Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet. Ich darf Sie alle bitten, von
den Plätzen erhoben zu bleiben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Deutsche Bundestag, unser Land trauert um Helmut Schmidt, der am
vergangenen Dienstag in Hamburg im Alter von 96 Jahren verstorben ist. Wer diese außergewöhnliche Persönlichkeit begreifen und würdigen will, muss die Perspektive weiten, auch zeitlich. Gestern haben viele unserer
Nachbarn an das Ende des Ersten Weltkrieges 1918 erinnert. Um zu erfassen, welche Jahrhundertgestalt mit
Helmut Schmidt von uns gegangen ist, reicht es fast aus,
daran zu erinnern, dass er nur wenige Wochen später noch im gleichen Jahr: 1918 - geboren wurde.
Helmut Schmidt war ein Kind der Weimarer Republik.
Er erlebte seine Jugend unterm Hakenkreuz, und ihm selbst
wurde der Zweite Weltkrieg zum Schicksal. Die Bedeutung dieser prägenden Erfahrungen in einem - wie er in der
ihm eigenen, befreienden Deutlichkeit zu sagen pflegte „Scheißkrieg“ hat er immer wieder betont. Schmidt kämpfte als Soldat in der Sowjetunion, später an der Westfront
und geriet kurzzeitig in britische Kriegsgefangenschaft.
Wir alle wollten damals nicht Altes einreißen - da
gab es gar nichts mehr einzureißen! -,
- erinnerte er sich an den Gestaltungswillen seiner Generation nach Kriegsende sondern wir wollten etwas Neues aufbauen ...
Bereits 1953 saß Helmut Schmidt erstmals im Deutschen Bundestag, dem er über drei Jahrzehnte angehörte. Schon bald nach seiner ersten Wahl zählte er zu den
profiliertesten Vertretern der jüngeren Generation im
Parlament. Die Militär- und Sicherheitspolitik wurde zu
seinem eigentlichen Metier. Es ist deshalb nicht ohne
Symbolik, dass heute genau vor 60 Jahren die Bundeswehr gegründet wurde; wir haben gestern Abend vor dem
Reichstagsgebäude daran erinnert.
Helmut Schmidt war der Armee und den Soldaten in
besonderer Weise verbunden. Als Verteidigungsminister - der erste Sozialdemokrat in diesem Amt - reformierte er 1969 im Kabinett von Willy Brandt die Streitkräfte.
Die Universität der Bundeswehr trägt auch deshalb heute
seinen Namen.
Aufbau und Ausrichtung der Bundeswehr waren auch
nach der Entscheidung zur Wiederbewaffnung weiter
hochumstritten. Schmidt selbst profilierte sich in dieser
Zeit als entschiedener Gegner einer atomaren Bewaffnung. Damals entstand das Bild, das die Öffentlichkeit
lange vorrangig mit ihm verband und das erst in seiner
Amtszeit als Minister und Regierungschef und später als
Elder Statesman in den Hintergrund trat: das des scharfzüngigen Debattenredners. Er war nicht nur ein großer
Redner, sondern vor allem ein leidenschaftlicher und ansteckender, gelegentlich provozierender Debattierer, wie
aus dem Lehrbuch des Parlamentarismus.
Pathos war seine Sache nicht; er suchte lieber die bissige Pointe, die er meisterlich zu setzen wusste. Seine
Rededuelle mit Ludwig Erhard, Franz Josef Strauß und
später Helmut Kohl, in denen er teils schneidende Attacken ritt, sind unvergessen. Zitat:
Ich bilde mir ein, durch viele Reden - auch im Bundestag - eine ganze Menge moralischer und auch
geistiger Pflöcke eingeschlagen zu haben.
So wusste er sich und sein Rednertalent richtig einzuschätzen. „Einige von denen haben auch Wirkung erzielt“, ergänzte er - und das bestätigen nicht nur die, die
ihn im Hohen Hause noch leibhaftig erlebt haben.
Verbindendes Element zwischen dem leidenschaftlichen Streitredner und dem kühlen Analytiker in der Regierungsverantwortung war die Lust daran, argumentativ
zu überzeugen - durch Rede und Widerrede. Schmidt
war, so hat Sigmar Gabriel das anlässlich seines 95. Geburtstages treffend ausgedrückt, eine Autorität, die sich
auf das Argument stützte.
In seiner Amtszeit als Bundeskanzler hatte Helmut
Schmidt große Herausforderungen zu bewältigen:
von der Wirtschaftsrezession der 1970er-Jahre bis zu
Deutschlands Rolle im Kalten Krieg. Klarsichtig und
entschlossen hat er sie gemeistert. Früher als andere hatte er die Bedrohung durch neue atomare Mittelstreckenwaffen der Sowjetunion erkannt und voller Überzeugung
für den NATO-Doppelbeschluss gestritten - wider den
Zeitgeist, der damals seinen Ausdruck in einer der größten Demonstrationen im Deutschland der Nachkriegszeit
fand. Populär war diese Politik nicht - weder in der eigenen Partei noch in der Öffentlichkeit.
Unvergessen ist seine Standfestigkeit im sogenannten
Deutschen Herbst. Schmidt sah sich damals vor unausweichliche Entscheidungen gestellt, die er nicht treffen
konnte, ohne Schuld auf sich zu laden, wie er das selber
später bekannt hat. Aber er hat sich nicht weggeduckt.
Wer ihn auf zeitgenössischen Aufnahmen sieht, wer
ihn über diese Wochen und Monate reden hörte, spürt
förmlich die Bürde seines Amtes, kann erahnen, welche
Spuren sie auch bei ihm, dem vermeintlich so kühlen
Pragmatiker, hinterlassen hat. Dank seiner Entschlossenheit bestand unsere Republik ihre schwerste Belastungsprobe, ohne selbst die Freiheit zu gefährden, gegen die
der Terror gerichtet war.
Helmut Schmidt erwarb sich damals hohes Vertrauen
und Ansehen - und das nicht allein in Deutschland, das
ihn als Inbegriff des nüchternen, disziplinierten Hanseaten verehrte. In der ganzen Welt genoss Helmut Schmidt
höchste Reputation als Staatsmann, der deutsche Politik
berechenbar gemacht hat, weil sie auf Nüchternheit und
Rationalität, Toleranz und Weltoffenheit beruhte. Die
spontane Würdigung durch den französischen Ministerpräsidenten und die Abgeordneten in der französischen
Nationalversammlung nach Bekanntwerden des Todes
von Helmut Schmidt am vergangenen Dienstag sind ein
eindrucksvoller Beleg dieser persönlichen Wertschätzung wie der besonderen Beziehungen zwischen unseren
beiden Ländern, und ich möchte die Gelegenheit gerne
nutzen, mich bei unseren französischen Kolleginnen und
Kollegen dafür ausdrücklich zu bedanken.
Als sich Helmut Schmidt 1986 aus dem Bundestag
verabschiedete, verband er das mit einem eindringlichen
Appell an die Parlamentarier zur „Besinnung auf das
Ethos eines politischen Pragmatismus in moralischer
Absicht“. - Das kann man durchaus auch für eine passende Orientierung für die aktuelle Flüchtlingskrise halten. - Das, was wir erreichen, was wir tun wollen, solle
moralisch begründet sein. Der Weg dahin müsse aber realistisch, er dürfe nicht illusionär sein. Und er fügte für
ihn fast untypisch emphatisch hinzu:
Es sollte keiner glauben, dass solch Ethos die politischen Ziele ihres Glanzes beraube oder den politischen Alltag seines Feuers. Die Erreichung des
moralischen Ziels verlangt pragmatisches, vernunftgemäßes politisches Handeln, Schritt für Schritt.
Und die Vernunft erlaubt uns zugleich doch auf diesem Weg ein unvergleichliches Pathos. Denn keine
Begeisterung sollte größer sein als die nüchterne
Leidenschaft zur praktischen Vernunft.
Dass der Bundestag früher als andere die überragende
Bedeutung dieses Parlamentariers erkannt hatte, kommt
auch in der Souveränität zum Ausdruck, ihm für seine
Abschiedsrede eine alle Proportionen, auch von Regierungserklärungen, sprengende Redezeit von knapp zwei
Stunden zuzubilligen.
({0})
Die Protokolle des Deutschen Bundestages benötigen für
die Aufzeichnung dieser Rede 16 Seiten. Nach zeitgenössischen Berichten soll er mit einem Manuskript von
100 Seiten ans Podium gegangen sein.
Hoher moralischer Ernst prägte das Selbstverständnis
dieses herausragenden Politikers. Es ist sein bleibendes
Vermächtnis. Noch in diesem Jahr sagte er von sich in
demonstrativer hanseatischer Bescheidenheit:
Ich bin kein Vorbild. Das ist eine Rolle, die mir nicht
gefällt.
Allerdings mochten ihm allenfalls militante Nichtraucher in dieser Einschätzung folgen.
({1})
Die meisten Menschen faszinierte seine immense Lebenserfahrung, sie bewunderten seinen scharfen Verstand, nicht zuletzt liebten sie seinen trockenen Humor.
Für viele war er, der in Vorträgen als Autor und Mitherausgeber der Zeit bis zuletzt die politische Debatte und
Kontroverse suchte, mit seiner Meinung ein unverzichtbarer Kompass.
Helmut Schmidt war Politiker, Publizist und Patriot.
Als Parlamentarier, als Bundesminister und vor allem als
Bundeskanzler hat er sich auf herausragende Weise um
Deutschland verdient gemacht. Wir verneigen uns vor
einem der bedeutendsten politischen und intellektuellen
Köpfe unseres Landes.
Unsere Gedanken sind bei seiner Familie, seinen
Freunden und Weggefährten.
Vielen Dank.
({2})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte Sie auf
die interfraktionelle Vereinbarung aufmerksam machen,
die Tagesordnung um die in der Zusatzpunkteliste aufgeführten Punkte zu erweitern:
ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen
DIE LINKE und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:
Haltung der Bundesregierung zur Statusfrage
syrischer Flüchtlinge und zur Einschränkung
des Familiennachzuges
({3})
ZP 2 Weitere Überweisung im vereinfachten Verfahren
({4})
Beratung des Antrags der Abgeordneten Doris
Wagner, Agnieszka Brugger, Dr. Tobias Lindner,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Radargeschädigte der Bundeswehr und der
ehemaligen NVA zügig entschädigen
Drucksache 18/6649
Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuss
Präsident Dr. Norbert Lammert
ZP 3 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
({5}) zu dem Antrag der Abgeordneten Roland Claus, Matthias W. Birkwald, Caren
Lay, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Keine Anrechnung von NVA-Verletztenrente
auf Grundsicherung im Alter
Drucksachen 18/3170, 18/5278
Darüber hinaus mache ich noch auf eine nachträgliche Ausschussüberweisung im Anhang zur Zusatzpunkteliste aufmerksam:
Der am 16. Oktober 2015 ({6}) überwiesene
nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({7}) zur Mitberatung überwiesen
werden:
Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Modernisierung des Vergaberechts ({8})
Drucksache 18/6281
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Energie ({9})
Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 der GO
Ich frage Sie, ob Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden sind. - Das ist offensichtlich der Fall. Dann
ist das so beschlossen.
Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 4:
Vereinbarte Debatte
60 Jahre Bundeswehr
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
diese Aussprache 77 Minuten vorgesehen. - Auch dazu
gibt es offensichtlich Einvernehmen. Dann verfahren wir
so.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Kollegen Henning Otte für die CDU/CSU-Fraktion.
({10})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Auch wir gedenken heute des ehemaligen Bundeskanzlers und früheren Verteidigungsministers Helmut Schmidt - gerade
am 60. Jahrestag der Bundeswehr, ein besonderes Ereignis. Mit dem gestrigen Großen Zapfenstreich vor dem
Reichstag, zwei beeindruckenden Reden des Herrn Bundestagspräsidenten und der Frau Verteidigungsministerin
sowie der heutigen Debatte im Deutschen Bundestag feiern wir dieses Jubiläum. 60 Jahre Bundeswehr sind eine
Erfolgsgeschichte für Deutschland. Die Bundeswehr ist
der Garant für Sicherheit unseres Landes und Ausdruck
von Stabilität und Souveränität.
Dass die Bundeswehr 1955 gegründet worden ist,
war keine Selbstverständlichkeit. Die Aufstellung einer
neuen Armee, nur zehn Jahre nach Ende der Gewaltherrschaft des Nationalsozialismus: Wie viel Überzeugungsarbeit war für diese neue wehrhafte Streitkraft wohl
notwendig? Welch eine Weitsicht der damaligen Entscheidungsträger, wie es Konrad Adenauer war. Welch
ein Vertrauensbeweis der alliierten Kräfte, die Bundeswehr als vollwertiges Mitglied der NATO aufzunehmen.
Vertrauen und Verantwortung waren die zwei Pfeiler einer neuen Sicherheitsstruktur.
Das Vertrauen war gerechtfertigt. Die Verantwortung
wurde angenommen. Mit der Ergänzung des Grundgesetzes um den Artikel 87 a hieß es ab sofort: „Der Bund stellt
Streitkräfte zur Verteidigung auf.“ Das war nur ein kurzer Satz im Grundgesetz, aber mit einer großen Wirkung
für Deutschland. Mit der Festlegung auf eine allgemeine
Wehrpflicht und der Konzeption der Inneren Führung
wurde ein Selbstverständnis geschaffen, wonach jeder
Soldat seinem Gewissen verpflichtet und für sein Handeln selbst verantwortlich ist. Unter Berücksichtigung
der Erfahrungen des Widerstandes gegen ein Unrechtsregime und der daraus erwachsenden Verantwortung war
der innere Geist der Bundeswehr gesetzt: das Leitbild des
Staatsbürgers in Uniform. Welch eine Bereicherung für
unser Land!
({0})
Die Bundeswehr entwickelte sich zu einer Armee der
Landesverteidigung. Mit einer Stärke von 495 000 Soldaten sowie 1,2 Millionen Reservisten galt die Bundeswehr im Rahmen der Bündnisverteidigung als ein unverzichtbarer NATO-Partner. Sie sicherte uns allen somit
Frieden und Freiheit in der spannungsreichen Zeit des
Kalten Krieges.
Meine Damen und Herren, nach dem Ende des
Ost-West-Konfliktes und dem Fall der Mauer übernahm
die Bundeswehr eine wichtige Rolle im Einigungsprozess, als sie mit der Aufnahme von 90 000 Soldaten der
ehemaligen Nationalen Volksarmee dem Einigungsprozess wahrnehmbar ein Gesicht gab. Welch eine Leistung
aller Beteiligten, aus zwei verschiedenen Vergangenheiten eine gemeinsame Zukunft zu schaffen, eine Armee
der Einheit in einem vereinten Deutschland. Für diese
friedliche Revolution und für diese Integrationsleistung
unserer Bundeswehr können wir alle nur dankbar sein.
({1})
Das wiedervereinigte Deutschland wurde in der
Welt als machtvoller wahrgenommen und von Nachbarn durchaus auch mit Skepsis betrachtet. Hier galt es
Präsident Dr. Norbert Lammert
einmal mehr, Vertrauen zu stiften. Deutschland hielt in
seiner Außen- und Sicherheitspolitik an den Werten des
Grundgesetzes fest, zeigte sich den Bündnispartnern eng
verpflichtet und schuf somit das notwendige Vertrauen.
Nicht nur, dass man uns traute: Man traute uns auch
mehr zu und forderte uns mehr ab. Seit 1992 beteiligt
sich die Bundeswehr regelmäßig an Einsätzen zur Friedenssicherung und Konfliktbewältigung. Deutschland
nimmt diese internationale Verantwortung durch die
Wahrnehmung mandatierter Auslandseinsätze wahr:
mandatiert durch den Deutschen Bundestag, nie alleine,
sondern immer im Verbund mit Partnern, nie im Interesse
einer expansiven Machtpolitik, sondern für mehr Stabilität und Frieden in der Welt. Dabei geht es auch immer
um die Sicherheit unseres Landes. Deswegen hatte mein
zu früh verstorbener Wahlkreiskollege, der frühere Verteidigungsminister Dr. Struck, recht, als er einst sagte:
Die Sicherheit Deutschlands wird auch am Hindukusch
verteidigt.
Militärisch allein wird kein Konflikt im 21. Jahrhundert - in einer globalisierten Welt, in der Finanz- und
Warenströme eng miteinander verwoben sind - zu lösen
sein. Nur im vernetzten Ansatz von Diplomatie, wirtschaftlicher Entwicklung und auch militärischer Absicherung, so wie es der damalige Verteidigungsminister
Dr. Franz Josef Jung im Weißbuch 2006 entwickelt hat,
können wir heutzutage Konflikte eindämmen und befrieden.
({2})
Und doch kommt das Unvorhergesehene immer unvorhergesehener. Die sicherheitspolitische Entwicklung
im Rahmen eines wachsenden internationalen Terrorismus, asymmetrischer Bedrohungslagen, einer hybriden Kriegsführung, zerfallender Staaten und weltweiter
Armut und Umweltkatastrophen lässt heutzutage Konfliktsituationen entstehen, die sich nicht mehr mit der Logik der Abschreckung lösen lassen. Die Konfliktursachen
sind komplexer und Frontverläufe oft weniger klar, aber
dafür dynamischer.
Diese Erkenntnis erforderte eine komplette Neuausrichtung der Bundeswehr unter der Leitung des damaligen Verteidigungsministers Dr. Thomas de Maizière.
({3})
Unsere Bundeswehr sollte flexibel, verlegbar, kampffähig und durchhaltefähig ihren Auftrag erfüllen können.
Denn, meine Damen und Herren, es gibt keine Freiheit
ohne Sicherheit, und für diese Sicherheit brauchen wir
unsere Bundeswehr.
({4})
Soldaten und zivile Mitarbeiter leisten einen unverzichtbaren Dienst für unser Land. „Wir. Dienen. Deutschland.“: Diese Maxime ist ihr Bekenntnis. Ob Vogelgrippe, ICE-Unglück, Schnee- oder Hochwassereinsatz oder
wie jetzt der Einsatz der Bundeswehr zur Bewältigung
der Flüchtlingssituation: Es sind die Soldatinnen und
Soldaten der Bundeswehr, denen wir jedes Mal zutrauen,
schwierigste Aufgaben auch im Inland zu lösen. Vor allem sind sie es, die bereit sind, unter Einsatz ihres Lebens
in Krisen- und Kriegsgebieten fernab der Heimat für die
Sicherheit unseres Landes einzustehen. Dafür sage ich
ihnen als Abgeordneter des Deutschen Bundestages aus
fester Verbundenheit mit ihnen und ihren Familien meinen herzlichen Dank. Stellvertretend geht dieser Dank an
den Generalinspekteur der Bundeswehr, Herrn General
Volker Wieker.
({5})
Sie dürfen für ihren Einsatz aber auch - ganz im Sinne
einer Parlamentsarmee - die volle Rückendeckung des
Parlamentes erwarten. Das Parlament hat ihnen hierfür
die notwendige Fürsorge und die notwendigen Mittel zur
Verfügung zu stellen. Viele gesetzliche Maßnahmen tragen zur Absicherung von Risiken bei. Vor allem denken
wir heute an diejenigen, die im Dienst für unser Land ihr
Leben ließen oder an Leib und Seele verwundet wurden.
Meine Damen und Herren, die Verbesserung der Bundeswehr ist ein dauerhafter Prozess. Die Bereitstellung
von modernem Material zu Lande, zu Wasser und zur See
muss weiter verbessert werden. Die finanziellen Mittel
müssen an den Aufträgen orientiert und dynamisch an die
jeweilige Sicherheitslage angepasst werden.
Die Cyberabwehr muss weiter forciert werden. Sicherheitspolitik 4.0 muss vorangebracht werden. Die Sicherheit unseres Landes hat einen Preis. Den müssen wir
zu zahlen bereit sein.
Ich danke daher Ihnen, Frau Bundesverteidigungsministerin, dass Sie mit dem Attraktivitätssteigerungsgesetz, der Prozessverbesserung, der konsequenten Modernisierung der Ausrüstung und nicht zuletzt der Erstellung
eines neuen Weißbuches die notwendigen Entscheidungen engagiert getroffen haben, auch um immer wieder
junge Menschen, Frauen wie Männer, für den Dienst in
der Bundeswehr zu begeistern. Denn genau diese Bürgerinnen und Bürger unserer Gesellschaft brauchen wir
als mutige Fürsprecher für und tapfere Verteidiger von
Frieden und Freiheit.
60 Jahre Bundeswehr - eine Erfolgsgeschichte. Herzlichen Glückwunsch, Deutschland!
({6})
Wolfgang Gehrcke erhält nun das Wort für die Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Auch die Fraktion Die Linke gedenkt Helmut Schmidt.
Ich kenne ihn seit 1961 und habe ihn in Hamburg kennengelernt. Wir waren selten einer gemeinsamen AuffasHenning Otte
sung. In seinen letzten Jahren waren wir allerdings zunehmend mehr einer Meinung,
({0})
gerade in der Russland-Politik. Ich finde, gerade wenn
man Helmut Schmidt gedenkt, sollte man die Art und
Weise, sich kritisch auseinanderzusetzen, kultivieren.
Das konnte Schmidt, und das hat er immer durchgehalten. Deswegen möchte ich Ihnen das Gegenprogramm in
meiner Rede zu 60 Jahren Bundeswehr vorstellen.
Von den 60 Jahren, die die Bundeswehr existiert,
habe ich 55 Jahre gegen sie gekämpft, zunächst in der
„Ohne mich“-Bewegung zusammen mit einer ganzen
Reihe Sozialdemokraten, in der Bewegung „Kampf dem
Atomtod“, auf den Ostermärschen, mit Blockaden von
Militärstandorten, mit antimilitaristischer Arbeit unter
Wehrpflichtigen und Soldaten sowie Kriegsdienstverweigerern sowie auch im Widerstand gegen die Kriege in
Vietnam, Jugoslawien, im Irak oder in Afghanistan. Ich
finde es fast symptomatisch, dass genau zu der heutigen
Debatte das Versprechen, dass die Bundeswehr aus Afgha nistan abgezogen wird, aufgekündigt wurde. Lug und
Trug gehörten immer zur Politik der Rechtfertigung der
Bundeswehr.
Bis heute sage ich laut und deutlich Nein zu Militarismus und Krieg. Für die Sicherheit des Landes brauchen
wir keine Bundeswehr. Ich bin davon überzeugt, dass der
Zeitpunkt kommen wird, wo dieses Land keine Armee
mehr hat und keine Bundeswehr mehr braucht. Dieser
Zeitpunkt wird kommen, und er wird das Land positiv
verändern.
({1})
Von Franz Josef Strauß ist aus dem Bundestagswahlkampf 1949
({2})
- ich zitiere Strauß; das müssen Sie doch ertragen können - das geflügelte Wort überliefert: „Wer noch einmal
ein Gewehr in die Hand nimmt, dem soll die Hand abfallen.“ Er hat später seine Aussage so interpretiert, dass
„jedem Staatsmann, der zum Gewehr greift, um damit
seine politischen Ziele durchzusetzen“, die Hand abfallen soll. Strauß hat verstanden, dass das Gewehr des
Staatsmannes die Armee ist. Ich mache Strauß nicht zum
Pazifisten.
({3})
- Das geht auch gar nicht; das weiß ich.
({4})
Ich will Sie nur daran erinnern, dass es auch in Deutschland einmal einen anderen Zeitgeist gegeben hat.
({5})
Ich will Ihnen begründen, mit welchen Fragen man
sich heutzutage im Zusammenhang mit der Bundeswehr
auseinandersetzen muss.
Als Erstes stellt sich für mich die Frage: Wollen wir
mit der NATO so weitermachen? Ich bin überzeugt:
Ebenso überflüssig wie die Bundeswehr ist die deutsche
Mitgliedschaft in der NATO.
({6})
Ich suche nach einem Weg, wie Deutschland aus der
NATO herauskommt. Wie wir hineingekommen sind,
wissen wir ja. Die Chance, die NATO aufzulösen und
nicht mehr auf Militärbündnisse zu setzen, gab es, als der
Warschauer Pakt aufgelöst wurde. Wir haben sie nicht ergriffen - ein großer Fehler!
({7})
Meine zweite Überlegung ist: Jede Waffe findet ihren
Krieg. Diese Erfahrung haben wir doch gemacht. Armeen streben nach immer perfekteren Waffen. In Büchel
lagern US-amerikanische Atombomben. Ministerin von
der Leyen will die Drohnenrüstung. Doch ein Blick auf
die Konflikte dieser Welt zeigt: Waffen bringen keine
Sicherheit. Wir müssen raus aus der Spirale der Gewalt
und der Spirale der Waffen. Das ist eigentlich die große
kulturelle Aufgabe, die wir haben.
({8})
Ich bin drittens überzeugt davon: Wer sich eine Armee
leistet, bekommt den militärisch-industriellen Komplex.
Die modernen Waffenschmieden sind nicht mehr einzelne
Fabriken, sie bilden vielmehr zusammen den militärisch-industriellen Komplex, der sich nicht nur die Forschung unterordnet, sondern der zunehmend auch seinen Einfluss in
der Politik ausübt. Auch das müssen wir beenden.
Ich bin viertens überzeugt davon, dass Rüstung
Unsummen kostet, an der Rüstung aber auch Unsummen verdient werden. Auch das muss gestoppt werden.
Wäre es nicht ein Zeichen dieses Bundestages, wenn
wir in den Haushaltsberatungen den Wehretat gründlich
zusammenstreichen würden und das Geld, das wir dort
einsparen, für die Flüchtlinge einsetzten? Ja zur Hilfe für
Flüchtlinge, aber Nein zur Rüstung - das wäre doch ein
Signal, das von diesem Land ausgehen kann.
({9})
Vor 60 Jahren hieß es von meiner Seite: Ohne mich! Heute sagen immer mehr Menschen in unserem Land:
Ohne uns! - Die Bundeswehr erlebt wieder so viel Widerspruch, dass man sehr hoffnungsvoll sein kann, dass wir
ein Land ohne Armee erreichen werden. Das ist, worüber
wir heute debattieren sollten. Lassen Sie sich auf den Meinungsstreit ein. Immer nur Ja zu sagen, bringt doch nichts.
Herzlichen Dank.
({10})
Für die SPD-Fraktion hat jetzt der Kollege Rainer
Arnold das Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Eine wichtige staatliche Institution hat gestern und heute ihren 60. Geburtstag gefeiert. Die Bilder vom gestrigen Abend hatten und haben eine hohe Symbolkraft: der
Große Zapfenstreich vor dem deutschen Parlament. Ich
denke, auch Demokratien brauchen Zeichen und Symbole. Ich kann das so gelassen sagen, weil wir wissen: Sowohl die Bundeswehr als auch die deutsche Gesellschaft
bergen nirgendwo das Risiko in sich, dass wir zu einer
Überhöhung und zu einer Heroisierung der Streitkräfte
kommen.
Zu diesen Symbolen gehören auch dieses Gedenken
und das Erinnern. Wir denken in dieser Stunde auch an
die Soldaten, die im Einsatz ihr Leben verloren haben,
und deren Familien, deren Leid und Schicksal. Es ist gut,
dass es Erinnerungsstätten gibt, in Potsdam und beim
Bendlerblock. Ich wünsche mir allerdings auch, Herr
Präsident, dass es gelingt, dass auch hier, wo die Entscheidungen getroffen werden, eine Stätte der Erinnerung eingerichtet wird.
Der Beginn der Bundeswehr war ein schwieriger,
insbesondere für Sozialdemokraten. Es waren kontroverse, turbulente Debatten über die Wiederbewaffnung.
Das hatte auch etwas damit zu tun, dass viele der ersten Offiziere und Unteroffiziere eben aus der Wehrmacht
rekrutiert wurden und die NS-Zeit, Angriffskriege, eine
furchtbare Niederlage und der Neubeginn natürlich diese
Debatten mit geprägt haben.
Deshalb wurde die Bundeswehr vom ersten Tag an als
Parlamentsarmee konzipiert. Die Erfahrung der Kriege
war: Es gilt das Primat der Politik, Regierung und Deutscher Bundestag, und nicht der Generalstab trifft politische Entscheidungen. Dazu gibt es ein nettes Zitat des
Abgeordneten Bausch, der im Verteidigungsausschuss
1954 sagte:
Wir sind uns einig, dass die Kontrolle des Parlaments und der Regierung über das Militär einwandfrei sichergestellt werden soll. Frage ist: Wie kriegen wir das hin?
Sehr verehrte Zuhörer, ich denke, nach 60 Jahren können wir heute mit Fug und Recht sagen: Wir haben das
auf vorbildliche Art und Weise hingekriegt, auch innerhalb des Bündnisses der NATO.
({0})
Es gab immer wieder Menschen, die geglaubt haben,
eine Parlamentsarmee passe nur zu Friedenszeiten und
zu einer Übungsarmee. Nein, gerade bei der Armee im
Einsatz hat sich in den letzten Jahren besonders gezeigt,
wie wertvoll diese parlamentarischen Entscheidungen
und Debatten sind. Wir sind sehr froh, dass das Bundesverfassungsgericht im Jahre 1994 diesen Parlamentsvorbehalt im Grunde genommen zementiert hat. Dies heißt
auch: Die Bundeswehr als Parlamentsarmee ist im Alltag
der Soldaten auch für sie selbst identitätsstiftend. Das
merken wir bei jedem Besuch und bei jedem Gespräch
mit unseren Soldaten.
Das heißt auch für uns: Unsere parlamentarische Verantwortung endet eben nicht am Kasernentor. Wir haben
auch einen wichtigen Sensor, nämlich den Wehrbeauftragten. Es waren übrigens Sozialdemokraten, die dessen
Einsetzung damals erzwungen haben. Das ist ein unverzichtbares Instrument für uns.
({1})
60 Jahre Bundeswehr sind aber auch 60 Jahre Reformen, innerer Wandel, auch kultureller Wandel bei den
Streitkräften. Ich sage ganz offen: Mein eigenes Bild von
den Streitkräften hat sich - ich bin ein Kind der 68er-Generation - auch gewandelt. Vielleicht war ich damals
nicht immer ganz gerecht, aber richtig ist schon: Auch
über die Bundeswehr hatte sich viele Jahre lang gewissermaßen der Mehltau der Adenauer-Ära gelegt. Es war
notwendig, dass eine neue Generation von Soldaten, eine
Nachkriegsgeneration, die Prinzipien der Streitkräfte
nicht nur theoretisch verinnerlicht hat, sondern im Alltag
die Begriffe „Staatsbürger in Uniform“ und „Prinzipien der Inneren Führung“ durch eigenes Vorleben in die
Truppe gebracht hat. Dies sind wichtige Veränderungen,
und wir sind heute sehr froh darüber.
Es gab Zeiten, in denen erfolgten unglaublich viele
Eingaben an den Wehrbeauftragten wegen Verstößen gegen die Menschenwürde. Die Älteren unter uns erinnern
sich noch an das Stichwort „Die Schleifer von Nagold“.
Seither begleitet die Öffentlichkeit - wir und die Medien - die Bundeswehr in solchen Situationen durchaus kritisch. Dies ist notwendig, und dies hat auch dazu geführt,
dass dies heute kein Thema mehr ist. Wir können heute
im Grunde genommen sagen: Die Bundeswehr ist in der
Gesellschaft als demokratische Institution angekommen,
bei der Soldaten nicht nur Befehl und Gehorsam kennen,
sondern bei der eigenes Mitdenken und eigenes Infragestellen gefördert werden.
Es gab - heute wurde über ihn gesprochen - einen
Verteidigungsminister in der Riege der fünf sozialdemokratischen Verteidigungsminister, der die Bundeswehr entscheidend auf diesem Weg in die tiefe gesellschaftliche Verankerung mitgeprägt hat. Das war Helmut
Schmidt. Er hat mit einer Reform an Haupt und Gliedern
begonnen. Vieles ist lange geblieben, zum Beispiel die
Einbindung des Generalinspekteurs mit dem Blankeneser Erlass oder der Umgang mit der Wirtschaft. Bis heute ist das Projekt Beschaffungswesen noch nicht ganz
fertig. Helmut Schmidt hatte es damals schon zu Recht
als Riesenaufgabe erkannt. Er hat von Theo Sommer ein
Weißbuch schreiben lassen, das insofern neuartig war, als
es eine kritische Bestandsaufnahme der Bundeswehr und
der deutschen Sicherheitspolitik beinhaltete.
Manches Erbe von Helmut Schmidt wird auf Dauer bleiben, insbesondere die Bildungsreform bei den
Streitkräften. In den 70er-Jahren hatten wir ein größeres
Pro blem bei der Personalgewinnung als heute. Das vergessen wir manchmal. Auf eine offene Stelle kamen nur
zwei Bewerber. Die Gründung der Bundeswehruniversitäten war eine Antwort darauf. Dies hat den Soldatenberuf attraktiv gemacht und hat dazu geführt, dass Offiziere
selbst anders lernen, anders denken, anders gestalten, als
es zuvor der Fall war. Es ist ein Erfolgsmodell; denn wir
können heute sagen: Viele Absolventen der Bundeswehruniversitäten sind heute in Führungspositionen in der
deutschen Gesellschaft, statistisch übrigens mehr als Absolventen der regulären Hochschulen.
Für mich persönlich - und vielleicht auch für Sie gibt es einen ganz besonderen Nachlass, den Helmut
Schmidt hinterlassen hat. Carlo Schmid hat einmal im
Verteidigungsausschuss gesagt: Ich bin dagegen, dass
wir Leute zum Musikmachen einziehen und womöglich
die Beförderung davon abhängig machen, ob einer Waldhorn spielen kann. - Heute lächeln wir zu Recht darüber.
Was hat Helmut Schmidt getan? Er hat die „Big Band der
Bundeswehr“ gegründet. Sie stiftet auch Identität. Sie ist
ein Werbeträger. Dies war eine tolle und kulturell wichtige Entscheidung.
({2})
Diese Facette gehört zu einer Bundeswehr, die insgesamt
ein anderes Gesicht hat. Heute hat die Bundeswehr das
Gesicht einer modernen Armee, wo Einsatzfähigkeit und
Leistung in den Krisengebieten kein Gegensatz zur Debatte um Kitas und Dienstzeitregelungen sind.
({3})
Das ist auch genau richtig so.
Wir haben auch gesehen, dass der Soldatenberuf in einer Welt, die schwieriger und komplexer geworden ist,
anspruchsvoller geworden ist. Deshalb wissen wir bis
zum heutigen Tag, so ärgerlich es ist, wenn Hubschrauber nicht fliegen und viele Flugzeuge zu spät geliefert
werden: Die Bundeswehr der Zukunft hängt in erster Linie davon ab, ob es uns auch in Zukunft gelingt, die klugen jungen Menschen zu gewinnen, die die Komplexität
des Soldatenberufes beherrschen und der damit verbundenen Herausforderung nicht nur intellektuell, sondern
auch physisch und psychisch gewachsen sind.
({4})
Die Menschen in Deutschland erleben ja im Augenblick jeden Tag, was dies bedeutet. Die Arbeit der Soldatinnen und Soldaten im Bereich der Amtshilfe bei der
Bewältigung der Aufgaben, die die vielen flüchtenden
Menschen, die bei uns Zuflucht suchen, mit sich bringen,
ist beeindruckend. 435 genehmigte Einsätze in Form von
Unterstützungsleistungen, das ist wirklich herausragend.
Wir sagen allerdings auch: Dies geht zwar eine bestimmte Zeit; aber es gilt zu bedenken: Es sind Soldatinnen und Soldaten und Zivilbeschäftigte, die ihren eigentlichen Dienstauftrag nicht mehr erfüllen können. Eine
Flut geht irgendwann einmal zurück; so etwas ist überschaubar. Die Bewältigung der Flüchtlingsmenge wird
uns noch längere Zeit beschäftigen. Die Bundeswehr ist
die Institution, die in den letzten Jahren am meisten Soldaten und Zivilbeschäftigte vorzeitig in den Ruhestand
geschickt hat. Deshalb würden wir es sehr begrüßen,
wenn man das damit verbundene Potenzial zur Bewältigung dieser Aufgabe jetzt reaktiviert.
Die Zukunft der Bundeswehr ist ein Thema, bei dem
wir merken: Der Wandel hört nicht auf. Wir reden heute
über den in der NATO seit langem vorhandenen Gedanken: Wir müssen so stark bleiben, damit wir unsere Stärke
nie brauchen. Hier muss die Bundeswehr ihre Fähigkeiten auch durch wirklich vorhandenes Gerät und Personal
in den nächsten Jahren unterlegen. Es reicht nicht, wenn
wir diese Fähigkeiten nur auf dem Papier haben.
Die neuartigen Konflikte, insbesondere hybride Kriege, verlangen eben nicht nur militärische Antworten;
vielmehr brauchen wir eine breite Debatte darüber, was
es heißt, mit hybriden Konflikten umzugehen. Im Mittelpunkt wird die Feststellung stehen: Die beste Sicherheit
vor hybriden Kriegen sind Gesellschaften, die im Inneren
stabil und sozial gerecht sind. Deshalb gehören Außenund Sicherheitspolitik, wirtschaftliche Zusammenarbeit,
humanitäre Hilfe unmittelbar zusammen. Dies müssen
wir stärker in den Fokus rücken.
({5})
Lassen Sie mich noch sagen und den Soldatinnen und
Soldaten auch raten: Ihr habt Grund zum Selbstbewusstsein. Der Soldatenberuf hat in der deutschen Gesellschaft
zusammen mit dem Polizistenberuf das höchste Ansehen,
was die Erfüllung der Aufgaben eines Verfassungsorgans
angeht. Wir sagen voll Respekt vor all denjenigen, die in
den letzten 60 Jahren die Bundeswehr mit geprägt und
weiterentwickelt haben ein Dankeschön für dieses Engagement, insbesondere den Soldaten, die zusammen mit
ihren Familien durch Einsätze auch persönliche Entbehrungen auf sich genommen haben und dies gerne taten
und nicht darüber lamentierten.
({6})
Ich habe abschließend noch einen Wunsch: Mein
Wunsch ist, dass dies heute die letzte Feier zu einem
runden Geburtstag der Bundeswehr ist. Mein Wunsch
ist, dass 75 Jahre Bundeswehr anders gefeiert werden,
nämlich in der Form, dass wir darüber reden, dass die
deutschen Streitkräfte ein - wichtiger - Teil einer europäischen Verteidigungsunion sind. Zum 100-jährigen Jubiläum - ich werde es nicht mehr erleben - wünsche ich
mir, dass überhaupt nicht mehr die Bundeswehr gefeiert
wird, sondern dass die Vision einer europäischen Streitkraft endlich wahr geworden ist. Man sieht also: Politik
und Soldaten haben auch in den nächsten 40 Jahren noch
viele Aufgaben zu bewältigen. Wir möchten als Parlament gerne dabei mithelfen.
Herzlichen Dank.
({7})
Die Kollegin Agnieszka Brugger hat nun das Wort für
die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wofür
braucht Deutschland bewaffnete Streitkräfte? Diese Frage wurde nicht nur bei der Gründung der Bundeswehr
kontrovers, ernsthaft und emotional diskutiert, sondern
sie muss auch heute immer wieder neu gestellt und neu
beantwortet werden.
Als die Bundeswehr vor 60 Jahren gegründet wurde,
herrschte Kalter Krieg: Es standen sich zwei Blöcke, bis
an die Zähne bewaffnet, feindlich gesinnt gegenüber.
Diese düsteren Zeiten sind heute zum Glück vorbei, und
Deutschland ist direkt, unmittelbar nur von Freunden
umgeben, und das ist gut.
Heute sind es nicht so sehr zwei Machtblöcke, die sich
gegenüberstehen. Wir sehen häufig auf der Welt nicht
nur zwei Staaten, die auf klassische Art und Weise Krieg
gegeneinander führen; vielmehr werden vor allem Bürgerkriege geführt, in denen verschiedene Gruppen, auch
unter Anwendung von großer Gewalt, von Menschenrechtsverletzungen, um Macht und Einfluss kämpfen.
Wir sehen zerfallende Staaten, hybride Kriegsführung,
Terrorismus.
Die Konflikte auf den anderen Kontinenten dieser
Welt sind uns heute aus vielen Gründen viel näher als
noch vor 60 Jahren. Diese Veränderungen auf der Welt
und diese veränderten Fragen von Frieden und Sicherheit
spiegeln sich auch in den Aufgaben und Strukturen der
Bundeswehr wider.
Aus einer fast 500 000 Mann starken Wehrpflichtarmee ist eine Freiwilligenarmee im Einsatz geworden. In
den letzten Jahren gab es die Einsätze auf dem Balkan
und den Krieg in Afghanistan. Und aktuell gibt es die
Schlepperjagd im Mittelmeer. Es wird gefordert, dass
sich die Bundeswehr im Cyberraum engagiert oder dass
sie jetzt - das ist, wie ich finde, eine sehr abstruse Forderung von der Union - bei der Grenzsicherung in Deutschland eine Aufgabe übernimmt.
({0})
Ebenso aber - auch das haben Sie hier unerwähnt gelassen, Herr Kollege Gehrcke, als Sie von Militarismus
und Krieg gesprochen haben - ist die Bundeswehr heute
in den Friedensmissionen der Vereinten Nationen engagiert, um die Zivilbevölkerung zu schützen, Waffenstillstände abzusichern, Streitkräfte auszubilden, wenn Menschen keinen Schutz haben, Seenotrettung im Mittelmeer
zu betreiben oder - ich finde sehr beeindruckend, was da
derzeit geleistet wird - bei der Unterbringung und Versorgung der Flüchtlinge hier im Land mitzuhelfen.
({1})
Meine Damen und Herren, die Frage nach dem Wofür
muss auch immer die Frage nach den Lehren aus der Vergangenheit beinhalten. Und dann muss man sehen: Der
Krieg in Afghanistan, aber auch die großen Militäreinsätze im Irak und in Libyen, an denen die Bundeswehr nicht
beteiligt war, konnten ihre Ziele nicht erreichen. Sie sind
im Kern gescheitert. Man hat gelernt, dass ein Einsatz,
vielleicht mit der besten Absicht begonnen, am Ende des
Tages zu mehr Gewalt und zu mehr Chaos führen kann.
Die Konflikte dieser Welt lassen sich nicht militärisch
lösen, aber das Militärische kann unter bestimmten, eng
begrenzten Bedingungen einen wichtigen Beitrag zur
kurzzeitigen Stabilisierung oder zum Schutz der Zivilbevölkerung leisten.
({2})
Deshalb ist es so wichtig und auch entscheidend, dass
wir mehr für zivile, diplomatische und entwicklungspolitische Antworten tun, um die Ursachen, die den Konflikten und Krisen zugrunde liegen, zu bekämpfen.
({3})
Meine Damen und Herren, wer dies - und das ist in den
letzten Jahren leider immer wieder geschehen - vernachlässigt, der schickt die Soldatinnen und Soldaten in gefährliche Einsätze mit wenig Aussicht auf Erfolg. Das
muss uns eine Lehre sein und sollte in Zukunft nie wieder
passieren.
({4})
Wir Grüne sind der Auffassung, dass sich die Bundeswehr viel stärker im Rahmen dieser breit aufgestellten
zivil-militärischen Friedensmissionen der Vereinten Nationen - nicht nur mit einem kleinen symbolischen Beitrag - beteiligen sollte. Diese Missionen erreichen durchaus sehr oft ihre Ziele. Sie tragen dazu bei, dass Gewalt
eingedämmt wird und die Zivilbevölkerung geschützt
werden kann.
Es ist klar: Die Frage nach den zukünftigen Aufgaben
der Bundeswehr beinhaltet auch die Frage der Landesund Bündnisverteidigung, gerade in einem Europa, wo
natürlich die Ängste der osteuropäischen Partner spürbar
werden. Natürlich stehen wir auch an ihrer Seite, beispielsweise wenn die Luftraumüberwachung im Baltikum von der Bundeswehr übernommen wird. Es ist aber
doch sicherheits- und finanzpolitisch irrsinnig und eine
absolute Kurzschlussreaktion, liebe Kolleginnen und
Kollegen von der SPD und der Union, wenn Sie jetzt
hier auf einmal wegen der Ukraine-Krise mehr Panzer
fordern.
({5})
Auch ist es verheerend, sich vor der Frage nach den
zukünftigen Aufgaben der Bundeswehr zu drücken. Klar,
es geht nicht um ein simples Entweder-oder; aber es geht
schon um den Schwerpunkt des deutschen sicherheitspolitischen Engagements.
Ein Beleg dafür, dass etwas auch scheitern kann, wenn
man sich mit dieser Frage nicht auseinandersetzt, ist die
Bundeswehrreform. Das bedeutet in der Konsequenz,
dass es zum Beispiel auf der einen Seite zu wenig benötigtes Gerät gibt, während auf der anderen Seite für mehrere Milliarden Euro Waffensysteme beschafft werden,
die sicherheitspolitisch nicht wirklich notwendig sind
und auch nur mit geringer Wahrscheinlichkeit eingesetzt
werden.
Wer die Frage beantworten will, ob die Bundeswehr
nigelnagelneu entwickelte Leopard-Panzer oder ein milliardenschweres Raketenabwehrsystem MEADS braucht
oder ob es nicht doch vielmehr funktionsfähige Hubschrauber, geschützte Fahrzeuge auf höchstem Niveau
und Aufklärungsmittel sein sollen, der muss eben die
Frage nach dem sicherheitspolitischen Fundament und
nach den Kernaufgaben bzw. den zentralen Aufgaben der
Bundeswehr beantworten.
({6})
Frau von der Leyen, Sie haben diese Debatte mit dem
Weißbuchprozess angestoßen und wollten das Versäumnis der Bundeswehrreform an dieser Stelle sozusagen
wieder rückgängig machen. Gleichzeitig aber treffen Sie
wichtige Beschaffungs- und Strukturentscheidungen, mit
denen Sie den von Ihnen selbst angestoßenen wichtigen
Prozess konterkarieren. Das verschärft am Ende des Tages die Probleme bei der Bundeswehr - und löst sie nicht.
({7})
Meine Damen und Herren, die Frage nach dem Wofür
ist immer auch eine zutiefst ethische Frage, die sich selten nur mit Ja oder Nein beantworten lässt; das ist auch
nicht immer schwarz-weiß. Sowohl das Handeln als auch
das Nichthandeln bergen immer eine Verantwortung. Ich
finde, es ist immer wieder spürbar, wenn wir im Parlament über die Auslandseinsätze der Bundeswehr diskutieren, dass es für viele Kolleginnen und Kollegen hier
eine Gewissensentscheidung ist, dass man sich dessen
bewusst ist, dass das Dagegenstimmen und Nichteingreifen genauso schwierig sein kann und genauso verheerende Folgen haben kann wie der Militäreinsatz, den man
auf den Weg bringt.
