Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Nehmen Sie bitte Platz . Die Sitzung ist eröffnet .
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich begrüße Sie
herzlich zu unserer Plenarsitzung . Bevor wir in die Ta-
gesordnung eintreten, möchte ich der Kollegin Petra
Ernstberger zum 60 . Geburtstag gratulieren, den sie in
dieser Woche begangen hat, und dazu alle guten Wün-
sche des Hauses übermitteln .
Wir müssen auch noch zwei Wahlen durchführen . Zu-
nächst sind Mitglieder des Ausschusses nach Artikel 77
Absatz 2 des Grundgesetzes, also des Vermittlungs-
ausschusses, zu wählen . Die Fraktion Die Linke schlägt
vor, den Kollegen Jörn Wunderlich für den Kollegen
Dietmar Bartsch als ordentliches Mitglied und den Kol-
legen Bartsch anstelle des Kollegen Wunderlich als neu-
es stellvertretendes Mitglied zu berufen - ein gewaltiges
Manöver, das aber nur stattfinden kann, wenn der Deut-
sche Bundestag dieser Rochade zustimmt . - Es sieht aber
ganz so aus, als wären wir zu diesem frühen Zeitpunkt zu
solch großzügigen Beschlüssen in der Lage .
Darüber hinaus soll die Kollegin Sahra Wagenknecht
als Nachfolgerin des Kollegen André Hahn als neues
stellvertretendes Mitglied des Gremiums berufen wer-
den . Stimmen Sie auch dem zu? - Das ist der Fall . Da-
mit sind die Kollegen Wunderlich und Bartsch sowie die
Kollegin Wagenknecht als Mitglieder des Vermittlungs-
ausschusses in den genannten Funktionen gewählt .
Die SPD-Fraktion schlägt vor, als Vertreter der Bundes-
republik Deutschland zur Parlamentarischen Versamm-
lung des Europarates die Kollegin Gabriela Heinrich
für den Kollegen Josip Juratovic als ordentliches Mitglied
und diesen, also den Kollegen Josip Juratovic, als Nach-
folger der Kollegin Heinrich als stellvertretendes Mit-
glied zu benennen . Das ist ein ähnlich kühnes Manöver,
das hoffentlich auf ähnlich hohe Zustimmung stößt . - Das
sieht ganz so aus . Damit sind die beiden mit getauschten
Ämtern für dieses Gremium benannt .
Schließlich teile ich Ihnen mit, dass der Ältestenrat
sich in seiner gestrigen Sitzung darauf verständigt hat, in
der nächsten Sitzungswoche, die ja unsere Haushaltswo-
che ist, wie üblich keine Befragung der Bundesregierung,
keine Fragestunde und auch keine Aktuellen Stunden
durchzuführen . Als Präsenztage sind die Tage von Mon-
tag, dem 23 . November, bis Freitag, dem 27 . November,
festgelegt worden . - Ich darf auch hier allgemeines Ein-
vernehmen feststellen . Dann können wir so verfahren .
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 27 a und 27 b auf:
a) - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines
Zweiten Gesetzes zur Stärkung der pflegerischen Versorgung und zur Änderung
weiterer Vorschriften
({0})
Drucksachen 18/5926, 18/6182, 18/6410
Nr. 2
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit ({1})
Drucksache 18/6688
- Bericht des Haushaltsausschusses ({2}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
Drucksache 18/6689
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Gesundheit ({3})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Pia
Zimmermann, Harald Weinberg, Sabine
Zimmermann ({4}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Bürgerinnen- und Bürgerversicherung in
der Pflege - Solidarische Pflegeversicherung einführen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Elisabeth
Scharfenberg, Katja Dörner, Kordula SchulzAsche, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Gute Pflege braucht sichere und zukunftsfeste Rahmenbedingungen
Drucksachen 18/5110, 18/6066, 18/6688
Zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung liegt ein
Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke vor .
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
diese Aussprache 60 Minuten vorgesehen . - Ich höre keinen Widerspruch .
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst dem Bundesminister Hermann Gröhe .
({5})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Heute vor genau neun Jahren, am 13 . November 2006,
tagte das erste Mal der erste wissenschaftliche Beirat
zur Überarbeitung des Pflegebedürftigkeitsbegriffs. Ein
Jahrzehnt Diskussion, Ringen, Rechnen in Bezug auf den
neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff: Jetzt kommt er!
({0})
Mit der Beschlussfassung über das Pflegestärkungsgesetz II sorgen wir dafür, dass die individuelle Pflegebedürftigkeit besser erfasst wird . Nicht nur körperliche Beeinträchtigungen werden zukünftig berücksichtigt . Nein,
die gesamte Lebenssituation eines Menschen - seine
geistige und seine psychische Situation - wird zukünftig
berücksichtigt . Vor allen Dingen wird nicht nur auf Defizite geschaut, sondern auch darauf, welche Fähigkeiten
gestärkt werden können, welcher Unterstützungsbedarf
ein möglichst selbstbestimmtes Leben und Teilhabe sichern kann . Dies ist vor allen Dingen für die wachsende Zahl der demenziell erkrankten Menschen - das sind
heute 1,6 Millionen - eine gute Nachricht . Sie erhalten
endlich einen gleichberechtigten Zugang zu den Leistungen der Pflegeversicherung.
({1})
Das ist ein Meilenstein für eine bessere Versorgung .
Dass es gerade um eine Besserstellung für die demenziell Erkrankten geht, sehen Sie auch an den Regelungen
für die automatische Überleitung, mit der wir erstens dafür sorgen, dass viele mehr Leistungen bekommen, aber
niemand schlechtergestellt wird . Menschen, die heute als
demenziell Erkrankte beispielsweise in der Pflegestufe II
sind, werden mit dem Pflegegrad 4 gleichsam zwei Punkte Verbesserung erfahren . Es geht um mehr Hilfe gerade
für die demenziell Erkrankten . In 25 Jahren werden es
1 Million zusätzlich - also 2,6 Millionen - sein .
Doch nicht allein die Erfassung der Pflegebedürftigkeit wird individueller, sondern die Pflege selbst wird
konsequent auf Teilhabe und Stärkung der Selbstständigkeit ausgerichtet . Dazu gehört beispielsweise, dass die
Pflegeunterstützung früher beginnt. Bereits am Anfang
der Pflegebedürftigkeit wird zukünftig über den Pflegegrad 1 erste Unterstützung beispielsweise bei der Schaffung von Barrierefreiheit in der Wohnung, beim Umbau
des Badezimmers oder bei anderem gewährt .
Noch etwas ist mir ganz wichtig: Wir stärken - dies
hat die Erprobung des neuen Begutachtungsverfahrens
klar gezeigt - den Grundsatz „Reha vor Pflege“. Der ist
eben noch nicht in den Köpfen . „Ambulant vor stationär“, das ist in den Köpfen, weil jeder gerne möglichst
lange in den eigenen vier Wänden lebt . Aber Reha ist für
viele noch die Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit,
bei der es darum geht, morgen wieder ins Büro gehen
zu können . Dass auch im hohen Alter Rehabilitation ein
Mehr an Selbstständigkeit, Selbstbestimmung und Teilhabe ermöglichen kann, müssen wir noch viel stärker
nutzen . Deswegen ist dies heute ein großer Schritt zur
Umsetzung des Grundsatzes „Reha vor Pflege“.
({2})
Ich sprach davon, dass wir den Wunsch der Menschen,
möglichst lange in den eigenen vier Wänden zu leben,
den wir schon seit dem 1 . Januar dieses Jahres mit wesentlichen Leistungsverbesserungen unterstützen, noch
stärker gewichten werden . Dazu gehört auch der Blick
auf die enorme Leistung der Angehörigen der Pflegebedürftigen . Deswegen werden wir beispielsweise - natürlich nur, wenn der Pflegebedürftige zustimmt - Angehörige erstmals mit einem eigenen Beratungsanspruch
ausstatten und die Arbeit von Angehörigen in der Pflege
bei deren Rente in Zukunft besser absichern . Auch dies
ist eine klare Anerkennung der enormen solidarischen
Pflegeleistungen in unseren Familien.
({3})
„Reha vor Pflege“ und „ambulant vor stationär“, das
bedeutet ein Mehr an Lebensqualität . Es sichert aber
auch die nachhaltige Finanzierbarkeit des Pflegesystems.
Das sage ich angesichts so mancher Bemerkungen, wir
nähmen zu viel Geld in die Hand .
Schließlich stärken wir die Solidarität in der Pflege.
Indem der pflegebedingte Eigenanteil zukünftig gleichbleibend sein wird, nehmen wir den Pflegebedürftigen
und ihren Angehörigen die Angst, dass durch einen höheren Eigenanteil bei einer im Rahmen einer Neubewertung erfolgten Höherstufung die eigene materielle Situation verschlechtert wird . Das ist wichtig, weil dann auch
fairer abgebildet wird, wie hoch der Pflegebedarf, zum
Beispiel in einer Pflegeeinrichtung, ist. Es hat ja Einfluss
auf die Personalbemessung und anderes mehr, wenn die
notwendige, realistische Bewertung des Pflegebedarfs
nicht angemessen abgebildet wird . Insofern ist auch dies
eine entscheidende Verbesserung . Und: Ja, wir werden
diese neue individuellere Pflege nur umsetzen können,
wenn wir mehr Menschen dafür gewinnen, in der Pflege
zu arbeiten . Deswegen brauchen wir attraktivere Arbeitsbedingungen in der Pflege.
({4})
Deswegen ist in unserem Gesetzentwurf klar festgelegt, dass die Pflegesätze - dabei geht es auch um die
Personalstrukturen, den Personalschlüssel - bis zum
30 . September des nächsten Jahres neu zu verhandeln
sind, damit 2017, wenn der Pflegestärkungsbegriff Realität wird, auch angepasste Pflegesätze vorliegen.
Deswegen brauchen wir ein wissenschaftlich erprobtes und ausgewiesenes Personalbemessungsverfahren
und beauftragen die Selbstverwaltung, ein solches zu
entwickeln .
({5})
Präsident Dr. Norbert Lammert
Deswegen treibt Kollege Karl-Josef Laumann die Entbürokratisierung in der Pflege voran. Deswegen haben
wir übrigens im Gesetz während der parlamentarischen
Beratungen klargestellt, dass Abbau von Bürokratie und
mehr Zeit für die Pflege von den Kostenträgern nicht
zum Personalabbau missbraucht werden dürfen . Es geht
um mehr Zeit für die Pflegebedürftigen und um weniger
Zeit fürs Papier .
({6})
Schließlich werden wir - Kollegin Schwesig und ich
gemeinsam - mit einem Pflegeberufsgesetz die Modernisierung der Berufe in der Alten-, Kranken- und Kinderkrankenpflege vorantreiben. Die gute Nachricht ist:
Noch nie haben in unserem Land so viele Menschen eine
Ausbildung in einem Pflegeberuf begonnen wie heute.
({7})
Wenn ich mit diesen Menschen spreche, dann höre ich,
dass sie sagen: Ja, die Arbeit ist hart, aber sie macht
Freude. - Neulich hat mir ein junger Pfleger gesagt: Eine
Maschine kann nicht Danke sagen . - Sie wollen für andere Menschen da sein . Deswegen fühlen wir uns guten
Arbeitsbedingungen in der Pflege verpflichtet. Heute
bringen wir eine große Reform auf den Weg, beschließen
eine Stärkung der Pflege, die für 2,7 Millionen Pflegebedürftige in diesem Land gut sein wird, für ihre Angehörigen und für die Pflegekräfte.
Ich bitte um Zustimmung .
({8})
Für die Fraktion Die Linke hat nun die Kollegin Pia
Zimmermann das Wort .
({0})
Herzlichen Dank . - Herr Präsident! Meine Damen und
Herren! Liebe Gäste auf den Tribünen! Wir haben uns
unsere Entscheidung nicht leicht gemacht, zumal solch
ein Gesetz schon lange gefordert wird - auch von uns .
Das möchte ich insbesondere all denen sagen, die sich
wundern, dass wir ein Gesetz zur Reform des Pflegebedürftigkeitsbegriffes ablehnen . Ich selber habe viele Jahre in der Pflege gearbeitet und weiß, was für eine gute,
umfängliche Pflege nötig ist. Sie haben hier zwar einen
Gesetzentwurf vorgelegt, der eine ganzheitliche Sichtweise auf die Menschen beinhaltet: auf ihre körperlichen,
geistigen und sozialen Fähigkeiten . Es geht um ein Gesetz, durch das die ungleiche Behandlung von Menschen
mit kognitiven und psychischen Beeinträchtigungen abgestellt werden soll. Aber es ist ein janusköpfiges Gesetz.
Es verbessert und verschlechtert zugleich, weil Sie, Herr
Minister Gröhe, nicht bereit sind, die Grunddefizite der
Pflegeversicherung, nämlich die Finanzierung und das
Teilleistungssystem, zu verändern .
({0})
Die Reform geht auf Kosten von Menschen in den unteren Pflegegraden und schränkt deren Wunschfreiheit -
wo, wie und von wem sie gepflegt werden wollen - weiter ein . Herr Minister Gröhe, da steigen im zukünftigen
Pflegegrad 2 die Leistungen für die ambulante Pflege um
221 Euro. In der stationären Pflege sinken sie zugleich
um 300 Euro . Das sind 3 600 Euro mehr, die pro Jahr
aufgebracht werden müssen, und das ist ungerecht .
({1})
Eine alleinlebende ältere Frau mit Pflegegrad 2, die
ins Pflegeheim möchte, weil sie Kontakt zu anderen
Menschen haben möchte, weil sie die Einsamkeit belastend findet und weil sie immer dann Hilfe haben möchte,
wenn sie Hilfe braucht, muss nicht nur 2 065 Euro für einen Platz im Pflegeheim aufbringen, sondern auch noch
monatliche Investitionskosten in Höhe von 400 Euro .
Die Pflegeversicherung übernimmt von diesen Kosten
zukünftig nur noch 770 Euro . Ich frage Sie ernsthaft: Wo
bleibt die Wahlfreiheit dieser Frau, wenn sie 1 700 Euro
netto Rente haben muss, um nicht in die Sozialhilfe zu
rutschen? Das ist unerhört, meine Damen und Herren .
({2})
Wie viele Menschen haben eine solche Rente? Menschen
mit Pflegebedarf werden so in Armut getrieben. Da sagen
wir Linke ganz klar Nein .
({3})
Darüber hinaus fehlt es in dem Gesetzentwurf an
Maßnahmen, die die Bedingungen für die Pflege im Alltag so gestalten, dass teilnahmeorientierte Pflege, wie sie
im neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff angelegt ist, möglich wird . Konkret: Ein inkontinenter Mann schafft es mit
Assistenz zur Toilette . Beim Hinsetzen und Aufstehen,
beim An- und Auskleiden braucht er Hilfe von 15 Minuten . Im Rahmen des neuen Begutachtungsverfahrens
wird ein Unterstützungsbedarf festgestellt; das Ziel ist
Selbstständigkeit . Das ist ein weiterer Fortschritt . Aber
an dieser Stelle hört der Gesetzentwurf auf; denn ob die
assistierende Person überhaupt verfügbar ist, darüber
entscheiden Sie erst 2020 - vielleicht!
({4})
Meine Damen und Herren, wissen wir hier im Haus,
wie es ist, eigentlich noch selbstständig zur Toilette gehen zu können und dennoch eine Windelhose tragen zu
müssen, weil die Zeit fehlt? Die Zeit wird weiter fehlen,
weil es keine zusätzlichen Pflegekräfte gibt; denn sie
sind in Ihrem Gesetzentwurf gar nicht vorgesehen . Es
ist bekannt, dass wir solche Situationen schon viel zu oft
haben . Mit diesem Gesetzentwurf suggerieren Sie, dass
sich daran etwas ändern wird . Sie erwecken Erwartungen, die nicht erfüllt werden können . Das ist unverantwortlich .
({5})
Das Zweite Pflegestärkungsgesetz ist letztendlich
eine Begutachtungs- und bestenfalls eine Bedürftigkeitsreform - kein großer Wurf, kein Wechsel hin zur
inklusiven und teilhabenden Pflege. Wir Linke sagen:
Die konkrete Lebenssituation aller an der Pflege beteiligten Menschen - der Menschen mit Pflegebedarf, der
Angehörigen, die pflegen, auch der Menschen, die proBundesminister Hermann Gröhe
fessionell pflegen - muss sich verbessern. Menschen mit
unterschiedlichen Pflegebedarfen dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden . Genau das machen Sie, meine
Damen und Herren, und darum stimmen wir mit Nein .
Herzlichen Dank .
({6})
Für die SPD-Fraktion hat nun der Kollege Karl
Lauterbach das Wort .
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst einmal: Hinter uns liegen zwei Wochen, die für die
Menschen in Deutschland, die krank sind, pflegebedürftig sind oder es in Zukunft werden, außergewöhnlich gut
waren . Wir haben ein sehr gutes Hospiz- und Palliativgesetz beschlossen - aus meiner Sicht ein Durchbruch .
Wir haben eine Änderung des Krankenhausfinanzierungsgesetzes beschlossen. Damit stärken wir die Pflege,
erhöhen die Qualität und schaffen eine größere Gerechtigkeit der Vergütung - die größte Krankenhausreform,
die wir seit Jahren gemacht haben . Heute machen wir unstrittigerweise die größte Reform der Pflegeversicherung
seit ihrem Bestehen . Das alles haben wir in zwei Wochen
erreicht .
({0})
Ich möchte mich ausdrücklich bei allen im Parlament für
die Zusammenarbeit bedanken . Das waren Wochen, wie
ich selbst - ich bin lange im Geschäft - sie in dieser Form
noch nicht erlebt habe . Das betrifft Millionen von Menschen, nicht nur jetzt, sondern auch in Zukunft .
Es ist richtig, dass diese Gesetze allesamt nicht perfekt
sind . Es gibt kein Gesetz, das wir hier nicht verbessern
könnten . Aber man darf das Erreichte nicht kleinreden,
indem man die kleinen Dinge, die verbesserungswürdig
sind, in den Vordergrund stellt .
Ich fange mal damit an: Wir geben unmittelbar insgesamt etwa 20 Prozent mehr für die Pflege aus. Etwa 3 bis
4 Prozent legen wir zusätzlich zurück, um die Pflege bezahlbar zu halten . Das sind großartige Leistungsausweitungen .
({1})
Es ist richtig, dass wir das Geld etwas anders verteilen werden . Es ist zum Beispiel richtig, was Kollegin
Zimmermann beschrieben hat: Für die weniger Pflegebedürftigen gibt es in Teilen eine leichte Mehrbelastung .
Aber für die große Zahl der stärker Pflegebedürftigen
gibt es starke Entlastungen . Wir haben jetzt ein System,
in dem die Angehörigen oft Angst haben, dass ihre zu
pflegenden Angehörigen höhergestuft werden, obwohl
sie das medizinisch eigentlich benötigten, weil sie dann
mehr zuzahlen müssten . Das kann doch nicht gerecht
sein . Das ist aus meiner Sicht medizinisch falsch, weil
die Menschen gegebenenfalls nicht die Pflege bekommen, die sie brauchen . Es ist auch unethisch, weil wir
Angehörige zwingen, etwas gegen das Interesse ihrer
Verwandten zu unternehmen, indem sie dafür sorgen,
dass in der Pflege nicht das getan wird, was eigentlich
nötig ist, weil sie Angst haben, mehr zuzahlen zu müssen . Diese Ängste haben wir ausgeräumt . Das dürfen wir
doch nicht kleinreden . Darauf können wir stolz sein .
({2})
Auch die Entbürokratisierung ist bedeutsam . Die Entbürokratisierung funktioniert wie folgt: Wir messen jetzt,
was der Einzelne in den einzelnen Bereichen noch kann,
also nicht das, was ihm fehlt, sondern das, was er kann .
Es wird zum Beispiel gefragt: Wie mobil ist er noch? Wie
gut kann er denken? Wie dement ist er? Wie sehr ist er
psychisch belastet? Es werden Punkte vergeben . Je mehr
Punkte jemand hat, desto selbstständiger ist er noch . Die
Punkte spiegeln das wider, was der Mensch noch kann .
Danach richtet sich die Pflegebedürftigkeit. Die Pflegenden selbst entscheiden dann, wie man dieser Bedürftigkeit - ohne Minutenpflege - am besten begegnet. Das ist
doch eine Umstellung des gesamten Systems: Weg von
der Dokumentation der Defizite, hin zu der Beseitigung
derselbigen, indem man sich darauf konzentriert, was der
Einzelne noch kann .
Das ist eine große Reform . Daran haben wir - das ist
richtig - viele Jahre gearbeitet . Das war keine Leichtigkeit - das musste vorbereitet werden -; aber das ist ein
Quantensprung in der Pflegeversicherung, eine Umkehr
der Anreize, in meinen Augen ein Durchbruch .
({3})
Zu den Betreuungsleistungen . Die Betreuungsleistungen sind immer geringgeschätzt worden - zu Unrecht .
Was nützt mir eine gute Pflege, wenn mich den ganzen
Tag niemand anspricht? Ich vereinsame in der Pflege.
Wenn ich keine Ansprache habe, verfallen die Kompetenzen, die ich noch habe . Das Leben ist nicht mehr schön . Wir dürfen nicht vergessen, dass in Pflegeeinrichtungen
sehr viele Menschen leben, die keine Angehörigen mehr
haben oder Angehörige, die nicht mehr kommen können .
Für diese Menschen brauchen wir Betreuung .
Wir führen jetzt einen Rechtsanspruch auf individuelle Betreuung ein . Einen Rechtsanspruch! Es ist falsch,
wenn man sagt, dass die Kräfte dafür nicht da sind . Die
Kräfte sind da . Dafür haben wir schon im Rahmen der
ersten Stufe der Pflegereform gesorgt. Wir haben die
Zahl der Betreuungskräfte - ich bringe das in Erinnerung - um 25 000 erhöht; das ist keine Kleinigkeit . Und
jetzt schaffen wir den Rechtsanspruch .
({4})
Natürlich ist alles verbesserungswürdig; aber das sind
trotzdem große Schritte nach vorne . Daher muss man
hier, glaube ich, in den Vordergrund stellen: Das ist eine
gute Reform .
Auf die Umstellung des Pflegebedürftigkeitsbegriffs,
die bessere Zuteilung der Mittel und die damit verbundene bessere Pflege bin ich schon eingegangen. Die Entbürokratisierung haben wir auch schon angesprochen .
Darauf, dass wir die Qualität stärker in den Vordergrund
stellen, kann ich nur noch kurz eingehen . Dazu möchte
ich nur eines sagen: Wir machen auch vor der Personalbemessung nicht halt . Wir regeln mit diesem Gesetz klipp
und klar, dass die Personalbemessung in den Pflegeheimen in den nächsten fünf Jahren angepasst werden soll .
({5})
Jetzt wird gesagt: Wieso machen Sie das nicht jetzt? Das
können wir jetzt nicht machen . Wir führen jetzt das neue
System ein. Jetzt werden die neuen Pflegegrade ja erst
eingeführt. Welche Personalausstattung für welchen Pflegegrad erforderlich ist, können wir nicht prüfen, bevor
die Pflegegrade eingeführt wurden. Von daher ist das aus
meiner Sicht eine gute Planung . Wir werden langfristig
auch zu einer gerechteren Bezahlung in der Pflege kommen; das ist dringend notwendig .
({6})
Elisabeth Scharfenberg ist die nächste Rednerin für
die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen .
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrter Herr Minister Gröhe! Herr Laumann! Sehr geehrte Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Über mehrere
Wahlperioden - das wurde schon gesagt - hat sich das
hingezogen . Wir haben, ehrlich gesagt, überhaupt nicht
mehr daran geglaubt, dass er noch kommt, der neue Pflegebegriff .
({0})
Sie bohren mit der Einführung richtig dicke Bretter .
({1})
Dass Sie das jetzt anpacken - das meine ich ehrlich -, das
erkennen wir durchaus an .
({2})
- Der kommt noch . - Sie nehmen dafür auch viel Geld
in die Hand . Menschen mit Demenz werden endlich den
Menschen mit körperlichen Einschränkungen gleichgestellt . Das alles begrüßen wir ausdrücklich . Aber
({3})
es ist nicht unsere Aufgabe, Sie zu loben .
({4})
Dafür haben Sie selbst genug Rednerinnen und Redner .
Das müssen Sie schon selbst tun . Als Opposition ist es
unsere Aufgabe, auf die Schwachstellen, die dieser Gesetzentwurf nun einmal hat, aufmerksam zu machen .
({5})
Sie stellen uns mit dem PSG II die eierlegende Wollmilchsau vor. Aber der Entwurf des neuen Pflegegesetzes
ist nur auf dem Papier ganz passabel . Im Gesetzentwurf
sind viele Worthülsen enthalten . Damit kann man dieses
Gesetz überhaupt nicht umsetzen .
Das PSG II wird seine Defizite in den Lebenswelten
der Betroffenen zeigen. Gerade der neue Pflegebegriff
hat ganz hohe Erwartungen geweckt . Ich befürchte, dass
wir nach der Umsetzung sehr direkt mit den Schwächen
Ihres PSG II konfrontiert werden. Mit dem neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff sollen die Menschen in ihrer Selbstständigkeit gestärkt werden . 500 000 Anspruchsberechtigte mehr - das ist eine echte Herausforderung .
Teilhabe ist ein ganz zentraler Punkt des neuen Pflegebegriffs . Teilhabe bedeutet, Menschen dabei zu unterstützen, dass sie selbst etwas tun können . Das kostet
mehr Zeit, als sie einfach nur zu versorgen . Das bedeutet:
geduldig anzuleiten und den Rhythmus der Menschen
auszuhalten, anstatt es eben einmal schnell selbst zu
erledigen . Gerade im Bereich Demenz geht es darum,
500 000 Menschen mehr zu unterstützen . Das kostet viel
mehr Zeit, und mehr Zeit bedeutet auch mehr Personal,
das aber fehlt schon heute .
({6})
Wer soll denn bitte den neuen Pflegebegriff umsetzen? Sie schreiben zwar in Ihrem Gesetzentwurf, dass bis
2020 ein Verfahren zur Personalbemessung entwickelt
und erprobt werden soll .
({7})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist doch viel zu
spät!
({8})
Es sind schon so viele Personalbemessungsverfahren entwickelt und erprobt, aber nie umgesetzt worden . Dieses
Schicksal droht auch dem Personalbemessungsverfahren
im PSG II .
({9})
Von einer verbindlichen Umsetzung ist bei Ihnen auch
gar nicht die Rede .
Wir brauchen jetzt mehr Personal . Es muss zur Einführung des neuen Pflegebegriffs 2017 auch bereit sein,
eine neue Art Pflege zu leisten, eine Pflege, die dem neuen Pflegebegriff auch gerecht wird. Wir verlangen damit
dem Pflegepersonal sehr viel ab.
Pflegekräfte arbeiten schon heute am Limit, sie gehen
oft über ihre eigenen Kräfte und Grenzen hinaus . Das
frustriert die Pflegekräfte, und zwar zu Recht. Sie haben
ihren eigenen Anspruch an die Qualität der Pflegearbeit,
ihr eigenes Berufsethos . Darum müssen wir dafür sorgen,
dass die verantwortungsvollen Pflegerinnen und Pfleger
nicht an dem Vakuum des neuen Pflegebegriffs und an
der Unmöglichkeit der Umsetzung dieses Begriffs scheitern und verzweifeln werden .
({10})
Herr Lauterbach, Sie haben davon gesprochen, dass
die Minutenpflege abgeschafft wird. Das ist doch der
totale Quatsch! Ganz ehrlich: Ich finde das den Pflegekräften gegenüber wirklich unverschämt . Der Druck in
der Pflege - das ist doch das, was die Minutenpflege ausmacht - wird bestehen bleiben . Es wird sich nichts daran
ändern .
({11})
Es herrscht eine ganz große Unsicherheit . Der neue
Pflegebegriff ist definiert und genau vermessen. Wir können ausrechnen, welche Fähigkeiten in welchem Maß
vorhanden bzw . nicht vorhanden sein müssen, um einen
bestimmten Pflegegrad zu erreichen. Aber es ist nicht genauso klar definiert, wie die Pflege aussehen soll, eine
Pflege, die dem Anspruch auf mehr Teilhabe gerecht
wird. Sicher: Es gibt eine aktivierende Pflege, aber im
PSG II ist nicht die Rede davon, dass sie flächendeckend
eingeführt werden soll .
Der Anspruch auf mehr Teilhabe ist das Kernstück des
neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs. Diesem Anspruch
muss man dann aber auch gerecht werden . Nur auf dem
Papier bringt er den Menschen überhaupt nichts . Es ist
auch merkwürdig, dass Sie einen Teilhabeanspruch einführen, ohne die Schnittstellen zum SGB IX auch nur zu
erwähnen .
({12})
Das Bundesteilhabegesetz steht vor der Tür . Es wäre
doch absolut sinnvoll gewesen, die Konkurrenz zwischen
den Sozialgesetzbüchern IX, XI und XII zumindest zu
thematisieren .
({13})
Sie haben den Beitrag zur Pflegeversicherung erhöht.
Es fließt viel Geld in die Pflegeversicherung; es wird von
7 Milliarden Euro jährlich gesprochen . Doch die Finanzierung der Pflegeversicherung ist nur bis 2022 gesichert.
Das ist alles andere als nachhaltig . Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, lieber Minister Gröhe, eine Reform,
die so viele Menschen betrifft, braucht doch ein ganz
starkes Fundament .
({14})
Das Einzige, was Ihnen zur Finanzierung einfällt,
ist der Pflegevorsorgefonds. Er schluckt jährlich rund
1,4 Milliarden Euro an Beitragsgeldern . Das sind Gelder, die woanders besser aufgehoben wären . Durch den
Fonds wird der Beitrag zur Pflegeversicherung in der Zukunft gerade einmal um 0,1 Prozentpunkte gesenkt . Das
ist keine spürbare Entlastung . Wenn der Fonds in 20 Jahren leer ist, dann muss der Beitrag eben wieder steigen .
Sie wollen den ambulanten Bereich aufwerten und
dazu unter anderem auch etwas für pflegende Angehörige
tun . Aber das tun Sie, ehrlich gesagt, ziemlich halbherzig: eine Absicherung in der Arbeitslosenversicherung,
ein bisschen Rente mehr für manche. Pflegende Angehörige brauchen unterstützende Angebote für die Pflegebedürftigen, um die sie sich kümmern, und sie brauchen
auch ganz dringend unterstützende Angebote für sich
selbst . Vor allem aber brauchen sie, die Angehörigen und
die Pflegebedürftigen gleichermaßen, eine gute Beratung
und eine gute Information .
Sie machen im PSG II einige Vorschläge zur Beratung, die aber teilweise sogar auf eine Verschlechterung
hinauslaufen, zum Beispiel beim Beratungsanspruch . Er
greift zukünftig erst beim Vorliegen eines Pflegegrades.
Das ist, ehrlich gesagt, viel zu spät .
({15})
Wichtig wäre jetzt ein unabhängiges, individuelles
Fallmanagement. Jeder Pflegebedürftige müsste einen
Anspruch darauf haben . Inzwischen gibt es so viele
verschiedene Angebote und Möglichkeiten für Pflegebedürftige und Angehörige, Angebote, die auf die unterschiedlichsten Arten und Weisen kombinierbar sind . Da
blickt doch kein Mensch mehr durch .
({16})
Der Fallmanager sollte bei der Kommune angesiedelt
sein; denn nur dort ist bekannt, welche Angebote konkret
und regional vor Ort vorhanden sind .
({17})
Ich wünsche dem neuen Pflegebegriff, dass er gelingt.
Vor allem wünsche ich das natürlich den Pflegebedürftigen, den Angehörigen, den ihnen nahestehenden Menschen, und insbesondere wünsche ich das den Pflegekräften . Aber solange so viele Dinge noch nicht geregelt sind,
wird der neue Pflegebegriff kaum Wirkung entfalten.
({18})
Ich appelliere an Sie: Kümmern Sie sich um die
Personalfrage jetzt! Sorgen Sie für eine nachhaltige Finanzierung! Regeln Sie auch die Schnittstellen zur Eingliederungshilfe! Machen Sie die unterstützenden und
entlastenden Angebote den Pflegebedürftigen und ihren
Angehörigen durch ein unabhängiges, individuelles Fallmanagement zugänglich! Wenn Sie diese Aufgaben nicht
erledigen, dann wird sich an der Lebensrealität der betroffenen Menschen - ich meine damit die PflegebedürfElisabeth Scharfenberg
tigen, deren Angehörige und insbesondere die belasteten
Pflegekräfte - nichts ändern.
Vielen Dank .
({19})
So, ich hoffe, dass alle folgenden Redner der Koalition
die dringende Anregung von Frau Scharfenberg beachten, die Abteilung „Lob und Preis der Bundesregierung“
im Manuskript hinreichend zu berücksichtigen .
({0})
Das können wir jetzt bei der Kollegin Michalk als Erstes
testen, die für die CDU/CSU-Fraktion das Wort erhält .
({1})
Vielen Dank . - Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! In der Tat möchte ich wirklich damit beginnen . Ich war dabei, als wir vor mehr als 20 Jahren über die Pflegeversicherung als letzte notwendige
Säule in unserer sozialen Absicherung diskutiert und sie
nach einer intensiven Diskussion eingeführt haben . Wir
haben eine Pflegeversicherung, wir haben gut ausgebildete Fachkräfte, immer mehr Menschen engagieren sich
in der ambulanten Pflege für ihre Lieben. Dass wir analysieren, was gut läuft und nicht gut läuft, das zeichnet
dieses Parlament aus . Dass wir heute das größte Reformpaket in dieser wichtigen Versorgungssäule vorlegen, ist
sozusagen die Krönung .
Deshalb will ich in der Tat Herrn Bundesminister
Gröhe, seinen Staatssekretärinnen, Herrn Laumann und
dem ganzen Team im Haus herzlich danken .
({0})
- Ja, mit Beifall sollte man hier nicht sparen . - Die Opposition hat es ja schon bekräftigt: Niemand hat geglaubt,
dass wir es schaffen . Wir haben es geschafft .
Wir Menschen können durch einen Unfall, durch
Krankheit oder einfach nur durch das Alter pflegebedürftig werden, jeder von uns . Alter heißt aber nicht automatisch: pflegebedürftig. Deshalb gibt es eine Verbindung
zu all den guten Gedanken, die wir beim Präventionsgesetz ausgetauscht haben . Aktives Altern hilft vielleicht,
Pflegebedürftigkeit hinauszuzögern. Die gute Vorlage
aus dem Haus haben wir im parlamentarischen Beratungsprozess an vielen Stellen nachgebessert . Das war
ein Prozess, der im guten Einvernehmen abgelaufen ist .
Liebe Kollegin Zimmermann, Sie haben uns hier vorgerechnet, was die Zuzahlung für jemanden mit dem
künftigen Pflegegrad 2 bedeutet, der sich entscheidet, in
ein Pflegeheim zu gehen. Dabei haben Sie aber unterlassen, darauf hinzuweisen, dass wir im Rahmen des parlamentarischen Beratungsprozesses festgelegt haben, dass
der jetzt übliche Abschlag von 20 Prozent beim Zuschuss
wegfällt. Man erhält den vollen Pflegesatz. Insofern gibt
es eine Wahlfreiheit zwischen ambulant oder stationär .
({1})
Wir haben für pflegende Angehörige - das wurde
schon gesagt; aber man kann es nicht oft genug sagen weitere Verbesserungen in den Gesetzentwurf geschrieben. Wenn man jemanden, der den Pflegegrad 5 hat, zu
Hause voll pflegt, dann macht die Anrechnung in der
Rentenversicherung einen ganzen Punkt aus . Das ist eine
Gleichstellung mit der außerhäuslichen Arbeit und eine
große Stärkung der sozialen Absicherung pflegender Angehöriger .
({2})
Frau Michalk, lassen Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Zimmermann zu?
Ja, gerne . - Bitte schön .
({0})
Vielen Dank, Frau Michalk . - Wir haben von zwei unterschiedlichen Dingen geredet . Sie haben von dem Fall
geredet, dass jemand in ein Pflegeheim gehen möchte,
begutachtet wird und man bei der Begutachtung zu dem
Ergebnis kommt, dass diese Person nicht in ein Pflegeheim gehen sollte, die Person es aber doch tut .
Ja .
Dann muss man 20 Prozent dieser Kosten zusätzlich
tragen . Davon habe ich aber gar nicht geredet .
Es ist zwar gut, dass Sie diese Regelung abgeschafft
haben; das ist anzuerkennen .
({0})
Aber das hat nichts damit zu tun, dass eine Frau, wie ich
in diesem Zusammenhang erwähnt habe, eine Nettorente
von 1 700 Euro beziehen müsste, um überhaupt selbstständig einen Pflegeheimplatz bezahlen zu können. Ich
wollte nur deutlich machen, dass Pflege auch nach Ihrem
Gesetzentwurf immer noch vom Geldbeutel abhängig ist .
Mehr wollte ich gar nicht sagen .
({1})
Liebe Kollegin Zimmermann, ich habe das schon richtig verstanden . Meine Antwort sollte Ihnen und auch der
Öffentlichkeit zeigen, dass wir die Solidarität in der gesamten Gruppe sehr wohl beachten und da für VerbesseElisabeth Scharfenberg
rungen gesorgt haben . Was den Fakt betrifft, den Sie jetzt
noch einmal skizziert haben, haben Gutachter untersucht,
um welche Größenordnung es dabei geht . Sie wissen,
dass wir über einen längeren Zeitraum Modellprojekte
durchgeführt haben - es gab über 2 000 Begutachtungen im ambulanten und stationären Bereich -, in deren
Rahmen die Veränderungen und die Frage der Vor- und
Nachteile sehr genau analysiert wurden .
({0})
Es gibt dazu ein positives Gutachten . Das können Sie
nicht unter den Tisch fallen lassen .
Außerdem ist wohl noch ein Gedanke wichtig: Unser
gesamtes soziales Sicherungswesen ist vom Grundgedanken der Solidarität getragen . Wenn jetzt in dem einen
oder anderen Fall - das hängt immer von der persönlichen Konstellation ab - jemand, der den Pflegegrad 2
hat, vielleicht eine etwas höhere Zuzahlung zu leisten hat
als nach dem bisherigen Begutachtungssystem, dann darf
man nicht verkennen, dass die größere Anzahl derjenigen, die die Pflegegrade 3, 4 und 5 haben und in Zukunft
im stationären Bereich versorgt werden, eine Entlastung
erfährt . Durch den gleichen Zuzahlungsbetrag über alle
Pflegegrade hinweg wird die Solidarität im System weiter gestärkt . Das war uns ein Herzensanliegen .
({1})
Ich möchte darauf hinweisen, dass die Dynamisierung
in diesem Gesetzentwurf eine Rolle spielt . Ich möchte
auch darauf hinweisen, dass jeder, der heute begutachtet
ist, eine Pflegestufe bzw. einen Pflegegrad hat und Leistungen bezieht, Bestandsschutz bis an sein Lebensende
genießt . Jeder hat natürlich das Recht, sich neu begutachten zu lassen . Allerdings sagen wir: In den Fällen, in
denen der MDK, der die Begutachtung durchführt, eine
Wiederholungsbegutachtung befürwortet, sollte diese für
zwei Jahre ausgesetzt werden, damit genug Zeit ist, bei
der Antragstellung kein Stau entsteht und die Neubegutachtungen in aller Ruhe erfolgen können . Wir haben jetzt
noch ein Jahr und drei Monate Zeit für die Vorbereitung,
um sicherzustellen, dass diese Verbesserungen zum 1 . Januar 2017 - nachdem wir ohne Hektik und nach intensiver Beratung über alles diskutiert haben - sowohl im ambulanten als auch im stationären Bereich wirken können .
Gerade in diesem Bereich können wir uns nämlich keine
Oberflächlichkeiten leisten.
({2})
Deshalb bin ich so dankbar, dass wir diesen Gesetzentwurf gemeinsam in aller Ruhe beraten konnten .
Ich habe eine Gepflogenheit: Wenn ich ein Thema bearbeite, gebe ich mir immer ein Motto . Das ist so meine
Arbeitsphilosophie . - Bei dieser Gesetzesberatung habe
ich mir rückblickend auf das, was ich schon vor 20 Jahren gedacht habe, einen Spruch von Friedrich Schiller an
meinen Schreibtisch gehängt . Er hat folgenden wunderbaren Satz gesagt:
Der Menschheit Würde ist in eure Hand gegeben .
Bewahret sie! Sie sinkt mit euch, mit euch wird sie
sich heben .
Ich finde, wir haben mit dieser Gesetzesberatung und
mit dieser großen Reform diesem Anspruch wirklich Genüge getan .
Ich freue mich, danke Ihnen für die Zusammenarbeit
und bitte um Zustimmung .
Danke schön .
({3})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Sabine
Zimmermann, Fraktion Die Linke .
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Nicht mehr selbstständig entscheiden zu können oder zum Pflegefall zu werden, das sind die größten
Sorgen der Menschen, wenn sie an ihr Leben im Alter
denken . Laut einer Forsa-Umfrage haben acht von zehn
Menschen diese Befürchtung .
Mittlerweile ist der Wunsch „Bloß nicht zum Pflegefall werden“ unter lebensälteren Menschen oft zu hören.
Es ist ein Armutszeugnis, dass viele Menschen das Pflegesystem nicht oder kaum als wertvolle Hilfe ansehen,
sondern auch als regelrechte Bedrohung wahrnehmen .
Das muss sich ändern . Wir brauchen einen Richtungswechsel in der Pflege.
({0})
- Hören Sie mir einfach zu . Ich hoffe, Sie haben den Entschließungsantrag von uns gelesen . Der sagt etwas ganz
anderes aus als das, was Sie wollen .
Immer mehr Pflegebedürftige und ihre Familien müssen notwendige Pflegeentscheidungen aus finanziellen
Gründen verschieben oder sogar verwerfen, da die Pflegeversicherung von vornherein als Teilkaskoversicherung angelegt worden ist und nicht alle Kosten abdeckt .
Die von den zu pflegenden Menschen zu leistenden
Eigenanteile sind in den letzten Jahren gestiegen und
werden in der Zukunft weiter dramatisch ansteigen . Sie
zahlen jedoch nicht nur den Pflichtanteil des Pflegesatzes. Hinzu kommen auch noch Verpflegungs- und Unterkunftskosten. Diese finanziellen Belastungen treiben
immer mehr Menschen in die Hilfe zur Pflege, nämlich
in die Sozialhilfe, und das ist wirklich beschämend .
({1})
Das System der Pflegeversicherung ist zudem dadurch
gekennzeichnet, dass seit Jahren rund ein Viertel der Anträge auf Gewährung von Pflegestufen abgelehnt wird.
Die Arbeitsbedingungen im Pflegebereich sind geprägt
von niedrigen Löhnen, hohem Arbeitsdruck, Teilzeitbeschäftigung und kurzfristiger Verfügbarkeit, und immer
öfter müssen Pflegekräfte gegen ihr Berufsethos handeln.
Immer öfter entstehen gefährdende Pflegesituationen,
und das können Sie doch wirklich nicht wollen .
({2})
Ich will Ihnen einmal einige Zahlen nennen: Auf
100 zu Pflegende über 80 Jahre kommen in Schweden
33 Pflegekräfte, in Norwegen 22 Pflegekräfte und in
Deutschland 11,2 Pflegekräfte. Daran sehen Sie doch
schon, was in diesem System krank ist . Wir brauchen
mehr gut ausgebildete Pflegekräfte.
({3})
Es ist höchste Zeit, mit dem vorliegenden Gesetzentwurf einen wirklichen Wandel zur guten Pflege für alle zu
bewirken. Mit dem neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff allein, den Sie hier definieren, wird dies nicht verwirklicht.
Nach dem Gesetzentwurf wollen Sie die Pflege stärken.
Doch genau das wird damit nicht erreicht . Anders zu begutachten, heißt ja noch nicht, anders zu pflegen.
({4})
Ganz im Gegenteil: Der Pflegeaufwand wird wachsen, wenn der zu pflegende Mensch mit all seinen Beeinträchtigungen und allen Ressourcen im Fokus stehen
soll - nicht nur bei der Begutachtung, sondern auch im
Pflegealltag. Wie das nachher abgesichert wird, sagen Sie
in Ihrem Gesetzentwurf überhaupt nicht deutlich .
Die Leistungen zur ambulanten Pflege müssen verbessert werden. 71 Prozent werden zu Hause gepflegt. Dazu
brauche ich mehr Geld und mehr Personal . Sie geben jedoch beides nicht . Sie wollen bis 2020 beraten, wie Personalbemessung und Qualitätsstandards aussehen sollen .
({5})
Das Prinzip der Teilkaskoversicherung wird nicht angetastet. Somit bleibt gute Pflege ein Luxusgut. Zudem
ist zu befürchten, dass sich bei Neubegutachtungen ab
2017 in den unteren Pflegegraden das Leistungsniveau
verschlechtern wird . Die dringend notwendige Einführung der Personalbemessung wird verschoben .
Deswegen: Stimmen Sie unserem Entschließungsantrag zu! Stimmen Sie für die Pflegevollversicherung, eine
jährliche Dynamisierung, eine bundesweit verbindliche
Personalbemessung und für die solidarische Pflegeversicherung! Denn gute Pflege ist eine Frage der Menschenwürde, und das geht uns alle an .
Danke schön .
({6})
Das Wort erhält nun die Kollegin Hilde Mattheis für
die SPD-Fraktion .
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Auch ich möchte mit einem Dank beginnen, nicht nur
an das Haus, sondern auch an die, die uns in den letzten
neun Jahren bei der Entwicklung dieses Reformvorhabens intensiv begleitet haben: die Wohlfahrtsverbände,
die Gewerkschaften, aber auch die zwei Beiräte, die die
Grundlage für diesen Gesetzentwurf gelegt haben .
({0})
Ich freue mich sehr, dass wir heute diese Reform verabschieden .
Das, was ich zum Hospiz- und Palliativgesetz gesagt
habe, nämlich dass sich manche Themen zu politischen
Auseinandersetzungen und Kontroversen nicht eignen,
wiederhole ich an dieser Stelle. Die Reform des Pflegebedürftigkeitsbegriffs, die in der Bevölkerung breit
getragen wird, die von allen gesellschaftlichen Kräften
unterstützt wird, sollten wir auch im Parlament breit unterstützen . Und darum bitte ich Sie .
({1})
Es ist wichtig, immer wieder zu kommunizieren: Diese Pflegereform nützt den Menschen. Es ist gut und richtig, dass wir diese heute auf den Weg bringen .
Was machen wir heute? Wir haben mit dem PSG I
die Leistungen verbessert und bringen jetzt einen großen
Systemwechsel auf den Weg . Denn wir gehen weg von
einer Mangelerhebung, die den Pflegebedarf in Minuten
abgebildet hat, und hin zu einem teilhabeorientierten Begriff . Das ist doch ein Systemwechsel, der allen zugutekommt .
Ja, der Pflegegrad 1 bedeutet einen neuen Anspruch
für fast 500 000 Menschen .
({2})
500 000 Menschen werden mehr von der Pflegeleistung
profitieren können. Das ist doch eine Entwicklung, der
Sie nur zustimmen können .
Frau Scharfenberg, bei aller Wertschätzung für die
Rolle einer Oppositionspartei, aber wenn Sie sagen, dass
die Finanzierung nur bis 2022 gesichert sei:
({3})
Erklären Sie einmal, in welchem anderen Sozialversicherungssystem Sie sieben Jahre lang Sicherheit garantieren
können . Wo?
({4})
Ich würde mir auch gut überlegen, ob ich diese Botschaft
verbreite; denn damit unterstellen Sie, dass Sie 2017
überhaupt nichts ändern können. Wir wollen die Pflegeversicherung als Bürgerversicherung .
({5})
Sabine Zimmermann ({6})
Sie sagen nun, dass Sie bis 2022 nichts ändern wollen .
Das ist mir echt zu lang . Wir wollen die Bürgerversicherung in der Pflege, und zwar so schnell wie möglich.
({7})
Sie kritisieren, dass wir für die Pflegefachberufe nichts
tun . Wir haben nachgeliefert und gesagt: In den nächsten
fünf Jahren muss die Entwicklung und Erprobung der
Personalbemessung abgeschlossen sein .
({8})
Frau Mattheis .
Ich bin gerade so in Fahrt .
Ja, das merke ich . Es gibt den Wunsch nach einer Zwischenfrage .
Stellen Sie sich vor, wir würden jetzt erklären: „Diese
Entwicklung und Erprobung müssen in anderthalb Jahren über die Bühne gebracht sein.“ Was hätten Sie dann
gesagt? Sie würden uns vorwerfen: Das ist nicht ordentlich und sorgfältig genug .
Wir gehen mit unseren ganzen Bausteinen - der
nächste große Baustein ist die Ausbildungsreform - die
Verbesserung der Pflege an.
({0})
Ich glaube, es ist wichtig, dass wir immer einen Baustein
neben den anderen setzen und dass diese auch zusammenpassen .
({1})
Das damit gebaute Haus darf nicht zusammenfallen, sondern das muss fest stehen .
({2})
Von daher geht es nicht nur um die Leistungsverbesserungen im PSG I . Jetzt geht es mit dem PSG II und mit all
dem, was wir als kritische Punkte aufgenommen haben,
um einen Systemwechsel . Wir haben gesagt: Macht die
Dokumentation schlanker und sorgt bitte für mehr Pflege . Ferner haben wir gesagt: Wir wollen die Beratung
verbessern, nicht nur für die Pflegebedürftigen, sondern
auch für die Angehörigen . Das muss klar sein .
({3})
In diesen kleinen Punkten, die den Systemwechsel herbeiführen, liegt die Stärke dieses Gesetzes .
({4})
Frau Mattheis, jetzt sind Sie nicht mehr ganz so in
Fahrt . Kurz vor Ende Ihrer Redezeit könnten Sie, wenn
Sie mögen, eine Zwischenfrage zulassen .
Ich mag .
Na also . - Bitte schön, Frau Klein-Schmeink .
Ich bin gespannt .
