Frau selber die Entscheidung gut und kompetent treffen kann. Dazu braucht sie
Beratung; das wird nicht bestritten. Aber ich widerspreche ausdrücklich dem Eindruck, der von Ihrer Seite immer wieder versucht wird zu erwecken, dass mit der
Aufhebung der Verschreibungspflicht jegliche Beratung
entfällt.
({1})
Ich habe mich gemeldet, weil Sie - das haben Sie zusammen mit dem Kollegen Spahn schon in einer Pressemitteilung unterstrichen - einen Zusammenhang zwischen der Verschreibungspflicht bzw. der Rezeptfreiheit
der Pille danach und den Abtreibungsraten herstellen.
Ich frage Sie: Können Sie einen solchen Zusammenhang
beweisen? Geht die Abbruchrate in den Ländern, in denen die Verschreibungspflicht nicht mehr existiert, in die
Höhe, oder ist der Bedarf an Familienplanungsberatung
in vielen Ländern, in denen die Verschreibungspflicht
nicht mehr existiert, viel größer, wie etwa in Frankreich,
wo die Geburtenrate viel höher ist als in Deutschland?
({2})
Das spricht dafür, dass die Aufklärung von Frauen über
sexuelle Gesundheit und nicht eine Detailfrage, die in
Notfällen zu klären ist, entscheidend ist. Entscheidend
ist, dass es eine vernünftige Beratung junger Mädchen
und Frauen von der Schule an über das Elternhaus bis
hin zur Jugendhilfe gibt.
({3})
Sie versuchen, auf einem Nebenschauplatz den Eindruck
zu erwecken, mit der Pille danach werde abgetrieben.
Diesen falschen Vorwurf lasse ich nicht stehen.
({4}) - Jens Spahn [CDU/CSU]: Eine Unver-
schämtheit, was Sie da gesagt haben! Besser
genau lesen, bevor man hier loslegt!)
Liebe Kollegen, bleiben Sie entspannt.
Die Kollegin Maag muss nicht, darf aber antworten. Sie möchte es. Frau Kollegin Maag.
Liebe Frau Kollegin Schulz-Asche, darauf möchte ich
doch antworten. Meine erste Anmerkung ist: Ich habe
von einer informierten Entscheidung gesprochen. Ich
entscheide mich dann, wenn ich alle für eine Abwägung
relevanten Inhalte kenne, wenn ich das Für und Wider
einer Entscheidung kenne. Das will ich allen Frauen gewährleisten. Ich möchte keinen Schnellschuss, sondern
dass die Frauen informiert entscheiden.
({0})
Meine zweite Anmerkung ist: Ihre Interpretation meiner Aussagen bzw. der Pressemitteilung von Herrn
Spahn und mir weise ich entschieden zurück. Das ist absurd. Ich habe davon gesprochen, dass die Abtreibungsraten in Ländern, in denen die Pille danach - anders als
bei uns - rezeptfrei erhältlich ist, gestiegen sind. Ich
habe die entsprechende Statistik dabei und kann sie Ihnen gerne geben. Wenn Sie sie selber haben, dann weiß
ich nicht, warum Sie Ihre Frage gestellt haben.
({1})
Wir sind damit am Ende der Aussprache.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen auf
den Drucksachen 18/303 und 18/492 zur federführenden
Beratung an den Ausschuss für Gesundheit und zur Mitberatung an den Ausschuss für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend zu überweisen. Ich frage das Plenum:
Gibt es dazu andere Vorschläge? - Das ist nicht der Fall.
Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Monika
Lazar, Volker Beck ({0}), Marieluise Beck
({1}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Vizepräsident Peter Hintze
Menschen- und Bürgerrechte für Lesben,
Schwule, Bisexuelle und Transgender im
Sport wahren
Drucksache 18/494
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. - Es gibt dazu
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat als erste
Rednerin Kollegin Monika Lazar, Bündnis 90/Die Grünen.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Die Olympischen Spiele in Sotschi sind
in diesen Tagen im Fokus der Weltöffentlichkeit. Dabei
wird besonders bei den Anliegen von Lesben, Schwulen,
Bisexuellen und Transgendern deutlich: Es herrscht ein
himmelweiter Unterschied zwischen den hehren Zielen
der olympischen Bewegung, die in der Charta jede Form
von Diskriminierung verbietet, und den tatsächlichen
Zuständen in Russland.