({8})
Die Bundeswehr als Parlamentsarmee ist ein hohes
Gut und ein großer Wert, weil das für diese umstrittenen
Fragen eine breite demokratische Legitimation ermöglicht. Wir werden deshalb immer allen Versuchen entgegentreten, die Parlamentsbeteiligung auszuhöhlen.
({9})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, am Ende meiner
Rede würde ich gern sagen, warum ich seit Jahren sehr
gern im Verteidigungsausschuss sitze. Wir haben sehr unterschiedliche Meinungen; das haben Sie in dieser Debatte gesehen. Von der Linkspartei bis zur CSU - wir können
uns herrlich streiten. Aber in einem sind wir uns einig,
und das hat mich immer sehr beeindruckt. Uns ist klar,
unabhängig davon, wie wir selber zu einem Auslandseinsatz stehen: Wir haben gemeinsam eine Verantwortung
für die Menschen, die das Parlament, der Bundestag, mit
seiner Mehrheit in gefährliche Auslandseinsätze schickt.
In diesem Konsens haben wir in den letzten Jahren
immer wieder gemeinsam gehandelt, auch gegen Widerstände aus der Regierung. Ich erinnere an die Fragen der
Betreuungskommunikation oder auch an die Frage: Wie
gehen wir mit den Ortskräften aus Afghanistan um? Gewähren wir ihnen großzügig Schutz, oder folgen wir dem
restriktiven Kurs des Innenministeriums? - Ganz besonders möchte ich an dieser Stelle aber eines erwähnen:
Dass in den letzten Jahren bei der Betreuung, Anerkennung und Behandlung von an Körper und Seele Verwundeten so viel getan wurde, das war etwas, was wir alle
zusammen auf den Weg gebracht haben.
({10})
Im Sinne dieses Konsenses möchte ich meinen Dank,
meine Anerkennung und meinen Respekt für diejenigen
Menschen zum Ausdruck bringen, die im Auftrag des
Parlaments für Frieden und Sicherheit ihren Dienst tun.
({11})
Das Wort erhält nun der Kollege Karl Lamers für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Helmut Schmidt war ein großer Politiker und Staatsmann. Wir verneigen uns vor ihm.
Heute vor 60 Jahren, am 12. November 1955, wurde
die Bundeswehr gegründet. Die Gründer wählten einen
Tag mit hoher Symbolwirkung im Hinblick auf die Militärgeschichte: den 200. Geburtstag des preußischen Heeresreformers General Gerhard von Scharnhorst.
Damals war die Bundeswehr alles andere als unumstritten. Das ist durchaus verständlich. Nur etwa zehn
Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs wollten viele
damals ein neutrales Deutschland, ohne eine eigene Armee. Aber schon Wilhelm von Humboldt wusste: Ohne
Sicherheit gibt es keine Freiheit.
Konrad Adenauer war sich dieser Tatsache bewusst
und setzte sich mit seiner Vision der Westbindung
schließlich durch. Diese Entscheidung wurde zu einem
Glücksfall der Geschichte. Es war der Weg zu Freiheit,
Solidarität und Demokratie.
({0})
Andere Staaten, vor allem in Europa, begegneten der
Idee neuer deutscher Streitkräfte zunächst mit Misstrauen. Trotz aller Vorbehalte: Es gelang. Die Bundeswehr
erwarb nach und nach das Vertrauen der Partner. Heute
ist sie in der ganzen Welt hochgeachtet und ein Beispiel
für viele junge Demokratien.
Die Grundsätze der Inneren Führung und das Prinzip
des Staatsbürgers in Uniform wurden zu echten Markenzeichen unserer Streitkräfte, um die uns unsere Partner
beneiden.
Auch im Innern zählt die Bundeswehr heute zu den
angesehensten Institutionen - und das zu Recht. Das
haben sich unsere Soldatinnen und Soldaten im wahrsten
Sinne des Wortes erdient.
({1})
60 Jahre Bundeswehr, das sind 60 Jahre erfolgreiche
Sicherung des Friedens in Freiheit. Unsere Väter und
Großväter hätten sich das sicher nicht vorstellen können.
60 Jahre Bundeswehr heißt auch 60 Jahre Integration in
die westliche Verteidigungsallianz, in die NATO. Der
ehemalige NATO-Generalsekretär und Bundesverteidigungsminister Manfred Wörner sagte einst:
Die Stärke der NATO lag und liegt nach wie vor in
ihrer Wirksamkeit als einer Schicksalsgemeinschaft
der Werte und Interessen.
Daran hat sich bis zum heutigen Tag nichts geändert. Das
Bündnis stand immer für Werte wie Demokratie, Recht
und Freiheit. Unser Land und die Bundeswehr sind stolz
darauf, Teil dieser Wertegemeinschaft zu sein.
Jahrzehnte lag Deutschland an der Nahtstelle des OstWest-Konflikts. Von 1955 bis 1990 hat die Bundeswehr
im sogenannten Kalten Krieg an der Seite ihrer Partner
einen heißen Krieg in Europa verhindert. Zugleich hat
sie zu dem Erfolg beigetragen, den Frieden in Europa zu
sichern - trotz der Konfrontation der Militärblöcke, trotz
der nuklearen Bedrohung. Die transatlantische Bindung
Deutschlands, unsere Verankerung in der NATO, hat
in unseren Partnerstaaten Vertrauen gebildet - in unser
Land, in unsere Demokratie, vor allem auch in unsere
Verlässlichkeit -, letztlich sicherlich auch eine wichtige
Voraussetzung für ihre Zustimmung zur deutschen Einheit.
Zu den größten Leistungen der Bundeswehr - Herr
Otte hat darauf angespielt - zählt ihre Rolle bei der Vereinigung unseres Landes nach 1990. Der Aufbau der
gesamtdeutschen Streitkräfte wurde zu einer wahren Erfolgsgeschichte: Die Bundeswehr, eine Armee der Einheit. Auch in Europa spielt die Bundeswehr eine wichtige
Rolle. Sie beteiligt sich an EU-geführten Missionen auf
unserem Kontinent und in Afrika. Darüber hinaus sind
unsere Soldatinnen und Soldaten auch bei internationalen Friedensmissionen der Vereinten Nationen aktiv.
Von der Präsenzarmee zu Zeiten des Kalten Krieges
hat sich die Bundeswehr zu einer Armee im Einsatz gewandelt. Vor 1990 waren Out-of-Area-Einsätze aufgrund
der politischen Gesamtlage undenkbar. Heute leistet die
Bundeswehr ganz selbstverständlich in internationalen
Missionen einen aktiven Beitrag zu Sicherheit und Frieden. Dazu hat sie bemerkenswerte Fähigkeiten entwickelt, die in unterschiedlichsten Einsätzen gefordert sind.
Denken Sie an unseren Einsatz in Afghanistan, zunächst
im Rahmen von ISAF, jetzt im Rahmen der Mission Resolute Support, die wir verlängern werden. Denken Sie
an unseren Beitrag zur Friedenssicherung im Kosovo,
an die Bekämpfung von Schleusern im Mittelmeer und
die Sicherung der Meeresroute am Horn von Afrika. Ich
denke an unseren Einsatz in Mali und an die Ausbildung
kurdischer und irakischer Kräfte für den Kampf gegen
die Terrormiliz „Islamischer Staat“. Überall leistet die
Bundeswehr einen wichtigen und bedeutsamen Beitrag.
Dafür danke ich ihr.
({2})
Gleichzeitig beschäftigen wir uns mit den Herausforderungen eines sogenannten hybriden Krieges. Die Bundeswehr ist darüber hinaus im Bündnis auf neuen Feldern
der Sicherheitspolitik aktiv. Ich nenne hier den Bereich
Cybersecurity. Das Internet verbindet zwar, schafft aber
auch Gefahren.
Die Bundeswehr hat viele Facetten. Ich denke an die
Hilfeleistung bei Unglücken, Naturereignissen, Waldbränden, Flutkatastrophen und - gerade jetzt, in diesen
Wochen und Monaten - an den Beitrag der Bundeswehr bei der Bewältigung der Flüchtlingssituation. Ich
danke Ihnen, Frau Bundesministerin der Verteidigung,
Frau Dr. von der Leyen, dass die Bundeswehr ein breites
Spektrum an Unterstützungsmaßnahmen in diesem Bereich zur Verfügung stellt. Das hilft den Menschen bei
der Bewältigung dieser großen Herausforderungen. Ich
danke Ihnen.
({3})
Meine Damen und Herren, viele Menschen haben bis
vor nicht allzu langer Zeit - Herr Gehrcke, Sie gehören
offensichtlich dazu - tatsächlich geglaubt, die Bundeswehr weiter abrüsten oder abschaffen zu können.
({4})
Das können wir nicht. Die Bundeswehr ist heute wichtiger denn je. Wenn Sie davon träumen, dass Deutschland aus der NATO aussteigen könnte, dann sage ich
Ihnen - ich spreche hier sicherlich nicht nur für die
meisten Mitglieder dieses Hauses, sondern auch für über
300 Parlamentarier der Parlamentarischen Versammlung
der NATO -: Wir brauchen heute - gerade heute - die
NATO. Sie ist der Garant für Sicherheit und Freiheit in
bedrohlicher Zeit, meine Damen und Herren.
({5})
Die völkerrechtswidrige Annexion der Krim durch
Putins Russland hat die euroatlantische Sicherheitsarchitektur von einem auf den anderen Tag fundamental geändert. Eine längst überwunden geglaubte Konfrontation
mitten in Europa gefährdet unsere Zukunft und unseren
Frieden. Entschlossenheit und glaubwürdige Bündnisverteidigung sind jetzt wieder das Gebot der Stunde.
Jahrzehntelang konnten wir uns auf unsere Bündnispartner verlassen. Jetzt ist unsere Solidarität gegenüber den
Mitgliedern gefordert, die sich heute bedroht fühlen.
Mit den auf dem NATO-Gipfel in Wales 2014 vereinbarten Maßnahmen zur Rückversicherung stärken wir
die Kernfunktion des Bündnisses, die kollektive Verteidigung unseres Bündnisgebietes. Mit einer Schnellen Eingreiftruppe werden die Einsatzbereitschaft und Flexibilität des Bündnisses deutlich erhöht. Deutschland, meine
Damen und Herren, leistet bei alldem substanzielle Unterstützung und übernimmt als Rahmennation eine fühDr. Karl A. Lamers
rende Rolle. Das stärkt das Bündnis und festigt zugleich
unser Ansehen in der Allianz.
Meine Damen und Herren, General von Scharnhorst
formulierte vor mehr als 200 Jahren den Anspruch:
Tradition in der Armee hat es zu sein, an der Spitze
des Fortschritts zu marschieren.
An dieser Maxime orientieren wir uns, orientieren Sie
sich, Frau Bundesministerin. Für die Bundeswehr und
ihre Soldatinnen und Soldaten ist es steter Anspruch,
nach vorne zu blicken und die Herausforderungen der
Zukunft anzunehmen.
In dieser Stunde denken wir ganz besonders an die im
Kampf Gefallenen und die vielen an Körper und Seele
verwundeten Soldatinnen und Soldaten sowie an ihre
Angehörigen. Im Namen meiner Fraktion danke ich ihnen von Herzen für ihren Dienst und spreche den Familien meine tiefempfundene Anteilnahme aus. Unseren Soldatinnen und Soldaten, den zivilen Mitarbeiterinnen und
Mitarbeitern, die in den letzten 60 Jahren Dienst in der
Bundeswehr geleistet haben und aktuell leisten, insbesondere denen, die im Auslandseinsatz sind, gelten mein
Respekt und meine Hochachtung.
Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.
Sie leisten Großartiges. Wir wünschen ihnen Erfolg
und vor allem Gottes Segen bei der Erfüllung ihrer Aufgaben.
Ich danke Ihnen.
({0})
Christine Buchholz ist die nächste Rednerin für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als vor
60 Jahren die ersten Rekruten ihre Ernennungsurkunden
erhielten, sagte man ihnen, es ginge nur um Verteidigung, es ginge um die Bedrohung aus der Sowjetunion
und dem Ostblock - sonst nichts. Deshalb war auch die
Hoffnung auf Frieden und Abrüstung so groß, als 1989
die Mauer viel.
Doch nur zehn Jahre später waren deutsche
Kampfflugzeuge wieder an einem Krieg in Europa beteiligt, dem Angriff auf Jugoslawien. Weitere zehn Jahre
später, 2009, hat ein deutscher Oberst im afghanischen
Kunduz einen Bombenangriff auf zwei liegengebliebene
Tanklaster befohlen. Über 100 Zivilisten, darunter viele
Kinder, verbrannten in dem Inferno.
25 Jahre nach der Wiedervereinigung ist Deutschland
nicht friedlicher geworden. Stattdessen haben alle Bundesregierungen seitdem die Bundeswehr in internationale Kriegs- und Kriseneinsätze hineingetrieben. Die Linke
hält das für grundfalsch.
({0})
Wenn heute Stimmen laut werden, man solle den Einsatz
in Afghanistan ausweiten, das Mandat erweitern und es
näher an die tatsächlichen Kriegshandlungen heranführen, dann sagen wir Nein.
({1})
In den Verteidigungspolitischen Richtlinien von 1992
wurde die Weichenstellung der Neuausrichtung der Bundeswehr so begründet: Deutschland sei eine „kontinentale Mittelmacht“ mit „weltweiten Interessen“. Sie reichten von der „Aufrechterhaltung des freien Welthandels“
bis zum „ungehinderten Zugang zu Märkten und Rohstoffen“. Zwei Jahre später, 1994, hat das Bundesverfassungsgericht das dann für verfassungsgemäß erklärt,
obwohl die Bundeswehr laut Grundgesetz eine Verteidigungsarmee ist. So sind die Machtverhältnisse in diesem
Land: Zunächst werden geostrategische und wirtschaftliche Interessen definiert, dann wird die Armee umgebaut,
und am Ende ist es Recht. Das ist nicht akzeptabel.
({2})
Glücklicherweise haben die Bundesregierungen seit
jeher ein Problem: Die Mehrheit der Bevölkerung lehnt
die Auslandseinsätze der Bundeswehr ab. 1991 rief die
geplante Unterstützung des zweiten Golfkriegs Widerstand hervor - in der Bevölkerung, aber auch bei Soldaten. Der damalige Generalinspekteur, Dieter Wellershoff,
fragte - Zitat -, ob wir nicht den Gedanken an Krieg, Tod
und Verwundung zu weit in den Hintergrund geschoben
haben. Der damalige Verteidigungsminister Rühe räumte 1992 ein, dass die Bürger nicht auf Auslandseinsätze
vorbereitet seien. „Deswegen“, so Rühe damals wörtlich,
„müssen wir Schritt für Schritt vorgehen.“
({3})
So ist es gekommen. Deutsche Streitkräfte wurden seitdem in rund 40 Auslandseinsätze geschickt, erst in kleine, dann in immer größere. Aber die allermeisten Menschen in Deutschland wollen sich nicht wieder an Krieg,
Tod und Verwundung gewöhnen, und ich werde es auch
nicht.
({4})
Die Bundeswehr hat nichts im Ausland zu suchen,
nicht im ehemaligen Jugoslawien, nicht in Afghanistan,
nicht in Mali, auch nicht im Irak. Diese Auslandseinsätze
sind so unbeliebt, dass es der Bundeswehr an Personal
fehlt. Deshalb hat Frau von der Leyen gerade 10 Millionen Euro für eine neue PR-Kampagne, mit der bei jungen
Leuten für eine Karriere bei der Bundeswehr geworben
wird, ausgegeben. „Krisenherde löschst du nicht mit Abwarten und Teetrinken“, heißt es da.
Meine Damen und Herren, Deutschland schafft die
Krisenherde selbst mit. Deutschland ist einer der größten Waffenexporteure der Welt. Die Bundesregierung
ist eine der treibenden Kräfte hinter einer weltweiten
Freihandels politik, die Millionen Menschen den Boden
unter den Füßen wegzieht und ins Elend treibt. Und Sie
erwecken hier den Eindruck, man könnte die selbst mitverursachten Krisen der Welt mit Militär lösen. Das ist
zynisch.
({5})
An die Grünen, aber auch an Herrn Lamers gerichtet,
sage ich: Wir glauben nicht, dass die Seenotrettung und
letztlich auch die Flüchtlingshilfe oder die Bekämpfung
von Waldbränden Aufgaben der Bundeswehr sind.
({6})
Wir brauchen den Aufbau von zivilen Hilfsstrukturen,
eines zivilen Katastrophenschutzes.
({7})
Frau von der Leyen hat im Februar mit Blick auf das
Weißbuch 2016 gesagt - ich zitiere -:
Unsere Interessen haben keine unverrückbare Grenze, weder geografisch noch qualitativ.
Deswegen kennt auch die Aufrüstung keine Grenzen
bei teuren Großprojekten wie Panzern, dem A400M oder
einer europäischen Kampfdrohne. Wir wollen nicht, dass
Steuermilliarden in die Rüstung gesteckt werden. Abrüstung ist das Gebot der Stunde!
({8})
Wir wollen auch nicht, dass junge Menschen für Interessen, die nicht ihre eigenen sind, in internationale Bundeswehreinsätze geschickt werden; denn sie sind es, die
Soldatinnen und Soldaten, die den Preis bezahlen, wenn
sie verwundet, traumatisiert oder tot aus den Einsätzen
zurückkommen.
60 Jahre Bundeswehr sind 60 Jahre Widerstand gegen
Militarisierung und Krieg: gegen die Wiederbewaffnung,
den NATO-Doppelbeschluss, gegen die Auslandseinsätze, aber auch gegen die Rekrutierungsversuche der Bundeswehr an Schulen und vor Arbeitsämtern.
({9})
Daran knüpft die Linke an. Sie können sich darauf verlassen: Der Widerstand wird weitergehen.
({10})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Wolfgang Hellmich
für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe, verehrte Soldatinnen und Soldaten und
zivile Mitarbeiter der Bundeswehr, die Sie heute bei dieser Sitzung des Bundestages dabei sein können! Gestern
Abend durften wir den Großen Zapfenstreich anlässlich
des 60-jährigen Bestehens der Bundeswehr vor dem
Reichstag erleben. Das war ein besonderes Ereignis, das
bewegt hat. Vor und in dem Haus des deutschen Volkes
ist das Selbstverständnis der Bundeswehr „Wir. Dienen.
Deutschland.“ besonders lebendig geworden; das war
überzeugend. Vielen Dank für dieses Erlebnis, das gezeigt hat, dass die Bundeswehr als fester und verlässlicher Teil zu unserer demokratischen Gesellschaft gehört
und dieses Parlament verlässlich zu seiner Bundeswehr
steht.
({0})
Ich möchte dies zum Anlass nehmen, um im Namen
aller Mitglieder des Verteidigungsausschusses des Deutschen Bundestages allen aktiven und ehemaligen Soldatinnen und Soldaten sowie allen zivilen Mitarbeiterinnen
und Mitarbeitern für ihren Dienst in den Streitkräften
ganz herzlich zu danken.
({1})
Ich möchte auch denen danken, ohne deren Rückhalt und
Unterstützung unsere Soldatinnen und Soldaten ebenso
wie die zivilen Beschäftigten diesen so besonderen und
einmaligen Beruf nicht ausüben könnten: den Partnerinnen und Partnern, ihren Eltern, ihren Kindern, ihren Familien.
({2})
Ich möchte noch zwei weitere Adressaten in den Dank
mit einschließen, die sich in vielen Jahren kritisch und
auch konstruktiv mit der Bundeswehr auseinandergesetzt
haben. Vielen Dank an unsere Kirchen, deren Militärpfarrer in den Einsätzen viel gute und wertvolle Arbeit
für die Soldatinnen und Soldaten geleistet haben. Mit ihren kritischen Beiträgen zu dem, was die Bundeswehr in
unserer Gesellschaft leisten soll, haben sie immer wieder
Denkanstöße gegeben, die uns eine konstruktive, nach
vorne gerichtete Diskussion gebracht haben, die an dem
Friedensgebot unserer Verfassung orientiert ist. Das Thema „Frieden schaffen“ stand und steht über diesen Debattenbeiträgen.
({3})
Ich möchte denjenigen danken, die in besonderer Weise unsere demokratische Bundeswehr verkörpern: dem
BundeswehrVerband, den Gewerkschaften, den Beamten, die in der Bundeswehr ihren demokratischen Dienst
leisten. Sie alle haben sich unter Beteiligung der Soldaten intensiv zum Wohle und im Interesse der Bundeswehr
kritisch mit ihr auseinandergesetzt.
Seit ihrer Gründung vor nunmehr 60 Jahren hat die
Bundeswehr einen einmaligen Transformationsprozess
vollzogen. Die deutschen Streitkräfte dienten lange Zeit
ausschließlich zur Verteidigung. Jahrzehntelang galt der
Einsatz der Bundeswehr als schwer denkbarer Ernstfall,
nur im Kalten Krieg vorstellbar. Mit dessen Ende und
dem Erringen der deutschen Einheit haben sich die Aufgabe und Rolle Deutschlands und die seiner Bundeswehr
grundlegend verändert. War es gerade noch die Befürchtung, die uns alle bewegt hat, zum atomaren Schlachtfeld
zu werden, so schien nun die Konfrontation in Europa
überwunden.
Das Thema Abrüstung und Rüstungskontrolle spielt
eine ganz wesentliche Rolle, auch bei der Bundeswehr.
Wenn wir in diesem Jahr entscheiden, einen neuen Flieger im Zuge von Open Skies einzusetzen, dann sehen
wir, welche wichtigen Beiträge die Bundeswehr im Betrieb eines solchen Systems, aber auch in Bezug auf die
Verifikation der Abrüstungspolitik in Europa und darüber hinaus geleistet hat, dann sehen wir das ganze breite
Spektrum dessen, was die Bundeswehr bis heute erreicht
hat; und erreicht haben wir dieses nur im Bündnis mit
anderen Partnern innerhalb der NATO, im transatlantischen Bündnis.
Die erst vor einem Vierteljahrhundert gewonnene volle Souveränität hat einen Veränderungsprozess in unseren Streitkräften in Gang gesetzt, der mit dem Bekenntnis
Deutschlands zu mehr Verantwortung einen Höhepunkt,
sicher aber keinen Abschluss gefunden hat. Wäre es vorher denkbar gewesen, dass in Afghanistan amerikanische
Truppen unter deutschem Befehl stehen? Ich möchte an
dieser Stelle hinzufügen: Ich bin froh, dass wir in Afghanistan bleiben und das afghanische Volk nicht alleine
lassen. Wir müssen mit unseren Partnern weiterhin einen
wichtigen Beitrag zur Verbesserung der Situation vor Ort
leisten.
({4})
Wäre es denkbar gewesen, dass Deutschland mit einem Framework Nations Concept anderen Nationen
als verlässliche Anlehnungsnation zur Verfügung steht?
Wäre es vorstellbar gewesen, dass ein niederländisches
und ein deutsches Heer Schritt für Schritt miteinander
verschmelzen? Sicher nicht. Wir haben in den Jahren der
Ausfüllung der vollen Souveränität viel erreicht, und wir
sind bereit, mehr Verantwortung in dieser Welt, vor allem
in Europa, zu übernehmen. Diese neu gewonnene Souveränität auszufüllen mit dem verfassungsmäßigen Rahmen
des Grundgesetzes, mit der demokratischen Verfasstheit
der Bundeswehr, mit der Parlamentsarmee, mit dem Parlamentsvorbehalt und mit der Bündnisorientierung, das
war eine große Herausforderung, die uns, so bin ich überzeugt, gelungen ist. Die Erfahrung im Einsatz, zivil und
militärisch, ist Ausdruck davon, welchen Fortschritt wir
in der Politik und in der Bundeswehr gemacht haben.
In den Gesprächen mit den Soldatinnen und Soldaten kommt immer wieder zum Ausdruck, dass sie die
besondere Verantwortung des Parlamentes schätzen und
die verlässliche Ausfüllung dieser Verantwortung auch
einfordern. Sie sind es, die uns mit ihrer Erfahrung im
Einsatz immer wieder zeigen, in welche Richtung die
Entwicklung gehen muss.
Heute ist unser Land von Freunden und Partnern umgeben. Die Verteidigungsfähigkeit Deutschlands sowie
die Beistandsfähigkeit im Bündnis zu erhalten, das sind
weiterhin die zentralen Aufgaben der Bundeswehr. Dafür
benötigen wir nicht nur motivierte und gut ausgebildete
Soldatinnen und Soldaten, sondern auch das nötige Gerät. Wir müssen das Versprechen, das wir den Soldatinnen und Soldaten gegeben haben, sie entsprechend auszurüsten und zu qualifizieren, einhalten. Wir müssen uns
um sie kümmern.
Als Teil der Exekutive untersteht die Bundeswehr
dem Kommando der Bundesregierung, wird aber zugleich durch das Parlament kontrolliert und legitimiert.
Wie Sie, verehrter Herr Bundestagspräsident, betonen,
gibt es weltweit kein zweites Beispiel für eine derartige parlamentarische Verankerung einer Armee in einem
demokratischen Staat. Der Verteidigungsausschuss mit
Verfassungsrang, das Budgetrecht und die starke und fast
alleinige Rolle des Parlamentes bei der Entscheidung
über die Entsendung bewaffneter Streitkräfte ins Ausland machen die starke Stellung des Parlamentes bei der
Gestaltung und der Rahmensetzung für die Bundeswehr
sehr deutlich.
Laut einer 2013 vom Zentrum für Militärgeschichte
und Sozialwissenschaften der Bundeswehr durchgeführten Umfrage sind 77 Prozent der Bevölkerung der Auffassung, dass die Bundeswehr wichtig für Deutschland
ist. Neun von zehn Befragten halten es für selbstverständlich, dass Deutschland eigene Streitkräfte hat, und
betrachten die Bundeswehr als einen festen Bestandteil
unserer Gesellschaft und unseres demokratischen Staates. Das sind genau die Prozentzahlen, die Ihre Position
nicht teilen, und ich bin froh darüber.
({5})
So gilt es, unsere Streitkräfte als eine Bundeswehr zu
verstehen, die sich aus Soldatinnen und Soldaten, Beamtinnen und Beamten, Tarifbeschäftigten und Auszubildenden zusammensetzt. Sie alle dienen dem Schutz
unseres Landes und seiner Menschen.
Auch ich möchte hier an all diejenigen erinnern, die
in Ausübung ihres Auftrages für unser Land ums Leben
gekommen, gefallen sind. Ihnen und ihren Angehörigen
gehören unser besonderer Dank, unsere Anerkennung
und unsere stete Erinnerung. Die Gedenkstätte bei Potsdam ist ein schöner und guter Ort, an dem wir dieses auch
leben können.
({6})
Der Dienstherr Bundeswehr sowie wir als Parlamentarierinnen und Parlamentarier müssen für unsere Soldatinnen und Soldaten sorgen, sei es im Grundbetrieb, sei es
bei der Ausbildung, im Einsatz oder danach. Ohne eine
verlässliche und funktionierende Betreuung wird es nicht
gehen. Es ist vielleicht der besonderen Verantwortung des
Parlamentes geschuldet, dass der Schutz der Soldatinnen
und Soldaten im Einsatz und ihre schnelle Versorgung
im Einsatz einen besonders hohen Stellenwert haben.
Auch unsere Partnernationen und ihre Soldatinnen und
Soldaten profitieren von dieser besonderen Fähigkeit der
Bundeswehr; oftmals verlassen sie sich darauf. Das ist
ein Ausweis für das, was wir im und als Parlament in der
Bundeswehr und mit der Bundeswehr entwickelt haben.
Dass wir erst mit der Zeit mit Entschädigungsregeln
und mit Einsatzregeln die nötigen Maßnahmen für die
Soldatinnen und Soldaten im Einsatz geschaffen haben,
ist Bestandteil des verantwortungsvollen Ausfüllens unWolfgang Hellmich
serer neuen Souveränität. Truppenärzte, Sozialarbeiter,
Psychologen, Betreuungspersonen und viele andere leisten da unschätzbare Dienste.
Mit der Verabschiedung des Bundeswehr-Attraktivitätssteigerungsgesetzes wie mit dem 7. Besoldungsänderungsgesetz setzen wir den Kurs des Ausbaus des
Systems Bundeswehr in die Zukunft konsequent fort und
leisten an der Stelle, glaube ich, vieles, was unsere Soldatinnen und Soldaten auch so sehen. Sie entscheiden
sich für den Dienst bei der Bundeswehr dann, wenn wir
ihnen klar sagen, auf welchen Dienst sie sich bewerben,
wenn wir ihnen klar sagen, was sie im Berufsleben erwartet, und wenn wir sicherstellen können, dass sie dort
eine Perspektive haben. In den drei Säulen der Landesverteidigung, im Einsatz im Bündnis und jetzt auch in der
Flüchtlingshilfe muss die Bundeswehr mit gutem Material, mit guter Ausbildung und einer beruflichen und sozialen Perspektive in die Zukunft weiterentwickelt werden.
Die Bundeswehr, inzwischen ein selbstverständliches
Mittel der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik, genießt international einen hervorragenden Ruf. Bei vielen
Besuchen von Parlamentarierinnen und Parlamentariern
anderer Parlamente in Europa und auch von Australien,
Tunesien und anderen Ländern werden wir immer wieder gefragt: Wie organisiert ihr das? Wie macht ihr das?
Wie geht ihr als Parlament damit um? Wie habt ihr das
verankert? Wir können ihnen immer nur eines sagen: Die
starke Stellung des Parlamentes bei den Entscheidungen
für Einsätze der Bundeswehr - Stichwort „Verfassungsrang“ - ist der Ausgangspunkt dafür, dass wir vieles miteinander gestalten können, dass wir mit der Regierung
einen konstruktiven Dialog führen. Dabei steht immer
im Mittelpunkt, die Bundeswehr weiterzuentwickeln und
sich um die Soldatinnen und Soldaten und die zivilen
Mitarbeiter zu kümmern.
Ein neues Weißbuch zur Lage, ein neues Lagebild,
das wir dort aufschreiben werden, wird, denke ich, dieses
zum Ausdruck bringen. Es wäre gut, wenn dieser Weißbuchprozess nicht nur einmal geschehen würde, sondern
permanent.
Wenn wir über eine europäische Armee als Perspektive reden - ich glaube, gebaut wird diese Armee von
unten -, denke ich immer an die Militärmusiker. Sie
alle spielen dieselben Noten und dieselbe Musik, haben
aber sehr unterschiedliche Uniformen an. So stelle ich
mir auch eine europäische Armee in der Zukunft vor, die
dasselbe tut, die dieselben Grundlagen hat und sich in
dieselbe Richtung entwickelt. Ich glaube, das ist die Perspektive, die wir haben.
Wer weiß, was er will, der weiß, was er tun muss.
Ich gehe davon aus, dass wir uns klar in diese Richtung
bewegen. Ich möchte gerade zum heutigen Tage daran
erinnern, dass die Bundeswehr zu den 70 Jahren der Erfahrung von Frieden einen ganz wesentlichen Beitrag geleistet hat. So soll es auch weiterhin sein.
Vielen Dank und Glück auf!
({7})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun die
Kollegin Doris Wagner das Wort.
Werte Kollegen! Liebe Kolleginnen! Liebe Soldatinnen und Soldaten auf den Rängen, Ihnen möchte ich
heute stellvertretend für die Bundeswehr zum Geburtstag
gratulieren und Ihnen sehr herzlich für Ihren Einsatz und
Ihr Engagement danken.
({0})
Es gibt eines, das unsere Streitkräfte in ganz besonderer Weise auszeichnet: die Innere Führung. Im Zentrum
der Inneren Führung steht der einzelne Soldat, die einzelne Soldatin. Sie sollen sich im eigenen Handeln nie allein
an militärischen Befehlen orientieren, sondern auch am
eigenen Gewissen und an den Werten des Grundgesetzes:
an Freiheit, Demokratie und Menschenrechten.
Die Bundeswehr muss deshalb ihren Angehörigen diese Werte, für die sie einstehen sollen, auch vermitteln.
Eine besondere Rolle spielt dabei die Schulung am Zentrum Innere Führung. Aber mindestens genauso wichtig
ist es für die Soldatinnen und Soldaten, dieses Prinzip im
täglichen Geschehen mit Leben zu füllen: im persönlichen Gespräch, in Diskussionen am Standort.
Warum soll die Bundeswehr in Bürgerkriege in Afrika
eingreifen? Was ist von Guantánamo und Abu Ghuraib
zu halten? Ein Austausch über solche Fragen ist ganz im
Sinne der Inneren Führung. Allerdings habe ich Sorgen,
dass diese Form der politischen und ethischen Bildung
künftig zu kurz kommen wird. Denn damit Vorgesetzte
und Soldatinnen und Soldaten darüber diskutieren können, was in der Welt passiert und welche Antworten wir
darauf haben, braucht es Zeit. Genau die ist aber an vielen Standorten Mangelware, ganz besonders nach der
jüngsten Bundeswehrreform. Denn der Plan, die Bundeswehr drastisch zu verkleinern, gleichzeitig aber das
Fähigkeitsspektrum und die geografische Verteilung in
der Fläche beizubehalten, kann nur aufgehen, weil die
Bundesregierung eine dauerhafte Überlastung der Bundewehrangehörigen in Kauf nimmt. Die Lage, meine
Damen und Herren, wird sich in absehbarer Zeit nicht
verbessern, ganz im Gegenteil.
Die Verteidigungsministerin hat in jüngster Zeit einiges unternommen, um die Arbeitsbedingungen in der
Bundeswehr attraktiver zu machen. Soldatinnen und Soldaten sollen weniger arbeiten und ihre Arbeitszeit flexibler gestalten können. Diese Neuerungen begrüßen wir
Grüne ganz ausdrücklich.
({1})
Aber gerade weil wir die Attraktivitätsagenda der
Ministerin unterstützen, wollen wir die Augen auch vor
möglichen Folgen nicht verschließen: Durch die europäische Arbeitszeitrichtlinie, durch Teilzeit- und Telearbeit
wird der Personal- und Zeitmangel an vielen Standorten
zusätzlich verschärft. Ich fürchte, der ständigen Zeitnot
wird zuallererst die Zeit für Reflexion zum Opfer fallen.
Werte Kolleginnen und Kollegen, wir dürfen nicht hinWolfgang Hellmich
nehmen, dass die Attraktivitätssteigerung auf Kosten der
Inneren Führung geht.
Wir sollten auch die problematischen Folgen der Attraktivitätsagenda offen ansprechen. Deshalb frage ich
Sie, Frau Ministerin: Wie wollen Sie die Konsequenzen
abfedern, die die neuen Arbeitszeitmodelle in der Praxis
nach sich ziehen? Wie wollen Sie verhindern, dass Personal- und Zeitmangel die bewährte interne Selbstreflexion
der Bundeswehr unmöglich machen? Die Antworten auf
diese Fragen können meiner Ansicht nach nur darin liegen, endlich die logische Konsequenz aus der erfolgten
Verkleinerung der Bundeswehr zu ziehen. Wir brauchen
eine stärkere Konzentration, eine bessere Fokussierung
bei den Fähigkeiten und Strukturen.
Die Innere Führung ist im internationalen Vergleich
der Armeen einzigartig. Für uns Grüne ist und bleibt sie
Grundvoraussetzung für die Existenz und den Einsatz
unserer Streitkräfte. Wir sollten deshalb alles dafür tun,
dass unsere Soldatinnen und Soldaten dieses Prinzip täglich mit Leben füllen können.
Herzlichen Dank.
({2})
Ingo Gädechens ist der nächste Redner für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Geburtstage sind immer schön, besonders runde.
({0})
Bei den Menschen geht damit einher, dass wir älter werden, der eine oder die andere erfahrener, und hoffentlich
werden wir mit jedem Lebensjahr auch ein gut Stück
schlauer.
Wir begehen heute den 60. Geburtstag unserer Bundeswehr und können sagen: Unsere Streitkräfte sind erwachsen geworden; der heutige Tag gilt als die offizielle
Geburtsstunde. Seit ihrer Gründung garantiert sie die Sicherheit Deutschlands und hat sich gleichzeitig zu einer
international respektierten Armee entwickelt.
Die Bundeswehr musste sich in den vergangenen
sechs Jahrzehnten immer wieder auf neue Sicherheitslagen einstellen und vielfältige Aufgaben bewältigen. Sie
hat den Wandel - wir hörten es - von einer reinen Verteidigungsarmee über die Armee der Einheit zur Armee im
Einsatz vollzogen und sich dabei international bewährt.
Auch bei nationalen Katastrophen konnten und können wir uns auf die helfenden Hände der Soldatinnen
und Soldaten der Bundeswehr verlassen. Bei dem Thema
Katastrophenhilfe erinnere ich mich an meinen eigenen
Einsatz als sehr junger Soldat bei der Schneekatastrophe 1978/79, von der meine Heimatinsel Fehmarn und
ganz Norddeutschland in besonderer Weise betroffen
waren.
Meine Damen und Herren, wir begehen heute den
60. Jahrestag der Gründung der Bundeswehr. Dies ist für
mich auch Teil einer sehr persönlich erlebten Geschichte. Über 30 Jahre, also mehr als die Hälfte dieser Zeit,
diente ich in dieser unserer Bundeswehr. Meine Zeit als
Berufssoldat hat mich nicht nur erfüllt, sondern mir persönlich auch viel gegeben. Sie hat mich geprägt und auch
ein Stück weit zu dem Menschen werden lassen, der ich
heute bin.
Der Soldatenberuf ist kein Beruf wie jeder andere.
Er ist viel weniger Beruf als vielmehr Berufung. Meine
Dienstzeit war prägend, weil ich mit meinen Kameraden
in vielen Bereichen an Leistungsgrenzen herangeführt
wurde, und dabei habe ich schnell erkannt, dass es in der
Bundeswehr zwar durchaus Einzelkämpfer gibt, Teamgeist und Teamarbeit aber grundsätzlich schneller und
besser zum Erfolg führen.
In meiner Dienstzeit habe ich Kameradschaft erleben
dürfen, die so in unserer Gesellschaft nur noch sehr selten
erlebbar ist. Dafür bin ich heute noch überaus dankbar.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist nicht nur sehr
komfortabel, in einer Demokratie wie unserer leben zu
dürfen, es ist auch wichtig, zu erkennen, dass man zur Sicherung unserer Werte und unserer freiheitlichen Grundordnung etwas leisten muss. Viele Soldatengenerationen
folgten und folgen dem Ruf: „Tu was für dein Land“.
Alle haben einen aktiven Beitrag zur Sicherung unserer
Demokratie geleistet. Mit ihrem Eid haben sie sich verpflichtet, der Bundesrepublik Deutschland treu zu dienen
und das Recht und die Freiheit des deutschen Volkes tapfer zu verteidigen.
Der Soldatenberuf ist somit kein Beruf wie jeder
andere. 180 000 Kameradinnen und Kameraden haben
sich derzeit an diesen Eid gebunden und dienen heute
gemeinsam mit weit über 70 000 Zivilangestellten, um
Deutschlands Sicherheit zu gewährleisten.
Jede Soldatin und jeder Soldat ist bereit, im schlimmsten Fall sein Leben für unser Land und unsere Sicherheit zu riskieren. Deshalb haben unsere Soldatinnen und
Soldaten auch nicht nur die Anerkennung der deutschen
Bevölkerung, sondern auch die uneingeschränkte Hochachtung unserer ganzen Gesellschaft mehr als verdient.
({1})
Eine erfolgreiche Sicherheitspolitik mit der Bundeswehr kann nur gelingen, wenn das Volk hinter den Bundeswehrsoldaten steht. Es geht gerade auch um die positive geistige Haltung des Volkes zu seinen Streitkräften.
Tatsächlich verfolgt ein Teil der Gesellschaft in
Deutschland die Einsätze der Bundeswehr leider nur mit
freundlichem Desinteresse. Deshalb werbe ich als Abgeordneter unermüdlich dafür, dass sich der Geist, mit dem
wir als Bürger der Bundeswehr gegenübertreten, ein gut
Stück ändert. Die Bundeswehr gehört - das ist die feste
Meinung meiner Fraktion, der CDU/CSU - in die Mitte
unserer Gesellschaft. Sie gehört an die Schulen, an die
Hochschulen, in die Universitäten und auf öffentliche
Plätze, wie gestern hier vor dem Reichstagsgebäude.
({2})
„Unsere Soldaten“: Das sagt sich leicht. Das heißt
aber auch, wir müssen Anteil an ihren Leistungen, an ihren Ängsten und an ihren Sorgen und Nöten nehmen. Wir
müssen viel mehr öffentliche Debatten über Einsätze der
Bundeswehr führen. Und wir sind aufgefordert, uns noch
mehr um unsere Soldaten, aber auch um die Familienangehörigen zu kümmern, die diesen besonderen Dienst an
unserem Land auf ihre Weise mittragen.
Meine Damen und Herren, als ich vor mehr als 30 Jahren meinen Dienst in der damaligen Bundesmarine antrat, die sich heute „Deutsche Marine“ nennt, war die
Bundeswehr noch eine reine Verteidigungsarmee. Die
Entwicklung der Bundeswehr zu einer weltweit operierenden Einsatzarmee war und ist unausweichliche Folge
der derzeitigen Konflikte und Kriege, welche teils direkt
an Europas Grenzen stattfinden. Wir sehen an der aktuellen Flüchtlingskrise, wie die Folgen dieser Konflikte
auch dramatische Auswirkungen in Europa und gerade
hier in Deutschland haben. Die internationale Staatengemeinschaft erwartet, dass sich Deutschland auch militärisch einbringt.
Die hohe Motivation unserer Soldatinnen und Soldaten ist auch dem Selbstverständnis der Bundeswehr geschuldet: „Wir. Dienen. Deutschland.“ Dieses Selbstverständnis galt schon zu meiner Dienstzeit.
Nach wie vor gilt das zentrale Leitbild des Staatsbürgers in Uniform: Bürger dienen in der Bundeswehr Bürgern. Die Bundeswehr gründet ebenfalls auf dem Prinzip
der Inneren Führung. Diese Art der Führung, die unsere Soldaten von Beginn an verinnerlichen, beantwortet
Fragen nach Sicherung der Grundrechte des Soldaten
und setzt notwendige militärische Erfordernisse in ein
vernünftiges Verhältnis dazu. Beide Prinzipien hat die
Bundeswehr verinnerlicht, und beide haben ihr Selbstverständnis geprägt.
Meine Damen und Herren, als ehemaliger Berufssoldat ist es mir jetzt als Abgeordneten besonders wichtig,
immer wieder mit jungen Kameradinnen und Kameraden
ins Gespräch zu kommen. Ich bin stets tief beeindruckt
von ihrer Ernsthaftigkeit, von ihrem Selbstbewusstsein,
von ihrem Pflichtgefühl und von ihrer Verbundenheit mit
unserem Land und seinen Werten, aber auch von ihrer
Gelassenheit in Kenntnis aller Risiken. Sie sind sich der
Gefahren bewusst, dabei voller Mut und Zuversicht. All
das gibt uns die Gewissheit: Wir können uns auf unsere Soldatinnen und Soldaten, wir können uns auf unsere
Bundeswehr verlassen.
Herzlichen Glückwunsch deutsche Bundeswehr!
({3})
Florian Hahn von der CDU/CSU-Fraktion ist der letzte Redner in dieser Debatte.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Am 30. Oktober 1995 sprach der damalige
bayerische Ministerpräsident Dr. Edmund Stoiber anlässlich des feierlichen Gelöbnisses von Rekruten aus
ganz Bayern, das gleichzeitig die bayerische Feier zum
40-jährigen Bestehen der Bundeswehr in Bayern darstellte:
Ohne die Bundeswehr, ohne eigenen Verteidigungsbeitrag wäre die Bundesrepublik Deutschland nicht
zu dem geworden, was sie heute ist: ein wiedervereinigtes, freies und im Verhältnis zu den übrigen
Staaten der Erde wohlhabendes Land, ein geachtetes Mitglied der Völkergemeinschaft. Ich will gerade im Jahr 1995 darauf aufmerksam machen, dass
vor 50 Jahren Deutschland ein geächtetes Land war.
Dass wir in fünf Jahrzehnten miteinander so viel
erarbeiten konnten, verdanken wir unseren Verbündeten, der Einsatzbereitschaft der Bürgerinnen und
Bürger in unserem Land und vor allem auch der
Bundeswehr.
Ich war an diesem Abend selbst Rekrut und von der
Rede tief bewegt, allerdings auch irgendwie froh, als die
ganzen Reden vorbei waren und wir endlich zum Gelöbnis kamen. Schließlich ist es durchaus anstrengend gewesen, über eine Stunde in Reih und Glied angetreten
zu sein.
Ministerpräsident Stoiber sagte weiter:
Ihr Gelöbnis findet in einem historisch denkwürdigen Moment statt. Es ist der Geburtstag der Bundeswehr, der ersten freiheitlich-demokratischen Armee Deutschlands, eingebettet in die demokratische
Gemeinschaft unserer Partner im transatlantischen
Bündnis. Ohne diese Einbettung hätte Deutschland,
das Land in der Mitte Europas mit den meisten
Nachbarn überhaupt, fünf Jahrzehnte nach der größten Katastrophe, die es für Deutschland und Europa je gegeben hat, nicht den Zustand erreicht, dass
wir heute mit all unseren Nachbarn in Frieden und
Freundschaft leben. Dafür haben Generationen von
Deutschen gekämpft, gebetet, gehofft. Das ist nicht
selbstverständlich, auch wenn wir es leider heute als
selbstverständlich empfinden.
Ich finde, diese Worte Stoibers haben auch heute noch
ihre Berechtigung.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Diskussion über
die deutsche Wiederbewaffnung fiel in eine Zeit, in der
die Gräueltaten des Zweiten Weltkrieges noch greifbar
waren. Im Deutschen Bundestag diskutierten Abgeordnete über die Aufstellung deutscher Streitkräfte, die keine Abstraktionsfähigkeit benötigten, um sich die ganzen
möglichen Konsequenzen, nicht nur den Aufbau von Fähigkeiten, sondern vor allem auch die Bereitschaft, als
Ultima Ratio im Bündnis wieder militärisch handlungsfähig zu sein, vorzustellen.
