Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 2/13/2014

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nehmen Sie bitte Platz. Die Sitzung ist eröffnet. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich begrüße Sie alle herzlich. Ich habe einige amtliche Mitteilungen vorzutragen, bevor wir in unsere Tagesordnung eintreten. Seit der letzten Sitzungswoche haben die Kollegen Helmut Heiderich und Dr. Michael Fuchs ihren 65. Geburtstag und der Kollege Dr. Peter Ramsauer seinen 60. Geburtstag gefeiert. Allen genannten Kollegen gelten noch einmal auch auf diesem Wege unsere herzlichen Glückwünsche für das neue Lebensjahr. ({0}) Der Kollege Sebastian Edathy hat mit Ablauf des 6. Februar 2014 auf seine Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag verzichtet. Für ihn ist die Kollegin Gabriele Groneberg nachgerückt. Auch sie möchte ich im Namen des Hauses begrüßen. ({1}) Sie hat bereits in früheren Legislaturperioden dem Bundestag angehört. Wir wünschen uns ein nahtloses Anknüpfen an die damalige gute Zusammenarbeit. Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, haben wir auch heute noch einige Wahlen durchzuführen. Die Fraktion der CDU/CSU schlägt vor, dass im Verwaltungsrat der Deutschen Nationalbibliothek als Nachfolger für den Kollegen Dr. Günter Krings der Kollege Ansgar Heveling als ordentliches Mitglied gewählt wird. Die SPD-Fraktion schlägt für das gleiche Gremium als Nachfolger der Kollegin Brigitte Zypries den Kollegen Burkhard Blienert als stellvertretendes Mitglied vor. Sind Sie mit diesen Vorschlägen einverstanden? - Das ist offenkundig der Fall. Dann sind der Kollege Heveling und der Kollege Blienert als Mitglied und stellvertretendes Mitglied des Verwaltungsrates bestellt. Als Nächstes schlägt die Fraktion der CDU/CSU für das Kuratorium der Stiftung „Deutsches Museum“ vor, für den Kollegen Marco Wanderwitz als ordentliches Mitglied den Kollegen Ansgar Heveling - schon wieder ({2}) und als dessen Nachfolger als stellvertretendes Mitglied den Kollegen Dr. Philipp Lengsfeld zu wählen. Als weiteres stellvertretendes Mitglied soll die Kollegin Dr. Herlind Gundelach für die Kollegin Monika Grütters gewählt werden. Jeder erfahrene Zuhörer stellt fest, dass es sich hier regelmäßig um das Auswechseln von jetzt der Bundesregierung angehörenden Kolleginnen und Kollegen durch Mitglieder aus den Fraktionen handelt. Die Fraktion der SPD schlägt für dieses Gremium vor, für den ausgeschiedenen Kollegen Wolfgang Thierse als ordentliches Mitglied die Kollegin Dr. Eva Högl und als deren Nachfolgerin als stellvertretendes Mitglied die Kollegin Hiltrud Lotze zu wählen. Als weiteres stellvertretendes Mitglied soll hier die Kollegin Christina Jantz für die Kollegin Aydan Özoğuz gewählt werden. Schließlich schlägt die Fraktion Die Linke vor, als ordentliches Mitglied des Kuratoriums für den ausgeschiedenen Kollegen Reiner Deutschmann die Kollegin Sigrid Hupach und als stellvertretendes Mitglied die Kollegin Petra Pau für den ebenfalls ausgeschiedenen Kollegen Patrick Kurth zu wählen. Können Sie sich auch das alles so vorstellen? - Das ist der Fall. Dann sind die gerade genannten Kollegen und Kolleginnen für das genannte Kuratorium gewählt. Für den Stiftungsrat der „Härtefall-Stiftung“ schlägt die Fraktion der CDU/CSU vor, als Nachfolger für den ausgeschiedenen Kollegen Ernst-Reinhard Beck den Kollegen Ingo Gädechens zu wählen. Die SPDFraktion schlägt als Nachfolger für den aus diesem Gremium ausgeschiedenen Kollegen Ullrich Meßmer den Kollegen Dr. Karl-Heinz Brunner vor. Auch hierzu würde ich gerne Ihr Einvernehmen feststellen. - Das ist erkennbar der Fall. Die Fraktion der CDU/CSU schlägt vor, als Nachfolgerin für die aus dem Beirat der Stiftung Datenschutz ausgeschiedene Kollegin Rita Pawelski die Kollegin Mechthild Heil zu wählen, und die SPD-Fraktion Präsident Dr. Norbert Lammert schlägt vor, als Schriftführer für den Kollegen SteffenClaudio Lemme den Kollegen Stefan Zierke zu wählen. - Auch da besteht offensichtlich Einvernehmen. Damit sind die gerade genannte Kollegin und der gerade genannte Kollege für die genannten Funktionen bestellt. Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern: ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion DIE LINKE Haltung der Bundesregierung zur strafbefreienden Selbstanzeige bei Steuerhinterziehung ({3}) ZP 2 Unterrichtung durch die Bundesregierung Fortschrittsbericht zur Lage in Afghanistan Drucksache 18/466 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss ({4}) Innenausschuss Verteidigungsausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ZP 3 Beratung der Antrags der Fraktionen der CDU/ CSU und SPD Änderung der Geschäftsordnung zur besonderen Anwendung der Minderheitenrechte in der 18. Wahlperiode Drucksache 18/481 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung ZP 4 Wahl der Mitglieder des Beirats bei der Bundesnetzagentur für Elektrizität, Gas, Telekommunikation, Post und Eisenbahnen Drucksache 18/491 ZP 5 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Haltung der Bundesregierung zur Forderung der bayrischen Staatsregierung nach einem Moratorium für den Ausbau der Stromnetze ZP 6 Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/ CSU und SPD Einsetzung eines Untersuchungsausschusses Drucksache 18/483 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung ({5}) ZP 7 Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und SPD eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des Abgeordnetengesetzes und eines … Gesetzes zur Änderung des Europaabgeordnetengesetzes Drucksache 18/477 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung ({6}) Haushaltsauschuss mitberatend und gemäß § 96 der GO ZP 8 Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und SPD eingebrachten Entwurfs ei- nes … Strafrechtsänderungsgesetzes - Erwei- terung des Straftatbestandes der Abgeordne- tenbestechung Drucksache 18/476 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz ZP 9 Erste Beratung des von der Fraktion BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Übereinkommen der Ver- einten Nationen gegen Korruption Drucksache 18/478 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, so- weit erforderlich, abgewichen werden. Der für morgen früh vorgesehene Tagesordnungs- punkt 13 wird abgesetzt. Stattdessen sollen als Zusatz- punkte die Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Abgeordnetengesetzes und des Europaab- geordnetengesetzes auf Drucksache 18/477 und damit verbunden die Beratung des Entwurfs eines Strafrechtsän- derungsgesetzes auf Drucksache 18/476 sowie der Ent- wurf eines Gesetzes zum Übereinkommen der Vereinten Nationen gegen Korruption auf Drucksache 18/478 auf- gerufen werden. Als Debattenzeit sind dafür 60 Minuten vorgesehen. Darf ich auch für diese Änderung der Tages- ordnung Ihr Einvernehmen feststellen? - Das ist so. Dann haben wir das so beschlossen. Wir kommen nun zum Tagesordnungspunkt 3 a bis 3 d: a) Abgabe einer Regierungserklärung durch den Bundesminister für Wirtschaft und Energie Soziale Marktwirtschaft heute - Impulse für Wachstum und Zusammenhalt b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Jahreswirtschaftsbericht 2014 der Bundesregierung Drucksache 18/495 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Energie ({7}) Finanzausschuss Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für Tourismus Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsauschuss Präsident Dr. Norbert Lammert c) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Jahresgutachten 2013/14 des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung Drucksache 18/94 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Energie ({8}) Finanzausschuss Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für Tourismus Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsauschuss d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kerstin Andreae, Oliver Krischer, Katharina Dröge, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Wettbewerbsfähigkeit durch Innovation und Zukunftsinvestitionen sichern Drucksache 18/493 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Energie Zu der Regierungserklärung liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklärung 96 Minuten vorgesehen. - Auch das findet offenkundig Ihre Zustimmung. Dann haben wir das so vereinbart. Das Wort zur Abgabe der Regierungserklärung hat der Bundesminister für Wirtschaft und Energie, Sigmar Gabriel. ({9})

Sigmar Gabriel (Minister:in)

Politiker ID: 11003755

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Deutschland besitzt ein Erfolgsmodell für eine langfristig ökonomisch und sozial nachhaltige Entwicklung: das Modell der sozialen Marktwirtschaft. Dazu gehört beides: innovative, wettbewerbsfähige Unternehmen mit Unternehmerinnen und Unternehmern, die zu einer höheren Investitionsquote beitragen, und gute Löhne, die der Inflation und der Produktivität Rechnung tragen und den Spielraum für den Wohlstandszuwachs der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ausschöpfen. Der Jahreswirtschaftsbericht 2014 will die Aufmerksamkeit auf dieses deutsche Erfolgsmodell soziale Marktwirtschaft richten, das sich nicht zuletzt nach den Erschütterungen in der Finanzmarktkrise so glänzend bewährt hat. Wir sagen: Lassen Sie uns das stärken, was unserem Land in der Vergangenheit gutgetan hat: eine Wirtschaftspolitik - und übrigens auch eine Energiepolitik -, die nicht nur einzelne Interessen bedient, sondern die ganze Gesellschaft im Blick hat, und ein Versprechen von Wohlstand, das allen sozialen Schichten etwas zu bieten hat. Fairer Wettbewerb, die Effizienz der Märkte nutzen sowie eine gerechte Einbettung in soziale und ökologische Rahmenbedingungen sind in der Marktwirtschaft keine Gegensätze, sondern Prinzipien, die sich ergänzen und unsere Gesellschaft produktiver und lebenswerter machen. ({0}) Meine Damen und Herren, in diesem Jahr liegt der Ausbruch des Ersten Weltkrieges 100 Jahre zurück und der Beginn des Zweiten Weltkrieges 75 Jahre. Im Rückblick wird klar: Nicht nur die Demokratisierung unseres Landes war eine Lehre aus dieser Katastrophe, sondern auch die Überwindung der scharfen sozialen Gegensätze - von massenhafter Unsicherheit bis Arbeitslosigkeit und Elend - war und bleibt eine Lehre unserer Geschichte. Wenn Historiker heute von der „geglückten Demokratie“ der Bundesrepublik sprechen, meinen sie damit auch und gerade den wirtschaftlichen Neuanfang, für den Ludwig Erhard die Formel „Wohlstand für Alle“ gefunden hat. Natürlich gibt es auch in unserem Land gute und weniger gute Traditionen; aber die soziale Marktwirtschaft gehört zu den besten Traditionen der deutschen Geschichte. An ihr wollen wir auch in Zukunft anknüpfen. ({1}) Ich verstehe die Wirtschaftspolitik der Bundesregierung als Angebot an engagierte Unternehmerinnen und Unternehmer, an das Handwerk, an den Mittelstand und auch an die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Denn Wirtschaftspolitik ist eben auch immer Gesellschaftspolitik. Sie soll mithelfen, stabile, soziale, gerechte und faire Rahmenbedingungen für unsere Gesellschaft zu schaffen. Das Wirtschaftsministerium steht als Haus der Wirtschaft Unternehmerinnen und Unternehmern deshalb ebenso offen wie den Vertretern der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und der Gewerkschaften. Sie alle miteinander sind die Wirtschaft, und sie sind die Sozialpartner unseres Landes. In der Öffentlichkeit mag man sich vielleicht darüber wundern, dass der Jahreswirtschaftsbericht vermutlich zum ersten Mal in der Geschichte der Jahreswirtschaftsberichte ein Dokument ist, in dem steht, dass ein Wirtschaftsminister den Mindestlohn für richtig empfindet. ({2}) Das Protokoll vermerkt: Unruhe im Saal. ({3})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das hatten wir hier aber schon schlimmer, Herr Gabriel. ({0})

Sigmar Gabriel (Minister:in)

Politiker ID: 11003755

Insbesondere bei dem Thema, Herr Präsident. - Ich will gar nicht auf die Frage eingehen, ob die Höhe des Mindestlohns gerechtfertigt ist und ob er schnell genug kommt. Das ist in der politischen Debatte umstritten. Ich will vielmehr darauf hinweisen, dass der Mindestlohn nicht nur wegen seiner Höhe oder wegen seines ökonomischen Beitrags für den einzelnen Arbeitnehmer von Bedeutung ist. Es geht im Kern in der Debatte über die soziale Marktwirtschaft nämlich darum, dass Arbeit und Leistung ihren Wert haben müssen. ({0}) Der Wert der Arbeit und übrigens auch die Würde und Wertschätzung des arbeitenden Menschen ({1}) müssen in einer sozialen Marktwirtschaft zum Ausdruck kommen. Man kann wahrlich nicht sagen, dass ein Mindestlohn von 8,50 Euro eine überschäumende Wertschätzung ist. ({2}) Aber er ist zumindest eine Abkehr von dem unwürdigen und entwürdigenden Zustand, dass Menschen den ganzen Tag arbeiten und hinterher trotzdem zum Sozialamt gehen müssen. Damit muss in unserem Land Schluss sein. ({3}) Die soziale Marktwirtschaft ist nicht deshalb groß geworden, weil die Menschen wussten, dass nach Arbeit unmittelbar paradiesische Zustände eintreten. Aber sie wussten - und das war die Lebenserfahrung auch meiner Generation -, dass Arbeit sich lohnt und dass es Stück für Stück besser werden kann. Der Spruch der Eltern an die Adresse der Kinder „Du sollst es einmal besser haben als wir“ wurde in vielen Generationen der Republik zur Realität. Wir haben heute - das ist eines der Probleme der Marktwirtschaft - einen gespaltenen Arbeitsmarkt. Wir haben das Nichtvorhandensein von Mindestlöhnen. Wir haben die Zunahme von Leih- und Zeitarbeit. Es gibt das Werksvertragsarbeitnehmerunwesen. Das alles ist nicht nur in ökonomischer Hinsicht ein Problem für die betroffenen Menschen, und es ist nicht nur sozial ungerecht, sondern es ist im Kern gegen die Idee der Marktwirtschaft gerichtet, die besagt, dass Arbeit und Leistung sich lohnen müssen und dass es Menschen durch Arbeit in ihrem Leben besser gehen muss. Das ist das Problem dieser Entwicklung. ({4}) Es ist richtig, dass der Mindestlohn Eingang in den Koalitionsvertrag gefunden hat. Es ist übrigens auch gut, dass er mit dem Angebot verbunden ist, zum System der Tarifverträge zurückzukehren. Denn dass in Ostdeutschland 70 Prozent der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer keinen Tarifvertrag haben, ist ein Zustand, an dem selbst die schnelle Einführung eines Mindestlohns von 8,50 Euro nichts ändern würde. Wir wollen nicht nur Mindestlöhne. Wir wollen gute Tariflöhne in unserem Land. Das ist das, was wir eigentlich erzeugen wollen. ({5}) Ich mache übrigens für den Gedanken kein Urheberrecht geltend. Einer der Gründerväter der sozialen Marktwirtschaft, Walter Eucken, sozusagen der Ordoliberale unseres Landes, hat vor mehr als 60 Jahren präzise das Gleiche formuliert. Lohnverfall hat er als Anomalie des Arbeitsmarktes bezeichnet. Wo der Arbeitsmarkt nachhaltig anomal, weil vermachtet ist, da wird - ich zitiere - „die Festsetzung von Mindestlöhnen akut“. ({6}) Darauf zu setzen, zeigt eine im Kern ordoliberale Vorstellung. Das Problem ist, dass in der Vergangenheit manche das Buch von Ludwig Erhard zwar hochgehalten, aber möglicherweise nur die Klappentexte gelesen haben. ({7}) - Das ist auch schon was? - Na ja. Meine Damen und Herren, die Einführung eines Mindestlohns ist nicht nur sozialpolitisch, sondern auch wirtschaftspolitisch geboten. Der Mindestlohn ist sozusagen Kernbestandteil der sozialen Marktwirtschaft. Hatten wir Jahre, in denen die Steigerung von Löhnen und Gehältern nicht die Produktivitätsfortschritte und manchmal nicht einmal die Inflationsentwicklung widerspiegelten, so werden sich - das ist die Projektion des Jahreswirtschaftsberichtes 2014 - Löhne und Gehälter nun endlich wieder entlang von Produktivität und Inflationsrate entwickeln. Ich habe gestern erleben müssen, dass meine Formulierung, es sei gut, wenn sich Löhne und Gehälter entlang von Produktivität und Inflationsrate entwickelten, als Aufforderung zur Lohnzurückhaltung kritisiert worden ist. Ich habe - das will ich hier einmal deutlich sagen mit 19 Jahren meinen ersten Lehrgang bei der IG Metall besucht, nämlich den Funktionärslehrgang 1. Das sollten Sie auch einmal tun. ({8}) - Ein bisschen Humor muss auch in dieser Debatte sein. ({9}) Dort habe ich gelernt, was eine gewerkschaftliche Lohnforderung ist. Diese setzt sich zusammen aus dem Ausgleich der Inflationsrate, der Zunahme der ProduktiviBundesminister Sigmar Gabriel tätsrate und, wenn Gewerkschaften richtig kräftig sind, aus dem Element der Umverteilung. Zwei Drittel der Forderung der IG Metall hinsichtlich der Zusammensetzung der Lohnsteigerung sind in diesem Jahreswirtschaftsbericht zu finden, und Sie von der Opposition kritisieren das immer noch. Also, ich verstehe Sie nicht. ({10}) Es ist volkswirtschaftliche Normalität und Grundlage jeder Tarifverhandlung, Tariferhöhungen daran zu orientieren, wie sich Produktivität und Inflationsrate entwickeln. Dann muss man schauen, ob man die Kraft hat, noch ein bisschen mehr zu erreichen. In unserem Land hatten wir in den letzten Jahren eher sinkende Reallöhne. Jetzt haben wir mit einer Reallohnsteigerung von 1,1 Prozent die stärkste Steigerung seit 2010. Wir gehen in der Prognose davon aus, dass die durchschnittliche Erhöhung der Löhne bei 2,7 Prozent liegen wird. Das ist aber der Durchschnitt für die gesamte Volkswirtschaft. Natürlich wird es Tarifbereiche geben, in denen die Lohn- und Gehaltsentwicklung darüber liegen wird. Ich finde diese Lohnentwicklung in Deutschland gut; denn wir sehen anhand der Jahresprojektion, dass das wirtschaftliche Wachstum unseres Landes in den nächsten Jahren im Wesentlichen durch die Binnenkonjunktur getragen werden wird. ({11}) Der Mindestlohn, die Verhinderung von Rentenkürzungen nach langen Arbeitsjahren und die gesellschaftliche Akzeptanz von Erziehungsleistungen, die mit einer höheren Rente verbunden sind - das sind die Beschlüsse der Bundesregierung zur Rentenpolitik -, stärken die Kaufkraft im Land. Das ist auch wichtig, weil das prognostizierte Wirtschaftswachstum von 1,8 Prozent in diesem Jahr sowie im kommenden Jahr und im weiteren Verlauf von sogar 2 Prozent ganz wesentlich von der Binnenkonjunktur getragen wird. Deshalb gibt es die Entwicklung, dass Menschen wie im letzten auch in diesem Jahr mit steigenden Einkommen rechnen können. Die Menschen in Deutschland haben übrigens das Gefühl, dass sich die Wirtschaft gut entwickelt und sie keine Sorgen um ihre Arbeitsplätze haben müssen. Das ist die Grundlage für den wirtschaftlichen Aufschwung. Das ist die Grundlage dafür, dass wir auch im europäischen Vergleich einen Teil der Kritik, die die Europäer an uns haben, nämlich dass wir zu geringe Löhne hätten, zurückweisen können; denn dann, wenn sich die ökonomische Entwicklung unseres Landes gut darstellt, gibt es Tarifabschlüsse mit höheren Löhnen. Wir sehen, dass in diesem Jahr die Importe erheblich zunehmen werden. Der Export, obwohl er nach wie vor ein wichtiger Bestandteil der deutschen Wirtschaft ist, treibt nicht alleine das Wirtschaftswachstum an. Deshalb freuen wir uns darüber, dass die gute Lohn- und Einkommensentwicklung im letzten und in diesem Jahr dazu führen wird, dass sich die Binnenkonjunktur in unserem Land stärker entwickeln wird. ({12}) Meine Damen und Herren, die Exporte nehmen zu. Das ist Ausdruck der hohen Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie. Für die Importe gilt das aber eben auch. Nur eine Bemerkung zum Thema Leistungsbilanzüberschuss: Durch die Importsteigerungen reduzieren wir diesen Überschuss ein bisschen. Man sollte aber auch noch einmal deutlich sagen, dass die hohen Exporte unseres Landes vor allen Dingen Ausdruck der Innovationskraft und der hohen Produktivität unserer Unternehmen sind - nichts anderes. ({13}) Die Grundlage dieser hohen Produktivität sind Forschung und Entwicklung und die hohe Qualifikation unserer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Das ist die Grundlage des Erfolges der Unternehmen und der guten Exportzahlen. ({14}) Die deutsche Industrie zieht Vorleistungen ins Land, die wir übrigens auch dringend brauchen; denn sie sind Teil unserer und Teil der europäischen Wertschöpfungskette. Diese stützen auch die Erholung in Europa; denn ein Großteil der Einfuhren der europäischen Länder kommt von ihren europäischen Handelspartnern. Meine Damen und Herren, zentrale Stütze des Aufschwungs in diesem Jahr wird aber, wie schon gesagt, der private Konsum sein. Nach einer Steigerung des privaten Konsums um real 0,9 Prozent im letzten Jahr - das entspricht einem Wachstumsbeitrag von 0,5 Prozentpunkten - erreichte der Konsumklimaindex im Januar den höchsten Wert seit der Finanzkrise. ({15}) - Das Leben ist immer relativ, auch im Parlament. ({16}) Dass die Deutschen der Meinung sind, dass sie mehr konsumieren können, weil sie höhere Einkünfte haben, und glauben, dass ihre Jobs sicher sind, macht das doch nicht schlecht. ({17}) Es ist schwer, das zu kritisieren. Selbst Sie müssten sich eigentlich darüber freuen. ({18}) Ich dachte, 240 000 zusätzliche Arbeitsplätze und ein Beschäftigungsstand mit einem Rekordwert von 42,1 Millionen Personen sind ein Grund zur Freude auch für Sie. ({19}) Die zweite wichtige Stütze für das Wirtschaftswachstum in diesem Jahr sind die Investitionen. Bei den Unternehmensinvestitionen haben wir im vergangenen Jahr die Trendwende geschafft. Für das Jahr 2014 erwarten wir einen spürbaren Anstieg um 4 Prozent. Angesichts der zunehmenden Kapazitätsauslastung investieren die Unternehmen verstärkt in neue Maschinen und Ausrüstungen. Das ist ein ausgesprochen positives Signal. Das Land braucht dringend neue Investitionen. Wir dürfen nicht zusehen, wie das Anlagekapital der Unternehmen veraltet, wie die öffentliche Infrastruktur auf Verschleiß läuft und wie Straßen, Schienen, Brücken oder auch kommunale Gebäude vor die Hunde gehen, und wir dürfen auch die digitale Moderne nicht verschlafen und müssen die Investitionen in Breitbandnetze vorantreiben - insbesondere im ländlichen Raum, weil die kleinen und mittelständischen Betriebe dort ansonsten einen massiven Wettbewerbsnachteil hätten. ({20}) Der Blick auf die aktuell günstige Konjunkturlage darf uns aber nicht die Augen davor verschließen lassen, dass es natürlich auch erhebliche Risiken und Herausforderungen gibt. Ich will ein paar davon nennen: Da ist erstens die Entwicklung im Euro-Raum. Wir müssen nach wie vor um die Stabilisierung des EuroRaums und Europas kämpfen. Das heißt, neben der Konsolidierung und Strukturreformen müssen wir in Wachstum und Arbeit in Europa investieren. Zweitens. Wir sehen es gerade in den Schwellenländern: Die Regulierung der Finanzmärkte, insbesondere des Schattenbankenwesens, ist nach wie vor eine der wichtigsten Aufgaben, vor denen wir stehen. ({21}) Dort entstehen die Risiken für die Realwirtschaft, und ich kann nur hoffen, dass es uns trotz der Schwierigkeiten gelingt, die Bankenunion in diesem Jahr unter Dach und Fach zu bekommen. Aufgrund der aktuellen Debatte darauf zu schließen, dass sie ein Jahr später oder noch später kommt, wäre, glaube ich, ein ganz schlechtes Signal für die Stabilität im Euro-Raum. ({22}) Aber auch im Inland gibt es eine ganze Reihe von Herausforderungen. Eine davon ist zum Beispiel die zu geringe Investitionsquote. Wenn wir das von der OECD geforderte Niveau erreichen wollen, dann müssen wir wesentlich mehr tun, als wir derzeit schaffen. Selbst die erhöhten Investitionen durch die Bundesregierung im Verkehrssektor, in Hochschulen und im Städtebau reichen nicht aus. Ich bin gestern gefragt worden, welche Chance wir haben, die öffentlichen Investitionen zu verstärken. Die Debatte über die Finanzbeziehungen von Bund, Ländern und Gemeinden, die wir im Koalitionsvertrag festgelegt haben - es geht dabei darum, Aufgaben und Finanzverantwortung endlich wieder zusammenzubringen -, muss im Ergebnis zur finanziellen Entlastung der Kommunen führen; denn zwei Drittel der öffentlichen Investitionen tätigen nicht Bund und Länder, sondern Städte und Gemeinden. Diese müssen wir in ihrer Finanzkraft wieder stärken. Dann sind wir auch in der Lage, mehr zu investieren. ({23}) Wir haben erheblichen Nachholbedarf in der öffentlichen Infrastruktur. Wir haben Schwierigkeiten im Bereich der Energiekosten. Natürlich erhöhen wir mit unseren Beschlüssen zur Rente, zur Pflegeversicherung und zum Arbeitsmarkt die Arbeitskosten der deutschen Wirtschaft. Das darf niemand verschweigen. Umso wichtiger ist es, dass wir die Kosten nicht auch noch im Energiebereich und in anderen Bereichen weiter ansteigen lassen. Unser ganzes Augenmerk muss daher darauf gerichtet sein, im Rahmen der Energiewende Versorgungssicherheit und Kostenentwicklung in den Griff zu bekommen. ({24}) Ich verzichte heute auf eine Reihe von Bemerkungen zur Energiepolitik, weil wir im Haus noch ausreichend Gelegenheit haben werden, darüber zu sprechen. Die Dynamik der Unternehmensgründungen ist zurückgegangen. Wir haben Schwierigkeiten bei der Umsetzung von Forschungsergebnissen in industrielle Prozesse. Es gibt also eine Reihe von Herausforderungen, die wir in unserem Land bewältigen müssen, um Rahmenbedingungen zu erhalten, mit denen wir dafür sorgen, dass diese wirtschaftliche Entwicklung nicht nur im Moment als positiv erscheint, sondern auch nachhaltig fortgeschrieben wird. Ostdeutschland - das wird in der nächsten Woche die Debatte um den Jahresbericht zum Stand der Deutschen Einheit zeigen - hat bei allen Erfolgen immer noch erhebliche Investitions-, Produktivitäts- und Lohnlücken. In der ostdeutschen Wirtschaft haben sich inzwischen industrielle Kerne gebildet. Gerade in dieser Woche war ich bei einem Unternehmen in Leipzig, in dem eine halbe Milliarde Euro in die Produktion investiert wurde. Viele gute Beispiele zeigen: Die Reindustriealisierung in Ostdeutschland ist in vielen Bereichen gelungen. Aber wir dürfen bei der regionalen Wirtschaftsförderung nicht nachlassen. Diesem Ansatz entspricht auch die Idee, dass wir im Zusammenhang mit der Reform der Gemeinschaftsaufgabe für die Förderung der regionalen Wirtschaft nicht nur die Mittel wieder anheben, sondern in Zukunft auch Förderstrukturen entwickeln, bei denen wir, wie das meine Kollegin in Nordrhein-Westfalen immer sagt, nicht nach Himmelsrichtungen fördern, sondern da fördern, wo der wirtschaftliche und soziale Nachholbedarf am größten ist. Ohne Zweifel ist das auch in Zukunft in weiten Bereichen Ostdeutschlands der Fall. Wir haben Erfolge. Aber wir dürfen uns mit ihnen nicht zufriedengeben. ({25}) Nicht zuletzt ist auch die Deckung des Fachkräftebedarfs in den kommenden Jahren eine der größten Herausforderungen. Wir haben uns deshalb im KoalitionsBundesminister Sigmar Gabriel vertrag die Allianz für Fachkräfte auf die Fahne geschrieben. Ich bin allerdings - das gebe ich zu - bei solchen Allianzen gelegentlich ernüchtert. Da wird oft sehr viel besprochen. Aber am Ende muss man aufpassen, dass das, was verabredet ist, auch umgesetzt wird. Wenn der Streit um Zuständigkeiten unsere einzige Aktivität ist, werden wir am Ende scheitern. Deswegen sollten wir uns konkrete Ziele setzen: weniger Schulabbrecher, mehr Ausbildungsplätze, bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf, mehr Chancen für Frauen und natürlich auch ein für Zuwanderinnen und Zuwanderer offenes Land, das sich über diese Zuwanderung freut. ({26}) Wir mobilisieren in dieser Legislaturperiode 6 Milliarden Euro zur Entlastung von Ländern bei der Finanzierung von Kitas, Schulen und Hochschulen. 3 Milliarden Euro kommen dem Aufwuchs bei der universitären Forschung zugute. Wir investieren in Köpfe, vor allem auch in umsetzungsfähige und anwendungsnahe Ideen. Das, was der Jahreswirtschaftsbericht abbildet, ist einerseits das Ergebnis einer guten wirtschaftlichen Entwicklung. Politische Rahmenbedingungen haben in den letzten zehn Jahren dazu geführt, dass Unternehmen flexibel und innovativ sein konnten und Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ihre Qualifikation zugunsten der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit einsetzen konnten. Der Bericht markiert andererseits die Herausforderungen, denen wir uns in diesem Jahr und in den kommenden Jahren stellen werden und bei denen wir auch nachhaltige Erfolge haben werden. Eine der Möglichkeiten, den Erfolg fortzuschreiben, ist die Neuverhandlung des Transatlantischen Freihandelsabkommens. Ich sage das deshalb, weil in der öffentlichen Debatte zu Recht Sorgen geäußert werden: hinsichtlich der Gefahr einer Absenkung von sozialen Rechten, hinsichtlich der Gefahr von Lohndumping, auch hinsichtlich der Absenkung von kulturellen Standards, die wir in unserem Land erreicht haben. Aber nur die Sorgen zu formulieren und die Chancen eines Freihandelsabkommens zu verschweigen, ist auch nicht der richtige Umgang mit diesem Thema. Ich finde, woran wir ein Interesse haben müssen, ist, dass das Freihandelsabkommen nicht zum Dumpingabkommen wird, in keinem Bereich. Dafür werden wir uns miteinander einsetzen. ({27}) Wir wollen keine neue Runde der blinden Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen. Das wollen wir nicht. ({28}) Aber wir wollen die Chance nutzen, zwischen der Europäischen Union und Amerika den größten Freihandelsmarkt der Welt zu erzeugen und übrigens damit in unserem Land und in anderen Ländern ganz erheblichen wirtschaftlichen Erfolg und neue Arbeitsplätze zu schaffen. Ich glaube, wir brauchen beides. ({29}) Die Bundesregierung ist dazu bereit, eine transparente Debatte über das Freihandelsabkommen zu führen. Ich jedenfalls bin auch persönlich dazu bereit, zu erläutern, wo aus meiner Sicht Risiken und Aufgaben liegen und worauf man achten muss, damit erreichte europäische und deutsche Standards nicht nivelliert werden. Aber ich finde, wir müssen in der Öffentlichkeit auch darstellen, was wir für Chancen mit diesem Freihandelsabkommen haben, damit nicht der Eindruck entsteht, dies sei sozusagen ein Freihandelsabkommen für amerikanische Spionage. Darum geht es gerade nicht, meine Damen und Herren. ({30}) Nein, es geht darum, dass wir eine Chance schaffen für viele, viele Leute in diesem Land, die Zukunftsperspektiven für sich und übrigens auch für ihre Kinder brauchen. Das, glaube ich, geht, wenn man Debatten unideologisch, pragmatisch und unter Wahrung der eigenen Interessen führt. So können wir gemeinsam wirtschaftlichen Erfolg für unser Land herstellen, und der bedeutet immer Erfolg für Unternehmen, aber auch Erfolg und faire und gerechte Arbeits- und Lebensbedingungen für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Beides ist Gegenstand der sozialen Marktwirtschaft, und die wollen wir weiterentwickeln. Vielen Dank. ({31})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der Kollegin Sahra Wagenknecht für die Fraktion Die Linke. ({0})

Dr. Sahra Wagenknecht (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004183, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Werte Kolleginnen und Kollegen! Ich lese Ihnen einmal vor, was ein tapferer Oppositionspolitiker vor etwa einem Jahr an diesem Pult der schwarz-gelben Regierung entgegengeschleudert hat: 25 Prozent der Beschäftigten in Deutschland arbeiten in sogenannten prekären Beschäftigungsverhältnissen … ({0}) Jeder zweite neu zu besetzende Arbeitsplatz ist befristet. … ({1}) Wir reden in Deutschland nicht nur über Altersarmut. Wir reden auch über Jugendarmut, Familienarmut, die Armut der Alleinerziehenden … Früher galt in unserem Land: Fleiß und Anstrengung lohnen sich. Heute führt nicht Leistung zum Aufstieg, sondern Beziehungen, Herkunft, Vermögen, im Zweifel Erbschaften. … 80 Prozent der Gemeinwohllasten werden von den ganz normalen Menschen … getragen. Nur 12 Prozent der Gemeinwohllasten tragen die Einkommensbesitzer von Kapital und Vermögen. So weit die Anklage. Tja, der tapfere Oppositionspolitiker ist heute Wirtschaftsminister, redet von sozialer Marktwirtschaft und guten Löhnen. Herr Gabriel, das ist vollkommen unglaubwürdig. Was wollen Sie an den hier kritisierten Verhältnissen in der Substanz wirklich ändern? Gar nichts wollen Sie ändern, wenn ich Ihren Koalitionsvertrag richtig gelesen habe. ({2}) Sachgrundlose Befristung verbieten? Fehlanzeige. Werkverträge, Leiharbeit? Nichts als heiße Luft. Nach neun Monaten soll es gleiche Bezahlung geben. Aber so lange ist leider kaum einer in einem Unternehmen. ({3}) Kinderarmut? Altersarmut? Die Verbesserungen bei der Rente, die Sie ja vornehmen, gehen aber an den wirklich von Altersarmut Bedrohten oder Betroffenen komplett vorbei. Oder gar Vermögensteuer oder höherer Spitzensteuersatz für Reiche? Gott bewahre. Während Sie hier den Macher spielen, Herr Gabriel, ist Ihre Politik in Wahrheit jämmerlich, weil Sie alles fortsetzen, was vorher der Fall war. ({4}) Jetzt erzählen Sie uns etwas von Beschäftigungsboom und fröhlichen Konsumenten. Das ist wirklich sehr originell. Als uns Herr Rösler das Gleiche erzählt hat, sahen die Ergebnisse so aus: 0,7 Prozent Wachstum 2012 und 0,4 Prozent Wachstum 2013, also Stagnation. Selbst diese wäre ohne den riesigen Exportüberschuss nicht möglich gewesen. Aber jetzt soll ja die große Konsumwelle auf Deutschland zurollen. Nun habe ich mit Zustimmung zur Kenntnis genommen, dass Sie die Tarifforderungen zum Beispiel von Verdi unterstützen. Ich hoffe, dass das nicht nur Dampfplauderei ist. Wenn das tatsächlich Koalitionsposition ist, dann müssten diese Verhandlungen ja relativ schnell zum Abschluss kommen. Das wäre ohne Zweifel gut. ({5}) Allerdings reicht das nicht. Es ist doch kein Zufall, dass exakt seit der Agenda 2010 in Deutschland der Konsum stagniert. ({6}) Schauen Sie sich doch die Einzelhandelsumsätze an! Ja, es steigen die Ausgaben für Lebensmittel, Energie und Mieten. Aber der Einzelhandel stagniert und hatte im letzten Dezember sogar einen Einbruch zu verzeichnen, und das nicht, weil die Menschen in Deutschland keine Lust mehr haben, sich Geschenke zu Weihnachten zu machen. Vielmehr stagniert der Einzelhandel, weil die Lohnentwicklung nach wie vor mies ist. Das letzte Jahr war eben kein positives Beispiel. Der Einzelhandel stagniert, weil die Rentenentwicklung nach wie vor miserabel ist, weil seit Jahren die Rentenerhöhungen noch nicht einmal die Inflation ausgleichen. Natürlich fressen auch die explodierenden Strompreise, die Sie nicht senken wollen, einen großen Teil des Haushaltsbudgets der Menschen weg. Das heißt, es liegt letztendlich daran, dass die Menschen schlicht nicht mehr genug Geld im Portemonnaie haben, um sich den Konsum leisten zu können, den sie sich liebend gern leisten würden. ({7}) Daran wird sich nichts ändern, solange Sie an Leiharbeit, Werkverträgen, Hartz IV und Rentenkürzungen festhalten. ({8}) Ich sage Ihnen zum Mindestlohn: Wir brauchen nicht löchrige 8,50 Euro irgendwann, sondern endlich 10 Euro die Stunde, und zwar sofort und flächendeckend. Das entspricht auch dem Maßstab unserer europäischen Nachbarländer. ({9}) Auch die Investitionen sollen plötzlich brummen, sagt Herr Gabriel. Man fragt sich nur, warum. Etwa seit der Jahrtausendwende investieren deutsche Unternehmen deutlich weniger als ihre Wettbewerber, und das, obwohl die Gewinne gerade großer Unternehmen wegen Lohndrückerei und Steuerentlastungen sprudeln wie nie zuvor. Aber was haben denn diese Unternehmen mit den ganzen geschenkten Milliarden gemacht? Sie haben jährlich etwa viermal so viel Dividenden ausgeschüttet wie in den 90er-Jahren üblich. Sie haben die Gehälter ihres Topmanagements hochgetrieben, und sie haben über 300 Milliarden Euro als Barreserven gebunkert. Das heißt, das ganze geschenkte Geld ist direkt auf die Konten der oberen Zehntausend geflossen. Mästung der Millionäre zulasten von Beschäftigten und öffentlichen Einnahmen, das war die Politik der Bundesregierung, und genau diese Politik setzen Sie fort, Herr Gabriel. ({10}) Auch die öffentlichen Investitionen, von denen Sie geredet haben, sind seit Jahren auf einem Tiefstand. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung hat im letzten Jahr vorgerechnet, dass die öffentliche Hand 80 Milliarden Euro mehr im Jahr investieren müsste, um wenigstens den Verschleiß der öffentlichen Infrastruktur - Straßen- und Schienennetze usw. - auszugleichen. Jetzt kündigen Sie fröhlich mehr öffentliche Investitionen an. Angesichts der steuerpolitischen Entscheidungen der Großen Koalition fragt man sich allerdings: Haben Sie neuerdings eine Maschine zum Gelddrucken? Oder wer soll es bezahlen, vielleicht am Ende die Autofahrer über die Maut? Die kleinen Leute abzukassieren, weil man sich an die Millionäre und Großverdiener nicht heDr. Sahra Wagenknecht rantraut, das war schon der gemeinsame Nenner der letzten Großen Koalition. Aber eine solche Politik kann nur in die Stagnation oder zu Schlimmerem führen. Das erleben wir ja europaweit. ({11}) Der Ökonom Paul Krugman hat vor kurzem festgestellt, dass Europa heute eine schlechtere Wirtschaftsentwicklung vorzuweisen hat als nach der großen Weltwirtschaftskrise in den 30er-Jahren. Wer dafür verantwortlich ist, sagt er auch, und zwar in ziemlich deutlichen Worten - ich zitiere Krugman -: Es stimmt schon, harthäutige, starrköpfige Konservative haben die Politik bestimmt, aber ermutigt und begünstigt worden sind sie von rückgratlosen, wirrköpfigen Politikern der gemäßigten Linken. Rückgratlose, wirrköpfige Politiker, das ist das Urteil des Wirtschaftsnobelpreisträgers Krugman über Leute wie Sie, Herr Gabriel. ({12}) Nun habe ich zur Kenntnis genommen, Herr Gabriel, dass jemand, der die EU-Kommission eher für einen Hort des Wirtschaftsliberalismus und Wirtschaftslobbyismus als für ein glühendes Beispiel funktionierender Demokratie hält, in Ihren Augen ein Antieuropäer ist. ({13}) Aber da muss ich Sie, Herr Gabriel, wirklich bemitleiden, weil Sie von Antieuropäern in diesem Sinne offensichtlich geradezu umzingelt sind. Ich erinnere mich zum Beispiel daran, dass die Herren Habermas, NidaRümelin und Bofinger im letzten August einen Aufsatz verfasst haben, nachdem sie sich mit Ihnen unterhalten haben, in dem es hieß, dass die Entwicklung Europas als - Zitat - „Umwandlung der sozialstaatlichen Bürgerdemokratie in eine marktkonforme Fassadendemokratie“ zu kritisieren ist. Fassadendemokratie! Dieses europafeindliche Machwerk hat die SPD bis heute auf ihrer Webseite stehen. Also nicht nur in der Linken, Herr Gabriel, offensichtlich auch in Ihrer Partei lauern die Europafeinde. ({14}) Die waren es wahrscheinlich auch, die Jürgen Habermas zu Ihrer letzten Klausur eingeladen haben, auf der er Ihnen ziemlich deutlich gesagt hat, was er von Ihrer Europapolitik hält. „Europaumarmende Sonntagsrhetorik“ sei das, während Sie gleichzeitig - ich zitiere Habermas - „eine strikt anlegerfreundliche Politik“ betreiben, „um den Preis der politischen Entwürdigung ganzer Völker“ und ihres sozialen Absturzes. Europäische Völker entwürdigen und in den sozialen Absturz treiben und gleichzeitig die deutschen Steuerzahlerinnen und Steuerzahler mit immer neuen Milliardenbeträgen zur Rettung von Banken und Anlegern belasten, das ist offensichtlich in Ihren Augen, Herr Gabriel, eine proeuropäische Politik. Da kann ich nur sagen: Wenn Europa solche Freunde hat, dann braucht es keine Feinde mehr. ({15}) Die Linke jedenfalls wird Ihrer Europapolitik für Banken und Millionäre auch in Zukunft vehement widersprechen, und das Gleiche gilt für Ihre Wirtschaftspolitik, die nichts daran ändern wird, dass dieses Land sozial und wirtschaftlich immer tiefer gespalten ist. ({16})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Michael Fuchs ist der nächste Redner für die CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Michael Fuchs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003531, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Frau Wagenknecht, zuerst hatte ich überlegt, ob ich auf Sie eingehe. ({0}) Aber wenn ich mir diesen Quatsch anhören muss, dann tut das schon weh. ({1}) Es sind körperliche Schmerzen, die man hier erleidet, und dann ist es besser, man vergisst es einfach und geht gar nicht groß darauf ein. Denn Sie haben bis jetzt nicht kapiert, dass es Deutschland gut geht. Ich würde gerne einmal von Ihnen hören, dass Deutschland im Vergleich zu anderen Ländern heute das führende Land in Europa ist, dass wir und die Politik der Bundeskanzlerin dafür gesorgt haben, dass es in Europa wieder aufwärtsgeht und sich Länder langsam, aber sicher aus der Krise herausentwickeln. ({2}) Was ist denn mit Irland? Was ist mit Spanien? Was ist mit Griechenland? Diese Länder sind auf dem Sprung, aus der Krise, in der sie sich lange Jahre befunden haben, ({3}) wieder herauszukommen. Dafür können wir dankbar sein. Das war eine vernünftige Politik, das war Konsolidierungspolitik. Nur, davon verstehen Sie einfach nichts; Sie führen Ihr kommunistisches Gelaber immer weiter. ({4}) Deutschland geht es gut. Dafür haben eine Menge Politiker gesorgt. Ich bin fair genug, um zu sagen, dass das natürlich mit Gerhard Schröder und der Agenda 2010 angefangen hat. ({5}) Wir haben Maßnahmen ergriffen, die den Arbeitsmarkt verbessert haben, und wir haben Maßnahmen ergriffen, die dazu geführt haben, dass wir heute in Deutschland die höchste Beschäftigungsrate haben, die es jemals gegeben hat. Der Bundesminister hat vollkommen zu Recht eben auf 42,1 Millionen Erwerbstätige in Deutschland hingewiesen. Diese Zahl hat es noch nie gegeben. Wir haben knapp 30 Millionen sozialversicherungspflichtig Beschäftigte. Auch diese Zahl hat es noch nie gegeben. Das ist eine Erfolgsstory, und die müssen wir weiterführen. ({6}) Die Beschäftigungslage ist so gut, wie es seit Jahrzehnten nicht der Fall war. Wir haben eine ständig sinkende Arbeitslosigkeit, wir haben die niedrigste Jugendarbeitslosigkeit in Europa, wir haben die niedrigste Arbeitslosigkeit überhaupt in Europa. Vor allen Dingen bei der Reduzierung der Jugendarbeitslosigkeit haben wir ein Erfolgsmodell. Ich bin den Unternehmen dafür dankbar, dass sie viel ausbilden; denn das ist der richtige Weg. ({7}) Wir müssen auch weiterhin dafür sorgen, dass mehr junge Menschen in Arbeit kommen. Wir haben, nach dem OECD-Standard gerechnet, immer noch eine Jugendarbeitslosigkeit von ungefähr 7 Prozent. Das sind immer noch 7 Prozent zu viel. Wir müssen den jungen Leuten eine Perspektive geben. Wenn ich den OECD-Standard auf andere Länder anwende - zum Beispiel auf Spanien, wo die Jugendarbeitslosigkeit bei annähernd 55 Prozent liegt; selbst Frankreich, unser direktes Nachbarland, hat eine Jugendarbeitslosigkeit von 25 Prozent; in anderen Ländern ist sie noch höher; in Griechenland liegt sie bei rund 60 Prozent -, stelle ich fest: Der Kampf gegen die Jugendarbeitslosigkeit ist eine zentrale europäische Aufgabe. Die Maßnahmen, die die Bundeskanzlerin der EUKommission angeraten hat, greifen. Das Ganze werden wir weiter verfolgen. Meine Damen und Herren, auch was den Aufschwung angeht, ist Deutschland die Lokomotive. Die Wachstumszahl von 1,8 Prozent in diesem Jahr, die der Minister eben verkündet hat, ist konservativ geschätzt. Ich gehe davon aus, dass der Finanzminister ein bisschen den Daumen draufgehalten hat, damit diese Schätzung nicht zu hoch ausfällt. Sie, Herr Gabriel, haben Ihre Wachstumsschätzung nach Ihrem Jahreswirtschaftsbericht ausschließlich auf den Binnenmarkt konzentriert. Danach erwarten Sie für den Export so gut wie kein Wachstum. Doch da bin ich ein klein bisschen optimistischer als Sie. Beispielsweise haben die deutschen Exporte nach China im letzten Monat ein Wachstum von 10,6 Prozent verzeichnet. Das ist natürlich schon ein Anzeichen dafür, dass es auch in dieser Ecke der Welt wieder vorwärtsgeht. Also können wir ziemlich sicher sein, dass unser Exportwachstum stärker sein wird als projiziert. Ich bin so optimistisch, dass ich sage: Wir werden beim Wachstum am Ende des Jahres auch das 2-ProzentZiel erreichen können. Das ist hervorragend. Daraus resultiert, dass wir hier im Hohen Hause trotzdem alle jene Punkte diskutieren müssen, die wichtig sind, damit wir das Ganze weiter und stärker unterstützen können. Es gibt nämlich eine ganze Reihe Risiken in Deutschland. Ein zentrales Risiko ist die demografische Entwicklung. Das Arbeitskräfteangebot hätte im Jahre 2013 eigentlich um 240 000 zurückgehen sollen; trotzdem wurden mehr Personen eingestellt. Das bedeutet, dass verstärkt Zuwanderer aus dem Ausland eingestellt worden sind und dass mehr Frauen und auch mehr ältere Arbeitnehmer erwerbstätig geworden sind. Das ist erfreulich. Wir haben in vielen Regionen und auch in vielen Berufen einen heftigen Fachkräftemangel. Das ist ein Problem, das wir angehen müssen. Wir müssen die Erwerbstätigkeit in unserem Land besser ausschöpfen. Dabei müssen wir auch nach neuen Wegen suchen; denn das wird nicht einfach sein. Gleichzeitig müssen wir - Sie haben es eben erwähnt - die Zuwanderung qualifizierter Fachkräfte fördern. Der Erfolg gibt uns recht: Die Zahl der Erwerbstätigen und der sozialversicherungspflichtigen Dauerbeschäftigten ist gewachsen. Frau Wagenknecht, Sie fangen immer wieder an, von der Zeitarbeit zu sprechen: Wissen Sie eigentlich, wie viele Arbeitnehmer in Deutschland überhaupt in Zeitarbeit beschäftigt sind? Nur circa 2,1 Prozent der Beschäftigten sind in Zeitarbeitsunternehmen. Das heißt, wir reden über 850 000 bis 900 000 Personen, die in solchen Beschäftigungsverhältnissen sind. Für viele ist die Zeitarbeit eine Brücke in den ersten Arbeitsmarkt, und das ist gut so. ({8}) - Wenn Sie den kennen. Die Zahl der Erwerbstätigen zwischen 55 und 64 ist, nebenbei gesagt, ebenfalls gestiegen. Es heißt die ganze Zeit, dass zu wenig ältere Menschen im Erwerbsleben stehen. Nein, das ist falsch: In den letzten vier Jahren ist die Zahl der Erwerbstätigen zwischen 55 und 64 um 13 Prozent gestiegen. Das zeigt, dass es auch da eine Veränderung gibt, dass also mehr ältere Menschen den Weg in den Arbeitsmarkt gefunden haben. Auch das halte ich für sehr gut. Insofern habe ich ein bisschen ein Problem damit - das ist einer der wenigen Punkte, wo wir uns nicht einig sind -, dass wir mit der Rente mit 63 unter Umständen das falsche Signal setzen. Ich möchte auf jeden Fall - das halte ich für sehr wichtig -, dass wir Anreize für Frühverrentungen begrenzen. Da helfen keine Appelle. Wir müssen die gesetzlichen Regelungen so ausgestalten, dass wir ein vorzeitiges Ausscheiden aus dem Erwerbsleben nicht unterstützen. ({9}) Es kann nicht sein, dass jemand bereits mit 61 Jahren in die Arbeitslosigkeit und mit 63 abschlagsfrei in Rente geht. Das zu verhindern, dazu müssen Möglichkeiten gefunden werden. Eine Möglichkeit wäre, dass Zeiten der Arbeitslosigkeit nach dem 1. Januar 2014 oder zumindest Zeiten der Arbeitslosigkeit unmittelbar vor Renteneintritt nicht berücksichtigt werden. Bei vorgeschalteter Altersteilzeit sollte auch der Zugang in die Rente ab 63 nur mit entsprechenden Abschlägen möglich sein. Das sind Punkte, die wir noch diskutieren müssen. Es muss gerade aufgrund der demografischen Situation darauf geachtet werden, dass wir wertvolle Fachkräfte nicht verlieren; denn der Arbeitsmarkt wird diese Fachkräfte brauchen. ({10}) Meine Damen und Herren, der Bundesminister sprach zu Recht die Risiken der Energiewende an. Ich bin für diese Energiewende; ({11}) sie muss umgesetzt werden. Aber wir müssen die Energiewende so ausgestalten, dass sie von den Bürgerinnen und Bürgern und von den Unternehmen bezahlt werden kann. Irgendwann hört die Akzeptanz bei der Bevölkerung für diese Energiewende auf, nämlich dann, wenn sie nicht mehr bezahlbar ist, und da sehe ich große Risiken. Wir haben Firmen, die absolut stromabhängig sind, und zwar nicht deshalb, weil sie unbedingt Strom verbrauchen wollen. Sie würden alles daransetzen, weniger Strom zu verbrauchen. Aber wenn sie technische Prozesse haben, beispielsweise Elektrolysen, dann brauchen sie Strom. Sie brauchen dummerweise ein Elektron, das den ganzen Prozess antreibt - wenn man ein ganz kleines bisschen über Physik oder Chemie weiß, dann kann man das verstehen -; ohne das geht es nicht. ({12}) - Sie haben es immer noch nicht verstanden. Deswegen muss ich es Ihnen noch einmal erzählen. ({13}) Genau dieses Problem ist nun einmal da, und das wissen wir auch. Deswegen müssen wir stromintensive Unternehmen unterstützen. Ich erwarte, dass wir dafür eine vernünftige Lösung finden. ({14}) Es gibt einen zweiten Punkt, Herr Minister, bei dem ich mit Ihnen nicht einig sein kann. In Ihrem Eckpunktepapier für Meseberg stand, dass die Eigenerzeugung von Strom ebenfalls der EEG-Umlage unterfallen soll. Das geht nicht. ({15}) Die industrielle Eigenerzeugung von Strom muss für bestehende Anlagen weiterhin von der EEG-Umlage befreit sein. Der Koalitionsvertrag sieht dies, nebenbei bemerkt, ausdrücklich vor. Bestandsschutz ist kein Privileg nur der erneuerbaren Energien, sondern das muss natürlich auch für die Eigenstromerzeugung gelten. ({16}) Hier haben wir Vertrauensschutz zu gewährleisten. Daran müssen wir gemeinsam arbeiten. Wir müssen dafür eine vernünftige Regelung finden. Ich sehe mit Sorge, dass es Industrien gibt, die heute schon darüber nachdenken, ob sie noch in energieintensive Anlagen in Deutschland investieren können. Ich will dazu den VDMA anführen. Der hat eine Analyse gemacht, nach der in den letzten fünf Jahren nur noch etwa 85 Prozent der Mittel aus Abschreibungen reinvestiert werden. Das macht mir Sorge. Das bedeutet schlicht und ergreifend, dass 15 Prozent woanders investiert werden. Ich gehe nicht davon aus, dass sich diese Unternehmen aus dem Markt verabschieden, aber sie investieren nicht mehr in energieintensive Anlagen in Deutschland. Wenn das der Fall ist, dann heißt das am Ende des Tages, dass sie sich aus Deutschland verabschieden. Bei Unternehmen ist es, nebenbei bemerkt, nicht so, dass sie zum Einwohnermeldeamt gehen müssen, um sich zu verabschieden. Das machen sie klammheimlich; auf einmal sind sie weg. Das muss verhindert werden; denn ich möchte, dass dieses Land ein industrielles Land bleibt. Deutschland ist der Industriestandort Nummer eins in Europa. Wir müssen alles daransetzen, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass es das bleibt. ({17}) Wenn es nicht so bleibt und wenn wir nicht mehr geschlossene Wertschöpfungsketten haben, dann wird sich dieses Land verändern, und zwar so, wie Sie es in großen Teilen von Großbritannien beobachten können. Das ist nicht meine Vorstellung von Deutschland. ({18}) Meine Damen und Herren, dafür werden wir bei der Energiewende noch etliche schwierige Aufgaben zu lösen haben. Es muss eine EU-konforme Regelung für besondere Ausnahmen gefunden werden. Es muss dringend mit Kommissar Almunia verhandelt werden. Ich weiß, dass der Minister schon auf dem Weg ist, das zu tun. Wir müssen bis zum 1. Juli eine vernünftige Regelung haben, die die EU notifizieren kann. Wenn wir das nicht schaffen, dann haben wir ein heftiges Problem für die deutsche Wirtschaft. Das möchte ich nicht. Die Unternehmen, die jetzt befreit sind, müssen in wesentlichen Teilen auch befreit bleiben. Die Grünen haben die Schienenbahnen berücksichtigt. Ob man nun die Straßenbahn in Rostock als im internationalen Wettbewerb stehend empfinden kann, weiß ich nicht; ich tue das nicht. Das könnte zum Beispiel ein Bereich sein, den wir von den Ausnahmen herausnehmen müssen, damit wir ein Opfer an die EU liefern können. Das wird uns abverlangt werden. Darüber müssen wir nachdenken. Ich bin froh, dass Sie eben das Transatlantische Freihandelsabkommen angesprochen haben. Das ist mit Sicherheit eine Riesenchance. Man sieht es, nebenbei bemerkt, an Bali, wo die letzte WTO-Verhandlung stattgefunden hat. Die OECD hat ausgerechnet, dass allein Europa dadurch schon in den nächsten Jahren Exportchancen in Höhe von 60 Milliarden Euro zusätzlich bekommt. Das zeigt: Solche Freihandelsabkommen sind der richtige Weg. Daran werden wir gemeinsam arbeiten. Es hat keinen Sinn, die NSA-Problematik mit einem Freihandelsabkommen zu verknüpfen. Das ist sicherlich nicht der richtige Weg. Ich bin davon überzeugt, dass dieser Jahreswirtschaftsbericht die Chancen, die wir haben, und ebenso die Risiken aufzeigt. Wir müssen gemeinsam hart daran arbeiten, die Risiken möglichst kleinzuhalten. ({19})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen erhält nun der Kollege Anton Hofreiter das Wort.

Dr. Anton Hofreiter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003772, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ach, Herr Gabriel, es ist ja schön, wenn die wirtschaftliche Lage bei uns gut ist. Es ist schön, wenn die Löhne steigen. Es ist schön, wenn es den Menschen einigermaßen gut geht. Aber erstens trifft das nicht auf alle Menschen in unserem Lande zu, und zweitens ist von einem Bundeswirtschaftsminister schon etwas mehr zu erwarten, wenn er über die wirtschaftspolitischen Perspektiven spricht, als eine Beschreibung der derzeitigen Lage. Da hätte man auch jemanden vom Statistischen Bundesamt einladen können; der hätte das hier mindestens so inspiriert vorgetragen wie Sie. ({0}) Wenn Sie sagen, dass eine offene Gesellschaft, dass Zuwanderung Voraussetzungen für ökonomischen Erfolg sind, dann geben wir Ihnen recht. Aber haben Sie eigentlich bemerkt, dass Sie in einer Koalition mit CDU und CSU sind? Haben Sie eigentlich einmal mit Ihrem Koalitionspartner darüber gesprochen, ({1}) der ja nicht nur Unsinn erzählt, sondern die Stimmung im ganzen Land vergiftet? Sorgen Sie doch einmal dafür, dass das abgestellt wird! Das ist nicht nur eine ökonomische Frage, sondern auch eine des Anstandes. ({2}) Herrn Fuchs möchte ich Folgendes sagen: Wenn man schon die Linkspartei angreift, dann bitte nicht mit völligem fachlichen Unsinn. ({3}) Denn wenn Sie behaupten, Zeitarbeit sei eines der großen Sprungbretter auf dem Weg zu einer dauerhaften Beschäftigung, und die Statistiken sagen, dass es im besten Falle 7 Prozent schaffen, ({4}) dann können Sie das nicht als Beispiel anführen. Lesen Sie doch einfach einmal Ihre eigenen Statistiken; dann werden Sie feststellen, wie es wirklich aussieht. ({5}) Zu Ihrer Energiewende. Sie haben gesagt, Sie wollen die Energiewende. Erstens glaube ich Ihnen das nicht; denn das ist mir völlig neu. Dass Sie eine Energiewende von der Atomkraft hin zur Braunkohle wollen, könnte man Ihnen vielleicht noch glauben. ({6}) Aber wenn Sie wirklich eine Energiewende wollen, die dazu beiträgt, dass die Strompreise stabil bleiben, dann müssen Sie sich doch um die kostengünstigsten Bereiche der Stromproduktion kümmern. ({7}) Und was ist inzwischen die kostengünstigste Form der Stromproduktion? Wir reden hier überhaupt nicht über die ökologischen Kosten, die zum Beispiel Braunkohle verursacht. Wir reden auch überhaupt nicht über das Risiko, das Atomkraft verursacht, sondern wir betrachten das rein betriebswirtschaftlich. ({8}) Die kostengünstigste Form der Stromproduktion ist eine Windkraftanlage an Land. Aber ausgerechnet diese Produktion wollen Sie deckeln. Das macht doch überhaupt keinen Sinn. Selbst wenn Ihnen die Umwelt und die Lebensgrundlagen vollkommen egal sind: Es macht auch ökonomisch keinen Sinn, ausgerechnet die kostengünstigste Form der Stromproduktion zu deckeln, wenn man die Strompreise in den Griff kriegen will. ({9}) Aber schauen wir uns einmal an, was in Ihrem schönen Bericht steht und was die Bundesregierung in wirtschaftlicher Hinsicht eigentlich vorhat; davon ist bis jetzt kaum gesprochen worden. Beim Lesen und Hören musste ich manchmal an die eine oder andere Wahlkampfrede von Ihrem Kollegen Steinbrück denken. Er hat Frau Merkel immer vorgeworfen, dass sie schöne Pappschachteln ins Fenster stellt, in denen nichts drin ist. Solche Pappschachteln werden nicht schöner, bloß weil man sie rot anmalt, Herr Gabriel. ({10}) Schauen wir uns einmal einige dieser Pappschachteln an, zunächst die Investitionsoffensive. Im Rahmen dieser Investitionsoffensive wollen Sie 1,2 Milliarden Euro mehr für den Erhalt und Neubau im Bereich Straße ausgeben. Das klingt erst einmal gut; das ist scheinbar eine hohe Summe. Das Problem ist bloß: Die gemeinsame Expertenkommission der 16 Länder hat festgestellt, dass 7,2 Milliarden Euro notwendig sind, und zwar allein für den Erhalt. Sie geben nur einen Bruchteil mehr für Erhalt und Neubau aus. Ist Ihnen eigentlich nicht klar, dass zwischen 1,2 Milliarden und 7,2 Milliarden Euro durchaus ein relevanter Unterschied besteht? Oder gehen Sie so nachlässig mit Zahlen um, wie das der ADAC tut? Schauen wir uns den Bericht der OECD an. Laut OECD ist Deutschland Schlusslicht bei den Investitionen. Der Durchschnitt der großen Industrieländer liegt bei 20 Prozent des BIP. Wir liegen bei 17 Prozent. ({11}) Mit Ihrer Investitionsoffensive erreichen Sie 17,1 Prozent, das heißt, Sie steigern die Quote um 0,1 Prozent. Das nennen Sie Investitionsoffensive? Das ist doch lachhaft. Das ist doch nicht ernst zu nehmen. ({12}) Sorgen Sie dafür, dass die Infrastruktur verbessert wird, dass Straßen und Brücken saniert werden, anstatt wie Don Quichotte gegen Windräder zu kämpfen! Bei diesem Vergleich stellt sich natürlich die Frage, wer eigentlich Sancho Pansa ist. Beim Kampf gegen Windräder könnte es Horst Seehofer sein; aber das passt doch nicht so ganz. Stoppen Sie also den Verfall! Herr Finanzminister, es ist ja schön, dass der nominale Schuldenstand sinkt. Aber was haben wir von einem nominal sinkenden Schuldenstand, wenn de facto die implizite Staatsverschuldung weiter steigt, weil Sie die vorhandene Infrastruktur vergammeln lassen? Davon haben wir nichts, sondern am Ende wird alles nur noch teurer und die Lasten werden in die Zukunft verschoben. Das ist in der Form einfach Unsinn. ({13}) Das Gleiche gilt für den Breitbandausbau. Ursprünglich war dafür noch 1 Milliarde Euro vorgesehen. Irgendwie ist die den Koalitionsverhandlungen zum Opfer gefallen. ({14}) Woher wollen Sie denn das Geld dafür nehmen? Geld dafür könnte man schon finden. Sie müssten auch gar nicht die Steuern erhöhen. Es wäre schon schön, wenn Sie sich an den Subventionsabbau herantrauen würden. ({15}) Laut Ihrem eigenen Bericht belaufen sich die jährlichen Subventionen auf 21 Milliarden Euro. Bauen Sie doch wenigstens einen Teil davon ab, dann hätten Sie Geld für Investitionen. Aber nein, Sie haben ja jetzt einen Minister für Ausländermaut auf der Straße und für Daten. Vielleicht führen Sie ja noch eine Ausländermaut für Datenverkehr ein. Geld kommt damit jedoch auch nicht herein. Herr Gabriel, Sie selbst haben ja, auch wenn Sie sonst nicht viel von Wirtschaftspolitik, sondern vor allem von Statistik gesprochen haben, in Ihrer Rede erwähnt, dass eine Bankenunion notwendig ist, um die Probleme in den Griff zu bekommen. Ja, eine Bankenunion ist notwendig. Darin sind sich die SPD-Fraktion und unsere Fraktion auf europäischer Ebene einig. Aber die Bundesregierung blockiert eine effiziente Bankenunion. ({16}) Da stellt sich schon die Frage: Wer bestimmt denn jetzt: die europäische Sozialdemokratie oder die Bundesregierung? ({17}) Unterlassen Sie das! Beenden Sie die Blockadehaltung Deutschlands in der Frage der Bankenunion! Sorgen Sie dafür, dass wir schnell Banken abwickeln können; denn sie sind eine relevante Gefahr. ({18}) Herr Gabriel, wenn ich mir Ihre Rede insgesamt anschaue, dann kann ich nur feststellen - der Koalitionsvertrag hieß ja „Deutschlands Zukunft gestalten“ -: Es war leider wieder bloß Statistik und „Deutschlands Zukunft verwalten“. Das ist zu wenig. Sorgen Sie für eine andere Politik, damit „Wohlstand für Alle“ gilt. Mit dieser Politik, mit dem Verlesen von Statistiken oder ein paar harmlosen Verwaltungsakten werden Sie dieses Ziel mit Sicherheit nicht erreichen. Vielen Dank. ({19})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort erhält nun der Kollege Hubertus Heil für die SPD-Fraktion. ({0})

Hubertus Heil (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003142, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Lieber Kollege Hofreiter, ich war ja auch vier Jahre lang Oppositionspolitiker. Wenn man als Oppositionspolitiker eine Rede hält, dann ist sie wirksamer, wenn man nicht sozusagen alles in Bausch und Bogen verdammt und schlechtredet, sondern sich auf die Punkte konzentriert, bei denen eine Regierung angreifbar ist. Insofern kann ich nur eines sagen: Ihre Rede ist der Sache nicht angemessen gewesen. Die Opposition scheint noch Hubertus Heil ({0}) zu üben. Der Bundeswirtschaftsminister regiert. Das ist der Unterschied. ({1}) Ich habe Ihren Antrag gelesen. ({2}) - Hören Sie doch einmal zu. ({3}) Ich finde im Antrag der Grünen den einen oder anderen sympathischen Punkt. Aber eines darf man doch bitte einmal zur Kenntnis nehmen: Die Rede des Bundeswirtschaftsministers zum Jahreswirtschaftsbericht, die wir heute gehört haben, unterscheidet sich von denen seiner Vorgänger. ({4}) Oft haben Bundeswirtschaftsminister bei der Vorstellung des Jahreswirtschaftsberichts im Wesentlichen die Lage beschrieben, meistens sehr rosig ({5}) - ganz ruhig; nicht aufgeregt sein; ganz locker bleiben -, und sich damit begnügt. Sie finden ganz tolle Begriffe wie XXL-Aufschwung oder Ähnliches. Der Unterschied ist: Dieser Bundeswirtschaftsminister hat ein realistisches Bild der wirtschaftlichen Entwicklung dieses Landes gezeichnet, mit allen Stärken, die wir haben, aber auch mit allen Herausforderungen und Risiken. Er begnügt sich aber nicht damit, sondern er sagt, was diese Bundesregierung tun will und tun wird. Das ist der Unterschied. ({6}) Politik heißt, die Wirklichkeit zu betrachten, sie aber auch zu verändern. Das ist der Unterschied zur Vorgängerregierung. ({7}) Ich will Ihnen sagen, was konkret wir uns vorgenommen haben. Es geht um leistungsfähige Infrastrukturen, die wir bereitstellen müssen, damit dieses Land wirtschaftlich erfolgreich bleibt. Es geht um die Sicherung der Fachkräftebasis in diesem Land. Es geht - das hat Sigmar Gabriel deutlich gemacht - um die Überwindung der Spaltung am Arbeitsmarkt, weil die Spaltung nicht nur ungerecht ist, sondern weil wir sie uns ökonomisch mit Blick auf die demografische Entwicklung gar nicht leisten können, weil wir Wohlstand und Teilhabe für alle brauchen, nicht nur aus Gründen des gesellschaftlichen Zusammenhalts, sondern auch aus Gründen der wirtschaftlichen Vernunft. Wir können uns Ausgrenzungen von Menschen am Arbeitsmarkt durch schlechte Löhne oder Dauerarbeitslosigkeit dauerhaft nicht leisten. Das ist eine ökonomische Weisheit, meine Damen und Herren, die wir begriffen haben. ({8}) Es geht um Innovation, Forschung und Entwicklung. Und es geht darum, die Energiewende zu gestalten, sowie nicht zuletzt darum, die nach wie vor schwelende Krise im Euro-Raum in den Griff zu bekommen; denn die ist mitnichten überstanden. Es gilt der Satz: Wir haben gute Chancen, diese Reformen jetzt zu stemmen, weil wir in Deutschland eine gute wirtschaftliche Lage haben. Es gilt aber nach wie vor auch der Satz: Wer morgen sicher leben will, muss heute für Reformen kämpfen. Das tun wir mit den im Jahreswirtschaftsbericht aufgezeigten Instrumenten. ({9}) Auch wenn Statistik Sie langweilt, Herr Kollege Hofreiter, ({10}) sollte man sich trotzdem mit ein paar wirtschaftlichen Fundamentaldaten zumindest auseinandersetzen. Es ist nicht zu bestreiten, dass wir eine ganz ordentliche wirtschaftliche Entwicklung haben. ({11}) Die Prognose für dieses Jahr liegt bei 1,8 Prozent. Wir sagen nicht, dass das ein Grund ist, sich zurückzulehnen. Es ist mitnichten ein Grund, sich zurückzulehnen. Wir können etwas daraus machen. Wir sollten darüber reden, welches die Auseinandersetzungen der Zukunft sein werden, welche Herausforderungen auf uns zukommen. Es geht darum, dass wir uns dem demografischen Wandel, dessen Folgen inzwischen auch den Arbeitsmarkt erfasst haben, stellen. Auf der einen Seite suchen immer mehr Unternehmen händeringend qualifiziertes Fachpersonal. Auf der anderen Seite gibt es in Deutschland nach wie vor viel zu viele Menschen, die abgehängt sind. Die Frauenerwerbsbeteiligung in Deutschland erscheint zwar prozentual hoch, das Arbeitsvolumen aber ist zu niedrig. Auch viele junge Leute sind abgehängt. Nach wie vor verlassen Jahr für Jahr 70 000 junge Menschen in Deutschland die Schule ohne Schulabschluss. 1,5 Millionen Menschen zwischen 20 und 30 Jahren haben keine berufliche Erstausbildung. Wir haben viel zu viele Menschen, die im erwerbsfähigen Alter sind, aber zum alten Eisen gehören. Wir müssen nicht nur die Frage der Ausbildung in den Vordergrund stellen, sondern auch die Frage der Weiterbildung und der Beschäftigungsfähigkeit von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern behandeln. Arbeitnehmerrechte sind nicht nur Bürgerrechte, sondern sie sind in diesem Land auch ein Instrument, um über Mitbestimmung für gute Arbeitsbedingungen und Hubertus Heil ({12}) so dafür zu sorgen, dass Menschen auch beschäftigungsfähig bleiben können. Wir können es uns nicht mehr leisten, Menschen am Arbeitsmarkt auszugrenzen. Wenn wir über Fachkräftesicherung reden, gehört dazu auch, dass wir über qualifizierte Zuwanderung in dieses Land reden müssen. Dafür brauchen wir nicht nur gesetzliche Regelungen, sondern vor allen Dingen eine Willkommenskultur, eine Weltoffenheit, die deutlich macht, dass dieses Land von Einwanderung und Zuwanderung profitiert und keinen Schaden nimmt. Deshalb, meine Damen und Herren, ist die eine oder andere xenophobe Rede, die Politiker im Wahlkampf halten, nicht nur unanständig, sondern auch ökonomisch schädlich für dieses Land. Wir brauchen qualifizierte Zuwanderung. Wir müssen die inländischen Potenziale nutzen. Und wir brauchen Menschen, die zu uns kommen, damit sie hier arbeiten, lehren und leben. Das ist die Erkenntnis, die wir aus der demografischen Entwicklung ziehen müssen. Deshalb ist es gut, dass wir hier einen Schwerpunkt setzen. ({13}) Es geht bei dem, was wir vorhaben, im Kern um eine Strategie, die auf Investitionen setzt. Frau Wagenknecht, Herr Hofreiter, es geht da um öffentliche Investitionen gar keine Frage! Diese Bundesregierung wird in dieser Legislaturperiode 23 Milliarden Euro zusätzlich investieren, 6 Milliarden Euro in den Bereich Kitas, Schulen, Hochschulen, 3 Milliarden Euro in den Bereich Forschung, 5 Milliarden Euro in den Bereich der Verkehrsinfrastruktur. Und ja, ich würde mir auch das eine oder andere mehr wünschen. Aber es geht eben nicht nur um öffentliche Investitionen, sondern im gleichen Maße um die Bedingungen für private Investitionen. Wir haben da ein Risiko, Herr Fuchs. Wir haben die Situation, dass deutsche Unternehmen tatsächlich nicht wenig investieren, vor allen Dingen große Unternehmen, aber leider viel zu wenig in Deutschland. Das ist eine Diskussion, die wir führen müssen. Dabei müssen wir über die Standortbedingungen in diesem Land sprechen. Ich rede davon, dass man für Innovationen auch Investitionen braucht, aber wir uns in diesem Land auch einmal vor Augen führen müssen, dass wir bei der Herausforderung der Digitalisierung, bei dem technischen Fortschritt, der vor uns liegt, nicht abgehängt werden dürfen. Da mache ich mir Sorgen. Wer weiß, dass der IKT-Anteil, der Anteil des Bereichs der Informations- und Kommunikationstechnologie an der Wertschöpfung, bei einem deutschen Auto heute 30 Prozent ausmacht, wer weiß, dass der IKT-Anteil bei Autos im Jahr 2025 aufgrund technischen Fortschritts bei ungefähr 60 Prozent liegen wird, und sich dann anschaut, wo die wesentlichen IKT-Unternehmen in der Welt sitzen, um dann festzustellen, dass nur noch 10 Prozent der Wertschöpfung im Bereich der Informations- und Kommunikationstechnologie in Europa stattfindet, der muss sich auf lange Sicht darum kümmern, dass wir in diesem Land und in Europa insgesamt im Bereich der digitalen Wirtschaft vorankommen. Deshalb, Herr Bundesminister, ist es gut, dass dieses Thema im Jahreswirtschaftsbericht angesprochen wird. Ich bitte diese Bundesregierung ganz herzlich darum, das Thema digitale Ökonomie, digitale Agenda, Industrie 4.0 als Herausforderung zu begreifen, die ähnlich groß ist wie das, was wir gerade im Bereich der Elektromobilität erleben, dass wir also die Kräfte bündeln müssen, wir Infrastrukturen benötigen, wir Investitionen in Bildung und Forschung brauchen, wir dafür sorgen müssen, dass wir da nicht zurückfallen, damit wir die Chancen digitaler Wirtschaft auch für Deutschland und Europa nutzen können. ({14}) Ja, es geht um Innovationen, es geht auch um Integration in gute Arbeit. Dazu hat der Bundeswirtschaftsminister eine ganze Menge gesagt. Es geht letztendlich auch um Internationalisierung. Deshalb bin ich dankbar, dass der Bundeswirtschaftsminister da einen differenzierten Blick auf die Chancen und die Risiken der Freihandelspolitik und des internationalen Freihandelsabkommens geworfen hat. Wir in Deutschland diskutieren ja ganz intensiv die Risiken. Es gibt viele Ängste in der Bevölkerung, in der Wirtschaft übrigens auch, dass bestimmte Standards, die wir in Deutschland und Europa gewohnt sind, abgesenkt werden könnten. Dagegen muss man sich stemmen. Aber ich sage im gleichen Atemzug: Es geht beim Thema Transatlantisches Freihandelsabkommen auch darum, die außen- und sicherheitspolitischen und ökonomischen Chancen zu sehen. Wir haben vor einigen Jahren eine Rede von Präsident Obama erlebt, in der er beschrieben hat, dass die Vereinigten Staaten von Amerika eine pazifische Nation seien. ({15}) Er hat also einen Blick von der pazifischen Küste Kaliforniens in Richtung Fernost - so nennen wir es - geworfen. Es ist ohne Zweifel so, dass die Vereinigten Staaten von Amerika auch eine pazifische Nation sind. Aber wir müssen ein politisches und wirtschaftliches Interesse daran haben, dass die Vereinigten Staaten von Amerika und Nordamerika insgesamt eben auch eine transatlantische Beziehung haben. Meine Damen und Herren, vor diesem Hintergrund muss man - bei allem, was wir intensiv diskutieren, um sicherzustellen, dass das Transatlantische Freihandelsabkommen nicht sozusagen ein wirtschaftsradikaler Trojaner in Europa wird über die Chancen dieses Abkommens reden und die Verhandlungen so gestalten, dass wir sie zum Nutzen Deutschlands und Europas führen. Deshalb ist meine ganz herzliche Bitte, in diesem Haus differenziert darüber zu reden. Ich muss schon sagen, dass mich da der Beschluss von Bündnis 90/Die Grünen, bei denen ich viele Atlantiker kenne, ein bisschen überrascht hat, weil er ein bisschen zu sehr die Risiken und nicht die Chancen berücksichtigt. Meine Damen und Herren, Politik fängt damit an, die Wirklichkeit zu betrachten, um sie zu verändern. ({16}) Hubertus Heil ({17}) In diesem Sinne hat der Bundeswirtschaftsminister mit dem Jahreswirtschaftsbericht eine realistische Betrachtung der Situation in diesem Land vorgelegt. Es geht nicht darum, nur die rosarote Brille aufzusetzen. Aber es geht eben auch nicht darum, alles in Grund und Boden zu reden, Frau Wagenknecht. Wir brauchen Macher und nicht Miesmacher, wenn es um die Wirtschaftspolitik in diesem Land geht. Das ist der Unterschied zu diesem Bundeswirtschaftsminister. ({18}) In diesem Zusammenhang -

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nein, nein, nicht „in diesem Zusammenhang“! Das war ein hervorragender Schlusssatz, Herr Kollege Heil, ({0}) der sich nur schwerlich toppen lässt.