({0})
Dort werden LGBT mit dem im letzten Jahr von der
russischen Duma einstimmig verabschiedeten Gesetz gegen die Propaganda nicht traditioneller sexueller Beziehungen vor Minderjährigen zu Pädophilen erklärt. Präsident Putin hat im Januar dieses Jahres gesagt, Schwule
seien bei Olympia willkommen, aber sie müssten nur die
Kinder in Ruhe lassen. Ein Skandal!
({1})
Der stellvertretende russische Ministerpräsident Dimitri
Kosak hat dies vor ein paar Tagen wiederholt. Da hätte
ich mir sowohl von deutscher als auch von internationaler Seite mehr Druck gewünscht.
({2})
Auch die Bundesregierung ist in der Pflicht. Der Innenminister ist der Ansicht, Olympische Spiele seien der
falsche Ort, um auf Menschen- und Bürgerrechtsstandards bei Sportgroßveranstaltungen zu drängen. Das waren seine Worte gestern im Sportausschuss.
({3})
Herr Minister, die Olympischen Spiele sind genau der
richtige Ort dafür.
({4})
Offenbar hat die Union kein Interesse an diesem Thema;
denn ansonsten hätte sie unseren Antrag aus der letzten
Wahlperiode zu diesem Thema nicht abzulehnen brauchen.
Sport und Politik sind untrennbar miteinander verbunden.
({5})
Leider tut sich aber auch der Sport sehr schwer bei diesem Thema. UN-Generalsekretär Ban Ki-moon hat sich
letzte Woche auf der IOC-Vollversammlung in Sotschi
gegen die Diskriminierung von LGBT gewandt. Er hat
das nicht umsonst vor diesem wichtigen Gremium der
internationalen Sportpolitik gesagt.
({6})
Die Botschaft ist klar: Es liegt auch in der Verantwortung des Sports, auf Missstände hinzuweisen und dafür
zu sorgen, dass die Werte der Olympischen Charta nicht
nur auf dem Papier gelten.
({7})
Wie Sie wissen, fahren Teile unserer Fraktion nicht zu
Olympia und zu den Paralympischen Spielen, weil wir
für diese Putin-Spiele nicht zur Verfügung stehen.
({8})
Solange nicht gewährleistet ist, dass wir uns mit kritischen Stimmen in Russland treffen können, macht eine
Reise aus unserer Sicht in diesem Zeitraum keinen Sinn;
denn die Menschen, die wir treffen möchten, bekommen
gar keinen Zugang zum olympischen Gelände, sitzen im
Gefängnis oder befinden sich im Exil.
({9})
- Das haben wir heute beim parlamentarischen Frühstück, an dem einige Kolleginnen und Kollegen teilgenommen haben, bestätigt bekommen.
Es ist zurzeit leider Realität: Nichtregierungsorganisationen sind potenzielle Spione, und Aktivistinnen und
Aktivisten werden wie Kriminelle behandelt.
({10})
Da das die Kolleginnen und Kollegen der anderen
Fraktionen anders sehen, bin ich sehr gespannt, was berichtet wird, wenn wir uns im Ausschuss zum Thema
„Sotschi und die Menschenrechtslage“ unterrichten lassen.
Homophobie ist eine Form von gruppenbezogener
Menschenfeindlichkeit. Wir müssen uns auch fragen, ob
wir nicht in Deutschland mehr tun können. Man klopft
sich auf die Schulter und ist stolz auf die Toleranz, wenn
sich eine Sportlerin oder ein Sportler outet. Im Alltag
wird aber immer noch viel zu wenig dagegen getan,
wenn das Wort „schwul“ für alle möglichen Abwertungen gebraucht wird, übrigens nicht nur auf dem Sportplatz.
Im April 2011 gab es eine Anhörung im Sportausschuss zum Thema „Homophobie im Sport“. Eines der
Ergebnisse war: Zu viele Sportlerinnen und Sportler beenden in Deutschland noch immer frühzeitig ihre Karriere wegen ihrer sexuellen Identität. Das ist ein Armutszeugnis für unsere Gesellschaft.
({11})
Wir müssen auch hinsichtlich der Programme der
Bundesregierung und des Bundestages mehr tun. Es gibt
zum Beispiel das Programm „Zusammenhalt durch Teilhabe“. Da fehlt zum Beispiel das Thema Homophobie
ganz. Auch im „Nationalen Konzept Sport und Sicherheit“ gibt es keinen ausdrücklichen Ansatz zur Prävention von Homophobie. Hier muss auch die Bundesregierung endlich den Handlungsbedarf erkennen. Auch
deshalb legen wir unseren Antrag heute zur Sofortabstimmung vor. Wir wollen ihn jetzt verabschieden, während die Weltöffentlichkeit nach Sotschi schaut. Bitte
stimmen Sie dem Antrag zu, und setzen Sie so ein Zeichen gegen Homophobie in Deutschland, in Russland
und in all den anderen Ländern.