So war die Wiederbewaffnung keineswegs unumstritten. Die CSU war von Beginn an ein überzeugter Befürworter eigener deutscher Streitkräfte. Ein zentrales Argument sprach aus ihrer Sicht dafür: Deutschland sollte
seine volle Souveränität wiedererlangen. Der Staat, so
jung er auch noch war, brauchte ein Instrument, um seine
Bürger vor der sehr realen sowjetischen Aggression zu
schützen. Die Integration in ein Verteidigungsbündnis,
ohne selbst einen substanziellen Beitrag zur kollektiven
Sicherheit zu leisten, wäre nicht tragbar gewesen. Auch
die USA forderten mehr Verantwortung von Deutschland.
Weiter war die CSU davon überzeugt, dass Deutschland nur in enger Kooperation mit den europäischen
Nachbarn zur Wiederbewaffnung fähig ist. Dem Argwohn der SPD, dass die Wiederbewaffnung Deutschlands die Einheit gefährdet, setzte Franz Josef Strauß in
der historischen Debatte von 1952 eine überzeugende
Richtungsvorgabe entgegen: über die Einheit Europas
zur Wiedervereinigung Deutschlands - ein Weg, der bekanntermaßen 1989 zur deutschen Einheit führte.
Der spätere Verteidigungsminister Strauß, lieber Herr
Gehrcke, der mit Fug und Recht als einer der Väter der
Bundeswehr bezeichnet wird, fasste die Problematik der
Wiederbewaffnung damals treffend zusammen:
Wer ja sagt, muß sich die Verantwortung für die Folgen überlegen. Wer nein sagt, nein um jeden Preis,
muß für die Konsequenzen einstehen, die aus dieser
Verantwortung erwachsen.
({0})
Damit nahm er die Abgeordneten, die dem pazifistischen Leitmotiv ein plakatives „Ohne mich“ voranstellten, in die Verantwortung. Er selbst nannte sich später
einmal einen „Verantwortungspazifisten“. Um den Frieden zu sichern, so Strauß, müssen notfalls auch militärische Instrumente in Erwägung gezogen werden. Er als
Historiker hat dabei vor allem auf die Untätigkeit der
europäischen Demokratien in der Sudetenkrise und beim
Überfall auf Polen in den 30er-Jahren hingewiesen. Der
linke Gesinnungspazifist könne vielleicht besser schlafen; aber durch sein rigoroses Nein zu militärischen Mitteln könne er auch zur Verschärfung der Lage beitragen ({1})
eine Schlussfolgerung, die auch 60 Jahre nach Gründung
der Bundeswehr weiterhin ihren Wahrheitsgehalt hat;
gerade die Kollegen der Fraktion Die Linke sollten hier
aufhorchen.
({2})
Die permanente Gefahr aus Moskau beeinflusste das
politische Arbeiten in einer Art und Weise, wie wir uns
das heute nicht mehr vorstellen können. So musste die
Bundeswehr in kürzester Zeit Fähigkeiten aufbauen, um
in der Blockkonfrontation handlungsfähig zu sein. Auch
umstrittene Entscheidungen fielen unter diese Prämisse,
so zum Beispiel die Beschaffung des Starfighters. Für
ehemalige Marineflieger wie Harm Zander war der Starfighter ein gutes Flugzeug. Mit ihm konnten deutsche
Piloten den Fliegern des Ostblocks waffentechnisch endlich auf Augenhöhe begegnen. Der Supersonic-Jet stellte
an die Piloten allerdings auch höchste Anforderungen.
Der Erfolg der Wehrhaftigkeit ist heute offenkundig, aber
er forderte auch viele Opfer: 116 Piloten verunglückten
tödlich bei Flügen mit dem Starfighter. Wir gedenken
heute daher auch derer, die für einen Frieden in Freiheit
während der Ausübung ihres Dienstes bis heute ihr Leben verloren.
Von Beginn an war klar, dass die Streitkräfte eine
neue Führungsphilosophie brauchten, die sich an den
Prinzipien des Grundgesetzes orientierte. Das von General Baudissin eingeführte Konzept der Inneren Führung
garantierte eine militärische Führung, die soziale und
individuelle Aspekte des Menschen berücksichtigte. Soldaten sollten nicht einfach nur funktionieren oder etwa
einen Sonderstatus genießen, sondern sich als Staatsbürger in Uniform verstehen. Weltweit beachtet, ist das unter dem Eindruck der Erfahrung aus Krieg und Diktatur
entstandene Leitbild noch immer die tragende Säule des
militärischen Selbstverständnisses.
Die Bundeswehr bildete aber nicht nur die Brücke
nach Westen. Wenige wissen, dass von der noch jungen
Armee ein Samen für die besondere deutsch-israelische
Freundschaft gesetzt wurde. Schon 1958, drei Jahre nach
der Gründung der Bundeswehr, nahmen die Armeen beider Länder die ersten Kontakte auf - 13 Jahre nach dem
Holocaust, bei dem sich deutsche Wehrmachtssoldaten
mitschuldig gemacht haben.
Obwohl es diplomatische Beziehungen zwischen Israel und Deutschland noch nicht gab, begannen Vertreter
der Marine beider Armeen mit der Zusammenarbeit. Die
Deutschen halfen Israel beim Aufbau seiner U-Boot-Flotte. Damit stellten sich die Soldaten aktiv unserer aus der
Geschichte entstandenen Verantwortung, die Sicherheit
und die Existenz Israels zu schützen. Dieses besondere Verhältnis wurde einmal mehr 1990 deutlich, als der
Zerstörer „Bayern“ als erstes deutsches Kriegsschiff den
israelischen Hafen Haifa besuchte. Mein Bruder, der
damals als Obergefreiter Philip Hahn auf der „Bayern“
seinen Wehrdienst absolvierte, erzählte mir damals von
dem bewegenden Besuch der Gedenkstätte Yad Vashem,
bei der die Marinesoldaten in Uniform einen Kranz niederlegten.
Auch heute ist der Ruf nach mehr Verantwortung
Deutschlands stärker denn je. Nicht nur bei Themen wie
der Finanzkrise muss Deutschland als Orientierungsmacht auftreten; auch in der Außenpolitik bedarf es eines
Zeichens Deutschlands, um beispielsweise den europäischen Stillstand zu überwinden.
Die aktuellen Herausforderungen zwingen uns, die
Rolle des Militärs neu zu bestimmen. Mit der Entscheidung unserer Bundesministerin von der Leyen, ein neues
Weißbuch zu verfassen, gehen wir diese Aufgabe entschlossen an.
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, der Soldatenberuf ist kein Beruf wie jeder andere. Ich möchte daher
unseren Soldatinnen und Soldaten, die im In- und Ausland aktuell im Einsatz sind oder es waren, meinen persönlichen Respekt, hohe Anerkennung und ein herzliches
„Vergelt‘s Gott!“ aussprechen. Ebenso möchte ich den
55 000 zivilen Mitarbeitern und Fachkräften von Herzen
danken, ohne die unsere Truppe nicht funktionieren würde. Die Bundeswehr ist und bleibt ein tragender StützFlorian Hahn
pfeiler unserer freien demokratischen Grundordnung.
Wir können auf unsere Bundeswehr zu Recht stolz sein.
Herzlichen Dank.
({3})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen damit zu unserem folgenden Tagesordnungspunkt 5:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Sabine
Zimmermann ({0}), Ulla Jelpke, Jutta
Krellmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Flüchtlinge auf dem Weg in Arbeit unterstützen, Integration befördern und Lohndumping
bekämpfen
Drucksache 18/6644
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({1})
Innenausschuss
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss
Auch für diese Aussprache sind nach einer interfraktionellen Vereinbarung 77 Minuten vorgesehen. - Das
wird offenkundig allgemein so akzeptiert.
Dann eröffne ich die Aussprache und erteile der Kollegin Sabine Zimmermann für die antragstellende Fraktion
Die Linke das Wort.
({2})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Für den Verbandspräsidenten des BDI hat die
Bundesregierung eigentlich immer ein offenes Ohr. Es
sollte Ihnen deshalb nicht schwerfallen, jetzt einmal genau zuzuhören,
Augenblick bitte. - Es wäre schön, wenn etwas mehr
Ruhe einkehrt. - Okay, schon in Ordnung. Bitte schön.
- was Herr Grillo anlässlich des Tages der Deutschen Industrie gesagt hat. Als größte Herausforderung hat Grillo
die Eingliederung der Flüchtlinge auf den Arbeitsmarkt
bezeichnet. Man habe ein demografisches Problem und
viele offene Stellen, sagte Grillo. Eine rasche Integration
bringe mehr für die Sozialkassen, und Integration durch
Qualifikation sei zu schaffen. Nun aber müsse die Koalition für das Wirtschaftswachstum und in Sprachkurse
investieren.
({0})
Man könnte fast glauben, dass Herr Grillo den Antrag
der Linken gelesen hat.
({1})
Aber zumindest hat er einige Punkte übernommen. Wir
sind zwar selten einer Meinung mit ihm, Kollege Zimmer,
aber in diesem Punkt hat er doch recht, oder nicht?
({2})
Wir müssen Flüchtlinge auf dem Weg in Arbeit unterstützen, statt sie zu behindern oder ihnen sogar die Arbeit zu verbieten. Wir müssen aber auch zugleich unsere
strukturellen Probleme auf dem Arbeitsmarkt anpacken.
Es stimmt eben nicht, wie Frau Merkel behauptet, dass
es Deutschland gut geht. Vielen geht es nicht gut. Trotz
Aufschwung nimmt die Zahl der von Armut betroffenen
Personen
({3})
- Sie von der Union müssen das schon zur Kenntnis
nehmen - auf insgesamt 13 Millionen Menschen zu. Die
Zahl der Langzeiterwerbslosen liegt seit Jahren bei über
1 Million. Das war schon so, bevor die Flüchtlinge zu
uns gekommen sind. Also sind diese bestimmt nicht daran schuld.
({4})
Schuld ist diese Bundesregierung. Sie weigert sich seit
Jahren, die sozialen Missstände in Deutschland anzugehen. Bei der Beseitigung dieser Missstände müssen Sie
selbstverständlich die Vermögenden und die Konzerne in
Haftung nehmen. Aber das wollen Sie auch nicht.
({5})
Sie haben in den letzten Jahren nichts gegen die zunehmende Armut getan, insbesondere nichts gegen die Altersarmut.
({6})
2 Millionen Kinder in Deutschland leben in Armut. Sie
haben nichts getan gegen prekäre Beschäftigung sowie
gegen die massive Ausweitung der Leiharbeit und des
Niedriglohnsektors.
({7})
Viele können ihre Familien nicht mehr ernähren. 1,2 Millionen Menschen müssen in Deutschland aufstocken.
Nehmen Sie das endlich zur Kenntnis! Das ist so.
({8})
Auch ein Mindestlohn in Höhe von 8,50 Euro hat daran
nichts ändern können; das wissen Sie ganz genau.
({9})
Deshalb fordert die Linke einen Neustart in der Arbeitsmarktpolitik für alle.
({10})
Für die Flüchtlinge ist die bisherige Bilanz ernüchternd. Nur 8 Prozent von ihnen kommen im ersten Jahr in
Arbeit. Nach fünf Jahren ist es die Hälfte. Sie müssen oft
auf Dauer im Niedriglohnsektor bleiben. Die Ursachen
dafür sind zahlreich: lange Asylverfahren, Wohnsitzauflagen, Einschränkungen beim Zugang zum Arbeitsmarkt
und eine mangelhafte Unterstützung insbesondere beim
Spracherwerb. Es ist doch ein absolutes Unding, dass
Sie jetzt auch noch vorhaben, dass Flüchtlinge von ihrem bisschen Geld den Deutschkurs mitbezahlen sollen.
Welch ein Irrsinn! Das bedeutet: Essen oder Sprache lernen. Verrückt!
({11})
Auch die schleppende Anerkennung ausländischer
Berufsabschlüsse ist äußerst hinderlich. Besonders gut
kennen sich die Bleiberechtsnetzwerke aus, denen ich an
dieser Stelle für ihre hervorragende Arbeit danken möchte.
({12})
Zu ihnen kam Frau Tairova; sie ist geduldeter Flüchtling. Sie ist Roma, hat Deutsch gelernt und ihre Schulabschlüsse gemacht. Nach vielen Praktika hat sie endlich
einen Ausbildungsplatz erhalten. Ihre Aufenthaltserlaubnis ist nun jedoch daran geknüpft, dass sie ihren Ausbildungsvertrag dauerhaft erfüllt.
({13})
- Schön wär’s. - Aber sie darf den Wohnsitz nicht wechseln
und darf nicht umziehen.
({14})
- Doch. - Genau das ist das Problem; denn sie wohnt
über 20 Kilometer von ihrer Ausbildungsstätte entfernt
und hat gar nicht die entsprechenden finanziellen Möglichkeiten. Solche Auflagen und Arbeitsverbote gibt es zu
Tausenden. Das ist ein Armutszeugnis für dieses Land.
({15})
Diese Bundesregierung ist der größte Integrationsverweigerer, und niemand anderes.
({16})
Deshalb fordern wir erstens zügige Asylverfahren, Abschaffung jeglicher Arbeitseinschränkungen und -verbote sowie zweitens ausreichend Personal für die Jobcenter.
Seit Jahren fehlt ausreichendes Personal für die individuelle Vermittlung und Unterstützung. Die Bundesländer
fordern 1,1 Milliarden Euro mehr dafür. Die Regierung
hat weniger als ein Drittel davon in Aussicht gestellt.
Statt bei den Fördermaßnahmen weiter zu kürzen, brauchen wir mehr Geld für Qualifizierung. Qualifizierung ist
das A und O, wenn jemand auf dem Arbeitsmarkt bestehen will. Begreifen Sie das doch endlich!
({17})
Drittens dürfen Flüchtlinge nicht als billige Arbeitskräfte
missbraucht werden. Für sie muss der Mindestlohn genauso gelten, ohne Wenn und Aber.
({18})
Auch die Ausnahmen müssen endlich abgeschafft werden.
Frau Merkel sagt: Wir schaffen das. - Ich sage Ihnen:
So nicht!
Danke schön für die Aufmerksamkeit.
({19})
Das Wort erhält der Kollege Karl Schiewerling für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In der Tat,
wir stehen in Deutschland vor einer der größten Herausforderungen. Die vielen Flüchtlinge in unserem Land lösen bei vielen Menschen Ängste und deutliche Abwehrreaktionen aus. In der Tat ist es etwas anderes, ob ich in
der Finanzkrise 2007/2008 gegen virtuelle Blasen einen
Etat setzen kann und internationales Finanzmanagement
betreibe oder ob ich es, wie in der jetzigen Situation, mit
Menschen zu tun habe, die mit Haut und Haaren, mit
Seele und mit Erwartungen vor unseren Türen stehen.
Die Entwicklung trifft in Deutschland auf eine Situation, in der Deutschland der Wachstumsmotor in Europa ist, die niedrigste Arbeitslosenquote und eine hohe
Beschäftigung hat, sie trifft in Deutschland auf eine Situation, in der die Hauptsorge der Menschen die demografische Entwicklung und eine immer älter werdende
Gesellschaft ist, in deren Folge Fachkräftemangel eines
der beherrschenden Wirtschaftsthemen ist. In dieser Zeit
kommen unangemeldet und für den einen oder anderen
plötzlich in diesem Jahr mehr als 800 000 Flüchtlinge
aus anderen Ländern, aus anderen Kulturkreisen zu uns,
um Schutz vor Verfolgung und ein besseren Leben zu suchen.
Sehen Sie, Frau Kollegin Zimmermann, das unterscheidet uns: Wenn in Deutschland ein so blankes Elend
herrscht, wie Sie es beschreiben, dann frage ich mich,
warum die Menschen eigentlich in dieses Elend kommen.
({0})
Sabine Zimmermann ({1})
Ich kann mich nur wundern über Ihre Amnesie, wenn es
um die Frage geht, was bei uns Wirklichkeit ist. Sie kennen genau die Arbeitsmarktzahlen, und Sie kennen genau die Entwicklung. Die Menschen wollen in ein Land
kommen, in dem Recht und Ordnung herrscht und in dem
sie eine Lebensperspektive haben. Die Lebensperspektive sind Auszeichnungen für unser Land, weil wir offensichtlich international, auch in der Frage der Gerechtigkeit, wesentlich besser dastehen als viele andere Länder.
Warum kommen sie zu uns?
({2})
Meine lieben Kollegen von der Linken, ich hätte wenigstens von Ihnen erwartet, sosehr Ihr Antrag einige
durchaus richtige Impulse gibt, die wir in der Regierung
aber schon längst aufgreifen,
({3})
dass Sie endlich einmal, auch in dieser schwierigen Situation, in der sich unser Land befindet, nicht mit Ihren
alten Klamotten aus der Kiste kommen.
({4})
Wir sprechen von einem Land, in dem 600 000 freie
Stellen gemeldet sind, in dem Auszubildende in Handel,
Handwerk und Gastronomie gesucht werden und in dem
die Menschen langsam spüren, dass wir, wenn jüngere
Menschen fehlen, vor großen Herausforderungen stehen,
die wir nicht mit Computern werden beantworten können. Wir sprechen von einem Land, in dem 2,6 Millionen
Menschen arbeitslos sind, darunter 1 Million Langzeitarbeitslose.
Unsere Aufgabe besteht jetzt darin, Ordnung in diese
Situation zu bringen. Gegen Panikattacken auch in unserem Land - das sage ich in verschiedene Richtungen helfen nur ein klarer Kopf und eine ordnende Hand. Ich
sage Ihnen, dass wir dabei sind, diese Ordnung hineinzubringen. Mein Vertrauen gilt hier voll und ganz der Bundeskanzlerin und dem Handeln der Bundesregierung.
({5})
Denn das Konzept ist eindeutig: Der Zustrom muss
durch internationale Rahmenabkommen gestoppt werden. Wir müssen dafür sorgen, dass die Menschen in
ihren Ländern bleiben können. Wir brauchen eine europäische Regelung, was die Aufnahme angeht, und wir
brauchen eindeutig auch eine Begrenzung des Zuzugs,
damit wir denen, die hier sind, entsprechend helfen können. Wir können nur denen helfen, die tatsächlich eine
Bleibeperspektive haben. Denjenigen, die keine Bleibeperspektive haben, müssen wir sagen, dass wir Platz für
die brauchen, deren Leib und Leben wirklich existenziell
bedroht sind.
({6})
Für die allerdings müssen wir alles tun. Ich glaube,
wir sind auf einem guten Weg. Ich sage Ihnen: Die Zusammenlegung der Leitung der Bundesagentur für Arbeit
und des BAMF in die Hand von Herrn Weise war eine
der wichtigsten und klügsten Entscheidungen,
({7})
und zwar nicht nur, was die Person angeht, sondern auch
deshalb, weil es einen sachlichen Zusammenhang zwischen der Aufgabe des Amts für Migration und den sich
danach, wenn alle Rechtsentscheidungen getroffen sind,
ergebenden Aufgaben der Bundesagentur für Arbeit gibt.
({8})
Es gilt, all denjenigen ein herzliches Dankeschön zu
sagen, die in diesem Bereich tätig sind und jetzt mit anpacken, dass wir die Verfahren beschleunigen und nach
vorne bringen. Das geht eben nicht, wie die Bundeskanzlerin zu Recht sagte, indem irgendein Hebel umgelegt
wird: Und sofort ändert sich alles schlagartig und gleichzeitig. Wir müssen jetzt sehen, dass wir die Aufgaben der
Reihe nach lösen und mit Konsequenz bei den Beschlüssen bleiben, die wir miteinander getroffen haben.
({9})
Meine Damen und Herren, es geht, was die Perspektive betrifft, natürlich um die Integration in den Arbeitsmarkt. Ich will es noch einmal deutlich sagen: Wir haben
zurzeit über 31 Millionen Menschen in sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung. Wir haben 7,4 Millionen Menschen mit geringfügiger Entlohnung. Wir haben
2,6 Millionen Menschen, die arbeitslos sind, ja. Aber wir
haben auch über 600 000 freie und offene Stellen. An
dieser Stelle soll und muss in aller Deutlichkeit gesagt
werden, weil es anders immer wieder in den Medien kolportiert wird: Niemand, der hier wohnt, muss um seine
Rente, um seinen Gesundheitsschutz, um die Hilfe der
deutschen Sozialsysteme fürchten. Sie werden weiterhin
alle Unterstützung bekommen.
({10})
Alle Befürchtungen, die an die Wand gemalt werden,
sind irreal.
Meine Damen und Herren, natürlich ist das eine große Herausforderung. Die große Herausforderung für den
Arbeitsmarkt wird sich in den kommenden Monaten
erstmals mit aller Wucht stellen. Damit wir diesen Herausforderungen gerecht werden, ist es wichtig, den Blick
darauf zu richten, wie die Situation ist: Zu uns kommen
Menschen, von denen 80 Prozent kein Deutsch können
und nicht die nötige Qualifikation mitbringen. Das weiß
auch die deutsche Wirtschaft. Ich nehme die deutsche
Wirtschaft ernst, wenn sie sagt: Wir wollen alles tun, um
diese Menschen in den Arbeitsmarkt zu integrieren. - Das
ist natürlich bei jungen Menschen, die zuwandern, leichter als bei denjenigen, die vielleicht schon etwas älter
sind. Die Jungen können wir durch Vermittlung der deutschen Sprache in Ausbildung bringen. Dem 25-Jährigen,
26-Jährigen, der zu uns kommt, der nie eine Berufsausbildung nach deutschem Verständnis gemacht hat, aber
vielleicht schon seit mehr als zehn Jahren als Schweißer
erfolgreich in seinem Heimatland tätig ist, müssen wir
die Perspektive geben, in Beschäftigung zu kommen,
aber gleichzeitig berufsbegleitend die deutschen QuaKarl Schiewerling
lifikationen nachzuholen. Vorab muss er etwas Deutsch
lernen, aber das wichtige Lernen erfolgt im Beruf. Der
Meister im Betrieb ist oft der beste Deutschlehrer.
({11})
Meine Damen und Herren, die Arbeitslosigkeit wird
nach allen derzeitigen Prognosen um 0,1 Prozent steigen.
Das sind Perspektiven, die keinen Anlass zu Panikattacken geben, sondern die uns vor Herausforderungen stellen, unsere Aufgaben im Bereich der Arbeitsmarktpolitik
zu lösen. Wir werden sie lösen, indem wir zunächst einmal denjenigen, die Deutsch brauchen, auch die notwendigen Deutschkenntnisse vermitteln. Hier werden die
entsprechenden Mittel in Höhe von 1,9 Milliarden Euro
zur Verfügung gestellt. Das werden wir in der nächsten
Sitzungswoche, wenn der Haushalt verabschiedet wird,
beraten. Nach derzeitigem Plan wird der Haushalt der
Bundesarbeitsministerin 1,9 Milliarden Euro mehr erhalten, um denjenigen, die arbeitslos werden, entsprechende
Unterstützung zu geben und denjenigen durch Sprachkurse und berufliche Integration zu helfen, Fuß auf dem
deutschen Ausbildungsmarkt zu fassen.
Ich sage auch sehr deutlich: Das verlangt ein Umdenken in den Köpfen mancher Leute. Wir werden
auch manche Teilqualifikation brauchen. Wir werden
auch - das ist überhaupt keine Frage - manche jungen
Menschen haben, die wir über eine Einstiegsqualifikation ins Praktikum stecken, damit sie sich an die Situation
auf dem deutschen Arbeitsmarkt gewöhnen und so ihre
Per spektiven langsam entwickeln können. Aber was wir
nicht brauchen, ist eine Absenkung des Mindestlohns,
({12})
weil dies nicht zu einer leichteren Integration führen
würde, sondern zur Wettbewerbsverzerrung.
Meine Damen und Herren, wir müssen die Perspektiven, die Chancen, die sich uns stellen, nutzen. Wir müssen mit ruhiger Hand handeln. Ich bin sicher, dass wir
die Herausforderungen auf dem Arbeitsmarkt meistern
werden, wenn wir nicht den Himmel voller Geigen malen, sondern uns der Realität stellen, und zwar gemeinsam mit den Akteuren, den Sozialpartnern und allen, die
Verantwortung tragen.
Herr Kollege.
Ich erlebe ganz viel guten Willen, hier etwas zu tun,
und Gott gebe, dass dieser gute Wille möglichst lange
anhält.
({0})
Das Wort erhält nun die Kollegin Brigitte Pothmer für
die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ob die Integration von Flüchtlingen in den Arbeitsmarkt gelingt,
hängt auch und nicht zuletzt vom gesellschaftlichen Klima ab. Dieses Klima ist gerade im Begriff zu kippen. Das
liegt nicht nur an der großen Zahl von Flüchtlingen, die
jetzt zu uns gekommen sind. Das hat vor allen Dingen
und in erster Linie damit zu tun, dass die Menschen das
Gefühl haben, dass der Politik dieses Problem vollständig entglitten ist. Dafür trägt diese Bundesregierung die
Verantwortung.
({0})
Herr Schiewerling, wenn Sie hier angesichts des Chaos, das Sie in den letzten Wochen produziert haben, von
einer „ordnenden Hand“ sprechen, dann kann das doch
nur Selbstironie sein.
({1})
Sie produzieren hier Chaos, und dieses Chaos zahlt sich
für die AfD aus. Bei einer Aufgabe dieser Dimension
braucht es eine Regierung, die eine klare Haltung hat,
({2})
die Zuversicht ausstrahlt, die die Chancen betont, und,
meine Damen und Herren, die Flüchtlinge sind eine riesige Chance für dieses Land.
({3})
Ich will aber betonen: Das ist natürlich kein Selbstläufer. Wenn wir die Fehler der Gastarbeiterpolitik aus den
60er-Jahren wiederholen und versuchen, die Menschen
so schnell wie möglich wieder loszuwerden, wie es Herr
de Maizière gerade tut, dann kann Integration nicht gelingen.
({4})
Wir müssen die Chancen nutzen; aber dafür müssen wir
in die Talente und in die Potenziale der Menschen investieren. Wir müssen rechtliche und bürokratische Hürden
abbauen.
Herr Schiewerling, Sie haben darauf hingewiesen: Die
Hälfte aller Flüchtlinge ist unter 25 Jahre. Sie sind hoch
motiviert. Sie wollen dringend eine Ausbildung abschließen, und viele von ihnen haben bereits einen Ausbildungsplatz. Was sie nicht haben, ist eine sichere Bleibeperspektive. Betriebe und Flüchtlinge müssen jedes Jahr
eine Abschiebung befürchten. Was glauben Sie, welche
Betriebe das mitmachen sollen?
({5})
Was glauben Sie, welche Belastung Sie diesen jungen
Menschen aufbürden?
Erklären Sie mir bitte einmal eines: Wieso gilt diese
geringe Duldung nur für Flüchtlinge bis 21 Jahre? Nur
einmal zum Vergleich: Von den deutschen AuszubildenKarl Schiewerling
den beginnen fast 30 Prozent ihre Ausbildung im Alter
von über 21 Jahren. Wieso darf das nicht für Flüchtlinge
gelten?
({6})
Haben wir jetzt einen Fachkräftemangel? Müssen wir
mehr junge Menschen ausbilden oder nicht? Von einer
offensiven Integrationspolitik sind Sie wirklich weit entfernt.
({7})
Ich will eine weitere bürokratische Hürde ansprechen,
die Vorrangprüfung, die wir, wie ich höre, Herrn Gabriel
zu verdanken haben. Sie wird damit begründet, dass Geringqualifizierte und Langzeitarbeitslose nicht das Gefühl bekommen sollen, dass sie wegen der Flüchtlinge
abgehängt werden. Glauben Sie mir: Diese Sorge nehme ich wirklich sehr ernst. Eines ist doch klar: Chancen
eröffnen Sie Geringqualifizierten und Langzeitarbeitslosen, indem Sie in diese Menschen investieren, in ihre
Qualifikationen, aber nicht durch eine Vorrangprüfung.
Durch eine Vorrangprüfung schaffen Sie einfach eine
weitere Gruppe, die Sie abhängen. Das bringt gar nichts.
({8})
Meine Damen und Herren, ungerechtfertigterweise
läuft meine Zeit am Pult schon wieder ab.
({9})
Diese Welt ist nicht gerecht. Lassen Sie mich deswegen
zum Schluss kommen und Marcel Fratzscher vom DIW
zitieren:
Die Offenheit für andere Menschen, andere Kulturen und andere Ideen war und ist ein wirtschaftlicher Erfolg unseres Landes. Es sind gerade die Regionen mit dem höchsten Anteil an Menschen mit
Migrationshintergrund, die das höchste Einkommen
und den höchsten Wohlstand haben.
Wissen Sie, was das größte Problem in diesem Lande
ist? Dass diese Bundesregierung genau diese Offenheit
für neue Kulturen, neue Ideen und andere Menschen
eben nicht hat!
({10})
Damit verspielen Sie eine riesige, eine historische Chance für unser Land.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
({11})
Für die SPD spricht jetzt die Kollegin Katja Mast.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und
Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Brigitte Pothmer, ich schätze Sie ja sehr wegen Ihres
scharfen Verstandes und auch wegen
({0})
Ihrer prägnanten Worte. Ich finde aber, dass eine Sache
überhaupt nicht geht. Es geht nicht, dass Sie hier vorne
sagen, der Regierung sei die Situation vollkommen entglitten und es herrsche Chaos. Das weise ich an dieser
Stelle eindeutig zurück.
({1})
Sie sind den Leuten auf den Leim gegangen, die jeden
Tag mit neuen Vorschlägen versuchen zu vertuschen, woran gearbeitet wird. Deshalb weise ich das hier auch so
eindeutig zurück, Frau Kollegin Pothmer.
({2})
Ich bin der Fraktion Die Linke dankbar, weil sie uns
die Möglichkeit gibt, heute nicht nur über innenpolitische und aufenthaltsrechtliche Fragen zu diskutieren,
sondern auch über die große Frage der Integration von
Flüchtlingen in Deutschland. Dafür herzlichen Dank an
dieser Stelle.
Ich bin auch der Meinung, dass wir alle gemeinsam alle Demokratinnen und Demokraten - einen Fehler
nicht wiederholen dürfen, nämlich den, den wir bei der
Gastarbeitergeneration gemacht haben,
({3})
als wir geglaubt haben, dass Arbeiter kommen und wir
nichts für ihre Integration tun müssen. Das Gegenteil ist
der Fall. Wir müssen gemeinsam daran arbeiten, dass
Kinder und ihre Eltern bzw. diejenigen, die hier arbeiten,
nicht nur durch Arbeit integriert werden, sondern auch
darüber hinaus.
({4})
Was braucht man dazu? Man braucht dazu Sprache, Bildung, Arbeit und soziales Miteinander; davon bin ich fest
überzeugt.
Die Debatte - ich sage einmal „die Pseudodebatte“ über die Frage, ob alle Syrer, die zu uns kommen, nun
subsidiären Schutz bekommen sollten oder nicht, halte
ich für falsch, nicht nur, weil damit Frauen und Kinder
aufs Mittelmeer geschickt würden, sondern auch, weil sie
integrationsfeindlich ist.
({5})
Warum ist sie integrationsfeindlich? Wenn Sprache, Bildung, Arbeit und soziales Miteinander der Schlüssel zur
Integration sind, stellt sich doch die Frage: Kommen die
Syrerinnen und Syrer, die zu uns kommen, auch irgendwie in Arbeit? Wenn sie aber einen Aufenthaltsstatus von
nur einem Jahr haben - nichts anderes heißt „subsidiärer
Schutz“; sie müssen jedes Jahr bangen, ob der Aufenthaltsstatus verlängert wird -, dann gibt es - so zumindest
in meinem Wahlkreis, Pforzheim und Enzkreis - kein
Unternehmen, das auch nur einen von ihnen einstellen
würde; denn die wollen eine Bleibeperspektive auf längere Zeit. Deshalb braucht es zur Arbeitsmarktintegration auch sichere Bleibeperspektiven.
({6})
Was braucht man noch zur Integration? Ich finde, dass
im Matthäus-Evangelium - Kapitel 25, Vers 35 - Richtiges dazu steht. Dort steht nämlich:
Denn ich war hungrig, und ihr habt mir zu essen gegeben; ich war durstig, und ihr habt mir zu trinken
gegeben; ich war fremd und obdachlos, und ihr habt
mich aufgenommen.
Das sind jetzt nicht die vier Punkte der Integration,
über die ich gerade gesprochen habe; und ich habe als
fünften Punkt das Aufenthaltsrecht hinzugefügt. Jetzt
kommt der sechste Punkt: Natürlich müssen zuerst die
Grundbedürfnisse befriedigt werden. Man muss zu essen
haben, man braucht ein Dach über dem Kopf, und man
muss aufgenommen und angenommen werden.
Aber heute geht es hauptsächlich darum, wie wir Integration in der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik gewährleisten. Deshalb glaube ich, dass es wichtig ist, dass wir
uns in Deutschland darüber unterhalten, wie wir einen
Masterplan Integration gestalten. Wie setzen wir es denn
um, dass Sprache, Bildung, Arbeit und soziales Miteinander für die Menschen Realität werden, die neu zu uns
kommen und für unsere Gesellschaft viele Chancen eröffnen? Wie gehen wir eigentlich mit den 50 Prozent der
Flüchtlinge um - um nur eine Zahl zu nennen -, die unter
25 sind und bei uns eine Perspektive für ihr Leben haben
wollen und nicht nur einen Aufenthaltsstatus für ein Jahr
oder ein halbes Jahr? Das sind die wichtigen Fragen,
wenn es um Integration geht.
({7})
Ich bin nicht bekannt dafür, dass ich zu viel aus der
Bibel zitiere; aber ich will ein weiteres Zitat bringen.
({8})
Im 3. Buch Mose steht: Für den Fremden gilt das gleiche Recht wie für den Einheimischen. - Deshalb muss
von hier heute ein klares Nein ausgehen, wenn es darum
geht, Arbeitsmarktstandards für Flüchtlinge nach unten
zu schrauben und für Einheimische nicht. Heute muss
von hier das Zeichen ausgehen: Arbeitsmarktstandards
gelten für alle Menschen in Deutschland.
({9})
Deshalb: Keine Absenkung des Mindestlohns und eine
Erhöhung des Mindestlohns dann, wenn es ansteht und
im Gesetz steht! Da bin ich anderer Meinung als der
Sachverständigenrat der Bundesregierung.
Wir brauchen keine neue Armee von Geringqualifizierten. Wir brauchen einen schnelleren Arbeitsmarktzugang. Wir brauchen Ausbildungsinstrumente für die
jungen Flüchtlinge, die bei uns sind, damit sie eine Perspektive haben. Wir brauchen auch einen Aufenthaltsstatus, der da heißt: Wenn du bei uns eine Ausbildung
machst, dann darfst du nicht nur drei Jahre bei uns bleiben. - Ich fände es gut, wenn wir über „drei plus x Jahre“
diskutierten. Warum nicht „drei plus drei Jahre“? Für die
Unternehmen bei mir in Pforzheim und im Enzkreis gilt:
Die bilden lieber aus, wenn die Leute auch eine Perspektive nach der Ausbildung haben.
Nur so, nur durch eine Debatte über Bildung, Sprache,
Arbeit, soziales Miteinander, Aufenthaltsstatus, „Perspektive geben“ werden wir die Chancen für unsere Gesellschaft nutzen und Fachkräfte der Zukunft ausbilden.
Wir alle werden dadurch bereichert.
({10})
Der Kollege Professor Dr. Matthias Zimmer spricht
jetzt für die CDU/CSU.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Probleme, vor denen wir stehen, werden nicht über die kollektiven Erregungskulturen von Twitter und Facebook
gelöst. Sie werden nicht gelöst, wenn Flüchtlinge instrumentalisiert werden, beispielsweise als Argument gegen
den Mindestlohn oder aber für die Rente mit 70. Unsere
Probleme werden nicht gelöst durch die Nörgler, Wutbürger, Kulturkritiker, Überfremdungspropheten. Sie
werden nicht gelöst durch Angst und Ablehnung, nicht
durch Hass und radikale Parolen. Sie werden aber sehr
wohl gelöst, wenn wir schrittweise die Fluchtursachen
reduzieren und die richtigen politischen Weichen für die
Integration stellen.
({0})
Zur Wahrheit gehört aber auch: Es wird nicht die eine
Lösung geben, die von heute auf morgen greift, und alle
Probleme sind vom Tisch. Nein, es bedarf einer Reihe
von Maßnahmen, die mit der Zeit greifen werden, und
darüber sprechen wir heute. Ich will dies aber nicht tun,
ohne zumindest eines zu sagen: Ohne das zivilgesellschaftliche Engagement ginge das alles nicht. Für mich
sind die vielen Freiwilligen die stillen Helden dieser
Tage. Sie zeigen, dass Solidarität gelebt wird.
({1})
Als Arbeitsmarktpolitiker müssen wir fragen: Wie
können wir die Menschen, die zu uns kommen, in den
Arbeitsmarkt bringen? Dazu müssen wir uns zunächst
einmal vergewissern: Über welche Gruppen sprechen
wir, und über welche Größenordnungen sprechen wir?
Wir wollen Menschen mit einer dauerhaften Bleibeperspektive in den Arbeitsmarkt integrieren. Das bedeutet im Umkehrschluss aber auch: Diejenigen, die keine
dauerhafte Perspektive haben, können nicht bleiben. Sie
müssen auf andere Wege verwiesen werden. Das haben
wir mit den Ländern des Westbalkans gemacht. Gleichzeitig haben wir einen anderen Zugang zum deutschen
Arbeitsmarkt eröffnet, der wesentlich von unseren Interessen bestimmt wird.
In der Diskussion geht das häufig durcheinander. Mein
Eindruck ist: Auch im Antrag der Linken ist das der Fall.
Da wird unter dem Oberbegriff „Flüchtling“ jeder erfasst,
der zu uns kommt, egal aus welchem Beweggrund. Ich
bin sehr dafür, genau zu trennen zwischen den Schutzbedürftigen und denjenigen, die vornehmlich aus ökonomischen Gründen kommen. Wir haben eine Verpflichtung
gegenüber denjenigen, die an Leib und Leben bedroht
sind aufgrund von Krieg oder Verfolgung. Aber wir können die ökonomischen Probleme europäischer Anrainerstaaten nicht in der Bundesrepublik Deutschland lösen.
({2})
Ich bin der festen Überzeugung: Wenn wir sämtliche
Beschränkungen, Arbeitsverbote und Nachrangigkeitsregelungen für Flüchtlinge generell abschaffen, wie es die
Linken in ihrem Antrag fordern, produzieren wir Chaos.
Das kann man wollen,
({3})
weil man Klassenkampf für eine schicke Idee hält oder
weil man der Meinung ist, die Aufnahmekapazität des
Arbeitsmarktes einmal austesten zu können. Wir jedenfalls wollen dies aus guten Gründen nicht.
Der erste und wichtigste Schritt der Integration ist:
Sprachkenntnisse vermitteln und Qualifizierungsbedarfe feststellen. Deshalb war es gut, dass das Bundesamt
für Migration und Flüchtlinge die Integrationskurse für
Asylbewerber und Geduldete mit einer guten Bleibeperspektive geöffnet hat und hierfür auch die Mittel aufgestockt worden sind.
({4})
Das schnelle Erlernen der deutschen Sprache ist der Königsweg in den Arbeitsmarkt.
Der zweite wichtige Schritt ist, sich die Frage zu
stellen: Mit welchen Qualifikationen kommen die Menschen? Nun sind wir ein Land, in dem formale Qualifikationen wichtig genommen werden, manchmal wichtiger
als die berufliche Erfahrung. Deswegen ist es aus meiner
Sicht wichtig, Berufserfahrungen, Teilqualifikationen
und Zertifikate abzufragen, um sich dann ein genaues
Bild davon zu machen, was getan werden muss. Ich bin
im Übrigen froh, dass die Bundesministerin für Bildung
und Forschung in den nächsten Tagen ein ressortübergreifendes Programm dazu vorstellen will.
Die spannende Frage aber ist: Über wie viele Menschen reden wir, was die Integration in den Arbeitsmarkt
angeht? Wenn ich von einer augenblicklichen Zahl von
850 000 Flüchtlingen ausgehe und unterstelle, dass die
Schutzquote bei etwa 50 Prozent liegt und 70 Prozent davon erwerbsfähig sind, komme ich auf eine Zahl von etwa
300 000 Neuzugängen in den Arbeitsmarkt. Nun muss in
Rechnung gestellt werden: Nicht alle werden tatsächlich
bleiben, zumal dann nicht, wenn sich die Verhältnisse in
ihren Heimatländern bessern. Das hat uns die Erfahrung
mit den Bosniern in den 1990er-Jahren gelehrt. Die Erfahrung aus den 90er-Jahren hat auch gezeigt: Die Quote
derer, die eine Arbeit aufnahmen, lag nach einem Jahr bei
10 Prozent, nach fünf Jahren bei über 50 Prozent. Hier
können wir durch schnellere Verfahren und frühzeitige
Sprachangebote sicherlich noch viel besser werden; denn
eines ist auch richtig: Viele der Menschen sind hochmotiviert und wollen arbeiten. Um dies zu ermöglichen,
haben wir die Mittel im Eingliederungstitel erhöht, und
zwar um insgesamt 900 Millionen Euro. Die Linke fordert in ihrem Antrag eine Erhöhung um 1,7 Milliarden
Euro. Das liegt an dem alten Irrglauben, dass mehr auch
immer gleich besser ist.
Nun sagen einige nicht unbedeutende Stimmen,
Deutschland könne mit den Flüchtlingen zum Teil auch
sein demografisches Problem lösen. Richtig ist: Ein
Großteil der Flüchtlinge ist unter 25 und kann damit
dem Arbeitsmarkt noch lange erhalten bleiben. Forscher
haben errechnet: Wir brauchen pro Jahr eine Zuwanderung in einer Größenordnung von 270 000 qualifizierten
Menschen, damit wir die Sozialsysteme stabilisieren und
die Voraussetzungen für ein stetiges Wachstum schaffen
können. Freilich wissen wir nicht, wie viele der Menschen, die wir fördern und in den Arbeitsmarkt integrieren, sich dazu entscheiden, dauerhaft bei uns zu bleiben.
Ich meine aber, selbst wenn Flüchtlinge nach einiger
Zeit wieder in ihre Heimat zurückkehren, ist ihre vorübergehende Integration in unseren Arbeitsmarkt gut investiertes Geld. Wenn ein Flüchtling als gut ausgebildete
Fachkraft zurückkehrt, ist das vielleicht kein schlechter
Beitrag zum Aufbau eines zerstörten Landes, und wenn
er zurückkehrt und erleben konnte, wie Demokratie, Solidarität und Rechtsstaatlichkeit funktionieren, ist das
vielleicht ein Beitrag zu einer friedlicheren politischen
Kultur, die aus sich heraus keine Fluchtursachen mehr
produziert.
({5})
Doch zurück zum Antrag der Linken. Er enthält einiges, aber nicht sehr viel Vernünftiges. Geärgert hat mich,
dass beinahe ohne Zusammenhang die Forderung nach
Erhöhung des Mindestlohns auf 10 Euro auftaucht.
({6})
Ich habe langsam den Verdacht, das schreiben Sie auch
bei Anträgen zum Schutz der Freizeitaquaristik oder der
Förderung des Schachspiels.
({7})
Sie fordern Zwangsabgaben für Arbeitgeber - ja, auch
das kommt mir bekannt vor - und natürlich die höhere
Besteuerung von Unternehmen und Vermögenden. All
das sind eher Beiträge dazu, die Gesellschaft zu spalten,
obwohl es doch jetzt darauf ankäme, bei der Bewältigung
dieser Herausforderung alle mitzunehmen.
({8})
Wir haben mit Blick auf die Bewältigung des Flüchtlingsproblems einen langen Weg vor uns. Es gibt keine
Abkürzung, auch wenn uns die schrecklichen Vereinfacher dies glauben machen wollen. Jeder lange Weg beginnt mit den ersten Schritten. Wir gehen diese Schritte
mit den vielen Freiwilligen, wir gehen sie mit den MitarDr. Matthias Zimmer
beitern und Mitarbeiterinnen der kommunalen, Landesund Bundesbehörden, denen in diesen Wochen sehr viel
abverlangt wird. Wir gehen diese Schritte mit den Flüchtlingen, die unsere Hilfe brauchen, und mit allen, die mit
uns davon überzeugt sind: Ja, wir schaffen das.
({9})
Für die Fraktion Die Linke spricht jetzt die Kollegin
Sevim Dağdelen.
({0})
Verehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren!
Es tut dem Bundestag gut, auch einmal einen Gefolgsmann der Bundeskanzlerin aus der CDU/CSU-Fraktion
hier reden zu hören ({0})
im Gegensatz zur gestrigen Aktuellen Stunde im Bundestag, in der man sich offenbar darum bemühte, die Kanzlerin zu demontieren.
So tat es beispielsweise Bundesinnenminister
de Maizière, der in der Aktuellen Stunde seine Ablehnung des Familiennachzugs für syrische Flüchtlinge wie
folgt begründete:
Einen Nachzug in die Arbeitslosigkeit und damit in
die Perspektivlosigkeit sollte es nicht geben.
Ich finde, das ist eine wirklich bemerkenswerte Argumentation, und frage mich, wieso Sie den Menschen
eigentlich nicht reinen Wein einschenken. Erst durch das
Arbeitsverbot, das diese Bundesregierung schafft, die
Nachrangregelungen, verweigerte Sprachkurse und auch
die überlangen Asylverfahren werden die Flüchtlinge
zwangsweise zu Empfängern staatlicher Transferleistungen. Erst verhindern Sie die schnelle Arbeitsmarktintegration von Flüchtlingen, und dann kolportieren Sie das
Vorurteil, Flüchtlinge würden das Sozialhilfesystem in
Deutschland ausnutzen. Ich finde, statt rechtspopulistischer Stimmungsmache sollten Sie endlich handeln - für
soziale Integration in diesem Land. Heben Sie die Arbeitsverbote auf, meine Damen und Herren.
({1})
Wir sollten die aktuelle Situation zum Anlass nehmen,
den Sozialstaat in Deutschland insgesamt zu erneuern.