Es ist schön, dass ich die Gelegenheit bekomme, eine
Frage zu stellen . - Frau Mattheis, Sie haben eben auf die
Zeithorizonte abgehoben . Sie haben auch darauf abgehoben, dass wir mit dem Pflegestärkungsgesetz zu Recht
neue Ansprüche schaffen . Aber ist es nicht so, dass man
für die Erfüllung dieses Anspruchs auch das dazugehörige Personal und die Zeit bereitstellen muss, dass also
Anspruch auch auf Leistung treffen muss? Daher ist es
sehr merkwürdig, dass man die dazugehörige verbindliche Personalbemessung erst bis 2020 schaffen will .
Dazu habe ich die Frage, warum das im Bereich der
Pflege so lange dauern soll, während Sie für den Krankenhausbereich, wo das Problem ganz ähnlich gelagert
ist, zwar auch nicht sofort eine Lösung haben, aber immerhin versprechen, hierfür bis 2017 etwas vorzulegen .
Es ist eindeutig so, dass die Situation im Krankenhaus
deutlich komplizierter ist als in der Pflege. Da gibt es
sehr viele Vorarbeiten . Ist es überhaupt zu verantworten,
die Pflegekräfte fünf Jahre lang auf die Einführung der
im Gesetzentwurf genannten Instrumente zu vertrösten?
Das ist ein sehr langer Zeitraum . Das ist eine komplette
Wahlperiode .
Geschätzte Frau Klein-Schmeink, manchmal hilft
Lesen . Im Gesetzentwurf steht: Entwicklung und Erprobung. Ich finde, diese Aussage zeigt uns: Jawohl, wir
wollen die Erprobungsphase 2020 abgeschlossen haben .
({0})
Dazu kann ich Ihnen sagen: Wir brauchen wirklich eine
fundierte Grundlage; denn das geht nicht mit einem
Schnellschuss . Ich bin froh, dass wir beim Thema Personalbemessung diesen großen Durchbruch erreicht haben .
({1})
Sie wissen, dass bei den Verhandlungen darüber auch
die Länder mit am Tisch sitzen . Ich glaube, hierzu wird
es eine breite Debatte geben . Vielleicht können Sie Ihren
Länderministerinnen und -ministern sagen, dass sie uns
dabei unterstützen sollen . Das wäre schön .
({2})
Ich will abschließend auf Folgendes hinweisen: Das
Pflegestärkungsgesetz II ist nicht das Ende der Reform.
Wer glaubt, dass Sozialversicherungssysteme irgendwann nicht mehr verbesserungsbedürftig wären, der hat
ein ganz falsches Verständnis dieser Systeme . Mit dem
PSG III werden wir einen weiteren wichtigen Baustein
setzen . Neben den Leistungsverbesserungen, neben der
Entlastung der pflegenden Angehörigen, neben den guten Arbeitsbedingungen für Pflegefachkräfte muss es uns
auch um Pflegeinfrastruktur gehen, also niedrigschwellige Pflegeinfrastruktur in den Kommunen. Das wird der
Schwerpunkt des PSG III sein .
Ich darf für meine Kolleginnen und Kollegen der
SPD-Fraktion einfach zur Erinnerung sagen: Wir können
immer mehr dicke Häkchen hinter unser Konzept der
Pflegereform von 2012 setzen.
Ich danke .
({3})
Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege
Erwin Rüddel das Wort .
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Eine Bemerkung kann ich mir nicht ganz verkneifen,
weil eben der Begriff „Bürgerversicherung“ gefallen ist:
({0})
Ich glaube, bevor dieses Haus eine Bürgerversicherung
verabschiedet, wird eine CDU-geführte Regierung das
Pflegestärkungsgesetz VII verabschieden.
({1})
Meine Damen und Herren, ich freue mich, dass die
vielen Diskussionen mit meiner Kollegin von den Grünen, Elisabeth Scharfenberg, dazu geführt haben, dass
ihre vielen Zweifel, die zu Beginn bestanden, heute weitestgehend verschwunden sind .
({2})
Ich denke, das Gesetz wird in der Praxis entsprechend
Wirkung zeigen, sodass auch die letzten Zweifel verschwinden werden .
Zehn Monate nachdem wir das erste Pflegestärkungsgesetz verabschiedet haben, kommt jetzt schon die Umsetzung des Pflegebedürftigkeitsbegriffes. Wir schließen
eine Gerechtigkeitslücke, indem wir die Demenzkranken den somatisch Erkrankten in der Pflegeversicherung
gleichstellen und im Ergebnis über 5 Milliarden Euro für
Demenzkranke aktivieren . Ich denke, das ist ein großer
Wurf. Für bereits jetzt Pflegebedürftige gibt es einen Bestandsschutz, sodass sich niemand Sorgen darüber machen muss, dass er durch diese Reform schlechtergestellt
wird .
({3})
Zudem verbessern wir bereits in diesem Gesetzentwurf die Situation von pflegenden Angehörigen und
stärken die Pflegeberatung sowie die Qualität und Transparenz bei den Pflegeangeboten. Die Koalition hat zu
Beginn der Legislaturperiode mehr Qualität, mehr Geld,
mehr Betreuung und mehr Hände für gute Pflege in unserem Land versprochen, und wir haben Wort gehalten .
({4})
Das zeigt sich auch am Bürokratieabbau, in der Neugestaltung des Pflege-TÜVs, in den neuen gesetzlichen Regelungen zur Verbesserung der Medikamentensicherheit
sowie in dem in der letzten Woche verabschiedeten Palliativ- und Hospizgesetz .
Wir müssen sicherstellen, dass zukünftige zusätzliche
Leistungen auch am Bett ankommen . Hier darf es keine Tricksereien geben . Das sage ich auch gegenüber den
kommunalen Spitzenverbänden, die mit Blick auf den
Bürokratieabbau in der Pflege bekanntlich gewisse Begehrlichkeiten entwickelt hatten . Deshalb habe ich mich
dafür eingesetzt, dass die Dividende aus dem Bürokratieabbau den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in der
Pflege zusteht
({5})
und auf diese Weise dort ankommt, wo sie hingehört, und
zwar bei den pflegebedürftigen Menschen in unserem
Land . Die gewonnene Zeit ist nicht zur Konsolidierung
kommunaler Haushalte gedacht .
({6})
Ebenso deutlich sage ich mit Blick auf die Pflege-WGs: Wir werden aufpassen, dass das System nicht
von professionellen Anbietern in einer Weise ausgenutzt
wird, die nicht im Sinne des Gesetzgebers ist . Wir wollen
keine Geschäftemacherei, sondern gute Betreuung und
Pflege. Deshalb stellen wir sicher, dass der MDK entsprechende Prüfungsvollmachten erhält .
Dieses Pflegestärkungsgesetz II bringt bereits einen
erweiterten Beratungsauftrag für die Kassen . 2016 werden wir mit dem Pflegestärkungsgesetz III den Kommunen zusätzliche Beratungsaufgaben übertragen, wie es
in der Bund-Länder-Kommission vereinbart worden ist .
Die zusätzlichen Angebote der Kommunen - ich denke
hier an die Vernetzung mit Seniorenbeiräten, Mehrgenerationenhäusern oder Pflegestützpunkten - werden eine
aufsuchende und umfassende Beratung für Pflegebedürftige und deren Familien bieten können, sodass in jedem
einzelnen Fall ein individuelles Paket geschnürt werden
kann, das optimal auf die Bedürfnisse der zu Pflegenden
zugeschnitten ist .
Zudem müssen wir noch bei der Versorgung mit Heilund Hilfsmitteln aktiv werden. Unsere Pflegebedürftigen
haben ein Anrecht auf eine anständige Versorgung . Wir
werden es nicht hinnehmen, wenn an der Qualität von
Windeln oder Rollstühlen gespart werden soll . Wir mobilisieren für die Altenpflege zusätzlich 7 Milliarden Euro.
Da kann nicht an anderer Stelle an den Windeln gespart
werden .
({7})
Deshalb müssen wir dafür sorgen, die erforderlichen
Qualitätsstandards sicherzustellen . Damit werden wir
das, was ich die Runderneuerung der Pflege nenne, feinjustieren müssen und dann abschließen .
Meine Damen und Herren, diese Koalition schafft
grundlegende und umfassende Verbesserungen für die
Pflegebedürftigen, ihre Angehörigen und die Pflegekräfte
in Deutschland . Ich danke ganz besonders dem Minister, der zuständigen Parlamentarischen Staatssekretärin
Ingrid Fischbach und dem Pflegebevollmächtigten, dass
sie diese Reform vorbereitet haben, und bitte sie, diesen
Dank an das Haus weiterzugeben .
({8})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Mechthild Rawert für
die SPD-Fraktion .
({0})
Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Liebe Mitbürgerinnen! Liebe Mitbürger! Der heutige Freitag, der 13 ., ist
ein guter, ein sehr guter Tag für pflegebedürftige Kinder
und Jugendliche, für pflegebedürftige ältere Menschen,
für die Angehörigen und für die haupt- und ehrenamtlich
in der Begleitung, Betreuung und Pflege tätigen Menschen .
({0})
Wir alle profitieren von dem Gesetz, welches wir gleich
beschließen werden, nämlich dem Zweiten Pflegestärkungsgesetz. Pflege ist damit in der Mitte unserer Gesellschaft angekommen . Wir machen deutlich: Im Mittelpunkt steht die Solidarität miteinander und die Sorge
füreinander, gerade dann, wenn für den einzelnen Menschen ein Lebensrisiko wie die Pflegebedürftigkeit auftritt. Das ist die Aufgabe der sozialen Pflegeversicherung.
Dafür, dass wir heute dazu gekommen sind, gebührt vielen Menschen in den Institutionen, Verbänden und Bündnissen für gute Pflege Dank.
Es wurde schon daran erinnert, dass die erste Sitzung
der Beiräte vor mehreren Jahren stattgefunden hat . In
diesen waren die gesamte Zivilgesellschaft, sämtliche
Akteurinnen und Akteure im Gesundheits- und Pflegewesen vertreten . Die Beiräte haben uns den Weg gewiesen . Sie haben Forderungen gestellt, und sie haben
eine Roadmap vorgelegt . Wir sind dabei, die Roadmap
mit diesem Gesetz abzuarbeiten . Das ist ein Gesetz nicht
nur der Politik, sondern der Gesellschaft mit sämtlichen
Akteuren . Auch deswegen ist heute ein guter Tag, und
diesen gilt mein herzlicher Dank .
({1})
Geschlossen wird eine Gerechtigkeitslücke zwischen
somatischen, psychischen und kognitiven Beeinträchtigungen von pflegebedürftigen Menschen. Das ist gut so,
das ist gerecht so .
Das Geschacher um die Pflege in Minuten hört auf.
Betrachtet werden nicht mehr einzelne Defizite, betrachtet wird der Mensch mit seinen Ressourcen . Künftig ändert sich also die Blickrichtung. Nicht mehr die Pflegenden und deren Zeitbedarf stehen im Mittelpunkt, sondern
der Grad der Selbstständigkeit und die individuellen Fähigkeiten des pflegebedürftigen Menschen. Die konkrete
Frage lautet: Inwieweit ist es den Pflegebedürftigen noch
möglich, ein eigenständiges Leben zu führen, oder bis zu
welchem Grad ist diese Eigenständigkeit eingeschränkt?
Danach wird bewertet .
Die neue Pflegebewertung wird würdevoller für alle
Betroffenen, insbesondere für die Menschen mit Pflegebedürftigkeit. Es erfolgt eine Einstufung in fünf Pflegegrade, und zwar gerechter, nachvollziehbarer und transparenter. Das ist wichtig für die Pflegebedürftigen und
selbstverständlich auch für deren Familienangehörige .
Auf den erweiterten Zugang zu den Leistungen der
sozialen Pflegeversicherung von über 500 000 Menschen
ist schon vom Minister und von Frau Mattheis hingewiesen worden . Es ist von mehr Gerechtigkeit für die an Demenz und an psychischen Leiden Erkrankten gesprochen
worden . Wir haben einen Ausbau von Leistungen sowohl
in den ambulanten Wohngruppen als auch in der Kurzzeitpflege sowie in der Tages- und Nachtpflege sichergestellt . Ab dem 1 . Januar 2017 werden die an Demenz
erkrankten Menschen mit einem sogenannten doppelten
Stufensprung höher bewertet . Dies passiert automatisch;
es bedarf keiner weiteren zusätzlichen Arbeit seitens der
pflegebedürftigen Personen oder deren Angehörigen. Allein das ist ein zentraler und allgemein anerkannter pflegepolitischer Erfolg . Schon deswegen ist dieser Gesetzentwurf ein Meilenstein .
({2})
Von den Linken ist vorhin etwas zum Thema der ambulanten Pflege gesagt worden. Wegen der Kürze der
Zeit kann ich leider nicht näher darauf eingehen . Weitaus
zu kurz gegriffen wurde dabei wegen der vielen Verbesserungen in der Begleitung, in der Betreuung und in der
Entlastung der Angehörigen . Wir fördern mit diesem Gesetz genau das, was die Mehrheit der Bevölkerung will,
nämlich so lange wie möglich im eigenen häuslichen
Umfeld bleiben . Das sichern wir ihnen hiermit zu, und
das ist gut so .
({3})
Wir sichern auch den Angehörigen einen besseren
Zugang zu Rentenversicherung und Arbeitslosenversicherung zu; denn es kann und darf nicht sein, dass die
pflegenden Angehörigen, zumeist Frauen, dafür bezahlen, indem sie selbst in Altersarmut geraten . Dieser Punkt
ist uns als SPD, aber auch darüber hinaus sehr wichtig .
({4})
Ein weiterer großer sozialpolitischer Erfolg liegt darin, dass keine pflegebedürftige Person in stationären
Einrichtungen aus Angst vor finanzieller Höherstufung
nicht mehr beantragt, mehr Pflege zu bekommen. Damit
machen wir Schluss . Keine Angst, liebe Einrichtungen,
liebe Träger und Verbände von Einrichtungen: Die Höhe
dieses Anteiles wird von den jeweiligen Pflegeeinrichtungen zusammen mit den Pflegekassen bzw. dem Sozialhilfeträger verhandelt . Auch das ist gut so; denn es gewährleistet ihnen mehr Flexibilität, und sie können somit
mehr Kreativität und noch mehr Qualität in der Pflege
erbringen .
({5})
Ich muss leider zum Schluss kommen . Die individuelle bedürfnisorientierte Pflege werden wir mit diesem
Gesetz stärker abbilden und sicherstellen . Selbstverständlich ist auch dieses Gesetz kein Allheilmittel . Das
PSG III steht vor der Tür; davon ist schon gesprochen
worden. Wir werden die Pflegeberatung unterstützen, wir
werden die Pflegeinfrastruktur in den Kommunen verbessern, und wir werden vor allen Dingen die Netzwerke
mit vielen zivilgesellschaftlichen Akteuren stärken .
Frau Kollegin .
Ich komme zum letzten Satz . Danke . - Mein Appell:
Ich fordere uns alle als Verantwortliche dazu auf, diese
Pflegereform mit voller Kraft mitzumachen, sie zu gestalten und mit Leben zu füllen . Zeigen wir gemeinsam
Tatkraft für eine gute und würdevolle Pflege.
Haben Sie Dank fürs Zuhören .
({0})
Nächster Redner ist der Kollege Erich Irlstorfer für die
CDU/CSU-Fraktion .
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit
dem Ersten Pflegestärkungsgesetz hat der Gesetzgeber
die Leistungen der Pflegeversicherung ab dem 1. Januar
2015 deutlich ausgeweitet . Dieses Gesetz war ein Vorgriff auf das Zweite Pflegestärkungsgesetz, das wir heute
beraten und beschließen. Der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff, das Kernstück dieses Gesetzentwurfes, stellt eine
neue Grundlage für die Pflege in Deutschland dar - ganz
subtil in Bezug auf die Neuausrichtung der Pflege an der
Selbstständigkeit der Gepflegten, aber auch ganz offenkundig beispielsweise im Rahmen der neuen Pflegebegutachtung .
Meine Vorredner haben bereits darauf hingewiesen,
dass es viele Neuerungen gibt, sodass ich mich auf einige
wenige Punkte konzentriere .
Meine Kernaussage ist, dass die Pflege in Deutschland
deutliche Verbesserungen braucht, und zwar nicht nur die
Einführung oder Erweiterung einzelner Leistungen . Wir
brauchen vielmehr eine strukturell angelegte Pflegereform . Ich glaube, das gelingt uns mit der Verabschiedung
dieses Gesetzentwurfs . Ich meine damit nicht nur die
großen Linien mit der Einführung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs mit all seinen Konsequenzen, sondern auch eine Reihe kleinteiliger Maßnahmen, die sich
ganz konkret auf die Versorgungsangebote vor Ort auswirken werden . Das aktive Gestalten der Versorgungsstrukturen, aber auch das Schaffen von Freiräumen in
der Versorgung sind Markenzeichen der Pflegepolitik der
Union . Das liegt nicht nur im Interesse der Versicherten,
sondern es ist auch im Sinne der Beitragszahler, meine
sehr geehrten Damen und Herren . Ich möchte beispielhaft drei gesetzliche Neuerungen erläutern, die Ausdruck
dieser Politik sind .
Erstens: das Thema Wohngruppen; mein Kollege Erwin Rüddel hat es bereits angesprochen . Ziel des
Wohngruppenzuschlags ist die Förderung neuer Wohnformen für Pflegebedürftige als Alternative zum Heim.
Es liegt in der Natur der Sache, dass neue Wohnformen
oft vergleichbar mit altbewährten Konzepten der vollstationären, teilstationären und ambulanten Pflege sind.
Allerdings müssen sie - das ist wesentlich - einen Mehrwert für die Versicherten und somit für die Menschen
aufweisen . Neue Wohnformen können sich beispielsweise durch eine stärkere Selbstbestimmung der Bewohner
auszeichnen . Deshalb begrüßen wir neue Wohnformen
wie Wohngruppen ausdrücklich .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, allein durch hohe
Kosten für die Sozialversicherung ohne greifbare Unterschiede zu einem Pflegeheim dürfen sich Wohngruppen
allerdings nicht auszeichnen . Denen, die die Förderung
der Wohngruppen missbrauchen, treten wir deshalb mit
diesem Gesetz entgegen . Wenn nötig, werden wir auch in
weiteren Gesetzen nachjustieren . Das ist keine Drohung,
sondern ein ernstgemeinter Hinweis .
({0})
Zweitens . Die Entscheidung, welche Versorgungsangebote in Deutschland bestehen sollen, ist Aufgabe der
Pflegepolitik. Pflege ist kein Geschäft wie jedes andere
und darf es auch nicht sein . In der klassischen vollstationären Versorgung nehmen wir den neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff zum Anlass, um die Personalausstattung
zu analysieren und im erforderlichen Maß anzupassen .
Ein fundiertes Personalbemessungssystem wird entwickelt und erprobt; starre Personalschlüssel werden nicht
vorgegeben . Damit setzen wir an den Personalstrukturen,
einem Kern der pflegerischen Versorgung, an. Mit diesem Gesetz stoßen wir ihre Anpassung an die Versorgung
an . Wesentlich ist, dass wir hier nicht stehen bleiben, dass
es weitergeht. Beim Pflegeberufegesetz, das gerade beraten wird, planen wir echte Verbesserungen . Wir sind
ja um eine Steigerung der Attraktivität dieser Berufe bemüht . Ich denke, das sowie die digitale Dokumentation
sind Kernelemente der Zukunft .
({1})
Das sind Verbesserungen .
({2})
Drittens. Auch die Beratungsangebote, die Pflegebedürftigen und ihren Angehörigen helfen sollen, werden
mit diesem Gesetz reformiert . Wir stellen die Weichen,
damit die Pflegeberatung in Deutschland noch besser
verfügbar ist und vor allem mehr genutzt werden kann .
Künftig müssen die Pflegekassen allen, die einen Antrag
auf Leistungen der Pflegeversicherung stellen, innerhalb von zwei Wochen aktiv eine Pflegeberatung anbieten . Angehörige erhalten erstmals einen eigenständigen
Anspruch auf Pflegeberatung. Pflegekassen und Länder
werden die verschiedenen Beratungsangebote vor Ort
aufeinander abstimmen und so die Beratungsstrukturen
stärken . Das ist uns wichtig .
Zum Schluss möchte ich sagen: Wir werden die Umsetzung der Pflegereform und die damit verbundenen
Aufgaben nur meistern können, wenn wir gemeinsam an
der Umsetzung arbeiten. Ich rufe die Pflegeheime, die
Pflegedienste, die Kassen, die Länder und natürlich auch
uns Bundespolitiker zur konstruktiven Zusammenarbeit
mit den Menschen vor Ort auf, damit wir diese Reform
vollständig umsetzen .
({3})
Damit werden wir die Pflege in Deutschland auf ein neues Fundament stellen .
Herzlichen Dank .
({4})
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der
Kollege Tino Sorge für die CDU/CSU-Fraktion .
({0})
Hochverehrter Herr Präsident Lammert! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben in dieser Debatte schon
viele Zahlen gehört . In den nächsten 15 Jahren müssen
wir damit rechnen, dass insbesondere die Zahl pflegebedürftiger Menschen in Deutschland stark ansteigen wird .
Wir reden über einen Anstieg von 35 Prozent . Wir wissen bereits jetzt, dass im Jahr 2030 3,5 Millionen Menschen pflegebedürftig sein werden. Im Jahr 2050 werden
es 4,5 Millionen sein . Was ich an der gesamten Debatte
sehr bemerkenswert fand, war, dass angesichts der Tatsache, dass aufgrund der älter werdenden Gesellschaft die
Gesundheitskosten steigen werden, ein politischer und
gesellschaftlicher Konsens darüber besteht, dass in die
Pflege investiertes Geld gut investiertes Geld ist.
({0})
Mit diesem Pflegestärkungsgesetz stärken wir im besten Sinne des Wortes diejenigen, die sich tagtäglich in
der Pflege einsetzen. Wir unterstützen diejenigen, die
als Pflegebedürftige unsere Hilfe ganz dringend benötigen . Das tun wir nicht abstrakt-generell, sondern konkret-individuell . Gerade die nächsten Angehörigen, die
eine intensive, herzliche und verlässliche Betreuung
und Versorgung übernehmen, verdienen unser aller Anerkennung für ihre Leistung, ihr Engagement und ihren
körperlich anstrengenden und nicht selbstverständlichen
Einsatz . Was sie tun, geht weit über das hinaus, was wir
mit den gesetzlichen Regelungen schaffen .
Zugleich bedeutet dieses Gesetz auch Wertschätzung .
Es gibt umfangreiche Leistungsverbesserungen und einen verbesserten Pflegebedürftigkeitsbegriff. All dies
sind Mosaikteile einer Pflegepolitik aus einem Guss,
die am Wohl der Menschen orientiert ist und die allen
Pflegebedürftigen zugutekommen wird, heute und in der
Zukunft .
Ich möchte an dieser Stelle einmal denjenigen Dank
sagen, die sich im Pflegebereich einsetzen und dabei oft
ihr eigenes Leben hintanstellen . Ich möchte auch denjenigen danken, die in Pflegeeinrichtungen arbeiten, die
in Pflegeschulen für diese Berufe werben und den Fachkräften das Rüstzeug vermitteln, um hochwertig und zugleich empathisch pflegen zu können. Ihnen allen gilt ein
ganz großes Dankeschön .
({1})
Ich möchte auch dem Ministerium, insbesondere Bundesminister Hermann Gröhe, dem Pflegebeauftragten
Karl-Josef Laumann, der Parlamentarischen Staatssekretärin Ingrid Fischbach und ganz besonders unserem Berichterstatter Erwin Rüddel meinen Dank aussprechen .
Das tue ich deshalb, weil die Zusammenarbeit äußerst
angenehm, konstruktiv und zielorientiert war . Vielen
Dank dafür .
({2})
In dieser Woche feiern wir 26 Jahre Mauerfall . In
diesen 26 Jahren hat sich vieles grundlegend verändert .
Mit Blick auf Pflege und Demografie kann ich sagen: In
meinem Bundesland Sachsen-Anhalt kann man geradezu
live und hautnah verfolgen, wie sich der demografische
Wandel im Alltagsleben auswirkt . Aufgrund der verzerrten Altersstruktur reden wir bereits jetzt über mehr Mittel für Pflegeeinrichtungen. Wir haben eine höhere Rate
multimorbider Patienten, die versorgt werden müssen .
Zugleich haben wir eine überdurchschnittliche Fluktuation und Mobilität gut ausgebildeter Ärzte sowie Fach- und
Pflegekräfte zu verzeichnen. Wenn man sich die Zahlen
anschaut und weiß, dass im Jahr 2025 fast 60 Prozent der
Menschen in meinem Bundesland über 50 Jahre alt sein
werden und dass wir schon jetzt 4 Prozent Pflegebedürftige und damit die höchste Pflegequote in Deutschland
haben, dann können Sie erahnen, wie wichtig das Thema
Pflege ist.
Jetzt kann man sagen: Na gut, das ist eben ein regionales Problem . - Das ist aber kein regionales Problem,
und es ist auch kein ostdeutsches Problem . Es ist ein Problem, das uns alle angeht .
({3})
In den neuen Bundesländern werden Entwicklungen vorweggenommen, die in anderen Regionen Deutschlands
zeitlich verzögert auftreten werden .
Es ist wichtig, dass die Gesundheits- und Pflegepolitik
nicht nur einzelne Gesetzesprojekte in den Blick nimmt,
sondern im Sinne ineinandergreifender Zahnräder in den
kommenden Jahren den Schwerpunkt auf die Reform der
Medizinerausbildung und der Pflegeberufe sowie auf die
Stärkung der Kommunen im Gesundheitsbereich setzt .
Dieser gesamtdeutschen Herausforderung werden wir
mit diesem Schritt, dem Pflegestärkungsgesetz II, ein
weiteres Stück gerechter .
Wenn heute mit Bundesgesundheitsminister Hermann
Gröhe ein Nordrhein-Westfale die Debatte eröffnet hat,
eine Sächsin, ein Rheinland-Pfälzer und ein Bayer dieses
Reformvorhaben erläutern konnten, dann passt es doch
ganz gut, dass ein Abgeordneter aus Sachsen-Anhalt,
nicht nur dem Land der Reformation, sondern auch dem
„Land der Frühaufsteher“, den Abschluss machen darf.
({4})
Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe Frau Rawert,
ist doch gelebte Vielfalt mit dem festen Ziel, die Pflege
in Deutschland noch zukunftssicherer zu machen . Dazu
leisten wir heute einen ganz großen Beitrag . Darauf können wir stolz sein .
Herzlichen Dank .
({5})
Fast noch schöner als die Beteiligung der Frühaufsteher ist der Hinweis, dass das Gesetz ganztägig gelten soll .
({0})
Bevor wir zu den Abstimmungen kommen, ohne die
dieses Gesetz seine Gültigkeit nicht erhält, hat die Kollegin Baehrens um das Wort für eine persönliche Erklärung
zur Abstimmung gebeten . - Bitte schön .
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der
neue Pflegebegriff kommt, und es gibt keinen vernünftigen Grund, diesem neuen, ganzheitlicheren Leitbild von
Pflege und dem neuen Begutachtungsverfahren heute
nicht zuzustimmen .
Diese Pflegereform schließt wichtige Lücken, aber
sie hat auch ihre Tücken . Das betrifft insbesondere den
stationären Bereich, wo vorgesehen ist, die umfangreichen Veränderungen budgetneutral umzusetzen, damit
die Heime nach der Umstellung das gleiche Budget zur
Verfügung haben wie vorher und um die Kosten der Pflegeversicherung berechenbar zu halten .
({0})
Das ist aus praktischen Gründen nachvollziehbar . Die
Tücke liegt jedoch darin, dass diese Form der Überleitung keinerlei Spielraum für die dringend notwendigen
Leistungsverbesserungen in den Heimen lässt .
({1})
Wir haben im PSG I die ambulante Pflege nachdrücklich
gestärkt . Wir haben die palliative Versorgung im häuslichen Bereich und in den Hospizen verbessert . Demgegenüber werden an die Pflegeheime lediglich höhere Anforderungen gestellt, ohne eine verbindliche Regelung
zur Finanzierung dieser Leistungen zu verankern .
Herr Minister Gröhe, Sie haben am vergangenen Donnerstag gesagt:
Wir werden die Altenpflegeeinrichtungen verpflichten, mit Palliativnetzwerken und Palliativmedizinern zusammenzuarbeiten .
Ich höre die Pflegekräfte in den Heimen fragen: Warum eigentlich trauen Sie uns Altenpflegefachkräften
nicht zu, eine hospizlich-palliative Versorgung im Heim
zu gewährleisten? Ja, wir möchten die Bewohner auch
auf ihrer letzten Wegstrecke begleiten und so versorgen,
wie wir es gelernt haben . Aber warum geben Sie uns dafür nicht die gleiche finanzielle und personelle Ausstattung wie den stationären Hospizen? - Recht haben sie .
({2})
Darum frage ich weiter: Warum eigentlich geht die Pflegeversicherung nach wie vor davon aus, dass in Pflegeheimen etwa 50 Prozent Fachpersonal ausreichen, während die Krankenversicherung selbstverständlich nahezu
100 Prozent des Fachpersonals in Hospizen und rund
80 Prozent der Fachkräfte in der ambulanten Pflege finanziert?
Wir haben für mehr Betreuungskräfte in den Heimen
gesorgt .
({3})
Allerdings entlastet auch dies nicht die Fachpflegekräfte;
denn die höhere Zahl an Betreuungskräften muss vom
examinierten Pflegepersonal angeleitet und unterstützt
werden .
({4})
Die Verantwortung sowohl für die Pflege wie auch für die
Betreuung bleibt beim Fachpersonal. Das „zusätzliche“
Betreuungspersonal führt dazu, dass der sowieso schon
niedrige Fachkraftanteil der Altenpflege de facto bereits
unter 50 Prozent liegt .
({5})
Darum ist es richtig, ein fundiertes Verfahren für die Personalbemessung in den Pflegeheimen auf der Basis des
neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs zu entwickeln. Natürlich wäre es wünschenswert, wenn das schneller ginge .
({6})
Noch eine Tücke möchte ich kurz ansprechen, nämlich
den einrichtungsindividuellen einheitlichen Eigenanteil . Gemeint ist damit: Alle Bewohner zahlen künftig
im Heim den gleichen Preis für die Pflege, unabhängig
davon, wie viel pflegerische Unterstützung sie aufgrund
ihres Pflegegrades erhalten. Damit wird das heutige
System der Preisbildung verändert, obwohl das Gesetz
weiterhin am Prinzip der leistungsgerechten Vergütung
festhält. So wird der Problematik begegnet, dass Pflegebedürftige oder Angehörige
({7})
oft auf die Beantragung einer höheren Pflegestufe verzichtet haben,
({8})
um höhere Kosten zu vermeiden . Diese Neuerung ist gut
gemeint, aber, wie ich befürchte, nicht gut durchdacht .
Ein einheitlicher Eigenanteil ist gut für diejenigen, die
einen hohen Pflegebedarf haben und viele Leistungen in
Anspruch nehmen müssen .
({9})
Die Solidarität mit den schwer Pflegebedürftigen führt
jedoch zur finanziellen Mehrbelastung von Pflegebedürftigen mit niedrigem Pflegegrad. Es stellt sich daher berechtigerweise die Frage, ob das von jenen als gerecht
empfunden werden wird, die zukünftig zwar gleich viel
bezahlen, aber wesentlich weniger Leistungen erhalten .
({10})
Wer wird ihnen erklären, dass die Altenpflegerin kaum
Zeit für sie hat, während die Nachbarin intensiv versorgt
wird? Sie werden sich nicht ans Ministerium, an die Pflegekassen oder an uns Abgeordnete wenden .
({11})
Sie werden diejenigen fragen, die ihnen am nächsten
sind, und das sind die Pflegekräfte. Sie werden diejenigen fragen, die sich schon heute im Alltag aufreiben, um
allen gerecht zu werden, weil die Personalschlüssel nicht
ausreichend sind .
({12})
Denn obwohl der Bedarf und die Anforderungen an medizinischer Behandlungspflege und Sterbebegleitung
enorm zugenommen haben, haben wir heute die gleichen
Personalschlüssel in der stationären Pflege wie Anfang
der 90er-Jahre . Darum mache ich mit meiner persönlichen Erklärung heute darauf aufmerksam: Es ist Zeit,
mehr für die Pflege und die Fachkräfte in stationären
Einrichtungen zu tun . Dafür möchte ich werben . Deshalb
war es mir wichtig, das sagen zu können .
({13})
Frau Kollegin Baehrens, das war eine Demonstration
dafür, wofür diese Bestimmung der Geschäftsordnung
nicht gedacht ist .
({0})
Sie wird ganz sicher die Neigung der jeweils amtierenden Präsidenten, Erklärungen zu Abstimmungen überhaupt, schon gar vor der Abstimmung zuzulassen, weiter
reduzieren; denn im Ergebnis führt das zu einer Verlängerung der Redezeiten einer Fraktion, die angesichts der
Proportionen, die wir hier haben, von den Oppositionsfraktionen als nicht besonders freundlich empfunden
werden kann .
({1})
Wir führen jetzt aber keine Geschäftsordnungsdebatte .
Das wird gegebenenfalls noch einmal im Ältestenrat aufgegriffen . Aber noch einmal: Der Zweck einer solchen
Erklärung zur Abstimmung ist, gegebenenfalls deutlich
zu machen, warum man, aus welchen Gründen auch immer, die Schlussfolgerung nicht teilen will, die im Übrigen die Kolleginnen und Kollegen der eigenen Fraktion
zur Zustimmung oder Ablehnung eines Gesetzentwurfes
veranlassen .
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den von der
Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Zweiten
Gesetzes zur Stärkung der pflegerischen Versorgung
und zur Änderung weiterer Vorschriften . Der Ausschuss
für Gesundheit empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf der Drucksache 18/6688, den
Gesetzentwurf der Bundesregierung auf den Drucksachen 18/5926 und 18/6182 in der Ausschussfassung
anzunehmen . Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um
das Handzeichen . - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält
sich? - Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung
({2})
- bei Enthaltung der Grünen und Gegenstimmen sowie
einigen Enthaltungen der Fraktion Die Linke - angenommen, was im Übrigen für die Feststellung der Mehrheitsverhältnisse nicht notwendigerweise vorgetragen werden
muss . Wenn das aber den Frieden fürs Wochenende fördert,
({3})
will ich dem natürlich nicht im Wege stehen . Außerdem
lässt sich das in der dritten Beratung - und darauf kommt
es ja an - förmlich festhalten .
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung . Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich von ihren Plät-
zen zu erheben . - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält
sich? - Damit ist dieser Gesetzentwurf mit den Stimmen
der Koalition bei Stimmenthaltung der Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen und einigen Enthaltungen seitens der
Linken gegen die Stimmen der übrigen Kolleginnen und
Kollegen der Fraktion Die Linke angenommen .
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Ent-
schließungsantrag der Fraktion Die Linke auf der Druck-
sache 18/6692 . Wer stimmt für diesen Entschließungsan-
trag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit
ist der Entschließungsantrag mit Mehrheit abgelehnt .
Wir setzen die Abstimmungen zu den Beschlussemp-
fehlungen des Ausschusses auf der Drucksache 18/6688
unter dem Tagesordnungspunkt 27 b fort . Unter Buchsta-
be b empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antra-
ges der Fraktion Die Linke auf der Drucksache 18/5110
mit dem Titel „Bürgerinnen- und Bürgerversicherung
in der Pflege - Solidarische Pflegeversicherung einfüh-
ren“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist die Be-
schlussempfehlung gegen die Stimmen der Antragsteller
angenommen .
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchsta-
be c seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des
Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf der
Drucksache 18/6066 mit dem Titel „Gute Pflege braucht
sichere und zukunftsfeste Rahmenbedingungen“. Wer
stimmt dieser Beschlussempfehlung zu? - Wer stimmt
dagegen? - Dann ist auch diese Beschlussempfehlung
mit Mehrheit gegen die Stimmen der Oppositionsfrakti-
onen angenommen .
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 28 a und 28 b auf:
a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Bekämpfung von Doping im Sport
Drucksache 18/4898
Beschlussempfehlung und Bericht des Sportausschusses ({4})
Drucksache 18/6677
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Sportausschusses ({5}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Dr . André Hahn,
Katrin Kunert, Jan Korte, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion DIE LINKE
Anti-Doping-Gesetz für den Sport vorlegen
Drucksachen 18/2308, 18/6678
Zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung liegt ein
Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor .
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 60 Minuten vorgesehen . - Dazu kann ich
Einvernehmen feststellen .
Ich eröffne mit dieser Vereinbarung die Aussprache
und erteile zunächst dem Bundesminister Heiko Maas
das Wort .
({6})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Heute ist ein sportpolitisch historischer Tag . Mit diesem Gesetz wird der Kampf gegen das
Doping zu einem Fall für den Staatsanwalt . Das ist eine
Kampfansage an die Täuscher, Trickser und Betrüger im
Sport . Mit dem heutigen Tag stellen wir klar: Ein Leistungssportler, der dopt, handelt kriminell .
({0})
Wir haben es uns mit diesem Gesetz nicht einfach
gemacht . Hinter uns liegen Jahrzehnte der Diskussionen, der Appelle, des Beklagens und der gescheiterten
Versuche . Die ersten Dopingkontrollen bei Olympischen
Spielen gab es im Jahr 1968 . Das ist jetzt 47 Jahre her .
Aber in den Griff bekommen hat man das Problem bis
heute nicht . Gerade auch vor dem Hintergrund der aktuellen Geschehnisse, die man aus Russland und dem
Weltleichtathletikverband mitbekommt, muss man, glaube ich, attestieren: An der einen oder anderen Stelle ist
das Problem nicht kleiner, sondern möglicherweise sogar größer geworden . Bei allen Unternehmungen, die der
Sport bereits in die Wege geleitet hat, hat sich, wie wir
finden, gezeigt: Der Sport und seine Verbände brauchen
Unterstützung . Die bekommen sie jetzt, und zwar mit
diesem Anti-Doping-Gesetz .
({1})
Meine Damen und Herren, Ben Johnson, Diego
Maradona, Lance Armstrong und wie sie alle heißen: Sie
alle waren Ikonen des Sports . Aber sie alle haben manipuliert und betrogen, sie haben die Ideale des Sports
verraten, sie haben Titel und Medaillen verloren, und sie
haben Millionen Fans - nicht nur ihre eigenen - bitter
enttäuscht . Heute unterstützen viele Sportlerinnen und
Sportler unser Gesetz . Wir haben viele gute Hinweise
Präsident Dr. Norbert Lammert
bekommen: aus dem Sport, von Verbänden und auch von
Sportlerinnen und Sportlern . Das alles hat uns geholfen,
den Entwurf, den wir vorgelegt haben, noch besser zu
machen . Ich will dafür drei Beispiele nennen .
Erstens . Wir stellen im Gesetz ausdrücklich klar, dass
sich ein Sportler, der Dopingmittel besitzt, nur dann
strafbar macht, wenn er auch wirklich die Absicht hat,
sich dadurch einen Vorteil im sportlichen Wettbewerb zu
verschaffen . Dieser subjektive Tatbestand muss bei allen
Delikten immer gegeben sein . Wir schreiben das hier
aber ausdrücklich ins Gesetz und greifen damit die Sorge einiger Sportlerinnen und Sportler auf, die sich davor
fürchten, straffällig zu werden, weil ihnen irgendjemand
unbemerkt ein Dopingmittel in die Tasche untergeschoben hat .
({2})
Zweitens . Wir sorgen dafür, dass ein Leistungssportler seiner Strafbarkeit nicht dadurch entgeht, dass er
im Ausland dopt . Strafbar macht sich also auch, wer in
Deutschland gedopt an einem Wettbewerb teilnimmt,
und zwar völlig egal, in welchem Land er vorher Pillen
und Dopingmittel eingenommen hat . Damit verhindern
wir, dass das deutsche Recht umgangen wird, und wir
sorgen für Chancengleichheit gegenüber ausländischen
Athleten, die in Deutschland starten . Es macht sich also
auch strafbar, wer im Ausland dopt und beim Wettkampf
in Deutschland davon profitiert. Das ist richtig, und das
heißt: Gleiches Recht für alle .
({3})
Die dritte Verbesserung: Wir bauen eine goldene Brücke für Sportlerinnen und Sportler, die sich vom Doping
lossagen und zurück in die Legalität wollen . Wenn jemand aus freien Stücken den Besitz an Dopingmitteln
aufgibt und sie vernichtet oder abgibt, dann geht er
straffrei aus . Wer ernsthaft Reue und Umkehr zeigt, dem
kommt diese Passage des neuen Gesetzes entgegen .
Meine Damen und Herren, viele Sportlerinnen und
Sportler unterstützen diesen Gesetzentwurf, aber ich
weiß auch, dass es bei einzelnen Athleten immer noch
Skepsis gibt .
({4})
- Nur ruhig . Frau Künast, man hat den Eindruck, Sie sind
heute Morgen gedopt erschienen .
Ich will das aufgreifen, was sie gesagt haben, und
auch das, was es an Kritik gegeben hat . Wir haben das,
was geäußert wurde, sehr ernst genommen .
({5})
Chancengleichheit erreichen wir nicht durch Nachsicht,
meine sehr verehrten Damen und Herren . Das ist der
Grund, weshalb wir das Dopen unter Strafe stellen .
({6})
Chancengleichheit erreichen wir nur, wenn wir den Betrügern vollständig das Handwerk legen . Nur so können
wir den Druck von den einzelnen Athleten nehmen, dem
sie sich ausgesetzt sehen .
({7})
Wir müssen deshalb den Teufelskreis aus Doping und
Betrug stoppen . Wir haben uns entschieden, dazu auch
mit den Mitteln des Strafrechts vorzugehen . Dieses Gesetz wird den Sport - da bin ich mir vollkommen sicher sauberer, ehrlicher und fairer machen . Es wird die Sportverbände - entgegen dem, was vielleicht der eine oder
andere befürchtet - bei ihrem Kampf gegen das Doping
unterstützen .
({8})
Meine Damen und Herren, seit dem Jahr 2000 verpflichten sich alle Athleten im olympischen Eid zu einem
„Sport ohne Doping und ohne Drogen …, im wahren
Geist der Sportlichkeit“. Wir wollen, dass dieser Eid im
Sommer 2024 bei der Eröffnung der Olympischen Spiele
in Hamburg gesprochen wird .
({9})
Wie ernst wir unsere Bewerbung nehmen - es ist nicht
nur eine der Hamburgerinnen und Hamburger, sondern
mittlerweile eine unseres ganzen Landes -, zeigen wir
auch mit diesem Gesetz und der Ernsthaftigkeit, mit der
wir gegen Doping vorgehen . Mit dem neuen Gesetz werden wir im internationalen Vergleich deutlich vorne liegen .
Ich hätte vielleicht eine Anregung an die Verbände,
die große Sportveranstaltungen vergeben: das IOC, die
FIFA, die UEFA und wer auch immer . Wenn sie sich darauf verständigen könnten - sie alle sind ja Unterstützer
im Antidopingkampf -,
({10})
ihre Großereignisse zukünftig nur noch in Länder zu vergeben, die ein Anti-Doping-Gesetz haben, so wie wir es
haben werden,
({11})
dann würden sie der Glaubwürdigkeit ihrer Verbände einen Dienst erweisen .
({12})
Meine Damen und Herren, ich freue mich, dass diese wirklich sehr, sehr lange Diskussion heute zu einem
Abschluss geführt wird und wir mit diesem Anti-Doping-Gesetz nicht nur eine Kampfansage an die Doper
formulieren, sondern vor allen Dingen die große Masse
der ehrlichen Sportler besser schützen, als das in der Vergangenheit möglich gewesen ist .
Schönen Dank .
({13})
André Hahn erhält nun das Wort für die Fraktion Die
Linke .
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Drei Ereignisse erschütterten in den vergangenen Tagen und
Wochen die Sportwelt: der FIFA-Skandal, in dessen
Folge Sepp Blatter und UEFA-Präsident Platini suspendiert wurden, der dringende Verdacht des Stimmenkaufs
bei der Vergabe der Fußballweltmeisterschaft 2006 an
Deutschland mit einem katastrophalen Krisenmanagement des DFB, dessen Präsident dann zurücktreten
musste, sowie die Dopingskandale bei den Leichtathleten
Russlands und dem Internationalen Leichtathletik-Verband; der Minister hat es eben angesprochen . Alle drei
Ereignisse haben dem Sport, insbesondere dem Spitzensport, nachhaltig schweren Schaden zugefügt .
Spätestens hier wird klar: Gegen Doping, Korruption
und Manipulation im Sport müssen die Sportverbände,
die Politik und die Gesellschaft gemeinsam vorgehen,
mit null Toleranz, national wie international . Auch deshalb hat die Linke bereits im August 2014 einen Antrag
auf Vorlage eines Anti-Doping-Gesetzes für den Sport in
den Bundestag eingebracht . Deshalb unterstützt sie vom
Grundsatz her das Vorhaben der Koalition, ein derartiges
Gesetz zu beschließen .
Zugleich sind wir, die Linke, aber auch dafür, dass die
ost- und westdeutsche Geschichte des Dopings und der
Manipulation im Sport konsequent aufgearbeitet wird .
({0})
Die im wahrsten Sinne des Wortes erst vor wenigen
Stunden getroffene Entscheidung, einen Entschädigungsfonds für Dopingopfer mit einem Volumen von 10 Millionen Euro einzurichten, ist ohne Zweifel ein richtiger
Schritt . Wir brauchen aber endlich einen redlichen Umgang mit der Geschichte, eine ehrliche Bilanz und eine
akzeptable Lösung für die Dopingopfer in Ost und West .
({1})
Nun aber zum vorliegenden Anti-Doping-Gesetz . Am
17 . Juni 2015 führte der Sportausschuss eine öffentliche
Anhörung zum Gesetzentwurf der Koalition sowie zum
Antrag der Linken durch . In dieser Anhörung gab es zu
vielen Punkten zum Teil sehr kritische Einwendungen
sowohl vom Leichtathleten und Olympiasieger Robert
Harting als auch von Vertretern des DOSB sowie von der
Mehrzahl der anwesenden Juristen . Noch einmal: Die
Anhörung fand Mitte Juni statt . An diesem Dienstag, also
erst einen Tag vor der Beratung des Sportausschusses,
bekamen wir dann einen mehrere Punkte umfassenden
Änderungsantrag der Koalition präsentiert .
({2})
Bis zuletzt war völlig offen, ob es innerhalb der Koalition
überhaupt zu einer Einigung kommen würde .
({3})
Zwar steht das Anti-Doping-Gesetz, Herr Kollege
Schmidt, im Koalitionsvertrag;
({4})
aber Union und SPD stritten sich bis zuletzt sprichwörtlich wie die Kesselflicker, sodass es fast ein Wunder ist,
dass heute tatsächlich über einen gemeinsamen Entwurf
abgestimmt werden kann .
({5})
Doch das, meine Damen und Herren und Herr Kollege
Gienger, ist fast schon die einzige positive Nachricht . In
dem vorgelegten Änderungsantrag der Koalition sind die
aus meiner Sicht berechtigten Einwendungen aus der Anhörung nur unzureichend aufgenommen worden .
Wir als Linke haben zu diesem Thema seit langem
eine klare Position: Doping im Sport, um sich gegenüber
anderen Sportlerinnen und Sportlern einen Wettbewerbsvorteil zu verschaffen, gefährdet nicht nur die Gesundheit, sondern ist auch eine Gefahr für den Sport als solchen und für die Werte, die durch ihn in die Gesellschaft
transportiert werden .
({6})
Es geht hier nicht um das Recht auf Selbstschädigung .
Hier geht es schlicht und einfach um Betrug; auch da
gebe ich dem Minister recht . Genau deshalb haben wir
vor anderthalb Jahren unseren Antrag eingereicht . Zu
den Vorschlägen der Linken gehörte die Einführung eines neuen Straftatbestandes Sportbetrug in das Strafgesetzbuch, die Erweiterung bestehender Strafvorschriften
für den Handel mit Dopingmitteln sowie der zwingende
Entzug der Approbation für Ärztinnen und Ärzte, die
nachweislich an Dopinganwendungen beteiligt waren .
Pharmazeutische Unternehmen sollten verpflichtet werden, bei Produkten, welche zum Doping geeignet sind,
entsprechende Warnhinweise auf den Verpackungen anzubringen . Für den Schutz von Whistleblowern wollten
und wollen wir bereichsspezifische Regelungen schaffen.
Mit unserem Antrag werden auch deutlich verschärfte
Sanktionen für Spitzensportlerinnen und -sportler vorgeschlagen, welche Eigendoping mit dem Ziel betreiben,
sich einen unlauteren Vorteil im sportlichen Wettbewerb
zu verschaffen . Bei Wiederholungstätern sollten auch
Freiheitsstrafen verhängt werden können . Die Geldbußen sollten sich jeweils an der Höhe der direkt oder mittelbar durch den Sport erzielten Einnahmen orientieren,
könnten also, wie Gehalt, Siegprämien und Einnahmen
aus Werbeverträgen, von Sportart zu Sportart durchaus
unterschiedlich sein .
Anders als manche Skeptiker sehen wir in einem Anti-Doping-Gesetz keine Beeinträchtigung oder Aushöhlung der Sportgerichtsbarkeit . Beides kann problemlos
nebeneinander funktionieren . Die Verbände können bei
Dopingvergehen weiterhin die in ihren Satzungen vorgesehenen Wettkampfsperren aussprechen . Bei gravierenden Verstößen gegen Dopingbestimmungen oder bei
Wiederholungstätern kann künftig aber auch die Staatsanwaltschaft tätig werden . Ich wiederhole: Das ist keine unzulässige Doppelbestrafung . Schon heute wird ein
Fußballer gemäß Regelwerk nach einer Tätlichkeit vom
Platz gestellt und entsprechend gesperrt; darüber hinaus
kann es dennoch ein Ermittlungsverfahren wegen Körperverletzung geben .
({7})
Bei Sportlern, die am Ende ihrer Karriere stehen, können
Wettkampfsperren aber gänzlich ins Leere laufen, wenn
sie ihre Laufbahn einfach beenden . Gerade hier erhöht
eine Strafbarkeit von Doping die Hürde, sich entsprechender Mittel zu bedienen .