Vielen Dank.
({12})
Als Nächstem erteile ich das Wort dem Kollegen
Eberhard Gienger, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
CDU/CSU-Fraktion spricht sich gegen jegliche Form
von Diskriminierung aus, sei es aufgrund sexueller
Orientierung, Herkunft, ethnischer Wurzeln, religiöser
Überzeugung oder auch politischer Einstellung. Homophobie, Fremdenfeindlichkeit und Extremismus treten
wir ganz entschlossen entgegen, sei es im Sport oder in
anderen gesellschaftlichen Bereichen.
Wie die vielen Initiativen des Deutschen FußballBundes oder auch des Deutschen Olympischen Sportbundes zeigen, trägt der Sport maßgeblich zu Toleranz,
Fairness, aber auch gegenseitiger Achtung bei. Dies gilt
für den Breitensport genauso wie für den Spitzensport.
Die deutsche Olympiamannschaft steht bei den Olympischen Winterspielen 2014 in Russland dahin gehend für
ein erfolgreiches, für ein offenes und auch für ein freiheitliches Land.
Bei dem Antrag der Grünen hat mich allerdings sehr
überrascht, dass sie eine inhaltliche Befassung des Sportausschusses offensichtlich ablehnen. Über den Antrag
soll stattdessen sofort abgestimmt werden, ohne dass
man sich damit im Ausschuss tiefergreifend beschäftigen kann.
({0})
Das angestrebte Vorgehen der Grünen spricht hier für
sich. Man gewinnt offenbar den Eindruck - das wundert
mich bei den Grünen ohnehin -, dass man fast scheut,
eine inhaltliche Diskussion darüber zu suchen.
({1})
Man versucht stattdessen, sich mit einem Scheinantrag
in eine besondere Position zu rücken. Die Ernsthaftigkeit
Ihrer Initiative geht mir dabei völlig verloren.
({2})
Dabei ist dieses Thema auf der Tagesordnung. Es ist
wichtig, und es ist so weitreichend, dass man eine Befassung im Ausschuss eigentlich durchführen sollte.
({3})
Ich darf sagen: Auch die vielen Fehler in Ihrem Antrag
zeigen zudem, wie komplex die ganze Sachlage wirklich
ist, insbesondere dann, wenn man noch die internationale Ebene heranzieht. Aber lieber bringen die Grünen
in Deutschland einen Scheinantrag ein, als sich in Russland für die Verbesserung der Situation direkt einzusetzen.
({4})
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Grünen, niemand
hält Sie davon ab, nach Sotschi zu reisen und dort Ihre
Kritik anzubringen.
({5})
Ihr vorgetäuschtes Interesse wird der Bedeutung von
Menschen- und Bürgerrechten nicht gerecht. Durch diesen Scheinantrag verspielen Sie, zumindest bei mir, Ihre
Glaubwürdigkeit. Sie fordern die Bundesregierung in Ihrem Antrag auf, die Lage vor Ort zu beobachten und sich
durch politische Gespräche sowie durch diplomatisches
Geschick für Menschenrechte einzusetzen. Was machen
Sie aber selber? Von Ihren Möglichkeiten machen Sie
keinen Gebrauch. Wie passt das zusammen?
Zudem läuft Ihr Antrag der Wirklichkeit hinterher.
Ich möchte an dieser Stelle nur wenige Beispiele nennen. Im Bereich Diversity verfügen der DOSB und der
DFB über Mitarbeiterstellen, die genau dieses Thema,
nämlich Homophobie, bearbeiten. Derzeit wird vom
DOSB ein neues Fortbildungsmodul entwickelt, um in
der Breite die Vereine für dieses Thema zu sensibilisieren. Die Bundesstiftung Magnus Hirschfeld wird sich
zudem ab Mai 2014 mit dieser Thematik beschäftigen.
Schließlich spricht sich der DFB in seiner Berliner Erklärung eindeutig gegen jegliche Form der Diskriminierung aus. Er hat sich dadurch auch eine wunderbare
Handreichung erarbeitet.
Auch im internationalen Feld engagiert man sich vorbildlich. Ich finde, der DOSB hat sich bereits weit vor
den Olympischen Spielen mit Human Rights Watch und
auch mit dem Lesben- und Schwulenverband in
Deutschland zusammengetan. Er hat sich auch hier klar
positioniert und ist mit seinen Athletinnen und Athleten
in einen Dialog getreten.