({2})
Dafür brauchen wir eine Millionärsteuer, meine Damen
und Herren; denn wir brauchen bezahlbaren Wohnraum
für alle in Deutschland,
({3})
eine Gesundheitsversorgung für alle in diesem Land und
Bildung und existenzsichernde Arbeit für alle Menschen.
Wer sich auf der einen Seite hierhinstellt und ständig das
Mantra „Wir schaffen das“ vorträgt, aber auf der anderen
Seite dieses Staatsversagen selbst organisiert, der muss
sich schon fragen lassen, welches Ziel er verfolgt. Wer
jetzt fordert, wie beispielsweise die Wirtschaftsweisen,
den Mindestlohn für Flüchtlinge zu senken, die Mietpreisbremse aufzuheben, Sozialleistungen zu senken und
die Regelungen hinsichtlich des Renteneintrittsalters zurückzunehmen, der befördert nicht nur Ungleichheit und
Rassismus in diesem Land, sondern versucht auch noch,
aus dem Elend der Flüchtlinge Kapital zu schlagen.
({4})
Sie müssen dieser Politik der Bundesregierung klar und
deutlich eine Absage erteilen, anstatt alles nachzureden.
({5})
Fast jeden Tag kommt ein neuer Vorschlag der Bundesregierung, der sich gegen die soziale Integration von
Flüchtlingen richtet. Das neue Asylverfahrensbeschleunigungsgesetz ist für viele Flüchtlinge schlicht ein Integrationsverhinderungsgesetz.
({6})
Die verlängerten Lageraufenthalte, ausgeweiteten und
dauerhaften Arbeitsverbote, die von drei auf sechs Monate verlängerte Residenzpflicht bezogen auf den Ort der
Erstaufnahmeeinrichtung, die Umstellung auf Sachleistungen und die verfassungswidrigen Leistungskürzungen
werden nicht zur Integration führen, sondern bedeuten
eine Desintegration mit Methode.
({7})
Jeder Schritt, der das Warten der Flüchtlinge in den Lagern, in den Turnhallen und in den Unterkünften verlängert, ist Gift für die Integration.
({8})
An dieser Stelle möchte ich gerne aus einem Brief eines Flüchtlings an die WDR-Journalistin Isabel Schayani,
die ihn veröffentlicht hat, zitieren. Sie schreibt:
Ein höflicher Mensch, der aber am Ende seines
Briefes schrieb: „Über lange Zeit nur zu essen und
zu schlafen, ohne arbeiten und lernen zu können,
führt dazu, dass die Menschen sich schlecht benehmen und psychische Probleme haben. Sie können so
eine Gefahr für die Gesellschaft werden. Wenn die
Regierung ihnen das Arbeiten ermöglichen würde,
dann könnten sie gesund und produktiv sein, während ihr Asylverfahren geklärt wird. Aber wenn jemand überhaupt nichts zu tun hat, dann versucht er,
etwas zu tun. Es könnte gut und es könnte schlecht
sein.“
({9})
Ich finde, alle Ihre Vorschläge zielen in dieselbe Richtung: Abwehr und Abschottung und vor allen Dingen
Desintegration. Hören Sie damit auf; denn Sie organisieren die Perspektivlosigkeit der Flüchtlinge. Vor allen
Dingen bringen Sie den sozialen Frieden in Deutschland
in Gefahr, weil Sie das Land mit dieser Politik spalten.
({10})
Sie sollten mit dieser selektiven Integrationspolitik aufhören. Selbst Asylsuchenden aus Afghanistan und Somalia wird ein Sprachkurs während des Verfahrens verweigert. Das ist doch schlicht das Gegenteil von Integration.
({11})
Deshalb sagen wir: Hören Sie auf mit den Arbeitsverboten! Hören Sie auf mit der Stimmungsmache gegen
Flüchtlinge;
({12})
denn Sie selbst sind dafür verantwortlich, dass sie nicht
arbeiten dürfen und keine Perspektive haben.
Vielen Dank.
({13})
Für die SPD spricht jetzt die Kollegin Kerstin Griese.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Frau Dağdelen, ich habe mich bei Ihrer Rede und auch
bei der Rede von Frau Zimmermann gefragt: Wo leben
Sie eigentlich?
({0})
Wer schürt denn hier Rassismus? Ihr Herr Lafontaine hat
gerade wieder Obergrenzen für Flüchtlinge gefordert,
weil sonst nichts mehr geht. Das ist die falsche Forderung. Uns geht es darum: Wir schaffen das. Wir machen
das. Wir tun echt etwas für die Integration von Flüchtlingen.
({1})
Jetzt benutzen Sie auch noch die Flüchtlinge, um, wie
immer, Ihren Textbaustein zur Millionärsteuer und zum
höheren Mindestlohn unterzubringen. Das geht so wirklich nicht.
({2})
Ich will Ihnen einmal sagen, was wir tun, damit wir
das schaffen, und Ihnen das an fünf Beispielen klarmachen:
({3})
Erstens will ich Ihnen erzählen von einem sehr interessanten Besuch beim Integration Point in Düsseldorf.
Das ist ein neuer Ansatz. Dort arbeiten die Arbeitsagentur, das Jobcenter und die Kommunale Ausländerbehörde zusammen. Ein schönes, buntes Symbol macht klar:
Hierhin können alle Flüchtlinge kommen. Hier wird vernetzt beraten. Hier muss man nicht von Amt zu Amt laufen. - Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gehen sogar
in die Flüchtlingsunterkünfte,
({4})
bieten dort Beratungsstunden an und gucken, welche
Qualifikationen die Leute haben. Ich will an dieser Stelle
allen danken, die jetzt vor Ort solche Konzepte entwickeln. Das ist der richtige Weg.
({5})
Mit diesem Ansatz des Integration Points startet man
in Nordrhein-Westfalen in Düsseldorf, Dortmund und
Herford. Dies wird dann flächendeckend im ganzen Land
angeboten. Das ist genau richtig. Selbst für uns ist es ja
schwierig, herauszufinden, welche Behörde für die Anerkennung der einzelnen Berufsabschlüsse zuständig
ist. In diesen Integration Points wird das Angebot zusammengefasst. Ganz besonders wichtig ist der kurze
Draht zwischen der Arbeitsagentur und dem Jobcenter
auf der einen Seite und der Kommunalen Ausländerbehörde auf der anderen Seite; denn wir haben Unternehmen, die Flüchtlinge beschäftigen wollen, und Betriebe,
die Flüchtlinge ausbilden wollen. Wir haben auch Menschen, die sich darum kümmern wollen, dass Flüchtlinge
durch Praktika unsere Sprache lernen, damit sie sich besser integrieren können. Wir tun jetzt alles, was geht, um
sie zu unterstützen.
({6})
Deshalb sage ich: Es geht um Perspektiven. Es geht darum, dass entsprechende Strukturen geschaffen werden.
Ich will Ihnen ein zweites Beispiel nennen, das Programm „Early Intervention“, das jetzt ebenfalls zu einem
flächendeckenden Angebot ausgebaut wird: Die Mitarbeiter der Jobcenter sprechen Flüchtlinge mit einer guten
Bleibeperspektive an, suchen sie auf, schauen, welche
Qualifikationen sie haben, und fragen: Wie können wir
weiterhelfen? Bedarf es weiterer Qualifizierungen? Wie
können sie in Arbeit kommen?
Mein dritter Punkt ist der Spracherwerb. Meine Kollegin Katja Mast hat es schon gesagt: Sprache, Bildung,
Arbeit und soziale Integration, das sind die zentralen
Punkte, um die es geht. Deshalb investieren wir jetzt mit
Absicht so viel mehr in den Spracherwerb. Die Menschen sollen früh und schnell die deutsche Sprache lernen. Das ist der richtige Weg, das ist der praktische Weg
zu Integration.
({7})
Wir haben die Integrationskurse und die berufsbezogenen Sprachkurse geöffnet. Es wird ein Gesamtprogramm Sprache geben. Es ist gut, dass demnächst nicht
nur wie bisher die anerkannten Asylbewerber die Sprachkurse besuchen können, sondern dass wir den Kreis der
Berechtigten erweitert haben. Auch geduldete Asylbewerber mit guter Bleibeperspektive können an diesen
Sprachkursen teilnehmen.
({8})
Das ist der richtige Schritt, damit sie schneller in Arbeit
kommen.
Lassen Sie mich einen vierten Punkt nennen. Die Bundesagentur für Arbeit hat Geld zur Verfügung gestellt, um
auch in diesem Jahr vermehrt Sprachkurse anbieten zu
können; denn wir haben gemerkt, dass der Schritt vom
ersten Integrationskurs zum berufsbezogenen Sprachkurs verbessert werden muss. Deshalb gilt mein herzlicher Dank der Bundesagentur für Arbeit dafür, dass sie
dies so intensiv unterstützt.
({9})
Frau Kollegin Griese, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Pothmer?
Aber gerne.
Frau Kollegin Griese, Sie haben gerade angesprochen, dass jetzt auch Flüchtlinge, die noch nicht anerkannt sind, aber eine gute Bleibeperspektive in
Deutschland haben, Zugang zu Sprachkursen und zu
Maßnahmen der aktiven Arbeitsmarktpolitik haben.
Sie wissen, dass ich das begrüße. Aber finden Sie es eigentlich angemessen und richtig, dass Sie eine 50-Prozent-Quote eingeführt haben? Sie wissen vielleicht,
dass afghanische Flüchtlinge eine Anerkennungsquote
von 46,7 Prozent haben, also knapp unter den 50 Prozent liegen. Die Anerkennung afghanischer Flüchtlinge
dauert derzeit länger als 14 Monate. Das wird sich so
schnell leider auch nicht ändern. Halten Sie es für richtig, dass also knapp 50 Prozent dieser Menschen keinen Zugang zu Sprachkursen und zu Fördermaßnahmen
haben, mit all den negativen Folgen, die wir hier schon
so oft beschrieben haben?
Liebe Frau Kollegin Pothmer, Sie sprechen einen
wichtigen Punkt an; denn in der Tat sind unsere gesetzlichen Entwicklungen so ausgerichtet, dass wir den Flüchtlingen mit guter Bleibeperspektive sehr viel schneller als
bisher die Teilnahme an Sprachkursen und die Integration in arbeitsmarktfördernde Maßnahmen ermöglichen.
Bei Flüchtlingen mit schlechter Bleibeperspektive wollen wir die Verfahren beschleunigen, sodass sie schneller
Rechtssicherheit haben. Das finde ich auch richtig.
Im Moment wird so gerechnet, dass zu jenen mit guter
Bleibeperspektive - Sie haben es gesagt - diejenigen gehören, deren Anerkennungsquote über 50 Prozent liegt.
Das sind mit um die 90 Prozent Anerkennung Flüchtlinge aus Eritrea, aus Syrien und aus dem Irak. Dann gibt
es eine Gruppe jener, die als solche mit schlechter Bleibeperspektive gelten. Hier liegt die Anerkennungsquote
unter einem halben Prozent.
Sie sprechen eine Gruppe an, über die meines Erachtens noch zu sprechen sein wird. Die Anerkennungsquote afghanischer Flüchtlinge liegt nahe an den 50 Prozent.
Ich fände es daher gut, wenn wir die Maßnahmen auch
für diese Gruppe öffnen würden. Darüber wird in der
Koalition zu sprechen sein. Denn in der Tat: Das sind
Menschen, die mit hoher Wahrscheinlichkeit länger hier
bleiben werden. Wir wollen, dass sie dann hier auch arbeiten können und eben nicht nur ohne Beschäftigung in
ihren Unterkünften sitzen.
({0})
- Das freut mich. Ich werbe auch um Unterstützung
durch den Rest des Hauses. Ich sehe überall zuckende
Hände, das ist gut.
Ich möchte weiter auf die Maßnahmen eingehen, die
wir konkret ergreifen. Ein ganz wichtiger fünfter Punkt:
Wir werden den Eingliederungstitel für die Jobcenter erhöhen, damit Flüchtlinge gut beraten werden. Wir werden
auch - das ist mir ganz wichtig - die Mittel für die Bundesagentur für Arbeit und für die Jobcenter aufstocken,
sodass wir 2 800 zusätzliche Stellen in den Jobcentern
und etwa 1 000 Stellen in den zugelassenen kommunalen Trägern aufbauen werden. Das ist deshalb so wichtig,
weil wir bei der Beratung und Vermittlung von Langzeitarbeitslosen nicht kürzen werden. Wir werden diese genauso wie bisher durchführen und sogar ausbauen. Wir
sorgen für zusätzliche Mitarbeiter, die Flüchtlinge beraten. Es ist mir wichtig, dass die beiden Gruppen nicht
gegeneinander ausgespielt werden. Keiner in Deutschland muss Angst haben, dass wir uns weniger um ihn
kümmern, weil wir uns jetzt besonders intensiv um die
Flüchtlinge kümmern.
({1})
Frau Kollegin Griese, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage der Kollegin Hänsel?
Ja, bitte.
Danke schön, Herr Präsident. - Sie sprachen von
Flüchtlingen mit guter Bleibeperspektive; wobei man
sich grundsätzlich fragen muss, nach welchem Raster
Flüchtlinge eingeordnet werden. Ich muss sagen, das jetzige Verfahren finde ich sehr bedenklich. Das sind Menschen, die hier sind. Die Einteilung in Bleibeperspektiven ist in meinen Augen abzulehnen.
Zu meiner konkreten Frage. Wenn Dublin III für syrische Flüchtlinge wieder eingeführt wird, dann wird vor
das Asylverfahren erst einmal eine entsprechende Prüfung vorgeschaltet. In dieser Zeit ist es nicht möglich,
Spracherwerb zu machen oder zu arbeiten. Es dauert
dann wieder Monate. Da frage ich mich: Ist das eine
schnelle Integration auch für die Gruppe von Flüchtlingen, bei der es im Grunde eine Anerkennungsquote
von 100 Prozent gibt? Was ist das schon wieder für eine
bürokratische Verzögerung? Das führt im Grunde dazu,
dass die Menschen wieder zum Nichtstun verdammt
werden, nur weil es aus dem Geiste der Abschottung und
Abschreckung heraus neue Überlegungen des Innenministers gibt, diese Menschen hier jetzt untätig zu halten.
Wenn Sie sagen, dass es für die mit guter Bleibeperspektive jetzt eine schnelle Integration gibt, stimmt das überhaupt nicht; denn jetzt wird wieder die Dublin-Prüfung
vorgeschaltet.
Frau Kollegin Hänsel, der Geist, in dem wir in der
Arbeitsmarktpolitik und in der Sozialpolitik über dieses
Thema diskutieren, ist der Geist, dass wir die Menschen
gut integrieren wollen, dass wir sie schnell integrieren
wollen, dass wir ihnen Sprachkurse, Arbeitsmarktintegration und soziale Teilhabe ermöglichen. Dafür tun wir
alles. Ich habe Ihnen eine Menge Beispiele gezeigt, wo
das auch schon gut läuft. Das werden wir weiter ausbauen.
({0})
Deshalb möchte ich erwähnen - auch das ist ein
wichtiger Punkt -, dass wir für die Menschen aus den
Westbalkanländern eine Möglichkeit der legalen Arbeitsmigration geschaffen haben. Auch das erleichtert das
Bearbeiten der vielen, vielen unerledigten Anträge, die
es beim BAMF gibt; denn es ist besser, wenn die Leute auf dem Westbalkan wissen, dass sie, wenn sie einen
Arbeitsplatz in Deutschland haben, einen Antrag auf legale Zuwanderung durch Arbeit stellen können. Das ist
der richtige Weg gerade für die Menschen, die aus diesen Ländern zu uns kommen wollen. Das ist ein guter
und wichtiger Schritt, übrigens auch ein erster Schritt in
Richtung eines Einwanderungsgesetzes.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben in den
letzten Wochen viele gesetzliche Regelungen geschaffen, die für Asylbewerber und Geduldete - ich betone
das noch einmal - leichter und schneller den Zugang zu
Spracherwerb, zur deutschen Sprache schaffen und die
dafür sorgen, dass ihre Qualifikationen frühzeitig festgestellt werden. Viele bringen ja auf ihren Smartphones
Fotos ihrer Zeugnisse aus dem Heimatland mit und legen sie hier vor, damit man sehen kann, welche Ausbildung sie haben. Wir haben beschlossen, dass sie auf ihrem Weg in Arbeit gefördert werden. Wir sehen da auch
viel Kooperation vonseiten der Wirtschaft. Ich sage ganz
klar: Egal ob jemand bei uns aufgewachsen ist oder zu
uns gekommen ist, der Mindestlohn gilt für alle. Diese
Regeln auf dem Arbeitsmarkt gelten für alle. Diese Ordnung auf dem Arbeitsmarkt werden wir selbstverständlich beibehalten.
({2})
Deshalb sage ich: Es geht um praktische Maßnahmen. Es geht darum, dass jetzt alle zusammenhalten, die
Zivilgesellschaft, die schon zu Recht so gelobt worden
ist, unsere kommunalen Behörden, unsere Arbeitsämter
und Jobcenter. Sie alle müssen jetzt zusammen an dieser
wichtigen Aufgabe arbeiten. Wir investieren viel in neue
Stellen und stellen zusätzliche Mittel bereit. Wir wollen
das schaffen, und deshalb machen wir das.
Vielen Dank.
({3})
Für Bündnis 90/Die Grünen spricht jetzt die Kollegin
Luise Amtsberg.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wenn man mit Flüchtlingen in den Erstaufnahmeeinrichtungen und Gemeinschaftsunterkünften über ihr Leben
in Deutschland und das, was sie von der Zukunft erwarten, spricht, ist das Erste, was man feststellt: Flüchtlinge wollen arbeiten. Ein Arbeits- bzw. Ausbildungsplatz
ist die beste Integration in unsere Gesellschaft. Deswegen begrüßen wir ausdrücklich den besseren Zugang zu
Maßnahmen der Arbeitsmarktförderung und zu Integrationskursen für viele Flüchtlinge. Das Hereinkommen
in den Arbeitsmarkt bedeutet für viele - deshalb ist die
Motivation da sehr hoch - den Herausfall aus den Abhängigkeiten von sozialen Leistungen: raus aus den Erstaufnahmeeinrichtungen, rein in ein selbstbestimmtes Leben.
Deshalb ist es schön, festzustellen, dass die Motivation
da ist und wir nur noch den richtigen Weg brauchen, um
diese umzusetzen.
({0})
Trotzdem muss man, wenn man diese Debatte hier
verfolgt, sagen: Bei aller Einigkeit im Ton ist es doch
so, dass man nicht von Obergrenzen, Belastungsgrenzen
oder irgendwelchen anderen Grenzen sprechen kann,
wenn man nicht alle Maßnahmen, die möglich sind, ausgeschöpft hat, um diese Herausforderung, der wir jetzt
gegenüberstehen, zu bewältigen. Ich würde mir einfach
wünschen, dass Sie mehr auf die Bundesagentur für Arbeit, auf die Unternehmen und die Verbände und Betriebe
hören, die sagen: Die Vorrangprüfung ist ein unnötiges
bürokratisches Hindernis.
({1})
Passend dazu hat es das Bleiberecht für junge Auszubildende, für junge Flüchtlinge bedauerlicherweise nicht in
das letzte Gesetzespaket geschafft. Eine Duldung - das
muss man hier ganz deutlich sagen - ist für die BetrieHeike Hänsel
be - da kann man jeden einzelnen fragen - keine sichere
Bleibeperspektive.
({2})
Unternehmen und ihre Verbände, ganz besonders auch
die Industrie- und Handelskammern und die Handwerkerschaft, weisen zu Recht auf die Chancen hin, die sich
aus der Altersstruktur von Flüchtlingen in Deutschland
für den Arbeitsmarkt ergeben.
Die Kammern verfügen zusammen mit den bei ihnen
organisierten Unternehmen über hervorragende Strukturen, Flüchtlingen den Eintritt in das Arbeitsleben zu
erleichtern. Deshalb sollten Wirtschaft und Kammern
ihren Teil der Verantwortung tragen, gemeinsam mit
dem Bund. Wir Grünen haben deshalb vorgeschlagen um nicht nur zu meckern -, dass man einen Deutschland-Fonds für Integration auflegt, getragen von Unternehmen und vom Bund, der - gerade weil hier ja auch
immer wieder angesprochen wurde, dass die Sprache ein
zentraler Schlüssel ist - Kommunen und Initiativen offenstehen soll, um zum Beispiel die Sprachförderung und
die berufliche Aus- und Weiterbildung für die Menschen
zu finanzieren,
({3})
die keine oder nur geringe Sprachkenntnisse vorweisen
können.
Da gebe ich dem Kollegen Schiewerling ja recht: Die
Sprache ist das zentrale Moment, und ihr Erlernen wird
natürlich hauptsächlich in der praktischen Arbeit selbst
erfolgen. Bloß, man muss auch einmal mit der Praxis
sprechen: Die Handwerkerschaft sagt, dass es für sie ein
Problem ist, Ausbildungs- oder Arbeitsplätze zur Verfügung zu stellen, denn Menschen, die die Grundlagen der
deutschen Sprache nicht beherrschen, können auch nicht
mit Kunden kommunizieren. Da haben Betriebe einfach
eine Riesenbarriere. Das heißt, irgendeine Grundvoraussetzung müssen wir auf den Weg bringen. Da hakt es an
allen Ecken und Enden. Wenn in der Vereinbarung der
Parteichefs geschrieben wird, dass es eine Beteiligung
an den Kosten von Integrationskursen geben soll, dann
ist das doch genau das Gegenteil von dem, was wir hier
eigentlich erreichen wollen.
({4})
Laut Bundesagentur für Arbeit verfügt rund die Hälfte
der Flüchtlinge über eine akademische oder berufliche
Ausbildung. Das Modellprojekt „Early Intervention“
wurde angesprochen. Dort haben 40 Prozent der Teilnehmerinnen und Teilnehmer einen Hochschulabschluss,
ein weiteres Viertel eine Berufsausbildung. Ich bin fest
davon überzeugt, dass diese Menschen mit der richtigen
Unterstützung schnell die Chance haben, selbstständig in
Deutschland zu leben.
({5})
- Ich habe mich ja auch auf Sie bezogen, Frau Griese.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich komme aus der
Innenpolitik.
({6})
Deshalb finde ich es schön, dass, wenn das stimmt, der
Geist in der Sozialpolitik ein anderer ist als in der Innenpolitik; dort ist das ein bisschen anders. Innenpolitik und
asylrechtliche Fragen müssen mit dieser Frage zusammengedacht werden.
({7})
Wenn ich sehe, dass wir bisher die Gruppe der syrischen Bürgerkriegsflüchtlinge besonders in den Fokus
gerückt haben - das war ja auch Konsens hier im Haus und gesagt haben: „Da müssen wir besonders in Integration investieren, die berufliche Qualifikation dieser
Menschen muss schnell festgestellt werden, und diese
Menschen sollten so schnell wie möglich Deutsch lernen
und in den Arbeitsmarkt integriert werden“, dann ist das
ein Widerspruch zu dem, was jetzt vom Innenminister
bezüglich syrischer Asylsuchender geplant ist.
({8})
Die Asylverfahren werden deutlich länger dauern; wir
reden hier nicht von ein paar Wochen, wir reden hier von
Monaten der verschenkten Zeit. Es bleibt die Ungewissheit zurück, ob man nach Ungarn oder Bulgarien zurückgeführt wird und ob man seine Familie in absehbarer Zeit
wiedersieht - denkbar schlechte Voraussetzungen für die
Konzentration auf Integration in Deutschland.
({9})
Um es wieder konstruktiv zu machen: Wir Grünen fordern verschiedene Punkte: Das Erlernen der deutschen
Sprache muss ab dem ersten Tag ermöglicht werden.
Denn die Realität zeigt: Auch wenn Menschen hier in
Duldung leben, leben sie Jahre hier. Das ist eine verschenkte Zeit. Das hilft ihnen auch nicht dabei, an ihrer
Bleibeperspektive in Deutschland zu arbeiten. Potenziale
müssen so früh wie möglich erfasst werden. Wenn wir
mit der Handwerkerschaft sprechen, erleben wir, dass
gesagt wird - es gibt übrigens etwa 1 000 unbesetzte
Ausbildungsstellen in Schleswig-Holstein -: Wir wollen
ausbilden. Aber wir wissen überhaupt nicht: Wo sind die
Leute, und was bringen sie mit? Gibt es überhaupt jemanden für meinen Betrieb? - Diese Fragen müssen so
schnell wie möglich geklärt werden. Da muss auch eine
Verbindung hergestellt werden.
({10})
Qualifikationen müssen schnell und unbürokratisch
anerkannt werden; da sind wir uns, denke ich, alle einig.
Wenn bestimmte Teilqualifikationen fehlen, dann müssen diese unkompliziert nachgeholt werden können. Die
Finanzierung der Weiterbildung überfordert viele Flüchtlinge, Asylsuchende und Geduldete und zwingt sie in der
Folge - auch das muss man anerkennen -, unterhalb ihres
Qualifikationsniveaus für entsprechend geringe Einkommen zu arbeiten.
Zur Beratung und Förderung in den Arbeitsagenturen
und Jobcentern und zur Sicherheit junger Auszubildender
haben wir viel gesagt; darauf möchte ich jetzt nicht weiter
eingehen. Aber ein Punkt, der die Debatte vielleicht konstruktiv anfeuert, ist: Wir Grünen haben gesagt, dass es
ein denkbarer Schritt wäre, einen aufenthaltsrechtlichen
Statuswechsel zu ermöglichen. Man könnte Flüchtlingen
die Möglichkeit geben, ihren Aufenthaltsstatus zu wechseln und ihn gegen eine dauerhafte Bleibeperspektive
einzutauschen, etwa als Fachkraft in einem Mangelberuf.
({11})
Das klingt erst einmal sehr technisch, ist aber in einer
Zeit, in der Menschen in sehr großer Unsicherheit leben
und in der wir vor allen Dingen auf dem Arbeitsmarkt die
Chance sehen, die Herausforderung, der wir gegenüberstehen, zu bewältigen, eigentlich der richtige Schritt und
Ansatzpunkt. Warum sollen die Menschen ewig lang in
einem Asylverfahren verharren, wenn sie ihre Perspektive von einem auf den nächsten Tag mit einem Arbeitsplatz verbessern können?
Besonders nach dem Beitrag der Kollegin Griese glaube ich, dass wir uns hinsichtlich der Zielrichtung an vielen Stellen einig sind. Trotzdem: Bevor diese Dinge passieren können, müssen wir alle bürokratischen Hürden
abbauen. Das fängt mit der Abschaffung der Vorrangprüfung und dem Schutz von jungen Auszubildenden an. Ich
denke, hier gibt es noch sehr viel zu tun.
Herzlichen Dank.
({12})
Die Kollegin Jutta Eckenbach spricht als Nächste für
die CDU/CSU.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lassen
Sie mir zunächst einmal - das ist mir ganz wichtig - den
vielen Menschen danken, die vor Ort tätig sind und jeden Tag in die Flüchtlingseinrichtungen gehen, um zu
helfen. Sie bemühen sich darum, dass in den Einrichtungen Ruhe bewahrt wird, und kümmern sich auch um die
Kinder. Ich danke aber auch den runden Tischen und den
Menschen in den Bundesbehörden, die dort jeden Tag ihren Dienst leisten. Das ist schon angesprochen worden,
und ich denke, auch das gehört sich an so einem Tag bei
so einer Diskussion.
({0})
All das passiert. Wenn man mit Ehrenamtlichen in den
Einrichtungen spricht, dann erfährt man, dass sie große
Sorge davor haben, wie es weitergeht. Das ist auch in
der Bevölkerung so. Ich möchte diese Ängste hier heute
Morgen gerne auch ansprechen, weil es ganz wichtig ist,
das ernst zu nehmen.
Deswegen gehört es sich auch, heute Morgen hier zu
sagen, wo unsere Unterschiede liegen, wenn es darum
geht, für alle Sprachkurse und Integrationsmaßnahmen
anzubieten. Wir sind der Meinung, dass all diejenigen,
die hierbleiben dürfen, die also zumindest ein Bleiberecht haben, einen Sprachkurs benötigen. Frau Pothmer,
an dieser Stelle sind wir unterschiedlicher Meinung, und
wir haben auch unterschiedliche Meinungen zu den Anträgen der Linken, die hier heute gestellt worden sind.
({1})
Ich denke, es gehört sich auch, das hier klarzustellen und
klare Worte zu sprechen.
Wir wollen den Menschen helfen, die hier in Deutschland ein Bleiberecht und eine Bleibeperspektive haben.
({2})
Auch das gehört zur Ehrlichkeit und zur heutigen Diskussion. An diesen Punkten sind wir meilenweit voneinander entfernt.
({3})
Das deutsche Recht eröffnet die Möglichkeit der Arbeitsmigration, wodurch sich Menschen aus dem Ausland heraus in Deutschland einen Arbeitsplatz besorgen
können. Auf der anderen Seite haben wir unser Asylrecht. Das wollen wir auch nicht verändern, und dazu
stehen wir auch. Wir müssen es in Deutschland aber umsetzen. Ich glaube, es ist wichtig, das der Bevölkerung
noch einmal deutlich zu machen, um den Menschen ihre
Ängste zu nehmen.
Ich möchte noch auf etwas hinweisen, was mir in dieser Diskussion wichtig ist. Es ist schon vieles zu dem
gesagt worden, was wir alles tun. Ich möchte aber auch
noch einmal ganz deutlich zum Ausdruck bringen, dass
wir, wenn es um das Erlernen der deutschen Sprache
geht, auch gut prüfen müssen, wie die Integrationskurse
letztendlich ausgestaltet und mit welcher Maßgabe sie
versehen werden. Wir müssen bei den Integrationskursen Wert darauf legen, dass unsere Werte mit vermittelt
werden.
Es geht also nicht nur um das Erlernen der deutschen
Sprache, sondern auch darum, dass den Menschen unsere Werte und unsere Kultur als wichtige Grundpfeiler
unseres Landes vermittelt werden müssen. Das befähigt
sie dann nachher auch, sich in der Arbeitswelt wesentlich
besser zurechtzufinden und dort klarzukommen.
Ich war in dieser Woche bei einer Podiumsdiskussion des Bundesverbandes der Dienstleistungswirtschaft
und habe dort eine große Bereitschaft der unterschiedlichen Branchen gefunden, jungen Menschen einen
Ausbildungsplatz zur Verfügung zu stellen, und auch
Arbeitskräfte werden gesucht. Diese Podiumsdiskussion
hat nicht nur unter Sozialpolitikern stattgefunden, sondern es waren Sozialpolitiker und Wirtschaftspolitiker
gleichermaßen auf dem Podium. Auch diese Verbindung
brauchen wir momentan. Wir brauchen die Arbeitgeber
mit im Boot, ansonsten können wir seitens des Bundes
noch so viele Programme und noch so viele Perspektiven entwickeln. Wenn wir die Arbeitgeber mit ins Boot
bekommen, die bereit sind, für die jungen Menschen etwas zu tun, etwas auf sich zu nehmen und sich selbst mit
einzubringen - auch das müssen wir von Arbeitgebern
fordern -, dann wird uns Integration gelingen. Deswegen ist Integration nicht nur eine Aufgabe des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales, sondern auch eine
Aufgabe des Bundeswirtschaftsministeriums, denn auch
dort werden Weichen gestellt. Wir müssen die Arbeitgeber mit im Boot haben. Auf dieser Podiumsdiskussion ist
noch einmal sehr deutlich geworden, dass es um viele
Bereiche geht.
({4})
Frau Kollegin Eckenbach, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Pothmer?
Von Frau Pothmer immer.
({0})
- Ja, ich weiß.
Frau Eckenbach, Sie haben gerade zu Recht die Notwendigkeit angesprochen, auch die Arbeitgeber mit ins
Boot zu holen. Sind Sie denn auch bereit, die Arbeitgeber bei ihren Bemühungen, Flüchtlinge einzustellen, in
Arbeit und Ausbildung zu bringen, zu unterstützen? Und
sind Sie auch bereit, die Forderungen der Arbeitgeber,
nämlich erstens Abschaffung der Vorrangregelung und
zweitens eine sichere Bleibeperspektive für Flüchtlinge
in Ausbildung, zu erfüllen?
Beide Punkte, kann ich Ihnen sagen, waren am Mittwoch bei der Dienstleistungsbranche überhaupt kein
Thema.
({0})
- Ich kann ja nur das wiedergeben, was vor Ort war.
({1})
Ich sage ausdrücklich: Die Vorrangprüfung werden
wir als CDU/CSU-Fraktion nicht abschaffen. Wir halten
sie für dringend notwendig und werden sie weiter verfolgen.
({2})
Zu Ihrer Frage, wie es mit Ausbildungsverträgen während der Duldung aussieht: Frau Pothmer, ich verstehe
die Aufregung nicht. Ein Ausbildungsvertrag läuft über
drei Jahre.
({3})
Ist es denn zu viel verlangt, nach einem Jahr wieder bei
der Ausländerbehörde vorzusprechen und dort zu sagen,
({4})
dass man bereit ist, auch im nächsten Jahr seine Ausbildung fortzuführen? Ich halte das für möglich und durchführbar.
({5})
Insofern werden wir bei dieser Regelung bleiben.
({6})
Ich glaube, dass auch die Arbeitgeber sich daran
gewöhnen können; denn es wird keine neue Bürokratie aufgebaut, sondern es ist gerade zur Sicherheit der
Arbeitgeber, wenn die Ausbildung bis zum Abschluss
durchgehalten wird. Auch das können wir von jemandem
erwarten, der zu uns kommt.
({7})
Lassen Sie mich nun auf etwas eingehen, was heute
Morgen noch nicht angesprochen worden ist: die christlichen Werte und unsere Wertekultur. Gestern hat es in der
Presse einen Aufruf der jüdischen Gemeinden gegeben.
Diese haben große Sorgen, dass sie, wenn wir nicht bei
unseren Werten bleiben, wenn wir sie nicht unterstützen,
in einen Bereich hineinkommen, den sie nicht haben wollen,
({8})
nämlich dass wir auf deutschem Boden eine Auseinandersetzung führen, die wir nicht führen wollen, weil wir
nicht die Probleme der Heimatländer in Deutschland austragen wollen, sondern weil wir alle Religionen gleichberechtigt nebeneinander dulden und auch friedliches
Leben gewähren wollen. Diese Sorgen der jüdischen
Community müssen wir ernst nehmen. Wir alle müssen
gerade diesen Personenkreis vehement unterstützen, damit es hier nicht zu erneuten Auseinandersetzungen auf
eine ganz andere Art und Weise kommt, die wir hier in
Deutschland nicht haben wollen.
Deswegen bitte ich in diesem Hause darum, offen darüber zu diskutieren, dass wir die Werte und die Kultur
in Deutschland als Grundlage setzen. Denn das tun Sie
nicht, meine lieben Freunde der Linken. Was Sie machen,
ist mit Blick auf alle Maßgaben, die Sie hier in Deutschland einführen wollen, ein Missbrauch der Flüchtlingspolitik zum jetzigen Zeitpunkt.
({9})
Wir sind für eine Flüchtlingspolitik. Wir sind für eine
Bleibeperspektive. Wir sind für Eingliederung. Wir sind
für Menschen, die sich hier in Deutschland unter unserer
Kultur und unter unseren Werten einleben und sich wohlJutta Eckenbach
fühlen wollen und für das stehen, wofür wir alle stehen,
nämlich für Wohlstand und Frieden in Deutschland.
({10})
Mit der Bundeskanzlerin kann ich Ihnen sagen: Wir
schaffen das in Deutschland. Wir werden alles tun, dass
wir dies wirklich so umsetzen können.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({11})
Jetzt spricht der Kollege Josip Juratovic für die SPD.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Die öffentliche Debatte ist derzeit stark vom
Thema Flüchtlinge geprägt. Der Fokus liegt im ersten
Schritt ganz auf der Debatte darüber, welche und wie
viele Flüchtlinge wir aufnehmen können und wie und wo
wir sie unterbringen. Doch der zweite Schritt, nämlich
die Integration, insbesondere in den Arbeitsmarkt, ist genauso wichtig; denn der Arbeitsort ist der beste Ort für
die Integration. Das kann ich aufgrund meiner persönlichen Geschichte bestätigen.
({0})
Wenn wir von den derzeit circa 850 000 erfassten
Flüchtlingen ausgehen und eine Schutzquote von circa
50 Prozent annehmen sowie davon eine Erwerbsfähigkeit
von etwa 70 Prozent, dann sprechen wir über 300 000
Menschen, die wir schnellstmöglich in den Arbeitsmarkt
integrieren wollen. Das ist eine große Herausforderung,
der wir uns bewusst sind. Deshalb handeln wir bereits.
Es ist kein Zufall, dass unsere Regierung Bundesagenturchef Weise zum Chef des BAMF berufen hat. Wir sind
uns bewusst: Wir müssen die Effizienz der Prozesse steigern.
({1})
Deswegen verzahnen wir die notwendigen Prozesse,
mit denen auf der einen Seite der Aufenthalt geregelt und
auf der anderen Seite die Arbeitsmarktintegration ermöglicht wird. Es kann zum Beispiel nicht sein, dass wie bisher die Daten von Geflüchteten mehrfach erfasst werden
müssen. Hier müssen das Bundesamt für Migration und
Flüchtlinge und die Bundesagentur Hand in Hand arbeiten. Diese Zusammenarbeit hilft vor Ort vor allem den
vielen Beschäftigten von Ämtern, die die größte Last dieser Herausforderung tragen. Ihnen möchte ich von dieser
Stelle meinen ausdrücklichen Dank für ihren unermüdlichen Einsatz aussprechen.
({2})
Kolleginnen und Kollegen, viele Beschlüsse dieser
Wahlperiode weisen darauf hin, dass wir viel aus der
Vergangenheit gelernt haben. Menschen, die zu uns kommen und anerkannt werden, wollen und werden bei uns
bleiben. In Anbetracht des demografischen Wandels in
Deutschland brauchen wir diese Menschen in allen Bereichen unserer Gesellschaft.
({3})
Deshalb gilt: Je eher die Integrationsmaßnahmen greifen,
desto höher ist die Aussicht auf Erfolg.
Diese Wahrheit hat zum Glück Einzug in die Gesetzgebung gefunden, sei es bei der Öffnung der Integrationskurse für Asylsuchende, sei es bei der Ermöglichung
eines früheren Arbeitsmarktzugangs. Wir haben richtige
Schritte für die Integration der Flüchtlinge in den Arbeitsmarkt auf den Weg gebracht. Das haben wir richtig
gemacht.
({4})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, unsere Gesetzgebung schafft die richtigen Rahmenbedingungen, damit eine Arbeitsmarktintegration bereits während des
Asylverfahrens möglich ist. Entscheidend ist dabei ein
Dreiklang, bestehend aus einer passenden Sprachförderung, Anerkennung der beruflichen Abschlüsse und der
notwendigen Nachqualifizierung.
Bei jeder dieser Maßnahmen haben wir bereits wichtige Schritte in die Wege geleitet. Ich gebe zu: Wir sind
noch keineswegs am Ende. Wir haben die Integrationskurse für Asylsuchende geöffnet und werden noch für
eine ausreichende Finanzierung sorgen. Wir haben auf
der Bundesebene die Anerkennung der Berufsabschlüsse
erleichtert und müssen noch Wege finden, damit sich die
Asylsuchenden die Anerkennung überhaupt leisten können.
({5})
Ja, es ist wichtig, eine objektive und gründliche Erfassung der weniger formalen Qualifikationen voranzubringen. Die derzeit kursierenden Zahlen, 80 Prozent der
Flüchtlinge seien ohne formale Qualifizierung, entsprechen nicht ganz der Wahrheit. Wenn die Bundesagentur
einen Flüchtling fragt: „Haben Sie eine duale Ausbildung
abgeschlossen?“, ist es doch nicht verwunderlich, dass
die Antwort nein lautet.
({6})
Denn die duale Ausbildung gibt es nur in Deutschland
und in Österreich.
Stattdessen erfassen wir jetzt ganz früh den Qualifikationsstand durch das sogenannte Profiling. Nur wenn
wir sehr früh wissen, wo ein Flüchtling steht, können wir
ihm mit den richtigen Schritten helfen: mit Sprachförderung, Anerkennung von Abschlüssen und notwendiger
Nachqualifizierung. Dieser Dreiklang ist übrigens nicht
nur gut für Flüchtlinge; diese Maßnahmen sind gut für
alle Migranten, die nach Deutschland kommen.
Ich komme zum Schluss. Für mich als Integrationsbeauftragten der SPD-Fraktion ist es besonders wichtig,
dass einzelne Gruppen - sowohl Migranten als auch
Deutschstämmige - nicht gegeneinander ausgespielt
werden.
({7})
Denn nur gemeinsam können wir für ein erfolgreiches
Europa der Vielfalt als Beispiel dienen, statt für ein Europa der Zäune und Mauern. Jene, die uns mit Zäunen und
Mauern in Europa vor den „Barbaren“, wie die Armen
und Erschöpften vor unseren Haustüren teilweise genannt werden, schützen wollen, möchte ich mit auf den
Weg geben: Menschen, die wir heute erfolgreich integrieren, stehen möglicherweise schon morgen nicht mehr
wie solche „Barbaren“ vor unseren Türen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({8})
Nächste Rednerin ist für die CDU/CSU die Kollegin
Dr. Astrid Freudenstein.
({0})
Vielen Dank, Herr Präsident. - Meine Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linksfraktion, wissen Sie, was ich an Ihrem Antrag wirklich beklemmend finde? Ich finde es beklemmend, dass Sie sich
mit Ihren Vorschlägen offenbar jeder Verantwortung für
die Menschen, die hier im Land leben, entledigen.
({0})
Ich finde es nicht in Ordnung, dass Sie in dieser
schwierigen Situation in blanken Linkspopulismus verfallen.
({1})
Sie haben offenbar nicht das geringste Interesse an der
Lösung der Probleme, die wir haben.
({2})
Ich möchte Ihnen ein paar Beispiele aus Ihren politischen Visionen nennen.
({3})
Jeder Asylsuchende, der einen Job gefunden hat, soll ein
Bleiberecht bekommen - so steht es in Ihrem Antrag -,
und zwar unabhängig davon, wie sein Verfahren ausgeht.
Damit hebeln Sie ganz nebenbei unser Asylrecht aus,
weil man keinen Asylantrag mehr stellen muss, wenn es
ganz egal ist, ob er anerkannt wird oder nicht.
({4})
Alle Migranten, also auch abgelehnte Asylbewerber,
sollen vom ersten Tag an vollen Zugang zur gesamten
Ausbildungs- und Arbeitsförderung bekommen.
({5})
Und dann kommen Ihre Klassiker: Sie wollen, dass der
Mindestlohn auf 10 Euro erhöht wird, und fordern wie
immer höhere Steuern für Unternehmen. Meine Güte, ist
das wirklich Ihr Ernst, meine Damen und Herren?
({6})
Was treibt Sie an? Ich zitiere aus Ihrem Antrag:
Zuwanderung birgt die Chance, unser Land kulturell und wirtschaftlich zu bereichern. Diese Chance
wollen … wir ergreifen …
({7})
Vielleicht müssen wir klarstellen, worüber wir eigentlich
sprechen. Es handelt sich nämlich nicht um herkömmliche Zuwanderung.
Es kommen Menschen zu uns, die vor Krieg und Gewalt fliehen. Das hat sich keiner von uns gewünscht.
({8})
Diese Menschen mögen Analphabeten sein oder Akademiker; sie mögen jung sein oder alt; sie mögen etwas
beitragen können oder nicht - es ist völlig egal: Ihnen
gewähren wir Schutz.
({9})
Dabei geht es natürlich nicht darum, ob diese Menschen
unser Land kulturell und wirtschaftlich bereichern können und wir deren Elend als unsere Chance begreifen.
Das steht auch in keinem Asylparagrafen.
({10})
Außerdem kommen Menschen zu uns, und zwar viele
Menschen, die sich hier auf das Asylrecht berufen, die
aber eben nicht vor Krieg und Verfolgung fliehen, die
kein Recht auf Schutz in unserem Land haben und keine
Bürgerkriegsflüchtlinge sind. Diese Menschen müssen
und werden wir zurückschicken, und zwar wieder ganz
unabhängig davon, ob sie Analphabeten oder Akademiker sind. Denn es muss doch klar sein, dass die Zuwanderungswelle, wie wir sie zurzeit erleben, nicht dazu geeignet ist, die Probleme hier im Land zu lösen.
Nehmen wir das Schlagwort „Fachkräftemangel“, das
in diesen Wochen Konjunktur hat. Es ist im Zusammenhang mit den Flüchtlingsströmen, die momentan zu uns
kommen, gleich doppelt unangebracht. Wir haben zum
einen keinen generellen Fachkräftemangel.
({11})
Es gibt Fachkräfteengpässe in einigen Branchen und in
einige Regionen. Das Problem entsteht im Wesentlichen
dadurch, dass die Bewerber nicht bereit sind, dort hinzuziehen, wo es die freien Stellen gibt.
({12})
Wir haben es auch sicher nicht mit einem Zustrom von
Fachkräften zu tun oder mit solchen, die es in absehbarer Zeit werden können. Ich greife als Beispiel Syrien
heraus. Syrien ist ein Agrarland, das vor dem Krieg mit
Erdöl, Oliven und Textilien gehandelt hat. Der Tourismus brachte Devisen ins Land. Die meisten Syrer kamen,
wenn überhaupt, bei einem viel zu großen Staatsapparat
unter, und der war korrupt. Viele Syrer haben die vergangenen Jahre in Flüchtlingslagern verbracht. Der Krieg
hat ihnen die Jahre der Ausbildung und Bildung schlichtweg genommen. Es sind jedenfalls nicht die Fachkräfte,
die mancherorts bei uns fehlen.
({13})
Weil Sie zu wenig interkulturelle Kompetenz bei den
Mitarbeitern der Bundesagentur für Arbeit beklagen:
Selbst wenn alle BA-Mitarbeiter fließend Arabisch, Dari
oder Paschtu sprechen würden und wenn sie alle ein Studium der Ethnologie absolviert hätten, würde das nichts
an der Tatsache ändern, dass für die allermeisten derer,
die nun kommen, unser Arbeitsmarkt kurz- und mittelfristig unerreichbar ist. Warum schildere ich das alles?