Bei der Einbringung unseres Antrags hatte ich zudem
deutlich gemacht, dass wir es für ganz wichtig halten,
auch auf Bundesebene Prävention zu betreiben . Aus unserer Sicht soll im Jugend- und Nachwuchssport, im Fitnessbereich sowie in der Aus- und Weiterbildung der in
diesem Umfeld tätigen Personen über die Wirkung von
anabolen Steroiden, Nahrungsergänzungsmitteln und
sporttypischen Aufbaupräparaten aufgeklärt und eine unabhängige Ombudsstelle eingerichtet werden .
({8})
Der von uns vorgelegte Antrag zielt hinsichtlich der
strafrechtlichen Maßnahmen ganz bewusst auf die Dopinganwendung im Hochleistungssport, nicht aber auf
die gesundheitliche Gefährdung durch Selbstdoping oder
die Einnahme verbotener Substanzen, zum Beispiel von
Anabolika in Fitnessstudios . Dies kann weder in einem
Gesetz geregelt noch wirksam kontrolliert werden .
Mit unserem Antrag wollten wir als Linke konstruktive Vorschläge für ein Anti-Doping-Gesetz unterbreiten .
Natürlich messen wir den nun vorliegenden Gesetzentwurf an jenen Kriterien, die wir vor 16 Monaten formuliert haben . Wenn man dies als Maßstab nimmt, muss
man sagen, dass der Regierungsentwurf zwar in die richtige Richtung geht, zentrale Forderungen, die auch in
der Anhörung formuliert wurden, aber unberücksichtigt
lässt .
Ich frage: Warum gibt es keine gesetzliche Verpflichtung des Bundes zur Prävention? Warum hat man darauf
verzichtet, endlich eine wirklich unabhängige Ombudsstelle einzurichten, an die sich Athleten, Trainer, Ärzte
oder auch Eltern von Sportlern vertrauensvoll wenden
können? Die bei der NADA geschaffene Stelle, auf die
man im Ausschuss hingewiesen hat, wird von den Betroffenen offenkundig nicht angenommen .
({9})
Das wurde in der Sitzung des Sportausschusses am Mittwoch deutlich .
({10})
Mich persönlich wundert das nicht; denn ein Athlet, der
irgendein Problem mit oder Hinweise auf Doping hat,
wird sich nicht ausgerechnet an eine Institution wenden,
die Dopingsünder verfolgt und die Daten für deren eventuelle Bestrafung liefert . Wir brauchen endlich eine wirklich unabhängige Anlaufstelle .
({11})
Doch davon ist im Gesetzentwurf ebenso wenig die
Rede wie von einem echten Schutz für Whistleblower .
Aber ohne die Information von Insidern - das zeigen alle
bisherigen Erfahrungen - wird es kaum möglich sein,
Dopingstrukturen aufzudecken und Hintermänner zur
Rechenschaft zu ziehen . Im vorliegenden Gesetzentwurf
findet sich auch keine Kennzeichnungspflicht für Medikamente, die Dopingsubstanzen enthalten, keine klare
Regelung zum Approbationsentzug für Ärzte, die Doping anwendungen unterstützen, obwohl dies gerade vonseiten der Sportler auch in der Anhörung gefordert worden ist . Die Koalition hat sich lediglich auf den kleinsten
gemeinsamen Nenner geeinigt . Das wird den Herausforderungen in diesem schwierigen Themenbereich nicht
einmal ansatzweise gerecht . Wir als Linke unterstützen
durchgreifende Maßnahmen zur Dopingbekämpfung .
Der vorliegende Gesetzentwurf erfüllt diesen Anspruch
leider nicht .
Herzlichen Dank .
({12})
Nächster Redner ist der Parlamentarische Staatssekretär im Bundesinnenministerium Günter Krings .
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Schon die Aussprache in der ersten Beratung zum
vorliegenden Entwurf eines Gesetzes zur Bekämpfung
von Doping im Sport hat gezeigt: Wir sind uns erfreulicherweise zumindest darin einig, dass Doping im Sport
nicht nur den Sport unmittelbar gefährdet, sondern auch
die mit ihm verbundenen Werte; denn: Sport verbindet,
und Sport vermittelt Werte wie Integrität und Fairness .
Wird im Sport betrogen, fühlen sich nicht nur die
Konkurrenten betrogen, sondern auch wir, die wir als
Zuschauer mitfiebern und sportliche Leistungen bewundern, ebenso wie junge Menschen, für die Sportler Idole
sind, die in Sportlern Vorbilder sehen, die ihre LeistunDr. André Hahn
gen durch hartes Training und Verantwortungsbewusstsein erreichen und eben nicht durch den Gebrauch von
illegalen Substanzen . Was wir alle, Leistungssportler,
Freizeitsportler oder eben nur Zuschauer, im Sport nicht
wollen, das ist Betrug und Unfairness .
({0})
Es ist richtig: Wir können Doping im Sport nicht gänzlich
ausrotten . Das zu glauben, wäre naiv; das tut vermutlich
auch niemand . Aber wir können das uns Mögliche tun,
um Doping im Leistungssport einzudämmen und besser
zu bekämpfen .
Der heute zur Abstimmung vorliegende Gesetzentwurf ist mit seinen Strafvorschriften unter anderem an
den selbst dopenden Leistungssportler adressiert; Breitensportler werden gerade nicht erfasst .
Zum Teil ist die Kritik geäußert worden, Strafrecht sei
hier nicht das richtige Mittel, um gegen Doping vorzugehen, Sportler - so wurde gesagt - würden hierdurch kriminalisiert . Meine Damen und Herren, Leistungssportler,
die Dopingmittel oder Dopingmethoden anwenden, sollen ja kriminalisiert werden . Das ist doch der Sinn des
Strafrechts: als Ultima Ratio Täter eines sozial in hohem
Maße als schädlich empfundenen Verhaltens mit strafrechtlichen Sanktionen zu überziehen . So sieht das im
Rechtsstaat eben aus .
({1})
Das Sportrecht und seine Sanktionsmöglichkeiten
haben natürlich weiterhin Geltung . Aber es hat sich in
der Vergangenheit eben gezeigt, dass der Sport allein
nicht in der Lage ist, wirkungsvoll gegen Doping im
Leistungssport vorzugehen . Erlauben Sie mir in diesem
Zusammenhang die Bemerkung: Ohnehin scheint mir in
diesen Tagen das Vertrauen der Öffentlichkeit in die bloßen Selbstregulierungskräfte im deutschen und im internationalen Sport ein wenig abzunehmen .
({2})
Die Probleme mit einer sportinternen Dopingbekämpfung hängen zum einen mit dem Umstand zusammen,
dass dem Sport die tauglichen Ermittlungsinstrumente
fehlen . Dopingfälle können bisher im Wesentlichen nur
verfolgt werden, wenn positive Dopingproben bereits
vorliegen . Sachverhalte, die zum Beispiel den Besitz von
Dopingmitteln betreffen, waren in der Vergangenheit
faktisch bedeutungslos .
Wir brauchen das Strafrecht aus generalpräventiven
Zwecken . Wir brauchen es aber auch aus Repressionsgründen . Ich verbinde mit den neuen strafrechtlichen Regelungen die Erwartung, dass das Entdeckungsrisiko für
den dopenden Sportler und damit für seine Helfer deutlich gesteigert wird .
Es geht beim Doping im Sport eben nicht nur um den
Einzeltäter, nicht nur um den einen dopenden Sportler,
es geht auch nicht nur um den einen Dopingmittel verabreichenden Arzt, sondern es geht hier um kriminelle
Strukturen, ja, auch um organisierte Kriminalität . Die
Strafvorschriften im Entwurf des Anti-Doping-Gesetzes
erlauben den staatlichen Ermittlungsbehörden die umfassende Sachverhaltsaufklärung über den Einzelfall hinaus . Hierdurch können Strukturen aufgedeckt und kann
Doping nachhaltiger und besser bekämpft werden .
Die Sportgerichtsbarkeit - sie ist eben angesprochen
worden - hat unstreitig ihre Berechtigung für Streitigkeiten im Sport, und sie wird diese Berechtigung auch
behalten . Das will ich hier sehr klar erklären .
({3})
Sie sorgt für schnelle Verfahren und auch für schnelle,
sachgerechte Entscheidungen in vielen Einzelfällen .
Darüber hinaus ermöglicht sie, die Besonderheiten des
Sports in ganz besonderer Weise zu berücksichtigen und
gleichartige Fälle auch gleichartig zu behandeln, was
wiederum der Fairness dient . Aber dem Sport selbst fehlen eben die Aufklärungsmöglichkeiten . Sportorganisationen fehlen die Aufklärungsmöglichkeiten, wie sie staatlichen Ermittlungsstellen zur Verfügung stehen . Deshalb
brauchen wir beide: Sportgerichtsbarkeit und für die
wirklich schweren Fälle als Ultima Ratio das Strafrecht .
Über die Besitzstrafbarkeit wurde bereits ausführlich
gesprochen . Ich denke, allen hier, die sich ein wenig intensiver damit beschäftigt haben, ist inzwischen klar geworden, dass nur der Besitz mit der Absicht, das Dopingmittel auch anzuwenden, unter Strafe gestellt werden
soll . Damit sind die immer wieder ins Feld geführten Fälle des Unterschiebens von Dopingmitteln - der Bundesjustizminister hat darauf hingewiesen - natürlich gerade
nicht von der Strafbarkeit nach dem Anti-Doping-Gesetz
erfasst .
({4})
Deswegen sind auch die geäußerten Befürchtungen Unsinn . Die Strafverfolgungsbehörden und letztlich das Gericht müssen den Vorsatz ersten Grades - so nennen die
Juristen das - nachweisen . Andernfalls gibt es keine Verurteilung . Vor dem Hintergrund, dass mit dem Gesetzentwurf auch der mengenunabhängige Besitz unter Strafe
gestellt ist, ist es auch gut, dass wir die Versuchsstrafbarkeit im Hinblick auf den Besitz hier herausgenommen
haben .
Bei allem darf natürlich nicht unerwähnt bleiben, dass
es am allerbesten wäre, wenn es dieses Gesetzes überhaupt nicht bedurft hätte . Ich möchte deshalb ausdrücklich auch auf die Präventionsarbeit hinweisen, die schon
heute geleistet wird, allen voran von den Sportverbänden
und auch der NADA . Die Präventionsarbeit geht dabei
gerade auf die jungen Sportlerinnen und Sportler zu .
Diese jungen Menschen müssen klar und deutlich und,
wo nötig, auch drastisch erfahren - möglichst nicht erst
durch den Strafrichter -, was sie ihrem Körper, ja, was
sie ihrer Seele durch Doping antun können .
Meine Damen und Herren, wie alle anderen gesellschaftlichen Bereiche stehen sportliche Aktivitäten natürlich unter dem Schutz unserer Privatautonomie, unter
dem Schutz entsprechender Grundrechte . Damit steht der
Sport aber natürlich nicht außerhalb unserer Rechtsordnung . Durch ein Gesetz gegen Doping im Sport leisten
wir deshalb unseren offenbar notwendigen Beitrag, den
Sport dabei zu unterstützen, sauber und attraktiv zu bleiben .
Ich freue mich, dass wir über dieses notwendige Gesetz heute abstimmen können . Dem integren Sportler und
der integren Sportlerin, aber eben auch dem sauberen
Sport insgesamt tut dieses Gesetz gut . Ich bitte Sie daher
um Zustimmung .
({5})
Das Wort erhält nun die Kollegin Renate Künast für
die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen .
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr
geehrter Herr Maas, bei Ihrer Rede hatte ich ein Déjà-vu,
und das lag nicht daran, dass in dem Darjeeling, den ich
heute früh hier im Restaurant zum Frühstück getrunken
habe, irgendetwas drin gewesen wäre .
({0})
Ich habe den Eindruck, Ihre Reden fangen immer so an:
Heute ist ein toller Tag .
({1})
Na ja, heute ist Freitag, der 13 . Mir ist bisher nichts passiert . Insofern ist es ein toller Tag . Aber mit: „Heute ist
ein toller Tag“, fing auch die Rede zur sogenannten Mietpreisbremse an .
({2})
Leider stellen wir später fest, dass sich die Realität nicht
nach diesen Redebeginnen des Ministers richtet .
({3})
Es ist bei der Mietpreisbremse so und auch hier . Das
muss man einmal feststellen .
Auch wenn Sie, Herr Maas, Kritik an diesem Gesetzentwurf zurückweisen, finde ich es putzig, dass wir in
diesen Zeiten ein Gesetz verabschieden, dessen erster
Paragraf mit „und damit zur Erhaltung der Integrität des
Sports beizutragen“ endet.
({4})
Erhaltung von Integrität?
({5})
Meine Damen und Herren, da stimmt schon das Ziel
nicht; denn der Leistungssport hat im Augenblick gar
keine Integrität . Welche meinen Sie denn? Meinen Sie
die, die sich im Schattenreich bewegen? FIFA-Funktionäre?
({6})
Einige - mindestens einige - DFB-Funktionäre? Oder
den Leichtathletik-Weltverband? Von welchem Erhalt,
von welcher Integrität ist in diesem Gesetzentwurf eigentlich die Rede? Ich glaube, Sie doktern an einem unsauberen Sport herum
({7})
und meinen, es jetzt mithilfe des Strafgesetzbuchs, indem
Sie gegen Einzelne vorgehen, richten zu können . Meine
Damen und Herren, ich denke aber, dass sich so nichts
massiv verändert .
Geht es um die Frage, wie der Sport wirklich zu Integrität kommt, muss man doch feststellen, dass der Leistungssport heute gar keine Vorbildwirkung mehr hat,
dass er von Abhängigkeiten und Seilschaften bestimmt
ist und dass wir dem eigentlich entgegensetzen müssten,
dass in Zukunft die Standards tatsächlich zu Standards
werden sollen, dass Vergütungen offengelegt werden,
dass Verträge nicht mehr mündlich geschlossen werden
und dann nach Jahren 2 Millionen Euro für bestimmte
Leistungen gezahlt werden, bei denen keiner mehr sieht,
ob sie erbracht wurden . Da hilft kein sogenanntes Anti-Doping-Gesetz . Die Strukturen im Leistungssport sind
von Grund auf falsch . Das müsste unser Ausgangspunkt
sein .
({8})
Ich habe vorgestern zum ersten Mal die Situation erlebt, dass Herr Grindel und ich einer Meinung waren .
({9})
Das war am Anfang der Legislaturperiode so nicht abzusehen, Herr Grindel .
({10})
- Ich glaube auch; wahrscheinlich ändert es sich jetzt
gleich . - Ich weiß gar nicht, ob er sich als Mitglied des
Sportausschusses oder des Rechtsausschusses, als Präsidiumsmitglied des DFB oder als etwas Zukünftiges geäußert hat,
({11})
zumindest in diesem einen Punkt waren wir einer Meinung: Das gesamte System im Profisport ist falsch.
({12})
Ich glaube, so müssen wir darüber diskutieren . Es
hilft nicht, Regelungen zur Strafbarkeit von Sportlern zu
treffen, wenn man, wie jetzt beim Thema Leichtathletik - Stichwort: Russland usw . - merkt: Wir haben zwar
Institutionen, die zum Beispiel „Anti-Doping Agentur“
heißen, die es aber leider komplett verpassen, sich um
genau dieses Thema zu kümmern .
({13})
- Vertuschung, ja . - Meine Damen und Herren, wenn irgendeine andere Behörde so arbeiten und mit ihrer Aufgabenstellung so umgehen würde, würden wir alle, wie
beim Thema Verfassungsschutz, sagen: Auflösen und neu
gründen! Hier stimmt diese Forderung meines Erachtens
auch .
Ich will Ihnen sagen, warum ich das kritisch sehe und
warum ich auf die Strukturen eingegangen bin . Das Strafrecht soll Ultima Ratio sein . Ich glaube, Sie behandeln es
hier nicht so . Winfried Hassemer hat einmal gesagt:
Der Strafgesetzgeber
- das sind wir ist in der Wahl der Anlässe und der Ziele seines
Handelns nicht frei; er ist beschränkt auf den Schutz
elementarer Werte des Gemeinschaftslebens …
Ich sage Ihnen: Fairness oder Integrität im Sport sind
keine elementaren Werte des Gemeinschaftslebens . Das
ist kein Fall fürs Strafrecht . Es ist Aufgabe des organisierten Sports selber, Doping und auch Korruption endlich systematisch und ordentlich zu bekämpfen .
({14})
Ich mache mir langsam Sorgen um unser Rechtssystem,
da es mit immer mehr Aufgaben belastet wird - das betrifft den Staat, die Staatsanwaltschaften, die Gerichte
und die Steuerzahler -, die ein hochpotenter Wirtschaftsbereich bitte selber erfüllen sollte . Man kann ja zum Beispiel über Betrug im Sport reden . Aber auch da muss die
Ultima-Ratio-Regel gelten .
Ich meine, heute ist kein besonders guter Tag .
({15})
Sport und Integrität werden in Zukunft erst dann wieder, ohne zu einer Lachnummer zu werden, ordentlich
in einen Satz passen, wenn sich der Sport und seine
Funktionäre selber als Vorbilder auf den Weg machen .
Die Vorbildfunktion und die Integrität beginnen bei den
Funktionären und, ehrlich gesagt, nicht bei den Sportlern .
({16})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Dagmar Freitag für
die SPD-Fraktion .
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Nach der Rede der Kollegin Künast erlaube ich mir zunächst, zur Sachlichkeit zurückzukehren .
({0})
Deutschland bekommt ein Anti-Doping-Gesetz, nach
rund zwei Jahrzehnten - nennen wir es einmal so - anhaltender, kontroverser und teilweise auch ziemlich verletzender Diskussionen in Sport und Politik, mit und unter
Juristen . Einheitliche Linien waren in keinem der drei
genannten Bereiche zu erkennen . Es gab überall Befürworter und auch erbitterte Gegner .
Wenn ich mich recht erinnere: Allein die bloße Erwähnung des Begriffes „Anti-Doping-Gesetz“ trieb manchen
Vertreter des organisierten Sports über Jahre geradezu auf
die berühmte Palme, aber - das ist, glaube ich, auch der
Kollegin Künast entgangen - nicht alle, längst nicht alle .
Es hatte sich nämlich mittlerweile auch bei Verbandsvertretern die Erkenntnis durchgesetzt, dass allein mit Kontrollen im Training und im Wettkampf der Kampf gegen
Doping nicht zu gewinnen ist .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit der Verabschiedung des heutigen Gesetzentwurfes findet in unserem
Land in der Tat ein Paradigmenwechsel statt . Liegt ein
Verdacht vor oder gibt es entsprechende Hinweise, steht
demnächst eben nicht nur, wie bisher, das Umfeld der
Sportler im Fokus, sondern der Sportler gerät auch selbst
in den Fokus staatlicher Ermittlungen, sofern er der definierten Zielgruppe angehört .
Wir wollen mit diesem Gesetzentwurf erreichen, dass
alles getan wird, um saubere Sportlerinnen und Sportler
zu schützen . Das alleine ist die Motivation .
({1})
Herr Staatssekretär Krings hat bereits darauf hingewiesen: Natürlich ist dieser Gesetzentwurf kein Allheilmittel, aber er ist aus unserer Sicht ein ganz unverzichtbarer Baustein in diesem großen Puzzle des Kampfs
gegen Doping .
({2})
Wollen wir denn wirklich weiterhin tatenlos zusehen,
wie Betrüger im Sport - ob als Aktive oder, Frau Kollegin Künast, auch als korrupte Funktionäre, wie jetzt im
Internationalen Leichtathletikverband - dem Sport mit
seinen so wunderbaren Werten, wie Fairness, Respekt
und Völkerverständigung, schaden und ihn vor die Hunde gehen lassen? Wir wollen das jedenfalls nicht .
Ich muss sagen: Vor diesem Hintergrund wirkt es geradezu absurd, dass der erbittertste Widerstand über JahRenate Künast
re ausgerechnet von der Spitze des organisierten Sports
in Deutschland gekommen ist .
Frau Künast, ich sage Ihnen: Das, was Sie gerade gemacht haben, geht nicht . Sie haben eine Pauschalverurteilung des Sports vorgenommen .
({3})
- Ich höre immer zu, wenn Sie reden, Herr Kollege
Mutlu; das gilt immer besonders, wenn jemand von der
Fraktion Die Grünen redet .
({4})
Frau Kollegin, diese Pauschalverurteilung des Sports
war eine Beleidigung für alle, die im Sport für Integrität
und Sauberkeit kämpfen . Die gibt es nämlich auch . Schade, dass Sie sie offensichtlich nicht kennen .
({5})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn wir über Doping reden, dann reden wir eben nicht über eine lästige
oder lässliche Begleiterscheinung im Sport . Nein, wir reden mittlerweile nämlich über eine Industrie ungeahnten
Ausmaßes, unbestritten über eine Form von organisierter
Kriminalität und über unzählige Menschen, die auf der
einen oder anderen Seite involviert sind . Auf der einen
Seite sind die Hersteller, die Dealer, die Verabreicher, die
Konsumenten, die Athleten mit ihren erbeuteten Siegen,
Medaillen, Prämien und im Idealfall auch fetten Sponsorenverträgen, und auf der anderen Seite sind die Forscher
in den Laboren, die Dopingjäger der nationalen Antidopingagenturen - Russland im konkreten Fall einmal ausgenommen -, die Kontrolleure und eben die sauberen
Athleten, die um Siege, Medaillen, Prämien, emotionalste Momente und vielleicht auch fette Sponsorenverträge
betrogen wurden .
({6})
Die diesem Gesetzentwurf zugrundeliegenden strafrechtlichen Regelungen werden die unbestrittenen Möglichkeiten des Sports zu schnellen Sanktionen des Sports
nicht schwächen und schon gar nicht aushebeln; denn
es sind nicht vergleichbare Verfahren . Daher bleibt es
auch in Zukunft so: Der Sport bleibt bei seinen schnellen
Sanktionen und der Staat bei seinen gegenüber dem Sport
natürlich unbestritten überlegenen Ermittlungsmethoden .
Kurzum: Jeder soll das machen, was er am besten kann .
Auch auf staatlicher Seite sehe ich noch ein wenig
Luft nach oben; denn auch hier braucht es Experten . Diese findet man ganz zweifellos in Anti-Doping-Schwerpunktstaatsanwaltschaften .
({7})
Und da muss ich schon darauf hinweisen, dass leider nur
2 unserer 16 Bundesländer hier ernst machen, nämlich
der Freistaat Bayern und das Bundesland Baden-Württemberg . Sie sind sozusagen einsame Vorreiter in der
Riege der Bundesländer .
({8})
Ich appelliere daher an die Bundesländer, uns im Kampf
gegen Doping zu unterstützen und ihren Teil dazu beizutragen .
({9})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich habe eingangs
darauf hingewiesen: Wir haben mehr als zwei Jahrzehnte
um solch einen Gesetzentwurf gerungen. Ich finde, es ist
an der Zeit, Dank zu sagen, Dank an alle, die zum Zustandekommen des Gesetzentwurfs beigetragen haben .
Da darf ich insbesondere Justizminister Heiko Maas
erwähnen, der schon zu Beginn seiner Amtszeit klargemacht hat, dass er so ein Gesetz möchte .
({10})
Ich danke auch meiner Fraktion, meiner Arbeitsgruppe
und insbesondere dem Sprecher der Arbeitsgruppe Recht
und Verbraucherschutz, unserem Kollegen Johannes
Fechner, der uns ebenfalls nach Kräften unterstützt hat .
Ein weiterer Dank geht an die Minister de Maizière und
Gröhe . Es war eine Gemeinschaftsaktion . Vielen Dank
an alle, die dazu beigetragen haben, auch dem Koalitionspartner, der nach Anlaufschwierigkeiten nun mit im
Boot sitzt . Vielen Dank, liebe Kolleginnen und Kollegen,
dafür .
({11})
Ich bin fest davon überzeugt, es wird für Doper in unserem Land etwas ungemütlicher . Das ist doch wirklich
eine gute Nachricht. Ich bin sicher, irgendwann finden
auch Bündnis 90/Die Grünen das gut .
({12})
Nächster Redner ist der Kollege Özcan Mutlu für
Bündnis 90/Die Grünen .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben
es schon gehört: In den vergangenen Wochen hat uns die
Welt-Anti-Doping-Agentur ihren Bericht über deutliche
Unregelmäßigkeiten im Kampf gegen Doping vorgelegt .
Die Ergebnisse, die in den Medien breit diskutiert
worden sind, sind erschreckend: In Russland - ich glaube, das ist nicht das einzige Land, das damit Probleme
hat - besteht ein von der Regierung gedecktes System
des organisierten Dopings . Unfassbar ist die Erkenntnis,
dass die Tests erst von russischen Ärzten geprüft worden
sind, bevor sie zu einem unabhängigen akkreditierten
Dopinglabor gegangen sind . Wenige Tage zuvor nahmen
französische Behörden Ermittlungen gegen den Alterspräsidenten des internationalen Leichtathletikverbandes
auf . Der Vorwurf war gravierend: Er habe mithilfe enger
Verwandter ein Schmiergeld- und Schutzgeldsystem etaDagmar Freitag
bliert, in dem sich gedopte und erwischte Sportler regelrecht freikaufen konnten .
Diese Vorfälle sind Belege dafür, dass der organisierte
Sport ein massives und ernsthaftes Problem mit Doping
hat . Ich zitiere aus einer Studie aus Deutschland, des
BISp, aus 2013:
6 % der deutschen Spitzensportler geben die regelmäßige Einnahme von Dopingmitteln ehrlich zu .
({0})
10 % der deutschen Spitzensportler geben ehrlich
zu, dass sie schon einmal an Absprachen über den
Spiel- bzw . Wettkampfausgang beteiligt waren .
Das waren anonymisierte Umfragen . Deshalb kann man
davon ausgehen, dass diese Zahlen stimmen .
({1})
Meine Damen und Herren, wir lehnen wie alle Fraktionen in diesem Hause Doping im Sport in aller Deutlichkeit ab .
({2})
Frau Kollegin Freitag, das sollten Sie bereits mitbekommen haben .
({3})
Wir wollen aber auch nicht verhehlen, dass der organisierte Sport immer noch zu wenige Anstrengungen
unternimmt, um Doping im Sport einzudämmen . Denn
die Vorfälle beim IAAF und in Russland zeigen, dass es
nicht nur der Sportler oder die Sportlerin ist, Frau Kollegin Freitag, sondern es sind die Strukturen um den Sportler, um die Athletin herum: Trainer, Ärzte, Funktionäre,
aber auch Medien und Sponsoren, die ein starkes eigenes
Interesse an Höchstleistungen des Sportlers haben .
({4})
Und da greift Ihr Gesetz eben nicht .
({5})
Wir als Gesetzgeber sollten Abstand davon nehmen,
eine einseitige und so weitgehende Kriminalisierung der
Sportlerinnen und Sportler in Deutschland vorzunehmen .
Herr Krings, genau das wird mit Ihrem Gesetz passieren .
Deshalb haben wir damit ein Problem .
Es geht beim Doping hauptsächlich um den Tatbestand Sportbetrug - das wurde hier auch vom Kollegen
Hahn gesagt -, der mit der Absicht begangen wird, wirtschaftliche Gewinne zu erzielen .
Kollege Mutlu, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Freitag?
Nein, ich habe nur noch 50 Sekunden Redezeit . Ich
möchte jetzt weiterreden .
({0})
Die Frage und die Antwort würden nicht auf Ihre Redezeit angerechnet werden .
Ja, ich weiß, Herr Präsident . Aber ich möchte trotzdem in meiner Rede weitermachen .
({0})
Ich möchte für meine Fraktion noch einmal feststellen, dass der Griff zum Strafrecht, wenn überhaupt, nur
der allerletzte Schritt sein darf und gut begründet werden
muss. Ihre Begründung mit Begrifflichkeiten wie „Integrität des Sports“ oder „Fairness im Sport“ greifen zu
kurz .
Wir müssen uns bei der Bekämpfung des Dopings
insbesondere mit der Leistungsspirale im Sport auseinandersetzen . Immer höher, immer schneller, immer weiter und eine ausufernde Kommerzialisierung des Sports
sind die wahren Ursachen von Doping . Diese Ursachen
müssen wir gemeinsam mit dem Sport bekämpfen, statt
Begrifflichkeiten wie „Fairness im Sport“ zu bemühen.
Im Sport geht es leider nicht mehr um die olympische
Idee . Es geht um Milliarden, die dabei umgesetzt werden .
Diese Fakten, diesen Tatbestand sollte man in einem Antidopinggesetz abbilden .
Wir brauchen mehr Prävention, eine Evaluierung und
den Ausbau der Dopingforschung . Wir sind auch der
Meinung, dass eine rechtspolitisch fragwürdige Ausweitung von Befugnissen der NADA sehr problematisch ist .
Wir brauchen eine tatsächlich unabhängige Ombudsstelle oder eine Ombudsperson . Wir brauchen vielleicht
auch im Sport etwas Ähnliches wie einen Whistleblower-Schutz, damit Athletinnen oder Athleten, die der
Meinung sind, dass das Dopen von Kollegen nicht mehr
angeht, und dies aufgrund der Strukturen nicht offen sagen wollen, geschützt sind .
Auf all diese Dinge wird in dem Gesetzentwurf nicht
eingegangen . Deshalb werden wir, obwohl wir mit Ihnen
an dem Ziel, Doping zu bekämpfen, festhalten, diesem
Gesetzentwurf nicht zustimmen .
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit .
({1})
Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort der
Kollegin Freitag .
Vielen Dank, Herr Präsident . - Der Kollege Mutlu hat
einmal darauf verwiesen, dass das Umfeld des dopenden
Sportlers nicht erfasst würde . Das ist natürlich nicht richtig . Es war im Übrigen bisher schon so, dass das Umfeld
erfasst wurde . Ein Blick ins Arzneimittelgesetz würde im
Zweifel weiterhelfen .
Herr Kollege Mutlu, es geht mir aber um einen anderen Punkt Ihrer Rede . - Herr Kollege Mutlu, ich weiß
nicht, wem Sie gerade zuhören, der Frau Kollegin Künast
oder mir .
({0})
- Wunderbar! Multitalente beeindrucken mich immer
besonders .
({1})
Herr Kollege Mutlu, Sie haben vor allen Dingen kritisiert, dass der dopende Sportler selbst in den Fokus staatlicher Ermittlungen rückt . Darf ich Sie darauf hinweisen,
dass es erklärtes Ziel der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen in früheren Jahren war, genau dies zu machen? Ich
darf, Herr Präsident, dem Kollegen Mutlu kurz ein Zitat
zur Kenntnis geben .
Einer Ihrer Vorgänger, nämlich der anerkannte
Sport experte Winfried Hermann, heute Minister in Baden-Württemberg, wird im Jahr 2007 mit dem Hinweis
zitiert, der damalige Gesetzentwurf der Großen Koalition mache „einen weiten Bogen um den Sportler selber“;
denn selbst mit den neuen Strafregelungen mache sich
ein Sportler, der dopt, nicht strafbar . - Das war damals
im Jahr 2007 richtig . Ich frage Sie jetzt: Woher kommt
der Sinneswandel in Ihrer Fraktion, dass Sie heute kritisieren, dass diese Regierungskoalition genau das jetzt
durchsetzen will?
({2})
Vielen Dank .
Der Kollege Mutlu hat die Möglichkeit, darauf einzugehen, wenn er das möchte .
({0})
Ich kann es kurz und schmerzlos machen . - Frau
Vorsitzende des Sportausschusses, wenn Sie sich unseren Entschließungsantrag zu Ihrem Gesetzesvorhaben
gründlich durchgelesen hätten,
({0})
würden Sie wissen, dass es hier nicht um einen grundlegenden Sinneswandel geht,
({1})
sondern es geht darum, dass wir das Strafgesetz erst im
allerletzten Fall bemühen wollen . Es steht im Entschließungsantrag ganz ausdrücklich: Wenn keine anderen
Wege möglich sind, dann ist natürlich auch die Einführung eines Straftatbestands Sportbetrug zu prüfen . Das
ist, denke ich, deutlich und klar, und wenn Sie sich das
noch einmal durchlesen, werden Sie es auch merken .
({2})
Nächster Redner ist für die CDU/CSU der Kollege
Eberhard Gienger .
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Frau Künast, zunächst einmal muss ich meiner Kollegin
Frau Freitag recht geben: Mit Pauschalverurteilungen
des Sports kommen Sie nicht weiter . Und was den Beifall in diesem Hause betrifft, wurde ich an Karl Valentin
erinnert, der sagte: „Der Beifall wollte keinen Anfang
nehmen.“
({0})
Das vorliegende Gesetz stellt einen bedeutenden Fortschritt im Kampf gegen Doping dar . Die Vergangenheit
hat uns gelehrt, dass der organisierte Sport offensichtlich
doch nicht in der Lage ist, das Dopingproblem in den
Griff zu bekommen . Darüber hinaus zeigt sich aktuell das wurde heute schon mehrfach erwähnt -, dass der
Weltleichtathletikverband eine erschreckende Szenerie
von nie dagewesenem Ausmaß generiert hat . Darin ist
wohl nicht nur der ehemalige Präsident des Verbandes involviert, sondern auch gleich noch ein von der internationalen Anti-Doping-Agentur akkreditiertes Dopinglabor
in Russland, nationale Fachverbände, Trainer und nicht
zuletzt auch die dopenden Sportler selbst .
Eine derartige Erosion und Zerstörung der Ideale des
Sports hat es meiner Meinung nach noch gar nie gegeben . Wie soll man im Kontext derartiger Abgründe für
den Sport werben und junge Menschen für den Spitzensport gewinnen, um an internationalen Wettbewerben
teilzunehmen? Nicht zuletzt stellt sich aber auch die
Frage nach der Grundlage unserer Sportförderung . Mit
dem vorliegenden Anti-Doping-Gesetz machen wir klar:
Die Förderung rechtfertigt sich nur dann, wenn wir auch
entschlossen gegen Doping vorgehen, und zwar national
wie international .
Doping, Korruption und Manipulation sind längst internationale Phänomene und eine ernsthafte Bedrohung
von Sport und Gesellschaft . Dem Doping sagen wir mit
dem Gesetz jetzt den Kampf an, aber bestimmt nicht den
Engagierten, die zur Aufklärung beitragen . Der Fall beim
internationalen Leichtathletikverband offenbart: Ohne
tiefgreifende Veränderungen und Konsequenzen läuft der
Sport Gefahr, die eigenen Grundwerte zu zerstören .
({1})
Die Sportorganisationen sind deswegen aufgerufen, jetzt
entschlossen zu handeln . Es hilft jedoch nicht, dabei nur
auf andere Länder zu zeigen, nachlässige Verbände zu
verurteilen oder bei überführten Sportlern den Kopf zu
schütteln . Wie können wir international Aufklärung fordern, ohne hierzulande den Antidopingkampf weiterzuentwickeln?
({2})
Die bekannten Dopingfälle verdeutlichen, dass hochprofessionell, verdeckt, vernetzt und mit enormer krimineller Energie vorgegangen wird . Dem kann der organisierte Sport nur schwer etwas entgegensetzen,
({3})
wobei der Glaube an die Selbstreinigungskräfte des
Sports hier auch gar keine Rolle spielt . Deswegen brauchen wir das vorliegende Anti-Doping-Gesetz und das
Strafrecht mit Ultima Ratio .
Der Sport nimmt in unserem Land eine wichtige Position und Vorbildfunktion ein . Die Integrität des Sports,
die Gesundheit der Athleten und auch die Fairness und
die Chancengleichheit gilt es - und in letzter Instanz auch
mit dem Strafrecht - zu schützen . Ich kann die Grünen
hier durchaus beruhigen: Bei der Auswahl der genannten Rechtsgüter hat der Gesetzgeber Ermessensspielraum
eingeräumt . Wesentlich ist, dass der Bestimmtheitsgrundsatz und die Verhältnismäßigkeit gewahrt bleiben .
Lieber Özcan Mutlu, die Evaluierung haben wir auch ins
Gesetz aufgenommen .
({4})
Letzteres zeigt aber auch - zumindest was die Verhältnismäßigkeit bei der Abgrenzung der Zielgruppen
betrifft -: Der Gesetzgeber hat sich bewusst auf die Spitzensportler konzentriert, und zwar im Testpool der Nationalen Anti Doping Agentur . Aber auch jene Personen
sind vom Gesetz betroffen, die durch Spitzensport Einnahmen von erheblichem Umfang erzielen . Schließlich
ist es so, dass im Spitzensport durchaus hohe Preisgelder
bei den Sportwettbewerben und dadurch auch Vermögensvorteile zu erzielen sind .
Wir sind also beim Adressatenkreis mit Augenmaß
vorgegangen . Nicht einbezogen sind die Breitensportler, die Medikamentenmissbrauch betreiben . Sie werden
von der Schiedsgerichtsbarkeit aber dennoch erfasst,
aber nicht von der strafrechtlichen Seite . Damit es aber
zu keinen Missverständnissen kommt: Wer, egal wo, mit
anabolen Steroiden handelt, kann auch nach bisheriger
Rechtsprechung belangt werden .
Lassen Sie mich an dieser Stelle kurz auf die Anträge
der Opposition eingehen, da hier deutliche Unterschiede sichtbar werden . Ich frage mich, welches politische
Signal die Grünen eigentlich mit der Ablehnung des Anti-Doping-Gesetzes verbinden, gerade mit Blick auf die
Leichtathletik . Wie wollen Sie denn Dopingbetrug festmachen? Frei nach dem Motto: Legalisierung von Cannabis, dann auch Legalisierung von Dopingmitteln?
Lieber Özcan Mutlu, ich habe gestern von dir im
Deutschlandfunk ein Zitat gehört . Das möchte ich hier
kurz vortragen:
Wir können nicht auf der einen Seite für die Legalisierung von Cannabis einstehen
- das muss man ohnehin nicht und auf der anderen Seite den Besitz von leistungssteigernden Mitteln … unter Strafe stellen .
({5})
Das ist einfach ein Widerspruch in sich . Und deshalb finden wir: Das Recht auf Selbstschädigung eines Menschen - egal ob er Leistungssportler ist oder
nicht -, das hat er, und da kann man nicht mit Gesetz
dem irgendwie das Ganze verbieten .
({6})
Da stelle ich mir doch ernsthaft die Frage - das lässt
mich total ratlos zurück -, wie das gemeint sein soll .
Vielleicht kannst du mir nachher weitere Informationen
darüber geben . Als Sportpolitiker müsste man zumindest
wissen, dass privater Rausch und Manipulation im Spitzensport nicht das Gleiche sind .
({7})
Vielmehr muss man die Gesundheit der jungen Menschen in den Fokus nehmen .
Herr Kollege Gienger, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Mutlu?
Natürlich, gerne .
({0})
Herr Kollege Gienger, würden Sie zur Kenntnis nehmen, dass es in diesem Deutschlandfunk-Interview um
den Tatbestand der uneingeschränkten Besitzstrafbarkeit
ging? Das ist für uns zu weitgehend . Deshalb habe ich
auf diesen Widerspruch aufmerksam gemacht . Wenn Sie
nur diesen einen Satz aus dem längeren Interview herEberhard Gienger
ausnehmen, ist das nicht anständig . Aber egal, ich wollte
das einmal zur Klarstellung sagen . Nehmen Sie das zur
Kenntnis, und sagen Sie, was noch so in dem Interview
steht .
({0})
Ich weiß nicht, ob ich das noch alles vortragen darf .
({0})
Das liegt bei Ihnen .
Es ist für mich auf jeden Fall eindeutig . Wenn ich diesen Satz aus dem Interview betrachte, muss ich mir doch
die Frage stellen dürfen, ob Sie demzufolge Dopingmittel legalisieren wollen .
({0})
Das liest sich hier so . Ich kann es bedauerlicherweise
nicht anders interpretieren .
Die Vorschläge der Linken sind hingegen konkreter,
nur sind sie bedauerlicherweise längst überholt . Die
Finanzierung der NADA haben wir bereits sichergestellt . Einen unabhängigen Ombudsmann haben wir in
Deutschland seit 2012, lieber André Hahn .
({1})
Noch ein Punkt: Bereits nach geltender Rechtslage kann
einem Arzt die Approbation entzogen werden, wenn dieser Doping unterstützt .
({2})
Prävention wird durch NADA und die Verbände bereits
betrieben .
({3})
Insofern verstehe ich die Kritik der Linken nicht so recht .
Eigentlich müssten sie dieses Gesetz doch unterstützen
und mit wehender Fahne in der Hand dem Gesetz vorauslaufen .
({4})
Das tun sie bedauerlicherweise nicht .
({5})
Das vorliegende Anti-Doping-Gesetz wird in der
Sportgerichtsbarkeit keine Widersprüche hervorrufen,
sondern sie sinnvoll ergänzen und nicht beschneiden . Das
haben wir schon mehrfach gehört . Auch in anderen Lebens- und Rechtsbereichen existieren staatliche Gerichte
neben Schiedsgerichten . Die Sportschiedsgerichtsbarkeit
haben wir im Anti-Doping-Gesetz gestärkt . Sie ist weiterhin zentral, wenn es darum geht, das internationale
Regelwerk im Sport durchzusetzen und überführte Spitzensportler umgehend für einen Wettkampf zu sperren .
({6})
An dieser Stelle möchte ich mich ebenfalls ganz herzlich bei dem Justiz-, dem Innen- und dem Gesundheitsministerium ausdrücklich für die gute Zusammenarbeit
bedanken . Wie bereits angekündigt, werden wir zudem
einen Gesetzentwurf zur Bekämpfung von Korruption und Manipulation im Sport bald diskutieren . Dieses
zweite wichtige Vorhaben befindet sich in der Verbändeanhörung . Ich denke, wir sind hier auf einem guten
Weg .
({7})
Bevor der abschließende Redner, Kollege Grindel, das
Wort hat, erteile ich das Wort zu einer Kurzintervention
dem Kollegen André Hahn .
Vielen Dank, Herr Präsident . - Herr Kollege Gienger,
Sie haben gesagt, die Dinge, die in unserem Antrag stehen, seien überholt, und haben zwei Punkte genannt, die
so nicht korrekt sind .
Zum einen haben Sie auf den Ombudsmann verwiesen, der angeblich unabhängig sei . Ich habe vorhin in
meiner Rede darauf hingewiesen, dass er der Nationalen Anti Doping Agentur zugeordnet ist, der Behörde,
die Doping verfolgt, die Dopingsünder bestraft, die aus
Sicht der Betroffenen keine unabhängige Stelle ist . Wir
brauchen einen Anlaufpunkt, der die Dopingverfolgung
vornimmt, der sich aber nicht im Zusammenhang mit
dieser Organisation befindet. Das ist nicht geregelt und
demzufolge nicht korrekt .
Zum anderen haben Sie gesagt, dass die Approbation
aufgrund anderer gesetzlicher Vorschriften schon jetzt
entzogen werden kann . Ich möchte Sie fragen: Wie oft
ist das in Deutschland wegen Doping passiert? Können
Sie einmal darstellen, wo das bislang stattgefunden hat?
Es gibt andere Punkte, zu denen Sie gar nichts gesagt haben, die aber auch in unserem Antrag stehen . Die
Kennzeichnung von Arzneimitteln, in denen Dopingstoffe enthalten sind, ist nicht geregelt . Die Frage des Schutzes von Whistleblowern ist in Ihrem Gesetzentwurf nicht
geregelt . Das zeigt, dass unser Antrag Forderungen enthält, die deutlich über das hinausgehen, was im Gesetzentwurf steht . Deshalb ist der Antrag nicht überholt, sondern höchst aktuell .
({0})
Herr Kollege Gienger, möchten Sie darauf antworten? - Ich sehe, das ist der Fall . Dann haben Sie das Wort .
Schönen Dank . - Herr Präsident! Lieber Kollege
André Hahn, ich bleibe beim „du“, auch wenn du mich
mit „Sie“ angesprochen hast.
Die Prävention durch die NADA und die Verbände
wird vorgenommen . Die NADA unterstützt die Sportler
und die Verbände und ist nicht nur dafür da, zu kontrollieren . Sie ist eine Hilfestellung für die Sportler .
Noch eines: Die NADA sperrt die Sportler nicht, sondern das machen die Verbände . Vor diesem Hintergrund
kann man das nicht ohne Weiteres stehen lassen .
Zur zweiten Frage, dem Entzug der Approbation . Dies
ist in § 3 Absatz 1 Nummer 2 der Bundesärzteordnung
geregelt . Hierfür sind die Landesbehörden zuständig .
({0})
- Wenn ein Arzt Doping unterstützt, dann kann ihm die
Approbation entzogen werden . Daran führt kein Weg
vorbei .
Schließlich gebe ich zu: Wir können, was das Gesetz
angeht, durchaus noch einige Themen mit aufnehmen,
beispielsweise die Kennzeichnungspflicht bei Arzneimitteln . Dafür haben wir aber auch einen Evaluierungsparagrafen . Nach spätestens fünf Jahren wird das durchgezogen . Wenn dann bessere Erkenntnisse vorliegen, wie
beispielsweise zur Kennzeichnung von Arzneimitteln,
dann kann es durchaus umgesetzt werden .
({1})
Jetzt hat zum Abschluss dieser Aussprache der Kollege Reinhard Grindel für die CDU/CSU-Fraktion das
Wort .
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Bei diesem Thema ist die entscheidende Frage: Reicht
die sportrechtliche Sanktion aus, oder brauchen wir das
Strafrecht?
({0})
In diesem Zusammenhang, Herr Kollege Mutlu,
haben Sie die anonyme Untersuchung der Deutschen
Sporthochschule angesprochen und darauf verwiesen,
dass über 5 Prozent der Sportler angegeben haben, sie
würden dopen . Sie haben nicht angesprochen, dass über
40 Prozent der Sportler diese Frage gar nicht beantwortet
haben .
({1})
Insofern kann man sagen: Egal ob das Dunkelfeld bei
einer Größenordnung von über 5 oder annähernd sogar
in Richtung 40 Prozent liegt, es ist jedenfalls deutlich
höher als die 0,1 Prozent der positiven Dopingtests, die
die NADA auch im letzten Jahr gefunden hat . Deswegen
sage ich Ihnen: Ich halte es für einen klaren Widerspruch,
dass man auf der einen Seite die Diagnose eines ernsthaften Problems im Sportsystem anspricht und auf der
anderen Seite sagt: Dieses Sportsystem soll sich allein
auf interne Maßnahmen beschränken .
Gerade diese Untersuchung, die zeigt, dass die
NADA-Dopingtests bisher zu unzureichenden Ergebnissen geführt haben, macht deutlich, wie richtig in der Tat
unsere Überzeugung ist: Wenn man gegen Doping durchgreifende Maßnahmen ergreifen will, dann geht das nur
über das Strafrecht . Diesen Schritt vollziehen wir heute,
liebe Kolleginnen und Kollegen .
({2})
Das hat die NADA auch bei der öffentlichen Anhörung bestätigt . Der Justiziar der NADA hat uns klipp und
klar erklärt - ich zitiere -:
Wir haben in jedem Jahr mindestens 25 Anzeigen,
die wir an die Staatsanwaltschaften richten . Wenn
diese nicht gerade in Freiburg oder München
- wo es Doping-Schwerpunkt-Staatsanwaltschaften
gibt ankommen, werden sie schneller eingestellt, als wir
sie tippen können . Das liegt nicht daran, weil die
Kolleginnen und Kollegen Staatsanwälte nicht handeln wollen, sondern sie schlichtweg nicht handeln
können, weil sie kein strafbares Verhalten oder keinen Anfangsverdacht sehen . . .
Wenn wir also gegen Doping durchgreifen wollen,
dann brauchen wir Staatsanwaltschaften und Polizeibeamte, die auch durchgreifen können, dann brauchen wir
Straftatbestände, die ihnen helfen, gegen die zu ermitteln, die Fairness im Sport mit Füßen treten, dann brauchen wir das Strafrecht im Kampf gegen Doping, liebe
Kolleginnen und Kollegen .
({3})
Die Experten haben uns auch deutlich gemacht, dass
es zum Beispiel ohne die Antidopinggesetze in Frankreich oder Italien nicht möglich gewesen wäre, zum Beispiel gegen Doping im Radsport wirklich durchzugreifen . Aufgrund dieses Zusammenhangs habe ich in der
Tat gesagt, Frau Kollegin Künast, dass Sie mit Ihrer Bemerkung recht haben, dass die ganze Konstruktion nicht
integer ist . Ich habe mich auf die Situation in Russland
und die unzureichende Reaktion des Weltleichtathletikverbandes bezogen . Insofern verstehe ich Ihre Position
nicht, dass Sie gleichzeitig gegen strafrechtliche Maßnahmen sind und sich nur für sportrechtliche, also nur für
interne Sanktionen aussprechen . Wenn man sagt: „Die
ganze Konstruktion ist nicht integer“, dann kann man
doch nicht glauben, dass die sportrechtlichen Sanktionen
plötzlich zu dieser Integrität führen . Wenn man bei einer Konstruktion, die nicht integer ist, durchgreifen will,
dann muss man vielmehr von außen Maßnahmen ergreifen, dann müssen wir das Strafrecht im Kampf gegen Doping anwenden, liebe Freunde .
({4})
Für strafrechtliche Maßnahmen ist es nötig, Rechtsgüter zu benennen, die wir schützen wollen . Wer dopt, der
betrügt und der mindert im Spitzensport die Verdienstmöglichkeiten von anderen Sportlern, der beschädigt
Vermögensinteressen von Vereinen und Sportveranstaltern . Insofern ist es konsequent - das darf nicht übersehen werden -, dass wir das Rechtsgut des Vermögens
auch mit dem vorliegenden Anti-Doping-Gesetz schützen wollen .
Aber wir wollen in der Tat auch das Rechtsgut der
Integrität des sportlichen Wettbewerbs schützen . Angesichts der großen gesellschaftlichen Integrationskraft
des Sports, angesichts von 28 Millionen Mitgliedern des
DOSB und vor dem Hintergrund der großen Aufmerksamkeit einer ganzen Nation bei sportlichen Großveranstaltungen, die ansonsten im digitalen Zeitalter in viele
kleine Teilöffentlichkeiten zerfällt, kann man doch nicht
bestreiten, dass dem Schutz der Integrität des sportlichen
Wettbewerbs eine wachsende Bedeutung zukommt .