Außerdem hat sich die Bundesregierung hier ebenfalls klar positioniert. Auf der UNESCO-WeltsportmiEberhard Gienger
nisterkonferenz in Berlin hat man die Menschen- und
Bürgerrechte auf höchster Ebene sehr eindeutig unterstützt. Bei der Erarbeitung Ihres Antrags habe ich den
Eindruck - das muss ich offen zugestehen -, dass man
sich nicht einmal die Mühe gemacht hat, zu prüfen, was
bereits alles unternommen wird.
Wir werden uns dafür einsetzen, dieses Thema in angemessener Form im Sportausschuss noch einmal zu diskutieren. Ergänzend zu den Maßnahmen der Bundesregierung werden wir prüfen, wie man hierzulande und im
internationalen Rahmen die Menschen- und Bürgerrechte im Sport und durch den Sport weiter stärken kann.
({6})
Ihren Antrag werden wir selbstverständlich ablehnen.
({7})
Als Nächstem erteile ich das Wort dem Kollegen
Dr. André Hahn, Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lassen
Sie auch mich gleich zu Beginn feststellen: Die Linke
lehnt Homophobie, lehnt jede Form von Diskriminierung Homosexueller mit aller Entschiedenheit ab, egal
ob in Deutschland, in Russland oder anderswo auf der
Welt.
({0})
Deshalb teilen wir auch das Grundanliegen des Antrags,
über den wir jetzt hier debattieren. Im Übrigen haben
nicht zuletzt die Debatten nach dem mutigen Outing von
Thomas Hitzlsperger gezeigt, dass wir auch in Deutschland durchaus noch Nachholbedarf haben und Homosexualität längst nicht als Normalität angesehen wird.
Anlass für den Antrag der Grünen - Sie haben es gesagt - sind offensichtlich die gegenwärtig in Sotschi laufenden Olympischen Winterspiele. Die Linke hält es für
absolut legitim, kritikwürdige Zustände in Menschenrechts- oder Demokratiefragen auch im Zusammenhang
mit Sportgroßereignissen zu thematisieren, wie sie derzeit in Russland stattfinden.
({1})
Zugleich - das füge ich hinzu - haben wir alle eine gemeinsame Verantwortung dafür, dass weder das berechtigte Anliegen noch die Sportlerinnen und Sportler politisch instrumentalisiert werden.
Um nicht missverstanden zu werden: Die Situation
Homosexueller und die gesetzlichen Regelungen in
Russland sind völlig inakzeptabel; die Gewalt gegen
Lesben und Schwule, gegen Bisexuelle und Transgender
nimmt leider weiter zu, was auch auf das heftig umstrittene Gesetz gegen die „Propaganda nichttraditioneller
sexueller Beziehungen“ zurückzuführen ist. Die Forderung der Linken ist ganz klar: Dieses Gesetz sollte
schnellstmöglich zurückgenommen werden.
({2})
Wir sprechen die Probleme bei unseren politischen
Gesprächen in der Duma oder bei anderen Treffen in
Russland immer wieder an. Auch hier gilt: besser miteinander als übereinander reden, zum Beispiel auch im
Rahmen der Olympischen Spiele oder der Paralympics.
Das geht natürlich nur, wenn man vor Ort ist und sich
nicht selbst aus dem Rennen nimmt.
({3})
Ich werde nach Sotschi fahren. Die Grünen haben sich
anders entschieden, was ich bedaure.
Ich persönlich - das will ich sagen - habe schon die
wechselseitigen Boykotte der Sommerspiele von 1980 in
Moskau und 1984 in Los Angeles für falsch gehalten.
({4})
Boykotte bringen wenig bis gar nichts; sie schaden aber
immer, in jedem Fall dem Sport. Ich habe in der aktuellen Mediendiskussion manchmal den Eindruck, dass die
sportlichen Leistungen der Athletinnen und Athleten, die
bei Olympia vielleicht den Höhepunkt ihrer Laufbahn
erleben, bisweilen in den Hintergrund geraten. Ich finde,
das haben die Sportler nicht verdient.
({5})
Meine Damen und Herren, man kann an den Winterspielen in Russland zu Recht vieles kritisieren, angefangen von den Umweltzerstörungen und ausufernden Kosten bis hin zu Menschenrechtsfragen. Doch all das traf in
den letzten 20 Jahren in unterschiedlicher Ausprägung
auch auf andere Austragungsorte zu, ohne dass darüber
im Bundestag so intensiv diskutiert wurde wie jetzt.