Ich tue das, um darzulegen, wie schwierig die Situation
ist und dass es nicht damit getan ist, ein paar Sprach- und
Integrationskurse anzubieten
({14})
sowie Kompetenzen und Qualifikationen zu suchen. In
dieser schwierigen Situation müssen wir uns auf die konzentrieren, die hier Schutz brauchen. Sie, meine Damen
und Herren von der Linken, kommen mit Ihren Vorschlägen daher und wollen das allen geben, und zwar unabhängig davon, ob sie Schutz brauchen oder nicht. Das ist
der große Fehler Ihres Antrags.
({15})
Ich halte das auch für völlig unverantwortlich gegenüber
den Menschen in unserem Land.
In einem Ziel sollten wir uns einig sein: Das Allerbeste, was wir erreichen können, wäre, wenn die, die jetzt
Tag für Tag zu Tausenden kommen, so früh wie möglich
in ihre Heimat zurückkehren könnten, um ihr Land wiederaufzubauen, und zwar gerne mit den Kenntnissen und
den Erfahrungen, die sie hier bei uns in der Schutzzeit
gesammelt haben.
Herzlichen Dank.
({16})
Vielen Dank. - Bevor ich nun dem Kollegen Bartke
das Wort erteile, möchte ich eine Delegation aus Kolleginnen und Kollegen des Auswärtigen Ausschusses des
Europäischen Parlaments unter ihrem Vorsitzenden,
Elmar Brok, herzlich begrüßen, die auf der Ehrentribüne Platz genommen haben.
({0})
Ich begrüße außerdem den Generalsekretär der
OSZE, Herrn Lamberto Zannier, und seine Delegation herzlich.
({1})
Ich wünsche Ihnen nicht nur bei diesem Besuch hier
in Berlin viel Erfolg, sondern auch für Ihre wichtige politische Arbeit. Ich denke, gerade in diesen Zeiten ist es
wichtig, dass Europa beisammenbleibt.
Jetzt hat der Kollege Matthias Bartke für die SPD das
Wort.
({2})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sehr geehrte Europaparlamentarier und OSZE-Parlamentarier! Zu Beginn möchte ich Ihnen von Emma
Louise Meyer aus meiner Heimatstadt Hamburg berichten. Emma arbeitet als freiwillige Helferin am Hamburger Hauptbahnhof. Die freiwilligen Helfer sind dort
aber weniger geworden, die ankommenden Flüchtlinge
leider nicht. Emma hat daher ein Video online gestellt.
„Kommt alle“, heißt es in dem Video, „Broteschmierer,
Ärzte, Dolmetscher, und helft.“ Das Video war ein unglaublicher Erfolg. Es wurde 100 000-mal angeklickt,
und es hat mehr als 150 Helfer akquiriert. Das ist die gute
Nachricht. Die schlechte Nachricht ist: Ausländerfeinde
haben danach in den sozialen Netzwerken eine massive
Hetze gegen Emma gestartet. Ich danke Sigmar Gabriel
dafür, dass er solche Ausländerfeinde als das bezeichnet
hat, was sie sind: als Pack.
({0})
Ich war am Sonntag am Hamburger Hauptbahnhof.
Ich habe dort ehrenamtliche Helfer angetroffen, die motiviert und professionell arbeiten. Diesen ehrenamtlichen
Helfern und den Zigtausenden anderen in Deutschland
möchte ich sagen: Danke!
({1})
Danke für die selbstlose Hilfe für die in Not geratenen
Menschen. Sie sind das gute Deutschland.
Unser Land liegt im Herzen Europas. Wir waren
schon immer Fluchtort. Ich selbst stamme von verfolgten
Hugenotten ab, die aus Frankreich flohen und hier eine
neue Heimat gefunden haben. Direkt nach dem Krieg
haben wir 12 Millionen Vertriebene aufgenommen. Danach kamen 5 Millionen Gastarbeiter, und danach kamen
4 Millionen Aussiedler. Wenn wir Deutsche mit einer
Sache Erfahrung haben, dann ist das die Integration von
Migranten. Die Erfahrung lehrt uns aber auch, dass wir
beim Umgang mit Gastarbeitern schwere Fehler gemacht
haben. Wir haben damals eben nicht auf Nachhaltigkeit
gesetzt, und aus diesen Fehlern haben wir gelernt. Wir
werden es jetzt besser machen.
({2})
Im vergangenen Jahr hat die Bertelsmann-Stiftung
eine viel beachtete Studie zur demografischen Entwicklung veröffentlicht. Sie hat darin festgestellt, dass
Deutschland ohne Zuwanderung bis zum Jahr 2050 eine
Arbeitskräftelücke von insgesamt 16 Millionen Arbeitnehmern hätte. Notwendig ist danach eine Zuwanderung
von etwa 500 000 Menschen jährlich. Bislang waren
es in der Regel immer nur 200 000, womit eine Lücke
von 300 000 bleibt. Mit anderen Worten: Deutschland
benötigt in den nächsten 35 Jahren jährlich zusätzlich
300 000 Zuwanderer, um das Gesellschaftswesen in seiner jetzigen Form zu erhalten.
Das Problem ist daher nicht die Zahl der Flüchtlinge, die nach Deutschland kommen. Das Problem ist die
Geschwindigkeit, mit der sie kommen. Die Parteispitzen
der Koalition haben daher am vergangenen Donnerstag
klare Beschlüsse gefasst. Dazu gehören auch, so bitter es
ist, deutlich verbesserte Möglichkeiten der Abschiebung.
Aber es gilt ein klarer Zusammenhang: Wer Ja zu einem
Asylrecht sagt, der muss auch zu Abschiebungen Ja sagen, wenn kein Asylgrund vorliegt.
({3})
Der Zuzug von Flüchtlingen nach Deutschland kann
ein unschätzbarer Beitrag zur Entschärfung der demografischen Bombe sein, die sonst zu explodieren droht. Es
muss aber auch klar sein: Wir brauchen keine kurzfristige, wir brauchen eine nachhaltige Eingliederung von
Flüchtlingen. Das ist eine Aufgabe, die zweifellos einen
sehr langen Zeitraum in Anspruch nehmen wird.
({4})
Für die Eingliederung ist die Teilhabe am Arbeitsleben
ganz wesentlich. 70 Prozent der ankommenden Flüchtlinge haben keine abgeschlossene Berufsausbildung.
Allerdings ist mehr als die Hälfte von ihnen jünger als
25 Jahre. Das ist Schul- und Ausbildungsalter. Richtiger
ist es daher, zu sagen: Sie haben noch keine Ausbildung.
({5})
Wir arbeiten mit Hochdruck daran, dass das nicht so
bleibt. Wir haben dafür die Duldung für eine Ausbildung
und deren Verlängerung um jeweils ein Jahr bis zum
Ausbildungsabschluss ermöglicht. Wir wissen, dass das
noch nicht genug ist. Der erfolgreiche Abschluss muss
zum dauerhaften Aufenthalt berechtigen. Der Ausbildungsantrag muss außerdem auch nach dem 21. Lebensjahr möglich sein. Dafür setzen wir uns ein.
({6})
Geduldete Auszubildende sollen nun auch mit ausbildungsbegleitenden Hilfen unterstützt werden. Geduldete sollen deutlich schneller als bisher mit Berufsausbildungsbeihilfe gefördert werden oder eine assistierte
Ausbildung erhalten. Den Zugang zu Praktika für Asylbewerber und Geduldete haben wir ebenfalls erleichtert.
Schließlich und ganz wichtig - es wurde hier bereits erwähnt -: Voraussetzung für eine erfolgreiche Integration
in den Arbeitsmarkt ist die Sprache. Die Integrationskurse haben wir daher für Asylbewerber und Geduldete mit
guter Bleibeperspektive geöffnet. Wir investieren derzeit
größte Kraftanstrengungen, um die Zahl der Plätze in
Sprachkursen drastisch zu steigern.
Wir erleben seit drei Monaten einen Flüchtlingszustrom von nicht gekanntem Ausmaß. Dass wir in diesen
kurzen drei Monaten noch nicht alle Probleme gelöst
und nicht alles im Griff haben, ist doch klar. Klar ist aber
auch: Wir sind auf einem guten Weg. Ich bitte Sie daher
am Schluss: Begreifen Sie die Flüchtlinge nicht in erster
Linie als Problem, begreifen Sie sie als Chance.
Ich danke Ihnen.
({7})
Abschließende Rednerin in dieser Aussprache ist die
Kollegin Andrea Lindholz für die CDU/CSU.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Werte Gäste! Täglich kommen bis
zu 10 000 neue Migranten nach Deutschland. Die Lage in
Deutschland und Europa wird immer ernster. Selbst das
liberale Schweden führt in diesen Stunden wieder Grenzkontrollen ein. Auch Deutschlands Integrationskraft ist
begrenzt. Wir können nicht jedes Jahr 1 Million Menschen aufnehmen, versorgen, ausbilden und integrieren.
Deswegen steht aktuell die Eindämmung des Zustroms
im Fokus der Debatte. Das bloße Einfordern der Einhaltung europäischen und deutschen Rechtes ist im Übrigen
keine Chaospolitik, sondern es ist zwingend erforderlich,
um zu ordnen, zu strukturieren und zu begrenzen.
({0})
Es geht, sehr geehrte Frau Kollegin Mast, gerade nicht
darum, jedem syrischen Flüchtling, so wie Sie es heute
suggeriert haben, nur subsidiären Schutz zu gewähren.
({1})
Es geht darum, zur Einzelfallprüfung, die unser Gesetz
vorsieht, zurückzukehren und jeden Flüchtling anzuhören, aus welchem Land er kommt, ob er tatsächlich aus
Syrien stammt und ob man ihm Flüchtlingsschutz nach
der Genfer Flüchtlingskonvention gewährt,
({2})
ob er einen Asylanspruch nach dem Grundgesetz hat oder
ob er nur subsidiären Schutz erhält. Das ist auch richtig
so.
({3})
Diese Entscheidung steht im Übrigen nicht im Ermessen der Abgeordneten, sondern der Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge. Dessen Sprecher hat im Übrigen gestern erklärt,
dass das Dublin-Verfahren die nationalen Asylverfahren
sogar entlastet und nicht belastet.
({4})
- Lesen Sie bitte heute die Zeitung. Dort können Sie das
Zitat nachlesen.
({5})
Neben diesen wichtigen Fragen ist natürlich auch die
Integration der anerkannten Flüchtlinge für den sozialen
Zusammenhalt in Deutschland essenziell. Wir brauchen
dazu keinen Antrag der Linken; denn schon heute gründen Schulen, IHKs, Handwerk, Arbeitsagenturen, Verbände und vor allem die Kommunen lokale Netzwerke
und runde Tische und versuchen, das Problem anzugehen, anstatt nur pauschale und polemische Reden zu halten.
({6})
Auch der Bundesinnenminister hat letzte Woche
eine - ich nehme an, dass einige von Ihnen dort waren hochinteressante Fachtagung zum Thema „Fachkräftezuwanderung und Flüchtlinge - Geht das zusammen?“ in
seinem Hause abgehalten. Es arbeiten also schon viele
engagierte und kluge Menschen an diesem Thema.
Man sollte heute auch einmal eines klarstellen: Anerkannte Flüchtlinge haben vollen und uneingeschränkten
Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt. Wir reden also darüber, wie wir mit den Asylbewerbern verfahren, die bei
uns noch nicht anerkannt sind. Hier müssen wir zwischen
bleibeberechtigten und nichtbleibeberechtigten Asylbewerbern unterscheiden. Voraussichtlich werden 400 000
bleibeberechtigte Asylbewerber aus dem Jahr 2015 verbleiben. Diese Integrationsleistung wird eine zentrale
Zukunftsaufgabe für unser Land werden. Daher sollten
für uns einige Grundprinzipien gelten.
Die Integration muss auf die Menschen mit guter
Bleibeperspektive konzentriert werden. Bei den anderen
brauchen wir keine Integration; denn dort steht die Ausreisepflicht im Vordergrund.
Asyl und Arbeitsmigration müssen klar getrennt werden. Ich habe heute hier gehört, dass man gerne beides in
einen Topf schmeißt. Das ist aber nicht richtig. Flüchtlingsschutz gibt es aus humanitären Gründen. Wenn Sie
in Ihrem Antrag den Spurwechsel von der Asylbewerberpolitik in die Arbeitsmigration vornehmen, dann ist das
ein glatter Fehlanreiz.
({7})
Wer nicht aus der EU kommt und bei uns arbeiten will,
kann dies. Wir haben über 70 - ich habe vorhin gehört,
wir gehen auf die 90 zu - Mangelberufe, bei denen man
relativ problemlos eine Arbeit aufnehmen kann. Es gibt
auch noch die Bluecard. Wir müssen nach wie vor Asylrecht und Arbeitsmigration ganz klar voneinander trennen.
Wir sind uns einig, dass die Integration früh anfangen
muss. Deswegen haben wir auch für Menschen mit guter
Bleibeperspektive, unabhängig von der Dauer des Asylverfahrens jetzt schon die Residenzpflicht eingeschränkt,
den Arbeitsmarktzugang erleichtert und die Teilnahme an
Integrationskursen von Anfang an beschlossen. Das sind
die richtigen Weichenstellungen.
Integration braucht Zeit. Die Bundesagentur für Arbeit schätzt, dass von allen Asylbewerbern, die zu uns
kommen und die bei uns einen Anspruch auf einen Arbeitsplatz haben, nur 10 Prozent im ersten Jahr eingegliedert werden können, 50 Prozent nach fünf Jahren und
70 Prozent nach zehn Jahren. Es reicht also nicht aus, nur
Arbeitsverbote abzuschaffen. Die Vorsitzende des Sachverständigenrates Deutscher Stiftungen für Integration
und Migration, Frau Professor Langenfeld, hält solche
Forderungen sogar für kontraproduktiv. Sie fordert ganz
klar, den Fokus zunächst einmal auf Sprache, auf Qualifikation und Weiterbildung zu legen; denn ohne Sprache
und ohne Qualifikation findet bei uns niemand Arbeit.
Wir müssen unsere hohen Bildungsstandards aufrechterhalten, aber sicherlich bei der Anerkennung der
Fähigkeiten flexibler werden. Nicht ein Zertifikat darf
entscheiden, sondern es muss die tatsächliche berufliche
Erfahrung unter die Lupe genommen werden. Ein afghanischer Elektriker wird nicht nur die Sprache lernen
müssen, sondern auch, was ein europäischer Schaltkasten ist. Wir müssen sicherlich vor Ort durch Fachgespräche, durch Arbeitsproben und durch Praktika ermitteln,
welche Leistungen der einzelne Asylbewerber erbringen
kann. Das ist viel aussagekräftiger als ein Zertifikat.
Zuletzt wird die Integration nicht nur Geld erfordern,
sondern die gesamte Gesellschaft. Ihr Antrag suggeriert,
die Integration ließe sich quasi rein staatlich organisieren.
Der Staat wird seinen finanziellen Beitrag leisten. Die
Wirtschaftsweisen schätzen für 2016 die Bruttoausgaben
der öffentlichen Haushalte im Zuge der Flüchtlingskrise
auf einen Wert zwischen 9 Milliarden und 14,3 Milliarden Euro.
Damit schaffen wir allerdings nur Rahmenbedingungen. Integration funktioniert nur, wenn wir sie als gesamtgesellschaftliche Daueraufgabe begreifen. Deswegen ist entscheidend, dass wir als Politik gemeinsam mit
den Verantwortlichen vor Ort, die hier schon hervorragende Leistungen erbringen, auch die richtigen Lösungen suchen, die richtigen Antworten finden. Ihr Antrag
greift in vielen Punkten wie so oft zu kurz, und deshalb
lehnen wir ihn ab.
({8})
Damit schließe ich die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/6644 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? - Widerspruch sehe ich nicht. Dann ist das
so beschlossen.
Jetzt rufe ich die Tagesordnungspunkte 6 a bis 6 c auf:
a) Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
CSU und SPD
40 Jahre nach Helsinki, 25 Jahre nach Paris -
Den deutschen OSZE-Vorsitz 2016 für neue
Impulse hin zu einer auf Dialog, Vertrauen
und Sicherheit ruhenden Friedensordnung in
Europa nutzen
Drucksache 18/6641
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Katrin
Kunert, Inge Höger, Andrej Hunko, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion DIE LINKE
Den deutschen Vorsitz in der Organisation für
Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa im
Jahr 2016 für Frieden und Abrüstung nutzen
Drucksachen 18/5108, 18/6377
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({1}) zu dem Antrag der Abgeordneten
Marieluise Beck ({2}), Agnieszka Brugger,
Annalena Baerbock, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Den deutschen OSZE-Vorsitz 2016 zur Stärkung der OSZE nutzen
Drucksachen 18/6199, 18/6375
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
diese Aussprache 60 Minuten vorgesehen. - Widerspruch
sehe ich nicht. Dann ist auch dieses somit beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Bundesminister Dr. Frank-Walter Steinmeier
das Wort.
({3})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich muss
gleich mit einer Zumutung beginnen, weil ich aus aktuellem Anlass aus sehr alten Akten des Auswärtigen Amtes
zitieren werde, ohne dabei hoffentlich schon am Anfang
meiner Rede dazu beizutragen, meine Redezeit zu überschreiten. Wir haben einen 40 Jahre alten Gesprächsvermerk gefunden, aus dem ich wenigstens ganz kurz zitieren will:
Nach einleitenden Bemerkungen erklärte H., es
komme darauf an, in den gegenseitigen Beziehungen den Geist von Helsinki stärker wirksam werden
zu lassen ... trotz aller noch bestehenden Schwierigkeiten, das Erreichte zu konsolidieren und Störendes auszuschalten.
Danach heißt es:
Das Gegenüber von H. erwidert nur ganz knapp:
Richtig. „Man darf jetzt nicht alles in die Elbe werfen ...“
({0})
Damit ahnen Sie vielleicht, um wen es bei diesem
Gegenüber geht: um den Sohn der Elbestadt, um jenen
großen Staatsmann, um den wir in diesen Tagen trauern.
Damals, vor 40 Jahren, im Sommer 1975 in Helsinki,
traf Bundeskanzler Helmut Schmidt nicht nur zum ersten
Mal auf den oben zitierten Gesprächspartner H. - das war
Erich Honecker -; darüber hinaus unterzeichnete Schmidt
nach langen Verhandlungen mit allen Seiten, auch mit
der Sowjetunion, am 1. August 1975 für die Bundesrepublik die Schlussakte von Helsinki. Die Schlussakte legte
den Grundstein für Dialog und Zusammenarbeit über die
Gräben des Kalten Krieges hinweg. Sie schuf eine Brücke, auf der diese Gräben schließlich überwunden wurden und die dann mit der Charta von Paris vor 25 Jahren
auf eine neue institutionelle Ebene gelangte: die OSZE.
Diese OSZE, um deren Vorsitz es heute geht, ist bis heute
das Fundament unserer Sicherheitsarchitektur in Europa.
Ich will sagen: In Erinnerung und in Respekt vor diesem großen Erbe, auch vor Schmidts Erbe, das mit Willy
Brandt, Hans-Dietrich Genscher und Egon Bahr auf den
Weg gebracht worden ist, übernimmt Deutschland den
Vorsitz der OSZE 2016. Ich bin mir ganz sicher: Nicht
nur der Außenminister und nicht nur die Bundesregierung, sondern das ganze Hohe Haus sind sich - und nicht
nur in diesem Vorsitzjahr - der Verantwortung für Frieden und Europa bewusst, meine Damen und Herren.
({1})
Am Vorabend der Unterzeichnung erklärte Helmut
Schmidt vor den Kameras:
Hier in Helsinki dokumentiert Europa … einen neuen Schritt auf dem Wege zur Stabilisierung des Friedens. Dies ist ein Weg, auf dem wir mit Geduld und
Beharrlichkeit
- und jetzt hören Sie zu und ohne uns durch Rückschläge entmutigen zu lassen, Schritt für Schritt weitergehen müssen.
Das ist 40 Jahre her, aber es klingt wie eine Ermutigung an die Verantwortlichen von heute. Ich sage das
deshalb, weil wir natürlich wissen - auch wussten, als
wir uns entschieden haben, ihn zu übernehmen -, dass
wir den Vorsitz in stürmischen Zeiten übernehmen.
25 Jahre nach der Charta von Paris ist Europas Sicherheitsarchitektur - darüber haben wir hier in den letzten
Monaten häufig genug gesprochen - mehr als nur auf
die Probe gestellt. Das ist auch deshalb so, weil einer der
Gründer- bzw. Unterzeichnerstaaten der OSZE einen der
wichtigsten Grundsätze, nämlich die Unverletzlichkeit
von Grenzen, nicht nur infrage gestellt, sondern verletzt
hat.
Noch vor wenigen Monaten tobten in der Ostukraine
schwere Kämpfe. Es gab immer wieder neue Meldungen
über Tote und Verletzte. Mit jeder Verletzung der Waffenruhe, jeder neuen Provokation und jedem Toten verhärteten sich die Fronten weiter. Da gab es die einen, die dann
nach Waffenlieferungen an die Ukraine gerufen haben,
um der Aggression zu begegnen. Es gab die anderen, die
gerufen und geschrieben haben: Was sollen eigentlich
eure ganzen diplomatischen Bemühungen? Das führt zu
nichts. Belasst es bei den Sanktionen.
Wir sind, wie Sie wissen, beiden Vorschlägen nicht
gefolgt. In Erinnerung an das Erbe von Helsinki haben
wir einen anderen Weg eingeschlagen. Wir haben einen
politischen Prozess versucht und treiben ihn trotz aller
Rückschläge - von diesen Rückschlägen gab es genug;
über viele dieser Rückschläge haben wir hier gesprochen - weiter voran.
Und heute? Wir sind weit davon entfernt, zu sagen:
Es gibt Anlass, zufrieden zu sein. Das überhaupt nicht.
Schon deshalb nicht, weil wir mit der Umsetzung der
Minsker Vereinbarungen weit hinter dem Zeitplan zurück sind. Aber immerhin hält der Waffenstillstand seit
jetzt gut zwei Monaten. Es sterben nicht mehr täglich
Menschen in der Ostukraine. Und wir - mein französischer Kollege und ich - haben zuletzt den ukrainischen
und den russischen Außenministerkollegen am Wochenende hier in Berlin gehabt. Natürlich haben wir darüber
verhandelt, wie wir diesen jetzt seit zwei Monaten bestehenden Waffenstillstand weiter absichern können, wie
wir die weiteren Vereinbarungen und Selbstverpflichtungen aus der Minsker Vereinbarung umsetzen.
Wir haben verhandelt, wie wir besseren Zugang für
humanitäre Hilfe hinkriegen, weil immer noch nur wenige Hilfsorganisationen in der Ostukraine tätig sein
dürfen. Wir haben darüber gesprochen, wie wir jetzt
den nächsten Schritt bei der Konsolidierung des Waffenstillstandes - Räumung von Minen und Kampfmitteln - einleiten. Wir haben darüber gesprochen, wie wir
beschädigte Infrastruktur wiederherstellen können, um
die Verbindungen zwischen dem Osten der Ukraine und
der Zentralukraine weiter zu verbessern. Zentral und im
Vordergrund dieses Treffens stand die Frage, wie wir die
Voraussetzungen dafür schaffen können, die Lokalwahlen, welche die Separatisten einseitig angesetzt hatten wir haben sie Gott sei Dank verschieben dürfen -, vorzubereiten, und welche rechtliche Grundlage wir dafür
gemeinsam schaffen können.
Natürlich ist der Erfolg dieser Bemühungen nicht
garantiert. Ich sage aber: Immerhin sind wir so weit gekommen. Dass wir so weit gekommen sind, ist nicht das
Verdienst von einigen wenigen Außenministern. Ich sage
das hier, weil ich jedenfalls weiß, dass wir nie so weit gekommen wären, dass wir nicht einen dieser Gräben ohne
die OSZE und die mutigen Frauen und Männer in der
Beobachtermission bzw. der Trilateralen Kontaktgruppe
hätten überspringen können. Ohne die hätten wir nichts
hinbekommen. Und dafür, lieber Herr Generalsekretär,
lieber Lamberto Zannier, wollen wir gerade an diesem
Tage der OSZE, wollen wir Ihnen und den Mitarbeitern
der OSZE ganz herzlich danken.
({2})
Beobachtermission, Verifikation, Kontaktgruppe - ich
finde, das Beispiel Ukraine, so unbefriedigend der Stand
auch immer noch ist, zeigt, dass es bei der OSZE konkrete Instrumente und Foren gibt, mit denen wir den Geist
von Helsinki nicht nur wachhalten können, sondern,
ergänzt um die Vorschläge, die Botschafter Ischinger
mit seiner Expertengruppe gemacht hat, vielleicht sogar erneuern können - erneuern unter gänzlich anderen
Voraussetzungen: nach dem Ende des Kalten Krieges,
nach veränderten Konfliktsituationen, die wir nicht nur
in Europa, sondern auch im Mittleren Osten haben, und
dennoch darauf setzen, dass Kooperation statt Konfrontation unsere Außenpolitik beherrscht, dass immer wieder Dialog statt Sprachlosigkeit hergestellt wird und dass
Diskurs immer noch besser ist als Abschottung, wenn ich
drei der zentralen Themen aus der Philosophie der OSZE
in Erinnerung rufen darf. Darauf müssen wir setzen, und
deshalb wollen wir die Instrumente und die Gesprächsforen der OSZE unter unserem Vorsitz, soweit das möglich
ist und soweit das von anderen mitgetragen wird, stärken.
Wir werden als OSZE-Vorsitz Angebote zum Dialog
machen für alle Mitgliedstaaten - auf der Grundlage der
Vielfalt von Themen, die in der Organisation verankert
sind, und das sind nicht nur die eingefrorenen Konflikte. Ein Kernbereich der OSZE spielt dabei natürlich eine
besondere Rolle: Das sind die konventionelle Rüstungskontrolle - nicht zu vergessen! - und, immer wieder
wichtig, gerade jetzt, vertrauensbildende Maßnahmen.
Vertrauensbildung - das Wissen darum scheint zwischendurch etwas verlorengegangen zu sein - fällt nicht vom
Himmel, sondern entsteht nur durch Zusammenarbeit an
ganz konkreten Themen. Nur dadurch kann man verlorengegangenes gemeinsames Bewusstsein wieder schaffen. Das gilt auch für die Vorstellung, dass es nicht nur
gemeinsame Bedrohungen gibt, sondern daneben - hoffentlich - immer auch gemeinsame Interessen, die sich
verfolgen lassen. So würden wir das sagen, aber aus dem
gemeinsamen Bewusstsein für Interessen und Bedrohungen kann vielleicht sogar noch mehr entstehen, kann ein
neuer Geist von Helsinki in ganz anderen Regionen dieser Welt erwachen.
Der eine oder andere von Ihnen war mit dabei auf der
Reise in den Iran und nach Saudi-Arabien, zu den, wenn
man so will, schärfsten Konkurrenten in all den Konflikten im Mittleren Osten. Wir haben den Abschluss nach
Teheran, nach Riad bewusst in Amman mit dem Besuch
der OSZE-Konferenz in Jordanien gesetzt. Warum? Weil
wir gerade nach dem Besuch dieser beiden Länder und
nach dem Versuch, sie beim Thema Syrien zusammenzubringen, sagen wollten: Unsere Erfahrung in Europa ist
eben, dass selbst über abgrundtiefe Gräben hinweg Brücken der Zusammenarbeit möglich sind. - Das war die
Botschaft, die wir mit zur OSZE-Konferenz in Jordanien, mitten im Zentrum der Konflikte im Mittleren Osten,
gebracht haben. Wir müssen uns auch eingestehen: Das
ist eine Einsicht, die in Europa - man sehe sich nur einmal die letzten zwei, drei Jahrhunderte an - nicht immer
vorhanden war. Sie ist gewachsen; sie war am Ende das
Ergebnis von zwei Weltkriegen im vergangenen Jahrhundert. Ich hoffe - wir werden dafür arbeiten -, dass sich
ähnliche Einsichten auch in anderen Konfliktregionen,
gerade im Mittleren Osten, durchsetzen. Meine Damen
und Herren, auch das wird Aufgabe unseres OSZE-Vorsitzes sein.
({3})
Ich will Ihnen, bevor ich zum Schluss komme, ganz
herzlich danken, dass alle Fraktionen des Deutschen
Bundestages dem Inhalt ihrer Anträge nach den deutschen Vorsitz in der OSZE im nächsten Jahr unterstützen.
Ich werde auch auf Sie angewiesen sein werden, gerade
auf die Mitarbeit der Parlamentarier in der Parlamentarischen Versammlung der OSZE. Ich weiß als Außenminister nur zu gut, dass unsere Möglichkeiten, gerade in
Konfliktsituationen, beschränkt sind, wenn wir nicht in
gleicher Weise Austausch auf der parlamentarischen und
auf der zivilgesellschaftlichen Ebene haben.
Deshalb zum Schluss: Ich weiß, dass die Erwartungen an den deutschen OSZE-Vorsitz groß sind. Aber in
stürmischen Zeiten kann eben niemand sagen, was und
wie viel davon sich erfüllen lässt. Ich kann nur sagen,
dass jedenfalls wir uns in Erinnerung an das Erbe von
Helsinki dieser Aufgabe verpflichtet fühlen. Wir wissen
und erinnern uns, dass schon damals, mitten im Kalten
Krieg, die Annäherung mit vielen kleinen, ganz konkreten Schritten, von denen auch damals niemand wissen
konnte, wohin sie führen würden, begonnen hat.
Ganz am Ende noch einmal zurück zu den alten Gesprächsakten, aus denen ich schon zitiert habe. Da beschwert sich im Verlaufe des erwähnten Gespräches
Honecker gegenüber Schmidt, dass in der Bundesrepublik viel zu viele von der, wie er sagte, sogenannten
Wiedervereinigung redeten, wobei sie doch beide als
„nüchterne Leute“ wüssten, dass zwei souveräne Staaten existierten. Helmut Schmidt sagt daraufhin - und
man ahnt das Schmunzeln in seinem Gesicht -: Genau.
Was sollen wir beide schon davon reden; denn „niemand
weiß, wie das 20. Jahrhundert enden wird“.
({4})
Uns geht es im 21. Jahrhundert wahrscheinlich ganz genauso. Wir kennen die Zukunft nicht, aber wir wissen:
Sie ist offen. Lassen Sie uns mit und in der OSZE für
diese friedlichere Zukunft arbeiten.
Herzlichen Dank.
({5})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Katrin Kunert für
die Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Kurz vor Toresschluss kommen die Koalitionsfraktionen
gerade noch auf der Zielgeraden an mit einem Antrag
zum deutschen Vorsitz der Organisation für Sicherheit
und Zusammenarbeit in Europa. Die Linke hat dazu bereits vor der Sommerpause einen Antrag vorgelegt. Manches von dem, was Sie nun vorschlagen, findet sich in
unserem Antrag wieder. Bis zum Ukraine-Konflikt hat
die OSZE im Bundestag kaum eine Rolle gespielt. Es
ist gut, dass wir heute darüber diskutieren; denn aus den
Anträgen geht hervor, dass wir uns zumindest in einem
Punkt wirklich einig sind: Die OSZE soll künftig wieder
eine größere Rolle für Frieden und Sicherheit in Europa
spielen.
({0})
Die Vorgängerin der OSZE war die Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa. Die Unterzeichnung der Schlussakte von Helsinki vor 40 Jahren war ein
Meilenstein für den Frieden. Ich möchte an dieser Stelle
an Egon Bahr erinnern. Er hat sich unermüdlich dafür
eingesetzt, dass aus einstigen Gegnern Partner werden.
Er wollte auch, dass in der aktuellen Ukraine-Krise der
Gesprächsfaden nach Russland niemals abreißt. Dafür
gilt ihm unser Dank.
({1})
Zu einer ehrlichen Bilanz gehört: Viele der Erwartungen, die in die Gründung der OSZE und in die Charta von
Paris gesetzt waren, sind enttäuscht worden. Die Hoffnung, dass es mit dem Ende des Warschauer Paktes auch
die NATO nicht mehr geben würde, hat sich nicht erfüllt.
Die OSZE hätte als ein System kollektiver Sicherheit die
NATO ersetzen können. Diese Chance ist vertan worden.
({2})
Heute stellen wir fest: Die NATO ist bis an die Staatsgrenzen Russlands vorgerückt. Seit den Anschlägen vom
11. September 2001 erleben wir eine verschärfte Aufrüstung im Namen des „Kriegs gegen den Terror“. Und
das Vertragswerk zur Abrüstung der konventionellen
Waffensysteme ist ein Trümmerhaufen. Daran haben alle
ihren Anteil. Die USA und andere NATO-Staaten haben
sich jahrelang geweigert, den Vertrag über Konventionelle Streitkräfte in Europa anzupassen. Daraufhin hat Russland Anfang dieses Jahres den Vertrag aufgekündigt. Der
Vergleichs- und Schiedsgerichtshof der OSZE konnte bis
heute seine Arbeit nicht aufnehmen, weil er nicht von allen Mitgliedstaaten anerkannt ist.
Trotzdem leistet die OSZE eine wichtige Arbeit:
Langzeitmissionen zur Verhütung und zivilen Lösung
von Konflikten, Wahlbeobachtungen, Einsatz für Menschenrechte und Dialogforum zwischen den Parlamentariern. Das sind alles wichtige Dinge, die geleistet werden.
Tatsache ist, dass seit Anfang September der Waffenstillstand in der Ukraine weitgehend hält. Dazu wäre es nicht
gekommen, wenn sich die trilaterale Kontaktgruppe
nicht um Vermittlung bemüht hätte.
({3})
Wie sehen die Herausforderungen der Zukunft aus?
Die OSZE muss sich wieder stärker den großen Fragen zuwenden. Wir brauchen dringend einen Sicherheitsvertrag von Vancouver bis Wladiwostok, so wie ihn der
damalige russische Präsident Medwedew vorgeschlagen
hat. Verhandlungen für einen neuen KSE-Vertrag müssen
oberste Priorität haben.
Die Linke schlägt weiter vor, die Kompetenzen des
OSZE-Konfliktverhütungszentrums zu erweitern und das
OSZE-Forum für Sicherheitskooperation zu einer Abrüstungsbehörde weiterzuentwickeln.
({4})
Damit soll der Bereich der politisch-militärischen Sicherheit gestärkt werden, ohne die anderen Sicherheitsbereiche zu vernachlässigen. Dafür fehlt allerdings der
Koalition bisher der Mut.
Wir fordern von der Bundesregierung einseitige
Abrüstungsschritte, notfalls gegen den Widerstand der
USA. Alle US-Atomwaffen sind unverzüglich von deutschem Boden abzuziehen.
({5})
Die OSZE muss sich auch den wirtschaftlichen und
ökologischen Fragen stärker widmen und sich auch gerade den aktuellen Herausforderungen stellen. Das gilt
für die Sicherheit von Atomkraftwerken, die sichere
Endlagerung von Atommüll, neue Risikotechnologien
wie Fracking sowie die Konversion der wehrtechnischen
Produktion. Es erstaunt schon, dass die Grünen als ökologische Partei dazu nicht wirklich etwas vorbringen.
Die humanitäre Sicherheit und der Schutz der Menschenrechte gehören weiter auf die Agenda. Dabei muss
allerdings genauer und auch selbstkritischer hingeschaut
werden. Menschenrechtsprobleme gibt es nicht nur in
Russland oder in Aserbaidschan; Menschenrechtsprobleme gibt es auch in Armenien, in den USA, in der EU und
selbst bei uns. Was ist mit Ungarn unter Orban, oder was
ist mit der Türkei unter Erdogan?
({6})
Und brennende Flüchtlingsheime, Rassismus, Obdachlosigkeit und Kinderarmut sind in Deutschland leider
Realität.
Die Linke fordert: Nutzen Sie den deutschen
OSZE-Vorsitz für eine Initiative, um die Todesstrafe in
den USA und Belarus abzuschaffen,
({7})
Folter und andere unmenschliche Behandlung zu ächten
sowie alle unrechtmäßig inhaftierten Personen in den
OSZE-Staaten freizulassen.
Es gibt für den deutschen OSZE-Vorsitz viel zu tun.
Unsere Vorschläge, die wir in unserem Antrag formuliert
haben, sind konsequenter und weitreichender. Wir bitten
Sie um Ihre Unterstützung und Zustimmung. Bei den anderen Anträgen werden wir uns enthalten.
Schönen Dank.
({8})
Für die CDU/CSU spricht jetzt der Kollege Jürgen
Hardt.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
möchte zu der Rede meiner Vorrednerin, Frau Kunert,
nur Folgendes anmerken: Wer verfolgt hat, was am
9. Mai dieses Jahres anlässlich der Feierlichkeiten zum
Jahrestag des Kriegsendes auf dem Roten Platz in Moskau an Panzern unterwegs war, auch an Prototypen neuer
Panzer, und wer zur Kenntnis genommen hat, wie viele Tausende neue Panzer Russland in Auftrag gegeben
hat und bauen will, der wird sofort erkennen, dass die
Behauptung, hier würde eine Rüstungsspirale von der
NATO angetrieben, doch eine sehr kühne ist.
({0})
Auch die Beschlüsse der NATO in Wales sind nicht eine
Aktion, sondern eine Reaktion auf die Aggressionen,
({1})
die wir nun leider sowohl im Rüstungsbereich als auch
gegen das OSZE-Mitglied Ukraine erleben. Von daher
sollten wir nicht in die Rhetorik der 70er-Jahre zurückfallen,
({2})
sondern die Probleme so ansehen und annehmen, wie sie
sich leider vor uns auftun.
({3})
40 Jahre Schlussakte von Helsinki - der Vertrag war
im positiven Sinne vielleicht der wirkmächtigste völkerrechtliche Vertrag des 20. Jahrhunderts. Ich stehe auch
nicht an, zu sagen: Es war ein großes Werkstück des Bundeskanzlers Helmut Schmidt, daran mitgewirkt zu haben.
Denn diese Schlussakte hat in ganz vielen Bereichen
Europa und die Welt verändert. Ich freue mich, dass der
Generalsekretär der OSZE heute hier ist, mit dem wir,
die Mitglieder der deutschen Delegation der Parlamentarischen Versammlung, eben schon einen guten Dialog
führen konnten. Auch von meiner Adresse: Herzlich willkommen!
Wir haben erlebt, dass die Diskussion in der DDR
über die Veröffentlichung des Textes der Schlussakte, die
die DDR-Regierung ja mit unterschrieben hat - der Text
wurde in der DDR geheim gehalten -, im Grunde ganz
viele Menschen mobilisiert hat; denn das hat ihnen vor
Augen geführt, wie groß der Unterschied zwischen Anspruch und Wirklichkeit in der DDR war. Als dann das
Dokument im Neuen Deutschland veröffentlicht werden
musste, war es im Grunde eine Niederlage der Staatsführung der DDR. Das hat einen starken humanitären Impuls
gegeben, der letztendlich auch zur Überwindung der Teilung geführt hat.
Als dann vor 25 Jahren die Charta von Paris für ein
neues Europa beschlossen wurde, da gab es die ganz
große Erwartung, dass sich damit die pluralistische Demokratie in ganz Europa und in der ganzen Welt Bahn
bricht. Es war ja die Forderung und das Versprechen der
Unterzeichnerstaaten, dass sich die pluralistische Demokratie als Staatsform durchsetzt. Heute, 25 Jahre später,
müssen wir leider feststellen, dass wir auf ganz vielen
Feldern arbeiten müssen, obwohl wir dachten, dass die
Geschichte das bereits erledigt hat. Ich glaube, bei diesen
Themen ist jetzt die OSZE gefragt. Sie muss da beharrlich weiterbohren.
Das gilt für den Prozess der Demokratisierung. Wir
müssen auch dort scharf hingucken, wo es demokratische
Verfassungen gibt, wo demokratische Wahlen stattfinden,
wo demokratisch gewählte Regierungen am Ruder sind;
denn trotzdem kann Korruption Demokratie behindern,
kann die Beschränkung der Pressefreiheit Demokratie
behindern, kann die Einschüchterung von Andersdenkenden und Oppositionellen Demokratie behindern. Dies
muss von uns natürlich offen angesprochen werden, nicht
nur in Russland, aber natürlich auch in Russland.
Die OSZE leistet im 40. Jahr ihres Bestehens, wenn
man das so sagen kann, eine enorme Arbeit bei der Überwachung der Umsetzung des Minsker Abkommens für
die Ukraine. Damit stellt sie ihre Schlagkraft als Instrument unter Beweis. Wir müssen somit dafür sorgen, dass
sie personell und materiell so ausgestattet ist, dass sie
dazu in der Lage ist. Es gibt nach wie vor einen großen
Bedarf an Personen, die bereit sind, sich zum Beispiel
als Wahlbeobachter zur Verfügung zu stellen und somit
OSZE-Aufgaben mit wahrzunehmen.
Wenn wir in die Zukunft blicken - darüber haben wir
mit dem Generalsekretär gerade diskutiert; der Minister
hat es auch angesprochen -, müssen wir über Vertrauensbildung sprechen. Vertrauensbildung - enthalten im ersten Korb der Schlussakte von Helsinki - war im Grunde
der Schlüssel zur Überwindung der Konfrontation, zur
Lösung der Probleme. Vertrauensbildung ist auch und
gerade, wenn es um die Lösung des Ukraine-Konflikts
geht, eine ganz zentrale Aufgabe.
Diesbezüglich kommt auf die Parlamentarier eine große Aufgabe zu, weil die parlamentarischen Delegationen
in der Parlamentarischen Versammlung den Boden für
neue Gesprächsangebote bereiten können. Bei allen Vorbehalten, die wir haben, und trotz der Sanktionen, die wir
gegen einzelne Personen in Form der Einschränkung ihrer Freizügigkeit in Europa ausgesprochen haben - zum
Beispiel gegen russische Politiker wegen der Besetzung
der Krim -, sollten wir dafür sorgen, dass wir, sowohl
wenn Europarats- als auch OSZE-Konferenzen durchgeführt werden, zusammentreffen können.
({4})
Ich finde, dass wir die Schlagkraft der OSZE auch
dadurch unter Beweis stellen können, dass wir im Rahmen des Outreach der OSZE, wie der Generalsekretär
es genannt hatte, unsere Hilfe anbieten, also bei Missionen über das eigentliche Gebiet der OSZE hinaus. Er
hat angekündigt, dass sich die OSZE auch dem Thema
Mittelmeer und Mittelmeeranrainerstaaten stärker zuwenden wird. Daran sind natürlich insbesondere die
OSZE-Mitgliedstaaten am Mittelmeer interessiert. Die
Expertise und die Erfahrung, die die OSZE als Manager
von Dialogen und als Überwacher bzw. Gewährleister
der Einhaltung von Verträgen hat, kann vielleicht auch
im nördlichen Afrika eine wichtige Rolle spielen.
Ich wünsche mir, dass die deutsche Bundesregierung
den Prozess der Erneuerung und weiteren Stärkung der
OSZE unterstützt, vielleicht auch hinsichtlich der Erhöhung ihrer operativen Schlagkraft. Ich habe den Bundesminister so verstanden, dass dies genau das Ziel ist. Ich
habe den Generalsekretär vorhin so verstanden, dass es
hinsichtlich der Ziele ein großes Einvernehmen zwischen
dem deutschen Vorsitz und dem Generalsekretär gibt.
Wir könnten uns vorstellen, die Rolle des Generalsekretärs gerade im operativen Bereich der OSZE zu stärken.
Das finden Sie auch in unserem Antrag.
Ich hoffe, dass 2016 ein gutes Jahr wird, dass es nicht
nur ein gutes Jahr für die OSZE ist, sondern auch insgesamt für den Frieden in Europa. Ich bitte Sie deshalb um
Unterstützung des Antrags der Regierungskoalition zum
Jubiläum „40 Jahre Schlussakte von Helsinki“.
Danke schön.
({5})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen erteile ich
jetzt das Wort der Kollegin Marieluise Beck.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrter Herr Generalsekretär! Lieber Frank-Walter Steinmeier! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Für mich ist Helsinki immer
verbunden mit dem Gesicht von Ludmilla Alexejewa.
Die große Dame der russischen Menschenrechtspolitik
ist jetzt 88 Jahre alt, die davon erzählen kann, wie sie
aufgrund der in Helsinki getroffenen Vereinbarungen anfangen konnte, in Moskau zu arbeiten, und dass es damals einen ganzen Tag dauerte, um sieben Unterschriften
zusammenzubekommen, weil das Telefonieren zu gefährlich war und man deshalb mit der U-Bahn durch die
große Stadt fahren musste.
Dass das möglich wurde, ist tatsächlich dem Geist
von Helsinki und der Sprengkraft, die Helsinki entfaltet
hat - womit vermutlich auch ein Herr Honecker nicht gerechnet hatte -, zu verdanken. Dass daraus dann tatsächlich die Überwindung von Polizeistaat und Repression in
den Ländern werden konnte, die auch Europa sind, aber
durch Jalta von dem freien Teil Europas abgetrennt worden waren, das ist wirklich eine großartige Geschichte,
die eng mit der OSZE verbunden ist.
({0})
Nachdem mit der Überwindung der Folgen von Jalta
sich Freiheit und Demokratie auch in Osteuropa ausdehnen konnten, wurde ein weiterer Schritt möglich, und
die Charta von Paris folgte den Helsinki-Verträgen. Da
gab es noch einmal die Hoffnung, dass wir nun ganz und
vollständig zusammenwachsen würden. Das ist schon
2008 durch den Krieg in Georgien und die faktische Abtrennung zweier Gebiete sehr stark erschüttert worden.
Aber noch viel größer war der Schock dann in der Ukraine durch die gewalttätige Abtrennung und später sogar
Annexion der Krim und die Aggression im Donbass. Das
heißt, dass wir uns in der OSZE trotz aller Feierlichkeiten
grundsätzlichen Fragen stellen müssen: Warum haben die
Regeln nicht gegriffen? Wie können wir es schaffen, dass
solche Regelverletzungen in Zukunft vermieden werden?
Wie gehen wir mit Teilnehmerstaaten um, die diese Regeln verletzen? Für mich folgt daraus, dass wir auf der
Einhaltung von Recht und Regeln beharren müssen; denn
allein die Einhaltung von Regeln und Recht garantiert Sicherheit, Schutz und Vertrauen.