({5})
Zu Recht investieren wir als der Bund dreistellige Millionenbeträge in den Spitzensport . Wir wissen, wie wichtig erfolgreiche Sportidole als Motivation für Kinder
und Jugendliche sind, um selbst Sport zu treiben . Aber
wenn sich ein Jugendlicher in Zukunft fragt: „Lohnt es
sich, die Strapazen des Trainings auf mich zu nehmen?“,
dann wollen wir ihm zumindest sagen können: Wenn du
dich anstrengst und wenn du Talent hast, dann hast du im
Sport alle Chancen, weil nur deine Leistung zählt und
nicht die Leistung deiner behandelnden Ärzte oder die
Skrupellosigkeit deiner Betreuer . - Für diejenigen, die
daran glauben, dass es im Sport mit rechten Dingen zugeht, brauchen wir Rahmenbedingungen, die es ermöglichen, auch durchzugreifen . Deswegen schaffen wir jetzt
eine entsprechende strafrechtliche Vorschrift, liebe Kolleginnen und Kollegen .
({6})
Adressaten dieses Gesetzes sind ausschließlich Spitzensportler, die dem Testpool der NADA angehören oder
in erheblichem Umfang ihre Einnahmen aus dem sportlichen Wettbewerb beziehen . Dem wird nun entgegengehalten - auch das ist hier heute Morgen gesagt worden -,
auch der Breitensportler dürfe sich doch wohl nicht
dopen und müsse bestraft werden . Natürlich muss auch
Max Mustermann, der beim Berlin-Marathon mit einem
Dopingmittel erwischt wird, bestraft werden und aus dem
Wettbewerb ausscheiden . Aber bei ihm reicht es aus - das
ist wahr -, ihn nach Sportrecht zu sanktionieren . Weder
läuft er beim Berlin-Marathon aus finanziellen Gründen
mit und würde die Einkünfte seiner Konkurrenten durch
Einnahmen, die er aufgrund von Doping erzielte, schmälern, noch verlieren junge Leute den Glauben an den sauberen Sport, wenn Max Mustermann gedopt ist .
Das kann aber eben bei Läufern aus dem Testpool der
NADA schon völlig anders aussehen . Da gucken junge
Läufer schon genau hin, wie sich ihre Vorbilder aus ihrem Verein oder dem DOSB-Team schlagen . Da geht es
dann auch schon um Sieg- oder Platzprämien, um Sportfördermittel oder Unterstützung durch die Sporthilfe .
Deshalb ist es doch völlig klar: Je mehr ein Sportler für
die Integrationskraft und den Vorbildcharakter des Sports
steht und damit auch Geld verdient, umso mehr muss ihn
die volle Härte des Strafrechts treffen, wenn er dopt und
damit die Ideale des Sports geradezu mit Füßen tritt, liebe Kolleginnen und Kollegen .
({7})
In der Tat: Wir haben neben der Ausweitung des Tatbestands Doping auch auf ausländische Trainingsaufenthalte und dem Verzicht auf eine Versuchsstrafbarkeit beim
Besitz von Dopingmitteln wegen der starken Vorverlagerung der Strafbarkeit im Rahmen der Ausschussberatungen als Drittes auch die tätige Reue eingeführt . Zu Recht
ist vom Minister erwähnt worden, dass im Strafrecht die
tätige Reue nichts Neues ist . Sie wird insbesondere bei
solchen Delikten vorgesehen, bei denen die Strafbarkeit
bereits zu einem sehr frühen Zeitpunkt der Tathandlung
gegeben ist . Eine solche tätige Reue muss natürlich freiwillig und nach außen hin deutlich sichtbar erfolgen .
({8})
Die tätige Reue ist notwendig wegen der besonderen
Konstruktion unseres Gesetzes . Wenn ein Sportler, bevor er das Dopingmittel zum ersten Mal einnimmt, sich
dann doch entschließt, den fairen Weg des Sports nicht
zu verlassen und auf rechtmäßige Weise um Siege und
Titel zu kämpfen, dann steht er nämlich vor einem Dilemma: Auch wenn er das Dopingmittel zum Beispiel
gegen Quittung bei einer Apotheke abgibt und damit das
Rechtsgut der Integrität des sportlichen Wettbewerbs
nicht tangiert hat, würde er ohne die tätige Reue trotzdem
wegen Besitzes eines Dopingmittels bestraft werden,
weil er diese Deliktsform bereits vollendet hat, indem er
das Mittel zum Beispiel eine Zeit lang bei sich zu Hause
aufbewahrt hat .
Mit der tätigen Reue wollen wir dem sozusagen wankenden Sportler eine Brücke zurück ins gesetzmäßige
Verhalten bauen . Ohne diese neue Vorschrift gäbe es ja
gar keinen Anreiz für einen Sportler, über den Weg zurück zu Fairness und Integrität nachzudenken, weil er ja
wüsste: Wegen Besitzes bist du sowieso dran . - Nein, wir
wollen den Sportlern und Athleten in Deutschland sagen:
Wer sauber bleiben will, dem bieten wir eine Möglichkeit, zu Fairness und Integrität zurückzukehren . Deswegen ist diese Ergänzung des Gesetzes von großer Bedeutung, liebe Kolleginnen und Kollegen .
({9})
Die Integrität des sportlichen Wettbewerbs - Staatssekretär Krings hat darauf hingewiesen - wird nicht nur
durch Doping, sondern auch durch Spielmanipulation
gefährdet . Deshalb begrüße ich es ausdrücklich, dass das
Bundesjustizministerium jetzt die Abstimmung mit den
Ländern und Verbänden eingeleitet hat und wir unverzüglich zu einem Kabinettsbeschluss und hier im Bundestag
zu einer Beratung des Gesetzes gegen Spielmanipulation
kommen werden . Wir brauchen den umfassenden Schutz
der Integrität des sportlichen Wettbewerbs, und darauf
haben wir uns auch im Koalitionsvertrag verständigt .
Eine Anmerkung zum Schluss . Wir, zumindest die
Abgeordneten der Koalition, sind davon überzeugt, dass
dieses Gesetz gut ist für den deutschen Sport . Und doch
wissen wir, dass der Deutsche Olympische Sportbund
dieses Gesetz bis heute ablehnt .
({10})
Ich bedauere das . Deshalb sage ich: Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass es für die Integrität des Sports, seine
Integrations- und Strahlkraft nicht in erster Linie darauf
ankommt, unbedingt immer Gold zu gewinnen .
({11})
Vielmehr kommt es darauf an, immer Fairness und Anstand im Sport zu verwirklichen und auf keinen Fall zu
verlieren . Das ist die Botschaft dieses Gesetzes .
Herzlichen Dank fürs Zuhören .
({12})
Damit schließe ich die Aussprache .
Wir kommen zur Abstimmung über den von der
Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Be-
kämpfung von Doping im Sport . Es liegt mir dazu eine
schriftliche Erklärung zur Abstimmung nach § 31 unse-
rer Geschäftsordnung vor .1)
Der Sportausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/6677, den Gesetzentwurf der
Bundesregierung auf Drucksache 18/4898 in der Ausschussfassung anzunehmen . Ich bitte jetzt diejenigen, die
dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen
wollen, um das Handzeichen . - Wer stimmt dagegen? Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen von CDU/CSU und SPD
gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen .
Wir kommen jetzt zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung . Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben . Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist damit mit den Stimmen von CDU/CSU und
SPD gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen bei
Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen .
({0})
1) Anlage 2
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
auf Drucksache 18/6687 .
({1})
- Bleiben Sie bitte noch auf Ihren Plätzen; wir haben
noch Abstimmungen . - Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält
sich? - Der Entschließungsantrag ist damit mit den Stimmen von CDU/CSU und SPD gegen die Stimmen von
Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion Die
Linke abgelehnt .
Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 28 b . Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Sportausschusses zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem
Titel „Anti-Doping-Gesetz für den Sport vorlegen“. Der
Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 18/6678, den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 18/2308 abzulehnen . Wer für diese
Beschlussempfehlung des Ausschusses stimmt, den bitte
ich um ein Handzeichen . - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen gibt es keine . Die Beschlussempfehlung des
Ausschusses ist damit mit den Stimmen von CDU/CSU
und SPD und Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke angenommen .
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 29 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Katharina Dröge, Bärbel Höhn, Renate Künast,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Dem CETA-Abkommen so nicht zustimmen
Drucksache 18/6201
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Energie ({2})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss für Kultur und Medien
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
diese Aussprache 38 Minuten vorgesehen . - Widerspruch
höre ich keinen . Dann ist das so beschlossen .
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin der Kollegin Katharina Dröge von Bündnis 90/Die
Grünen das Wort .
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Es ist noch nicht lange her, dass wir hier im
Bundestag über das Freihandelsabkommen TTIP mit den
USA diskutiert haben . Heute geht es um das Freihandelsabkommen CETA mit Kanada . Aus unserer Sicht ist
es auch dringend erforderlich, dass der Bundestag über
dieses Freihandelsabkommen ausführlich und detailliert
diskutiert .
({0})
Ich möchte Ihnen auch erklären, warum das aus unserer
Sicht so notwendig ist .
Der CETA-Vertragstext liegt mittlerweile schon über
ein Jahr vor . Im August letzten Jahres hat die Bundesregierung uns das ausverhandelte Dokument zugeschickt .
Seitdem ist nur eines klar, nämlich dass nichts klar ist .
Weder wann, weder wo noch was beschlossen wird, ist
bislang klar . Und dazu tragen Sie als Regierung maßgeblich bei .
({1})
So behauptet beispielsweise die Bundesregierung, in
Person des Bundesministers Sigmar Gabriel, dass CETA
nachverhandelt werden könne . Er hat auch auf meine
schriftliche Frage eine Reihe von Punkten genannt, die
die Bundesregierung gerne in diesem Abkommen noch
nachverhandeln möchte . Er nennt das nicht Nachverhandlung; denn das könnte problematisch sein . Er nennt
das Präzisierung von Rechtsbegriffen, nennt uns dann
aber erhebliche Dinge, die im Rahmen dieser Präzisierung von Rechtsbegriffen noch nachverhandelt werden
sollen . Immerhin sagt er jedoch, dass er am Vertrag noch
etwas ändern möchte .
Gleichzeitig sagt aber die EU-Kommissarin, die für
dieses Thema zuständig ist, dass der Deal closed ist, das
heißt, dass am Abkommen nichts mehr geändert werden
kann. In dieser Unsicherheit befinden wir uns jetzt als
Bundestag. Und ich finde, es ist relevant, darüber einmal zu diskutieren . Denn wenn Herr Gabriel recht haben
sollte - wir würden ihn ja darin unterstützen, dass das
Abkommen noch einmal aufgemacht werden sollte, um
entscheidende Punkte zu verbessern -, dann wäre es aber
auch sinnvoll, dass wir hier im Bundestag im Rahmen
dieser Nachverhandlungen beteiligt werden .
({2})
Aus meiner Sicht geht es nicht, dass sich ein Bundeswirtschaftsminister allein so ein paar Punkte ausdenkt,
die er im Rahmen dieses Abkommens bis Dezember oder
Januar - wir wissen ja noch nicht einmal, wie lange diese
Rechtsförmlichkeitsprüfung noch dauern wird - in Brüssel noch irgendwie unterschummeln will, und wir danach
das fertige Ding dann nur noch zur Abstimmung bzw .
zum Abnicken vorgelegt bekommen . Da können wir als
Parlament kein einziges Wort mehr am Vertragstext ändern . Wir können dann nur noch Ja oder Nein sagen . Das
ist ein Problem . Deswegen zielt unser Antrag darauf ab,
dass wir als Bundestag beteiligt werden, falls denn Nachverhandlungen möglich sind .
({3})
Die zweite Konfusion betrifft den Inhalt des Vertragstextes . Um die Schiedsgerichte haben wir hier schon
hart gerungen . Sie kennen unsere Position . Wir kennen
mittlerweile die Position von Frau Malmström, wissen
aber auch, dass sie diese Positionen in CETA nicht mehr
verhandeln wird . Ein weiteres unklares Element in diesem Abkommen ist aber die Beteiligung der Parlamente,
wenn der Vertragstext einmal abgeschlossen ist .
Laut CETA ist ja ein sogenannter Hauptausschuss
vorgesehen, der die Kompetenz haben wird, in Rückkopplung mit dem Europäischen Rat die Anhänge und
Protokolle des Vertragstexts zu ändern . Wir haben die
Bundesregierung gefragt: Wie bewerten Sie das? Daraufhin bekamen wir erst die Antwort: Dieser Hauptausschuss
kann auf keinen Fall eigenmächtig, ohne Beteiligung des
Parlamentes, den Vertragstext verändern . - Dann haben
wir noch einmal nachgefragt, haben auf Textstellen in einem Gutachten verwiesen, haben auch auf Textstellen in
den europäischen Verträgen verwiesen und gesagt: Wenn
man diese Textstellen zugrunde legt, dann ist doch nicht
rechtssicher geklärt, dass das Europäische Parlament
auch beteiligt werden muss .
Es gab einen ziemlich langen Schriftwechsel zwischen uns, also zwischen Frau Haßelmann und der
Bundesregierung . Und irgendwann - genau gesagt, war
es gestern - hat Herr Machnig dann zugegeben: Ja, es
stimmt . In den Verträgen steht tatsächlich, dass es die
Möglichkeit gibt, ein sogenanntes schnelles Verfahren
durchzuführen, bei dem das Europäische Parlament nicht
beteiligt ist .
Das ist keine Art des Umgangs mit dem Parlament .
Wir haben zigmal nachfragen müssen, um eine relevante
Frage zu klären, nämlich die demokratische Beteiligung
von Parlamenten . Die Bundesregierung hatte es entweder
nicht auf dem Schirm oder wollte uns täuschen . Beides
finde ich relevant. Beides finde ich schlimm. Und zu beidem sage ich: So geht man mit einem Abkommen, das
relevante Auswirkungen haben wird, nicht um . Deswegen fordere ich Sie alle auf: Stellen wir uns alle endlich
vernünftig der Debatte . Wir haben einen langen Antrag
mit vielen inhaltlichen Punkten geschrieben .
Frau Kollegin Dröge, darf ich Sie an die vereinbarte
Redezeit erinnern?
Genau . - Leider kann ich
({0})
den ganzen Inhalt meines Antrags in drei Minuten nicht
mehr darstellen . Aber meine Kollegin, Frau Höhn, ist
gleich auch noch dran . Sie wird Ihnen dazu noch viele
gute Dinge sagen . Deswegen belasse ich es erst einmal
bei diesen Punkten
({1})
und wünsche mir, dass Sie auch mit uns endlich in die
inhaltliche Debatte einsteigen .
({2})
Für die CDU/CSU hat das Wort der Kollege Mark
Hauptmann .
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kollegen! Liebe Frau Dröge, Sie reden ja wirklich schnell .
({0})
Das kann Ihnen keiner absprechen . Aber richtig ist das
trotzdem nicht . Wenn Sie sich anmaßen, zu sagen, wir
sollten hier im Deutschen Bundestag doch einmal über
CETA reden, antworte ich: Das machen wir, und das
haben wir bisher auch schon gemacht . Deswegen nutzen
wir diese Debatte natürlich auch gerne als Gelegenheit,
das geradezustellen, was Sie im Hinblick auf die Empörungsindustrie der Anti-TTIP- und Anti-CETA-Bewegung gerade wieder gesagt haben .
({1})
- Nein, es ist keine Frechheit, es ist die Wahrheit .
({2})
Frau Kollegin Dröge, Sie sind der gleiche Jahrgang
wie ich . In den 1980er-Jahren war die Welt, die wir heute
sehen, noch eine andere .
({3})
Deutschland, Europa und die westliche Welt hatten wirtschaftlichen Kontakt zu ungefähr 800 Millionen Menschen . Heute beteiligen sich durch die Globalisierung
fast 8 Milliarden Menschen an diesem Austausch . Nur
Nordkorea glaubt, man müsse oder brauche sich nicht
daran zu beteiligen .
({4})
Mit CETA und TTIP, die ja von Ihnen gerne in einem
Atemzug genannt werden, beanspruchen wir, diese Globalisierung aktiv gestalten zu wollen, und wir wollen mit
CETA und TTIP die Globalisierung mit westlichen Standards gestalten .
({5})
Das ist letztendlich der Grund, warum wir mit Kanada
und warum wir mit den USA verhandeln .
Ich sage Ihnen, Herr Ernst, und auch Ihren Kollegen und das wissen Sie ganz genau, weil auch Sie sich damit
befassen und auch Ihr Horizont durchaus ausreicht, um
die internationalen Bedingungen zur Kenntnis zu nehmen -: Wenn wir nicht handeln, wenn wir als Europäer
mit den Amerikanern und den Kanadiern keine Regelung
finden, wenn wir als westliches Wertebündnis keine Regelung finden,
({6})
dann machen es andere - China und andere Akteure -,
und dann sind wir gezwungen, nach deren Standards zu
handeln . Das kann nicht in unserem Interesse liegen .
({7})
Sehr geehrte Damen und Herren, 40 Handelsabkommen verhandelt die EU bzw . hat sie schon verhandelt .
Derzeit werden noch für 12 Handelsabkommen Verhandlungen geführt . Kollegin Dröge hat es richtig gesagt: Seit
2014 liegt ein konsolidierter Text für das Abkommen
zwischen Europa und Kanada vor . Jetzt geht es eben darum, in diesem Prozess des Legal Scrubbing den Vertragstext in die einzelnen Sprachen zu übersetzen; denn nicht
nur in Europa, sondern auch in Kanada werden mehrere
Sprachen gesprochen .
({8})
Übrigens: 70 Prozent der kanadischen Bevölkerung
sind für CETA .
({9})
Ich glaube, das ist ein deutlicher Beweis dafür, dass
CETA nicht nur in den verschiedenen Mitgliedstaaten
Europas von einer breiten Unterstützung getragen wird,
sondern dass es eben auch in Kanada einen Willen gibt,
mit Europa zusammen verschiedene Positionen in Einklang zu bringen .
({10})
- Herr Kollege, wenn Sie eine Zwischenfrage stellen
möchten, dann tun Sie das ruhig . Aber sich einfach nur
zu empören, bringt nichts; denn Ihr Dazwischenbrüllen
macht die Debatte nicht leichter . Sie sorgen mit Ihrem
Dazwischenbrüllen lediglich dafür, dass die Debatte nicht versachlicht werden kann . Das ist letztendlich
der Punkt, den wir hier anmerken: Wir müssen zu mehr
Sachlichkeit zurückkommen .
Herr Kollege Hauptmann, nach dieser Aufforderung
hat sich der Kollege Dehm sofort gemeldet . Gestatten Sie
eine entsprechende Zwischenfrage?
({0})
Gerne . Ich habe es ihm ja angeboten .
Wer nicht hören will, muss fühlen .
({0})
Deswegen stelle ich die Frage, zu der Sie mich aufgefordert haben .
Wenn das mit den 70 Prozent Zustimmung so zutrifft,
wie erklären Sie sich denn dann, dass die Kanadier eine
Regierung zum Teufel gejagt haben, die für CETA war,
und jetzt eine Regierung gewählt haben, die dagegen ist?
Herr Kollege, wir haben letzte Woche wieder Parlamentarier aus Kanada zu Gast gehabt . Wir stehen im
regelmäßigen Austausch mit den Kollegen in Kanada .
Sowohl unsere Kollegen im kanadischen Parlament als
auch 70 Prozent der Bevölkerung, wie ich es gerade
gesagt habe, befürworten CETA . Das war das Ergebnis
einer repräsentativen Umfrage der kanadischen Handelskammer .
({0})
Von daher zeigt das deutlich, dass innerhalb der Bevölkerung ein starkes Maß an Unterstützung da ist . Und diese
Unterstützung sollten wir nutzen, auf beiden Seiten des
Atlantiks .
({1})
Ich möchte zurückkehren zu dem Prozess, den Sie
angemahnt haben, nämlich dass wir Veränderungen bei
CETA bräuchten und jetzt das Paket noch einmal aufschnüren müssten . Frau Kollegin Dröge, wir haben ein
ausformuliertes und ausverhandeltes Programm . Wenn
wir jetzt dieses Paket aufschnüren und in einem entsprechenden Prozess neu verhandeln, dann kommen wir nie
zu einem Ergebnis .
({2})
Sie wissen doch hoffentlich, dass auf der anderen Seite der Welt, nämlich in Asien, mit den Verhandlungen zur
Transpazifischen Partnerschaft schon Fakten geschaffen
werden .
({3})
Das heißt, die Welt um uns herum schläft nicht; Asien
handelt . Es gibt weitere Abkommen mit ASEAN+6, also
mit den ASEAN-Staaten plus China, Japan, Südkorea
und anderen . All diese Länder werden in den nächsten
Jahren globale Standards setzen, wenn wir als Europäer
uns immer wieder zerstreiten, immer wieder Pakete aufschnüren wollen, immer wieder das bereits Verhandelte
infrage stellen . Das kann nicht unser Anspruch sein .
({4})
Vielmehr brauchen wir in Zukunft einen Startpunkt . Dieser Startpunkt für CETA ist jetzt .
({5})
Warum mit Kanada? Kanada ist der zweitgrößte Flächenstaat der Welt, die elftgrößte Volkswirtschaft und
einer der wohlhabendsten Staaten, aber vor allem einer
unserer wichtigsten Wertepartner . Die EU-Direktinvestitionen in Kanada betrugen 136 Milliarden Euro und
machten damit ungefähr 28 Prozent der Auslandsinvestitionen in Kanada aus . Für diese Investitionen brauchen
wir natürlich auch Rechtssicherheit .
({6})
Dann komme ich zu dem Punkt, den Sie immer wieder gerne ansprechen: Investor-Staat-Schiedsverfahren .
Auch hier mahne ich Sie zu einer Versachlichung der
Debatte . Wir als Deutsche haben doch den Investitionsschutz geradezu erfunden .
({7})
1959 haben wir mit dem ersten Abkommen zwischen
Deutschland und Pakistan
({8})
quasi den Investitionsschutz für deutsche Unternehmen
im Ausland erfunden . Insgesamt haben wir 140 Abkommen zum Investitionsschutz geschlossen .
Im Rahmen dieser Abkommen haben deutsche Unternehmer in 70 Fällen im Ausland gegen andere Staaten geklagt und ungefähr 50 Prozent dieser Fälle auch
gewonnen . Drei Verfahren wurden gegen Deutschland
geführt; eines endete mit einem Vergleich, in zwei Verfahren gibt es bisher noch keine Entscheidung . Das heißt
einerseits, Deutschland hat bis jetzt noch nie einen Prozess verloren, hat aber auf der anderen Seite mit den Verfahren vor Schiedsgerichten dafür gesorgt, dass die Interessen unserer Unternehmen, die im Ausland investieren,
gewahrt werden konnten . Deswegen sind wir der festen
Überzeugung, dass Schiedsgerichtsverfahren notwendig
sind, um ausländische Investitionen zu ermöglichen und
bei Enteignungen, zu denen es in der Vergangenheit immer wieder gekommen ist, dass also ausländische Firmen
von den jeweiligen Staaten enteignet wurden -
Herr Kollege Hauptmann, gestatten Sie noch eine
Zwischenfrage des Kollegen Lenkert?
Nein . Ich habe bereits eine Frage zugelassen . - Der
Punkt ist somit, dass die Firmen nach einer Enteignung
eine Entschädigung bekommen . Das wird letztendlich
über Schiedsgerichtsverfahren geregelt . Deswegen sind
sie unglaublich wertvoll . Es ist wichtig, dass wir es im
Rahmen von CETA bei den vorgesehenen Schiedsgerichten belassen .
Auch Sie wissen, dass CETA ein moderner Vertrag ist .
CETA sieht die Möglichkeit vor, die Anforderungen der
Globalisierung in den nächsten Jahren zu berücksichtigen . Der Vertragstext ist also nicht in Stein gemeißelt,
sondern kann in den nächsten Jahren noch Veränderungen erfahren . Das ist aus Sicht unserer Fraktion eine
sehr moderne Vertragsgestaltung . Daraus ergibt sich aber
auch, dass wir einen Startpunkt brauchen, um gemeinsam auf Grundlage unseres Wertefundaments für freien
Handel und auch - liebe Kollegen der Grünen - für fairen Handel zu sorgen . Fairer Handel ist ohne Freihandel
nicht möglich . Von daher werben wir für CETA und werben wir für TTIP .
Mit CETA schaffen wir letztendlich eine elementare
Grundlage für mehr Freihandel . Wenn wir dem Antrag
der Grünen folgten, dann würden wir diese Chance geradezu verpassen . Wir würden die Verhandlungserfolge, die
bisher erzielt worden sind, gefährden und dafür sorgen,
dass die weltweiten Standards sich nicht nach uns, sich
nicht nach Europa, sich nicht nach dem transatlantischen
Wertebündnis, sondern nach anderen Staaten richten .
Der globale Welthandel ist doch unsere Arena .
Deutschland als Exportnation - wir sind Exportweltmeister! - ist darauf angewiesen, in dieser Arena handeln
zu können . Mit Ihrem Antrag würde man den Exportweltmeister Deutschland vom Platz stellen .
({0})
Das können wir nicht gutheißen . Daher werben wir für
CETA und für TTIP .
Herzlichen Dank .
({1})
Für die Fraktion Die Linke spricht jetzt der Kollege
Klaus Ernst .
({0})
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Präsident! Ich habe hier ein Argument gehört, Herr Hauptmann, das so daneben ist, dass ich darauf eingehen muss .
Sie sagen, wenn man den Antrag annähme, würde man
ausländische Investitionen verhindern . Fakt ist: Wir
haben momentan kein Handelsabkommen mit Kanada auch keines mit den USA -, und trotzdem haben wir eine
Vielzahl von Investitionen der Kanadier bei uns und von
uns bei den Kanadiern . Ich bitte Sie, doch wenigstens die
Realität zur Kenntnis zu nehmen und hier nicht so einen
Unsinn zu erzählen .
({0})
Herr Kollege Ernst, gestatten Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Hauptmann?
Auf die freue ich mich ganz besonders .
Herr Kollege Ernst, eines werden wir natürlich nicht
infrage stellen: Das sind die Realitäten . Natürlich gibt es
Investitionen . Das will doch gar kein Mensch bestreiten .
Es geht aber um das Mehr an Investitionen, um zusätzliche Impulse, darum, Zölle abzuschaffen,
({0})
weltweit gemeinsame Standards zu etablieren .
Schauen Sie sich das doch bei den Automobilen an:
Wir haben heute hohe Zölle, wenn Automobile deutscher
Unternehmen aus den USA nach Deutschland zurückgeführt werden; und wenn deutsche Lkw nach Nordamerika exportiert werden, fällt eine Zollbelastung von 25 Prozent an .
({1})
Das sorgt natürlich dafür, dass wir keine Mehrinvestitionen haben . Von daher frage ich: Wie halten Sie es mit
zusätzlichen Mehrinvestitionen, durch die übrigens auch
mehr Arbeitsplätze entstehen würden?
({2})
Herr Hauptmann, ich glaube, Sie haben den Sinn dieser Handelsabkommen noch gar nicht richtig begriffen .
Es geht nicht nur um den Abbau von Zöllen . Das wären
ja die tarifären Handelshemmnisse .
({0})
Sinn der Handelsabkommen ist der Abbau von nichttarifären Handelshemmnissen .
({1})
Nichttarifäre Handelshemmnisse sind nach dem allgemeinen Verständnis Regelungen, Herr Hauptmann:
({2})
Regelungen des Arbeitsschutzes, Regelungen des Umweltschutzes, Regelungen des Verbraucherschutzes . Dabei geht es zum Beispiel um die Frage, welche Chemie in
dem jeweiligen Land verwendet werden darf und welche
nicht, welche Substanzen in Medikamenten zugelassen
werden und welche nicht . Das ist der eigentliche Sinn
dieser Handelsabkommen .
({3})
Es geht also überhaupt nicht um Ihre Zölle . Die Zölle
kann man von mir aus abbauen; das ist nicht das Problem . Es geht darum, dass diese Handelsabkommen dazu
dienen sollen, die Standards
({4})
in Europa, in Kanada und übrigens auch in den USA abzusenken .
({5})
Ich würde Sie bitten, das zur Kenntnis zu nehmen .
({6})
- Ich werde Ihnen das gleich noch beweisen .
Jetzt kommen wir zur Transparenz .
({7})
- Sie können weiter brüllen, Sie können aber auch noch
eine Frage stellen . Ich bin gerne bereit, sie zu beantworten .
({8})
Meine Damen und Herren, gestern waren wir mit dem
Ausschuss für Wirtschaft in Brüssel . Dort haben wir Frau
Malmström getroffen . Sie hat gesagt, dass die Transparenz, also was die Einbeziehung der Bürger angeht, bei
diesen Fragen vorbildlich sei .
({9})
Da habe ich wirklich gedacht: Sie lebt auf einem anderen
Stern .
({10})
Das CETA-Abkommen ist - das wissen Sie alle, die
Sie hier sitzen - ohne jegliche Beteiligung der europäischen Parlamente verhandelt worden . Keiner, der hier
sitzt, auch Sie nicht, hat die Chance gehabt, auch nur ein
Komma oder einen einzigen Buchstaben in diesen Verträgen zu beeinflussen. Jetzt gucken wir einmal, was unser Parlamentspräsident, Herr Lammert, dazu gesagt hat .
Er hat gesagt - Zitat -:
Ich halte es für ausgeschlossen, dass der Bundestag einen Handelsvertrag zwischen der EU und den
USA
- darum ging es in dem Fall ratifizieren wird, dessen Zustandekommen er weder
begleiten noch in alternativen Optionen beeinflussen konnte .
Was bei TTIP gilt, das muss doch wohl auch für CETA
gelten .
({11})
Bei CETA hat er nichts beeinflussen können. Wenn Sie
den Bundestagspräsidenten ernst nehmen und nicht zu
einer Witzfigur machen wollen, dann müssen wir als Parlament unsere Rechte ernst nehmen und dürfen uns nicht
kleinmachen .
({12})
Dann müssen wir CETA ablehnen, weil wir nicht beteiligt waren .
Es gibt übrigens einen sehr aktuellen Vorschlag - ich
weiß nicht, ob Sie ihn schon gesehen haben -: Es sollen
Leseräume eingerichtet werden, nicht mehr in der Botschaft der USA, sondern in Ministerien . Haben Sie das
einmal gelesen? Die Regeln, die für diejenigen vorgesehen sind, die Dokumente einsehen wollen, erinnern mich
an die Regeln, die gelten, wenn man einen Einsitzenden
besucht: Sicherheitspersonal muss anwesend sein; Name,
Besuchszeit und konsultierte Dokumente - Texte, die die
Europäische Union verhandelt - werden notiert; Handys
und sonstige elektronische Geräte müssen abgegeben
werden; eine Verpflichtungserklärung zur Einhaltung der
Regeln muss unterschrieben werden;
({13})
es ist nur erlaubt, Notizen zu machen; aber über diese
Informationen darf nicht gesprochen werden . Meine Damen und Herren, da gibt es nur noch eine Steigerung:
Panzerglas zwischen dem Besucher und dem Dokument .
({14})
Und das soll transparent sein?
Im Übrigen empfehle ich Ihnen, auch meinen Kollegen von der SPD, die gestern dabei waren: Schauen Sie
sich die heutige Stellungnahme der Europäischen Union
an . Darin steht, dass das gar nicht für die Abgeordneten
gilt . Es gilt für die Minister; es gilt für das Regierungspersonal . Diese sollen sich behandeln lassen, als würden
sie einen Verbrecher besuchen, wenn sie Dokumente einsehen wollen . Wenn wir in diesem Parlament noch ein
bisschen Selbstbewusstsein haben, dann müssen wir solche Vorgänge ablehnen; denn sonst machen wir uns zum
Büttel der Europäischen Union .
({15})
Herr Kollege Ernst, gestatten Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Wiese?
Sehr gerne .
Sehr geehrter Herr Kollege Ernst, vielen Dank, dass
Sie die Zwischenfrage zulassen . Ich diskutiere immer
gerne mit Ihnen .
({0})
Wir waren gestern zusammen in Brüssel und haben
gehört, dass Kommissarin Malmström gesagt hat, dass
sich im Hinblick auf den Zugang von uns Abgeordneten
etwas ändern soll . Ich gebe Ihnen in diesem Punkt völlig
recht:
({1})
Das, was jetzt auf den Weg gebracht worden ist, ist noch
nicht befriedigend . Auch ich möchte die Dokumente
gerne bei mir im Büro auf meinem Schreibtisch liegen
haben .
({2})
Auch ich möchte nicht als Bittsteller momentan zur
US-Botschaft gehen, klingeln und sagen, dass ich Einblick in konsolidierte Dokumente haben möchte . Darum
bin ich mit der momentanen Situation nicht zufrieden .
Sie haben gerade aus einem Dokument zitiert, das die
Kommission veröffentlicht hat . Aber es gibt zwei Dokumente: 356/15 und 358/15 . In diesem Dokument werden
die Punkte angesprochen, die Sie gerade beschrieben
haben .
Ich habe fast den Eindruck, dass Sie noch nie in der
Geheimschutzstelle des Deutschen Bundestages gewesen sind .
Doch, doch! Da war ich .
Auch dort muss man sich anmelden, auch dort sitzt
jemand im Nebenraum, und man muss sein Handy abgeben,
({0})
aber man darf sich Notizen machen .
({1})
- Das Handy muss man abgeben . Das ist wirklich so .
({2})
- Man muss es abgeben . - Dort können Sie übrigens
auch die Klageschrift der Bundesregierung gegen Vattenfall lesen .
In dem von mir angesprochenen Dokument - dieser
Punkt ist mir wichtig - steht nicht, dass nur Minister
und Beamte Zugang zu den Dokumenten haben . Es liegt
allerdings nur die englische Fassung vor; darüber kann
man streiten - zwei Juristen, drei Meinungen . Aber meine erste Frage lautet: Stellen Sie fest, dass es langsam
in die richtige Richtung geht und dass die langsamen
Schritte sowohl der Bundesregierung als auch dem Bundestagspräsidenten zu verdanken sind, die immer wieder
versuchen, zu intervenieren? Die deutsche Botschaft hat
zuletzt am Donnerstagabend in Washington förmlich interveniert, um noch einmal Druck zu machen . Wann hat
die Linkspartei einmal einen Brief an Frau Malmström
geschrieben, um Einsicht in die Dokumente einzufordern?
Meine zweite Frage, die ich Ihnen noch stellen möchte . Sollten wir in der nächsten Woche Zugang zu den
Räumen bekommen, sei es im Wirtschaftsministerium,
sei es im Arbeitsministerium: Versprechen Sie mir, dass
wir dann zusammen hingehen und die Dokumente lesen?
({3})
Zum letzten Teil Ihrer Frage: Ja . Aber ein Problem ist,
dass ein großer Teil der Abgeordneten die Dokumente
nicht lesen kann, weil sie kein Englisch können; die Dokumente sind nämlich auf Englisch verfasst .
({0})
Das ist das erste Problem: Wenn wir hier Vereinbarungen
treffen
({1})
und ein Teil der Abgeordneten faktisch ausgeschlossen
ist, dann ist das nicht transparent .
({2})
Jetzt komme ich zu den von Ihnen genannten Stellungnahmen der Europäischen Kommission . Ja, es gibt
zwei Dokumente . In dem einen sind die Verfahren geregelt; von den Verfahren sind die Parlamentarier nicht
betroffen . Heute liegt eine zweite Stellungnahme vor . In
dieser Stellungnahme heißt es eindeutig, dass dies nur
die Ministerien betrifft, dass allerdings die nationalen
Parlamente entsprechend ihrer Gesetzgebung Regelungen treffen können . Das ist interessant; denn Frau Malmström hat uns gestern etwas ganz anderes erzählt . Sie hat
uns erzählt: Jetzt gibt es die große Offenheit für Abgeordnete . - Aber ich kann nicht feststellen, dass es diese
Offenheit gibt .
Jetzt komme ich zur Geheimschutzstelle . Ja, auch ich
bin der Auffassung: In einem Parlament muss es eine
Geheimschutzstelle geben . Aber hier stellt sich doch
eine ganz andere Frage: Warum werden Dokumente, die
500 Millionen Bürger in Europa betreffen, als Geheimsache behandelt und selbst vor den Parlamentariern geheim
gehalten?
({3})
Das ist doch die Frage, lieber Kollege, die wir uns stellen
müssen .
Es geht um den Umgang mit uns in diesen Verfahren .
Die Verhandlungen über CETA sind lange abgeschlossen, über TTIP wird seit Jahren verhandelt, aber wir
Parlamentarier werden nach wie vor von den wichtigen
Dokumenten ferngehalten . Das ist ein Skandal . Ich bin
der Auffassung - ich hoffe, dass ich Sie und viele in der
SPD dabei als Partner habe -, dass wir uns dagegen wehren müssen . Wir dürfen jetzt nicht kuschen . Das ist die
Aufgabe, vor der wir stehen .
({4})
Allerdings sind die Verträge nicht nur wegen der Geheimhaltung, sondern auch wegen ihres Inhalts abzulehnen .
Nun komme ich zur Union . Sie und auch die EU
behaupten permanent, es gebe keinen Abbau von Standards . Aber genau das ist doch das Ziel der Abkommen .
Wenn dies nicht so wäre, lieber Kollege Hauptmann,
meine Damen und Herren, warum sind dann unsere Bundesregierung und auch viele in der Öffentlichkeit der
Auffassung, dass bestimmte Bereiche von diesen Vereinbarungen ausgenommen werden müssen? Warum wollen
wir bestimmte Dinge ausnehmen? Wenn es überall nur
aufwärtsginge, müssten wir ja alle Bereiche einbeziehen,
damit es besser wird als vorher . Nein, bestimmte Bereiche sollen explizit ausgenommen werden: Daseinsvorsorge soll ausgenommen werden, Kultur soll ausgenommen werden, öffentliche Wohlfahrt soll ausgenommen
werden . Warum?
({5})
Wenn diese Verfahren einen anderen Charakter hätten,
müssten sie nicht ausgenommen werden . Allein die Tatsache, dass wir selber dafür kämpfen, einzelne Bereiche
aus dieser Liberalisierung, aus dieser Vereinheitlichung
auszunehmen, ist der Beweis dafür, dass die Verträge
in Richtung Abbau von Standards gehen . Deshalb ist es
richtig, sie abzulehnen .
({6})
Ich komme zum Schluss . Ich möchte Ihnen sagen: Verantwortlich für diese Abkommen ist momentan die Europäische Union, die sie verhandelt . Aber im Hintergrund
stehen die europäischen Regierungen . Deshalb müssen
wir in den nationalen Parlamenten Position beziehen .
Wenn wir dies nicht tun, sind auch wir als Parlamente
dafür verantwortlich, dass vor privaten Schiedsgerichten geklagt wird . Sie gelten nach wie vor in CETA, und
wenn sie in CETA enthalten sind, haben die Amerikaner
über Kanada die Möglichkeit, uns zu verklagen . Deshalb
müssen wir dafür sorgen, dass das abgelehnt wird . Wenn
es nicht abgelehnt wird, wird es dazu führen, dass wir
mitverantwortlich sind, wenn Regierungen vor diesen
Schiedsgerichten verklagt werden und letztendlich die
deutschen und europäischen Steuerzahler für das zahlen
müssen, was andere versauen .
Ich danke für die Aufmerksamkeit .
({7})
Nächster Redner ist der Kollege Bernd Westphal für
die SPD .
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lieber Kollege Klaus Ernst, wir haben heute einen Antrag
der Grünen auf der Tagesordnung, der sich mit CETA
beschäftigt, also mit dem schon ausgehandelten Abkommen der EU mit Kanada; darüber haben wir zu diskutieren . Sie haben hier eben eine ganze Zeit über TTIP und
über Transparenz gesprochen . Da gehe ich ja mit . Aber
das hat nichts mit diesem Tagesordnungspunkt zu tun .
({0})
Von daher: Thema verfehlt, setzen, sechs .
({1})
Der Antrag der Grünen fasst noch einmal die Kritik
zusammen, die die Fraktion an dem Freihandelsabkommen zwischen der EU und Kanada hat .
Herr Kollege Westphal, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Ernst?
Selbstverständlich .
({0})
Bernd - wir sind ja per Du; ich darf das so sagen -,
ich habe doch deutlich dargestellt - deshalb habe ich sehr
wohl zum Inhalt gesprochen -, dass dieses Parlament
bei CETA, also bei dem Handelsabkommen mit Kanada, in keiner Weise beteiligt war . Ich habe die Position
des Präsidenten des Deutschen Bundestages angeführt,
der gesagt hat: Dann müsste man so ein Abkommen eigentlich ablehnen . Er kann sich nicht vorstellen, dass so
zugestimmt wird . Daher habe ich doch bitte schön zum
Thema gesprochen .
Ich habe auch zum Thema gesprochen, Kollege
Westphal, lieber Bernd, als ich gesagt habe: Bei diesen
Abkommen geht es im Kern darum, dass dereguliert werden soll . Genau das ist ja in CETA enthalten . Auch der
Investorenschutz ist in CETA enthalten . Genau darüber
diskutieren wir . Ich habe zum Schluss noch einmal darauf hingewiesen,
({0})
dass, wenn wir den Investorenschutz bei CETA bekommen, wir ihn automatisch mit Amerika bekommen, weil
sehr viele amerikanische Unternehmen in Kanada sind .
Sie können das Abkommen nutzen, um europäische Staaten zu verklagen . Daher habe ich doch bitte schön zum
Thema gesprochen .
Mich würde interessieren: Wie seht ihr das? Seid ihr
gegen CETA, wenn private Schiedsgerichte enthalten
sind, oder seid ihr dafür? Diese Antwort seid ihr als Sozialdemokraten schuldig .
Ich bin ja erst am Anfang meiner Rede . Von daher
komme ich gleich dazu .
({0})
Aber ich will zu der Frage Stellung nehmen .
({1})
- Jetzt musst du auch zuhören, wenn ich antworte . - Die
Frage war ja, inwieweit der Bundestag beteiligt ist . Wir
haben ja die Freihandelsabkommen auf europäischer
Ebene delegiert . Das heißt, der Bundestag ist gar nicht
Verhandlungsführer, auch nicht das Europäische Parlament, sondern die EU-Kommission . Dieser Vertrag
musste erst einmal ausgehandelt werden . Er liegt jetzt
vor und wird übersetzt . Wenn es ein gemischtes Abkommen ist - wir gehen davon aus, dass es so ist -, dann wird
sich dieses Parlament damit beschäftigen . - So weit die
Antwort auf Ihre Frage .
Die Verhandlungen zum Abkommen CETA sind seit
dem 26 . September 2014 abgeschlossen . Das sage ich,
damit auch dies klar ist . Es ist im Grunde genommen
schon verhandelt und liegt vor . Derzeit läuft die Rechtsförmlichkeitsprüfung, das sogenannte Legal Scrubbing,
und dementsprechend auch die Übersetzung . Wahrscheinlich wird es im ersten Halbjahr 2016 in deutscher
Sprache vorliegen . Wir sind einer Meinung, dass es sicherlich ein Anspruch ist, den Parlamentarier haben können, dass solch ein kompliziertes Vertragswerk in deutscher Sprache vorliegt .
Abgesehen davon bitte ich um mehr Vertrauen, was
das Europäische Parlament betrifft . Auch dort gibt es
klare Positionierungen . Ich bitte auch darum, den Kollegen Bernd Lange zu unterstützen, der eine hervorragende
Arbeit macht, für Aufklärung sorgt und die Dinge darstellt .
({2})
Auch in Kanada hat es Veränderungen in der Regierung
gegeben . Der neue Premierminister Justin Trudeau - er
ist seit dem 4 . November dieses Jahres, also sehr frisch,
im Amt - hat sich für dieses Freihandelsabkommen ausgesprochen . Nun muss sich auch die EU-Kommission
den strittigen Fragen zuwenden . Wir haben gestern zumindest erreichen können - du hast die Verhandlungen
und Gespräche mit der EU-Kommission erwähnt -, dass
uns die für Handel zuständige Kommissarin Malmström
versichert hat, dass sie der kanadischen Regierung die
entsprechenden Punkte schriftlich mitgeteilt hat . Wir
erwarten, dass wir zumindest hier Fortschritte erreichen
werden .
Was die kanadische Seite angeht, hatten wir heute Morgen in der Diskussion mit der Botschafterin von
Kanada noch einmal die Möglichkeit, darauf hinzuweisen, dass wir, gerade was den Investitionsschutz angeht,
eine Weiterentwicklung brauchen . Die Vorschläge, die
die SPD im Hinblick auf einen Internationalen Handelsgerichtshof entwickelt hat, könnten hier aufgenommen
werden, nicht in einem neuen Verfahren, sondern im
Rahmen der Weiterentwicklung dieses Abkommens .
Ich will zwei inhaltliche Punkte ansprechen, die
in dem Antrag der Grünen erwähnt werden . Sie, Frau
Dröge, haben eben ausgeführt, was in Kapitel 10 und 11
des CETA-Abkommens hinsichtlich der Ausnahmen für
die kommunale Ebene vereinbart ist und welche Vorbehalte die Anhänge I und II bezüglich der kommunalen öffentlichen Dienstleistungen enthalten . Im Antrag werden
Bedenken geäußert, der CETA-Hauptausschuss könne
die Negativliste verändern . Ich muss Ihnen sagen, dass
das falsch ist . Das, was Sie in dem Antrag formulieren,
ist widerlegt . Der Hauptausschuss hat keine Befugnis,
die in Anhang I und II genannten individuellen Vorbehalte der Mitgliedstaaten im Bereich der Dienstleistungen
eigenmächtig zu verändern; er kann lediglich Empfehlungen aussprechen . Deshalb ist das, was Sie auf Seite 6
Ihres Antrags formulieren, falsch; Dirk Wiese hat gleich
sicherlich noch Gelegenheit, darauf näher einzugehen .
Wir haben im GATS-Abkommen übrigens seit 20 Jahren
solche Regelungen und bis heute keine Probleme damit .
Was die Vereinbarkeit mit dem Inhalt des Freihandelsabkommens angeht, ein zweiter inhaltlicher Punkt .
Im Antrag wird einerseits Kritik daran geäußert, dass
Mechanismen vorgesehen sind, die ein nachträgliches
Verändern und Anpassen, also ein sogenanntes Living
Agreement, verlangen . Andererseits kritisieren Sie, dass
das Abkommen als gesetzgeberische Momentaufnahme
einzementiert würde und dadurch präjudizierende Wirkung haben könnte, Stichwort „Urheberrecht“.
({3})
Sie müssen sich schon entscheiden, für welche Variante
Sie hier sprechen . Ich denke, man sollte die Möglichkeit
haben, neue Erkenntnisse in ein Living Document einfließen zu lassen. Das erfüllt dieses Abkommen.
Die Diskussion über Freihandelsabkommen ist wichtig . Durch die breite Diskussion, die wir auch öffentlich
führen, wird deutlich, dass es eine ganze Menge Chancen
gibt, den Freihandel auch global voranzubringen . Wir
müssen nur die Vorteile für uns, für unseren Standort erkennen . Manche, auch auf Brüsseler Ebene, schütteln nur
noch den Kopf, wenn sie hören, welche Argumente teilweise aus einem so großen Exportland wie Deutschland
angeführt werden und dass man Freihandelsabkommen
gegenüber hier sehr kritisch eingestellt ist . Wir haben
unseren Nutzen von solchen Abkommen, was Beschäftigung, Innovation und Freihandel angeht . Gestern haben
wir sogar mit Vertretern der katholischen Kirche diskuKlaus Ernst
tiert, die auch die Impulse für eine globale Regulierung
der Märkte gesehen haben .
Herr Kollege Westphal, denken Sie an die Redezeit?
Letzter Satz, Herr Präsident . - Der globale Handel
muss nicht nur frei, sondern auch fair sein . Daran werden
wir als Sozialdemokraten arbeiten .
Vielen Dank .
({0})
Jetzt hat der Kollege Peter Beyer für die CDU/CSU
das Wort .
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte mit
etwas Positivem beginnen, und zwar mit dem Titel des
Antrags der Grünen . Er bringt nämlich zum Ausdruck,
dass es einen gewissen Lernprozess gegeben hat . Hieß
es in den letzten Anträgen zum Thema CETA noch, man
wolle den Gesetzentwurf komplett ablehnen, so heißt es
jetzt: So ist nicht zuzustimmen . - Ich denke, wenn wir
noch etwas mehr Debatten führen, kommen wir da vielleicht ein gutes Stück vorwärts, sodass auch dieser Lernprozess noch weiter fortschreitet. Ich finde, das ist eine
gute Sache .
({0})
Herr Beyer, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Dröge?
Im Moment nicht, vielleicht hinterher .
({0})
- Es gab schon so viele schöne Zwischenfragen . Wir
können uns gleich sehr gerne noch einmal austauschen .
({1})
Vielleicht ist das Ganze ja auch ein positiver Ausfluss
aus der baden-württembergischen Landesregierung . Dort
tragen die Grünen ja durchaus Regierungsverantwortung .
Wenn man dorthin schaut, dann erkennt man, dass der
gesamte Prozess zu CETA und TTIP, den beiden Freihandelsabkommen mit den nordamerikanischen Partnern,
dort durchaus konstruktiv und positiv begleitet wird . Es
gibt ein Positionspapier, einen Beschluss der Landesregierung Baden-Württembergs dazu, wo die Chancen
dieser Abkommen betont werden . Das ist etwas ganz anderes als das, was sich in Ihrem, wie Sie selbst gesagt
haben, sehr lang ausformulierten Antrag letztlich findet.
Wo stehen wir mit CETA? Das haben wir von den Vorrednern schon ein paar Mal gehört . Deswegen kann ich
mich an dieser Stelle kurzfassen .
Das Ganze ist ausverhandelt . Die Verhandlungen sind
schon vor über einem Jahr final zu Ende geführt worden;
sie sind also abgeschlossen . Man ist jetzt in der Phase der
Rechtsförmlichkeitsprüfung, des Legal Scrubbing; das
wurde hier schon genannt .
Ich rate allerdings gemeinsam mit meiner Fraktion
eindringlich davon ab, das Inkrafttreten von CETA durch
weitere überzogene Forderungen nach einem kompletten erneuten Aufschnüren dieses Verhandlungspakets,
wie sie auch in dem Antrag der Grünen formuliert sind,
weiter zu verzögern . Das ist gerade im Hinblick auf wirtschaftliche Impulse nicht das, was wir brauchen . Daneben ist das übrigens auch völlig unrealistisch . Ich komme
gleich noch einmal darauf zu sprechen .