({6})
Hier gilt offenbar zweierlei Maß.
Der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen benennt
zwölf Punkte, von denen wir viele unterstützen können.
Bei einigen haben wir aber zumindest Fragen. So wird
unter Punkt 10 gefordert, dass anstelle von Regierungsmitgliedern eine Delegation mit homosexuellen Athleten
nach Sotschi geschickt werden soll. Wie ist das hier eigentlich mit der Selbstbestimmung der Sportler und auch
der Regierung, von der Sie im Punkt 11 dann aber fordern, dem Bundestag nach den Spielen über die menschenrechtliche Lage in der Region um Sotschi zu berichten?
Der Sportausschuss hat ohnehin geplant, darüber zu
reden; Herr Gienger hat darauf hingewiesen. Meine Kollegin Katrin Kunert, die während der Eröffnungsfeier
mit der Regenbogenfahne im wahrsten Sinne des Wortes
Flagge gezeigt hat, und auch ich selbst werden dann gern
unsere Eindrücke in die Debatte einbringen.
({7})
Vizepräsident Peter Hintze
Herr Präsident, lassen Sie mich zum Schluss kommen. - Das Anliegen der Grünen ist unbestritten wichtig.
Umso bedauerlicher ist es, dass sie heute eine Sofortabstimmung haben wollen, anstatt eine Debatte in den
Ausschüssen zu ermöglichen, an deren Ende als Ergebnis vielleicht eine von allen Fraktionen getragene Beschlussempfehlung an den Bundestag hätte stehen können.
({8})
Ich sage aber auch: Da wir wissen, dass die von Homophobie und Ausgrenzung Betroffenen für derartige Verfahrensstreitigkeiten wenig Verständnis haben, sondern
klare politische Zeichen erwarten, werden wir trotz unserer Bedenken dem vorliegenden Antrag zustimmen.
Herzlichen Dank.
({9})
Das war die erste Rede des Kollegen Dr. André Hahn
im Deutschen Bundestag. Wir gratulieren ihm dazu.
({0})
Als Nächstem erteile ich das Wort dem Kollegen
Detlev Pilger, SPD-Fraktion.
({1})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Viele Ereignisse der letzten Wochen haben
gezeigt, dass wir beim Thema Homosexualität noch weit
von Normalität entfernt sind. Ganz deutlich wurde dies
- es wurde eben schon angesprochen - beim Comingout von Thomas Hitzlsperger. Zunächst möchte ich an
dieser Stelle betonen, dass ich den Mut von Thomas
Hitzlsperger bewundere. Ich habe großen Respekt vor
seiner Entscheidung. Gleichwohl muss man feststellen:
Auch Thomas Hitzlsperger als ehemaliger Nationalspieler wagte diesen Schritt erst, als er kein aktiver Sportler
mehr war. Daran kann man erkennen, wie groß der
Druck sein muss, der vor allen Dingen in den Stadien
ausgeübt wird. Thomas Hitzlsperger hat genau auf dem
Schirm gehabt, dass er, wenn er sich schon früher als
Schwuler geoutet hätte, denunziert und im Stadion plattgemacht worden wäre. Er hätte den Schmähungen wahrscheinlich auf Dauer nicht standgehalten.
({0})
In den Medien - auch das ist ein Zeichen dafür, wie
außergewöhnlich so ein Schritt noch bewertet wird - beherrschte das Outing von Thomas Hitzlsperger tagelang
die Schlagzeilen. Die Tagespresse wurde ständig gefüttert mit Nachrichten darüber, und es gab eigene Talkshows dazu. Daran sieht man, wie außergewöhnlich dieses Thema noch ist, wie weit wir noch von Normalität
entfernt sind und wie viel wir noch dafür tun müssen,
dass sich Schwulsein als Normalsein etabliert.
({1})
Gerade in klassischen Männersportarten - Fußball ist
ja nach wie vor eine, obwohl die Fußballerinnen international durchaus erfolgreicher sind -,
({2})
passt Schwulsein nicht ins Klischee einer immer noch
starken Fankultur. Häufig ist es nur ein kleiner Teil der
Fans, der diese Stimmung schürt. In den Stadien kann
bzw. wird diesen jedoch nicht deutlich widersprochen
werden.