Hubertus Heil (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003142, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Dann versuche ich es, Herr Präsident, gar nicht erst. Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. Wir brauchen tatsächlich Anpacker, und die gibt es in dieser Bundesregierung. Herzlichen Dank. ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort erhält nun der Kollege Michael Schlecht für die Fraktion Die Linke. ({0}))

Michael Schlecht (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004144, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Herr Gabriel, Sie haben nicht nur jahrelang Tarifpolitik betrieben, sondern in Gewerkschaftsschulen Tarifpolitik auch unterrichtet. Nun haben Sie sich geoutet, dass wichtige Dinge, die man Ihnen beigebracht hat, auch hängengeblieben sind. Es ist erfreulich, dass Sie herausstellen, dass sich faire Tariferhöhungen mindestens an der Preissteigerungsrate - an dem Ausgleich der Inflation - und natürlich auch an der Produktivitätssteigerung orientieren müssen. Es ist richtig - und ich finde es gut, dass Sie auch das herausgestellt haben -, dass es für Gewerkschafter immer angezeigt ist, bei den Tarifverhandlungen eine deutliche Umverteilungskomponente herauszuholen, also mehr als nur den Ausgleich der Preissteigerung und eine Anpassung an die Produktivitätssteigerung. Gerade in diesen Zeiten ist das von außerordentlicher Bedeutung; denn durch die Politik der letzten zehn, zwölf Jahre, durch die Rahmenbedingungen, mit denen Gewerkschaften konfrontiert waren, ist den Gewerkschaften ein dramatisches Lohndumping aufgezwungen worden. Die Gewerkschaften konnten jahrelang - das haben Sie selbst in Ihrer Rede eben angesprochen - nicht einmal Lohnerhöhungen herausholen, die die Preissteigerungen und Produktivitätssteigerungen berücksichtigten. Vielmehr wurden sie gezwungen, sich auf niedrigere Lohnabschlüsse einzulassen. Das muss jetzt ausgeglichen werden. Dafür ist in der Tat Jahr für Jahr eine massive Umverteilungskomponente notwendig. ({0}) Grundsätzlich kann ich die Grundsätze, die Sie formulieren, loben. Aber machen Sie etwas, damit diese Grundsätze in der Realität auch umgesetzt werden können? Fehlanzeige! Als Gewerkschafter kann ich keine Tariferhöhungen durchsetzen, indem ich den Unternehmern am Verhandlungstisch erzähle: Hört mal zu, es gibt da jetzt einen Wirtschaftsminister, der dieses und jenes sagt. - Das interessiert die im Regelfall nicht, sondern Unternehmer interessiert immer nur, was in Tarifauseinandersetzungen und auch in Streikauseinandersetzungen durchgesetzt werden kann. Die in der Vergangenheit im Rahmen der Agenda von Ihnen durchgesetzte massive Deregulierung am Arbeitsmarkt führte zu Befristungen, Leiharbeit, Minijobs, Verunsicherung durch Hartz IV und Verängstigung der Beschäftigten. Das ist der Grund dafür, dass wir jetzt seit über zehn Jahren ein dramatisches Lohndumping in unserem Land zu verzeichnen haben. Das muss geändert werden. ({1}) Ändern Sie denn nun tatsächlich etwas an dieser verhängnisvollen Politik? Wieder Fehlanzeige! Es gibt keine Veränderungen bei Befristungen; denn mit befristet Beschäftigten, das sage ich aus Erfahrung, streikt es sich nicht besonders gut, weil sie natürlich Angst haben, dass ihr Vertrag nicht verlängert wird. Es streikt sich nicht besonders gut mit Leiharbeitskräften. Es streikt sich auch nicht besonders gut mit Minijobbern - mittlerweile sind es 7 Millionen -, die in atomisierten Arbeitsverhältnissen eingesetzt werden. Diese kennen im Regelfall nicht einmal die Kollegen aus der Mittel- oder Spätschicht. Unter solchen Umständen ist es sehr schwierig, Widerstand in Form einer Streikbewegung zu organisieren. Ein Wille zur Veränderung ist in Ihrer Politik nicht festzustellen. Es ist allerdings festzustellen, dass Sie im zurückliegenden Wahlkampf zu all diesen Punkten wunderbare Forderungen formuliert haben. Aber mit politischen Kräften wie uns, die mit Ihnen in diesem Bereich vorankommen wollten, wollten Sie in Form von Koalitionsverhandlungen nichts zu tun haben. Die Lohnerhöhung, die Sie jetzt erwarten, ist außerordentlich bescheiden. Sie gehen von einem Plus von 2,7 Prozent aus, schreiben aber selbst in Ihren Bericht hinein, dass die Einkommen aus Unternehmertätigkeit und Vermögen um das Doppelte ansteigen sollen. Das heißt, dass davon auszugehen ist, dass die Umverteilung von unten nach oben sogar noch weiter zunimmt. Anscheinend finden Sie das gut. Das passt aber mit Ihren sonstigen Reden nicht zusammen. Insofern entpuppen sich Ihre sonstigen Reden als Sonntagsreden. ({2}) Sie haben von Lohnverfall gesprochen. Den gibt es in der Tat. Daher ist es dringend notwendig, dass von politischer Seite gegengewirkt wird, dass Befristungs- und Leiharbeitsregelungen zurückgenommen werden. Wir müssen zu einer neuen Ordnung am Arbeitsmarkt kommen. Nur dann haben Gewerkschaften bei Streiks und Auseinandersetzungen eine Chance, Lohnsteigerungen entsprechend den Preis- und Produktivitätssteigerungen sowie unter Umständen auch eine Umverteilungskomponente durchzusetzen. Die Politik muss aber die Rahmenbedingungen dafür schaffen. Ich danke Ihnen. ({3})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort erhält nun der Kollege Joachim Pfeiffer für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Joachim Pfeiffer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003608, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Deutschland geht es in der Tat gut. Das ist nicht vom Himmel gefallen, sondern das ist das Ergebnis von harter Arbeit, von Reformen in den letzten zehn Jahren. Wir haben uns aus einer Abwärtsspirale mit immer mehr Arbeitslosen, mit einer immer höheren Verschuldung und immer mehr Sozialausgaben durch Reformen herausgearbeitet und befinden uns nun in einer Aufwärtsspirale mit immer mehr Beschäftigungsverhältnissen, höheren Steuereinnahmen und weniger Sozialausgaben. Wir haben eine wettbewerbsfähigere Wirtschaft. Die Reformen bezogen sich auf die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes, Technologieförderung und Gründungsförderung. Viele Dinge sind zusammengekommen. Diese Reformen haben es ermöglicht, dass beispielsweise die Beschäftigungsschwelle in Deutschland, die vor zehn Jahren noch bei 1,5 Prozent des Wirtschaftswachstums lag, auf jetzt 0,5 Prozent zurückgegangen ist. Das heißt, wenn der Wirtschaftsminister für dieses Jahr ein Wachstum von 1,8 Prozent voraussagt, dann hat dies außerordentlich positive Beschäftigungseffekte in diesem Land. Die Zahlen, die hier von Teilen der Opposition angeführt wurden - offensichtlich wurden bewusst falsche Zahlen genannt; ich kann kaum glauben, dass Sie es nicht besser wissen -, sind wirklich hanebüchen. Frau Wagenknecht spricht davon, dass 25 Prozent der 42 Millionen Menschen in Deutschland prekär beschäftigt wären. ({0}) Es würde mich interessieren, woher diese Zahl kommt. Gerade letzte Woche hat die Bundesagentur die Zahlen zu den Aufstockern korrigiert. ({1}) Es gibt in diesem Land 47 000 Aufstocker, die Singles sind, und 170 000, die in Mehrpersonenhaushalten wohnen. Das sind insgesamt circa 230 000 Aufstocker. Das sind 0,5 Prozent von 42 Millionen und nicht 25 Prozent. Ich glaube, da ist Ihnen das Komma ein bisschen verrutscht. ({2}) Behaupten Sie hier nicht irgendwelche Sachen, die wirklich hanebüchen sind! Wenn ich den Kollegen Hofreiter höre, sehne ich mich fast nach dem Herrn Trittin zurück; das muss ich wirklich sagen. Das, was der erzählt hat, hatte wenigstens noch ein gewisses intellektuelles Niveau. ({3}) Auch Ihre Zahlen stimmen nicht, Herr Hofreiter. Sie behaupten, dass 7 Prozent in der Zeitarbeit Arbeit finden. Allein der Klebeeffekt - dabei geht es um die Menschen, die nach der Zeitarbeit beim Kundenunternehmen verbleiben - macht 15 Prozent aus. Das ist mehr als das Doppelte von dem, was Sie insgesamt der Zeitarbeit zuschreiben. ({4}) Zwei Drittel der Menschen, die Zeitarbeit als Brücke nutzen, bleiben über die Zeitarbeit hinaus dauerhaft in Arbeit. Das ist die richtige Zahl. Wenn Sie nicht einmal Statistiken richtig lesen können, sollten Sie vielleicht etwas leiser sein und hier nicht irgendwelche Behauptungen aufstellen. ({5}) Weil wir diese Reformen unternommen haben, haben wir heute höhere Steuereinnahmen und sind wettbewerbsfähiger. ({6}) Deswegen können wir uns heute auch entsprechend etwas leisten in diesem Land. Deshalb werden wir jetzt mit der Mütterrente und mit der Rente mit 63 Dinge umsetzen können, die vor zehn Jahren unmöglich waren. Damals waren die Kassen leer, heute sind die Kassen voll. ({7}) Wir müssen aber aufpassen, dass wir diese positive Spirale nicht an mancher Stelle stoppen oder gar ins Gegenteil verkehren. Das ist wie beim Olympioniken: Wenn der hart trainiert, kann er ganz oben auf dem Podest stehen. Es ist, glaube ich, unstrittig, dass Deutschland nicht nur in Europa, sondern weltweit ganz oben auf dem Podest steht. Wenn er nicht weiter trainiert, wenn er nicht weiter hart arbeitet, dann wird er bei den nächsten Olympischen Spielen in vier Jahren nicht automatisch wieder auf dem Treppchen stehen. Deshalb sollten wir uns genau anschauen, was wir tun. Wir müssen aufpassen: Die Demografie ist, wie sie ist. Deshalb sind heute die Probleme anders als vor 10, 15, 20 Jahren. Uns fehlen bis 2025 6,5 Millionen Fachkräfte. Sie alle sind nicht geboren, und so viele Fachkräfte werden wir sicher nicht durch Zuwanderung bekommen. Deshalb brauchen wir die älteren Menschen im Arbeitsmarkt. Kollege Fuchs hat es schon angesprochen: Von 2000 bis heute, bis 2014, ist die Beschäftigungsquote der Älteren, der 55- bis 64-Jährigen, von 38 Prozent auf im letzten Jahr wahrscheinlich 65 Prozent gestiegen. Das heißt, zwei Drittel der Menschen im Alter von 55 bis 65 sind heute erwerbstätig und nicht mehr nur 38 Prozent. Die Menschen arbeiten länger. Das ist ein Grund dafür, dass so viele Menschen in Beschäftigung sind und wir weniger für Sozialausgaben, sei es Arbeitslosengeld, sei es Arbeitslosenhilfe, oder auch für Rente ausgeben müssen. Deshalb dürfen wir jetzt keine neuen Frühverrentungsmodelle einführen. Die Gefahr ist sehr konkret. Mir wurde dieser Tage ein Beispiel eines mittelständischen Unternehmens aus dem Sauerland zugetragen. Das Unternehmen stellt mit 35 Mitarbeitern Steuerungssysteme für Fregatten her. In der Abteilung Prüffeld arbeiten vier Mitarbeiter. Zwei davon könnten nach der jetzt angedachten Regelung bereits Ende 2014 statt wie bisher Ende 2016 in Rente gehen. Qualifizierungen für jüngere Mitarbeiter sind bereits im Gange; es dauert aber mindestens 18 Monate, bis diese beendet sind. Wenn die jetzt angedachte Regelung umgesetzt werden würde, würde der Fachkräftemangel verstärkt. Dieses mittelständische Hochtechnologieunternehmen wäre direkt davon betroffen. Auch dort würden Fachkräfte fehlen. Es wäre dadurch bedroht. Insofern müssen wir uns ganz genau anschauen, was wir auf diesem Gebiet machen. Herausforderungen, die wir angehen müssen, gibt es in der Tat noch viele; hier kann ich dem Minister nur zustimmen. Ich nenne da die Bereiche Internet, digitale Wirtschaft, Forschung und Entwicklung. Auch die Haushaltskonsolidierung müssen wir weiter vorantreiben. Das Maastricht-Ziel, dass der Schuldenstand maximal 70 Prozent des Bruttoinlandsprodukts betragen soll, müssen wir in dieser Legislaturperiode fest im Blick behalten; in der nächsten wollen wir auf 60 Prozent kommen. Bei der Entbürokratisierung brauchen wir alle. Ich freue mich, dass ich hier die Kollegin Andreae sitzen sehe. Gestern Abend waren wir bei einer Veranstaltung, wo sie sich sehr dafür eingesetzt hat, dass wir weiter entbürokratisieren und beispielsweise die steuerrechtlichen Aufbewahrungsfristen verkürzen. Da holen wir Sie gerne ins Boot. Sie hatten dort weiter ausgeführt, dass man die Grünen hierfür auch im Bundesrat braucht, weil es so viele grüne Landesminister gibt. In der Tat, wir hatten in der letzten Legislaturperiode zusammen mit der FDP entsprechende Vorschläge gemacht. Diese sind im Bundestag verabschiedet worden und dann leider im Bundesrat nicht auf Gegenliebe gestoßen. Insofern sage ich herzlichen Dank für die Ankündigung Ihrer Unterstützung auch im Bundesrat. Wenn wir unsere Vorschläge umsetzen können, bringen wir den Standort weiter voran. Ein wichtiges Thema ist die Bekämpfung der Langzeitarbeitslosigkeit. Auch wenn wir beim Abbau der Arbeitslosigkeit erfolgreich waren - sie ist um über ein Drittel gesunken -, verzeichnen wir bei der Zahl der Langzeitarbeitslosen einen Rückgang um nur 25 Prozent. Das zeigt, dass wir das Thema angehen müssen. Im Bundeshaushalt sind dafür 1,4 Milliarden Euro vorgesehen, unter anderem für spezielle Programme. Diese Programme müssen für die Qualifizierung, für die Förderung dieser Menschen genutzt werden und nicht, um sie wegzusubventionieren. Manche fordern hier einen dritten Arbeitsmarkt, um die Langzeitarbeitslosen quasi durch kommunale Arbeitsbeschaffungsprogramme wegzusubventionieren. Das ist nicht unser Ansatz. Vielmehr wollen wir diese Arbeitslosen aktivieren. Jeder von ihnen müsste eigentlich jeden Tag ein Angebot für Qualifizierung oder auch für einen Arbeitseinsatz erhalten, um zurück in den Arbeitsmarkt zu kommen. Es reicht nicht, dass sie einfach nur finanziell unterstützt werden. ({8}) Lassen Sie mich auch noch ein paar Argumente zum geplanten Transatlantischen Freihandelsabkommen anführen. Es geht nicht nur darum, dass wir wahrscheinlich das letzte Mal die Chance haben, in Europa und Nordamerika inklusive Kanada weit ins 21. Jahrhundert hinein Standards zu setzen und Impulse zu geben, sondern es geht auch darum, den größten Binnenmarkt der Welt mit 800 Millionen Menschen zu schaffen. Es geht um Wachstumsimpulse von 120 Milliarden Euro auf europäischer Seite und fast 100 Milliarden Euro auf amerikanischer Seite. Es geht auch um den Abbau nicht tarifärer Handelshemmnisse und Chancen bei Beschaffungsprozessen. Diese Woche war der Chefunterhändler im Wirtschaftsausschuss. Er hat dort ganz klar gesagt, dass beispielsweise bei den Beschaffungsprozessen natürlich auch in Amerika Standards gefunden werden, die dazu führen, dass europäische Unternehmen dort besser agieren können als in der Vergangenheit. Erinnern wir uns an den US-Auftrag über Tankflugzeuge, Stichwort Airbus/ EADS. So stellen wir uns den Beschaffungsprozess nicht vor. Mit nichttarifären Hemmnissen wurde das Ganze letztlich umgangen. Lassen Sie uns auch einmal die Chancen eines solchen Abkommens sehen! Es werden ja immer nur Risiken und Gefahren betrachtet, sogar bei den von Frau Künast - sie ist gerade nicht da - gern ins Feld geführten Chlorhühnchen. Es wird so getan, als drohe Europa von Chlorhühnchen überschwemmt zu werden. Wie ist denn die Situation? In den USA wird Geflügel in der Tat seit Jahrzehnten oder schon immer, um Salmonellenbefall vorzubeugen, beim Schlachten mit keimtötenden Substanzen desinfiziert. Diese Chlorhühnchen dürfen - Stand: heute - in Europa nicht importiert werden; das ist richtig. Aber die USA haben bereits 2009 vor dem Dispute Settlement Body der WTO eine entsprechende Klage eingereicht. Alle Gutachten der Europäischen Union besagen, dass Chlorhühnchen nicht gesundheitsschädlich sind. Was wird also passieren? Wenn diese Klage erfolgreich ist, dann werden diese Chlorhühnchen, die manche hier als Symbol für den Untergang europäischer Standards betrachten, in unbegrenzter Zahl und ungekennzeichnet nach Europa exportiert werden dürfen. Wenn es uns aber gelingt, im Rahmen der TTIP-Verhandlungen Standards durchzusetzen und auch über Mengen zu sprechen, dann haben wir die Chance, hier etwas zu ändern. Das heißt, selbst bei den Chlorhühnchen ist die TTIP eine Chance zur Lösung und nicht Ursache des Problems. ({9}) Das bitte ich Sie wirklich einmal in Betracht zu ziehen, anstatt hier einseitig Emotionen zu schüren und aufzuhetzen. Insoweit muss man sagen: Die Richtung stimmt. Wir werden diesen Weg konsequent weitergehen, um Wachstum und Beschäftigung zu fördern. Nachhaltige Konsolidierung verbunden mit Technologiepolitik wird dazu führen, dass Deutschland nach vier Jahren unter dieser Koalition wiederum besser dasteht. Der Jahreswirtschaftsbericht, den wir heute diskutieren, ist ein wichtiger Meilenstein dafür. Vielen Dank. ({10})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nun erteile ich das Wort der Kollegin Katharina Dröge für Bündnis 90/Die Grünen.

Katharina Dröge (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004263, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Gabriel, angesichts der Rede von Herrn Pfeiffer will ich meine Rede ein bisschen sachlicher anfangen: Ihr Jahreswirtschaftsbericht enthält - das möchte ich sagen - durchaus einige richtige Analysen. Sie sagen zum Beispiel zu Recht: Deutschland braucht eine stärkere Binnennachfrage. Die Reduzierung von ökonomischen Ungleichgewichten in Europa ist eine der zentralen Aufgaben bei der Lösung der aktuellen Krise. Dieser Aufgabe muss sich endlich auch Deutschland stellen, um die Europäische Union wirtschaftlich zu stabilisieren. ({0}) Dieser Teil des Jahreswirtschaftsberichts ist richtig, Herr Gabriel. Das Problem an Ihrem Bericht ist allerdings die fehlende Umsetzung; denn für eine stärkere Binnennachfrage und eine günstige wirtschaftliche Entwicklung braucht es höhere Löhne und größere Investitionen, nicht nur aktuell, sondern auch zukünftig. Was Sie zur Investitionsförderung vorschlagen, wirkt auf mich jedoch eher wie der Scheinriese aus dem Kinderbuch Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer - ich weiß nicht, ob Sie dieses Buch kennen -: Je näher man Herrn Tur Tur kommt, desto kleiner wird der Scheinriese. ({1}) Da bringt es auch nichts, wenn Sie sich hier - ich formuliere es jetzt einmal positiv - doch sehr selbstbewusst hinstellen und große Ankündigungen machen. Sie müssen sich an Ihren Taten messen lassen, Herr Gabriel. ({2}) Für die Infrastruktur versprechen Sie 5 Milliarden Euro. Das klingt erst einmal super. Das Problem ist allerdings: Sie wollen diese 5 Milliarden Euro über vier Jahre investieren. Tatsächlich werden mindestens 7 Milliarden Euro gebraucht - jährlich. Dasselbe bei den Kommunen: Auch hier versprechen Sie 5 Milliarden Euro, und zwar für die Eingliederungshilfe. Dieses Geld soll aber erst mit dem Bundesteilhabegesetz kommen, und das kommt wahrscheinlich erst in drei bis vier Jahren, also dann, wenn Ihre Regierung wahrscheinlich gar nicht mehr im Amt ist. ({3}) Bis dahin planen Sie nur mit 1 Milliarde Euro, und das werden auch keine zusätzlichen Mittel sein. Da Sie in der heutigen Debatte noch einmal betont haben, wie wichtig gerade die Rolle der Kommunen für Investitionen in unserem Land ist, frage ich Sie: Wie sollen die Städte und Gemeinden investieren, wenn jede dritte Kommune in diesem Land gar nicht mehr in der Lage ist, ihre Schulden zu bedienen? ({4}) Einige Ihrer Vorhaben sind noch nicht einmal Scheinriesen, sondern einfach gar nicht vorhanden. Ich will ein Beispiel nennen: die energetische Gebäudesanierung. Das ist meiner Meinung nach eine der wichtigsten Baustellen der Energiewende. 40 Prozent des Energieverbrauchs entstehen im Gebäudebereich. Hier gibt es immense CO2-Einsparpotenziale. Gleichzeitig gibt es große Jobchancen in Deutschland. Die steuerliche Förderung dieser Maßnahmen kommt in Ihrem Jahreswirtschaftsbericht nicht vor. Aus meiner Sicht enthält Ihr Bericht noch eine ganze Reihe anderer Themen, die Sie zwar richtig analysieren, aber bei denen Sie falsch ansetzen. Mit Blick auf die Zeit möchte ich noch einen Punkt ansprechen, der mir sehr wichtig ist, nämlich das EUamerikanische Freihandelsabkommen. Ich hatte Sie eigentlich darauf ansprechen wollen, dass Ihr 80-seitiger Bericht nur einen Halbsatz zu diesem Freihandelsabkommen enthält. Da Sie das Thema in dieser Debatte aber angesprochen haben, bin ich erst einmal erleichtert; denn Sie haben erkannt, dass wir im Plenum über dieses Thema diskutieren sollten. ({5}) Was Sie zum Freihandelsabkommen gesagt haben, trägt aus meiner Sicht nicht zu der ernsthaften Debatte bei, die wir dazu führen müssen. Sie hätten nämlich sagen müssen, wie wir es schaffen können, die Umwelt-, Verbraucher- und Sozialschutzstandards in der Europäischen Union zu sichern. Das hätten Sie erklären müssen. Denn selbst Herr Bercero, der Chefunterhändler der EU, der, wie Herr Pfeiffer richtig sagt, am Montag bei uns im Wirtschaftsausschuss war, hat bestätigt, dass es aktuell Probleme mit dem Thema Investitionsschutzklausel gibt. ({6}) Wir denken uns das nicht aus. Es geht dabei nicht darum, über Risiken und Chancen zu reden. Das sind reale Probleme. Ich will daher von Ihnen wissen: Wie sichern Sie unsere Standards? Wie garantieren Sie, dass wir am Ende nicht hier im Parlament ein Abkommen beraten müssen, das zum Abbau dieser Standards führt? ({7}) Sie haben die Stichworte Wachstumseffekte und Arbeitsplatzeffekte im Hinblick auf die TTIP angesprochen. Ich möchte wissen, welche Wachstumseffekte es bei der TTIP denn noch gibt, wenn Sie die Umwelt-, Verbraucher- und Sozialschutzstandards ausklammern? Denn ein Großteil der Wachstumseffekte beruht gerade auf dem Abbau nicht tarifärer Handelshemmnisse. Was für Wachstumschancen bleiben ohne diese Standards also noch? ({8}) Ich finde, Sie müssen sich zu dieser Debatte äußern. Wir müssen dahin gehend konkret miteinander diskutieren. Dieses Thema bewegt die Menschen nämlich gerade wirklich. ({9}) Herr Gabriel, als ich mich auf die Rede vorbereitet habe, ist mir aufgefallen, dass Sie zufällig genau 25 Jahre älter sind als ich. Da habe ich mir gedacht: In 25 Jahren, wenn ich so alt bin wie Sie jetzt, ({10}) dann hoffe ich, in einem Land zu leben, das heute die richtigen Entscheidungen getroffen hat, in einem Land, das nicht unter einem schlecht verhandelten Freihandelsabkommen leidet, in einem Land, das seine Städte verantwortlich finanziert, und in einem Land, in dem sich die Menschen und die Wirtschaft darauf verlassen können, dass Straßen, Schienen und Brücken nicht zerbröseln. ({11}) - Nein, das ist der Job von Herrn Gabriel. - Damit müssen Sie heute anfangen. ({12})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Liebe Kollegin Dröge, herzlichen Glückwunsch zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag. ({0}) Den Termin heute in 25 Jahren halten wir einmal fest. Dann gucken wir, was daraus geworden ist. ({1}) - Ich denke, alle unmittelbar Angesprochenen dürfen sich als eingeladen betrachten. Jedenfalls halten wir das so im Protokoll fest. Nächster Redner ist der Kollege Johann Saathoff für die SPD-Fraktion. ({2})

Johann Saathoff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004393, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wi stahn d’för, wi mutten d’dör - so würde ein Ostfriese aus meiner Heimat in seiner Sprache eine Situation beschreiben, ({0}) in der er vor großen Aufgaben steht und nicht zögern möchte, diese Aufgaben auch in Angriff zu nehmen. Diese Beschreibung passt meiner Meinung nach auch auf den Jahreswirtschaftsbericht 2014 der Bundesregierung, den der Bundesminister für Wirtschaft und Energie, Sigmar Gabriel, vorgelegt hat. Wir können mit Fug und Recht, gerade auch mit Blick auf die europäischen Nachbarn, konstatieren, dass sich die Wirtschaft und der Arbeitsmarkt in Deutschland in guter Verfassung befinden. Trotzdem stehen wir vor einigen Herausforderungen, die zu bewältigen sind, damit sich die wirtschaftliche Entwicklung der Bundesrepublik auch weiterhin positiv im Sinne der Menschen unseres Landes vollziehen kann. Eine dieser Herausforderungen ist die Reform des Erneuerbare-Energien-Gesetzes, über die ich heute reden möchte. Es gibt verschiedene Gründe, warum es einer Reform des EEG bedarf. Die erneuerbaren Energien in Deutschland sind aus den Kinderschuhen längst herausgewachsen. Hinsichtlich der Maßnahmen zur Einführung sehen wir uns folglich von der Lebenswirklichkeit überholt. Längst haben wir Ziele erreicht, die vor einigen Jahren noch als ehrgeizig beschrieben worden wären. 25 Prozent des erzeugten Stroms werden mit erneuerbaren Energien produziert. Das allein beweist den Erfolg der Energiewende in Deutschland. ({1}) Nun ist es an uns, die Energiewende in eine neue Phase zu führen. Der Minister hat dazu in seinen Eckpunkten die Leitlinien Kosteneffizienz, Wirtschaftlichkeit, Planbarkeit und Verlässlichkeit formuliert. Was es bedeutet, wenn Planbarkeit und Verlässlichkeit nicht geJohann Saathoff geben sind, das musste meine Heimat Ostfriesland in den letzten Jahren schmerzlich erfahren. Circa 2 000 qualifizierte Arbeitsplätze sind bei uns im Bereich der Offshorewindenergie in den vergangenen zwei Jahren verlorengegangen. Nicht nur, aber auch deshalb ist es wichtig, die Ausbauziele in den nächsten Jahren planbar und verlässlich zu gestalten. Dabei geht es nicht darum, die erneuerbaren Energien auszubremsen. Vielmehr geht es darum, den Ausbaukorridor angemessen festzulegen. Durch die Verlängerung des Stauchungsmodells bis 2019 wird gerade die Entwicklung im Bereich der Offshorewindenergie planbar und verlässlich gesteuert. Wir benötigen die Windenergieanlagen auf See als einen Baustein der Erneuerbaren, da die Offshorewindenergie mit über 4 000 Volllaststunden im Jahr für eine stetige Grundlast sorgt. Die angestrebten 6,5 Gigawatt bis zum Jahr 2020 sind ein ehrgeiziges Ziel. Bei der Onshorewindenergie ist mit einem jährlichen Ausbauziel von 2,5 Gigawatt sozusagen ein atmender Deckel vorgesehen. Dieses Ziel ist in den letzten zehn Jahren nur einmal überhaupt übertroffen worden. Deshalb dient dieses Ausbauziel in erster Linie der Planbarkeit hinsichtlich der Anpassung der Stromnetze ({2}) und sollte nicht als Beschränkung der erneuerbaren Energien angesehen werden, Herr Hofreiter. Es bleibt dabei: Wir wollen bis 2050 einen Anteil von 80 Prozent erneuerbare Energien im Stromnetz erreichen. ({3}) Insbesondere weil wir die Energiekosten der Menschen im Auge behalten und Energie auch noch in Zukunft bezahlbar halten wollen, werden wir die Überförderungen abbauen. Die Überförderungen der letzten Jahre waren beim Start der Energiewende zwingend erforderlich. Bei dem jetzt erreichten Ausbaustand der erneuerbaren Energie muss hier nun allerdings ein Umdenken einsetzen. Dabei möchten wir, dass die sehr positive Entwicklung der direkten und indirekten Bürgerbeteiligung über Bürgerwindparks oder Bürgerenergiegenossenschaften weiter fortgesetzt werden kann. ({4}) Nicht zuletzt hängt auch die Akzeptanz der Bürgerinnen und Bürger an der direkten Beteiligung bei der Umsetzung der Energiewende. Zur Akzeptanz gehört auch Ehrlichkeit. Daher bin ich dem Minister dankbar, dass er kürzlich klargemacht hat, dass wir die Kosten für die Verbraucher nicht zulasten der Energiewende senken werden. Es geht beim weiteren Ausbau der Energiewende vielmehr darum, einen rasanten Kostenanstieg mit seinen Folgen für die Menschen zu verhindern. Auch das trägt zur gerade erwähnten Akzeptanz der Energiewende durch die Bürgerinnen und Bürger bei. ({5}) Ohne diese Akzeptanz - das muss uns allen klar sein würde es extrem schwer werden, die Energiewende umzusetzen. Problematisch erscheint mir, wenn bereits an oberster Stelle die Akzeptanz der Energiewende infrage gestellt wird; über die Bedeutung der Kommunalwahlen in Bayern für die Energiewende in Deutschland und Europa werden wir noch in der Aktuellen Stunde debattieren können. ({6}) Unstrittig ist - das hat auch Frau Bundeskanzlerin deutlich gemacht -, dass wir die Leitungen brauchen. Beim Netzausbau lautet die Devise: So viel wie nötig, aber so wenig wie möglich. Sehr geehrter Herr Minister, Sie haben in der gestrigen Ausschusssitzung das Struck‘sche Gesetz angesprochen. In diesem Zusammenhang würde ich gerne darüber berichten, was man mir in meiner Heimat nach Bekanntgabe des Eckpunktepapiers mit in den Rucksack gelegt hat. Bei uns stehen Windparks in einigen Gemeinden kurz vor der Genehmigung, die nicht nur in den jeweiligen Gemeinden, sondern auch mit den Gemeinden und deren Bürgerinnen und Bürgern realisiert werden sollen. Das sind Projekte, für die bereits Verpflichtungen eingegangen und Verträge unterschrieben werden mussten. Angesichts des Vorlaufs für Windenergieprojekte sollten wir uns - das ist meine Meinung - über die Stichtagsregelung noch einmal Gedanken machen. ({7}) Die Energiewende muss auch im europäischen Kontext betrachtet werden. Wenn der Sachverständigenrat die Umsetzung der Energiewende in Deutschland als Alleingang bezeichnet, bedeutet das, dass wir vorangegangen sind und damit schon wesentlich mehr Fortschritte gemacht haben als die anderen Mitgliedstaaten. ({8}) Vor allem den CO2-Zertifikaten möchte der Sachverständigenrat mehr Bedeutung beimessen. Dass CO2-Zertifikate für den Börsenpreis des Stroms eine wichtige Bedeutung haben, steht außer Frage. Der Weg zur notwendigen Reduzierung der Zertifikate ist aber sehr komplex, und wir haben es in Deutschland nicht allein in der Hand, wie sich die EEG-Umlage entwickeln wird; denn über die CO2-Zertifikate wird in Brüssel entschieden. Die wenigsten Mitgliedsstaaten wollen dieses Thema so ambitioniert anfassen wie Deutschland. Deswegen sollten wir uns vehement für die 40-prozentige Reduktion der Zertifikate einsetzen. Bis zur Verabschiedung des Gesetzentwurfes im Juni wird noch viel Arbeit auf uns alle zukommen. Vor dieser Arbeit stehen wir nun, und da müssen wir durch - oder wie wir Ostfriesen sagen: Wi stahn d’för, wi mutten d’dör. Besten Dank. ({9})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Auch Ihnen, Herr Kollege Saathoff, gratuliere ich herzlich zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag. ({0}) Ich erlaube mir die Anregung, dass Sie dem schriftlichen Protokoll Ihrer Rede für den Anfang und den Schluss die hochdeutsche Übersetzung hinzufügen, ({1}) um den Kreis derjenigen, die verstehen, was Sie meinen, etwa mit dem der Wahlberechtigten in Deutschland deckungsgleich zu machen. ({2}) Nun erhält der Kollege Andreas Lenz für die CDU/ CSU-Fraktion das Wort. ({3})

Dr. Andreas Lenz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004339, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Soziale Marktwirtschaft heute - Impulse für Wachstum und Zusammenhalt“ - diesen Titel trägt der Jahreswirtschaftsbericht 2014, den wir heute diskutieren. Die Bundesregierung legt darin dar, mit welcher konjunkturellen Entwicklung sie im laufenden Jahr rechnet. Außerdem wird gezeigt, mit welchen wirtschafts- und finanzpolitischen Maßnahmen zur Erreichung der gesamtwirtschaftlichen Ziele - Stabilität des Preisniveaus, hoher Beschäftigungsgrad und außenwirtschaftliches Gleichgewicht bei stetigem und angemessenem Wirtschaftswachstum beigetragen wird. Soziale Marktwirtschaft heute: Das besagt, dass die soziale Marktwirtschaft eben auch heute noch aktuell ist, dass sie lebt und dass sie Garant bzw. Voraussetzung für Wohlstand und sozialen Ausgleich ist. Trotz des schwierigen internationalen Umfelds hat sich die deutsche Wirtschaft im Jahr 2013 robust entwickelt. Das reale Wachstum des Bruttoinlandsprodukts betrug 2013 0,4 Prozent. Aufgrund unseres aufnahmefähigen und flexiblen Arbeitsmarktes können wir mittlerweile jedoch auch bei einem moderaten Wachstum gute Beschäftigungsdaten erzielen. Genau diese Aufnahmefähigkeit und Flexibilität müssen wir auch zukünftig erhalten. Die Prognosen zeigen, dass wir positiv auf die gesamtwirtschaftliche Entwicklung blicken können. Für 2014 geht die Bundesregierung im Jahreswirtschaftsbericht von einem Wachstum des Bruttoinlandsprodukts von 1,8 Prozent aus. Politik beginnt eben auch mit der Betrachtung der Realität, und Statistiken zählen dazu. Die EU-Kommission erwartet für den Euro-Raum ein Wachstum von 1,1 Prozent. Deutschland ist damit wieder Wachstumslokomotive Europas. Positiv anzumerken ist dabei, dass der Euro-Raum nach einer Phase der Stagnation wieder auf den Wachstumspfad zurückgekehrt ist und selbst die Krisenländer erhebliche Fortschritte erzielen. Wir befinden uns also auf einem guten Weg. Es gilt jedoch, die Rahmenordnung so auszugestalten, dass das Wachstum tragfähig ist. Deshalb gilt es, den Blick in die Zukunft zu richten. Status-quo-Denken wäre dabei schädlich. Ludwig Erhard sagte dazu: „Wohlstand … zu bewahren, ist noch schwerer, als ihn zu erwerben.“ Die Bundesregierung nennt im Jahreswirtschaftsbericht wichtige Handlungsfelder, um die Grundlage für Wohlstand, den gesellschaftlichen Zusammenhalt und die hohe Lebensqualität in Deutschland zu sichern und auszubauen. Die soziale Marktwirtschaft ist dabei Richtschnur. Der Beschäftigungseffekt des prognostizierten Wirtschaftswachstums wird in 2014 voraussichtlich zu einem Plus von 240 000 Beschäftigten führen. Damit erwarten wir mit 42,1 Millionen Menschen, die 2014 erwerbstätig sein werden, einen neuen Beschäftigungsrekord. Auch die Bruttolöhne werden steigen, und zwar um 2,7 Prozent. In der gestrigen Ausgabe des Handelsblatts war zu lesen: „Verkehrte Welt in Berlin“. Es wurde darauf Bezug genommen, dass im Jahreswirtschaftsbericht des Ministers steht, man müsse bei der Lohnentwicklung die Produktivität beachten. - Meine sehr verehrten Damen und Herren, das ist keine verkehrte Welt. Das ist ökonomische Realität. Wenn der Wirtschaftsminister ökonomisch denkt, dann ist das doch vielmehr eine richtige, eine vernünftige Welt. Dadurch, dass der Wirtschaftsminister heute schon Walter Eucken zitiert hat, wird klar: Wir sind wirtschaftspolitisch auf einem guten und richtigen Weg. ({0}) - Ich hätte Ihnen nicht zugetraut, dass Sie ihn kennen. Andererseits muss ich gestehen, dass ich bei keinem Seminar der Gewerkschaften dabei war. Vielleicht können wir uns diesbezüglich noch austauschen. ({1}) Treiber des Wachstums ist vor allem die binnenwirtschaftliche Nachfrageentwicklung. Diese Entwicklung wird auch dazu führen, dass die Höhe der Importe schneller wächst als die der Exporte. Damit wird sich der Leistungsbilanzüberschuss leicht abbauen. Ich hoffe, die Androhung der EU-Kommission, sich hinsichtlich der deutschen Exportüberschüsse einzuschalten, ist damit endgültig vom Tisch. Nichtsdestotrotz müssen die Strukturreformen in den Euro-Ländern fortgesetzt werden, um deren Wettbewerbsfähigkeit dauerhaft zu stärken. Um selbst wettbewerbsfähig zu bleiben, müssen wir weiter in Bildung und Forschung investieren. Dabei muss klar sein, dass der Großteil der ForschungsanstrenDr. Andreas Lenz gungen von der Wirtschaft selbst geleistet wird und eben nicht vom Staat. Nichtsdestotrotz ist es wichtig, dass der Staat Anreize für Unternehmen setzt, um eben in Forschung, Innovation und Entwicklung zu investieren. Deutschland braucht insgesamt mehr Investitionen. Die Investitionsquote von 17 Prozent ist im internationalen Vergleich zweifelsohne zu gering. Aber man muss eben ganz klar sagen, dass die Wirtschaft selbst die Investitionen leistet und eben nicht nur der Staat investieren kann. Der Staat jedoch investiert in den nächsten vier Jahren - wir haben es gehört - mit 5 Milliarden Euro kräftig in die öffentliche Infrastruktur. Es ist wichtig, dass die Straßen, die Schienen und die Wasserwege entsprechend ertüchtigt werden. Das klare Bekenntnis zu einem strukturell ausgeglichenen Haushalt mit dem Ziel, 2015 einen Bundeshaushalt ohne Nettoneuverschuldung aufzustellen, ist ein wichtiges und richtiges Ziel. Nebenbei bemerkt: Es ist das im Sinne der Generationengerechtigkeit wichtigste Ziel, langfristig ausgeglichene Haushalte zu erreichen. Letztlich entstehen dadurch auch Handlungsspielräume für mehr staatliche Investitionen. Die Finanzbeziehungen zwischen Bund und Ländern werden bis 2019 neu geregelt. In diesem Zusammenhang gilt es auch, den Länderfinanzausgleich so zu ändern, dass die richtigen Anreize für mehr Eigenverantwortung gesetzt werden. Ebenso gilt, dass finanziell solide ausgestattete Kommunen zum Funktionieren eines Gemeinwesens beitragen und ebenfalls erhebliche Investitionsleistungen erbringen können. Die Kommunen werden in den nächsten Jahren um insgesamt 5 Milliarden Euro entlastet, und zwar vorwiegend durch die Übernahme der Kosten der Grundsicherung im Alter und die der Eingliederungshilfe. Damit werden auch mehr Investitionen auf kommunaler Ebene erzielt und realisiert werden können. Trotz der guten Entwicklung am Arbeitsmarkt mit erwarteten 42,1 Millionen Erwerbstätigen waren laut Bundesagentur für Arbeit im Januar dieses Jahres 3,13 Millionen Menschen arbeitslos gemeldet. Davon sind 1 Million Menschen langzeitarbeitslos. Wir müssen und wir werden hier größere Anstrengungen unternehmen, um gerade den Langzeitarbeitslosen eine Chance auf Wiedereingliederung in das Arbeitsleben zu geben. Daher begrüßen wir alle im Bericht genannten integrierenden, qualifizierenden Maßnahmen, um besonders diese Menschen bei der Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt zu unterstützen. Ebenso wichtig ist das Bekenntnis zu einem flexiblen, atmenden Arbeitsmarkt und flexiblen Arbeitsmarktmodellen. Letztlich bietet auch Flexibilität Chancen für Arbeit. Lassen Sie mich zu einem Punkt kommen, der nicht im Wirtschaftsbericht steht, der jedoch trotzdem erwähnenswert erscheint. Durch die Abwehr von Steuererhöhungen, ({2}) insbesondere einer Substanzbesteuerung für kleine und mittlere Unternehmen, konnten wir den Fortbestand und die Fortführung der Familienunternehmen langfristig schützen. - Da bin ich mir nicht so sicher, ({3}) wenn man Ihre Pläne genau anschaut. Das können wir noch diskutieren, ({4}) aber ich glaube, das steht relativ eindeutig im Wahlprogramm. Es steht zwar in keinem Bericht, dass in Zukunft keine Substanzbesteuerung erfolgt. Ich glaube aber, es ist trotzdem ein Erfolg und erwähnenswert. Eine Steuervereinfachung bleibt ein Dauerthema. Wünschenswert wären dabei eine Steuerstrukturreform und das Angehen der kalten Progression. ({5}) Wichtig ist jedoch auch, Steuerflucht und Steuervermeidung auf internationaler Ebene einzudämmen. ({6}) Dazu ist eine bessere Abstimmung national geprägter Steuerrechtssysteme und der Behörden notwendig. ({7}) Auf den Finanzmärkten gilt es, Haftung und Risiko entsprechend den Prinzipien der sozialen Marktwirtschaft wieder in Einklang zu bringen. ({8}) Im Rahmen der Verhandlungen über Basel III und neuer Eigenkapital- und Liquiditätsanforderungen gilt es besonders, das dreigliedrige deutsche Bankensystem nicht infrage zu stellen, sondern langfristig zu erhalten. Auch dieses Modell aus Genossenschaftsbanken, Sparkassen und privaten Banken hat während der Krise stabilisierend gewirkt. Der Bericht heißt „Soziale Marktwirtschaft heute Impulse für Wachstum und Zusammenhalt“. Wachstum heute heißt auch Innovation und Digitalisierung. Innovation ohne Einsatz moderner Informations- und Kommunikationsmedien ist heute nicht mehr vorstellbar. Die Digitalisierung bietet unzählige Chancen für Innovation. Die Digitale Agenda 2014-2017 ist daher ein richtiges Signal. Mitentscheidend ist dabei, dass der Ausbau leistungsfähiger Breitbandnetze flächendeckend die Versorgung mit mindestens 50 Megabit pro Sekunde garantiert. Die im Jahreswirtschaftsbericht aufgezeigten ersten Schritte sind eine gute Grundlage für die zukünftige wirtschaftspolitische Arbeit der Bundesregierung. Es gilt, die Rahmenordnung langfristig so auszugestalten, dass das Wohlstandsversprechen der sozialen Marktwirtschaft aufrechterhalten bleibt. Herzlichen Dank. ({9})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Gabriele Katzmarek ist die nächste Rednerin für die SPD-Fraktion. ({0})

Gabriele Katzmarek (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004325, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Der vorliegende Jahreswirtschaftsbericht „Soziale Marktwirtschaft heute - Impulse für Wachstum und Zusammenhalt“ unterscheidet sich vom Jahreswirtschaftsbericht 2013. Er unterscheidet sich dadurch, dass Akzente für eine gute wirtschaftliche Entwicklung anders gesetzt werden. Es ist ein Jahreswirtschaftsbericht, der Perspektiven und Prognosen für zukünftiges Handeln der Bundesregierung aufzeigt und dabei den Menschen in den Mittelpunkt stellt, der den Fokus auf Investitionen und Innovation legt, der die Zukunft gestaltet, ({0}) um der Verantwortung für die Menschen in unserem Land gerecht zu werden, wie wir es als SPD versprochen und im Koalitionsvertrag vereinbart haben. Wirtschaftspolitik ist auch immer Gesellschaftspolitik: Gut entlohnte Arbeit, Teilhabe und soziale Sicherheit sind für eine hohe Lebensqualität der Menschen in Deutschland grundlegend. Sie setzt gute Bildungsmöglichkeiten und lebensbegleitendes Lernen voraus. Zukunft, wie wir sie verstehen, entsteht nicht im Labor, nicht im Reagenzglas. Nein, die Zukunft, die wir meinen, wird von Menschen, mit Menschen und vor allem für die Menschen gemacht. ({1}) Auch wenn Deutschland auf dem Arbeitsmarkt erhebliche Fortschritte gemacht hat, konnten nicht alle Menschen - das wissen wir - an der positiven Entwicklung teilhaben. Mit unsicheren Beschäftigungsverhältnissen und einer sich nur langsam schließenden Schere bei den Einkommen werden wir uns als Sozialdemokraten nicht abfinden. ({2}) Menschen brauchen gute Arbeit mit angemessener Bezahlung. Wir dürfen uns nicht auf der positiven wirtschaftlichen Entwicklung ausruhen. Jetzt gilt es, Weichen zu stellen. Wir setzen deshalb auf Innovation und Forschung, auf leistungsfähige Infrastrukturen und auf die Integration von Arbeitskräften. Die im Wirtschaftsbericht angekündigten Maßnahmen finden unsere Zustimmung: Förderung des Zugangs beruflich Qualifizierter zu den Hochschulen, bessere Verzahnung von beruflicher und hochschulischer Bildung, Förderung der Weiterqualifizierung der Beschäftigten, aber und insbesondere die Verbesserung der Wertigkeit der dualen Ausbildung. ({3}) Qualifikation ist und bleibt einer der wichtigsten Faktoren zur Teilhabe, zur weiteren Entwicklung und Stärkung des Standorts Deutschland. Dabei darf - das ist sozialdemokratische Position - kein junger Mensch verloren gehen. Insgesamt sind rund 1,4 Millionen junge Menschen ohne Berufsabschluss. Das muss uns aufrütteln. Da sind wir in der Politik, aber da ist auch die Wirtschaft in der Verantwortung. ({4}) Von daher ist es folgerichtig, dass der Ausbildungspakt zu einer Allianz für Aus- und Weiterbildung weiterentwickelt wird. Ein weiterer Schwerpunkt des Jahreswirtschaftsberichts ist die Digitalisierung der Wirtschaft, der Arbeitswelt und des gesellschaftlichen Lebens. Sie legt die Basis für eine Vielzahl von Innovationen. Die im Bericht angekündigte umfassende digitale Agenda ist deshalb von besonderer Bedeutung. Der flächendeckende Breitbandausbau muss vorangebracht werden. Die Entwicklung digitaler Zukunftstechnologien muss gefördert und die Digitalisierung der klassischen Industrie - hier nenne ich als Stichwort „Industrie 4.0“ - muss begleitet werden. ({5}) Die Minidrohne, die unsere Buchbestellung in einer halben Stunde nach dem Klick in unserem Garten landen lässt, eine Industrie, in der Maschinen im Produktionsprozess selbst erkennen, wann die Grundprodukte zur Neige gehen und diese eigenständig beim Zulieferer bestellen, Waren, die nicht mehr gefertigt, gelagert und bei Bedarf geliefert werden, sondern über neue Techniken direkt vor Ort im Wohnzimmer, in den Werkstätten, bei den Weiterverarbeitern über 3-D-Drucker hergestellt werden - verlockende Techniken? Sie bergen Chancen, aber auch Risiken zugleich. Welche massiven Veränderungen diese neue industrielle Revolution auf dem traditionellen Arbeitsmarkt und bei den Arbeitsbeziehungen haben wird, können wir heute nur erahnen. Deshalb ist es wichtig, sich rechtzeitig und umfassend mit ihren Auswirkungen auseinanderzusetzen. Sehr geehrte Damen und Herren, lassen Sie mich zum Schluss noch eines sagen: Es darf nicht sein, dass wir Forschung und Entwicklung fördern, das heißt die Kopfarbeit in Deutschland, die anschließende Produktion dagegen im Ausland stattfindet. ({6}) Wir müssen dafür sorgen, dass Wertschöpfungsketten in Deutschland bleiben. Sozialer Fortschritt, Teilhabe, ein besseres Leben mit guter Arbeit in einer intakten Umwelt und nicht alleiniges Setzen auf Wettbewerb und ungezügelte Marktwirtschaft, das ist unser Zukunftsbild. Dafür stehen wir mit unserer Politik als Sozialdemokraten. ({7})

Johannes Singhammer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002800

Sehr geehrte Kollegin Katzmarek, das war Ihre erste Rede hier im Hohen Hause. Ich beglückwünsche Sie dazu und wünsche Ihnen viele weitere erfolgreiche Reden. ({0}) Nächster Redner für die CDU/CSU ist der Kollege Andreas Lämmel. ({1})

Andreas G. Lämmel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003796, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Einer muss der Letzte sein, aber ich habe gerade festgestellt, dass ich das gar nicht bin. Das ist auch gut. Also, ich bin der Vorletzte. Wenn man die heutige Diskussion über den Jahreswirtschaftsbericht verfolgt hat, dann musste man den Eindruck gewinnen, dass Ihnen, Herr Minister, die Ohren geklungen haben angesichts des Lobes, das Ihrem Haus und Ihnen entgegengebracht wurde. Gestern haben Sie im Ausschuss gesagt, Sie seien Marktwirtschaftler. Das haben wir alle gehört. Das lässt auf eine gute Zusammenarbeit hoffen. Die Redner haben heute ganz überwiegend festgestellt, dass die Situation in Deutschland gut ist. Das ist, glaube ich, Konsens in diesem Haus, bis auf die Fraktion der Linken, die mit ihren links-halbradikalen Spinnereien nach wie vor versucht, Verwirrung zu stiften. ({0}) Sie haben mit Ihren Theorien schon eine ganze Volkswirtschaft gegen die Wand gefahren. Das wollen wir nicht noch einmal mit Ihnen erleben. ({1}) Auch die guten Beschäftigungszahlen zeigen - auch das ist Konsens in diesem Hause -, dass Deutschland in den letzten Jahren einen sehr erfolgreichen Weg gegangen ist. Wer sich die ersten Seiten des Jahreswirtschaftsberichts anschaut, der stellt fest, dass 47 Handlungsfelder dargestellt sind, mit denen wir es in den nächsten Jahren zu tun haben werden. Eine erfolgreiche wirtschaftliche Entwicklung braucht Unternehmer. Wir müssen leider feststellen, dass die Zahlen von Unternehmensgründungen in den letzten Jahren stark rückläufig waren. Das hat viele Gründe, über die man diskutieren muss. Das fängt aus meiner Sicht schon in der Schule an. Wenn die Lehrer Unternehmer als Ausbeuter darstellen, was soll denn dann junge Menschen motivieren, sich nach der Schule selbstständig zu machen? Über das Verhältnis von Schule und Wirtschaft muss man diskutieren. Ich denke, hier gibt es viele Ansätze, um bei jungen Leuten die Motivation zu wecken, sich später einmal selbstständig zu machen. ({2}) Lassen Sie mich zu dem Thema Investitionen kommen. Herr Heil, Sie hatten die kritische Situation vor allem bei den Investitionen der Wirtschaft angesprochen. Das ist wirklich so, und das ist hochdramatisch. Wenn man sich den Zeitverlauf seit 2005 anschaut, dann stellt man fest, auf welch niedrigem Stand sich die Investitionen befinden. Dazu muss ich sagen: Die DDR ist zugrunde gegangen, weil der Kapitalstock völlig aufgezehrt und ruiniert gewesen ist. ({3}) - Wegen dieser Funktionäre, ganz genau. - Darüber muss man diskutieren. Ich denke, es wird die Aufgabe der nächsten Wochen und Monate sein, herauszufinden, warum die Unternehmen so wenig investieren. Was ist denn der Grund? Sind das die zu hohen Arbeitskosten, sind das die zu hohen Energiekosten, sind das die Rahmenbedingungen insgesamt, die nicht stimmen? Es muss einen Grund geben, und wir sollten das Problem sehr ernst nehmen; denn nicht getätigte Investitionen sind immer ein Grund dafür, dass man schnell zurückfallen kann. ({4}) Jetzt komme ich zum Thema der guten Fachkräfte. Das Vorhandensein von Fachkräften ist ein Grund für den wirtschaftlichen Erfolg der letzten Jahre. Hierzu muss man sagen: Gute Fachkräfte gibt es dann, wenn die Ausbildung gut ist. Wir in Deutschland haben das duale System. Dieses duale System ist der Erfolgsgarant. Deswegen müssen wir das duale System in Deutschland stärken. Wir dürfen es nicht aushöhlen lassen. Wir müssen es natürlich auf die Erfordernisse der Zukunft ausrichten, aber wir müssen an dem dualen System festhalten und dürfen uns nicht von irgendwelchen Leuten einreden lassen, dass man etwa auf den Meisterbrief verzichten kann. Das sind gerade die Garanten für den Erfolg, und die dürfen wir uns nicht aus der Hand schlagen lassen. ({5}) Herr Minister, bei einer Sache sehe ich die Welt schon etwas skeptischer als Sie; das ist das Thema Mindestlohn. Der ist nun im Koalitionsvertrag beschlossen. Trotzdem halte ich persönlich es nach wie vor für falsch, dass wir als Politiker in die Tariffindung eingreifen sollen. ({6}) In diesem Zusammenhang stoße ich auf die Aussage im Jahreswirtschaftsbericht, dass Produktivität und Lohnhöhe korrespondieren müssen. Das ist, glaube ich, die entscheidende Aussage; denn wenn man das in eine mathematische Formel übersetzt, heißt das eigentlich, dass dann, wenn eine gewisse Produktivität nicht erreicht werden kann, auch der entsprechende Lohn nicht gezahlt werden kann. Was raten Sie einer Unternehmerin, die in einem strukturschwachen Gebiet, etwa im Erzgebirge, aktiv ist? In meinem konkreten Fall beschäftigt sie 25 Frauen, sie stellt hochwertige Verpackungen her, und sie ist die letzte in Deutschland verbliebene Herstellerin solcher Verpackungen. Alle anderen deutschen Hersteller lassen in China produzieren. Diese Dame hat es mir genau erklärt. Sie hat sich in China angeschaut, wie dort produziert wird. Sie sagte zu mir: Herr Lämmel, Sie beschließen den Mindestlohn im Deutschen Bundestag. Was würden Sie mir denn jetzt empfehlen? Soll ich meine 25 Arbeitnehmerinnen entlassen? Soll ich meinen Betrieb schließen? Soll ich nach China gehen? Wie stellen Sie sich das vor? Was ist Ihre Antwort darauf? - Ich muss schon sagen: Das sind sehr schwierige Fragen, die da gestellt werden. Wenn hochbezahlte Gewerkschaftsfunktionäre durch das Land tingeln - ja, Herr Heil, genau so ist es gewesen ({7}) und behaupten: „Alle Unternehmer, die keinen Mindestlohn zahlen, sind überflüssig“, dann ist die Welt für mich schon ein bisschen verdreht. Mindestlöhne zu zahlen, das mag in manchen Bundesländern kein Problem sein - in Bayern oder in Baden-Württemberg; dort braucht man darüber vielleicht überhaupt nicht zu diskutieren -; aber Deutschland ist eben größer. Deswegen haben wir uns sehr dafür eingesetzt, dass bei der Diskussion um den Mindestlohn bedacht wird: Wir brauchen regionale Differenzierungen. Wir brauchen längere Übergangsfristen, und wir brauchen auch Ausnahmen von dieser Mindestlohnregelung. ({8}) Insofern bin ich sehr gespannt. Es gibt ja noch keinen Gesetzentwurf, der uns auf dem Tisch liegt. ({9}) Ich will Ihnen bloß sagen, Herr Minister: Das Ganze ist nicht so einfach. Sie werden das sehen. Sie werden sicherlich gelegentlich auch einmal in die Ostgebiete reisen. ({10}) Dort wird Ihnen dieses Thema sicherlich sehr differenziert dargelegt werden; denn es ist für viele Branchen, gerade in Sachsen, Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, ein Riesenproblem. Es liegt eben nicht an der Böswilligkeit von Unternehmen, dass sie den Mindestlohn nicht zahlen wollen. Es liegt vielmehr genau an der Bedingung, die Sie im Jahreswirtschaftsbericht formuliert haben: Produktivität und Lohnhöhe müssen korrespondieren. - Das ist aus meiner Sicht in der Diskussion um den Mindestlohn immer zu beachten. ({11}) Mein letzter Punkt - er erscheint mir sehr wichtig; ich denke, da haben wir insgesamt keinen Dissens -: Die Stärkung der Innovationskraft unseres Landes muss oberste Priorität haben. Sie, Herr Minister, werden diese Frage berücksichtigen müssen, wenn Sie den Haushaltsentwurf für 2014 und bald auch für 2015 vorlegen werden. Wie gesagt, ich denke, darüber sind wir nicht so sehr im Dissens, dass man die industrienahe Forschung und die industrienahe Entwicklung auf hohem Niveau fortführen muss. Denn gerade das ist ja sozusagen der Vorlauf für zukünftige Erfolge der deutschen Wirtschaft. Meine Damen und Herren, wenn man das zusammenfasst, dann kann man sagen: Der Jahreswirtschaftsbericht ist eine hervorragende Grundlage, um weiter über die wirtschaftliche Entwicklung in unserem Land zu diskutieren. Ich empfehle jedem, sich die 47 Handlungsfelder vorzunehmen; denn sie enthalten den Stoff für die Politik der nächsten Jahre. Das wird im Wirtschaftsausschuss und in den entsprechenden Gremien weiterhin wichtig sein. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({12})

Johannes Singhammer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002800

Danke, Herr Kollege Lämmel. - Nächster Redner ist für die SPD der Kollege Ulrich Freese. ({0})

Ulrich Freese (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004275, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist - auch nach zwei Stunden und zehn Minuten - immer so: Einer muss abbinden. In meiner Region sagt man hin und wieder: Den Letzten beißen die Hunde. Ich will als Gewerkschafter, der sein ganzes Leben lang in industriellen Prozessen, ob als arbeitender oder als entscheidender Mensch, gestanden hat, den Jahreswirtschaftsbericht 2014 aus einer anderen Betrachtungsrichtung angehen. Ich darf, mit Ihrem Einverständnis, Herr Präsident, aus diesem Jahreswirtschaftsbericht zitieren: Deutschlands Stärken liegen in einer mittelständisch geprägten und international wettbewerbsfähigen Wirtschaft, deren Kern auch weiterhin eine moderne, dynamische Industrie ist. Mit diesem Zitat, meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, bekennt sich die Bundesregierung, bekennt sich der Bundesminister für Wirtschaft und Energie, Sigmar Gabriel, sehr eindeutig zum Industriestandort Bundesrepublik Deutschland. ({0}) Mit einem geflügelten Berliner Wort will ich anschließen: Und das ist auch gut so. Denn mit knapp einem Viertel der Bruttowertschöpfung ist das innovative und hochproduktive verarbeitende Gewerbe nach wie vor unbestritten das Rückgrat unserer Wirtschaft. Mit der Qualität ihrer Produkte trägt die Industrie wesentlich zur internationalen Wettbewerbsfähigkeit und zu unseUlrich Freese rem Wohlstand bei; meine Kollegin Gabriele Katzmarek hat darauf verwiesen. Nur dann, wenn wir erfolgreich wirtschaften, nur dann, wenn wir Rohstoffe gewinnen, sie veredeln und die daraus hergestellten Produkte verkaufen, werden wir in der Lage sein, gesellschaftliche und soziale Entwicklungen in der Bundesrepublik Deutschland auch weiterhin ordentlich und vernünftig zu gewährleisten. ({1}) Deshalb ist wachstumsorientierte Wirtschaftspolitik immer auch Industriepolitik; sie muss es auch sein. Viele von Ihnen haben, wenn sie an Industrie denken, immer nur große Unternehmungen im Kopf. Wenn ich über Industrie rede, dann meine ich nicht ausschließlich Konzerne oder Großunternehmen; denn ein Viertel aller Beschäftigten arbeitet in kleinen und mittleren Unternehmen im industriellen Netzwerk. Konzerne und industrieller Mittelstand arbeiten gemeinsam mit vor- und nachgelagerten Dienstleistern eng und erfolgreich zusammen. Das sind Voraussetzungen für eine lange, intakte Wertschöpfungskette, die auf gewachsenen festen Strukturen beruht. Viele kleine Mittelständler eroberten aus Deutschland heraus in schmalen Segmenten Marktanteile in ungeahnten Ausmaßen. Viele von uns kennen mittelständische Unternehmen, die Absätze in der Ferne haben und ohne diese Absätze dauerhaft nicht leben können. Alle diese industriellen Bereiche, alle diese industriellen Netzwerke, die auf internationalen Märkten tätig sind, haben an uns, die wir hier politische Verantwortung tragen, einen sehr hohen Anspruch: nämlich die Rahmenbedingungen zu setzen, damit sie auf internationalen Märkten mit ihren Produkten weiterhin wettbewerbsfähig sein können. Eine der Megaaufgaben - sie ist von meinem Kollegen Saathoff und von anderen Diskutanten schon beschrieben worden - wird sein, unsere Energiewende so zu gestalten, dass deutsche industrielle Produktion auf internationalen Märkten keine Chancen verliert, sondern ihre Chancen erhält und so zum Wohlstand in Deutschland beitragen kann. ({2}) Deshalb, Herr Minister, lieber Sigmar Gabriel, ist es richtig und wichtig, dass in den letzten Tagen Gespräche mit dem BDI und mit den Gewerkschaften mit dem Ziel stattgefunden haben, sich über Fragen auszutauschen wie: Wie gehen wir mit der Befreiung energieintensiver Unternehmen mit hoher Handelsintensität von der EEGUmlage zukünftig um, und wie sichern wir, dass nicht durch Strompreise, die für die Industrie, für die wertschöpfende Wirtschaft in Deutschland wesentlich höher sind als in anderen Ländern, Wettbewerbschancen vernichtet werden? Und welche Vereinbarungen werden wir dazu treffen? Gleichzeitig, meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, lieber Sigmar Gabriel, ist natürlich die Eigenstromproduktion beim EEG mit zu beachten. Viele Unternehmungen, die ich kenne - Sie kennen sie auch -, haben in der Vergangenheit auf Eigenstromproduktion umgestellt - aus unterschiedlichen Gründen: aus Gründen der Versorgungssicherheit und der Bezahlbarkeit etwa. Das, was sich im Bereich der Eigenstromproduktion entwickelt hat oder im Bau ist, muss wie vieles andere in den Vertrauens- und Bestandsschutz einbezogen werden; ansonsten leisten wir der industriellen Entwicklung, der wirtschaftlichen Entwicklung einen Bärendienst. Über gute Arbeitsverhältnisse, weitere Rahmenbedingungen und Innovation ist in erheblichem Maße geredet worden. Ich will, da meine Zeit gleich abläuft, zwei Bemerkungen zu Diskutanten aus unserer Runde machen. Herr Lämmel, zum Thema Mindestlohn haben Sie ein Unternehmen als Beispiel angeführt. Das ist ein einziger Betrieb, der dadurch möglicherweise gefährdet ist. ({3}) Aber es gibt viele Unternehmensverbände in Deutschland, die dringend darauf warten, dass wir endlich politisch handeln. Denn Tarifverträge oder Mindestlöhne setzen auch faire Rahmenbedingungen für einen Wettbewerb der Unternehmen untereinander. ({4}) Sie verhindern, dass ein Wettbewerb zulasten der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer unter dem Stichwort „Sozialdumping“ betrieben wird. ({5}) Ein zweites Thema will ich gerne aufgreifen, das Herr Pfeiffer vorgetragen hat. Es ging um ein sauerländisches Unternehmen, in dem Arbeitnehmer hochqualifizierte Arbeit leisten. Meine tiefste Überzeugung ist: Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer wollen ja nicht alle mit 63 Jahren von der Arbeit weg. Es gibt auch Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die sich wohlfühlen, weil die Rahmenbedingungen gut sind und sie hochwertige, qualifizierte Tätigkeiten ausüben. Sie werden nicht mit 63 in Rente gehen. Aber es gibt Tausende, Zehntausende von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, die aufgrund ihrer Arbeitsbedingungen gar nicht in der Lage sind, das originäre Renteneintrittsalter - sei es 65 oder 67 Jahre - zu erreichen. Sie gehen möglicherweise - das zeigt der Anstieg der Zahl derjenigen, die eine Erwerbsunfähigkeitsrente beziehen - in den Bezug von Erwerbsunfähigkeitsrenten. Von daher ist das, worauf wir uns gemeinsam verständigt haben, ein intelligentes Instrumentarium, um den Übergang von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern aus den Betrieben in die Rente in beiderseitigem Interesse - in unternehmerischem Interesse und auch im Arbeitnehmerinteresse - flexibel zu organisieren. Ich weiß, meine Redezeit ist zu Ende. Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich darf mich für Ihre Aufmerksamkeit bedanken und freue mich auf spannende, anregende Diskussionen in den Ausschüssen, in denen ich tätig bin, insbesondere im Ausschuss für Wirtschaft und Energie. Herzlichen Dank. ({6})

Johannes Singhammer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002800

Vielen Dank, Herr Kollege Freese. Das war Ihre erste Rede in diesem Hohen Hause. Ich beglückwünsche Sie dazu. Sie haben Ihre Rede mit der Bemerkung eingeführt, dass Sie diese wichtige Debatte „abbinden“. Ich bin mir sicher, Sie werden bald auch derart wichtige Debatten eröffnen. Alles Gute! ({0}) Damit schließe ich die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 18/497. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist damit mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der Linken abgelehnt. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 18/495, 18/94 und 18/493 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 4 sowie den Zusatzpunkt 2 auf: 4 Beratung des Antrags der Bundesregierung Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an dem Einsatz der Internationalen Sicherheitsunterstützungstruppe in Afghanistan ({1}) unter Führung der NATO auf Grundlage der Resolution 1386 ({2}) und folgender Resolutionen, zuletzt Resolution 2120 ({3}) vom 10. Oktober 2013 des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen Drucksache 18/436 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss ({4}) Innenausschuss Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Verteidigungsausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Haushaltsauschuss gemäß § 96 der GO ZP 2 Unterrichtung durch die Bundesregierung Fortschrittsbericht zur Lage in Afghanistan Drucksache 18/466 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss ({5}) Innenausschuss Verteidigungsausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 96 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem Bundesminister Dr. Frank-Walter Steinmeier. ({6})

Dr. Frank Walter Steinmeier (Minister:in)

Politiker ID: 11004167

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das letzte Mal entscheiden wir über die Verlängerung des ISAF-Mandates für Afghanistan. Der längste, härteste und opferreichste Kampfeinsatz der Bundeswehr geht nach zwölf Jahren am Ende dieses Jahres zu Ende. Ich bin sicher: Über Erfolg oder Misserfolg werden wir auch in diesem Hause noch streiten. Das muss auch so sein. Lessons learned, das gehört dazu. Wir müssen analysieren - auch im Hinblick auf künftige Auslandseinsätze -: Was lässt sich eigentlich erreichen, was aber auch nicht? Das zu bewerten, ist Aufgabe der Öffentlichkeit und auch Aufgabe dieses Parlaments. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das darf uns alles aber nicht vergessen lassen, dass es Angehörige der Bundeswehr, vieler ziviler Hilfsdienste, Polizisten und Diplomaten waren, die in diesen letzten zwölf Jahren den Kopf in Afghanistan hingehalten haben. Deshalb vorab mein herzlicher Dank den Tausenden, die in diesen zwölf Jahren, von 2002 bis 2014, in Afghanistan mehr als ihre Pflicht getan haben. Herzlichen Dank dafür! ({0}) Ich ahne es natürlich: Manche werden sagen - vielleicht schon heute -: Zwölf Jahre Einsatz in Afghanistan - zwölf verlorene Jahre. ({1}) - Ja, ich habe es erwartet. ({2}) Ich warne nur davor, so reflexhaft zu agieren. Wer erinnert sich eigentlich noch, wie das damals begann? 3 000 Tote beim Anschlag auf das World Trade Center, Anschläge islamistischer Attentäter auf Bali, Djerba und in Casablanca: Überall dort sind auch Deutsche zu Opfern geworden. Haben auch wir nicht damals befürchtet, dass das, was da in Amerika seinen Ausgang genommen hat, bei uns in Europa ankommen könnte, dass auch Menschen in Berlin, Hamburg oder München zu Opfern werden könnten? Europa ist nicht verschont geblieben. Hunderte sind bei den Anschlägen in London und Madrid gestorben. Wir in Deutschland sind verschont geblieben, aber die Angst, ob es Gesinnungsgenossen der Hamburger Attentäter geben könnte, die vielleicht in Köln, Ulm, Frankfurt oder anderswo zuschlagen könnten, war doch auch hier unter uns. Damals war die Bedrohung jedenfalls nicht abstrakt, sie wurde gefühlt. Sie kam von Attentätern, deren Blutspur ihren Ausgang in den Trainingscamps von Tora Bora oder anderswo in Afghanistan nahm. Ja, vielleicht haben wir nicht an jedem Tag alles richtig gemacht in Afghanistan; das kann sein. Aber aus meiner Sicht wäre es zynisch gewesen, nichts zu tun, andere vorzuschicken, um den Ausbildern des Terrors ihr Handwerk zu legen, aber selbst hier in Deckung zu bleiben. Es ging auch um den Schutz unserer Bürger hier in Deutschland. ({3}) Deshalb haben wir uns gemeinsam mit 40 anderen Nationen entschieden, nach Afghanistan zu gehen. Vieles von den hehren Zielen, die auf dem Bonner Petersberg vereinbart worden sind, mögen wir nicht erreicht haben. Aber jedenfalls ist Afghanistan heute nicht mehr die Ausbildungszentrale für weltweiten islamistischen Terrorismus. ({4}) Wenigstens das ist erreicht. Wer die Jahre des Terrors und die Toten nicht vergessen hat, liebe Freunde, der weiß auch: Schon damit ist viel erreicht. ({5}) Jetzt sind zwölf Jahre seit Beginn des Einsatzes in Afghanistan vergangen. Dieses Jahr 2014 ist ein Schlüsseljahr. Die internationalen Streitkräfte beenden ihren Kampfeinsatz, ein neuer Präsident wird gewählt, und am Ende dieses Jahres wird Afghanistan die volle Verantwortung für die eigene Sicherheit im Land übernehmen. Während sich gegenwärtig Tausende von ISAF-Soldaten in Kabul, Herat, Kandahar, Masar und anderswo auf den Rückweg in die Heimat vorbereiten, bleibt für uns die Frage: Haben sich die Anstrengungen, der Einsatz von finanziellen Mitteln, die Opfer und die politischen Risiken gelohnt? Mit Blick auf das Ende des Jahres stellt sich aber vor allem die Frage: Wie sichern wir eigentlich das, was mit vielen Mühen in Afghanistan auf den Weg gekommen ist? Nun ist üblich geworden, kleinzureden, was auf den Weg gekommen ist. Nach zwölf Jahren Einsatz - in fast jedem Jahr begleitet durch viele schlechte Nachrichten hat sich das Interesse der Öffentlichkeit von Afghanistan etwas abgewandt. Die Bilanz, die wir für Afghanistan zu ziehen haben, ist gemischt; sie ist nicht eindeutig. Aber geschönte Bilanzen helfen in der öffentlichen Debatte, die wir vor uns haben, überhaupt nicht weiter. Die Hoffnungen von Petersberg sind in der einen oder anderen Hinsicht unerfüllt geblieben. Es ist nicht einmal garantiert, dass das, was in Afghanistan in den letzten zwölf Jahren entstanden ist, so bleibt. Das ist aber gerade das Entscheidende. Was uns in den letzten Jahren aus dem Blick geraten ist, ist für die Menschen in Afghanistan, die 30 oder mehr Jahre Krieg und Bürgerkrieg hinter sich haben, überlebenswichtig. Wir haben dort Schulen, Straßen und Brunnen gebaut. Wir haben dabei geholfen, dass 10 Millionen Kinder zur Schule gehen - von diesen 10 Millionen Kindern sind etwa 40 Prozent Mädchen und heute der elektrische Strom in Kabul stabiler fließt als auf der anderen Seite der Grenze, in Pakistan. In vielen Regionen in Afghanistan gibt es eine medizinische Basisversorgung, die nicht an unseren Maßstäben gemessen werden kann, die aber dazu geführt hat, dass die Kindersterblichkeit deutlich gesunken ist. ({6}) Am Wochenende bin ich auf dem Flughafen Masar-iScharif gelandet. Er wurde jahrelang militärisch genutzt. Wir haben ihn für die zivile Nutzung vorbereitet für den Zeitpunkt, in dem die deutschen Soldaten dort abziehen. Es ist der einzige Flughafen, jetzt auch Zivilflughafen, in ganz Nordafghanistan und deshalb ein Wirtschaftsfaktor mit ganz erheblichem Potenzial. ({7}) Da, wo wir konnten, haben wir geholfen, dass so etwas wie eine wache Zivilgesellschaft entsteht. Wir unterstützen junge Afghanen und noch mehr junge Afghaninnen, die ihre Gesellschaft moderner und offener machen wollen, immer noch gegen harte Widerstände. Ich darf Ihnen nach meinem letzten Besuch versichern: Auch das trägt Früchte. Die Vorbereitungen der Wahlen belegen, dass es zum gegenwärtigen Zeitpunkt Eintragungen in die Wahllisten gibt, wie es sie in diesem Umfang in der Vergangenheit nicht gegeben hat. Es gibt ziemlich gute technische Vorbereitungen, Diskussionen zwischen den Kandidaten in Hallen und im Fernsehen, wie man es auch bei westlichen Wahlkämpfen sieht. Das alles, meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, mag für viele bei uns zu wenig sein. Aber das, was ich berichtet habe, ist für die Afghanen unheimlich viel. Das verdient verteidigt zu werden. Dafür sollten wir einstehen. ({8}) Wenn ich sage, dass das verteidigt werden muss, dann meine ich nicht in erster Linie uns. Es muss vor allen Dingen von den Afghanen selbst verteidigt werden. Ich finde, wir sollten den Afghanen über dieses Jahr hinaus zur Seite stehen, aber anders als in den letzten zwölf Jahren, in geringerem Umfang, nicht mehr mit Kampfauftrag, aber unterstützend, damit die Afghanen den Übergang von fremder Verantwortung im eigenen Land hin zu eigener Verantwortung organisiert bekommen. Das sind wir nicht nur den Afghanen schuldig, sondern auch uns selbst. ({9}) Wenn wir über ein Engagement nach dem Ende von ISAF nachdenken, dann hat das Voraussetzungen. Darüber habe ich am Wochenende mit Präsident Karzai anderthalb Stunden lang gesprochen. Wir haben auch über die Sicherheitslage gesprochen, die trotz größter afgha998 nischer Anstrengungen nicht überall unter Kontrolle ist. Das kann man daran sehen, dass die Zahl der afghanischen Sicherheitskräfte nach wie vor erfreulich steigt. Aber tragisch ist die Zahl der Verluste. Im Jahr 2013 sind fast 5 000 afghanische Polizisten und Soldaten bei der Ausübung ihrer Tätigkeit ums Leben gekommen. Das zeigt, dass die Bedrohung durch radikale Kräfte im Land weiterhin virulent ist. Natürlich können im Umfeld der Präsidentschaftswahlen - das will ich nicht verschweigen - alte Konflikte längs der alten ethnischen Grenzen, die wir noch in Erinnerung haben, jederzeit wieder aufbrechen. Ich habe deshalb dem Präsidenten in diesem langen Gespräch gesagt: Wir sind, wahrscheinlich gemeinsam mit unseren Partnern in Europa, gern bereit, den zivilen Wiederaufbau in Afghanistan weiterhin zu unterstützen. Dazu gehört aus meiner Sicht auch die Ertüchtigung von Sicherheitskräften, Armee und Polizei, in Afghanistan. Aber diese Bereitschaft ist natürlich an Voraussetzungen geknüpft. Erstens müssen wir willkommen sein. Das sind wir, glaube ich; jedenfalls versichern das alle. Aber es reicht nicht aus, willkommen zu sein. Darüber hinaus brauchen wir zweitens Rahmenbedingungen, auch Sicherheitsrahmenbedingungen, die einen Aufenthalt nach 2014 erlauben. Der Schlüssel zu diesen Sicherheitsrahmenbedingungen - das wissen Sie - ist das bilaterale Sicherheitsabkommen zwischen Afghanistan und den USA. Nur wenn der Kern stimmt, wenn 8 000 bis 10 000 US-amerikanische Soldaten über 2014 hinaus in Afghanistan sind, dann sind wir in der Lage, darüber nachzudenken, tatsächlich Aufgaben im Rahmen der Ausbildung, des Trainings und der Beratung der afghanischen Sicherheitskräfte zu übernehmen. Deshalb habe ich Karzai in aller Offenheit und Klarheit gesagt: Es mag ein bilaterales Abkommen zwischen Afghanistan und den USA sein, aber es ist für uns die Voraussetzung dafür, über eine weitere Unterstützung in Afghanistan nachzudenken. ({10}) Wie Sie wissen, ist das Abkommen bisher nicht unterzeichnet. Ich habe die Gründe und mögliche Lösungswege mit Karzai besprochen. Aber der Stand ist - das will ich Ihnen in aller Offenheit sagen -: Es gibt keinen festen Zeitplan für die Unterschrift. Karzai hat zu meiner Zufriedenheit sehr eindeutig erklärt, Afghanistan werde unterschreiben, aber es gebe bisher keinen Zeitplan für die Unterschrift. Ich habe deshalb gesagt - weil man das in einer solchen Situation sagen muss -, dass wir als Bundesregierung nicht nur die Öffentlichkeit in Deutschland, sondern auch dieses Parlament davon überzeugen müssen, dass die Fortsetzung des Engagements in Afghanistan notwendig ist.

Johannes Singhammer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002800

Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Ströbele?

Dr. Frank Walter Steinmeier (Minister:in)

Politiker ID: 11004167

Ja.

Hans Christian Ströbele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002273, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Minister Steinmeier, hat Ihnen Präsident Karzai in dem langen Gespräch, das Sie mit ihm geführt haben, erläutert, warum er nicht unterschreibt? Hat er insbesondere darauf hingewiesen, dass Afghanistan gemäß diesem Abkommen - es wird ja immer so abstrakt dargestellt - vor allen Dingen gegenüber den US-Soldaten auf eine ganze Reihe von Souveränitätsrechten verzichtet, dass er, weil das in der letzten Zeit immer wieder passiert ist, mit einer gewissen Berechtigung befürchtet, dass die US-Truppen, die nach dem eigentlichen Abzug in Afghanistan bleiben, eigentlich machen können, was sie wollen, und zum Beispiel Aktionen durchführen, bei denen wieder Zivilisten, Frauen, Kinder getötet werden? Wie hat er denn erklärt, dass er die Unterzeichnung hinauszögert? Hat er vielleicht gesagt: „Ich kann mit den Taliban nicht verhandeln, wenn ich gleichzeitig ein solches Abkommen unterschreibe, das ein weiteres militärisches Vorgehen der USA ermöglicht.“? ({0})

Dr. Frank Walter Steinmeier (Minister:in)

Politiker ID: 11004167

Herr Kollege Ströbele, umgekehrt wird ein Schuh draus. Natürlich haben wir das in aller Ausführlichkeit miteinander besprochen. Auch mich hat interessiert, ob das Zögern bei der Unterschrift darauf zurückzuführen ist, dass entweder einzelne Teile des Abkommens noch umstritten und weiter verhandlungsbedürftig sind, oder ob sich nach der Aushandlung der Vereinbarung Umstände ergeben haben, die bei diesem Abkommen, bei diesem Agreement zusätzlich zu berücksichtigen sind. Er hat mir eindeutig erklärt, das Abkommen sei ausgehandelt, es werde auch nicht ergänzt. Die Loya Jirga habe dem Abkommen zugestimmt. Insofern gehe es nicht um den Inhalt der getroffenen Vereinbarung. Es gehe um eine Rahmenbedingung, die vor der Unterschrift erfüllt sein müsse, und das sei in der Tat, dass der innerafghanische Versöhnungsprozess unter Einbeziehung der radikalen Kräfte, auch der Taliban, seinen Auftakt genommen haben müsse. Dieses sicherzustellen, darum geht es ihm und anderen in den nächsten Tagen und Wochen. Ich hoffe, dass das bald dokumentiert werden kann, damit die Unterschrift erfolgt. - Vielen Dank, Herr Ströbele. Ich habe dem afghanischen Präsidenten jedenfalls sehr deutlich gesagt: Wenn wir im Deutschen Bundestag über ein Nach-ISAF-Engagement sprechen, dann scheint das aus afghanischer Sicht etwas Selbstverständliches zu sein; aber für die deutsche Öffentlichkeit ist es das keineswegs. Bei der Unterschrift geht es um eine Frage der Glaubwürdigkeit. Die Unterschrift unter das bilaterale Security Agreement ist deshalb so wichtig, weil wir nur dann in die Detailplanung des möglichen Engagements für die Jahre 2015 und folgende eintreten können. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bin am Schluss meiner Rede. Ich habe zum letzten Mal vor fünf Jahren, im Jahre 2008, von diesem Pult aus um Zustimmung für ein ISAF-Mandat gebeten. Ich erinnere mich noch gut an die Debatte, die wir hier geführt haben. Damals haben nicht wenige in diesem Hohen Hause gefordert, dass wir uns sofort und einseitig aus dem ISAF-Einsatz ausklinken; Sie erinnern sich so gut wie ich. ({0}) Ich glaube, Herr Gehrcke, dass es gut war, dass wir zu unserer Verantwortung gestanden haben und dass der Grundsatz, den ich 2008 vertreten habe, bis heute gilt. Er lautet: Wir gehen da gemeinsam rein und gemeinsam raus. Jetzt stehen wir vor der letzten Verlängerung des ISAF-Mandates. Gemeinsam mit unseren Partnern und im Einklang mit den Resolutionen des Sicherheitsrates werden wir ISAF zum Ende dieses Jahres beenden. Ich darf Sie im Namen der Bundesregierung um Ihre Zustimmung bitten. Herzlichen Dank. ({1})

Johannes Singhammer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002800

Nächster Redner ist Dr. Gregor Gysi, Die Linke. ({0})

Dr. Gregor Gysi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000756, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sie haben recht, Herr Bundesaußenminister: Letztmalig wird der Deutsche Bundestag heute über die Verlängerung des Einsatzes der knapp 3 200 Bundeswehrsoldatinnen und Bundeswehrsoldaten in Afghanistan beraten und entscheiden. Nach Abschluss des Jahres 2014 werden allerdings noch 600 bis 800 Soldatinnen und Soldaten vor Ort bleiben, um bei der Ausbildung zu helfen sowie Beratung und Unterstützung zu gewähren. ({0}) Dazu habe ich mehrere Fragen. Die erste Frage lautet: Warum kann die Ausbildung eigentlich nicht hier oder anderswo stattfinden? Warum müssen unsere Soldaten in Afghanistan bleiben? Meine zweite Frage: Selbst wenn sie dort bleiben, dann ist es doch kein Kampfeinsatz mehr. Müsste dann nicht die UN-Resolution dahin gehend geändert werden, dass nicht Kapitel VII der Charta als Grundlage herangezogen wird, sondern Kapitel VI? Dann dürften Soldaten wie im Inland nur noch in Notwehr schießen und in keinem anderen Fall; denn ein Kampfeinsatz wäre damit untersagt. Meine Frage an Sie: Werden Sie sich dafür einsetzen, dass in der UN-Resolution Kapitel VII durch Kapitel VI der Charta ersetzt wird? Das wäre nämlich zwingend notwendig. ({1}) Sie haben über das Sicherheitsabkommen zwischen den USA und Afghanistan gesprochen. Herr Ströbele hat dazu eine richtige und wichtige Frage gestellt, mit der er uns auch ein bisschen darüber informiert hat, um welche Teile es geht. Abgesehen davon: Haben Sie eigentlich einen Plan B? Was passiert, wenn der Vertrag nicht zustande kommt? Ich habe versucht, das herauszubekommen; aber das weiß keiner. Das scheint mir wenig systematisch, wenig koordiniert und wenig geplant zu sein. Weshalb gibt es überhaupt den Abzug der Soldaten, nicht nur der deutschen, sondern auch der anderer Nationen? Ich sage Ihnen: Das hängt mit dem Scheitern des NATO-Krieges in Afghanistan zusammen. Es gibt keine andere logische Feststellung. ({2}): Völ- liger Quatsch!) Der Einsatz war die falsche Antwort auf die Anschläge auf das World Trade Center am 11. September 2001 in den USA. Man hätte andere Wege gehen können. Schauen wir uns doch einmal die Bilanz nach 13 Jahren Krieg an - die haben Sie hier nicht benannt -: über 70 000 Tote, unter den Toten Tausende Zivilistinnen und Zivilisten, auch Kinder und eben Frauen, allein in Kunduz, auch von unseren Soldaten verursacht, bis zu 142 tote Zivilistinnen und Zivilisten und Hunderttausende Verwundete. Ich bitte, nicht zu vergessen, dass auch 54 Bundeswehrsoldaten ihr Leben gelassen haben. Das hat große Trauer und großes Entsetzen in deren Familien und bei deren Freundinnen und Freunden ausgelöst. Bisher waren mehr als 100 000 deutsche Soldatinnen und Soldaten in Afghanistan. Ein Drittel von ihnen leidet unter posttraumatischen Belastungsstörungen. Das sind über 30 000 Menschen. Wir werden sie noch jahrelang betreuen und behandeln müssen. Auch das ist ein Ergebnis dieses Krieges. Lassen Sie mich auch ein Wort zu den Kosten sagen - gerade haben wir eine Wirtschaftsdebatte geführt; wir führen auch Sozialdebatten -: Der ganze Krieg kostet uns nach Einschätzung des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung bis Ende 2014 23 Milliarden Euro. Was waren die Ziele, Herr Steinmeier, und was ist davon erreicht worden? Das erste Ziel lautete: Al-Qaida muss vernichtet und die Ausbildung von Terroristinnen und Terroristen durch al-Qaida verhindert werden. Das ist aber nicht verhindert worden. Al-Qaida bildet weiter Terroristinnen und Terroristen aus. Sie sagen, es ist ein großer Erfolg, dass das nicht mehr in Afghanistan stattfindet? Jetzt findet das in Pakistan, im Jemen und in anderen Ländern statt. Das ist doch kein Erfolg, ganz im Gegenteil. ({3}) Wie wollen Sie das lösen? Wollen Sie in diesen Ländern jetzt auch Krieg führen? Was soll die Antwort darauf sein? Zweitens. Es sollte ein Regimewechsel erreicht werden. Die Taliban sollten endgültig entmachtet werden. Nun sprechen selbst die USA mit den Taliban darüber, ob sie nicht bereit sind, in die Regierung zurückzukehren. Auch dieses Ziel ist also völlig verfehlt worden. Drittens. Es wurde gesagt, dass die inneren Kämpfe beendet werden müssen. Ist das wirklich gelungen? Seit 2013 nehmen die Kämpfe wieder deutlich zu. Heute sind in Afghanistan 65 ehemalige Kämpfer aus den Gefängnissen entlassen worden - gegen den Willen der USA. Nicht einmal darauf achtet die afghanische Regierung jetzt noch. Es gibt einen gewaltigen Anstieg der Zahl der Opfer, gerade im Jahr 2013. Herr Steinmeier, die UNOrganisation UNAMA stellt fest, dass das Jahr 2013 das gewaltreichste Jahr in Afghanistan seit 2001 war. Wenn Sie diesen Hintergrund sehen, beweist das doch das Scheitern des Krieges. Die Gewalt hat nicht abgenommen, sondern zugenommen. ({4}) Allein im Jahr 2013 haben wir im Vergleich zum Vorjahr eine Verdoppelung der Verluste bei den afghanischen Streitkräften und bei der afghanischen Polizei zu verzeichnen: 4 600 Gefallene auf deren Seite. Die Zahl der zivilen Opfer hat sich im Vergleich zum Vorjahr um 700 erhöht. Das heißt, im Jahr 2013 gab es 8 615 zivile Tote in Afghanistan. Im Verantwortungsbereich der Bundeswehr, also in den nordafghanischen Provinzen, gibt es eine dramatische Zunahme der Angriffe und Kämpfe. Die Anzahl der sicherheitsrelevanten Vorfälle ist im Jahr 2013 im Vergleich zum Jahr 2012 um 35 Prozent gestiegen. Das ist das Ergebnis. Im Übrigen ist es wirklich nicht hinnehmbar - auch das muss ich sagen, Herr Bundesaußenminister -, dass die Zahlen, die Sie der Bevölkerung zur Verfügung stellen, immer knapper werden. Wir brauchen hier Transparenz. Wir müssen wissen, was dort passiert. ({5}) Das vierte Ziel war - darauf sind Sie ein bisschen eingegangen -, in Afghanistan in kultureller, humaner, demokratischer und rechtsstaatlicher Hinsicht einen Fortschritt zu erzielen. Schauen wir uns die Realitäten an: 2,7 Millionen Afghaninnen und Afghanen haben Afghanistan verlassen, sind geflüchtet. Die Zahl der Binnenflüchtlinge hat mit 590 000 ihren Höchststand erreicht. Hinsichtlich der Lebenserwartung, des Lebensstandards und der Bildung - Sie haben die Bildung erwähnt - hat sich Afghanistan deutlich verschlechtert. Es nimmt jetzt Platz 175 von 187 Ländern ein. Von Fortschritt kann da gar keine Rede sein. Die Müttersterblichkeit liegt bei 500 pro 100 000 Geburten. Das ist im internationalen Vergleich eine sehr hohe Zahl. 10 Prozent der Kinder sterben vor Erreichen des fünften Lebensjahres. Nur 39 Prozent der Afghaninnen und Afghanen haben Zugang zu Trinkwasser. Nur 7,5 Prozent der Afghaninnen und Afghanen haben Zugang zur Abwasserentsorgung. 7,5 Prozent! Die Gewalt gegen Frauen hat dramatisch zugenommen: Im ersten Halbjahr 2013 gab es über 4 100 Fälle. Das ist die letzte Zahl, die wir bekommen haben. Die Anbaufläche für Opium wurde während des Krieges versechsundzwanzigfacht. Ich bitte Sie! Afghanistan ist heute Weltmeister im Opiumexport. Das alles haben wir zugelassen. Das muss man ehrlicherweise hier erklären. ({6}) Auch die Bundeswehr arbeitet inzwischen mit den Drogenbaronen zusammen. ({7}) - Ja. ({8}) - Natürlich stimmt das. ({9}) Die Menschenrechtsverletzungen nehmen zu. Die UN-Organisation UNAMA bestätigt, dass es systematische Folterungen und Misshandlungen in den Gefängnissen, Plünderungen und Morde auch von Polizei und Milizen der Warlords auch im deutschen Zuständigkeitsbereich, speziell in den Provinzen Kunduz und Baghlan, gibt. Ein Bericht des Afghanistan Analysts Network vom November 2013 kommt zu dem Schluss, dass die Präsenz der Bundeswehr im Norden zwölf Jahre lang nichts an der wirklichen Machtverteilung änderte und die Bundeswehrverantwortlichen am Schluss mit den stärksten Machthabern, das heißt mit den Warlords und ihren Banden, kooperierten. Das sagt diese Organisation, nicht Die Linke. Jede Vorstellung, dass die Bundeswehr Entwicklung vorantreiben kann, ist auch vom früheren Verteidigungsminister de Maizière in unserer Fraktion zu Recht zurückgewiesen worden. Er hat gesagt: Die Bundeswehr ist kein Entwicklungshelfer, sondern eine Armee. Eine Armee - das sage ich Ihnen - hat gänzlich andere Aufgaben und ein gänzlich anderes Selbstverständnis. Mit anderen Worten: Keines der Ziele wurde erreicht. Den Afghaninnen und Afghanen geht es nicht besser, sondern schlechter. Wir haben Tote verursacht und eigene Tote zu beklagen. Dieser Krieg wurde hinsichtlich der Bundeswehr durch SPD und Grüne, durch Bundeskanzler Schröder, Kanzleramtschef Steinmeier, Verteidigungsminister Scharping und Außenminister Fischer mit Zustimmung von Union und FDP eingeleitet und durchgeführt. Wir, die Linken, haben nicht nur dagegen gestimmt, sondern immer wieder erklärt, dass man die Probleme der Menschheit mit Kriegen nicht lösen kann. Im Gegenteil! ({10}) Ich hatte gehofft und hätte erwartet, Herr Steinmeier, dass Sie heute das Desaster eingestehen und sich zumindest entschuldigen ({11}) bei den Afghaninnen und Afghanen sowie unseren Soldatinnen und Soldaten. ({12}) Ja, das hätte ich erwartet. Dass es ein völliges Desaster ist, räumen Sie schon deshalb ein ({13}) - ich werde es Ihnen jetzt belegen -, weil Sie die afghanischen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen der Bundeswehr nach Deutschland einreisen lassen; denn dort befinden sie sich in Lebensgefahr. ({14}) - Ich sage ja nicht, dass das falsch ist. - Die Tatsache, dass sie sich in Lebensgefahr befinden, beweist doch, dass sie als Kollaborateure einer fremden Besatzungsmacht betrachtet und verfolgt werden und von der Bevölkerung nicht anerkannt und begrüßt werden. ({15}) Das ist doch das Problem, und das müssen Sie akzeptieren. Natürlich müssen wir sie jetzt in unser Land lassen darüber streiten wir nicht -, aber die Gründe dafür, dass sie einer solchen Lebensgefahr ausgesetzt sind, sind interessant. ({16}) Was ist jetzt Ihre Schlussfolgerung, Herr Kauder? Ihre Schlussfolgerung ist, dass die Bundeswehr jetzt auch noch verstärkt nach Afrika gehen soll. Ich kann Ihnen nur sagen: Der Wahnsinn muss endlich aufhören. Das wird höchste Zeit. ({17}) Kommen Sie doch endlich zur Besinnung! ({18}) Ich sage Ihnen: Deutschland kann ein wichtiges Land auf der Erde sein, wenn wir uns weltweit für Frieden, für Konfliktvorbeugung, gegen Hunger, Elend und Not, für soziale Gerechtigkeit, für ökologische Nachhaltigkeit, aber eben nicht für Kriege einsetzen und uns schon gar nicht an ihnen beteiligen. ({19})

Johannes Singhammer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002800

Als Nächstes erteile ich das Wort dem Bundesminister Dr. Gerd Müller. ({0})

Dr. Gerd Müller (Minister:in)

Politiker ID: 11002742

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Gysi, Ihre Alternative des Wegduckens, die Sie hier gerade dargelegt haben, ist absurd. ({0}) Es gab im Jahr 2001 angesichts der dramatischen Situation, in der sich das afghanische Volk befand, keine Alternative zu dieser Entscheidung. ({1}) Ich sage Ihnen, Herr Gysi: Entschuldigen Sie sich bei denen, die mit Leben und Gesundheit für ein besseres Afghanistan bezahlt haben! ({2}) Was sollen die Mütter und Väter der toten Soldaten und zivilen Helfer angesichts Ihrer Rede denken? ({3}) Die ISAF-Soldaten gehen und die Entwicklungsexperten bleiben, das ist heute auch die Botschaft des Entwicklungsministers. Meine Damen und Herren, uns allen ist klar: Militärische Einsätze allein schaffen keinen Frieden. ({4}) Ein friedliches Afghanistan hat nur eine Chance mit einer nachdrücklichen, international und national abgestimmten Entwicklungszusammenarbeit. Die Ausgaben für das Militär sind hoch, in Milliardenhöhe. Diese Investitionen waren nicht umsonst. Aber jetzt bedarf es einer Verstärkung der Investitionen in Friedensarbeit und Aufbauleistung. Dazu brauchen wir ein abgestimmtes, europäisch-internationales Gesamtkonzept, das auch von der afghanischen Regierung getragen wird. ({5}) Notwendig ist - Außenminister Steinmeier hat es dargestellt - ein klares Bekenntnis des afghanischen Präsidenten, Herrn Karzai, und seines Nachfolgers sowie der afghanischen Regierung zur Sicherheit, zur Zusammenarbeit, zur Bekämpfung der Korruption, zur Rechtssicherheit, zur Wahrung der Menschenrechte, zur Sicherung der Frauenrechte; denn unsere Hilfe, unser Engagement ist an Konditionen gebunden. Unser Einsatz ist erfolgreich, unser Einsatz ist wirksam. ({6}) Das zivile Engagement, der großartige Einsatz der vielen Organisationen, gilt ungeteilt den Menschen in Afghanistan. Viele dieser Organisationen waren schon vor ISAF in Afghanistan tätig. Die Zusammenarbeit mit dem afghanischen Volk geht bis in die 50er-, 60er-Jahre zurück. Die Ausgangslage in Afghanistan vor 20, 30, 50 Jahren war düster, schwierig, brutal, Herr Gysi.