Meine Damen und Herren, CETA ist das Ergebnis
intensiver Verhandlungen zwischen den Delegationen
unserer Seite, der Europäischen Union, und Kanadas .
Dieses Ergebnis ist ein gutes Ergebnis, mit dem wir sehr
zufrieden sein können . Es ist insbesondere ein wichtiger
Baustein für eine der Zukunft zugewandte Handelspolitik auf globaler Ebene .
Bei TTIP sind wir - um das hier auch noch einmal zu
erwähnen; da verhandelt man noch nicht so lange, deshalb liegt das in der Natur der Sache - noch nicht ganz
so weit, aber auch auf einem guten Weg . Ich bin frohen
Mutes, dass wir das mit großem Engagement und - ja auch mit parlamentarischer Begleitung - nicht nur auf
europäischer Ebene, sondern auch auf nationaler Ebene nach vorne und zu einem guten Ergebnis bringen können .
({2})
Denn - machen wir uns da nichts vor - unseren Wohlstand, den wir in unserer starken Volkswirtschaft, in
Deutschland, im Großen und Ganzen genießen, verdanken wir nicht zuletzt der Wirtschaft und vor allen Dingen
den Menschen, die in den Unternehmen und Betrieben
hier in Deutschland arbeiten, und genau für diese Menschen sind diese Freihandelsabkommen - ich nenne sie
bewusst beide - TTIP und CETA, das bereits zu Ende
verhandelt ist . Für diese Menschen müssen diese Projekte gelingen und gut umgesetzt werden . Wir können
uns jetzt nicht zurücklehnen und sagen: Unser relativer
Wohlstand und unsere starke volkswirtschaftliche und
politische Position in Europa sind gottgegeben, und das
wird immer so bleiben .
Die Realität, vor der wir uns ja nicht verschließen
wollen, ist, dass es auf dem Markt der Volkswirtschaften - so ist die Entwicklung nun einmal; das ist nichts
Schlechtes - nun andere, erstarkende, gestaltungsmächtige, wie wir sie einmal bezeichnet haben, Wettbewerber
gibt, nämlich die Volksrepublik China, Indien und weitere Länder . Diese Länder haben Umweltschutzstandards,
Sozialstandards und Arbeitsschutzstandards, die diejeniBernd Westphal
gen, die die TTIP- und CETA-Freihandelsabkommen vehement bekämpfen, überhaupt nicht haben wollen - und
insbesondere auch wir nicht .
Deswegen kämpfen wir dafür, dass diese Verhandlungen auf einen hohen Schutzstandard ausgerichtet,
entsprechend weitergeführt und letztlich zu einem guten
Ende gebracht werden; denn wenn wir nicht aufpassen der Kollege Hauptmann und andere Redner an diesem
Pult haben schon darauf hingewiesen - , werden uns die
Standards gesetzt, und diese wären allemal - davon können wir mit Sicherheit ausgehen - geringer als die, die
wir jetzt mit den nordamerikanischen Freunden zusammen verhandeln können .
({3})
Dass wir in der Welt enger zusammenrücken und dass
es immer globaler wirkende Herausforderungen gibt,
führt uns auch zu der Erkenntnis, dass wir alleine scheitern müssen . Es ist nämlich ein Faktum, dass die Tendenz
zurück zu immer mehr Nationalstaatlichkeit und weniger Supranationalismus kleingeistig, rückwärtsgewandt
und letztlich insbesondere schlecht für die Menschen
ist . Denn das Abschotten - und Protektionismus ist ein
Abschotten - von den globalisierenden Fortschritten in
der Welt führt zu keinem guten Ergebnis . Und deswegen
können wir das nicht unterstützen .
Meine Damen und Herren, ich sage aber auch, dass
eine - so will ich es einmal bezeichnen - Selbstverzwergung vor den Verhandlungspartnern nicht angezeigt ist .
({4})
Die europäische Seite und die EU-Mitgliedstaaten können durchaus selbstbewusst mit den Amerikanern, mit
den Kanadiern Verhandlungen führen, wie es auch geschehen ist, wenn man sich einmal vor Augen hält, dass
in Europa mehr Menschen leben, nämlich über 500 Millionen Menschen, während in den USA und in Kanada
zusammen ungefähr 355 Millionen leben . Wir können
selbstbewusst und auf Augenhöhe miteinander reden und
verhandeln und lassen uns nicht von den Amerikanern,
die ja hier oftmals als die ganz Bösen dargestellt werden,
insbesondere die amerikanische Industrie, über den Leisten ziehen . Wir müssen hier selbstbewusst auftreten - das
machen wir auch -, dann kommt das Ganze auch zu guten Ergebnissen .
Wer sich auf dem transatlantischen Terrain bewegt,
weiß, dass jenseits des Atlantiks das Interesse an Europa
in der letzten Zeit ein Stück weit nachlässt - so will ich
es einmal ausdrücken ({5})
und dass sich alles ein wenig hin zum transpazifischen
Verhältnis, zur transpazifischen Partnerschaft verrückt.
Ein Scheitern dieses Abkommens wäre schlecht für Europa und insbesondere für die Menschen in Deutschland .
Dabei geht es weniger um bloßes Wirtschaftswachstum dazu existiert ja ein bunter Strauß von Studien, die sich
zum Teil widersprechen -, sondern vielmehr - darin liegt
die geostrategische und geopolitische Bedeutung von
TTIP und CETA - um nichts Geringeres als die zukünftige Gestaltung des globalen Handels . Und das kann eben
nicht mit Angst gelingen .
Wenn ich den Antrag der Grünen lese, dann stelle
ich fest, dass es eine Aneinanderreihung von Ängsten,
Vorbehalten und Worst-Case-Szenarien ist . Ich nehme
einmal die Schiedsgerichte heraus, auf die ich aus Zeitgründen nicht lange eingehen will . Wir können doch
nicht von Ängsten bestimmte Politik betreiben und dabei
unseren Sachverstand komplett ausschalten . Wenn die
Menschen in unserem Lande bei ihren Unternehmungen,
bei dem, was sie anpacken, womit sie Zukunft gestalten
wollen, in den letzten Jahren so agiert hätten, dann wäre
Deutschland nicht da, wo es jetzt in der Welt steht - mit
einer starken Volkswirtschaft, mit einem großen Selbstbewusstsein .
({6})
Deswegen sage ich an dieser Stelle: Der Antrag ist
eine Aneinanderreihung von Angstmachereien . Das führt
nicht zum Erfolg . Lassen Sie uns konstruktiv an der Sache arbeiten . Dann kommen wir auch zu einem guten
Verhandlungsergebnis, meine Damen und Herren .
({7})
Es ist sicherlich richtig - ich komme sofort zum
Schluss, Herr Präsident -, auf mögliche Probleme hinzuweisen . Das bezieht auch die Leseräume ein . Es ist ja
schon angesprochen worden, dass sich der Parlamentspräsident für die Parlamentarierrechte starkmacht . Das
ist sicherlich zu unterstützen . Ich glaube auch hier, dass
wir auf dem richtigen Weg sind .
Meine Damen und Herren, wenn CETA und TTIP
selbstbewusst weiterverhandelt und gut umgesetzt werden, dann ist CETA, dann ist TTIP gut für die Menschen,
insbesondere für die Menschen in Europa und ganz
speziell für die Menschen in unserem wunderschönen
Deutschland - ein ganz wunderbares Ergebnis .
Vielen Dank .
({8})
Ich darf generell daran erinnern, dass es sich bei den
vereinbarten Redezeiten nicht um Richtwerte handelt,
sondern um präzise vereinbarte Zeiträume .
Ich erteile jetzt zu einer kurzen Kurzintervention der
Kollegin Dröge das Wort .
Sehr geehrter Herr Kollege Beyer, Sie haben ja leider
meine Zwischenfrage nicht zugelassen . Ich möchte aber
doch auf etwas eingehen und Sie zu dem, was Sie gerade
gesagt haben, noch etwas fragen .
Als Sie über unsere Anträge sprachen, hatte ich den
Eindruck, Sie haben nur die Titel unserer Anträge gelesen . Deswegen möchte ich Sie noch einmal auf den Inhalt unserer Anträge hinweisen . Wenn Sie den Inhalt zur
Kenntnis genommen hätten, dann wüssten Sie, dass in
den Anträgen, die wir bislang zu CETA gestellt haben,
immer klar formuliert wurde - beispielsweise in dem
letzten Antrag, den Sie zitiert haben -: So, wie das System der Schiedsgerichte enthalten ist, kann man CETA
nicht zustimmen . Und da das System der Schiedsgerichte
enthalten ist, muss man dieses Abkommen ablehnen . Das
hat aber immer beinhaltet - das steht in allen Anträgen,
die wir gestellt haben -, dass es die Option zur Veränderung gibt .
Deswegen die zweite Frage an Sie: Haben Sie eigentlich wahrgenommen, was wir hier diskutiert haben?
Unser Antrag ist nämlich anlässlich des Handelns der
Bundesregierung gestellt worden, deren Vertreter gesagt
haben, dass sie das CETA-Abkommen nachverhandeln
werden . Sie und Herr Hauptmann begründen in Ihren
Reden die ganze Zeit nur, warum das CETA-Abkommen
auf keinen Fall nachverhandelt werden dürfte .
({0})
Daher frage ich Sie: Wie erklären Sie denn das Handeln Ihrer eigenen Bundesregierung, die Sie mit Ihren Stimmen tragen? Wie ist denn Ihre Position zu den
Punkten, die man unserer Meinung nach nachverhandeln
müsste? Oder haben Sie sich einmal an Herrn Gabriel
gewandt und gesagt: „Bitte unterlasse deine Handlungen
in Brüssel“?
({1})
Herr Kollege Beyer, Sie haben die Möglichkeit, darauf zu erwidern .
Das mache ich sehr gerne, Herr Präsident . - Vielen
Dank, Frau Kollegin Dröge, für die an mich gerichteten
Fragen . Ich werde mit der letzten Frage beginnen . Selbstverständlich stehen wir mit dem Bundeswirtschaftsminister im Dialog .
({0})
Bloß: Ich habe genauso wie der Kollege Hauptmann oder
auch die anderen Mitglieder meiner Fraktion eine völlig
andere Wahrnehmung . Sie betonen hier, es gäbe Widersprüche . Ich habe mir Ihren Antrag sehr wohl durchgelesen . Darin steht sehr viel von Widersprüchen - das kam
auch vorhin in den Reden zum Ausdruck - und davon,
dass das Bundeswirtschaftsministerium erklärt habe,
man müsse bestimmte Dinge neu aufschnüren . Dabei
war nicht die Rede davon, das Paket komplett neu zu verhandeln . Das ist auch richtig, sehr geehrte Frau Dröge .
({1})
Das Bundeswirtschaftsministerium ist sich seiner Verantwortung bewusst . Man verschließt ja nicht die Augen
vor der Realität . Niemand im Bundeswirtschaftsministerium, den ich kenne, sagt: Wir müssen das Verhandlungspaket komplett neu aufschnüren . - Dort hat man schließlich die Realität akzeptiert .
({2})
Dass bereits vor über einem Jahr die Verhandlungen abgeschlossen worden sind, müssen Sie einmal zur
Kenntnis nehmen und auch die Tatsache, dass es im
Rahmen der Rechtsförmlichkeitsprüfung, die als Legal
Scrubbing bezeichnet wird, ein ganz normaler Vorgang
ist, Dinge in der Feinjustierung zu verändern .
({3})
Das ist etwas, was wir natürlich unterstützen . Die Chance
zu nutzen, die darin besteht, vielleicht die eine oder andere Sache in unserem Sinne zu korrigieren, ist unterstützenswert und richtig . Aber ein komplettes Aufschnüren
des Verhandlungspaketes ist dummes Zeug . Deswegen
lehnen wir es ab .
({4})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Bärbel Höhn für Bündnis 90/Die Grünen .
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am
10 . Oktober dieses Jahres gab es eine sehr große Demonstration in Berlin . 250 000 Menschen - ich war dabei - haben gegen die Freihandelsabkommen CETA und
TTIP demonstriert .
({0})
Wenn Sie hier von „Empörungsindustrie“ und von
„Angstmacherei“ reden,
({1})
dann sage ich: Nehmen Sie die Sorgen der Menschen
ernst! Das sollten gerade auch Sie in der Koalition tun .
({2})
Warum haben diese Menschen Sorgen? Es geht hier
um Punkte, die seit Jahren und Jahrzehnten in WTO-Verhandlungen nicht geklärt worden sind, zum Beispiel
die Frage der Gentechnik . Das ist zwischen Europa und
Nordamerika schon immer ein Riesenproblem gewesen .
Natürlich hat Nordamerika mit seinem Gentechnikeinsatz immer gesagt: Eure Argumente gegen die Gentechnik sind doch nur ein Handelshemmnis . Ihr wollt eure
Märkte für unsere Produkte einfach sperren . - Wir haben
gesagt: Nein, wir haben einen vorsorgenden Verbraucherschutz .
Das, was jetzt mit dem CETA-Abkommen passieren
soll - der Text liegt ja vor -, ist, dass dieser Konflikt zulasten der Verbraucher und zugunsten der Gentechnik
gelöst werden soll . Dagegen werden wir Widerstand leisten . Das nehmen wir so nicht hin .
({3})
Wie wichtig dieses Thema ist, wissen Sie selbst . Herr
Seehofer hat damals als Minister als Nachfolger von Frau
Künast im November 2005 den Anbau von MON 810 genehmigt . Das war die erste kommerziell angebaute Gentechnikpflanze. Gegen diesen Anbau hat es so viel Widerstand gegeben, auch von den Bauern aus Bayern und
auch von der Firma Hipp aus Bayern, dass Herr Seehofer
später seine Nachfolgerin Frau Aigner angewiesen hat,
den Anbau von MON 810 wieder zu verbieten .
Wenn Sie dem CETA-Abkommen jetzt zustimmen,
wird es die Möglichkeit, zukünftig den Anbau von Gentechnikpflanzen zu verbieten, nicht mehr geben, es sei
denn, Sie sind bereit, massive Schadensersatzzahlungen zu leisten . Das, meine Damen und Herren, ist nicht
das, was wir wollen . Deshalb: Stimmen Sie gegen das
CETA-Abkommen in der jetzigen Form!
({4})
Dass bereits die Verhandlungen Standards absenken,
sehen wir doch . Ein Beispiel dafür ist Honig aus Kanada .
Der Europäische Gerichtshof hat erklärt: Dieser Honig
muss besonders gekennzeichnet werden, weil das gentechnisch veränderte Material in den Pollen über dem
Grenzwert liegt . - Was hat die EU gemacht? Weil sie die
Verhandlungen mit Kanada nicht gefährden wollte, hat
sie den Pollen als Bestandteil des Honigs deklariert, und
damit war der Gentechnikanteil unter dem Grenzwert .
Diese Beispiele könnte ich noch fortsetzen . Schon
heute werden Standards aufgrund der Verhandlungen im
Rahmen des CETA-Abkommens relativiert . Deshalb ist
Ihr Versprechen, dass keine Standards abgesenkt werden,
nur ein hohles Versprechen, das wir nicht glauben .
({5})
Sie wissen doch, was im Vertrag steht: 75 000 Tonnen Schweinefleisch zollfrei, 50 000 Tonnen Rindfleisch
zollfrei . Wo sind die Schweinepreise momentan? Im Keller! Wenn Sie das, was im Vertrag geregelt ist, eingedenk
der Tatsache, dass die Kosten in Kanada um 40 Prozent
geringer sind, zulassen, dann übt das einen so starken
Druck auf unsere einheimischen Familienbetriebe aus,
dass noch mehr aufgeben müssen . Was machen Sie eigentlich für eine Politik für die Bauern in diesem Land?
({6})
Letzter Punkt . Eine kanadische NGO hat eine Initiative gestartet, die eine Passage im Paris-Abkommen zum
Ziel hat, wonach Schiedsgerichte in geschlossenen wie
zukünftigen Freihandelsverträgen für den Pariser Klimavertrag nicht gelten dürfen, weil man sich sonst nicht
in der Lage sieht, den Paris-Vertrag für Klimaschutz
zu erfüllen . Das hat übrigens das Europaparlament mit
einer Resolution unterstützt . So viel zu der momentanen Haltung in Kanada . Seit der Regierungsübernahme
durch Herrn Trudeau zeichnet sich eine Veränderung ab .
Er sieht diesen Vertrag in einem neuen Licht . Nehmen
Sie die Möglichkeit wahr, endlich neu zu verhandeln,
auch über Schiedsverfahren! Sie können doch nicht die
Schiedsverfahren bei TTIP verändern wollen, während
sich bei CETA nichts ändern soll . Dann würden 80 Prozent der Klagen von US-Firmen mit Niederlassungen in
Kanada auf der Grundlage des CETA-Vertrages trotzdem
hier erhoben werden . Lassen Sie uns also die Verträge
nachverhandeln! Ich bin nicht bereit, dass der Preis für
einheitliche Autoblinker die Gentechnik auf unserem
Teller sein soll . Das werden wir nicht hinnehmen .
({7})
Das Wort hat jetzt der Kollege Rainer Spiering für die
SPD .
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuschauer auf der Tribüne! Lassen Sie mich
eine Vorbemerkung machen . Es mag sein, dass ich falsch
liege, aber wenn ich das Verfahren einigermaßen richtig
verstanden habe, dann hat man sich in Europa geeinigt,
dass das Europäische Parlament für Europa die Verhandlungen führt .
({0})
- Richtig, die Kommission . Danke schön, Herr Ernst, für
die Berichtigung .
({1})
Momentan liegt die Verhandlungsführung also bei
der Europäischen Kommission . Es entspricht unseren
europäischen Wertvorstellungen, das gemeinsam zu tun .
Wenn ich es weiterhin richtig verstanden habe - die Aussagen in meiner Fraktion sind eindeutig -, dann handelt
es sich um ein gemischtes Abkommen . Wenn es sich um
ein solches Abkommen handelt - davon gehe ich aus -,
dann wird es letztendlich zu einer endgültigen Entscheidung über CETA und TTIP in diesem Hohen Hause kommen; das ist so auch richtig .
({2})
- Richtig, mit Ja und Nein . - Von meinem Verständnis
her - ich kann sicherlich falsch liegen - verhält es sich
so: Entweder wir trauen Europa und dem Europäischen
Parlament einschließlich aller Abgeordneten und Fraktionen - Frau Höhn, auch der Grünen - Kompetenz zu
oder nicht .
({3})
Das ist für mich die entscheidende Frage: Trauen wir
dem Europäischen Parlament zu, seine Souveränität für
Europa auszuüben?
({4})
Wenn nicht, dann ist das Ihre Entscheidung . Aber wir
trauen es dem Europäischen Parlament zu . Wir trauen
dem Europäischen Parlament und der Kommission auch
zu, ordnungsgemäß zu verhandeln .
Herr Kollege Spiering, erlauben Sie eine weitere Zwischenfrage des Kollegen Ernst?
({0})
Das müssen Sie schon mir überlassen . Jetzt erst recht!
({0})
Der Kollege Ernst hat damit das Wort .
Das macht Sie sehr sympathisch, Herr Spiering . - Ich
will auf das Vertrauen eingehen . Glauben Sie denn, Kollege Spiering, dass es dem Präsidenten des Deutschen
Bundestags an Vertrauen in die europäischen Institutionen mangelt?
Darum geht es nicht .
Doch, genau darum geht es . - Er fordert, dass bei den
infragestehenden Handelsabkommen die Parlamente in
der Form beteiligt werden müssen, dass sie Einfluss auf
die Inhalte haben .
({0})
Die nationalen Parlamente .
Richtig, die nationalen Parlamente . - Er hat ausdrücklich von unserem Parlament und nicht vom italienischen
oder vom Europäischen Parlament gesprochen . Er fordert, dass die Parlamente Einfluss auf die Gestaltung der
Verträge haben müssen .
({0})
Sie sollen nicht nur abwinken oder mit Ja oder Nein stimmen . Ich glaube, dem Präsidenten des Deutschen Bundestages mangelt es nicht an Vertrauen in die europäischen Institutionen .
({1})
- Was hat er nicht verstanden? Meinen Sie Herrn Spiering
oder mich?
({2})
- Ich verstehe zwar viel nicht . Aber Sie könnten einmal
zuhören .
Der Punkt ist: Wenn wir uns als Parlament nur auf die
Vertrauensebene begeben, Herr Kollege Spiering, dann
werden wir dem nicht gerecht, was die Bürger von uns
erwarten . Die Bürger erwarten schon, dass auch dann,
wenn es ein gemischtes Abkommen ist - Sie sagen, es
solle eines sein; es war gestern bei Frau Malmström
völlig unklar, ob es ein gemischtes Abkommen ist oder
nicht; es ist selbst jetzt noch unklar, ob wir selbst bei der
Endabstimmung überhaupt mitreden dürfen -,
({3})
wir über das Vertrauen hinaus einen Schritt machen, um
unseren Einfluss als Parlament im Sinne unseres Bundestagspräsidenten geltend zu machen . Glauben Sie das
nicht auch?
({4})
Herr Ernst, lassen Sie mich bescheiden antworten: Es
steht mir nicht zu, den Bundestagspräsidenten zu interpretieren . Dafür fühle ich mich viel zu klein .
Meine zweite Bemerkung betrifft das Grundverständnis - das will ich gerne noch einmal erklären - des Aufbaus der Europäischen Union . Daran kann man viel kritisieren . Ich mache mir viele Sorgen um Europa, ganz
viele, aber so, wie Europa im Moment aufgebaut ist,
müssen wir dem Europäischen Parlament und der Europäischen Kommission erst einmal zubilligen, das zu tun,
was ihnen obliegt . Das ist meine Auffassung dazu .
({0})
Ich will das gerne wiederholen: Ich gehe davon aus,
dass meine Fraktion recht hat und wir ein gemischtes Abkommen haben . Die Fragen, die übrigens zu Recht von
der Bevölkerung angesprochen werden, müssen beantwortet werden . Frau Höhn, ich nehme die 250 000 Menschen, die demonstriert haben, sehr ernst .
({1})
Frau Höhn, ich nehme aber auch viele andere ernst,
die im Lande im Moment Auffassungen vertreten, die
ich nicht vertrete und die den Umgang mit Flüchtlingen
betreffen . Auch die nehme ich ernst; denn man muss die
Strömungen aufnehmen . Man kann sich nicht davor wegducken .
Weil wir die Fragen und Bedenken ernst nehmen, beschäftigen wir uns intensiv damit . Es ist nicht so, dass
wir die Kritikpunkte der Grünen nicht verstehen können .
Selbstverständlich kann man diese verstehen . Ich halte
Transparenz für das Wichtigste im politischen Umgang .
Wir müssen klarmachen, worum es uns geht . Aber noch
einmal: Der entscheidende Tag wird dann kommen,
wenn wir hier im Bundestag mit Ja oder Nein abstimmen .
({2})
Lassen Sie mich abschließend noch etwas sagen, wozu
ich noch gar nicht gekommen bin . Meine Aufgabe war es
hier, die AG Landwirtschaft zu vertreten .
({3})
Wir haben im Bereich der Landwirtschaft einen Sektor,
die Landmaschinentechnologie, der extrem erfolgreich
ist . Der ist allerdings zu 75 Prozent vom Export abhängig . Ich habe mir einmal die Zahlen von Kanada kommen
lassen . Wir kommen fast nicht in diesen Markt hinein .
({4})
- Ich als Vertreter einer Industrienation bedaure das . Wir haben ganz große Probleme, in diesen Markt zu
kommen . Ich habe mir heute Morgen die Zahlen geben
lassen . Es gibt einen Wahnsinnsmarkt, es werden da allein 26 000 Schlepper pro Jahr veräußert . Wir kommen da
gar nicht vor. Wir haben aber eine unglaublich effiziente,
auf Hightech basierende Landmaschinenindustrie . Ich
würde mich zutiefst freuen, wenn die sehr gut bezahlten
Arbeitsplätze in den Betrieben, die fast durchgängig der
Mitbestimmung unterliegen, in Deutschland an Zahl zunehmen könnten, weil das unserer Mentalität entspricht .
({5})
Herzlichen Dank fürs Zuhören .
Abschließender Redner in dieser Aussprache ist der
Kollege Dirk Wiese für die SPD .
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Der Kollege Bernd Westphal hat schon angedeutet, dass ich mich auf zwei Punkte des Antrags der
Grünen beschränken will . Einer davon betrifft den Bereich der regulatorischen Kooperation .
Die angestrebte regulatorische Kooperation kann
… dazu beitragen, die Entwicklung neuer Regulierungen besser zu koordinieren bzw . gemeinsam zu
gestalten . … Die Entwicklung gemeinsamer transatlantischer Standards kann gute Rahmenbedingungen für Innovationen insbesondere auch im Bereich
der nachhaltigen Zukunftstechnologien schaffen
und damit die Innovationsfähigkeit der Unternehmen insgesamt steigern .
Liebe Grüne, Sie dürfen klatschen, das ist aus dem Eckpunktepapier der baden-württembergischen Landesregierung .
({0})
Liebe Grüne, Sie haben in Ihrem Antrag dargestellt
und viele Punkte aufgeführt, warum Sie CETA in der
derzeitigen Fassung nicht zustimmen . Ich muss Ihnen
ehrlicherweise eines sagen: Ich war unter der Woche hier
in Berlin auf Podiumsdiskussionen zu TTIP und CETA
und habe Ihre baden-württembergische Staatsministerin
Silke Krebs auf den Diskussionen explizit sagen gehört der Kollege Beyer war selbst da gewesen und auch Klaus
Müller von der Verbraucherzentrale Bundesverband -,
dass sie die Position, die die Bundestagsfraktion einnimmt, nicht versteht und nicht teilt . Gleichzeitig aber
sagt sie, sie würde CETA in der jetzigen Form zustimmen . Sie hingegen suggerieren den Bürgern, dass Sie
sich an die Spitze einer Bewegung stellen, die versucht,
CETA abzulehnen und zu verändern . Das ist aber unglaubwürdig, weil die baden-württembergische Landesregierung und auch andere Landesregierungen, in denen
Sie Wirtschaftsminister stellen, dem letztendlich zustimmen wollen . Es ist unglaubwürdig, was Sie den Bürgerinnen und Bürgern suggerieren .
({1})
An dieser Stelle - jetzt bitte einmal zuhören - muss
ich den Kollegen Klaus Ernst einmal loben .
({2})
Der Kollege Klaus Ernst ist in der Sache wenigstens klar .
Auch wenn wir uns bei CETA und TTIP nur auf Marktzugangskriterien einigen würden, auch wenn wir uns nur
auf Zölle einigen würden, auch wenn wir die Schiedsgerichte komplett herausnehmen oder etwa die Implementierung der ILO-Kernarbeitsnormen durchsetzen würden:
Sie würden es trotzdem ablehnen . Sie würden Nein zu
TTIP und CETA sagen, egal welche Reformbestrebungen
wir auf den Weg bringen . Das sollten Sie an der einen
oder anderen Stelle ebenfalls ehrlich sagen .
({3})
Noch ein letzter Punkt . Liebe Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSU, eine kleine Differenz besteht auch
zwischen uns . Das muss man einmal sagen .
({4})
Sie sind für TTIP und CETA, egal was darin steht . Wir
wollen wenigstens noch verhandeln . Das ist ein ganz
kleiner Unterschied .
({5})
Wir wollen ein gutes, ein richtiges Abkommen . Dafür
muss man erst einmal verhandeln .
({6})
Frau Dröge, Sie haben am Anfang das Bundeswirtschaftsministerium angesprochen .
Kollege Wiese, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Lenkert?
Ja, selbstverständlich .
Vielen Dank, Herr Kollege . - Ich wollte vorhin schon
die Kollegen fragen: Ist Ihnen der Fall Hamburg-Moorburg bekannt? Ausgangspunkt waren die vom Hamburger Senat ausgesprochenen Umweltauflagen. In einem
internationalen Schiedsgerichtsverfahren mit den USA
wurde ein Vergleich geschlossen, und die Umweltauflagen wurden zurückgenommen. Jetzt findet daraufhin
ein Vertragsverletzungsverfahren durch die Europäische
Kommission statt, weil bei den Umweltauflagen europäisches Recht nicht eingehalten worden ist . Die Umweltauflagen mussten aber aufgrund des Vergleiches im
Schiedsgerichtsverfahren zurückgenommen werden .
Meine Frage an Sie: Ist es klug, ein Abkommen abzuschließen, wonach sich am Ende die Hansestadt Hamburg entscheiden muss, ob sie an den Investor das im
Schiedsgerichtsverfahren ausgehandelte Strafgeld oder
an die EU-Kommission wegen Vertragsverletzung zahlt,
weil man die EU-Norm nicht eingehalten hat?
({0})
Sehr geehrter Kollege Lenkert, ich danke Ihnen für die
Frage, weil ich noch einmal die Gelegenheit habe, dies
klarzustellen . Warum, meinen Sie, war Sigmar Gabriel
in Madrid mit den Handelsministern der Europäischen
Union unterwegs? Warum, meinen Sie, ist Bernd Lange
in vorderster Front unterwegs mit einer Resolution, um
Reformen im bestehenden ISDS-System auf den Weg zu
bringen? Weil das alte ISDS-System - darum ist auch die
Klage betreffend Hamburg-Moorburg auf den Weg gebracht worden, die Sie angesprochen haben - reformbedürftig ist . Dafür setzen wir uns ein .
({0})
Diese Reformen in den Verfahren, lieber Herr Klaus
Ernst, erreicht man nur am Verhandlungstisch . Wenn
man nicht am Verhandlungstisch sitzt, wird es noch mehr
Fälle wie Hamburg-Moorburg geben . Sie tragen dazu
bei, weil Sie es ablehnen und nicht mitgestalten wollen .
({1}))
Die Kollegin Höhn möchte auch eine Zwischenfrage
stellen, wobei ich meine, dass am Schluss der Debatte
keine weiteren Zwischenfragen mehr gestellt werden
sollten . Wir haben schon eine sehr lebendige Debatte gehabt .
Sie haben das Wort .
Herr Kollege Wiese, Sie haben gerade zu Recht gesagt, dass eine Reform der Schiedsgerichtsverfahren
auch von den Sozialdemokraten deshalb angestrebt wird,
weil die Passagen, die bei TTIP vorgesehen sind, auch
aus Ihrer Sicht nicht befriedigend sind . Gleichzeitig gibt
es aber im CETA-Vertragstext Passagen zu Schiedsgerichtsverfahren . Hier wird gesagt: Nur noch im Rahmen
eines Legal Scrubbing wird etwas geändert . Wird die
SPD-Fraktion einem CETA-Vertragstext zustimmen, wo
diese Schiedsgerichtsverfahren noch enthalten sind und
damit US-Firmen über ihre Dependancen in Kanada weiterhin die Schiedsgerichtsverfahren gegen Deutschland
anstrengen können?
({0})
Ich komme gerne darauf zu sprechen . Einmal bitte
ich Sie, zur Kenntnis zu nehmen, dass auch in den reformierten ISDS-Verfahren, sowohl das Abkommen mit
Singapur als auch das CETA-Abkommen betreffend, die
klassische Klagemöglichkeit von Briefkastenfirmen
({0})
- lassen Sie mich aussprechen -, die in allen vorherigen
Abkommen stand, herausgenommen worden ist . Das ist
die erste Feststellung .
({1})
Den zweiten Punkt, den Sie ansprechen, kann ich aus
Sicht der Opposition voll und ganz verstehen . Sie möchten gerne wissen, ob am heutigen Tag feststeht, ob wir Ja
oder Nein sagen . Ich kann das nachvollziehen . Das ist Ihr
gutes Recht .
Nur: Die neue kanadische Regierung hat vor einer
Woche die Arbeit aufgenommen . Wir waren gestern zu
Gesprächen in Brüssel . Auch wir haben mit den Kolleginnen und Kollegen des Europäischen Parlaments gesprochen . Ich bin guter Dinge, dass wir in dem sich noch
bis Ostern 2016 hinziehenden sogenannten Legal-Scrubbing-Verfahren - Frau Dröge, ich teile Ihnen den Zeitplan gern mit; schließlich haben Sie vorhin gesagt, Sie
wüssten davon nichts - noch zu punktuellen Veränderungen kommen .
({2})
Die EU-Kommissarin Malmström hat uns gestern in
einem Gespräch gesagt - Frau Dröge, vielleicht tauschen
Sie sich einmal mit dem Kollegen Janecek aus, wenn er
von einer Reise zurückgekommen ist -, dass sie Kontakt
mit der neuen kanadischen Handelsministerin aufnimmt,
um klarzustellen, dass im Legal-Scrubbing-Verfahren
noch Möglichkeiten bestehen, an der einen oder anderen
Stelle Feinjustierungen, Änderungen vorzunehmen .
({3})
Ich bitte Sie an diesem Punkt einfach einmal um etwas
Geduld; denn hier wird sich zeigen, dass die SPD sowohl
im Europäischen Parlament als auch über das Bundeswirtschaftsministerium an jeder Stelle versuchen wird,
da noch etwas zustande zu bringen . Das ist Politikgestalten, und da machen Sie nicht mit .
({4})
Ich will noch auf einen Punkt eingehen: Sie fordern
in Ihrem Antrag die Bundesregierung auf, dass die weiteren Kooperationsvereinbarungen im Regelungsbereich
so zu gestalten sind, dass daraus keine Verlagerung von
Kompetenzen in den Exekutivbereich erwächst . Ich kann
Ihnen eins sagen - das steht im vorläufigen CETA-Vertragsentwurf; er ist übrigens öffentlich; man kann ihn
einsehen; Herr Kollege Ernst, ich lade Sie herzlich ein, in
mein Büro zu kommen; da liegt dieser Entwurf auf dem
Schreibtisch -: Keine Kompetenzen werden in den Exekutivbereich verschoben, da die Kompetenzverteilung
im Vertragsentwurfstext gar nicht geregelt wird . CETA
verweist vielmehr darauf, dass Entscheidungen erst dann
wirksam werden, wenn die Vertragsparteien im Einklang
mit ihrem jeweiligen internen Verfahren zugestimmt
haben . Darum ist die Behauptung, die Sie in Ihrem Antrag aufstellen, schlichtweg falsch .
({5})
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit .
({6})
Damit schließe ich die Aussprache .
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/6201 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen . Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe, das ist der Fall; es gibt keinen
Widerspruch . Dann ist die Überweisung so beschlossen .
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 30 auf:
Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
CSU und SPD
Industrie 4.0 und Smart Services - Wirtschafts-, arbeits-, bildungs- und forschungspolitische Maßnahmen für die Digitalisierung
und intelligente Vernetzung von Produktionsund Wertschöpfungsketten
Drucksache 18/6643
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
diese Aussprache 60 Minuten vorgesehen . - Ich höre keinen Widerspruch . Dann ist auch dieses so beschlossen .
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster
Rednerin das Wort der Bundesministerin Professor
Dr . Johanna Wanka .
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Industrie 4 .0 wissen Sie, wer sich diesen Begriff
überlegt hat, woher dieses Wort kommt?
({0})
- Nicht acatech . - Vielmehr kommt dieser Begriff aus
dem BMBF . Der erste Versuch, diesen Begriff zu etablieren, wurde am 1 . April 2011 - es war aber kein Aprilscherz; das Ganze hat ja funktioniert - von Wahlster,
Lukas und Kagermann unternommen . Dieser Begriff hat
sich durchgesetzt. Ich finde ihn immer noch wunderbar.
„4.0“, das heißt, dieser Begriff hat etwas mit Digitalisierung zu tun und einer vierten industriellen Revolution .
Das klingt sehr viel besser als „Internet der Dinge“ oder
anderes . Außerdem freut sich Herr Singhammer darüber,
dass es ein deutsches Wort ist, das sich international auch
wirklich durchsetzt . Es wird von Chinesen und anderen
verwendet . An diesen Fakt wollte ich noch einmal erinnern .
Ich möchte darauf verweisen, dass unsere Hightech-Strategie „Industrie 4.0“ schon in der letzten Legislaturperiode als Zukunftsprojekt verfolgt hat . Ich freue
mich, dass wir heute in der Situation sind, dass auch die
anderen Ressorts an diesem Punkt ganz entscheidend
mitziehen . Wir sind gemeinsam der Meinung: Das ist
eine Riesenchance für Deutschland .
Warum bedeutet „Industrie 4.0“ für uns so eine große
Chance? Ich will zwei Fakten nennen:
Zum einen geht es um Industrie und um eine industrielle Revolution . Viele Länder, zum Beispiel Großbritannien und die USA, haben seit Jahren deindustrialisiert,
Deutschland nicht . Wir haben also einen viel höheren
Industrialisierungsgrad . Wenn man Industrie entwickeln
will, braucht man eine entsprechende industrielle Basis .
Die anderen Länder versuchen jetzt, da aufzuholen .
Der zweite Punkt . Wir sind in Deutschland weltspitze - ich hoffe, dass keiner nachher das Gegenteil behauptet; denn das würde nur Unkenntnis zeigen -, wenn es
um Embedded Systems, um Robotik und Sensorik mit
der dazugehörigen Software geht . Wir exportieren mehr
Software, als wir importieren . Ich möchte zum Vergleich folgende Zahlen nennen: In China kommen auf
10 000 Industriearbeitsplätze 14 Roboter . In Deutschland
kommen auf 10 000 Industriearbeitsplätze 286 Roboter .
Das heißt, wir haben da einen Vorsprung . Aber auf einem
Vorsprung sollte man sich nicht ausruhen, sondern man
muss etwas daraus machen . Die Ausgangsposition ist jedenfalls klasse .
({1})
Wir haben - „wir“ heißt an der Stelle: der Wirtschaftsminister und ich - in diesem Jahr anlässlich der letzen
Hannover Messe die Plattform Industrie 4 .0 etabliert . So
etwas schaffen wir in Deutschland, wo Wirtschaft, Wissenschaft und gesellschaftliche Kräfte zusammensitzen
und über diese Dinge beraten . So wird eine Andockstelle
geschaffen . Es ist also nicht so, dass gesagt wird: Die
Wirtschaft soll sich von allein entwickeln, und außerdem sind wir schon gut . Es wird vielmehr überlegt, wie
man die neuen Entwicklungen vonseiten der Politik, aber
auch vonseiten der Wissenschaft flankieren kann.
Man könnte ständig darüber reden, dass es die größte
Plattform ihrer Art weltweit ist und dass dort viele Partner beteiligt sind . Das stimmt zwar alles; aber das Einzige, was uns interessiert, ist: Was liefert diese Plattform?
In der nächsten Woche werden wir auf dem IT-Gipfel
200 Beispiele präsentieren, die zeigen, wo Industrie 4 .0
in Deutschland schon realisiert wurde .
({2})
Was noch spannender ist, ist die Tatsache, dass wir auf
der nächsten Hannover Messe Entwicklungsszenarien
der nächsten Jahre für Industrie 4 .0 präsentieren wollen .
Die Umsetzung von Industrie 4 .0 ist für die Großindustrie in Deutschland kein Problem . Was diese größten
Player auf der Hannover Messe ausstellen, ist spitze und
wird im Internet weltweit sofort angeklickt . Ganz entscheidend für Deutschland ist aber, dass der Mittelstand,
die KMUs, mitziehen .
({3})
In diesem Zusammenhang möchte ich drei Punkte herausgreifen:
Erster Punkt . Die KMUs stehen bei uns im Fokus,
wenn es um Industrie 4 .0 geht . Wir haben dafür entsprechende Programme entwickelt . Im Programm „Industrie 4.0 auf dem Hallenboden“ geht es ganz konkret darum, wie die Wirtschaftlichkeit von Industrie 4 .0 durch
kleine Unternehmen beurteilt werden kann und welche
Einführungsstrategien man anwenden kann . Dazu gehört
nicht so sehr das Herstellen von Handreichungen, sondern es geht um das Erstellen von Musterbeispielen auf
der Grundlage von einfachen Szenarien . Der Mittelstand
wird durch diese Programme an Industrie 4 .0 herangeführt und entsprechend motiviert .
Ich freue mich, dass wir jetzt die Situation haben - anders als im letzten Jahr -, dass 70 Prozent der KMUs
glauben, dass durch die mit Industrie 4 .0 verbundene
Effizienzsteigerung ein großer Vorteil für ihre Betriebe
entstehen kann . Das Wirtschaftsministerium will nächstes Jahr die fünf angekündigten Demonstrationszentren
einrichten . Das ist eine gute Anlaufstelle für den Mittelstand . Dazu brauchen wir aber die Ergebnisse aus diesen
Programmen . Wir müssen eine Antwort auf die Frage geben, wie man Investitionsentscheidungen trifft . Da müssen wir etwas vorzuweisen haben .
Wir wollen - diese Neuerung haben wir angekurbelt -, dass man auch testen kann; ein Mittelständler
soll seine Idee testen können . Aber vonseiten unseres
Ressorts werden keine Testzentren eingerichtet . Denn in
der Forschung, auch bei Großunternehmen in Deutschland gibt es Testmöglichkeiten, und wir geben dem Mittelstand über ein Förderprogramm das dazu notwendige
Geld . Die Mittelständler können selbst entscheiden, wo
sie ihre Idee austesten wollen . Wir werden nächste Woche bekannt geben, wo es Koordinierungsstellen gibt, in
denen man sich beraten lassen kann . Ich denke, dies ist
eine ganz wesentliche Maßnahme, um den Mittelstand
mitzunehmen .
({4})
Zweiter Punkt . Ohne entsprechende Sicherheit - da brauchen wir uns gar nicht katholisch zu machen - ist es nicht
möglich, Industrie 4 .0 zu realisieren . Ich bin sehr stolz
darauf, dass wir die Idee des Industrial Data Space, die
von Fraunhofer kam, durchgekämpft haben . Da gab es
viele Gegner etc .; das können Sie in der Presse noch einmal nachlesen . Jetzt ist es Standard .
({5})
Jetzt haben wir dazu bei der Plattform Industrie 4 .0 organisatorisch alle zusammen - es sind alle Großen dabei;
es ist der Mittelstand dabei -, sodass es umgesetzt wird;
Stichwort „MoU“. Wir geben im Moment Geld, um die
Entwicklung der Softwarebausteine zu befördern .
Thema IT-Sicherheit . Die drei Kompetenzzentren für
IT-Sicherheit haben wir vier Jahre finanziert und dann
evaluiert . Bei einer solchen Evaluation kann auch einer
rausfallen . Das Ergebnis aber ist: Exzellent! Super! - So
ist die internationale Einschätzung . Deshalb erhöhen wir
jetzt die Summe für die nächsten vier Jahre . Wir gehen
auf 40 Millionen Euro . Diese Summe werden wir dort
hineinstecken . Dann gibt es Kontinuität . Ich nenne auch
das große Programm „Referenzprojekt für IT-Sicherheit
in Industrie 4.0“, das im Juli gestartet ist, und, und, und.
Der dritte Punkt . Allen ist klar, dass Industrie 4 .0 nur
funktionieren kann, wenn die Mitarbeiter mitziehen oder
mitgezogen werden . Das heißt, es gibt Veränderungen
in der Arbeitsorganisation, in der Arbeitsmotivation, bei
dem, was man können muss . Das muss jetzt in DeutschBundesministerin Dr. Johanna Wanka
land entsprechend umgesetzt werden, und das ist nicht
einfach . Wir behandeln dieses Thema im Ministerium in
unterschiedlichsten Programmen, schon seit Jahren . Ich
hoffe, ich höre nachher nicht das Märchen, das ich schon
mehrfach gehört habe, nämlich dass wir erst jetzt, nach
all der Technologie, anfangen, uns um diese Punkte zu
kümmern . Das ist einfach Quatsch . Das kann man belegen . Das kann man zeigen .
Ich habe noch vor der Bundestagswahl Verhandlungen mit den Sozialpartnern gehabt, also mit den Gewerkschaften, mit den Arbeitgeberverbänden . Deswegen
haben wir jetzt die Möglichkeit, gemeinsam ein großes
Programm zu etablieren, bei dem es um die Arbeitswelt
von morgen geht, bei dem von Vornherein die Interessen der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer mit verankert
sind - mit richtig vielen 100 Millionen .
Aber es geht nicht darum, dass man nur Forschung
macht; Forschung muss immer an die konkrete Wirtschaft gebunden sein . Deswegen wird es keine abstrakten Forschungsprojekte geben, sondern sie werden anwendungsbezogen sein, immer in Verbindung mit einem
Betrieb, einem kleinen, einem mittelgroßen, je nachdem .
Wir haben die Initiative Berufsbildung 4 .0 zur Berufsfeldentwicklung gestartet - mit den Kammern, mit dem
BIBB . Die Berufsfelder müssen geändert werden . Die
Digitalisierung muss sich in den Curricula wiederfinden.
Wir werden hier hoffentlich beschließen, was gestern in
der Bereinigungssitzung des Haushaltsausschusses nicht
strittig war: An die überbetrieblichen Ausbildungszentren des Handwerks geben wir 14 Millionen Euro im
nächsten Jahr; das soll sich steigern bis auf 20 Millionen
Euro . Das ist für die Hardware an der Stelle .
({6})
Meine Damen und Herren, es wird in Deutschland immer gesagt: Guckt bei Industrie 4 .0 auf die Amerikaner!
Was die alles können! - Unsere großen Wirtschaftschefs,
ob nun Denner oder Veit, sind dagewesen . Sie sagen unisono - sie sagen das jetzt auch vor versammelter Mannschaft, auf großer Bühne -: Da ist viel heiße Luft . Wir
sind richtig gut . - Dieses Selbstbewusstsein wünsche
ich uns bei diesem Thema; denn Marketing gehört auch
dazu . Wir haben es oft ein bisschen vergeigt oder nicht
geschafft . Ich denke, mit Industrie 4 .0 sind wir, auch was
das Marketing anbetrifft, gut gewesen . Und jetzt wollen
wir handeln .
Danke .
({7})
Vielen Dank . - Als nächster Redner hat Herbert
Behrens von der Fraktion Die Linke das Wort .
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Es geht um Industrie 4 .0, eine Produktionsweise, die
heute in den Betrieben schon teilweise vorhanden ist wir haben es gerade gehört -, aber in der Zukunft noch
wesentlich größere Dimensionen erreichen wird . Darum
hätte ich bei diesem umfassenden und umfangreichen
Antrag der Koalitionsfraktionen erwartet, dass sie Antworten auf die neuen Herausforderungen geben,
({0})
dass sie klarmachen, an was es eigentlich fehlt, nachdem
im Bundestag seit zwei Jahren über Industrie 4 .0 diskutiert wird . Diese Antworten bleiben sie schuldig . Diesen
Anforderungen werden sie nicht gerecht .
Sie haben keine Antwort auf die Frage gegeben: Wie
müssen eigentlich die Schwerpunkte gesetzt werden? Es
ist eine Ansammlung, teilweise ein Sammelsurium von
verschiedenen Maßnahmen, die es in der Vergangenheit
gegeben hat und die es auch künftig noch geben soll . Sie
haben nicht gleich zu Anfang festgestellt: Es bedarf eines
schnellen Internets auf Glasfaserbasis . - Sie haben wiederholt: Es kann so weiterlaufen wie bisher . Die Industrie hat ja zugesagt, zu investieren . Sie wollen sozusagen
technologieneutral - das ist ja das besondere Wort, das
Sie verwenden - agieren. Nein, es bedarf eines flächendeckenden Glasfaserausbaus, um wirklich das umzusetzen, was wir mit Industrie 4 .0 verbinden .
({1})
Industrie 4 .0 ist aber auch nicht nur Wirtschaftspolitik . Frau Ministerin Wanka hat ja - allerdings erst unter
Punkt 3 - darauf hingewiesen, dass es eben auch darauf
ankommt, dass wir es mit real existierenden Belegschaften zu tun haben, die heute und morgen damit konfrontiert sein werden, wie sich ihre Arbeit verändert und auf
was sie sich einstellen müssen . Auch dazu gibt es deutliche Leerstellen in diesem Antrag . Sie haben keine Ansagen zu Ihrer Position bzw . klaren Schwerpunktsetzung in
Bezug auf die Beschäftigten gemacht .
({2})
Die Linke stellt die heutigen und künftigen Belegschaften ins Zentrum von Industrie 4 .0 und ordnet dem
alles unter, was wir dort zu erwarten haben . Wir machen
Vorschläge, wie wir die Produktivitätsgewinne, die zu
erwarten sind, verteilen wollen, um den Fortschritt der
Produktion auch zu einem gesellschaftlichen Fortschritt
zu machen . Die Gewinne sollen nicht allein den Kapitalgebern zukommen, auch die Belegschaften sollen etwas
davon haben .
({3})
Konkret heißt das: Wenn in der Zukunft weniger Beschäftigte mehr günstiger und schneller produzieren
können, dann dürfen die Gewinne eben nicht einseitig
verteilt werden . Wir müssen beispielsweise die kürzeren
Produktionszeiten - bedingt durch die produktivere Art
und Weise, mit der wir produzieren - in kürzere Arbeitszeiten umsetzen,
({4})
um Arbeitsbedingungen zu schaffen, die mehr Zeit für
ehrenamtliche Tätigkeit und Familie mit sich bringen .
Kolleginnen und Kollegen, Sie haben keine Antworten auf die teilweise anmaßenden Forderungen gegeben,
die seitens der Industrieverbände an Sie herangetragen
worden sind . Das wäre ein Signal gewesen . Sie wären
frei gewesen, die Bundesregierung in Ihrem Antrag dazu
aufzufordern, eindeutig zu der Frage Stellung zu nehmen: Was halten Sie davon, wenn die Industrie den Ausbau von Werkverträgen verlangt und wenn sie fordert,
dass die Leiharbeit nicht abgeschafft werden soll? Und
sogar der Achtstundentag soll infrage gestellt werden .