Es stellt sich die Frage: Was können wir tun, um diese
leidvolle Situation zu verändern und mehr Toleranz und
Vielfalt zu erreichen? Zunächst habe ich über meine eigene Sportlertätigkeit nachgedacht. Statistisch gesehen
müsste ja von elf Spielern einer schwul sein. Das hat
mich zum Nachdenken darüber gebracht, wer von meinen Sportskameraden im Laufe meines 50-jährigen Fußballerdaseins unter dieser Situation gelitten haben mag.
({3})
Erfreulicherweise - das wurde angedeutet - gibt es
Initiativen von einzelnen Vereinen, Verbänden und
Fangruppen. Jedoch könnte gerade hier das verstärkte
Gespräch mit den unterschiedlichen Fangruppen ein
vielversprechender Ansatz sein. Sportfunktionäre, Verantwortliche in Vereinen, Trainer und Spieler müssen
hier deutliche Zeichen setzen. Sowohl der DFB als auch
das NOK bemühen sich, für mehr Toleranz und Respekt
zu werben und Brücken zu bauen zwischen Menschen
unterschiedlicher Herkunft, unterschiedlichem Aussehen
und unterschiedlicher sexueller Veranlagung. Als beispielhaft dürfen an dieser Stelle die Berliner Vereine
Hertha BSC, Türkiyemspor und Tennis Borussia Berlin
genannt werden, die durch ihr Engagement bereits eine
deutlich höhere Akzeptanz von Schwulen und Lesben in
ihren Vereinen erreicht haben.
({4})
In der Fortbildung von Trainern und Übungsleitern
müsste stärker auf das Thema Homosexualität eingegangen werden. Es müsste möglichst früh ein Gespräch mit
den jungen Sportlerinnen und Sportlern geführt werden.
Diese Ansätze, liebe Kolleginnen und Kollegen, müssen
jedoch dringend ausgebaut, also stärker unterstützt und
finanziert werden. Eine Sensibilisierung der Öffentlichkeit für dieses Thema sollte dringend erfolgen. Hier
wäre besonders der Bereich Bildung gefordert. Bereits
bei der Lehrerausbildung sollte Homosexualität eine
stärkere Berücksichtigung finden.
({5})
In Lehrplänen dürfte Sexualerziehung kein Randthema
sein, sondern müsste fester Bestandteil eines interdisziplinären Lernens werden. Fächer wie Biologie, Deutsch,
Sozialkunde, Ethik und Religion böten sich hier besonders an. Aber auch im Sportunterricht sollten Homosexualität sowie differenzierte Sportleistungen unbedingt
behandelt werden.
Vizepräsident Peter Hintze
({6})
Meine Erfahrungen als Lehrer an einer sehr großen
berufsbildenden Schule haben gezeigt, dass es zunehmend eine stärkere Akzeptanz von Homosexualität gibt,
aber gleichermaßen auch noch viele Vorurteile. Das
macht sich häufig an Schimpfwörtern fest. So wird zum
Beispiel ein schlecht gespielter Fußballpass zu einem
„schwulen Pass“ oder eine schlechte Zeugnisnote zu einer „schwulen Note“. Das ist diskriminierend, menschenverachtend und tut weh.
({7})
Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, auch die Politik könnte deutlichere Signale senden, damit Homosexualität als normal bewertet wird.
({8})
Wir sollten uns nicht von der Justiz treiben lassen, um
die Gleichstellung voranzubringen. Es besteht meiner
Meinung nach dringender Handlungsbedarf beim Adoptionsrecht und bei der Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare.
({9})
Zumal man für eingetragene Lebenspartnerschaften
zwar bereits gleiche Pflichten, jedoch keine gleichen
Rechte manifestiert hat. Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie uns dies doch gemeinsam tun. Lassen Sie
uns in wesentlichen Fragen, in denen es um Menschenrechte, um Bürgerrechte oder um ethische Dinge geht,
doch bitte gemeinsam handeln. Ich glaube, es tut unserem Hohen Hause gut, das gemeinsam nach außen zu
tragen.
({10})
Rechtsverletzungen wie etwa in Russland oder in der
arabischen Welt dürfen bei Staatsbesuchen nicht unkommentiert bleiben, wenn wir glaubwürdig für Normalität
und Respekt im Umgang mit Homosexualität im Sport
und in der Gesellschaft eintreten wollen.
Ich würde gerne schließen mit einem Zitat eines von
den meisten von uns bewunderten Mannes, des Heiligen
Vaters Papst Franziskus. Als er in einem Interview zu
seiner Einstellung zur Homosexualität befragt wurde,
sagte der Papst wörtlich:
Wenn jemand … Gott sucht und guten Willens ist,
wer bin ich, um über ihn zu richten?