Johannes Singhammer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002800

Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Hänsel?

Dr. Gerd Müller (Minister:in)

Politiker ID: 11002742

Bitte. - Herr Präsident, dann müssen Sie aber meine Uhr anhalten.

Johannes Singhammer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002800

Selbstverständlich.

Heike Hänsel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003763, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Danke schön. - Herr Minister, Sie haben gerade davon gesprochen, dass es im Rahmen des Sicherheitsabkommens mit den USA auch um Rechtssicherheit gehen soll. Wie bewerten Sie den Tatbestand, dass mit diesem Sicherheitsabkommen an der Straffreiheit für US-Soldaten und auch für Bundeswehrsoldaten festgehalten werden soll? Dabei wissen wir doch, dass zahlreiche Kriegsverbrechen in Afghanistan begangen wurden, kennen Bilder wie die aus Abu Ghureib, kennen die Berichte der UN, wissen, wie viele Zivilisten getötet wurden, wie viele - illegale - gezielte Tötungen in Afghanistan und Pakistan durchgeführt werden. Wie können Sie von Rechtssicherheit auch für die Afghanen sprechen, wenn es keinerlei Möglichkeit der Verfolgung dieser Verbrechen in Afghanistan geben soll?

Dr. Gerd Müller (Minister:in)

Politiker ID: 11002742

Frau Kollegin, die Antwort darauf hat Ihnen bereits der Bundesaußenminister gegeben. ({0}) Ich möchte mich der großartigen Arbeit unserer Entwicklungsorganisationen und unserer Partner in Afghanistan widmen; denn der Fokus - das möchte ich an dieser Stelle einmal sagen - lag in der AfghanistanDiskussion in den letzten zwölf Jahren allzu sehr auf dem Militär. Das müssen wir auch gegenüber der deutschen Öffentlichkeit ein Stück zurechtrücken. Natürlich würdigen wir alle zu Recht den großartigen Einsatz der Soldatinnen und Soldaten; aber wir würdigen zugleich den Einsatz der zivilen Experten, die genauso vor Ort ihr Leben einsetzen. ({1}) Sie verdienen dieselbe Anerkennung. Natürlich sorgen die Schutztruppen für ein Stück Sicherheit. Aber wer baut die Krankenhäuser, die Schulen, die Wasserleitungen? Das sind die zivilen Experten, deren Einsatz vor Ort großartig ist. Der Herr Außenminister hat die Erfolge dargestellt; ich möchte das nicht wiederholen. Wir wissen, dass es Probleme gibt. Man muss aber auch die Fortschritte sehen: Seit 2000 hat sich das Bruttonationaleinkommen Afghanistans verdoppelt. Besonders wichtig ist für mich, dass die Frauen und Mädchen in Afghanistan auf dem Weg zur Gleichberechtigung sind. 2001 gingen 1 Million Jungen zur Schule. Heute sind es 9 Millionen Schüler, und fast alle Mädchen haben Zugang zu Schulen. Ganz besonders freue ich mich über den Austausch mit jungen Afghanen, mit Eliten, an den deutschen Hochschulen, den wir weiter ausbauen werden. ({2}) Ich sage noch einmal: Die Entwicklungsorganisationen vor Ort leisten diesen herausragenden Beitrag unabhängig vom Militär. Wir werden auch in Zukunft die Sicherheit gewährleisten. Wir leisten diesen Beitrag in Freundschaft mit dem afghanischen Volk seit nahezu hundert Jahren; das können Sie in den Geschichtsbüchern nachschlagen. Die Freundschaft mit dem afghanischen Volk muss auch die Botschaft dieser Sitzung sein. ({3}) Der zivile Aufbau Afghanistans muss gelingen. Er ist entscheidend für die Stabilität in der gesamten Region. Deshalb hat die Bundesregierung zugesagt, bis 2016 jährlich bis zu 430 Millionen Euro in die wirtschaftliche, soziale und politische Entwicklung Afghanistans zu investieren. Das ist eine hohe Summe. Ich sage an dieser Stelle aber auch: Es ist eine weit geringere Summe als die, die wir in militärische Einsatztruppen zu investieren bereit waren. An dieser Stelle ist nun auch eine internationale bzw. europäische Friedensdividende gefragt, die ich einfordern möchte. Der Steuerzahler bzw. das deutsche Volk fragt zu Recht: Wie wird dieses Geld eingesetzt? Die Amerikaner haben Probleme, die Wirksamkeit ihres Einsatzes nachvollziehbar darzulegen; für uns gilt das nicht. Wir werden in den Aufbau und in die Leistungsfähigkeit rechtsstaatlicher Strukturen investieren. Wir werden außerdem den Kampf gegen Korruption in den Mittelpunkt rücken, da dieser von zentraler Bedeutung ist. Unser Geld muss bei den Menschen direkt ankommen und darf nicht in korrupten Kanälen versickern. ({4}) Weiterhin setzen wir auf eine nachhaltige Wirtschaftsentwicklung und auf eine gute Lebensperspektive für die Menschen. 400 000 junge Afghanen strömen jedes Jahr auf den Arbeitsmarkt. Unsere Investitionen fließen daher in die berufliche Ausbildung, in Mikrokredite und in Wirtschaftspartnerschaften. Ohne zivile Strukturen kann es keine Stabilität geben. Ein besonderes Augenmerk werden wir auch auf die Wertschöpfungsketten und die Produktivitätssteigerung in der Landwirtschaft legen. An dieser Stelle besteht ein echtes Defizit. Afghanistan muss weg vom Mohnanbau. Die Entwicklung läuft in den ländlichen Regionen in die komplett falsche Richtung. ({5}) Wir setzen nachdrücklich - an diesem Beispiel sehen die Kritiker auf der ganz linken Seite, was sich in Afghanistan in den letzten zehn Jahren getan hat - auf die Stärkung der Rechte der Frauen, auf die Integration der Frauen in die Arbeitswelt und auf den gleichberechtigten Zugang zu Schulen. Die Stärkung der Rechte der Mädchen und der Frauen ist uns sehr wichtig. ({6}) Wir setzen unsere Arbeit nicht nur in den Städten, sondern auch außerhalb der Städte fort. Wir brauchen außerdem eine breitere Basis. Afghanistan ist bereit für Investitionen. Dieser Aufruf geht an unsere deutsche Wirtschaft. Die deutsche Wirtschaft hat sich in Bezug auf Afghanistan bisher sehr stark - zu stark, wie ich meine - zurückgehalten.

Johannes Singhammer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002800

Herr Bundesminister, darf ich Sie fragen, ob Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Vogler gestatten?

Dr. Gerd Müller (Minister:in)

Politiker ID: 11002742

Wieder links? ({0})

Kathrin Vogler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004181, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank, Herr Minister, dass Sie meine Zwischenfrage zulassen. Sie haben doch sicherlich genau wie ich den Fortschrittsbericht zu Afghanistan Ihrer Bundesregierung gelesen. Daraus geht sehr deutlich hervor, dass der Opiumanbau, also der Umfang der Mohnanbauflächen, in Afghanistan im letzten Jahr wieder zugenommen hat. Nun sagen Sie, Afghanistan müsse weg vom Opium. Sie sagen aber überhaupt nicht, auf welche Art und Weise Sie das gewährleisten wollen. Dazu kommt, dass Sie es hier so darstellen, als ob Entwicklungszusammenarbeit, Entwicklungshilfe und Wiederaufbau nur unter dem Schutz bewaffneter Einheiten stattfinden können. Wesentliche Entwicklungsorganisationen in der Bundesrepublik Deutschland, etwa der Dachverband VENRO, weisen das sehr deutlich zurück, lehnen es ab und sagen: Unsere Helferinnen und Helfer sind gerade da am sichersten, wo keine Bundeswehr und keine ausländischen Truppen in der Nähe sind. Wie stehen Sie dazu?

Dr. Gerd Müller (Minister:in)

Politiker ID: 11002742

Vielen Dank. - Es gibt Bereiche, in denen wir unsere Ziele absolut nicht erreicht haben. Das ist zum Beispiel bei der ländlichen Entwicklung und der Reduzierung des Mohnanbaus der Fall. Wir müssen aber auch darüber reden, wer in diesem Fall die Verantwortung dafür trug. Das war ein Einsatzbereich, der im Zuweisungsbereich der Briten lag, und zwar ganz eindeutig. ({0}) Die Ziele wurden nicht erreicht. Zur Frage der Sicherheit. Sie haben gehört, dass ich sehr deutlich und sehr bewusst darauf hingewiesen habe, dass die Entwicklungszusammenarbeit nicht erst 2001 begonnen hat. Der Einsatz von Entwicklungsexperten - ich spreche nicht nur von Helfern - geht zurück bis in die 20er-Jahre des letzten Jahrhunderts. Afghanistan hat traditionell eine freundschaftliche Verbindung zu Deutschland, und eine solche haben wir zum afghanischen Volk. Deshalb waren unsere Entwicklungshilfeorganisationen auch in den 50er-, 60er- und 80er-Jahren in Afghanistan. Schon 2001 war die Frage strittig: Schaffen die ISAFTruppen mehr Schutz oder weniger? Ich glaube, dass die ISAF-Truppen auch für den zivilen Aufbau und die zivilen Aufbauhelfer mehr Schutz, mehr Sicherheit und mehr und bessere Optionen gebracht haben. ({1}) Aus Gesprächen mit den Organisationen, die wir natürlich geführt haben, weiß ich: Es gibt unabhängig von der ISAF-Truppe ein Sicherheitskonzept, das umgesetzt wurde, das die Sicherheit der zivilen Aufbauhelfer auch in den nächsten fünf bis zehn Jahren grundlegend gewährleistet. Die Organisationen im zivilen Bereich können dort auch ohne Soldaten arbeiten. ({2}) Wir erwarten selbstverständlich, dass in den nächsten Jahren ein vernetztes Konzept von Außenministerium, Verteidigungsministerium, nationalen und internationalen Organisationen vorgelegt wird. Aber unabhängig davon gibt es ein eigenes Sicherheitskonzept für die zivilen Organisationen. Ich nehme Ihre Frage zum Anlass, kritisch nachzufragen - das sollten wir alle tun -, welche Lehren wir aus den Erfahrungen in Afghanistan für andere Krisenherde ziehen können. Ich denke beispielsweise an den afrikanischen Kontinent. Wir im BMZ haben ein neues AfrikaKonzept entwickelt und werden in unserem Denken und in unserer Politik einige neue Akzente setzen und Veränderungen vornehmen müssen. Das heißt, wir brauchen eine Stärkung bei der Krisenprävention. Krisenprävention muss vor Interventionen kommen. Das ist ganz zentral. ({3}) Wir brauchen einen Aufbau regionaler Krisenreaktionskräfte vor Ort. Wir brauchen höhere Investitionen zur Stärkung der zivilen Strukturen und der Zivilgesell1004 schaft. Das kann ich am Beispiel von Mali darlegen. Das Militär kann in das Land gehen und ein Stück weit Ordnung und Stabilität schaffen, es kann aber nicht Frieden zwischen Freund und Feind schaffen. Um langfristig Stabilität herstellen zu können, benötigen wir in Afghanistan und in Mali zivile Strukturen. ({4}) Hier müssen wir unsere Politik verändern. Meine Damen und Herren, ich möchte nun nicht weiter auf unser Afrika-Konzept eingehen. Wir müssen aus dem langjährigen Einsatz in Afghanistan die Lehren für die Krisenbewältigung auch im Nahen Osten ziehen. Angesichts von 6 Millionen Flüchtlingen in Syrien, der instabilen Lage im Libanon, der Situation in Jordanien müssen wir uns fragen: Wie lange schauen wir zu, bis auch dort aus der Instabilität Krisen, Konflikte und Kriege werden? ({5}) Wo ist unsere Krisen- bzw. Friedenskonzeption, dort jetzt einzugreifen und Akzente zu setzen? ({6}) - Was das heißt, das kann ich Ihnen in der nächsten Debatte zum Thema Afrika ganz konkret darlegen. Wir haben uns dazu sehr genaue Überlegungen gemacht. ({7}) Meine Damen und Herren, ich möchte in Richtung der Europäischen Union sagen: Die Mittel aus dem vollgefüllten EU-Entwicklungstopf müssen im Rahmen einer EU-Krisenpräventionsstrategie auch in Afghanistan investiert und zentriert werden. ({8}) Ich gedenke in dieser Stunde natürlich der toten und verletzten Soldatinnen und Soldaten und Entwicklungsexpertinnen und Entwicklungsexperten und deren Familien. Wir danken für die großartige Zusammenarbeit mit den ISAF-Truppen und ihren großartigen Einsatz. Ich sage noch einmal: Die Sicherheit ist natürlich zentral. Zum Schluss möchte ich betonen: Afghanistan wird uns weiter beschäftigen. Die Politik hat es leider an sich, dass man kurzfristig reagiert. Wir beschließen das Mandat bis Ende des Jahres; wir brauchen aber eine mit den Europäern und international abgestimmte Gesamtstrategie, ein friedenspolitisches Gesamtkonzept, das über 2016 hinausgeht und bis 2020/2030 reicht. Herzlichen Dank. ({9})

Johannes Singhammer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002800

Als nächstem Redner erteile ich das Wort Jürgen Trittin, Bündnis 90/Die Grünen.

Jürgen Trittin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003246, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber Gregor Gysi, Sie dürfen der Bundesregierung nicht alles glauben. Die Bundesverteidigungsministerin hat gesagt, Deutschland solle sich mehr engagieren. Heute legt sie aber ein Mandat vor, das vorsieht, künftig 3 000 Soldatinnen und Soldaten weniger im Ausland einzusetzen. Der Kampfeinsatz soll 2014 beendet werden. Ein solches Mandat, ein geordneter Abzug und die Übergabe der Sicherheitsverantwortung an die Afghanen, haben wir sehr lange gefordert. Dieses Abzugsmandat ist überfällig, und deswegen fällt es mir leicht, zu sagen: Das jetzt zu beenden, ist richtig. ({0}) Ich sage aber: Es ist auch an der Zeit, eine Bilanz zu ziehen. - Ich habe damals der Regierung angehört, die die Soldatinnen und Soldaten nach Afghanistan geschickt hat. ({1}) Deswegen und natürlich auch angesichts der Opfer der Afghanen und der Deutschen muss man sich dieser Frage sehr ernsthaft stellen. Wenn ich nach diesen zwölf Jahren darüber nachdenke, dann komme ich nicht zu einer einfachen Wahrheit, sondern zu einem paradoxen Befund: Es war richtig, das Talibanregime zu stürzen. ({2}) Dennoch sind wir und ist die NATO in Afghanistan ein Stück gescheitert. - Man muss sich beiden dieser Wahrheiten stellen. ({3}) Der internationale Terrorismus wäre eine größere Gefahr und diese Welt wäre erheblich unsicherer, wenn er in Afghanistan noch einen Rückzugsraum hätte. Vor 2001 stand er übrigens regelmäßig unter dem Schutzschirm des pakistanischen Geheimdienstes. Das Leben der Afghaninnen und Afghanen wäre erbärmlicher, wenn die Taliban weiterhin in weiten Teilen des Landes die Mädchen am Schulbesuch hinderten und Ehebrecherinnen und Oppositionelle nach Belieben steinigen würden. Es ist übrigens nicht so, dass der Krieg in Afghanistan mit der Intervention des Westens angefangen hat; dort herrschte zu dem Zeitpunkt Krieg. ({4}) Dennoch sind wir gescheitert. Ich zitiere: Die „Förderung von Sicherheit, Entwicklung und Rechtsstaatlichkeit“ ist „trotz großer und anerkennenswerter Anstrengungen“ nur unzureichend gelungen. - Das schreibt Herr Papier für die Evangelische Kirche in Deutschland. Wir sind von einem echten State Building weit entfernt. Die Sicherheitslage hat sich übrigens noch in 2013 gegenüber 2012 verschlechtert. Nach Angaben der UNAMA ist die Zahl der zivilen Opfer noch einmal um 16 Prozent angestiegen, und auch die Zahl der Anschläge hat um 10 Prozent zugenommen. Wir als internationale Gemeinschaft werden noch über Jahre hinweg den afghanischen Sicherheitssektor finanzieren, ausbilden und ausrüsten müssen. Von selbsttragender Sicherheit sind wir trotz der Übergabe der Sicherheitsverantwortung an die Afghanen ein ganzes Stück entfernt. ({5}) Das ist der andere Teil der Wahrheit. Worin hat dieses Scheitern bestanden? Ich glaube, dass die EKD das an einem Punkt ganz klug beschrieben hat. Sie hat ausgeführt: Ein friedens- und sicherheitspolitisches Gesamtkonzept unter dem Primat des Zivilen, - nicht unter Verzicht des Militärischen, sondern unter dem Primat des Zivilen hat weitgehend gefehlt. Die enge Verknüpfung des ISAF-Mandates mit der von den US-Amerikanern als Teil des „War-on-Terror“ geführten Operation „Enduring Freedom …“ hat die Glaubwürdigkeit der Friedens- und Unterstützungsmission ISAF erheblich beeinträchtigt. ({6}) Das ist der Kern. Man kann keinen Rechtsstaat aufbauen, wenn man jede Nacht Drohnen zu extralegalen Tötungen losschickt. Das zerstört die Glaubwürdigkeit eines solchen Einsatzes und eines zivil-militärischen Ansatzes. ({7}) Wir dürfen nie wieder zulassen, dass auf einem Gebiet zwei sich gegenseitig ausschließende militärische Operationen stattfinden, wie es dort der Fall gewesen ist. Ich sage sehr deutlich: Mit dem Beginn von ISAF hätten die OEF und auch diese ganzen Strategien beendet werden müssen, egal unter welchem Plakat sie gemacht worden sind. ({8}) Dann gibt es einen zweiten Fehler, über den wir noch gründlicher nachdenken müssen. Asymmetrische Kriege - wir sprechen hier über Krieg - unterscheiden sich von konventionellen Kriegen in einem wichtigen Punkt: Konventionelle Kriege kennen am Ende häufig einen Sieger und einen Verlierer. Asymmetrische Kriege kennen häufig ({9}) keine Sieger, sondern nur Verlierer. ({10}) Durch den Militäreinsatz wird das Kräfteverhältnis verschoben. Aber am Ende eines solchen Konflikts steht, wenn er denn beendet wird, in der Regel eine Verständigung, irgendein Kompromiss zwischen den Konfliktparteien. Genau dieser richtigen Erkenntnis haben wir uns viel zu lange entzogen. Ich erinnere mich noch, wie der damalige SPD-Vorsitzende Kurt Beck insbesondere von der CDU/CSU ausgelacht worden ist, als es hieß, es müsse mit den Taliban Gespräche geben. Uns schlug wegen dieser Forderung Empörung entgegen. Heute sind Sie selber froh, dass der Botschafter Steiner im Auftrag der Bundesregierung den Taliban ein Büro in Katar angemietet und Gesprächskanäle zu den USA eröffnet hat. Wir sind alle gemeinsam besorgt, dass diese Gesprächskanäle am Ende wegen der Fortsetzung des Drohnenkrieges zum Erliegen gekommen sind. ({11}) - Nein, das hat ihm keiner gedankt. Er ist stattdessen nach Indien strafversetzt worden. ({12}) Deswegen sage ich: In Afghanistan ist die NATO nicht an zu wenig Militär gescheitert. Wir sind gemeinsam daran gescheitert, dass wir von Beginn an zu wenig Entwicklung und zu wenig Willen zu einer politischen Lösung auf die Tagesordnung gesetzt haben. Das ist der Kern des Problems. ({13}) Das bleibt nicht ohne Konsequenzen. Man hat sich einmal die NATO in der Rolle des globalen Dienstleisters für Sicherheit für die Weltgemeinschaft vorgestellt. Ich sage Ihnen: Nach Afghanistan und Libyen wird es dafür kaum neue Mandate geben. Auch und gerade unsere demokratischen Verbündeten unter den Schwellenländern werden das nicht mehr akzeptieren. Dennoch glaube ich, dass der Bundespräsident recht hat: Deutschland muss mehr internationale Verantwortung übernehmen. Der Bundespräsident hat das wie folgt beschrieben: Das bedeutet nicht - ich zitiere - „mehr Kraftmeierei“. Er setzt dagegen „auf Prävention, auf internationale Zusammenarbeit sowie auf die Entwicklung von Frühwarnsystemen gegen Massenverbrechen“. Deswegen müssen wir uns im Rahmen der Vereinten Nationen mehr organisieren und engagieren. Da, wo das Militäreinsatz bedeutet, wird es mehr DPKO und weniger NATO sein. Wir müssen mehr zivile Missionen auf den Weg bringen. Deswegen ist eine gemeinsame europäische Außen- und Sicherheitspolitik künftig von wachsender, zentraler Bedeutung. Nur, werden wir, Herr Bundesaußenminister, dieser Herausforderung auch gerecht? Sie haben in München gesagt: Außenpolitische Verantwortung muss immer konkret sein. - Ich frage die Bundesregierung: Wo sind denn eigentlich die für Postkonfliktländer notwendigen 1 000 Polizeibeamtinnen und Polizeibeamte, die wir angeblich auf Stand-by vorhalten? Die gibt es nicht einmal auf dem Papier.

Johannes Singhammer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002800

Herr Kollege Trittin, denken Sie an die Redezeit.

Jürgen Trittin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003246, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Wenn wir über Früherkennung und Prävention reden: Ist es wirklich klug, im Großkonflikt zwischen SaudiArabien und dem Iran die eine Seite mit Hermesbürgschaften hochzurüsten? ({0}) Aber, meine Damen und Herren - damit komme ich zum Schluss -, es gibt einen einfachen Prüfstein dafür, ob Deutschland seiner Verantwortung außenpolitisch gerecht wird - das hat der ehemalige Bundespräsident Horst Köhler ganz gut formuliert, das ist eine Frage der Glaubwürdigkeit -: Schaffen wir es wenigstens, wenn wir schon die Zusagen für 2015 reißen, bis 2017 0,7 Prozent des Bruttosozialprodukts für Entwicklungshilfe auf den Weg zu bringen? Das ist der Prüfstein für die Glaubwürdigkeit für mehr internationale Verantwortung, und das ist die Frage, ob wir auch aus dem Scheitern in Afghanistan endlich etwas lernen. ({1})

Johannes Singhammer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002800

Nächster Redner ist der Kollege Niels Annen, SPD. ({0})

Niels Annen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003732, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank, Herr Präsident. - Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich finde, Herr Kollege Trittin, Sie haben dieser Debatte einen Dienst erwiesen, weil Sie die Diskussion auf den Punkt gebracht haben, die wir miteinander zu führen haben. Das ISAF-Mandat ist von Anfang an umstritten gewesen. Das ist auch in Ordnung. Übrigens war das auch in meiner eigenen Fraktion und Partei immer umstritten. Wir haben darum richtig gerungen. Ich glaube, das ist auch ein Teil der demokratischen Auseinandersetzung. Wir haben übrigens, weil wir darum gerungen haben, auch mit dafür gesorgt - gemeinsam übrigens -, dass dieses mehr Gegeneinander als Miteinander zwischen ISAF und OEF beendet worden ist. Dass es ein Fehler war, dass wir das nicht früher durchsetzen konnten, gestehe ich Ihnen gerne zu. Denn das ist ein Ausdruck dieser strittigen Debatten gewesen. Ja, ich würde auch sagen, unsere Ziele in Afghanistan waren hochgesteckt. Vielleicht waren sie auch zu hoch gesteckt. Wir sind in vielerlei Hinsicht unvorbereitet in diesen Einsatz gegangen. Das ist richtig. Aber niemand konnte den Anschlag am 11. September vorhersehen. Das ist auch ein Teil eines Reifeprozesses in diesem Land gewesen. Wir sind in Afghanistan zum Teil auf dem Boden der Realität gelandet. Das war nicht immer einfach, vor allem für die Menschen, die wir nach Afghanistan geschickt haben: Soldatinnen und Soldaten, zivile Angehörige, Polizeibeamte und Diplomaten. Trotzdem, Herr Trittin: „Gescheitert“ ist ein großes Wort. Darüber müssen wir in diesem Raum, in diesem Hauen Hose, Entschuldigung: Hohen Hause diskutieren. ({0}) - Ja, weil das nämlich auch in die Hose gehen kann. ({1}) - Ganz ernsthaft, Herr Kollege Gehrcke: Ich finde, die Frage, ob dieser Einsatz gescheitert ist oder nicht, entscheidet sich nach 2014. Wir sollten alles dafür tun, dass unser Einsatz dazu führt, dass das, was wir erreicht haben, und dass die Möglichkeiten, die wir für die Menschen in Afghanistan geschaffen haben, erhalten bleiben, ({2}) damit wir am Ende dieser Auseinandersetzung sagen können, dass wir eben nicht gescheitert sind. ({3}) Ich will auch auf eines hinweisen: Der Bundeswehreinsatz hat auch unser Land und unsere politische Sprache verändert. Wir reden heute von Krieg. Wir reden von Gefallenen, und wir reden von Veteranen. Wir haben eine Diskussion, die notwendig ist - darauf ist auch hingewiesen worden -, und wir haben eine Verpflichtung gerade für die Menschen, die wir dorthin geschickt haben. Aber ich habe eine Bitte an diesem Tag, vor allem an einen Teil der Opposition. Es ist ja in Ordnung, über die Frage von Militäreinsätzen zu streiten. Ich respektiere immer - wir haben auch in unserer eigenen Fraktion diese Debatte -, wenn man sich grundsätzlich dagegen ausspricht. Das ist eine legitime Position. Aber, Herr Kollege Gysi, lassen Sie uns über die Lage in Afghanistan reden. ({4}) Ihr Bezugspunkt ist doch ganz offensichtlich nicht die Zeit der Talibanherrschaft gewesen; denn sonst könnten Sie gar nicht zu solchen Ergebnissen kommen. ({5}) Die Lebenserwartung in diesem Land ist inzwischen höher. Viele Menschen dort haben Zugang zur Gesundheitsversorgung; das ist zuvor genannt worden. Nicht nur unsere Gesellschaft, sondern vor allem auch die Gesellschaft in Afghanistan hat sich durch den Einsatz verändert. Dort gibt es inzwischen in den großen Städten eine Medienlandschaft, die ihresgleichen in der Region sucht. Ein Großteil der Menschen in Afghanistan - auch auf dem Land - verfügt über Zugang zu einem Mobiltelefon. Das Meinungsmonopol der Dorfältesten und der Mullahs ist in vielen Bereichen Afghanistans längst gebrochen. Deswegen gibt es vitale Debatten über alle Probleme, die es dort gibt, im afghanischen Parlament. Die entscheidende Frage, die sich uns allen stellt, lautet: Sind wir fähig, nach Ablauf des ISAF-Mandats eine Politik zu betreiben und eine Struktur zu entwickeln, die die Menschen, die auch von unserem Einsatz profitiert haben, die zur Schule gehen und studieren, die sich wieder auf Wahlen vorbereiten und für ein Parlament kandidieren können, in die Lage versetzen, über die Zukunft ihres Landes selber zu entscheiden? Das ist die Herausforderung, vor der wir stehen. Ich bin der Meinung: Die kritische Debatte - auch über Fehler, die wir in den letzten zwölf Jahren gemacht haben - ist richtig. Meine Fraktion wird sich an dieser Debatte beteiligen. Ich bin sehr dankbar, dass der Außenminister eine kritische - auch selbstkritische - Bilanz gezogen hat. Aber wir dürfen über diese grundsätzliche Debatte nicht vergessen, dass wir in den letzten zwölf Jahren der afghanischen Gesellschaft Chancen gegeben haben. Wir müssen den Menschen in Afghanistan helfen, diese Chancen wahrzunehmen. Deswegen werbe ich nicht nur für Zustimmung, sondern auch dafür, dass wir uns mit demselben Engagement über den richtigen Weg streiten, wenn es nicht nur um militärische Fragen geht, sondern um die Frage - das ist die Nagelprobe -, ob wir in der Lage sind, mit zivilen, diplomatischen und politischen Mitteln dafür zu sorgen, dass Afghanistan als Freund der Bundesrepublik Deutschland eine Zukunft hat. Herzlichen Dank. ({6})

Johannes Singhammer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002800

Das Wort hat jetzt Philipp Mißfelder, CDU/CSU. ({0})

Philipp Mißfelder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003810, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Zuerst möchte ich auf Bemerkungen von zwei Kollegen in der Debatte eingehen. Herr Kollege Gysi, Sie haben den Vorwurf erhoben, die Bundesrepublik Deutschland habe sich im Rahmen des ISAF-Mandats mit den Drogenbaronen in Afghanistan gemein gemacht. Das entspricht einfach nicht den Tatsachen, Herr Gysi. Das weise ich mit voller Entschiedenheit zurück. Es war oft Gegenstand der Debatten in diesem Hause - der Entwicklungsminister hat das gesagt -, ob wir in die Auseinandersetzung um den Drogenanbau aktiv eintreten sollten. Aus guten Gründen haben wir darauf verzichtet, das zu tun. Das heißt aber noch lange nicht, dass wir uns mit den Drogenbaronen gemein gemacht haben. Einen solchen Rückschluss lasse ich Ihnen an dieser Stelle nicht durchgehen. ({0}) Herr Trittin, Sie haben ausführlich über den Beginn des Mandats gesprochen. Sie waren damals quasi hautnah daran beteiligt. Der Kollege Annen hat sehr anschaulich deutlich gemacht, welch große Zäsur dieses Mandat für unser Land war. Ich würde aber nicht davon sprechen, dass das Mandat gescheitert ist und dass wir die Ziele, die wir uns gesetzt haben, allesamt nicht erreicht haben.

Johannes Singhammer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002800

Herr Kollege Mißfelder, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Hänsel?

Philipp Mißfelder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003810, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, bitte. ({0})

Heike Hänsel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003763, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Danke schön. - Herr Mißfelder, bestätigen Sie denn die Tatsache, dass der Halbbruder von Präsident Karzai, Ahmed Wali, einer der größten Drogenbarone in ganz Afghanistan war und deswegen auch ermordet wurde, ({0}) dass große Teile des afghanischen Parlaments einen Drogenhintergrund bzw. eine paramilitärischen Hintergrund haben, ({1}) dass der Gouverneur von Masar-i-Scharif, Mohammed Atta, einer der brutalsten Herrscher in der gesamten Region ist und Privatmilizen unterhält sowie dass es keine Pressefreiheit in der ganzen Region gibt? Das ist ein offenes Geheimnis. Das können Sie in sämtlichen Tageszeitungen lesen; das können Sie bei der BBC sehen, überall. Über Jahre hat die ISAF brutale Warlords unterstützt und ein Drogenregime mit ermöglicht, weil sie diese Leute nie angegangen ist; denn sie hat sie gebraucht im Kampf gegen die Taliban.

Philipp Mißfelder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003810, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Was die Familie Karzai betrifft, so würde ich mich niemals hier hinstellen und sagen, dass alles einwandfrei gelaufen ist. Ich glaube, jeder von uns weiß, wie schwierig führende Politiker in Afghanistan einzuschätzen sind. Dem von Ihnen geäußerten Generalverdacht würde ich allerdings schon widersprechen. Niels Annen hat es ja gerade beschrieben. Es bewerben sich zurzeit elf oder zwölf Kandidaten um das Präsidentenamt, wobei der Ausgang der Präsidentschaftswahl ungewiss ist. Wir haben über die Jahre unzählige Parlamentarierdelegationen aus Afghanistan bei uns gehabt. Ich wehre mich einfach dagegen, dass so getan wird, als ob jeder Funktionsträger oder jeder Würdenträger in Afghanistan automatisch ein Schwerverbrecher wäre. Dem ist einfach nicht so. ({0}) - Natürlich ist uns das bekannt, was die Familie Karzai angeht, selbstverständlich. Nur, Sie können sich, wenn Sie vor Präsident Karzai stehen, sei es auf der Münchner Sicherheitskonferenz oder bei anderen Begegnungen, nicht die Leute backen. Wir sind doch nicht in der Position, jemanden aus unseren Reihen zum afghanischen Präsidenten zu bestimmen. Wir haben vielmehr mit den Leuten, die wir dort vorgefunden haben, in irgendeiner Form kooperieren müssen. Da gibt es nun einmal Persönlichkeiten, die extrem zwielichtig sind; es gibt aber auch gute Beispiele. Einer der engsten Berater von Präsident Karzai, Herr Spanta, war für die Grünen jahrelang im Stadtrat in Aachen. ({1}) Mit dem haben Sie gute Gespräche geführt und wir auch. Wir arbeiten daran, dass Good Governance, also gute Regierungsführung, überhaupt eine Chance in diesem Land hat. Und nur deshalb haben wir militärisch eingegriffen, um dafür überhaupt wieder Spielraum zu bekommen. Das war der Beweggrund für unsere Aktivitäten. ({2}) Ich will auf das zurückkommen, was Herr Trittin gesagt hat. Sie waren bei der Formulierung der ursprünglichen Ziele beteiligt. Zwar möchte ich nicht jedes Wort von Joschka Fischer auf die Goldwaage legen, aber es gehört zur kritischen Betrachtung auch dazu - darüber sind wir uns im Auswärtigen Ausschuss doch einig -, uns zu fragen: Waren vielleicht die Ziele zu hoch, die wir uns gesetzt haben? Den kompletten Einsatz als gescheitert zu bezeichnen, geht mir zu weit; aber vielleicht waren die Ziele etwas bzw. wesentlich zu hoch gegriffen. Einen wichtigen Punkt möchte ich meinen eigentlichen Bemerkungen voranstellen, auch mit Blick auf den Beitrag, den der Bundespräsident in München geleistet hat. Das ist in dieser Debatte schon mehrmals von uns gesagt worden. Von uns glaubt niemand, dass es rein militärische Lösungen von Konflikten gibt. Wir wählen immer den politischen Ansatz. Wir glauben aber, dass es, um überhaupt wieder politischen Spielraum zu erreichen, manchmal als äußerstes Mittel notwendig ist, Militär einzusetzen. Deshalb diskutieren wir hier auch so intensiv. Deshalb ist auch das Parlament in einem so großen Umfang wie bei kaum einem anderen Politikfeld eingebunden und trifft letztendlich die Entscheidung autonom. Das geschieht alles vor dem Hintergrund, dass wir in Deutschland den Parlamentsvorbehalt haben. Das soll auch so bleiben. ({3})

Johannes Singhammer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002800

Herr Kollege Mißfelder, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Kollegen Neu?

Philipp Mißfelder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003810, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, auch wenn ich ihn noch nicht kenne. ({0})

Dr. Alexander S. Neu (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004361, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Kollege Mißfelder, vor über vier Jahren kam es zu diesem Vorgehen in Kunduz, bei dem über hundert Menschen getötet worden sind. Ich habe seitdem nie von irgendeiner Bundesregierung oder auch von Regierungsfraktionen ein Wort des Bedauerns über die getöteten und verletzten Opfer gehört. ({0})

Philipp Mißfelder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003810, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Stimmt nicht! ({0})

Dr. Alexander S. Neu (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004361, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Eine Entschuldigung. - Sind Sie in der Lage, im Rahmen dieser Diskussion - heute findet ja auch eine gewisse Aufarbeitung statt - eine Entschuldigung gegenüber den Opfern und den Hinterbliebenen auszusprechen?

Philipp Mißfelder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003810, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich weiß nicht, ob ich als Parlamentarier überhaupt in der Position bin, mich für etwas zu entschuldigen, nachdem wir als Regierungsfraktion ja die Bundeswehr vor allem gegen Verdächtigungen in Schutz nehmen mussten. Ich sage Ihnen: Es gab selbstverständlich jederzeit und von Anbeginn im Rahmen der Vorfälle von Kunduz ein tiefes Bedauern. Selbstverständlich. ({0}) Glauben Sie denn, es sei uns egal gewesen, was damals passiert ist? Wir versuchen ja bis heute, die richtigen Schlüsse daraus zu ziehen, inklusive eine Antwort auf die Frage zu finden, ob wir nicht die richtigen technischen Antworten darauf geben müssen, was Unterstützung der Soldaten, aber auch Aufklärungsmöglichkeiten der Soldaten angeht. Vorhin wurde über Drohnen unter einem anderen Gesichtspunkt diskutiert; es ging vor allem um Fragen wie extralegale Tötungen, die von den USA ausgehen. Ich möchte diesen Punkt ebenfalls ansprechen, weil oft etwas vermengt wird, was nichts miteinander zu tun hat: Der Vorfall bei Kunduz 2009 wäre beim Einsatz einer Drohne anders abgelaufen. ({1}) Vor diesem Hintergrund sage ich an dieser Stelle: Zu einer kritischen Betrachtung gehört auch, dass wir all den Soldatinnen und Soldaten den besten Schutz sowie die besten Möglichkeiten der Aufklärung zur Verfügung stellen, um Risiken zu minimieren. ({2}) - Vielen Dank. Das gibt mir die Gelegenheit, auch im Namen meiner Fraktion an diesem wichtigen Tag so vielen Menschen, die im Einsatz waren oder im Einsatz sind - die Veteranen sind vorhin schon erwähnt worden - und die hervorragende Arbeit für unser Land leisten, und deren Angehörigen an dieser Stelle zu danken. ({3}) Natürlich ist dieser Einsatz eine Zäsur. Als das zugrundeliegende Mandat am 16. November 2001 auf den Weg gebracht worden ist, ist dem keine einfache Abstimmung vorausgegangen; schließlich war sie mit der Vertrauensfrage verknüpft. Nach wie vor unter dem Eindruck der schrecklichen Ereignisse vom 11. September 2001 stehend, hat Gerhard Schröder damals von der „uneingeschränkten Solidarität“ mit Amerika gesprochen. Dieser Solidarität sind wir wie noch nie zuvor in der Geschichte unseres Landes gerecht geworden. Schon damals hat Deutschland einen starken Beitrag geleistet. Selbst wenn damals - übrigens in allen Parteien - sehr strittige Diskussionen geführt worden sind, muss ich sagen, dass diese Diskussionen definitiv zu einem Reifungsprozess in unserem Land beigetragen haben. Ich glaube, dass die kritische Betrachtung zu Beginn der Diskussionen genauso wie jetzt, viele Jahre danach, dazugehört. Es gilt zu evaluieren, was gut und was schlecht gelaufen ist. Für uns bleiben nach dem Strategiewechsel, der in London eingeleitet worden ist, bestimmte Aspekte wichtig, an denen wir festhalten wollen. Dazu gehört zum Beispiel der Grundsatz „Gemeinsam hinein, gemeinsam heraus“. Auch das ist - das hat der Bundesaußenminister schon gesagt - ein Ausdruck von Verantwortung. ({4}) - Herr Gehrcke, natürlich sind andere aus Afghanistan schon herausgegangen. Das sage ich auch mit Blick auf Verbündete von uns. Wir leisten aber einen besonderen Beitrag, indem wir an diesem Grundsatz festhalten. Es ist auch nicht einfach, diese Entscheidung hier alle zwölf Monate oder in Wahlkämpfen zu verteidigen. Wir haben aber in Deutschland einen demokratischen Diskurs und haben die Entscheidung zur Diskussion freigegeben, und wir haben uns in Wahlkämpfen hingestellt und gesagt: Dafür stehen wir ein. - Ich glaube, es war die richtige Entscheidung, zu sagen: Gemeinsam hinein und auch gemeinsam heraus. ({5}) Dieser wichtige Beitrag ist auch ein Ausdruck der Leistungsfähigkeit der Bundeswehr insgesamt. Die Opfer sind vorhin schon angesprochen worden. Jedes Opfer ist eines zu viel, sei es ein ziviles oder sei es ein Soldat. Wir wollen die Sicherheitsarchitektur in Afghanistan weiter stärken. Dafür soll es eine Anschlussmission geben. Das Notwendige ist dazu gesagt worden. Wir erwarten Rechtssicherheit für diejenigen, die für uns dort weiter tätig sein wollen. Wir erwarten aber auch Sicherheit insgesamt. Der Bundesentwicklungsminister hat deutlich gemacht, welche Rahmenbedingungen für die Entwicklungshelfer wir für die Zukunft erwarten. Das wird uns vor große Herausforderungen stellen. Die Situation und damit die Sicherheitslage kann natürlich angespannter werden, wenn die ISAF-Mission insgesamt beendet wird. Wir stehen jetzt unmittelbar vor der Herausforderung der Präsidentschaftswahlen und vor der Frage, wie es in dem Land politisch weitergeht. Auch die Provinzräte stehen zur Wahl an. Eines muss ich an dieser Stelle schon sagen: Selbst wenn es viel daran auszusetzen gibt, selbst wenn einem nicht jeder Kandidat, der sich bewirbt, passt, wäre es früher, unter der Herrschaft der Taliban, unvorstellbar gewesen, dass sich Frauen überhaupt zur Wahl stellen. ({6}) Es wäre unvorstellbar gewesen, dass es überhaupt eine Auswahl gibt, dass es Richtungsdiskussionen um die beste Ausrichtung dieses Landes gibt. Alles, was jetzt geschieht, findet noch auf niedrigem Niveau statt. Ich rede das hier auch nicht schön. Ich sage nicht, dass wir alle unsere Ziele erreicht haben. Aber nichtsdestotrotz ist nicht alles schlecht in Afghanistan. In der Debatte sind die Teilhabe am Bildungs- und Gesundheitswesen angesprochen worden. Wenn wir zurückblicken werden, dann werden wir immer sagen können, dass es in dem Bereich, wo wir tätig waren, Erfolge gibt: Insbesondere die Infrastruktur ist ausgebaut worden, die Elektrifizierung ist vorangetrieben worden, Straßen sind gebaut worden, Brunnen sind gebaut worden. Das sind Erfolge, selbst wenn das hier manchmal belacht worden ist und manche gesagt haben: Dafür ist ein Militäreinsatz doch nicht da. - Wir haben immer einen gesamtheitlichen Ansatz verfolgt und gesagt: Im Zentrum dieser Mission steht nicht nur die militärische Absicherung, sondern auch der zivile Beitrag, der hoffentlich nachhaltig sein wird. Wir setzen bei dem Anschlussmandat darauf, dass die Sicherheitsstrukturen sich nachher ohne uns tragen. Deshalb wollen wir die Polizeiausbildung vorantreiben, was eine sehr große Herausforderung ist; die Themen sind schon angesprochen worden. Dazu gehört auch eine kritische Überprüfung; wir wollen ja darüber im Auswärtigen Ausschuss groß diskutieren. Ich nehme übrigens die Hinweise der evangelischen Kirche als Einladung wahr, uns damit auseinanderzusetzen. Ich teile nicht alles, was dort formuliert worden ist; es ist aber auch nicht alles falsch, was dort aufgeschrieben worden ist. Deshalb möchte ich dieses Angebot annehmen und darüber diskutieren: Wie geht es eigentlich nach ISAF weiter, und wie kann sich die Gesellschaft hier auch weiterhin verantwortlich gegenüber den Menschen in Afghanistan zeigen? Es ist vorhin gesagt worden, dass wir mit der heutigen Debatte ein freundschaftliches Signal in Richtung des afghanischen Volkes aussenden wollen. Das wollen wir auch tun. Deshalb noch einmal mein klares Bekenntnis - ich richte es an diejenigen, die uns in den vergangenen Jahren massiv unterstützt haben -: Wir wollen auch für Ihre Sicherheit garantieren und für das, was in dem Rahmen möglich ist - mit Aufenthaltsgenehmigungen hier und mit Sicherheit vor Ort; denn wir wollen nicht, dass diejenigen, die uns über Jahre geholfen haben, schutzlos denen ausgeliefert sind, die eventuell auf Rache sinnen. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({7})

Johannes Singhammer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002800

Nächster Redner ist der Kollege Tom Koenigs, Bündnis 90/Die Grünen.

Tom Koenigs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004077, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir haben eine dauerhafte, nachhaltige, alte und intensive Beziehung zu Afghanistan, zum afghanischen Volk. Ich hoffe, das bleibt so. In den letzten zwölf Jahren sind Tausende Deutsche nach Afghanistan gegangen: allein 129 724 Soldaten, dazu zahllose Zivilisten, Polizisten, Peacekeeper, Entwicklungshelfer oder Experten, Mitarbeiter von internationalen Organisationen - wie ich -, von nationalen Botschaften, NGOs, Stiftungen usw. Uns alle hat eines verbunden: eine Begeisterung, dorthin zu gehen und für die richtige Sache einzustehen. Dort hat uns empfangen eine Faszination, nicht nur von der Landschaft, sondern auch vom afghanischen Volk, von den Afghanen selbst. Ich kenne keinen, der länger als drei Monate in Afghanistan gewesen ist, der diese Faszination nicht gespürt hat. Diese Faszination begeistert viele von uns nach wie vor; auch darüber reden wir. ({0}) Es gibt einen weiteren Punkt, der neu für viele von uns war: Das waren die internationalen Teams. Das war neu für mich bei den Vereinten Nationen, für andere in internationalen NGOs und für die Soldaten in multinationalen Einheiten. Es waren ja nicht nur die 28 Staaten der NATO beteiligt, sondern es waren 50 Staaten, darunter 22 Nicht-NATO-Staaten beteiligt: von der Schweiz bis Tonga, von der Mongolei bis zur Ukraine. Uns alle hat die Begeisterung verbunden, für die richtige Sache einzustehen und aufseiten der Afghanen zu kämpfen, die für Menschenrechte und Menschenwürde einstehen - oft mit ihrem Leben -, die für Bildung und Gleichberechtigung sind, für Demokratie und Entwicklung. Eine Zeit lang hat die Stabilisierungsmission der ISAF auch funktioniert. Bis 2005 gab es keinen Krieg. Eine Zeit lang hat das Peacekeeping funktioniert. Erst als da „no peace to keep“ war, ist das umgeschlagen. Eine Zeit lang ist es auch gelungen, gegen die totalitären Kräfte anzukämpfen, gegen die Gotteskrieger und Ideologen, so ungefähr bis 2004/05. Der Irakkrieg, der Absturz der Amerikaner von ihrem Moral High Ground durch die Geschehnisse in Abu Ghureib und Guantánamo haben dazu beigetragen, dass die Taliban sich dann auch ideologisch neu formieren konnten, übrigens international und von Pakistan aus. Als Peacekeeper war ISAF bei den Afghanen populär. Später erst, mit dem Eintritt der Kämpfe gegen die Aufständischen, mit der Counterinsurgency, schlug das um. Es gibt eine Langzeituntersuchung über Meinungen im Norden von Afghanistan. Noch 2007 waren 80 Prozent der Leute der Meinung, dass ISAF die Sicherheit verbessert. 2013 waren es nur noch 15 Prozent. Oder: 2007 haben sich nur 5 Prozent der afghanischen Bevölkerung im Norden vor ISAF gefürchtet; heute sind es 80 Prozent, genauso viele, wie sich vor den Taliban fürchten. Deshalb ist es Zeit, abzuziehen. ({1}) Mit mehr Soldaten lässt sich nicht mehr ausrichten. Das finden wir hier in Deutschland, und das finden auch die Afghanen. Einem Anliegen, das immer wieder an uns herangetragen wird, gerade von denen, die mit uns gearbeitet haben, den Parlamentarierinnen und Parlamentariern, den Journalistinnen und Journalisten, den liberalen Demokraten in Afghanistan, auf deren Seite wir ja gekämpft haben, müssen wir uns stellen, indem wir selbst eine Antwort auf die Frage geben, was auf afghanischer Seite jetzt von uns, von den Entwicklungspolitikern, von den internationalen - zivilen - Organisationen erwartet wird. Nebenbei bemerkt: Ich glaube, eine militärische Nachfolgemission wird es nicht geben; aber darüber werden wir noch sprechen müssen. - Die Afghanen sagen sehr deutlich, was sie von uns erwarten, und das können wir auch leisten, nämlich Bildung, Ausbildung, Fortbildung, Capacity Building, Bildungseinrichtungen, Universitätspartnerschaften, Bildungspartnerschaften. ({2}) Da geht sehr viel mehr, als in der Fantasie von DAAD und GIZ existiert. An Geld fehlt es ja nicht. Mit Geld kann man jedoch keine Demokratie schaffen, wohl aber mit einer gestärkten Bildungselite, die in Afghanistan immer noch sehr schwach ist. Ich wünsche mir von den Entwicklungspolitikern sehr, dass sie die geplanten 430 Millionen Euro jährlicher Entwicklungshilfe - das ist ja ein Riesenbetrag - auch für Bildung einsetzen; denn das ist etwas, was wir können und was die Afghanen von uns, von Deutschland, erwarten. ({3}) Ich würde mir natürlich wünschen, dass diejenigen, die in Zukunft nach Afghanistan gehen, die Begeisterung für unser Engagement teilen und auch weitertragen. Diese Begeisterung wird diejenigen, die dort bleiben, und auch diejenigen, die in schwieriger Situation dort waren, weiterhin mit Afghanistan verbinden; sie wird bleiben. In Afghanistan wird von unserem Einsatz nur das bleiben, was sich in den Köpfen verändert hat. Entscheidend ist nicht das, was wir an Straßen, Brücken und Brunnen gebaut haben, sondern das, was sich in den Köpfen verändert hat. Dahin gehend etwas zu bewegen, muss in der nächsten Zeit unser Ziel sein. ({4})

Johannes Singhammer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002800

Ich erteile jetzt dem Kollegen Stefan Rebmann, SPD, das Wort. ({0})

Stefan Rebmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004214, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir debattieren heute zum letzten Mal über das durchaus und zu Recht umstrittene ISAF-Mandat der Bundeswehr in Afghanistan. Die Menschen in Afghanistan fragen sich natürlich: Was wird aus uns? Wie sieht unsere Zukunft aus? Welche Perspektiven haben wir? Für die Menschen in Afghanistan rückt also immer mehr in den Mittelpunkt, ob wir zu unseren Zusagen stehen und dem Land nach dem Abzug der ISAF-Truppen weiterhin zur Seite stehen und es unterstützen. In den vergangenen zwölf Jahren - darauf wurde schon mehrfach hingewiesen - ist einiges erreicht worden, und viel zu viel ist nicht erreicht worden. Laut dem von der Bundesregierung vorgelegten Fortschrittsbericht gehen mittlerweile knapp 10 Millionen Kinder zur Schule, 3,6 Millionen davon sind Mädchen. Es gibt Verbesserungen im Gesundheitswesen, und die Müttersterblichkeit, lieber Kollege Gysi, ist um mehr als zwei Drittel gesunken: von 1 600 Sterbefällen pro 100 000 Geburten auf unter 500. Ich finde, das ist ein Erfolg, den man nicht kleinreden sollte. ({0}) - Ich will das auch nicht in den Himmel loben, liebe Kollegin Hänsel. Ich sage nur, dass es auch Erfolge gibt. - Es gibt Fortschritte beim Aufbau von rechtsstaatlichen Institutionen und in der Verwaltung. Mehr Menschen haben Zugang zu Wasser. Die Energieversorgung ist deutlich besser geworden, und auch die Infrastruktur wurde verbessert; Kanäle, Brücken und Straßen wurden vielerorts instand gesetzt oder neu gebaut. Die Medienlandschaft erfreut sich - auch darauf ist schon hingewiesen worden - einer Meinungs- und Pressefreiheit, die größer ist als in so manchem die Olympischen Spiele ausrichtenden Land der Gegenwart und der Vergangenheit. ({1}) Ich war im vergangenen Jahr mit der Kollegin Ute Koczy von Bündnis 90/Die Grünen, die leider nicht mehr im Bundestag ist, und mit der Kollegin RatjenDamerau von der FDP in Afghanistan. Wir haben auch viel Positives feststellen können, wie etwa den Bau einer Straße von Masar-i-Scharif zum Ali-Baba-Gate, wodurch Entwicklung überhaupt erst ermöglicht worden ist. Die Bauern und die Menschen in den Dörfern haben uns erzählt, wie diese Straße ihre Lebenssituation positiv verändert hat, weil sie jetzt nicht mehr über vier Stunden, sondern weniger als eine Stunde brauchen, um in die nächste Stadt zu kommen. Diese Straße rettet schlichtweg Leben. Die Menschen sagen: Wir haben jetzt endlich Zugang zu Bildung und medizinischer Versorgung, und wir können Handel betreiben. - Das alles nur aufgrund einer einzigen Schotterstraße. Dadurch entsteht Entwicklung. Wir haben sehen können, wie am Rand dieser Straße Gebäude gebaut werden, wie Handel betrieben wird und sich Kleingewerbe ansiedelt. Ich finde, auch das sind kleine Erfolge. ({2}) Wir haben auch viele Kinder getroffen bzw. gesehen, die auf dem Weg zur Schule waren. Natürlich haben wir dort auch erlebt, dass man uns gesagt hat: Wir können gar nicht so viele Schulen und Lehrerinnen und Lehrer zur Verfügung stellen, wie es Bedarf dafür gibt. Afghanistan ist ein junges Land mit einer jungen Bevölkerung. Wir müssen einmal einsehen, begreifen und auch laut sagen: In diesem Land fehlt eine komplette Generation; eine komplette Generation ist ums Leben gekommen oder ihr wurde Bildung vorenthalten. Vor diesem Hintergrund ist es ein Erfolg, wenn jetzt so viele Kinder zur Schule gehen können. Ich finde, das sollten wir hier wirklich nicht kleinreden. ({3}) Ich treffe mich nachher hier im Reichstag mit einem deutschen Mediziner, der sich seit Jahren in Afghanistan engagiert, indem er eine Klinik für Frauen aufbaut, die an Gebärmutter- oder Brustkrebs erkrankt sind. Das zeigt, wie groß das Engagement ist. Es zeigt sich aber auch, wo es noch gravierende Defizite gibt. Deshalb sage ich auch - wir sollten das nicht ausblenden -: Wir haben bei dieser Reise mit Frauenrechtlerinnen und afghanischen Anwältinnen gesprochen, die sich oft unter Lebensgefahr für andere Frauen engagieren. Sie haben uns Dinge erzählt, die die Vorstel1012 lungskraft sprengen und bei denen es einem die Sprache verschlägt. Wir stellen fest, dass in Afghanistan Kinderund Frauenrechte nach wie vor nicht großgeschrieben werden und es viele Behörden schlichtweg noch zulassen, wenn Gewalt gegen Frauen stattfindet. Das können und das werden wir niemals akzeptieren. ({4}) - Auch generell, liebe Kollegin Hänsel. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir brauchen für unser entwicklungspolitisches Engagement kein Bundestagsmandat, sondern den politischen Willen, Entwicklungspolitik umzusetzen und den Menschen in Afghanistan eine Zukunft zu geben. Die Botschaft muss lauten: Wir lassen Afghanistan auch nach ISAF nicht im Stich. Wir stehen zu unserer Verantwortung und zu unseren Zusagen. Wir erwarten aber auch, dass sich die afghanische Regierung an ihre Zusagen hält. Frank-Walter Steinmeier hat vorhin schon deutlich darauf hingewiesen. Zu unserem Hilfsversprechen gehört auch, dass wir uns um die Menschen kümmern, die uns in den vergangenen Jahren zur Seite gestanden und geholfen haben und deren Leben heute zum Teil bedroht ist. Ich bin der Meinung: Wenn es nötig ist, dann müssen wir diesen Menschen unkompliziert helfen und sie bei uns aufnehmen, damit sie hier eine Zufluchtsstätte haben.

Johannes Singhammer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002800

Herr Kollege Rebmann, Sie denken an die Zeit?

Stefan Rebmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004214, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich komme zum Schluss, mein letzter Satz. - Ich habe in der Generaldebatte zur Entwicklungspolitik gesagt: Eine gute Entwicklungspolitik ist genau betrachtet Friedenspolitik. - Lassen Sie uns mit den 430 Millionen Euro eine gute Friedenspolitik machen, also eine gute Entwicklungspolitik, die konsequent, zielgerichtet und nachhaltig ist - für die Menschen in Afghanistan. Herzlichen Dank. ({0})

Johannes Singhammer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002800

Nächster Redner ist der Kollege Thorsten Frei, CDU/ CSU, dem ich hiermit das Wort erteile. ({0})

Thorsten Frei (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004276, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am vorvergangenen Wochenende hat Bundespräsident Joachim Gauck mit einer bemerkenswerten Rede die Münchner Sicherheitskonferenz eröffnet. Ich glaube, dass er sowohl in seiner Analyse der Situation als auch in seinen Schlussfolgerungen bezüglich der Übernahme von Verantwortung Deutschlands in der Welt richtig liegt. Ich glaube vor allen Dingen auch, dass es wichtig war, dass er einen öffentlichen Diskurs begonnen hat, den wir in der Gesellschaft und auch hier im Parlament miteinander führen müssen. Ich glaube, dass es richtig und wichtig ist, dass wir uns mit Ziel und Richtung deutscher Außen- und Sicherheitspolitik im europäischen Kontext damit beschäftigten, dass wir uns fragen, wie wir uns positionieren, und dass wir im Auge behalten, wie unsere engsten Verbündeten jahrzehntelang letztlich für unsere gute Situierung mit Einsatz und Engagement gekämpft haben. Jetzt geht es darum, dass Deutschland entsprechend seiner Größe und wirtschaftlichen Stärke die Verantwortung in der Welt, in der internationalen Staatengemeinschaft übernimmt, die notwendig ist. ({0}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich glaube allerdings auch, dass es wichtig ist, dass wir die richtigen Maßstäbe setzen, dass es in der Tat - darauf haben die Vertreter der Bundesregierung hingewiesen - darauf ankommt, einen vernetzten Ansatz zu wählen, dass es vor allen Dingen auch auf die wirtschaftliche Entwicklung, die Zusammenarbeit und die Diplomatie ankommt. Vor diesem Hintergrund ist es richtig, was wir in den vergangenen zwölf Jahren in Afghanistan getan haben. Dieser Einsatz war gut, richtig und notwendig. Ich werbe sehr dafür, dass wir das Mandat heute ein letztes Mal verlängern, damit wir den Erfolg zu einem endgültigen Erfolg machen können und den Weg weiter gut beschreiten können. ({1}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, seit 2001 sind wir in Afghanistan. Mehr als 4 500 Tage haben auch unsere Soldatinnen und Soldaten den richtigen Rahmen für Stabilität und für Frieden gesetzt. Wir haben große Opfer gebracht. Auch darauf hat Kollege Gysi hingewiesen. Allein der militärische Einsatz hat über 8 Milliarden Euro gekostet. Vieles ist darüber hinaus passiert. Wir werden uns nach 2014 im zivilen Bereich stark engagieren und dafür jährlich etwa eine halbe Milliarde Euro zur Verfügung stellen. Es ist, wie ich glaube, wichtig, dass wir jetzt diesen Einsatz in einem geordneten Abzug, in einer Übergabe der Verantwortung an die afghanischen Sicherheitsbehörden letztlich auch zu einem wirklichen Erfolg werden lassen. Dafür müssen wir das Mandat erteilen. Ich war neun Jahre lang Oberbürgermeister einer Garnisonsstadt. Ich weiß, was es bedeutet, wenn man Soldatinnen und Soldaten in den Krieg ziehen sieht. Ich weiß auch, was es heißt, wenn sie nicht unversehrt oder gar überhaupt nicht zurückkommen. 2009 beispielsweise war das Jägerbataillon 292 aus Donaueschingen im Einsatz. Dabei ist ein Soldat im Feuergefecht gefallen. Vier weitere Kameraden sind schwer verwundet und verletzt worden. Natürlich wissen wir, dass 55 Bundeswehrsoldaten in diesem Einsatz gefallen sind. Die Opfer sind groß, und deshalb möchte ich die Gelegenheit nutzen, mich persönlich bei denen zu bedanken, die in den vergangenen zwölf Jahren auf der Grundlage der BeThorsten Frei schlüsse dieses Hauses Verantwortung unmittelbar vor Ort und unter schwierigsten Umständen übernommen haben. ({2}) Verantwortung, meine sehr verehrten Damen und Herren, heißt auch, dass wir diesen Einsatz zu einem guten Ende bringen. Aus dem Fortschrittsbericht der Bundesregierung der vergangenen Woche wird deutlich, dass es sehr viel Licht, aber eben auch Schatten gibt. Richtig ist, dass viele Mädchen in die Schule gehen können, dass das afghanische Parlament zu 28 Prozent aus Frauen besteht, dass die Energie- und Wasserversorgung besser gesichert ist, dass die Infrastruktur auf einem anderen Niveau ist, als es vor dem Einsatz der Fall war, dass es nach und nach gelingt, Sicherheitsverantwortung an die afghanischen Sicherheitskräfte zu übergeben. Darüber hinaus gibt es aber auch vieles, was jetzt wieder in Gefahr steht. Das sieht man daran, dass sich dort die Zahl der getöteten Sicherheitsbediensteten im vergangenen Jahr nach Übergabe der Verantwortung an die afghanischen Sicherheitsbehörden im Rahmen des Transitionsprozesses verdoppelt hat. Das kann man daran erkennen, dass die Taliban versuchen, Stück für Stück Räume zurückzuerobern. Das kann man auch an vielen anderen Punkten sehen, an denen dieser Auftrag eben noch nicht zu einem guten Ende geführt wurde. Deshalb ist es entscheidend, dass wir in diesem Jahr im Land bleiben und damit auch einen guten Verlauf der Präsidentschaftswahlen gewährleisten können. Ich glaube, dass das auch ein deutliches Signal an das afghanische Volk sein kann, in der Zukunft selbst mehr Verantwortung zu übernehmen. Denn klar ist - auch das haben heute bereits mehrere Redner gesagt -, dass es am Ende nicht das Militär allein sein kann, das die Probleme dort löst. Es muss vor allen Dingen auch einen innerafghanischen Prozess der Versöhnung und des Miteinanders geben, damit die Voraussetzungen, die durch die internationale Staatengemeinschaft geschaffen worden sind, am Ende zu einem guten Ergebnis für Staat und Gesellschaft führen. In diesem Sinne, meine sehr verehrten Damen und Herren, glaube ich, dass es jetzt vor allen Dingen darauf ankommt, die Erfolge der Vergangenheit zu sichern und darauf zu achten, dass das, was aufgebaut wurde, nicht leichtfertig wieder zerstört wird. Das ist unsere Verantwortung gegenüber denen, die für uns im Einsatz waren, unsere Verantwortung in der internationalen Staatengemeinschaft, aber auch unsere Verantwortung gegenüber dem afghanischen Volk. Ich glaube, dass all das, was in der afghanischen Gesellschaft verbessert wurde, diesen Einsatz gerechtfertigt hat und ihn in der Nachbetrachtung als Erfolg erscheinen lässt. Deshalb ist es wichtig, heute die weitere Mandatierung für die Zeit bis zum Ende dieses Jahres zu beschließen und alles dafür zu tun, dass wir uns auch über das Jahr 2014 hinaus in angemessener Weise in Afghanistan engagieren können. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ({3})

Ulla Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002019

Herr Kollege Frei, das war Ihre erste Rede. Ich darf Ihnen im Namen des ganzen Hauses dazu gratulieren. ({0}) Das Wort hat jetzt der Kollege Fritz Felgentreu, SPDFraktion. ({1})

Dr. Fritz Felgentreu (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004272, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich weiß nicht, ob es Ihnen allen so ähnlich geht wie mir. Ich hatte den Eindruck: Insbesondere die Kritik am fortgesetzten ISAF-Einsatz wurde - weil das eben eine Debatte ist, die schon sehr lange geführt wird - ein bisschen zu routiniert vorgetragen. Mir ist dabei ein Aspekt zu kurz gekommen, der gerade aus verteidigungspolitischer Sicht Beachtung verdient: Der heute vorliegende Antrag der Bundesregierung zur letztmaligen Verlängerung des ISAF-Mandats ist doch auch ein Anlass zu verhaltener Freude, und zwar deswegen, weil er eben eine echte Zäsur bedeutet; es ist wirklich und unwiderruflich die letzte Verlängerung des ISAF-Mandats. Der Auftrag, mit dem wir die Bundeswehr nach Afghanistan entsandt haben, ist jetzt beinahe erfüllt. Die Verantwortung für Sicherheit und Ordnung in den Einsatzgebieten liegt schon heute federführend bei den afghanischen Sicherheitskräften. Dabei werden sie allerdings immer noch von der Bundeswehr mit ihren besonderen Fähigkeiten unterstützt. Der Standort Kunduz, über den wir so viel geredet haben, ist schon im vergangenen Jahr an die afghanische Armee übergeben worden. In den letzten zehn Monaten des ISAF-Mandats werden Rückbau und Rückverlegung im Zentrum stehen. Da frage ich mich schon, wie beispielsweise die Linke begründen kann, einem solchen Rückbau- und Rückverlegungsmandat nicht die Zustimmung zu erteilen. ({0}) Eine Zeit großer Belastungen, ein Einsatz, in dem die Bundeswehr und damit unser ganzes Land auch den Schrecken des Krieges wieder kennengelernt haben, steht vor dem Abschluss. Die SPD-Fraktion blickt anlässlich der vor uns liegenden Entscheidung mit Bewegung und Dankbarkeit auf das zurück, was die Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr und ihre Verbündeten in Afghanistan erlebt, geleistet und auch erlitten haben. Wir freuen uns insbesondere mit ihnen und ihren Familien darüber, dass dieser schwierigste Auftrag in der Geschichte der Bundeswehr nun zu Ende geht. Liebe Kolleginnen und Kollegen, trotzdem sind wir uns selbstverständlich darin einig, dass wir diesem Einsatz nicht mit ungetrübter Freude zustimmen können; denn wir erkennen natürlich auch die Gefahr - das ist heute mehrfach angesprochen worden -, dass die Gründe, die vor gut zwölf Jahren zu dem NATO-Einsatz in Afghanistan geführt haben, wieder wirksam werden könnten. 2001 haben wir erlebt, dass von einem unterentwickelten und scheinbar unendlich weit entfernten Land wie Afghanistan eine konkrete Bedrohung für die Menschen in Amerika und in Europa ausgehen konnte. Das deutsche Engagement in Afghanistan war deswegen immer darauf ausgerichtet, das Land auf einem Weg zu Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und zum friedlichen Aufbau einer Zivilgesellschaft zu begleiten; denn Wohlstand, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sind nach unserer festen Überzeugung die besten und zuverlässigsten Garanten dafür, dass Afghanistan nicht wieder zu einem Ursprungs- oder Rückzugsort des weltweiten Terrorismus werden kann. ({1}) Tatsächlich hat Afghanistan durch unsere Unterstützung Fortschritte gemacht. Dass die afghanischen Sicherheitskräfte nach allgemeiner Einschätzung in diesem Jahr in der Lage sein werden, ohne Hilfe von außen die geregelte Durchführung der Präsidentschafts- und Regionalwahlen am 5. April dieses Jahres zu gewährleisten, ist auch ein Erfolg der Berater- und Ausbildungstätigkeit der Bundeswehr. ({2}) Bei der Infrastruktur, der Bildung, den Frauenrechten und nicht zuletzt beim durchschnittlichen Einkommen steht Afghanistan heute ungleich besser da als zu Beginn des Einsatzes. Besser heißt nicht gut, da sind wir uns alle einig. Aber klar ist doch: Es hat auch Fortschritte gegeben. Diese Fortschritte sind und bleiben allerdings prekär. Sie haben vor allen Dingen keine nachhaltige wirtschaftliche Grundlage im eigenen Land, sondern sie werden finanziell von den Gebernationen getragen. 60 Prozent der Menschen verdienen ihren Lebensunterhalt in der Landwirtschaft, deren erfolgreichster Erwerbszweig, auf einer Anbaufläche von über 200 000 Hektar, der Anbau von Mohn ist. Allgegenwärtige Korruption stellt den Aufbau des Rechtsstaats infrage. Zwischen der Regierung und den Taliban - auch das ist bereits angesprochen worden - herrscht immer noch Krieg, in dem die afghanischen Sicherheitskräfte in den ersten elf Monaten des vergangenen Jahres 4 600 Gefallene zu beklagen hatten. Uns allen muss klar sein: Das Auslaufen des ISAFMandats am 31. Dezember 2014 entbindet uns und die internationale Staatengemeinschaft nicht von der Verantwortung für Afghanistan. Um Rückschlägen vorzubeugen, um das Erreichte zu bewahren und um bei weiteren Fortschritten zu helfen, werden Deutschland und die Bundeswehr Afghanistan auch in Zukunft durch Beratung und Ausbildung unterstützen müssen. Es wird um Hilfe zur Selbsthilfe und nicht um einen Kampfauftrag gehen. ({3}) Die Voraussetzung dafür ist, dass die afghanische Regierung Deutschland und die NATO dazu einlädt, dass die Sicherheit derer, die wir dort einsetzen könnten, gewährleistet ist und dass dieses Parlament seine Zustimmung erteilt. Zunächst aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, bitte ich Sie, gemeinsam mit der SPD-Fraktion der von der Bundesregierung beantragten Mandatsverlängerung zuzustimmen - und das eben mit der von mir erwähnten verhaltenen Freude. Vielen Dank. ({4})

Ulla Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002019

Herr Kollege Felgentreu, auch Ihnen alles Gute und die besten Glückwünsche des ganzen Hauses zu Ihrer ersten Rede. ({0}) Das Wort hat jetzt die Kollegin Elisabeth Motschmann, CDU/CSU-Fraktion. ({1})

Elisabeth Motschmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004357, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Nichts ist gut in Afghanistan. All diese Strategien, sie haben uns lange darüber hinweggetäuscht, dass Soldaten nun einmal Waffen benutzen und eben auch Zivilisten getötet werden. Diesen Vorwurf erhob Margot Käßmann in ihrer denkwürdigen Predigt zum Neujahrstag 2010. Es ist schon gediegen abwegig, dass man sich dahin gehend täuschen kann, dass Soldaten Waffen benutzen. Nichts ist gut in Afghanistan, beklagte übrigens auch ihr Nachfolger im Amt, Nikolaus Schneider, vor drei Wochen bei der Vorstellung einer Stellungnahme der EKD zum Einsatz in Afghanistan. Er betonte, dass er Käßmanns Aussage für im Wesentlichen zutreffend halte. Ich teile diese Position nicht. ({0}) Herr Trittin, ich teile auch nicht Ihre Position, dass diese Stellungnahme hilfreich sei. Wer hoffte, in dieser Stellungnahme der EKD eine klare ethische Orientierung zu finden, wurde enttäuscht. Das Papier beinhaltet die Ablehnung des Militäreinsatzes, gleichzeitig aber auch seine Begründung unter bestimmten Bedingungen. Das ist zu unklar. ({1}) Mit einer Doppelstrategie können wir den Einsatz unserer Soldaten nicht begründen. ({2}) Wenn wir erneut den Beschluss fassen, den Einsatz unserer Soldaten in Afghanistan zu verlängern, müssen wir hinter diesem Auftrag stehen, und zwar geschlossen, und daran mangelt es so oft. Schließlich sind unsere Soldatinnen und Soldaten bereit, mit ihrem Leben für den Schutz anderer einzustehen. Deshalb haben sie unseren Dank verdient. ({3}) Wir sind seit nunmehr über einem Jahrzehnt an der Mission beteiligt, in der es letztlich darum geht, die universell gültigen Menschenrechte durchzusetzen und zu verteidigen. Wer davon ausging, dass beides konfliktfrei oder auch zügig zu haben sei, war naiv. Afghanistan ist seit langem Schauplatz bewaffneter Konflikte. Die Taliban, die Mitte der 90er-Jahre die Macht an sich rissen, führten das Land und seine Menschen in eine internationale Isolation. Wer nicht vergessen hat, was damals los war, wer die katastrophalen Verhältnisse, die katastrophalen Menschenrechtsverletzungen, insbesondere die schlimme Situation der Mädchen und Frauen in Afghanistan nicht vergessen hat, der kann nicht so wie Sie, Herr Gysi, über die Ergebnisse des ISAF-Einsatzes reden. ({4}) Das war schlimm. Weil wir immer geneigt sind, über das Nichterreichte zu reden, will ich in vier Punkten kurz sagen, was erreicht wurde: Erstens. Die Sicherheitslage hat sich verbessert; Herr Steinmeier hat es gesagt. Es werden keine Terroristen mehr in Afghanistan ausgebildet, und das ist ein Erfolg. Die Verkehrswege können von den afghanischen Kräften selbst gesichert werden. Gleiches gilt für die Ballungsgebiete. Allerdings gibt es natürlich auch hier noch erhebliche Defizite. Zweitens. Den Afghanen geht es deutlich besser, Herr Gysi. Mehr Menschen als jemals zuvor haben heute Zugang zu Wasser und Strom. Das ist existenziell wichtig. Angesichts dessen können Sie doch nicht so tun, als sei es für die Menschen in dem Land nicht besser geworden. Im Übrigen enthält die neue afghanische Verfassung einen umfassenden Grundrechtskatalog, und sie sieht eine unabhängige Menschenrechtskommission vor. Darüber hinaus haben die Afghanen die meisten völkerrechtlichen Verträge ratifiziert. Daran kann man jetzt anknüpfen. Darauf kann man aufbauen, auch wenn es an der Umsetzung natürlich noch mangelt. Drittens - das ist mir besonders wichtig - gibt es wirklich Fortschritte für Frauen und Mädchen in diesem Land: Die Lebenserwartung ist deutlich gestiegen. Die Säuglings- und Müttersterblichkeit konnte signifikant reduziert werden. Der Anteil der Mütter, die bei der Geburt medizinische Hilfe erhalten, hat sich von 2003 bis 2011 versechsfacht. Die meisten afghanischen Kinder konnten mittlerweile gegen die gefährlichsten Krankheitserreger geimpft werden. Gut 9 Millionen Kinder - das ist hier wiederholt gesagt worden - gehen mittlerweile zur Schule. Davon sind fast 40 Prozent Mädchen. Zum Vergleich: Unter den Taliban besuchten weniger als eine halbe Million Kinder die Schule. Mädchen konnten, wenn überhaupt, nur im Verborgenen lernen. Heute studieren Frauen in Afghanistan. Sie stellen sich zur Wahl. Das ist doch ein Erfolg, und das dürfen wir nicht kleinreden. ({5}) Die Rechtslage der Frauen hat sich seit dem Ende des Talibanregimes deutlich gebessert, wenngleich wir natürlich wissen - ich bin nicht naiv -, dass die gewaltsame Bedrohung von Frauen noch ein ganz ernstes Problem ist. Viertens. Deutliche Fortschritte - auch das ist schon erwähnt worden - gibt es auch beim Wiederaufbau und bei der wirtschaftlichen Entwicklung. Die staatlichen Einnahmen haben sich seit 2002 mehr als verzehnfacht, und das jährliche Pro-Kopf-Einkommen erhöht sich Jahr für Jahr beträchtlich. Man kann also durchaus den Blick auf die Dinge richten, die viel besser geworden sind. Aus all diesen Gründen können wir mit gutem Gewissen der Fortsetzung des Mandats bis Ende des Jahres zustimmen. Allerdings braucht Afghanistan - das ist ebenfalls gesagt worden auch in Zukunft unsere Unterstützung. Wenn unsere Soldaten Ende des Jahres das Land verlassen, dürfen sich die Menschen in Afghanistan bitte nicht verlassen fühlen. Hilfe und Unterstützung - dann in anderer Form zu geben, bleibt unsere Aufgabe. Daher ist die Perspektive einer friedenssichernden Anschlussmission an das ISAF-Mandat ab 2015 - dies wurde schon angesprochen - besonders wichtig; sie muss allerdings natürlich auch auf Voraussetzungen basieren, die noch geschaffen werden müssen. Fazit. Die Lebenssituation in Afghanistan war vor dem ISAF-Einsatz hoffnungslos. Heute haben viele Menschen zumindest wieder eine Perspektive. Ich sage ganz deutlich - auch Ihnen, Herr Gysi -: Jedes Kind, das heute zur Schule geht, bedeutet Zukunft und Fortschritt. Jedes Mädchen, jede Frau, die von den Bildungsangeboten profitiert, bedeutet Zukunft. Sie haben das alles negiert und niedergemacht. Das kann nicht sein. Jeder wirtschaftliche und gesundheitspolitische Fortschritt bedeutet Zukunft, jeder noch so kleine Meilenstein zur Verwirklichung der Menschenrechte bedeutet Zukunft Zukunft für Afghanistan. Deshalb danke ich abschließend allen, den Soldaten, den Polizistinnen und Polizisten sowie den vielen Einsatzhelfern in den Hilfsorganisationen, für ihr Engagement, für ihre Hilfe für die Menschen in Afghanistan. Das muss uns immer am meisten interessieren. Vielen Dank. ({6})

Ulla Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002019

Vielen Dank. - Frau Kollegin Motschmann, auch Ihnen darf ich ganz herzlich im Namen des Hauses gratulieren. Denn es war auch Ihre erste Rede. ({0}) Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Reinhard Brandl, CDU/CSU-Fraktion. ({1})

Dr. Reinhard Brandl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004018, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vielen Dank. - Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Debatte heute und die Verabschiedung des Mandats nächste Woche markieren eine Zäsur. Nach zwölf Jahren ist es das letzte Mal, dass wir den ISAF-Einsatz mandatieren. Generationen von Abgeordneten haben sich damit befasst. Viele haben mit sich gerungen, auch ich als junger Abgeordneter in den ersten Jahren. Heute haben drei Abgeordnete ihre erste Rede zu diesem Thema gehalten. Einige Vorredner, insbesondere Herr Trittin und Herr Gysi, haben die Gelegenheit genutzt, um bereits eine Bilanz des Einsatzes zu ziehen. Ich persönlich finde das schwierig. Ich möchte Ihnen drei Gründe dafür nennen. Erstens. Ob der Einsatz gescheitert oder letztlich doch erfolgreich gewesen ist, wird sich erst nach einer gewissen Zeit, einige Jahre nach der Übergabe der Verantwortung an die Afghanen zeigen. Wir müssen dann sehen, wie sie mit der Sicherheitslage, mit der Entwicklungslage in ihrem Land zurechtkommen. Das können wir heute nicht beurteilen. Wir können heute nur die Ausgangschancen beurteilen. Wir würden uns wünschen - das gestehe ich zu -, dass sie besser wären. Zweitens. Wir wissen auch nicht, wie sich das Land ohne den ISAF-Einsatz entwickelt hätte. ({0}) Alle Überlegungen dazu sind sehr hypothetisch. Denn zur Wahrheit gehört auch - das hat Herr Trittin angesprochen -, dass die USA und die UN nach dem 11. September gar keine andere Möglichkeit hatten, als gegen das Land und gegen die Taliban vorzugehen. Zur Wahrheit gehört auch, dass sich Deutschland, wenn wir uns damals nicht beteiligt hätten, außen- und bündnispolitisch total ins Abseits gestellt hätte. Deutschland hätte dann im weiteren Verlauf, bei den Afghanistan-Konferenzen, überhaupt keine Rolle mehr gespielt. ({1}) Wir hätten im Bundestag große Reden halten können - die Linken sind ja ganz groß darin -, was denn alles falsch ist und was man hätte anders machen können; ({2}) aber faktischen Einfluss auf den Einsatz und auf die Entwicklung des Mandats hätten wir nicht gehabt. ({3}) Wer Einfluss möchte, muss auch Verantwortung übernehmen. ({4}) Mit der ersten Entscheidung, verehrte Kolleginnen und Kollegen, die unsere Vorgänger einige Legislaturperioden vor uns 2001 getroffen haben, hat Deutschland Verantwortung übernommen. Zu dieser Verantwortung stehen wir bis heute. ({5}) Natürlich hätten wir uns alle einen anderen Verlauf gewünscht; aber das ist ja gerade das Problem bei bewaffneten Auseinandersetzungen, dass man die Dynamik nie hundertprozentig vorhersehen oder gar hundertprozentig steuern kann. Herr Koenigs hat in seiner Rede angedeutet, dass der ISAF-Einsatz von der Bevölkerung anfangs positiv gesehen wurde, was sich allerdings nach und nach verschlechtert hat. Ich will noch einen dritten Punkt nennen, warum ich glaube, dass es zu früh ist, um Bilanz zu ziehen - auf diesen Punkt wurde heute noch gar nicht eingegangen -: Afghanistan steht unmittelbar vor einer großen Bewährungsprobe. Das ist die Wahl am 5. April. Deutschland hat sich bei der Vorbereitung dieser Wahl massiv eingebracht: bei der Verabschiedung der notwendigen Wahlgesetze und beim Aufbau eines Wählerverzeichnisses sowohl für Kabul als auch für die Regionen. Vor 2004 gab es überhaupt keine Möglichkeit für Wahlen, weil keine verlässlichen Daten über die Bevölkerung vorlagen. Seit 2004 haben die Afghanen Stück für Stück die Verantwortung für die Durchführung von Wahlen übernommen. Im April haben sie zumindest die Chance, sich selbst eine demokratisch legitimierte Führung zu wählen. Wenn es ihnen gelingt, eine transparente und glaubhafte Wahl zu organisieren, deren Ergebnis sowohl von den Siegern als auch von den Verlierern respektiert wird, dann wäre das für das Land ein Riesenerfolg, dann fände in Afghanistan zum ersten Mal ein friedlicher, demokratischer Machtübergang statt. Der internationalen Gemeinschaft stünde dann ein demokratisch legitimierter Ansprechpartner zur Verfügung, mit dem man konstruktiv über die Zukunft des Landes sprechen könnte. Von dem jetzigen Präsidenten Karzai - das wurde mehrmals angesprochen - können wir in dieser Richtung leider nichts mehr erwarten. Scheitern die Wahlen, drohen neue Auseinandersetzungen und politische Instabilität, die vieles, was das Land in den vergangenen Jahren - auch mit unserer Unterstützung - erreicht hat, wieder zunichtemachen könnten. Ob die Wahlen erfolgreich sein werden, hängt wesentlich davon ab, ob die Afghanen am 5. April sicher zur Wahl gehen können. Das wird eine Bewährungsprobe für die afghanischen Sicherheitskräfte, die von unseren Soldaten und Polizisten in den vergangenen Jahren ausgebildet wurden. Die Bundeswehr hilft bei der VorDr. Reinhard Brandl bereitung der Wahl, sie berät und unterstützt; Durchführung und Sicherung der Wahl liegen aber bei den Afghanen selbst. Ich habe dieses Beispiel auch deshalb gewählt, weil es zeigt, wie zivile Unterstützung und die Gewährleistung der Sicherheit ineinandergreifen müssen und dass das eine ohne das andere nicht funktioniert. In Zukunft - auch das ist mehrmals angesprochen worden - werden zivile Hilfe und Entwicklungszusammenarbeit bei unserem Afghanistan-Engagement deutlich mehr in den Vordergrund treten. Das wurde heute schon daran deutlich, dass der Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Dr. Gerd Müller, zu diesem Punkt gesprochen hat. Seit ich 2009 in den Bundestag gewählt worden bin, hat noch nicht ein Minister aus diesem Ressort zur Verlängerung des ISAFEinsatzes gesprochen. ({6}) - Die Gründe seien dahingestellt. - Dass ein Entwicklungshilfeminister gesprochen hat, ist wichtig; denn das Bild des deutschen Afghanistan-Engagements ist zumindest in der öffentlichen Wahrnehmung in Richtung Militär verzerrt worden. Wenn Sie heute auf der Straße die Bevölkerung fragen, was Deutschland in Afghanistan macht, dann denken wahrscheinlich die Allermeisten vorrangig an den Einsatz unserer Soldaten. Das ist nachvollziehbar. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass wir in Afghanistan jedes Jahr 430 Millionen Euro für zivile Hilfe und Unterstützung investieren. Das ist mehr, als jedes andere Land von uns erhält. Wir sind der drittgrößte Geber in Afghanistan nach den USA und Japan. Das Geld ist an Bedingungen geknüpft; Minister Müller hat es angesprochen. Die Bedingungen sind Korruptionsbekämpfung, Transparenz öffentlicher Einnahmen und Ausgaben und die Schaffung eines inklusiven Wahlrechts. Daran sehen Sie, wie vernetzt der Ansatz ist und wie alles zusammenwirkt. Wir stehen langfristig zu dieser Unterstützung, gerade im zivilen Bereich. Es wurden Vereinbarungen geschlossen, diese Hilfen auch zukünftig zu gewähren. Wir stehen langfristig zu unserer Verantwortung in Afghanistan, auch wenn der militärische Anteil langsam reduziert wird. Das Land und die Menschen werden uns hier noch lange beschäftigen. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({7})

Ulla Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002019

Vielen Dank. - Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 18/436 und 18/466 an die in der Tages- ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Damit sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 a und 5 b sowie den Zusatzpunkt 3 auf: 5 a) Erste Beratung des von den Fraktionen BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und DIE LINKE eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Sicherung der Oppositionsrechte in der 18. Wahlperiode des Deutschen Bundestages Drucksache 18/380 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung ({0}) Innenausschuss Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union b) Beratung des Antrags der Fraktionen BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und DIE LINKE Änderung der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages zwecks Sicherung der Minderheitenrechte der Opposition im 18. Deutschen Bundestag Drucksache 18/379 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung ({1}) Innenausschuss Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ZP 3 Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/ CSU und SPD Änderung der Geschäftsordnung zur besonderen Anwendung der Minderheitenrechte in der 18. Wahlperiode Drucksache 18/481 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 60 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Damit ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Petra Sitte, Fraktion Die Linke. ({2})