Es gibt keine kommentierenden Hinweise oder Abgrenzungen gegenüber diesen absurden Forderungen . Arbeit
im 21 . Jahrhundert darf nicht zu Arbeitsbedingungen des
19. Jahrhunderts stattfinden!
({5})
Belegschaften, Betriebsräte und Gewerkschaften
haben in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten viel
Erfahrung mit der Umstellung von Produktionsweisen
bzw . ganzer Produktionszweige gemacht . Sie haben
Erfahrungen darüber gesammelt, wie Belegschaften da-
rauf reagieren, wie Kolleginnen und Kollegen mit den
technologischen Veränderungen umgehen und wie die-
se einbezogen werden oder eben auch nicht einbezogen
werden . Und sie haben sehen müssen, dass es zusätzliche
Belastungen gab und dass es zu Qualifikationsverlusten
gekommen ist, was einseitig auf die Schultern der Kolle-
ginnen und Kollegen abgewälzt worden ist .
Das hat seinen Grund darin, dass die bisherige Mit-
bestimmung, die es in den Betrieben gibt, diesen neuen
Herausforderungen noch nicht gerecht geworden ist . Da-
rum sagen die Linke, aber auch die Gewerkschaften in
ihren Vorschlägen, wie sich Mitbestimmung verändern
muss, um diesen Herausforderungen gerecht zu werden:
Wir brauchen a) eine Ausweitung der Beteiligung bei
Unternehmensentscheidungen, b) zwingend Mitbestim-
mung bei allen personellen Maßnahmen einschließlich
Outsourcing, Leiharbeit und Werkverträgen, und wir
brauchen c) Gestaltungsmöglichkeiten von Betriebsräten
über die Betriebsgrenze hinaus, wenn es zu Kooperationen kommt . Wenn es dazu kommt, dass Betriebe eng
kooperieren, darf die Mitbestimmung nicht an den Betriebsgrenzen Halt machen . Das alles macht ein anderes
Betriebsverfassungsgesetz möglich .
Die Linke fordert mehr Mitbestimmung und Beteiligung; denn nur mit mehr Demokratie im Betrieb wird
es auch zu einem wirtschaftlichen und gesellschaftlichen
Fortschritt kommen können .
({6})
Unsere Aufgabe als Politiker ist es, die Rahmenbedingungen zu setzen . Wir können - das ist klar - nicht jeden
einzelnen kleinen Schritt vorgeben . Darum gehört noch
viel Forschungsarbeit auf diesem Feld dazu . Ministerin
Wanka hat recht, wenn sie sagt: Wir fangen nicht erst
heute an . Es gibt bereits aus den Jahren des technologischen Umbruchs bzw . der Digitalisierung in der Produktion weitreichende Forschungsergebnisse . Damals hieß
die Überschrift dazu „Leben und Arbeiten in der Informationsgesellschaft“.
Wir brauchen Forschung darüber, wie Belegschaften
mit diesem Veränderungsprozess umgehen . Wir müssen
ihnen Sicherheit geben, damit sie wissen, auf was sie
sich - qualifikatorisch, aber auch im Hinblick auf die
Veränderung des Betriebes - vorbereiten müssen . Deshalb fordern wir, dass die Forschungen, die hier in dem
Antrag noch einmal explizit genannt worden sind, auch
wirklich ernst genommen werden . Wir brauchen keine
weiteren Forschungsergebnisse, die in den Bibliotheken
der Universitäten verschwinden oder verstauben . Diese
Forschungsergebnisse müssen in die politischen, aber
auch in die unternehmerischen Entscheidungen einfließen, sonst machen sie keinen Sinn .
({7})
Ich kritisiere an Ihrem Antrag, dass Sie, wie vorhin
schon gesagt, keine eindeutigen Hinweise darauf geben,
wie Sie zu den Forderungen stehen, die beispielsweise
von der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände oder vom Bundesverband der Deutschen Industrie kommen . Ich lese nichts von Widerspruch zu der
anmaßenden Forderung, Unternehmensgründer mit Sonderrechten auszustatten, keine gesetzlichen Beschränkungen beim mobilen Arbeiten zuzulassen oder das
Verbot der Sonntags- und Feiertagsarbeit aufzuweichen .
Dazu haben Sie Stellung zu nehmen, damit wir Sicherheit in den Umbau der Industrie bekommen . Ohne diese
Sicherheit, insbesondere auch für die Beschäftigten, wird
es keinen vernünftigen Einstieg in die Industrie 4 .0 geben
können .
({8})
Es besteht die Gefahr, dass Belegschaften zur Restgröße von industriellen Veränderungsprozessen werden .
Sie haben keine Antworten auf die Frage, wie sich möglicherweise die Lebensqualität der Belegschaften verändert, wenn es zur Entgrenzung von Arbeitszeiten kommt,
sei es, dass sie zu Hause arbeiten müssen oder sollen, sei
es, dass sie just in time in den Produktionsprozess integriert werden . Ohne diese Antworten werden wir aber die
Industrie 4 .0 nicht gestalten können .
({9})
Von daher ist es erforderlich, dass wir zu den Forderungen der Wirtschaftsverbände eindeutig Position beziehen, die aus den Möglichkeiten, die ihnen die neuen
Technologien bieten, einseitig ihren Profit heraussaugen
wollen . Die Linke sagt: Ja, wir wollen einen technologischen Fortschritt, der den Menschen dient . Wir wollen
die Möglichkeiten nutzen für gute Arbeit, für gute Löhne, für eine umweltverträglichere Produktion und für
Entwicklungsmöglichkeiten in den Ländern des globalen
Südens .
({10})
Das sind die wirklichen Herausforderungen der Digitalisierung von Wirtschaft und Arbeit . Ihr Denken ist von
gestern und lässt es nicht zu, dass wir wirklich die Probleme von morgen lösen können .
Vielen Dank .
({11})
Vielen Dank . - Als nächster Redner hat Hubertus Heil
von der SPD-Fraktion das Wort .
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Was verstehen wir eigentlich unter der Chiffre
Industrie 4 .0? Ich glaube, wir müssen es immer wieder
erklären, weil wir als Parlament nicht die Aufgabe haben,
in Fachtermini zu sprechen, sondern die Aufgabe haben,
uns mitzuteilen . Es geht dabei um die intelligente und
internetbasierte Vernetzung von industrieller Produktion,
und zwar auf allen Stufen der Wertschöpfung . Es geht
nach den industriellen Revolutionen der letzten 150 Jahre - nach Dampfmaschine, Fließband und Robotik - tatsächlich um einen neuen Sprung .
Warum wird sich das Ganze ökonomisch überhaupt
als Frage stellen? Weil es natürlich technologiegetriebene, riesige Produktivitätsfortschritte verspricht, wenn
wir uns auf diesen Weg machen . Es wäre hinsichtlich
der ökonomischen Entwicklung dieses Landes eine Katastrophe, wenn wir diesen Weg nicht konsequent gehen
würden . Deshalb, Herr Kollege, ist beides richtig . Wir
müssen aus diesem technologischen und ökonomischen
Fortschritt sozialen Fortschritt machen, ohne Zweifel .
Wir müssen auch dafür sorgen, dass die Produktivität gerecht verteilt wird . Aber erst einmal müssen wir für einen
Produktivitätssprung sorgen . Es muss etwas erwirtschaftet werden, und es muss gerecht verteilt werden . Das sind
für uns Sozialdemokraten keine Gegensätze, sondern
wechselseitige Bedingungen .
({0})
Frau Ministerin Wanka, bei allem in Ihrer Rede, was
ich unterstreiche, muss ich sagen: Ich finde, diese Chiffre Industrie 4 .0 hat sich zwar in den letzten zwei Jahren
durchgesetzt . Trotzdem müssen wir ein bisschen aufpassen, dass sich auch Teile der Wirtschaft darunter versammeln und damit identifizieren können, die sich manchmal
nicht im klassischen Sinne mit dem Begriff „Industrie“
anfreunden . Die großen Industriebetriebe unseres Landes, ob nun Bosch oder Siemens, und auch größere Teile der Automobilindustrie, haben sich längst auf diesen
Weg gemacht .
Es gibt auch eine Reihe von großen Hidden Champions, wie sie immer genannt werden, im produzierenden
Mittelstand unserer Marktwirtschaft, die sich auf diesen
Weg gemacht haben: Unternehmen wie Festo, KUKA,
TRUMPF und WITTENSTEIN . Aber die Tatsache, dass
in den letzten zwei Jahren vor allen Dingen immer diese sechs Beispiele genannt werden, zeigt auch, dass wir
noch viel Aufholbedarf haben . Wir müssen dafür sorgen,
dass sich gerade mittelständische Unternehmen auf diesen Weg machen und machen können und dass sie nicht
abgehängt werden . Da bin ich mir nicht sicher, ob diese
Chiffre Industrie 4 .0 immer ganz hilfreich ist, weil viele dieser Unternehmen sich nicht im klassischen Sinne
als große Industrieunternehmen begreifen, sondern als
produzierender Mittelstand . Deshalb wäre es eigentlich
wichtiger, insgesamt über eine Wirtschaft 4 .0 zu sprechen .
Wie auch immer der Begriff lautet - es geht um ganz
konkrete Handlungsfelder . Meine Damen und Herren, wir
beschreiben im vorliegenden Antrag nicht nur, was die
Bundesregierung macht - sie ist in vielen Bereichen auf
einem guten Weg -, sondern bündeln es in einer Strategie . Herr Kollege Behrens von den Linken, Sie beklagen
sich darüber, dass wir darin so viele Themen ansprechen .
Das liegt einfach daran, dass wir vom Ressortdenken und
von der Vorstellung einzelner Säulen Abstand nehmen,
wenn wir dieses Thema angehen; denn dann wäre es keine Strategie . Wir müssen vernetzt denken, wenn wir in
diesem Bereich zu Fortschritten kommen wollen .
Wir verstehen - erstens - die digitale Infrastruktur
als Grundlage . Sie ist die Grundlage dafür, dass wir uns
auf den Weg zur Industrie 4 .0 machen können . Ohne sie
wäre es eine abstrakte und akademische Debatte . Hier hat
Deutschland tatsächlich einen Nachholbedarf, auch im
internationalen Vergleich . Wir schreiben in unserem Antrag übrigens, dass wir uns in diesem Zusammenhang mit
dem Zwischenziel einer Übertragungsgeschwindigkeit
von 50 Mbit pro Sekunde im Jahr 2018 nicht zufriedengeben können, dass wir größere Bandbreiten brauchen .
Sie haben die Glasfaser angesprochen . Im Antrag steht
explizit, dass wir insbesondere auf die Glasfasertechnologie setzen, um diese Bandbreiten in Deutschland zu
erreichen .
Zweitens geht es uns um Forschung zur Industrie 4 .0 .
In diesem Zusammenhang möchte ich erwähnen, dass der
Haushaltsausschuss gestern beschlossen hat, Ihrem Ministerium, Frau Wanka, 6 Millionen Euro zusätzlich für
die IT-Sicherheitsforschung beim Fraunhofer-Institut zur
Verfügung zu stellen. Ich finde, das ist ein guter Schritt,
eine gute Unterstützung auf diesem Weg . Wir müssen in
diesem Bereich vor allen Dingen anwendungsorientiert
forschen, im Interesse einer Durchdringung auch für den
Mittelstand .
Drittens . Es geht um Aus- und Weiterbildung, die an
die Erfordernisse der Industrie 4 .0 angepasst werden
müssen . Es geht um neue Berufsbilder . Es geht darum,
dass wir mehr moderne Berufsbilder brauchen . Das geht
nur im Dialog zwischen den Sozialpartnern, beispielsweise in der Frage, dass wir in vielen mittelständischen
Unternehmen im Maschinenbau zukünftig mehr Mechatroniker brauchen . Da geht es konkret um Fachkräftesicherung in diesem Bereich .
Viertens . Es geht um Arbeit 4 .0 . Ich will sagen: Das,
was Sie eingefordert haben, nämlich Studien durchzuführen, wurde im Bundesarbeitsministerium schon längst
auf den Weg gebracht . Zudem hat Frau Wanka zusätzliches Geld für die Arbeitsforschung erhalten . Das hat
der DGB ausdrücklich begrüßt . Wir wollen in diesem
Prozess nicht nur dafür sorgen, dass die betriebliche Mitbestimmung nicht unter die Räder kommt, sondern im
Antrag steht ausdrücklich: Wir wollen die betriebliche
Mitbestimmung weiterentwickeln, und zwar in zweierlei Hinsicht . Das ist wichtig, um diesen Prozess hinzubekommen . Denn gegen die Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer können und wollen wir uns nicht auf den
Weg machen .
Es ist gut, dass wir dafür sorgen, dass aus dem technischen Fortschritt kein Fortschritt für wenige wird, sondern Fortschritt für möglichst viele Menschen . Wir können das Konzept der Industrie 4 .0, wenn wir den Rahmen
richtig gestalten, zum Beispiel nutzen, um die Humanisierung der Arbeitswelt voranzubringen . Das macht
Andrea Nahles mit dem Grünbuch Arbeit 4 .0 und dem
Prozess auf dem Weg zum Weißbuch Arbeit 4 .0 deutlich .
Das ist ein wesentlicher Teil der Strategie .
({1})
Fünftens - ich bin sehr dankbar, dass sich die Koalitionsfraktionen da einig waren - haben wir uns klar
dazu bekannt, dass wir uns nicht nur im Bestand unserer
Wirtschaft - die großen und mittelständischen Unternehmen - auf den Weg machen müssen, sondern wir viel
mehr junge, dynamische, wachsende Start-ups und Unternehmen in diesem Land brauchen und wir sehr konkret etwas für sie tun müssen . Beispielsweise müssen
wir dafür sorgen, dass mehr Wagniskapital zur Verfügung steht, um das Wachstum junger, vor allen Dingen
digitaler Unternehmen zu unterstützen . Wir brauchen das
Wagniskapital als Ausrüstung in dieser Entwicklung . Da
geht es nicht nur darum, den Bundesfinanzminister davon abzuhalten, die Rahmenbedingungen zu verschlechtern - Stichwort „Streubesitz“ -, sondern auch darum,
etwas dafür zu tun, dass die Bedingungen besser werden .
({2})
Das hat die Kanzlerin auf dem IT-Gipfel zugesagt . Dabei ging es beispielsweise um Verlustvorträge, die bei
Anteilseignerwechsel vorzunehmen sind . Wir brauchen,
meine Damen und Herren, ein Wagniskapitalgesetz .
({3})
Das steht im Koalitionsvertrag, und die Koalitionsfraktionen sind miteinander der Meinung, dass es Aufgabe der
von uns getragenen Regierung ist, entsprechende Gesetzesvorschläge zu machen .
({4})
Es geht um IT-Sicherheit und Datenschutz, es geht
um Normen und Rechtsrahmen, es geht um Technologietransfer und Wissenstransfer . Aber im Kern, meine Damen und Herren, geht es um Folgendes: Wir sind in der
Situation, dass wir eine gute industrielle Basis haben . Die
Ministerin hat es beschrieben: 22 Prozent der deutschlandweiten Wertschöpfung entfallen auf die Industrie .
Wir haben die Plattform Industrie 4 .0, die Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel auf den Weg gebracht
hat . Damit bringen wir alle Akteure an einen Tisch . Auch
das Bundesministerium für Bildung und Forschung wirkt
daran mit. Ich finde, das ist eine gute Zusammenarbeit
zwischen Wirtschaft, Wissenschaft und Gewerkschaften .
({5})
Wir müssen uns schleunigst auf den Weg machen . Andere schlafen nicht . Es gibt in Teilen der Welt Unternehmen, die besser sind als unsere in Deutschland, wenn es
darum geht, aus Daten Geschäftsmodelle zu entwickeln .
Wir wollen uns auf diesen Weg machen, und dieser Antrag zeigt: Wir machen uns auf den Weg . Das ist eine gute
Nachricht .
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit .
({6})
Vielen Dank . - Als nächster Redner hat Dieter Janecek
von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Frau
Dr . Wanka! Sehr geehrter Herr Heil, dieser Antrag liest
sich so: Wenn sich zwei Ministerien nicht einigen können, schreibt man alles zusammen; am Ende hatten Sie
ein fertiges Stück, aber eine klare Strategie für die Industrie 4 .0 haben Sie nun wirklich nicht formuliert . Das
ist ein Grund - ich nenne Ihnen gleich noch andere -,
warum wir diesen Antrag ablehnen werden .
({0})
Auch ich komme ein bisschen rum in der Welt . Frau
Dr . Wanka, wenn Sie zu den Amerikanern, den Chinesen
oder den Afrikanern gehen und ihnen von Industrie 4 .0
erzählen, dann sagen die Ihnen nicht: Mit dem Begriff
können wir etwas anfangen; da hat Deutschland ebenso
wie bei der Energiewende Maßstäbe gesetzt . - Das ist
eine ehrliche Analyse; das muss man erst einmal festhalten . Ich glaube, dass diese Analyse zutreffend ist . Mit
diesem Begriff suggerieren Sie und die Bundesregierung zusammen mit dem Bundesverband der Deutschen
Industrie zwar, dass wir jetzt aufholen wollen, dass wir
Hardware und Software endlich zusammenbringen wollen . Aber das Problem ist, dass die gesamten Rahmenbedingungen des Internets in diesem Antrag überhaupt
nicht thematisiert werden . Das ist ein großes Problem .
Sie können viele Forschungsprojekte auflegen und viel
über Automatisierung reden; aber Sie müssen auch über
die Entscheidungen sprechen, die Sie zum Beispiel im
Europäischen Parlament treffen . Dort hat nämlich jeweils nur ein Abgeordneter Ihrer Fraktionen für die Netzneutralität gestimmt . Wenn das so weitergeht, werden wir
schlechte Rahmenbedingungen für den Mittelstand und
für die Industrie bekommen .
({1})
Hubertus Heil ({2})
Diese Themen gehören zu einer Gesamtstrategie .
Das freie Internet ist in Gefahr . Wir haben im Zusammenhang mit Industrie 4 .0 auch über Innovationen durch
Offenheit zu sprechen: Open Access, freie Schnittstellen,
Wettbewerbsrecht . Wo sind die Vorschläge dazu?
({3})
Wir haben Probleme mit der Plattformisierung der Wirtschaft . Es ist ja gut, wenn sich die Industrie automatisiert; aber wenn sich die gesamte Struktur der Wirtschaft
gleichzeitig so verändert - Herr Heil hat das immerhin angesprochen; ich finde es richtig, dass er gesagt
hat, dass das Thema eigentlich „Wirtschaft 4.0“ heißen
muss -, dass immer mehr digitale Plattformen entstehen,
die ein Andocken anderer Plattformen ermöglichen, wir
bzw . unsere Industrie diese Plattformen aber nicht baut,
dann ist das ein grundlegendes Problem . Dann verlieren
wir international auch Marktanteile. Dieser Prozess findet gerade statt .
({4})
Ich will ein positives Beispiel nennen . Deutsche Automobilhersteller haben gesagt: Okay, wir haben es verpennt; aber wir kaufen jetzt Nokia Maps, bauen uns eine
eigene Map und machen da etwas . - Über diese großen
Rahmenlinien haben Sie nicht gesprochen . Darüber müssen wir aber reden . Das muss unsere Richtung sein .
Ein freies Internet schafft Wettbewerb . Dieser Wettbewerb muss fair sein, und die Bedingungen für diesen
Wettbewerb müssen wir in Europa selbst schaffen . Wir
müssen nicht - da gebe ich Ihnen recht - in Sack und
Asche gehen, weder unsere Industrie noch unsere Forschungslandschaft; denn wir können das . Aber wir haben
das in der Vergangenheit nicht wirklich gut gemacht . Wir
müssen das besser machen . Wir müssen den Rahmen setzen .
Nächstes Beispiel: Europäische Datenschutz-Grundverordnung . Auch diesbezüglich ist Deutschland kein
Player, der das Ganze so entwickelt, dass Sicherheit zu
einem Wettbewerbsvorteil wird . Sicherheit wird, wenn
wir das nicht ordentlich machen, zu einem Wettbewerbsnachteil . Der Rahmen muss stimmen .
({5})
Der Rahmen stimmt aber nicht, und solange dieser
Rahmen nicht stimmt, werden wir auch mit der Industrie 4 .0 - das ist ein sogenanntes Buzzword - nicht reüssieren .
Wir müssen uns auch einmal fragen: Was sind denn die
Themen, die wir nach vorne stellen wollen? Automatisierungsprozesse finden in der Industrie vom Stahlwerk bis
zur Gießerei - auch ich komme rum - seit 20 Jahren statt .
Das ist für die Industrie nichts Neues . Es ist richtig, dass
dadurch Produktivitätspotenziale erschlossen werden,
vielleicht auch ökologische Potenziale . Auch darüber
sollten wir reden . Wir sollten fragen: Wie können wir die
Mobilität anders lenken? Wie können wir zum Beispiel
dafür sorgen, dass sich der Besitz von Automobilen öfter
geteilt wird und nicht mehr jeder eins besitzen muss? Das
kann Vorteile für Städte und Kommunen haben . Da kann
viel getan werden . Aber diese Fragen müssen in den Vordergrund gestellt werden .
Es reicht nicht, auf ich weiß nicht wie vielen Seiten
zahlreiche Spiegelstriche zu setzen . Das ist schön und
gut . Ich erkenne auch an, dass etwas passiert . Am Ende
muss man aber eine Richtung definieren: Wo wollen wir
mit dieser Wirtschaft 4 .0 hin? Wo wollen wir mit der
Digitalisierung hin? Wie wollen wir fairen Wettbewerb
schaffen? Wie wollen wir ökologische Rahmenbedingungen schaffen, die für Ressourcenschonung sorgen? Das
alles müssen wir zusammenbringen, wir müssen etwas
für den Mittelstand tun und die Rechtssetzung in Europa
im Sinne unserer Unternehmen gestalten . Wir dürfen uns
nicht danach richten, was das Silicon Valley macht, sondern müssen selbstbewusst vorangehen . Wenn wir das
schaffen, dann haben wir wirklich etwas gewonnen .
Weil Sie das in Ihrem Antrag nicht formuliert haben,
werden wir heute nicht zustimmen, nicht, weil wir den
Antrag prinzipiell ablehnen - er enthält viele interessante
Maßnahmen, das Grünbuch „Arbeiten 4.0“ und anderes,
womit wenigstens eine Analyse in Angriff genommen
wird -, aber die Ziele stimmen noch nicht . Der Rahmen
muss gesetzt werden; die Rechtssetzung muss stimmen;
der Wettbewerb muss stimmen . Das alles ist in dem Antrag nicht enthalten . Deswegen werden wir diesen Antrag
ablehnen .
Vielen Dank .
({6})
Vielen Dank . - Als nächster Redner hat Axel Knoerig
von der CDU/CSU-Fraktion das Wort .
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Frau Ministerin, Frau
Professor Wanka! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ja, wir
stellen fest, dass die Digitalisierung einen riesigen Absatzmarkt erzeugt hat, der unserer Wirtschaft weltweit
neue Chancen bietet . Die Globalisierung und auch die
mittlerweile über 130 Handelsabkommen - dieses Thema haben wir in der vorherigen Debatte besprochen tragen dazu bei, dass wir uns neue Zukunftsmärkte erschließen . Dabei sind hohe Wachstumsraten zu erwarten .
Allein durch Industrie 4 .0, durch das digitalisierte Arbeiten und Wirtschaften, erwarten wir ein zusätzliches Wirtschaftswachstum von 1,7 Prozent . Diese Wertschöpfung
wird sich vor allem in den Branchen Informations- und
Kommunikationstechnologie, Maschinen-, Anlagen- und
Automobilbau vollziehen; hier wird es zu immensen
Steigerungen kommen . Und dass die Arbeitslosigkeit
derzeit auf dem niedrigsten Stand seit 1991 ist, ist vor
allem dem entschlossenen Handeln der Unternehmer und
ihrer Fachkräfte zu verdanken .
({0})
Es ist völlig richtig, dass wir die Debatte nicht allein
auf Technik und auf Industriepolitik beschränken dürDieter Janecek
fen - das hat die Ministerin richtigerweise ausgeführt -;
vielmehr müssen wir die Entwicklung auch mit sozialen
und kulturellen Veränderungen verbinden . Unter dem
Stichwort „Arbeit 4.0“ - es ist schon angesprochen worden - beschäftigen wir uns mit den Auswirkungen der
Digitalisierung auf die Arbeitswelt .
Das Konzept der sozialen Marktwirtschaft hat sich
immer wichtigen gesellschaftlichen Veränderungen angepasst . In den 80er-Jahren entstand ein neues Verhältnis zwischen Wirtschaft und Ökologie, jetzt verändert
die Digitalisierung das Verhältnis zwischen Technik
und Arbeit . Dabei müssen wir eine Frage besonders in
den Vordergrund stellen: Was prägt die digitale soziale
Marktwirtschaft?
Als Erstes ist zu nennen: Seitdem die Digitalisierung
auf den Finanzmärkten greift, haben sich die Börsenbewegungen verändert . Wir haben Krisen erlebt . Deswegen
ist es wichtig, die Finanzmärkte im Hinblick auf das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht intensiv zu beobachten .
Wir stellen zweitens fest, dass die Wertschöpfung
unserer Wirtschaft immer mehr über das Internet und
die Daten als solche bestimmt wird . Deshalb nimmt die
staatliche Regulierung in der Netzpolitik einen immer
höheren Stellenwert für unsere Volkswirtschaft ein . Dazu
gehören unter anderem die Preisregulierung, das Urheberrecht, der Verbraucherschutz und die Datensicherheit .
Der dritte Punkt ist besonders wichtig im Hinblick auf
den Schutz von Unternehmen, Patenten und Informationsrechten vor Cyberkriminalität; denn es kann nicht
sein, dass in unserer Volkswirtschaft jährlich ein Schaden
von über 50 Milliarden Euro angerichtet wird .
Marktorientierte Wirtschaftspolitik und staatlich finanzierte Arbeitspolitik stehen seit jeher in einem Spannungsverhältnis . Der digitale Wandel richtet dieses neu
aus . Was wir angesichts dieser massiven Veränderungen
brauchen, ist eine neue Kooperation von Wirtschaft und
Arbeit . Dabei müssen wir unseren Blick vor allem auf die
Unternehmenskultur richten; denn der digitale Wandel
findet innerhalb der Unternehmen statt. Deswegen fordern wir ein Umdenken auf beiden Seiten: Arbeitnehmer
müssen unternehmensorientierter denken, und Unternehmen müssen Mitarbeiterinteressen mehr berücksichtigen .
Mit einem neuen Label möchte ich die wichtigste
Strategie für Wirtschaft und Arbeit auf den Punkt bringen: Jetzt ist ein „Neues Digitales Management“ gefragt.
Dieses „Neue Digitale Management“ muss vor allem
ganzheitlich ausgerichtet sein . Das bedeutet für die Unternehmen, dass erstens die leitenden Aufgaben mehr delegiert werden müssen, dass Hierarchien abgebaut und
dezentrale Strukturen, Netzwerke und Mobilität aufgebaut werden müssen .
Zweitens. Auch effizientes Personalmanagement gehört zur eigenen Fachkräftesicherung dazu . In meinem
Wahlkreis Diepholz-Nienburg erlebe ich immer wieder,
dass Unternehmer spezielle Personalmanager einstellen,
um betriebsintern das ganze Spektrum der beruflichen
Aus-, Fort- und Weiterbildung gut abzudecken und um
darüber hinaus neue Arbeitskräfte zu akquirieren .
Der dritte Punkt ist entscheidend: Arbeitnehmer sollten durch Mitbestimmung und Teilhabe in die Verantwortung und somit in das unternehmerische Handeln
eingebunden werden .
Diese digitalen Prozesse schaffen vor allem eine neue
Art der Transparenz in den Unternehmen . Der VW-Skandal ist ein gutes Beispiel . Denn ich meine, dass dieser
insbesondere in der Firmenkultur begründet ist . Die digitalen Medien, die neuen Arbeits- und Geschäftsprozesse
bieten einen Neubeginn, eine Chance, dass mithilfe dieser digitalen Geschäftsprozesse die Unternehmenskultur
transparent ausgestaltet werden kann .
Wir brauchen natürlich - das ist auch angesprochen
worden - leistungsfähige Infrastrukturen . Dazu gehören
EU-weite Serverlandschaften und ein schnelles Internet
jenseits von 100 Mbit/s . Wir wollen vor allem in Europa
keine Konzentration von Diensten und keine Kartellbildung im digitalen Markt - Google ist hierfür ein Beispiel -, wie das entsprechend untersucht wird .
({1})
Stattdessen brauchen wir im digitalen Binnenmarkt
günstige Investitionsbedingungen vor allem für kleine
und mittelständische Unternehmen und eine Sicherheitsarchitektur für das Internet, die von europäischer Souveränität geprägt ist . Deswegen muss die Politik an dieser
Stelle die regulatorischen Vorgaben europäisch begründen und globale Standards setzen .
Abschließend möchte ich mit Blick zu den Kollegen
von den Grünen sagen: Wir gehen progressiv an die Wirtschaft heran
({2})
und gestalten neue Geschäftsmodelle . Wir verteufeln
es nicht, dass man, zum Beispiel im Bereich der Medizin, über die Ländergrenzen hinweg zu neuen Diensten
kommt, zu Spezialdiensten, die über das Internet laufen .
Deswegen kann man das eine wie auch das andere, die
Netzneutralität und die Spezialdienste, zu einem guten
Trend miteinander verbinden .
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit .
({3})
Ganz herzlichen Dank . - Liebe Kolleginnen und Kollegen, bisher hat bis auf Ministerin Wanka jeder Redner,
jede Rednerin die Redezeit überzogen . Ich habe einfach
die Bitte, dass Sie auf das Warnsignal, das Sie erhalten,
achten . Wir haben bereits jetzt eine Überziehung von einer Stunde .
({0})
Das wird ein wenig schwierig für einen Teil der Kollegen
werden . Das werden wir nicht aufholen - diese Illusion
habe ich nicht -, aber wir sollten versuchen, es nicht noch
weiter zu vergrößern . Deshalb meine Bitte .
Jetzt hat Kai Gehring als nächster Redner das Wort .
Vielen Dank . - Frau Präsidentin! Schade, dass dieser
Appell jetzt den letzten Oppositionsredner in dieser Debatte trifft .
Er trifft alle .
Sehr geehrte Damen und Herren! Mit den Schlagworten „Industrie 4.0“ und „Smart Services“ verbinden
sich ganz klar epochale internetbasierte Veränderungen .
Deswegen brauchen wir freies Internet für alle statt ein
Zweiklasseninternet, und deshalb kann ich nur sagen:
Finger weg von der Netzneutralität .
({0})
In der Industrie 4 .0 liegen Chancen für Innovation, Chancen für eine humanere Gestaltung der Arbeitswelt und effizienteren Ressourceneinsatz, Chancen, die wir nutzen
müssen und die wir auch dringend politisch gemeinsam
gestalten müssen .
Bei dem Antrag der Koalitionsfraktionen teilen wir
sicherlich die Beschreibung, dass wirtschafts-, arbeits-,
bildungs- und forschungspolitische Maßnahmen zur
Förderung der Digitalisierung notwendig sind, übrigens
auch Datenschutz und -sicherheit . Aber Sie stellen den
lernenden, den forschenden und arbeitenden Menschen
nicht in den Mittelpunkt Ihres Antrags .
({1})
Das ist die große Schwäche . Was heißt denn Digitalisierung im Klassenzimmer für Schüler, Lehrer und Eltern?
Wie kommen gute Ideen vom Forschungscampus oder
dem Reallabor in den Alltag für alle? Wie müssen die
neuen zeitpolitischen Arrangements in der digitalisierten Arbeitswelt aussehen? Welche neuen Innovationen
und auch welche neuen sozialen Fragen verbinden sich
damit? Da muss deutlich weitergedacht und dann etwas
gemacht werden .
({2})
Auf 15 langen Seiten listen Sie viele schöne Programmnamen und insgesamt 75 Bullet Points mit Selbstbeauftragungen auf .
({3})
Dafür haben Sie auf jeden Fall ein Fleißkärtchen verdient .
Dennoch bleibt das Bild blass, wie Sie denn die vierte industrielle Revolution kreativ, menschlich und ökologisch
ausrichten wollen. Ihre Auflistung ist ein Sammelsurium.
Jedes Ministerium wurschtelt vor sich hin . Industrie 4 .0
braucht dringend eine konsistente Gesamtstrategie .
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie des Abg . Herbert Behrens [DIE LINKE] - Hubertus Heil ({4}) [SPD]: Das ist
immer schön! - Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN], an Abg . Hubertus Heil ({5}) [SPD] gewandt: Da kannst du doch mit-
klatschen!)
- Ja, dann klatschen Sie doch mit . - Zur Breitbandinfrastruktur schreiben Sie, dass das die Grundvoraussetzung
für die erfolgreiche Etablierung von Industrie 4 .0 ist .
({6})
Ich sage Ihnen: Butter bei die Fische . Da gibt es seit
Jahren kein ordentliches Vorankommen . Wenn die Basis
fehlt, muss man sich um den Innovationsstandort wirklich Sorgen machen .
({7})
Sie sehen leider keinen Reformbedarf bei Ihrer völlig
technologiefixierten Hightech-Strategie. In Ihrem Antrag
sind ja zig Punkte zur Hightech-Strategie enthalten; es
ist erstaunlich, dass die Ministerin gar nichts dazu gesagt
hat . Zugleich loben Sie Programme zur sozialen Implementierung und zur Arbeitsforschung über den grünen
Klee . Stattdessen sollten Sie technologische und soziale Innovationen von vornherein zusammendenken und
diesen interdisziplinären Ansatz auf die gesamte Hightech-Strategie übertragen .
({8})
Wenn Sie so versäult an die Sache herangehen, dann
kann das keinen neuen Gründergeist, den wir so dringend
brauchen, entfachen. Allein der Begriff „Industrie 4.0“
würde mich als neuen Gründer oder Inhaber eines kleinen oder mittelständischen Unternehmens nicht ansprechen . Insofern: Schön, dass Sie sich ihn ausgedacht
haben . Aber offensichtlich zündet er gerade bei denen,
die „small and beautiful“ sein wollen, die Gründerinnen
und Gründer der Zukunft sein wollen, nicht .
Wer neue Herausforderungen für Beschäftigte anspricht, der darf zu neuen Arbeitszeitmodellen nicht
schweigen und Aus- und Weiterbildung nicht vernachlässigen, liebe Koalition . Wir müssen Ihre hehren Worte
hier an den Taten und ganz klar auch an Haushaltszahlen
messen .
({9})
Da zeigt sich: Die Unterfinanzierung bei den Berufsschulen bleibt bestehen . Auch die Barriere Kooperationsverbot für die digitale Bildung bleibt . Modelle für neue, vollzeitnahe Teilzeitbeschäftigung bleiben Sie uns schuldig .
Sie schweigen zu den Schutzstandards für Beschäftigte .
Auch auf Impulse für eine echte Weiterbildungskultur,
ob analog oder digital, warten wir vergebens . In diesem
Antrag attestieren Sie Geringqualifizierten ganz klar ein
Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn
„erhöhtes Arbeitsplatzrisiko“ in der Arbeitswelt 4.0. Ein
Rezept dagegen formulieren Sie aber nicht . Das muss
sich dringend ändern . Industrie 4 .0 gelingt nur mit Bildung 4 .0 .
({10})
Wir müssen die Barrieren einreißen: zwischen beruflicher und akademischer Bildung, zwischen Wirtschaft
und Wissenschaft . Gute Beispiele für Wissens- und Technologietransfer muss man bundesweit übertragen .
({11})
Hier sollte der Staat auch einen besseren Rahmen setzen,
vor allem bei Ausgründungen aus Hochschulen und Forschungseinrichtungen und für Start-ups .
Die Formulierung in Ihrem Antrag, dass hier „konkrete Fördermaßnahmen … wichtige Impulse liefern“
könnten, offenbart Ihre Ideenlosigkeit . Übrigens: Auch
die Forderung, jetzt die Forschungs- und Entwicklungsausgaben zu erhöhen, ist dringend noch einmal anzusprechen; denn von der Erreichung des 3,5-Prozent-Ziels,
das auch Ihre regierungseigene Kommission formuliert
hat, sind wir weit entfernt . Das muss gesamtstaatlich
geschafft werden, aber eben auch mit der Wirtschaft zusammen . Deshalb: Kommen Sie endlich in die Hufe, und
bringen Sie eine steuerliche Forschungsförderung für
kleine und mittlere Unternehmen auf den Weg! Das ist
dringend notwendig .
({12})
Weil in Ihrem ganzen Antrag Anspruch und Wirklichkeit so extrem weit auseinanderklaffen, können wir ihm
leider nicht zustimmen .
({13})
Ich sage - gerade Ihnen, Herr Rupprecht -: Haben Sie
doch Mut zu Strukturreformen, statt 75 Forderungen
an sich selber zu formulieren! Da geben Sie sich ja fast
selbst auf .
Danke .
({14})
Vielen Dank . - Als nächste Rednerin hat Gabriele
Katzmarek von der SPD-Fraktion das Wort .
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Ich freue mich, dass wir das Thema „Industrie 4.0“ heute
hier diskutieren können . Was mich nur etwas erstaunt das will ich gleich zu Beginn sagen -, ist das, was die
Opposition vorgetragen hat . Herr Behrens, Sie haben
beispielsweise davon gesprochen, dass wir in unserem
Antrag nichts zu den Forderungen der Arbeitgeber sagen . Wir haben halt ein anderes Politikverständnis; das
will ich Ihnen schon einmal sagen . Es geht nicht darum,
dass wir Anträge einbringen, in denen wir uns mit Forderungen von Arbeitgebern oder sonstigen Gruppierungen,
die irgendwo zu lesen sind, auseinandersetzen, sondern
unser Verständnis ist, diesen Prozess im Interesse der
Menschen in diesem Land zu gestalten . Deshalb haben
wir entsprechende Forderungen in unseren Antrag aufgenommen und auch Maßnahmen aufgeschrieben . Uns geht
es um die Frage: Wie sieht unsere Zukunft aus? Denn wir
wollen Zukunft gestalten und nicht nur hier stehen und
sagen, warum wir gegen etwas sind .
({0})
- Dazu haben wir auch etwas geschrieben . Lesen Sie
noch einmal die Seite 8 . Ich komme gleich aber noch
einmal darauf . Nach der Debatte können wir die Absätze
gerne noch einmal - dieses Angebot mache ich Ihnen gemeinsam durchgehen . Dazu bleibt hier jetzt aber keine
Zeit .
Ich will auch noch eines zu der anderen Oppositionsfraktion, zu Ihnen von den Grünen, sagen: Ich fand es
sehr spannend, dass Sie, Herr Janecek, auf der einen Seite gesagt haben: „Darin sind zu viele Punkte aneinandergereiht; es ist ein ganzes Maßnahmenbündel“, während
Sie sich gemeinsam mit Herrn Gehring gleichzeitig darüber beklagt haben, was alles nicht enthalten ist . Natürlich
fehlt in diesem Antrag noch etwas; denn wir reden über
einen Prozess .
({1})
Er ist heute nicht abgeschlossen und beendet, sondern er
muss permanent weiterentwickelt werden .
({2})
Von daher hätte ich mich sehr gefreut, wenn Sie das,
was Ihrer Meinung nach im Augenblick sehr wichtig ist
und in diesem Antrag noch fehlt, durch Änderungswünsche hinzugefügt hätten .
({3})
Auch Ihre Aussage, der Mensch stehe nicht im Mittelpunkt, stimmt nicht . Wenn Sie genauer lesen, dann
werden Sie sehen, dass dem ein ganz großes Kapitel gewidmet ist .
Wir übernehmen politische Verantwortung; denn es ist
unsere Aufgabe, in diesem Prozess dafür Sorge zu tragen - Hubertus Heil hat das bereits gesagt -, dass die
Menschen nicht unter die Räder kommen . Durch die Fragen, die wir aufwerfen, aber auch durch die Maßnahmen,
die wir formulieren, übernehmen wir die Verantwortung
für den sozialen Fortschritt .
({4})
Die SPD-Fraktion hat sich recht früh und intensiv mit
dem politischen Handlungsbedarf bei Industrie 4 .0 beschäftigt . In einem breit angelegten Dialog mit Gewerkschaften, Unternehmen, der Wissenschaft und Verbänden
wurden die Fragen der digitalen Transformation diskutiert .
Im Juni haben wir ein Positionspapier vorgelegt, das
den Blick ausführlich und ganzheitlich auf die Herausforderungen, Ziele und Maßnahmen richtet . Vieles davon
ist in den heute vorliegenden Antrag eingeflossen.
Meine Vorredner haben einen Teil davon schon benannt . Insbesondere auf einen Punkt will ich noch einmal
eingehen, weil er in der Diskussion auch bei der Opposition eine besondere Rolle spielte: Neben der Aus- und
Weiterbildung, bei der es explizit um Arbeitnehmerfragen geht, zum Beispiel: „Wie sind die Arbeitnehmer
für die Zukunft gerüstet, um diesen Wandel meistern zu
können?“, haben wir auch einiges andere mit aufgenommen, beispielsweise das Thema Arbeit 4 .0, und zwar in
der Form, wie Andrea Nahles es ja auch schon in ihrem
Grünbuch angesprochen hat . Andrea Nahles mit ihrem
Ministerium hat ja zu Recht dieses Thema oben auf die
Agenda gesetzt .
({5})
Ich habe gerade gesagt, Sie sollten einmal die Seite 8
des Antrags aufschlagen. Dort finden Sie etwas zu den
Fragen, wie Beschäftigte mitgenommen werden und was
für Beschäftigte passieren muss . Die Antwort darauf
haben wir dort aufgenommen, indem wir klar formuliert
haben, dass die betriebliche Mitbestimmung gestärkt
werden muss, dass wir dem Missbrauch von Werkverträgen wirksam entgegentreten und dass wir es nicht zulassen werden, dass technische Möglichkeiten dazu genutzt
werden, Arbeitnehmerrechte - ein Stichwort ist zum Beispiel „Arbeitnehmerdatenschutz“ - einzuschränken, und
das beschließen wir heute .
Ich habe gerade etwas zur politischen Verantwortung
gesagt . Mit diesem Antrag und mit unserer Positionierung dazu übernehmen wir politische Verantwortung .
Wir stellen uns nicht nur hin und sagen: „Es könnte alles viel, viel mehr sein; es reicht uns nicht“, sondern wir
kümmern uns um die Menschen in diesem Land, und wir
achten darauf, dass die Menschen in diesem Land nicht
unter die Räder kommen . Wir werden - und das ist sozialdemokratische Wirtschaftspolitik - nicht nur bewahrend tätig sein, sondern die Chancen nutzen, die Zukunft
im Interesse der Menschen und der Arbeitsplätze für die
Menschen zu gestalten .
({6})
Unser Antrag ist ein wichtiger Beitrag dazu, den wir
heute leisten .
({7})
Vielen Dank . - Als nächster Redner hat Dr . Wolfgang
Stefinger von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Frau Ministerin!
Werte Kolleginnen und Kollegen! Die Digitalisierung
verändert alle Lebensbereiche - das haben wir schon
gehört -: Gesellschaft, Staat, Wirtschaft . Alle sind gleichermaßen davon betroffen . Die neuen Technologien
verändern die Kommunikation, die Interaktion zwischen
Menschen, zwischen Mensch und Maschine, zwischen
Maschinen . Produktion und Internet verschmelzen zu
cyberphysischen Systemen . Die Veränderungen sind so
immens, dass manch einer von der „digitalen Revolution“ spricht.
Die Digitalisierung eröffnet neue Möglichkeiten, sie
bietet Chancen, nicht nur im persönlichen Bereich - das
erleben wir täglich, wenn wir unsere Smartphones in der
Hand halten und neue Angebote für irgendwelche Apps
bekommen -, sondern auch im betrieblichen Bereich entstehen neue Möglichkeiten, neue Wege der Produktion
und Dienstleistung .
Die Fertigungsprozesse werden flexibler, effizienter,
individueller und nachhaltiger . Neue Geschäftsmodelle entstehen, neue Arbeitsformen und Tätigkeitsfelder
eröffnen sich . Die Maschinen können über das Internet
gesteuert werden, sie kommunizieren selbstständig miteinander . Produkte werden über Chips mit Maschinen
vernetzt sein . Die gesamte Wertschöpfungskette bis zum
Kunden - alles automatisch, alles digital . Science- Fiction
wird Realität, werden Sie sich vielleicht denken .
Wir möchten diese Realität mitgestalten . Industrie 4 .0
ist für Deutschland von herausragender Bedeutung . Wir
möchten, dass Deutschland Leitanbieter auf diesem Gebiet ist .
({0})
Das klare Ziel der Koalition ist: Deutschland soll digitales Wachstumsland Nummer eins in Europa werden .
Hierfür hat Deutschland die besten Voraussetzungen;
Frau Ministerin hat bereits darauf hingewiesen . Im Übrigen: Herzlichen Dank, dass Sie heute selber zu diesem
Thema gesprochen haben . Das unterstreicht noch einmal
den Stellenwert dieses Themas im Bundesbildungsministerium .
({1})
Sie haben es bereits angesprochen: Wir haben Spitzenpositionen im Maschinen- und Anlagenbau, in der
Automobilindustrie, in der Elektrotechnik, in der Chemie
und zunehmend auch bei der IT-Sicherheit, wenn ich nur
an unsere drei Kompetenzzentren denke, die bereits mit
Preisen ausgezeichnet wurden . Wir haben hervorragende Fachkräfte, einen starken Mittelstand . Deutschland
ist - und auch deswegen ist das Thema für uns besonders
wichtig - international führender Fabrikausrüster . Die
geschaffene Plattform Industrie 4 .0 ist im internationalen
Vergleich eines der größten Netzwerke im Bereich Industrie 4 .0 . Und hier muss ich Sie, lieber Herr Kollege Heil,
korrigieren . Das BMBF wirkt hier nicht nur mit,
({2})
sondern wir sind Taktgeber in diesem Bereich
({3})
und machen das gemeinsam mit dem Wirtschaftsministerium .
({4})
- Ich gebe Ihnen recht: Es ist wichtig, dass es klappt .
Deswegen ist es auch wichtig, dass die Ministerien in
dem Bereich vertrauensvoll zusammenarbeiten .
({5})
Ich möchte eine weitere Stärke herausstellen, nämlich Wissenschaft und Forschung, die weltweit ein hohes Ansehen genießen . Sie leisten einen unverzichtbaren
Beitrag zur Innovations- und Wettbewerbsfähigkeit . Was
bislang im Bereich Industrie 4 .0 geleistet wurde, vor
allem vonseiten des Bundesbildungsministeriums, des
Zukunftsministeriums, ist beachtlich . Wir haben in unserem Antrag mehr als 30 Fördermaßnahmen aufgelistet: Grundlagenforschung, Arbeitsforschung, Sicherheit,
Spitzencluster, Mittelstandsförderung, um nur einige wenige zu nennen .
({6})
Auch wenn ich mir die Haushaltszahlen anschaue,
meine sehr geehrten Damen und Herren, dann stelle ich
fest, dass im Haushalt des Bundesbildungsministeriums
die höchste Summe für den Bereich Industrie 4 .0 eingestellt ist .
({7})
Alles automatisch, alles digital! Wo bleibt der Mensch?
Diese Frage kam schon .
({8})
Haben wir Menschen in der Zukunft leere Fabriken?
Nein, das werden wir nicht haben . Der Mensch wird
auch weiterhin gebraucht, nur eben anders . Deshalb ist
im Antrag ein Schwerpunkt auf Bildung, Weiterbildung
und Forschung gelegt .
Natürlich bedeutet Industrie 4 .0 eine Veränderung
der Arbeitsabläufe, der Tätigkeitsbeschreibung, der Arbeitsplatzgestaltung. Deswegen sind Qualifizierungsmaßnahmen nötig, Ausbildungsinhalte sind anzupassen .
Hochschulen und Berufsschulen müssen sich auf Veränderungen einstellen; denn die Vermittlung von IT-Kompetenz muss in Zukunft einen noch höheren Stellenwert
einnehmen .
({9})
Auch Geringqualifizierte und An- und Ungelernte müssen natürlich mitgenommen werden . Das haben wir im
Antrag entsprechend formuliert .
({10})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, im Rahmen
des Förderprogramms „Innovationen für die Produktion,
Dienstleistung und Arbeit von morgen“ ist in diesem Bereich bereits vieles angestoßen . Ich darf noch einmal die
Summe nennen: Wir sind hier bei 1 Milliarde Euro, die
das Bundesbildungsministerium bis 2020 hierfür vorgesehen hat .
Unsere Betriebe, unsere Produktion und unser gesellschaftliches Miteinander verändern sich durch die fortschreitende Digitalisierung . Wir setzen auf die Chancen
der Digitalisierung für Industrie, für Unternehmen und
für die Gesellschaft . Wir wollen den Wandel gestalten
und stärken hierfür Bildung, Forschung und Innovationen - anwendungsbezogen, mit Unternehmen, mit dem
Handwerk .
„Deutschland hat die Chance, das bessere Silicon
Valley zu werden“, sagte Christoph Keese nach seinem
USA-Aufenthalt 2014 . Ich sage Ihnen: Nach meiner
USA-Reise kann ich Ihnen bestätigen, dass er recht hat .
Deswegen bitte ich Sie: Lassen Sie uns diese Chance gemeinsam nutzen! Wir sind überzeugt: Deutschland kann
das .
({11})
Vielen Dank . - Als nächste Rednerin hat Dr . Simone
Raatz von der SPD-Fraktion das Wort .
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Der aktuelle Monitoring-Report „Wirtschaft DIGITAL“, den das
BMWi in Auftrag gegeben hat, zeigt, dass Deutschland
im Zehn-Länder-Vergleich auf Platz sechs zurückgefallen ist . Ich denke, das ist ein Aha-Signal . Warum ist das
so? Die Studie identifiziert dafür drei große Schwächen
in Deutschland . Auf diese sind zum Beispiel die Vorredner in keiner Weise eingegangen, insbesondere die von
der Opposition nicht .
Erstens . Das ist die mangelnde Verfügbarkeit von
Fachkräften . Erst wenn ich Fachkräfte habe, kann ich
über Mitbestimmung reden oder - sage ich einmal - aus
dem Grünbuch zitieren . Das ist der erste Punkt, warum
Deutschland auf Platz sechs zurückgefallen ist, nämlich
dass wir in diesem Bereich nicht ausreichend Fachkräfte haben . Zweitens . Die teilweise schlecht ausgebaute
Netz infrastruktur ist zu nennen; das ist angeführt worDr. Wolfgang Stefinger
den . Drittens . Das ist der geringe Anteil an Exporten der
Informations- und Kommunikationstechnologie .