Ein großer Abrüstungsschritt, den es hier in Europa
gegeben hat - er ist vielleicht zu wenig beachtet worden -, war, dass nach dem Zerfall der Sowjetunion sowohl Kasachstan als auch Belarus als auch die Ukraine
unter der Assistenz des Westens und bei Zusicherung der
Integrität ihrer Grenzen bereit waren, ihre Atomwaffen
abzugeben und zu akzeptieren, dass die Russische Föderation ihre behielt. Dass dieses Vertrauen nun gebrochen
worden ist, ist ein großer Schlag, auch gegen das Regelwerk. Das aber ist die einzige innere Kraft der OSZE-Politik; denn wir haben keine Soldaten, sondern wir haben
Ideen und ein geistiges Fundament, auf dem wir stehen.
({1})
Gerade für uns beide, für das wiedervereinigte
Deutschland, das nun größer geworden ist, aber auch
für die Russische Föderation, die zu verarbeiten hat,
dass sie nicht mehr die Sowjetunion ist, ist es als große
Länder sehr wichtig, zu verstehen, dass OSZE bedeutet,
eingebunden zu sein. Es kann nicht um eine Achse Berlin-Moskau gehen in dem Sinne - das wäre ja gleichsam
eine Rückkehr zu Bismarck -, dass wir uns schon wieder
einigen werden. Vielmehr geht es um die kleineren Staaten, die zwischen diesen beiden großen Ländern liegen
und immer wieder mit Argwohn auf Berlin, Moskau und
diese mögliche Achse schauen. Es geht vor allen Dingen auch um die kleineren Staaten, die auf ihrem Weg
zu Demokratie und innerer Freiheit durchaus mit der
Bedrohung einer Rückkehr zu autoritären Systemen zu
kämpfen haben. Dabei brauchen diese Staaten und ihre
Bürgerinnen und Bürger die OSZE und den Schutz durch
andere Teilnehmer.
Ein Wort sei mir noch erlaubt zum Kernstück der
OSZE, und das ist ODIHR.
Frau Kollegin Beck, darf ich Sie trotzdem an die Redezeit erinnern?
Ja. - ODIHR ist massiv unter Druck, manchmal auch aus
Deutschland. Das dürfen wir nicht zulassen. Wir müssen
ODIHR als Kernstück der OSZE mit Haut und Haaren
verteidigen.
Schönen Dank.
({0})
Vielen Dank. - Nächster Redner ist der Kollege Franz
Thönnes für die SPD.
({0})
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Unser Antrag zum deutschen OSZE-Vorsitz versteht sich als
Unterstützung für die Bundesregierung und für den Außenminister Frank-Walter Steinmeier, ist zugleich aber
auch Selbstverpflichtung für uns und auch ein Dank an
alle Aktiven in der OSZE. Es ist der Gedanke des Geistes
von Helsinki, sich zusammenzufinden, sich auf Augenhöhe zu respektieren, sich im Dialog auf Grundlage einer
pragmatischen friedlichen Zusammenarbeit zu verabreden, ohne gleich alles Bestehende als gut und richtig anzuerkennen.
Die dabei vereinbarten Prinzipien schienen jahrzehntelang eine stabile Basis für eine Sicherheitsordnung in
Europa zu sein. Doch Sicherheit und Vertrauen sind letzten Endes beschädigt worden. Beschädigt worden ist das
Fundament des europäischen Hauses durch die völkerrechtswidrige Annexion der Krim durch Russland. Doch
an den zentralen Prinzipien der souveränen Gleichheit
der Staaten, der Enthaltung von der Androhung oder Anwendung von Gewalt, der Unverletzlichkeit der Grenzen
und der friedlichen Beilegung von Streitigkeiten und der
Achtung der Menschenrechte gibt es deswegen nichts zu
rütteln.
({0})
Ich will kurz fünf nicht alles abdeckende Aspekte für
das europäische Haus benennen.
Erstens: Hausfrieden wieder herstellen durch Umsetzung der Minsker Vereinbarungen. Alle Unterzeichner
bleiben gefordert. Die schleppenden Fortschritte geben
leichte Hoffnung. Nach dem letzten Pariser Gipfel lässt
sich zunehmend auch eine Verlässlichkeit Russlands erkennen. Dieser Weg ist gleichzeitig auch der Weg zum
Abbau von Sanktionen.
({1})
Zweitens: Hausordnung einhalten und gestalten. Die
Gültigkeit der Hausordnung kann durch die Unterschrift
der Minsker Signaturmächte unter die Gipfelerklärung in
Absatz 5 als gegeben angesehen werden. Hier heißt es:
Die Staats- und Regierungschefs bekennen sich unverändert zur Vision eines gemeinsamen humanitären und wirtschaftlichen Raums vom Atlantik bis
zum Pazifik auf der Grundlage der uneingeschränkten Achtung des Völkerrechts und der Prinzipien der
OSZE.
Dieses Bekenntnis gilt es nun zu nutzen, um innerhalb
der OSZE die aktuellen Herausforderungen anzugehen
und gleichzeitig auch einen zügigen Dialog der Europäischen Union mit der Eurasischen Wirtschaftsunion
zu initiieren. Aus meiner Sicht gehört dazu ebenso ein
EU-Russland-Dialog über die jeweilige Nachbarschaftspolitik, und zwar unter Einbeziehung der Nachbarn, nicht
über die Köpfe der Nachbarn hinweg.
({2})
Drittens gehört dazu: Hausversammlungen im Dialog abhalten. Beratungsforen für kooperative Sicherheit,
konventionelle Rüstungskontrolle sowie vertrauens- und
sicherheitsbildende Maßnahmen waren stets zentrale
Themen des KSZE-Prozesses und der OSZE. Das heißt,
Rüstungskontrollregime stärken, regelmäßige Dialoge
von Militär und Politik, Erörterung jeweiliger Sicherheitsinteressen und die Weiterentwicklung des KSE-Regimes.
Viertens gilt für die parlamentarische Versammlung
der OSZE wie für die Regierungen: Gemeinsame Hausaufgaben machen, um Vertrauen zu schaffen. Wir haben
das Diskussionsformat „Wiener Prozess“ entwickelt,
in dem Abgeordnete der russischen und ukrainischen
Delegationen mit anderen im Rahmen einer parlamentarischen Diplomatie zusammenkommen, um die Umsetzung von Minsk zu begleiten. Mit einem gemeinsamen Seminar in der deutsch-französischen Grenzregion
haben wir angefangen. Wir werden Ende dieses Monats
mit einem Seminar in der deutsch-dänischen Grenzregion weitermachen. Es geht darum, über das Thema Minderheiten zu diskutieren. Auch das ist ein Schwerpunkt
der deutschen Präsidentschaft. Kooperativ gemeinsame
Bedrohungen anzugehen wie den internationalen Terrorismus, Drogenhandel und Cyberattacken und irreguläre
Migration abzuwehren, kann Zusammenarbeit und Vertrauen fördern.
Fünftens geht es darum, die Hausgemeinschaft mit
guter Nachbarschaft zu bilden. Zu einer friedlichen Gemeinschaft auf der Basis der Hausordnung im europäischen Haus gehört, die Begegnung der Menschen zu
ermöglichen, insbesondere zwischen den verschiedenen
Organisationen in den Zivilgesellschaften. Die Bundesregierung hat unsere volle Unterstützung, wenn es um
solch einen Austausch geht, ganz besonders, wenn es um
die Jugend geht. Vielleicht sollte man hier anfangen, den
stillgelegten Prozess der Visaliberalisierung erneut zu
beginnen und für zusätzliche Erleichterungen für junge
Menschen zu sorgen.
({3})
Abschließend: Weil insbesondere Abgeordneten die
Aufgabe des Dialoges und der Verantwortung für die öffentliche Diskussion sowie der Unterstützung des Helsinki +40 Prozesses zukommt, halten wir Einreiseverbote
für Parlamentarier in diesem Zusammenhang für völlig
kontraproduktiv.
({4})
Ich will mit einem Satz aus der Regierungserklärung
von
Wir wollen ein Volk der guten Nachbarn sein und
werden, im Innern und nach außen.
Das könnte ein gutes Motto für alle OSZE-Mitgliedstaaten sein.
({0})
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Alexander Neu für
die Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrte Damen und Herren! Sehr geehrter Herr
Hardt, ein bisschen zu Ihrer Märchenstunde: Der russische Militärhaushalt beträgt 9 Prozent des NATO-Haushalts. Oder umgekehrt: Der NATO-Haushalt ist elfmal so
groß wie der russische Militärhaushalt. Welches Schreckgespenst wollen Sie hier aufbauen? Hören Sie mit Ihrer
Märchenstunde auf!
({0})
Aber kommen wir zum eigentlichen Thema. Die Übernahme des OSZE-Vorsitzes durch die Bundesrepublik
Deutschland Anfang 2016 könnte die Chance für einen
Neustart für die OSZE und für die europäische Sicherheit
eröffnen. Könnte!
({1})
Der Antrag der Regierungsfraktionen hätte eine Grundlage dafür sein können. Hätte! Er ist es aber nicht. Im
Forderungsteil heißt es zum Beispiel - ich zitiere -:
Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf ... weiterhin
- ich unterstreiche: „weiterhin“ für einen gemeinsamen Sicherheitsraum zwischen
Vancouver und Wladiwostok einzutreten ...
Diese Aussage ist doppelt realitätsverdrehend:
Wieso denn „weiterhin“? Dies unterstellt eine falsche Vergangenheit. Weder die NATO noch - erst recht
nicht - die NATO-Osterweiterung oder die EU-Osterweiterung haben in irgendeiner Weise einen gemeinsamen
Sicherheitsraum in Europa geschaffen.
Wieso „weiterhin“? Das unterstellt ein konstruktives
Vorhaben für die Zukunft. Das wird aus dem Antrag der
Regierungsfraktionen aber nicht ersichtlich. Im Gegenteil: Im Feststellungsteil heißt es:
Die grundlegenden Elemente der europäischen Sicherheitsarchitektur, wie sie sich nach dem Ende
des Kalten Krieges entwickelt haben, stehen hier in
keiner Weise zur Disposition.
Das heißt im Klartext: Weiter so wie bisher! NATO- und
EU-Osterweiterung, sprich: weiter die Teilung Europas,
wir gegen Russland.
({2})
Dieses Weiter-so sieht man auch an der völkerrechtlichen Argumentation in Ihrem Antrag; Herr Steinmeier
hat sie ja gerade mit Blick auf die Ukraine und Russland noch einmal unterstrichen. Es ist schon amüsant,
wie blind man in der Bundesregierung doch gegenüber
den eigenen völkerrechtlichen Verbrechen ist, die man
in den 90er-Jahren - bis heute - gegenüber Jugoslawien
und dem Nachfolgestaat Serbien begangen hat. Bis heute! Übrigens: Auch Jugoslawien war ein Gründerstaat der
KSZE. Aber das hat die anderen Gründerstaaten im Westen nicht daran gehindert, diesen Staat zu zerschlagen.
Sehr geehrte Damen und Herren, es gibt, grob gesagt,
drei sicherheitspolitische Konzeptionen:
Die erste und leider auch vorherrschende ist: europäische Sicherheit ohne oder gegen Russland. Sie wird vor
allem von den USA und einigen osteuropäischen Staaten - nicht allen, aber einigen osteuropäischen Staaten favorisiert.
Die zweite Konzeption lautet: europäische Sicherheit
nicht gegen Russland, sondern besser mit Russland. Hier
gibt es eine diskursive Annährung, auch in Deutschland.
Jedoch hat das bislang noch keine praktische politische
Relevanz. Deutschland, Frankreich, Ungarn und die Slowakei sind da zu nennen. Aber der Antrag, den Sie uns
vorgelegt haben, fällt weit dahinter zurück.
Es gibt auch einen dritten Ansatz - den sollten vor allem die Damen und Herren von der CDU/CSU und der
SPD nicht übersehen -, nämlich europäische Sicherheit
mit Russland, aber ohne die USA,
({3})
falls die USA weiterhin einen gesamteuropäischen Sicherheitsprozess mit Russland torpedieren. Es gibt eine
wachsende Zustimmung in der deutschen Bevölkerung
für genau diesen Ansatz.
Kurzum: Was bisher als Sicherheit und Frieden von
Vancouver bis Wladiwostok formuliert ist, könnte in Zukunft auch heißen: Sicherheit und Frieden von Lissabon
bis Wladiwostok. Die Linke fordert vielmehr: Deutschland kann und muss der Motor einer gesamteuropäischen
Sicherheitsarchitektur sein - mit Russland, mit oder ohne
die USA.
Ich danke Ihnen.
({4})
Jürgen Klimke ist der nächste Redner für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine Damen und Herren! Herr Generalsekretär der OSZE! Als ich vor fünf, sechs Jahren hier im
Deutschen Bundestag vor einer Besuchergruppe über
Frieden in Europa diskutierte, fiel natürlich auch der Begriff „OSZE“. Ich musste ihn zunächst einmal erklären
und die Aufgaben der OSZE darstellen. Die OSZE erschien vielen, sofern sie überhaupt eine Vorstellung von
ihr hatten, als ein Relikt des Kalten Krieges und zumindest in sicherheitspolitischer Dimension als überflüssig.
Wenn man die Frage nach der OSZE heute stellt, dann
kommt man zu dem Ergebnis: Die OSZE ist den Menschen bekannt. Sie kennen die OSZE-Mission zur Überwachung des Waffenstillstands in der Ukraine, oder sie
haben von den Wahlbeobachtungen gehört, zum Beispiel
in der Ukraine, in Weißrussland oder, wie kürzlich, in der
Türkei.
Die OSZE wird dabei ganz selbstverständlich als notwendig angesehen. Allerdings fragen interessierte Bürger inzwischen auch ganz gezielt nach Defiziten und
sehen Reformbedarf. Die OSZE ist heute also wieder gefragt. Die Erwartungen sind hoch - manchmal vielleicht
zu hoch.
Die Etablierung einer dauerhaften Sicherheitspartnerschaft im OSZE-Raum unter Einbeziehung Russlands,
die uns in der Vergangenheit schon als Realität erschien,
ist heute mehr denn je infrage gestellt. Der Ukraine-Konflikt und die Angst vor einer Eskalation bestimmen das
außen- und sicherheitspolitische Handeln.
Es besteht somit mehr denn je die Notwendigkeit,
multilaterale Gesprächsformate zu etablieren, Waffenstillstände umzusetzen und zu überwachen und vertrauensbildende Maßnahmen zu etablieren. Auf all diesen
Gebieten kann die OSZE das Miteinander fördern, weil
nur hier unter Einbeziehung aller Beteiligten über die regionale Sicherheitslage diskutiert werden kann.
Wir sind froh, dass die OSZE auch durch ihre Parlamentarische Versammlung unter Einbeziehung der russischen Abgeordneten ein Forum für die Diskussion bilden
kann, ein Forum, in dem sich eben auch die russischen
Delegierten den Beschlüssen unterordnen. Deshalb bin
ich im Übrigen auch eindeutig gegen jede Form von
Ausschluss der russischen Delegierten; denn das stellt
die OSZE infrage.
({0})
Die Parlamentarische Versammlung der OSZE hat
weiterhin einige Beauftragte für regionale und thematische Schwerpunkte ernannt. Ich selbst habe die Ehre, als
Beauftragter für die Ostseeregion mit allen Akteuren dort
an der Förderung der Kooperation und der Stärkung des
Vertrauens mitzuwirken.
Gerade dieser regionale integrative Ansatz ist die
Stärke der OSZE und ermöglicht ihre Akzeptanz in den
Mitgliedstaaten. Wir müssen diese Stärke immer mehr zu
einem echten Kapital machen, indem wir die OSZE in
die Lage versetzen, ihre Aufgaben effizienter wahrzunehmen. Dies ist ein wichtiges Ziel, das wir auch in unseren
Antrag aufgenommen haben.
Die Struktur der OSZE ist auf staatliche Akteure und
nicht auf Bürgerkriege oder hybride Kriege ausgerichtet,
in denen Separatisten, Freischärler oder Terroristen agieren. Wie können wir Verbrechen einzelnen Gruppen zuordnen? Wie können wir deeskalieren? Wie können wir
solche Konflikte dauerhaft befrieden? Das sind Fragen, auf
die wir im Rahmen der OSZE Antworten finden müssen.
Wir treten deshalb dafür ein, dass die Empfehlungen
der Hochrangigen Expertengruppe zur Reform der OSZE
sorgfältig geprüft und gegebenenfalls umgesetzt werden,
dass die mit dem Helsinki +40 Prozess verbundenen Reformen vorangebracht werden, und natürlich, dass die
OSZE besser finanziert wird. Hier sind die Mitgliedstaaten in einer Pflicht, und es gehört auch zu den Aufgaben
des deutschen Vorsitzes, bei den Mitgliedstaaten für eine
bessere finanzielle Ausstattung zu werben.
Meine Damen und Herren, trotz aller Erwartungen
sollten wir auf dem Boden bleiben. Wir dürfen die OSZE
nicht mit überzogenen Wünschen überfrachten - auch
nicht den deutschen Vorsitz der OSZE im Jahre 2016. Ich
weiß, dass wir - das wurde auch in der Öffentlichkeit
immer wieder deutlich - einen großen Erwartungsdruck
haben. Das gilt noch viel stärker hinsichtlich der Lösung
des Ukraine-Konflikts als in Bezug auf die notwendigen
Reformen der OSZE selbst.
Dabei wissen wir, dass die OSZE diesen Konflikt nicht
aus sich heraus beenden kann. Sie kann ein Gesprächsforum anbieten, Missverständnisse ausräumen und die
Akzeptanz bei Kompromissen fördern; ihre eigentliche
Stärke besteht aber in der Umsetzung von Vereinbarungen und in der Überwachung von Absprachen. Gleichwohl kann Deutschland im Rahmen seines Vorsitzes
für die Bewältigung der Ukraine-Krise sein politisches
Kapital einbringen, nämlich das Vertrauen, das wir auf
beiden Seiten genießen.
Die OSZE hat sich über 40 Jahre lang entwickelt und
neue Aufgabenfelder besetzt. Sie verfügt auch heute über
eine Dimension, die sich der demokratischen Entwicklung und der Stärkung der Menschenrechte verschreibt.
Diese sogenannte menschliche Dimension der OSZE
muss erhalten bleiben und gestärkt werden.
({1})
Gerade Meinungs- und Medienfreiheit sowie Minderheitenschutz gehören weiterhin zum essenziellen Aufgabenspektrum der OSZE.
Die Betonung der menschlichen Dimension der OSZE
fordern wir deshalb auch in unserem Antrag, trotz der aktuellen sicherheitspolitischen Krisen. Hier gibt es zudem
einen Zusammenhang, gehören doch gerade die Wahlbeobachtungen zu den sicherheitsrelevanten Maßnahmen.
Durch den durch die OSZE legitimierten demokratischen
Ablauf von Wahlen ist zum Beispiel in der Ukraine die
Situation vor Ort sichtbar stabilisiert worden.
Die Kolleginnen und Kollegen des Deutschen Bundestages arbeiten sehr engagiert in der Parlamentarischen
Versammlung. Wir nehmen Anteil an den Tagungen der
OSZE, sind als Wahlbeobachter tätig. Vor diesem Hintergrund ist es besonders wichtig, dass wir als Parlamentarier die OSZE in ihrer Arbeit unterstützen. Eine derartige
Diskussion und Anträge, wie sie heute vorliegen, gehören einfach dazu.
Lassen Sie uns gemeinsam, Koalition und Opposition, den deutschen OSZE-Vorsitz im Jahr 2016 begleiten.
Lassen Sie uns an einer Stärkung der OSZE mitwirken.
Denn wir brauchen die OSZE heute dringender denn je.
Herzlichen Dank.
({2})
Die Kollegin Katja Keul erhält das Wort für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrter Herr Generalsekretär! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im Juli
waren wir mit der deutschen Delegation der Parlamentarischen Versammlung der OSZE in Helsinki, 40 Jahre
nach der Unterzeichnung der KSZE-Schlussakte. Nach
einer Geburtstagsfeier war die Stimmung dort allerdings
nicht. Der Geist von Helsinki, den wir alle so gerne beschworen hätten, war der Veranstaltung ferngeblieben.
Das finnische Außenministerium war leider der irrigen
Auffassung gewesen, die EU-Sanktionen fänden auch
auf die russischen Delegationsmitglieder in der Parlamentarischen Versammlung Anwendung, und verweigerte ihnen die Einreise. Das war, um es mit den Worten der
Kollegen der Koalition zu sagen, kontraproduktiv.
Der Vorfall verdeutlicht aber nur zu gut, vor welcher
Herausforderung die deutsche Präsidentschaft im nächsten Jahr steht. Das gemeinsame Gespräch zwischen den
57 Mitgliedstaaten ist in vielen Bereichen das Einzige,
was uns noch geblieben ist. Die 1990 in Paris vereinbarten vertrauens- und sicherheitsbildenden Maßnahmen
müssen daher dringend wiederbelebt werden. Darin sind
wir uns, glaube ich, alle einig.
Da ist zunächst der KSE-Vertrag über die konventionelle Abrüstung und Rüstungskontrolle in Europa. Nach
einem ersten erfolgreichen Jahrzehnt wurde der Vertrag
gemeinsam überarbeitet und der veränderten Realität in
Europa angepasst. Leider haben die NATO-Staaten 1999
die Ratifizierung des angepassten Vertrages verweigert in
der fälschlichen Hoffnung, Russland damit zum Abzug
seiner Truppen aus Abchasien und Transnistrien zwingen
zu können. 2007 hat dann seinerseits Russland den Vertrag insgesamt suspendiert. Seitdem finden keine gegenseitigen Inspektionen mehr statt, und Russland arbeitet
nicht einmal mehr in der Gemeinsamen Beratungsgruppe
mit.
Der gegenseitige Austausch von Informationen und
Verifikationsinspektionen fehlt uns heute mehr denn je.
({0})
Mangelnde Informationen über militärische Bestände
schaffen zusätzliches Misstrauen auf beiden Seiten und
führen zu gegenseitigen Drohgebärden und Provokationen, wie wir sie seit dem Kalten Krieg nicht mehr erlebt
haben. Die zu geringen Notifikationspflichten des Wiener
Dokuments können den KSE-Vertrag nicht ersetzen. Die
deutsche Präsidentschaft muss daher alles tun, um die
Rückkehr zum KSE-Vertrag zu ebnen.
({1})
Mindestens aber, sozusagen als Plan B, müssen das Wiener Dokument überarbeitet und die Quoten erhöht werden.
Ein Hoffnungsschimmer in dieser Eiszeit sind die
weiterhin stattfindenden Beobachtungsflüge gemäß dem
Vertrag über den Offenen Himmel. Auf diesem Wege
findet noch eine regelmäßige Beobachtung militärischer
Aktivitäten statt, sogar über der Ostukraine. Und ausgerechnet hier mangelt es Deutschland seit Jahren an
geeignetem Flugmaterial. Jedenfalls seit ich im Bundestag bin - das sind sechs Jahre -, reden wir darüber, wie
dringend dieses Flugzeug gebraucht wird, für das immer
irgendwie kein Geld da war.
({2})
Wenn ich daran denke, wie viele Milliarden wir schon
für mangelhaftes oder flugunfähiges Gerät an EADS aus
dem Verteidigungshaushalt ausgegeben haben, dann tut
mir das richtig weh. Wie ich höre, soll es jetzt das OpenSky-Flugzeug tatsächlich geben - endlich. Es wäre aber
auch wirklich lamentabel, wenn ausgerechnet diese letzte
funktionierende vertrauensbildende Maßnahme während
der deutschen Präsidentschaft mangels Flugzeug hätte
eingestellt werden müssen.
({3})
Vielleicht gelingt es der Bundesregierung ja sogar, die
von diesem Vertrag abgedeckten Gebiete auszudehnen,
an dem bislang 34 von 57 OSZE-Mitgliedstaaten teilnehmen.
Um in diesen schwierigen Zeiten wieder Vertrauen
aufzubauen, dürfte die Stärkung der noch existierenden
Instrumente realistischer sein als der Abschluss neuer
Verträge. Dennoch darf die Ratifizierung des KSE-Vertrages bei allen Schwierigkeiten nicht aus den Augen
verloren werden.
Als Grüne plädieren wir eindringlich dafür, die allseits stattfindende Aufrüstungsspirale einzudämmen, und
unterstützen den Außenminister in seinem erkennbaren
Bemühen um verbale Abrüstung zwischen Ost und West.
({4})
Was die Rüstungskontrolle angeht, sehen wir aber bei
der Kontrolle der eigenen Exporte durchaus noch Luft
nach oben. Unsere Vorschläge für ein Rüstungsexportkontrollgesetz liegen Ihnen vor. Anlässlich der Ergebnisse der letzten Sitzung des Bundessicherheitsrates erinnere ich an dieser Stelle an das Dokument über Kleinwaffen
und leichte Waffen, das die OSZE im Jahr 2000 verabschiedet hat.
({5})
Nutzen Sie die Präsidentschaft also nicht nur dafür,
zwischen den anderen zu vermitteln, sondern auch dazu,
selbst mit gutem Beispiel in Sachen Rüstungskontrolle
voranzugehen.
Vielen Dank.
({6})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Fabritius für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Herr Generalsekretär!
Meine Damen und Herren! 40 Jahre nach Helsinki und
25 Jahre nach Paris beschwört der Antrag, sich des freiheitlichen und zukunftsweisenden Geistes dieser beiden
Ereignisse zu erinnern. Sie, Herr Außenminister, haben
diesen Geist mit einem Zitat aus den Archiven untermauert und auch verdiente Politiker genannt, die diesen Geist
befördert haben. Ich ergänze die Aufzählung um Namen
wie Helmut Kohl und Franz Josef Strauß und viele andere. Leider gesellen sich zu diesem Geist von Helsinki inzwischen auch die Geister von Simferopol, von Do nezk
und Luhansk. Lieber Herr Dr. Neu, außer der Linken findet das hier niemand amüsant.
25 Jahre nach der Unterzeichnung der Charta von Paris, welche die Spaltung Europas für beendet erklärte,
müssen wir feststellen, dass die Bruchstellen in unserer
Friedensordnung und unserer Sicherheitsarchitektur sich
wieder deutlicher zeigen und die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa erneut dringend
gebraucht wird. In dieser schwierigen Lage übernimmt
Deutschland 2016 den Vorsitz in der OSZE. Damit sind
zu Recht große Hoffnungen verbunden.
Angesichts der alles überlagernden Flüchtlingsproblematik ist der Konflikt in der Ostukraine vielleicht
nicht ganz in Vergessenheit geraten. In der öffentlichen
Wahrnehmung ist er jedoch deutlich gesunken. Der
OSZE kommt bei der Beilegung dieses Konfliktes eine
entscheidende Rolle zu. Ich empfehle jedem, die fast täglich aktualisierten Berichte der OSZE-Beobachtermission zu lesen. Man kann so die Fieberkurve des Konflikts
in den verschiedenen Regionen detailliert nachverfolgen.
Die Mission verzeichnete zum Beispiel vergangenen
Donnerstag 52 Explosionen und schweres Maschinengewehrfeuer am Hauptbahnhof von Donezk. Von einem
effektiven Waffenstillstand kann keine Rede sein.
Ja, meine Damen und Herren, die Ukraine ist nicht die
einzige Sorge, die uns momentan umtreibt. Die derzeitige Gewichtung des Konflikts wird dessen Bedeutung
für die Sicherheit in Europa jedoch nicht gerecht. Unter schwierigen Umständen dauert die Kontrolle des in
Minsk vereinbarten Abzugs schwerer Waffen an, wobei
die OSZE-Beobachter auf die Mitwirkung der Konfliktparteien essenziell angewiesen sind. Das Fehlen einer angemessenen technischen Ausstattung sowie mangelnde Durchsetzungsmöglichkeiten stellen die OSZE
vor erhebliche Probleme.
({0})
Besonders der Zugang zu den Stellungen der sogenannten Volksrepubliken Luhansk und Donezk wird den Beobachtern verwehrt. Auch wenn es sich hier um nichtstaatliche, irreguläre Kampftruppen handelt, darf doch
erwartet werden, dass diese sich an die in Minsk getroffenen Vereinbarungen halten.
({1})
Die Einschätzung, die OSZE habe seit der Jahrhundertwende an Bedeutung verloren, teile ich nicht. Sie
hat sich in einer Zeit relativen Friedens lediglich neue
Schwerpunkte gesucht. Wichtig war, dass im entscheidenden Moment die wesentlichen Strukturen der politisch-militärischen Komponente reaktiviert werden
konnten.
Die daraus resultierenden, in der Ukraine gemachten
Erfahrungen müssen jedoch ausgewertet werden und in
ein neues Krisenreaktionskonzept der OSZE einfließen.
Sollten sich derartige Krisen wiederholen - das Potenzial dafür ist leider vorhanden -, darf es nicht wie im
aktuellen Fall zu einer Reaktivierung alter Mechanismen
kommen, sondern zu einer schnellen, effektiven Reaktion auf Basis eines neuen Krisenmanagements, das der
veränderten Sicherheitslage angepasst ist. Im Antrag ist
von einer 15-köpfigen Expertengruppe die Rede, welche
hierzu Empfehlungen erarbeiten soll, die unter dem deutschen Vorsitz dann auch umgesetzt werden könnten.
Ich greife beispielhaft zwei Punkte im Antrag heraus,
die mir besonders zielführend erscheinen. Das ist zum einen die Aufforderung, einen Schwerpunkt des Vorsitzes
auf den Bereich des Krisenmanagements zu legen und
hierfür die Krisenreaktions- und Krisenmanagementfähigkeiten über den gesamten Konfliktzyklus zu verbessern. Auch die Priorisierung der Konfliktprävention und
eine entsprechende Stärkung des heute auch anwesenden
Generalsekretärs sind eminent wichtig.
Ich bin froh, dass der Antrag darüber hinaus „eine
starke politische Führung durch einen handlungsfähigen
Vorsitz“ fordert. Ich bin jedoch gleichsam der Meinung,
dass dies bezogen auf den deutschen Vorsitz und angesichts dieser Bundesregierung selbstverständlich ist.
Ein Beispiel zu meinem zweiten Punkt, einer Stärkung der Konfliktprävention, sind die Minderheitenrechte: Viele der aktuellen Konflikte sind ethnisch und
religiös begründet. In anderen Fällen, zum Beispiel auf
der Krim oder in der Ostukraine, werden Mehrheiten und
ethnische Minderheiten gegeneinander ausgespielt. Aus
diesem Grund ist die Arbeit der Hohen Kommissarin für
nationale Minderheiten der OSZE für die Konfliktprävention und Konfliktlösung in ihrem frühestmöglichen
Stadium von entscheidender Bedeutung. Sie agiert als
eine Art Frühwarnsystem für Konflikte, bevor diese eine
nicht mehr kontrollierbare Eigendynamik entwickeln.
Für eine verbesserte Konfliktprävention muss ihre Stellung daher weiter gestärkt werden.
Lassen Sie mich mit einer ganz persönlichen Erinnerung schließen: Was bereits 1966 in Bukarest im Ansatz
angelegt und dann durch die Schlussakte von Helsinki
1975 beschlossen wurde, hat mich und viele Mitmenschen hinter dem Eisernen Vorhang andauernd begleitet:
Es gab keinen Eingabebrief, den meine Eltern an die Behörden des Ceausescu-Regimes geschrieben hatten, um
für uns Kinder Freiheit zu erstreiten, der nicht in seiner
Einleitung auf die Konferenz von Helsinki und die in der
Schlussakte zugesagte - ich zitiere - „Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten … für alle ohne Unterschied der Rasse, des Geschlechts, der Sprache oder der
Religion“ erinnerte.
Mir hat dieses Ereignis damals große Hoffnung gemacht. Ich wünsche mir, dass der deutsche OSZE-Vorsitz
diese Hoffnung auf eine Festigung des Friedens und der
Freiheit in Europa weiter in die Zukunft trägt.
Danke.
({2})
Christoph Bergner ist der letzte Redner zu diesem Tagesordnungspunkt.
Herr Präsident! Herr Generalsekretär! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als letzter Redner einer solchen
Debatte steht man in der Pflicht, die eigenen Aussagen
in das Licht des schon Gesagten zu rücken. Ich will dies
versuchen.
Ich stelle fest: Alle Fraktionen des Deutschen Bundestages begrüßen den Vorsitz Deutschlands in der OSZE
im nächsten Jahr. Ich würde aus dieser Begrüßung auch
gerne eine Unterstützung der Bundesregierung ableiten.
({0})
Zweiter Punkt. Wir alle wissen - deshalb ist mir diese Unterstützung so wichtig -, dass dieser Vorsitz mit
einer ungewöhnlichen Verantwortung verbunden ist ungewöhnlich deshalb, weil wir uns in kritischen Zeiten befinden. Der Bundesaußenminister hat an anderer
Stelle von stürmischen Zeiten gesprochen, in denen wir
die Kommandobrücke betreten. Die Zeiten sind konfliktbeladen. Zu diesem Schluss kommen wir, wenn wir
den Raum außerhalb der OSZE betrachten. So wird die
Forderung an die OSZE erhoben, im Rahmen des Outreachings konfliktregulierend über den eigenen Raum
hinaus tätig zu werden. Die Konferenz von Jordanien,
die der Bundesaußenminister erwähnte, zeigt, dass wir
in diesem Zusammenhang aufgrund der Kooperationserfahrungen der OSZE durchaus entsprechende Angebote
machen können.
Noch kritischer in diesen unruhigen Zeiten ist die
Krise innerhalb der OSZE. Frau Keul hat die Parlamentarische Versammlung von Helsinki, die eigentlich eine
Jubiläumsveranstaltung war, in Erinnerung gerufen, die
tatsächlich symptomatisch für die innere Krise der OSZE
gewesen ist. Wer die mehrheitlich beschlossenen Texte
liest, der findet Stichworte wie zum Beispiel „tiefe Missbilligung der russischen Aggression gegen die Ukraine
einschließlich der Annexion und Besetzung der Krim“
oder „Bedauern über den Austritt Russlands aus dem
Vertrag über konventionelle Streitkräfte“, um nur zwei
Beispiele zu nennen.
({1})
Einen Augenblick, Herr Kollege Bergner. - Alle Kolleginnen und Kollegen, die in der zutreffenden Annahme,
dass nachher wieder abzustimmen ist, den Saal betreten,
bitte ich dringend, Platz zu nehmen. Es wird ohnehin über die Rede des Kollegen Bergner hinaus - dann eine
gewisse Zeit brauchen, weil noch mehrere Abstimmungen durchzuführen sind. Niemand sollte sich zumuten,
das im Stehen zu machen. Deswegen bitte ich hier um ein
geordnetes Verfahren.
Bitte, Herr Bergner.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Ich möchte dazu auffordern, dass das, was ich als innere Krise der OSZE bezeichne, von uns ernst genommen wird, und zwar in dem
Sinne, dass wir uns darüber klar werden, dass es hier um
die geistigen Fundamente der OSZE geht. Wir werden
in wenigen Tagen, am 21. November, den 25. Jahrestag
der Charta von Paris für ein neues Europa als zentrales
Grundsatzdokument der jüngeren OSZE-Geschichte begehen können. Wenn wir da lesen, dass die Vision eines
Europas aus lauter demokratischen Staaten von Vancouver bis Wladiwostok gepflegt wurde, und das mit
der heutigen Wirklichkeit vergleichen, dann haben wir
festzustellen, dass sich ganz offensichtlich Risse in den
Wertgrundlagen zeigen. Diese dürfen wir nicht ignorieren.
({0})
Viele Mitgliedstaaten sind beim Aufbau nachhaltiger
demokratischer Strukturen gescheitert. Die Sicherung
der Menschenrechte hat sich als nicht überall durchsetzbar erwiesen. Von prominentester Bedeutung ist die Entwicklung in der Russischen Föderation, wo nach meinem
Eindruck Systemerhalt und Systemstärkung eindeutig
Priorität vor den persönlichen Rechten der Bürger bekommen haben und wo im Interesse eines starken Staates das Wohl des Einzelnen auf grundsätzliche Weise der
Staatsräson untergeordnet ist. Vor diesem Hintergrund
brauchen wir uns nicht darüber zu wundern, dass - ausgehend von einem solchen Bild eines starken Staates - auch
die Einhaltung völkerrechtlicher Normen dem Interesse
des starken Staates untergeordnet wird. Auf diese Weise
würde ich gerne die gegenwärtigen Konflikte innerhalb
der OSZE sehen, nicht um die OSZE zu schwächen, sondern um den Stärkungsprozess der OSZE, der mit der
deutschen Ratspräsidentschaft verbunden sein soll, auf
ein ehrliches Fundament zu stellen.
Die Kunst des deutschen OSZE-Vorsitzes wird deshalb darin bestehen, dass wir auf der einen Seite für die
Stärkung der OSZE - das bedeutet für mich die Stärkung aller Dimensionen der OSZE - eintreten und auf
der anderen Seite die Risse und die Konflikte betreffend
die Wertgrundlagen der OSZE nicht bagatellisieren und
nicht ignorieren.
({1})
Nur auf ehrlichen Wertgrundlagen werden wir in der
Lage sein, eine wirkliche Stärkung der OSZE herbeizuführen. Dies ist keine einfache Aufgabe. Ich wünsche
unserer Bundesregierung und unserem Bundesaußenminister dafür viel Erfolg.
Danke schön.
({2})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen der CDU/CSU und SPD auf der Drucksache 18/6641 mit dem Titel „40 Jahre nach Helsinki,
25 Jahre nach Paris“. Wer stimmt diesem Antrag zu? Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist der
Antrag bei Enthaltung der Opposition angenommen.
Unter dem Tagesordnungspunkt 6 b rufe ich die Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu
dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Den
deutschen Vorsitz in der Organisation für Sicherheit und
Zusammenarbeit in Europa im Jahr 2016 für Frieden und
Abrüstung nutzen“ auf. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf der Drucksache 18/6377,
diesen Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 18/5108 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer möchte sich
enthalten? - Damit ist diese Beschlussempfehlung mit
den Stimmen des Hauses gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke angenommen.
Unter Tagesordnungspunkt 6 c stimmen wir ab über
die Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses
zum Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit
dem Titel „Den deutschen OSZE-Vorsitz 2016 zur Stärkung der OSZE nutzen“. Auch hier empfiehlt der Ausschuss auf seiner Drucksache 18/6375, diesen Antrag
abzulehnen. Wer stimmt dieser Beschlussempfehlung
zu? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit
ist auch diese Beschlussempfehlung mit der Mehrheit der
Stimmen der Koalition angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 33 sowie den Zusatzpunkt 2 auf:
33. Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie 2013/55/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom
20. November 2013 zur Änderung der Richtlinie 2005/36/EG über die Anerkennung von
Berufsqualifikationen und der Verordnung
({0}) Nr. 1024/2012 über die Verwaltungszusammenarbeit mit Hilfe des Binnenmarkt-Informationssystems ({1}) für
bundesrechtlich geregelte Heilberufe und andere Berufe
Drucksache 18/6616
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({2})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Doris
Wagner, Agnieszka Brugger, Dr. Tobias Lindner,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Radargeschädigte der Bundeswehr und der
ehemaligen NVA zügig entschädigen
Drucksache 18/6649
Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuss
Hier geht es um Überweisungen im vereinfachten
Verfahren ohne Debatte. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist offensichtlich der Fall. Dann sind
die Überweisungen so beschlossen.
Wir kommen zu den Tagesordnungspunkten 34 a bis
34 k. Hier geht es um die Beschlussfassung zu Vorlagen,
zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Ich rufe zunächst Tagesordnungspunkt 34 a auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten
Gesetzes zur Änderung des Lebensmittelspezialitätengesetzes
Drucksache 18/6164
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Ernährung und Landwirtschaft ({3})
Drucksache 18/6670
Der Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf der Drucksache 18/6670, den Gesetzentwurf der Bundesregierung
auf der Drucksache 18/6164 in der Ausschussfassung anzunehmen. Wer diesem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen möchte, den bitte ich um das Handzeichen. - Das scheinen alle zu sein. Ist jemand dagegen,
oder möchte sich jemand enthalten? - Das ist nicht der
Fall. Großer Triumph für die Bundesregierung.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer will dagegenstimmen oder sich der Stimme enthalten? - Damit ist dieser Gesetzentwurf einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 34 b:
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom
28. März 2014 zwischen der Bundesrepublik
Deutschland und der Volksrepublik China zur
Vermeidung der Doppelbesteuerung und zur
Verhinderung der Steuerverkürzung auf dem
Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom
Vermögen
Drucksache 18/6449
Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({4})
Drucksache 18/6666
Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/6666, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf der Drucksache 18/6449
anzunehmen.
Zweite Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Dann ist dieser Gesetzentwurf bei Enthaltung der Fraktion Die Linke
angenommen.
Tagesordnungspunkt 34 c:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Durchführung der Verordnung ({5})
Nr. 1007/2011 und zur Ablösung des Textilkennzeichnungsgesetzes
Drucksache 18/6488
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Energie ({6})
Drucksache 18/6662
Hier empfiehlt der Ausschuss für Wirtschaft und
Energie in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/6662, den Gesetzentwurf der Bundesregierung
auf Drucksache 18/6488 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in
der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer ist dagegen? - Wer enthält sich? - Damit
ist der Gesetzentwurf bei Enthaltung der Oppositionsfraktionen angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich von den Plätzen
zu erheben. - Wer ist dagegen? - Wer enthält sich? Damit ist der Gesetzentwurf mit dem gleichen Abstimmungsergebnis, also mit auskömmlicher Mehrheit, angenommen.
Tagesordnungspunkt 34 d:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz,
Bau und Reaktorsicherheit ({7})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Ralph
Lenkert, Birgit Menz, Caren Lay, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Meeresumweltschutz national und international stärken
- zu dem Antrag der Abgeordneten Steffi
Lemke, Peter Meiwald, Dr. Valerie Wilms,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Schutz der Meere weltweit verankern
Drucksachen 18/4809, 18/4814, 18/5243
Hier empfiehlt der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit unter Buchstabe a
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/5243
die Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf
der Drucksache 18/4809 mit dem Titel „Meeresumweltschutz national und international stärken“. Wer stimmt
dieser Beschlussempfehlung zu? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist die Beschlussempfehlung gegen die Stimmen der Opposition mit Mehrheit
angenommen.
Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrages der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
auf Drucksache 18/4814 mit dem Titel „Schutz der Meere weltweit verankern“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält
sich? - Niemand. Damit ist diese Beschlussempfehlung
überraschenderweise mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der Opposition angenommen.
Tagesordnungspunkt 34 e:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Menschenrechte und
humanitäre Hilfe ({8}) zu dem Antrag
der Abgeordneten Annette Groth, Inge Höger,
Azize Tank, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion DIE LINKE sowie der Abgeordneten
Tom Koenigs, Omid Nouripour, Dr. Wolfgang
Strengmann-Kuhn, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Doppelstandards beenden - Fakultativprotokoll zum UNSozialpakt zeichnen und ratifizieren
Drucksachen 18/4332, 18/6184
Der Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 18/6184, diesen gemeinsamen Antrag der
beiden Oppositionsfraktionen mit dem Titel „Doppelstandards beenden - Fakultativprotokoll zum UN-Sozialpakt zeichnen und ratifizieren“ abzulehnen. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Dann ist auch diese Beschlussempfehlung mit den Stimmen der Koalition gegen die
Stimmen der Opposition angenommen.
Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses, Tagesordnungspunkte 34 f bis 34 k.
Tagesordnungspunkt 34 f:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({9})
Sammelübersicht 243 zu Petitionen
Drucksache 18/6561
Präsident Dr. Norbert Lammert
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 243 ist angenommen.
Tagesordnungspunkt 34 g:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({10})
Sammelübersicht 244 zu Petitionen
Drucksache 18/6562
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich? - Auch diese Sammelübersicht ist bei Enthaltung der anwesenden Mitglieder der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
({11})
- Die Linke legt Wert darauf, dass sie dieser Sammelübersicht nicht zustimmt, was wir hiermit auch im Protokoll vermerken.
Tagesordnungspunkt 34 h:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({12})
Sammelübersicht 245 zu Petitionen
Drucksache 18/6563
Zu dieser Sammelübersicht hat der zuständige Berichterstatter Gero Storjohann zu einer kurzen ergänzenden Erläuterung um das Wort gebeten, für die er selbstverständlich die Gelegenheit erhält.
Ein Hinweis für die zahlreichen Kollegen am Ende
des Plenarsaales: Wäre es nicht eine gute Idee, sich diese
erhellenden Erläuterungen im Sitzen anzuhören?
({13})
Bitte, Herr Kollege.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der
Petitionsausschuss bearbeitet pro Jahr an die 15 000 Petitionen und hat es Ihnen bisher erspart, jede einzelne
Petition hier im Plenum vorzustellen und zu beraten.
({0})
Wenn es aber vorkommt, dass der Petitionsausschuss
einstimmig mit großem Votum eine Empfehlung an die
Bundesregierung ausspricht, dann halten wir es für angemessen, hier einmal vorzutragen, wie es zu diesem Votum
gekommen ist. So haben wir es im Ausschuss beschlossen. Ein Abgeordneter hat dann die schöne Aufgabe, vor
großem Publikum zu sprechen. Ich danke recht herzlich.
({1})
Wir haben am 4. November 2015 vier sachgleiche Petitionen zur Beratung vorliegen gehabt, von denen eine
öffentlich war. Es ging eigentlich darum, dass man sich
über mangelnde Kontrolle auf unseren Autobahnen beschwerte, und zwar im Hinblick auf ausländische Lkw,
die auch Kabotage vornehmen. Kabotage bezeichnet das
Erbringen von Transportdienstleistungen innerhalb eines
Landes. Kabotage durch ausländische Verkehrsunternehmen haben wir zugelassen, damit keine Leerfahrten
entstehen: So fahren beispielsweise Lkw, die von Warschau nach Frankfurt fahren, nach Warschau auch mit
etwas Ladung zurück. Mangelnde Kontrolle konnten wir
nicht nachweisen. Kontrolle findet sehr wohl statt. Wenn
irgendwo Fehler passieren, dann eher bei deutschen als
bei ausländischen Unternehmen.
Was aber auch kritisiert wurde, sind die Arbeitsbedingungen von Lkw-Fahrern. Hier geht es um die Ruhezeiten. Wir wollen nicht mehr, dass die Lkw-Fahrer immer
nur in ihren Lkw übernachten müssen.
({2})
Vielmehr sollen Lkw-Fahrer ihre Ruhezeiten auch woanders abhalten können. Dieses Problem hat die Bundesregierung dankenswerterweise erkannt, und sie ist dabei,
im Fahrpersonalgesetz entsprechende Änderungen vorzunehmen.