Dr. Petra Sitte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003848, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Wahlentscheidung der Wählerinnen und Wähler vom vergangenen September hat ja nun einiges durcheinandergewirbelt. Der Union ist der Koalitionsliebling abhandengekommen. Die FDP ist jetzt so frei, wie es ihr Name auch tatsächlich verspricht. Von allen möglichen Koalitionsvarianten musste es dann offensichtlich eine riesige Zweckgemeinschaft von Union und Sozialdemokraten werden. ({0}) Die Opposition dagegen muss nunmehr mit weniger Abgeordneten deutlich mehr leisten. ({1}) Ehrlich gesagt hatte ich mir die Steigerung politischer Effizienz immer anders vorgestellt, aber daran arbeiten wir. ({2}) Alle gemeinsam stehen wir jetzt vor dem Problem, dass die Bürgerinnen und Bürger nicht nur das Recht auf gutes Regieren, sondern eben auch das Recht auf gutes Opponieren haben. Genau dafür müssen wir hier die Voraussetzungen schaffen. ({3}) Union und SPD als regierungstragende Fraktionen haben mit einer Zweidrittelmehrheit quantitativ beste Voraussetzungen, ihre politischen Projekte durchzusetzen. Die Oppositionsfraktionen dagegen bringen beste qualitative Voraussetzungen mit, ({4}) um entsprechend dem Verfassungsauftrag die Regierung zu kontrollieren und alternative Lösungsvorschläge zu unterbreiten. Was uns nun wieder fehlt, ist Quantität; aber davon sprachen wir bereits. Um nun unsere klugen Inhalte wirkungsvoll einbringen zu können, benötigen wir auch umfassend die Rechte einer parlamentarischen Opposition. Diese Rechte - das wissen wir alle - sind nun einmal an Quoren gebunden. Wir müssen zur Ausübung dieser Rechte mal über ein Drittel der Abgeordneten des Bundestages verführen ({5}) - ich meine natürlich, verfügen -, mal über ein Viertel. Aktuell besteht die Opposition aber nur aus einem Fünftel der Abgeordneten. Das ist allemal ein verfassungsrechtlich bedenklicher Zustand. Grundbaustein der parlamentarischen Demokratie ist aber auch die Opposition. Das Bundesverfassungsgericht beispielsweise hat in seiner Rechtsprechung der Opposition immer eine herausgehobene Stellung zugedacht; man spricht unter Juristen von einer Chancengleichheit zwischen den die Opposition und die Regierung tragenden Fraktionen. ({6}) Aktuell kann sich die Opposition aber nicht chancengleich am Willensbildungsprozess des Parlaments beteiligen. Welche Rechte können wir derzeit nicht nutzen? Das sind beispielsweise die Einberufung des Bundestages, die Einsetzung von Enquete-Kommissionen und Untersuchungsausschüssen und die Durchführung von öffentlichen Anhörungen. Schließlich können wir keine Normenkontrollklage erheben. Nur zur Erklärung für jene, die keine Juristen sind: Eine Normenkontrollklage dient dazu, dass das Bundesverfassungsgericht Gesetze auf ihre Verfassungsmäßigkeit überprüft, dahin gehend also, ob sie verfassungsrechtlich unbedenklich sind. Grundsätzlich sind wir uns hier in vielem einig. Das zeigen sowohl der vom Bundestagspräsidenten vorgelegte Lösungsvorschlag als auch der Lösungsvorschlag vonseiten der Koalition. Wie wir aber die Minderheitenrechte so regeln, dass sie sozusagen verlässlich ausgeübt werden können, darüber gehen unsere Meinungen noch auseinander. Meine Damen und Herren, ein Teil der Oppositionsrechte wird in der Geschäftsordnung des Bundestages geregelt. Okay, diese betrifft ausschließlich uns selbst, also das Parlament. Wir brauchen also nur die Geschäftsordnung zu ändern, wie auch von der Koalition vorgeschlagen. Das ist unkompliziert. Da sind Sie uns ein Stück entgegengekommen. Ein anderer Teil der Oppositionsrechte findet sich aber in verschiedenen Gesetzen. Davon sind nicht nur die Abgeordneten betroffen, sondern auch andere Institutionen und Menschen, also Dritte. Deshalb müssen die Minderheitenrechte auch direkt in den jeweiligen Gesetzen angepasst werden und dürfen nicht, wie es die Koalition will, nur im Rahmen eines Antrages bzw. innerhalb der Geschäftsordnung festgelegt werden. Wir sind der Bundestag. Wir sind Gesetzgebungsorgan. Wer hindert uns daran, diese Gesetze zu ändern? Das verstehe ich, ehrlich gesagt, gar nicht. ({7}) Nehmen wir als Beispiel das Untersuchungsausschussgesetz. Darin werden der Opposition unter anderem Rechte auf öffentliche Zeugenbefragungen zugedacht, aber eben nur, wenn dem ein Viertel der Ausschussmitglieder zustimmt. Hier brauchen wir dringend und schnell eine Lösung; denn aktuell liegen Anträge zur Einsetzung des NSA-Untersuchungsausschusses vor. Wir müssen also auch hier dafür sorgen, dass die Oppositionsrechte geklärt werden, insbesondere hinsichtlich Redezeiten und Zeugenanhörungen. Wenn wir das nicht klären, droht die Situation, dass dieser Ausschuss bestimmte Fragen nicht aufklären kann und so seiner Kontrollverantwortung nicht gerecht wird. Meine Damen und Herren, um Vorbehalte abzubauen und den Kolleginnen und Kollegen von Union und SPD die Zustimmung vielleicht doch zu erleichtern, haben wir gemeinsam mit den Grünen einen Kompromiss vorgeschlagen. Der Kompromiss besteht darin, dass wir vorschlagen, dass zwei Fraktionen, die die Regierung nicht tragen, gemeinsam - wohlgemerkt: gemeinsam Dr. Petra Sitte ihre Minderheitenrechte geltend machen können. Das heißt, wir müssen uns immer einigen. Diese Regelung soll sowohl in der Geschäftsordnung als auch in den einzelnen Gesetzen nur für diese Legislaturperiode gelten. Um uns als Opposition aber nicht widerstandslos Ihrer Zweidrittelmehrheit auszusetzen - das liegt wohl auf der Hand -, schlagen wir zugleich ein Widerspruchsrecht für die Opposition vor; wir wollen es sozusagen GroKo-fest machen. Ich glaube, es ist an dieser Stelle durchaus angebracht, an die erste Rede des Bundestagspräsidenten in dieser Legislaturperiode in diesem Haus zu erinnern. Ich zitiere aus dieser Rede: Die Kultur einer parlamentarischen Demokratie kommt weniger darin zum Ausdruck, dass am Ende Mehrheiten entscheiden, sondern darin, dass Minderheiten eigene Rechtsansprüche haben, die weder der Billigung noch der Genehmigung durch die jeweilige Mehrheit unterliegen. Der Präsident hat es schöner vorgetragen. Ich finde, das ist sehr treffend gesagt. ({8}) In diesen Zusammenhang stellen Sie bitte unseren Vorschlag zum Widerspruchsrecht. Schließlich will ich etwas zur härtesten Nuss dieses Problemkreises sagen, nämlich zur Normenkontrollklage. Laut Grundgesetz wird dafür derzeit ja ein Viertel der Mitglieder des Bundestages benötigt. Nun sind sich die Juristen im Hinblick auf eine Anpassung nicht einig, was ja nicht ganz selten passiert. Auf der einen Seite sagen sie, man müsse das Grundgesetz ändern; auf der anderen Seite sagen einige Verfassungsjuristen aber auch, das müsse man nicht, man könne das Bundesverfassungsgerichtsgesetz ändern. Ich will den Dissens an dieser Stelle gar nicht weiter erklären und vertiefen; das alles können wir im Geschäftsordnungsausschuss diskutieren. Wir als Oppositionsfraktion haben uns in unserem Kompromissvorschlag aber zunächst der Position angeschlossen, dass es reicht, das Bundesverfassungsgerichtsgesetz zu ändern. Die Überprüfung von Gesetzen auf ihre Verfassungsmäßigkeit durch das Bundesverfassungsgericht bezeichnen manche Verfassungsjuristen als das Königsrecht der Opposition. Gelingt es uns jetzt nicht, dieses Instrument des Minderheitenschutzes zu gewährleisten, dann besteht das Problem, dass eine ganze Reihe von Gesetzen, die wir hier verabschieden, der Kontrolle durch das Bundesverfassungsgericht definitiv entzogen ist, und zwar deshalb, weil die Mitglieder der regierungstragenden Fraktionen wohl kaum als Nächstes beim Bundesverfassungsgericht eine Normenkontrollklage einreichen, wenn sie denn dann schon einmal ein Gesetz voller Überzeugung verabschiedet haben. ({9}) Das Gleiche gilt im übertragenen Sinne natürlich auch für die Landesregierungen, weil an allen Landesregierungen jeweils ein Partner dieser Großen Koalition beteiligt ist. Fazit: Der Bundestag, seine Fraktionen und durchaus auch die Mutterparteien haben den Willen der Wählerinnen und Wähler so umzusetzen, dass das Grundgesetz in seinem Kern an dieser Stelle nicht ausgehöhlt wird. Wir haben das Wirken des Bundestages demokratisch und verfassungsrechtlich auf unbedenklichem Wege zu sichern. Lassen Sie uns also bitte in diesem Sinne eine Lösung diskutieren und auch kooperativ eine Lösung finden! Danke schön. ({10})

Ulla Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002019

Vielen Dank. - Es spricht jetzt der Kollege Michael Grosse-Brömer, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Michael Grosse-Brömer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003541, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Dr. Sitte, weil Sie gerade den Bundestagspräsidenten zitiert haben: Ich habe auch noch einen guten Satz aus seiner ersten Rede in dieser Legislaturperiode in Erinnerung. Der Bundestagspräsident hat seinerzeit sinngemäß gesagt: Eine Wahl zu gewinnen, ist nicht per se verfassungswidrig. ({0}) Wir sind nach wie vor nicht bereit, uns dafür zu entschuldigen, dass uns die Wähler einen gewissen Zuspruch haben zuteilwerden lassen, der bei Ihnen nicht ansatzweise so groß war. ({1}) Auch das gehört im Übrigen ins Parlament: Eine Mehrheitsentscheidung muss im Parlament hörbar und umsetzbar sein, genauso wie natürlich Minderheitenrechte zu beachten sind. Wir als Union haben immer gesagt: Wir wollen - weil dies natürlich zu einer funktionierenden Demokratie gehört - auch eine hörbare und sichtbare Opposition. Wenn Sie genau nachdenken - sowohl die Grünen als auch die Linken -, dann werden Sie im Zweifel zu dem Schluss kommen, dass die Union immer bereit war, mit Ihnen darüber zu diskutieren, was erforderlich ist und was wir tun können, damit die Opposition hörbar und sichtbar ist. Wir widersprechen nur, wenn zwischendurch der Eindruck vermittelt wird, Sie hätten gar keine Rechte und Schuld seien im Zweifel auch noch die Großkoalitionäre. Der Wähler hat bei der Wahl ein eindeutiges Wort gesprochen. Mit den Grünen haben wir gute Sondie1020 rungsgespräche geführt. Die wollten nicht mit uns regieren. Jetzt sind sie in der Opposition und müssen damit klarkommen. Das darf man auch nicht vergessen. Es gehören also mehrere Aspekte zu dieser Debatte. Deswegen würde ich an Ihrer Stelle meine Argumentation selbstreflektierend noch einmal überdenken. Ich möchte auch darauf hinweisen, dass in keinem anderen Land in Europa die Rechte der parlamentarischen Minderheit so gut ausgebaut sind wie in Deutschland; auch das sollte man einmal sagen. Wir haben ein tolles Grundgesetz, ({2}) in dem natürlich Wert darauf gelegt wird, dass Parlamentarismus und Demokratie eine große Rolle spielen und Opposition gewährleistet ist. Die Kontrolle erfolgt natürlich durch das Parlament. Im Übrigen gehören dazu nicht nur die Oppositionsfraktionen, sondern auch die Regierungsfraktionen; das sollte man nicht vergessen. Auch wir kontrollieren die Regierung. ({3}) Ich will jetzt nicht sagen, dass wir das zurzeit unter Umständen sogar effizienter tun als Sie, aber auch das gehört nun einmal zur Gesamtschau. ({4}) Wir verstehen uns doch alle als Parlamentarier. Wenn die Regierung etwas Falsches tut, dann sagen wir das im Zweifel auch, frei nach dem alten Gesetz: Selten geht ein Gesetzentwurf so aus dem Parlament heraus, wie er hereingekommen ist. Daran sind häufig die Fraktionen beteiligt, die die Mehrheit haben. Ich will nur einmal daran erinnern, dass sich Minderheitenrechte nicht nur auf die Opposition beschränken. Jeder Abgeordnete hat ein Minderheitenrecht. Jeder Abgeordnete hat Informations- und Mitwirkungsrechte. Jede einzelne Fraktion hat Initiativrechte und kann Aktuelle Stunden beantragen. Wir sind hier doch auf einem guten Weg. Wir als Große Koalition - das sage ich jedenfalls für unseren Teil, für die Union - wollen ein lebendiges Parlament. Wir haben im Hinblick auf die Redezeiten eine Vereinbarung von über 30 Prozent zu Ihren Gunsten getroffen, obwohl sie gemäß Ihrem Wahlergebnis eigentlich nur einen Anteil von 20 Prozent hätten. Da ist schon ein klares Entgegenkommen zu erkennen. Dass Sie jetzt sagen, das alles reiche nicht, kann ich verstehen. Man versucht ja, in Verhandlungen immer so viel wie möglich herauszuschlagen. Aber Sie haben im Zweifel Verständnis dafür, dass wir über den Weg der Minderheitenrechte nicht Ihre schlechten Wahlergebnisse korrigieren können. Da bitte ich um Nachsicht; das kann nicht unser Job sein. Wir müssen vielmehr eine effiziente Opposition garantieren; das ist unser aller Anliegen. Wir haben das in jeder Debatte deutlich gemacht, wo auch immer das zur Diskussion stand, auch im Ältestenrat. Was wir auch zu berücksichtigen haben, ist der verständliche Wunsch nach mehr Redezeit. Ihr Wunsch ist natürlich, dass Sie deutlich mehr Redezeit bekommen, als Ihnen vielleicht zusteht. Da sind wir schon auf einem guten Weg. Auf der anderen Seite ist ein Grundsatz des Verfassungsrechtes - Sie haben gerade die verfassungsrechtliche Lage beschrieben -, dass jeder einzelne Kollege der Union dieselben Rechte hat wie ein Kollege oder eine Kollegin von den Linken. Infolgedessen dürfen wir keine Regelungen treffen, die Sie bevorzugen und andere Kollegen benachteiligen. Es kann allenfalls darum gehen, dass Sie bessergestellt werden, dass wir Ihnen also mehr zugestehen, als Ihnen eigentlich zusteht. Aber ich bin nicht bereit, wie es zwischendurch von den Grünen gefordert wurde, zu sagen: Es reicht nicht, die Opposition besserzustellen, sondern die Regierungsfraktionen müssen auch schlechtergestellt werden. - Da machen wir nicht mit. Es ist ganz klar darauf hinzuweisen, dass dadurch große verfassungsrechtliche Probleme entstehen würden. Ich empfehle Ihnen, ein bisschen von der Mitleidsnummer herunterzukommen. Dies sieht auch die ansonsten für sie wohlmeinende Presse so. Ich habe in der Süddeutschen Zeitung gelesen - ich zitiere -: Die Opposition … setzt auf das Mitleid der Öffentlichkeit. … Larmoyanz aber ist keine parlamentarische Tugend. … In den Zeiten der Großen Koalition von 1966 bis 1969 war die Opposition noch viel kleiner, sie war nur halb so groß, sie bestand nur aus der FDP. ({5}) Die zeigte aber damals, dass klein nicht mickrig bedeuten muss … sie schaffte es deswegen, weil sie die Zeit nutzte, sich zu erneuern … ({6}) Vielleicht hat die Süddeutsche Zeitung in dieser Hinsicht auch ein paar Anregungen für Sie. Ich möchte mich da gar nicht einmischen. ({7}) - Die FDP ist aus ihrer Zeit in der Opposition, soweit ich das in Erinnerung habe, gestärkt hervorgegangen. ({8}) Ich glaube, die heutige Zeit der FDP hat mit der damaligen Zeit von 1969 nicht so viel zu tun. Ich will noch einmal deutlich machen: Wir haben uns natürlich bei der Umsetzung sehr viel Mühe gegeben und sind den Wünschen der Opposition entgegengekomMichael Grosse-Brömer men. Wir haben uns gefragt: Wer kann es neutraler, besser und rechtlich fundierter als der Bundestagspräsident machen? Damit meine ich auch das Präsidium, Frau Roth; gar keine Frage. Im Präsidium haben wir die kompetenten Leute sitzen. Das Präsidium hat uns einen guten und ausgewogenen Vorschlag vorgelegt. Es hat vorgeschlagen: Das machen wir mit einem Beschluss. Das ist rechtlich einwandfrei. - Das sagen nicht wir, sondern das sagt das Bundestagspräsidium. Also wollten wir das so machen. Die Opposition hat aber gesagt: Nein, das ist uns nicht weitgehend genug. Daraufhin haben wir gefragt: Wie hättet ihr es denn gerne? Die Antwort war: Wir möchten gerne, dass diese Neuregelungen in die Geschäftsordnung aufgenommen werden. Dazu haben wir gesagt: Okay, auch da kommen wir euch entgegen. ({9}) Wir verstehen das. Nehmen wir diese Regelungen in die Geschäftsordnung auf, damit Ihr etwas weiter gehender Wunsch, der über das, was vom Bundestagspräsidenten und vom Präsidium vorgesehen war, erfüllt wird. ({10}) Sie sehen, wir sind bemüht, Ihnen, soweit es geht und unter Berücksichtigung der verfassungsrechtlichen Ansprüche der anderen Kolleginnen und Kollegen, entgegenzukommen. Das wird natürlich so weitergehen. Ich möchte noch auf Ihren Wunsch nach einer Änderung beim Recht auf Normenkontrollklage eingehen, Frau Dr. Sitte. Die Normenkontrollklage ist kein Minderheitenrecht; daran führt kein Weg vorbei, auch wenn Sie dreimal darauf hinweisen. Ich brauche dazu auch gar nicht unsere eigenen Fachleute zu zitieren, sondern ich berufe mich auf die der Grünen. Sie haben dazu eine eigene Veranstaltung durchgeführt ({11}) und Frau Professorin Cancik eingeladen. Sie hat festgestellt: Die Normenkontrolle beim Bundesverfassungsgericht gehört nicht zum Kernbestand einer wirkungsvollen Opposition. Ich hoffe, Sie haben sich das genauso gemerkt wie ich. Infolgedessen nehmen Sie bitte Abstand von der Forderung nach einer Änderung des Quorums bei der Normenkontrollklage. Sie ist nämlich kein Minderheitenrecht. Sie wird im Zweifel auch durchgeführt. Überzeugen Sie doch nur ein paar Kolleginnen und Kollegen von uns, wenn Sie meinen, Sie hätten irgendwo einen Einspruch. ({12}) Im Zweifel, wenn er berechtigt ist, sind wir doch immer dabei. Also, wir werden die Geschäftsordnung ändern, wir kommen Ihnen entgegen. Wir haben eigentlich bei allen Punkten, etwa beim Untersuchungsausschuss, schon unter Beweis gestellt: Wir stehen Ihnen nicht im Wege. Ganz im Gegenteil: Wir helfen Ihnen, wo wir können. Sie sind trotzdem unzufrieden. Das macht auch mich ein bisschen unzufrieden. Ich hoffe, das wird insgesamt ein Stück weit besser. Wir beachten künftig den Gleichheitsgrundsatz. Da, wo es sinnvoll und notwendig erscheint und Sie vielleicht nicht laut genug und sichtbar genug sind, müssen wir weiter diskutieren. Wir haben einen exzellenten Vorschlag in Ergänzung des Ihrigen vorgelegt. Ich glaube, wir haben damit eine gute Diskussionsgrundlage. Es ist auf der einen Seite sehr wichtig, dass sich nach Wahlen die Mehrheit der Stimmen im Parlament deutlich artikuliert, damit man weiß: Wer hat diese Wahlen gewonnen? Wer hat die Mehrheit? Wer setzt was durch? Das ist eigentlich der Kernbegriff der Demokratie. Dazu, dass Sie uns kritisieren und dass wir die Meinungen austauschen müssen, müssen auf der anderen Seite auch Sie deutlich vernehmbar sein. ({13}) Ich habe das Gefühl, das ist bei Ihnen der Fall, wie auch die heutige Debatte im Zweifel zeigen wird. Ich möchte mit Ihnen nicht ständig Debatten über Verfahrensfragen führen. ({14}) Das ist irgendwie destruktiv. Wir sind bereit, Ihnen entgegenzukommen. Das haben Sie, glaube ich, in mehrfacher Hinsicht gespürt. Ich habe einige Beispiele genannt. Die Bereitschaft besteht weiterhin. Wir haben jetzt ein gutes Angebot dafür vorgelegt, dass Sie sich nicht mehr über Verfahrensfragen Gedanken machen müssen, sondern sich mit Sachfragen befassen können. Denn dafür ist das Parlament im eigentlichen Sinne da. Lassen Sie uns über die richtige Politik streiten statt darüber, ob Sie jetzt noch zwei Minuten Redezeit mehr oder weniger haben. Ich freue mich auf die sachliche Auseinandersetzung mit Ihnen, und ich freue mich, wenn wir in der Lage sind, endlich diese Debatten über Verfahrensfragen zu beenden. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({15})

Ulla Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002019

Vielen Dank. - Es spricht jetzt die Kollegin Britta Haßelmann, Bündnis 90/Die Grünen.

Britta Haßelmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003764, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Kollege Grosse-Brömer, es geht nicht um ein paar Verfahrensfragen, und es geht auch nicht um Larmoyanz und Weinerlichkeit. ({0}) Es geht um die Verankerung von Oppositionsrechten und Rechten der Minderheit. Wir sind in der besonderen Situation - die hoffentlich mit der nächsten Wahl im Jahr 2017 nicht wieder eintritt -, ({1}) dass wir ein Verhältnis von 80 zu 20 Prozent im Parlament haben. Minderheitenrechte rechtssicher zu verankern, ist nicht irgendeine Petitesse oder eine Verfahrensfrage, sondern ein ganz wichtiges Grundelement des lebendigen Parlamentarismus. ({2}) Die Frage der Redezeit ist auch nicht irgendein Thema. Natürlich kann man als Vertreter der Großen Koalition sagen: Ob zwei Minuten mehr oder weniger, darauf kommt es nicht an. Klar, das kann ich auch sagen, wenn ich in so einer Fraktionsstärke vertreten bin wie Sie oder die SPD. ({3}) Aber für eine Fraktion, die vielleicht vier oder sechs Minuten Redezeit hat, sind zwei Minuten ganz entscheidend. Für Sie und für uns insgesamt als Parlament sind der Austausch von Argumenten, Konzepten, Ideen und Kritik sowie die Bewertung von Gesetzentwürfen ganz entscheidend. Deshalb braucht jedes lebendige Parlament auch im Interesse der Regierung, seien die Regierungsfraktionen noch so groß, das Prinzip von Rede und Gegenrede. ({4}) Ich verstehe nicht, warum Sie das nicht verstehen. ({5}) In ganz vielen Landtagen - kommen Sie mir jetzt nicht wieder mit der Verfassung! - wird das Prinzip „Rede und Gegenrede“ unabhängig von der Stärke der Fraktionen gepflegt, ({6}) und zwar nicht nur in rot-grünen Landtagen. Im Land Hessen zum Beispiel - es war bis vor kurzem schwarzgelb regiert, jetzt ist das Gott sei Dank nicht mehr der Fall - gibt es seit Jahren das Prinzip von Rede und Gegenrede im Landtag. Jede Fraktion hat die gleiche Redezeit. Das Land fährt damit verdammt gut, weil das Parlament lebendige Debatten führt. Wir haben an keiner Stelle die Mehrheitsverhältnisse und die Spiegelung dieser Mehrheitsverhältnisse in Ausschussbesetzungen, Ausschussgrößen und Abstimmungsfragen auch nur ansatzweise infrage gestellt. Mit dem Argument, die Redezeit stehe Ihnen nach dem Wahlausgang so zu, liegen Sie aus meiner Sicht völlig falsch. Das Prinzip von Rede und Gegenrede ist wichtig für das Parlament insgesamt. ({7}) Nun zu der Frage, wo wir eigentlich stehen. Wir haben schon einiges hinbekommen. Wir Grüne haben zusammen mit den Linken beharrlich darauf insistiert, dass sich etwas tut und dass die Minderheitenrechte so verankert werden, dass sie rechtssicher sind. ({8}) - Schauen Sie doch einmal in Ihren Koalitionsvertrag! Dann wissen Sie ganz genau, dass Ihr Angebot, die Geschäftsordnung zu ändern, nicht von Anfang an galt. ({9}) In Ihrem Koalitionsvertrag steht: Wir verpflichten uns als Parlament, der Opposition auch Minderheitenrechte zu gewähren. - Ich finde, es hat sich gelohnt, dass wir nicht gejammert, sondern gestritten und geworben sowie Ideen und Konzepte in unserem Gesetzentwurf und unseren Anträgen vorgelegt haben, mit dem Ziel, bei den Minderheitenrechten Rechtssicherheit zu erzielen. Wir wollen nicht von Ihnen abhängig sein und unsere Rechte verlieren, wenn Sie es sich in ein, zwei Monaten anders überlegen. Deshalb insistieren wir so auf Rechtssicherheit. Sie haben sich nun bewegt und den Vorschlag gemacht, die Geschäftsordnung entsprechend zu ändern. Das ist positiv zu bewerten. ({10}) Wir haben an dieser Stelle über mehrere Sachverhalte zu diskutieren, zum Beispiel über Ihren Vorschlag zur Einrichtung eines Untersuchungsausschusses. Sie billigen uns in Ihrem Vorschlag betreffend die Geschäftsordnung zu, dass die Zahl der Mitglieder des Untersuchungsausschusses nach dem vom Bundestag beschlossenen Verteilverfahren so bestimmt wird, dass die Fraktionen, die nicht die Bundesregierung tragen, gemeinsam ein Viertel der Mitglieder stellen. Somit wären wir berechtigt, die Rechte eines Untersuchungsausschusses wahrzunehmen. Aus unserer Sicht werden wir darüber noch im Geschäftsordnungsausschuss und in den Anhörungen diskutieren müssen; denn die gleichen Rechte sichern Sie uns beim Verteidigungsausschuss nicht zu. Wir haben aber schon einige Situationen erlebt, in denen sich der Verteidigungsausschuss als Untersuchungsausschuss konstituiert hat. Deshalb glauben wir, dass es sehr wichtig ist, das Untersuchungsausschussgesetz zu ändern und auch dort für diese Legislaturperiode klar darzulegen, dass entweder 25 Prozent der Abgeordneten oder die zwei Fraktionen, die nicht die Regierung tragen, in der Lage sein müssen, die Einrichtung eines Untersuchungsausschusses bzw. die Konstituierung des VerteidigungsBritta Haßelmann ausschusses als Untersuchungsausschuss zu beantragen. Das ist ein ganz wichtiger Punkt, über den wir gerade diskutieren. ({11}) Der zweite Punkt betrifft die Frage, wie widerspruchsfest das ist, was wir hier vereinbaren. Auch darüber werden wir in den folgenden Anhörungen reden. Der dritte Punkt, den meine Kollegin Petra Sitte schon angesprochen hat, betrifft die Normenkontrollklage. Beharrlichkeit zahlt sich jedenfalls aus. Im Interesse des gesamten Parlaments ist es richtig, dass wir ein bisschen Druck machen. Wir werden nun über Ihren Antrag, der eine Änderung der Geschäftsordnung vorsieht, sowie unseren Antrag und Gesetzentwurf, der zusätzlich eine Absicherung im Untersuchungsausschussgesetz vorsieht, beraten. Ich hoffe, dass wir sehr zeitnah zu einem Ergebnis kommen. Auch uns ist daran gelegen, dass wir das sehr schnell rechtssicher verbriefen. ({12})

Ulla Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002019

Vielen Dank. - Das Wort hat jetzt die Kollegin Dagmar Ziegler, SPD-Fraktion. ({0})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004191, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Schutz der parlamentarischen Mitwirkungsrechte von Abgeordneten ist ein hohes Gut. Darüber sind wir uns alle sicherlich fraktionsübergreifend einig. Aber von Beginn der Großen Koalition an ging bei den Oppositionsfraktionen die Angst um, wir wollten der Opposition nicht ihre Rechte zugestehen. Frau Haßelmann, Ihr Redebeitrag hatte etwas von Schattenboxen. Sie haben von Anfang an bei uns offene Türen eingerannt. Sie haben Ihre Forderungen gestellt, und wir sind ihnen nachgekommen. Deshalb finde ich, dass Ihre Aussage, Sie hätten sich alles erkämpfen müssen, fehl am Platz ist. Wir haben Ihnen von Anfang an deutlich gemacht, dass wir Ihnen Ihre Rechte zugestehen wollen. ({0}) Unser Antrag sieht vor, dass wir Ihnen während der Dauer der 18. Legislaturperiode mehr parlamentarische Rechte zugestehen, als Ihnen aufgrund Ihrer Mandate von den Wählerinnen und Wählern in Deutschland zugestanden wurden. Das muss man erst einmal festhalten. Das zeigt auch, dass wir diejenigen sind, die Ihnen etwas zugestehen, was Ihnen nicht von vornherein zusteht. Das mag jetzt am Wahlergebnis liegen, aber man muss es erst einmal als Ausgangsbasis konstatieren. Die Koalition möchte die Geschäftsordnung ändern, aber wir wollen dabei auch flexibel und pragmatisch bleiben. Es ist eine historisch ungewöhnliche Konstellation - das wurde bereits gesagt -, die wir im Bundestag haben, nämlich dass wir es mit einer sehr breiten Regierungsmehrheit und einer sehr kleinen Opposition zu tun haben. Aber wir halten es im Gegensatz zu Ihnen nicht für zwingend erforderlich, mit umfassenden Gesetzesänderungen, die im Übrigen auch durch die Mehrheit des Bundestages wieder geändert werden könnten und die also nicht rechtssicher sind, wie Sie es sich vorstellen, zu reagieren. Sie selbst sagen, dass Sie das nur für eine bestimmte Zeit auf den Weg bringen wollen. Damit ist keine Garantie für die Ewigkeit gegeben. Insofern, glaube ich, sind Sie mit den Gesetzesänderungen nicht auf dem richtigen Weg. Wir sagen: Wir sind politisch souverän. Wir bringen die Erfahrungen der vergangenen Legislaturperioden ein, und wir wollen maßvoll auf das Problem reagieren, das uns ins Haus steht. 17 Wahlperioden sind wir mit unserer Geschäftsordnung gut umgegangen. Das hat sich bewährt. Wir werden dem auch in dieser Konstellation gerecht. Wir halten die Gesetzesänderungen, die Sie beabsichtigen, für nicht richtig. Jeder denkbaren Opposition, unabhängig von der Anzahl ihrer Mitglieder oder deren politische Einigkeit in der Sache, per Gesetzesbeschluss das Recht zuzusprechen, auf grundlegende Abläufe und Verfahrensweisen unserer parlamentarischen Demokratie Einfluss zu nehmen, öffnet - das sage ich mit Absicht - möglicherweise verantwortungslosem Verhalten und Versuchen politischer Obstruktion Tür und Tor. Genau das ist es, was wir verhindern möchten. Wir unterstellen das aber nicht der jetzigen Opposition. Die Väter und Mütter unseres Grundgesetzes und die Verfasser unserer parlamentarischen Geschäftsordnung haben nämlich aus gutem Grund die Einhaltung bestimmter Quoren für tiefgreifende Eingriffe in die Abläufe und Verfahrensweisen des Bundestages - Sie haben es genannt: Untersuchungsausschüsse, EnqueteKommissionen oder Einleitung eines Normenkontrollverfahrens - festgeschrieben, und sie haben nicht ohne Grund die Erfahrungen der Weimarer Republik im Hinterkopf gehabt. Diese Erfahrungen, die unser heutiges Verständnis von parlamentarischer Demokratie prägen, nehmen wir zum Anlass, dies in der Geschäftsordnung zu verankern. Es sind nicht die Oppositionsfraktionen alleine, die die Regierung kontrollieren - das sagte Herr GrosseBrömer dankenswerterweise schon -, sondern dieses Recht nehmen wir uns schon als gesamtes Parlament. Das ist nicht nur ein Recht, sondern auch eine Pflicht. ({1}) Auch dazu hat das Bundesverfassungsgericht etwas Wertvolles am 13. Juni 1989 gesagt - ich zitiere -: Alle Mitglieder des Bundestages haben … gleiche Rechte und Pflichten. Dies folgt vor allem daraus, daß die Repräsentation des Volkes sich im Parlament darstellt, daher nicht von einzelnen oder einer Gruppe von Abgeordneten, auch nicht von der parlamentarischen Mehrheit, sondern vom Parlament als Ganzem, d. h. in der Gesamtheit seiner Mitglieder als Repräsentanten, bewirkt wird. Ich glaube, das ist ein ganz wesentlicher Punkt, den wir immer im Hinterkopf haben müssen, wenn wir um die Rechte von Minderheiten, die Rechte von Fraktionen oder die Rechte der Opposition streiten. Das Grundgesetz kennt den Begriff der Opposition eben nicht und verbindet daher mit ihm auch keine gesonderten Rechte und Pflichten. Deshalb verstehen Sie bitte unseren eingebrachten Antrag auf Änderung der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages als das, was er tatsächlich, ehrlich und aus ganzem Herzen ist: eine faire Handreichung der Mehrheitsfraktionen an die Kollegen aus den Minderheitsfraktionen. Wir kommen Ihnen damit bei der angemessenen Ausübung des Mandats der Abgeordneten der Minderheitsfraktionen entgegen und gestehen Ihnen mehr parlamentarische Rechte und Freiheiten zu, als Ihnen aufgrund Ihrer Größe und personellen Stärke nach Willen des Wählers rechtmäßig zustehen. Deshalb: Rennen Sie nicht nur offene Türen ein, sondern gehen Sie durch diese Tür, die wir gemeinsam aufgemacht haben. Danke. ({2})

Ulla Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002019

Vielen Dank. - Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Konstantin von Notz, Bündnis 90/Die Grünen.

Dr. Konstantin Notz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004123, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es geht heute um nichts Triviales. Es geht um die Funktionsfähigkeit des Parlaments - dieses Parlaments. ({0}) Es geht darum - die Kollegin Sitte hat es gesagt -, ob trotz einer quantitativen großen Koalition die Qualität unserer Demokratie erhalten bleibt. ({1}) Und es geht für Sie von der Großen Koalition darum, ob Ihre Regierungszeit als Legislaturperiode erinnert wird, in der trotz großer Mehrheiten ein lebendiger Parlamentarismus herrschte oder in der eine Große Koalition vier Jahre lang weitgehend unkontrolliert Selbstgespräche geführt hat. Vor dieser Entscheidung stehen wir. ({2}) Ich verweise einmal auf die Rednerliste von heute. Nach meiner Rede können eigentlich alle hier nach Hause gehen; dann nämlich, in der zweiten Halbzeit dieser Debatte, führen Sie Selbstgespräche. Das ist so langweilig, dass selbst aus Ihren Reihen, aus den Reihen der Großen Koalition, kaum jemand bei diesem wichtigen Thema da ist. Das ist ein Armutszeugnis. ({3}) Natürlich folgt die Stärke der Fraktionen dem Votum der Wählerinnen und Wähler, Herr Grosse-Brömer. Das Wahlergebnis ist berechtigterweise die Grundlage der Verteilungsmechanismen in diesem Haus. Aber die Minderheitenrechte sind es eben auch, und deswegen geht es nicht um das Jammern von Oppositionsabgeordneten nach mehr Redezeit. Es geht um den essenziellen Bestandteil der Funktionsgewährleistung parlamentarischer Kontrollmechanismen. ({4}) Diese Mechanismen dürfen nicht vom Gutdünken der Koalition abhängen. Es müssen unverbrüchliche, launenunabhängige und deswegen festgeschriebene Rechte der Opposition sein. Das sehen wir inzwischen zum Glück gleich. ({5}) Wenn Sie nur einen Augenblick über Ursprung und Sinn von Minderheitenrechten nachdenken, kommen Sie auf den Mechanismus, Herr Kauder: Je kleiner die Opposition ist, desto stärker müssen ihre Rechte sein. Weil die Korrektur der bestehenden Regelungen logischerweise in der Verantwortung der Mehrheit liegt, kommt es eben auch auf die richtige Zustandsbeschreibung an: Die Opposition ist nach unserer Verfassung nicht zu klein; Ihre Koalition ist viel zu groß. ({6}) Wissenschaft und Rechtsprechung erkennen die besondere Bedeutung der Ausübung parlamentarischer Opposition an. Die qualifizierte Große Koalition aber ist als Fallkonstellation mit Blick auf die Funktionsfähigkeit des Parlaments im Grundgesetz nicht berücksichtigt. Gerade in dieser Fallkonstellation besteht aber ein besonderer Bedarf an oppositioneller Kontrolle. Dieses Plenum ist das Forum, in dem die Argumente auf den Tisch müssen, damit die Öffentlichkeit versteht, was hier warum entschieden wird. Es ist originäre Aufgabe des Parlaments, die Regierung zu kontrollieren, Frau Kollegin Ziegler. Aber klar ist auch, dass dabei naturgemäß die Abgeordneten der Opposition etwas ehrgeiziger sind als die der Koalition. ({7}) Damit also der Parlamentsauftrag überhaupt erfüllt werden kann, muss die Opposition wahrnehmbar sein, eigene Rechte haben, sich Gehör verschaffen und im Zweifel auch Druck aufbauen können, und da sind Ihre Vorschläge bisher leider ungenügend. ({8}) Zum Schluss. Hören Sie auf mit diesem - ich habe es jetzt mehrfach gehört - „Sie hätten es auch anders haben können“. Wir haben ernsthaft verhandelt, und die Angebote der Union waren einfach zu dünn. Wenn man jetzt den Koalitionsvertrag anschaut, dann sieht man: Sie sind als Große Koalition den bequemen, den einfachen Weg gegangen, und das ist auch Ihr gutes Recht. Niemand kann die SPD verpflichten, bereit für Bündnisse mit der Linken zu sein. Niemand kann von der CSU verlangen, mit den Grünen koalieren zu müssen. Das stimmt. Aber hören Sie einfach auf, uns und die Funktionsfähigkeit dieses Parlaments für Ihre großkoalitionäre Bequemlichkeit in Haftung zu nehmen. Ganz herzlichen Dank. ({9})

Ulla Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002019

Vielen Dank. - Es spricht jetzt der Kollege Max Straubinger, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Max Straubinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002812, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Der Beitrag des Kollegen von Notz zeigt sehr deutlich, dass sich die Oppositionsarbeit auch der Größe der jeweiligen Fraktion angepasst hat: Man ergeht sich fast in Larmoyanz. Das ist nichts, was wir hier zu berücksichtigen haben. Die Wahl hat ein ganz klares Ergebnis erbracht: Der Wähler hat der Union fast die absolute Mehrheit zugesprochen, aber nicht ganz - leider -, und deshalb sind wir auf eine Koalition angewiesen. ({0}) Das ist ein gutes Ergebnis. Diese Koalition wird auch hervorragend für die Bürgerinnen und Bürger arbeiten. Ich bin überzeugt, dass sie ihrem eigenen Anspruch gerecht werden wird, nämlich dass es in vier Jahren den Bürgerinnen und Bürgern in Deutschland besser gehen wird, als es ihnen jetzt geht. ({1}) Verehrte Damen und Herren, es ist wirklich müßig - ich möchte hier an den Kollegen Grosse-Brömer anschließen -, uns hier ständig über neue Verfahrensregelungen, darüber, wie wir uns zu organisieren haben, und Sonstiges zu unterhalten. Wir sollten zu geordneter Sacharbeit zurückkehren können, die nicht immer mit Fragen der Geschäftsordnung und Sonstigem überfrachtet ist. ({2}) Mir geht es darum, in einem ganz normalen, schönen und sachlichen Austausch eine Grundlage zu finden, Oppositionsrechte nicht nur zu achten, sondern zusätzlich mit auszubauen. Dazu sind wir als Fraktionen, die die Regierung stützen, bereit, unabhängig davon, dass es uns schon auch wichtig ist, dass die Abgeordnetenrechte für alle in diesem Hause gleich sind. ({3}) Verehrte Kollegin Haßelmann, ich kann Ihrem Vorschlag, dass jede Fraktion das gleiche Rederecht hat, was die Zeitdauer angeht, nicht folgen. Ich glaube nicht, dass die Qualität der Argumente an eine bestimmte Zeitdauer gebunden ist; ({4}) die Qualität der Argumente bringt sich dadurch zum Ausdruck, dass hier vernünftige und gute Vorschläge eingebracht werden. Ich glaube, wir werden - das ist Auftrag aller, der Kolleginnen und Kollegen in den Regierungsfraktionen genauso wie der in den Oppositionsfraktionen - gute Vorschläge ins Haus einbringen, wir von den Regierungsfraktionen natürlich mit Unterstützung der Bundesregierung. Verehrte Kolleginnen und Kollegen, es ist nicht nur Aufgabe der Opposition, die Bundesregierung zu kontrollieren, sondern in verstärktem Maße auch derer, die die Regierung stützen und mit stellen. Bezeichnenderweise heißt es ja in Bayern, dass die CSU die Oppositionsarbeit selbst übernehmen muss und das erkennbar auch tut. ({5}) Von daher, glaube ich, sollten wir dies nicht immer nur an der Minutenzahl messen, sondern an dem, was wir tun. Herr Kollege von Notz, Sie haben davon gesprochen, dass wir sozusagen in Selbstgespräche verfallen würden. ({6}) Sie nutzen doch die Gelegenheiten, diese Selbstgespräche aufzuspießen. Nachfolgend haben wir eine Aktuelle Stunde. Da wird von der Opposition versucht werden, darzustellen, dass es in irgendeiner Sachfrage irgendwelche Differenzen unter den Regierungsparteien gibt, in dem Fall insbesondere innerhalb der Union. ({7}) Von daher können Sie nicht von Selbstgesprächen reden. Es ist eine fundierte Diskussion, die auch bei uns stattfindet und die zum Ausdruck bringt, dass wir bereit sind, entsprechende Kontrolle gegenüber der Bundesregierung, aber auch gegenüber den Landesregierungen mit auszuüben. Dies ist damit sichtbar geworden. ({8}) Mit dem gemeinsamen Antrag von Linksfraktion und Fraktion Bündnis 90/Die Grünen wird eigentlich nur versucht, darzustellen, Sie von der Opposition hätten keine Rechte. Das ist nicht der Fall. Die Rechte sind geregelt, einmal im Grundgesetz - das können die Juristen wesentlich besser ausführen als ich -, zum anderen in unserer Geschäftsordnung, und zwar für jeden Abgeordneten. Unabhängig davon, ob ein Abgeordneter einer Regierungsfraktion oder einer Oppositionsfraktion angehört - es hat jeder das gleiche Fragerecht, es hat jeder im Prinzip auch das gleiche Rederecht, wobei dies in einem Parlament mit 631 Mitgliedern natürlich anders gestaltet werden muss als in einer Bürgerschaft oder in einem kleinen Landesparlament mit vielleicht 50 oder 60 Mitgliedern. Kollege Kauder, unser Fraktionsvorsitzender, verdeutlicht immer: Wenn jeder Abgeordnete der CDU/ CSU-Bundestagsfraktion auch nur drei Minuten Redezeit in Anspruch nehmen würde, wären dafür 933 Minuten zu veranschlagen. ({9}) Ich glaube, dass dies grundsätzlich nicht im Sinne aller sein kann - bei aller Wertigkeit und bei aller Fundiertheit, die die Beiträge garantiert haben würden. Es geht auch um Funktionsfähigkeit. Deshalb sind wir bereit, Rechte zuzugestehen und auch den kleineren Fraktionen mehr Rederecht zuzubilligen. Ich glaube, das ist ein gutes Angebot, das auch zur Lebendigkeit mancher Parlamentsdebatte beiträgt. Allerdings: Die Lebendigkeit einer Debatte war auch in der Vergangenheit, als die Mehrheitsverhältnisse nicht so eindeutig waren, wie sie jetzt sind, in der Regel von der Lebendigkeit der Rednerinnen und Redner geprägt und weniger von der Zahl der Redner. Das möchte ich durchaus betonen. Werte Kolleginnen und Kollegen, ich glaube, der Bundestagspräsident und das Präsidium haben, wie der Kollege Grosse-Brömer schon dargelegt hat, hierzu gute Vorschläge unterbreitet. Diese wollen wir gerne mit Ihnen gemeinsam umsetzen in dem Sinne, dass Sie vermehrte Rechte in Anspruch nehmen können, dass auch ein Untersuchungsausschuss eingesetzt werden kann, was Sie aufgrund der derzeitigen Mehrheitsverhältnisse und der zugrunde zu legenden Zahlenarithmetik nicht können. Deshalb bitte ich Sie: Schauen Sie sich unseren Vorschlag an und studieren Sie ihn genau. Ich bin überzeugt: Damit wird eine fundierte Oppositionsarbeit möglich, die sich nicht nur zahlenmäßig ausdrückt, sondern auch in einer qualitativen Auseinandersetzung der Redner, aber ebenso in den schriftlichen Anträgen. Die Oppositionsarbeit lebt ja nicht nur von dem, was hier mündlich vorgetragen wird, sondern auch von dem, was an Anträgen mit fundierten, sachlichen Vorschlägen vorgelegt wird. Deshalb können wir hier gute Vereinbarungen treffen. In diesem Sinne herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({10})

Ulla Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002019

Vielen Dank. - Das Wort hat jetzt für die SPD-Fraktion Sonja Steffen. ({0})

Sonja Steffen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004164, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Das Demokratieprinzip ist ein Mehrheitsprinzip. Das bedeutet, dass die Mehrheit des Volkes entscheidet. Es gilt aber auch: Jede Minderheit, die auf dem Boden der freiheitlichdemokratischen Grundordnung steht, muss die Möglichkeit haben, ihre Meinung zu äußern und dafür zu werben. Demokratie - das wissen wir alle - ist nie statisch, sondern immer ein fließender Prozess. Mehrheiten können hauchdünn sein oder riesengroß. Minderheiten können zu Mehrheiten werden und umgekehrt. Deshalb müssen sowohl die Mehrheit als auch die Minderheit verfassungsrechtlich garantierte Rechte genießen. Das tun sie auch. Für den parlamentarischen Willensbildungsprozess bedeutet dies: Es muss sichergestellt sein, dass Minderheiten die Möglichkeit haben, ihre Position sichtbar zu artikulieren. Diese Prinzipien sind in der Tat nach der letzten Wahl auf die Probe gestellt worden. Mit der Bildung der Großen Koalition ist eine besondere Situation entstanden - wir haben es heute schon gehört -: Die Regierungsfraktionen haben 504 der insgesamt 631 Sitze im Bundestag und stellen damit knapp 80 Prozent der Mitglieder des Deutschen Bundestages. Selbstverständlich verfügen auch Sie, die Abgeordneten der Opposition, weiterhin über die Rechte, die jedem Abgeordneten zustehen: Fragerecht, Rederecht usw. Auch die Fraktionsrechte bleiben von den aktuellen Mehrheitsverhältnissen unberührt. Jedoch sehen unser Grundgesetz und die Geschäftsordnung auch verschiedene quorenabhängige Rechte vor. Es handelt sich hier um Rechte, die der Unterstützung durch ein Viertel oder durch ein Drittel der Mitglieder des Bundestages bedürfen. Dies sind tatsächlich durchaus bedeutende Rechte: das sogenannte schärfste Schwert der Opposition, die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses, die Beantragung einer abstrakten Normenkontrolle, Vorlagen betreffend die Angelegenheiten der Europäischen Union, aber auch die Einberufung von Sondersitzungen des Bundestages. Diese Rechte sind den Oppositionsfraktionen aufgrund der aktuellen Mehrheitsverhältnisse zurzeit verwehrt. Es ist völlig klar, dass es dadurch zu einer Beeinträchtigung der parlamentarischen Oppositionsarbeit kommen kann. Nach unserem Demokratiemodell ist das Bestehen einer kraftvollen Opposition - darin sind wir uns, glaube ich, alle einig - aber von erheblicher Bedeutung. Deshalb habe auch ich mich sehr gefreut, dass unser Bundestagspräsident, Herr Lammert, gleich am Anfang der Legislaturperiode darauf hingewiesen hat, dass die Minderheitenrechte Bestand haben und geschützt werden müssen. Auch der Koalitionsvertrag fordert dies. Wir haben das heute schon gehört. Ich zitiere einmal daraus. Dort heißt es: Eine starke Demokratie braucht die Opposition im Parlament. CDU, CSU und SPD werden die Minderheitenrechte im Bundestag schützen. ({0}) Die Frage ist: Wie ist dieser Schutz zu gewährleisten? Dazu sind in den letzten Wochen verschiedene Varianten diskutiert worden. Laut Koalitionsvertrag sollten die Rechte der Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen durch einen Parlamentsbeschluss ermöglicht werden. Eine andere Variante, die uns heute vorliegt, enthält der Antrag der Opposition. Sie fordern in Ihrem Antrag gesetzliche Regelungen. Die Quorenrechte sollen den beiden Oppositionsfraktionen zur gemeinsamen Ausübung zur Verfügung gestellt werden, und Sie wollen die Gültigkeit ausdrücklich auf die 18. Wahlperiode beschränken. Dabei haben Sie in einer Sache auch völlig recht: Wer eine wirksame Opposition für notwendig hält, darf sie nicht vom Wohlwollen der Mehrheit im Einzelfall abhängig machen. Das sehen wir auch so. Der Kollege Grosse-Brömer hat schon darauf hingewiesen. Wir haben uns im Laufe der Diskussion von der Variante Parlamentsbeschluss verabschiedet und sind Ihnen dadurch bereits erheblich entgegengekommen. Nun haben wir einen Vorschlag vorgelegt, der einen guten und vernünftigen Kompromiss darstellt, nämlich die Änderung der Geschäftsordnung in der 18. Wahlperiode. Danach sollen die Rechte, die an ein bestimmtes Quorum gekoppelt sind, zukünftig auf Antrag aller Mitglieder der Fraktionen, die nicht der Bundesregierung angehören, wahrgenommen werden können. Durch diese Geschäftsordnungsregelung wird sichergestellt, dass die Minderheit ihren Standpunkt in den Willensbildungsprozess des Parlaments einbringen kann. Einer Anpassung der entsprechenden Gesetze, wie Sie das in Ihrem Antrag vorsehen, bedarf es nach unserer Auffassung nicht. Die rechtliche Bindungswirkung der Geschäftsordnung mag zwar geringer sein - darauf haben die Oppositionsfraktionen hingewiesen -, aber ich möchte mir nicht vorstellen, welche öffentliche Wirkung und Empörung ein Hinwegsetzen über diese Regelung hervorrufen würde. Es besteht überhaupt keine Veranlassung, zu befürchten, dass der Schutz durch eine Regelung in der Geschäftsordnung an Wirkung verlieren könnte. Auch in diesem Verfahren gilt das Struck’sche Gesetz. Es wird mit Sicherheit an der einen oder anderen Stelle noch Änderungen geben müssen. Ich hoffe, dass wir gemeinsam zu einer Lösung kommen werden. Bisher haben wir im 1. Ausschuss oftmals Regelungen überfraktionell und einheitlich vereinbaren können. Ich hoffe, dass uns das auch in diesem Verfahren gelingen wird. Vielen Dank. ({1})

Ulla Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002019

Vielen Dank. - Es spricht jetzt der Kollege Dr. Johann Wadephul, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Johann Wadephul (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004182, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! An diese Worte möchte ich anknüpfen und der Hoffnung Ausdruck verleihen - nach der Debatte kann man das eigentlich auch, mit einer kleinen Einschränkung hinsichtlich der Rede des Kollegen von Notz -, dass wir doch zu einer einvernehmlichen Regelung kommen. ({0}) - Ich komme gleich zu Schleswig-Holstein. Erstens. Es ist hier über Qualität gesprochen worden. Jeder für sich ist von der jeweiligen Qualität seiner Fraktion, seiner Partei sehr überzeugt. Qualität in einer Demokratie wird aber durch Wählerstimmen entschieden. Da hilft es überhaupt nicht, zu sagen: Wir liefern hinterher die qualitativ besseren Beiträge. - Frau Kollegin Sitte, so konnte man Sie verstehen. Nein, wer sich für qualitativ besonders gut hält, der soll seine Arbeit entsprechend fortsetzen und danach streben, diese Qualität bei den nächsten Wahlen auch in Wählerstimmen umzusetzen. Bei der letzten Wahl hat es eine eindeutige Qualitätsentscheidung gegeben, die die Unionsfraktion sogar an die Grenze zur absoluten Mehrheit gebracht hat. ({1}) Wir haben das gute demokratische Recht, diese Entscheidung hier auch umzusetzen. ({2}) Zweitens. Mehrheitsbildung im Parlament - ich komme jetzt gleich zu Schleswig-Holstein - ist das Ergebnis von Koalitionsverhandlungen. Herr Kollege von Notz, es ist schon ein Aspekt - sicherlich nicht der maßgebliche, aber ein Aspekt - der Koalitionsverhandlungen gewesen, und zwar auf allen Seiten, dass durch diese Große Koalition eine übergroße Parlamentsmehrheit entsteht, die für einen lebendigen Parlamentarismus ({3}) - Sie sagen: nicht schön ist - an sich jedenfalls nicht erstrebenswert ist. Ich glaube, darin sind wir uns wahrscheinlich fast alle einig. Das heißt, es ist durchaus ein Aspekt gewesen, der dafür gesprochen hat, dass man eine kleine Koalition bildet. Man kann nicht alle Beden1028 ken zurückstellen, aber wir müssen bei der Geschichtsschreibung - wenn wir ein Jahr zurückgehen - genau bleiben: Es waren die Grünen, ({4}) die die Koalitionssondierungen mit der Union beendet haben. ({5}) Es war insbesondere der Kollege Robert Habeck aus Schleswig-Holstein. Von ihm haben Sie sich in einer Klausur ausführlich beraten lassen. Insofern ist er einer der Vordenker der Grünen. Im Spiegel hat er am 25. September des vergangenen Jahres gesagt: Wir sind weder personell noch konzeptionell auf Schwarz-Grün vorbereitet. ({6}) Das ist das eigene Urteil. Davor können wir Sie nicht retten. Das ist Ihre Eigenanalyse. ({7}) Dritter Punkt. Minderheitenschutz hat eine große Bedeutung. Das haben die Redner der Unionsfraktion und der sozialdemokratischen Fraktion unterstrichen. Minderheitenschutz heißt - das hat das Bundesverfassungsgericht einmal in einem schönen einfachen Satz gesagt nicht Schutz vor Sachentscheidungen der Mehrheit. ({8}) Das muss man ganz eindeutig dazusagen. Das heißt, wir haben das demokratische Recht, das, was wir als Mehrheitsentscheidung durchsetzen können und wollen, auch in aller Differenziertheit, durchzusetzen. Ich bitte, das nicht zu bezweifeln. Vierter Punkt. Ich glaube, wir sollten im Parlament Wert darauf legen, dass die Mandate gleichwertig sind. Das wird gerade seitens der Linksfraktion immer wieder betont. Hier erwähne ich zum zweiten Mal SchleswigHolstein, Herr Kollege von Notz: Auf diese Gleichwertigkeit legen beispielsweise die Abgeordneten der dänischen Minderheit im Parlament von Schleswig-Holstein großen Wert. Wenn Sie das ernst nehmen, dann können Sie nicht sagen: Alle Redebeiträge, die nach mir kommen, sind Selbstgespräche. - Ich nehme es einmal persönlich: Ich halte hier eine genauso wichtige Rede, wie Sie sie gehalten haben. Da sollten wir keine Unterschiede machen. ({9}) Aber auch innerhalb einer Koalition kann es unterschiedliche Auffassungen geben. Der Kollege Straubinger beispielsweise hat in einem mutigen Moment einen Vorgriff auf die Stromtrassendebatte gemacht. ({10}) Damals bei Rot-Grün gab es das möglicherweise auch. ({11}) - Frau Kollegin Roth dementiert es jetzt. Frau Kollegin Roth, Sie standen immer stromlinienförmig hinter Gerhard Schröder. Genau! ({12}) Das Parlament ist schon wichtig. ({13}) - Im Grundgesetz steht: „der Deutsche Bundestag“ und nicht: „die Opposition“. Wir nehmen unsere parlamentarischen Rechte sehr ernst im Sinne des Struck’schen Gesetzes, aber auch in dem Sinne, dass wir in Redebeiträgen - das merken Sie, wenn Sie hinhören - unterschiedliche Akzente setzen. Das findet doch ständig statt, wenn die Mitglieder der Regierungsfraktionen reden. Es gibt auch unterschiedlichen Beifall. Diese Unterschiede gibt es natürlich auch weiterhin. Natürlich üben wir unsere Rechte als Bundestag aus: unsere Kontrollrechte, unsere Rechte der Bestärkung, unsere Rechte des Einwirkens auf die Regierung in mannigfacher Art und Weise. Das machen wir schon gemeinsam; aber das machen auch Sie, und das sollten Sie gut machen. Aber wir kontrollieren ebenso. ({14}) Letzter Punkt. Sie haben gesagt, das soll nicht von irgendwelchen Launen abhängig sein. ({15}) Abgesehen davon, dass der Fraktionsvorsitzende der Union, Volker Kauder, und der Fraktionsvorsitzende der SPD, Thomas Oppermann, im Allgemeinen nicht zu Launen neigen ({16}) - es gibt jetzt einen etwas stärkeren Widerspruch aus der SPD-Fraktion; ({17}) den wollte ich damit aber nicht verursachen -, will ich in aller Ernsthaftigkeit sagen: Es haben alle - Präsident Lammert ist im Hause zugegen - gesagt, dass wir Oppositionsrechte wahren wollen und dass wir die Opposition mit Möglichkeiten ausstatten wollen, die sich aus dem bisher niedergelegten Recht nicht ergeben. Sie sollten uns bitte nicht unterstellen, dass wir bei der nächstbesten Laune das alles vergessen. Das werden wir nicht. Wir stehen zu unseren Aussagen; wir werden das umsetzen. Ich setze darauf, dass wir im Geschäftsordnungsausschuss zu einer einvernehmlichen Regelung kommen. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({18})

Ulla Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002019

Vielen Dank. - Letzte Rednerin in der Debatte ist die Kollegin Dr. Katarina Barley, SPD-Fraktion. ({0})

Dr. Katarina Barley (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004247, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich darf die Debatte, die ich, obwohl sie noch nach der alten Geschäftsordnung durchgeführt wird, als durchaus lebendig empfinde, beschließen und feststellen, dass wir uns wirklich in sehr vielem einig sind, insbesondere im Hinblick auf die Grundlage, dass wir in einem funktionierenden Bundestag, in einer funktionierenden Demokratie eine Opposition brauchen, die Rechte hat, um effektiv und wirkungsvoll arbeiten zu können. Hier entscheidet die Mehrheit; das ist klar. Das muss sie auch. So haben die Wählerinnen und Wähler entschieden. Herr Grosse-Brömer hat eben schon den Bundestagspräsidenten zitiert, aber nicht ganz vollständig. Ich zitiere: Klare Wahlergebnisse sind nicht von vornherein verfassungswidrig, große Mehrheiten auch nicht. So hat er das gesagt. ({0}) Dem können wir nur zustimmen. ({1}) - Das sagt noch nichts über die Qualität, genau. Aber um die brauchen Sie sich zumindest bei uns keine Sorgen zu machen. ({2}) Über die einzelnen Rechte ist nun wirklich schon viel gesagt worden. Die Opposition soll nach unserem Entwurf natürlich die Möglichkeit haben, eine öffentliche Sachverständigenanhörung im Fachausschuss zu beantragen. Das ist ein besonders wichtiges Recht. Denn wir haben schon manchen Gesetzentwurf gesehen, der in solch einer öffentlichen Sachverständigenanhörung fachlich durchgefallen ist. Da liegt das Quorum bisher bei 25 Prozent; wir wollen es auf 20 Prozent absenken. Das genügt; denn die Minderheit von 20 Prozent haben Sie. Natürlich hat der Bundestag auch die Aufgabe, die Regierung zu kontrollieren. Diesen Auftrag hat nicht nur die Opposition; das ist jetzt schon mehrfach gesagt worden. Auch Peter Struck ist schon oft zitiert worden. Er würde sich darüber freuen, dass wir alle uns einig darüber sind, dass kein Gesetz den Bundestag so verlässt, wie es hineingekommen ist; das gilt insbesondere auch für die Gesetzentwürfe der Regierung. Wir werden uns mit der Umsetzung dieses Entwurfs rechtlich, aber natürlich auch politisch binden. Wenn man die Möglichkeit gewählt hätte, nur einen entsprechenden Beschluss zu fassen, hätte nicht wirklich die Gefahr bestanden, dass wir uns das im Laufe der Legislaturperiode anders überlegen; das hätten uns weder Sie noch die Öffentlichkeit noch unsere eigenen Wähler durchgehen lassen. Auch in diesem Punkt sind wir uns einig: Die Opposition muss ihre Stimme wirksam zur Geltung bringen. Im Hinblick auf die Redezeit haben insbesondere wir von der SPD-Fraktion eine Kröte zu schlucken. Denn die Anpassung der Redezeiten wird dazu führen, dass die beiden Oppositionsfraktionen zusammen in Kurzdebatten mehr Redezeit haben als wir von der SPD-Fraktion, obwohl wir mehr Abgeordnete haben als die beiden Oppositionsfraktionen zusammen. Das nehmen wir in Kauf. Es ist schon mehrfach darauf hingewiesen worden: Der einzelne Abgeordnete oder die einzelne Abgeordnete hier in diesem Parlament hat bestimmte Rechte. Da möchte ich noch etwas zu der Form sagen, in der wir die Rechte der Minderheit, der Opposition hier festlegen wollen. Sie fordern eine Änderung der gesetzlichen Grundlagen, bei der abstrakten Normenkontrolle sogar des Grundgesetzes. Ich persönlich hielte es für erforderlich; denn das Bundesverfassungsgerichtsgesetz so zu ändern, dass es dem Grundgesetz widerspricht, hielte ich für sehr fragwürdig. Es mag aus Ihrer Sicht in der momentanen Situation natürlich wünschenswert sein; aber Sie übersehen da einen wichtigen Punkt: Wir Abgeordnete sind, wie schon mehrfach erwähnt, vor dem Gesetz gleich. Wir haben gleiche Rechte und Pflichten, weil wir alle zusammen diesen Deutschen Bundestag, die Legislative, bilden, der insgesamt die Pflicht und das Recht hat, die Exekutive zu kontrollieren, insbesondere die Bundesregierung. Das ändern wir in dieser Legislatur zu Ihren Gunsten, und zwar nur zu Ihren Gunsten. Die Rechte, die also 20 Prozent dieses Hauses in Anspruch nehmen können, können nur Sie in Anspruch nehmen; wir können das nicht. Das Gewicht, das die einzelnen Oppositionsabgeordneten haben, wird größer als das Gewicht sein, das die einzelnen Abgeordneten der Regierungsfraktionen haben. Das ist in dieser Legislaturperiode auch in Ordnung. Die Rechte der einzelnen Abgeordneten, auch der Abgeordneten der Regierungsfraktionen, sind keine Peanuts. Ich darf da vielleicht kurz an die Debatte in der letzten Legislaturperiode zum Euro-Rettungsschirm erinnern, bei der es durchaus auch in den Koalitionsfraktionen einzelne Abgeordnete gab, die sich ihr Rederecht sehr aktiv erstritten haben. Wir brauchen eine Regelung für diese Legislaturperiode. Es wäre nicht richtig, die abstrakten Regelungen und Gesetze zu ändern, vor allen Dingen nicht das Grundgesetz, das uns schon viele Jahre begleitet hat und uns noch viele Jahre begleiten wird. Der Ort, um Regelungen für die Besonderheiten dieser Legislaturperiode zu treffen, ist die Geschäftsordnung, und dementsprechend werden wir handeln. Vielen Dank. ({3})

Ulla Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002019

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 18/380, 18/379 und 18/481 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla- gen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe keinen Widerspruch. Dann sind die Überweisungen so be- schlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 17 a bis 17 c auf: a) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des Schulobstgesetzes Drucksache 18/295 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft ({0}) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung b) Unterrichtung durch die Bundesregierung Bericht der Bundesregierung über den Stand der Abwicklung des Fonds für Wiedergutmachungsleistungen an jüdische Verfolgte - Stand 30. Juni 2013 Drucksache 18/30 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({1}) Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Haushaltsauschuss c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Katrin Kunert, Diana Golze, Wolfgang Gehrcke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Rekrutierung von Minderjährigen für die Bundeswehr beenden - Fakultativprotokoll zur UN-Kinderrechtskonvention vollständig umsetzen Drucksache 18/480 Überweisungsvorschlag: Verteidigungsausschuss ({2}) Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Es handelt sich hierbei um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 18 a bis 18 f auf. Es handelt sich um Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist. Tagesordnungspunkt 18 a: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({3}) Sammelübersicht 1 zu Petitionen mit der Statistik über die beim Deutschen Bundestag in der 17. Wahlperiode ({4}) eingegangenen bzw. erledigten Petitionen Drucksache 18/391 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Die Sammelübersicht 1 ist mit den Stimmen des gesamten Hauses angenommen. Tagesordnungspunkt 18 b: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({5}) Sammelübersicht 2 zu Petitionen Drucksache 18/392 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 2 ist mit den Stimmen aller Fraktionen angenommen. Tagesordnungspunkt 18 c: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({6}) Sammelübersicht 3 zu Petitionen Drucksache 18/393 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 3 ist mit den Stimmen aller Fraktionen angenommen. Tagesordnungspunkt 18 d: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({7}) Sammelübersicht 4 zu Petitionen Drucksache 18/394 Vizepräsidentin Ulla Schmidt Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 4 ist mit den Stimmen der Fraktionen CDU/CSU und SPD gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen. Tagesordnungspunkt 18 e: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({8}) Sammelübersicht 5 zu Petitionen Drucksache 18/395 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 5 ist mit den Stimmen von CDU/CSU-Fraktion, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und SPD-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke angenommen. Tagesordnungspunkt 18 f: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({9}) Sammelübersicht 6 zu Petitionen Drucksache 18/396 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 6 ist mit den Stimmen der CDU/CSU-Fraktion und der SPD-Fraktion gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke angenommen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 6 a bis 6 g sowie Zusatzpunkt 4 auf. Wir kommen zu Gremienwahlen, die wir mittels Handzeichen durchführen werden. Tagesordnungspunkt 6 a: Wahl der Mitglieder des Kuratoriums der Stiftung „Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland“ Drucksache 18/484 Dazu liegt ein gemeinsamer Wahlvorschlag aller Fraktionen auf Drucksache 18/484 vor. Wer stimmt für diesen Wahlvorschlag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Wahlvorschlag ist mit den Stimmen aller Fraktionen angenommen. Tagesordnungspunkt 6 b: Wahl der Mitglieder des Kuratoriums der „Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR“ Drucksache 18/485 Wir stimmen ab über den Wahlvorschlag der Fraktionen der CDU/CSU, SPD und Die Linke auf Drucksache 18/485. Wer stimmt für diesen Wahlvorschlag? Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Wahlvorschlag ist mit den Stimmen aller Fraktionen angenommen. Tagesordnungspunkt 6 c: Wahl eines Mitglieds des Stiftungsrates der „Stiftung caesar“ ({10}) Drucksache 18/486 Wir stimmen ab über den Wahlvorschlag der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 18/486. Wer stimmt für diesen Wahlvorschlag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Wahlvorschlag ist mit den Stimmen aller Fraktionen angenommen. Tagesordnungspunkt 6 d: Wahl der Mitglieder des Stiftungsrates der „Deutschen Stiftung Friedensforschung ({11})“ Drucksache 18/487 Wir stimmen ab über den Wahlvorschlag der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD auf Drucksache 18/487. Wer stimmt für diesen Wahlvorschlag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist der Wahlvorschlag mit den Stimmen aller Fraktionen angenommen. Tagesordnungspunkt 6 e: Wahl der Mitglieder des Senats des Vereins „Hermann von Helmholtz-Gemeinschaft Deutscher Forschungszentren e. V.“ Drucksache 18/488 Es liegt ein Wahlvorschlag der Fraktionen der CDU/ CSU und der SPD auf Drucksache 18/488 vor. Wer stimmt für diesen Wahlvorschlag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Wahlvorschlag ist mit den Stimmen aller Fraktionen angenommen. Tagesordnungspunkt 6 f: Wahl der Mitglieder des Parlamentarischen Beirats der „Stiftung für das sorbische Volk“ Drucksache 18/489 Wir stimmen ab über den Wahlvorschlag der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD auf Drucksache 18/489. Wer stimmt für diesen Wahlvorschlag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Wahlvorschlag ist mit den Stimmen aller Fraktionen angenommen. Tagesordnungspunkt 6 g: Wahl von Mitgliedern des Stiftungsrates der „Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur“ Drucksache 18/490 Hierzu liegt ein interfraktioneller Wahlvorschlag auf Drucksache 18/490 vor. Wer stimmt für diesen Wahlvorschlag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? Der Wahlvorschlag ist mit den Stimmen aller Fraktionen angenommen. Ich rufe den Zusatzpunkt 4 auf: Wahl der Mitglieder des Beirats bei der Bundesnetzagentur für Elektrizität, Gas, Telekommunikation, Post und Eisenbahnen Drucksache 18/491 Vizepräsidentin Ulla Schmidt Dazu liegen Wahlvorschläge aller Fraktionen auf Drucksache 18/491 vor. Wer stimmt für diese Wahlvorschläge? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? Die Wahlvorschläge sind mit den Stimmen aller Fraktionen angenommen. Ich rufe den Zusatzpunkt 5 auf: Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Haltung der Bundesregierung zur Forderung der bayrischen Staatsregierung nach einem Moratorium für den Ausbau der Stromnetze Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Dr. Julia Verlinden, Bündnis 90/Die Grünen.

Dr. Julia Verlinden (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004429, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wer A sagt und erneuerbare Energien haben will, muss auch B sagen und für einen beschleunigten Netzausbau sein. ({0}) - Jetzt kommt es! ({1}) So sagte es der Kollege der Union Dr. Joachim Pfeiffer ({2}) vor zwei Jahren anlässlich des Urteils des Bundesverwaltungsgerichts zum Stromnetzausbau in Thüringen. ({3}) Der bayerische Ministerpräsident Seehofer und sein CSU-Kabinett sehen das jedoch bekanntermaßen ganz anders. Sie haben letzte Woche angekündigt, den Netzausbau stoppen zu wollen. Darum frage ich jetzt Sie, liebe Bundesregierung: Wie wollen Sie Ihren bayerischen Löwen wieder einfangen? ({4}) Die CSU kämpft im Augenblick gegen Beschlüsse, die sie noch letztes Jahr im Bundestag und im Bundesrat mitgetragen hat. Herr Seehofer blockiert nicht nur beim Stromnetzausbau. Er will gleichzeitig den Ausbau der Windkraft in Bayern durch Mindestabstände lahmlegen. Das ist eine doppelte Sabotage der Energiewende, die wir uns nicht leisten können. ({5}) Eines ist doch klar: Seehofers Eskapaden schaden dem Projekt Energiewende in Deutschland. Sie schaden der sicheren und nachhaltigen Stromversorgung in Bayern. Weil in Bayern nach und nach die Atomkraftwerke vom Netz gehen, muss der Atomstrom ersetzt werden, und zwar geht das mit Energieeffizienz und erneuerbaren Energien. Die Forderung nach dem Netzausbaustopp hingegen gefährdet insbesondere die Versorgungssicherheit in Bayern. Genau diese Versorgungssicherheit stellen Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, doch immer wieder in den Mittelpunkt Ihrer Argumentation. Es ist eine absurde Diskussion, die wir hier im Augenblick ertragen müssen. Auf der einen Seite begründet Minister Gabriel seinen geplanten langsameren Ausbau der erneuerbaren Energien unter anderem damit, dass der Netzausbau ja noch nicht ausreichend vorangeschritten sei. Auf der anderen Seite argumentiert Herr Seehofer, dass wir den Netzausbau in dem Umfang ja gar nicht mehr bräuchten wegen der geplanten Deckelung der erneuerbaren Energien. Meine Damen und Herren, da beißt sich doch die Katze in den Schwanz. ({6}) Natürlich müssen die Stromnetze und der Ausbau der erneuerbaren Energien aufeinander abgestimmt sein. Die Planung muss auch dynamisch angepasst werden. Wir Grüne wollen, dass das alles zügig vorangeht. Liebe Bundesregierung, es verunsichert die Menschen und Investoren, wenn Sie mit Ihrer Politik einen Schritt vor und dann wieder zwei Schritte zurückgehen, ({7}) wenn Sie die Energiewendepläne der engagierten Bürgerinnen und Bürger sowie der Unternehmen blockieren und ausbremsen und ständig andere Aspekte der Energiewende öffentlich infrage stellen. So wird das nichts. ({8}) Wir Grüne wollen, dass die Netzinfrastruktur fit gemacht wird für eine Stromversorgung zu 100 Prozent aus erneuerbaren Energien. Deswegen ist der Netzausbau richtig. Er muss beschleunigt werden, und zwar naturverträglich und mit transparenter Planung, die die Menschen vor Ort einbezieht. Wir brauchen also neue Leitungen für erneuerbare Energien. Dabei geht es nicht nur darum, den Strom von Nord nach Süd fließen zu lassen, sondern es geht auch darum, die schwankende Erzeugung der erneuerbaren Energien großräumig auszugleichen und eine dezentrale Bürgerenergiewende zu ermöglichen. ({9}) Darüber, wie diese neuen Stromleitungen aussehen sollen, haben wir Grüne andere Vorstellungen als die vorherige Bundesregierung noch im letzten Jahr. Für uns ist die Verlegung der Netze unter die Erde eine Möglichkeit, die gesellschaftliche Akzeptanz für das Projekt Energiewende zu erhöhen. ({10}) Darum hatte die Fraktion der Grünen letztes Jahr in einem Antrag gefordert, dass es mehr Möglichkeiten der Erdverkabelung geben muss. ({11}) Ausgerechnet auch mit den Stimmen der CSU ist dieser Antrag der Grünen letztes Frühjahr hier im Bundestag abgelehnt worden. Wenn es Ihnen ernst wäre mit einer größeren Akzeptanz für den Netzausbau, warum haben Sie dann damals Ihre Chance nicht genutzt, sich hier klar zu positionieren und unserer Forderung zuzustimmen? ({12}) Schließen möchte ich jetzt mit den Worten des Unionskollegen Fuchs, der ja nach mir reden wird. ({13}) Er hat letztes Jahr anlässlich der Regierungserklärung zur Energieinfrastruktur gesagt: „Wer den Netzausbau will, der muss auch dafür sorgen, dass er in allen Bundesländern umgesetzt wird.“ ({14}) - Ja, in dem Punkt haben Sie recht. - Ich sehe jetzt die Bundesregierung in der Verantwortung. Ich wünsche mir von der Bundesregierung sehr viel mehr Mut, Mut für die Energiewende, Mut für unsere gesellschaftliche Chance, mit dem Klimaschutz endlich ernst zu machen. Vielen Dank. ({15})

Ulla Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002019

Vielen Dank. - Frau Kollegin Verlinden, das war Ihre erste Rede. Ich gratuliere Ihnen im Namen des gesamten Hauses dazu. ({0}) Jetzt spricht, wie bereits angekündigt, der Kollege Dr. Michael Fuchs für die CDU/CSU-Fraktion. ({1})

Dr. Michael Fuchs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003531, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Verehrte Kollegin Verlinden, Sie haben insofern ein bisschen Glück, als ich bei der Erwiderung auf eine Erstlingsrede eine gewisse Beißhemmung habe. ({0}) Ich werde also nicht so deutlich sein, wie ich es eigentlich aus Gründen der Gerechtigkeit sein müsste. Eines wollen wir festhalten: Wenn Sie mehr Erdverkabelung fordern, dann sagen Sie bitte gleichzeitig dazu, dass das ungefähr achtmal so teuer wird, und dann sagen Sie bitte schön auch, wer das bezahlen soll. ({1}) Sie sind ja die Fraktion, deren Wähler mit weitem Abstand am wohlhabendsten sind. Ihre Wähler können das vielleicht bezahlen, aber die Bürgerinnen und Bürger werden Ihnen das mit ziemlicher Sicherheit nicht danken, einmal abgesehen davon, dass das ganze System dadurch wesentlich komplizierter, komplexer und schlechter ausbaubar werden würde. Fest steht eines: Wir brauchen die Ost-Süd-Trasse, die jetzt gebaut werden soll. Damit wären wir beim nächsten Problem, das ich mit den Grünen habe: Sie haben in Ostbayern vor kurzem, am 28. Januar 2014 - also gar nicht lange her -, eine Versammlung abgehalten, auf der Sie sich ausdrücklich gegen jeden Bau dieser Ost-Süd-Passage ausgesprochen haben. ({2}) - Ich habe das für Sie mitgebracht, ich habe selbst die Plakate dabei, Herr Krischer; Sie können das alles gleich bei mir abholen. ({3}) Deswegen, meine sehr geehrten Damen und Herren von den Grünen, ist es scheinheilig, wenn Sie hier anderslautende Anträge stellen. So etwas lassen wir hier nicht stehen. Es kann nicht sein, dass Sie in Bayern riesige Veranstaltungen machen, auf denen Sie die Leute gegen das Amprion-Vorhaben aufhetzen, während Sie hier Aktuelle Stunden nutzen, um die Politik der CSU infrage zu stellen. Die CSU hat auch nicht gesagt, sie will es nicht, sondern sie hat gesagt, sie möchte ein Moratorium verhängen, ({4}) um innerhalb dieser Phase festzulegen, wo der 50-Kilometer-Korridor verlaufen soll. Das ist die Strategie der CSU. Dafür kann man Verständnis haben; allerdings dürfen sie sich damit nicht drei Monate aufhalten, sondern das muss so schnell wie möglich gehen. Denn eines steht fest: Windstrom nützt uns nichts, wenn er nicht nach Süddeutschland transportiert werden kann. Der Strom wird im Süddeutschland gebraucht. Knapp 50 Prozent des Strombedarfs in Bayern werden heute noch durch Kernkraftwerke gedeckt. Die Kernkraftwerke werden jetzt eines nach dem anderen abgeschaltet. Das erste wird Grafenrheinfeld sein; wenn ich richtig informiert bin, geht dieses Kernkraftwerk 2015 vom Netz. Bis dahin muss die Thüringer Strombrücke fertiggestellt sein. Wer sich heute gegen die Thüringer Strombrücke wehrt, der muss wissen, dass Verzögerungen beim Bau der Thüringer Strombrücke dazu führen können, dass das Kernkraftwerk Grafenrheinfeld länger am Netz bleiben muss; denn anders ist diese Strommenge kaum zu ersetzen. ({5}) Deswegen muss die Thüringer Strombrücke so bald wie möglich gebaut werden. Jeder ist da in der Verantwortung: die Grünen genauso wie wir, wie die CSU und wie alle anderen Parteien in diesem Hohen Hause. Die Energiewende kann nur dann funktionieren, wenn alle bereit sind, daran mitzuarbeiten. Das heißt auch, dass wir gemeinsam versuchen müssen - mit den Übertragungsnetzbetreibern -, die Netze so schnell wie möglich auszubauen und dafür zu sorgen, dass der Ökostrom in die Netze eingespeist wird, sowohl auf der Ebene der Hochspannungs-Gleichstrom-Übertragung als auch in den Verteilnetzen, die bis in die kleinen Bereiche reichen. Ich habe das in meinem eigenen Wahlkreis erlebt: Da wurde gerade eine wunderbare Solaranlage gebaut; dummerweise war das Netz noch nicht da. Das führt erstens dazu, dass Kosten entstehen, die wir nicht brauchen können, und zweitens führt es zu Instabilitäten im Netz, die verhindert werden müssen; denn es gibt Unternehmen, in denen selbst Millisekundenschwankungen erhebliche technische Schwierigkeiten auslösen. Wir werden alle gemeinsam daran arbeiten müssen, das zu verändern. Der Ausbau der Netze ist für mich der Flaschenhals der gesamten Energiewende. Wenn es uns nicht gelingt, parallel zum Ausbau der Nutzung erneuerbarer Energien die Netze auszubauen, dann wird diese Energiewende - davon können Sie ausgehen - scheitern, ({6}) und dann sind Sie mit daran schuld: weil Sie vor Ort am allermeisten dagegen tun. ({7}) Fahren Sie bitte einmal in den wunderschönen Schwarzwald, nach Atdorf - ich war letzte Woche da -: Da hängt an jedem Baum ein grünes Plakat, dass an dieser Stelle kein Pumpspeicherwerk gebaut werden dürfe. ({8}) Wir brauchen diese Pumpspeicherwerke aber zur Stabilisierung. Das ist die Scheinheiligkeit, die ich den Grünen vorwerfe. So können Sie mit uns nicht umgehen. Wir werden Sie stellen, wir werden dafür sorgen, dass alle Leute erfahren, dass die Grünen die größten Verhinderer des Netzausbaus sind. ({9})

Ulla Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002019

Danke schön. Jetzt spricht die Kollegin Eva Bulling-Schröter, Fraktion Die Linke. ({0})

Eva Maria Bulling-Schröter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002636, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In Bayern regiert das energiepolitische Chaos. ({0}) Die CSU, die die Atomkraft stets unterstützt hat, ist unfähig, umzuschalten, sie hat keinen Plan für eine zukunftsfähige Energieversorgung in Bayern. Natürlich ist der Wegfall der bayerischen Stromerzeugungskapazitäten durch AKW bis 2022 eine Herausforderung. Hier rächt sich, dass sich die CSU jahrzehntelang auf AKW fixiert und über Ökostrom gelacht hat. So soll es offensichtlich auch weitergehen: Die Staatsregierung will lieber die Kapazität der Reaktoren von Gundremmingen hochschrauben, anstatt ernsthaft nach vorne zu schauen. Ich halte das für einen Skandal. ({1}) Ich sage auch: Liebe CSUler, aufwachen! ({2}) Die Zukunft wird erneuerbar sein, auch in Süddeutschland, trotz CSU. ({3}) Energien aus Wind, Sonne und Biomasse, die die Bürger gewinnen, müssen und werden die Energieversorgung bestimmen. Hocheffiziente Blockheizkraftwerke bieten sich als Brückentechnologie an, um Flauten und Dunkelheit zu überbrücken. Gerade im Bereich der Windkraft aber wirft München Knüppel zwischen die Beine, neuerdings sogar mit Rückenwind aus Berlin. Irrwitzige Abstandsregelungen aus dem Hause Seehofer treffen auf ruinöse Vergütungs- und Deckelungsregeln von Sigmar Gabriel. Laut Arbeitsentwurf für das neue EEG soll für die Berechnung des maximalen Zubaus nicht einmal der Rückbau alter Windmühlen gegengerechnet werden. Entsprechend früh wird der Deckel zuklappen, und entsprechend stark werden die Fördersätze zusätzlich gekappt. Selbst wenn der Deckel noch offen ist, macht das Vergütungsmodell die Windkraft im Süden platt. Das wiederum spielt fröhlich Horst Seehofer in die Hände. Für den ist diese preiswerte Technologie schließlich Teufelszeug. Kein Wunder, dass die CSU gleich noch eine Schippe drauflegt. Sollte es doch einmal besonders gute Standorte geben, darf dort bestimmt keine Anlage hin. Denn nach dem Willen der bayerischen Fürsten sollen sie über 2 Kilometer von der Wohnbebauung entfernt sein. ({4}) Ich sage: Absurder geht es kaum! Das sagt übrigens auch ein Teil Ihrer Parteispitze. Ich frage mich inzwischen, was die Stromlücke in Bayern und Baden-Württemberg füllen soll, wenn die letzten süddeutschen AKW vom Netz gehen. Nun bedient sich Horst Seehofer auch noch des Misstrauens vieler Bürgerinnen und Bürger gegen den Netzausbau. Wir von der Linken sagen: Dieses Misstrauen vieler Menschen an sich ist nicht unberechtigt. ({5}) Das ist es überhaupt nicht, im Gegenteil. Schließlich liegt dem Netzentwicklungsplan ein krudes Szenario zugrunde. Es lässt die Kohleverstromung ewig im Hochbetrieb weiterlaufen, obwohl die Ökostrommenge ständig steigt. RWE, Vattenfall und Eon lassen grüßen - wieder einmal. ({6}) Insofern ist die Förderung von Bürgerinitiativen, die Bundesnetzplanung zu überarbeiten, vollkommen richtig. Ich unterstütze das explizit. ({7}) Die Linke hat dies selbst immer gefordert. Denn wir wollen einen regenerativen Stromverbund, aber keine Kohlestromautobahnen. Sicher brauchen wir im Süden auch Stromtrassen. Die Frage ist aber, wie viele und für wen. Die Staatsregierung in Bayern betreibt an dieser Stelle blanken Populismus. Das ist kein Wunder; schließlich stehen die Kommunalwahlen vor der Tür. Ein solches Verhalten sind wir von der CSU ja gewöhnt. ({8}) Die CSU fordert heute ein Moratorium für den Bau von Höchstspannungstrassen für exakt die Korridore, an denen sie bis gestern nichts auszusetzen hatte. Dem Bundesbedarfsplan hat die CSU hier im Haus letztes Jahr zugestimmt, ({9}) im Gegensatz zu den Linken. Sie haben gewusst, welchem Vorhaben Sie da zustimmen. Sie sollten einem Bayern nicht erzählen: Das haben wir ja gar nicht gewusst. ({10}) Die CSU spielt verlogen den Volkstribun gegen den Netzausbau. Da frage ich mich: Was ist denn mit stromgeführten Blockheizkraftwerken? Sie könnten diese unterstützen; das wäre sinnvoll. Was ist mit Irsching 5? Lassen Sie es pleitegehen, oder kümmern Sie sich endlich um Gaskraftwerke? Der Eindruck verfestigt sich, dass München die Energiewende schlicht gegen die Wand fahren will. Ich sage Ihnen: Das lassen wir einfach nicht zu. Wir unterstützen die Initiativen vor Ort, auch die bei mir im Wahlkreis. ({11}) Aus Berlin wird München dann auch noch unterstützt. Dazu kann ich nur sagen: Bravo, Herr Gabriel. Ändern Sie Ihre Politik. Die Leute in Bayern warten darauf, auch Ihre Wähler. ({12})

Ulla Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002019

Vielen Dank. - Das Wort für die Bundesregierung hat jetzt der Parlamentarische Staatssekretär Uwe Beckmeyer. ({0})

Uwe Beckmeyer (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003498

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Mich hat die Rede meiner Vorrednerin etwas ratlos gemacht. ({0}) Wichtig ist doch, in diesem Hause festzustellen, dass wir den Netzausbau brauchen. Ich denke, diese Feststellung ist unumstößlich. Bis auf die letzte Rednerin haben alle anderen Redner - das habe ich so verstanden - dem nicht widersprochen. Wir brauchen, damit die Energiewende gelingen kann, leistungsfähige Stromtrassen. Wir wollen die Energiewende. Hierzu erfahren wir in diesem Hause breite Unterstützung. Der Anteil von Strom aus erneuerbaren Energien ist in den vergangenen Jahren massiv erhöht worden. Das hat, denke ich, auch eine breite Unterstützung in diesem Hause gefunden. Es wird weiteren Zubau der erneuerbaren Energien geben. Dazu trägt die Reform des Erneuerbare-Energien-Gesetzes bei, die wir jetzt auf den Weg bringen. Deshalb ist es nur logisch, wenn wir gleichzeitig auch den Netzausbau beschleunigen. Ich muss hinzufügen - wer die Diskussion der letzten Jahre verfolgt hat, weiß das -: Die Zeit drängt. Wir sind mit dem Netzausbau schon ein wenig hinterher. ({1}) - Ich komme gleich dazu. Sie haben im Bundestag jüngst Fragerecht dazu gehabt. Ihre Frage ist auch beantwortet worden. Die Aufgabe für die Übertragungsnetzbetreiber ist, die Netze so auszubauen und zu ertüchtigen, dass die energiewirtschaftlichen Herausforderungen in den nächsten Jahren sicher bewältigt werden können. Die Bundesregierung hat in der letzten Legislaturperiode dazu einen entsprechenden Gesetzentwurf vorgelegt. Dieser ist in diesem Hause mit sehr breiter Mehrheit verabschiedet worden. Im Bundesbedarfsplangesetz ist vorgesehen, dass diverse Netzanschlusspunkte miteinander verknüpft werden. Unter den Verknüpfungen sind drei, die Bayern erreichen bzw. durch Bayern führen: Das ist das Vorhaben mit der Nummer fünf, eine Gleichstromleitung von Bad Lauchstädt nach Meitingen - der sogenannte Korridor D -, das Vorhaben mit der Nummer vier, eine Gleichstromleitung von Wilster/Schleswig-Holstein nach Grafenrheinfeld in Bayern und das Vorhaben mit der Nummer drei, eine Gleichstromleitung von Brunsbüttel nach Großgartach; das ist Korridor C. - Wir haben diese entsprechenden Vorgaben gemacht, um - das ist das Entscheidende - eine hohe Versorgungssicherheit in Deutschland zu erhalten, damit der Strom auch dort ankommt, wo er gebraucht wird. Der Strom muss in Zukunft - ich glaube, auch das ist unumstritten - verstärkt über weite Strecken transportiert werden. Dafür benötigen wir neue Stromtrassen von Norden nach Süden. Wer das infrage stellt, der hat sich mit der aktuellen Lage nicht ausführlich genug beschäftigt. ({2}) Wir müssen also alles dafür tun, damit der Netzausbau nicht weiter stockt und auch nicht ausgebremst wird. Zum Thema Moratorium will ich nur Folgendes sagen. Ein Moratorium hat rechtlich keine Wirkung. Es ist eine reine politische Willensbekundung, die im Verfahren überhaupt nicht vorgesehen ist. ({3}) Planungsstopp für Netzausbauprojekte, die vom Energiegesetzgeber energiewirtschaftlich bestätigt worden sind, wären am Ende nicht das, was wir benötigen. Das habe ich bereits ausgeführt: Der Wille dieses Hauses, des Gesetzgebers, ist aber, dass wir den Bundesbedarfsplan zügig umsetzen. Es wäre fatal, wenn wir diesen nun wieder infrage stellen würden, zumal er ein Beleg dafür ist, mit welcher Intensität und mit welcher Energie dieses Haus daran arbeitet, dass die Übertragungsnetzbetreiber tätig werden. Der entscheidende Punkt ist: Die Bundesnetzagentur prüft in diesem Verfahren die Vorhaben. Sie bestätigt nur die Vorhaben, die unter veränderten Rahmenbedingungen mit hoher Wahrscheinlichkeit erforderlich sind, und zwar einmal jährlich. Auch das ist gesetzlich verankert, sodass eine Anpassung in den nächsten Jahren jährlich stattfinden kann. Auch das ist eine logische Folge aus den Erfahrungen, die wir in der Vergangenheit gesammelt haben. Die 2013 auf Basis unseres Gesetzes festgelegten Vorhaben sind entscheidend dafür, um uns in die Zukunft zu bringen. Ich will an dieser Stelle deutlich sagen: Diese Maßnahmen beruhen auf realistischen Bedarfsermittlungen. Sie sind, glaube ich, eine notwendige Basis für das, was wir uns vorgenommen haben, und ich bin der festen Überzeugung, dass der Gesetzgeber aktuell keinen Grund hat, dieses erneut infrage zu stellen. Dieses Gesetz gilt, solange es kein neues Gesetz gibt. Derzeit bereiten die Übertragungsnetzbetreiber die Anträge für neue Stromtrassen vor. Geplant ist auch ein Dialog mit den Bürgerinnen und Bürgern vor Ort, um sie sehr frühzeitig - auch über förmliche Verfahren - einzubinden. Ich glaube, das ist notwendig, und wir müssen das genau beobachten. Wir müssen auch mit den Netzbetreibern besprechen, in welcher Art und Weise sie den Dialog führen. Es gibt hier ganz unterschiedliche Erfahrungen. Einige tun das sehr intensiv, einige gehen eher formal vor. Netzbetreibern, die das sehr formal angehen - es werden 1 000 Leute eingeladen, denen das dann von einer Mitarbeiterin erklärt wird -, ist zu sagen: Das ist zu wenig. - Wir müssen als Gesetzgeber, als Deutscher Bundestag, dafür sorgen - das gilt auch für die Bundesregierung -, dass ein ernsthafter Dialog stattfindet. Meine sehr geehrten Damen und Herren, die Energiewende geht uns alle an. Wir wollen, dass sie gelingt. Sie wird nur gelingen, wenn wir beim Netzausbau alle an einem Strang ziehen. Deshalb müssen wir die Sorgen und Befürchtungen der Bürger ernst nehmen, wenn wir ihnen die Netzausbaubedarfe zu vermitteln versuchen. Am Ende des Tages wird es darum gehen, dass Leitungen gebaut werden. Leitungen müssen her! Diese müssen bald realisiert werden. Es ist also notwendig, dass wir für Akzeptanz sorgen. Das ist eine sicherlich anspruchsvolle Aufgabe, aber ich glaube, es gibt anspruchsvollere. Ich denke, dass der Bundestag und die politischen Parteien ihren Aufgaben in dieser Frage gerecht werden müssen. Mein letzter Gedanke. Einzelinteressen werden uns hierbei nicht weiterhelfen, sondern wir müssen die Einzelinteressen zurückstellen. Das gilt auch für die vermeintlichen Einzelinteressen von Ländern. Wir dürfen nicht zur Verunsicherung beitragen, sondern wir müssen den Umwelt- und Klimaschutz als Zentrum unseres politischen Tuns verstehen. Dazu gehört auch eine erfolgreiche Energiewende. Wir haben die Instrumente für eine verlässliche und langfristige Netzausbauplanung verabschiedet. Ich denke, dass wir sie jetzt auch nutzen müssen. Nutzen wir sie, damit der Netzausbau kommt! Einen Stopp der Energiewende können und wollen wir uns in der Bundesrepublik Deutschland nicht leisten. Herzlichen Dank. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat der Kollege Dieter Janecek das Wort.