Lassen Sie uns in diesem Sinne gemeinsam alles tun,
um für die Gleichstellung von homosexuellen Menschen
hier und international zu sorgen.
({11})
Beim Antrag von Bündnis 90/Die Grünen fragen wir
uns: Warum haben Sie dieses eilige Prozedere gewählt?
Ich hatte als Berichterstatter erst am Mittwochmorgen
die Vorlage auf dem Tisch. Wir hatten keine Möglichkeit
mehr, in der Fraktion darüber zu sprechen. Ein solch
wichtiges Thema braucht mehr Zeit, muss fundiert angegangen werden. Ich bin einer etwas anderen Meinung als
der geschätzte Kollege Eberhard Gienger. Ich sehe in Ihrem Antrag viele gute Ansätze. Er erfolgte aber leider im
Hauruckverfahren. Von daher können wir dem Antrag
leider nicht zustimmen. Wir legen eine eigene Vorlage
vor.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({12})
Das war die erste Rede des Kollegen Detlev Pilger im
Deutschen Bundestag. Dazu wollen wir ihm alle herzlich
gratulieren.
({0})
Nun erteile ich das Wort unserem Kollegen Dr. Frank
Steffel, CDU/CSU-Fraktion.
({1})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe den Eindruck, das Ziel eint alle vier Fraktionen und beim Weg
sind sich drei Fraktionen weitestgehend einig. Lediglich
die antragstellende Fraktion ist der Auffassung, dass der
Boykott von Sportveranstaltungen zielführend ist.
({0})
Mein Eindruck ist, dass Boykott nicht zielführend ist,
sondern dass wir gut beraten sind, sowohl unsere Sportlerinnen und Sportler zu solchen Veranstaltungen zu
schicken, egal ob es Olympische Spiele oder Weltmeisterschaften sind, als auch auf politischer Ebene - nicht
nur, aber eben auch - während Olympischer Spiele miteinander zu reden.
({1})
Im Übrigen haben Sie, liebe Frau Lazar, gestern
Herrn Bundesminister de Maizière anders erlebt als die
große Mehrheit des Ausschusses. Er hat sich sehr differenziert zu dem geäußert, was er jetzt in den zwei Tagen
in Sotschi tun wird.
({2})
Vizepräsident Peter Hintze
Er hat sehr klar Position bezogen. Nur gibt es eben auch
einen Tag danach. Es muss auch nach Sotschi möglich
sein, dass Politikerinnen und Politiker aus Deutschland
und Russland über streitige Fragen, aber vielleicht auch
über die vielen Fragen, in denen Einigkeit herrscht, miteinander diskutieren und sprechen können.
({3})
Er hat wörtlich gesagt, dass er sich in Russland natürlich
auch mit Menschenrechtsgruppen und Regimekritikern
trifft, aber er der Auffassung ist, dass das ohne Scheinwerferlicht zielführender ist als vor Scheinwerfern. Ich
glaube, er hat politisch recht. Er wird wahrscheinlich in
der Sache mehr bewegen als manch schrilles Argument,
das wir über die Zeitungen austauschen.
({4})
- Frau Roth, ich will mit Ihnen gar keinen Disput führen,
weil ich - das sage ich noch einmal - den Eindruck
habe: Das Ziel eint. Ich bin gespannt, wie Sie sich als
Person, die sich ja im Deutschen Fußball-Bund an herausgehobener Stelle engagiert, bei der Weltmeisterschaft in Moskau verhalten. Das wird eine der nächsten
großen Fragen sein.
({5})
- Sie fahren hin?
({6})
- Dass Sie sich damit beschäftigen, davon gehe ich aus.
Wir beschäftigen uns alle damit. Die entscheidende
Frage ist doch: Fahren Sie hin, oder fahren Sie nicht hin?
Die entscheidende Frage ist doch: Schickt der Deutsche
Fußball-Bund, in dem Sie mitarbeiten, die deutsche Nationalmannschaft nach Moskau oder nicht?
Ich habe die Spiele 1980 als junger Mann erlebt. Wie
traurig war ich, dass deutsche Sportlerinnen und Sportler
in Moskau nicht teilgenommen haben!
({7})
Ich habe die Spiele 1984 erlebt, bei denen ich den Eindruck hatte, dass es nordamerikanisch-europäische
Meisterschaften waren, weil der gesamte Ostblock in
Los Angeles nicht teilgenommen hat. Ich möchte das
nicht mehr erleben. Ich glaube, es ist auch gut, dass solche Zeiten schon 30 Jahre vorbei sind.