Das macht deutlich: Wir müssen bei der Digitalisierung der Wirtschaft erheblich an Tempo zulegen . Wir
brauchen natürlich auch Antworten . Ich habe hier von
der Opposition eigentlich nur Fragen vernommen . Wir
versuchen mit dem Antrag, einige Antworten zu geben .
Natürlich gelingt das nicht vollumfänglich . Aber wir laden Sie immer herzlich ein, sich mit Ihren Ideen zu beteiligen .
({0})
Wir stehen dem offen gegenüber .
({1})
Ich bin daher froh, dass sowohl das BMWi als auch das
BMBF Förderprogramme aufgelegt haben, die einen
ganz wichtigen Beitrag zum Gelingen der vierten industriellen Revolution leisten werden . Dafür an dieser Stelle
einmal ganz herzlichen Dank an die beiden Ministerien .
({2})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, 78 Prozent der für
das Monitoring befragten Entscheidungsträger geben an,
dass sie insbesondere im Bereich des Ausbaus der Fachkräfteförderung die Politik, also uns, in der Pflicht sehen.
Industrie 4 .0 - einige der Vorredner haben das bereits
erwähnt - beschleunigt den Strukturwandel in der Arbeitswelt erheblich und verlangt den Beschäftigten neue
Kompetenzen und mehr Flexibilität ab .
Unser Blick muss dabei gerade auch auf den Menschen liegen, die eben weniger gut ausgebildet sind;
denn - das muss man ehrlich sagen - gerade sie sind mit
Industrie 4 .0 besonderen Arbeitsplatzrisiken ausgesetzt .
Ja, auch diesem Thema wenden wir uns in unserem Antrag zu . Gute Bildung von Anfang an und kontinuierliche
berufsbegleitende Qualifizierung sind der Schlüssel für
die erfolgreiche Umsetzung von Industrie 4 .0 .
({3})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, damit die industrielle Revolution gelingt, wollen wir unser Aus- und Weiterbildungssystem modernisieren und die Durchlässigkeit
zwischen beruflicher und akademischer Bildung weiter
verbessern; ein Thema, das insbesondere meiner Fraktion sehr am Herzen liegt .
({4})
Dazu haben wir uns innerhalb der Koalitionsfraktionen
mit dem vorliegenden Antrag auf verschiedene Maßnahmen verständigt . Es trifft nämlich nicht zu, Herr Behrens,
dass es im Antrag nichts dazu gibt . Ich werde an dieser
Stelle aber nur auf wenige Punkte eingehen können .
Wir werden zum einen die Berufsschulen verstärkt
darin unterstützen, dass sie sich den Anforderungen der
Digitalisierung endlich stellen . Ein besonderes Augenmerk liegt dabei auf dem Qualifizierungsbedarf von Berufsschullehrerinnen und Berufsschullehrern .
Zum anderen starten wir eine Initiative zur Förderung
der Digitalisierung in der beruflichen Ausbildung. Ich
denke, auch das ist dringend geboten . Gleichzeitig unterstützen wir eine entsprechende technische Ausstattung in
den überbetrieblichen Berufsbildungsstätten .
Ja, Herr Gehring, sicherlich hätte man mehr finanzielle Mittel für diesen Bereich bereitstellen können . Mein
Kollege Herr Stefinger hat aber gerade darauf hingewiesen, welche Mittel im Bildungsministerium für diesen Bereich eingesetzt werden . Wenn Sie die aktuellen
Haushaltsverhandlungen verfolgt haben, dann wissen
Sie, dass zum Beispiel für den Bereich Industrie 4 .0 zusätzlich 11 Millionen Euro eingestellt worden sind . Ich
denke, mit diesem Geld können wir sicherlich das eine
oder andere Sinnvolle machen . Ich hoffe deshalb, dass
das Ihre Kritik zum Teil vergessen lässt .
Neben den genannten Maßnahmen im Bereich der
Ausbildung ist auch die berufliche Fort- und Weiterbildung der Beschäftigten für den Erfolg von Industrie 4 .0
enorm wichtig . Mich hat überrascht, dass dabei schon die
30- bis 40-Jährigen angesprochen sind . Sie müssen sich
bereits heute zur Qualifizierung auf den Weg machen.
Das erwartet man nicht, aber das ist schon die kritische
Alterskohorte, die wir mit solchen Weiterbildungsmaßnahmen bedenken müssen .
Deshalb werden wir sowohl die Schaffung von differenzierten und beschäftigungsorientierten Weiterbildungsangeboten unterstützen als auch die Beratungsangebote für Beschäftigte ausbauen . Denn so können sie
sich über ihre Qualifikationsbedarfe umfassend informieren . Ich denke, das wird immer wichtiger werden .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn wir den Fachkräftebedarf in den technologiegeprägten Berufen nachhaltig decken wollen, geht es neben der Modernisierung
der dualen Ausbildung auch um den systematischen
Ausbau von Fort- und Weiterbildung . Es gibt Bereiche,
die noch gar nicht bedacht wurden, die aber auch einen
wesentlichen Inhalt haben . So geht es natürlich auch um
die frühzeitige Sensibilisierung für Zukunftsfelder von
Kindern und Jugendlichen . Ich denke in diesem Zusammenhang zum Beispiel an die Stiftung „Haus der kleinen
Forscher“, die sehr gute Projekte durchführt.
Genauso wichtig ist es, endlich die Studienabbrecherquote in den MINT-Fächern deutlich zu reduzieren . In
diesem Bereich verlieren wir enorm viel Fachkräftepotenzial .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie sehen, wir haben
viel vor . Einiges davon ist in unserem Antrag enthalten .
Jetzt muss es uns noch gelingen, diese Vorhaben ministeriumsübergreifend umzusetzen, und dann, denke ich,
werden wir auch dem Thema Industrie 4 .0 zum Erfolg
verhelfen . Ich bin zuversichtlich .
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit .
({5})
Vielen Dank . - Als letzter Redner in der Debatte hat
Jens Koeppen von der CDU/CSU-Fraktion das Wort .
({0})
Vielen Dank, Frau Präsidentin . - Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Als letzter Redner in der Debatte versuche ich, zusammenzufassen, was bisher gesagt wurde,
und zwar nicht aus der Sicht von Bildung und Forschung
oder der Wirtschaft, sondern aus der Sicht des jüngsten
Ausschusses im Deutschen Bundestag, des Ausschusses
Digitale Agenda .
Sehr geehrter Herr Kollege Janecek und Herr Kollege
Behrens, ich bin nicht ganz so unzufrieden wie Sie . Denn
mit dem Antrag wird einiges auf den Weg gebracht . Das
muss man auch ehrlich zugeben .
Es wurde gesagt, dass die Digitalisierung in alle Bereiche des Lebens Einzug gehalten hat . Wir können das
nicht ausbremsen oder aufhalten - das wollen wir auch
gar nicht -, sondern wir müssen es positiv begleiten . Das
haben wir uns auch gerade in unserem Ausschuss auf die
Fahne geschrieben: die Chancendiskussion in der Frage,
wie wir auf der einen Seite die Potenziale der Transformation der digitalen Gesellschaft heben und auf der anderen Seite auch die Risiken benennen und die Nachteile
beseitigen können .
Das versuchen wir auch mit diesem Antrag. Ich finde,
die Zusammenarbeit dazu ist außergewöhnlich und auch
sehr, sehr gut .
({0})
Meine Damen und Herren, auch beim Thema Industrie 4 .0 - ich denke, das ist das entscheidende Zukunftsthema und die wichtigste Säule der Digitalisierung gerade für einen Industriestandort wie Deutschland - müssen
wir nicht nur Anschluss behalten, sondern auch, wie die
Ministerin schon gesagt hat, Vorreiter sein . Das möchte
ich uneingeschränkt unterstreichen .
Wenn wir die gesamten Wertschöpfungsprozesse bei
uns erhalten wollen, müssen wir Vorreiter sein, wie es
uns bisher bei allen anderen industriellen Revolutionen
gelungen ist, beginnend mit der Dampfmaschine 1784
über die elektrischen Fließbänder, die die Massenproduktion ermöglichten, knapp 100 Jahre später bis hin zur
Computertechnik, die weitere 100 Jahre später, in den
1970er-Jahren, mit der Robotik und anderem in die Industrie Einzug gehalten hat . Immer waren wir Vorreiter,
immer haben wir sehr gut mitgespielt .
Jetzt kommt Industrie 4 .0 . Das bedeutet, Smart Factory kommt . Das bedeutet die totale Vernetzung, die
Selbst organisation in der Produktion . Mensch, Maschine,
Anlagen, Logistik, Produkte, selbst die Kunden und die
Geschäftspartner sind miteinander vernetzt . Es entstehen
ganz andere Dienstleistungsmodelle, Smart Services,
weil alle miteinander kommunizieren und kooperieren .
Ich glaube, das ist eine sehr große Chance .
Um noch einmal auf unsere Vorreiterrolle zurückzukommen: Das ist auch eine Werbemöglichkeit für
Deutschland; die Frau Ministerin hat es sehr deutlich
gesagt . Als wir im Ausland unterwegs waren - Sie hätten gerne mitkommen können, Herr Kollege Janecek;
aber leider ging das nicht -, in Japan, in Taiwan oder in
Südkorea, war bei jedem Gespräch die erste Frage: Wie
sieht es aus mit Industrie 4 .0? Ihr seid da die Vorreiter . Ihr
könnt das . Wie funktioniert das? - Wir waren aber nicht
ganz so euphorisch, weil wir in Deutschland immer ein
bisschen zurückhaltend sind, die ganze Sache abstrakt
sehen und erst einmal alles regulieren müssen . Wir konnten nur sagen: Wir haben dem Kind einen Namen gegeben und hoffen jetzt alle gemeinsam, dass dieses Kind
irgendwann auch auf die Welt kommt . - In einem gebe
ich Ihnen recht: Wir müssen aufpassen, dass wir nicht zu
lange abwarten . Wir müssen die Rolle, die uns zugeteilt
wurde, mit Leben erfüllen . Das Ministerium macht eine
ganz hervorragende Arbeit . Auch der Antrag zeigt, dass
wir den Anforderungen gerecht werden können .
Ich gehe in der letzten Minute, die ich habe, noch kurz
auf den Antrag ein . Es handelt sich um einen ganzheitlichen Ansatz . Er hat keinen Anspruch auf Vollständigkeit,
Herr Kollege Gehring .
({1})
Wir fragen, welche Bedingungen herrschen und was wir
für den Erfolg der Industrie 4 .0 brauchen .
Wir haben gesagt: Wir brauchen innovative Unternehmer . - Dahinter können wir einen Haken machen; denn
die haben wir in Deutschland . Wir haben gesagt: Wir
brauchen Innovationskraft durch entsprechendes Kapital, nicht Venture Capital, sondern das vorhandene Kapital . - Auch dahinter können wir einen Haken machen;
das haben wir .
({2})
Venture Capital - da gebe ich Ihnen völlig recht - muss
kommen . Da sind wir uns einig .
({3})
Dann kommt ein Punkt, an dem wir noch Luft nach
oben haben: der kontinuierliche Ausbau der Breitbandinfrastruktur und natürlich die neue Mobilfunktechnologie 5G . Das müssen wir intensiver angehen; denn ohne
diese Mobilfunktechnologie und einen umfassenden
Breitbandausbau wird das nicht funktionieren .
Wir brauchen die Verfügbarkeit von qualifizierten Arbeitskräften; dazu müssen wir mehr Mittel in die Ausbildung und die Qualifizierung stecken. Wir brauchen eine
moderne Verwaltung, nicht die Old-Fashion-Verwaltung,
die wir jetzt haben, um die Genehmigungspraxis zu verbessern . Wir brauchen den Abbau von bürokratischen
Hürden und die Abschaffung der Überregulierung . Das
alles ist aus dem vorigen Jahrhundert . Da müssen wir
besser werden .
({4})
Wir müssen auch Standards definieren und sagen,
welche Techniken belastbar sein werden . - Frau Präsidentin, ich komme zum Schluss . Ich sehe das Signal sehr
wohl . - Wir wurden immer wieder nach der IT-Sicherheit gefragt . Manche Unternehmen haben Angst, ihre
Geschäftsgeheimnisse in der Cloud zu verlieren . Darauf müssen wir Antworten geben . Wir dürfen auch den
ländlichen Raum nicht vergessen . Dort müssen wir den
Ausbau forcieren, damit die Chancen der neuen Technologien auch im ländlichen Raum wahrgenommen werden
können und der ländliche Raum den Anschluss nicht
verliert . Nicht der Wandel ist das Risiko . Wenn wir den
Wandel nicht begleiten, dann werden wir den Anschluss
verlieren . Machen wir es so, wie bei den anderen industriellen Revolutionen: Seien wir Vorreiter .
Danke .
({5})
Vielen Dank . - Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich
muss leider sagen: Es reicht nicht aus, dass Sie das Signal
sehen; Sie müssen ihm auch folgen . Das ist das Entschei-
dende .
Ich schließe die Aussprache .
Wir kommen zum Antrag der Fraktionen der CDU/
CSU und SPD auf der Drucksache 18/6643 . Die Frakti-
onen der CDU/CSU und SPD wünschen Abstimmung in
der Sache . Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und die
Fraktion Die Linke wünschen Überweisung, und zwar
federführend an den Ausschuss für Wirtschaft und Ener-
gie und mitberatend an den Ausschuss für Recht und Ver-
braucherschutz, den Ausschuss für Arbeit und Soziales,
den Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur, den
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenab-
schätzung sowie an den Ausschuss Digitale Agenda .
Wir stimmen nach ständiger Übung zuerst über den
Antrag auf Ausschussüberweisung ab . Ich frage deshalb:
Wer stimmt für die beantragte Überweisung an die Aus-
schüsse? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? -
Damit ist die Überweisung mit den Stimmen der Koaliti-
on und Gegenstimmen der Opposition abgelehnt worden .
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag auf
Drucksache 18/6643 mit dem Titel „Industrie 4 .0 und
Smart Services - Wirtschafts-, arbeits-, bildungs- und
forschungspolitische Maßnahmen für die Digitalisierung
und intelligente Vernetzung von Produktions- und Wert-
schöpfungsketten“ in der Sache. Wer stimmt für diesen
Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthält sich jemand? -
Das ist nicht der Fall . Dann ist der Antrag mit den Stim-
men der Koalition gegen die Stimmen der Opposition
angenommen worden .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe die Tages-
ordnungspunkte 31 a und 31 b auf:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Bekämpfung von Korruption im Gesundheitswesen
Drucksache 18/6446
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz ({0})
Innenausschuss
Ausschuss für Gesundheit
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kathrin Vogler, Sabine Zimmermann ({1}),
Matthias W . Birkwald, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion DIE LINKE
Korruption im Gesundheitswesen effektiv bekämpfen
Drucksache 18/5452
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz ({2})
Ausschuss für Gesundheit
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen . Gibt es dazu
Widerspruch? - Das ist nicht der Fall . Dann ist das so
beschlossen .
Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, die Plätze zügig zu wechseln . - Ich eröffne die Aussprache . Als erster Redner in der Debatte hat für die Bundesregierung
der Parlamentarische Staatssekretär Christian Lange das
Wort .
({3})
Vielen Dank . - Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Korruption im Gesundheitswesen beeinträchtigt den wirtschaftlichen Wettbewerb,
verteuert medizinische Leistungen und untergräbt das
Vertrauen von Patientinnen und Patienten in die Integrität
heilberuflicher Entscheidungen. Wegen der erheblichen
sozialen und wirtschaftlichen Bedeutung des Gesundheitswesens ist korrupten Praktiken in diesem Bereich
deshalb auch mit Mitteln des Strafrechts entschieden entgegenzutreten .
({0})
Damit schützen wir nicht zuletzt den ganz überwiegenden Teil der ehrlichen Heilberufsangehörigen, die sich
täglich für das Wohl der Patientinnen und Patienten einsetzen, und das ist gut und richtig so .
Nachdem der Bundesgerichtshof im Jahr 2012 festgestellt hat, dass das geltende Korruptionsstrafrecht
weder auf niedergelassene noch für sonst selbstständig
Tätige im Gesundheitswesen anwendbar ist, waren wir
zum Handeln aufgerufen . Anders als die letzte Bundesregierung sehen wir Handlungsbedarf im gesamten Gesundheitswesen und unterscheiden nicht zwischen Kassen- und Privatärzten . Da Korruption zudem nicht nur
auf ärztliche Entscheidungen abzielt, soll die Regelung
für alle Angehörigen eines Heilberufs mit einer staatlich
geregelten Ausbildung gelten .
Der Gesetzentwurf sieht die Einführung der Straftatbestände der Bestechlichkeit und Bestechung im
Gesundheitswesen in den §§ 299 a und 299 b unseres
Strafgesetzbuches vor . Sie verbieten Angehörigen von
Heilberufen, Vorteile als Gegenleistung dafür zu fordern,
sich versprechen zu lassen oder anzunehmen, dass sie bei
der Verordnung oder der Abgabe von Arznei-, Heil- oder
Hilfsmitteln oder von Medizinprodukten oder bei der Zuführung von Patienten oder Untersuchungsmaterial einen
anderen im Wettbewerb in unlauterer Weise bevorzugen .
Die Regelungen lehnen sich insoweit an den Tatbestand
der Bestechlichkeit und Bestechung im geschäftlichen
Verkehr an .
Der Gesetzentwurf trägt aber zugleich den Besonderheiten des Gesundheitswesens Rechnung . So sollen
Heilberufsangehörige beispielsweise dann, wenn sie Medizinprodukte auf eigene Rechnung beziehen, grundsätzlich eigene wirtschaftliche Interessen verfolgen dürfen,
solange die Produkte nicht zur Weitergabe an den Patienten bestimmt sind . Außerdem haben wir klargestellt, dass
das, was berufs- und sozialrechtlich zulässig ist, auch in
Zukunft straflos bleiben wird. Das gilt besonders für die
vielen Formen der beruflichen Zusammenarbeit, die zum
Wohle der Patientinnen und Patienten gesundheitspolitisch von uns allen gewollt sind und deshalb nicht unter
Korruptionsverdacht gestellt werden sollen .
({1})
Meine Damen und Herren, nach meiner Wahrnehmung ist es mit dem vorgelegten Gesetzentwurf gelungen, das strafwürdige Verhalten klar zu umgrenzen . Das
mag nicht zuletzt auch darauf zurückzuführen sein, dass
wir die verschiedenen Akteure im Gesundheitswesen von
Anfang an aktiv bei der Entstehung unseres Gesetzentwurfes eingebunden haben . Deshalb bitte ich Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen, um Ihre Unterstützung bei
den anstehenden Beratungen .
Herzlichen Dank .
({2})
Vielen Dank . - Als nächste Rednerin hat Kathrin
Vogler von der Fraktion Die Linke das Wort .
({0})
Vielen Dank . - Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen
und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Dass
Korruption im Gesundheitswesen bekämpft werden
muss, darin sind sich heute alle einig hier im Haus, von
der Linken bis zur CSU, und das ist schon ein erheblicher
Fortschritt gegenüber der letzten Wahlperiode .
({0})
Korruption verursacht finanzielle Schäden in Milliardenhöhe . Sie ist eine Gefahr für die Patientinnen und
Patienten und für die Finanzierung unseres Gesundheitswesens . Unterschiedliche Schätzungen gehen davon
aus, dass durch Korruption zwischen 5 Milliarden und
17 Milliarden Euro pro Jahr verloren gehen . Dieses Geld
fehlt uns an anderer Stelle, zum Beispiel bei den Krankenhäusern oder bei der Versorgung im ländlichen Raum .
Aber es geht nicht nur ums Geld . Wenn täglich Tausende von Pharmaberatern durch die Arztpraxen ziehen,
um mit allen möglichen Tricks neue, teure Medikamente
in den Markt zu drücken, dann hat das auch Risiken für
die Gesundheit der Patientinnen und Patienten . Wenn ich
als Patientin nicht weiß, ob die Frau Doktor ein Mittel
verschreibt, weil es mir guttut oder weil sie dafür von
einer Firma bezahlt wird, dann nimmt auch das Vertrauen
in die Medizin insgesamt Schaden .
Genau hier, Herr Lange, hat der Gesetzentwurf der
Bundesregierung leider einen blinden Fleck . Sie wollen
vor allem den Wettbewerb im Gesundheitswesen und die
finanzielle Stabilität der Krankenkassen schützen, und
dabei ist Ihnen die Patientenperspektive leider weitgehend abhandengekommen .
({1})
Der Bundesrat hat zum Beispiel vorgeschlagen, Bestechung und Bestechlichkeit auch dann zu bestrafen, wenn
zwar kein wirtschaftlicher Schaden entstanden ist, aber
eine erhebliche Gefahr für die Gesundheit eines Menschen . Diesen sehr guten Vorschlag hat die Bundesregierung abgelehnt, und das kann ich, ehrlich gesagt, überhaupt nicht nachvollziehen .
({2})
Meine Fraktion schlägt Ihnen im vorliegenden Antrag
vor, die Strafbarkeit auf Vorteilsgewährung und Vorteilsannahme allgemein auszuweiten . Für Nichtjuristen: Das
hätte den entscheidenden Vorteil, dass eben nicht nachgewiesen werden müsste, dass eine Zuwendung an eine
Ärztin diese ganz konkret dazu veranlasst hat, genau das
Medikament dieser Firma zu verschreiben . Damit könnte
man auch das Phänomen der sogenannten Landschaftspflege in den Griff bekommen. Damit hätten wir im
Gesundheitsbereich ähnlich hohe Antikorruptionsregeln
wie bei den Beamtinnen und Beamten . In diese Richtung
hat in der letzten Wahlperiode auch die SPD noch gedacht . Genau diese Forderung wird auch von MEZIS, der
Initiative unbestechlicher Ärztinnen und Ärzte erhoben;
wir sollten ihnen hier folgen .
({3})
Ein großes Problem, das Sie mit Ihrem Gesetzentwurf
überhaupt nicht angehen, sind die sogenannten Anwendungsbeobachtungen . Kurz beschrieben handelt es sich
dabei um Vereinbarungen zwischen der Industrie und
Ärztinnen und Ärzten, wonach Ärzte Patienten auf ein
neues Arzneimittel umstellen und dafür von den Herstellerfirmen vergütet werden. Diese neuen Medikamente
sind häufig viel teurer und häufig leider auch weniger
sicher als die bewährten alten .
({4})
Wie das konkret funktioniert und welche Risiken das für
die Patienten mit sich bringt, das schildert Roland Holtz
in seinem Doku-Roman Pharmakrieg am Beispiel eines
fiktiven Medikaments mit drastischen Nebenwirkungen.
Er zeigt ganz detailliert, wie verheerend sich der Missbrauch der sogenannten Anwendungsbeobachtungen auf
die Sicherheit von Patientinnen und Patienten auswirken
kann . Die Antikorruptionsinitiative Transparency International hat genau diese Anwendungsbeobachtungen in
einer Studie untersucht und kommt zu dem Ergebnis,
dass es sich dabei nicht um seriöse Forschung handelt,
sondern schlicht um verschleierte Korruption, und fordert deshalb ein gesetzliches Verbot, was wir als Linke
unterstützen . Aber leider haben Sie dazu nichts vorgelegt .
Inzwischen hat sich die Branche weitere Umgehungsmöglichkeiten gesucht, die wir dringend unterbinden
müssen . Schmiergelder können auch weiterhin als überhöhte Honorare etwa für Vorträge oder Gutachtertätigkeiten gezahlt werden; daran wird Ihr Gesetz leider auch
nichts ändern . Das ist sehr bedauerlich .
({5})
Die eingeschränkte Sichtweise auf das Problem kommt
in dem Gesetzentwurf leider auch zum Vorschein, wenn
es um die Frage geht, wer überhaupt Anzeige erstatten
darf . Die Staatsanwaltschaft darf nämlich nur dann tätig
werden, wenn die Bestechung von einer Ärztekammer,
einem Berufsverband, einer Krankenkasse oder einem
benachteiligten Wettbewerber angezeigt wird .
({6})
Nun ist es aber doch so, dass es häufig Beschäftigte sind,
die das Unrechtsverhalten ans Tageslicht bringen . Die
Linke fordert deswegen, diese Whistleblower zu schützen, damit sie nicht aus Angst vor Regressforderungen
oder Jobverlust von einer Anzeige abgehalten werden .
({7})
Auch Patientinnen und Patienten, die von korruptivem
Verhalten erfahren, sollen selbst nicht Anzeige erstatten
dürfen. Das finden wir unzureichend, und wir hoffen,
dass Sie da noch nachbessern .
({8})
Insgesamt denke ich, dass in Ihrem Gesetzentwurf
durchaus noch eine Menge Luft nach oben ist . Das wollen wir Linke nutzen . Ich hoffe im Interesse der Patientinnen und Patienten, der ehrlichen Medizinerinnen und
Mediziner sowie eines solidarischen Gesundheitswesens
auf gute Besserung .
({9})
Vielen Dank . - Als nächster Redner hat Jan-Marco
Luczak von der CDU/CSU-Fraktion das Wort .
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Eines ist klar: Korruption ist kein Kavaliersdelikt, sondern verursacht sehr hohe wirtschaftliche Schäden; denn wo korruptive Verhaltensweisen herrschen,
da werden Ressourcen verschwendet, da werden falsche
Anreize gesetzt, und schließlich kommt es zu Fehlallokationen . Das führt dann dazu, dass nicht mehr die Qualität,
die Leistung und der Preis entscheiden, sondern die Höhe
des korruptiven Anreizes . Damit bleibt der faire Wettbewerb, eines der Grundprinzipien der sozialen Marktwirtschaft, auf der Strecke . Deswegen gehört die Bekämpfung der Korruption zu den zentralen wirtschaftlichen,
politischen und gesellschaftlichen Aufgaben, denen der
Gesetzgeber nachkommen muss . Wir setzen mit unserem
Gesetzentwurf das klare Signal, dass Korruption im Gesundheitswesen sanktionswürdig ist .
({0})
Dieses Signal ist notwendig, nicht etwa wegen der
Masse an Fällen, die es gibt, sondern weil der Gesundheitsbereich einen hohen Stellenwert innerhalb der Gesellschaft und innerhalb unserer Wirtschaftsordnung hat
und weil es sich um einen hochsensiblen Bereich handelt . Volkswirtschaftlich betrachtet, werden in der Gesundheitswirtschaft in Deutschland etwa 300 Milliarden
Euro im Jahr umgesetzt . Die Folge von Korruption ist,
dass sich medizinische Leistungen verteuern . Das geht
zulasten der Patienten und zulasten der Solidargemeinschaft . Mir ist aber ganz wichtig, zu sagen: Korruption
hat nicht nur negative wirtschaftliche Auswirkungen . Die
gravierendste Folge von Korruption ist, dass ein Vertrauensverlust der Patienten in die Integrität heilberuflicher
Entscheidungen damit einhergeht .
Wir von der Koalition haben ein klares Ziel . Wir wollen einen verbindlichen Rechtsrahmen für einen fairen
Wettbewerb schaffen, der das Vertrauensverhältnis zwischen Ärzten und Patienten schützt . Für die Union ist
immer klar gewesen: Niemand soll ein Medikament nur
deswegen verschrieben bekommen, weil ein Arzt oder
ein anderer in einem Heilberuf Tätiger einen Vorteil daraus zieht . Das darf nicht sein . Entscheidend muss die
medizinische Notwendigkeit sein .
({1})
Wir haben gehört, was Anlass unseres Gesetzgebungsverfahrens war; Staatssekretär Lange hat dazu schon ausgeführt . In einem Urteil des Bundesgerichtshofes aus
dem Jahre 2012 wurde im Kern offenbar, dass es Schutzlücken im Gesundheitswesen gibt, die wir im Rahmen
der Bekämpfung von Korruption angehen müssen . Ärzte
sind eben keine Amtsträger, und es sind auch keine Beauftragten der gesetzlichen Krankenkassen . Auch greifen
hier Tatbestände wie Betrug und Untreue in aller Regel
nicht . Die sich auftuenden Schutzlücken wollen wir mit
diesem Gesetzentwurf schließen .
Für uns ist an dieser Stelle ein Punkt ganz wichtig:
Wir wollen kein Sonderstrafrecht für Ärzte schaffen;
denn damit würde das falsche Signal ausgesendet, dass
offensichtlich Regelungsbedarf besteht, weil alle Ärzte
vermeintlich korrupt sind . Das ist ausdrücklich nicht der
Fall . Daher haben wir gesagt: Nicht nur für die Ärzte sollen die neuen strafrechtlichen Sanktionen gelten, sondern
für Angehörige aller - und nicht nur der akademischen Heilberufe . All diejenigen, die im Gesundheitsbereich
arbeiten und eine staatliche Prüfung im Gesundheitswesen abgelegt haben, werden von diesem Gesetz, dessen
Entwurf wir beraten, zukünftig erfasst .
Es sind zwei Schutzzwecke, die wir mit diesem Gesetz verfolgen . Das ist zum einen der Schutz des lauteren
Wettbewerbs, und das ist zum anderen der Schutz des
Vertrauens der Patienten in die heilberufliche Unabhängigkeit . Deswegen haben wir hier zwei Tatbestandsalternativen ausgewählt . Für uns ist bei der Ausgestaltung
dieser Alternativen wichtig gewesen, dass wir ganz klar
und deutlich sagen: Wir wollen, dass Kooperationen im
Gesundheitswesen auch zukünftig möglich sind, weil
das wichtig ist für Anreize in Forschung, Innovation und
Fortentwicklung . Da braucht man eine enge Kooperation
zwischen der Ärzteschaft und der Pharmaindustrie . Das
ist notwendig zum Wohl der Patienten . Das kann und darf
mit diesem Gesetz nicht verhindert werden, meine Damen und Herren .
({2})
Wir brauchen eine klare Abgrenzung, was strafbar ist
und was nicht . Da bewegen wir uns in einem schwierigen Bereich . Wir müssen das verfassungsrechtliche
Bestimmtheitsgebot beachten, also möglichst klar sagen, was sanktionswürdig und strafbar ist . Gleichzeitig
brauchen wir natürlich eine abstrakt-generelle Regelung,
die es ermöglicht, auch jetzt noch unbekannte, aber aus
unserer Sicht sanktionswürdige Verhaltensweisen zu erfassen . In der Entwicklung vom Referentenentwurf zum
Kabinettsentwurf haben wir die Bedenken, die es dazu
in der Praxis gibt, aufgenommen und versucht, das klarer zu fassen . So haben wir im Tatbestand ausdrücklich
klargestellt, dass es bei Verstößen gegen berufsrechtliche
Pflichten um solche Pflichten geht, mit denen die heilberufliche Unabhängigkeit geschützt wird, und nicht um
andere berufsrechtliche Pflichten, also etwa Regelungen
dazu, wie groß das Praxisschild sein darf . Letztere haben
mit der heilberuflichen Unabhängigkeit nichts zu tun.
Deswegen fallen Verstöße gegen solche Pflichten nicht
in den Bereich der Strafbarkeit .
Wir haben in der Begründung klargestellt, dass wir
Kooperationen im Gesundheitswesen wollen . Das gilt für
die Kooperationsmodelle, die etwa im SGB V ausdrücklich vorgesehen sind; aber das gilt zum Beispiel auch für
die Anwendungsbeobachtung, die Frau Kollegin Vogler
hier gerade so sehr gegeißelt hat . Das sind notwendige
Kooperationsformen, um festzustellen, ob neue Medikamente einen zusätzlichen Nutzen haben . Natürlich sollen und müssen sie gegebenenfalls vergütet werden, aber
angemessen, und das darf nicht zulasten der Patienten
gehen; aber sie sind notwendig, um an dieser Stelle für
Innovation und Fortschritt zu sorgen .
({3})
Weil die Praxis hier ganz entscheidend ist, haben
wir auch gesagt: Wir müssen im SGB V eine Regelung
schaffen, mit der wir einen Erfahrungsaustausch hinbekommen zwischen den Leistungsträgern im Gesundheitswesen und denen, die möglicherweise korrupte Verhaltensweisen nachher verfolgen müssen, nämlich den
Staatsanwaltschaften .
Insofern haben wir einen Dreiklang: Wir haben einen Tatbestand konkreter und enger gefasst . Wir haben
in der Begründung deutlich gemacht, was zulässig und
was nicht zulässig ist . Außerdem werden wir dafür sorgen, dass in der Praxis auch zukünftig die Gefahr von
staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen nicht über Gebühr
droht .
Weil hier Bedenken vonseiten der Ärzteschaft und
der anderen Heilberufe bestehen, ist es wichtig, noch
einmal zu betonen: Staatsanwaltschaftliche Ermittlungen sind von vielen Voraussetzungen abhängig . Es reicht
nicht aus, gegen eine bestimmte berufsrechtliche Pflicht
zu verstoßen . Vielmehr muss immer eine Verknüpfung
von Vorteil und Gegenleistung bestehen . Das ist die sogenannte Unrechtsvereinbarung; das ist der immanente
Kernbestandteil einer jeden Korruptionsstrafbarkeit . Ich
habe großes Vertrauen in unsere Gerichte, auch in unsere
Staatsanwälte, dass sie mit dem Instrumentarium, das wir
ihnen hier an die Hand geben, verantwortungsvoll umgehen werden .
Letzter Punkt, den ich hier gern noch ansprechen
möchte: das Bestimmtheitsgebot . Das ist ein Punkt, den
wir uns verfassungsrechtlich genau anschauen müssen .
Das werden wir im parlamentarischen Verfahren tun .
Wir müssen ganz klar sagen, bei welchen berufsrechtlichen Pflichten ein Verstoß zur Strafbarkeit führen kann;
das müssen die Normadressaten wissen . Da müssen wir,
glaube ich, aufpassen, dass die unterschiedlichen berufsrechtlichen Regelungen, die es in den einzelnen Ländern
gibt, nicht zu einer unterschiedlichen Strafbarkeit führen .
Das müssen wir uns im Gesetzgebungsverfahren noch
genau anschauen . Ich glaube, da sind wir auf einem guten Weg .
Ich könnte mir noch vorstellen, in Bezug auf den
Schutzzweck des Gesetzes als besonders schweren Fall
auch eine Gesundheitsbeschädigung in den Blick zu nehmen; dazu hat die Kollegin von den Linken etwas gesagt .
Unter dem Strich ist für uns ganz wichtig: Wir wollen
uns nur auf die schwarzen Schafe konzentrieren . Nur die
haben es verdient, verfolgt zu werden . Damit sind wir
mit diesem Gesetzentwurf auf einem guten Weg . Deswegen darf ich Sie um Ihre Zustimmung bitten .
Danke schön .
({4})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich muss Sie ermahnen, in der Zeit zu bleiben . Der Kollege hat jetzt um über
eine Minute überzogen . Wenn wir das zusammenzählen,
sind wir bei acht Minuten zusätzlich - sogar noch ein
bisschen darüber . Ich habe einfach die Bitte, wirklich in
der Zeit zu bleiben . Wir liegen bereits sehr weit - über
eine Stunde, eine Stunde und zehn Minuten - zurück,
und im Anschluss gibt es noch eine Debattenrunde .
Als nächste Rednerin hat Maria Klein-Schmeink von
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort .
Sehr geehrte Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Heute ist in der Tat ein guter Tag, weil wir zum
fünften Mal über die Korruption im Gesundheitswesen
reden - erstmalig auf Grundlage eines Gesetzentwurfes - und alle Fraktionen erkennen lassen, dass sie ihn
und damit auch das Anliegen zumindest im Grundsatz
unterstützen . Das ist ein weitreichender Fortschritt, den
ich von unserer Seite aus begrüße .
({0})
Warum begrüße ich diesen Schritt? Als wir im Jahr
2012 das Urteil des Bundesgerichtshofes entgegennehmen mussten, in dem es hieß: „Nein, wir können einen besonderen Fall der Einflussnahme bzw. der Bestechung -
die nachweislich stattgefunden hatte; 18 000 Euro waren
für die Verschreibung eines bestimmten Präparates als
Zuwendung an Ärzte geflossen - auf Grundlage unserer
derzeitigen Rechtsgebung bzw . Rechtsprechung nicht
verfolgen“, war deutlich: Wir haben eine Rechtslücke,
eine Handlungslücke . Die wird mit diesem Gesetz geschlossen, und das ist richtig und gut so .
({1})
Ich begrüße auch ausdrücklich, dass die CDU an dieser Stelle Lernfortschritte gemacht hat . Wenn Sie in die
alten Protokolle der Debatten sehen, werden Sie sehen,
dass da immer nur von „Unterstellungen“ und „Verleumdung der Ärzteschaft“ die Rede war und eben nicht darüber gesprochen wurde, wie dem berechtigten Anliegen
der Patientinnen und Patienten entsprochen werden kann .
Ich glaube, da sind wir einen entscheidenden Schritt weiter .
({2})
Das ist auch Ausdruck dessen, wo wir als Gesetzgeber wirklich gefragt sind . Es geht um ein extrem hohes
Gut, um das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und
Patient . Das ist kein beliebiges, sondern ein besonders
schutzwürdiges Verhältnis; denn wir müssen uns als Patientin bzw . als Patient darauf verlassen können, dass die
Behandlungsempfehlungen und Diagnosen zum Wohle des Patienten sind und nicht zum Wohle des eigenen
Portemonnaies . Das muss sichergestellt sein . Dieses besondere Verhältnis müssen wir als Gesetzgeber auch in
besonderer Weise schützen .
({3})
Ich glaube, kein Mensch in der Bevölkerung kann
nachvollziehen, dass wir im Strafrecht einen weitreichenden Antikorruptionsparagrafen haben, aber ausgerechnet
dieses besondere Verhältnis außen vor lassen . Auch insoweit ist es ein Akt des gesunden Rechtsempfindens und
der Akzeptanz von Rechtsgebung, wenn wir diese Lücke
jetzt tatsächlich schließen .
Wir werden wahrscheinlich im weiteren Verfahren
schauen müssen, ob wir da nachschärfen und die zulässige Zusammenarbeit vielleicht noch deutlicher formulieren müssen, damit hinreichend klar ist, was in Zukunft
strafbar ist, was mit den Mitteln des Strafrechts geahndet wird . Da müssen wir vielleicht noch einmal genauer
hinschauen . In den Gutachten und Stellungnahmen hat
es bereits sehr hilfreiche Hinweise gegeben . Dem kann
man nachgehen. Ich finde, dass zum Beispiel der Deutsche Anwaltverein einen nicht unlogischen Vorschlag gemacht hat . Er hat vorgeschlagen, dass, wenn es Zweifel
bezüglich der Zulässigkeit bei der Zusammenarbeit gibt,
im Vorfeld von den Sozialrechtsträgern eine Genehmigung eingeholt werden sollte, womit Sicherheit hergestellt werden kann . Damit könnte an der Stelle auch ein
Ausschluss von Strafbarkeit festgestellt werden . Diesen
Vorschlag sollte man unter Umständen berücksichtigen .
({4})
Wir haben als Grüne aber auch immer deutlich gemacht: Es kann nicht nur um das Strafrecht gehen . Wir
müssen im Vorfeld andere wichtige Schritte tun, um
Transparenz herzustellen und insgesamt ein Verhalten
herbeizuführen, das diejenigen Ärzte und Leistungserbringer im Gesundheitswesen schützt, die sich korrekt
verhalten . Ein wichtiger Punkt wäre beispielsweise, in
Bezug auf die Zuwendungen von Pharmaindustrieunternehmen und anderen Unternehmen an die Leistungserbringer mehr Transparenz herzustellen . Wir möchten uns
gerne der Gesetzgebung in den USA anschließen und
nach dem Vorbild des Sunshine Act deutlich machen:
Jede Zuwendung über 100 Euro muss gemeldet werden
und ist damit nachvollziehbar und einsehbar . Damit habe
ich Klarheit: Welche Zuwendungen sind geflossen? Jeder weiß also um irgendwelche ökonomischen Verflechtungen und kann sich als Patient auch ein eigenes Bild
machen . Das, glaube ich, ist ein ganz wichtiges Element,
das wir zusätzlich und ergänzend angehen sollten .
({5})
Weiterhin brauchen wir einen wirksamen Whistleblower-Schutz . Auch diese Debatte haben wir hier im Parlament mehrfach geführt . Da müssten wir weiterkommen .
Ein weiterer Punkt sind die Anwendungsbeobachtungen .
Es geht nicht darum, diese unter Strafe zu stellen, sondern darum, einen rationalen Umgang mit den Anwendungsbeobachtungen zu finden. Sie sollen anders als jetzt
ein Instrument sein, mit dem man die Folgewirkungen
von Medizinprodukten oder Medikamenten tatsächlich
nachvollziehen kann, und nicht Scheinverfahren, mit
denen man unter der Hand Zuwendungen möglich machen will . Dazu gehört, einen strukturierten Umgang mit
den Anwendungsbeobachtungen im SGB V festzulegen .
Auch das wäre eine sehr sinnvolle Ergänzung dieser Gesetzgebung im Bereich der Korruptionsbekämpfung .
Danke schön .
({6})
Als nächste Rednerin hat Dr . Silke Launert von der
CDU/CSU-Fraktion das Wort .
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Patientinnen! Liebe Patienten! Stellen Sie sich einmal vor,
Sie gehen mit einer schweren Erkältung in die Apotheke, um sich beraten zu lassen. Dort empfiehlt Ihnen der
Apotheker ein bestimmtes Medikament, und zwar nur
deswegen, weil er von dem Pharmaunternehmen, das das
Medikament vertreibt, Prämienzahlungen erhält . Stellen
Sie sich vor, Sie benötigen orthopädische Schuheinlagen
und Ihr Arzt schickt Sie zu einem bestimmten Sanitätshaus, weil ihm eine Reise versprochen wurde, wenn er
nur ausreichend viele Patienten vorbeischickt . Und nun
stellen Sie sich vor, dass dieses Verhalten in Deutschland strafrechtlich nicht geahndet wird . Das glauben Sie
nicht? Da irren Sie sich .
2012 hat der Bundesgerichtshof - es wurde heute schon
mehrfach angesprochen - festgestellt, dass das deutsche
Strafrecht nicht ausreichend engmaschig gestrickt ist, um
solche Taten zu verfolgen . Tatsächlich ist in Korruptionsfällen für die Staatsanwälte schwer zu greifen, wer nicht
als Beauftragter handelt, sondern als Freiberufler und
damit allein seinem Gewissen unterworfen ist . Im konkreten Fall, der schon geschildert wurde, ging es darum,
dass eine Pharmareferentin in 16 Fällen Kassenärzten
Schecks in einem Gesamtwert von 18 000 Euro übergeben hatte . Der Übergabe der Schecks hatte ein als „Verordnungsmanagement“ bezeichnetes Prämiensystem des
Pharmaunternehmens zugrunde gelegen .
Dieser Fall ist beispielhaft für die Gefahren, die in unserem Gesundheitswesen drohen . Dass es diese Gefahren gibt, ist kein Wunder . Schließlich handelt es sich hier
um ein Geschäft, das 300 Milliarden Euro im Jahr umfasst . Natürlich regt das die kriminelle Energie an, erst
recht, wenn strafrechtliche Regelungslücken bestehen .
In diesem Fall geht das zulasten der Patienten und zulasten des Gemeinwesens . Deshalb wollen wir mit dem
vorliegenden Gesetzentwurf diesen Missstand beseitigen
und entsprechend dem Koalitionsvertrag die neuen Straftatbestände der Bestechlichkeit und Bestechung im Gesundheitswesen im Strafrecht verankern .
Bereits in der letzten Legislaturperiode gab es einen
Gesetzentwurf, der allerdings kurz vor dem Ziel aufgehalten worden ist . Nun, zwei Jahre später, haben wir meiner Ansicht nach einen konsequenteren Gesetzentwurf,
der die Straftatbestände nicht im Sozialgesetzbuch vorsieht, sondern im Strafgesetzbuch . Da gehören sie auch
hin, insbesondere in Anbetracht der erheblichen sozialen
und wirtschaftlichen Bedeutung des Gesundheitswesens .
Korruption im Gesundheitswesen - es wurde schon
mehrfach angesprochen - bedroht das Vertrauen in die
Integrität der heilberuflichen Entscheidungen, und das in
einem Bereich, der so wichtig ist und in dem es um unsere Gesundheit geht, ja sogar um Leben und Tod . Da muss
sichergestellt werden, dass die Entscheidungen frei sind
von der Einflussnahme Dritter.
Auch die wirtschaftlichen Auswirkungen sind erheblich . Durch unlauter agierende Teilnehmer wird der Wettbewerb gestört . Wenn nicht die Qualität der Leistung entscheidend ist, sondern die Qualität der Prämienzahlung,
dann brauchen wir uns natürlich nicht zu wundern, dass
alles aus den Fugen gerät und sich Gewinn und Verlust
nicht an marktwirtschaftlichen Kriterien orientieren .
Insofern müssen wir dem entschieden entgegentreten .
Das tun wir mit dem vorliegenden Gesetzentwurf . Der
Kreis der potenziellen Täter ist weit gefasst . Er umfasst
Ärzte, Zahnärzte, Apotheker, Physio- und Psychotherapeuten, Logopäden und Krankenpfleger. Auf der anderen
Seite: So groß der Täterkreis auch ist, so wenig wollen
wir natürlich einen ganzen Berufsstand unter Generalverdacht stellen . Strafbar soll sich nur machen, wer eine
Unrechtsvereinbarung anstrebt . Das heißt, erforderlich
ist eine inhaltliche Verknüpfung zwischen Vorteil und
Gegenleistung - wie bei allen anderen Korruptionstatbeständen auch. Die berufliche Zusammenarbeit der
Beteiligten im Gesundheitswesen soll durch das Gesetz
keineswegs unterbunden werden; sie ist nach wie vor gewünscht .
({0})
Wie bei den anderen Korruptionstatbeständen auch, gibt
es Geringwertigkeits- und Bagatellgrenzen . Kooperationsvereinbarungen sind natürlich nach wie vor möglich .
Auch die sogenannten Anwendungsbeobachtungen, die
schon angesprochen und erklärt wurden, sind weiterhin
möglich .
Ich denke, mit dem vorliegenden Entwurf ist uns der
Spagat zwischen der notwendigen strafrechtlichen Sanktionierung auf der einen Seite und der in der Praxis erforderlichen Zulässigkeit gesundheits- und forschungspolitisch gewünschter Kooperationen auf der anderen Seite
gelungen .
Liebe Patientinnen und Patienten, Sie sehen, wir tun
etwas für Ihr Vertrauen in das Gesundheitswesen . Sie
können auch in Zukunft bei Risiken und Nebenwirkungen guten Gewissens Ihren Arzt oder Apotheker fragen .
Vielen Dank .
({1})
Vielen Dank . - Als nächster Redner hat Dr . Edgar
Franke von der SPD-Fraktion das Wort .
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich freue mich sehr, dass wir heute das Gesetz
zur Bekämpfung von Korruption im Gesundheitswesen
beraten können . Ich freue mich auch deshalb sehr, weil
sich gerade die Gesundheitspolitiker der SPD seit sechs
Jahren für ein handwerklich gutes Gesetz starkgemacht
haben . Herr Staatssekretär, dieses Gesetz ist handwerklich wirklich gut gemacht .
({0})
2010, als wir den ersten Antrag der SPD mit dem damals programmatischen Titel „Korruption im Gesundheitswesen wirksam bekämpfen“ beraten haben - Frau
Maria Klein-Schmeink kann sich noch erinnern -,
({1})
waren die anderen Fraktionen, auch Ihre, durchaus kritisch . Aber wir haben gesagt: Es kann nicht sein, dass
ein Arzt aufgrund finanzieller Zuwendungen bestimmte
Medikamente verschreibt, ohne dass dies Folgen hat . Ich
glaube, das war richtig . Gerade bei Krebsbehandlungen,
dann, wenn es um Leben und Tod geht, dürfen keine
Medikamente aufgrund von Schmiergeldzahlungen verschrieben werden - Medikamente, die vielleicht sogar
schlechter wirken und teurer sind .
Wir haben damals gesagt: Der Patient muss immer
sicher sein, dass nur medizinische und nicht monetäre
Gründe für eine Therapie maßgebend sind . Ich glaube,
das ist wichtig und richtig, meine sehr verehrten Damen
und Herren .
({2})
Unser Antrag wurde damals mit der Begründung abgelehnt - beispielsweise auch von den Grünen -,
({3})
dass keine Regelungslücke bestehe . Der Bundesgerichtshof hat aber damals der SPD recht gegeben und hat den
Gesetzgeber damals sogar unter Bezugnahme auf unseren Antrag, den Antrag der SPD, aufgefordert, tätig zu
werden . Die organisierte Ärzteschaft - ich sehe gerade
Herrn Henke -, zumindest die Bundesärztekammer, auch
Herr Montgomery, hat sich der Argumentation der SPD
angeschlossen . Daran sieht man schon: Wir haben recht
gehabt .
({4})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit dem Gesetzentwurf schaffen wir ein relatives Antragsdelikt . Das heißt,
ohne Strafantrag oder ohne besonderes öffentliches Interesse kann ein noch so übereifriger Staatsanwalt - auch
ein Staatsanwalt aus Hannover - nicht allein loslegen .
Die Leistungsträger haben da ein bisschen Angst; aber
ich glaube, ihre Angst ist unbegründet .
Dr . Luczak hat es schon gesagt: Zusammenarbeit auf
sozialrechtlicher Grundlage oder auch Bonuszahlungen
sind nicht von den strafrechtlichen Vorschriften des § 299
StGB erfasst . Auch weil die Krankenkassen dabei sind,
geschieht das ja nicht im Verborgenen . Im Übrigen - das
haben Sie gesagt - müsste ja eine Unrechtsvereinbarung
vorliegen, das heißt eine Verknüpfung von Vorteil und
Gegenleistung . Deswegen brauchen die Leistungsträger,
von denen mich viele angerufen haben, keine Angst zu
haben . Weil ohne Unrechtsvereinbarung nichts passiert,
ist diese Angst vollkommen unbegründet . Auch deswegen ist dies ein guter Gesetzentwurf, Herr Staatssekretär .