Dieter Janecek (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004312, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Es ist schon sehr bezeichnend, sehr verehrte Damen und Herren, dass kein Redner der CSU an dieser Debatte teilnimmt. Ich kann gut verstehen und nachvollziehen, dass Sie nicht den Mut aufbringen, hier die Position der eigenen Staatsregierung zu vertreten. ({0}) - Ja, die reden erst sehr spät, weil sie sich so erst einmal anhören können, was man auch Gescheites dazu sagen kann; ich weiß das. Herr Dr. Fuchs, Sie haben lange recherchieren müssen, um einen aus der grünen Basis zu finden, der vielleicht dagegen ist. ({1}) Ich kann Ihnen eine ganze Staatsregierung und ein Landtagswahlprogramm präsentieren, das ich selbst verantwortet habe und in dem wir diesem Trassenausbau zu 100 Prozent zugestimmt haben. So ist die Faktenlage, und erzählen Sie nicht diese Ammenmärchen von den Grünen vor Ort. Es ist die CSU, die vor Ort blockiert. ({2}) Diese CSU vollbringt gerade ein Wunderwerk. Sie werden das erste Land sein, das die Energiewende ohne den Ausbau der Windenergie, ohne Photovoltaik und ohne Stromtrassen vollzieht. Das ist eine technologische Meisterleistung: eine Energiewende auf der Basis von heißer Luft. So schaut es aus in Bayern. ({3}) Das von der Staatsregierung ausgerufene Moratorium zum Trassenausbau, das übrigens vom Staatssekretär gerade dankenswerterweise als reine Luftnummer dargestellt worden ist, weil es rechtlich keine Bindungswirkung hat, ist scheinheilig. Denn Sie haben genau vor einem Jahr diesem Bundesnetzbedarfsplan im Bundestag zugestimmt, und Sie haben unseren Vorschlag, Erdverkabelung vor Ort zu ermöglichen, abgelehnt. Das ist die Faktenlage. ({4}) Wer läuft dagegen in Bayern Sturm? Das sind nicht nur die Menschen vor Ort, die sich zu Recht sorgen; denn die Informationspolitik von Amprion ist alles andere als gut. Übrigens frage ich mich: Warum sind Sie nicht frühzeitig auf die Menschen zugegangen? Warum haben Sie keine entsprechenden Angebote gemacht? In Schleswig-Holstein denkt man zum Beispiel darüber nach, die Bürger zu beteiligen und ihnen über den Netzausbau eine Rendite zu verschaffen. Das wäre eine Möglichkeit, das Ganze positiv zu wenden. Die bayerische Wirtschaft und der DIHK sind erstaunt, wie Sie die Energiewende in Bayern umsetzen wollen: ohne Trassen, ohne Erdgas, ohne Windenergie, ohne Photovoltaik. Vielleicht haben Sie angesichts der Energiewende verstanden, dass Netze nun einmal billiger als Speicher sind - das ist der aktuelle Sachstand -, und zwar bis zu 80 Prozent. Kohle ist leider auf absehbare Zeit billiger als Gas. Ich bin sehr gespannt, wie Sie ein eigenes bayerisches Konzept auf den Weg bringen wollen. ({5}) Kommen wir zu den Fakten. Ja, die weiträumige Übertragung von Strom durch HGÜ-Leitungen ist definitiv ein Eingriff. Das müssen wir den Betroffenen vor Ort klar und deutlich sagen. Es ist die Verantwortung der Politik, dazu zu stehen. Das tun Sie nicht. Aber es hat auch Vorteile, wenn Sie HGÜ-Leitungen statt der bisherigen 380-kV-Netze nutzen: Sie haben geringere Übertragungsverluste. Sie haben keine Blindleistung. Sie haben deutlich geringere Belastungen durch elektrische und magnetische Felder. Sie haben eine hohe Transportkapazität. Sie haben bessere Möglichkeiten der Erdverkabelung. All das sind Chancen; die muss man doch darstellen. ({6}) Aber das Einzige, was Sie können und was Sie tun, ist, zu verunsichern und Investoren in den Ruin zu treiben. Bayern ist zurzeit der Totengräber der Energiewende. Was Kommunen und Bürgergenossenschaften in die Hand genommen haben, machen Sie innerhalb weniger Wochen und Monate zunichte. Die Windabstandsregelungen führen dazu, dass gerade noch 7 Prozent der Projekte verwirklicht werden können. Gegen die Energiewende in Bayern sind Stuttgart 21 oder der Berliner Flughafenausbau solide Infrastrukturplanungen. ({7}) Was die Logik angeht, muss ich an die heutigen Worte von Herrn Seehofer denken. Er sagte, man könne davon ausgehen, dass auch Kohlestrom durch die Trasse von Nord nach Süd fließt. - Ja, vielen Dank für die Einsicht, ({8}) dass möglicherweise auch Braunkohlestrom nach Bayern fließen könnte. Ist das der Punkt? Je weniger erneuerbare Eigenproduktion Sie in Bayern zulassen - das machen Sie gerade konsequent -, desto höher ist der Trassenbedarf. So wird ein Schuh daraus. Die Grenzkosten bei Windstrom liegen bei nahe null. Wenn es an der Strombörse Windstrom im Überfluss gibt: Was geht dann zuerst in die Leitungen, Braunkohleoder Windstrom? Haben Sie sich das überlegt? Es wird Windstrom sein. Deswegen ist es reine Panikmache, zu behaupten, dass Bayern praktisch von Kohlestrom abhängig sein könnte. Das wird dann eintreten, wenn Sie die Energiewende in Bayern nicht endlich konsequent vorantreiben. ({9}) „Bayern könnte zum Modell für eine gescheiterte Energiewende werden.“ Das schreibt nicht die taz, sondern die FAZ, die linker Umtriebe unverdächtig ist. Sie sind auf dem besten Weg dazu - leider. Stellen wir uns der Realität: Was Sie, insbesondere von der CSU, wirklich wollen, ist in aller Konsequenz die Rückkehr zur Atomenergie. Das ergibt sich zwingend aus Ihren Maßnahmen. Sie sprechen das nur nicht offen aus. ({10})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege Dr. Joachim Pfeiffer das Wort. ({0})

Dr. Joachim Pfeiffer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003608, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist leider wie so oft: Beim Umbau der Energieversorgung beginnt das Schwarze-Peter-Spiel. ({0}) Das hilft uns aber, fürchte ich, an dieser Stelle nicht weiter. Lassen Sie mich versuchen, zumindest ein paar Fakten anzusprechen. Zunächst ist in der Tat festzustellen, dass es beim Gesamtumbau der Energieversorgung nicht gelungen ist - das haben wir alle zusammen versäumt -, den Ausbau der Erzeugung mit dem Ausbau der Netze so zu synchronisieren, dass das Hand in Hand geht. ({1}) Das war von Anfang an so, egal, wer daran beteiligt war. Nehmen wir einmal die dena-Netzstudie I. Diese Studie hat sich 2005 das erste Mal mit dem Thema auseinandergesetzt. Ihre Objektivität ist von niemandem zu bestreiten und auch nicht zu überbieten. Alle Beteiligten, ob Netzbetreiber, ob Erzeuger, egal welcher Art, Länder, Kommunen, waren daran beteiligt. Darin kam man übereinstimmend zu der Ansicht, dass bis 2010 850 Kilometer Übertragungsnetz neu zu bauen und 400 Kilometer zu ertüchtigen sind. Das ist überhaupt nicht gelungen. Wir hatten für 2010 eine Zielmarke von 12,5 Prozent erneuerbare Energien. Es waren aber bis dahin schon 17 Prozent. Dann haben wir mehrfach nachgesteuert, in welcher Konstellation auch immer, zum Beispiel in der Großen Koalition mit dem Energieleitungsausbaugesetz 2009. Vorgesehen waren 24 Maßnahmen. Bis heute haben wir gerade einmal 15 Prozent realisiert. Bis 2015, also nächstes Jahr, wollten wir damit fertig werden. Zu der Veränderung der Erzeugungsstruktur und dem hinterherhinkenden Netzausbau kommt hinzu, dass Deutschland in Europa mittlerweile Transitland Nummer eins für Strom ist. Das ist auch gut und richtig so. Wir wollen einen europäischen Binnenmarkt für Strom. Wir wollen transeuropäische Netze ausbauen. Niemand baut Netze aus Lust und Tollerei, etwa weil er sonst nichts zu tun oder Geld übrig hat. ({2}) - Nein, niemand macht das. - Vielmehr ist der Bedarf objektiv nachgewiesen, und es wird mehrfach nachgesteuert. Wir haben gemeinsam - ich glaube, sogar wir alle - dem Netzausbaubeschleunigungsgesetz und dem Netzentwicklungsplan zugestimmt, sodass die Bundesnetzagentur jetzt jährlich die gesamte Netzplanung überprüft. Nicht umsonst sind auch einige Korridore bzw. Netze zurückgestellt worden, weil der Bedarf noch nicht vorhanden ist oder vielleicht auch gar nicht entsteht. Aber hier den Eindruck zu erwecken, als wäre kein Netzausbau notwendig, wenn man etwas Dezentralität, Vor-Ort-Erzeugung oder Speicherung macht und ansonsten ein paar Einsparungen vornimmt, ist doch hanebüchen. Damit werden die Leute bewusst angelogen. Das muss ich in aller Deutlichkeit sagen. Wie sieht die Situation aus? Die Versorgungssicherheit wurde erwähnt. Die Netze sind heute unter Stress. Nehmen wir das TenneT-Netz, dieses Übertragungsnetz. 2003 gab es dort drei Eingriffe ins Netz. 2010 waren es 290 Eingriffe. 2013 waren es bereits über 1 000 Eingriffe, also im Schnitt jeden Tag drei; früher gab es im ganzen Jahr nur drei Eingriffe. Das heißt, wir spielen in der Tat mit der Versorgungssicherheit, und das sollten wir auch deutlich machen, statt scheinheilig in dem einen oder anderen Punkt Schwarzer Peter zu spielen. ({3}) - Das sage ich allen. Ich komme gleich dazu. Ich will noch etwas zur Dezentralität sagen. Ich komme aus der Region Stuttgart, wie man unschwer hört. In der Region Stuttgart leben 2,6 Millionen Einwohner. Die Region Stuttgart hat eine Spitzenlast in der Größenordnung von 3 000 Megawatt und einen Jahresenergiebedarf von 20 Terawattstunden. Wollten Sie diesen in der Region Stuttgart mit Onshorewind aus 1-Megawatt-Anlagen decken, dann bräuchte man 11 000 Windräder. Jetzt sagen Sie zu Recht: Wir bauen heute keine 1-MegawattAnlagen, sondern 2- oder 3-Megawatt-Anlagen. - Dann sind wir aber immer noch bei 3 000 Anlagen - nur um Ihnen einmal die Dimension zu veranschaulichen. Im Moment sind wir in der Regionalplanung - ich bin Fraktionsvorsitzender in der dortigen Regionalversammlung - dabei, mit Hochdruck Standorte auszuweisen. Wenn dabei am Ende 50 Standorte mit zwei bis drei Anlagen herauskommen - dabei sind der Rote Milan und alles, was vielleicht sonst noch passiert, nicht berücksichtigt -, dann zeigt das, welche Diskrepanz es dabei gibt. Meine Damen und Herren, erwecken Sie also bitte nicht den Eindruck, dass durch Dezentralität der Netzausbau ersetzt werden kann. ({4}) Das ist ein Ammenmärchen; das stimmt nicht. Das sage ich allen hier und auch in den Bundesländern. Jetzt zum Thema Erdkabel. Erdkabel sind nicht nur achtmal teurer, wie der Kollege Fuchs gesagt hat, sondern leider weder technisch ausgereift, noch erhöhen sie die Akzeptanz, wenn die Übertragung im Wechselstrom erfolgt. ({5}) Die Eingriffe sind mindestens so groß wie bei Freileitungen. Es ist für die Trasse eine Vegetationsschneise von 9 Metern Breite freizuhalten. Vorteil wäre: Im Winter liegt kein Schnee auf den Leitungen. Wir haben es mit dem EnLAG ermöglicht. Es ist bis heute nichts dergleichen realisiert worden, und zwar nicht allein aus Kostengründen, sondern auch wegen der Akzeptanz. Es ist ein Ammenmärchen, den Leuten zu erzählen: Wenn wir für das Hochspannungsnetz Erdkabel verlegen, dann wird es funktionieren. Das ist also auch insofern falsch. Deshalb sage ich abschließend: Hören wir bei dieser Frage auf mit der Kleinstaaterei und dem Föderalismus! Das sage ich allen von A wie Albig über K wie Kretschmann bis zu S wie Seehofer. Uns den Schwarzen Peter gegenseitig zuzuschieben, hilft überhaupt nicht.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Herr Kollege.

Dr. Joachim Pfeiffer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003608, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wenn im Bundesrat alle dem Netzausbau und dem Energieprogramm zustimmen, dann aber jeder sein eigenes Energieprogramm macht, führt uns dies nicht zum Erfolg. Da ist mittlerweile in der Tat der Föderalismus der Haupthemmschuh und nicht die Parteipolitik - das ist mein Eindruck -, und zwar von Schleswig-Holstein bis nach Bayern. Deshalb gilt - Sie haben darauf richtigerweise hingewiesen -: Wer A sagt, muss auch B sagen. Wer also A zum Energieprogramm sagt, muss auch B zum Netzausbau sagen. Der Netzausbau muss vorangetrieben werden, der ja in diesem Hause mit großer Mehrheit beschlossen wurde. ({0}) Ich kann nur alle - auch die Bundesländer - auffordern, mitzumachen. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Pfeiffer, bitte kommen Sie jetzt zum Schluss.

Dr. Joachim Pfeiffer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003608, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich bin am Schluss, obwohl ich noch viel zu sagen hätte. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Davon bin ich fest überzeugt. Für die Fraktion Die Linke hat der Kollege Ralph Lenkert das Wort. ({0})

Ralph Lenkert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004091, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Geehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr Pfeiffer, die Linke hat dem NABEG, dem EnLAG, dem Energiewirtschaftsgesetz und dem Netzausbaubedarfsplan nicht zugestimmt. Wir haben immer gesagt: Dieser Netzausbau ist überzogen. - Das sagt jetzt auch die CSU. Ich gratuliere! ({0}) Aber die Linke fordert als Alternative eine dezentrale Stromerzeugung. Dazu braucht es Windräder und Stromspeicher auch in Ihrem geliebten Bayern. Das ist logisch, und das müssen auch Sie von der CSU einsehen. ({1}) Schauen wir nun auf den Netzausbau; da liegt einiges im Argen. Erstens. Die Basisdaten für den Ausbau stammen von 2010. Wir erinnern uns: Damals wollten Sie noch längere Laufzeiten der Atomkraftwerke. Grundlage waren auch die nicht abgestimmten Energiekonzepte der einzelnen Bundesländer. Damals gingen Sie vom massiven Neubau von Kohle- und Gaskraftwerken und von 25 Gigawatt Windkraft im Meer aus. Das alles sind inzwischen überholte Annahmen. Zweitens. CDU, SPD, Grüne und bis vor vier Wochen die CSU betonten, der Netzausbau sei alternativlos. Wirklich? Das Gesetz besagt: Der erneuerbare Strom hat Vorrang; er geht zuerst ins Netz. - Im Norden und Osten gibt es viele Kohlekraftwerke. Weitere sind geplant oder im Bau. Diese Kraftwerke können Strom für etwa 3,5 Cent je Kilowattstunde anbieten. Das klingt günstig. Im Süden gibt es Strombedarf, und dort stehen umweltfreundliche Gaskraftwerke wie Irsching 5. Dort kostet der Strom circa 4,5 Cent je Kilowattstunde. Das klingt teuer. Weil die Transportkapazität für Strom zwischen Nord und Süd begrenzt ist, kann oft nur Windstrom transportiert werden. Für Kohlestrom fehlt der Platz. Also werden die Kohlekraftwerke heruntergefahren, und das Gaskraftwerk Irsching liefert klimafreundlichen Strom, der in der Herstellung 1 Cent mehr kostet als der aus Kohle. Wenn dann die Stromtrassen von der Küste bis zu den Alpen stehen, ändert sich Folgendes: Windkraftanlagen liefern weiter Strom ins Netz, und für den Restbedarf an Strom brummen die klimafeindlichen Kohlekraftwerke. Das umweltfreundliche Irsching 5 wird abgeschaltet. Irsching 5 würde pleitegehen. Aber nachts - ohne Solarstrom - und bei großflächiger Windstille fehlt dann die Reserve. Deshalb wird Irsching 5 als Notreserve be1040 triebsbereit gehalten. Die Kosten werden auf die Netzentgelte aufgeschlagen. Fließt Strom von der Nordsee nach München, entstehen bei 800 Kilometer Weg 20 Prozent Übertragungsverluste. Dadurch wird das Netzentgelt höher. Auch die Baukosten der Netze werden natürlich über das Netzentgelt gedeckt. Großkunden brauchen keine Netzentgelte zu zahlen. Sie profitieren jedoch vom Netzausbau mit Strompreisen von unter 4 Cent je Kilowattstunde. Für Verbraucherinnen und Verbraucher sowie Handwerksbetriebe steigt dagegen das Netzentgelt um mehr als 1 Cent je Kilowattstunde, mehr als man durch den Kohlestrom spart. Eine solche Kostenumverteilung lehnt die Linke ab. ({2}) Wer profitiert eigentlich noch vom Netzausbau? Die großen, zentralen Energieerzeuger, die dadurch - nur auf dem Papier - billigen Strom liefern können und somit lokale Bürgerenergiegenossenschaften und Stadtwerke ausbremsen und ihr Monopol ausbauen. Auch die Bauindustrie verdient am Bau von Stromtrassen. Finanzinvestoren von Stromleitungen strahlen; denn denen bringt jeder Euro, der in den Netzausbau fließt, fette 9 Prozent Rendite. Wir fordern statt Traumrenditen umweltfreundlichen, bezahlbaren Strom für die Menschen. ({3}) Die Linke will erstens, dass in der Netzplanung die Stilllegung von konventionellen und Atomkraftwerken berücksichtigt wird, ({4}) zweitens, dass in die Planung die Potenziale einer regionalen Energiespeicherung zum Beispiel durch die Verknüpfung von Stromnetzen mit Wärmespeichern einfließen, ({5}) drittens, dass die Übertragungsnetze vergesellschaftet werden, damit kein Profitinteresse mehr am Stromleitungsbau besteht und es einheitliche Netzentgelte geben wird, ({6}) viertens, dass die großen Stromerzeuger an den Transportkosten des Stromes beteiligt werden, und fünftens, dass das Stromsystem so dezentral wie möglich und nur so zentral wie nötig gestaltet wird. ({7}) Das will übrigens auch der Bundesverband mittelständische Wirtschaft, sonst nicht unbedingt unser Unterstützer. ({8}) Deshalb fordert die Linke eine Netzplanung, die aktuelle Daten zur Grundlage hat und realistisch die Bedarfe abdeckt, und vor allem will die Linke, dass die Kosten gerecht verteilt werden. Stoppen Sie den Netzausbau, bis Sie Klarheit bei den Berechnungen haben. Das schützt vor Fehlinvestitionen, uns alle vor unnötiger Landschaftsverschandelung und verhindert den Akzeptanzverlust der Energiewende. In Meerbusch-Osterath, in Hessen, Niedersachsen, Thüringen und Bayern haben die Bürgerinnen und Bürger recht mit ihrer Ablehnung der Ausbaupläne für 380- und 500-kVLeitungen, und Sie täten gut daran, diese Initiativen ernst zu nehmen. ({9})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Hubertus Heil für die SPDFraktion. ({0})

Hubertus Heil (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003142, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich glaube, dass hinter dieser Debatte über Stromtrassen eine tiefergehende Frage steckt, nämlich wie es insgesamt um die Akzeptanz von Infrastrukturen in diesem Land bestellt ist. Wenn man sieht, dass viele Bürgerinnen und Bürger bei allen möglichen Infrastrukturprojekten, vor allem bei denjenigen, die tatsächlich oder vermeintlich mit Veränderungen und Belastungen verbunden sind, skeptisch sind, dann muss man sich mit den Ursachen dieser Skepsis auseinandersetzen. Die Ursachen mögen sehr unterschiedlich sein. Es mag Einzelinteressen geben; da gibt es Ängste und Sorgen, und es gibt manchmal das Gefühl, dass Infrastrukturen den Menschen nicht helfen oder nützen würden. Deshalb finde ich es geradezu fahrlässig - das sage ich auch mit Blick auf den Vorredner -, die Akzeptanz für notwendige Infrastrukturen, zumal für solche, die zum Gelingen der Energiewende in diesem Land beitragen, infrage zu stellen. ({0}) Wenn die Linke stolz darauf ist, dass Horst Seehofer bei ihr abschreibt, dann ist das an sich schon ein Hinweis, dass das irgendwie alles nicht stimmt. ({1}) Einmal ganz ernsthaft an dieser Stelle: Worum geht es denn im Kern? Wir haben die Energiewende nicht erst gestern, auch nicht seit Fukushima, sondern im Jahre 2000 begonnen. Es geht um eine doppelte Energiewende. Es geht um den geordneten Ausstieg aus der Atomkraft, und es geht um sehr ehrgeizige Klimaschutzziele. Wir versuchen, diese Energiewende unter den Bedingungen eines Industrielandes zu realisieren, wie es kein anderes in Europa gibt. Viele schauen auf uns und fragen, ob das gelingen kann. Es gibt inzwischen Sorgen, auch was die Preisentwicklung oder die Akzeptanz der Energiewende insgesamt betrifft. Hubertus Heil ({2}) Aber eines ist doch ohne Frage richtig: Wenn man die Energiewende zum Erfolg bringen will, dann darf man nicht verkennen, in welcher Situation wir in Deutschland sind. Zur Erinnerung: Im Jahr 2000 hatten wir einen Atomausstieg organisiert, der etwas anders als der war, der seit Fukushima gilt. Damals wurde zwischen der Energiewirtschaft und der Politik in Deutschland vereinbart, dass es auch die Möglichkeit gibt, beim Übergang zum Ausstieg aus der Atomkraft Reststrommengen von AKW zu übertragen. Das hat uns eine gewisse Flexibilität gegeben, auch im Ausgleich. Das gilt beim neuen Ausstieg so nicht; es gibt vielmehr fest definierte Ausstiegszeitpunkte. Das führt dazu, dass wir in einer Situation, in der wir Lastschwerpunkte und Verbrauchsschwerpunkte im Süden Deutschlands haben, weil Bayern und Baden-Württemberg ohne Zweifel hocherfolgreiche Wirtschaftsländer sind, ein besonderes Problem haben. Deshalb sage ich etwas deutlicher als der Staatssekretär, der das sehr vornehm ausgedrückt hat und dem ich für seinen sachlichen Beitrag zur Aufklärung sehr herzlich danke: Man muss aufpassen - das ist an die Adresse der Bayerischen Staatsregierung gerichtet -, ob die Bayerische Staatsregierung - auch der Ministerpräsident - mit ihrer Art des Zickzackkurses nicht dem Freistaat Bayern, dem sie eigentlich verpflichtet ist, Schaden zufügt. Diese Frage muss man sich stellen. ({3}) Bayern ist auf Versorgungssicherheit angewiesen. Der Freistaat Bayern ist ein hochattraktiver und hocherfolgreicher Industriestandort. ({4}) Die Menschen in Bayern sind darauf angewiesen, dass sie Versorgungssicherheit haben, dass es keine Blackouts gibt, dass man sich darauf verlassen kann, dass alles funktioniert. Jetzt schauen wir uns einmal die aktuelle Situation an: Im Jahre 2015 wird Grafenrheinfeld vom Netz gehen; das ist Konsens im gesamten Haus. Selbst die Betreiber rechnen nicht mehr damit, dass, egal was jetzt politisch passiert, die Restlaufzeiten dieses AKW verlängert werden. Wir hoffen alle, dass die Trasse im Thüringischen dann zur Verfügung steht. ({5}) Eine Gewissheit haben wir auch da nicht. Das müssen wir sagen, wenn wir ehrlich miteinander sind ({6}) bis auf die Linke, die vielleicht auch gegen diese Trasse war. Ich weiß es nicht. ({7}) Ich sage Ihnen: Das wird nicht ausreichen. Wir werden weitere Trassen brauchen. Schauen Sie sich zum Beispiel die Hochspannungs-Gleichstrom-Übertragungsleitung, die Trasse von Itzehoe nach Grafenrheinfeld an. Das ist eigentlich die Verbindung von drei alten AKW-Standorten, vom Standort Brokdorf über den Standort Grohnde bis hin zu Grafenrheinfeld. ({8}) Der Hintergrund ist die Tatsache, dass wir im Norden mutmaßlich mehr erneuerbare Energien haben, offshore und onshore, und dass diese erneuerbaren Energien einen Beitrag zum Ersatz von Atomkraftwerken in Süddeutschland leisten müssen. Das kann man doof finden. Man kann sagen: Dann muss man in Bayern vollständig für einen Ersatz sorgen. - Unabhängig davon, dass ich glaube, dass jede Form von länderspezifischen Träumen von Energieautarkie etwas naiv ist, geht eins nicht: dass Horst Seehofer jahrelang die Windkraft in Bayern ausbremst und jetzt verhindert, dass Strom aus erneuerbaren Energien aus anderen Bundesländern zufließen kann. Das ist ökonomische Kamikazepolitik und bestimmt nicht vernünftig. ({9}) Deshalb habe ich die Hoffnung - sie richtet sich namentlich an den Kanzleramtsminister, der mit den Bundesländern im Gespräch ist -, dass wir es schaffen, den Konsens über den notwendigen Netzausbau in diesem Land zu erneuern. Nun will ich eins zum Stand der Debatte sagen: Wir können jetzt alle mit dem Finger aufeinander zeigen. Wir haben Widerstand aus Unionskreisen erlebt; auch bei den Grünen gibt es ein paar Bürgerinitiativen. Ich sage Ihnen: Die Wahrheit ist, dass die Vertreter der Bürgerinitiativen gegen die geplanten Trassen alle möglichen Parteibücher haben. Darunter gibt es auch welche aus meiner Partei. Sie sehen diese Planungen aus örtlicher Betroffenheit kritisch. Darunter sind CDU-Bürgermeister, Grüne. Die Linke ist immer mit dabei. Das ist ja gar keine Frage, wenn es um Protest geht. ({10}) Ich finde, unsere Aufgabe im Deutschen Bundestag ist es, die Sorgen der Menschen ernst zu nehmen, Bürgerbeteiligung zu organisieren, Naturverträglichkeit zu beachten. Aber am Ende des Tages, wenn wir der Überzeugung sind, dass unser Land für eine sichere, saubere und bezahlbare Energieversorgung neue Infrastrukturen braucht, muss man stehen und darf sich nicht wegducken; sonst ist man nicht glaubwürdig. Diese Glaubwürdigkeit braucht die Energiewende, die braucht unser Land. ({11})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die CDU/CSU-Fraktion spricht nun der Kollege Karl Holmeier. ({0})

Karl Holmeier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004059, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr verehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Menschen haben uns mit einem hervorragenden Ergebnis gewählt, damit wir ihre Interessen vertreten. Genau das macht die CSU, und genau das macht auch die Bayerische Staatsregierung. Genau das ist es, was uns einige jetzt vorwerfen, die diesen Auftrag offensichtlich nicht so ernst nehmen wie wir. ({0}) Um auf die heiße Luft zurückzukommen: Wir in Bayern sind führend im Bereich der Energiewende. ({1}) Herr Janecek, wir erzeugen mit erneuerbaren Energien heiße Luft, und Sie plappern nur heiße Luft. ({2}) Das Ziel der Großen Koalition ist es, das Zeitalter der erneuerbaren Energien so schnell wie möglich zu erreichen. Die Welt schaut gespannt auf Deutschland, ob uns diese große Aufgabe gelingt. Wir werden sie meistern; sie wird uns gelingen. Ich sage Ihnen aber auch: Sie wird nur gemeinsam mit den Menschen gelingen. Wir werden das nicht an den Köpfen der Menschen vorbei schaffen können. Der Umbau der Energieversorgung erfordert verschiedenste Maßnahmen. Ein ganz entscheidender Bereich dabei ist der Ausbau der Stromnetze. Man könnte sagen: Die Netze sind die Lebensadern der Energiewende; ich glaube, da sind wir uns einig. ({3}) Um den Anteil der erneuerbaren Energien an der Stromerzeugung zu erhöhen und eine sichere Energieversorgung zu gewährleisten, müssen wir dringend die Netze ausbauen; das ist ganz klar. Daran besteht auch kein Zweifel. Wir brauchen darüber hinaus mehr Übertragungsnetze und mehr Verteilnetze. Dies ist notwendig, weil es nicht in allen Regionen möglich sein wird, den Energiebedarf auf Dauer mit erneuerbaren Energien zu decken. Das betrifft besonders - auch dies wurde gesagt - den Süden Deutschlands mit der Wirtschaftsstärke Bayerns. Um den Ausbau der Stromnetze voranzubringen, haben wir bereits in den letzten Jahren einige Maßnahmen und Gesetze auf den Weg gebracht; ich glaube, ich brauche sie nicht im Einzelnen zu nennen. Das zeigt: Wir haben einen Plan, wie wir den Ausbau der Übertragungsnetze in einem großen Schub voranbringen wollen. Verantwortungsvolle Politik heißt aber auch, auf Veränderungen zu reagieren und diese nicht einfach zu ignorieren. Dazu gehört zum Beispiel, dass wir uns vielleicht noch einmal genau anschauen müssen, ob es nicht an einigen Stellen möglich ist, statt Freileitungen zu verlegen, in Richtung Erdverkabelung zu gehen. ({4}) Prüfen sollten wir auch, ob wir nicht die Abstandsflächen zwischen Stromleitungen und Wohnbebauung vergrößern sollten. Darüber hinaus sollten wir berücksichtigen, dass die Novellierung des EEG ansteht. ({5}) Wir sollten schauen, ob diese Novellierung auch Auswirkungen auf den Netzausbau haben wird. ({6}) Deshalb sollten wir vor neuen Entscheidungen erst einmal den Gesetzentwurf zur Novellierung des EEG abwarten. Herr Gabriel hat gesagt, dass er den bis Ostern vorlegen wird. ({7}) Bis Ostern ist nicht mehr lange hin, und ich bin zuversichtlich, dass Herr Gabriel diesen Zeitplan einhält. Schließlich, meine Damen und Herren, dürfen wir nicht vergessen, die Menschen auf unserem Weg in das Zeitalter der erneuerbaren Energien mitzunehmen. Dieses Mitnehmen hat nichts mit Populismus zu tun. ({8}) Ich sage Ihnen voraus: Der Umstieg auf die erneuerbaren Energien wird nur dann ein Erfolg sein, wenn wir die Akzeptanz der Bevölkerung haben. Durch die Demonstrationen haben wir gesehen, dass das nicht immer der Fall ist. Wir wollen das Zeitalter der erneuerbaren Energien so schnell wie möglich erreichen; ({9}) ich glaube, darin sind wir uns alle einig. Dabei müssen wir die Bezahlbarkeit und vor allem auch die Versorgungssicherheit wahren; darin sind wir uns sicherlich ebenfalls einig. Wir müssen aber auch daran denken, die Energiewende gemeinsam mit den Menschen zu gestalten und nicht über sie hinweg, nur um am Ende vielleicht ein paar Monate schneller zu sein. Die Entscheidung der Bayerischen Staatsregierung zu diesem Moratorium ist, glaube ich, der richtige Weg. Wir verlieren vielleicht ein Vierteljahr; aber das können wir sicherlich aushalten. Herzlichen Dank. ({10})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Der Kollege Dirk Becker hat für die SPD-Fraktion das Wort. ({0})

Dirk Becker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003736, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Holmeier, ich bin Ihnen für Ihren letzten Satz sehr dankbar; denn Sie haben die Debatte jetzt endlich auf den Punkt konzentriert: In Bayern sind Kommunalwahlen. - Das ist der Punkt. ({0}) Sie haben zu Recht gesagt, dass Sie für die Interessen der Menschen antreten und eintreten. Das nehmen wir alle für uns in Anspruch. Wir wissen doch, wie die Debatte zustande kam. Es hat eine Veranstaltung mit einem Übertragungsnetzbetreiber wegen einer Trasse gegeben. Die Veranstaltung ist aus dem Ruder gelaufen, weil es Proteste gab. Herr Seehofer hat das mitbekommen und gesagt: Da muss ich mal rein. Jetzt gebe ich wieder den Rächer der Enterbten und stelle das alles infrage. - Das ist der Hintergrund. ({1}) Wir sollten diese Debatte jetzt einkochen. Es geht hier nicht um die grundsätzliche Frage der Zustimmung zur Energiewende oder der Ablehnung der Energiewende; trotzdem darf man so etwas nicht durchgehen lassen. Der Netzausbau ist ein hochsensibles Thema. Dafür braucht man Verlässlichkeit und Investitionssicherheit. Jede Rumeierei, jede Infragestellung macht das zunichte, was gerade auch Sie in den letzten drei Jahren in all den Planungsverfahren zum Netzausbau mit hinbekommen haben. ({2}) Von daher darf man das, was Herr Seehofer da macht, nicht durchgehen lassen. Herr Dr. Pfeiffer, Sie haben zu Recht gesagt, wir sollten jetzt mit dem Schwarzer-Peter-Spiel aufhören. Das muss ich heute auch mit Blick auf die Bayerische Staatsregierung sagen. Die Tickermeldungen reißen nicht ab. Jetzt meldet sich Frau Aigner zu Wort und sagt, die Staatsregierung mache Druck auf die Bundesnetzagentur und den Bundesenergieminister. Sigmar Gabriel sei dafür verantwortlich und zuständig, wenn in Bayern nun das Licht ausgehe. ({3}) Ich stelle fest: Die Dame war selbst seit 2008 Mitglied der Bundesregierung. Was hat sie in der Zeit getan, um an der Stelle für Abhilfe zu sorgen? ({4}) Es kann doch nicht sein, dass jemand, der bis vor zwei Jahren noch für die Laufzeitverlängerung gestimmt hat und Bayern damit in einem guten Lichte sah, jetzt auf einmal solche Töne anschlägt. Ich sage: Hört auf mit dem Schwarzer-Peter-Spiel! Das hilft uns allen nicht. ({5}) Wir müssen gemeinsam ein Interesse daran haben. Herr Fuchs, Sie haben ja zu Recht gesagt: Das Thema Netzausbau ist mit dem Thema Energiewende untrennbar verbunden. Wir haben uns in der Großen Koalition nicht mit dem Ausbaukorridor beschäftigt, weil wir so viel Spaß daran hätten, sondern weil wir ihn erst einmal mit dem Netzausbau synchronisieren müssen. Es gibt bei vielen Projekten Verzögerungen. Eines aber will ich in Richtung Bayern sagen. Herr Seehofer wird heute zitiert, er habe sich noch kein Urteil über die Stromtrasse gebildet. Er hat aber letztes Jahr im Bundesrat zugestimmt. Ich kann nur allen Kollegen empfehlen: Bevor man über Stromtrassen abstimmt, sollte man sich ein Urteil bilden. Denn eines will ich auch feststellen - nur zur Versachlichung -: Die Stromtrasse, an der sich jetzt der Streit entzündet, nämlich die Süd-Ost-Passage, war Bestandteil sowohl des Leitszenarios B, das jetzt gilt, als auch des Szenarios A - das war der Rahmen, der den Ausbau der erneuerbaren Energien im Endeffekt noch stärker gedrosselt hätte - und wurde als unverzichtbar eingestuft. Von daher wusste Herr Seehofer seit 2011 um die Notwendigkeit dieser Trasse. Darauf möchte ich angesichts der Bedeutung für das Gesamtstromsystem hinweisen. Ich will mit Blick auf Bayern die drei Stromtrassen, die von Bedeutung sind, noch einmal kurz nennen. Hubertus Heil hat eben eine angesprochen: die SuedLink-Trasse, 800 Kilometer durch Deutschland. Viele Kollegen werden in ihrem Wahlkreis betroffen sein. Ich komme aus Lippe; da geht sie am Rand vorbei. Auch der Kollege Zertik von der CDU ist davon unmittelbar betroffen. ({6}) Ich kann Ihnen aber versprechen: Diese Trasse, die wir auch für Bayern bauen, werde ich in meinem Wahlkreis verteidigen; denn das Stromsystem in Deutschland besteht aus 16 Ländern. Es ist für mich selbstverständlich, dass ich mir in meinem Wahlkreis keinen schlanken Fuß mache, auch wenn es hier um Bayern geht. Ich erwarte aber das Gleiche vom bayerischen Ministerpräsidenten. ({7}) Die zweite Trasse ist die Thüringer Strombrücke, 450 Kilometer, zum größten Teil auf bayerischem Gebiet. Die finden die Bayern toll. Diese beiden Trassen berühren Bayern von der Ausbauproblematik her kaum. Aber an der dritten Trasse lässt sich der Zorn des Ministerpräsidenten anscheinend festmachen: Das ist die Süd-Ost-Passage, die zum großen Teil auf bayerischem Gebiet gebaut wird, aber zuallererst dazu dienen soll, Strom aus erneuerbaren Energien im Osten Deutsch1044 lands abfließen zu lassen, damit er nicht weiter über Polen und Tschechien läuft; denn die haben die Nase voll davon, dass unser Strom in ihre Netze drückt und da den Markt versaut. ({8}) Es ist ein Zeichen der Solidarität, auch mit unseren Nachbarn im Osten, dass wir zu dieser Trasse stehen, die den deutschen Strommarkt besser organisiert. ({9}) Meine Hoffnung, mein Wunsch und meine sichere Annahme lauten: Am 17. März ist die Messe gelesen, und der ganze Wind ist so schnell verflogen, wie er gekommen ist; denn dann sind die Kommunalwahlen in Bayern vorbei. Ich gehe davon aus, dass dann allseits wieder Vernunft einkehrt und die energiepolitische Gesamtverantwortung gesehen wird. Vielen Dank. ({10})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Die Kollegin Barbara Lanzinger hat jetzt für die Unionsfraktion das Wort. ({0})

Barbara Lanzinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003499, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Wenn die Energiewende gelingen soll, was wir alle wollen, auch in Bayern, dann müssen wir wichtige Entscheidungen treffen, ({0}) die zugegebenermaßen sicherlich nicht immer ganz einfach sind und die uns in der Diskussion und im Ablauf einiges abverlangen: Differenziertheit in der Diskussion, Sachlichkeit, Ehrlichkeit und Transparenz, aber auch den Mut zu durchaus kontroverser Diskussion und zu der Aussage, dass bei allen Entscheidungen gelten muss: Gründlichkeit vor Schnelligkeit. Das ist im Übrigen auch eine Aussage des DGB. Ich möchte erwähnen: Wir haben nicht nur im März in Bayern Kommunalwahlen, sondern es gibt, soweit ich weiß, in diesem Jahr in allen Bundesländern Kommunalwahlen. ({1}) Auch dort gibt es Probleme; das muss man der Ehrlichkeit halber hinzufügen. Vor dem Hintergrund der Reformierung und Neujustierung - ich sage bewusst: Neujustierung - des EEG und der Gestaltung eines Marktdesigns entstehen neue energiepolitische Rahmenbedingungen, an die wir unsere Planung der Stromtrassen anpassen müssen, dezentral und zentral. Wir können das eine ohne das andere nicht zielführend umsetzen. Wenn wir mit der Reform des EEG tatsächlich langfristig erfolgreich sein wollen, dann müssen wir - das möchte ich an dieser Stelle ganz deutlich erwähnen auch bei der Speicherforschung noch einen gehörigen Zahn zulegen. Die Speicher sind aus meiner Sicht ein wichtiges Teilstück des funktionierenden Ganzen. Wir müssen das hoffentlich bald nutzbare Potenzial eng an die zukünftige Marktintegration der erneuerbaren Energien koppeln. Versorgungssicherheit, Bezahlbarkeit, Wettbewerbsfähigkeit und Planbarkeit für alle Menschen, vor allem für unsere Wirtschaft, stehen über allem. Lassen Sie uns unter diesen Vorgaben das EEG reformieren und die Kapazitätsmärkte diskutieren. Ich bin schon der Meinung, dass es uns gut ansteht, zu überprüfen, ob der eingeschlagene Weg weiterhin der richtige ist oder ob wir nicht vielleicht doch Veränderungen vornehmen müssen. Dabei bin ich überzeugt, dass wir eine Gleichstromtrasse brauchen, welche in relativ kompensierter Form - das wissen wir alle - viel Energie transportieren kann. Bayern hat die Schaffung der rechtlichen Grundlagen für den Netzausbau unterstützt. Jedoch müssen wir erst einmal den ersten Schritt vor dem zweiten machen: erst EEG-Reform und Kapazitätsmärkte klären, dann wissen wir, was wir brauchen. Frau Dr. Verlinden, die Planung muss dynamisch angepasst werden; da gebe ich Ihnen recht. ({2}) Für den Ausbau der Netze bedeutet dies: Zunächst muss eine Analyse der Veränderung energiepolitischer Rahmenbedingungen erfolgen. Erst dann kann eine zielführende Diskussion unter Einbindung der Bürger stattfinden. Wir planen keinen Strategiewechsel; aber Gründlichkeit geht vor Schnelligkeit. Wir werden klären müssen, wie stark wir in den nächsten Wochen und Monaten in die bestehenden energiepolitischen Rahmenbedingungen eingreifen, wie wir sie ändern - eventuell sogar komplett. Gerade wegen der Brisanz der anstehenden Veränderungen gilt umso mehr: Gründlichkeit vor Schnelligkeit. ({3}) Schließlich dürfen wir nicht außer Acht lassen: Was jetzt genehmigt und gebaut wird, können wir nicht so einfach rückgängig machen. Auch hier gilt Nachhaltigkeit im Denken und Handeln. Es gilt, die Sachlage bedacht anzugehen. ({4}) Bis 2017 sollen die Planfeststellungen erfolgen. Ein paar Wochen Planungs- und Aufklärungszeit sind hier, wie es der Kollege Karl Holmeier schon formuliert hat, durchaus vertretbar. Die Energiewende ist ein Generationenprojekt, aber vor allem ein Bürgerprojekt. Wir müssen schon den Mut haben, zu sagen: Okay, vielleicht waBarbara Lanzinger ren wir hier zu schnell. Nehmen wir uns die Zeit, um die Bürger an der Energiewende teilhaben zu lassen, und erklären wir ihnen das Warum und Wieso, damit sie verstehen können, wie wichtig der Bau einer Stromtrasse ist. - Anscheinend haben wir das alle so nicht gemacht. ({5}) - Das gilt auch für Sie. Nehmen wir die Bürger mit durch eine offene und transparente Diskussion über Alternativen zu den Freileitungen. Zum Thema Erdverkabelung sei in diesem Zusammenhang nochmals gesagt: Lügen wir uns doch nicht selber in die Tasche! Auch hier gilt Klartext. Erdkabel sind nicht so einfach unter die Erde zu buddeln. Es sind riesige Erdbewegungen und riesige Abstände nötig. Wer behauptet, Erdkabel seien 1,6-mal so teuer, dem sage ich: Sie sind mindestens achtmal so teuer wie Freileitungen. Das müssen wir den Leuten sagen. Das Ganze war damals wohl auch nicht so akzeptiert. Wir brauchen deshalb auch eine Gesetzesänderung. Wie bei vielen Großprojekten und starken Eingriffen in die Natur, in das Eigentum der Menschen und eventuell in die Gesundheit kann ein erfolgreicher Netzausbau nur im Konsens mit der Bevölkerung und den Kommunen und nicht über deren Köpfe hinweg mit viel Sensibilität gelingen. Es ist unprofessionell, wenn man glaubt, wie beim Netzbetreiber Amprion geschehen, es genüge, vor ein paar Hundert Menschen die Trassenführung vorzustellen, und sich dann wundert, wenn alle brüllen. ({6}) Das geht so nicht. Auch deshalb, denke ich, sollten wir einfach noch einmal überlegen. Wir brauchen glaubwürdige Bürgerdiskussionen bzw. Bürgerdialoge. ({7}) Gerade wegen dieser Brisanz würde ich mich freuen, wenn die Bundesregierung gemeinsam mit der Bundesnetzagentur und den Netzbetreibern Kriterien für bürgerfreundliche und konstruktive Dialoge aufstellt. Wir setzen darauf, durch Transparenz Akzeptanz zu schaffen. Vielen Dank. ({8})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Florian Post für die SPDFraktion. ({0})

Florian Post (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004379, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wahnsinnig leid haben mir in den letzten Tagen einige Abgeordnete der Unionsfraktion getan, nämlich die Gruppe der CSU-Bundestagsabgeordneten. Ich möchte nur einige Überschriften aus der Presse der letzten Tage zitieren: „Seehofers Amoklauf“, schreibt die Frankfurter Rundschau. „Crazy Horst landet Volltreffer“, schreibt die taz. „Seehofers aberwitzige Energiewende“ ist in der Berliner Zeitung zu lesen. Und selbst ein Minister aus dem Kabinett Seehofers wird mit den Worten zitiert: Seehofer verliert im Moment nicht an Macht, sondern an Respekt. ({0}) Mit der Forderung nach einem Stopp des Netzausbaus hat Ihr Parteivorsitzender mal wieder eine seiner atemberaubenden Wendungen vollzogen. Er stellt damit einen Beschluss infrage, den er selbst mit zu verantworten hat. Ich denke, Herr Kollege Holmeier - Sie haben gerade gesprochen -, Sie haben im Juni vergangenen Jahres dem Bundesbedarfsplangesetz ebenfalls zugestimmt. Aber nicht nur die CSU-Abgeordneten im Bundestag haben zugestimmt, sondern auch die Bayerische Staatsregierung im Bundesrat. Verehrte Kolleginnen und Kollegen von der CSU, wie erklären Sie eigentlich den Bürgern vor Ort, warum Sie und Ihre CSU-geführte Staatsregierung - auch Ihr Parteivorsitzender - damals zugestimmt haben und nun von dieser Zustimmung wieder abrücken? Welche Antwort haben Sie darauf, wie der Ausstieg aus der Atomenergie ohne den nötigen Netzausbau gelingen kann? Worum geht es hier eigentlich? Wir haben uns - mit breiter Zustimmung in der Bevölkerung - dazu entschieden, als erstes Industrieland aus der Atomenergie auszusteigen. Das ist zentraler Bestandteil des Mammutprojekts Energiewende. Aber das funktioniert nicht, indem wir fordern, dass alles bleibt, wie es ist. Dafür sind Anstrengungen notwendig, gerade in Bayern, da sich dort der Anteil am Atomstrom noch auf circa 50 Prozent beläuft. Eine dieser Anstrengungen wird sein, dafür zu sorgen, dass wir Strom, den wir jetzt schon durch Windkraft im windreichen Norden erzeugen können, in den Süden transportieren. Dafür brauchen wir ein Netz, das dies leisten kann. Darüber waren sich im Sommer noch alle einig. Auch von Ministerpräsident Seehofer kam kein vernehmbarer Widerspruch. Sorgen von Bürgern müssen ernst genommen werden, und der Netzausbau muss so verträglich wie möglich gestaltet sein. ({1}) Abstandsregelungen von Leitungen zu Wohngebieten müssen eingehalten werden. Natürlich geht es auch um transparente Aufklärung der Bürgerinnen und Bürger. Ich bin in diesem Zusammenhang dem Kollegen Uli Grötsch sehr dankbar, dass er gestern einen Vertreter des Übertragungsnetzbetreibers Amprion in die bayerische Landesgruppe eingeladen hat. Von den bayerischen SPD-Abgeordneten wurde dies mehr als deutlich angemahnt. Es ist legitim, dass Bundesländer ihre Interessen vertreten. Das ist nichts Neues und keine bayerische Erfindung. Das machen die SPD-geführten Bundesländer ge1046 nauso. Dass aber auf populistische Weise angesichts der schubweise auftretenden Stimmungsschwankungen des bayerischen Ministerpräsidenten ({2}) das gesamte Projekt der Energiewende gefährdet wird, schadet nicht nur dem Projekt, sondern in zunehmender Weise dem Industriestandort Bayern. Das sage nicht nur ich; das sagt auch der Hauptgeschäftsführer der Industrie- und Handelskammer für München und Oberbayern, Peter Driessen, der in der Vergangenheit nicht durch sozialdemokratische Umtriebe aufgefallen ist. ({3}) Kollege Hubertus Heil hat daher recht, wenn er Ministerpräsident Seehofer als wirtschaftspolitischen Kamikazen und Störfall der Energiewende bezeichnet. ({4}) Seehofer argumentiert nun, durch das EEG-Eckpunktepapier wäre die Geschäftsgrundlage für erteilte Zustimmungen entfallen. Das zieht nicht. Neue Fördersätze und ein neues Fördersystem verändern doch nicht die energiepolitischen Ausgangsbedingungen. Vielmehr wird versucht, die Kostendynamik des Ökostromausbaus zu bremsen. Herr Holmeier, Sie haben gerade gesagt, wir sollten in aller Ruhe den Gesetzentwurf zur Novellierung des EEG abwarten. Ihr Ministerpräsident und Parteivorsitzender erklärt aber schon die Geschäftsgrundlage für entfallen, wenn ein EEG-Eckpunktepapier vorliegt. Das passt doch hinten und vorne nicht zusammen. ({5}) Sowohl die Bundeskanzlerin als auch der Bundesminister für Wirtschaft und Energie haben sich zum geforderten Moratorium von Horst Seehofer in den letzten Tagen eindeutig und einmütig geäußert. Ich weiß auch, dass hier in den Reihen der CSU viele sitzen, die Energiepolitik ernsthaft betreiben wollen und von ihrem eigenen Parteivorsitzenden geradezu hängen gelassen werden. Horst Seehofer muss klar sein: keine Windräder in Bayern dank seiner 10H-Regelung, Forderung nach einem Moratorium für Stromtrassen; sein groß angekündigter Bayernplan „Biogas“ wird von den eigenen Ministerien zerfetzt; er ist gegen alles, was irgendwo von irgendwem irgendwann Protest auslösen könnte dann aber noch zu behaupten, dass man zur Energiewende steht, ist ungefähr so, als wenn ich die Existenz der eierlegenden Wollmilchsau bejahen würde. Ich denke, Ministerpräsident Seehofer glaubt selber, dass er diese in puncto Energiewende gefunden hat. Danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({6})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Post, das war Ihre erste Rede im Deutschen Bundestag. Herzlichen Glückwunsch zur Absolvierung Ihrer Rede, fast in der vorgesehenen Redezeit! Für Ihre weitere Arbeit wünschen wir Ihnen viel Erfolg. ({0}) Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege Thomas Bareiß das Wort.

Thomas Bareiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003734, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Liebe Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lieber Herr Post, auch von meiner Seite herzlichen Glückwunsch zu Ihrer ersten Rede, auch wenn wir noch ein bisschen üben müssen, wo denn hier im Hause der Freund und wo der Feind steckt. ({0}) Aber das kriegen wir in den nächsten Wochen auch noch hin; davon bin ich überzeugt. Zu Beginn ist mir ein Punkt sehr wichtig. Wir sollten zur Kernfrage der Grünen zurückkommen, nämlich zu der Frage, wie die Bundesregierung zum Leitungsausbau steht. Diese Debatte hat gezeigt, dass sich die Bundesregierung und beide Koalitionsfraktionen klar und deutlich zum Leitungsausbau bekennen ({1}) und diesen in den nächsten Jahren auch Stück für Stück voranbringen. ({2}) Das hat auch diese Debatte gezeigt. Wir werden aber in allen Regionen, in allen gesellschaftlichen Gruppen Akzeptanzprobleme bekommen; wir haben sie auch schon. Deshalb müssen wir meines Erachtens sehr sensibel mit diesem Thema umgehen. Da möchte ich die Kolleginnen und Kollegen der Grünen ein bisschen um Demut und leisere Töne bitten. ({3}) Ich habe hier ein Beispiel aus Bayreuth - eines von vielen-, wo es in der Lokalpresse folgende Überschrift gab: „Zwischen CSU und Grüne passt kein Blatt Papier“. ({4}) Die Grünen sind also vor Ort dabei, wenn es darum geht, den Ausbau mancher Leitungen infrage zu stellen und kritische Fragen zu stellen, wenn es um den Netzausbau geht. Alle, die Energiepolitik betreiben und vor Ort aktiv sind, erleben, dass es zwar eine hohe Zustimmung zur Energiewende gibt; über 70 Prozent der Menschen in unserem Land halten die Energiewende für richtig. Wenn es aber darum geht, die Energiewende vor Ort umzusetzen, dann gibt es oft große Fragezeichen, dann müssen wir für Akzeptanz kämpfen. Da stehen wir alle zusammen in der Verantwortung. Verantwortung tragen auch die Unternehmen - die Kollegen der CSU haben das angesprochen -: Amprion, TenneT, TransnetBW und 50Hertz müssen vor Ort sensibel mit den Gefühlen und Sorgen der Menschen umgehen, müssen transparente Verfahren wählen und vor allen Dingen auch die kommunalen Mandats- und Amtsträger mitnehmen und sie vorher informieren, ({5}) weil sie den Ausbau der Leitungen vor Ort Stück für Stück begleiten müssen. Aber auch hier im Hohen Haus muss von allen Fraktionen mehr Verantwortung übernommen werden. Wir dürfen uns nicht herausreden, indem wir sagen, der Netzbau sei vollkommen überdimensioniert; das habe ich auch heute wieder gehört. Manche sagen, dass wir Offshorewindkraftanlagen und deshalb auch den Netzausbau gar nicht brauchen. Ich finde es immer ganz abstrus, wenn es heißt: Der Braunkohlestrom verstopft die Netze, und solange Braunkohlestrom in die Netze fließt, brauchen wir keine neuen Leitungen. - Diese Argumentationen werden vor Ort keine Akzeptanz für den Netzausbau bringen. Deswegen müssen wir aufpassen, wie wir vor Ort auftreten. Meine Damen und Herren, wir müssen den Energiekonsens, den wir immer wieder besprochen haben, auch in die Tat umsetzen. Wir können nicht immer nur darüber sprechen, wo wir aussteigen wollen, sondern müssen auch darüber sprechen, wo wir einsteigen wollen. Wir brauchen neue Leitungen, wir brauchen Windräder, auch in Baden-Württemberg und Bayern. ({6}) Wir brauchen aber auch hocheffiziente Kohlekraftwerke, um die Schwankungen in den Zeiten auszugleichen, in denen wir nicht genügend Strom aus Wind und Sonne haben. Hier brauchen wir einen breiten Energiekonsens, den ich in diesem Hause leider nicht überall erkennen kann. ({7}) Sie von den Grünen haben sich immer weggeduckt, wenn es darum ging, den entsprechenden Gesetzen in diesem Haus zuzustimmen, um den Leitungsausbau voranzubringen; daran haben sich vorhin einige nur nicht mehr ganz so erinnert. ({8}) Sie haben dem NABEG nicht zugestimmt. Dem Bundesbedarfsplan, bei dem wir gemeinsam versucht haben, den Bedarf beim Leitungsausbau zu ermitteln, und bei dem wir gesagt haben, dass wir den Leitungsausbau Stück für Stück umsetzen wollen, haben Sie auch nicht zugestimmt. Immer wenn es ernst wurde, haben Sie sich weggeduckt. Politik braucht Glaubwürdigkeit. Wenn wir glaubwürdig sein wollen, dann müssen wir den Menschen nicht nur erklären, wie wir es machen. Wir müssen nicht nur transparent sein, sondern auch erklären, warum wir die Leitungen brauchen. Wir brauchen diese Leitungen, weil wir in den nächsten zehn Jahren Stück für Stück sechs Kraftwerke mit enormen Kapazitäten im Süden unseres Landes verlieren werden, gerade in leistungsstarken Zentren des Südens, wo viel Industrie ist, wo viele Wirtschaftsunternehmen angesiedelt sind. ({9}) Im Norden werden wir in den nächsten Jahren extrem in den Ausbau von Windkraft investieren. Allein Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern planen einen Zubau von jeweils 8 Gigawatt, Niedersachsen 14 Gigawatt, Schleswig-Holstein 13 Gigawatt. In den nächsten zehn Jahren werden wir allein im Norden einen Zubau von 43 Gigawatt haben. Das bedeutet eine enorme Transformation im Rahmen unserer Energieversorgung. Wir müssen den Norden mit dem Süden verbinden. Deshalb brauchen wir die Leitungen dringender denn je. Wir müssen gemeinsam für den Bau dieser Leitungen kämpfen. Das können wir nur mit den Bürgern machen und nicht gegen die Bürger. Deshalb fordere ich alle auf, dieses Projekt mitzugestalten. Herzlichen Dank. ({10})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Die Aktuelle Stunde ist damit beendet. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf: Beratung des Antrags der Bundesregierung Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der EU-geführten Ausbildungsmission EUTM Mali auf Grundlage des Ersuchens der malischen Regierung sowie der Beschlüsse 2013/34/GASP und 2013/87/GASP des Rates der Europäischen Union ({0}) vom 17. Januar 2013 und vom 18. Februar 2013 in Verbindung mit den Resolutionen 2071 ({1}), 2085 ({2}) und 2100 ({3}) des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen Drucksache 18/437 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss ({4}) Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Verteidigungsausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Vizepräsidentin Petra Pau Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Haushaltsauschuss gemäß § 96 der GO Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Bevor ich die Aussprache eröffne, warte ich, bis die notwendigen Umgruppierungen in den Fraktionen abgeschlossen sind. Liebe Kolleginnen und Kollegen - das gilt fraktionsübergreifend -, ich bitte diejenigen, die an der folgenden Debatte nicht mehr teilhaben können oder wollen, uns trotzdem zu ermöglichen, hier fortzufahren und die notwendigen Gespräche gegebenenfalls außerhalb des Plenarsaals zu führen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Bundesministerin der Verteidigung, Dr. Ursula von der Leyen. ({5})

Dr. Ursula Leyen (Minister:in)

Politiker ID: 11004092

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Bundeswehr ist seit etwa 20 Jahren bei Einsätzen in Afrika dabei. In den vergangenen Tagen habe ich an verschiedenen Stellen für unser Engagement in Afrika geworben. Daraufhin hat manch einer reflexhaft einen Einsatz in Afrika mit einem Kampfeinsatz gleichgesetzt, entweder weil er es nicht besser weiß oder aber weil er nicht wahrhaben will, was die Einsätze der Bundeswehr tatsächlich beinhalten. Bei der großen Mehrheit der Einsätze - das betrifft übrigens alle Einsätze auf afrikanischem Boden - engagiert sich die Bundeswehr als Teil der internationalen Gemeinschaft. Es sind Einsätze für Ausbildung, Training, Aufbau guter Regierungsführung und staatlicher Institutionen. Die Leistungen unserer Soldatinnen und Soldaten sind in Afrika hoch angesehen, vor allem wenn es darum geht, wie dabei agiert wird, nämlich auf Augenhöhe. Diese Leistungen sollten wir nicht verdruckst beiseiteschieben; vielmehr sollten wir uns ihnen in einer öffentlichen Debatte widmen. Die Leistungen unserer Soldatinnen und Soldaten verdienen unsere Anerkennung. ({0}) Afrika bietet ein zwiespältiges Bild. In einigen Regionen erleben wir wirtschaftlichen Aufschwung, sinkende Armut und politische Stabilität. Daneben gibt es andere Regionen mit Bürgerkriegen und unfassbaren Verbrechen, Flüchtlingsströmen, Hunger und Not. All diese Probleme stehen meist in einem ganz direkten Zusammenhang. Manche dieser Probleme sind nicht nur „afrikanische“ Probleme, sondern auch Folge dessen, wie wir als hochindustrialisierte Nationen leben, und auch Folge dessen, wie europäische Kolonialherren Grenzen quer durch Ethnien gezogen haben. Diese Probleme verstärken sich gegenseitig und drohen von einem Staat auf den anderen überzuspringen. Die Auswirkungen dieser Konflikte sind verheerend für die Menschen in der Region. Wir spüren sie bis nach Europa. Neben der Tatsache, dass Europa durchaus seinen Anteil am Ursprung dieser Konflikte hat, gibt es einen zweiten Aspekt, den ich unter dem Begriff der Verantwortung für das Handeln, aber auch für das Nichthandeln festmachen möchte. Wir haben nicht vergessen: Vor 20 Jahren kam es in Ruanda zu einem der schrecklichsten Völkermorde in der afrikanischen Geschichte mit etwa 1 Million Toten. Vor 15 Jahren sind im Kongo bis zu 3 Millionen Menschen in einem blutigen Bürgerkrieg abgeschlachtet worden. Beide Tragödien, Ruanda und Kongo, fanden vor den Augen der Welt, unter den Augen der Vereinten Nationen statt. Die Welt zeigte sich unfähig, gelegentlich auch unwillig, zu handeln. Das heißt nicht, dass Handeln immer die einzige richtige Option ist. Aber es zeigt eben auch, dass zu langes Abwarten auch seine Folgen hat. Am Jahresende 2012 drohten Mali und seine fast 14 Millionen Einwohner zum Opfer radikalislamistischer Terroristen zu werden. Die malische Bevölkerung spricht heute noch von dem Albtraum, der damals über sie hereingebrochen ist. Was das bedeutet hätte, zeigte sich in den Städten, die innerhalb kürzester Zeit von Terrorgruppen eingenommen worden sind: Gewalt gegen Tausende Menschen und Vertreibung, Zerstörung einzigartiger Kulturgüter und Barbarei. Timbuktu und Gao boten ein Bild der Verzweiflung: Frauen sind gesteinigt worden; Menschen, die gestohlen haben, sind die Gliedmaßen abgehackt worden. Das waren „probate“ Mittel bei Bestrafung. Liebe Kolleginnen und Kollegen, es war das beherzte Eingreifen Frankreichs, das weiteres Vordringen der terroristischen Gruppen verhindert hat. Es rettete die Existenz Malis. Genau so sagt es die malische Bevölkerung heute immer wieder. Frankreich hat damals viel riskiert. Es hat Gefallene zu beklagen. Frankreich hat damals aber auch das Zeitfenster für das Engagement eines breiten Bündnisses von Staaten aus Afrika, Europa und anderen Teilen der Welt geöffnet, die Mali beim Wiederaufbau stabiler staatlicher Strukturen helfen. Anders als in Afghanistan finden wir in Afrika supranationale Strukturen vor, auf denen wir aufbauen können, zum Beispiel die Afrikanische Union, zum Beispiel ECOWAS. Wie Sie wissen, waren wir in der letzten Woche mit einigen Kolleginnen und Kollegen in Mali, um uns einen Überblick über die Mission zu verschaffen. Uns wurde dabei sehr deutlich: Mali erholt sich, der Wiederaufbau schreitet voran. Eine demokratische Wahl hat stattgefunden. Es gibt eine junge Regierung, die den Aufbau einer stabilen Regierung verfolgt. Die NGOs vor Ort versichern uns nicht nur, dass in Teilen des Landes die Wirtschaft langsam wieder Tritt fasst, sondern auch, dass sie ihre Arbeit in Teilen des Landes wieder aufnehmen können, aus denen sie geflohen sind, zum Beispiel in Gao. Ich kann nur sagen, dass ich Hochachtung empfinde, wenn ich sehe, wie hart die Menschen in Mali an ihrer Zukunft arbeiten. ({1}) Das Land und seine Menschen sind sehr selbstbewusst. Sie wollen ihr Schicksal selber in die Hand nehmen. Das war eine der Hauptnachrichten, die uns der Präsident von Mali in unseren Gesprächen mitgeteilt hat. Aber er hat ebenso deutlich angesprochen, dass Mali immer noch Hilfe braucht, dass, um einen nachhaltigen Erfolg zu erzielen, die Anwesenheit der internationalen Gemeinschaft weiterhin notwendig ist. Das heißt für unseren Bereich, den militärischen Bereich, dass die Ausbildung der malischen Streitkräfte weiter geleistet werden muss. Die existenzielle Gefahr für Mali, die 2012 akut bestand, ist im Augenblick gebannt. Aber es gibt im Norden noch Landesteile, in denen die Sicherheitslage sehr angespannt ist. Auch die humanitäre Lage in diesen Teilen ist besorgniserregend. Deshalb ist auch von entscheidender Bedeutung, dass der Versöhnungsprozess, eine Grundbedingung der Vereinten Nationen, die dort mit ihrer Mission sind, fortschreitet. Er ist bei weitem noch nicht so weit gediehen, dass wir von einer echten, dauerhaften Annäherung von Nord und Süd sprechen könnten. Deshalb ist es auch so wichtig, dass wir weiterhin dafür sorgen, dass die Voraussetzungen gegeben sind, dass alle Gruppen an den Verhandlungstisch kommen und dass die Entwaffnung der Aufständischen beschleunigt wird. Das ist die einzige Möglichkeit, um ein offenes Zeitfenster und damit eine Voraussetzung für einen dauerhaften Frieden zu schaffen; dieser könnte daraus resultieren. Mali ist für uns mit seiner EUTM-Mission ein Schwerpunkt in Afrika. Wir wollen diesen Schwerpunkt intensivieren. Das bedeutet mehr Engagement. Daher wird die Bundesregierung die Mandatsgrenze von EUTM auf 250 Soldatinnen und Soldaten anheben und bitten, dieses Mandat hier im Bundestag auszugestalten und anzunehmen. Dies gibt der Bundeswehr die Möglichkeit, die Ausbildung der malischen Armee fortzusetzen und die Beratungsleistungen für das Verteidigungsministerium und die Führungsstäbe zu erweitern. Es gibt die Möglichkeit, dass Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr im Rahmen der Mission Sicherungsaufgaben zum Schutz der Mission selbst übernehmen. Wir konnten uns selber davon überzeugen, dass die Bundeswehr die sanitätsdienstliche Versorgung für die Mission bereitstellt, übrigens selbstverständlich auch für die malischen Streitkräfte. Ich möchte an dieser Stelle noch einmal betonen, dass ein Mentoring, also eine direkte Unterstützung der militärischen Operationen im Land, in dem Mandat ganz klar ausgeschlossen ist. Vor diesem Hintergrund kommt Mali in der Art und Weise, wie wir an die Dinge herangehen, eine Vorreiterrolle zu. Unser Ziel im vernetzten Ansatz muss sein, dass Afrika für seine Sicherheit und Stabilität selbst sorgen kann. Das will es auch. Solange das noch nicht ohne Weiteres aus eigener Kraft geht, müssen wir helfen, es dazu in die Lage zu versetzen. Dass das möglich ist, zeigt ein beeindruckendes Einzelbeispiel. Jean Bosco Kazura ist Offizier der Streitkräfte Ruandas. Er hat vor 20 Jahren erlebt, was die Gräueltaten im Konflikt zwischen Hutu und Tutsi angerichtet haben. Heute ist er Generalmajor, und er ist der Kommandeur der VN-Mission MINUSMA zur Stabilisierung in Mali. Er hat nicht vergessen, wie verzweifelt die Ausgangslage vor 20 Jahren in Ruanda gewesen ist und wie es dazu gekommen ist, aber er hat auch nicht vergessen, was man mithilfe der Staatengemeinschaft und dann auch aus eigener Kraft erreichen kann. Es ist nur die Geschichte eines Einzelnen, aber ich bin der festen Überzeugung, dass Afrika mehr solcher Geschichten braucht. Vielen Dank. ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Niema Movassat für die Fraktion Die Linke. ({0})

Niema Movassat (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004114, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Bundesregierung hat in den letzten Tagen weitreichende außenpolitische Veränderungen angekündigt, und unter diesem Aspekt ist auch das hier diskutierte Bundeswehrmandat für Mali zu sehen. Sie, Frau von der Leyen, und Herr Steinmeier haben wie sogar der Herr Bundespräsident dieser Tage oft von der deutschen Verantwortung gesprochen. Verantwortung ist nichts Verwerfliches. Sie meinen damit aber schlicht: mehr deutsche Soldaten ins Ausland. Sie nutzen den Begriff der Verantwortung, um die Öffentlichkeit auf mehr Bundeswehreinsätze vorzubereiten. Das ist verantwortungslos. ({0}) Der Erste Weltkrieg jährt sich dieses Jahr zum 100. Mal. Das sollte zumindest ein Grund sein, darüber nachzudenken, wohin Krieg, wohin Intervention und wohin der Einsatz militärischer Gewalt am Ende führen können. Es gibt keine Verantwortung, mehr Soldaten zu entsenden und sich immer öfter an Kriegen zu beteiligen. ({1}) Der ehemalige CDU-Bundestagsabgeordnete Jürgen Todenhöfer schrieb vor wenigen Tagen: Was um Himmels willen will Ursula von der Leyen in Zentralafrika und Mali? Ja, Deutschland muss mehr Verantwortung in der Welt übernehmen. Aber nicht für Rohstoffkriege, sondern für den Frieden. Wenn Sie schon nicht der Linken glauben, dann glauben Sie wenigstens Ihrem Parteifreund! ({2}) Schauen wir uns das Mandat und die Lage in Mali einmal genauer an! Die Bundesregierung schreibt in ihrem Antrag: Europäischen Partnernationen wird zudem der notwendige Raum gegeben, um ihre Beiträge - in Afrika neu zu priorisieren. Ich übersetze: Die Bundeswehr bildet malische Soldaten aus. Das ist natürlich kein Krieg; aber mit diesem Einsatz wollen Sie explizit den Franzosen den Rücken freihalten, die in Mali Krieg führen. Das ist also Beihilfe zum Krieg - was genauso abzulehnen ist wie ein Kampfeinsatz selbst. ({3}) Es ist doch kein Geheimnis, dass Frankreich in Afrika handfeste Interessen hat. In Mali und der Region sind es zum Beispiel die Uranvorkommen, die für die französischen Atomkraftwerke unersetzlich sind. ({4}) Auch sonst verfügt Mali über zahlreiche Rohstoffe. Frankreich mit seiner fatalen Kolonialvergangenheit in Afrika ist bis heute tief verstrickt in viele blutige Konflikte um Rohstoffe und Einflusssphären. Es ist verantwortungslos, dass Sie das völlig ausblenden ({5}) und sich auf den Beifahrersitz Frankreichs setzen. ({6}) Aber das passt zu Ihrer neuen Strategie, in Afrika militärisch präsenter zu sein. ({7}) Aus Ihrer Sicht ist ein Einsatz in Mali wohl auch hilfreich, um die Bundeswehr auf künftige Einsätze in Afrika vorzubereiten. Dass militärische Lösungen keinen Erfolg bringen, zeigt die bisherige Bilanz des Einsatzes: Es hat nicht einmal ein Jahr gedauert, dass die Bevölkerung dem gerade noch umjubelten Papa Hollande mit größtem Misstrauen begegnet. Die Sicherheitslage in Mali hat sich nicht verbessert. Laut UN-Generalsekretär haben sich die terroristischen Gruppen lediglich neu organisiert. Die Zahl der Sprengstoffattentate nimmt zu. Viele Staatsdiener kehren trotz üppiger Zulagen nicht auf ihre Posten im Norden zurück: weil es zu gefährlich ist, weil sie Angst um Leib und Leben haben. ({8}) Zudem sind 400 000 Menschen auf der Flucht. Es droht eine Hungerkatastrophe, unter der bis zu 4 Millionen Menschen leiden müssten. ({9}) All das nimmt die Bundesregierung nicht einmal zur Kenntnis. Sie schwadroniert in ihrem Antrag gar von einer zunehmenden Verbesserung der humanitären Lage. Das nenne ich Realitätsverweigerung. ({10}) Die Bundesregierung schreibt, sie wolle die „territoriale Einheit“ und die Souveränität Malis sicherstellen. Das finde ich gut; aber da gibt es einige Fragezeichen: Nach der Rückeroberung von Kidal im Norden wurde die Region von den Franzosen nicht an die malische Regierung übergeben, sondern an die MNLA-Rebellen, also die Hauptverantwortlichen für die Krise, die ihren Hauptsitz in Frankreich haben. Mittlerweile hat die malische Regierung zwar endlich die Kontrolle; aber genaue Aufklärung über den gesamten Vorgang täte dringend not. ({11}) Frankreich verhandelt außerdem gerade ein Militärabkommen mit Mali: Die Franzosen wollen dauerhaft eigenständige Militäroperationen auf malischem Hoheitsgebiet durchführen. Die Kosten für verursachte Schäden soll Mali tragen. - Das ist ein Kolonialvertrag, wie er im Buche steht. Das geht gar nicht! ({12}) Ich möchte drei Forderungen formulieren als echten Beitrag einer deutschen außenpolitischen Verantwortung für Mali: Erstens. Verhindern Sie, dass Frankreich dieses Militärabkommen durchdrückt. Zweitens. Mit einem Militärbündnis Frankreich/Deutschland in Afrika setzen Sie den bislang guten Ruf Deutschlands und seiner Entwicklungszusammenarbeit in der Region leichtfertig aufs Spiel. Deshalb: Beenden Sie die deutsche Militärmission in Mali! Drittens. Stocken Sie die Mittel für humanitäre Hilfe, zivilen Friedensdienst und Entwicklungszusammenarbeit auf! Abschließend: Hören Sie auf, Verantwortung und Militäreinsätze gleichzusetzen! Die Menschen in Deutschland durchschauen dieses Spiel: Bei einer aktuellen Infratest-Umfrage haben 75 Prozent Nein zu mehr Militäreinsätzen der Bundeswehr gesagt. ({13}) Hören Sie darauf! Danke für die Aufmerksamkeit. ({14})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die SPD-Fraktion hat der Kollege Rainer Arnold das Wort. ({0})

Rainer Arnold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003029, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit Blick auf die Linken sage ich: Nicht die Franzosen, sondern wir Europäer haben ein gemeinsames Interesse an Stabilität und Sicherheit für die Menschen auf unserem Nachbarkontinent. ({0}) Die Franzosen haben aufgrund ihrer Geschichte in Afrika bestimmt eine größere Verantwortung; das ist wohl wahr. Eigentlich könnte Mali ein Lehrstück für die Politik sein, auch für die Linken. Die erste Lehre müsse eigentlich sein: Es rächt sich, wenn die Staatengemeinschaft zu lange zuschaut, während auf Tausenden von Kilometern im Norden eines Landes die Staatlichkeit kaputtgeht und kriminelle und terroristische Banden dort die Macht übernehmen. Dies holt uns ein; das hat uns Mali gelehrt. ({1}) Das Zweite, was man lernen kann, ist: Wer die legitimen Rechte von ethnischen Minderheiten im Land allzu lange unterdrückt, wird früher oder später Konflikte haben. Auch dies war in Mali durch die Tuareg letztendlich so. Die dritte Lehre: Wer selbstzufrieden in einem wohlhabenderen Teil eines Landes sitzt, wie in Mali im Süden, und achtlos mit den Problemen im Norden umgeht, wird sich am Ende nicht wundern dürfen, dass ihn die Probleme einholen. Ein Viertes muss man anhand von Mali auch lernen: Wenn wir so lange warten, bis sich fundamentale Islamisten am Ende auch aus kriminellem Interesse mit Minderheiten verbinden, die durchaus auch für legitime Rechte kämpfen, dann ist es zu spät für schöne Worte und Diplomatie. Eine Kollegin der Linken ist mit nach Mali gereist. Ich weiß nicht, wie man nach so einer Reise zu der Einschätzung kommen kann, in Mali hätte sich nichts verändert. Uns wurde dort von morgens bis abends nicht von einem deutschen Schreibtisch aus, sondern von Menschen, die in Mali leben und arbeiten, gesagt, wie froh sie über dieses internationale und französische Engagement sind und wie sehr sie dafür danken. Können Sie vielleicht einmal 30 Sekunden darüber nachdenken, ({2}) was passiert wäre, wenn Frankreich nicht fünf Minuten vor zwölf auch mit militärischer Gewalt übelsten menschenverachtenden Terroristen Einhalt geboten hätte, die auch noch den Süden unter ihre Macht bekommen wollten? ({3}) Was wäre heute mit den Menschen am Niger los? Können Sie darüber einmal ein bisschen nachdenken, ehe Sie hier solche Thesen behaupten? ({4}) Wir wissen aber auch: Militärische Gewalt wird die Probleme bei solchen Konflikten am Ende nicht lösen. Terroristen lassen sich nicht, wie im Krieg, durch eine Niederlage besiegen. Wir alle wissen, dass Diplomatie, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung von Menschenrechten nur durch das gemeinsame Eingreifen - auch von Militär und Polizei - erfolgreich erreicht werden können. Das gilt umso mehr in einem Land, in dem junge Menschen die Hälfte der Bevölkerung stellen. Mehr als die Hälfte der malischen Bürgerinnen und Bürger ist 15 Jahre alt oder jünger. Wenn die keine ökonomische Perspektive haben, dann hat man tickende Zeitbomben auf der Welt. Mein Rat ist dringend, die Thesen, dass die neue Bundesregierung einen Paradigmenwechsel will und plötzlich alles Militärische im Vordergrund steht, wenigstens einmal ein bisschen einzuordnen und darüber nachzudenken, was Sie hier behaupten. ({5}) - Hören Sie einfach einmal zu, Herr Kollege. An dieser europäischen Mission in Mali sind 23 europäische Länder beteiligt. Nicht die Deutschen retten die Welt, sondern hier sind 23 Partner mit 570 Soldaten aktiv. Deutschland stellt davon aktuell weniger als 100. Wie kann man sich denn darüber aufregen, dass man jetzt darüber diskutiert und nächste Woche darüber entscheidet, dass zu Ausbildungszwecken 70 Ausbilder mehr nach Mali entsendet werden sollen, damit die Menschen dort in Zukunft auch nachhaltig selbst mit ihren Problemen umgehen können? Wo ist hier der Aufreger? Das ist sinnvoll und vernünftig; das ist Hilfe zur Selbsthilfe. Ich will den Einsatz der Soldaten überhaupt nicht geringschätzen, aber uns wurde dort sehr deutlich gemacht: Ihr Deutschen tut mit relativ wenig Aufwand sehr Vernünftiges und könnt mit dieser Ausbildungsmission viel Positives bewirken. Schauen wir auf die andere Mission in Mali, die von den Vereinten Nationen geführt wird. Dort ist es ähnlich. Die Deutschen stellen drei Flugzeuge und halten zusätzlich ein Tankflugzeug bereit, das in Wirklichkeit gar nicht gebraucht wurde. 6 400 Soldaten aus den Nachbarstaaten Malis helfen den Menschen in diesem Land. Das heißt, Afrika ist schon auf einem spannenden Weg, da es plötzlich möglich ist, dass Nachbarstaaten intervenieren, um schlimmeres Leid zu verhindern. Es sind nicht die Deutschen, sondern es sind 6 400 afrikanische Soldaten, die dort in erster Linie für Stabilität sorgen.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Arnold, gestatten Sie eine Zwischenfrage oder Bemerkung des Kollegen Liebich?

Rainer Arnold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003029, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja, gerne.

Stefan Liebich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004093, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Kollege Arnold, Sie haben die kritischen Hinweise meines Fraktionskollegen zurückgewiesen. Nun hat sich auch Ihr ehemaliger Staatssekretär Walther Stützle zu der Politik geäußert, die die Bundesregierung gegenwärtig für Afrika plant. Er hat explizit mit Verweis darauf, was bei der Münchener Sicherheitskonferenz vorgetragen wurde, gesagt, dass es weniger Truppen und mehr politische Konzepte braucht. ({0}) Wie reagieren Sie denn auf diese Kritik? ({1})

Rainer Arnold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003029, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Was soll das, den Einsatz von militärischen Fähigkeiten und unser Engagement im zivilen Bereich immer gegeneinander aufzurechnen? Wir brauchen im Zweifelsfall von beidem mehr. Wir brauchen Engagement da, wo es notwendig ist. Wir brauchen da, wo Politik versagt, leider auch militärisches Engagement. Aber lassen Sie doch bitte einmal die Kirche im Dorf. Wie kommen Sie zu der These, dass Deutschland immer mehr Militär losschickt? In der Spitze hatten wir 10 000 Soldaten für internationale Einsätzen bereitstehen. Im Augenblick sind es 4 850 Soldaten insgesamt, und es werden weniger. Schauen Sie doch einmal, was in Afrika tatsächlich los ist. Zurzeit sind etwa 70 000 Soldaten in Friedensmissionen der Vereinten Nationen mit einem Gewaltmonopol, so wie wir es uns vorstellen, im Einsatz. Von diesen 70 000 Soldaten kommen circa 6 500 Soldaten aus Bangladesch, fast alle anderen sind aus der Afrikanischen Union. Knapp 100 deutsche Soldaten sind im Rahmen dieser zehn Missionen der Vereinten Nationen tätig. Diese 100 Soldaten waren bis vor wenigen Tagen zum Teil nicht einmal bewaffnet, nicht einmal zum Selbstschutz. Sie aber reden daher, als ob die Deutschen munter in Kriege nach Afrika ziehen wollen. ({0}) Das ist wirklich Unfug. Hören Sie doch mit dieser Halbwahrheit auf. ({1}) Sie ist schlimmer als die Lüge. ({2}) Diese Bundesregierung wird das Notwendige tun. Hier im Parlament gibt es keinen, den es zu mehr militärischem Engagement drängt, überhaupt niemanden. ({3}) Wir machen es uns doch bei jedem Einsatz schwer. Deshalb ist auch der Parlamentsvorbehalt gut und wichtig. Wir wissen aber auch: Es kann Situationen geben, in denen es ethisch nicht besser ist, wenn wir uns zurücklehnen und sagen: „Ohne uns!“, aber gleichzeitig in Kauf nehmen, dass unsere Partner in Europa und in der NATO diese Aufgaben erledigen. Es sind nicht deren Probleme, sondern es sind unsere gemeinsamen Probleme. So verstehe ich auch die notwendige Debatte. Mit der Rede des Bundespräsidenten ist sie nicht abgeschlossen, sie hat gerade begonnen. Es zeigt sich auch mit Blick auf ein paar Kollegen der CSU: Wir müssen sie auch innerhalb des Parlamentes führen. Aber sie ist gut und richtig. Wir werden am Ende feststellen, welche Interessen, welche Rolle und welche Verantwortung Deutschland in der Welt hat. Niemand wird es nach militärischen Interventionen drängen. Aber wir werden die Dinge im zivilen, militärischen, polizeilichen und staatlichen Bereich mit den Menschenrechten viel enger und besser verzahnen, als dies in der Vergangenheit der Fall war. Das ist ein ganz wichtiger Weg, den Sie doch eigentlich unterstützen müssten. Wir haben eine gemeinsame Verantwortung. Die Welt wird nicht besser, wenn Deutschland so tut, als ob Entscheidungen von der EU, von der NATO oder von den Vereinten Nationen über uns kommen, einfach so, sondern Deutschland muss sich in der öffentlichen Debatte ehrlich machen. Die EU sind auch wir, die NATO sind auch wir. Wir haben eine Verpflichtung und ein nationales, wohlverstandenes Interesse, Prozesse und Entscheidungen in internationalen Organisationen mitzugestalten. ({4}) Dieses Engagement zu verstärken, das ist ein gewisser Paradigmenwechsel. Er ist notwendig. Er ist am Ende gut und richtig: für Deutschland, für Europa und, wie ich denke, ein Stück weit für die Welt. Damit erheben wir nicht den Anspruch, dass wir Deutschen die Welt retten, sondern dass wir ein kleines, aber angemessenes Rädchen im Gefüge der Staatengemeinschaft sind. Herzlichen Dank. ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Zu einer Kurzintervention hat die Kollegin Christine Buchholz das Wort.