({8})
Im Übrigen müssen wir dann über die Kriterien reden.
Natürlich können wir vieles am deutschen und am europäischen Maßstab messen. Es ist toll, was wir beispielsweise im Bereich Homosexualität erreicht haben. Auch
wir hatten vor einigen Jahrzehnten noch Gesetze, die anders waren als die heutigen.
Meine Damen und Herren, in über 70 Ländern dieser
Erde ist Homosexualität per Gesetz verboten. Ist unsere
Antwort darauf, dass in diesen 70 Ländern keine Weltmeisterschaften und keine Olympischen Spiele stattfinden dürfen? In 57 Ländern dieser Erde gibt es die Todesstrafe. Ist das nicht auch ein Kriterium, um nach unserem
Wertemaßstab zu sagen: „Das ist nach unserer Auffassung mit Menschen- und Bürgerrechten eigentlich nicht
zu vereinbaren“?
({9})
Übrigens, meine Damen und Herren von den Grünen,
über Frauenrechte müssen wir gar nicht reden. Es gibt
ganz wenige Länder dieser Erde, die solche Frauenrechte - Gott sei Dank! - wie wir in Deutschland und
weiten Teilen von Mitteleuropa haben. Wie wir alle wissen, ist es schon in Teilen von Europa anders.
({10})
Lassen Sie uns dafür werben, dass unsere Maßstäbe
auch anlässlich solcher Großveranstaltungen diskutiert
werden. Ich bin mir übrigens sehr sicher, dass die Regimekritiker in Russland nicht freigekommen wären,
egal ob es Oligarchen, Musiker, Punkbands oder Mädchen sind, die ein bisschen über die Stränge geschlagen
haben. Ich glaube, sie sind freigekommen, weil die
Olympischen Spiele in Sotschi stattfinden und weil Putin
wusste, dass die Welt ein Signal erwartet. Vielleicht ist
auch dies ein positives Beispiel von Olympischen Spielen.
({11})
Über eines sollten wir sehr leidenschaftlich reden: In
Katar, in einem der reichsten Länder der Erde, sterben
jedes Jahr 200 Wanderarbeiter, weil das Regime nicht in
der Lage ist, den Menschen Essen und Trinken zu geben.
Das ist ein wirklicher Skandal, der energisch kritisiert
und sofort abgestellt werden muss.
({12})
Das ist ein Riesenskandal: protzige Spiele veranstalten
und die Ärmsten der Armen verhungern lassen.
Ich will noch eines zum Thema Sport sagen, Frau
Lazar. Ich glaube, wir sollten den Sport nicht überfordern. Unsere Sportlerinnen und Sportler sind keine
Diplomaten,
({13})
sondern sie wollen Leistungen im Sport erbringen. Unsere Sportlerinnen und Sportler sind in Sotschi, damit
wir über ihre Leistungen reden. Und jeder einzelne kann
Vizepräsident Peter Hintze
entscheiden, was er sonst zu welchem Thema der Welt
sagt und beiträgt. Die Politik ist gut beraten, unsere
Sportlerinnen und Sportler zu unterstützen.
Ich glaube, dass Russland nach Sotschi ein bisschen
anders sein wird. Peking war übrigens nach den Olympischen Spielen auch ein bisschen anders. Ich werde nicht
vergessen, als im Sportausschuss ein Vertreter der Behindertenorganisationen gesagt hat, dass wenigstens eins
von Peking übrig geblieben ist: Das Bild von Behinderten in China hat sich durch die Paralympics dramatisch
positiv verändert. Wenn es nur ein kleiner Funke ist, ist
es zumindest ein Funke, auf den wir als CDU/CSU nicht
verzichten möchten. Wir möchten nicht, dass Olympische Spiele nur noch in Europa und in Nordamerika
stattfinden, sondern wir möchten, dass sie überall stattfinden. Dann werben wir für unsere Werte und sehen zu,
dass unsere Sportlerinnen und Sportler trotzdem mit unserer Unterstützung dort hinfahren können.
Herzlichen Dank und schönen Abend!
({14})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/494
mit dem Titel „Menschen- und Bürgerrechte für Lesben,
Schwule, Bisexuelle und Transgender im Sport wahren“.
Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? Wer enthält sich? - Dann ist der Antrag mit den Stimmen von CDU/CSU und SPD gegen die Stimmen von
Bündnis 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke abgelehnt.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 14. Februar 2014,
9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.