Wir möchten, dass solche Änderungen europaweit
vollzogen werden. Deswegen lautet unser Votum, die
Petitionen der Bundesregierung zur Erwägung zu überweisen und den Fraktionen, Herr Kauder, zur Kenntnis zu
geben. Zudem sollen sie dem Europäischen Parlament zugeleitet werden. Wir hoffen, dass das alles Früchte trägt.
Die Arbeit im Petitionsausschuss macht Spaß.
Herzlichen Dank fürs Zuhören.
({3})
Dieser Hoffnung schließt sich das Präsidium an. - Ich
rufe damit zur Abstimmung über die gerade noch einmal in einem wichtigen Punkt erläuterte Sammelübersicht 245 auf der Drucksache 18/6563 auf. Wer stimmt
dafür? - Alle. Wer stimmt dagegen? - Keiner. Wer enthält sich? - Auch keiner. Wie schön. Das ist ein bemerkenswertes Ergebnis Ihrer Intervention, Herr Kollege
Storjohann;
({0})
denn ohne Ihre Erläuterung wäre dieses stolze Ergebnis
ganz sicher so nicht zustande gekommen.
Tagesordnungspunkt 34 i:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({1})
Sammelübersicht 246 zu Petitionen
Drucksache 18/6564
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 246 ist bei Enthaltung
der Fraktion Die Linke angenommen.
Tagesordnungspunkt 34 j:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({2})
Sammelübersicht 247 zu Petitionen
Drucksache 18/6565
Präsident Dr. Norbert Lammert
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 247 ist gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke angenommen.
Tagesordnungspunkt 34 k:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({3})
Sammelübersicht 248 zu Petitionen
Drucksache 18/6566
Wer ist dafür? - Wer ist dagegen? - Wer enthält
sich? - Gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen
ist die Sammelübersicht 248 mit Mehrheit angenommen.
Damit sind wir mit den Abstimmungen zu diesem Ta-
gesordnungspunkt fertig.
Wir kommen jetzt zu den Wahlgängen. Wir werden
gleich nacheinander zwei Wahlen durchführen, für die
Sie Ihren grünen und Ihren gelben Wahlausweis benö-
tigen. Die meisten von Ihnen werden auch einen blauen
Wahlausweis vorgefunden haben. Den können Sie ver-
nichten oder als Souvenir an die heutige denkwürdige
Plenarsitzung mit nach Hause nehmen. Jedenfalls brau-
chen wir den heute nicht. Die Wahlausweise können Sie,
soweit noch nicht geschehen, Ihrem Stimmkartenfach in
der Lobby entnehmen. Achten Sie unbedingt darauf, dass
die Wahlausweise Ihren Namen tragen.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 7 auf:
Wahl eines Mitglieds des Vertrauensgremi-
ums gemäß § 10a Absatz 2 der Bundeshaus-
haltsordnung
Drucksache 18/6629
Die Fraktion Die Linke schlägt auf Drucksa-
che 18/6629 den Abgeordneten Roland Claus vor.
Bevor wir zur Wahl kommen, muss ich Ihnen nun die
sorgfältig geregelten Prozeduren kurz erläutern. Laut
Gesetz ist gewählt, wer die Stimmen der Mehrheit der
Mitglieder des Bundestages auf sich vereint - also nicht
der Anwesenden, sondern der gesetzlichen Mitglieder
des Bundestages -, das heißt, wer mindestens 316 Stim-
men erhält. Die Wahl erfolgt mit der Stimmkarte und dem
Wahlausweis in der grünen Farbe. Die Stimmkarten wer-
den im Saal verteilt. Sollten Sie noch keine Stimmkarte
haben, besteht noch die Möglichkeit, diese bei den Plenar-
assistenten abzuholen. Diese Wahl findet offen statt. Sie
können Ihre Stimmkarte also an Ihrem Platz ankreuzen.
Gültig sind nur Stimmkarten mit einem Kreuz bei „Ja“,
„Nein“ oder „Enthalte mich“. Ungültig sind demzufol-
ge Stimmkarten, die entweder kein Kreuz, mehr als ein
Kreuz, andere Namen oder Zusätze enthalten.
Bevor Sie die Stimmkarte in eine der Wahlurnen
werfen, übergeben Sie bitte den Schriftführerinnen und
Schriftführern an den Wahlurnen Ihren grünen Wahlaus-
weis. Der gilt als Nachweis der Teilnahme an der Wahl.
Ohne diesen grünen Wahlausweis ist dieser Nachweis
nicht zu führen.
Ich bitte nun die Schriftführerinnen und Schriftführer,
die vorgesehenen Plätze einzunehmen. Sind alle Urnen
besetzt? - Nein. Die Opposition wird gebraucht. - Ich
bitte jetzt Frau Keul stellvertretend für die geballte Op-
position, diese Rolle zu spielen. Haben wir ein ähnliches
Problem an den anderen Urnen? - Nein. Dann eröffne ich
den ersten Abstimmungsvorgang.
Ich frage, ob ein anwesendes Mitglied des Hauses sei-
ne Stimmkarte noch nicht abgegeben hat. - Das ist nicht
erkennbar. Damit schließe ich diesen ersten Wahlgang.1)
Dann rufe ich den Tagesordnungspunkt 8 auf:
Wahl von Mitgliedern des Sondergremiums
gemäß § 3 Absatz 3 des Stabilisierungsmechanismusgesetzes
Drucksache 18/6630
Bevor ich auch hier zur Erläuterung des Verfahrens
komme, bitte ich um Aufmerksamkeit für folgenden Hinweis:
Die Wahl, die wir jetzt durchführen, ist geheim. Warum? Weil wir das so festgelegt haben!
({4})
Die Wahl vorher war nicht geheim. Warum? Weil wir
das auch so festgelegt haben! Wenn ich die Relevanz der
beiden Vorgänge betrachte, fällt es mir außerordentlich
schwer, eine offenkundig schlüssige Logik in den unterschiedlichen Wahlverfahren zu erkennen.
({5})
Warum die Mitglieder des Vertrauensgremiums nach unserer Haushaltsordnung offen gewählt werden können,
dagegen die Mitglieder des Sondergremiums nach dem
Stabilisierungsmechanismusgesetz nicht, erschließt sich
nicht wirklich.
(Marieluise Beck ({6}) [BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN]: Warum fällt das dem Herrn
Präsidenten erst jetzt ein? - Thomas Strobl
({7}) [CDU/CSU]: Das ist ein Witz!)
Ich trage es übrigens nur deswegen vor, weil ich schon
einen vergeblichen Anlauf im Ältestenrat hinter mir habe,
eine Reihe ähnlich unplausibel unterschiedlicher Wahlverfahren in einer vernünftigen Weise zu harmonisieren.
Deswegen würde ich mir für den fälligen zweiten Anlauf
gern die Zustimmung des Hauses dazu einholen, dass wir
das endlich bereinigen.
({8})
Ist jemand anderer Meinung? - Das ist nicht der Fall.
Dann nehmen wir das als einmütige Willensbekundung
zu Protokoll.
({9})
Die Fraktion Die Linke schlägt auf der Drucksa-
che 18/6630 das bisherige stellvertretende Mitglied Ro-
land Claus als ordentliches Mitglied und das bisherige
1) Ergebnis Seite 13285 C
Präsident Dr. Norbert Lammert
ordentliche Mitglied Dietmar Bartsch als Stellvertreter
vor; die Funktionen sollen also getauscht werden; geheim getauscht, versteht sich.
Bevor wir zur Wahl kommen, bitte ich erneut um Ihre
Aufmerksamkeit für die Hinweise zum Wahlverfahren:
Zur Wahl sind die Stimmen der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages, also wiederum mindestens
316 Stimmen, erforderlich. Für diese Wahl benötigen
Sie Ihren gelben Wahlausweis, der, soweit noch nicht
geschehen, den Stimmkartenfächern in der Lobby zu
entnehmen ist. Die Wahlunterlagen erhalten Sie von den
Schriftführerinnen und Schriftführern an den Ausgabetischen vor den Wahlkabinen. Dort zeigen Sie bitte Ihren
Wahlausweis vor. Sie erhalten dann die gelbe Stimmkarte
für die Wahl des ordentlichen Mitglieds und eine blaue
Stimmkarte für die Wahl des stellvertretenden Mitglieds
sowie einen Wahlumschlag.
Auf jeder der beiden Stimmkarten können Sie jeweils
ein Kreuz machen, also mit „Ja“ oder „Enthalte mich“
votieren. Ungültig sind Stimmkarten, die kein Kreuz
oder mehr als ein Kreuz, andere Namen oder Zusätze
enthalten.
Die Wahl ist geheim. Das heißt, Sie dürfen Ihre beiden Stimmkarten nur in der Wahlkabine ankreuzen und
müssen beide Stimmkarten noch in der Wahlkabine in
den Wahlumschlag legen - anderenfalls wäre die Stimmabgabe ungültig; die Wahl könnte in diesem Fall vorschriftsmäßig wiederholt werden -; darauf werden die
Schriftführerinnen und Schriftführer achten.
Bevor Sie den Wahlumschlag in die Wahlurne werfen,
müssen Sie der Schriftführerin oder dem Schriftführer an
der Wahlurne Ihren gelben Wahlausweis übergeben, der
auch hier als Nachweis für die Beteiligung an der Wahl
gilt. Kontrollieren Sie bitte noch einmal, ob der gelbe
Wahlausweis Ihren Namen trägt.
Ich darf die Schriftführerinnen und Schriftführer bitten, die Plätze einzunehmen. Bevor ich diesen Wahlgang
eröffne, weise ich nochmals darauf hin - was sich eigentlich von selbst versteht -, dass, wie vorhin erläutert, dieser blaue Wahlausweis zwar nicht zusätzlich gebraucht
wird, aber hoffentlich niemand auf die Idee kommt, seine
blaue Stimmkarte zu vernichten, es sei denn, er wolle
sich an diesem Wahlgang nicht beteiligen. - Damit eröffne ich jetzt diesen Wahlgang.
Ist jemand im Saal, der seine Stimmzettel noch nicht
abgegeben hat?
({10})
- Ach! Ich habe die Prozession da oben übersehen.
Gibt es noch ein Mitglied des Hauses, das seine
Stimmkarte noch nicht abgegeben hat? - Das ist jetzt
die letzte Chance, die Stimmkarte abzugeben. Wir haben
noch eine lange Tagesordnung vor uns.
Nach meinem Überblick ist es jetzt so, dass alle ihre
Stimmkarten abgegeben haben. Gibt es hier oben links
noch jemanden? - Nein, das ist nicht der Fall. Hier auf
der rechten Seite gibt es auch niemanden mehr.
Dann schließe ich jetzt die Wahl und bitte die Schrift-
führerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu be-
ginnen. Das Ergebnis der Wahl wird Ihnen später bekannt
gegeben.1)
Ich darf Ihnen jetzt das von den Schriftführerinnen
und Schriftführern ermittelte Ergebnis der Wahl eines
Mitglieds des Vertrauensgremiums gemäß § 10 a Ab-
satz 2 der Bundeshaushaltsordnung bekannt geben: ab-
gegebene Stimmen 582, ungültige Stimmen 3, gültige
Stimmen 579. Mit Ja haben gestimmt 464, mit Nein 72,
Enthaltungen 43. Damit wurde die erforderliche Mehr-
heit erreicht, und der Abgeordnete Roland Claus ist ge-
wählt.2)
({0})
Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 9 a bis 9 c auf:
9. a) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Anja Weisgerber, Marie-Luise Dött,
Andreas Jung, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der CDU/CSU sowie der Ab-
geordneten Frank Schwabe, Dr. Matthias
Miersch, Marco Bülow, weiterer Abgeord-
neter und der Fraktion der SPD
Klimakonferenz in Paris muss ehrgeizi-
ges Abkommen beschließen
Drucksache 18/6642
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Annalena Baerbock, Bärbel Höhn, Claudia
Roth ({1}), weiterer Abgeordneter
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN
Auf der Klimakonferenz in Paris die
Weichen für mehr Klimaschutz und glo-
bale Gerechtigkeit stellen
Drucksache 18/6648
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Eva
Bulling-Schröter, Caren Lay, Dr. Dietmar
Bartsch, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion DIE LINKE
Deutscher Beitrag zu den UN-Klimaverhandlungen - Kohlendioxid als Umweltschadstoff definieren, Betriebszeiten von
Kohlekraftwerken begrenzen
Drucksache 18/3313
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Energie ({2})
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reak-
torsicherheit
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Ich höre hier
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
1) Ergebnisse Seite 13293 A
2) Anlage 2
Präsident Dr. Norbert Lammert
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Bundesministerin Dr. Barbara Hendricks für die Bundesregierung. - Bitte schön, Frau Bundesministerin.
({3})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich komme gerade von umweltpolitischen Gesprächen
in China zurück. Ich war bis gestern Nacht in Peking.
Die Signale, die ich von dort mitgenommen habe, machen mich für die anstehenden Verhandlungen in Paris
sehr zuversichtlich. Auch China will ein ehrgeiziges und
bindendes Klimaabkommen. Auch China will die Erderwärmung auf maximal 2 Grad begrenzen. Ähnliche
Signale kommen auch aus Brasilien und aus den Vereinigten Staaten. In Kanada hat sich die neue Regierung zu
einer engagierten Klimaschutzpolitik bekannt. Insgesamt
haben bereits 162 Länder ihre beabsichtigten nationalen
Minderungsziele bei der UNO eingereicht. Damit sind
über 90 Prozent aller Treibhausgasemissionen schon umfasst.
Natürlich: In Paris liegt noch eine Menge Arbeit vor
uns. Wir brauchen einen Vertrag, den alle 195 Länder
dieser Erde mittragen können. Das wird nicht einfach
werden. Aber wir waren einem neuen Klimaschutzabkommen noch nie so nah wie heute. Ich werde in Paris
alles daransetzen, damit die Konferenz ein Erfolg wird.
Klar ist: Paris wird nicht der Endpunkt der internationalen Klimaschutzpolitik sein. Wir werden nicht am
14. Dezember aufwachen, und alle Probleme sind gelöst.
Gleichwohl bin ich zuversichtlich, dass Paris ein Meilenstein sein wird, ein Meilenstein, der nach den vielen
Rückschlägen der Vergangenheit deutlich machen wird,
dass sich die Weltgemeinschaft dieser Aufgabe stellt.
({0})
Ich danke den Koalitionsfraktionen für ihren Antrag
und die damit verbundene Unterstützung für unsere gemeinsame Arbeit. Ich danke auch den Grünen und der
Linken.
({1})
Ich weiß, es ist natürlich nicht Ihre Aufgabe, die Regierung zu loben - das werden wir gleich auch wieder hören -, aber klar ist: Wir haben in dieser Sache das gleiche
Ziel. Ich freue mich deshalb sehr, dass zehn Abgeordnete
dieses Hauses an der Konferenz teilnehmen werden. Das
zeigt: Regierung und Parlament ziehen beim internationalen Klimaschutz an einem Strang und arbeiten zusammen, und zwar über alle Fraktionsgrenzen hinweg.
({2})
Ich möchte auf zwei Punkte aufmerksam machen, die
mir in diesem Zusammenhang wichtig sind.
Erstens müssen wir uns auf ein Langfristziel verständigen. Wir brauchen eine grüne Null, also null CO2 aus
fossilen Energieträgern im Laufe dieses Jahrhunderts;
wir haben das auch als „Dekarbonisierung“ bezeichnet.
Wir brauchen ein klares Signal an Wirtschaft und Gesellschaft: Unsere Art, zu wirtschaften, muss sich grundlegend verändern. Wir müssen lernen, die ökologischen
Grenzen unseres Planeten zu akzeptieren und zu respektieren; ich sage ganz bewusst „lernen“. Wir sind auf diesem Weg eher noch am Anfang. Wir haben noch nicht
für alle Probleme Lösungen gefunden, selbstverständlich
nicht.
Zweitens wollen wir ein Abkommen mit robusten Regeln, mit Regeln, die Transparenz sicherstellen und damit
auch Fairness gewährleisten. Das Abkommen wird sich
nur bewähren können, wenn klar ist, dass sich alle an die
vereinbarten Ziele halten. Deshalb ist es entscheidend,
dass der globale Zielpfad nach Paris regelmäßig und in
einem transparenten Verfahren überprüft wird. Ich habe
mich gefreut, dass sich in der vergangenen Woche der
chinesische Staatspräsident und auch der französische
Staatspräsident für diesen Überprüfungsmechanismus
ausgesprochen haben. Das ist ein wichtiger Punkt, auch
auf dem Weg nach Paris.
({3})
Wir wissen, dass die vorgesehenen Minderungsbeiträge der Länder bislang noch nicht ausreichen. Aktuelle
Berechnungen zeigen: Wenn wir die Minderungsbeiträge
zusammenzählen und hochrechnen, dann könnten wir bei
einer Klimaerwärmung von 2,7 Grad ankommen. Das ist
natürlich zu viel. Das ist selbstverständlich und klar, und
das wissen wir auch; denn bis zum Ende des Jahrhunderts dürfen wir maximal 2 Grad erreichen. Aber das ist
gleichwohl eine Momentaufnahme. Es wird ja jetzt das
mitgeteilt, von dem die Länder annehmen, dass sie es bis
zum Jahr 2030 leisten können. Selbstverständlich müssen wir das alles auch mit allem Ehrgeiz umsetzen.
Gleichzeitig müssen wir in den Jahren, die vor uns
liegen, noch ehrgeiziger werden. Wir können aber auch
ehrgeiziger werden, weil wir natürlich auch technologische Fortschritte machen werden. Wir haben übrigens
zum ersten Mal eine 2 vor dem Komma. Bisher war bei
allen Modulationen, bei allen Schätzungen, bei allen Annahmen und Berechnungen immer eine 3 bis 4 vor dem
Komma.
({4})
- Ja, 3 bis 4; klar. - Wenn wir in den Annahmen bzw.
in der Aufsummierung der sogenannten INDCs, also
der nationalen Minderungsbeiträge, jetzt eine 2,7 haben,
dann halte ich das für ein ermutigendes Zeichen.
Wir dürfen dabei natürlich nicht stehenbleiben. Wir
brauchen alle fünf Jahre diesen Überprüfungsmechanismus, um - in der Konferenzsprache sagt man: „to raise
the ambition“ - noch ehrgeiziger zu werden, alle fünf
Jahre noch etwas besser zu werden und der Weltgemeinschaft zu sagen: Jetzt wissen wir, wie es noch besser geht,
Vizepräsidentin Ulla Schmidt
das machen wir, und dann kommen wir voran. - So muss
es laufen.
({5})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir tun alles, damit
Paris ein Erfolg wird. Dazu gehört auch, dass wir unsere
eigenen Hausaufgaben erledigen. Diese Bundesregierung
hat sich - Sie wissen das - ehrlich gemacht. Wir haben
klar gesagt, dass wir unser Ziel für das Jahr 2020 - mindestens 40 Prozent weniger CO2-Ausstoß - nur erreichen
können, wenn wir tatsächlich noch etwas besser werden,
als wir bisher waren. Das haben wir mit dem Aktionsprogramm Klimaschutz auch gemacht und 100 zusätzliche
Maßnahmen auf den Weg gebracht.
„Sich ehrlich machen“ bedeutet für mich aber auch,
Transparenz darüber herzustellen, ob diese Maßnahmen
denn auch wirken. In einer der nächsten Kabinettssitzungen werde ich dem Kabinett den ersten Klimaschutzbericht vorstellen. Wir haben ja im Rahmen des Klimaaktionsplans beschlossen, dass wir regelmäßig berichten.
Das wird also in einer der nächsten Wochen geschehen.
Wir sind in diesem Jahr gut vorangekommen.
Meine Kolleginnen und Kollegen, ich habe eben von
der Notwendigkeit eines Langfristziels, der grünen Null,
im Laufe dieses Jahrhunderts gesprochen. In Europa wollen wir vorangehen. Bis 2050 wollen wir 80 bis 95 Prozent weniger Treibhausgase ausstoßen. Für Deutschland
heißt das, wir müssen am oberen Ende dieser „range“
liegen. Bis dahin ist es natürlich noch ein langer Weg.
Aber wir müssen jetzt anfangen, ihn zu gehen. Ich werde
deshalb im Frühjahr des kommenden Jahres den Klimaschutzplan 2050 vorstellen. Der Plan wird unsere bekannten Zwischenziele bis zum Jahr 2050 fest verankern.
Die Zwischenziele kennen wir - wir haben sie alle schon
beschlossen -, nämlich bis 2030 eine CO2-Minderung
um mindestens 55 Prozent und bis 2040 um mindestens
70 Prozent; sonst würden wir unser Ziel für 2050 nicht
erreichen können.
Wir zeigen auch Strategien auf, mit denen wir diese
Ziele erreichen können. Es geht darum, national wie international die klare Botschaft zu senden: Das Zeitalter
der fossilen Brennstoffe, das Zeitalter der grenzenlosen
Ausbeutung unseres Planeten, unserer Erde, ist vorbei.
Wir müssen eine andere, eine bessere Zukunft gestalten.
Herzlichen Dank.
({6})
Nächste Rednerin ist Eva Bulling-Schröter, Fraktion
Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich habe mir den Antrag der Regierungskoalition angeschaut. Er liest sich erst einmal ganz ordentlich: In das
neue Klimaabkommen von Paris sollen weltweit verbindliche Klimaziele - ich sage: das ist sehr richtig -, unterlegt mit nationalen Verpflichtungen; das gefällt mir auch.
Im Antrag steht: „Dekarbonisierung der Weltwirtschaft
im Laufe des Jahrhunderts“. Das ist gut. Bis 2050 soll der
Umbau der Energiewirtschaft angestrebt, also raus aus
der Kohle gegangen werden - auch in Deutschland.
Das alles ist sehr lobenswert. Das sind die Versprechen des G-7-Gipfels in Elmau, und diese Forderungen
sind gar nicht so weit weg von denen in unserem Antrag.
Auch die Linke will den Ausstieg aus Kohle und Öl.
({0})
Wir wollen das letzte Kohlekraftwerk aber 2040 abschalten. Es ist ganz wie beim Atomausstieg: In ökologischen
Fragen sind wir Ihnen mal wieder zehn Jahre voraus.
({1})
Je mehr es in Ihrem Antrag aber um die konkrete Verantwortung der Bundesregierung auf nationaler Ebene
geht, desto schwammiger wird Ihr Klimafahrplan für
Paris; denn es ist eine Sache, etwas festzustellen, etwas
ganz anderes ist es, zu handeln, und das müssen wir.
Handeln sollten gerade Sie. Sie stellen nämlich die
Regierung und nicht wir. Ich muss Ihnen aber sagen: Sie
machen Ihre Hausaufgaben einfach nicht. Der Antrag bedeutet nur heiße Luft, und darum lehnen wir den Antrag
auch ab.
({2})
Wir sagen: Das ist für Paris zu wenig und eigentlich auch
peinlich. Der Antrag enthält nicht einen Deut an Verbindlichkeit. Es werden Aktionsprogramme, Aktionspläne
und Evaluierungen gefordert, und das war es.
Wo ist denn die alte SPD-Forderung nach einem Klimaschutzgesetz? Das hätten wir unterstützt, und zwar
sofort; das wisst ihr.
({3})
Wo ist die Forderung nach einem unabhängigen Expertengremium, das Klimaschutzziele kontrolliert und Vorschläge für neue Maßnahmen vorlegt? Auch das hätten
wir unterstützt. Wo ist die Forderung, dass die internationale Klimaschutzfinanzierung neu, zusätzlich und
aufwachsend sein muss, anstatt sie mit der knappen Entwicklungshilfe zu verrechnen?
Stattdessen liest sich der Forderungsteil wie eine Broschüre des BDI oder von VW, wenn Sie verstehen, was
ich damit meine.
({4})
Dabei wissen Sie doch genauso gut wie ich, dass hier der
Gesetzgeber gefragt ist und nicht zahnlose Aktionsprogramme, die dann von der Kohlelobby gerupft werden.
Solange Strom aus Kohle und Wärme aus Öl ein gutes
Geschäft sind, kann Dekarbonisierung nur ein leeres Versprechen bleiben, und solange die Entwicklungsländer
Verlierer des Klimawandels sind, werden die Regierungen erst die Armut bekämpfen und dann in erneuerbare
Energien investieren. Ohne intelligente öffentliche Regelungsmechanismen wird die Wirtschaft keinen KlimaBundesministerin Dr. Barbara Hendricks
schutz betreiben und werden sich die Finanzminister vor
einer allzu verbindlichen Klimaschutzfinanzierung drücken, wie jetzt Schäubles Ministerium.
Die Linke hat für Paris konkrete Vorschläge im Gepäck. Schauen Sie einfach mal in unseren Antrag, damit
Sie verstehen, wie Klimaschutzpolitik aussehen kann,
die ihren Namen auch verdient.
({5})
Jetzt kommt es: Über das Bundes-Immissionsschutzgesetz wollen wir erstens das Verschmutzungsprivileg
von Kohle bei der Stromerzeugung aufheben und CO2
als Umweltschadstoff definieren. Die USA sind diesen
Schritt schon gegangen. In den USA gibt es längst höhere Quecksilberobergrenzen für Kohlekraftwerke als in
Deutschland. Ihren Spezis könnten Sie es doch einmal
nachmachen.
Mit einem Kohleausstiegsgesetz wollen wir zweitens
nicht nur ein Verbot neuer Kohlekraftwerke, wir wollen
auch die Betriebszeiten alter Kohlekraftwerke beschränken.
({6})
2040 würde dann das letzte Stück Kohle für unsere Energieversorgung verfeuert.
Eines möchte ich Ihnen abschließend sagen: Mit einem Klimaschutzgesetz oder Kohleausstiegsgesetz hätten RWE und Co. für ihre alten Kraftwerke keine Milliardenablöse bekommen. Hier hat die Bundesregierung
eine Scheckbuchpolitik betrieben, aber mit dem Geld der
Bürgerinnen und Bürger, die jetzt für die deutsche Klimaschutzlücke blechen müssen. Es müssen also wieder
die Bürger zahlen. Da kann man noch so viele Onlinekampagnen für Klimaschutz starten: Diese Politik sorgt
dafür, dass die Menschen Klimaschutz als Belastung statt
als Chance sehen. Und das darf auf keinen Fall passieren.
Wir müssen die Akzeptanz steigern und dürfen die Bürger nicht immer mehr belasten.
Danke schön.
({7})
Vielen Dank. - Für die CDU/CSU-Fraktion spricht
jetzt die Kollegin Dr. Anja Weisgerber.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und
Kollegen! Die Uhr tickt. Es sind nur noch 18 Tage bis
zum Beginn der Klimakonferenz in Paris. Jedes Jahr kurz
vor den entscheidenden Klimaverhandlungen haben wir
hier im Bundestag eine Debatte dazu. Wir haben einen
Antrag erarbeitet, in dem wir unsere Forderungen formulieren an die internationale, europäische und nationale
Ebene.
National und europäisch haben wir uns ambitionierte
Klimaziele gesetzt. Nun müssen auch die anderen Staaten der Welt nachziehen, damit es in Paris gelingt, ein
ambitioniertes verbindliches Abkommen zu verabschieden. Allein können wir das Weltklima nicht retten. Wir
brauchen auch die anderen Staaten dieser Welt.
({0})
In Medienberichten wird teilweise pessimistisch auf
den Istzustand geblickt. Aber meiner Meinung nach stehen die Zeichen gar nicht so schlecht. Warum? Gerade in
diesem Jahr haben wir einige sehr gute und sehr wichtige
Schritte voran gemacht. Es ging ein Ruck durch die Staaten der Welt.
Erstens. Wir haben auf dem G-7-Gipfel in Elmau unter deutscher Ratspräsidentschaft erreicht, dass die Industrienationen sich zu dem 2-Grad-Ziel bekennen und
auch betonen, dass tiefe Einschnitte erforderlich sind.
Dafür streben die wichtigsten Industrienationen der Welt
den Umbau der Energiewirtschaft bis 2050 und die Dekarbonisierung im Laufe des Jahrhunderts an.
Zweitens. Dieser Schwung hat sich positiv ausgewirkt. Denn momentan sind es schon rund 160 Staaten,
die ihre nationalen Klimaziele vorgelegt haben. Und darunter sind auch große Staaten, die bislang bei Kioto II
noch nicht dabei waren, wie Amerika, Russland, Japan,
Kanada, und auch viele kleine Staaten wie Haiti, die Malediven oder viele kleine afrikanische Länder. Wir haben
jetzt viermal so viele Staaten, wie bei Kioto II dabei waren. Damals waren es 37, jetzt sind es bereits rund 160.
Das ist ein zweiter wichtiger Zwischenerfolg.
Aber es ist kein Geheimnis - die Ministerin hat es
schon gesagt -: Die bislang vorgelegten nationalen Klimaziele reichen in Bezug auf die 2-Grad-Obergrenze
noch nicht aus. Aber an dieser Stelle will ich eines ganz
klar sagen: Paris ist nicht der Endpunkt. Paris ist ein Zwischenziel, ein Zwischenschritt, ein wichtiger Zwischenschritt. Das Abkommen muss jetzt den Weg aufzeigen,
das 2-Grad-Ziel zu erreichen. Deswegen brauchen wir
Überprüfungsmechanismen, wie es auch die europäischen Umweltminister gefordert haben. Diese Überprüfungsmechanismen müssen zum einen garantieren, dass
die Vertragsstaaten ihre Minderungsverpflichtungen erfüllen. Zum anderen muss aber auch das Ambitionsniveau alle fünf Jahre überprüft werden mit dem Ziel, dass
die Vertragsstaaten regelmäßig aktualisierte Klimaziele
vorlegen.
Die Grünen fordern jetzt ebenso wie die Linken, dass
wir noch eine Schippe drauflegen
({1})
und das EU-Klimaziel nachbessern.
({2})
Aber an dieser Stelle muss ich sagen: Es kann doch nicht
sein, dass wir jetzt unser Ziel nachschärfen, wenn die
Beiträge aller Staaten nicht ausreichen, um das 2-GradZiel zu erreichen.
({3})
Dadurch nehmen wir den Druck von den anderen Vertragsstaaten. Das kann nicht unser Weg sein. Das wäre
jetzt vor der Konferenz in Paris genau das falsche Signal.
Wir brauchen die anderen Staaten dieser Welt. Wir haben
unseren Beitrag geleistet
({4})
und kämpfen jetzt dafür, dass diese Ziele umgesetzt werden.
({5})
Europa hat sich ambitionierte Ziele gegeben. Es ist
kein Geheimnis, dass Deutschland über diese europäischen Ziele hinausgegangen wäre, was zum Beispiel die
nationalen Beiträge im Bereich der Energieeffizienz und
der erneuerbaren Energien angeht.
({6})
Da hätten wir von deutscher Seite aus durchaus noch
mehr gewollt.
Aber eines ist klar: Wenn jetzt gefordert wird, dass
Europa seine Ziele nachschärfen muss, dann müsste
Deutschland wieder die Hauptlast tragen. Das wiederum
wäre schlecht für die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen
Industrie auf dem europäischen und auf dem weltweiten
Markt. Die Überprüfbarkeit ist jetzt insofern der richtige
Weg, dass alle liefern müssen, dass alle kontrollieren und
dann nachbessern müssen. Aber alle Staaten sind gefordert. Das soll an dieser Stelle meine klare Botschaft sein.
({7})
In Paris müssen wir es übrigens auch schaffen, dass
nicht nur die Industrienationen mitmachen, sondern auch
die Entwicklungs- und Schwellenländer. Gerade die Entwicklungs- und Schwellenländer sind vom Klimawandel
oft am stärksten betroffen. Erst vergangene Woche hatten
wir einen Austausch mit Klimazeugen aus Zentralafrika
und von den Philippinen. Genau diese Staaten brauchen
unsere Unterstützung.
({8})
Auf dem Gipfel in Kopenhagen wurde dazu Wichtiges beschlossen. Die Industrienationen haben sich dazu
verpflichtet, ab 2020 jährlich 100 Milliarden US-Dollar
für die internationale Klimafinanzierung zu mobilisieren,
und zwar aus öffentlichen und privaten Quellen. Auch
hier übernimmt Deutschland die Verantwortung. Wir waren die Ersten, die rund 1 Milliarde US-Dollar für die
Erstauffüllung des internationalen Grünen Klimafonds
zur Verfügung gestellt haben. Die Bundeskanzlerin hat
im Mai dieses Jahres angekündigt, die Klimafinanzierung
bis 2020 auf gut 4 Milliarden Euro zu verdoppeln. Auch
hier übernehmen wir als Deutschland und übernimmt die
Bundeskanzlerin höchstpersönlich Verantwortung.
({9})
Zur europäischen Klimapolitik. Herzstück ist der europäische Emissionshandel. Er funktioniert: Er spart CO2
ein. Aber wir haben einen Überschuss von rund 2 Milliarden Zertifikaten. Das schwächt den Emissionshandel das sage ich an dieser Stelle als Klimapolitikerin ganz
klar - und macht ihn ein Stück weit zum zahnlosen Tiger.
Deshalb müssen wir den Emissionshandel stärken. Hier
sind auch wichtige Schritte gemacht worden, etwa mit
der Marktstabilitätsreserve. Jetzt folgt die zweite Reform:
Überschüssige Zertifikate müssen abgebaut werden. Das
ist ganz klar; das sage ich hier als Klimapolitikerin.
Dabei müssen wir aber auch die Situation der energieintensiven Industrie, die im internationalen Wettbewerb steht, berücksichtigen, sonst kommt es in diesem
Bereich zu Standortverlagerungen. Das ist schlecht für
die Wirtschaft, aber auch schlecht für unser Klima, da
sonst außerhalb der Europäischen Union verstärkt CO2
emittiert wird.
({10})
Wir streben jetzt auch an, den Emissionshandel weltweit zu exportieren. Am besten wäre es, wenn wir die
bestehenden Emissionshandelssysteme nach und nach
zu einem globalen Kohlenstoffmarkt ausbauen würden.
Da gibt es eine gute Neuigkeit: China führt ab 2017 das
Emissionshandelssystem in der gesamten Republik ein.
Derzeit gibt es erst sieben Pilotprojekte in einzelnen Provinzen. Jetzt aber will China den Emissionshandel ab
2017 in der gesamten Republik einführen. All das sind
positive Signale, die uns für die Konferenz in Paris hoffnungsfroh stimmen.
Lassen Sie mich zum Ende auf die nationale Ebene
zurückkommen. Fakt ist: Die Bundesregierung hat Aktionsprogramme zum Thema Klimaschutz und Energieeffizienz formuliert und verabschiedet. Diese arbeiten
wir jetzt konsequent ab und setzen sie um. Viele Bundesländer in Deutschland haben sich eigene Klimaziele
gegeben. Aber eins ist auch klar: Diese eigenen Klimaziele können wir nur dann erreichen, wenn wir erhebliche Fortschritte im Bereich der Energieeffizienz und da
insbesondere im Gebäudebereich machen.
({11})
Deswegen sage ich an der Stelle ganz klar: Jetzt dürfen
wir doch nicht das Instrument ungenutzt lassen, das erhebliche Einsparpotenziale birgt.
({12})
Jeder Deutsche spart gerne Steuern. Deswegen haben
wir trotz unseres Wissens um die Vorbehalte der Finanzminister aller Bundesländer - darunter sind auch viele
rot-grün geführte Länder - in unserem Antrag ganz klar
formuliert, dass wir weiterhin das Ziel verfolgen müssen,
die energetische Gebäudesanierung steuerlich zu fördern.
Denn Schwarzer-Peter-Spiel hin oder her: Als Klimapolitikerin bin ich nicht bereit, dieses Instrument in der Zukunft einfach fallenzulassen.
Vielen Dank.
({13})
Vielen Dank. - Jetzt hat die Kollegin Annalena
Baerbock, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Liebe Frau Ministerin! Ja, es gibt positive Signale. Nur das hat auch die Rede wieder gezeigt -, leider kommen
diese nicht aus Deutschland.
({0})
Es ist doch sehr erstaunlich, dass das Wohl und Wehe
in allen Bereichen nun von China abhängen soll. Dafür
gibt es verschiedene Beispiele.
In der großen Konferenz im Auswärtigen Amt heute
Morgen ging es unter der Überschrift „Klimaabkommen
in Paris“ darum, die globale Transformation in Paris voranzubringen. Nur hat die Staatssekretärin dann in ihrer
Rede allein davon gesprochen, dass Deutschland für ein
modernes, dynamisches und faires Abkommen kämpft.
Ich habe mich wirklich gefragt: Wo ist da die Verbindlichkeit, die Sie angeblich so hochhalten?
({1})
Ihr Antrag ist ein weiterer Offenbarungseid. Denn was
Sie in Ihrem Antrag auf internationaler Ebene einfordern,
steht in gigatonnenschwerer Diskrepanz zu dem, was Sie
auf nationaler Ebene liefern.
Frau Kollegin, darf ich Sie kurz unterbrechen? Die
Kollegin Schwarzelühr-Sutter würde gerne eine Zwischenfrage stellen. Lassen Sie sie zu?
Ja.
Bitte schön, Frau Schwarzelühr-Sutter.
Liebe Kollegin Baerbock, stehen Sie nicht hinter einem modernen Klimaschutzabkommen, das mit einem
Ambitionsmechanismus verbunden ist? Wollen Sie keine
Anpassung und keinen Überprüfungsmechanismus? Stehen Sie nicht hinter einem fairen Abkommen, mit dem
die Trennung zwischen Entwicklungsländern und Industrieländern überwunden wird? Wenn Sie nur einen Satz
herausgreifen, dann erklären Sie mir doch, warum Sie ein
faires, modernes und dynamisches Abkommen nicht gut
finden.
Ich finde es nicht gut, dass Sie mit der einzigen Botschaft antreten, dass Deutschland für ein faires, modernes
und dynamisches Abkommen steht. Wir wollen, dass es
völkerrechtlich verbindlich ist. Wir wollen ein langfristiges Ziel verankern. Wir wollen die Dekarbonisierung
schaffen und das 2-Grad-Ziel erreichen. Alle kämpfen
dafür, dass es völkerrechtlich verbindlich gemacht wird
und dass wir auch China und die USA mit an Bord holen. Aber davon sprachen Sie in Ihrer Rede kein einziges Mal. Auf Nachfrage der Journalisten, ob das Ganze
verbindlich sei, wird gesagt: Das ist alles schwierig; wir
müssen gucken, wie wir zueinanderkommen.
Ich erwarte von einer Bundesregierung, dass sie nicht
nur mitschwimmt, sondern vorangeht und dafür eintritt,
dass wir zu einem verbindlichen Vertrag kommen, durch
den alle anderen Elemente mit erfasst sind. Das kam in
Ihrer Rede nicht vor.
({0})
Auf Twitter haben Sie dann hinterhergeschickt, dass
der völkerrechtliche Aspekt auch wichtig sei. Aber wenn
man vorangeht, dann muss man diese Botschaft klar setzen.
({1})
Die Botschaft klar setzen: Wie das aussieht, zeigt Ihr
Antrag. Darin fordern Sie - ich zitiere -:
So soll sichergestellt werden, dass die Staaten ihren Minderungsverpflichtungen nachkommen. Ist
dies nicht der Fall, müssen die Ambitionsniveaus in
denjenigen Staaten nachgeschärft werden, die ihren
Klimabeiträgen nicht gerecht werden.
Schöne Worte. Aber wir werden als Europäische Union
mit unseren eigenen Klimabeiträgen dem 2-Grad-Pfad
nicht gerecht, und deswegen müssen wir nachschärfen.
Das schreiben Sie selber in Ihrem Antrag.
({2})
Statt mit dem Finger auf andere zu zeigen, sollten wir
lieber vor der eigenen Haustür kehren.
({3})
Denn - das wurde erwähnt - es wurde ausgerechnet,
dass wir uns nicht auf einem 2-Grad-Pfad bewegen, sondern auf einem 2,7- oder 3,5-Grad-Pfad. Ich glaube, der
Korridor ist wichtig und sollte hier auch erwähnt werden.
Wir haben uns auf dem Gipfel in Lima in einem Vertrag
verpflichtet, dass die INDCs eingereicht werden und dass
nachgebessert wird, wenn klar wird, dass das 2-GradZiel nicht erreicht wird. Leider sind wir etwas hinter dem
Zeitplan; denn das sollte schon im Sommer passieren.
Dann sollte rund um das Treffen mit Ban Ki-moon nachgebessert werden. Wir sind nun im November. Aber das
befreit uns nicht davon, jetzt nachzubessern. Das haben
Sie als Bundesregierung selber in Lima mit vereinbart:
Wenn wir nicht auf dem 2-Grad-Pfad sind, dann müssen wir nachbessern. Deswegen fordern wir von Ihnen:
Setzen Sie sich als Bundesregierung dafür ein, dass die
Europäische Union das Ambitionsniveau anhebt! Sonst
werden wir die Welt nicht retten können.
({4})
Ähnlich sieht es beim Emissionshandel aus. Frau
Weisgerber, in dem von Ihnen erwähnten Antrag der Koalitionsfraktionen wird gefordert, „sich dafür einzusetzen,
dass die Revision des europäischen Emissionshandelssystems den Emissionshandel in der vierten Handelsperiode ... als marktwirtschaftliches Klimaschutz instrument
stärkt und die bereits beschlossene Reform ... nicht
schwächt“. Wenn wir uns schon in einem solchen Korridor bewegen und lediglich wollen, dass es nicht abgeschwächt wird, dann werden wir keine tiefgreifenden
Maßnahmen bewirken, die das Erreichen des Dekarbonisierungsziels gewährleisten.
Der dritte Punkt ist Ihr Klima-Aktionsprogramm 2020.
Es ist zu lesen, dass Sie sich dafür einsetzen, dass das
Programm in allen Bereichen umgesetzt wird. Dann frage ich mich nur: Wie passt dazu der Kabinettsbeschluss,
dass die rund 22 Millionen Tonnen im Bereich der Energiewirtschaft - das war auch zu niedrig angesetzt - nicht
mehr eingespart werden sollen und der „Ruhestand“ von
alten Kraftwerken auch noch vergoldet werden soll? Das
hat nichts mit Klimaschutz zu tun.
({5})
Es gäbe noch einen Punkt, wo Sie vorangehen und
nicht nur mitschwimmen könnten. Wir erleben momentan einen der größten Industrieskandale in unserer
Geschichte. Es schafft nicht gerade Vertrauen vor einer
internationalen Konferenz, dass ein deutsches Unternehmen jahrelang mit gefälschten CO2-Grenzwerten gewirtschaftet hat. Wäre es daher nicht ein sinnvolles Signal,
wenn die Bundesregierung sagte: Ja, wir haben daraus
gelernt. Ja, wir wollen Vertrauen schaffen - genauso
wie Sie das in Ihrer Rede gesagt haben -, und deswegen
treten wir für eine radikale Umkehr im Verkehrsbereich
sowie nicht nur für strengere Grenzwerte, sondern auch
dafür ein, dass die E-Mobilität endlich Realität wird. Dazu reicht es nicht aus, einen Prüfauftrag im Antrag zu
formulieren, wie Sie es getan haben.
({6})
Wir appellieren daher in unserem Antrag deutlich: Wir
brauchen erstens eine Offensive für den Ausbau der erneuerbaren Energien statt Bestandsschutz für die Kohle
in Deutschland. Wir brauchen zweitens einen globalen
Technologietransfer zugunsten der erneuerbaren Energien statt Subventionen und Bürgschaften für die klimaschädliche Kohle. Wir müssen in der deutschen Außenwirtschaftspolitik klarmachen: Das Zeitalter „Raus aus
den Fossilen, rein in die Erneuerbaren“ hat jetzt begonnen. Ich sage Ihnen - das machen die positiven Signale
aus China mehr als deutlich -: Wenn wir es nicht tun,
dann machen es andere; denn weltweit wird bisher mehr
in erneuerbare Energien investiert als in fossile. Wenn
wir jetzt nicht bereit sind, hier das Ruder herumzuwerfen, dann ist das nicht nur eine ökologische Schandtat,
sondern auch ökonomischer Irrsinn. Deswegen fordern
wir Sie heute dazu auf: Stimmen Sie für unseren Antrag,
für eine Politik von morgen anstatt für eine Politik von
gestern, wie Sie es formuliert haben!
Herzlichen Dank.
({7})
Vielen Dank. - Für die SPD-Fraktion erhält jetzt
Frank Schwabe das Wort, dem ich von dieser Stelle aus
noch einmal herzlich zu seinem heutigen Geburtstag gratulieren möchte.
({0})
45 ist eine Zahl, die man noch nennen darf. Er wird heute
also 45 Jahre jung. Herzlichen Glückwunsch!
Ich weiß nicht, um wie viele Minuten sich meine Redezeit verlängert.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Frau Baerbock, es ist die Aufgabe der Opposition,
Kritik zu üben und die Regierung voranzutreiben; das
ist richtig und wichtig. Aber darüber darf nicht der von
Ihnen erweckte Eindruck entstehen - er ist nach meiner
Meinung falsch -, dass wir nicht gemeinsam für ein ambitioniertes, rechtsverbindliches Klimaabkommen eintreten; dafür tritt das ganze Haus - genauso wie die Ministerin und die Staatssekretärin - ein. Das ist das Ziel, das
wir erreichen wollen. Ich bin sicher, dass wir es auch in
Paris erreichen werden.
({1})
Wir könnten über all das reden, was auf der Welt
schwierig ist. Wir könnten darüber reden, dass wir mittlerweile schon bei einer Temperaturerhöhung von 1 Grad
Celsius angekommen sind. Wir könnten darüber reden,
dass wir vor kurzem auf Initiative von Frau Höhn KliAnnalena Baerbock
mazeugen aus dem Tschad und von den Philippinen in
den Ausschuss eingeladen haben. Ich habe vor kurzem
Bangladesch und Myanmar besucht und habe mich davon überzeugen müssen, wie schwierig die Lage für viele
Menschen auf der Welt ist, wie viele Klimaflüchtlinge es
gibt. Wir könnten darüber reden, welche Auswirkungen
der Klimaschutz auf die Flüchtlingspolitik hat. Dazu gab
es ein bemerkenswertes Interview von Frau Ministerin
Hendricks. Wir bekommen dieses Thema in der Tat in
einer ganz neuen Dimension auf die Tagesordnung; denn
im Rahmen der Flüchtlingsdebatte wird klar - das war
bei der Klimadebatte für diejenigen, die eingeweiht sind,
schon immer klar -, dass das, was wir hier tun, wie wir
hier leben, wie wir hier wirtschaften und wie wir hier
miteinander umgehen, Auswirkungen auf andere Teile
der Welt hat.