Christine Buchholz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004022, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Da mich bzw. uns der Herr Kollege Arnold direkt angesprochen hat, möchte ich die Gelegenheit nutzen, an dieser Stelle Position zu beziehen. Ich war genauso wie Sie in der letzten Woche mit der Ministerin in Mali. Sie haben mir bzw. dem Kollegen Movassat vorgeworfen, er würde die Realitäten und das, was uns Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner in Mali gesagt haben, nicht zur Kenntnis nehmen. Ich möchte zunächst feststellen: Es wirft ein Schlaglicht auf die Art und Weise, wie offizielle Reisen dieser Delegation vorbereitet werden, wenn man sich nur mit den Menschen trifft, die ein Bild der Situation in dem Land zeichnen, wie man es selbst erwartet. Teil dieser Reise waren keine Gespräche mit Oppositionellen in Mali, beispielsweise mit Persönlichkeiten wie der ehemaligen Kulturministerin Aminata Traoré, die dem militärischen Engagement des Westens und der afrikanischen Staaten in Mali sehr wohl kritisch gegenübersteht. Wir haben auch nicht mit den Initiativen gesprochen, die sich vor Ort gegen die Ausbeutung der Uranvorkommen in Mali und die Interessenpolitik der westlichen Staaten zur Wehr setzen. Von daher weise ich die pauschale Kritik an dem Beitrag meines Kollegen zurück, weil wir den Blick tatsächlich weiter ausrichten auf das, was auch die offizielle Politik in Mali ist. Als zweiten Punkt möchte ich meinen Kollegen absolut unterstützen. Im Zentrum standen nicht die problematischen Entwicklungen in Mali selbst. Nicht angesprochen wurde die prekäre Nahrungsmittelsituation, die der Kollege Movassat beschrieben hat, aber auch nicht die Situation der Flüchtlinge. In den Nachbarländern sind weiter 160 000 Flüchtlinge, die nicht zurückkommen. Er hat auch beschrieben, dass es sehr schwierig ist, die Binnenflüchtlinge zurückzuführen. Das ist die Aufgabe. Verantwortung würde tatsächlich bedeuten, dies ins Zentrum zu stellen. Von daher bitte ich Sie, nicht unredlich den Kollegen gegen mich auszuspielen, sondern auch die Eindrücke, von denen Sie meinen, dass sie die komplette Realität in Mali zeigen, zu hinterfragen und zu sehen, ob es nicht auch andere Realitäten gibt, die Sie zur Kenntnis nehmen könnten. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Zur Entgegnung hat der Kollege Arnold das Wort.

Rainer Arnold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003029, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Kollegin Buchholz, Sie waren mit dabei. Es ist wahr, dass überall in den Gesprächen, die wir geführt haben, deutlich gesagt wurde, wie wichtig das Engagement ist und dass die Sicherheitslage in weiten Bereichen des Nordens besser ist, dass ein großer Teil der Flüchtlinge, wenn nicht alle, zurückgekommen ist und dass in Mali Armut herrscht, aber zum Glück niemand verhungert. Ich sage damit nicht: Es ist alles gut in diesem Land. Nichts ist gut, wenn man strenge Maßstäbe anlegt und es mit uns vergleicht. Aber für die Verhältnisse in Afrika war Mali viele Jahre lang eigentlich eher auf einem positiven Weg, auch im Bereich der Entwicklung der Demokratie. Die Aufständischen im Norden haben dies alles zerstört. Fest steht doch: Ohne das internationale Engagement wäre das auch im Süden endgültig zu Bruch gegangen. Wir hätten einen Failing State, der Rückzugsraum für Terroristen, Kriminelle und Menschen wäre, die die Scharia weiter verbreiten wollen. Dieser Staat hätte dies geboten. Sie müssen sich und uns die Frage beantworten: Wäre dies allein mit freundlichen und guten Worten und den Mitteln der Diplomatie zu verhindern gewesen? Ich sage Ihnen: Nein. Wer so brutal und gewalttätig ist, wie wir es in Nordmali erlebt haben, der hört nicht auf gut gemeinte Ratschläge. Dem muss man sich leider auch mit Waffengewalt entgegenstellen. Mich hat sehr beeindruckt, was Erhard Eppler uns vor vielen Jahren auf einem Parteitag gesagt hat: Wer militärische Gewalt anwendet - Deutschland wendet in Mali gar keine an; das wurde schon angesprochen -, macht sich möglicherweise auch ein Stück weit schuldig. Wer sie aber nicht anwendet, obwohl er damit etwas verhindern könnte, muss sich fragen, ob er sich damit nicht auch schuldig macht. ({0}) Frau Buchholz, Sie tun mir unrecht. Sie waren während der Reise eine konstruktive, kollegiale Mitreisende, ohne Wenn und Aber. Sie sind von dieser Reise zurückgekommen und haben sinngemäß in die Blocks der Journalisten diktiert: Die deutschen Soldaten sind nicht dort, um die malischen Soldaten auszubilden, sondern eigentlich deshalb, um sich selbst zu trainieren, um weiter afrikanische Kriege führen zu können. - So stand es in der Presse. Ich finde es eine Ungeheuerlichkeit. Das meine ich auch damit, dass jemand die Augen verschließt, wenn er eine solche Reise macht. Unrecht tun Sie mir aus folgenden Gründen, Frau Kollegin Buchholz: Erstens hatten wir auf dieser Reise auch Gelegenheit, mit anderen Sichtweisen konfrontiert zu werden, zum Beispiel auf der Terrasse beim Botschafter, wo auch Vertreter von Nichtregierungsorganisationen anwesend waren. Zweitens, Frau Kollegin, war es nicht meine erste Mali-Reise, und im dortigen Büro der Friedrich-EbertStiftung haben wir außerordentlich gutes Personal, das das Land kennt und uns inhaltlich, was die Situation angeht, gut zuarbeitet. Ich habe auch mit Vertretern von vielen Nichtregierungsorganisationen in Deutschland und in Mali sprechen können. Unter dem Strich kann man zu keiner anderen Erkenntnis kommen, als dass das Stoppen der Terroristen - auch mit militärischen Mitteln - notwendig war, dass die Situation zum Glück umgekehrt wurde und dass Mali nun auf dem Weg der Besserung ist, dass es aber noch viele Jahre dauern wird, bis in Mali eine tragfähige und gute Stabilität, die auch wirtschaftliche Chancen bietet, entsteht. Übrigens hat Mali kein Uran. Gegenteilige Behauptungen sind nichts anderes als ein Märchen. Mali hat Gold, aber kein Uran. ({1}) Sie sollten nicht einfach Behauptungen übernehmen und in den Raum stellen, die überhaupt nicht zutreffen. Herzlichen Dank. ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat die Kollegin Agnieszka Brugger das Wort.

Agnes Malczak (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004106, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir führen gerade eine intensive öffentliche und teilweise auch aufgeregte Debatte über den außenpolitischen Kurswechsel der neuen Bundesregierung. Frau Ministerin von der Leyen, ganz so unbeteiligt, wie Sie und die Koalitionsfraktionen das dargestellt haben, sind Sie daran nicht; denn Sie sind zum Teil mit sehr unglücklichen Formulierungen und auch vielen Schlagworten in diese Debatte gegangen. Das wurde eben so verstanden, als ob es um „Mehr Militäreinsätze in Afrika“ ginge und dass das sicherheitspolitische Ruder abrupt herumgerissen werden sollte. Sie führen diese Diskussion auch, ohne die Abgeordneten des Bundestags einzubeziehen. ({0}) Wie man den Medienberichten entnehmen kann, stoßen Sie damit auch in den eigenen Reihen, in den Reihen der Unionsfraktion, auf Unmut. Und ich finde: völlig zu Recht. Sie gehen die Dinge nämlich auch in der falschen Reihenfolge an. Die Regierung, also Sie, der Außenminister und der Minister für Entwicklungszusammenarbeit, muss sich doch zunächst auf Ziele und ein Gesamtkonzept einigen. Erst wenn Sie sich darüber im Klaren sind, sollten Sie damit ins Parlament und die Öffentlichkeit gehen und darüber diskutieren. So sieht eine kohärente Politik aus. ({1}) Diese aufgeregte Debatte verhindert aber auch, dass wir uns fundiert mit den spezifischen Konflikten, ihren Ursachen und ihren Lösungen beschäftigen. Meine Damen und Herren, heute debattieren wir zum zweiten Mal über die Beteiligung der Bundeswehr an der europäischen Ausbildungsmission in Mali. Ziel ist es, die malischen Streitkräfte langfristig in die Lage zu versetzen, die Sicherheit im Land zu wahren und die Zivilbevölkerung zu schützen. Am Ende muss es auch eine Armee sein, vor der die Bürgerinnen und Bürger Malis, egal welche Hautfarbe sie haben, keine Angst haben müssen. Der deutsche Beitrag zur Ausbildung malischer Sicherheitskräfte ist sinnvoll. Allein kann und wird er aber nicht darüber entscheiden, ob am Ende des Weges in Mali wieder Frieden, Stabilität und Sicherheit einkehren. ({2}) Um das zu erreichen, brauchen wir einen wirklichen politischen und gesellschaftlichen Wandel in Mali, der die Konfliktursachen angeht. Hier geht es um politische Unterstützung, um ziviles Engagement und vor allem auch um Entwicklungszusammenarbeit; denn die Sicherheitskräfte können ihre Aufgaben nur erfüllen, wenn sie demokratisch und rechtsstaatlich verankert sind und Teil eines funktionierenden Staatswesens sind. Ich selbst war kurz nach dem Beginn dieser Mission 2013 in Koulikoro vor Ort. Nun hatte ich ein Jahr später auf der Reise mit der Ministerin die Möglichkeit, zu sehen, was sich in Mali verändert hat. Es hat sich einiges getan. Noch vor einem Jahr stand Mali vor der Zerreißprobe. Verschiedenste Rebellenorganisationen, islamistische, dschihadistische und kriminelle Gruppen und Kämpfer, die teilweise schwer bewaffnet nach dem Libyen-Konflikt in Mali eindrangen, brachten in kürzester Zeit den Norden des Landes unter ihre Kontrolle. Das Ausmaß der Gewalt war - das muss man sich einmal klarmachen - unfassbar und erschreckend. Über 500 000 Malierinnen und Malier waren gezwungen, die Flucht zu ergreifen. Die malische Regierung und die malischen Streitkräfte waren nicht in der Lage, dieser Gewalteskalation zu begegnen. Erst die Intervention der französischen Truppen und die Präsenz der anschließenden VN-Mission MINUSMA, die noch heute in Mali für Sicherheit sorgt, konnten diesen Vormarsch stoppen und den Norden des Landes aus der Schreckensherrschaft befreien. Heute, ein Jahr später, hat sich die Situation eindeutig zum Positiven verändert, auch wenn sicher noch lange nicht alles gut ist. Die Sicherheitslage hat sich verbessert. Vielerorts im Norden bleibt sie aber weiterhin noch angespannt und fragil. Während im letzten Jahr aber noch unklar war, ob überhaupt Wahlen so schnell nach der Krise durchgeführt werden können und ob am Ende das Ergebnis von der malischen Bevölkerung akzeptiert werden würde, ist nun ein erster, ein allererster Grundstein für ein funktionierendes Staatswesen gelegt worden. Die Menschen in Mali haben einen Präsidenten und ein Parlament gewählt. Als Nächstes stehen die Kommunalwahlen an, die gerade in Mali von besonderer Bedeutung sind. Die Vorbereitungen hierzu dürfen nicht aus dem Blickfeld der internationalen Gemeinschaft verschwinden. Damit in Mali der Frieden auch langfristig eine Chance hat, gibt es eine ganz zentrale Herausforderung: Das ist die Versöhnung zwischen dem Süden und den Gruppen im Norden des Landes, insbesondere mit den Tuareg. Immer wieder gerät dieser Versöhnungsprozess ins Stocken. Beide Seiten müssen von der internationalen Gemeinschaft in die Pflicht genommen werden, diesen Prozess mit allem Nachdruck, mit Ernsthaftigkeit, aber auch mit der Bereitschaft zum gegenseitigen Verständnis endlich voranzubringen. ({3}) Am Ende wird aber für eine wirkliche Aussöhnung weniger entscheidend sein, wer Vorsitzender der Versöhnungskommission ist, sondern ob es vor Ort und auf lokaler Ebene gelingt, einen Ausgleich zu schaffen und auch die Menschenrechtsverletzungen und Verbrechen, die passiert sind, auf beiden Seiten aufzuarbeiten, zu bestrafen, zu ahnden oder auch zu vergeben. Meine Damen und Herren, es gibt einen Hoffnungsschimmer für Mali. Es ist an uns, die Menschen in Mali dabei zu unterstützen, diese positive Entwicklung bei allen Schwierigkeiten und Herausforderungen auf einen guten Weg zu bringen. Die europäische Ausbildungsmission liefert dazu einen kleinen, aber, wie ich finde, sehr effizienten Beitrag. Entscheidend wird am Ende aber sein, den Versöhnungsprozess und den politischen Wandel in Mali zu unterstützen. Hier können und hier müssen wir mehr tun. Vielen Dank. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Philipp Mißfelder für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Philipp Mißfelder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003810, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit dieser Debatte wollen wir deutlich machen, dass wir uns in Zukunft früher, entschiedener und auch substanzieller in die Afrika-Politik einbringen wollen. Das wirft zum einen ein Schlaglicht auf das, was wir schon seit vielen Jahren tun, ist aber auch im Lichte der Debatte in den vergangenen zwei Wochen zu sehen. Wir sagen deutlich, dass wir die Politik der militärischen Zurückhaltung nicht aufgeben wollen, weder generell noch speziell im Falle von Afrika, verdeutlichen aber zugleich, dass es der Anspruch der Regierungsfraktion der CDU/CSU ist, sich, was die Afrika-Politik angeht, deutlicher zu positionieren. Deshalb danke ich insbesondere unserem Fraktionsvorsitzenden für seine Initiative, ein eigenes Afrika-Konzept in den nächsten Monaten auf den Weg zu bringen, ({0}) in dem umfassend deutlich gemacht wird, dass wir militärische Komponenten als äußerstes Mittel sehen, aber vor allem die Elemente der wirtschaftlichen Zusammenarbeit, der entwicklungspolitischen Zusammenarbeit, der außenpolitischen Zusammenarbeit und natürlich auch die Vertiefung im Bildungsbereich, die Menschenrechtspolitik sowie weitere Politikfelder im Auge behalten. Dafür werden wir sehr viel Energie in den nächsten Monaten aufwenden. ({1}) Wir haben ein zum Teil falsches Afrika-Bild; denn häufig ist dieses Afrika-Bild von Misswirtschaft, Korruption oder auch von zweistelligen Inflationsraten geprägt. Dabei ist Afrika eigentlich einer der großen Chancenkontinente und zudem ein Kontinent, der sich unmittelbar vor unserer Haustür befindet. Der IMF kommt in seiner jüngsten Afrika-Betrachtung insgesamt zu der Einschätzung, dass das Wachstumspotenzial im Durchschnitt bei 5,5 Prozent liegt; das ist ja ein erhebliches Potenzial. Ich glaube, dass das gerade für Investoren aus Deutschland und für die Exportnation Deutschland sehr große Chancen bietet. Die Situation ist von Land zu Land natürlich unterschiedlich. Aber auch in der Nähe von Mali gibt es großes Potenzial. Nigeria beispielsweise hat große Chancen, und die Wachstumsmotoren Äthiopien, Kenia und Uganda sind weitere positive Beispiele für Länder, in denen sich Investitionen lohnen würden. Ein Problem entsteht aber dann, wenn sich ein Land, das auf einem guten Weg ist, wie es bei Mali der Fall ist, zurückentwickelt. Genau das ist an dieser Stelle passiert. Mali galt über Jahre hinweg als ein Musterland für die Kooperation im Bereich Entwicklungszusammenarbeit. Mali galt jahrelang als ein tolerantes Land mit wirtschaftlichen Wachstumsperspektiven. Es hat sich nach 2012 leider ein sehr krisenhaftes Szenario ergeben, weil die Regierungstruppen und die separatistischen Tuaregrebellen in einen ständigen Kampf miteinander geraten sind, wodurch beinahe eine große humanitäre Katastrophe entstanden wäre, wenn die Franzosen nicht so beherzt eingegriffen hätten. Vor diesem Hintergrund möchte ich zitieren, was unser Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier gesagt hat, nämlich dass nur durch das schnelle Handeln der Franzosen Mali davor gerettet worden sei, von islamistischen Fundamentalisten überrannt zu werden. ({2}) Diese Nothilfe Frankreichs muss allerdings auch multinational unterstützt werden. Das ist auch das Ziel unserer Afrika-Konzeption. Es geht nicht an, dass einzelne Länder vorauseilen, vielmehr muss unser langfristiges Ziel sein, dass die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union in die Lage versetzt wird, Probleme gemeinsam zu definieren und gemeinsam zu agieren. Insofern bleibt es trotz allem Dank an Frankreich unsere Aufgabe, verstärkt zusammenzuarbeiten und Probleme vielleicht auch früher anzugehen. Das sehe ich als einen Beitrag zu dem, was wir unter dem Schlagwort „Mehr Verantwortung“ verstehen. „Mehr Verantwortung“ heißt aus unserer Sicht nicht zwingend mehr Militär, sondern mehr Koordinierung, mehr abgestimmtes Handeln. Das ist das, was wir in den Unterausschüssen, zum Beispiel im Unterausschuss Zivile Krisenprävention und vernetzte Sicherheit, in den vergangenen vier Jahren deutlich gemacht haben, und wir wollen das mit unserem Afrika-Konzept unterstreichen.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Mißfelder.

Philipp Mißfelder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003810, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Deshalb unsere Zustimmung zu diesem Mandat. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Sie hätten noch Redezeit. Eigentlich wollte ich Sie fragen, ob Sie dem Kollegen Ströbele eine Frage oder Bemerkung gestatten.

Philipp Mißfelder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003810, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wenn Sie mir das noch erlauben. Bei Herrn Ströbele habe ich ja noch nie Nein gesagt, glaube ich. Deshalb: Bitte.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Dann hat er das Wort.

Hans Christian Ströbele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002273, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr nett, Herr Kollege Mißfelder, dass Sie das noch zulassen. - Man kann in der Tat darüber reden, dass man die Menschen in Mali nicht alleinlassen darf, sondern dass man sich da engagieren soll. Meine Kritik zielt dahin - da spreche ich Sie als Mitglied der Koalition an, die es in der vorigen Legislaturperiode gab und die schon 2012 für Mali Verantwortung getragen hat; Sie haben das ja auch angesprochen -: Meinen Sie tatsächlich, dass die Hilfe, die man da leisten soll, ausgerechnet dieser malischen Armee zugutekommen soll? Die malische Armee ist bis 2012 von Deutschen ausgebildet worden. Man hatte gehofft, dass sie nicht nur militärische Fähigkeiten vermittelt bekommt, sondern auch Demokratie, ziviles Engagement und Ähnliches. Als die Krise begann, hat diese malische Armee, die die Deutschen ausgebildet haben, die damals legitime Regierung weggeputscht. Die Bundesregierung - Ihre damalige Bundesregierung! - hat daraufhin selbstverständlich die militärische Ausbildung gestoppt, weil sie gesagt hat: Wir können doch nicht die ausbilden, die dort geputscht haben. - Den malischen Soldaten ist danach sehr viel vorgeworfen worden, auch die Beteiligung an Gräueltaten, zum Beispiel in der Auseinandersetzung mit den Tuareg im Norden des Landes. Sie wollen nun, dass deutsche Soldaten ausgerechnet diese Armee wieder ausbilden. Dass das der Beitrag zur Bewältigung der Krise in Mali sein soll, kann doch nicht wahr sein!

Philipp Mißfelder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003810, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Es ist ja nicht so, dass in diesem Konflikt irgendeine Seite eine weiße Weste hätte. Das hat niemand behauptet. ({0}) Trotzdem ist unser Anspruch, dass wir gerade dadurch, dass wir in Mali präsent sind, auch auf die Strukturen dieser Armee Einfluss ausüben. Ich glaube, das ist ein vernünftiger Beitrag. Wenn wir jetzt hier eine wie auch immer geartete materielle Unterstützung in größerem Umfang diskutieren würden, dann müsste man das sicherlich kritisch sehen. Aber hier geht es um eine Ausbildungsleistung, von der wir uns natürlich erhoffen, dass sie sich positiv auf die Armee auswirkt. Im Detail werden weder Sie noch ich jetzt hier beurteilen können, ob ausgerechnet die von Ihnen skizzierten Personenkreise immer noch in den Positionen sind, in denen sie vorher waren. ({1}) Das können mit dem Wissensstand, den wir haben, weder Sie noch ich jetzt sagen. Das müssen wir also in der anstehenden Ausschussberatung noch einmal klären. Dazu haben wir dort dann Gelegenheit und können uns auch zu Wort melden. ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die SPD-Fraktion hat der Kollege Christoph Strässer das Wort. ({0})

Christoph Strässer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003644, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Diese Diskussion hat viele Ebenen. Wir reden ja nicht nur über Mali; wir reden auch über Verantwortung, wir reden über unser Verhältnis zu Afrika - in Klammern: Afrika hat über 50 Staaten mit ganz unterschiedlichen Gesellschaften, mit ganz unterschiedlichen Strukturen, mit ganz unterschiedlichen Problemen, Risiken und Chancen. Wir reden aber eben auch über Verantwortung. Das, finde ich, macht diese Diskussion so spannend. Ich persönlich und viele, die sich an dieser Diskussion beteiligen, definieren Verantwortung etwas anders als Sie, die Sie wirklich mit einem Beißreflex in diese Diskussion hineingehen. Für mich heißt Verantwortung, hinzuschauen, zu sehen: Wo sind die Probleme? Wo können wir helfen? Wir können eben nicht nur und auch nicht in erster Linie mit Militär helfen, sondern nur dann, wenn gar nichts anderes mehr geht. Verantwortung zu übernehmen, meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, heißt für mich in allererster Linie, präventiv zu wirken, dafür zu sorgen, dass solche Katastrophensituationen, wie wir sie in vielen Bereichen dieses Kontinents haben, gar nicht erst entstehen. Es gibt eine Menge an Instrumenten, eine Menge an Methoden, eine Menge an Mitteln, um diesen Weg zu gehen. Dafür muss man sich aber zu dieser Verantwortung bekennen; und das sollten wir hier aus meiner Sicht auch tun. ({0}) Ich will nur ein Beispiel dafür nennen, wo wir mit unserer Verantwortung möglicherweise ganz intensiv gefordert sind. Ich sage jetzt nur wenige Sätze zur Zentralafrikanischen Republik.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Strässer, bevor Sie das tun, müssten Sie mir bitte die Frage beantworten, ob Sie der Kollegin Heike Hänsel eine Frage oder Bemerkung gestatten.

Christoph Strässer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003644, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sicher, selbstverständlich; dafür sind wir ja hier. ({0}) - Dafür nicht, okay. Aber trotzdem.

Heike Hänsel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003763, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Danke schön, Frau Präsidentin. - Herr Strässer, wir hören jetzt ständig, eigentlich schon gebetsmühlenartig in den letzten Wochen, den Satz: Wir müssen mehr Verantwortung übernehmen. - Ich möchte einmal fragen: Erstens. Haben eigentlich die Bundesregierungen der letzten Jahre oder Jahrzehnte keine Verantwortung übernommen? ({0}) Ist das die Schlussfolgerung? Ist es so, dass wir in Deutschland - die letzte Große Koalition, die rot-grüne Bundesregierung usw. - keine Verantwortung übernommen haben und jetzt Verantwortung übernehmen müssen? Was ist denn das für eine Bewertung Ihrer eigenen Politik der letzten Jahre? Erklären Sie mir diesen Satz doch einmal! Zweitens. Frau von der Leyen selbst hat gesagt: Die Bundeswehr hat jetzt nach dem Abzug aus Afghanistan mehr Kapazitäten frei für Afrika. - Jetzt möchte ich nachfragen: Wieso unterstellen Sie uns, wir würden das militärisch interpretieren? Das sind doch die Worte von Frau von der Leyen. In der Stuttgarter Zeitung können Sie es nachlesen: „Bundeswehr hat noch Kapazitäten“. Könnten Sie das bitte einmal bewerten?

Christoph Strässer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003644, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sie reden hier inflationär und stichwortartig von Verantwortung. Wenn Sie einmal richtig lesen, dann sehen Sie, dass da steht: Wir übernehmen ({0}) - ich rede jetzt für mich und für uns - mehr Verantwortung. Dieses „mehr“ heißt nicht „mehr Soldaten“ und nicht „mehr Militär“, sondern: mehr hinschauen, mehr Probleme erkennen und damit umgehen. Wir reden hier doch gerade über ein Mandat, das hier mit breiter Mehrheit von Schwarz-Gelb, SPD und Grünen beschlossen worden ist, und damit über die Verantwortung, die wir 2013 in Mali mit übernommen haben. Natürlich hat jede Bundesregierung ihre Verantwortung auf verschiedenen Ebenen wahrgenommen. Aber der Anstoß, sich endlich einmal dazu zu bekennen, darüber zu reden und darüber nachzudenken: „Wie ist eigentlich Deutschlands Rolle in der Welt? Welche Rolle spielen wir eigentlich?“, ist jetzt von dieser Bundesregierung gekommen. Ich finde den richtig und wichtig. Es ist unsere Aufgabe, hier im deutschen Parlament mit der Regierung darüber zu reden, Wege zu finden und auch überzeugend gegenüber unserer Gesellschaft zu erklären, wo die Verantwortung für unser Land angesichts der Mittel, die wir haben, liegt. Darüber möchte ich in der Zukunft gern ganz sachlich und ganz fachlich reden. Ich sage: Da steht nicht an erster Stelle das Militär. Aber ich sage auch: Wenn es eine Situation gibt wie in Mali, dann muss man sich im Endergebnis auch dazu bekennen, dass zu dieser Verantwortung im Zweifel gehört, die Rechte von Menschen, die durch Hunger, durch Tod oder durch andere Dinge bedroht sind, im Zweifel und im Ernstfall auch mit militärischen Mitteln zu schützen; anders werden wir unsere Verantwortung insgesamt nicht wahrnehmen können, meine Damen und Herren. ({1}) Ich wollte aus einem ganz bestimmten Grund auf die Zentralafrikanische Republik zu sprechen kommen. Da gibt es ja unterschiedliche Warnsignale, Warnhinweise zu dem, was auf uns zukommt. Damit beginnt natürlich auch wieder eine Diskussion über die Rolle Deutschlands und das Zur-Verfügung-Stellen von einem oder zwei Transportflugzeugen. Man muss sich einmal überlegen, was das an Verantwortung bedeutet. Sie werden wahrscheinlich mitbekommen haben, dass Amnesty International gestern einen Bericht veröffentlicht hat; ich habe ihn einmal mitgebracht. Amnesty International ist ja bekanntlich keine Organisation, die dazu neigt, militärische Maßnahmen und Reaktionen zu rechtfertigen. In diesem Bericht - ein ähnlicher Bericht wurde im Übrigen bereits vorher von Human Rights Watch, einer anderen großen Menschenrechtsorganisation, veröffentlicht - wird nachdrücklich auf die Verantwortung hingewiesen. Das Statement an die internationale Staatengemeinschaft lautet: Wenn ihr vor Ort seid, auch mit den Mitteln im Rahmen einer internationalen Intervention, dann sorgt bitte dafür, dass der Schutz der Zivilisten gewährleistet wird. Amnesty International fordert die internationale Staatengemeinschaft auf, hier mehr zu tun und die Intervention, die im Moment dort läuft, wieder insbesondere von den „bösen Franzosen“ geleitet, so durchzuführen, dass sie den Schutz der Zivilbevölkerung gewährleisten kann. Ich finde, das sollten wir zur Kenntnis nehmen und uns der Verantwortung nicht entziehen, sondern Unterstützung leisten. In der Zentralafrikanischen Republik droht - das sagen viele Menschen - ein Genozid wie in Ruanda, und das kann die Weltgemeinschaft nicht hinnehmen, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({2}) Ich glaube, dass man an dieser Stelle wirklich in der Sache streiten muss; das ist doch überhaupt keine Frage. Ich respektiere jeden, der vor einem pazifistischen Hintergrund den Einsatz von Militär ablehnt. Aber man muss dann auch Konsequenzen ziehen und zugeben, dass man an bestimmten Entwicklungen mitschuldig wird. Rainer Arnold hat an dieser Stelle Erhard Eppler zitiert. Die Auseinandersetzung über diese Verantwortung und die Wahrnehmung der Verantwortung, auch zum Schutz der Menschenrechte - das sage ich ganz deutlich -, zu führen, das ist aller Ehren wert und stünde diesem Hohen Hause wirklich gut zu Gesicht. Sie haben die Umfragen angesprochen und darauf hingewiesen, dass 75 Prozent der Deutschen gegen militärische Interventionen seien. Aber Sie haben nicht gesagt, dass mehr als 60 Prozent der deutschen Bevölkerung gesagt haben: Die These von mehr Verantwortung Deutschlands in der Welt ist richtig; das unterstützen wir. ({3}) Das zeigt, dass es einen gesellschaftlichen Diskurs zu diesem Thema gibt. Diesen gesellschaftlichen Diskurs sollten wir wirklich allen Ernstes und ohne Schaum vor dem Mund führen. ({4}) Letzter Punkt, liebe Kolleginnen und Kollegen. Wir beschäftigen uns mit Afrika. Auch hier kann man die Frage stellen, warum das eigentlich erst jetzt ein Thema ist. Die Bundesregierung hat in der letzten Legislaturperiode ein Afrika-Konzept verabschiedet; meine Fraktion hat das im Jahre 2012 getan. Darin stehen viele gute, richtige und wichtige Dinge, die es fortzuführen gilt. Mein Wunsch und meine dringliche Bitte, gerade als jemand, der sich seit vielen Jahren mit den Entwicklungen in Afrika auseinandersetzt, ist: Nehmen wir die Vorlagen, die es vonseiten der Bundesregierung und der Fraktionen gibt, und stellen wir den Kontinent Afrika ins Zentrum unserer politischen Auseinandersetzungen! Da ist nicht alles gut, und da ist nicht alles schlecht. Es gibt vieles, bei dem man genau hinschauen muss, wo man etwas verändern kann, mit vielen unterschiedlichen Methoden. Aber das sollte für mich und für uns ein Anlass sein, Afrika, unseren Nachbarkontinent, einmal ins Zentrum unserer Debatten zu stellen. Wenn das das Ergebnis dieses Anstoßes und dieser Diskussion wäre, wäre ich sehr froh darüber. Ich würde mich freuen, wenn wir daran gemeinsam weiterarbeiten könnten. ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 18/437 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf: Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU, SPD, DIE LINKE und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Einsetzung eines Ausschusses Digitale Agenda Drucksache 18/482 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Nadine Schön für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Nadine Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004116, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Digitale Themen beherrschen seit Wochen und Monaten Nachrichtensendungen und TV-Shows mit leider eher negativ besetzten Themen wie NSA, Wirtschaftsspionage oder auch Hackerangriffe. Die Digitalisierung ist aber auch Thema Nummer eins bei den großen Entscheidern in der Wirtschaft, in diesem Fall eher positiv besetzt; denn in der Digitalisierung sehen die Bosse der Unternehmen die größten Wachstumspotenziale für den Mittelstand, für die Industrie, aber auch zunehmend für die Dienstleistungsbranche. Digitale Themen, das wissen wir alle, sind im Alltag von jedem von uns angekommen: bei Verkehr und Mobilität, bei Familie, Verwaltung, sogar bei Gesundheit und Pflege. Wir stellen fest, dass die Interneteuphorie, die es in den letzten Jahren gab, einem eher pragmatischen Ansatz gewichen ist. Man geht mit Pragmatismus und Realismus an die Aufgaben heran. Denn wir alle wissen: Die Digitalisierung bringt Gefahren und Risiken mit sich. Sie ist aber auch der Quell großer Wachstumschancen, und sie ermöglicht Partizipation und Teilhabe. Auch diese gesellschaftlichen Aspekte sollte man nicht außer Acht lassen. Die Digitalisierung prägt alle Lebensbereiche. Deshalb ist es richtig, dass digitale Themen ab jetzt auch im Deutschen Bundestag einen Platz haben. Wir setzen heute den ersten Ausschuss zur digitalen Agenda im Nadine Schön ({0}) Deutschen Bundestag ein. Ich freue mich sehr, dass wir das hier in großer Übereinstimmung zwischen den Fraktionen tun können. ({1}) Der Ausschuss Digitale Agenda wird zum Motor der digitalen Agenda werden. Was heißt das? Das heißt zuallererst, dass wir die Regierung in den nächsten Wochen und Monaten dabei unterstützen, ihre digitale Agenda zu formulieren. Ich bin sehr froh, dass mit den beiden Staatssekretärinnen, die heute auf der Regierungsbank sitzen, Frau Bär und Frau Zypries, zwei Kolleginnen in der Kerngruppe der Regierung Mitverantwortung tragen, die mit uns zusammen die digitale Agenda in den Koalitionsverhandlungen verhandelt haben. Mit Minister de Maizière haben wir einen kompetenten und engagierten dritten Akteur in der Kerngruppe der Regierung, in der die digitale Agenda ausgestaltet werden wird. Ich glaube, dass wir mit dem Koalitionsvertrag wirklich sehr gute Grundlagen gelegt haben. Sie können auf vieles zurückgreifen. Aber eines ist auch klar: Die digitale Agenda der Bundesregierung kann nicht die Kumulation von Einzelstrategien sein. Nein, wir brauchen eine Gesamtstrategie, die das große Ganze im Auge hat, eine Gesamtstrategie, die Deutschland national, international, ja weltweit zum Vorreiter machen wird. Wenn in den nächsten Jahren an Digitalisierung gedacht und gefragt wird: „Welches Land hat die Chancen und Potenziale am besten begriffen und für sich umgesetzt?“, dann sollte - das ist meine Vorstellung - immer an Deutschland gedacht werden. In diesem Zusammenhang tragen die Regierungskommission, aber vor allem auch der neue Ausschuss eine ganz große Verantwortung. ({2}) Der Ausschuss Digitale Agenda wird der Motor der Umsetzung sein. Das beinhaltet zwei Dinge. Das heißt zum einen, dass wir die Fachausschüsse in ihrem Tagesgeschäft begleiten. Das heißt zum anderen aber auch, dass wir die großen Fragen stellen. Zur Begleitung der Fachausschüsse: Wir alle stellen fest, dass eigentlich in allen Ausschüssen - im Wirtschaftsausschuss, im Verkehrsausschuss, im Gesundheitsausschuss - digitale Themen eine Rolle spielen, von E-Health über Industrie 4.0 bis zum Thema Smart Grids. Erst gestern habe ich mich auf der Berlinale mit der Vertreterin einer Initiative für Behinderte unterhalten, die dafür kämpft, dass Behinderte einen besseren Zugang zu kulturellen Ereignissen haben. Was war ihre Antwort auf die Frage, wie das umgesetzt werden kann? Durch digitale Lösungen. Deshalb gehört die Beschäftigung mit digitalen Lösungen eben auch in den Kulturausschuss. Ich behaupte, dass auf der Suche nach Lösungen noch viel zu selten an die großen Potenziale der Technik, an die großen Potenziale der Digitalisierung gedacht wird. Deshalb ist eine ganz große Aufgabe dieses neuen Fachausschusses, sein Wissen in die Fachausschüsse hineinzutragen, damit die Fachpolitiker das große Wissen, was sich hier bündelt, nutzen können. Ich kann den Fachpolitikern nur anbieten und an sie appellieren: Nutzen Sie diese Kompetenz! Im Ausschuss Digitale Agenda sammelt sich die Fachkompetenz unserer Fraktionen zu diesem Thema. Das bietet ganz viel Potenzial, auch für alle anderen Ausschüsse. ({3}) Wir wollen aber auch die großen, übergeordneten Fragen stellen und uns nicht im Klein-Klein verlieren. Wir wollen auch nicht, wie das in den letzten Tagen vonseiten der Linken gesagt wurde, quatschen. Dafür ist uns die Zeit viel zu schade. Wir wollen die großen Fragen stellen und gemeinsam überlegen: Wie können wir die digitale Souveränität in Deutschland voranbringen? Oder: Wie schaffen wir es, dass die Startups, die guten und innovativen Unternehmen in unserem Land europaweit und weltweit Erfolg haben? Auch das ist ein Gesichtspunkt in der NSA-Debatte: Wir können uns nicht beklagen, dass wir von ausländischen IT-Lösungen abhängig sind, wenn unsere eigenen Unternehmen nicht die Kraft haben, es zum Welterfolg zu bringen. Wir müssen uns die Frage stellen: Wie schaffen wir es, dass Deutschland, dass Europa mit seinen Unternehmen bei den großen Playern weltweit dabei ist, dass deutsche und europäische Lösungen im Kern der IT-Kompetenz großer Unternehmen stehen? Dieser Ausschuss hat hier eine große Verantwortung. Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Innovationszyklen in diesem Bereich sind enorm. Wir erleben, dass sich die Welt durch die Digitalisierung sehr schnell dreht. Es wird für diesen Ausschuss eine Herausforderung werden, mit dieser Innovationsgeschwindigkeit Schritt zu halten. Aber das ist unsere Aufgabe. Die Kunst wird darin bestehen, das Tagesgeschäft des Ausschusses zu betreiben und gleichzeitig immer einen Schritt voraus zu sein und zu schauen: Was liegt vor uns? Worauf werden wir in Zukunft zu reagieren haben? Das ist eine große Herausforderung für den Ausschuss. Ich weiß, dass er sie meistern kann, weil aus allen Fraktionen sehr kompetente Abgeordnete Mitglied im Ausschuss sind. Deshalb wünsche ich uns allen, dass wir möglichst viel Erfolg haben, dass wir viel miteinander diskutieren und wenig gegeneinander; denn die Themen sind zu wichtig und die Herausforderungen zu groß, dass wir uns im Klein-Klein verlieren. Die digitale Agenda ist eine große Herausforderung für uns alle; zusammen mit den Experten in der Wirtschaft, in der Gesellschaft und auch mit den Aktivisten im Internet. Wir wollen das gemeinsam angehen. Ich freue mich auf eine gute Zusammenarbeit. ({4})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, liebe Kollegin. - Schönen guten Tag von meiner Seite aus. Die nächste Rednerin in der Debatte ist Halina Wawzyniak für die Linke. ({0})

Halina Wawzyniak (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004185, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Wir debattieren heute die Einsetzung eines neuen Ausschusses, des Ausschusses Digitale Agenda. Das gab es noch nie. Dass es ihn nun gibt, ist in allererster Linie der Enquete-Kommission „Internet und digitale Gesellschaft“ zu verdanken, die die Einsetzung dieses Ausschusses einmütig gefordert hat. Aber auch zahlreichen Netzaktivistinnen und Netzaktivisten ist es zu verdanken, die nicht müde wurden, netzpolitische Themen auf die Tagesordnung zu bringen und die Wichtigkeit des Themas so oft zu betonen, dass selbst die Union irgendwann einsehen musste, dass man Netzpolitik nicht mal so nebenbei abfrühstücken kann. ({0}) Nun haben wir also einen Ausschuss, der sich allein mit netzpolitischen Themen befasst. Das hätten wir schon vor zwei Monaten haben können, hätte es da nicht diverse Zwistigkeiten innerhalb der Großen Koalition gegeben. Das ging sogar so weit, dass man nicht richtig wusste, wie der Ausschuss überhaupt heißen soll. Wenn Sie sich nicht einmal über den Namen einig werden können, will ich gar nicht wissen, wie es ist, wenn es um Inhalte geht. Das werden sicherlich vier spannende Jahre mit Ihnen. ({1}) Ich persönlich hätte es im Übrigen ganz gut gefunden, wenn der Ausschuss „Internet und digitale Agenda“ geheißen hätte. Das sagt am besten aus, worum es geht. Im Übrigen müssten wir dann nicht auf Twitter diskutieren, wie der neue Hashtag heißt. Alles gut also? Leider nicht. Die Große Koalition bleibt auf halbem Weg stecken. Anstatt die Netzpolitik bei einem Ansprechpartner zu bündeln, zum Beispiel in Gestalt eines Staatssekretärs - da gibt es relativ viele -, bleibt das Thema in der Bundesregierung zersplittert und auf zahlreiche Ministerien aufgeteilt. Der eine Minister kümmert sich um den Breitbandausbau, ein anderer um die Netzneutralität, wieder ein anderer kümmert sich um Urheberrecht und Datenschutz, dann gibt es noch einen für den Verbraucherschutz. Ich könnte das jetzt weiterführen und würde auf ungefähr elf Ministerien kommen, die sich irgendwie mit netzpolitischen Themen beschäftigen. Dann gibt es, wie man so hört, gleich Gerangel zwischen Superminister Gabriel und Doch-nicht-Internetminister Dobrindt um einzelne Referate. Alle wollen irgendwie bei der Netzpolitik mitreden. Das ist eigentlich schön; denn es zeigt, dass das Thema angekommen ist. Besser spät als nie, könnte man sagen. Doch Kompetenzgerangel bringt uns irgendwie nicht weiter, erst recht nicht in der Sache. ({2}) Der Ausschuss könnte wiederum einen Beitrag leisten, dieses Kompetenzgerangel aufzulösen. Doch das kann nur funktionieren - jetzt kommen wir zu des Pudels Kern -, wenn er bei netzpolitischen Themen federführend ist. ({3}) Andernfalls besteht nämlich die Gefahr, dass die Netzpolitikerinnen und Netzpolitiker der Fraktionen zwar nett miteinander reden, das Ganze aber doch zu einer Spielwiese verkommt und der Ausschuss am Ende überhaupt nichts mehr zu entscheiden hat. Nun sagt der Einsetzungsbeschluss - ich möchte gar nicht drum herumreden, dass es durchaus Streit darüber gab, ob Grüne und Linke ihn mittragen - im Hinblick auf die Federführung nicht wirklich aus, was gemeint ist. Ich hätte mir da etwas mehr Klarheit gewünscht. In der Begründung steht, dass er „in der Regel mitberatend tätig werden“ soll. Glücklicherweise stimmen wir nicht über Begründungen ab, und deswegen hat der Bundestag, also alle Abgeordneten, die Möglichkeit, netzpolitische Initiativen federführend und nicht mitberatend in den Ausschuss Digitale Agenda zu überweisen. Von dieser Möglichkeit sollten wir tatsächlich Gebrauch machen. ({4}) Ich jedenfalls kann Ihnen versichern: Wann immer Sie irgendetwas, das vorwiegend Netzpolitik betrifft, federführend in einen anderen Ausschuss überweisen wollen, werden wir darüber hier im Parlament abstimmen lassen. Denn das Parlament entscheidet, ob der Ausschuss Digitale Agenda in netzpolitischen Themen eine wichtige Rolle spielen wird. Jede und jeder von Ihnen, die Sie hier alle sitzen, wird persönlich mitentscheiden dürfen, ob ein netzpolitisches Thema federführend im Ausschuss Digitale Agenda oder in einem anderen Ausschuss behandelt wird. Trotz der Mängel wird die Linke die Einsetzung des Ausschusses mittragen - ich habe darauf hingewiesen -, weil wir es wichtig finden, dass es einen solchen Ausschuss überhaupt gibt. Und jetzt liegt es an uns, diesen Ausschuss mit Leben zu füllen. Ob das funktioniert - ich wiederhole mich da gerne -, liegt an uns allen, die wir hier im Parlament sitzen. ({5})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Danke schön, Frau Kollegin. - Als Nächster hat Lars Klingbeil für die SPD in der Aussprache das Wort. ({0})

Lars Klingbeil (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003715, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich will in aller Deutlichkeit sagen: Ich finde, das ist schon ein bedeutender Tag hier im Parlament. Wir haben es in der letzten Legislatur erlebt, dass das Thema Netzpolitik in der parlamentarischen Arbeit immer mehr Raum eingenommen hat. So gab es die Beratungen in der Enquete-Kommission „Internet und digitale Gesellschaft“. Wir haben in dieser Legislatur 22 Ausschüsse eingesetzt, die es so oder so ähnlich schon in der letzten Legislatur gab. Hinzu kommt nun ein 23. Ausschuss, nämlich der Ausschuss Digitale Agenda. Das zeigt, dass wir als Parlament anerkennen, dass sich hier neue Themenfelder entwickelt und wir ihre Bedeutung erkannt haben. Wir sagen: Hier im parlamentarischen Raum muss es Beratungen über diese Themen geben. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bin auch froh darüber, dass wir es geschafft haben, einen gemeinsamen Einsetzungsbeschluss hinzubekommen, dass auch die Oppositionsfraktionen zustimmen, dass wir, das Parlament insgesamt, ein Zeichen setzen müssen. ({0}) Liebe Kollegin Wawzyniak, ich erkenne an, dass Sie versucht haben, das Haar in der Suppe zu finden. Das ist Aufgabe der Opposition. Aber ich sage Ihnen: Freuen Sie sich doch über den gemeinsamen Erfolg, dass es diesen Ausschuss geben wird. Wie etwa über die Frage der Vorratsdatenspeicherung entschieden wird, hängt sicherlich nicht von der organisatorischen Frage ab, ob der Ausschuss federführend oder mitberatend tätig wird, sondern vom politischen Diskurs. ({1}) Also kann ich Sie nur einladen, die politische Debatte zu führen und die Auseinandersetzung zu suchen. ({2}) Ich wusste gar nicht, dass die Linken so struktur- und gremienverliebt sind, wie Sie es gerade dargestellt haben. ({3}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, dieser Ausschuss Digitale Agenda wird der zentrale Ort hier im Bundestag sein, an dem wir, das Parlament, die digitale Agenda der Bundesregierung koordinieren, sie besprechen, immer wieder eigene Impulse setzen und da, wo es nötig ist, auch mal Anstöße geben. Die Kollegin Schön hat erwähnt, dass sich mindestens zwei Staatssekretärinnen darum kümmern werden. Aber ich will erwähnen, dass es weitere Ministerien gibt, die sich mit Netzpolitik befassen werden: Auch das Ministerium der Justiz und für Verbraucherschutz wird sich kräftig in netzpolitische Fragen einmischen. Ich sehe hier Herrn Krings, Staatssekretär im Innenministerium. Auch das Innenministerium wird sich einmischen. Und ich bin mir sicher: Es werden weitere Ministerien folgen. Netzpolitik ist ein Querschnittsthema, das von allen Häusern bearbeitet wird, und das ist gut so. Wir haben auch in der Enquete diskutiert, wie man ein Thema wie die Netzpolitik organisatorisch aufstellen kann, und waren uns einig, dass es ein Querschnittsthema ist. Deswegen ist es richtig, dass es in vielen Häusern behandelt wird und vom Parlament in einem zentralen Ausschuss koordiniert wird. Frau Wawzyniak, Sie haben angesprochen, dass es ein Verdienst von vielen ist, dass dieser Ausschuss kommt. Das will auch ich hier sagen. Unter denjenigen, die dafür gesorgt haben, dass dieser Ausschuss kommt, sind auch Kollegen, die jetzt nicht mehr im Parlament sitzen. Ich will aber auch Sachverständige aus der Enquete erwähnen, die fleißig mitdiskutiert haben, die mitgekämpft und für einen einstimmigen Beschluss gesorgt haben und die heute sicherlich verfolgen, was wir hier machen. Aber es war auch das Engagement von Netzaktivistinnen und Netzaktivisten, das dafür gesorgt hat, dass das Thema hier im Parlament angekommen ist. 2009 führten wir große Debatten über Netzsperren, über ACTA und über Vorratsdatenspeicherung, die sicherlich fortgesetzt werden. Es gibt viele, die das Thema Netzpolitik auf die gesellschaftliche Agenda gesetzt haben. Diese Themen sind nun in der Mitte des Parlaments angekommen. Deswegen ist heute ein bedeutender Tag für unser Parlament. ({4}) Wir haben allen Grund, uns über die Einsetzung des Ausschusses zu freuen; aber mit der Arbeit geht es jetzt erst los. Es liegen viele Themen vor uns, die wir nun hier im Parlament ernsthaft bearbeiten müssen. Ich will drei Themen nennen, die uns Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten in diesem Ausschuss wichtig sind. Erstens. Es geht darum, die digitale Spaltung in Deutschland zu stoppen. Wir müssen dafür sorgen, dass alle in unserem Land den gleichen Zugang zum schnellen Internet haben. Ich bin Minister Dobrindt dankbar, dass er in den letzten Wochen viele Initiativen angekündigt hat. ({5}) Seien Sie sich sicher: Wir als Ausschuss werden diese tatkräftig begleiten; denn uns geht es darum, die Spaltung im Bereich Breitband in unserem Land zu beenden. Wir brauchen Zugang zum schnellen Internet, und zwar flächendeckend; denn es geht um die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse, aber auch darum, wirtschaftliches Wachstum und neue Geschäftsmodelle zu ermöglichen. Unter dem Begriff, digitale Spaltung zu beenden, verstehen wir allerdings mehr als nur den flächendeckenden Zugang zum schnellen Internet. Für uns gehören auch die Bereiche digitale Kompetenz und Netzneutralität dazu. Wir als SPD werden diese Themen ebenfalls in den Ausschuss einbringen. ({6}) Ein zweiter wichtiger Punkt, den wir im Ausschuss intensiv diskutieren wollen, ist die wirtschaftliche Entwicklung. Die digitale Wirtschaft hat enorme Potenziale. Es geht uns darum, die wirtschaftliche Entwicklung und das Wirtschaftswachstum zu stärken und die Entstehung von Arbeitsplätzen zu fördern. Das betrifft Start-ups, aber auch das Projekt „Industrie 4.0“, das wir begleiten wollen. Es wird dazu führen, dass sich in Deutschland viele Potenziale entfalten können. Der dritte Bereich, der uns wichtig ist: Wir müssen die richtigen Konsequenzen aus der Affäre rund um die NSA ziehen. Wir haben gesehen: Vertrauen ist verloren gegangen. Ich warne davor, in IT-Nationalismus zu verfallen, aber wir müssen in der Tat darüber diskutieren, was Deutschland machen kann, wenn es darum geht, Forschung und Entwicklung, Initiativen im Bereich der Medienkompetenz und die digitale Selbstständigkeit zu stärken. Es muss aber auch darum gehen, internationale Abkommen und Verträge voranzutreiben, etwa das NoSpy-Abkommen. Wir wollen, dass die Menschen dem Internet wieder vertrauen können. Aktuell ist das nicht der Fall. Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie sehen: Es liegen viele Aufgaben vor uns. Der Ausschuss Digitale Agenda wird der Ort sein, an dem wir das Ganze koordinieren. Wir behandeln kein Nischenthema, sondern ein Querschnittsthema mitten im Parlament. Mit dem Einsetzungsbeschluss kann die Arbeit des Ausschusses jetzt Gott sei Dank losgehen. Ich will mich bei allen bedanken, die in den letzten Wochen massiv daran gearbeitet haben, dass es zu diesem Beschluss gekommen ist. Herzlichen Dank. ({7})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Herr Kollege. - Als nächsten Redner rufe ich auf Dr. Konstantin von Notz, Bündnis 90/Die Grünen.

Dr. Konstantin Notz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004123, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Zeit der Erkenntnis ist vorbei; die hatten wir in der 17. Wahlperiode. Viele der jetzt diesem Ausschuss zugehörigen Abgeordneten und die 17 Sachverständigen haben das Defizit des Bundestages in Sachen Internet und Digitalisierung in drei Jahren mit viel Fleiß behoben. Herausgekommen sind 400 Handlungsempfehlungen, viele davon wurden hier fraktionsübergreifend beschlossen, zwei von ihnen waren von zentraler Bedeutung. Die erste zentrale Handlungsempfehlung war, für eine bessere Koordinierung der Netzpolitik auf Regierungsebene zu sorgen. Diese Empfehlung entstand aus der Erkenntnis, dass die Arbeit praktisch auf allen netzpolitischen Großbaustellen der letzten Jahre - die Breitbandversorgung, die Netzneutralität, das Urheberrecht, der Datenschutz und vieles mehr - aufgrund des Zuständigkeitsstreits der in großer Zahl beteiligten Ministerien liegengeblieben ist. Was hat die Große Koalition aus dieser guten Handlungsempfehlung gemacht? Statt sich um die erforderliche Koordination und Themenbündelung zu kümmern, wurde ein weiteres Ministerium, das Verkehrsministerium, für zuständig erklärt. Das führt dazu, dass man nun immer - Achtung, Herr Dobrindt, jetzt wird es interessant - wenn man kein Netz hat, an die CSU denkt: mit Laptop und Lederhose, aber leider ohne Netz. Dieses Zuständigkeitspotpourri ist inkonsequent und ungenügend. ({0}) Die zweite zentrale Handlungsempfehlung lautet, einen ständigen Vollausschuss im Bundestag einzurichten. In der Enquete-Kommission hatten wir das Problem erkannt, dass der Unterausschuss Neue Medien zwar hochinteressante Aufgabenfelder, aber für kein Thema die Federführung hatte. Heute setzen wir einen Vollausschuss ein, aber wieder ohne federführende Zuständigkeit, nicht einmal für ein einziges Thema. Das wird nicht reichen, um die Netzpolitik angemessen in diesem Parlament zu verankern. Sie haben selbst im Dezember letzten Jahres gemerkt, dass es so eben nicht geht. Deswegen haben wir den Ausschuss nicht zusammen mit den 22 ständigen Ausschüssen eingesetzt. Sie haben es sträflich versäumt, dieses Problem in den Koalitionsverhandlungen entschieden anzugehen. Dieses Versäumnis war in den letzten zwei Monaten nicht mehr heilbar. Wenn Sie schon bei der Umsetzung dieser zwei zentralen Handlungsempfehlungen nichts hinbekommen, dann sehe ich, ehrlich gesagt, auch bezüglich der 398 anderen schwarz-rot. ({1}) Der Kollege Koeppen - erst einmal herzlichen Glückwunsch zum neuen Amt; ich hoffe auf eine gute Zusammenarbeit ({2}) hat vor wenigen Wochen gesagt, der Ausschuss solle dazu dienen, die netzpolitische Debatte zu entideologisieren. Ich gehe davon aus, dass dies vor allem an den Kollegen Heveling gerichtet war. Ich nenne Stichworte, die er benutzt: „Kampf um Mittelerde“ und „Digitales Blut muss fließen“. Insofern ist „Entideologisieren“ immer total richtig. Aber Ihrer Kernthese von der „Nische“, Herr Koeppen, die heute Morgen über den Ticker lief, widerspreche ich. Ich mahne Differenzierung an. Das Internet und die Digitalisierung sind sicherlich von überragender Bedeutung für unsere Gesellschaft, für die Wirtschaft und im Hinblick auf die NSA-Affäre auch für die Zukunft unseres Rechtsstaates. Aber es geht doch nicht darum, diesen Bereich aus der Nische herauszuholen. Das ist gesellschaftlich längst passiert. Es geht darum, ihm in diesem Parlament einen der Wirklichkeit entsprechenden Platz zu verschaffen. Aber dafür ist der Ausschuss, den Sie hier einrichten, leider zu wenig. ({3}) Warum ist Ihnen das nicht gelungen? Es ist Ihnen nicht gelungen, weil in Ihren Fraktionen die Netzskeptiker und -gegner - ich sehe Herrn Kauder gar nicht mehr; eben war er noch da - in der Mehrheit sind. Die wollen eben keinen netzpolitischen Ausschuss mit Relevanz in diesem Hohen Hause. Der Parlamentarische Geschäftsführer der Union, Kollege Grosse-Brömer, lässt sich mit den Worten zitieren, der Ausschuss biete die Möglichkeit, auch mal grundsätzlicher zu diskutieren - grundsätzlicher! Das reicht angesichts der historischen Bedeutung nicht, um weiche Knie zu bekommen. ({4}) Das gibt die Richtung vor. Das ist gegenüber den Sachverständigen und Abgeordneten, auch gegenüber den Abgeordneten der Union und der SPD, eine Unverschämtheit im Hinblick auf die Arbeit, die wir in den letzten drei Jahren geleistet haben. ({5}) Dass Sie sich das gefallen lassen, ist ein Armutszeugnis. Zum Schluss eine Bemerkung zum Titel. Nach dem fraktionsübergreifend verabschiedeten Wunsch des Parlaments - dafür haben auch Sie gestimmt - sollte dieses Gremium „Ausschuss für Internet und digitale Gesellschaft“ heißen. Danach haben Sie „Gesellschaft“ herausgestrichen. Nun sprachen Sie vom Ausschuss „Internet und Digitale Agenda“ - AIDA. Nun ja. Nun wurde auch das Wort „Internet“ wegrationalisiert. Der Ausschuss bekommt den Wirtschafts-PR-Namen „Digitale Agenda“. So steht es auch im Koalitionsvertrag. Digitale Wirtschaft ist wichtig - da stimme ich völlig zu, Kollegin Schön -, aber das ist in der Reduzierung eben nicht korrekt. Geholfen haben Sie dem Thema mit dieser Namensschrumpfkur nicht. Wir werden der Einsetzung dieses Ausschusses dennoch zustimmen, weil ein Ausschuss besser ist als kein Ausschuss. ({6})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Kommen Sie bitte zum Ende.

Dr. Konstantin Notz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004123, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin, ich komme zum Ende. - Kein Ausschuss ist nicht besser als dieser Ausschuss. Wir werden weiter Initiativen voranbringen, konstruktiv mitarbeiten ({0}) und die Umsetzung bekannter Handlungsempfehlungen und neuer Ideen vorantreiben. An uns wird die Netzpolitik in dieser 18. Wahlperiode auf jeden Fall nicht scheitern. Ganz herzlichen Dank. ({1})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Danke, Herr Kollege von Notz. - Nächster Redner in der Debatte ist Ulrich Lange für die CSU/CDU-Fraktion. ({0})

Ulrich Lange (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004087, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich bedanke mich zunächst für die Umbenennung unserer Fraktion in CSU/CDU-Fraktion.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Das mache ich nur bei bestimmten Rednern und Rednerinnen.

Ulrich Lange (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004087, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nur bei bestimmten Rednern. Danke! Von unserem Haus wird ein wesentlicher Schub für dieses absolut wichtige Zukunftsthema ausgehen. Die Digitalisierung - das ist hier jetzt mehrfach angesprochen worden ist Voraussetzung für Wachstum und Wohlstand. Sie umfasst inzwischen alle Lebensbereiche. Das wird auch klar, wenn man sich hier umschaut. Der Kollege von Notz zeigt dies gerade in besonderem Maße; er kann ja ohne digitales Werkzeug bzw. Spielzeug gar nicht mehr auskommen. Sowohl der Unterausschuss Neue Medien als auch die Enquete-Kommission - auch das ist mehrfach angesprochen worden - haben die Handlungsempfehlung ausgesprochen, diesen Ausschuss einzusetzen. Bei aller leiser, aber typischer Oppositionskritik - diese gehört hier dazu - sind Sie ja mit uns der Meinung - das zeigt auch Ihre Zustimmung -, dass dies ein richtiger, wichtiger und guter Schritt ist. Ich bin mir sicher, dass der Ausschuss seine Arbeit erfolgreich aufnehmen wird. Bereits im Koalitionsvertrag haben wir die digitale Agenda im Wesentlichen beschrieben: „Chancen für eine starke Wirtschaft, gerechte Bildung und ein freies und sicheres Internet“. Als Verkehrspolitiker und verkehrspolitischer Sprecher meiner Fraktion - den Verkehrspolitikern liegt dieser Ausschuss ja auch am Herzen - sage ich, dass es wichtig war, die Verkehrspolitik um die digitale Infrastruktur zu erweitern. Denn dort sehen wir große Chancen und Handlungsfelder. Der Breitbandausbau wurde bereits angesprochen, auch und insbesondere - erlauben Sie mir, das so zu sagen - der Ausbau im ländlichen Raum. Das ist vergleichbar mit einer Autobahnauffahrt; diese wollen wir ja auch in allen Regionen unseres Landes haben. Dass es sich um ein Querschnittsthema handelt, das in mehreren Ministerien verankert ist, muss ich auch nicht wiederholen. Das haben wir bereits gehört. Das macht den Ausschuss, lieber Kollege von Notz - das können Sie gleich so twittern oder facebooken; ich weiß nicht, was Sie gerade machen -, so wichtig. Dieser Ausschuss Digitale Agenda wird einen Modernisierungsschub geben. ({0}) - Der Ausschuss für sich und die positiven Ergebnisse, die wir dort erzielen werden. - Es geht um Teilhabe an technischen Innovationen. Es geht um Zugang zur digitalen Welt, und es geht letztlich um Chancen- und Generationengerechtigkeit in ganz Deutschland. ({1}) - Ja, es gibt auch Senioren, die das machen, ({2}) so wie Sie. ({3}) Vor diesem Hintergrund - das halte ich auch für ganz wichtig; das möchte ich unterstreichen - hat unser Bundesminister Alexander Dobrindt mit innovationswilligen Unternehmen die Netzallianz initiiert. Ein erstes Treffen ist schon in Bälde abzusehen. Ich glaube, dass wir auch von dort neue Impulse für eine leistungsstarke Netzinfrastruktur und für einen leistungsstarken Netzzugang - der Ausschuss wird sich ja unter anderem mit diesen Themen befassen - bekommen. Die Ausführungen zeigen - letztlich sind sie ja bei allen Rednern relativ deckungsgleich, wenn ich jetzt einmal von den kleinen Verästelungen absehe -, ({4}) dass es notwendig ist, das Thema Digitalisierung gesamtheitlich zu denken und zu diskutieren. Es ist notwendig, der Handlungsempfehlung zu folgen und diesen Ausschuss einzusetzen. Die Einsetzung des Ausschusses ist gut. Sie erfolgt rechtzeitig, und die Themen sind gut umschrieben. Wir freuen uns auf die Zusammenarbeit im Ausschuss Digitale Agenda. Wir freuen uns auf einen Modernisierungsschub in unserem Land. Herzlichen Dank. ({5})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Herr Kollege. - Als Nächster hat das Wort Sören Bartol für die SPD. ({0})

Sören Bartol (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003496, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich freue mich, dass wir heute mit der Unterstützung aller Fraktionen den neuen Ausschuss Digitale Agenda als 23. ordentlichen Ausschuss des Deutschen Bundestages einsetzen. Ich finde, das ist ein großer Erfolg der Netzpolitiker aller Fraktionen, die in der letzten Legislaturperiode in der Enquete-Kommission „Internet und digitale Gesellschaft“ gearbeitet haben. Wir Sozialdemokraten haben in den letzten Monaten in intensiven Diskussionen - auch mit unserem Koalitionspartner - dafür gesorgt, dass die Forderung der Netzpolitikerinnen und Netzpolitiker nach einem eigenen Ausschuss zu einem Anliegen des gesamten Deutschen Bundestages wurde. Wir waren damit erfolgreich. Das haben uns viele Kolleginnen und Kollegen von den Grünen und von den Linken wohl nicht zugetraut. ({0}) Ich habe ein bisschen das Gefühl, das ist wohl auch der Grund, warum insbesondere von dem Kollegen von Notz von den Grünen eine doch relativ kleinkarierte Kritik gekommen ist. ({1}) Aber am Ende ist es gut, dass sich alle Fraktionen dafür entschieden haben, diesen Antrag zu unterstützen. Wir erleben heute einen wichtigen Moment: Die Netzpolitik verlässt den Katzentisch des Parlaments und rückt in die Mitte der parlamentarischen Arbeit. Die Zeiten, in denen Netzpolitik ein Randthema war, sind vorbei. Mit der Einrichtung des neuen Ausschusses wird der Deutsche Bundestag der Realität in unserer Gesellschaft endlich gerecht. Der neue Ausschuss wird das bündeln und zusammenführen, was zusammen beraten und entschieden gehört. Lieber Kollege Notz, ich hätte da von Ihnen etwas mehr parlamentarisches Selbstbewusstsein erwartet. ({2}) Schließlich ist der Deutsche Bundestag mit der Einrichtung dieses Ausschusses einen Schritt weiter als die Bundesregierung, in der mindestens vier verschiedene Ressorts für Netzthemen zuständig sind. Was auch gut ist: Wir machen uns nicht zum Schiedsrichter, wer in dieser Regierung nun wirklich der wahre Internetminister ist. Wir ordnen den neuen Ausschuss keinem bestimmten Ministerium zu. Dieser Ausschuss versteht sich als Querschnittsgremium. Fragen der digitalen Gesellschaft lassen sich nicht auf Einzelthemen wie Sicherheit, Kriminalitätsbekämpfung im Internet, Start-ups/Unternehmensgründungen oder das Verlegen neuer Breitbandkabel reduzieren. Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Einrichtung dieses Ausschusses ist kein Wert an sich. Die Digitalisierung unseres Lebens ist eine gesellschaftspolitische Frage, die wir in dem neuen Ausschuss behandeln müssten. Die Veröffentlichungen über die Aktivitäten des amerikanischen Geheimdienstes NSA haben in den letzten Monaten die Welt aufgerüttelt. Im Kern geht es um die Frage, wie wir den Schutz unserer Privatsphäre auch in einer digitalen Gesellschaft garantieren können. Der Ausschuss Digitale Agenda hat aber nicht die Funktion, die NSA-Affäre aufzuklären - das muss in einem zuständigen Untersuchungsausschuss geleistet werden. Der neue Ausschuss wird aber Antworten geben müssen, wie wir die Persönlichkeitsrechte im Zeitalter der Digitalisierung zukünftig schützen können. Es muss auch darum gehen, die digitale Spaltung der Gesellschaft zu verhindern. Die Teilhabe aller Bevölkerungsgruppen muss doch unser aller gemeinsamer Anspruch sein! Alle Bürgerinnen und Bürger müssen im Internet gleichberechtigt aktiv werden können und am Ende auch denselben Zugang zu allen Inhalten haben. Wir müssen auch den Charakter des Internets als freies und offenes Medium erhalten. Jegliche Diskriminierung im Netz müssen wir verhindern. Wir brauchen eine funktions- und leistungsfähige Netzinfrastruktur für alle; nur so können sich attraktive und stabile Dienste entwickeln, die den persönlichen und dann auch den ökonomischen Nutzen mehren. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich wünsche allen, die in dem neuen Ausschuss Mitglied werden, dass sie in ihrer Arbeit genau so erfolgreich werden wie die Mitglieder des zuletzt eingerichteten Hauptausschusses, der hier vor 28 Jahren gegründet wurde - das ging heute schon durch die Presse -: des Umweltausschusses. Von den restlichen Mitgliedern des Hauses wünsche ich mir die Aufgeschlossenheit, sich mit der Fachexpertise der Netzpolitiker auseinanderzusetzen und diese bei den Entscheidungen im Parlament auch aufzunehmen. Ich wünsche uns allen dabei einen langen Atem und freue mich persönlich auf die Arbeit. Vielen Dank. ({3})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Sören Bartol. - Ich darf darauf hinweisen, dass 1998 noch ein anderer Hauptausschuss gegründet worden ist - ich weiß das, weil ich die Vorsitzende war -: der Menschenrechtsausschuss. ({0}) Auch dieser Ausschuss hat dem Parlament sehr gutgetan. ({1}) - Danke schön, dass Sie mir zustimmen - nicht dass ich Vorsitzende war, sondern dass der Ausschuss eingerichtet wurde. ({2}) Als letztem Redner in dieser Debatte gebe ich das Wort Jens Koeppen von der CDU/CSU-Fraktion. ({3})

Jens Koeppen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003789, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vielen Dank. - Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Fast auf den Tag genau vor zwei Jahren, am 8. Februar 2012, gab es eine kleine Pressekonferenz mit dem damaligen Vorsitzenden der Enquete-Kommission „Internet und digitale Gesellschaft“, Axel Fischer - Sie werden sich erinnern -, und mir als Obmann meiner Fraktion. Wir haben auf dieser Pressekonferenz nichts anderes getan, als für das netzpolitische Thema „Das Internet und die digitale Gesellschaft“ einen ständigen Bundestagsausschuss zu fordern. Das ist zwei Jahre her. Ein Jahr danach hat die Enquete-Kommission dieses Thema in einer Handlungsempfehlung aufgegriffen und es zur Hauptforderung gemacht; Sie haben es gerade erwähnt. Heute, zwei Jahre später, ist es, wie gesagt, so weit: Der Ausschuss Digitale Agenda gründet sich. ({0}) Ich finde, das ist ein sehr großer Erfolg aus der EnqueteKommission heraus - übrigens für uns alle. ({1}) Sie können jetzt fragen - das verstehe ich sogar, und ich mache auch einen Haken dahinter -: Ist es nicht viel zu spät? Haben wir in diesem Haus nicht zu wenig agiert und zu lange reagiert? Das ist ein bisschen wie vergossene Milch. Man kann diese Fragen mit Ja beantworten. Ich sehe das übrigens auch so: Man hätte den Ausschuss vielleicht auch schon vor acht Jahren in die Mitte der politischen Entscheidungen rücken können. Es gab aber auch zwei Enquete-Kommissionen; das darf man nicht vergessen. Aus diesen Enquete-Kommissionen heraus sind später in den Ausschüssen wichtige Gesetzentwürfe entstanden, und aus unserer EnqueteKommission entsteht jetzt, wie gesagt, der Ausschuss. Dass die Mehrheit diesen Ausschuss jetzt letztendlich begrüßt und dem vorliegenden Antrag dazu wahrscheinlich zustimmen wird, finde ich sehr gut, und ich bedanke mich ausdrücklich dafür, dass das Ganze letztendlich noch zu einem guten Ende geführt wurde. Dieser 23. Ausschuss arbeitet - das will ich ganz klar sagen - auf Augenhöhe mit den anderen Ausschüssen. Wir haben die gleichen Rechte, aber, Herr von Notz, wir haben auch die gleichen Pflichten. Wir haben in der Enquete-Kommission immer einen Hauptausschuss gefordert. Das ist kein Unterausschuss und auch keine Enquete-Kommission. ({2}) Wir müssen die Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages einhalten. Deshalb möchte ich, dass wir weni1066 ger palavern und debattieren, sondern wirklich am Thema dranbleiben. ({3}) Wir wollen kein Schattenboxen betreiben. Das kam mir hier wieder ein bisschen so vor; darüber bin ich ein wenig traurig. ({4}) Über die Federführung kann man lange streiten: Ist das gerechtfertigt? Ist das nicht gerechtfertigt? Ist das ausreichend oder nicht ausreichend? Aus meiner Sicht ist das - ich sage es einmal so - eine logische Konsequenz der Arbeitsweise des Deutschen Bundestages, weil es zurzeit keine direkte Spiegelung in der Bundesregierung gibt. De facto gibt es nämlich mehr oder weniger drei federführende Ministerien, die sich die Federführung teilen. Mit der Mitberatung sind wir aus meiner Sicht ziemlich gut dran. Der Ausschuss Digitale Agenda ist ein wertvolles Instrument. Wir können hier zusammenführen, was zusammengehört, und wir sind im Bundestag Vorreiter bei dieser Zusammenführung. Dieses Querschnittsthema verdient einen selbstbewussten Ausschuss und übrigens auch selbstbewusste Abgeordnete. Ich bin froh, dass wir uns in diesem Ausschuss in fast derselben Besetzung wie in der EnqueteKommission wiederfinden und daran anknüpfen können, wo wir aufgehört haben. Für mich wiegen die Chancen der Mitberatung übrigens schwerer als das Fehlen der Federführung; denn Sie dürfen nicht vergessen, dass wir als Hauptausschuss nach der Geschäftsordnung auch die Möglichkeit der Selbstbefassung haben. Wir reagieren also nicht nur auf die digitale Agenda der Bundesregierung, sondern wir dürfen uns natürlich auch eigene Inhalte vornehmen und eigene Impulse setzen, weil das Thema zu wichtig ist, als letztendlich nur durch die einzelnen Fachpolitiker betrachtet zu werden. Das wäre nicht mehr zeitgemäß. Wir sollten den gesamten Facettenreichtum betrachten, den das Thema in sich trägt, und wir wollen das Thema der Lebenswirklichkeit der Gesellschaft anpassen. In der nächsten Woche wird sich der Ausschuss konstituieren. Bis dahin kommt noch ein bisschen Arbeit in Bezug auf das Sekretariat auf uns zu; Sie alle kennen das. Danach sollten wir aber unverzüglich an die Arbeit gehen. Ich würde Sie alle natürlich sehr gerne so schnell wie möglich einladen, gemeinsam unsere eigene digitale Agenda aufzustellen; das ist mir ganz wichtig. ({5}) Es liegt an uns Abgeordneten, was wir dann daraus machen. Wir sollten weniger palavern und bedauern bzw. beklagen, was alles nicht geht, und stattdessen selbstbewusst an die Arbeit gehen und natürlich auch so miteinander diskutieren - auch streitig -, dass am Ende des Tages letztlich etwas dabei herauskommt. Wenn wir unsere Arbeit - da bin ich ganz sicher - gut machen, werden wir ein guter Impulsgeber sein. Dann wird man sagen: Ja, sie haben an diesem Thema aktiv gearbeitet, weniger reaktiv. Man wird auch sagen: Es ist eine gute Entscheidung, dass wir den Ausschuss Digitale Agenda eingesetzt haben. Ich wünsche uns dafür gutes Gelingen. Ich wünsche uns eine gute und kollegiale, natürlich auch streitbare Zusammenarbeit. Das Thema ist es auf alle Fälle wert. Vielen Dank. ({6})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Herr Kollege. - Ich schließe die Aussprache. Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den interfraktionellen Antrag auf Drucksache 18/482 zur Einsetzung des Ausschusses Digitale Agenda. Wer stimmt für diesen Antrag? - Das ist einfach. Es stimmen die CDU/ CSU-Fraktion, Bündnis 90/Die Grünen, die SPD und die Linksfraktion zu. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Das Ergebnis ist einstimmig. Der Antrag ist damit angenommen. Damit ist der Ausschuss Digitale Agenda eingesetzt. ({0}) Ich wünsche dem Ausschuss und den Abgeordneten, die in diesem Ausschuss arbeiten werden, von Herzen viel parlamentarische Kreativität. Ich wünsche dem Ausschuss viel Erfolg in diesem wichtigen Bereich unserer Lebensrealität. - Vielen herzlichen Dank. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 sowie Zusatzpunkt 6 auf: 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Dietmar Bartsch, Katrin Göring-Eckardt, Dr. Gregor Gysi, Britta Haßelmann, Dr. Anton Hofreiter, Jan Korte, Dr. Konstantin von Notz, Dr. Petra Sitte, Hans-Christian Ströbele, Dr. Sahra Wagenknecht, weiterer Abgeordneter und der Fraktionen DIE LINKE und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Einsetzung eines Untersuchungsausschusses Drucksache 18/420 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Stephan Albani, Katrin Albsteiger, Niels Annen, Ingrid Arndt-Brauer, Rainer Arnold, Artur Auernhammer, Heike Baehrens, Ulrike Bahr, Heinz-Joachim Barchmann, Dr. Katarina Barley, Vizepräsidentin Claudia Roth Dr. Hans-Peter Bartels, weiterer Abgeordneter und der Fraktionen der CDU/CSU und SPD Einsetzung eines Untersuchungsausschusses NSA Drucksache 18/483 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Nachdem dann alle Kolleginnen und Kollegen Platz genommen haben, eröffne ich die Aussprache und gebe das Wort Hans-Christian Ströbele von Bündnis 90/Die Grünen, der die Aussprache beginnen wird.

Hans Christian Ströbele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002273, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst die gute Nachricht: Es wird einen Untersuchungsausschuss zur Aufklärung des NSA-Skandals im Deutschen Bundestag geben. Das war nicht immer selbstverständlich. Im Sommer des letzen Jahres war die Union zunächst der Meinung, da gebe es gar nichts aufzuklären, alles sei aufgeklärt und die Vorwürfe seien vom Tisch. Danach hat sich ihre Meinung geändert, und sie war der Ansicht, die ganze Sache solle in einem anderen Gremium aufgeklärt werden. Aber seit dem Jahreswechsel hat sich die Auffassung noch einmal geändert: Die Union ist geläutert, und die Kolleginnen und Kollegen scheinen einsichtig geworden zu sein. ({0}) So weit die gute Nachricht. Die schlechte Nachricht ist, dass diese Einsicht nicht sehr weit reicht. ({1}) Die Union und die SPD haben nicht etwa das gemacht, was man in so einem Falle macht, wenn man vernünftig handeln will, und haben eben nicht gesagt: Okay, es gibt einen Antrag von Bündnis 90/Die Grünen und den Linken. Sie arbeiten schon lange an diesem Thema und haben jetzt etwas Schönes vorgelegt. Dieser Antrag ist ausführlich, aber nicht zu dick. Wir schließen uns diesem Antrag an. Vielmehr haben beide Fraktionen gerade noch rechtzeitig zur heutigen Sitzung einen eigenen Antrag eingebracht, der etwas länger ist und der eine ganze Reihe von zusätzlichen Punkten enthält, die aber gar nicht der Aufklärung dienen, sondern bei denen es eher darum geht, was man in einer Enquete-Kommission grundsätzlich machen sollte. Das bedeutet, dass wir nicht heute und auch nicht diese Woche - wie das nächste Woche wird, muss man sehen - die Einsetzung dieses Untersuchungsausschusses, der eigentlich kommen soll, beschließen können. Das ist schlecht, weil uns das wichtige Zeit kostet, die wir für die Aufklärung nutzen könnten. Jetzt müssen wir uns mit den Anträgen auseinandersetzen. ({2}) Unser Antrag hat den Vorteil, dass wir im Zentrum unserer Aufklärungsbemühungen nicht nur die NSAAffäre sehen - wir wissen nämlich, dass das ein schwieriger Punkt wird -, sondern unter anderem auch folgende Fragen: Was haben die Deutschen damit zu tun? Was hat die Bundesregierung davon gewusst? Was hat sie damit zu tun gehabt? Was haben die deutschen Nachrichtendienste damit zu tun gehabt? Was haben die Deutschen wissen müssen? Was haben sie vielleicht sogar an Informationen aus dem Ausspähen durch die NSA erfahren? Das können wir angehen. Dazu können wir Zeugen hören und Akten heranziehen. Dafür haben wir das Personal. Damit können wir gut arbeiten. Das steht eigentlich im Zentrum unserer Bemühungen in Deutschland. ({3}) Die Union fordert als ersten wichtigen Punkt - das hat mich zunächst sehr gewundert - Aufklärung darüber, was die NSA eigentlich alles gemacht hat. Ich habe noch im Ohr, dass gesagt wurde - auch vom Kollegen Binninger -: Das können wir eigentlich gar nicht aufklären, weil wir die Zeugen und Akten aus den USA nicht bekommen. - Damit hat der Kollege Binninger recht. Wir haben diese Erfahrungen in verschiedenen Untersuchungsausschüssen gemacht. Aber er hat dabei zunächst übersehen, dass es in Europa einen Zeugen gibt, der die ganze Affäre in Gang gebracht hat und mit seinen Enthüllungen dazu beigetragen hat, dass wir uns damit beschäftigen und dass sich die ganze Welt damit befasst. Deshalb frage ich mich, wie Sie, der gleichzeitig sagt: „Dieser Zeuge weiß aber nichts“, diesen Punkt aufklären wollen. Ich sage auch: Wir müssen das aufklären, aber dafür brauchen wir die Zeugenaussage des Edward Snowden hier in Deutschland, und zwar unter solchen Verhältnissen, dass er einen sicheren Aufenthalt in Deutschland bekommt. Daran kommen wir nicht vorbei. ({4})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage oder -bemerkung des Kollegen Binninger?

Hans Christian Ströbele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002273, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Bitte.

Clemens Binninger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003507, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Ströbele, nachdem Sie mich ein paarmal erwähnt und gesagt haben, ich würde behaupten, der Zeuge wisse nichts, möchte ich Ihnen vorhalten und Sie fragen, ob es nicht stimmt, dass Edward Snowden selber laut Pressemeldungen oder möglicherweise auch, als Sie bei ihm waren, gesagt hat, dass er keine Informationen über diesen Vorgang mehr hat und dass er alle Informationen, die er, wie auch immer, gewonnen hat, weltweit auf drei Personen verteilt hat und er nichts mehr dazu beitragen kann. Das war doch die Aussage von Snowden. ({0}) Wie kommen Sie dann dazu, zu sagen: „Er weiß etwas und kann etwas beitragen“? Dem widerspricht Snowden selber. Deshalb kann er kein Zeuge im Untersuchungsausschuss sein.

Hans Christian Ströbele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002273, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege Binninger, ich bin sehr dankbar für diese Frage. Ich bin immer an einem guten Verhältnis zu Ihnen interessiert. Nur, in diesem Punkt haben Sie vollständig unrecht. Ich habe von diesem Platz, aber auch von vielen anderen Plätzen aus gesagt: Ich war in Moskau, und die erste Frage, die ich an Herrn Snowden gestellt habe, die zentrale Frage, über die wir fast anderthalb Stunden geredet haben, war: Herr Snowden, wissen Sie etwas? Wissen Sie mehr, als in Ihren Dokumenten steht? - Herr Snowden hat diese Fragen mit einem klaren Ja beantwortet. Das war eine Botschaft aus Moskau. Hinzugefügt hat er: Ich bin auch bereit, wenn ich einen sicheren Aufenthalt in Deutschland bekomme, nach Deutschland zu gehen. Dass er alle seine Dokumente an Journalisten gegeben hat, die sie jetzt sukzessive veröffentlichen, heißt nicht, dass er selber nach acht Jahren Geheimdiensttätigkeit, erst bei der CIA und dann fünf Jahre bei der NSA, keine eigenen Erkenntnisse hat. Er kann Ihnen zum Beispiel erklären, warum er gerade diese Dokumente ausgewählt hat, was diese Dokumente bedeuten und welche Relevanz sie haben. Das müssen wir uns im Laufe der Zeit erst langsam erarbeiten. Aber Herr Snowden kann das auf den Punkt bringen. Damit würden wir einen erheblichen Beitrag zur Aufklärung und zur Erklärung seiner Dokumente haben, der weltweit von Bedeutung wäre, nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa, in Brasilien, Mexiko und in anderen Ländern. ({0}) Es gibt eine weitere schlechte Nachricht, wobei das Ganze jetzt dadurch verzögert wird, dass Sie einen eigenen Antrag eingebracht haben und wir uns damit auseinandersetzen müssen, wie wir Sie davon überzeugen können, sich unserem Antrag anzuschließen. Wir sind bereit, über alles zu reden, auch über alle Einzelheiten, und zu sehen, welche Ihrer Punkte vielleicht wichtig und aufzunehmen sind. Die zweite schlechte Nachricht ist, dass, während wir hier diskutieren, die Ausspioniererei durch die NSA weitergeht. Es gibt heute eine Tickermeldung vom Bundesverfassungsgericht, die Sie nachlesen können. Der Präsident des Bundesverfassungsgerichts hat die Besorgnis, dass auch das höchste deutsche Gericht - also nicht nur die Bundesregierung, die Kanzlerin, der frühere Kanzler und die ganze deutsche Bevölkerung - ausgespäht worden ist. Alle Verzögerungen, die sich nun ergeben, bedeuten, dass in Deutschland und in der Welt weiterhin spioniert wird, ohne dass irgendetwas dagegen getan wird; denn der amerikanische Präsident betont immer wieder, ein No-Spy-Abkommen werde es nicht geben, weder mit Frankreich noch mit Deutschland. Vor diesem Hintergrund ist das einzig Richtige und Wesentliche, an dem wir uns jetzt orientieren sollten, das, was Edward Snowden angesprochen hat - das ist ein guter Satz; den können Sie in der Zeit nachlesen -: Nicht die Enthüllung von Fehlverhalten ist für den anschließenden Ärger verantwortlich, sondern das Fehlverhalten selbst. Ich führe das etwas weiter aus: Nicht der Enthüller von Fehlverhalten, Gesetzwidrigkeiten und strafbaren Handlungen der NSA in Deutschland und den USA ist verantwortlich für den Ärger, sondern die NSA, die das gemacht hat, ist ursächlich dafür verantwortlich. - Deshalb müssen wir uns dringend damit befassen, was im Einzelnen passiert ist, um die geeigneten Gegenmaßnahmen möglichst schnell zu ergreifen, damit wir anfangen können, dieses Übel zu bändigen - sofort werden wir es sicherlich nicht loswerden - und etwas dagegen zu tun. ({1})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Danke, Herr Kollege Ströbele. - Als nächster Redner spricht Thomas Silberhorn für die CDU/CSU. ({0})

Thomas Silberhorn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003636, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vorhin haben wir den neuen Ausschuss Digitale Agenda eingesetzt. Nun beraten wir über die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses. Man sieht: Hier entfaltet sich die ungebremste Arbeitswut dieses Hauses. Herr Ströbele, da Sie Eile anmahnen: Wir werden sicherlich noch eine Woche Zeit benötigen, um über beide Anträge auf Einsetzung eines Untersuchungsausschusses intensiv zu beraten. Wir diskutieren darüber seit letztem Sommer. Fast wöchentlich erreichen uns - jetzt in immer geringerer Taktzahl - neue Enthüllungen, die die deutsch-amerikanischen Beziehungen nicht gerade verbessern. Ich erinnere nur an die jüngste Nachricht, dass auch das Handy des vormaligen Bundeskanzlers Gerhard Schröder abgehört wurde. Das ist genauso inakzeptabel wie die Überwachung des Handys der Bundeskanzlerin. In beiden Fällen müssen wir uns dagegen sehr deutlich verwahren. Das Ausmaß gezielter Spionage hätte wohl niemand für möglich gehalten. Vor allem der Anspruch auf vollständige Erfassung, Überwachung und Speicherung von Daten ist mit unserem Rechtsverständnis nicht vereinbar. Wir müssen in diesem Hause darüber nachdenken, wie wir damit umgehen. Aufklärung tut jedenfalls not; darin sind wir uns einig. Die Union war anfangs durchaus zurückhaltend, was die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses angeht - Sie haben das zu Recht angesprochen -, aber nicht ohne Grund. Es ist natürlich zweifelhaft, ob ein Untersuchungsausschuss tatsächlich wesentliche neue Informationen zutage fördern kann. Schließlich geht es um Nachrichtendienste anderer Staaten, hier der USA und Großbritanniens. Deswegen werden wir Vertreter dieser Staaten nur schwerlich als Zeugen bekommen können; da sollten wir uns und der Öffentlichkeit nichts vormachen. Der Ausschuss wird also eher Umwege finden müssen, um an Informationen heranzukommen, die zuverlässige Aussagen über die Tätigkeit der NSA und des britischen Dienstes ermöglichen. Wir erkennen aber ausdrücklich an, dass die Menge an Enthüllungen und Informationen zur Arbeit der amerikanischen und der britischen Dienste umfassend aufgearbeitet werden muss. Gerade in den letzten Monaten sind neue Aktivitäten bekannt geworden, die nahelegen, dass wir eine systematische Untersuchung durch den Deutschen Bundestag brauchen. Deswegen legen wir als Koalition einen Antrag auf Einsetzung eines Untersuchungsausschusses vor. Sie können unserem Antrag entnehmen, dass wir nicht mit unangenehmen Fragen sparen, weder in Bezug auf die vorherigen Bundesregierungen - ich spreche ganz bewusst im Plural - noch in Bezug auf die Arbeit deutscher Nachrichtendienste. Wir malen uns die Welt also nicht, wie sie uns gefällt. Im Gegenteil: Wir greifen alle wesentlichen Punkte aus dem Antrag der Opposition auf. Es wird also einen Untersuchungsausschuss geben. Wir sind im Grundsatz auch mit dem Untersuchungsgegenstand einverstanden. Das Ob steht nicht infrage. Aber über das Wie - wie genau der Untersuchungsgegenstand formuliert ist - müssen wir noch sprechen. ({0}) - Herr Ströbele, bitte.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Gestatten Sie eine Zwischenfrage oder eine Zwischenbemerkung?