Im Zuge der Diskussionen - auch das wurde angesprochen - hat sich der eine oder andere Leistungsträger
an uns gewandt . Hörgeräteakustiker, Orthopädieschuhmachermeister oder Augenoptiker haben gesagt, dass es
manchmal üblich sein soll, dass es manchmal günstig
ist, ein bisschen nachzuhelfen, damit Patienten zu ihnen
kommen, dass man die Ärzte diesbezüglich ein bisschen
betreuen muss . Auch das war zwar berufsrechtlich zu
sanktionieren, hatte aber keine Folgen . Auch deshalb
ist es wichtig, dass wir eine klare strafrechtliche Norm
haben .
Zum Schluss will ich noch etwas zu der Kritik sagen,
es gebe ein Sonderstrafrecht für Ärzte, für bestimmte
Berufsverbände . Das wurde immer wieder gesagt . Aber
auch korruptives Verhalten von Richtern ist mit Strafe
bedroht, und keiner kommt wegen dieser Vorschrift auf
die Idee, Juristen unter Generalverdacht zu stellen . Deswegen ist diese Argumentation absoluter Blödsinn; das
muss ich hier wirklich einmal sagen, liebe Kolleginnen
und Kollegen .
({5})
Wir schließen vielmehr - damit komme ich zum
Schluss - eine Strafbarkeitslücke . Keine Berufsgruppe wird unter Generalverdacht gestellt, nicht Ärzte und
auch nicht sonstige Leistungserbringer . Das ist ein guter Gesetzentwurf, auch wenn heute Freitag, der 13 ., ist;
wir beraten ja heute nur . Es gewährleistet den Patientenschutz, stärkt das Vertrauen - auch das wurde gesagt - in
die Unabhängigkeit heilberuflicher Entscheidungen und
schützt vor allen Dingen den fairen Wettbewerb . Das
ist - ich sage es noch einmal - ein guter Gesetzentwurf .
Das haben wir 2010 schon gesagt .
({6})
Wir hätten ihn vielleicht schon eher haben können . Wir
hätten ihn vielleicht schon in der letzten Legislaturperiode haben können . Aber wenn man recht hat, hat man
recht, und die SPD hatte dieses Mal wirklich recht .
Ich danke Ihnen .
({7})
Vielen Dank . - Als nächster Redner hat Dietrich
Monstadt von der CDU/CSU-Fraktion das Wort .
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Wie
die meisten von Ihnen wissen, befassen wir uns mit dem
Thema „Korruption im Gesundheitswesen“ sehr differenziert und ausführlich bereits seit der vergangenen Legislaturperiode, und zwar - lassen Sie mich das gleich
zu Beginn meiner Rede ganz ausdrücklich und deutlich
sagen - völlig zu Recht .
Damals bereits wurde ein strafrechtlicher Ansatz ins
Gespräch gebracht . Es ist kein Geheimnis, dass ich dieser
Lösung seinerzeit durchaus skeptisch gegenüberstand .
Wir waren der Meinung, dass berufsrechtliche und sozialrechtliche Regelungen ausreichen, um das Problem
in den Griff zu bekommen, und das haben wir dann auch
umgesetzt .
({0})
Frau Klein-Schmeink, zur Wahrheit gehört, dass Sie das
im weiteren parlamentarischen Verfahren aufgehalten
haben . So weit, so gut .
({1})
Meine Damen und Herren, wir haben heute nicht nur
einen anderen Koalitionsvertrag, sondern wir müssen
auch feststellen, dass es in Einzelfällen Fehlverhalten
gibt, das sich durch das reine Berufs- und Wettbewerbsrecht sowie das Heilmittelwerbegesetz nicht abstellen
lässt . Damals wie heute sage ich als Gesundheitspolitiker: Wir sollten dringend der Versuchung widerstehen der Kollege Dr . Franke hat darauf hingewiesen -, so zu
tun, als gebe es im Gesundheitswesen Korruption und
Fehlverhalten größeren Umfangs oder als könnte dies
gar ungeahndet stattfinden. Dies wäre nicht nur unredlich, sondern auch eine echte Gefahr, zum Beispiel für
das besondere Vertrauensverhältnis zwischen den Ärzten und Patienten in unserem Land . Ja, es gibt schwarze
Schafe, wie in anderen Bereichen auch . Der vorliegende
Gesetzentwurf wird einen Beitrag dazu leisten, wirksam
gegenzusteuern; dies haben meine Vorredner hinreichend
ausgeführt .
Gleichzeitig sollten wir aber darauf achten, nicht alle
Angehörigen unserer Heilberufe unter Generalverdacht
zu stellen . Die allermeisten Ärzte, Psychotherapeuten,
Krankenpfleger usw. machen Tag für Tag einen guten Job
im Sinne der Patientinnen und Patienten .
({2})
All diese Akteure machen sich jeden Tag Gedanken,
wie man die medizinische Versorgung weiter optimieren
kann, um den Patientinnen und Patienten noch besser zu
helfen .
Als Gesundheitspolitiker aus Mecklenburg-Vorpommern, einem der großen Flächenländer, kann ich Ihnen
berichten, dass gerade zu solchen Verbesserungen sehr
oft auch notwendige und gewollte Kooperationen gehören . Diese werden zukünftig noch größere Bedeutung
erlangen . Beispielhaft möchte ich Kooperationen im
Rahmen des Patientenanspruchs auf ein Versorgungsmanagement nach § 11 Absatz 4 SGB V oder im Rahmen besonderer Versorgung nach § 140 a SGB V nennen . Hier soll und muss ein breiter und bestmöglicher
Behandlungsansatz umgesetzt werden . Deshalb ist es
für mich besonders wichtig, dass gewollte und gebotene
soziale und berufsrechtliche Kooperationen ohne weiter
hinzutretende Umstände nicht strafrechtlich sanktioniert
werden . Wir müssen sicherstellen, dass dies auch künftig nicht der Fall ist . Alles andere würde die Patientinnen
und Patienten in hohem Maße benachteiligen, wenn nicht
sogar ihnen schaden .
Ich bin mir sicher, dass wir uns in diesem Punkt einig
sind . Aber meines Erachtens ist der vorliegende Gesetzentwurf in diesem Punkt für viele Betroffene nicht eindeutig genug . Herr Staatssekretär Lange, von daher bin
ich nicht ganz Ihrer Auffassung . Vor allem Leistungserbringer, die zumeist keinen juristischen Hintergrund
haben, können durch einfaches Lesen nicht zweifelsfrei
verstehen, was sie dürfen und was nicht . Dies würde in
nicht wenigen Fällen dazu führen, dass legale und gewollte Kooperationen aufgrund der Unsicherheiten aufseiten der Leistungserbringer gar nicht erst aufgenommen werden . Das kann nicht in unserem Interesse sein .
Wir müssen die Kompetenzen und aktuellen Belastungen unserer Staatsanwaltschaften im Blick behalten .
Wir sprechen hier über Vertragskonstellationen, die man
durchaus als komplex und schwierig bezeichnen kann .
Deshalb ist es besonders wichtig, dass die rechtlichen
Vorgaben klar sind . Keinesfalls darf es durch Auslegungsprobleme einer mit der Problematik nicht vertrauten Staatsanwaltschaft zu einem unbegründeten Anfangsverdacht kommen . Kommt es in solchen Fällen zu
Ermittlungsmaßnahmen, zum Beispiel zu Durchsuchungen, dann hat das gravierende Nachteile für die Betroffenen . In dem sehr sensiblen Gesundheitsbereich kann und
darf dies nur Ultima Ratio sein . Das bloße Vorhandensein eines Kooperationsvertrages darf nicht ausreichen,
um den Anfangsverdacht einer Vorteilsgewährung bzw .
Vorteilsnahme zu begründen .
({3})
Wir müssen im anstehenden Gesetzgebungsverfahren
nicht nur über die klarere Abgrenzung von Korruption
und Kooperation nachdenken, sondern wir müssen den
Leistungserbringern auch aufzeigen, wie sie selbst dies
abgrenzen können . Eine Pönalisierung notwendiger Kooperationsformen wie Praxisnetzen und ambulanter spezialfachärztlicher Versorgung oder integrierter Versorgungsformen darf keinesfalls behindert oder verhindert
werden .
Ich bin mir sicher, dass wir diese und andere Aspekte
im weiteren Verfahren in aller Sachlichkeit besprechen
und dann zu einer ausgewogenen sowie sachorientierten
Lösung kommen werden . In diesem Sinne freue ich mich
auf eine konstruktive Beratung .
Herzlichen Dank .
({4})
Vielen Dank . - Als letzter Redner in dieser Debatte
hat Dirk Wiese von der SPD-Fraktion das Wort .
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Es ist von immenser Wichtigkeit, dass Patienten vollstes Vertrauen in die Unabhängigkeit der ärztlichen Entscheidungen haben . Patienten müssen sich auf
ihren Arzt verlassen können . Manchmal ist es bei Ärzten
wie bei uns Juristen: zwei Ärzte, drei Meinungen . Aber
wichtig ist, dass diese interessenfrei und nicht beeinflusst
sind . Es ist wichtig für das Vertrauensverhältnis, dass die
Patientinnen und Patienten wissen, dass sie sich auf ihren
Arzt verlassen können .
({0})
Dass das nicht immer der Fall ist, hat uns der bekannte
BGH-Fall aus dem Jahr 2012 gezeigt; der eine oder andere das hier schon angeführt . Die Schlussfolgerungen
daraus sind bekannt . Der BGH schloss eine Strafbarkeit
aus, da es sich bei dem niedergelassenen Arzt nicht um
einen Amtsträger im Sinne des StGB handelte, dies aber
zwingende Voraussetzung für eine Strafbarkeit nach geltendem Recht gewesen ist . Dieses höchstrichterliche Urteil, das eine bestehende Regelungslücke aufgezeigt hat,
gehen wir jetzt mit dem vorliegenden Gesetzentwurf an .
In der letzten Legislaturperiode hatte das leider nicht
funktioniert . Wir bessern jetzt an dieser Stelle nach . Bedauerlicherweise - der Staatssekretär hat es ausgeführt war in der letzten Legislaturperiode nur geplant, eine
Korruptionsbekämpfung im Sozialrecht, im SGB V, zu
regeln, was dann aber nur für Kassenärzte gegolten hätte .
Das kann nicht sein . Darum ist es jetzt richtig, dass die
Regelung für sämtliche Ärzte gilt . Dies ist auch erst auf
Drängen der Sozialdemokratischen Partei passiert . Mein
ganz besonderer Dank gilt hier meinem Kollegen Edgar
Franke .
Wir gehen jetzt die Bekämpfung der Korruption im
Gesundheitswesen an . Wir hatten diesen Punkt in den
Koalitionsvertrag aufgenommen . Der vorliegende Gesetzentwurf wird die entsprechenden Regelungslücken
schließen und - das ist mir besonders wichtig -: Dadurch
wird die große Zahl der redlich handelnden Ärzte in unserem Land ebenfalls geschützt; denn es ist nicht so, dass
die Mehrheit der Ärzte schwarze Schafe sind . Das ist
nicht der Fall .
({1})
Es gibt allerdings eine Vielzahl von anderen Fällen
von unlauteren Methoden im Gesundheitswesen . Es ist
bekannt, dass im Pflegebereich bestimmte Produkte oft
nur gekauft werden, weil die Hersteller Provision zahlen,
oder dass manche Krankenhäuser für die Überweisung
von Patienten sogenannte Kopfpauschalen an Ärzte auszahlen . Nach einer Studie der Universität Halle-Wittenberg werden diese Pauschalen sogar von nahezu fast jeder
vierten Klinik gezahlt . Dieselbe Studie förderte übrigens
auch zutage, dass zwei Drittel der nichtärztlichen Leistungserbringer, zum Beispiel Optiker oder Logopäden,
niedergelassenen Ärzten gelegentlich oder häufig wirtschaftliche Vorteile für Zuweisungen gewähren . Dies ist
zu bedenken . Ich denke, in diesem Hohen Haus besteht
mittlerweile Einigkeit, dass diesen unlauteren Verfahren
unbedingt Einhalt geboten werden muss .
Was mich nach zwei Jahren Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag heute etwas skeptisch macht - vielleicht
müssen wir uns alles noch einmal genauer anschauen -,
ist, dass Frau Keul in einer rechtspolitischen Debatte zum
ersten Mal nichts kritisiert hat . Aber vielleicht haben wir
etwas übersehen, oder die Grünen freuen sich einmal,
dass wir etwas Gutes vorgelegt haben .
({2})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der gesamtwirtschaftliche Schaden durch Korruption im Gesundheitswesen ist immens . Die Schäden betragen über 10 Milliarden Euro . Ich glaube, mit diesem Gesetzentwurf von
Bundesjustizminister Heiko Maas gehen wir einen richtigen Weg . Ich freue mich auf die Ausschussberatungen
und auf die Anhörung .
Vielen Dank .
({3})
Vielen Dank . - Damit schließe ich die Debatte .
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 18/6446 und 18/5452 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen .
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall . Dann
sind die Überweisungen so beschlossen . In den Ausschüssen können die Erwartungen ja dann allerseits voll
erfüllt werden .
Ich rufe Tagesordnungspunkt 32 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts des Finanzausschusses ({0})
zu dem Antrag der Abgeordneten Susanna
Karawanskij, Kerstin Kassner, Klaus Ernst, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Einstieg in die Weiterentwicklung der Gewerbesteuer zu einer Gemeindewirtschaftsteuer Freie Berufe in die Gewerbesteuerpflicht einbeziehen
Drucksachen 18/3838, 18/6396
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen . Gibt es dazu
Widerspruch? - Das ist nicht der Fall . Dann ist das auch
so beschlossen .
Ich eröffne die Aussprache . - Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, sich zügig zu setzen . - Als erster Redner in der Debatte hat Graf von und zu Lerchenfeld das
Wort, und er wird das jetzt auch gleich ergreifen .
({1})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Hohes Haus! Zum ich
weiß nicht wievielten Mal beschäftigen wir uns damit,
dass die Gewerbesteuer in eine Gemeindewirtschaftsteuer umgewidmet werden soll .
({0})
- Wir hier zum zweiten Mal . - Ich habe mit Freuden
noch einmal das Protokoll vom 5 . Februar gelesen, wo
wir schon alles gesagt haben . In Anbetracht der vorgeschrittenen Zeit könnte man eigentlich darauf verweisen .
Ich denke aber, ein paar Erklärungen sollte man doch
machen .
Es geht hier darum, dass in Ihrem Antrag gefordert
wird, eine Gemeindewirtschaftsteuer einzuführen, das
heißt, alle, die Einkünfte erzielen, mit Gewerbesteuer zu
belasten . Nun ist das ein sehr verführerischer Vorschlag,
aber ich gebe zu bedenken, dass hier mehrere Aspekte zu
beachten sind .
Einer davon ist - das sollten wir uns überlegen -, dass
natürlich die Gewerbesteuer bei der Einkommensteuer
abzugsfähig ist und infolgedessen eine Verteilung vom
Bund hin zu den Kommunen entstehen würde, obwohl
der Bund in den letzten Jahren und auch im laufenden
Jahr enorme Zahlungen an die Kommunen gegeben hat .
({1})
Wir haben 4,5 Milliarden Euro vorgegeben . Bis zu
20 Milliarden Euro werden insgesamt von 2012 bis 2020
an die Kommunen gegeben werden . Wenn man jetzt die
Flüchtlingssituation anschaut, sieht man: Auch hier engagiert sich der Bund deutlich für Kommunen .
Natürlich haben Kommunen vielfältige Aufgaben .
Wenn ich an die freiwillige Feuerwehr von Frauenfeld
denke, die ich im Namen meines Kollegen hier sehr herzlich grüße, dann weiß ich, dass bayerische Kommunen so
gut ausgestattet sind, dass sie auch die Feuerwehren gut
ausstatten .
({2})
Ich hoffe, dass sie alle neue Fahrzeuge haben und immer
zum Einsatz bereit sind .
({3})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, der Antrag
wird von uns abgelehnt werden, auch deshalb, weil unser
Koalitionsvertrag keine Änderung bei der Gewerbesteuer
vorsieht .
Die unionsgeführte Bundesregierung hat bereits in der
letzten Legislaturperiode versucht, die Gewerbesteuer zu
reformieren
({4})
und unter anderem die Hinzurechnungen abzuschaffen .
Würden wir eine Gemeindewirtschaftsteuer einführen,
dann müssten wir uns natürlich Gedanken darüber machen, ob die Hinzurechnungen weiter in dem Umfang
erhalten bleiben können . Denn dadurch würde das Ganze
eine Substanzsteuer - aus einer reinen Ertragsteuer würde eine Substanzsteuer -, und das kann so nicht sein .
Die Erweiterung der Gewerbesteuer auf alle Berufe
birgt auch die ganz große Gefahr, dass in wirtschaftlich
besonders schweren Zeiten die Gewerbesteuerzahlungen
krisenverschärfend wirken würden; denn die gewerbesteuerlichen Hinzurechnungselemente sind ertragsunabhängig und führen dazu, dass auch in Zeiten von Verlust
Gewerbesteuer zu zahlen ist .
({5})
Im Übrigen kann man nicht immer nur von guten Konjunkturdaten ausgehen, sondern es gibt auch schlechte
Konjunkturdaten .
Wir bemühen uns, mit einer Politik, die sich besonders
um die Wirtschaft, auch um die der Kommunen, kümmert, wirtschaftsfreundlich zu sein, damit in den Kommunen auch entsprechende Erträge generiert werden,
und zwar bei allen Arten von Unternehmen, sodass den
Kommunen genügend Geld zufließt.
Die Situation der Kommunen hat sich in den letzten
Jahren deutlich verbessert . Die Gewerbesteuereinnahmen sprudeln . Es sind mittlerweile 33,3 Milliarden Euro,
wenn sie auch durchaus unterschiedlich verteilt sind .
({6})
Ich nehme an, dass die Verteilung ähnlich wie bei den anderen Ertragsteuern ist: dass Bayern, wie üblich, wieder
an der Spitze ist .
({7})
Norddeutschland hat natürlich ein Problem damit . Aber
das liegt unter anderem daran, dass man in diesen Ländern in den letzten Jahren immer wieder deutlich über
seine Verhältnisse gelebt und Schulden gemacht hat, was
der kommenden Generation gegenüber unverantwortlich
ist . Deswegen sollten wir nicht Steuern erhöhen, sondern
vernünftig sparen und die Haushalte der öffentlichen
Hand so sanieren, wie wir es in Bayern gemacht haben .
Ich bitte Sie alle, sich ein Beispiel an uns zu nehmen .
({8})
Ich kann Ihnen nur sagen: Wir lehnen den Antrag ab .
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit . - Ich habe
meine Redezeit nicht ganz in Anspruch genommen, verehrte Frau Präsidentin .
({9})
Die bekomme ich dann das nächste Mal bitte gutgeschrieben,
({10})
wenn es etwas länger gedauert hat .
Vielen herzlichen Dank .
({11})
Gern geschehen . Wenn man die Punkte und Anliegen
in der Sache vorgetragen hat, ist es gut, wenn man auch
mit einer etwas kürzeren Redezeit auskommt .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir kommen zur
nächsten Rednerin . Das ist Susanna Karawanskij von der
Fraktion Die Linke .
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Gäste! Mein Vorredner hat es gerade angesprochen: Die Frage der Unterbringung und Versorgung von
Flüchtlingen ist zurzeit tatsächlich das größte Thema,
über das in unseren Städten und Gemeinden diskutiert
wird . Es treibt vor allen Dingen viele Bürgermeister
und Landräte und natürlich auch die Kommunalpolitikerinnen und -politiker um . Da ist es nur richtig, dass
der Bund hier verstärkt Verantwortung übernimmt und
die Kommunen auch finanziell kräftig unterstützt werden . Es ist aber genauso wichtig, dass die Länder die
entsprechenden Gelder an die Kommunen weiterleiten .
Wir brauchen Soforthilfen für die Kommunen . Da ist
schon einiges getan worden; das erkennen wir an . Aber
wir brauchen vor allen Dingen weiterhin Investitionsprogramme . Meines Erachtens ist es schon in Ordnung,
wenn man bei langfristigen Investitionen die Belastung
auf verschiedene Generationen überträgt und nicht alles
gleich aus der Portokasse zahlt .
Wir Linke haben schon in der Vergangenheit immer
wieder kritisiert, dass die Gelder für die kommunale Familie, für die kommunale Ebene nicht reichen . Wir haben
auch Vorschläge eingebracht . Es ist natürlich wahr, dass
die Schere zwischen armen und reichen Kommunen auseinandergeht und dass es da Unterschiede gibt . Natürlich stehen einige Kommunen ganz gut da . Aber es gibt
natürlich auch einen Haufen verschuldeter Kommunen,
die dann in einer Art Teufelskreis sind . Das Resultat sind
letztendlich Substanzverzehr und Verfall .
Man muss sich einmal anschauen, auf welche Größenordnung sich der kommunale Investitionsstau beziffert .
Mehrere Studien gehen davon aus, dass der Investitionsstau ein Volumen von 130 Milliarden Euro hat und die
gesamte kommunale Verschuldung 135 Milliarden Euro
beträgt . Das sind gigantische Zahlen . Jede zweite Kommune bzw . jede zweite größere Stadt - das muss man
sich einmal vorstellen - befindet sich in Haushaltssicherungskonzepten . So geht die Schere zwischen armen und
reichen Kommunen tatsächlich auseinander .
({0})
Der Punkt ist doch, dass ein Großteil unserer Kommunen
chronisch unterfinanziert ist.
({1})
Das ist einfach ein strukturelles Problem .
Die Gewerbesteuer ist nun einmal sehr schwankungsanfällig . Sie unterliegt den konjunkturellen Schwankungen sehr stark . Die Städte und Gemeinden können damit
also nicht planen . Aus diesem Grund haben wir uns als
Ziel gesetzt, die Gewerbesteuer stabiler und vor allen
Dingen nachhaltiger zu gestalten,
({2})
was letztendlich auch den Kommunen zugutekommt; sie
können dadurch höhere Einnahmen generieren .
Unser Vorschlag lautet, die Gewerbesteuer zu einer
Gemeindewirtschaftsteuer mit einer breiteren Bemessungsgrundlage weiterzuentwickeln, sodass die Last auf
mehr Schultern verteilt wird, ohne dass es unbedingt zu
größeren Mehrbelastungen kommt .
Angesichts der aktuellen Situation wären stabilere und
höhere kommunale Einnahmen wünschenswert . Sie sind
unverzichtbar, und ich hoffe tatsächlich, dass Sie Ihr Votum hier noch einmal überdenken und den vorliegenden
Antrag als einen Einstieg in die Gemeindewirtschaftsteuer sehen, wodurch die finanzielle Situation der Kommunen letztendlich ein Stück weit entlastet werden würde .
Dass Sie von der CDU/CSU mir jetzt zustimmen, erwarte ich gar nicht .
({3})
Ich möchte aber noch einmal für Verständnis bei Ihrem
Koalitionspartner werben und auch noch einmal in Erinnerung bringen, wie lange schon diese Forderung im
parlamentarischen Raum gestellt wird .
({4})
- Lassen Sie mich doch ausreden . Sie haben doch genug
Zeit, darauf zu reagieren .
({5})
Ich möchte daran erinnern: 2003 haben der damalige Finanzminister Hans Eichel und Wirtschaftsminister
Wolfgang Clement bei der Gemeindefinanzreform eine
Ausdehnung des Kreises der Gewerbesteuerzahler gefordert . Sie haben es sogar angekündigt .
2010 haben Sie selber einen Antrag gestellt . Ich zitiere:
Das Kommunalmodell sieht eine zusätzliche Verbreitung der Bemessungsgrundlage durch eine
nochmalige Erweiterung der Hinzurechnungen und
durch eine Einbeziehung von Selbständigen und
Freiberuflern in die Gewerbesteuerpflicht vor. Für
die Angehörigen der freien Berufe führt dies zu
keiner unzumutbaren Mehrbelastung, da sie ihre
Gewerbesteuerzahlungen grundsätzlich mit der Einkommensteuerschuld verrechnen können .
Darum geht es letztendlich .
Wir fordern zudem - Sie können weiter schimpfen,
dass dies unzumutbar wäre - auch noch Freigrenzen von
30 000 Euro, wodurch wir die Freiberufler trotzdem zum
Teil schützen und auch keine wirtschaftliche Tätigkeit
unterbinden wollen . Warum sollen sie auch nicht einbezogen werden? Sie nutzen das kommunale Eigentum
bzw . die kommunale Infrastruktur ja genauso .
Noch eine kleine Erinnerung: Im SPD-Wahlprogramm
von 2013 stand, dass es mit der Weiterentwicklung der
Gewerbesteuer einen Investitions- und Entschuldungspakt für die Kommunen in Deutschland geben soll .
({6})
Das grundsätzliche finanzielle Problem der Unterfinanzierung der Kommunen werden wir mit diesem Antrag sicherlich nicht abschließend beseitigen können;
das ist uns auch bewusst . Wir bieten damit aber einen
niedrigschwelligen Einstieg in eine stärkere kommunale
Finanzautonomie, und das sollte allen Fraktionen hier im
Hohen Hause ein dringliches Anliegen sein .
Ich bitte um Ihre Zustimmung; das wäre doch einmal
ein Anfang .
({7})
Vielen Dank . - Als nächster Redner hat Bernhard
Daldrup von der SPD-Fraktion das Wort .
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Frau Karawanskij, Sie wissen, ich habe ausgesprochen viel Verständnis für Sie . Allerdings habe ich mehr
Verständnis als eine Mehrheit . Das ist eine der Schwierigkeiten in Bezug auf Ihren Antrag .
({0})
Ich beginne einmal so und frage: Warum sollte man
eigentlich einen Antrag ablehnen, dessen Zielsetzung
man dem Grunde nach befürwortet? Sie haben ja gerade
auf unsere Position hingewiesen . Ich könnte es mir jetzt
leichtmachen und sagen: „Unsere Originalität zu kopieren, wäre allein schon ein hinreichender Grund“; denn
wir haben es in der Vergangenheit ja selbst gefordert . Das
ist schon wahr .
Sie haben 2014 einen Antrag auf Ausweitung der Bemessungsgrundlagen und zugleich die Abschaffung der
Gewerbesteuerumlage gefordert . Den haben wir seinerzeit gut begründet abgelehnt . Jetzt konzentrieren Sie sich
auf die Einbeziehung freier Berufe .
Alle mitberatenden Ausschüsse empfehlen die Ablehnung dieses Antrages . Das hat auch ein bisschen damit zu
tun, dass das ein Stück weit alter Wein in neuen Schläuchen ist; denn neu ist an diesem Antrag eigentlich nichts .
Aber trotzdem ist es ja im Kern eine vernünftige Fragestellung, ob man Freiberufler in die Gewerbesteuer
einbeziehen soll oder nicht .
({1})
Denn niemandem ist rational zu erklären, warum ein
Zahntechniker Gewerbesteuer zahlen muss, aber ein
Zahnarzt nicht. Die Zielsetzung, dass man Freiberufler
einbezieht, ist keine sozialdemokratische Erfindung.
Diese Zielsetzung verfolgen die kommunalen Spitzenverbände, auch parteiübergreifend . Wir haben das auch
gemacht .
({2})
Es ist eine Grundsatzfrage, der wir uns möglicherweise
schneller widmen würden, wenn es bei den Kommunen
ein aktuelles Einnahmeproblem gäbe .
Die Gewerbesteuer - Herr Lerchenfeld hat bereits
darauf hingewiesen - ist zweifelsfrei die wichtigste originäre Einnahmequelle der Gemeinden . Das Band zur
lokalen Wirtschaft ist von eminenter Bedeutung . Herr
Lerchenfeld sagte, dass sie 2014 33 Milliarden Euro betragen hätte . Wenn man die Stadtstaaten einbezogen hätte - was man in diesem Kontext eigentlich tun sollte -,
wären es sogar 43 Milliarden Euro . Es ist also ganz gewaltig . Und die Perspektiven für die Gewerbesteuer sind
gut . Das heißt, es gibt ein Stück weit Planungssicherheit
für die Gemeinden, was ihre Einnahmesituation angeht .
Es geht aber nicht nur um die Erhöhung der Einnahmen, sondern auch um Verstetigung; denn die Verrechnung der Gewerbesteuer für Freiberufler soll ja bis
zu einem bestimmten Betrag mit der Einkommensteuer
erfolgen . Das ist ein vernünftiges Ziel; denn in vielen
Kommunen sind die Einnahmen sehr unterschiedlich,
abhängig von der jeweils lokalen Situation . Insgesamt
haben wir eine ausgesprochen positive Entwicklung bei
den Gewerbesteuereinnahmen . Es gibt Orte, in denen die
Durchschnittszahlen erheblich überschritten werden . Es
gibt aber auch Orte, in denen sie dramatisch unterschritten werden . Es kommt sehr auf die Situation an . Steuerund Strukturschwäche fallen leider oft genug zusammen .
Deshalb ist die Verbreiterung der Bemessungsgrundlage
und die Erhöhung der Zahl der Steuerpflichtigen durchaus eine Chance, Hebesätze zu stabilisieren, manchmal
sogar zu senken .
Im Übrigen möchte ich noch einen anderen Aspekt
ansprechen: Übersteigt der Hebesatz eine bestimmte
Schwelle, etwa von 400 Punkten, dann ist das eine Mehrbelastung . Ein praktisches Beispiel: Ein Arzt müsste in
einer Großstadt tatsächlich deutlich mehr Geld bezahlen
als beispielsweise in einer ländlichen Gemeinde mit einem niedrigen Hebesatz . Das wäre sogar ein interessanter
Ansatz, um ärztliche Versorgung in ländlichen Gebieten
zu verbessern, wahrscheinlich sogar wirksamer als lokale, meist unerlaubte Subventionen, die es im ländlichen
Raum auch gibt .
Also warum eigentlich ablehnen? Ich will drei Aspekte nennen .
Erstens . Die Kommunen haben zum gegenwärtigen
Zeitpunkt nicht so sehr ein Einnahme- als ein Ausgabeproblem, Stichwort „Soziallasten“. Darum kümmern wir
uns in unserer Großen Koalition . Und ich meine, dass wir
in der letzten Zeit nachweislich viele gute Dinge erbracht
haben .
Zweitens . Steuerpolitik enthält ja insgesamt ein süßes
Gift - wenn ich das einmal so sagen darf -, das bei unterschiedlichen gesellschaftlichen Entwicklungen immer
wieder herangezogen wird, mal beim Wohnungsbau, mal
bei energetischer Sanierung, mal bei ungerechter Vermögensverteilung . Während die einen die Gewerbesteuer
für unzeitgemäß halten, wollen die anderen sie stärken .
Daraus ist eine Formulierung im Koalitionsvertrag geworden . Dort heißt es:
Die Gewerbesteuer ist eine wichtige steuerliche
Einnahmequelle der Kommunen . Wir wollen, dass
auf der Basis des geltenden Rechts für die kommenden Jahre Planungssicherheit besteht .
Auf gut Deutsch: Wir machen zum gegenwärtigen
Zeitpunkt an der Gewerbesteuer nichts . „Pacta sunt servanda“ ist ein Grundsatz auch für Koalitionsverträge.
Diese Vereinbarung halten wir ein . Das ist eben unser
Verständnis . Es ist vielleicht auch einmal eine ganz angenehme Erfahrung, dass in der Steuerpolitik bei der
Gewerbesteuer über eine ganze Wahlperiode Stabilität
herrschen soll .
Der dritte Gesichtspunkt, den ich ansprechen will, ist
komplizierter . Die Linken wollen mit ihrem Antrag weniger Konjunkturanfälligkeit und eine Verstetigung der
Gewerbesteuer . Diese Grundüberlegung ist nicht falsch .
Diesem Ziel diente auch die Unternehmensteuerreform
der letzten Großen Koalition aus dem Jahre 2008 . Neben
Steuererleichterungen wie der Absenkung der Körperschaftsteuer und der Senkung der Gewerbesteuermesszahl wurde auch eine Hinzurechnung aller gezahlten
Schuldzinsen zu 25 Prozent vorgenommen . Das war eine
Vereinbarung . Darunter fallen auch Mieten und Pachten . Das ist eine wichtige Verbreiterung - wenn ich das
einmal so sagen darf - mit entsprechenden großzügigen
Freibetragsregelungen . Im Kern geht es um eine Gleichwertigkeit von Fremd- und Eigenkapitalfinanzierung,
also das, was wir unter Finanzierungsneutralität bei der
Gewerbesteuer verstehen . Den Entlastungen standen
also auch Belastungen, Hinzurechnungen gegenüber, um
Steuergerechtigkeit herzustellen .
Warum mache ich eigentlich zum gegenwärtigen Zeitpunkt diesen Exkurs? Seit der damaligen Zeit wehren
sich Wirtschaftsverbände gegen dieses Modell der Hinzurechnungen, wohlgemerkt, ohne die Steuererleichterungen, die es auch gegeben hat, rückgängig machen zu
wollen .
({3})
Zum gegenwärtigen Zeitpunkt haben wir ein solches
Problem in der Tourismusbranche . Vor wenigen Tagen
haben sich beispielsweise auch die Messebauer zu Wort
gemeldet .
In der Darstellung der Folgen der Hinzurechnung
verwenden Lobbyisten in hoher Intensität irreführende
Berechnungen mit absurd hohen Steuerquoten . Einige
scheinen dabei auch wirklich jedes gesunde Maß verloren zu haben . Kleine Reiseveranstalter werden dabei
übrigens einmal mehr für einen Protest gegen Steuerbelastungen instrumentalisiert, die vor allen Dingen große
Unternehmen treffen würden .
Beeindruckend finde ich übrigens, dass uns in Gesprächen mit Lobbyisten aus der Tourismusbranche erklärt
wird, bei der Steuergesetzgebung habe man gar nicht an
sie gedacht, sie seien schließlich auch nicht zur Anhörung im Gesetzgebungsverfahren eingeladen worden . Na ja, dann bräuchte ich ab morgen eigentlich keine Einkommensteuer zu zahlen . Das ist ein bemerkenswertes
Verständnis darüber - wenn ich das einmal an dieser
Stelle so sagen darf -, wie man Betroffenheit organisieren kann .
({4})
Es passt jedenfalls nicht zusammen, wenn Lobbyisten
von Belastungen in Millionenhöhe durch die Gewerbesteuer sprechen, während die Steuerverwaltung auf Zusatzbelastungen von unter 2 Prozent hinweist .
({5})
Ein praktisches Beispiel: Wenn eine 1 000-Euro-Pauschalreise durch die Hinzurechnung um insgesamt
17,50 Euro teurer wird, dann geht davon weder das Produkt noch die Branche pleite; davon bin ich fest überzeugt .
({6})
Deswegen will ich hier gar nicht weiter über eine
prosperierende Branche, die Tourismusbranche, reden,
sondern ich will alle Beteiligten zum jetzigen Zeitpunkt
auffordern: Setzen Sie sich dafür ein, dass das, was wir
im Koalitionsvertrag vereinbart haben, eingehalten wird,
nämlich Rechtssicherheit beim Bestand der Gewerbesteuer . Wer die Hinzurechnungen zur Disposition stellt,
legt die Axt an die Gewerbesteuer . Das wollen wir auf
gar keinen Fall .
Was können wir jetzt also machen? Ich glaube, wir
als diejenigen, die auch Vertreter von Kommunen sind,
sollten gemeinsam keine zusätzlichen Anträge stellen,
sondern wir sollten den Schulterschluss mit den kommunalen Spitzenverbänden herstellen und ein Abrücken von
den Hinzurechnungen verhindern, weil das einen Dammbruch bedeuten würde .
Ich bitte an dieser Stelle auch die Mitglieder der Linken ausdrücklich, diese Diskussion in Ihrer Fraktion
zu führen . Leider sind auch Vertreter Ihrer Fraktion im
Tourismusausschuss vor der Argumentation dieser Lobbygruppen nicht gefeit . Ganz im Gegenteil: Sie haben
sie sich zu eigen gemacht . Das ist natürlich eine etwas
schwierige Situation .
({7})
- Diese habe ich im Moment alleine auch nicht; das ist
wahr . Aber deswegen kann man trotzdem sagen, was Sache ist, lieber Axel Troost .
Deswegen will ich sagen: Bevor es zu Erweiterungen
des derzeit geltenden Gewerbesteuerrechts kommt, sollten Sie in dieser Frage die eigene Haltung klären . Wenn
Sie die Bemessungsgrundlage verbreitern und weitere
Berufsgruppen in die Gewerbesteuerpflicht einbeziehen,
dann müssen Sie an anderer Stelle, meine ich jedenfalls,
Kurs halten . Deswegen können wir Ihrem Antrag an dieser Stelle nicht folgen .
({8})
Wir appellieren an alle, die Rechtssicherheit bei der Gewerbesteuer nicht zu gefährden und sich auch an diese
Verabredung des Koalitionsvertrages zu halten .
Herzlichen Dank .
({9})
Vielen Dank . - Als nächste Rednerin hat Britta
Haßelmann von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das
Wort .
Vielen Dank . - Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Meine Damen und Herren Zuhörerinnen
und Zuhörer auf der Besuchertribüne! In der Tat reden
wir heute zum wiederholten Mal über die Frage der Weiterentwicklung der Gewerbesteuer . Aber das ist ganz normal; denn ein Antrag geht nach dem normalen Verfahren
in die Fachausschüsse - diese tagen nicht öffentlich -,
und danach kommt der Antrag wieder ins Parlament, um
hier dann wieder öffentlich abschließend diskutiert zu
werden .
Ich sage das als Erklärung für Sie . Von daher ist diese
Debatte kein ermüdender und lahmer Vorgang, sondern
etwas ganz Normales . Um die ausgetauschten Argumente vorzutragen, finden die Debatten öffentlich statt, da
bisher die Initiativen der Grünen zur Öffentlichkeit von
Ausschusssitzungen in diesem Haus leider keine Mehrheit gefunden haben .
({0})
Nun aber zur Sache . Ich glaube, dass es richtig und
wichtig ist, über die Weiterentwicklung der Gewerbesteuer und auch über die Einbeziehung der Freiberufler
in die Gewerbesteuer zu sprechen, zu diskutieren und
hier entsprechende Vorschläge zu machen . Ich bin ganz
froh, dass ihr von den Linken auf das verzichtet habt, was
wir untereinander bisher immer kritisch diskutiert haben,
nämlich die Gewerbesteuerumlage. Dieses Stichwort findet sich in der aktuellen Antragsfassung nicht . Von daher
kann ich für unsere Fraktion sagen, dass wir das Anliegen unterstützen, über die Frage nachzudenken, wie die
Einnahmen aus der Gewerbesteuer für die Städte und Gemeinden verstetigt werden können, sodass sie konstanter
und dauerhaft werden . Dabei geht es um zwei Elemente,
nämlich zum einen um die Hinzurechnungen bei der Gewerbesteuer und zum anderen um die Einbeziehung der
Freiberufler. Einen solchen Vorschlag können und wollen
wir unterstützen, und das werden wir durch die Zustimmung zum Antrag auch machen .
({1})
Bernhard Daldrup hat zu Recht darauf hingewiesen,
dass in Bezug auf die Hinzurechnungen Schluss sein
sollte mit dem Phantomargument, dass das ein ganz
furchtbarer Eingriff mit negativen Folgen wäre . Er hatte
das Dreifache meiner Redezeit; deshalb will ich das nicht
wiederholen .
Er hat vorhin auf die Frage des Eigen- und Fremdkapitals und das Verhältnis zueinander Bezug genommen .
Ich finde, statt der Verteufelung des Instruments der Hinzurechnungen wäre mehr Sachlichkeit im Umgang mit
den Argumenten geboten . Ich glaube, man kann das so
gestalten, dass es sinnvoll, richtig und nicht schädlich ist .
Daran sollten wir alle mitwirken .
({2})
Von daher ist die Antragsinitiative an dieser Stelle zu
unterstützen . Denn wir haben es mit großen regionalen
Disparitäten und sehr unterschiedlichen Entwicklungen
in der kommunalen Landschaft zu tun . Es gibt Kommunen, denen es total gut geht . Sie können aus eigener
Kraft viel gestalten und haben konstante Gewerbesteuereinnahmen . Andere Kommunen sind in einer absoluten
Notsituation .
Ich will zum Schluss meiner Rede noch darauf hinweisen, dass die Möglichkeiten des Ausgleichs der regionalen Unterschiede bzw . die Verhinderung der Entwicklung
hin zu einer Zweiklassengesellschaft der Kommunen, die
wir seit Jahren wahrnehmen, durch die Gewerbesteuer
nur ganz marginal sind . Ein viel größerer Anknüpfungspunkt ist die dauerhafte Entlastung der sozialen Kosten .
({3})
Das sollte uns immer gegenwärtig sein . Auch wenn wir
wie heute aufgrund des Antrags über eine solche Frage
diskutieren, ist das der Hauptanknüpfungspunkt . Denn
die Entwicklung der sozialen Kosten macht ganz deutlich, dass hier der Anknüpfungspunkt ist, um Ungleichheiten und Armut in Städten und Gemeinden ausgleichen
zu können. Dabei haben wir als Bund eine Verpflichtung
über die Grundsicherung im Alter hinaus, zum Beispiel
beim Teilhabegesetz, bei der Eingliederungshilfe und
ganz aktuell bei der Unterstützung der Kommunen bei
Betreuung, Begleitung und Erstaufnahme von Geflüchteten und der riesigen Aufgabe der Integration, die vor
uns liegt .
Dass die sozialen Kosten laut Finanzbericht allein für
2014 um 5,2 Prozent gestiegen sind und mittlerweile bei
49 Milliarden Euro liegen, macht deutlich, dass das ein
Bereich ist, in dem es mehr Unterstützung für die Kommunen auch durch Bundesleistungen geben muss, wenn
es um soziale Pflichtaufgaben geht. Das sollten wir, auch
wenn wir heute schwerpunktmäßig über die Gewerbesteuer diskutieren, nicht vergessen .
Vielen Dank .
({4})
Vielen Dank . - Als letzter Redner in der Debatte hat
Markus Koob von der CDU/CSU das Wort .
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wenn viele von uns in einigen Wochen mehr oder weniger text- und tonsicher vor dem Weihnachtsbaum besinnliche Weihnachtslieder singen, wird ein Klassiker
sicherlich nicht fehlen: Alle Jahre wieder
({0})
Mit Blick auf die heutige Debatte könnten wir dieses
Lied aber auch heute schon anstimmen . Denn wir führen
auch diese Debatte jedes Jahr wieder .
Zur vorweggenommenen Besinnlichkeit gehört, dass
wir alle die gleiche Zielsetzung verfolgen, die auch gut
und wichtig ist: die Stabilisierung der Finanzen von Städten und Gemeinden . Aber diese Bundesregierung und
diese Koalition arbeiten längst mit einem Strauß unterschiedlicher Maßnahmen auf dieses Ziel hin . Der Kollege Lerchenfeld hat in der gebotenen Ausführlichkeit
bereits viele der unterschiedlichen Maßnahmen erläutert .
Die reichen von der Übernahme der Kosten für die
Grundsicherung im Alter und bei der Erwerbsminderung
bis hin zu der kürzlich beschlossenen Übernahme von
Kosten im Zusammenhang mit der Asyl- und Flüchtlingssituation in Deutschland .
({1})
Wir helfen den Kommunen . Das machen wir, weil wir
starke Kommunen wollen, das machen wir, weil wir stabile Finanzen in den Kommunen wollen, und das machen
wir, weil wir mit der Stärkung der Infrastruktur mehr Lebensqualität in den Kommunen wollen .
({2})
Diese Ziele haben wir durch konkrete Maßnahmen
auch zu unseren gemacht, obwohl nach der Kompetenzverteilung unserer Verfassung die Länder primär zuständig für die Kommunen sind und auch bleiben müssen .
Aber der Bund hilft . Wir helfen den Kommunen, weil
wir ein verlässlicher Partner der Kommunen sind, obwohl das nicht unsere primäre Pflicht ist. Wir bekräftigen
auch an dieser Stelle gerne, dass die kommunalfreundliche Politik dieser Bundesregierung von uns aus voller
Überzeugung getragen wird .
({3})
Deswegen habe ich wohlwollend zur Kenntnis genommen, dass Sie die von uns gesetzten Ziele in Ihrem
Antrag als durchaus erstrebenswert definieren. Es kommt
nicht alle Tage vor, dass uns selbst die Linken bescheinigen, eine richtige Zielsetzung mit unserer Politik zu
verfolgen .
({4})
Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, so viel Einigkeit und Besinnlichkeit gibt es auf den zweiten Blick
dann doch wieder nicht, und wir haben auch durchaus
unterschiedliche Ansichten, mit welchen Mitteln wir diese Ziele erreichen wollen . Um es vorwegzunehmen: Ich
glaube, es wird Sie nicht wirklich überraschen, dass ich
am Ende der Rede empfehlen werde, Ihren Antrag abzulehnen . Dafür gibt es zahlreiche Gründe .
({5})
Mit diesem Antrag wird suggeriert, dass sich Anwälte,
Ärzte, Ingenieure oder Architekten und viele Freiberufler
in unserem Land außerhalb der Steuerordnung bewegen
würden .
({6})
Nichts anderes lässt es vermuten, wenn der Tenor Ihres
Antrags sinngemäß lautet: Die Freiberufler nutzen die
kommunale Infrastruktur und sollten sich endlich an ihrer Finanzierung beteiligen .
({7})
Wir wollen hier einige Sachen klarstellen . Die freien
Berufe tragen natürlich ihren Teil zur Finanzierung der
kommunalen Infrastruktur bei . Die Grundsätze ihrer
Besteuerung sind im Einkommensteuergesetz niedergeschrieben .
({8})
Ein Teil der Einkommensteuer - es sind 15 Prozent wird den Kommunen direkt zugeführt . Jetzt werden Sie
sagen: Da ist noch Luft nach oben . - Als Kommunalpolitiker - ich bin Stadtverordneter in meiner Heimatstadt
Oberursel - sehe ich das durchaus ähnlich . Aber das ist
heute nicht unser Thema,
({9})
sondern die Auferlegung der Gewerbesteuerpflicht für
Freiberufler, und die halte ich für falsch.
({10})
Die Einkommensteuer, die auch für Freiberufler gilt,
ist eine beachtliche Komponente von Gemeindehaushalten . Außerdem: Der kommunale Anteil an der EinkomBritta Haßelmann
mensteuer wird zusätzlich durch Bundesmittel verstärkt,
die den Kommunen und deren Infrastruktur zugutekommen . Der Bund beteiligt sich durch kluge Programme
und Fördermaßnahmen an der Unterstützung der Kommunen, vor allem der strukturschwachen Kommunen,
zum Beispiel durch das Bund-Länder-Programm „Die
soziale Stadt“, in dem es um städtebauliche Aufwertung
von benachteiligten Städten geht .
({11})
Eine sehr finanzschwache Kommune in meinem
Nachbarwahlkreis nimmt mit großer Begeisterung an
diesem Programm teil und hat so trotz klammer Kassen
die Möglichkeit, erheblich in die kommunale Infrastruktur zu investieren . Das zeigt: Der Bund wirkt hier freiwillig daran mit, dass auch finanzschwache Kommunen
mitgenommen werden und nicht auf der Strecke bleiben,
und das ist auch gut so .
({12})
Ohne Auswirkungen auf die Arbeitsbelastung von
Finanzbeamten in den Steuerbehörden und von steuererklärenden Freiberuflern würde es nicht gehen, wenn
wir Ihre Vorschläge umsetzen würden; denn nach Ihrem
Entwurf sollen Freiberufler sowohl einkommen- als auch
gewerbesteuerpflichtig sein und ihre unterschiedlichen
Steuerschulden miteinander verrechnen .
({13})
Denken Sie doch einmal an den Verwaltungsaufwand .
Mit welchen Instrumenten die kommunale Finanzkraft gestärkt wird, wird im Rahmen der Neuordnung
der Bund-Länder-Finanzbeziehungen zu klären sein . Aus
eigener Erfahrung vor Ort warne ich uns alle davor, nach
vermeintlich einfachen Lösungen zu suchen . Dazu zählt
auch, dass wir uns davor hüten sollten, die Gewerbesteuer entgegen der Realität vor Ort zu glorifizieren. Die Gewerbesteuer ist eine sehr konjunkturanfällige und damit
keine verlässliche Steuer .
({14})
Darauf hat schon die sogenannte Troeger-Kommission in
Vorbereitung der letzten großen Gemeindefinanzreform
aufmerksam gemacht .
Es gibt sicherlich viele weitere Anekdoten von Kolleginnen und Kollegen, die auch in der Kommunalpolitik
aktiv sind und die Ihnen berichten könnten, was bei Turbulenzen in der Gewerbesteuer so alles passieren kann .
Allein in meiner Heimatstadt riss erst kürzlich eine Gewerbesteuerrückzahlung in Höhe von 37 Millionen Euro
ein großes Loch in den kommunalen Ergebnishaushalt .
({15})
Für eine mittelgroße Stadt ist das verdammt viel Geld .
Daher: Ja, die Finanzkraft und die Infrastruktur vor
Ort müssen gestärkt werden, aber ob die Ausweitung der
Gewerbesteuer hierbei das geeignete Mittel ist - da würde ich doch ein großes Fragezeichen setzen . Die CDU/
CSU-Fraktion bleibt ein verlässlicher Partner der Kommunen, und sie wird sich im Rahmen der Neuordnung der
Bund-Länder-Finanzbeziehungen für einen zufriedenstellenden, aber vor allem für einen stabilen und nachhaltigen Kompromiss starkmachen . Die Menschen vor Ort
können sicher sein, dass wir am kommunalfreundlichen
Kurs dieser Bundesregierung festhalten
({16})
und dass wir diesen weiterhin zu einer wichtigen Grundlage unserer Arbeit machen .
Vielen Dank .
({17})
Vielen Dank . - Damit, liebe Kolleginnen und Kollegen, schließe ich die Aussprache .
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Finanzausschusses zu dem Antrag der
Fraktion Die Linke mit dem Titel „Einstieg in die Weiterentwicklung der Gewerbesteuer zu einer Gemeindewirtschaftsteuer - Freie Berufe in die Gewerbesteuerpflicht
einbeziehen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/6396, den Antrag
der Fraktion Die Linke auf Drucksache 18/3838 abzulehnen . Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist diese
Beschlussempfehlung angenommen worden mit den
Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der Opposition .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind am Schluss
unserer heutigen Tagesordnung .
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Dienstag, den 24 . November 2015, 10 Uhr, ein .
Die Sitzung ist geschlossen . Ich wünsche Ihnen ein
schönes Wochenende .