Thomas Silberhorn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003636, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sie müssen das Wort erteilen. Bitte schön.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Ja, normalerweise mache ich das.

Thomas Silberhorn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003636, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Entschuldigung.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Aber wir kommen ja zum gleichen Ergebnis. - Bitte, Herr Ströbele.

Hans Christian Ströbele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002273, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege, das Problem, zu dem wir überall gefragt werden, ist: Warum haben Sie denn überhaupt einen eigenen Antrag eingebracht? Denken wir das einmal zu Ende: Wenn wir, das heißt die Linken und die Grünen zusammen, unseren Antrag durchbringen können und auch Sie theoretisch Ihren Antrag durchbringen, sollen wir dann zwei Untersuchungsausschüsse einrichten? Das kann doch wohl nicht wahr sein. Das ist auch schon in früheren Legislaturperioden erörtert worden. Wenn Sie auf einem eigenen Antrag beharren, kann das doch nur bedeuten, dass Sie unseren Antrag verdrängen wollen. Das werden wir auf gar keinen Fall zulassen. Ich erkenne an, dass Sie in den letzten Tagen den einen oder anderen Satz von uns in Ihren Antrag übernommen haben. Das ist aber offenbar so schnell und schusselig geschehen, dass derselbe Satz zweimal in Ihrem Antrag auftauchte. Vielleicht machen wir es uns einfacher: Sie ziehen Ihren Antrag zurück und sagen uns, bei welchen Punkten Sie noch zusätzlichen Bestimmtheitserfordernissen Rechnung tragen wollen und bei welchen Punkten nicht.

Thomas Silberhorn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003636, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vielen Dank, Herr Kollege Ströbele, für diese Frage. Die Beantwortung dieser Frage ist der wesentliche Gegenstand meiner Rede. Wir haben deshalb einen eigenen Antrag vorgelegt, weil Ihr Antrag bei der Formulierung des Untersuchungsgegenstandes an mehreren Stellen zu unbestimmt ist. Wir sind in dieser Frage nicht ganz frei; denn die Bestimmtheit des Untersuchungsgegenstandes ist eine verfassungsrechtliche Anforderung, die wir erfüllen müssen und die das Bundesverfassungsgericht konkretisiert hat. ({0}) Insofern ist das nicht L’art pour l’art, sondern das dient im Übrigen auch dem Schutz von Betroffenen. Der Untersuchungsausschuss ist mit den scharfen Schwertern der Strafprozessordnung ausgestattet. Deswegen ist es ein Gebot der Rechtsstaatlichkeit, den Untersuchungsgegenstand exakt zu bestimmen. Wenn Sie mir gestatten - Sie dürfen gerne Platz nehmen; so viel Zeit will ich gar nicht in Anspruch nehmen -, will ich den Konkretisierungsbedarf Ihres Antrages ganz kurz erläutern. Wenn es zum Beispiel um die Überwachung der Kommunikation von und nach Deutschland geht, wollen Sie nach Ihrem Antragsentwurf ganz allgemein ausländische Nachrichtendienste erfassen und nur insbesondere US-amerikanische und britische Nachrichtendienste. Das ist zu wenig. Oder anders formuliert: Es ist zu viel, wenn man ganz allgemein alle erfassen will. Für die Bestimmtheit ist es zu wenig. An anderer Stelle ist von Kontrollinstitutionen die Rede. Aber warum werden sie nicht konkret benannt? ({1}) Es ist doch klar, worum es gehen soll: um das Parlamentarische Kontrollgremium, um die G-10-Kommission und um die Bundesbeauftragte für den Datenschutz und die Informationsfreiheit. Wenn man das weiß, kann man es auch hinschreiben. Dann ist es klar. Schließlich sollten wir in zeitlicher Hinsicht für den gesamten Untersuchungsgegenstand auf den 11. September 2001 abstellen und nicht nur für Einzelfragen einen Zeitraum definieren. Deswegen muss an mehreren Stellen der Untersuchungsgegenstand nach unserer Auffassung deutlich präziser gefasst werden. Das ist der Grund, weshalb wir einen eigenen Antrag vorlegen. Im Übrigen ist ein solcher Untersuchungsausschuss kein Selbstzweck. Die Erkenntnisse, die dort gewonnen werden, sollen unsere Sicherheit nicht gefährden, sondern, im Gegenteil, sie sollen uns helfen, dass wir für mehr Sicherheit in Deutschland sorgen können und dass wir damit auch mehr Freiheit für unsere Bürger sichern können. Wir leben insoweit nicht auf einer Insel der Seligen. Ich will nur daran erinnern, dass erst jüngst wieder Berichte bekannt geworden sind, dass meist junge Leute sich fanatisieren und dazu verleiten lassen, nach Syrien zu fahren, um dort im Bürgerkrieg zu kämpfen. Wenn diese Leute zurückkommen, sind sie ein Gefahrenpotenzial in unserer Gesellschaft, das wir nicht unterschätzen dürfen. Der Generalbundesanwalt führt nach meinen letzten Informationen sechs Ermittlungsverfahren gegen deutsche Staatsangehörige im Zusammenhang mit Syrien durch. Wenn es zutrifft, was in Medien behauptet worden ist, nämlich dass al-Qaida deutschen Dschihadisten in Syrien die Pässe wegnimmt, um diese Pässe bei Anschlägen in Europa zu verwenden, dann ist das ein alarmierendes Zeichen, das wir wirklich ernst nehmen müssen. Wir müssen die Aktivitäten solcher Kämpfer und wir müssen ihre Reisebewegungen überwachen. Dazu brauchen wir auch die Erkenntnisse von befreundeten Diensten, mit denen wir uns austauschen. Wir dürfen bitte nicht vergessen, dass Hinweise dieser befreundeten Dienste bereits mehrfach maßgeblich dazu beigetragen haben, dass Anschläge in Deutschland verhindert werden konnten. ({2}) Deswegen darf der Untersuchungsausschuss nicht dazu führen - das ist kein Vorwurf, sondern eine Sorge, die wir formulieren wollen -, dass unseren deutschen Diensten der Saft abgedreht wird und sie dann auch keine Informationen von befreundeten Diensten mehr erhalten. Vielmehr müssen wir die Globalisierung der Gefahr im Auge behalten. Dann ist klar: Wenn ein konkreter Verdacht auf schwere Straftaten besteht, dann ist der Austausch von Informationen unserer Dienste unverzichtbar für unsere Sicherheit. Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir wollen, dass der NSA-Komplex intensiv untersucht wird. Wir wollen nicht weniger aufklären als die Oppositionsfraktionen; wir wollen es nur etwas genauer, mit einer präziseren Formulierung des Untersuchungsgegenstandes. Daher sind wir bereit, über diese Formulierung zu reden. Ich darf unser Gesprächsangebot dazu ausdrücklich erneuern. Ich denke, der Geschäftsordnungsausschuss ist der richtige Ort, um diese Diskussion ernsthaft fortzusetzen. Unser Anliegen wäre, beide Einsetzungsanträge zu einem zusammenzuführen. Bei gutem Willen auf allen Seiten sollte das machbar sein. Der Untersuchungsausschuss kann einen wichtigen Beitrag dazu leisten, die richtigen Schlüsse zu ziehen für unsere Bürger, für die Unternehmen und für den Staat als Ganzes. Unser gemeinsames Ziel sollte es sein, damit bei der Datensicherheit, bei der Spionageabwehr und beim Schutz von Bürgerrechten künftig besser gewappnet zu sein. Vielen Dank. ({3})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Herzlichen Dank, Herr Kollege. - Als Nächste spricht in dieser Debatte Martina Renner für die Linke. ({0})

Martina Renner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004385, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie uns endlich beginnen: mit der parlamentarischen Aufklärung zu einem der größten - wenn nicht gar dem größten - Geheimdienstskandal in der Geschichte der Bundesrepublik. ({0}) - Da klatschen Sie, Frau Dr. Högl. Ich würde Sie gern persönlich ansprechen. Sie wissen, wie sehr ich Sie für Ihre Arbeit im NSU-Untersuchungsausschuss schätze. Aber die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses zum NSA-Skandal jetzt mit Scheinargumenten zu verhindern, schadet doch dem überwiegend gemeinsam formulierten Aufklärungswillen, wie er auch von Ihrer Fraktion in den letzten Monaten immer wieder vorgetragen wurde. Ich kann auch nicht das Argument des Kollegen Thomas Silberhorn nachvollziehen, dass unser Antrag nicht präzise sei. Er ist präzise formuliert. Ich denke, dieses Vorgehen soll der ganzen Aufklärungsdebatte ein Stück weit den Schwung nehmen. Das dürfen wir an keiner Stelle zulassen. Denn, wie der Kollege Ströbele zu Recht schon gesagt hat, die Bespitzelung geht weiter, und deswegen muss der Ausschuss endlich zum Arbeiten kommen. ({1}) Was ist denn zu untersuchen? Die Überwachung von Internet, Mails und Telekommunikation durch US-amerikanische und britische Dienste war und ist möglicherMartina Renner weise so umfassend, dass von einem Generalangriff auf die Rechte der Bürgerinnen und Bürger, der Unternehmen und des Staates gesprochen werden muss. Ich finde, die Bundesregierungen haben diese Rechte deutschen und ausländischen Geheimdiensten zur Verfügung gestellt - durch Worte, durch Taten und durch Unterlassungen. Wir brauchen einen Untersuchungsausschuss zur NSA-Affäre nicht allein zur Aufklärung des Ausmaßes der Überwachung und all dessen, worauf uns Edward Snowden in seinem mutigen und couragierten Einsatz aufmerksam gemacht hat. Wir brauchen einen Untersuchungsausschuss auch, um für die Zukunft Konsequenzen zu ziehen und die drängende Frage zu beantworten, wie Bürgerinnen und Bürger, wie Unternehmen, wie Behörden, wie Regierungen, aber wie auch die Kanzlerin vor Überwachung und Ausforschung geschützt werden können. ({2}) Für meine Fraktion gibt es drei zentrale Aspekte, die geklärt werden müssen: Erstens. Wie und in welchem Umfang haben ausländische Geheimdienste - dabei bleiben wir: ausländische Geheimdienste - private, unternehmerische und behördliche Kommunikation seit 2001 überwacht, gespeichert und verarbeitet? Zweitens - auch das ist wichtig -: Inwieweit waren deutsche Behörden und Geheimdienste durch Abkommen, Techniktransfer, aber auch Datenaustausch an der Überwachung beteiligt, haben davon gewusst oder möglicherweise sogar profitiert? Ein Untersuchungsausschuss muss auch die Frage klären, inwieweit eine Art Kollaboration der Geheimdienste diesseits und jenseits rechtlicher und internationaler Bindungen stattgefunden hat. Drittens. Beantwortet werden muss auch die Frage, wie wir als Parlament die zunehmende Privatisierung sicherheitssensibler Infrastrukturen bewerten, insbesondere im Bereich der Geheimdienste, und welche Konsequenzen für effektiven Grundrechtsschutz daraus gezogen werden müssen. Dabei geht es uns als Linken nicht darum - das wollen wir deutlich sagen -, zurückzuspitzeln und eine Art gigantische Aufrüstungsschlacht der Geheimdienste zu befördern. Es muss darum gehen, sich gemeinsam auch mit den anderen europäischen Ländern zu verständigen, wie wir die Unkultur des anlasslosen Generalverdachts gegen die Bürger und Bürgerinnen beenden und die Ausforschung von Unternehmen und Behörden stoppen oder wenigstens wirksam erschweren. ({3}) Deshalb bleibt es für uns auch so wichtig, zu untersuchen, wie die Bundesregierung und die bundesdeutschen Behörden seit den ersten Enthüllungen durch Edward Snowden zur Bespitzelungspraxis reagiert haben. Nur zur Erinnerung - Herr Ströbele hat das auch schon reflektiert -: Die Bundesregierung fiel zuerst auf durch wenig Eigeninitiative zur Aufklärung, leere Versprechungen, fast schon naiv anmutende Vertrauensbekundungen zu den Verbündeten und ein Stück weit auch technische Ahnungslosigkeit. Und genau hier - bei der Frage der Regierungsreaktionen auf die Snowden-Enthüllungen - gibt es einen zentralen Unterschied zwischen unserem gemeinsamen Antrag und dem Antrag der Fraktionen der Großen Koalition: Wir bestehen darauf, dass Edward Snowden als sachverständiger Zeuge geladen wird und dafür seine Sicherheit und sein Schutz gewährleistet werden. ({4}) Wir sagen: Es muss jetzt schnell zu einer Einigung auf Grundlage eines weit gefassten und dennoch zielgerichtet und exakt formulierten Untersuchungsauftrags kommen, der auch die Rechte der Opposition wahrt. Wir werden einer weiteren Verzögerung nicht mehr zustimmen können. Wenn es zu diesem Vorgehen kommt, wenn beide Entwürfe nun in den zuständigen Ausschuss des Bundestages gehen, kann es für uns eigentlich nur einen Weg geben: Die Regierungsfraktionen benennen die zwei, drei, vier für sie unerlässlichen Punkte oder die zu überarbeitende Formulierung, wir prüfen gemeinsam, ob diese übernommen werden können, und dann gibt es auf Grundlage unserer Vorlage einen gemeinsamen Antrag. ({5}) Verehrte Kolleginnen und Kollegen, als Linke haben wir auch aufgrund der Auseinandersetzung mit unserer eigenen Geschichte eine klare Haltung zu Geheimdiensten. Sie sind nicht zu bändigen und einer Demokratie abträglich. Wir sagen klar: Wir wollen keine Abhörzentralen, nicht von Freunden, nicht von Konkurrenten, nicht von unseren eigenen Geheimdiensten. Die Freiheitsrechte sind elementare Rechte, und sie müssen im Internetzeitalter eher mehr als weniger verteidigt werden. Das ist eine große Aufgabe für den Untersuchungsausschuss und eine Herausforderung für alle, die sich der Aufgabe stellen werden - im Interesse der Bürger- und der Grundrechte. ({6})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Kollegin Martina Renner. - Ich glaube, das ganze Haus gratuliert Ihnen zu Ihrer ersten Rede hier im Deutschen Bundestag. ({0}) Wir wünschen Ihnen viel Erfolg bei Ihrer parlamentarischen Arbeit. Die nächste Rednerin in der Debatte - sie gratuliert noch schnell - ist Dr. Eva Högl für die SPD. ({1})

Dr. Eva Högl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003896, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Liebe Frau Renner, auch von mir herzlichen Glückwunsch zur ersten Rede! Auf gute Zusammenarbeit! Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie mich damit beginnen, meiner Enttäuschung Ausdruck zu verleihen. Ich bin enttäuscht darüber, dass wir es als Parlament trotz der wegweisenden Erfahrungen im NSU-Untersuchungsausschuss bisher nicht geschafft haben, bei einem Thema, das uns alle hier seit Monaten beschäftigt und zu dem immer neue Einzelheiten bekannt werden, an einem Strang zu ziehen. ({0}) Wir haben als Koalition noch letzten Dienstag, also vor der förmlichen Einbringung unseres eigenen Antrags, auf der Ebene der Ersten Parlamentarischen Geschäftsführer angeboten, fraktionsübergreifend einen gemeinsamen Antragstext zu erarbeiten. Leider wurde das von der Opposition rigoros abgelehnt. ({1}) Damit haben wir zunächst einmal die Chance vertan, auch gegenüber denjenigen, deren Verhalten wir in den nächsten Jahren untersuchen wollen, ein klares Zeichen zu setzen, nämlich das Zeichen, dass das gesamte Parlament hier mit einer Stimme spricht und unisono Aufklärung verlangt. Das ist mehr als bedauerlich. ({2})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Frau Kollegin, erlauben Sie eine Zwischenfrage?

Dr. Eva Högl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003896, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Mir ist heute nicht nach einer Zwischenfrage; ich würde gern im Zusammenhang ausführen. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Wenn sie die Zwischenfrage nicht zulassen möchte, dann braucht sie sie auch nicht zuzulassen.

Dr. Eva Högl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003896, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Haßelmann kann das ja nachher noch vortragen. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Frau Högl hat das Wort.

Dr. Eva Högl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003896, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Die im Raum stehenden Vorwürfe massenhafter schwerer Bürgerrechtsverletzungen eignen sich nicht für die Inszenierung einer von der Mehrheit gebeutelten Opposition. Das sage ich hier ganz deutlich. Sie eignen sich schon deshalb nicht, weil wir als Koalition ein ebenso großes Interesse an der umfassenden Aufklärung der Vorwürfe haben wie die Abgeordneten der Opposition. Und dieses Interesse haben wir nicht erst seit dieser Woche. ({0}) Bereits im Oktober letzten Jahres hat Thomas Oppermann hier im Plenum öffentlich zu Recht die Einsetzung eines Parlamentarischen Untersuchungsausschusses zum NSA-Skandal gefordert, ({1}) um eine umfassende und gründliche Aufklärung der schweren Vorwürfe zu ermöglichen. Damit ist ganz klar, dass wir, die Abgeordneten der Koalition, ein hohes und berechtigtes Interesse an der Aufklärung haben. Das Recht, hier Aufklärung zu verlangen - auch das sage ich Ihnen ganz deutlich -, steht nicht nur der Opposition zu, sondern allen Kolleginnen und Kollegen dieses Hauses. ({2}) Wir wollen im Deutschen Bundestag aufklären, inwieweit die Bürgerinnen und Bürger, aber auch Wirtschaftsunternehmen einer massenhaften verdachtsunabhängigen Erfassung und Speicherung ihrer Kommunikationsdaten und -inhalte durch amerikanische und britische Dienste ausgesetzt sind. Wir wollen hier gemeinsam aufklären, ob und inwieweit deutsche Stellen, insbesondere unsere Nachrichtendienste, von derartigen Praktiken wussten, daran beteiligt waren oder in irgendeiner Weise Nutzen daraus gezogen haben. Wir wollen, wenn sie nichts wussten, wissen, warum sie nichts wussten und warum sie nichts dagegen unternommen haben. ({3}) Darüber hinaus wollen wir herausarbeiten, wie wir die Grundrechte auf Privatheit und informationelle Selbstbestimmung, die schließlich zum Kern unserer Verfassung gehören, auch in Zukunft bestmöglich schützen können. Das Aufklärungsinteresse der Opposition - das ist die gute Nachricht, und das eint uns hier - geht grundsätzlich in dieselbe Richtung. Und doch begegnet Ihr Antrag erheblichen Bedenken, die ich gerne an dieser Stelle deutlich machen will. Ihr Antrag ist an mehreren Stellen unklar und unpräzise und entspricht nicht den Vorgaben des Bestimmtheitsgrundsatzes. Das hat der Kollege Silberhorn hier anhand bestimmter Formulierungen schon ausgeführt. In Ihrem Antrag sind auch Formulierungen enthalten, die so unklar sind, dass dadurch die Kompetenzen des Deutschen Bundestages und auch des Untersuchungsausschusses teilweise überschritten würden. Ich will ein Beispiel nennen: Der Oppositionsantrag sagt viel zu ausländischen Nachrichtendiensten. Darunter fallen weltweit alle ausländischen Nachrichtendienste bis auf unsere eigenen. Das ist keine klare Eingrenzung dessen, was untersucht werden soll, und es wäre von einem Ausschuss überhaupt nicht leistbar, alle ausländischen Nachrichtendienste zu erfassen. Wir können auch nicht untersuchen, ob die Handlungen ausländischer Staaten in anderen ausländischen Staaten rechtswidrig waren. Auch das übersteigt unsere Kompetenz, und es fehlt ein Bezug zu Deutschland bei dieser Fragestellung; denn Deutschland will ja nicht eine Weltgrundrechtspolizei sein. Insofern können wir das nicht untersuchen. ({4}) Wir können hier nur Missstände mit klarem Bezug zu Deutschland untersuchen, und genau darauf zielt der Antrag der Koalition, zum Beispiel bei der Frage, inwieweit amerikanische und britische Dienste Grundrechte in Deutschland verletzt haben. Genau darum geht es. ({5}) Dabei geht es auch um die Untersuchung einer möglichen Beteiligung oder einer Nutznießung deutscher Dienste hinsichtlich solcher Praktiken. Unser Interesse ist, das aufzuklären. Ein weiteres Kernproblem des Oppositionsantrags ist, dass nicht deutlich genug unterschieden wird zwischen der massenhaften, verdachtsunabhängigen Erfassung und Speicherung von Daten einerseits und der anlassbezogenen Tätigkeit im Einzelfall andererseits. Das ist eine ganz wichtige Unterscheidung, die wir hier auch treffen müssen. Darauf kommt es im Detail sehr an. Ich bin aber jedenfalls froh darüber - auch das will ich sagen, nachdem ich eben von meiner Enttäuschung gesprochen habe -, dass deutlich geworden ist, dass Sie mit Ihrem Antrag nicht die gesamte nachrichtendienstliche Tätigkeit zum Gegenstand des Untersuchungsausschusses machen wollen, sondern dass es auch Ihnen darum geht, ebendiese massenhafte, verdachtsunabhängige Gewinnung von Kommunikationsdaten zu untersuchen. Dann müssen Sie es aber, Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, genau so auch in Ihrem Antrag formulieren. ({6}) Ich will ganz deutlich sagen, dass der Antrag nicht nur rechtlichen Bedenken begegnet, sondern meiner und unserer Meinung nach auch inhaltlich viel zu kurz greift. Das fängt bereits damit an, dass Sie nur von Überwachung von Kommunikationsvorgängen sprechen. Es geht aber darum, bereits die Erfassung und die Speicherung von Daten in den Blick zu nehmen; denn diese haben bereits Eingriffscharakter, unabhängig davon, ob sie später ausgewertet werden. Das ist eine ganz wichtige Unterscheidung. Da setzt unser Antrag sogar früher an und ist insoweit auch viel präziser. Außerdem wollen wir durch den Untersuchungsausschuss klären, inwieweit Botschaften und militärische Standorte in Deutschland für die Kommunikationserfassung genutzt wurden. Auch das ist ein wichtiger Gesichtspunkt, zu dem Sie nichts sagen. ({7}) Wir wollen auch aufklären, inwieweit Wirtschaftsunternehmen von den Maßnahmen betroffen waren und was deutsche Stellen genau hierüber wussten. Auch dazu findet sich im Oppositionsantrag sehr wenig. Schließlich haben wir in unseren Antrag Reformaspekte aufgenommen. Wir wollen nämlich auch den Reformbedarf unter die Lupe nehmen. Diesen Aspekt dürfen wir auf keinen Fall vernachlässigen. Es ist Aufgabe unseres Staates und dieses Parlaments, die Grundrechte der Privatheit und der informationellen Selbstbestimmung effektiv zu schützen und dafür Sorge zu tragen, dass die Bürgerinnen und Bürger die Möglichkeit haben, sicher elektronisch zu kommunizieren. Daran müssen wir hier als Parlamentarier gemeinsam arbeiten. Wer also genau hinschaut und unseren Antrag liest - das ist vielleicht ganz hilfreich, wenn wir gegenseitig ganz genau schauen, was in den Anträgen steht -, sieht, dass in unserem Antrag die Anliegen der Opposition nicht nur halbherzig, weil wir gedacht haben, dass das zum guten Ton gehört, sondern umfassend aufgegriffen und handwerklich sauber ausformuliert worden sind. Wir haben weiterhin die Fragen zum Rechercheprojekt „Geheimer Krieg“ sowie danach, ob die Auskünfte der alten Bundesregierung nach den Enthüllungen von Edward Snowden zutreffend oder ausreichend waren, aufgegriffen. Auch das haben wir aus Ihrem Antrag übernommen. Deswegen bitte ich Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, jetzt ganz inständig darum: Legen Sie beide Anträge einmal nebeneinander. ({8}) Prüfen Sie sorgfältig, inwieweit Ihr Aufklärungsinteresse nicht von unserem Antrag abgedeckt ist. Ich bin sehr sicher, dass bei der Prüfung dann nicht mehr viel übrig bleibt. ({9}) Ich möchte eins ganz deutlich sagen: Es kommt nicht häufig vor, dass die Mehrheit - wir haben hier eine große Mehrheit - mit der Opposition ein und dasselbe Ziel verfolgt. ({10}) Wenn das ausnahmsweise einmal der Fall ist, dann sollten wir hier als Parlamentarierinnen und Parlamentarier auch bereit und in der Lage sein, im Interesse einer bestmöglichen Aufklärung und Regierungskontrolle zusammenzuarbeiten. ({11}) Dafür möchte ich an dieser Stelle noch einmal ganz ausdrücklich werben, gerade weil wir hier - Frau Renner, Sie haben es angesprochen - in der letzten Legislaturperiode sehr gute Erfahrungen damit gemacht haben, gemeinsam aufzuklären und gemeinsam Perspektiven zu formulieren. Deshalb hoffe ich wirklich, dass wir bei den Beratungen im Geschäftsordnungsausschuss doch noch zu einem gemeinsamen und verfassungsgemäßen Antragstext kommen und die Einsetzung des Untersuchungsausschusses gemeinsam beschließen können. Das muss unser Ziel sein. Das hat auch Frau Renner ganz am Anfang gesagt, weshalb ich an dieser Stelle aus voller Überzeugung geklatscht habe. Im Interesse der Bürgerinnen und Bürger müssen wir hier sehr schnell, aber auch auf der Grundlage einer sehr sorgfältigen Formulierung, mit der parlamentarischen Aufklärungsarbeit beginnen. Dafür können wir heute den Startschuss setzen. Herzlichen Dank. ({12})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Frau Kollegin. - Das Wort zu einer Kurzintervention hat die Kollegin Britta Haßelmann.

Britta Haßelmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003764, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank, Frau Präsidentin! - Liebe Kollegin Högl, Sie hatten mich ja persönlich wegen der Runde der Ersten PGFs angesprochen. In der Tat haben wir natürlich beide Anträge bzw. Ihren Antragsentwurf und unseren Antrag in einer ersten Runde diskutiert. Ich will hier noch einmal deutlich sagen: Der Eindruck, den Sie hier zu vermitteln versuchen, wir hätten das alles rigoros abgelehnt, ist so nicht zutreffend. Wir haben Ihnen am Dienstagabend - beide Fraktionen zusammen; Petra Sitte und ich - nach intensiver Beratung in den Fraktionen schriftlich mitgeteilt, dass wir selbstverständlich gerne bereit sind, mit Ihnen das Gespräch zu suchen über die Frage „Ergänzungen, Präzisierungen hinsichtlich eines gemeinsamen Untersuchungsauftrages“, dass wir aber nicht bereit sind, materiell oder substanziell hinter unseren Untersuchungsauftrag zurückzugehen. Das ist der wesentliche Unterschied. Sie können doch ganz deutlich öffentlich sagen, dass Sie an einem Punkt unserem Untersuchungsauftrag nicht folgen wollen - bislang zumindest, vielleicht ändert sich das noch im Laufe der Beratungen; ich hoffe darauf. Sie waren bisher nicht bereit, auf die Frage, welche Verantwortung und welche - auch aktive - Rolle deutsche Dienste in diesem Kontext - Stichwort „Ringtausch“ haben, einzugehen. Das ist für die Grünen und die Linken mit Blick auf die materielle und auch substanzielle Seite unseres Untersuchungsauftrages sehr wichtig. Also hören Sie auf, so zu tun, als wären wir nicht gesprächsbereit. Wir haben schriftlich dargelegt, dass wir bereit sind, zu reden. Worüber wir zu reden bereit sind, weiß auch jeder. Sie können gerne einmal öffentlich erklären: Warum sind Sie nicht bereit, beim Thema „Ringtausch und Verantwortung deutscher Dienste“ mitzuarbeiten? Dies ist etwas, was sich mir nicht erschließt. Warum haben Sie bisher solche Gegenwehr geleistet? ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Danke, Frau Kollegin. - Frau Högl, wenn Sie mögen, haben Sie die Möglichkeit, zu antworten.

Dr. Eva Högl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003896, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Frau Haßelmann, ich nutze die Gelegenheit gerne, darauf kurz zu antworten. Zunächst einmal werte ich Ihre Intervention als ein Signal, dass wir noch zueinanderkommen. Das ist unser gemeinsames Anliegen. Ich habe das ausgeführt. Bei den Beratungen im ersten Ausschuss haben wir die Chance, die beiden Anträge nebeneinanderzulegen. Es wäre eine vertane Chance, wenn wir nicht gemeinsam einen Untersuchungsauftrag beschließen. Ich drücke das hier noch einmal ganz deutlich aus, dass uns allen dies sehr am Herzen liegt. Es wäre auch ein starkes Signal in Richtung derjenigen, die wir kontrollieren wollen. Dann muss ich Ihnen noch einmal ganz deutlich sagen - das habe ich eben ausgeführt -: Wir haben Ihre Aufklärungsanliegen in unseren Antrag übernommen. ({0}) Wir gehen sogar darüber hinaus. Die Detailfragen ({1}) klären wir jetzt bei der Beratung im ersten Ausschuss. Dann hoffe ich, dass wir zueinanderkommen. Vielen Dank. ({2})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Frau Dr. Högl. - Als letzter Redner dieser Aussprache hat Dr. Patrick Sensburg für die CDU/ CSU-Fraktion das Wort. ({0})

Prof. Dr. Patrick Sensburg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004155, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir sind uns in diesem Haus zumindest einig - so habe ich es in der Debatte festgestellt -, dass verdachtsunabhängige, massenhafte Erfassungen und Auswertungen von Daten deutscher Bürger und Unternehmen durch ausländische Dienste nicht akzeptabel sind. ({0}) Ich hätte mir gewünscht, Herr Kollege Ströbele, dass Sie in Ihrer Rede nicht die Hälfte der Redezeit darauf verwendet hätten, zu diskutieren, welchen Untersuchungsumfang die Koalition für einen entsprechenden Untersuchungsausschuss vorgesehen hat, sondern tiefer in die Materie eingedrungen wären. Sie haben uns vorgeworfen, der Antrag sei nicht weitreichend genug, haben dann die Besorgnis des Präsidenten des Bundesverfassungsgerichtes betont. In Ihrem Antrag jedoch wird das Bundesverfassungsgericht gar nicht erwähnt. In unserem Antrag steht es: als oberstes Verfassungsorgan. Sie benennen es gar nicht. Allein daran sieht man, dass Ihr Antrag nicht weitreichend ist. Unserer ist weitreichender. Ich hätte mir gewünscht, dass Sie inhaltlich mehr in die Materie einsteigen, als es hier am Rande zu diskutieren. ({1}) Das Abfangen von Daten der Regierung, aber auch der Abgeordneten stellt nach dem deutschen Strafgesetzbuch einen Straftatbestand dar. ({2}) Nicht umsonst ermittelt derzeit der Generalbundesanwalt in diese Richtung. Für die kommende Woche hat der Generalbundesanwalt diesbezüglich eine Einschätzung angekündigt. Darüber hinaus dürfen wir nicht akzeptieren, dass das Recht auf informationelle Selbstbestimmung, dass Rechte auf geschützte Kommunikation per Telefon, per E-Mail, per SMS oder auch auf Datenplattformen, auf Kommunikationsplattformen massiv angegriffen werden. ({3}) Dies geschieht alles ohne demokratische Kontrolle durch deutsche Gerichte oder Behörden - und das gegenüber deutschen Bürgern.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage oder Bemerkung der Kollegin Renner?

Prof. Dr. Patrick Sensburg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004155, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich möchte noch gerne einen Satz sagen, dann ist Gelegenheit dazu. Dann macht die Frage noch mehr Sinn.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Gut.

Prof. Dr. Patrick Sensburg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004155, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich glaube, wird sind uns in diesem Haus einig, dass wir diesbezügliche Vorkommnisse, die wir seit Juni letzten Jahres erleben mussten, in einem Untersuchungsausschuss aufarbeiten wollen. Jetzt kann die Kollegin die Frage stellen.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Jetzt, Frau Kollegin Renner, wenn Sie mögen.

Martina Renner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004385, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Dr. Sensburg, Sie haben, wie andere Rednerinnen und Redner der Regierungskoalition, darauf abgestellt, zu sagen: Wir müssen uns auf die anlasslose Überwachung durch die Dienste der USA und Großbritanniens konzentrieren. Es steht auch die Überwachung des Mobilfunks der Kanzlerin, aber auch des ehemaligen Kanzlers Schröder im Raum. Ich frage Sie: Zählt das etwa zur anlasslosen Überwachung? Doch sicherlich nicht. Es gibt doch aufgrund der Enthüllungen schon jetzt konkrete Hinweise darauf, dass gezielt abgehört wurde. Das war meine erste Frage. Ich würde gerne eine zweite Frage anfügen. Wir wissen doch auch aus der Praxis der Geheimdienste und den Ermittlungen im NSU-Untersuchungsausschuss, wie schnell ein Geheimdienst einen Anlass konstruiert, um tätig werden zu können. Deswegen stelle ich die konkrete Frage: Wollen Sie den Untersuchungsauftrag tatsächlich nur auf die anlasslose Überwachung konzentrieren, oder sind Sie bereit, den Untersuchungsgegenstand auch auf alle anderen Geheimdiensttätigkeiten auszuweiten? ({0})

Prof. Dr. Patrick Sensburg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004155, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herzlichen Dank für die Frage. Wir stellen fest, dass Sie unheimlich viele Aspekte in Ihren Antrag einbeziehen. Da ist einmal der Zeitraum: Sie grenzen in Ihrem gesamten Antrag den Zeitraum nicht ein; nur bezüglich einzelner Punkte ist der Zeitraum eingegrenzt. Ich habe mich schon gefragt: Wollen Sie im Grunde die Arbeit der NSA bis 1952 zurückverfolgen? Ist das Ihr Untersuchungsauftrag? Sie haben den Zeitraum nicht eingegrenzt. ({0}) Sie grenzen auch nicht ein, welche Behörden in den Blick genommen werden sollen. Wollen Sie im Grunde schauen, welche Sicherungsmaßnahmen auf den Computern deutscher Behörden stattfinden, bis hin zum Geschäftszimmer oder zum Soldaten einer Kompanie? Wie soll ein Untersuchungsausschuss ein solches Volumen leisten und auch Behörden und nachgeordnete Einrichtungen in den Blick nehmen? Das ist ein sehr großes Volumen. Sie sind da unpräzise. Ich könnte jetzt viele weitere Aspekte benennen. Ich komme jetzt zu Ihrer Frage, ob auch verdachtsbezogene und anlassabhängige Überwachungen oder nur verdachtsunabhängige und anlassunabhängige Überwachungen einbezogen werden sollen. Wenn man die verdachtsbezogenen, anlassabhängigen Fälle mit einbezieht, dann hat man einen Untersuchungsauftrag, der jedweden Datenaustausch bis hin zur gewollten interna1076 tionalen Rechtshilfe umfasst. Wir leisten in Deutschland aufgrund internationaler Abkommen in weiten Bereichen Rechtshilfe für unsere Partnerstaaten. All das ist in Ihrem Vorschlag eines Untersuchungsauftrags enthalten. Denken Sie mal an den großen Bereich des Austausches von Steuerdaten, an das FATCA-Abkommen zur Steuerhinterziehung - das ist ein Abkommen mit den USA -: All das wäre von dem Untersuchungsauftrag, den Sie vorschlagen, mit abgedeckt. Ich muss ganz ehrlich sagen, welcher Gedanke mir so ein bisschen kam, als ich Ihren Antrag las. Sie wollen untersuchen: unbefristete Datengewinnung und quasi grenzenlose Datensammlung zu einem unbestimmten Personenkreis. Ich habe den Eindruck gewonnen, dass Sie da fast auf der gleichen Argumentationslinie sind, wie man es von der NSA gewohnt ist. ({1}) Meine Damen und Herren, ich glaube, man sollte nicht einfach Daten, egal aus welcher Quelle, sammeln und dann schauen, wie man sie nutzen kann, sondern einen präzisen Auftrag formulieren. Das ist der Grund, warum wir einen eigenen Antrag eingebracht haben. Frau Haßelmann, ich muss es an dieser Stelle leider betonen: Die gemeinsamen Gespräche sind dadurch geendet, dass Sie gesagt haben: Wir möchten an der Stelle keinen gemeinsamen Antrag einbringen. ({2}) Sie haben nicht erkannt, dass unser Antrag im Grunde weitreichender ist und Ihnen nutzen würde. ({3}) Es ist in der Runde der PGF besprochen worden, und ich hätte mir gewünscht, dass man da zusammenkommt und den weitreichenderen Antrag nimmt. Vielleicht tun wir doch beide Anträge zusammen, Frau Haßelmann. ({4})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Herr Kollege, erlauben Sie eine weitere Zwischenfrage oder -bemerkung, und zwar vom Kollegen Dr. von Notz?

Prof. Dr. Patrick Sensburg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004155, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Gerne.

Dr. Konstantin Notz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004123, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank, Herr Kollege, dass Sie die Zwischenfrage zulassen. Ich würde gerne wissen, woher Sie diese Information haben; denn ich meine bei dem Gespräch, in dem das verhandelt wurde, was Sie gerade ansprachen, im Gegensatz zu Ihnen dabei gewesen zu sein. Wir haben explizit gesagt, dass wir bereit sind, den entsprechenden Teil des Antrags der Großen Koalition unter unseren Antrag zu packen, sodass kein Wort von dem, was Sie wollen, verloren geht. Ist es nicht vielmehr so, dass Sie versuchen, genau das, was hier im Raum steht, was relevant und auch aufklärbar ist, nämlich die Rolle der deutschen Dienste und der internationale Ringtausch von Daten, zu verbrämen und nicht aufzuklären? ({0})

Prof. Dr. Patrick Sensburg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004155, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ganz herzlichen Dank für Ihre Frage und die gleichzeitige Bestätigung, dass Sie unserem Antrag nicht folgen wollten, obwohl er weitreichender ist. Sie haben das Angebot gemacht, einen Teil unseres Antrags unter Ihrem einzufügen. Ihr Antrag reicht aber an vielen Punkten nicht aus. Ich muss nicht das wiederholen, was die Kollegin Högl und der Kollege Silberhorn zu Recht gesagt haben. Ich könnte Ihnen noch einmal darlegen - durch Ihre Zwischenfrage wäre genug Redezeit vorhanden -, dass Ihr Antrag an vielen Punkten - ich will es mal so sagen - etwas dünn formuliert und an vielen Stellen zu unbestimmt, verfassungswidrig und nicht weitreichend genug ist. Ich glaube nicht, dass es eine besonders kluge Entscheidung wäre, unseren Antrag unter Ihren zu packen, wie Ihr sehr freundliches Angebot suggeriert. Wäre es nicht sinnvoll, wenn man die Größe hätte, zu sagen: Wir legen beide Anträge zusammen und machen das Beste draus. Die Einladung von unserer Seite besteht. Wir sollten den Weg gemeinsam gehen. Das Signal der Geschlossenheit unseres Parlamentes wäre für die Arbeit des Untersuchungsausschusses sicherlich deutlich zweckdienlicher. ({0}) Meine Damen und Herren von der Opposition, ich will Ihnen einen weiteren Grund nennen, warum es klug wäre, mit uns zusammenzuarbeiten. In unserem Antrag gehen wir nicht nur auf die Verletzung der Rechte der Bundesregierung oder der Abgeordneten ein. Wir haben in einem ganzen Abschnitt dargelegt, in welchem Bereich uns der Schutz der informationellen Selbstbestimmung, der Privatsphäre, des Fernmeldegeheimnisses, der Integrität und Vertraulichkeit informationstechnischer Systeme wichtig ist, gerade in Bezug auf die Bürgerinnen und Bürger. Allein dieser große Bereich muss uns wichtiger oder zumindest genauso wichtig sein wie das Abhören von staatlichen und behördlichen Institutionen. Wo in Ihrem Antrag ist der große Bereich, in dem Sie auf die Rechte der Bürgerinnen und Bürger rekurrieren? Herr Ströbele hat etwas lapidar über unseren Antrag gesagt, dass er - ich darf Sie zitieren - „etwas dicker ist“. Stimmt, er ist dicker, weil er einen ganzen Abschnitt über die Rechte von Bürgerinnen und Bürgern enthält. Es ist uns wichtig, dass diese im Antrag enthalten sind. Von daher: Lassen Sie uns doch beide Anträge zusammenfügen. Es macht Sinn. ({1}) An einigen Punkten finden Sie die Informationen zwischen den Zeilen, Herr Kollege Ströbele. ({2}) Gerade von Ihnen hätte ich erwartet, dass Sie mehr auf die Rechte von Bürgerinnen und Bürgern eingehen. Im Zweifel werden wir es machen. Letztendlich müssen wir uns fragen: Welche Ergebnisse erhoffen wir uns von einem Untersuchungsausschuss? Es handelt sich zwar nicht um eine EnqueteKommission, aber wir sollten in diesem Zusammenhang versuchen, die Fragen zu beantworten, ob wir in Deutschland nicht eine stärkere Verschlüsselung von Daten brauchen, ob wir nicht mehr nationale Knotenpunkte und eigene Datennetze brauchen und ob wir ausreichend sowohl in die IT-Infrastruktur als auch in den IT-Standort Deutschland investieren. Man muss sich schon die Frage stellen, warum ein Großteil der Unternehmen, deren Daten möglicherweise abgeschöpft werden, ihren Sitz nicht in Europa, sondern in den Vereinigten Staaten hat. Sind wir gegenüber der IT-Branche ausreichend freundlich, oder müssen wir nicht weitere Anreize schaffen, damit die Unternehmen hierbleiben? Ich könnte mir vorstellen, dass uns der Untersuchungsausschuss Ansatzpunkte für die Beantwortung dieser Fragen liefert. All dies können wir gemeinsam leisten. Wenn wir uns nicht in Geschäftsordnungsdebatten oder in verdeckten Debatten über antiamerikanische Klischees verlieren, dann könnten wir uns gemeinsam dieser Aufgabe widmen. Der erste Ansatz wäre, dass wir uns zeitnah - Kollege Silberhorn hat darauf hingewiesen - im Geschäftsordnungsausschuss wiederfinden, um über das Zusammenführen beider sicherlich guter Anträge zu beraten. Danke schön für Ihre Aufmerksamkeit. ({3})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Herr Kollege. - Damit schließe ich die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 18/420 und 18/483 an den Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Ja, das sind Sie. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Feststellung des Wirtschaftsplans des ERP-Sondervermögens für das Jahr 2014 ({0}) Drucksache 18/273 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Energie ({1}) Drucksache 18/500 Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, die sich mit dem vorherigen Thema beschäftigt haben, entweder draußen weiterzureden oder diesem spannenden Tagesordnungspunkt 10 zu lauschen. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort für die Bundesregierung hat Frau Staatssekretärin Iris Gleicke. ({2})

Iris Gleicke (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000687

Liebe Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Kleine und mittlere Unternehmen verdienen unsere besondere Aufmerksamkeit. Sie erwirtschaften mehr als jeden zweiten Euro und stellen über die Hälfte aller Arbeitsplätze in Deutschland. Kleine und mittlere Unternehmen, KMU, beschäftigen über 15 Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, und die Beschäftigungserwartungen steigen weiter. Nach aktuellen Befragungen wollen mehr KMU neue Arbeitsplätze schaffen als streichen. Die Unternehmen beurteilen ihre Geschäftslage so gut wie seit langem nicht mehr. Damit sich der positive Trend fortsetzt, damit der Mittelstand seine Leistungsfähigkeit weiterhin entfalten kann, ist er von einem gut funktionierenden Finanzierungsangebot abhängig. Die Bedingungen sind derzeit so gut wie selten zuvor. Die Eigenkapitalquoten der kleinen und mittelständischen Unternehmen sind in den letzten Jahren gestiegen. Dadurch verbessert sich ihr Rating und damit wiederum ihr Zugang zur Fremdfinanzierung. Das historisch niedrige Zinsniveau führt zu günstigen Konditionen bei Bankkrediten. Der Zugang zu Krediten war für Mittelständler in den letzten zehn Jahren nie besser als derzeit. Der Bankkredit ist und bleibt logischerweise die wichtigste Fremdfinanzierungsquelle für kleinere und mittlere Unternehmen. Glücklicherweise haben wir ein gut funktionierendes Bankensystem. Sparkassen, Volksund Raiffeisenbanken stellen die Kreditversorgung des Mittelstandes zum allergrößten Teil sicher. Das ist ein Hausbankensystem, bei dem die langjährigen Geschäftsbeziehungen im Vordergrund stehen. Wir als Ostdeutsche wissen, dass gerade Volks- und Raiffeisenbanken sowie Sparkassen die Kreditversorgung in den neuen Bundesländern sichergestellt haben. Auch wenn die Situation zurzeit recht gut aussieht, stehen aktuell Herausforderungen an, die unsere Aufmerksamkeit erfordern. Wir haben trotz historisch niedriger Zinssätze und eines guten Kreditzugangs eine Investitionslücke. Gerade im letzten Jahr war die Kreditnachfrage verhalten. Aber wir haben eben auch besondere Investitionsbedarfe. Gerade der Bevölkerungswandel und eine nachlassende Gründungsdynamik verändern die Anforderungen an Unternehmen und an die Gesellschaft. Diese Investitionszurückhaltung kann sich aber ganz schnell wieder ändern. Es gibt eine Studie der Volks- und Raiffeisenbanken - sie heißt „Mittelstand im Mittelpunkt“ -, nach der viele der befragten kleinen und mittleren Unternehmen innerhalb des nächsten halben Jahres Investitionen planen. Vor diesem Hintergrund sprechen wir heute über die Förderung des Mittelstands aus dem ERP-Sondervermögen. Der vorgelegte Wirtschaftsplan hat zum Ziel, die Wettbewerbsfähigkeit von kleinen und mittleren Unternehmen zu stärken. Er dient damit vor allem der Schaffung und der Sicherung von Arbeitsplätzen - ich will hinzufügen: von guten Arbeitsplätzen - und hilft damit, den Finanzierungsbedarf der KMU zu decken. Für das Jahr 2014 stehen für die Förderung rund 340 Millionen Euro zur Verfügung. Damit kann ein Kreditvolumen in Höhe von 6,3 Milliarden Euro an kleine und mittlere Unternehmen zugesagt werden. Damit ist die ERP-Wirtschaftsförderung weiterhin eine verlässliche Unterstützung des Mittelstands. Sie hilft, die größenbedingten Nachteile von KMU gegenüber den ganz großen Unternehmen abzumildern. Das gilt in ganz besonderem Maße für die kleinteilige, mittelständisch geprägte ostdeutsche Wirtschaft. Auch das will ich an dieser Stelle sagen. ({0}) Wir haben vier Schwerpunkte gesetzt: Wir wollen erstens die Gründungsfinanzierung sicherstellen und uns zweitens mit der Innovationsfinanzierung beschäftigen. Die dritte Säule ist die Exportfinanzierung und die vierte die Regionalförderung. Dort stehen zinsgünstige und lange laufende Darlehen für den Mittelstand bereit. Daneben bietet aber auch die ERP-Förderung Beteiligungskapital an. Ich weiß, dass das ein ganz wichtiger Schwerpunkt bei der Mittelstandsfinanzierung ist. Ich will ein Beispiel aus dem Regionalförderprogramm nennen. Unternehmen, die in strukturschwachen Regionen investieren, erhalten günstige Kredite. Das gilt - auch das ist mir wichtig - in Ost und West gleichermaßen und folgt einer modernen Finanzierungsförderung, die wir weiter ausbauen wollen. ({1}) Die Vergabe von Fördermitteln aus dem ERP-Sondervermögen ist nach wie vor eine sehr effiziente Form der Wirtschaftsförderung. Sie ist bei Unternehmen und Banken etabliert und ergänzt sinnvoll das Angebot der Kreditwirtschaft in Bereichen, die besonderer Unterstützung bedürfen. Wir haben gestern ja nicht nur im Wirtschaftsausschuss, sondern auch im Tourismusausschuss darüber geredet. Gerade der Tourismus leidet immer wieder darunter, darstellen zu müssen, wo seine Entwicklungspotenziale liegen. Deshalb ist es mir wichtig, an dieser Stelle noch eine besondere Förderform anzusprechen: den MezzaninDachfonds. Es gibt auch eine Mikromezzaninförderung, bei der ganz kleine Kredite von bis zu 10 000 Euro gefördert werden. Das ist im Bereich des Tourismus und im Bereich der Dienstleistungen besonders attraktiv und hilft gerade den ganz kleinen Keimzellen in der Wirtschaft. ({2}) Die Kreditwirtschaft wird in die Vergabe der Fördermittel mit einbezogen. Das ist wichtig, damit die Anträge kaufmännisch geprüft werden. Das senkt die Wahrscheinlichkeit für einen Ausfall des Förderkredits und eine Belastung der öffentlichen Haushalte. Aus all diesen Gründen bin ich von der Richtigkeit des von uns gewählten Ansatzes und der Wichtigkeit des ERP-Wirtschaftsplangesetzes, insbesondere für den Mittelstand, überzeugt. Deshalb bitte ich Sie heute hier um Ihre Zustimmung. Herzlichen Dank. ({3})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Danke, Frau Kollegin Gleicke. - Der nächste Redner ist Thomas Lutze für die Linke. ({0})

Thomas Lutze (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004103, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Die heutige Vorlage trifft auf unsere Zustimmung, da das ERP-Sondervermögen weiterhin zur Förderung von verbilligten Krediten für kleine und mittelständische Unternehmen genutzt werden soll. Entgegen früherer Befürchtungen meiner Fraktion - ich erinnere an die 16. Wahlperiode - ist es wohl so, dass der Substanzerhalt des Sondervermögens auch unter dem Dach der Kreditanstalt für Wiederaufbau, also der KfW, gesichert ist. Deshalb werden wir dem vorliegenden Gesetzentwurf zustimmen. Wir fordern aber mehr Transparenz bei der Aufteilung der Mittel auf die einzelnen Förderprogramme. Die sehr grobe Einteilung in die Finanzierungszwecke ist nicht zufriedenstellend. Eine wirksame Kontrolle durch das Parlament braucht ausreichende Transparenz. Denn sosehr die mittelständische Wirtschaft die Unterstützung braucht, sollten wir an dieser Stelle doch etwas genauer differenzieren. Der Titel des Förderschwerpunktes Exportfinanzierung ist uns zu pauschal gewählt. Die Krise in Europa ist immer noch nicht ausgestanden, ganz im Gegenteil: Sie hält Griechenland und andere Länder noch immer in Atem. Die unsozialen Kürzungen müssen die Bevölkerungen der betroffenen Länder im Prinzip allein ausbaden. Sie sind Resultat einer völlig verfehlten Finanzpolitik in Europa. Eine Ursache für die Krise ist das wirtschaftliche Ungleichgewicht der Euro-Länder. Deutschland trägt mit seiner Politik der Reallohnsenkung und der Exportorientierung ganz entscheidend zu diesem Ungleichgewicht bei. So kann eine Lösung der aktuellen Krise nur mit einer langfristigen Senkung der Exportquote Deutschlands gelingen. Unserer Meinung nach braucht es Maßnahmen zur Stärkung der Binnennachfrage. ({0}) Das ERP-Sondervermögen sollte mit einer noch aktiveren Industriepolitik den Strukturwandel hier im Land begleiten. Wir müssen der Deindustrialisierung gerade der ostdeutschen Bundesländer, aber auch zunehmend vieler Regionen im Westen unserer Republik entgegenwirken. Die Linke fordert mittelfristig neben der Benennung von Förderzwecken auch Ausschlusskriterien bei der Auswahl der zu fördernden Unternehmen. Firmen, die ihr Geld mit Rüstung oder mit Waffenexporten verdienen, sollten keine Förderung erhalten. ({1}) Unternehmen, die klimaschädliche oder Atomtechnologien verkaufen oder exportieren, stehen der Energiewende, über die wir uns ja im Großen und Ganzen einig sind, eindeutig im Weg. Auch an dieser Stelle sollte es klare Ausschlusskriterien geben. ({2}) Nur so kann man verhindern, dass zum Beispiel die energetische Gebäudesanierung, die man unterstützt, durch den Bau eines Kohlekraftwerkes im Ausland durch eine deutsche Firma, ebenfalls gefördert, wieder konterkariert wird. Ebenfalls nicht von billigen Krediten profitieren sollten Firmen, die die Rechte der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nicht achten oder sittenwidrig niedrige Löhne zahlen. Auch wenn das ERP-Sondervermögen nicht mehr direkt vom Bundeswirtschaftsministerium verwaltet wird, sind die Einflussmöglichkeiten des Staates sehr hoch. Diese im privaten Sektor nicht vorhandenen Möglichkeiten können und müssen genutzt werden, um ethische und ökologische Maßstäbe zu setzen. Die Linke spricht sich dafür aus, das ERP-Sondervermögen auch langfristig zu erhalten, zweckgebunden für die Wirtschaftsförderung. Hierbei müssen das Handwerk - die Frau Staatssekretärin hat das richtig gesagt - und der Mittelstand wieder mehr gefördert werden, sie müssen viel mehr im Fokus der Förderung stehen. Das Ziel der Förderung müssen mehr Beschäftigung und eine größere Binnennachfrage sein. Öffentliche Stellen, aber auch wir Abgeordnete in unseren Wahlkreisen können einen Beitrag dazu leisten, die Fördermöglichkeiten durch ERP und KfW noch bekannter zu machen. In dem Bundesland, aus dem ich komme - dem Saarland -, werden manche Programme kaum, andere gar nicht genutzt. Ich glaube, das ist auch in vielen anderen Regionen so. Das muss sich dringend ändern. Vielen Dank. ({3})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Danke, Herr Kollege. Nächste Rednerin in der Debatte ist Astrid Grotelüschen für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Astrid Grotelüschen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004046, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Auf der Grundlage des Marshallplans und des damit zusammenhängenden Abkommens zwischen den USA und der Bundesrepublik Deutschland wurde Anfang der 50er-Jahre eine Summe von 6 Milliarden D-Mark mit dem sogenannten European Recovery Program, kurz ERP genannt, vertraglich als Sondervermögen bestimmt, das seither vom Bund zum Zwecke der Wirtschaftsförderung verwaltet wird. Damals wurde festgelegt, dass erstens ein Substanzerhaltungsgebot gilt - das heißt, dass letztendlich nur die Erträge verwendet werden dürfen -, und zweitens, dass die Verwendung des Sondervermögens unter parlamentarische Kontrolle zu stellen ist. Mit dem uns vorliegenden Gesetzentwurf über die Feststellung des Wirtschaftsplans des ERP-Sondervermögens für das Jahr 2014 diskutieren wir über eine seit sechs Jahrzehnten andauernde Erfolgsgeschichte in Bezug auf die finanzielle Förderung der deutschen Wirtschaftsunternehmen, die die Bundesregierung auch im Jahr 2014 fortführen wird. ({0}) Meine sehr geehrten Damen und Herren, heute Vormittag haben wir alle die Ausführungen zum Jahreswirtschaftsbericht verfolgt und die wichtigen Eckpunkte erfahren. Mitgenommen haben wir, dass die Ausgangssituation für die deutsche Wirtschaft gut ist. Den Prognosen zufolge dürfen wir in Deutschland mit einem Wachstum von 1,8 Prozent rechnen. Mehr als 42 Millionen Menschen sind erwerbstätig; das sind so viele wie noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik. Was ganz entscheidend ist: Die Zeichen für 2014 stehen bei den Bürgern und bei der Wirtschaft auf Optimismus und Aufschwung. Die psychologisch so wichtige Botschaft „Uns geht es gut“ ist das Verdienst einer umsichtigen Politik der Kanzlerin und der von uns getroffenen begleitenden Weichenstellungen in den entscheidenden Bereichen Haushaltskonsolidierung, Verzicht auf jegliche Steuererhöhungen, klares Bekenntnis zum Industriestandort Deutschland und letztlich auch Anerkennung der herausragenden Rolle unseres erfolgreichen deutschen Mittelstandes. ({1}) Nach dem vorliegenden Gesetzentwurf beläuft sich das ERP-Sondervermögen für 2014 - die Staatssekretärin hat es eben auch schon erwähnt - auf ein Volumen von 793,3 Millionen Euro. Das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie wird zudem ermächtigt, Kredite bei der Kreditanstalt für Wiederaufbau bis zur Höhe von 30 Prozent dieses festgestellten Betrages aufzunehmen. Somit können insbesondere mittelständische Unternehmen und Angehörige freier Berufe im Rahmen dieser veranschlagten Mittel zinsgünstige Finanzierungen mit einem Volumen von insgesamt rund 6,1 Milliarden Euro abrufen. Damit wird der Kern dieses Förderprogramms ganz deutlich: Das ERP-Sondervermögen gibt Hilfe zur Selbsthilfe, indem Kapital zu sehr günstigen Bedingungen in Bezug auf Zinssatz und Haftungskriterien zur Verfügung gestellt wird. Dieser Ansatz ist natürlich besonders wichtig, weil er gerade auf die kleinen und mittelständischen Betriebe abzielt, denen es oft an Eigenkapital mangelt oder bei denen es zu Problemen bei der Fremdfinanzierung kommt. ({2}) Deshalb ist es natürlich auch entscheidend, dass dieses zur Verfügung stehende Kreditvolumen optimal eingesetzt wird, das heißt, wir brauchen eine zielgerichtete Förderung, die gleichzeitig mit einem ganz einfachen Antragsverfahren erreicht werden kann. Daher begrüße ich es ausdrücklich, dass weder für Unternehmen noch für die Verwaltung 2014 neue Informationspflichten eingeführt werden. Zusätzlich - das ergibt sich aus meinem Selbstverständnis heraus - ist es aber natürlich unsere Aufgabe und muss es unsere Zielsetzung sein, nicht nur den Status quo zu halten, sondern in Zukunft auch Hemmnisse und Überregulierungen abzubauen. Insgesamt sollen Unternehmen so in die Lage versetzt werden, notwendige Investitionen zu tätigen; denn Investitionen sind für die Weiterentwicklung der Wirtschaft in unserem Land entscheidend. In diesem Zusammenhang haben wir heute Morgen auch über die Notwendigkeit der Erhöhung unserer Investitionsquote diskutiert, die bisher bei 17 Prozent liegt; denn die Investitionstätigkeit ist nicht nur die Schlüsselgröße für die aktuelle Entwicklung in unserer deutschen Volkswirtschaft. Wir alle wissen, dass Investitionen langfristig auch entscheidend für den Wohlstand in unserem Land sind. Deshalb ist auch die Förderung von Unternehmen in den ERP-Schwerpunktbereichen Gründungs- und Innovationsfinanzierung, Regionalförderung und Exportfinanzierung ein unverzichtbares Instrument, das maßgeblich zum Erhalt und zur Schaffung von Arbeitsplätzen, zur Produktivitätssteigerung und zum Erhalt der Wettbewerbsfähigkeit beiträgt. ({3}) Meine Damen und Herren, um die gerade genannten Ziele zu erreichen, muss die ERP-Wirtschaftsförderung stetig evaluiert und fortentwickelt werden. So wurde das Programm letztmalig im Jahr 2012 verändert. Kern der Neuordnung war auch die Konzentration auf eine verbesserte Gründungsförderung, auf die ich auch ganz kurz eingehen möchte. Das Wirtschaftsministerium hat sein Förderinstrumentarium in dieser Zeit beständig ausgebaut, um insbesondere Unternehmen in der frühen Unternehmensphase den Zugang zu Kapital zu erleichtern. Hier sind insbesondere das ERP-Innovationsprogramm mit zinsgünstigen Darlehen und auch die neuen Maßnahmen zugunsten der Finanzierung von innovativen Start-ups zu nennen. Gerade diese Finanzierung von marktnaher Forschung sowie von Produktions- und Verfahrensinnovationen stellt besonders mittelständische Unternehmen und auch Unternehmensgründer wegen der Schwierigkeit der Besicherung und der kurzfristig nicht immer gegebenen Rentabilität, die man dann darstellen muss, vor besondere Herausforderungen. Insgesamt muss es unser Anspruch sein, das Ohr immer an unseren Unternehmen zu haben und damit das Instrumentarium der Förderung auf die Zukunft gerichtet auszugestalten. Deshalb freue ich mich sehr, dass zum Thema ERP-Förderung in dieser Legislaturperiode wiederum ein Unterausschuss gebildet wird, dessen Mitglied ich sein werde und in dem wir gemeinsam - hier können sicherlich auch die Anregungen des Kollegen Lutze, die er gerade in seiner Rede ausgeführt hat, mit aufgegriffen werden - über Effektivität, Transparenz und natürlich inhaltliche Schwerpunkte diskutieren werden. Hoffentlich gelingt es uns dort auch, gute Weichenstellungen im Sinne der Unternehmen zu erreichen, die anschließend von einer passgenaueren Förderung hoffentlich profitieren können. Die Ressorts haben dem Gesetzentwurf zugestimmt. Einwände des Bundesrates, der schon im Herbst 2013, wie ich lesen konnte, dem Ganzen zugestimmt hat, gab es nicht, sodass ich für die CDU/CSU-Fraktion zusammenfassend feststellen kann: Wir sind uns einig, dass wir mit der ERP-Förderung ein wichtiges Instrument zur Wirtschaftsförderung in unseren Händen halten. Dabei gilt natürlich nach wie vor der Grundsatz: Wir können als Politik nur Anreize setzen und für passende Rahmenbedingungen sorgen; denn die Kreativität und auch die Initiative zur Umsetzung müssen von einzelnen Menschen, von den Unternehmen kommen. Aber gerade weil es in diesem Punkt um eine Motivation, um eine Anerkennung geht, müssen wir als Politikerinnen und Politiker dem Mittelstand immer wieder unsere Wertschätzung signalisieren, so wie wir es zum Beispiel im Koalitionsvertrag sehr passend, wie ich finde, formuliert haben. Hier wird der Mittelstand als „innovationsstarker Beschäftigungsmotor“, der „regionale Verbundenheit mit Internationalisierung“ verbindet, beschrieben. Ich denke, wir brauchen in dieser Legislaturperiode eine Politik, die dem Rückgrat unserer Wirtschaft, dem Mittelstand, den Rücken stärkt. Ich bin mir sicher, dass wir mit der ERP-Förderung ein Stück weit dazu beitragen können. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({4})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Herzlichen Dank, Frau Kollegin. - Der nächste Redner in der Debatte ist Dr. Thomas Gambke für Bündnis 90/Die Grünen. ({0}) - Pardon. Entschuldigen Sie, das ist mir entgangen. Wir gratulieren Ihnen, Frau Grotelüschen, von Herzen zu Ihrer ersten Rede im Bundestag. ({1}) Vizepräsidentin Claudia Roth Wir wünschen Ihnen viel Erfolg bei Ihrer Arbeit als Parlamentarierin hier im Bundestag. Nach dieser Gratulation fangen wir noch einmal an. Herr Gambke, Sie haben für Bündnis 90/Die Grünen das Wort.

Dr. Thomas Gambke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004037, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Danke schön. - Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das ERP-Sondervermögen ist nach dem Krieg ein wichtiges Instrument gewesen, Deutschland wieder aufzubauen. Damals gab es eine klare Ausrichtung: Da Deutschland am Boden lag, mussten Häuser gebaut und die Infrastruktur bereitgestellt werden. Es war ein wichtiges Programm. Heute dient es dem Mittelstand. Es dient den erneuerbaren Energien und der Gründung von Unternehmen. Aus diesem Grund kann ich als Mittelstandsbeauftragter meiner Fraktion ganz klar sagen: Wir als Grüne werden dem Entwurf zustimmen. Angesichts der Debatte hier muss ich aber ein bisschen Wasser in den Wein gießen, ({0}) und zwar aus folgendem Grund: Mit diesem Programm sollen Investitionen und auch Innovationen gefördert werden. Wir beobachten nicht erst seit drei oder vier Jahren - Michael Fuchs hat das heute gesagt und das mit den Energiekosten begründet -, sondern seit 20 Jahren, dass der Umfang von Investitionen in Deutschland leider zurückgeht. Da sollten wir uns nicht besoffenreden und das auf die Energiekosten schieben. Das wäre viel zu kurz gesponnen. Wir sollten uns auch nicht besoffenreden, weil es im Mittelstand - Sie haben es erwähnt eine erfreuliche Entwicklung in Form einer Eigenkapitalstärkung gibt. Vielmehr müssen wir uns mit der Frage auseinandersetzen, warum wir gute und wichtige Förderprogramme haben, gleichzeitig aber eben nicht die Investitionen ausgelöst werden, die wir volkswirtschaftlich alle für wichtig erachten. In der Szene werden dazu zwei Gründe genannt: Erstens. Es gibt zu wenig Risikokapital; dieses Programm wirkt dem entgegen. Zweitens. Es gibt zu wenig qualitativ hochwertige Projekte. Warum ist das so? Ich komme noch einmal auf den Jahreswirtschaftsbericht zu sprechen. Da reden wir uns an den schönen Wachstumsraten besoffen. ({1}) Was bedeuten diese Wachstumsraten? Dahinter steckt, dass wir die Frequenz, mit der wir heute einen Flachbildschirm in unserem Haushalt wechseln, von vielleicht vier Jahren auf zwei Jahre verkürzen. Sie wird damit begründet, dass der Flachbildschirm dann doppelt so groß ist. Ich behaupte, die Inhalte sollten doppelt so gut werden. ({2}) Aber ist nicht die fehlende Ausrichtung, die wir nach dem Krieg beim Aufbau hatten, der Grund, warum heute nicht oder zumindest nicht in dem Umfang investiert wird, den wir wollen? Brauchen wir nicht eine Ausrichtung, die eben nicht nur auf den schnellen Konsum setzt, sondern auf die notwendigen Änderungen in der Wirtschaft? Das heißt heute, dass wir Ressourcen und Energie sparen müssen und dass wir nicht nur ökologischer handeln, sondern auch leben müssen. Wenn wir diese Ziele nicht setzen, dann werden wir am Ende keine Investitionen auslösen, die wichtig sind. ({3}) Ich denke, dass wir über die Zielvorgabe möglicherweise streiten, aber auf jeden Fall reden müssen. Ich fand eines bemerkenswert. Ich habe ein bisschen das Wort Mittelstandsförderung bei Herrn Gabriel vermisst, aber er hat auch zu wenig von den Inhalten geredet. Wir müssen uns mit den Inhalten beschäftigen. Ich sage es noch einmal: In den letzten 20 Jahren sind die Investitionen in diesem Lande ständig zurückgegangen. Das ist keine grüne Meinung. Ich saß mit dem Vorstandsvorsitzenden eines DAX-Konzerns auf einem Podium, der zu mir sagte: Lieber Herr Gambke, kümmern Sie sich bitte einmal um die Inhalte und Investitionen und nicht vordergründig um andere Dinge! - Stattdessen beschäftigen wir uns damit, unsere Rentenkassen zu plündern. Ich glaube, dass wir die Diskussion darüber wieder auf den richtigen Pfad bringen müssen, damit wir in Deutschland mit dem Geld, das vernünftigerweise vorhanden ist, wirklich das Richtige tun. Ich kann noch eine kurze Bemerkung machen. Wir müssen uns auch mit der Frage beschäftigen, wer überhaupt entscheidet. Wir reden von risikobehafteten Projekten. Ich komme vom Fach und muss Ihnen sagen: Die Entscheidungsstrukturen, die wir heute in Deutschland haben, sind vielfach nicht geeignet, um risikobehaftete Projekte erstens zu bewerten, zweitens entsprechend zu entscheiden und sie drittens dann umzusetzen. Auch das Thema fehlt mir in der Debatte. Ich hätte mir gewünscht, dass wir zu diesem Thema eine Debatte eröffnet hätten, die in diesem Hause so wichtig wäre, nämlich darüber, die Ziele für Innovationen und Investitionen richtig zu setzen. Denn dann würden wir das Geld an die richtigen Stellen bringen. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({4})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Herr Kollege Gambke. Jetzt muss ich noch etwas richtigstellen: Frau Grotelüschen hat nicht die allererste Rede in diesem Haus gehalten, sondern sie ist nach einer kleinen Pause in dieses Haus zurückgekehrt. Das heißt, in dieser Legislaturperiode war es ihre allererste Rede. ({0}) Vizepräsidentin Claudia Roth - Ach, Mensch! Aber als Abgeordnete hat sie das erste Mal gesprochen. Also Gratulation! Sie mögen mir verzeihen: Ich kenne noch nicht alle Biografien aus dem Effeff. ({1}) Danke, Thomas Gambke. - Als nächster Redner jetzt wird es aber wieder eine Premiere - hat Matthias Ilgen für die SPD das Wort.

Matthias Ilgen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004310, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Gambke, weil Sie so viel von Besoffenreden gesprochen haben, würde ich gerne nachher mit Ihnen einen Schnaps trinken, auf dass wir uns gemeinsam an den guten Zahlen dieses Jahres erfreuen können. Denn ich finde, sie geben Anlass zur Freude. ({0}) Wir reden heute über das ERP-Sondervermögen und die Frage, wie man damit umgeht. Ich möchte mit einem Zitat des damaligen US-Außenministers George Marshall einsteigen, der in einer Rede am 5. Juni 1947 an der Harvard University folgende Worte sprach: Unsere Politik richtet sich … gegen Hunger, Armut, Verzweiflung und Chaos. Ihr Zweck ist die Wiederbelebung einer funktionierenden Weltwirtschaft, damit die Entstehung politischer und sozialer Bedingungen ermöglicht wird, unter denen freie Institutionen existieren können. Das war damals nach dem Krieg - Sie haben das angesprochen, Herr Kollege - die Grundlage für den Wiederaufbau auch in der Bundesrepublik Deutschland. Es ist aber gut und klug, dass wir schon damals in einigen Nuancen anders mit den Mitteln aus dem Marshallplan umgegangen sind, als unsere europäischen Nachbarn dies vielleicht getan haben. Wir haben nämlich einen großen Teil dieses Vermögens erhalten und schütten seit sechseinhalb Jahrzehnten im Grunde genommen lediglich Zinsgewinne aus, die wir für die Verbilligung von Krediten einsetzen, wie wir eben schon mehrfach gehört haben, womit wir über die Jahre eine, wie ich finde, hervorragende Mittelstands- und Kleinunternehmerförderung in diesem Land aufgebaut haben. Das wollen wir auch in diesem Jahr fortsetzen. ({1}) Wie wir gehört haben, bewirken circa 340 Millionen Euro einen Hebel von 6,7 Milliarden Euro an Krediten in diesem Bereich. Wenn man sich die volkswirtschaftlichen Effekte, die dadurch entstehen - vom gesamten Kreditvolumen werden oft nur 10 bis 15 Prozent durch eine Hausbank gewährt -, und die gesamte volkswirtschaftliche Wertschöpfung anschaut, dann stellt man fest, dass es sich um einen gewaltigen Hebel handelt, der mit diesem im Vergleich zu den Mitteln des Bundeshaushalts kleinen Geld ausgelöst wird. Ich stimme ausdrücklich der Bewertung unseres Bundesministers Sigmar Gabriel zu, der in den vergangenen Tagen gesagt hat: Es ist richtig, dass wir einen Schwerpunkt auf Unternehmensgründungen und Innovationen setzen, dass wir aber auch schauen müssen, was wir in Zukunft in der Wachstumsphase von Unternehmen machen werden. - Hier wird man sehen, ob das Programm in den nächsten Jahren anzupassen ist. Wir haben schließlich Aufholbedarf gegenüber den angelsächsischen Ländern, wenn es um Beteiligungskapital bzw. Venture Capital geht. Wir müssen darüber nachdenken, wie wir es schaffen, Risikofinanzierung auch in Wachstumsphasen sicherzustellen, also dann, wenn die Unternehmen über die erste Schwelle der Gründung hinweg sind und meistens die größten Schwierigkeiten haben, entsprechende Angebote auf dem Markt zu finden, wenn sie wachsen wollen. Wir werden als SPD-Fraktion im Wirtschaftsausschuss darauf achten, dass wir hier in Zukunft ein Stück aufholen. ({2}) Ebenso wichtig wird es sein, auf den Forschungsbereich zu achten. Auch hier kann man von den Angelsachsen manchmal lernen. Wir sollten genau hinschauen, was die Angelsachsen in ihren Exzellenzclustern rund um Universitäten - bei uns auch rund um Fachhochschulen - tun, um Existenzgründungen zu erleichtern und beispielsweise einen jungen Hochschulabsolventen zu motivieren, nach seinem Studium eine marktreife Produktidee zügig in eine Geschäftsidee umzusetzen, ein Unternehmen zu gründen und so wirtschaftliche Effekte zu erzielen. Ein Mangel in Deutschland ist, dass das zu lange dauert. Es gibt gute erste Modellansätze, zum Beispiel das Business-Angels-Modell. Die Schwierigkeit ist, dass wir in Deutschland zu langsam sind. Auf diese Art Venture Capital zu generieren, ist zwar erfolgreich. Aber das Problem ist einfach, dass es bis zu fünf Jahre dauert. Das ist eine Innovationsbremse. Ich hoffe, dass wir das in den nächsten Jahren ein Stück weit korrigieren können. Dabei müssen wir auch über andere Maßnahmen nachdenken. Ich möchte auch schließen mit einem Zitat von Herrn Marshall, das ich ganz gut finde: „Kleine Taten, die man ausführt, sind besser als große, die man plant.“ In diesem Sinne wird die SPD-Fraktion dem Gesetzentwurf zustimmen. Vielen Dank. ({3})

Peter Hintze (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000907

Im Namen des ganzen Hauses gratuliere ich Kollege Ilgen zu seiner ersten Rede. ({0}) Ich beglückwünsche ihn ausdrücklich dafür, dass er die vorgegebene Redezeit eingehalten hat. Das ist ein gutes Beispiel für alle Kolleginnen und Kollegen im fairen Umgang miteinander. ({1}) Als Letztem in dieser Debatte erteile ich das Wort dem Kollegen Dr. Andreas Lenz, CDU/CSU-Fraktion. ({2})

Dr. Andreas Lenz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004339, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Ursprünge des ERP-Sondervermögens liegen gut 60 Jahre zurück. Damals gewährten die USA mit dem Marshallplan finanzielle Wiederaufbauhilfe für Deutschland. Aus dem damit gebildeten Sondervermögen werden seitdem Gelder vergeben. Ich persönlich bin das erste Mal auf den Begriff „ERP“ - European Recovery Program während meiner Bankausbildung gestoßen, als ich recht alte Kreditverträge zu Gesicht bekam, die auch noch auf mechanischen Schreibmaschinen geschrieben worden waren. Da wir vorhin über die Einsetzung des Ausschusses Digitale Agenda gesprochen haben, mag einem das ziemlich antiquiert vorkommen. Aber das bezeugt natürlich auch die Langfristigkeit der ausgereichten Kredite. Mit dem ERP-Wirtschaftsplangesetz werden in diesem Jahr Mittel aus dem ERP-Sondervermögen in Höhe von rund 793 Millionen Euro bereitgestellt. Im Rahmen dieser Mittel ermöglichen sich Ausleihungen für die verschiedenen Kreditprogramme in Höhe von rund 6,4 Milliarden Euro. Die Festlegung des Wirtschaftsplans für das ERPSondervermögen hat jedes Jahr aufs Neue zu erfolgen. Man kann schon sagen, dass es ein Glücksfall war, dass Deutschland neben anderen europäischen Ländern in den Genuss von Geldern des Marshallplans kam. Ein fast noch größerer Glücksfall war es aber, dass die damaligen Entscheidungsträger mit den Hilfsgeldern verantwortungsvoll und klug umgingen. Durch den Einsatz der Gelder in Zinsverbilligungsdarlehen konnte ein Hebel erreicht werden, der die ursprünglichen Hilfsgelder um ein Vielfaches erhöht hat. Die Kreditprogramme aus dem ERP-Sondervermögen haben seitdem auf vielfache Weise positive Auswirkungen auf die deutsche Wirtschaft und vor allem auf den deutschen Mittelstand gehabt. Heute helfen ERP-Förderungen beispielsweise zahlreichen Existenzgründern und mittelständischen Unternehmen. Wir haben heute bei der Debatte zum Jahreswirtschaftsbericht gehört, dass wir Gründer und Innovationen brauchen. Gerade Existenzgründer sowie kleine und mittlere Unternehmen stoßen immer noch auf Finanzierungsschwierigkeiten. Sie haben oft wenig Eigenkapital oder zu geringe Sicherheiten. Dadurch bedingt sind hohe Kreditkosten. Auch hier setzen die Programme an, indem sie helfen, Existenzgründungen zu ermöglichen und Innovationen zu fördern. Zu den einzelnen Programmen. Die ERP-Programme legen das Hauptaugenmerk auf die Finanzierungserfordernisse des Mittelstandes, auf Unternehmensgründungen, die Regionalförderung, die Beteiligungsfinanzierung und die Exportfinanzierung. Unter die Gründungsfinanzierung fällt das ERP-Kapital zur Gründung, das vor allem Existenzgründer in der gewerblichen Wirtschaft unterstützt. Zudem wird der klassische zinsverbilligte und langfristige ERP-Gründerkredit vergeben. Seit 2013 gibt es zusätzlich den Hightechgründerfonds, der technologieorientierten Neugründungen mit hohem Kapitalbedarf eine Finanzierung auf Basis von Beteiligungskapital bietet. Das Volumen der Gründerkredite beträgt rund 3,7 Milliarden Euro. Ein zweiter Punkt ist das Regionalförderprogramm. In allen förderberechtigten Regionen Deutschlands, also vornehmlich im Osten Deutschlands, aber auch im Osten Bayerns, steht das Regionalförderprogramm zur Verfügung, welches vor allem für kleinere und mittlere Unternehmen Fördermöglichkeiten bietet. Dieses Programm umfasst rund 300 Millionen Euro. Ein dritter Programmschwerpunkt ist die Innovationsfinanzierung. Sie unterstützt die Unternehmen bei der Markteinführung von innovativen Produkten. Dieses Programm umfasst rund 1 Milliarde Euro an geplanten Kreditausreichungen. Jetzt habe ich eine Frage: Heute Vormittag gab es ein Glas Wasser. Ob es vielleicht möglich wäre, auch jetzt eines bereitzustellen?

Peter Hintze (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000907

Im Notfall wird das gereicht. Wir lassen es gleich bringen. ({0})

Dr. Andreas Lenz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004339, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Das wäre nett. Ich nehme auch, wie es meinem Wahlkreis Erding-Ebersberg angemessen ist, gerne ein Weißbier, ({0}) obwohl wir bei der nüchternen Betrachtung der Tatsachen bleiben wollen. ({1}) Als letzter Punkt des ERP-Programmes stehen die ERP-Exportfinanzierungsprogramme zur Verfügung, welche ebenfalls rund 1 Milliarde Euro ausmachen. Die durch die Programme verwirklichten Förderziele haben wir auch im Koalitionsvertrag festgeschrieben. Ich bin mir sicher, dass wir damit gute Voraussetzungen für den Wirtschaftsstandort schaffen. Lassen Sie mich noch einmal auf den Jahreswirtschaftsbericht zu sprechen kommen. Dieser betont, wie gesagt, die Wichtigkeit von Firmengründungen und Innovationen für den Wirtschaftsstandort. Es geht also darum, den Übergang von der innovativen Idee zum Produkt zu begleiten und zu unterstützen, ein Prozess, der auch immer Risiken beinhaltet. Christian Morgenstern hat dies poetisch formuliert, indem er meinte: „Jede Schöpfung ist ein Wagnis.“ Manchmal muss der Mut eben ein wenig angestoßen werden. Das gelingt uns mit zielgenauen ERP-Programmen. Ebenso wichtig ist es, Innovationen von Hochschulen in marktfähige Produkte umzusetzen. Auch hierfür bieten die ERP-Programme Ansätze. Der Gefahr, dass sinnvolle und für unser Land wichtige Innovationen und Unternehmensgründungen unterbleiben, müssen wir weiter entschieden begegnen. Gerade in Zeiten, in denen sich die Beschäftigung Gott sei Dank auf einem Rekordniveau befindet, überlegen sich junge potenzielle Firmengründer zweimal, ob sie in einen sehr aufnahmefähigen Arbeitsmarkt gehen und damit eine relative Sicherheit erlangen oder ob sie das Wagnis einer Unternehmensgründung auf sich nehmen. Erlauben Sie mir noch einen kleinen Ausblick. Gerade während der aktuellen Niedrigzinsphase wird die Frage laut, ob man Zinsverbilligungsmaßnahmen überhaupt noch braucht. Diese Frage ist sicher berechtigt; jedoch werden gerade bei Existenzgründungen immer noch hohe Risikoaufschläge von den Banken gefordert. Ein viel wichtigerer Punkt bei den ERP-Krediten ist jedoch deren Langfristigkeit. Diese Langfristigkeit kombiniert mit einer Zinsvergünstigung ermöglicht es den Unternehmensgründern und den mittelständischen Unternehmern, ERP-Kredite eigenkapitalähnlich zu betrachten. So ermöglichen gerade ERP-Kredite aufgrund ihres Kapitalcharakters auch angesichts der Basel-IIIDebatte den kleinen und mittelständischen Unternehmen eine weiterhin ausreichende Kreditversorgung. Uns geht es nicht nur um DAX-Konzerne und um deren Vorstände, mit denen Herr Franke, wie wir gehört haben, gerne spricht. Uns als Union geht es um den Mittelstand. ({2}) Wenn man in die Zukunft schaut, sieht man, dass gerade die Energiewende große Chancen bietet, auch bezüglich des ERP-Sondervermögens. Dabei gilt es, sich unideologisch über Eigenkapitalbeteiligungen am Netzausbau, Stichwort „TenneT“, oder auch am Offshoreausbau zu unterhalten. Auch hier bieten sich Chancen. Der ERP-Wirtschaftsplan leistet auch in 2014 mit seinen Förderansätzen einen wichtigen Beitrag zur Stärkung der kleinen und mittleren Unternehmen und des Handwerks, unterstützt Innovationen und trägt zur Schaffung neuer Arbeitsplätze bei. Die Kreditprogramme des ERP-Sondervermögens sind eine einmalige Erfolgsgeschichte. Ich freue mich wirklich, mit Ihnen für das ERP-Wirtschaftsplangesetz 2014 stimmen zu dürfen, und bedanke mich für die Aufmerksamkeit. ({3})

Peter Hintze (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000907

Wir kommen damit zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes über die Feststellung des Wirtschaftsplans des ERP-Sondervermögens für das Jahr 2014. Der Ausschuss für Wirtschaft und Energie empfiehlt in sei- ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/500, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Druck- sache 18/273 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung einstimmig angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich von den Plätzen zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 11 a und 11 b auf: a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kathrin Vogler, Cornelia Möhring, Diana Golze, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Den Bundesratsbeschluss zur rezeptfreien Pille danach schnell umsetzen Drucksache 18/303 b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kordula Schulz-Asche, Ulle Schauws, Dr. Harald Terpe, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Selbstbestimmung bei der Notfallverhütung stärken - Pille danach mit Wirkstoff Levonorgestrel schnell aus der Verschreibungspflicht entlassen Drucksache 18/492 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit ({0}) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich bitte die Kollegen, die uns verlassen wollen, das jetzt zu tun, und die, die hierbleiben wollen, Platz zu nehmen, damit wir in Ruhe in die Beratung eintreten können. Ich erteile als erster Rednerin das Wort der Kollegin Birgit Wöllert, Fraktion Die Linke. ({1})

Birgit Wöllert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004446, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Mit unserem Antrag, den Bundesratsbeschluss zur rezeptfreien Pille danach schnell umzusetzen, folgt meine Fraktion, Die Linke, der Mehrheit der SPD-geführten Bundesländer und dem Land Baden-Württemberg im Bundesrat. Auch der Sachverständigenausschuss für Verschreibungspflicht im Bundesinstitut für Arzneimittel- und Medizinprodukte gab im Januar bereits zum zweiten Mal die Empfehlung, Levonorgestrel in Zubereitung zur Notfallkontrazeption aus der Verschreibungspflicht zu entlassen. Weltgesundheitsorganisation und Europarat treten ebenfalls für die Freigabe ein. Die Empfehlungen der wissenschaftlichen Expertinnen und Experten sind eindeutig. Auch die praktischen Erfahrungen in den meisten europäischen Ländern sprechen für die Entlassung aus der Verschreibungspflicht. ({0}) Studien und Untersuchungen nach jahrzehntelanger Erfahrung ergaben: Erstens. Levonorgestrel ist für die Anwendung zur Nachverhütung medizinisch unbedenklich. Zweitens. Es wirkt umso sicherer, je früher es nach ungeschütztem Sexualkontakt eingenommen wird. Drittens. Die Informationen zur Anwendung der Pille danach können auch von sehr jungen Frauen gut verstanden werden, und die Einnahme erfolgt auch ohne ärztliche Intervention korrekt. Viertens. Die rezeptfreie Pille danach hat in den einzelnen Ländern nicht, wie von einigen Kollegen, vor allem aus der CDU/CSU-Fraktion, befürchtet, zu einem veränderten Verhütungsverhalten oder einem riskanteren Sexualverhalten geführt. ({1}) Im Bundesrat gab es 2013 eindeutige Voten und Aufträge für die Entlassung aus der Verschreibungspflicht, so zuletzt am 8. November 2013. Nun ist die Frage: Was hält einen Gesundheitsminister davon ab, einer solchen Aufforderung des Bundesrates zu folgen? Nun ist der Herr Bundesminister heute leider nicht da, aber ich denke, die Frau Parlamentarische Staatssekretärin wird ihm das gern übermitteln. Dankenswerterweise hat er uns seine Beweggründe, warum er zu dieser Auffassung kommt, über Interviews mit der Presse bereits mitgeteilt. - Schön! ({2}) Der Herr Bundesminister erklärt, er sorge sich um die Gesundheit der Frauen. Er sagt: Wir brauchen einen zügigen, diskriminierungsfreien Zugang zur „Pille danach“, und wir brauchen eine gute Beratung. Das war ein Zitat von ihm aus der Welt am Sonntag. Bis dahin, denke ich, ist das alles in Ordnung. Herr Minister, da sind wir völlig einer Meinung; das können Sie ihm ausrichten, Frau Parlamentarische Staatssekretärin. Es gibt gar keinen Dissens. Nun geht das Zitat aber mit einer Schlussfolgerung weiter. Er sagt: Das - gemeint ist die Beratung ist am besten gewährleistet, wenn es bei der Verschreibungspflicht bleibt. Für mich ist die Frage: Möchte Minister Gröhe damit sagen, eine Apothekerin oder ein Apotheker kann diese Beratung nicht durchführen? Damit sind wir nun überhaupt nicht einverstanden. Die Pille danach soll es ja nicht am Kiosk oder im Supermarkt geben. Sie bleibt apothekenpflichtig. ({3}) „Zügig und diskriminierungsfrei“, wie von Herrn Minister selbst formuliert, heißt doch nichts anderes als: so schnell verfügbar wie möglich. ({4}) Die Aussage, dass in Deutschland eine zügige ärztliche Beratung meist innerhalb weniger Stunden ermöglicht werden könne, geht in vielen Regionen unseres Landes schon längst an der Realität vorbei. Ich lebe in der Niederlausitz, einer überwiegend ländlichen Gegend mit schon häufig unterdurchschnittlicher fachärztlicher Versorgung. Die Wege bis zu einer Gynäkologin oder einem Gynäkologen sind oft ziemlich lang. Ab freitagnachmittags sind nur noch die Rettungsstellen der Krankenhäuser erreichbar, und nicht in jedem Ort, in dem es eine Rettungsstelle im Krankenhaus gibt, ist dann auch eine Apotheke geöffnet. ({5}) Da kommen ganz schnell schon mal 30 Kilometer Entfernung von der Stelle, wo man sich beim Arzt beraten lassen soll, bis zur nächsten Apotheke zusammen, und dann muss man auch noch zum Wohnort. Da frage ich: Ist das schnell und zügig? Was also tun im Notfall? Hat frau nicht selbst Führerschein und Auto, muss sie jemanden fragen. Dann muss sie zu einer Ärztin oder einem Arzt, wo sie alles noch einmal erklären muss. Dann kommt die Apotheke. Alles zusammen sind das ziemlich viele Hürden. Dabei rede ich noch nicht von den finanziellen Aufwendungen, die notwendig sind, um an das Notfallpräparat zu kommen. Sexuelle Selbstbestimmung und Frauengesundheit zusammenzubringen, darum geht es uns allen. Was aber soll der Hinweis von Herrn Minister Gröhe, in einzelnen Fällen könne es auch schwere Nebenwirkungen geben? Hier wird unzulässig übertrieben und Angst geschürt. ({6}) Levonorgestrel ist als Wirkstoff seit über 40 Jahren auf dem internationalen Markt, ohne dass schwerwiegende Probleme bekannt geworden wären. Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, 1994 erklärten in Kairo auf der internationalen Konferenz über Bevölkerung und Entwicklung 179 Staaten die Familienplanung zum Menschenrecht. Damit wurde ein Richtungswechsel eingeleitet: von einem überwiegend bevölkerungspolitischen Ansatz zu einem Ansatz, der sich am einzelnen Menschen und an den allgemeinen Menschenrechten orientiert. Das schließt das Recht auf Entscheidung hinsichtlich der eigenen Fortpflanzung ebenso ein wie das Recht von Frauen, über ihre Sexualität selbstbestimmt und verantwortungsbewusst zu entscheiden. ({7}) Wir dürfen die Augen jedoch nicht davor verschließen, dass sich nicht wenige Frauen Verhütungsmittel nicht mehr leisten können oder in Abwägung mit anderen Notwendigkeiten ihre Prioritäten anders setzen müssen. Die ökonomische Realität vieler Frauen, vor allem alleinerziehender junger Frauen, zeigt, dass sie überdurchschnittlich oft an der Armutsgrenze leben. Gerade deshalb muss mit der Entlassung aus der Verschreibungspflicht eine Regelung zur Kostenerstattung durch die gesetzliche Krankenversicherung einhergehen, damit es wenigstens keine Verschlechterung für Frauen bis zu 20 Jahren gibt. ({8}) Sehr geehrte Frau Staatssekretärin, werte Kolleginnen und Kollegen, wie es immer so schön heißt: Bei Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie Ihren Arzt oder Apotheker. Da bei der Pille danach das größte Risiko für die Frauen der Faktor Zeit ist, sollten wir dem kleinen Wörtchen „oder“ mehr Bedeutung beimessen und eine Rezeptfreiheit der Pille danach zügig auf den Weg bringen. ({9}) Seit gestern gibt es dazu eine Unterschriftensammlung im Internet. Innerhalb von 36 Stunden kamen dabei schon 20 000 Unterschriften zusammen. Auch deshalb stimmt meine Fraktion der Überweisung der Vorlagen in den Gesundheitsausschuss zu. Ich denke, eine breite Diskussion kann uns helfen, das berechtigte Anliegen doch noch mit einer Mehrheit auf den Weg zu bringen. Vielen Dank. ({10})

Peter Hintze (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000907

Das war, liebe Kolleginnen und Kollegen, die erste Rede der Kollegin Birgit Wöllert im Deutschen Bundestag. Dazu gratuliere ich Ihnen im Namen des gesamten Hauses. ({0}) Ich muss einmal die Geschäftsführer der Linken fragen: Eben ist gesagt worden, dass Sie der Überweisung zustimmen wollen. Mir liegt ein Antrag vor, direkt abzustimmen. Ist das damit geändert? ({1}) - Okay, danke schön. Jetzt hat für die Bundesregierung die Frau Parlamentarische Staatssekretärin Annette Widmann-Mauz das Wort. ({2})

Annette Widmann-Mauz (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003259

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir debattieren heute verschiedene Anträge der Oppositionsfraktionen mit dem Ziel, den Arzneimittelwirkstoff Levonorgestrel, eine Variante der Pille danach, aus der Verschreibungspflicht zu entlassen. Anders als immer wieder behauptet wird, ist bei Frauen und Mädchen das Informationsbedürfnis bei diesem Thema groß. Das merkt jeder, der einmal in die entsprechenden Foren im Internet geschaut hat. Die Einträge zeigen aber auch ganz deutlich, dass es in diesen Fällen - sie reichen von der klassischen Verhütungspanne über ungeschützten Sex bis hin zu Vergewaltigungen - nicht nur ein großes Informations-, sondern auch ein Beratungsbedürfnis bei den Betroffenen gibt. Die Frage, ob es dann überhaupt noch eine Notfallverhütungsmethode gibt und, wenn ja, wie und bis wann sie wirkt, welche Nebenwirkungen auftreten können und welche Kosten entstehen, ist das eine. Es geht aber um noch mehr: Es geht um die sehr individuelle und unterschiedliche Betroffenheit von Frauen und Mädchen in solchen Situationen. Wer die Pille danach braucht, hat ganz konkret Angst - Angst vor einer möglichen Schwangerschaft - und braucht zeitnah und niederschwellig kompetente medizinische Hilfe. Das ist mehr als die bloße Abgabe eines Medikaments, und es erfordert auch mehr, als in der Regel am Nachtschalter einer Apotheke oder gar von einer Versandapotheke, ganz zu schweigen von einer Pick-up-Stelle, geleistet werden kann. ({0}) Das sind Information, Aufklärung, Beratung und gegebenenfalls eine eingehende Untersuchung und psychosoziale Begleitung. Gerade in solchen Notsituationen hat sich ein vertrauensvolles und geschütztes Arzt-Patienten-Verhältnis in unserem Land bewährt. Hier kann das geeignete Mittel zur Notfallkontrazeption ausgewählt und über individuelle Risiken und Nebenwirkungen gesprochen und können im Übrigen auch weitere Risiken wie zum Beispiel sexuell übertragbare Krankheiten abgeklärt werden. All das steht auf dem Spiel, wenn es zu einer Entlassung aus der Verschreibungspflicht kommt. ({1}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, das können wir doch nicht wollen. Uns geht es gerade nicht, wie häufig unterstellt wird, darum, einer Frau die Pille danach vorzuenthalten oder gar eine moralische Bewertung von Sexualverhalten vorzunehmen. Nein, im Mittelpunkt unserer Entscheidung muss die Gesundheit der Frauen stehen, die medizinischen Aspekte und ihre sexuelle Selbstbestimmung. ({2}) Beides gehört zusammen. Deshalb müssen wir sehr sorgfältig abwägen. Dabei spielen mehrere Gesichtspunkte eine Rolle: zum einen die schnelle Verfügbarkeit - es wurde bereits angesprochen -, zum anderen die Wirksamkeit und ebenso die gesundheitlichen Risiken, die mit hochdosierten Hormonpräparaten verbunden sind. Sie wissen es alle: Es gibt die Pille danach mit zwei verschiedenen Wirkstoffen. Je nach Zeitpunkt der Einnahme und Verlauf des Zyklus einer Frau, je nach Körpergewicht können entweder beide Wirkstoffe oder nur einer oder beide nicht mehr geeignet sein.

Peter Hintze (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000907

Frau Staatssekretärin, es gibt den Wunsch einer Zwischenfrage der Kollegin Vogler von der Linken. Mögen Sie diese zulassen?

Annette Widmann-Mauz (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003259

Ja, lasse ich gern zu.

Peter Hintze (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000907

Bitte schön, Frau Kollegin.

Kathrin Vogler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004181, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank, Frau Staatssekretärin, liebe Kollegin Widmann-Mauz, dass Sie diese Zwischenfrage zulassen. Ich muss auf zwei Aspekte eingehen. Zum einen tun Sie hier so, als würden wir mit unserem Antrag das Ansinnen verfolgen, Frauen, die eine psychosoziale oder gesundheitliche Beratung brauchen, davon abzuhalten, eine Frauenärztin oder einen Frauenarzt aufzusuchen. Ich möchte Sie bitten, unseren Antrag noch einmal zu lesen. Das ist nicht der Fall. Wir wollen lediglich Frauen die Möglichkeit geben, selber zu entscheiden, ob sie in einer solchen Situation, in der vielleicht ein Kondom geplatzt oder etwas anderes passiert ist, einen Arzt oder eine Ärztin aufsuchen wollen oder ob sie das nicht für notwendig halten. Denn auch das gehört zur Selbstbestimmung dazu: dass ich selber entscheide, wann und von wem ich mich beraten oder gegebenenfalls körperlich untersuchen lasse. Zum anderen möchte ich Sie fragen, ob Sie mir erklären können, wofür wir eigentlich eine Bundesbehörde wie das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte haben, das extra einen Sachverständigenausschuss eingerichtet hat, der kompetent und unabhängig von Einzelinteressen analysieren und beurteilen soll, ob ein Medikament verschreibungspflichtig sein soll oder nicht, wenn die Bundesregierung die Entscheidung dieses Ausschusses offensichtlich überhaupt nicht interessiert. ({0}) Wir beraten das Thema ja schon länger. Wir haben in der letzten Wahlperiode auch eine Anhörung durchgeführt. Jetzt haben Sie mir auf eine schriftliche Anfrage geantwortet, dass die Bundesregierung die Verschreibungspflicht unter Einbeziehung aller Aspekte und in einem angemessenen Zeitrahmen prüfen möchte. Nun frage ich Sie: Meinen Sie nicht, dass die Diskussionen der Vergangenheit und die Entscheidung des Bundesrates und die Entscheidung des BfArM-Sachverständigenausschusses dazu drängen, dass eine Entscheidung in dieser Sache einigermaßen „zügig“ - ich zitiere den Bundesgesundheitsminister - erfolgen sollte? ({1})

Annette Widmann-Mauz (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003259

Liebe Frau Kollegin Vogler, zu Ihrer ersten Frage: Ich unterstelle niemandem etwas. Umgekehrt lässt sich auch die Bundesregierung nicht unterstellen, sie wolle die Pille danach Frauen vorenthalten, nur weil sie Wert auf die ärztliche Beratung legt. ({0}) Ich glaube, diese Klarstellung sollte bei dieser Gelegenheit vorgenommen werden. Im Gegenteil: Wir nehmen die Argumente, die Sie und andere Experten vorgebracht haben, sehr ernst. Deshalb versuche ich, in dieser Debatte den Abwägungsprozess darzustellen. Ich werde im Laufe meiner Rede auf die zweite Frage, die Sie gestellt haben, eingehen. Wenn Sie mir gestatten, würde ich jetzt die Argumentation schlüssig und nachvollziehbar fortsetzen. Es ist wichtig, dass wir die verschiedenen Aspekte abwägen. Hierzu gehören die Aspekte der Schnelligkeit - ich habe es angesprochen und der Wirksamkeit und die Frage, wie wir damit umgehen. Ich hatte gerade begonnen, auszuführen, dass wir hier zwei Wirkstoffe haben. Wenn ein Wirkstoff aus der Verschreibungspflicht entlassen würde, wären in der Konsequenz die Frauen, die nicht zum Arzt gehen - aus welchem Grund auch immer; das ist ihnen unbenommen -, auf ein Medikament festgelegt, und zwar unabhängig davon, ob es in der konkreten Situation für die Frau das medizinisch richtige und geeignetste Präparat ist. Auch das muss der Bundesgesundheitsminister abwägen. Wir wollen, dass der Anspruch, den wir an unser Gesundheitswesen stellen - die beste Versorgung der Patienten in unserem Land -, auch realisiert wird. Mit dieser Meinung stehen wir im Übrigen nicht alleine. Auch die deutsche Ärzteschaft mit ihrem Bundesärztekammerpräsidenten, die Kassenärztliche Bundesvereinigung, der Verband der Frauenärzte und die gynäkologischen Fachgesellschaften sehen das so. Das haben sie in einer Anhörung vor dem Deutschen Bundestag in der letzten Legislaturperiode dargelegt. Auch der Sachverständigenausschuss beim BfArM und die WHO haben gewichtige Argumente. Diese nehmen wir ernst und wägen wir ab. Ich muss an dieser Stelle schon deutlich machen, dass die WHO sicherlich andere Länder vor Augen hatte, als sie ihren Beschluss gefasst hat; ({1}) denn nicht in allen Ländern - auch nicht in Europa - haben die Menschen einen so niedrigschwelligen, flächendeckenden und umfassenden Zugang zu medizinischer Versorgung wie in Deutschland. ({2}) Bei uns ist die Situation nun einmal anders. ({3}) Die Zahlen sprechen für sich. Die Pille danach wurde allein im letzten Jahr weit über 400 000-mal verschrieben. Ganz offenkundig kommt unser System also gut mit der Herausforderung klar, Patientin und Arzt schnell zusammenzubringen. Das müssen wir doch auch berücksichtigen. Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, argumentieren, der Sachverständigenausschuss sehe keine Gründe, die gegen eine Freigabe sprächen. Wenn ich den Beschluss richtig gelesen habe, dann hält der Sachverständigenausschuss eine umfassende Beratung vor der Abgabe der Pille danach für erforderlich. Länder wie Großbritannien oder die Schweiz, die die Pille danach aus der Verschreibungspflicht entlassen haben, fordern deshalb in den Apotheken umfangreich dokumentierte Auskünfte der Frauen. Mir liegt hier ein Protokollformular aus der Schweiz vor. Ich zitiere aus dem Fragenkatalog. Da heißt es: Hatten Sie seit der letzten Periode noch ein anderes Mal ungeschützten Geschlechtsverkehr? Oder: Wie schützen Sie sich normalerweise vor einer Schwangerschaft? ({4}) Gar nicht, Kondom, Pille, Spirale, natürliche Methode usw.? - Ich sage Ihnen: Glauben Sie mir, diese Fragen bespricht eine Frau lieber vertraulich mit einem Arzt in der Praxis oder einem Krankenhaus als im Verkaufsraum einer Apotheke. ({5}) Im Übrigen ist die Empfehlung des Sachverständigenausschusses nicht neu. Eine entsprechende Äußerung gab es schon im Jahr 2003; das haben Sie richtig dargestellt. Auch Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt und beide Nachfolger in ihrem Amt sind diesem Votum damals nicht mit einer entsprechenden Rechtsverordnung nachgekommen. ({6}) Im Übrigen gibt es keine politischen Zwangsläufigkeiten, diese Empfehlungen umzusetzen. Das muss immer von den politisch Verantwortlichen abgewogen werden. Sie beziehen sich ja auf die Mehrheiten im Bundesrat. Es ist nur erstaunlich, dass der Bundesrat in derselben Sitzung den Bundesgesundheitsminister aufgefordert hat, die Rezeptpflicht für Migränepräparate der Gruppe der sogenannten Triptane beizubehalten, und zwar entgegen dem Votum des Sachverständigenausschusses. ({7}) Man kann sich nicht die Dinge heraussuchen, die einem passen. In der Politik muss man Verantwortung übernehmen und abwägen. ({8}) Es gibt Argumente dafür und dagegen, mit denen wir uns auseinandersetzen müssen; aber es gibt keine Zwangsläufigkeit. Wir wägen die Argumente im Interesse der Frauen ab. ({9}) Ich fasse zusammen: In der Bundesregierung will niemand einer Frau die Pille danach vorenthalten. Wir wollen im Interesse der Gesundheit der Frauen aber auch nicht auf die ärztliche Beratung verzichten. Das stärkt Frauen in ihrer Selbstbestimmung und gibt ihnen Sicherheit. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({10})

Peter Hintze (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000907

Als Nächste hat die Kollegin Kordula Schulz-Asche, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, das Wort. Bitte schön. ({0})

Kordula Schulz-Asche (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004405, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Staatssekretärin Widmann-Mauz, das war wirklich eine etwas seltsame Rede; ({0}) denn Anlass dafür, dass wir heute über das Thema Pille danach diskutieren - das Thema ist ja nicht vom Himmel gefallen -, ist, dass im Januar 2014 das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte, also die Fachleute, die die Bundesregierung zur Verfügung hat, um sich beraten zu lassen, zum wiederholten Male die Aufhebung der Verschreibungspflicht für die Pille danach mit dem Wirkstoff Levonorgestrel empfohlen hat. Das ist der Grund, warum wir heute darüber reden, inwieweit wir es schaffen, hier die Verschreibungspflicht aufzuheben. ({1}) Mir ist völlig unverständlich, wie der neue Gesundheitsminister Gröhe in einer seiner ersten Amtshandlungen erklären konnte - Sie haben es gerade auch getan, Frau Staatssekretärin -, er wolle trotzdem an der Verschreibungspflicht festhalten, und zwar zum Wohle der Gesundheit von Frauen. Heißt das denn, dass das Bundesinstitut Empfehlungen ausspricht, die zulasten der Gesundheit von Frauen gehen? Wenn das der Fall ist, dann müssen Sie diese Experten doch entlassen. ({2}) Wer sind denn die Expertinnen und Experten, auf die Sie sich stützen? Das müssen Sie meiner Meinung nach transparent machen. Die Entscheidung, ob ein Medikament aus der Verschreibungspflicht entlassen werden kann, darf nur auf der Grundlage wissenschaftlicher Bewertungen erfolgen, nicht aber aufgrund von Ideologien und ökonomischen Interessen Einzelner. ({3}) Die Pille danach mit dem Wirkstoff Levonorgestrel gilt seit sehr vielen Jahren als bewährtes und sicheres Arzneimittel und ist in ganz Europa - außer in Deutschland, Polen und Italien - rezeptfrei erhältlich und wird von der Weltgesundheitsorganisation empfohlen. Auch in Deutschland werden die Gegner immer weniger. Zurück bleiben die organisierte Ärztelobby sowie Teile der CDU und natürlich der CSU. Ich hoffe, dass das heutzutage nicht mehr reicht, um das Selbstbestimmungsrecht von Frauen in Notfällen infrage zu stellen. ({4}) Die Pille danach muss bis maximal 72 Stunden nach ungeschütztem Geschlechtsverkehr eingenommen werden, um eine Schwangerschaft zu verhindern. Eine bereits eingetretene Schwangerschaft kann durch das Medikament nicht beendet werden. Die Pille danach ist also ein Verhütungs- und kein Abtreibungsmittel. ({5}) Bereits hier sitzen Sie falschen Beratern auf, wenn Sie eine gegensätzliche Position vertreten, wie Sie es gerade getan haben. Aufgrund der derzeitigen Rezeptpflicht ist eine ärztliche Verschreibung notwendig. Die Pille danach wirkt aber umso besser, je früher sie eingenommen wird. Das ist ein weiterer Grund dafür, die Verschreibungspflicht abzuschaffen. Über die Hälfte der ärztlichen Verordnungen erfolgt in Deutschland montags und dienstags - das zeigt doch, dass eine vernünftige Beratung am Wochenende nicht stattfindet -, und dann ist die Wirkung unter Umständen bereits reduziert. Das ist ein Risiko, dem man Frauen ohne besonderen Grund nicht weiter aussetzen darf. ({6}) Frau Staatssekretärin Widmann-Mauz, Sie haben recht: Natürlich bedarf es auch bei rezeptfreien Medikamenten wie der Pille danach umfassender Aufklärung und Beratung in der Apotheke und gegebenenfalls auch des Verweises auf andere Experten. Das ist übrigens ein wesentlicher Bestandteil unseres Antrages. Ich war eigentlich davon ausgegangen, dass Sie das gelesen haben. ({7}) Es geht ja nicht nur um mögliche Nebenwirkungen des Medikaments, sondern auch darum, die Kompetenzen von Frauen durch die Beratung zu stärken, um selbstbestimmt entscheiden zu können, ob sie die Pille danach nehmen möchten oder nicht. Um diese Beratung geht es uns. Wir müssen natürlich dafür sorgen, dass sie in bester Qualität erfolgen kann. Aber ich kann beim besten Willen nicht verstehen, warum unsere hochqualifizierten Apothekerinnen und Apotheker diese Beratung nicht mindestens genauso gut leisten können sollen wie der Bereitschaftsdienst am Wochenende, beispielsweise durch einen Hals-Nasen-Ohren-Arzt. ({8}) Entscheidend ist doch, dass endlich die Lebensrealität und die Rechte von Frauen, ganz besonders dann, wenn sie in Not geraten sind, berücksichtigt werden. Dazu gehört auch die Kostenübernahme, die ebenfalls Teil unseres Antrages ist. Bei einem Medikament mit überflüssiger Rezeptpflicht sollten sie selbstbestimmt entscheiden können, ob sie es anwenden oder nicht. Ich freue mich sehr über den großen Zuspruch, die die derzeit laufende Petition bereits bekommen hat. Frauen haben das Recht auf Beratung. Aber niemand hat das Recht, sie zu bevormunden, ({9}) weder Ideologen oder Ärzteverbände noch ein Bundesgesundheitsminister oder seine Staatssekretärin. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ({10})

Peter Hintze (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000907

Das war die erste Rede unserer Kollegin Kordula Schulz-Asche im Deutschen Bundestag. Ich gratuliere Ihnen dazu im Namen des ganzen Hauses. ({0}) Als Nächster hat das Wort der Kollege Dr. Karl Lauterbach, SPD-Fraktion.

Prof. Dr. Karl Lauterbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003797, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es wurde schon über die Sicherheit der Pille da1090 nach mit dem Wirkstoff Levonorgestrel gesprochen. Das Produkt ist seit 1966 auf dem Markt. Seit mehr als 20 Jahren wird es als Pille danach eingesetzt. Im Jahr 2013 wurde es 460 000 Mal verschrieben. In 79 Ländern ist es rezeptfrei erhältlich. Die Weltgesundheitsorganisation - bei allem Respekt vor dem medizinischen Sachverstand des Ministers oder der Staatssekretärin ({0}) zieht in ihrer Bewertung der Pille danach das Fazit: Die sorgfältige evidenzbasierte Bewertung zeigt, dass die Nachverhütungsmethode auf der Basis von LNG sehr sicher ist. Sie wirkt nicht abortiv oder schädigend auf eine bereits bestehende Schwangerschaft. Nebenwirkungen sind selten und verlaufen in der Regel mild. Was will man mehr? Im Wesentlichen ist er einer der sichersten Wirkstoffe, die auf dem Markt sind. ({1}) Mittlerweile gibt es zu diesem Wirkstoff kaum mehr Studien. In der letzten großen Auswertung der neueren Studien mit der Beteiligung von insgesamt 10 500 Frauen, die das Produkt eingenommen hatten, wurde darauf hingewiesen, dass die Wirksamkeit zwischen 52 und 94 Prozent liegt - das ist keine so gute Wirksamkeit -, aber dass der entscheidende Faktor, der die Wirksamkeit bestimmt, die Zeit ist. ({2}) Das Wichtigste im Zusammenhang mit dem Wirkstoff ist: Wie früh wird er eingenommen? ({3}) Der jetzt vorgetragene Vorschlag trägt allerdings nicht zur Lösung bei. ({4}) Das Hauptproblem ist, dass das Produkt zu spät eingenommen wird, und dazu leistet Ihr willkürlicher Vorschlag einen Beitrag. Das ist nicht schön. ({5}) Die Kollegen von der Union - davor habe ich großen Respekt - weisen auf die in der Regel qualitativ hochwertige Beratung durch den Apotheker hin. ({6}) Das wäre die Gelegenheit, die Apotheker zu verteidigen; denn über diesen Wirkstoff können sie ohne Wenn und Aber beraten. ({7}) Es wird aber nicht verboten, die Frauenärztin zu konsultieren. Der Frau, die dem Apotheker die Beratung nicht zutraut, die glaubt, dass der Apotheker das nicht schafft, wird es doch nicht verboten, zur Frauenärztin zu gehen und sich weitergehend beraten zu lassen. Es geht doch nicht um das Verbot der Beratung durch den Arzt, sondern um eine Ergänzung in Form einer Beratung durch den Apotheker. ({8}) Hier sollen die Rechte der Frauen gestärkt werden und nicht die Rechte der Gynäkologen eingeschränkt werden, was Sie natürlich berechtigterweise befürchten. ({9}) Ich komme zum Fazit: Es scheint hier so zu sein, dass Frauen in einer Notlage - das ist sicherlich immer eine Notlage ({10}) das Recht auf Hilfe ohne gute Begründung, also willkürlich, vorenthalten werden soll. Das ist nicht zeitgemäß. ({11})

Peter Hintze (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000907

Herr Kollege Dr. Lauterbach, Frau Kollegin Vogler fragt nach einer Zwischenfrage oder Zwischenbemerkung. Lassen Sie sie zu?

Prof. Dr. Karl Lauterbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003797, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja, okay. ({0})

Kathrin Vogler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004181, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank, Herr Kollege Lauterbach, dass Sie die Zwischenfrage zulassen. Ich richte meine Frage an Sie, weil ich annehme, dass Sie den nötigen medizinischen Sachverstand mitbringen, um die Frage beantworten zu können. ({0}) In einer Ausgabe des arznei-telegramms - das ist Ihnen sicherlich bekannt - aus dem vergangenen Jahr wird unter Bezugnahme auf eine Studie über die Präparate, die im Fall einer Verhütungspanne als Notfallverhütungsmittel verordnet werden können, gesagt, welches Präparat verordnet werden sollte. Kolleginnen und Kollegen von der Union laufen derzeit überall herum und sagen: Wenn man Levonorgestrel in der Apotheke frei kaufen könnte, dann würde das aus ihrer Sicht bessere Mittel, Ulipristalacetat, den Frauen möglicherweise vorenthalten werden. Nun kommt das arznei-telegramm aber zu dem Schluss - dabei bezieht es sich auf das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte -, dass eine höhere Wirksamkeit von Ulipristalacetat gegenüber Levonorgestrel nach wie vor nicht belegt ist. In der Stellungnahme heißt es - ich zitiere -: In der Tat sehen wir den Vorteil von Levonorgestrel vor allem in den langjährigen Erfahrungen, die mit diesem Wirkstoff bestehen. Dabei sind nach epidemiologischen Studien fetale Fehlbildungen … nicht zu erwarten. Für Ulipristalacetat gibt es hingegen weiterhin kaum Sicherheitsdaten. Zudem ist dieser Wirkstoff an unter 18-Jährigen kaum geprüft. Würden Sie mir zustimmen, dass die Argumentation, die wir von Unionskollegen oft hören, dass Ulipristalacetat das bessere Mittel sei und man eine Freigabe, also den Wegfall der Verschreibungspflicht von Levonorgestrel deswegen nicht in Betracht ziehen könne, nicht von medizinischem oder pharmakologischem Sachverstand geprägt ist? ({1})

Prof. Dr. Karl Lauterbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003797, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sagen wir es einmal so: Ich habe die Studie im Rahmen meiner Vorbereitung auf diese Rede gesehen. Es ist ganz klar - das ist unisono die Expertenmeinung -, dass LNG, also der hier zur Debatte stehende Wirkstoff, der frei vergeben werden soll, besser untersucht ist. Er ist schlicht besser untersucht und somit sicherer. Ob die Wirksamkeit die gleiche ist, weiß man heute nicht. Wenn ich als Arzt etwas zu empfehlen hätte, würde ich auf den sicheren und besser untersuchten Wirkstoff zurückgreifen, ({0}) und zwar schlicht und ergreifend, weil klar bewiesen ist, dass es, wenn es trotz des Einsatzes von LNG zu einer Schwangerschaft kommt, nicht zu einer Schädigung des Kindes kommt. Das ist aus meiner Sicht der wichtigste Punkt. Darauf würde ich den größten Wert legen. ({1}) Das Produkt ist, aus dieser Perspektive heraus betrachtet, sicher: Wenn es nicht wirkt, da zu spät eingenommen, nimmt das Kind keinen Schaden. Darauf käme es mir in diesem Zusammenhang besonders an. ({2}) Ich will noch einen Punkt ansprechen. Hier wurde gesagt, dass das Produkt 460 000 Mal eingenommen worden ist. Dies sei Beweis dafür, dass die geltende Regelung greift. Ich warne vor dieser Schlussfolgerung: In 50 Prozent der Fälle wurde es zu spät eingenommen und wirkte deshalb nicht. Es ist 460 000 Mal verschrieben worden. Wie viele ungewollte Schwangerschaften trotzdem entstanden sind und dann abgebrochen werden mussten, geht aus dieser Statistik nicht hervor. Die Hauptnebenwirkung einer zu späten Einnahme ist die Abtreibung. Ich glaube, wir hier im Saal sind alle der Meinung, dass eine vermeidbare Abtreibung vermieden werden sollte, insbesondere wenn das so sicher und so leicht geht. ({3}) Zum Abschluss. Wir dürfen die Realität nicht verkennen: Was passiert denn, wenn eine Frau beispielsweise im Internet liest, dass es zeitlich knapp wird, dass sie den Frauenarzt kaum noch aufsuchen kann, um die Pille danach einnehmen zu können? Viele greifen dann zur Selbstmedikation, indem sie mehrere Pillen mit einem anderen Wirkstoff auf einmal einnehmen oder sich Pillen mit diesem Wirkstoff bei Bekannten oder Freundinnen besorgen. Machen wir uns bitte nichts vor: Jeder Arzt weiß, dass eine weit verbreitete Praxis die ist, dass man dann bei Freundinnen und Bekannten nachfragt, womit sie verhüten, um dann auszurechnen, wie man auf die Menge Wirkstoff kommt, mit der man glaubt, die Wirkung der Pille danach darstellen zu können. Das ist eine sehr gefährliche Praxis. Ich persönlich würde mich aus ärztlicher Sicht mit dem sicheren Wirkstoff, den der Apotheker aushändigt, wohler fühlen. Diese weit verbreitet Praxis sollte man nicht in Kauf nehmen. In der Summe macht es den Eindruck, dass hier die Freiheitsrechte der Frauen eingeschränkt werden sollen, dass hier ein Exempel statuiert werden soll und man sagt: Ein bisschen Strafe muss sein. Geht zumindest zum Frauenarzt! - Das halte ich für eine nicht angemessene Position. ({4}) Das sehen übrigens auch die Frauenärzte so. In der Apotheke werden Wirkstoffe wie Aspirin, Paracetamol und Ibuprofen verkauft, die, wenn sie unsachgemäß eingenommen werden, sehr viel gefährlicher sind. ({5}) Aspirin verursacht Magenblutungen. Paracetamol hat, wenn es zu hoch dosiert eingenommen wird, schwerste Leberschäden zur Folge; das wird mir die Kollegin hier bestätigen. Ibuprofen führt, wenn es zu hoch dosiert eingenommen, wird, Herr Henke, zu Schädigungen der Nieren. Ich könnte ohne Mühe die mir nicht mehr zur Verfügung stehende Redezeit mit weiteren Beispielen füllen.

Peter Hintze (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000907

Das mit der Redezeit stimmt, Herr Kollege Lauterbach.

Prof. Dr. Karl Lauterbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003797, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Es gibt viel gefährlichere Wirkstoffe, die von Apothekern, denen von der Union ja immer wieder zu Recht Kompetenz zugesprochen wird, rezeptfrei verkauft werden. Seien wir ehrlich: Hier soll ein Exempel an den Frauen gegen ihre Freiheitsrechte statuiert werden. Das ist nicht richtig. ({0})

Peter Hintze (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000907

Als Nächster erteile ich das Wort Kollegin Emmi Zeulner, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Emmi Zeulner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004452, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auch wenn die Debatte zur Rezeptfreiheit eines Präparates zur Notfallverhütung, nämlich Levonorgestrel, kurz LNG, strittig ist, sind wir uns in einem Punkt doch alle einig: Wir wollen, dass Frauen in Deutschland, die in eine Notsituation geraten sind, sich sicher sein können, eine schnelle und objektive Beratung zu erhalten, eine Beratung in einem geschützten Raum unter vier Augen; ({0}) denn die Empfänger der Pille danach sind eben nicht nur Frauen, die mitten im Leben stehen, sondern auch Minderjährige oder - schlimmer noch - Frauen, denen Gewalt angetan wurde. Deswegen ist für mich die zentrale Frage: Was ist uns wichtig? Den einfacheren Weg zu gehen oder den besseren? Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen möchten, dass mit der Rezeptfreiheit von LNG ein niedrigschwelliger und zeitnaher Zugang zur Notfallverhütung ermöglicht wird. ({1}) In diesem Zusammenhang wird häufig der erschwerte Zugang zu ärztlicher Versorgung im ländlichen Raum angeführt. ({2}) Ich selbst stamme aus dem ländlichen Raum und kann sagen ({3}) - vielleicht liegt es daran, dass es Bayern ist; tut mir leid -, ({4}) dass der Notfalldienst der Gynäkologen sowie die Notfallversorgung durch die Krankenhäuser funktionieren. Wir wissen selbstverständlich, dass wir aufpassen müssen, dass dies auch in Zukunft so bleibt. Aber die Rundum-die-Uhr-Bereitschaft, wie wir sie in Deutschland haben, ist einmalig. Für jede Frau ist somit vor Ort eine zeitnahe Versorgung mit dem Notfallmedikament sichergestellt. An der Besonderheit dieses Bereitschaftsdienstes möchte ich anknüpfen. Ein Vergleich mit der Situation in anderen Ländern bezüglich der Freigabe von LNG kann nur bedingt gezogen werden. Es ist nachvollziehbar, dass der schnelle Zugang zu LNG in anderen Staaten nur durch eine Rezeptfreiheit gesichert werden kann. Nicht jedes Land hat eine medizinische Versorgung, die mit dem deutschen Standard vergleichbar ist. Deutschland hingegen weist keine Versorgungslücken auf, die eine Freigabe von LNG nötig machen würden. ({5}) Im internationalen Vergleich haben wir eine beispielhaft niedrige Zahl von Schwangerschaftsabbrüchen: Auf 1 000 Frauen kommen 6,2 Abbrüche. In anderen europäischen Ländern - ohne Verschreibungspflicht - ist die Rate bis zu dreimal so hoch. Hier sei deutlich gesagt: Die Freigabe des Präparats hat nirgends zu einem wirkungsvollen Rückgang der Zahl der Schwangerschaftsabbrüche beigetragen. Wäre hier ein Rückgang zu erkennen, wäre die Debatte selbstverständlich eine andere. ({6}) In dieser Debatte wird immer wieder bemängelt, dass das Selbstbestimmungsrecht der Frau durch die Rezeptpflicht eingeschränkt wird. Natürlich will ich als Frau selbstbestimmt leben. Aber ich kann Ihnen sagen: Ich habe nicht das Gefühl, dass mein Selbstbestimmungsrecht mit dem Gang zum Arzt mehr eingeschränkt wird als mit dem Gang zum Apotheker. ({7}) Vielmehr bietet der Besuch beim Arzt die Möglichkeit einer fachlichen, ganzheitlichen und individuellen Beratung in einem geschützten Raum. Mit der Weitergabe dieses hochpotenzierten Hormonpräparats allein ist es nicht getan. Die Aufklärung über die Gefahren von Geschlechtskrankheiten, eventuelle Impfungen und eine Abstimmung des möglicherweise notwendigen weiteren Vorgehens - auch in Bezug auf die weitere Verhütung sind unbedingt mit einzubeziehen. ({8}) Hinzu kommt die wichtige Abwägung, welches Präparat verschrieben werden soll. Das weiterhin verschreibungspflichtige Präparat Ulipristal kann bis zu 120 Stunden nach dem Geschlechtsverkehr eingenommen werden und ist wirksamer; deswegen gilt es in der Notfallmedizin aktuell als Standardtherapie. Nur durch den Gang zum Arzt hat man die Wahl zwischen den beiden Präparaten. Als Krankenschwester ist es mein Prinzip, das Beste für die Patientin zu tun. Was ist, wenn Ulipristal das Beste für die Patientin wäre, sie aber nicht davon erfährt? Ein weiterer Punkt ist, dass das Präparat, würde es freigegeben, im Internet auf Vorrat bestellt werden könnte. Im Gegensatz zu den Grünen bin ich nicht der Meinung, dass das Internet allein zu einer informierten Entscheidung führen kann. ({9}) Wie stellen Sie sich das vor: Multiple Choice für die Pille danach? Eingabe bei Google? Die Option einer rezeptfreien Pille danach durch eine Apotheke kommt für mich nur infrage, wenn eine ganzheitliche, individuelle, fachlich fundierte Beratung in einem geschützten Raum gesichert ist. Kann dies wirklich nachts am Apothekenfenster gewährleistet werden? Und wenn ja: Wird dann nicht der Grundsatz der Trennung von Beratung und Verkauf gefährdet? Eine medizinische Empfehlung sollte im besten Fall unabhängig von jeglichen Verkaufsperspektiven sein. Nach Abwägung zwischen dem einfacheren und dem besseren Weg muss ich daher zu dem Schluss kommen, dass ich mich für die Beibehaltung der Rezeptpflicht und somit für den besseren Weg entscheide. ({10})

Peter Hintze (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000907

Das war die erste Rede unserer Kollegin Emmi Zeulner im Deutschen Bundestag. Wir gratulieren ihr dazu herzlich. ({0}) Ich erteile als nächster Rednerin der Kollegin Mechthild Rawert von der SPD-Fraktion das Wort. ({1})

Mechthild Rawert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003825, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ja - und das freut mich -, wir führen diese Diskussion ohne Schaum vorm Mund, anders als es der Minister befürchtet hatte. Ja, wir übernehmen Verantwortung: Deswegen fordern wir, dass Levonorgestrel aus der Verschreibungspflicht entlassen wird. ({0}) Wir wollen - das ist den meisten nicht neu, spätestens seitdem in der letzten Legislaturperiode entsprechende Anträge eingebracht worden sind -, dass die Verschreibungspflicht in diesem Fall aufgehoben wird. Es ist allerdings das erste Mal, dass wir Sozialdemokraten dies in einer Großen Koalition mit der CDU/CSU fordern. Es ist auch das erste Mal, dass uns eine Entschließung des Bundesrates vorliegt, in der er fordert, die Verschreibungspflicht aufzuheben. Über die Sicherheit der Pille danach wurde hier zu Recht gesagt: Nebenwirkungen sind kaum bekannt. Das sagen mittlerweile Wohlfahrtsverbände, das sagt pro familia, das sagen aber auch die Apotheker, viele Experten und Expertinnen und mittlerweile auch - das freut mich besonders - viele junge Frauen. Diese Diskussion ist keine Diskussion nur der Experten und Expertinnen und auch keine Diskussion mehr nur - in Anführungszeichen - altbackener Feministinnen. Nein, das ist eine von vielen jungen Frauen in den sozialen Medien geführte Diskussion. Es ist dennoch keine Frauendiskussion, sondern eine gesellschaftspolitische Diskussion- und das ist gut so. ({1}) Seit 2003 erklärt der zuständige Sachverständigenausschuss für Verschreibungspflicht beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte, es gebe keine Gründe mehr für die Verschreibungspflicht. Dies wurde vor ein paar Wochen noch einmal bestätigt. Warum also hält das Ministerium an der Verschreibungspflicht fest? Warum sollen wir als Große Koalition an der Verschreibungspflicht festhalten? Für mich stellt sich aber auch noch eine andere Frage: Darf das Ministerium überhaupt an der Verschreibungspflicht festhalten? ({2}) Das Parlament hat das Bundesministerium zwar dazu ermächtigt - ich verweise auf § 48 Abs. 2 des Arzneimittelgesetzes -, die Verschreibungspflicht für Arzneimittel mit Zustimmung des Bundesrates durch Rechtsverordnung zu regeln. Das bedeutet aber nicht, dass willkürlich gemacht werden kann, was dem einzelnen Politiker, der einzelnen Politikerin, dem einzelnen Minister, der einzelnen Ministerin gefällt. Man muss sich an Spielregeln halten. ({3}) Die Spielregeln lauten, dass die Verschreibungspflicht aufzuheben ist, wenn keine wissenschaftlichen Gründe für eine Verschreibungspflicht bestehen. Genau das hat der Sachverständigenausschuss zu beurteilen. So wurde es auch in § 53 AMG erwähnt. Wofür bräuchten wir sonst eigentlich Sachverständigenausschüsse und Experten und Expertinnen, wenn deren Rat sowieso nicht zählt? ({4}) Das Arzneimittelrecht nennt genau zwei Kriterien, unter denen eine Verschreibungspflicht begründet ist: erstens eine zu befürchtende signifikante Gesundheitsgefährdung und zweitens, wenn ein häufiger Missbrauch des Medikaments nachzuweisen ist. Für beide Kriterien trägt das Bundesgesundheitsministerium die Beweislast. Es muss nachweisen, dass die Pille danach gefährlich für die Gesundheit der Frauen ist und dass sie falsch eingenommen wird. Beides kann es nicht. ({5}) Sie können nicht nachweisen, dass die Frauen nicht in der Lage sind, das Medikament richtig zu nutzen, und Sie können auch keine signifikante Gesundheitsgefahr nachweisen. Wir haben in der Anhörung genügend darüber diskutiert. Ich will mich hier nicht wiederholen. Eine Verschreibungspflicht beinhaltet die Annahme, dass die ärztliche Beratung immer besser ist als der Rat und die Beratung in der Apotheke. ({6}) Das überzeugt mich nicht. ({7}) Eine Frau kann im Notfall sowohl in der Apotheke als auch in der Arztpraxis oder im Krankenhaus gut oder schlecht beraten werden. Wenn ich hier nur daran denke - vorhin ist Bayern genannt worden -, dass der Bereitschaftsdienst in Bayern reduziert worden ist und in den Notfallstationen häufig Orthopäden und sonstige Fachmediziner, aber auf keinen Fall Gynäkologen sitzen, ({8}) dann frage ich mich, ob das tatsächlich die fachmedizinische Beratung ist, die Sie hier stets bei der Pille danach unterstellen. ({9}) Was macht den Orthopäden kompetent für eine gynäkologische Beratung? Das habe ich auch noch nicht verstanden. ({10}) Für die Verschreibungspflicht können nach dem Arzneimittelrecht keine politischen Gründe entscheidend sein, und vor allen Dingen können politische Gründe keinen Grundrechtseingriff rechtfertigen. Aber wie gesagt: Ich will mich hier zurückhalten. ({11}) Wir werden ja auch im Ausschuss noch intensive Debatten führen. Auf eines sei zum Abschluss hingewiesen. Es gibt eine vergleichbare Situation im Ausland. In den USA entschied im letzten Jahr ein Gericht den Streit zwischen der amerikanischen Arzneimittelbehörde und der Politik. Die Arzneimittelbehörde hatte seit langem die Freigabe der Pille danach mit dem Namen „Plan B“ empfohlen, aber die Politik bzw. das Gesundheitsministerium konnte sich dazu nicht durchringen. Ein US-Bundesrichter entschied schließlich zugunsten der Freigabe des Medikaments bzw. der Aufhebung der Altersbeschränkung gegen den Willen des Gesundheitsministeriums. ({12}) Ich will nicht hoffen, dass wir wieder in die Situation kommen, über diese Angelegenheit gerichtlich entscheiden zu lassen; denn wir sind das Parlament. Wir tragen Verantwortung. Wir nehmen Verantwortung wahr. ({13}) Deswegen freue ich mich auf die lebhafte Diskussion im Ausschuss. Ich freue mich auf die Überweisung. Ich freue mich darüber, dass wir viele Aspekte diskutieren werden. Seien wir mutig. Werben wir auch für die Onlinepetition. Ich würde mich freuen, wenn diese vielfach unterschrieben würde. Danke schön für Ihre Aufmerksamkeit. ({14})

Peter Hintze (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000907

Als letzter Rednerin in dieser Debatte erteile ich das Wort der Kollegin Karin Maag, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Karin Maag (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004104, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Liebe Kollegin Rawert, ich finde es schön, dass Ihnen die Große Koalition jeden Tag so viel Freude bereitet. Uns auch. ({0}) Nichtsdestotrotz möchte ich die Diskussion vom Kopf wieder auf die Füße stellen. Frau Kollegin Rawert, hormonelle Verhütungsmittel, gemeinhin die Pille genannt, sind in Deutschland aus gutem Grund verschreibungspflichtig, weil sie nämlich Wirkungen und Nebenwirkungen haben. ({1}) Es gibt unterschiedliche Arten von Pillen mit unterschiedlichen Hormonen. Es gibt Risikofaktoren: HerzKreislauf-Probleme, Thromboserisiko, Übergewicht usw. ({2}) Am Anfang, bevor ein Arzt eine Pille verschreibt, steht jedenfalls ein Beratungsgespräch und die entsprechende Untersuchung. Wenn wir heute über die Entlassung von Levonorgestrel aus der Rezeptpflicht reden, dann kommt mir eins viel zu kurz: Der Hormongehalt in der Einzeldosis Levonorgestrel ist 50-mal höher als der bei der sogenannten Minipille und etwa 10-mal höher als der Gestagengehalt in der normalen Pille. Wir hören auch auf Sachverständige. Professor Rabe hat dies in der Anhörung letztes Jahr sehr deutlich hervorgehoben. Ich jedenfalls meine, der Beratungsbedarf wird nicht geringer. Jetzt will ich auf die Behauptung eingehen, die Erfahrungen in den anderen Ländern mit der Rezeptfreiheit seien immer positiv. Das stimmt einfach nicht. In Großbritannien ist die Pille danach seit zwölf Jahren rezeptfrei. Die Abbruchraten sind um 7,7 Prozent gestiegen. In Frankreich ist die Pille danach seit 1999 rezeptfrei. Die Abbruchraten sind mehr als doppelt so hoch wie in Deutschland. In Deutschland ist die Pille danach nicht rezeptfrei, aber bei uns sinken die Abbruchraten seit zehn Jahren kontinuierlich. Die ärztlichen Fachverbände jedenfalls sehen den Beratungsbedarf und haben sich für den Erhalt der Rezeptpflicht ausgesprochen. Es gibt dann die Plattitüde, die Frauenärzte würden ja an der Verordnung verdienen. Das tun sie nicht. In jedem Bundesland bringt das den Ärzten zwischen 19 und 22 Euro pro Quartal. Darin ist die Beratung für die Notfallverhütung selbstverständlich eingeschlossen. Die Rezeptpflicht ist aus meiner Sicht notwendig, weil nur so eine Beratung sichergestellt werden kann. ({3})

Peter Hintze (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000907

Frau Kollegin Maag, es gibt den Wunsch nach einer Zwischenfrage oder Zwischenbemerkung der Kollegin Schulz-Asche. Lassen Sie sie zu?

Karin Maag (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004104, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich will die Debatte nicht unnötig verlängern, Frau Schulz-Asche. Sie hatten schon die Möglichkeit, hier Ihre Ausführungen zu machen. Die Rezeptpflicht ist notwendig. Ich will einfach, dass verschiedene Aspekte berücksichtigt werden, wie der, dass es zum Beispiel beim ungeschützten Geschlechtsverkehr in der Zeit des Eisprungs überhaupt nur in 5,5 Prozent der Fälle zu einer Schwangerschaft kommt. Das heißt, vielfach wäre die hormonelle Belastung durch die Pille danach gar nicht nötig. Mit der Einnahme von Levonorgestrel sinkt die Rate von 5,5 auf 3 Prozent. Verhindert werden also 40 bis 50 Prozent der ungewollten Schwangerschaften, aber nur dann, wenn das Präparat innerhalb von 24 Stunden eingenommen wird. Danach sinkt die Sicherheit ab. Bei einem Körpergewicht von über 70 Kilogramm sinkt die Wirksamkeit exorbitant. Darüber muss man meines Erachtens aufklären. Das ist umso nötiger, weil die ellaOne, also das Ulipristalacetat, mit 80 bis 85 Prozent verhinderter Schwangerschaften deutlich erfolgreicher ist. Sie wirkt bis zu fünf Tagen nach dem ungeschützten Geschlechtsverkehr. Das sicherste Mittel überhaupt zur Verhinderung einer ungewollten Schwangerschaft ist die Spirale, die als Notfallkontrazeptiva gegeben werden kann. Sie kann bis zu fünf Tage nach dem ungeschützten Geschlechtsverkehr eingelegt werden. Sie sehen, das sind Dinge, über die man reden muss. Das weiß die Patientin nicht ohne Weiteres. Es geht uns sicher nicht darum, meine Damen und Herren von den Linken und von den Grünen, das reproduktive Selbstbestimmungsrecht - das Wort ist fürchterlich - zu beschneiden. ({0}) Wir wollen mit der Rezeptpflicht zum einen den Weg in die informierte Entscheidung erleichtern. Zum anderen wollen wir vermeiden, dass sich viele Frauen, ohne womöglich bessere Alternativen der Notfallverhütung zu kennen, auf das einfacher zugängliche, aber weniger wirksame oder möglicherweise individuell weniger passende Produkt einlassen. Das hielte ich tatsächlich für fatal. Ich will noch auf den Sachverständigenausschuss eingehen, der im Übrigen - Frau Widmann-Mauz hat darauf hingewiesen - eine Beratung generell für notwendig hält. Das BfArM hat mitgeteilt, dass es die sogenannte Anwendungssicherheit von Levonorgestrel für hoch hält. Das ist richtig. Anwendungssicherheit heißt aber, dass das Produkt für die Patientin leicht handhabbar ist und sie selbst etwa im Hinblick auf Dosierung oder Portionierung keine Fehler machen kann. Damit ist doch nicht darüber entschieden, ob es andere bessere bzw. wirksamere Produkte für die Patientin am Markt gibt. ({1}) Es ist ein isolierendes Risikoprofil. Das ist mir schlicht nicht genug. Mir geht es allein um die Frage, ob die Patientin gut oder am besten versorgt ist. Das entscheidet der Arzt. ({2}) Dass die Entscheidung natürlich auch im geschützten Raum fallen muss, wurde schon mehrfach angesprochen. Es geht dabei um Fragen wie: Ist der Geschlechtsverkehr möglicherweise nicht einvernehmlich gewesen, mit allen gesundheitlichen Folgen? Kann man da behilflich sein? Das alles kann der Frauenarzt in seinen Räumen in Ruhe mit der Patientin besprechen, aber sicher nicht der Apotheker, ({3}) dessen Kompetenz ich grundsätzlich schätze, in seiner Apotheke, im Notfalldienst oder schlimmstenfalls durch den Nachtrezeptschlitz. Das halte ich in diesen Fällen für den falschen Weg. Deshalb gibt es übrigens auch eine flächendeckende ärztliche Versorgung. Sie ist bei uns noch flächendeckend. Ich verstehe den Ansatz, dass es um den ländlichen Raum geht und dass wir den guten Zugang zur Notfallverhütung erhalten müssen. Aber dabei hilft es nicht, die Anforderungen herunterzuschrauben. Wir müssen dafür Sorge tragen, dass wir die Versorgung hochhalten. Liebe Kolleginnen und Kollegen, nicht erwähnt wurde bisher, dass Sie mit der Entlassung aus der Rezeptpflicht auch die Kostenübernahme durch die Kran1096 kenkassen aufs Spiel setzen. Auch würde das Werbeverbot entfallen. ({4}) All das berücksichtigen Sie nicht. Aus all diesen Gründen bleibe ich dabei, dass die Rezeptpflicht für das Levonorgestrel, die bestehen bleiben muss, sicher der gute und richtige Weg ist. Danke. ({5})

Peter Hintze (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000907

Ich gebe der Kollegin Kordula Schulz-Asche das Wort zu einer Kurzintervention.

Kordula Schulz-Asche (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004405, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Kollegin Maag, ich habe mich zu einer Zwischenfrage gemeldet, und Sie sehen, dass Sie keine Zeit sparen, weil ich mich jetzt melde. Ich möchte eine Anmerkung machen und Ihnen eine ganz konkrete Frage stellen. Sie haben gesagt, es sei letztendlich immer die Entscheidung des Arztes. Darin möchte ich Ihnen ausdrücklich widersprechen. Wir sprechen hier über einen Bereich - die Pille danach -, in dem es in erster Linie auf die Entscheidung der Frau ankommt. ({0}) Es kommt darauf an, dass die Frau selber die Entscheidung gut und kompetent treffen kann. Dazu braucht sie Beratung; das wird nicht bestritten. Aber ich widerspreche ausdrücklich dem Eindruck, der von Ihrer Seite immer wieder versucht wird zu erwecken, dass mit der Aufhebung der Verschreibungspflicht jegliche Beratung entfällt. ({1}) Ich habe mich gemeldet, weil Sie - das haben Sie zusammen mit dem Kollegen Spahn schon in einer Pressemitteilung unterstrichen - einen Zusammenhang zwischen der Verschreibungspflicht bzw. der Rezeptfreiheit der Pille danach und den Abtreibungsraten herstellen. Ich frage Sie: Können Sie einen solchen Zusammenhang beweisen? Geht die Abbruchrate in den Ländern, in denen die Verschreibungspflicht nicht mehr existiert, in die Höhe, oder ist der Bedarf an Familienplanungsberatung in vielen Ländern, in denen die Verschreibungspflicht nicht mehr existiert, viel größer, wie etwa in Frankreich, wo die Geburtenrate viel höher ist als in Deutschland? ({2}) Das spricht dafür, dass die Aufklärung von Frauen über sexuelle Gesundheit und nicht eine Detailfrage, die in Notfällen zu klären ist, entscheidend ist. Entscheidend ist, dass es eine vernünftige Beratung junger Mädchen und Frauen von der Schule an über das Elternhaus bis hin zur Jugendhilfe gibt. ({3}) Sie versuchen, auf einem Nebenschauplatz den Eindruck zu erwecken, mit der Pille danach werde abgetrieben. Diesen falschen Vorwurf lasse ich nicht stehen. ({4}) - Jens Spahn [CDU/CSU]: Eine Unver- schämtheit, was Sie da gesagt haben! Besser genau lesen, bevor man hier loslegt!)

Peter Hintze (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000907

Liebe Kollegen, bleiben Sie entspannt. Die Kollegin Maag muss nicht, darf aber antworten. Sie möchte es. Frau Kollegin Maag.

Karin Maag (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004104, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Liebe Frau Kollegin Schulz-Asche, darauf möchte ich doch antworten. Meine erste Anmerkung ist: Ich habe von einer informierten Entscheidung gesprochen. Ich entscheide mich dann, wenn ich alle für eine Abwägung relevanten Inhalte kenne, wenn ich das Für und Wider einer Entscheidung kenne. Das will ich allen Frauen gewährleisten. Ich möchte keinen Schnellschuss, sondern dass die Frauen informiert entscheiden. ({0}) Meine zweite Anmerkung ist: Ihre Interpretation meiner Aussagen bzw. der Pressemitteilung von Herrn Spahn und mir weise ich entschieden zurück. Das ist absurd. Ich habe davon gesprochen, dass die Abtreibungsraten in Ländern, in denen die Pille danach - anders als bei uns - rezeptfrei erhältlich ist, gestiegen sind. Ich habe die entsprechende Statistik dabei und kann sie Ihnen gerne geben. Wenn Sie sie selber haben, dann weiß ich nicht, warum Sie Ihre Frage gestellt haben. ({1})

Peter Hintze (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000907

Wir sind damit am Ende der Aussprache. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen auf den Drucksachen 18/303 und 18/492 zur federführenden Beratung an den Ausschuss für Gesundheit und zur Mitberatung an den Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend zu überweisen. Ich frage das Plenum: Gibt es dazu andere Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Monika Lazar, Volker Beck ({0}), Marieluise Beck ({1}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Vizepräsident Peter Hintze Menschen- und Bürgerrechte für Lesben, Schwule, Bisexuelle und Transgender im Sport wahren Drucksache 18/494 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. - Es gibt dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat als erste Rednerin Kollegin Monika Lazar, Bündnis 90/Die Grünen.

Monika Lazar (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003714, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank, Herr Präsident. - Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Olympischen Spiele in Sotschi sind in diesen Tagen im Fokus der Weltöffentlichkeit. Dabei wird besonders bei den Anliegen von Lesben, Schwulen, Bisexuellen und Transgendern deutlich: Es herrscht ein himmelweiter Unterschied zwischen den hehren Zielen der olympischen Bewegung, die in der Charta jede Form von Diskriminierung verbietet, und den tatsächlichen Zuständen in Russland. ({0}) Dort werden LGBT mit dem im letzten Jahr von der russischen Duma einstimmig verabschiedeten Gesetz gegen die Propaganda nicht traditioneller sexueller Beziehungen vor Minderjährigen zu Pädophilen erklärt. Präsident Putin hat im Januar dieses Jahres gesagt, Schwule seien bei Olympia willkommen, aber sie müssten nur die Kinder in Ruhe lassen. Ein Skandal! ({1}) Der stellvertretende russische Ministerpräsident Dimitri Kosak hat dies vor ein paar Tagen wiederholt. Da hätte ich mir sowohl von deutscher als auch von internationaler Seite mehr Druck gewünscht. ({2}) Auch die Bundesregierung ist in der Pflicht. Der Innenminister ist der Ansicht, Olympische Spiele seien der falsche Ort, um auf Menschen- und Bürgerrechtsstandards bei Sportgroßveranstaltungen zu drängen. Das waren seine Worte gestern im Sportausschuss. ({3}) Herr Minister, die Olympischen Spiele sind genau der richtige Ort dafür. ({4}) Offenbar hat die Union kein Interesse an diesem Thema; denn ansonsten hätte sie unseren Antrag aus der letzten Wahlperiode zu diesem Thema nicht abzulehnen brauchen. Sport und Politik sind untrennbar miteinander verbunden. ({5}) Leider tut sich aber auch der Sport sehr schwer bei diesem Thema. UN-Generalsekretär Ban Ki-moon hat sich letzte Woche auf der IOC-Vollversammlung in Sotschi gegen die Diskriminierung von LGBT gewandt. Er hat das nicht umsonst vor diesem wichtigen Gremium der internationalen Sportpolitik gesagt. ({6}) Die Botschaft ist klar: Es liegt auch in der Verantwortung des Sports, auf Missstände hinzuweisen und dafür zu sorgen, dass die Werte der Olympischen Charta nicht nur auf dem Papier gelten. ({7}) Wie Sie wissen, fahren Teile unserer Fraktion nicht zu Olympia und zu den Paralympischen Spielen, weil wir für diese Putin-Spiele nicht zur Verfügung stehen. ({8}) Solange nicht gewährleistet ist, dass wir uns mit kritischen Stimmen in Russland treffen können, macht eine Reise aus unserer Sicht in diesem Zeitraum keinen Sinn; denn die Menschen, die wir treffen möchten, bekommen gar keinen Zugang zum olympischen Gelände, sitzen im Gefängnis oder befinden sich im Exil. ({9}) - Das haben wir heute beim parlamentarischen Frühstück, an dem einige Kolleginnen und Kollegen teilgenommen haben, bestätigt bekommen. Es ist zurzeit leider Realität: Nichtregierungsorganisationen sind potenzielle Spione, und Aktivistinnen und Aktivisten werden wie Kriminelle behandelt. ({10}) Da das die Kolleginnen und Kollegen der anderen Fraktionen anders sehen, bin ich sehr gespannt, was berichtet wird, wenn wir uns im Ausschuss zum Thema „Sotschi und die Menschenrechtslage“ unterrichten lassen. Homophobie ist eine Form von gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit. Wir müssen uns auch fragen, ob wir nicht in Deutschland mehr tun können. Man klopft sich auf die Schulter und ist stolz auf die Toleranz, wenn sich eine Sportlerin oder ein Sportler outet. Im Alltag wird aber immer noch viel zu wenig dagegen getan, wenn das Wort „schwul“ für alle möglichen Abwertungen gebraucht wird, übrigens nicht nur auf dem Sportplatz. Im April 2011 gab es eine Anhörung im Sportausschuss zum Thema „Homophobie im Sport“. Eines der Ergebnisse war: Zu viele Sportlerinnen und Sportler beenden in Deutschland noch immer frühzeitig ihre Karriere wegen ihrer sexuellen Identität. Das ist ein Armutszeugnis für unsere Gesellschaft. ({11}) Wir müssen auch hinsichtlich der Programme der Bundesregierung und des Bundestages mehr tun. Es gibt zum Beispiel das Programm „Zusammenhalt durch Teilhabe“. Da fehlt zum Beispiel das Thema Homophobie ganz. Auch im „Nationalen Konzept Sport und Sicherheit“ gibt es keinen ausdrücklichen Ansatz zur Prävention von Homophobie. Hier muss auch die Bundesregierung endlich den Handlungsbedarf erkennen. Auch deshalb legen wir unseren Antrag heute zur Sofortabstimmung vor. Wir wollen ihn jetzt verabschieden, während die Weltöffentlichkeit nach Sotschi schaut. Bitte stimmen Sie dem Antrag zu, und setzen Sie so ein Zeichen gegen Homophobie in Deutschland, in Russland und in all den anderen Ländern. Vielen Dank. ({12})

Peter Hintze (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000907

Als Nächstem erteile ich das Wort dem Kollegen Eberhard Gienger, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Eberhard Gienger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003534, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die CDU/CSU-Fraktion spricht sich gegen jegliche Form von Diskriminierung aus, sei es aufgrund sexueller Orientierung, Herkunft, ethnischer Wurzeln, religiöser Überzeugung oder auch politischer Einstellung. Homophobie, Fremdenfeindlichkeit und Extremismus treten wir ganz entschlossen entgegen, sei es im Sport oder in anderen gesellschaftlichen Bereichen. Wie die vielen Initiativen des Deutschen FußballBundes oder auch des Deutschen Olympischen Sportbundes zeigen, trägt der Sport maßgeblich zu Toleranz, Fairness, aber auch gegenseitiger Achtung bei. Dies gilt für den Breitensport genauso wie für den Spitzensport. Die deutsche Olympiamannschaft steht bei den Olympischen Winterspielen 2014 in Russland dahin gehend für ein erfolgreiches, für ein offenes und auch für ein freiheitliches Land. Bei dem Antrag der Grünen hat mich allerdings sehr überrascht, dass sie eine inhaltliche Befassung des Sportausschusses offensichtlich ablehnen. Über den Antrag soll stattdessen sofort abgestimmt werden, ohne dass man sich damit im Ausschuss tiefergreifend beschäftigen kann. ({0}) Das angestrebte Vorgehen der Grünen spricht hier für sich. Man gewinnt offenbar den Eindruck - das wundert mich bei den Grünen ohnehin -, dass man fast scheut, eine inhaltliche Diskussion darüber zu suchen. ({1}) Man versucht stattdessen, sich mit einem Scheinantrag in eine besondere Position zu rücken. Die Ernsthaftigkeit Ihrer Initiative geht mir dabei völlig verloren. ({2}) Dabei ist dieses Thema auf der Tagesordnung. Es ist wichtig, und es ist so weitreichend, dass man eine Befassung im Ausschuss eigentlich durchführen sollte. ({3}) Ich darf sagen: Auch die vielen Fehler in Ihrem Antrag zeigen zudem, wie komplex die ganze Sachlage wirklich ist, insbesondere dann, wenn man noch die internationale Ebene heranzieht. Aber lieber bringen die Grünen in Deutschland einen Scheinantrag ein, als sich in Russland für die Verbesserung der Situation direkt einzusetzen. ({4}) Liebe Kolleginnen und Kollegen der Grünen, niemand hält Sie davon ab, nach Sotschi zu reisen und dort Ihre Kritik anzubringen. ({5}) Ihr vorgetäuschtes Interesse wird der Bedeutung von Menschen- und Bürgerrechten nicht gerecht. Durch diesen Scheinantrag verspielen Sie, zumindest bei mir, Ihre Glaubwürdigkeit. Sie fordern die Bundesregierung in Ihrem Antrag auf, die Lage vor Ort zu beobachten und sich durch politische Gespräche sowie durch diplomatisches Geschick für Menschenrechte einzusetzen. Was machen Sie aber selber? Von Ihren Möglichkeiten machen Sie keinen Gebrauch. Wie passt das zusammen? Zudem läuft Ihr Antrag der Wirklichkeit hinterher. Ich möchte an dieser Stelle nur wenige Beispiele nennen. Im Bereich Diversity verfügen der DOSB und der DFB über Mitarbeiterstellen, die genau dieses Thema, nämlich Homophobie, bearbeiten. Derzeit wird vom DOSB ein neues Fortbildungsmodul entwickelt, um in der Breite die Vereine für dieses Thema zu sensibilisieren. Die Bundesstiftung Magnus Hirschfeld wird sich zudem ab Mai 2014 mit dieser Thematik beschäftigen. Schließlich spricht sich der DFB in seiner Berliner Erklärung eindeutig gegen jegliche Form der Diskriminierung aus. Er hat sich dadurch auch eine wunderbare Handreichung erarbeitet. Auch im internationalen Feld engagiert man sich vorbildlich. Ich finde, der DOSB hat sich bereits weit vor den Olympischen Spielen mit Human Rights Watch und auch mit dem Lesben- und Schwulenverband in Deutschland zusammengetan. Er hat sich auch hier klar positioniert und ist mit seinen Athletinnen und Athleten in einen Dialog getreten. Außerdem hat sich die Bundesregierung hier ebenfalls klar positioniert. Auf der UNESCO-WeltsportmiEberhard Gienger nisterkonferenz in Berlin hat man die Menschen- und Bürgerrechte auf höchster Ebene sehr eindeutig unterstützt. Bei der Erarbeitung Ihres Antrags habe ich den Eindruck - das muss ich offen zugestehen -, dass man sich nicht einmal die Mühe gemacht hat, zu prüfen, was bereits alles unternommen wird. Wir werden uns dafür einsetzen, dieses Thema in angemessener Form im Sportausschuss noch einmal zu diskutieren. Ergänzend zu den Maßnahmen der Bundesregierung werden wir prüfen, wie man hierzulande und im internationalen Rahmen die Menschen- und Bürgerrechte im Sport und durch den Sport weiter stärken kann. ({6}) Ihren Antrag werden wir selbstverständlich ablehnen. ({7})

Peter Hintze (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000907

Als Nächstem erteile ich das Wort dem Kollegen Dr. André Hahn, Fraktion Die Linke. ({0})

Dr. André Hahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004288, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lassen Sie auch mich gleich zu Beginn feststellen: Die Linke lehnt Homophobie, lehnt jede Form von Diskriminierung Homosexueller mit aller Entschiedenheit ab, egal ob in Deutschland, in Russland oder anderswo auf der Welt. ({0}) Deshalb teilen wir auch das Grundanliegen des Antrags, über den wir jetzt hier debattieren. Im Übrigen haben nicht zuletzt die Debatten nach dem mutigen Outing von Thomas Hitzlsperger gezeigt, dass wir auch in Deutschland durchaus noch Nachholbedarf haben und Homosexualität längst nicht als Normalität angesehen wird. Anlass für den Antrag der Grünen - Sie haben es gesagt - sind offensichtlich die gegenwärtig in Sotschi laufenden Olympischen Winterspiele. Die Linke hält es für absolut legitim, kritikwürdige Zustände in Menschenrechts- oder Demokratiefragen auch im Zusammenhang mit Sportgroßereignissen zu thematisieren, wie sie derzeit in Russland stattfinden. ({1}) Zugleich - das füge ich hinzu - haben wir alle eine gemeinsame Verantwortung dafür, dass weder das berechtigte Anliegen noch die Sportlerinnen und Sportler politisch instrumentalisiert werden. Um nicht missverstanden zu werden: Die Situation Homosexueller und die gesetzlichen Regelungen in Russland sind völlig inakzeptabel; die Gewalt gegen Lesben und Schwule, gegen Bisexuelle und Transgender nimmt leider weiter zu, was auch auf das heftig umstrittene Gesetz gegen die „Propaganda nichttraditioneller sexueller Beziehungen“ zurückzuführen ist. Die Forderung der Linken ist ganz klar: Dieses Gesetz sollte schnellstmöglich zurückgenommen werden. ({2}) Wir sprechen die Probleme bei unseren politischen Gesprächen in der Duma oder bei anderen Treffen in Russland immer wieder an. Auch hier gilt: besser miteinander als übereinander reden, zum Beispiel auch im Rahmen der Olympischen Spiele oder der Paralympics. Das geht natürlich nur, wenn man vor Ort ist und sich nicht selbst aus dem Rennen nimmt. ({3}) Ich werde nach Sotschi fahren. Die Grünen haben sich anders entschieden, was ich bedaure. Ich persönlich - das will ich sagen - habe schon die wechselseitigen Boykotte der Sommerspiele von 1980 in Moskau und 1984 in Los Angeles für falsch gehalten. ({4}) Boykotte bringen wenig bis gar nichts; sie schaden aber immer, in jedem Fall dem Sport. Ich habe in der aktuellen Mediendiskussion manchmal den Eindruck, dass die sportlichen Leistungen der Athletinnen und Athleten, die bei Olympia vielleicht den Höhepunkt ihrer Laufbahn erleben, bisweilen in den Hintergrund geraten. Ich finde, das haben die Sportler nicht verdient. ({5}) Meine Damen und Herren, man kann an den Winterspielen in Russland zu Recht vieles kritisieren, angefangen von den Umweltzerstörungen und ausufernden Kosten bis hin zu Menschenrechtsfragen. Doch all das traf in den letzten 20 Jahren in unterschiedlicher Ausprägung auch auf andere Austragungsorte zu, ohne dass darüber im Bundestag so intensiv diskutiert wurde wie jetzt. ({6}) Hier gilt offenbar zweierlei Maß. Der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen benennt zwölf Punkte, von denen wir viele unterstützen können. Bei einigen haben wir aber zumindest Fragen. So wird unter Punkt 10 gefordert, dass anstelle von Regierungsmitgliedern eine Delegation mit homosexuellen Athleten nach Sotschi geschickt werden soll. Wie ist das hier eigentlich mit der Selbstbestimmung der Sportler und auch der Regierung, von der Sie im Punkt 11 dann aber fordern, dem Bundestag nach den Spielen über die menschenrechtliche Lage in der Region um Sotschi zu berichten? Der Sportausschuss hat ohnehin geplant, darüber zu reden; Herr Gienger hat darauf hingewiesen. Meine Kollegin Katrin Kunert, die während der Eröffnungsfeier mit der Regenbogenfahne im wahrsten Sinne des Wortes Flagge gezeigt hat, und auch ich selbst werden dann gern unsere Eindrücke in die Debatte einbringen. ({7}) Vizepräsident Peter Hintze Herr Präsident, lassen Sie mich zum Schluss kommen. - Das Anliegen der Grünen ist unbestritten wichtig. Umso bedauerlicher ist es, dass sie heute eine Sofortabstimmung haben wollen, anstatt eine Debatte in den Ausschüssen zu ermöglichen, an deren Ende als Ergebnis vielleicht eine von allen Fraktionen getragene Beschlussempfehlung an den Bundestag hätte stehen können. ({8}) Ich sage aber auch: Da wir wissen, dass die von Homophobie und Ausgrenzung Betroffenen für derartige Verfahrensstreitigkeiten wenig Verständnis haben, sondern klare politische Zeichen erwarten, werden wir trotz unserer Bedenken dem vorliegenden Antrag zustimmen. Herzlichen Dank. ({9})

Peter Hintze (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000907

Das war die erste Rede des Kollegen Dr. André Hahn im Deutschen Bundestag. Wir gratulieren ihm dazu. ({0}) Als Nächstem erteile ich das Wort dem Kollegen Detlev Pilger, SPD-Fraktion. ({1})

Detlev Pilger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004376, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Viele Ereignisse der letzten Wochen haben gezeigt, dass wir beim Thema Homosexualität noch weit von Normalität entfernt sind. Ganz deutlich wurde dies - es wurde eben schon angesprochen - beim Comingout von Thomas Hitzlsperger. Zunächst möchte ich an dieser Stelle betonen, dass ich den Mut von Thomas Hitzlsperger bewundere. Ich habe großen Respekt vor seiner Entscheidung. Gleichwohl muss man feststellen: Auch Thomas Hitzlsperger als ehemaliger Nationalspieler wagte diesen Schritt erst, als er kein aktiver Sportler mehr war. Daran kann man erkennen, wie groß der Druck sein muss, der vor allen Dingen in den Stadien ausgeübt wird. Thomas Hitzlsperger hat genau auf dem Schirm gehabt, dass er, wenn er sich schon früher als Schwuler geoutet hätte, denunziert und im Stadion plattgemacht worden wäre. Er hätte den Schmähungen wahrscheinlich auf Dauer nicht standgehalten. ({0}) In den Medien - auch das ist ein Zeichen dafür, wie außergewöhnlich so ein Schritt noch bewertet wird - beherrschte das Outing von Thomas Hitzlsperger tagelang die Schlagzeilen. Die Tagespresse wurde ständig gefüttert mit Nachrichten darüber, und es gab eigene Talkshows dazu. Daran sieht man, wie außergewöhnlich dieses Thema noch ist, wie weit wir noch von Normalität entfernt sind und wie viel wir noch dafür tun müssen, dass sich Schwulsein als Normalsein etabliert. ({1}) Gerade in klassischen Männersportarten - Fußball ist ja nach wie vor eine, obwohl die Fußballerinnen international durchaus erfolgreicher sind -, ({2}) passt Schwulsein nicht ins Klischee einer immer noch starken Fankultur. Häufig ist es nur ein kleiner Teil der Fans, der diese Stimmung schürt. In den Stadien kann bzw. wird diesen jedoch nicht deutlich widersprochen werden. Es stellt sich die Frage: Was können wir tun, um diese leidvolle Situation zu verändern und mehr Toleranz und Vielfalt zu erreichen? Zunächst habe ich über meine eigene Sportlertätigkeit nachgedacht. Statistisch gesehen müsste ja von elf Spielern einer schwul sein. Das hat mich zum Nachdenken darüber gebracht, wer von meinen Sportskameraden im Laufe meines 50-jährigen Fußballerdaseins unter dieser Situation gelitten haben mag. ({3}) Erfreulicherweise - das wurde angedeutet - gibt es Initiativen von einzelnen Vereinen, Verbänden und Fangruppen. Jedoch könnte gerade hier das verstärkte Gespräch mit den unterschiedlichen Fangruppen ein vielversprechender Ansatz sein. Sportfunktionäre, Verantwortliche in Vereinen, Trainer und Spieler müssen hier deutliche Zeichen setzen. Sowohl der DFB als auch das NOK bemühen sich, für mehr Toleranz und Respekt zu werben und Brücken zu bauen zwischen Menschen unterschiedlicher Herkunft, unterschiedlichem Aussehen und unterschiedlicher sexueller Veranlagung. Als beispielhaft dürfen an dieser Stelle die Berliner Vereine Hertha BSC, Türkiyemspor und Tennis Borussia Berlin genannt werden, die durch ihr Engagement bereits eine deutlich höhere Akzeptanz von Schwulen und Lesben in ihren Vereinen erreicht haben. ({4}) In der Fortbildung von Trainern und Übungsleitern müsste stärker auf das Thema Homosexualität eingegangen werden. Es müsste möglichst früh ein Gespräch mit den jungen Sportlerinnen und Sportlern geführt werden. Diese Ansätze, liebe Kolleginnen und Kollegen, müssen jedoch dringend ausgebaut, also stärker unterstützt und finanziert werden. Eine Sensibilisierung der Öffentlichkeit für dieses Thema sollte dringend erfolgen. Hier wäre besonders der Bereich Bildung gefordert. Bereits bei der Lehrerausbildung sollte Homosexualität eine stärkere Berücksichtigung finden. ({5}) In Lehrplänen dürfte Sexualerziehung kein Randthema sein, sondern müsste fester Bestandteil eines interdisziplinären Lernens werden. Fächer wie Biologie, Deutsch, Sozialkunde, Ethik und Religion böten sich hier besonders an. Aber auch im Sportunterricht sollten Homosexualität sowie differenzierte Sportleistungen unbedingt behandelt werden. Vizepräsident Peter Hintze ({6}) Meine Erfahrungen als Lehrer an einer sehr großen berufsbildenden Schule haben gezeigt, dass es zunehmend eine stärkere Akzeptanz von Homosexualität gibt, aber gleichermaßen auch noch viele Vorurteile. Das macht sich häufig an Schimpfwörtern fest. So wird zum Beispiel ein schlecht gespielter Fußballpass zu einem „schwulen Pass“ oder eine schlechte Zeugnisnote zu einer „schwulen Note“. Das ist diskriminierend, menschenverachtend und tut weh. ({7}) Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, auch die Politik könnte deutlichere Signale senden, damit Homosexualität als normal bewertet wird. ({8}) Wir sollten uns nicht von der Justiz treiben lassen, um die Gleichstellung voranzubringen. Es besteht meiner Meinung nach dringender Handlungsbedarf beim Adoptionsrecht und bei der Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare. ({9}) Zumal man für eingetragene Lebenspartnerschaften zwar bereits gleiche Pflichten, jedoch keine gleichen Rechte manifestiert hat. Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie uns dies doch gemeinsam tun. Lassen Sie uns in wesentlichen Fragen, in denen es um Menschenrechte, um Bürgerrechte oder um ethische Dinge geht, doch bitte gemeinsam handeln. Ich glaube, es tut unserem Hohen Hause gut, das gemeinsam nach außen zu tragen. ({10}) Rechtsverletzungen wie etwa in Russland oder in der arabischen Welt dürfen bei Staatsbesuchen nicht unkommentiert bleiben, wenn wir glaubwürdig für Normalität und Respekt im Umgang mit Homosexualität im Sport und in der Gesellschaft eintreten wollen. Ich würde gerne schließen mit einem Zitat eines von den meisten von uns bewunderten Mannes, des Heiligen Vaters Papst Franziskus. Als er in einem Interview zu seiner Einstellung zur Homosexualität befragt wurde, sagte der Papst wörtlich: Wenn jemand … Gott sucht und guten Willens ist, wer bin ich, um über ihn zu richten? Lassen Sie uns in diesem Sinne gemeinsam alles tun, um für die Gleichstellung von homosexuellen Menschen hier und international zu sorgen. ({11}) Beim Antrag von Bündnis 90/Die Grünen fragen wir uns: Warum haben Sie dieses eilige Prozedere gewählt? Ich hatte als Berichterstatter erst am Mittwochmorgen die Vorlage auf dem Tisch. Wir hatten keine Möglichkeit mehr, in der Fraktion darüber zu sprechen. Ein solch wichtiges Thema braucht mehr Zeit, muss fundiert angegangen werden. Ich bin einer etwas anderen Meinung als der geschätzte Kollege Eberhard Gienger. Ich sehe in Ihrem Antrag viele gute Ansätze. Er erfolgte aber leider im Hauruckverfahren. Von daher können wir dem Antrag leider nicht zustimmen. Wir legen eine eigene Vorlage vor. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({12})

Peter Hintze (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000907

Das war die erste Rede des Kollegen Detlev Pilger im Deutschen Bundestag. Dazu wollen wir ihm alle herzlich gratulieren. ({0}) Nun erteile ich das Wort unserem Kollegen Dr. Frank Steffel, CDU/CSU-Fraktion. ({1})

Dr. Frank Steffel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004163, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe den Eindruck, das Ziel eint alle vier Fraktionen und beim Weg sind sich drei Fraktionen weitestgehend einig. Lediglich die antragstellende Fraktion ist der Auffassung, dass der Boykott von Sportveranstaltungen zielführend ist. ({0}) Mein Eindruck ist, dass Boykott nicht zielführend ist, sondern dass wir gut beraten sind, sowohl unsere Sportlerinnen und Sportler zu solchen Veranstaltungen zu schicken, egal ob es Olympische Spiele oder Weltmeisterschaften sind, als auch auf politischer Ebene - nicht nur, aber eben auch - während Olympischer Spiele miteinander zu reden. ({1}) Im Übrigen haben Sie, liebe Frau Lazar, gestern Herrn Bundesminister de Maizière anders erlebt als die große Mehrheit des Ausschusses. Er hat sich sehr differenziert zu dem geäußert, was er jetzt in den zwei Tagen in Sotschi tun wird. ({2}) Vizepräsident Peter Hintze Er hat sehr klar Position bezogen. Nur gibt es eben auch einen Tag danach. Es muss auch nach Sotschi möglich sein, dass Politikerinnen und Politiker aus Deutschland und Russland über streitige Fragen, aber vielleicht auch über die vielen Fragen, in denen Einigkeit herrscht, miteinander diskutieren und sprechen können. ({3}) Er hat wörtlich gesagt, dass er sich in Russland natürlich auch mit Menschenrechtsgruppen und Regimekritikern trifft, aber er der Auffassung ist, dass das ohne Scheinwerferlicht zielführender ist als vor Scheinwerfern. Ich glaube, er hat politisch recht. Er wird wahrscheinlich in der Sache mehr bewegen als manch schrilles Argument, das wir über die Zeitungen austauschen. ({4}) - Frau Roth, ich will mit Ihnen gar keinen Disput führen, weil ich - das sage ich noch einmal - den Eindruck habe: Das Ziel eint. Ich bin gespannt, wie Sie sich als Person, die sich ja im Deutschen Fußball-Bund an herausgehobener Stelle engagiert, bei der Weltmeisterschaft in Moskau verhalten. Das wird eine der nächsten großen Fragen sein. ({5}) - Sie fahren hin? ({6}) - Dass Sie sich damit beschäftigen, davon gehe ich aus. Wir beschäftigen uns alle damit. Die entscheidende Frage ist doch: Fahren Sie hin, oder fahren Sie nicht hin? Die entscheidende Frage ist doch: Schickt der Deutsche Fußball-Bund, in dem Sie mitarbeiten, die deutsche Nationalmannschaft nach Moskau oder nicht? Ich habe die Spiele 1980 als junger Mann erlebt. Wie traurig war ich, dass deutsche Sportlerinnen und Sportler in Moskau nicht teilgenommen haben! ({7}) Ich habe die Spiele 1984 erlebt, bei denen ich den Eindruck hatte, dass es nordamerikanisch-europäische Meisterschaften waren, weil der gesamte Ostblock in Los Angeles nicht teilgenommen hat. Ich möchte das nicht mehr erleben. Ich glaube, es ist auch gut, dass solche Zeiten schon 30 Jahre vorbei sind. ({8}) Im Übrigen müssen wir dann über die Kriterien reden. Natürlich können wir vieles am deutschen und am europäischen Maßstab messen. Es ist toll, was wir beispielsweise im Bereich Homosexualität erreicht haben. Auch wir hatten vor einigen Jahrzehnten noch Gesetze, die anders waren als die heutigen. Meine Damen und Herren, in über 70 Ländern dieser Erde ist Homosexualität per Gesetz verboten. Ist unsere Antwort darauf, dass in diesen 70 Ländern keine Weltmeisterschaften und keine Olympischen Spiele stattfinden dürfen? In 57 Ländern dieser Erde gibt es die Todesstrafe. Ist das nicht auch ein Kriterium, um nach unserem Wertemaßstab zu sagen: „Das ist nach unserer Auffassung mit Menschen- und Bürgerrechten eigentlich nicht zu vereinbaren“? ({9}) Übrigens, meine Damen und Herren von den Grünen, über Frauenrechte müssen wir gar nicht reden. Es gibt ganz wenige Länder dieser Erde, die solche Frauenrechte - Gott sei Dank! - wie wir in Deutschland und weiten Teilen von Mitteleuropa haben. Wie wir alle wissen, ist es schon in Teilen von Europa anders. ({10}) Lassen Sie uns dafür werben, dass unsere Maßstäbe auch anlässlich solcher Großveranstaltungen diskutiert werden. Ich bin mir übrigens sehr sicher, dass die Regimekritiker in Russland nicht freigekommen wären, egal ob es Oligarchen, Musiker, Punkbands oder Mädchen sind, die ein bisschen über die Stränge geschlagen haben. Ich glaube, sie sind freigekommen, weil die Olympischen Spiele in Sotschi stattfinden und weil Putin wusste, dass die Welt ein Signal erwartet. Vielleicht ist auch dies ein positives Beispiel von Olympischen Spielen. ({11}) Über eines sollten wir sehr leidenschaftlich reden: In Katar, in einem der reichsten Länder der Erde, sterben jedes Jahr 200 Wanderarbeiter, weil das Regime nicht in der Lage ist, den Menschen Essen und Trinken zu geben. Das ist ein wirklicher Skandal, der energisch kritisiert und sofort abgestellt werden muss. ({12}) Das ist ein Riesenskandal: protzige Spiele veranstalten und die Ärmsten der Armen verhungern lassen. Ich will noch eines zum Thema Sport sagen, Frau Lazar. Ich glaube, wir sollten den Sport nicht überfordern. Unsere Sportlerinnen und Sportler sind keine Diplomaten, ({13}) sondern sie wollen Leistungen im Sport erbringen. Unsere Sportlerinnen und Sportler sind in Sotschi, damit wir über ihre Leistungen reden. Und jeder einzelne kann Vizepräsident Peter Hintze entscheiden, was er sonst zu welchem Thema der Welt sagt und beiträgt. Die Politik ist gut beraten, unsere Sportlerinnen und Sportler zu unterstützen. Ich glaube, dass Russland nach Sotschi ein bisschen anders sein wird. Peking war übrigens nach den Olympischen Spielen auch ein bisschen anders. Ich werde nicht vergessen, als im Sportausschuss ein Vertreter der Behindertenorganisationen gesagt hat, dass wenigstens eins von Peking übrig geblieben ist: Das Bild von Behinderten in China hat sich durch die Paralympics dramatisch positiv verändert. Wenn es nur ein kleiner Funke ist, ist es zumindest ein Funke, auf den wir als CDU/CSU nicht verzichten möchten. Wir möchten nicht, dass Olympische Spiele nur noch in Europa und in Nordamerika stattfinden, sondern wir möchten, dass sie überall stattfinden. Dann werben wir für unsere Werte und sehen zu, dass unsere Sportlerinnen und Sportler trotzdem mit unserer Unterstützung dort hinfahren können. Herzlichen Dank und schönen Abend! ({14})

Peter Hintze (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000907

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/494 mit dem Titel „Menschen- und Bürgerrechte für Lesben, Schwule, Bisexuelle und Transgender im Sport wahren“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? Wer enthält sich? - Dann ist der Antrag mit den Stimmen von CDU/CSU und SPD gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke abgelehnt. Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 14. Februar 2014, 9 Uhr, ein. Die Sitzung ist geschlossen.