Am Ende ist es nicht nur eine moralische Verpflichtung das wäre schon wichtig genug -, sondern auch eine Frage
von Eigennutz, alles zu tun, damit Menschen in anderen
Teilen der Welt ordentlich leben können, damit auch wir
hier ordentlich leben können.
({2})
Wir stehen jetzt kurz vor der Konferenz von Paris. Ich,
der ich mit meinen 45 Jahren mittlerweile ein Klimaveteran bin - ich nehme jetzt an der neunten Klimakonferenz teil -,
({3})
muss sagen: Eigentlich war die Analyse immer, dass die
Konferenzen zu wenig gebracht haben. Es gab solche
Minister und solche. Je nachdem, ob man in einer Regierungskoalition war oder in der Opposition, hat man
das als Politiker etwas anders dargestellt. Aber am Ende
waren wir immer der Meinung, dass es nicht genug gebracht hat. Es gab manchmal radikale Vorstellungen. Ich
erinnere mich an den Minister Gabriel, der auch einmal
gewisse Vorstellungen hatte. Man kann sich jetzt denken,
wie er manchmal auf solchen Konferenzen auftritt.
Das können wir alles lassen, das macht keinen Sinn. Es stimmt, es war eigentlich immer zu wenig vor dem
Hintergrund der Herausforderungen, die wir haben.
Trotzdem - das will ich heute sagen - kann man sich
das Ganze auch einmal optimistisch anschauen und fragen: Was hat sich eigentlich in den letzten Jahren wirklich bewegt? Es hat sich eben ganz viel bewegt. Man
muss keine optimistische Sichtweise haben, sondern
schlichtweg eine realistische. Dann stellt man fest, dass
es wirklich eine Revolution gegeben hat, die sich vielleicht evolutionär dargestellt hat; aber eine Revolution
war bei der Frage des Klimaschutzes und der Frage, wie
wir zukünftig Energie erzeugen und wirtschaften.
Barbara Hendricks hat die politische Lage angesprochen. Auch da muss ich sagen, Frau Baerbock: Dass China sich bewegt hat, liegt nicht nur an Deutschland, aber
einen kleinen Anteil daran haben wir schon.
({4})
Ich erinnere an die Kooperationen, zum Beispiel im Rahmen des Emissionshandels. Es gibt dort wichtige Veränderungen. Auch die USA sind ganz wichtig und in der
Tat - auch das hat die Ministerin gesagt - Kanada. Endlich haben wir eine andere Regierung in Kanada, die sich
sicherlich ganz anders und progressiver verhalten wird.
({5})
Ich finde im Übrigen, dass wir auch die Frage der Ölsande noch einmal auf die internationale und europäische
Tagesordnung bringen müssen.
({6})
Was sich aber vor allem verändert hat, ist die ökonomische Lage. Wir haben eine drastische Trendwende
weltweit in der Frage der erneuerbaren Energien. Wir
haben eine Verfünfzigfachung der Solarstrommenge
zwischen 2004 und 2014. Wir haben alleine im Bereich
der Windkraft einen Zubau in China von 23 Gigawatt
im letzten Jahr. Damit könnten wir alle Atomanlagen in
Deutschland von heute auf morgen ersetzen. Mittlerweile
wird weltweit wesentlich mehr in erneuerbare Energien
investiert als in fossile Energieträger und Atomenergie
zusammen.
Wir haben die sogenannte Divestmentdebatte, also den
Abzug von Investments aus fossilen Energieträgern. Der
norwegische Pensionsfonds ist mehrfach genannt worden, aber es ist auch die Rockefeller-Stiftung zu nennen.
Wir haben jetzt ganz aktuell den Beschluss des Stadtrats
von Münster, dass die beiden städtischen Fonds ab 2016
kein Geld mehr in Kohle, Gas und Öl investieren sollen.
({7})
Es ist die zentrale Veränderung in den letzten Jahren
und vielleicht im letzten Jahrzehnt, dass wir ganz andere
ökonomische Rahmenbedingungen haben und es deswegen den Staaten viel leichter fällt, zu Verabredungen zu
kommen. Deswegen: Die Wegrichtung stimmt - das ist
zweifellos so -, und trotzdem müssen wir einige Dinge in
Paris diskutieren, zum Beispiel die Frage, wie der Ambitionssteigerungsmechanismus konkret aussehen soll. Das
muss konkret und verbindlich sein und muss Auswirkungen auf die Europäische Union haben.
Ich finde auch, dass wir darüber, wie man mit Entwicklungsländern in der Frage von „loss and damage“,
also den Schäden, die es schon gibt, umgehen kann, diskutieren müssen. Da müssen wir einen Schritt weiterkommen. Dann geht es in der Tat darum, in Deutschland
und in Europa die Dinge umzusetzen. Ich bitte noch einmal - ich habe es mehrfach hier schon getan - darum,
dass das ganze Haus Umweltministerin Hendricks unterstützt. Sie hat uns ehrlich gemacht in der Frage, wo wir
bei der Zielerreichung stehen. Alle müssen mithelfen,
alle Kabinettsmitglieder, aber auch alle Mitglieder des
deutschen Parlaments, damit wir unsere Klimaschutzziele in Deutschland erreichen.
Vielen Dank und ein herzliches Glückauf!
({8})
Vielen Dank. - Bevor ich den nächsten Redner auf-
rufe, möchte ich Ihnen das von den Schriftführerinnen
und Schriftführern ermittelte Ergebnis der Wahlen
bekanntgeben. Zuerst: Wahl eines Mitglieds des Son-
dergremiums gemäß § 3 Absatz 3 des Stabilisierungs-
mechanismusgesetzes: abgegebene Stimmen 583, ungül-
tige Stimmen keine, gültige Stimmen damit 583. Mit Ja
haben gestimmt 430, mit Nein haben gestimmt 109, Ent-
haltungen 44. Damit ist der Abgeordnete Roland Claus
gewählt.1)
({0})
Dann kommen wir zum Ergebnis der Wahl eines stell-
vertretenden Mitglieds des Sondergremiums gemäß § 3
Absatz 3 des Stabilisierungsmechanismusgesetzes: ab-
gegebene Stimmen 579, ungültige Stimmen 3, gültige
Stimmen 576. Mit Ja haben gestimmt 476, mit Nein 79,
Enthaltungen 21. Der Abgeordnete Dr. Dietmar Bartsch
hat damit 476 Stimmen erhalten, und die erforderliche
Mehrheit wurde auch hierbei erreicht.2)
({1})
Jetzt hat der Kollege Matern von Marschall, CDU/
CSU-Fraktion, als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt das Wort. - Bitte schön.
({2})
Herzlichen Dank. - Frau Präsidentin! Liebe Kolle-
ginnen und Kollegen! Vergangene Woche waren wir -
Kollegin Baerbock und Kollegin Bulling-Schröter waren
auch dabei - in der Französischen Botschaft zu Gast;
Frankreich ist ja Gastgeber der Klimakonferenz. Es ging
darum: Was leisten die Parlamentarier in diesem Zusam-
menhang; was leisten sie im Verhältnis zu den verhand-
lungsführenden Regierungen? Sind sie also Sprachrohr
dieser Klimapolitik, oder sind sie eher passive Begleiter?
Ich fand sehr bemerkenswert, dass in diesem Zusam-
menhang die Moderatorin eine ziemlich provokative
Bemerkung gemacht hat. Sie sagte: Ja, wenn man sich
auf internationalen Konferenzen herumtreibt, dann ist es
möglicherweise die beste Art und Weise, wie man in sei-
nem Wahlkreis verlieren kann. - Der Hinweis galt natür-
lich der Frage: Kommt das, was international vereinbart
werden soll, bei den Menschen an? Interessieren sich die
Menschen überhaupt dafür? Ich sagte: Ja, das ist richtig.
Ich als direkt gewählter Abgeordneter des Wahlkreises
Freiburg muss versuchen, das zu erklären. Ich habe si-
1) Anlage 3
2) Anlage 3
cher Mühe, das einem Winzer am Kaiserstuhl zu erklären. - Wenige Tage später trafen wir uns in der Parlamentarischen Gesellschaft mit Vertretern der Uni Freiburg.
({0})
Es kam, Frau Künast, ein vormaliger Kollege des Europäischen Parlaments der Grünenfraktion und sagte: Herr
von Marschall, Sie haben, glaube ich, nicht recht. Gerade dem Winzer können Sie das wahrscheinlich ganz gut
erklären.
({1})
Ich gebe zu: Er hat recht. Wir erleben natürlich die
Veränderungen des Klimas auch in Deutschland, wir
erleben sie dadurch, dass zunehmend Schädlinge aus
südlichen, aus wärmeren Regionen zu uns kommen.
Wir erleben sie in der Forstwirtschaft, bei der Planung
für die sehr langfristigen waldbaulichen Ziele, die wir in
Deutschland erreichen wollen. In Freiburg haben wir ein
Weinbauinstitut und ein forstwissenschaftliches Institut,
die sich diesen Fragen widmen: Wie gehen wir mit den
Veränderungen des Klimas in Zukunft um? Wir haben
eine große Universität, die mit fünf Fraunhofer-Instituten
ein nationales Leistungszentrum für Nachhaltigkeit in
Freiburg aufgebaut hat. In diesem Zusammenhang habe
ich erlebt, dass wir in Deutschland in der Forschung stark
sind, sowohl was neue Technologien mit Blick auf die
Erreichung der Minderungsziele, als auch was die Frage der Anpassung betrifft. Wir sind in Deutschland stark,
aber natürlich sind keineswegs alle Staaten der Erde
diesbezüglich stark. Deswegen ist es von so großer Bedeutung, dass, um die Vereinbarungen zum Klima zum
Erfolg zu führen, wir insbesondere den Green Climate
Fund mit den notwendigen 100 Milliarden Euro aufstocken müssen.
Wenn ich weiter darüber nachdenke, was ich den
Menschen im Wahlkreis dazu sagen kann, was die internationalen Vereinbarungen bedeuten, fällt mir ein Artikel ein, den ich heute früh in den Proceedings of the
National Academy of Sciences aus Washington gelesen
habe. Dieser Artikel, der im Januar erschienen ist, zeigt
auf, dass dem Bürgerkrieg in Syrien eine ausgesprochen
intensive Dürreperiode von mehreren Jahren Dauer vorausgegangen ist. Nun hat man im Bereich des sogenannten fruchtbaren Halbmondes durchaus häufig solche Dürreperioden, aber nie in so drastischer Form. Es
mussten eineinhalb Millionen Menschen ihre Ländereien
verlassen. Sie kamen in Städte, in denen auch die Lebensgrundlagen schwierig waren.
Sicher hat das - das ist natürlich eine komplexe Angelegenheit - zur Beförderung dieser Konflikte beigetragen. Natürlich war dafür auch eine Grundlage - das
richte ich jetzt an das BMZ - eine in Syrien über lange
Jahrzehnte betriebene, verfehlte Landwirtschaftspolitik
mit wenig Nachhaltigkeit, mit einer viel zu hohen Anbauquote bei Baumwolle, die natürlich die Grundwasserreserven sehr stark beansprucht. In einer Planwirtschaft,
die nicht auf nachhaltiges Wirtschaften aufgebaut ist und
keine Good Governance kennt, kann sich leichter etwas
entwickeln, was zu einer schwierigen und dramatischen
Klimakatastrophe führt. Dann hat man eine Katastrophe,
die sich in der ganzen Komplexität verschlimmert und zu
dem führt, was wir heute erleben.
Insofern müssen wir - ich glaube, das ist die Aufgabe
der Zukunft - unsere Klimapolitik als Teil einer globalen Nachhaltigkeitsstrategie begreifen, einer Nachhaltigkeitsstrategie, die die Vereinten Nationen vor wenigen
Wochen in New York verabschiedet haben und in der der
Klimaschutz eines der wichtigen Elemente ist. Eine wirtschaftliche Entwicklung ist wichtig; eine gesellschaftliche und eine gute soziale Entwicklung sind genauso
wichtig.
Wir in Deutschland sind stark; andere Länder sind
eben nicht so stark. Deswegen ist der Green Climate
Fund so wichtig. Er trägt dazu bei, dass wir den schwachen Ländern der Erde helfen, sowohl die Anpassung
an die dramatischen Folgen des Klimawandels besser
bewältigen zu können als auch die Minderungsziele zu
erreichen. Wir in Deutschland können und sollten noch
mehr dazu beitragen - ich habe die hiesige starke Forschung erwähnt -, Technologien zu entwickeln, die diesen Ländern dann einigermaßen preiswert zur Verfügung
gestellt werden können; denn das ist eine wesentliche
Voraussetzung dafür, dass sie die Ziele erfüllen können.
({2})
Wie ich sagte, ist die Zusammenschau der verschiedenen Ursachen für Konflikte ganz besonders wichtig.
Ich denke, darüber werden wir in Zukunft noch sehr viel
stärker nachdenken müssen. Das sollte ein Bereich sein,
der nicht nur Klima-, Umwelt- und Entwicklungspolitik,
sondern auch Sicherheitspolitik umfasst. Es gibt eine
ganze Summe von Bausteinen, die zur Bewältigung der
Konfliktlage auf der Welt gehören.
Ich habe heute - damit, Frau Präsidentin, möchte ich
zum Schluss kommen - das Glück, hier zu reden. Auf
Lateinisch bedeutet glücklich „felix“, und Felix heißt der
Sohn von Andreas Jung, der gestern zur Welt gekommen
ist. Wegen Felixʼ Geburt stehe ich heute hier. Ich glaube,
wir können Andreas Jung von dieser Stelle aus „Herzlichen Glückwunsch!“ sagen.
({3})
Ich finde, dass der Vorsitzende des Nachhaltigkeitsbeirates des Bundestages eine ausgesprochen engagierte Arbeit macht zu dem Thema, das wir heute hier debattieren.
({4})
Vielen Dank. - Auch vom Präsidium dürfen Sie die
besten Glückwünsche ausrichten.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag
der Fraktionen der CDU/CSU und SPD auf Drucksache 18/6642 mit dem Titel „Klimakonferenz in Paris muss ehrgeiziges Abkommen beschließen“. - Wer
stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich? - Damit ist der Antrag mit den Stimmen der
CDU/CSU- und der SPD-Fraktion gegen die Stimmen
der Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen
angenommen.
Die weiteren Abstimmungen übernimmt die Kollegin
Bulmahn.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/6648 mit dem Titel „Auf der Klimakonferenz in
Paris die Weichen für mehr Klimaschutz und globale Gerechtigkeit stellen“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Das
ist die Opposition. Wer stimmt dagegen? - Die Koalition.
Enthaltungen? - Keine. Dann ist der Antrag abgelehnt
worden.
Tagesordnungspunkt 9 c. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 18/3313 an die in
der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Katja
Dörner, Dr. Konstantin von Notz, Dr. Franziska
Brantner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Besonders gefährdete Flüchtlinge in Erstaufnahmeeinrichtungen und Gemeinschaftsunterkünften besser schützen
Drucksache 18/6646
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({0})
Innenausschuss
Finanzausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Ich höre dazu
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, die Plätze zu
wechseln.
Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin in der
Aussprache hat Dr. Franziska Brantner von der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Sehr geehrte Präsidentin! Sehr geehrte Damen und
Herren! Gestern sprach hier Innenminister de Maizière
und begründete den Schwenk zurück zu Dublin III bei
den syrischen Flüchtlingen damit, dass es so wichtig
sei, EU-Recht eins zu eins umzusetzen. Wenn Ihnen das
EU-Recht so am Herzen liegt, dann fangen Sie endlich
mit der Umsetzung der EU-Aufnahmerichtlinie und der
Schutzvorgaben für Kinder und Frauen bzw. besonders
Gefährdeter, die darin enthalten sind, an.
({0})
Statt mit Härte gegen die Schwächsten, die syrischen
Kinder, vorzugehen, sollte Herr de Maizière mit Härte
den Schutz von Flüchtlingskindern in unseren Unterkünften durchsetzen. Das würde unsere Werte klarstellen, über die sich der Innenminister ja sonst immer nur
auslässt, wenn es darum geht, dass Flüchtlinge sie einzuhalten haben.
({1})
Das, Herr de Maizière, würde sicherlich einen ersten
richtigen Schritt zur Integration dieser Flüchtlinge bei
uns leisten.
Wir alle fordern zu Recht, dass sich die Menschen,
die zu uns kommen und bei uns Zuflucht suchen, an das
Grundgesetz sowie an die Kinder- und Frauenrechte halten, die wir errungen haben. Das gilt dann aber eben auch
für uns. Warum gilt das Bundeskinderschutzgesetz nicht
für Flüchtlingskinder? Mir muss einer irgendwann einmal erklären, warum es für diese Kinder einen weniger
großen Schutz gibt als für jene, die bei uns geboren sind.
Wenn wir die Einhaltung der Rechte fordern - und das zu
Recht -, dann müssen wir diese aber auch garantieren. Es
ist unsere Aufgabe, diese Rechte von Kindern und Frauen
bzw. besonders Schutzbedürftiger überall zu garantieren.
({2})
Vor Ort wird Enormes geleistet, und trotzdem ist es
oft schwierig. Es gibt viele Orte, an denen sich Tausende
von Menschen auf engem Raum befinden - Wöchnerinnen, allein reisende Mütter mit Kindern, alleinstehende
Frauen, Schwule und Lesben, ganz viele, die besonderen
Schutz brauchen -, und es gibt keinen sicheren Ort für
sie. Häufig gibt es keinen Ort, wo Kinder spielen können, wo sie einmal Ruhe haben, sich sicher fühlen und
gut aufgehoben sind. Das geht vielleicht im Sommer,
wenn die Kinder draußen spielen können; aber im Winter wird das nicht mehr gehen. Studien zeigen, dass sich
der Gesundheitszustand der Kinder bei uns ohne solche
Möglichkeiten verschlechtert. Es ist in jeder UN-Unterkunft weltweit absoluter Standard und kein Luxus, dass
es Children‘s Zones gibt.
({3})
Die EU-Aufnahmerichtlinie formuliert es so:
Die Mitgliedstaaten tragen dafür Sorge, dass Minderjährige Gelegenheit zu Freizeitbeschäftigungen
einschließlich altersgerechter Spiel- und Erholungsmöglichkeiten in den Räumlichkeiten und Unterbringungszentren … sowie zu Aktivitäten im Freien
erhalten.
Fangen Sie an, die Richtlinie endlich umzusetzen!
({4})
Und was ist mit den allein reisenden Frauen, mit jenen,
die vielleicht traumatisiert zu uns kommen und Gewalt
erfahren haben? Für sie gibt es nicht einmal getrennte
Frauentoiletten geschweige denn abschließbare Räume,
wo sie sich nachts sicher fühlen können. Auch da ist die
EU-Richtlinie sehr genau. Sie gibt vor, „bei der Unterbringung Asylsuchender geschlechts- und altersspezifische Aspekte sowie die Situation von schutzbedürftigen
Personen zu berücksichtigen und geeignete Maßnahmen
zu treffen, damit Übergriffe und geschlechtsbezogene
Gewalt einschließlich sexueller Übergriffe und Belästigung verhindert werden“. Auch das ist sehr deutlich.
({5})
Ich kann uns alle nur auffordern, das endlich in deutsches Recht umzusetzen. Hier, Herr de Maizière, könnten Sie zeigen, was Ihnen das europäische Recht wirklich
wert ist.
Wir wollen in einem ersten Schritt, dass Gewaltschutzkonzepte etabliert werden - in Zusammenarbeit
mit den Ländern. Das bedeutet nicht, dass wir eins zu
eins vorgeben, wie es vor Ort auszusehen hat. Das wird
vor Ort erarbeitet. Aber eine Orientierung dafür sollten
die Empfehlungen von Herrn Rörig bieten, unserem unabhängigen Beauftragten gegen sexuellen Missbrauch;
Sie alle kennen diese Empfehlungen. Er hat sehr gut ausgearbeitet, was notwendig wäre. Das soll die Orientierung sein. Das soll vor Ort umgesetzt werden. Das ist der
erste Schritt.
({6})
Zweitens brauchen wir Möglichkeiten zur Schulung
und Fortbildung von Hauptamtlichen und Ehrenamtlichen, damit sie wissen, wie man mit traumatisierten Kindern umgeht, damit sie sensibilisiert werden für Anzeichen von Gewalt und für schwierige Situationen. Dazu
gehört auch die Stärkung von bestehenden Einrichtungen, in denen man sich seit Jahren sehr gut um Frauen
und Kinder kümmert, die in solchen Situationen sind.
Diesen Einrichtungen ist es egal, woher die Menschen
kommen; sie nehmen sie auf. Aber sie brauchen dafür
unsere Unterstützung. Auch das fordern wir in diesem
Antrag.
({7})
Drittens wollen wir in Anlehnung an die Standards der
Kinder- und Jugendhilfe eine Betriebserlaubnis für Gemeinschaftsunterkünfte. Ich wiederhole: Gemeinschaftsunterkünfte. Das sind die Orte, wo Menschen länger
bleiben, wo Kinder erwachsen werden, wo sie teilweise über Jahre sind. Es ist wichtig, dass dort die gleichen
Standards gelten, dass es bei Übergriffen für Kinder
und Jugendliche, die dort leben, Beschwerdemöglichkeiten gibt. Natürlich braucht es dafür Übergangszeiten
vor Ort. Es ist klar, dass das nicht von heute auf morgen
geschehen kann. Aber das Ziel, dass dieser Standard für
alle Kinder bei uns gilt, muss uns doch gemeinsam viel
wert sein. Wir wissen: Das ist vor Ort schwierig. Aber der
Standard, der Anspruch muss da sein.
({8})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, wir werden Sie wirklich daran messen, wie Sie
die EU-Aufnahmerichtlinie und die darin enthaltenen
Schutzvorgaben umsetzen. Ich hoffe, dass wir nicht nur
Abschreckung betreiben, sondern ernst nehmen, worum
es geht, nämlich Kinder bei uns zu schützen, ihre Integration zu ermöglichen, ihnen vorzuleben, was es bedeutet,
Rechte zu haben, und zu zeigen, dass diese ihre Rechte
geschützt werden. Ich zähle auf Sie und hoffe, dass wir
uns bei diesen Werten einig sind.
Ich danke Ihnen.
({9})
Vielen Dank. - Als nächste Rednerin hat Nina Warken
von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Frauen und Kinder sind die verletzlichste Gruppe unter den Flüchtlingen und brauchen unseren besonderen
Schutz.
({0})
- Genau. Da sind wir uns alle einig. - Nach Angaben des
UN-Flüchtlingshilfswerks sind 34 Prozent der Flüchtlinge, die seit Jahresbeginn in Europa angekommen sind,
Frauen und Kinder.
Aus meinen zahlreichen Besuchen in Erstaufnahmeeinrichtungen und in Gemeinschaftsunterkünften weiß
ich, dass man dort bereits alles versucht, um den Bedürfnissen von besonders gefährdeten Flüchtlingen gerecht
zu werden. Hilfsorganisationen schulen ihre Mitarbeiter
und geben ihnen Leitfäden an die Hand, wie man Kinder und Frauen vor allem in der Erstaufnahme am besten
betreut. THW und Bundeswehr leisten rund um die Uhr
Amtshilfe, um die Unterkünfte bestmöglich herzurichten. Wo es geht, werden Spiel- und Leseecken für Kinder
eingerichtet. Es gibt Unterkünfte nur für alleinstehende
Frauen. Auch in den Erstaufnahmeeinrichtungen ist man
bemüht, eigene Bereiche für sie zu schaffen. Darüber hinaus werden Gesprächskreise und andere Angebote organisiert, um die Frauen, die sich häufig aufgrund traumatischer Erfahrungen ganz in sich zurückgezogen haben,
aus ihrer Isolation herauszuholen. Gleichzeitig geht es
darum, Frauen darüber aufzuklären, welche Rechte sie
haben und an wen sie sich wenden können, wenn sie Hilfe brauchen. Mein herzlicher Dank dafür - ich glaube,
auch da sind wir uns einig - geht an die vielen ehrenamtlichen und hauptamtlichen Helfer.
({1})
Deutschland kann stolz sein auf das Mitgefühl und das
Engagement, das hier trotz des massiven Zustroms nach
wie vor gezeigt wird. Das dürfen wir, liebe Kolleginnen
und Kollegen, nicht kleinreden.
Wie Sie in Ihrem Antrag selbst einräumen, sind die
Kommunen und Träger von Flüchtlingsunterkünften bereits dabei, Kriterienkataloge und Konzepte zum Schutz
von Frauen und Kindern zu entwickeln. Das sollten wir
unterstützen. Zum jetzigen Zeitpunkt mit verpflichtenden
Vorgaben zu kommen, wie Sie das in Ihrem Antrag vorschlagen, halte ich für den falschen Weg.
({2})
Meine Damen und Herren, lassen Sie es mich noch
einmal auf den Punkt bringen: Es ist völlig unumstritten,
dass Frauen und Kinder besonderen Schutz brauchen.
Wir müssen aber angesichts der aktuellen Flüchtlingszahlen bei allen Forderungen immer auch die Machbarkeit im Blick haben, und diese blenden Sie in Ihrem
Antrag leider aus. So fordern Sie die dezentrale Unterbringung in Wohnungen, nach Geschlechtern getrennte
und abschließbare sanitäre Anlagen und Gemeinschaftsräume, und Sie fordern, Gemeinschaftsunterkünfte unter die Betriebserlaubnispflicht nach § 45 SGB VIII zu
stellen. Vieles davon ist sicher grundsätzlich wünschenswert und wird auch schon versucht umzusetzen. Aber
die Kommunen haben doch vielerorts nicht einmal mehr
genügend Gebäude, um den ankommenden Flüchtlingen
ein winterfestes Dach über dem Kopf zu geben. Da kann
man doch nicht mit neuen Verpflichtungen kommen.
({3})
Wenn Sie fordern, dass für jede Flüchtlingsunterkunft
künftig ein Konzept vorgelegt werden muss mit Maßnahmen zur Qualitätssicherung und mit aufgabenspezifischen Ausbildungsnachweisen von allen Helfern, werden
wir es nicht schaffen, in kürzester Zeit genügend Unterkünfte bereitzustellen und entsprechende Helfer zu akquirieren.
({4})
Das kann man doch vor Ort keinem erklären.
({5})
Statt solche unpraktikablen Forderungen aufzustellen, sollten Sie endlich einsehen, dass wir den Zustrom
nach Deutschland begrenzen müssen, weil wir sonst die
Flüchtlinge nicht mehr menschenwürdig versorgen können.
({6})
Am härtesten trifft es dann diejenigen, die wir am meisten schützen wollen, nämlich Frauen und Kinder. Sie
kommen im Gros der überwiegend männlichen Flüchtlinge zu kurz. Angesichts der enormen Flüchtlingszahlen
wird diese Tendenz noch weiter verstärkt werden. Ihrem
Antrag entnehme ich viele Wünsche. Zu der Frage, wie
wir das umsetzen wollen, habe ich aber nichts gelesen.
Genauso gekonnt wie die Machbarkeit Ihrer Forderungen blenden Sie aus, was für Frauen und Kinder bereits getan wird und mit welchen Maßnahmen wir den
Betroffenen am meisten helfen. In Deutschland genießen
unbegleitete Minderjährige nämlich besonderen Schutz.
Diese Kinder und Jugendlichen werden bei uns vom
Jugendamt in Obhut genommen und in altersgerechten
Einrichtungen mit allem Notwendigen versorgt. Diesen
besonderen Schutzanspruch haben wir mit dem Gesetz
zur Verbesserung der Unterbringung, Versorgung und
Betreuung ausländischer Kinder und Jugendlicher bekräftigt. Wir haben ein bundesweites Verteilungsverfahren eingeführt, das sich an den Bedürfnissen der Jüngsten
orientiert.
({7})
Die Kinder und Jugendlichen, um die es hier geht,
wurden oft in Krieg und Elend hineingeboren und kennen nur Leid und Verzweiflung. Wir wollen ihnen hier in
Deutschland ein Stück Geborgenheit zurückgeben. Das
wird mit vielen kleinen, aber wichtigen Maßnahmen getan. So hat zum Beispiel die Bundesregierung bundesweit sechs regionale Servicebüros geschaffen, die den
Städten und Landkreisen dabei helfen, junge Flüchtlinge
in Kita und Schule zu integrieren und beim Übergang in
das Berufsleben zu begleiten. Vielerorts richtet sich das
ehrenamtliche Engagement gerade an den Bedürfnissen
von Kindern und Jugendlichen aus. Es werden Feste,
Ausflüge und gemeinsame Aktionen mit gleichaltrigen
Einheimischen organisiert.
({8})
Wir können, denke ich, wirklich stolz sein auf das, was in
diesem Bereich geleistet wird.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie uns aber
auch darüber reden, wie wir am meisten zum Schutz von
Frauen und Kindern in den Einrichtungen beitragen können. Dazu gehört meiner Meinung nach in erster Linie
eine konsequente Verfolgung von Straftaten und Übergriffen.
({9})
Dabei steht völlig außer Frage - was Sie, liebe Kollegen von den Grünen, in Ihrem Antrag schreiben -, dass
Anschläge und Hetze gegen Asylbewerber nicht hingenommen werden dürfen. Bund und Länder arbeiten
diesbezüglich eng zusammen. Die Strafverfolgungs- und
Sicherheitsbehörden gehen konsequent gegen diese Taten vor. Bei Straftaten in Flüchtlingsunterkünften muss
allerdings noch mehr getan werden. Gerade was sexuelle
Übergriffe angeht, ist dort von einer hohen Dunkelziffer
auszugehen. Wir müssen den Opfern zeigen, dass wir auf
ihrer Seite stehen. Straftaten in Flüchtlingsunterkünften
dürfen deshalb nicht mit Begleitumständen der Flucht,
der Religionszugehörigkeit oder der Unterbringung in
Sammelunterkünften entschuldigt werden. Sie müssen
zur Anzeige gebracht werden.
({10})
Die Bundesregierung hat sich zusammen mit dem Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs an die Länder gewandt, um gemeinsam
für den Schutz der Flüchtlingskinder vor Gewalt, insbesondere vor sexueller Gewalt, in Flüchtlingsunterkünften
zu sorgen. Ich glaube, wir brauchen hier eine ganz klare
Linie, die da lautet: Wer Straftaten begeht, hat keinen
Anspruch mehr auf Asyl in Deutschland. Es entspricht
in keiner Weise dem Gedanken des Asylrechts, wenn jemand, der selbst Schutz sucht, einem anderen Menschen
Leid zufügt. Das gilt erst recht, wenn es um Frauen und
Kinder geht.
({11})
Ebenfalls unerträglich ist der Umstand, dass Frauen
und Kinder auf der Flucht nach Europa von Schleusern
sexuell missbraucht werden, wie das UN-Flüchtlingshilfswerk berichtet. Das sollte uns in unserem Kampf
gegen diese menschenverachtenden und skrupellosen
Verbrecher bestärken.
({12})
Wir müssen angesichts solcher Berichte noch entschiedener alles daransetzen, Schleuserbanden das Handwerk zu
legen und sie hinter Schloss und Riegel zu bringen.
({13})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, abschließend möchte ich in dieser Debatte, in der wir überlegen, wie wir den
besonders Schutzbedürftigen am meisten helfen können,
Folgendes betonen: Seit Beginn der Flüchtlingskrise ist
es das Kernanliegen unserer Asylpolitik, über Aufnahmeprogramme in erster Linie den besonders Schutzbedürftigen zu helfen und sie nach Deutschland zu holen. Ich
finde, wir sollten uns künftig viel stärker auf diesen Ansatz konzentrieren. Statt unbegrenzt alleinstehende junge
Männer bei uns aufzunehmen, die auch anderswo gute
Chancen auf ein besseres Leben haben,
({14})
sollten wir uns um diejenigen kümmern, die unsere Hilfe
am meisten brauchen.
Lassen Sie uns gemeinsam dafür eintreten, dass Frauen und Kinder bei uns den Schutz bekommen, den sie
brauchen.
({15})
Ich finde, wir sind, was die Konzepte zum Schutz in den
Unterkünften und auch die zahlreichen Maßnahmen für
Flüchtlinge angeht, bereits auf einem guten Weg.
({16})
Lassen Sie uns deshalb im Interesse der Menschen, die
unsere Hilfe am meisten brauchen, bei allen Maßnahmen
immer fest im Blick behalten, was umsetzbar ist, was unser Land leisten kann und was nicht. Übersteigerte Forderungen wie die in Ihrem Antrag gehören nicht dazu.
({17})
Wir erbringen den zu schützenden Frauen und Kindern
die größte Hilfe, wenn wir das Machbare im Blick behalten und das dann auch umsetzen. Auf Ihre Vorschläge,
die auch machbar sind, bin ich sehr gespannt.
Vielen Dank.
({18})
Vielen Dank. - Als nächster Redner hat Norbert
Müller von der Fraktion Die Linke das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen
und Kollegen! Liebe Gäste auf den Tribünen! Eigentlich
wollte ich sagen, dass es beschämend ist, dass es überhaupt dieses Antrages bedarf, um heute über dieses Thema zu reden, und fragen, warum die Bundesregierung
nicht längst gehandelt hat. Inzwischen muss ich sagen:
Beschämend ist Ihre Rede, Frau Warken.
({0})
Ich will zwei Dinge vorwegschicken, die grundsätzlich geklärt werden müssen, damit klar wird, worüber
wir hier eigentlich reden, über Täterinnen und Täter oder
über Opfer. Es ist eine Stärke des Antrags der Grünen ich sage vorweg, warum ich ihn gut finde -, dass er sich
mit der Frage befasst, wie wir Opfer von sexuellem Missbrauch, von Ausbeutung und Gewalt in Gemeinschaftsunterkünften und in Erstaufnahmeeinrichtungen - ich
finde, man müsste das weiter fassen - schützen können.
Dazu haben Sie überhaupt nichts gesagt, Frau Warken.
({1})
Sie haben vielmehr gesagt, das sei überflüssig, und davon
gesprochen, wie man die Straftäter am besten bestraft.
Hier geht es aber darum, Prävention zu betreiben. Es geht
nicht nur darum, wie man die Täter am Ende dingfest
macht - was das angeht, wird Ihnen keiner widersprechen -, sondern auch darum, wie man die Opfer bestmöglich schützt. Dazu gibt es Vorschläge, unter anderem
von Herrn Rörig, dem auch von Ihnen eingesetzten unabhängigen Missbrauchsbeauftragten der Bundesregierung.
Dazu haben Sie überhaupt nichts gesagt.
({2})
Die Koalition scheint derart damit beschäftigt zu sein,
eine Asylrechtsverschärfung nach der nächsten auf die
Tagesordnung zu setzen und so eine Sau nach der nächsten durchs Dorf zu treiben und das gesellschaftliche Klima zu vergiften, dass sie die EU-Aufnahmerichtlinie, zu
der Frau Dr. Brantner gesprochen hat, ganz vergessen
hat; denn dazu haben Sie ebenfalls nichts gesagt.
Wenn der CSU-Parteitag in einigen Tagen beschließen sollte, dass wieder europäische Regeln gelten, dann
meinen Sie doch ganz offensichtlich nicht wirklich, dass
wieder europäische Regeln gelten sollen. Sie wollen vielmehr den Durchmarsch der CSU nach rechts zur Maxime
machen. Es geht Ihnen überhaupt nicht um europäische
Regeln. Wenn es Ihnen um europäische Regeln gehen
würde, dann würden Sie die EU-Aufnahmerichtlinie
vollumfänglich umsetzen.
({3})
Das ist auch das Anliegen des vorliegenden Antrages.
Dazu gehören Schutzräume für besonders gefährdete
Menschen in Erstaufnahmeeinrichtungen und Gemeinschaftsunterkünften.
({4})
Die Zustände vor dem Landesamt für Gesundheit und
Soziales in Berlin und die Tatsache, dass da ein vierjähriger bosnischer Junge einfach verschwinden konnte,
mögen die Spitze des Eisberges sein. Das hat zu Recht
alle empört. Viele Menschen haben Mitgefühl gezeigt.
Aber was alltäglich ist, ist die Situation - darauf zielt
der Antrag ab -, die wir in Gemeinschaftsunterkünften
und Erstaufnahmeeinrichtungen haben. Die häufig sehr
großen und sehr vollen Gemeinschaftsunterkünfte und
Erstaufnahmeeinrichtungen sind natürlich besonders anfällig für Missbrauchsstrukturen, für individuellen Missbrauch, aber auch für systematischen Missbrauch. Deswegen brauchen wir hier Präventionskonzepte.
Ja, der Antrag bietet eine gute Grundlage. Wir brauchen flächendeckende Gewaltschutzkonzepte in den
Flüchtlingseinrichtungen. Wir brauchen nicht nur Konzepte, um zu gewährleisten, dass die Menschen in den
Einrichtungen sicher sind, dass sie nicht überfallen werden und die Einrichtungen nicht angezündet werden. Wir
brauchen nicht nur Brandschutzkonzepte, sondern eben
auch Gewaltschutzkonzepte und -räume in diesen Einrichtungen. Das finde ich völlig selbstverständlich. Dass
es das noch nicht gibt und Sie Ihre eigene Bundesministerin in diesem Zusammenhang bereits zweimal im Kabinett ausgebremst haben, ist eine völlige Katastrophe. Da
fehlen mir fast die Worte.
({5})
Wir brauchen Schutz von Frauen und Kindern, von Homosexuellen und religiösen Minderheiten.
Ja, ich finde die Forderung des Antrags richtig. - Frau
Warken, da haben Sie meine Antwort auf Ihre Frage, was
wir praktisch fordern. Der Forderung der Grünen können
wir uns anschließen. Die Grünen fordern in ihrem Antrag
ein Bundesprogramm. Im Antrag werden die Punkte detailliert dargestellt. Dort können Sie das nachlesen; wir
haben leider nicht so viel Zeit, dass ich Ihnen das alles
vortragen könnte. Mit einem solchen Bundesprogramm
kann der Bund ganz unmittelbar wirken und Standards
setzen.
Ja, auch ich will nicht, dass wir langfristig Sondersysteme in Form von Gemeinschaftsunterkünften und Erstaufnahmeeinrichtungen schaffen. Ich möchte, dass diese
Einrichtungen in unsere Sozialräume integriert werden,
damit die Menschen, die besonders schutzbedürftig sind,
auf die vielfältigen Strukturen, die wir in Deutschland
haben, zurückgreifen können. Das möchte ich als langfristiges Ziel formulieren. Kurz- und mittelfristig brauchen wir aber besondere Schutzstandards und Schutzkonzepte für die bestehenden und noch zu eröffnenden
Einrichtungen.
({6})
Der Antrag hat aber zwei Schwächen, zu denen ich
etwas sagen möchte.
Erstens. In diesem Antrag werden zwei Flüchtlingsgruppen ausgeblendet, zum einen jene Flüchtlinge, die
aus meiner Sicht, die aus Sicht der Linken ungerechtfertigterweise nicht hierbleiben dürfen, und zum anderen
die Gruppe der Flüchtlinge, die noch unterwegs sind. Ich
sage deutlich: Fluchtsituationen sind besonders belastend
und insbesondere für Kinder und Frauen gefährlich. Warum kommen so viele junge Männer? Weil verantwortungsvolle Familienväter ihre Kinder nicht in Schlauchboote setzen und sie Gefahr laufen lassen, im Mittelmeer
zu ertrinken.
({7})
Das ist doch die Situation. Und Sie wollen auch noch
den Familiennachzug verhindern! Flucht heißt häufig
Chaos, den Schleppern ausgeliefert sein, Missbrauchsstrukturen - diesen Strukturen wird Tür und Tor geöffnet.
Schaffen wir doch endlich sichere, legale Fluchtrouten,
explizit, um Kinder zu schützen, um Frauen zu schützen,
um Homosexuelle zu schützen, weil Flucht für sie ganz
besonders gefährlich ist.
Zur zweiten Schwäche des Antrags. Es gibt jene - ich
komme zum Schluss -, die nicht bleiben dürfen, weil, mit
Zutun der Grünen, zusätzlich eine ganze Reihe angeblich
sicherer Herkunftsländer erfunden wurde, in die wir auch
Frauen, Kinder, Homosexuelle und ethnisch Verfolgte
wie die Roma zurückschicken. Diese besonders Schutzbedürftigen hätten wir in unseren Einrichtungen belassen
sollen. Die dürfen wir nicht in Erstaufnahmeeinrichtungen kasernieren und dann zurückschicken. Deswegen
hätte zum Antrag auch eine Ablehnung des Konzepts der
sicheren Herkunftsstaaten gehört.
An diesen Punkten ist der Antrag inkonsequent. Trotzdem steht in dem Antrag nichts, was falsch ist. Deswegen werden wir ihm zustimmen. Ich freue mich auf die
Ausschussberatungen und hoffe auf Lerneffekte bei der
Koalition.
Vielen Dank.
({8})
Vielen Dank. - Als nächste Rednerin hat Gülistan
Yüksel von der SPD-Fraktion das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Was wir die letzten Monate tagtäglich lesen, sehen und vor Ort miterleben, ist schwer in Worte zu
fassen. Menschen legen mit dem Mut der Verzweiflung
Tausende Kilometer unter schwierigsten Umständen zurück, um Schutz zu finden. Unter ihnen sind unbegleitete
Kinder, junge Männer, Frauen und Familien mit Kindern - Menschen, die vor Krieg und Verfolgung fliehen
und dafür sogar ihr Leben riskieren.
Trotz der großartigen Hilfsbereitschaft der Bürgerinnen und Bürger vor Ort müssen wir aber feststellen, dass
wir am Rande des Machbaren arbeiten und dass eigentlich selbstverständliche Standards momentan nicht überall eingehalten werden können. Unsere Ansprüche, wie
wir als Gesellschaft zusammenleben wollen, dürfen wir
aber nicht senken. Ein wichtiger Anspruch muss es sein,
trotz der Ausnahmesituation und der überfüllten Erstaufnahmeeinrichtungen und Flüchtlingsheime die besonders
Schutzbedürftigen nicht aus den Augen zu verlieren; das
sind Frauen, Kinder - das ist heute mehrfach gesagt worden -, aber auch Menschen mit Behinderungen, Homosexuelle und andere Gruppen.
Sicherheit - darauf müssen alle Menschen in unserem Land vertrauen können. Wir haben eine menschenrechtliche Verpflichtung zum Schutz vor Gewalt, auch in
Flüchtlingsunterkünften. Ich begrüße deshalb die Forderungen im Antrag; denn die Schaffung eines gewaltfreien
und sicheren Umfelds, gerade für die Schutzbedürftigen,
hat hohe Priorität.
({0})
Kulturelle Hemmnisse, mangelndes Wissen über
Rechte und fehlende Informationen in verständlicher
Sprache sind ein großes Problem. Unkenntnis und Unsicherheit führen dazu, dass sich viele nicht trauen, Hilfe
zu suchen. Die Sorge, das Asylverfahren eventuell negativ zu beeinflussen, ist sehr groß.
Deutschland ist durch die EU-Aufnahmerichtlinie
dazu verpflichtet, in den Flüchtlingsunterkünften geschlechts- und altersspezifische Aspekte zu berücksichtigen und geeignete Schutzmaßnahmen zu treffen. Eine
Umsetzung der Richtlinie ist längst überfällig. Ich begrüße, dass die Richtlinie im Entwurf eines Gesetzes zur
Umsetzung des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems enthalten ist und dieser sich unter Federführung des
BMI aktuell in der Ressortabstimmung befindet. Nach
meiner Kenntnis soll es noch in diesem Jahr in Angriff
genommen werden. Der Gesetzentwurf sieht weiterhin
Norbert Müller ({1})
vor, Erstaufnahmeeinrichtungen der Heimaufsicht zu unterstellen. Damit gelten die Schutzstandards der Kinderund Jugendhilfe, welche bisher durch das Asylverfahrensgesetz ausgeschlossen sind; eine wichtige Änderung,
die wir sehr begrüßen.
({2})
Die Länder sind schon jetzt aufgefordert, geeignete
Schutzmaßnahmen zu treffen, damit Übergriffe und Gewalt, einschließlich sexueller Übergriffe, verhindert werden. Die Bundesfamilienministerin hat deutlich gemacht,
dass jeder Fall von Gewalt, Kindesmissbrauch und Vergewaltigung einer zu viel ist.
({3})
Sie appelliert an die Länder, sich dem Thema entschlossen anzunehmen.
Die Checkliste mit Mindeststandards des Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs enthält hierzu viele wichtige Forderungen. Sie
sind heute schon mehrmals erwähnt worden, aber einige
möchte ich doch erwähnen: eine separate Unterbringung
von alleinerziehenden Müttern mit ihren Kindern, nach
Geschlechtern getrennte Duschen und eine höhere Sensibilisierung der haupt- und ehrenamtlichen Helfer. Diese
präventiven Maßnahmen gilt es zügig in den Unterkünften umzusetzen und nicht erst, wenn Verdachtsfälle auftreten.
Erlauben Sie mir an dieser Stelle eine Bemerkung zu
dem, was wir am vergangenen Wochenende zum Thema
Familiennachzug erleben mussten. Ja, die Debattenkultur
gehört untrennbar zur Demokratie, und man muss sich
auch einmal streiten, um dann eine gemeinsam vertretbare Position zu finden. Aber man sollte zuerst untereinander darüber reden, welche Haltung man vertritt. Was
wir erleben mussten, war unprofessionell und unwürdig.
({4})
Wir haben nicht das Recht, Familien auseinanderzureißen. Sie werden durch diese Beschränkung die Familien
auch nicht davon abhalten, zueinanderzukommen. Dieser
Vorschlag zwingt gerade die Schutzbedürftigsten in die
Boote, und das sind - auch das ist heute mehrmals erwähnt worden - die Frauen und Kinder.
({5})
Klar ist: Asyl ist ein Menschenrecht, an dem wir nicht
rütteln dürfen. Die syrischen Flüchtlinge, die zu uns
kommen, haben ein Recht auf Asyl, sie haben das Recht,
ihre Familien zu holen und damit in Sicherheit zu bringen. Was würde man selbst in einer solch verzweifelten
Situation tun? Diese Frage muss sich jede und jeder immer wieder selber stellen.
({6})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, in den letzten Wochen habe ich oft gedacht: Was geht es uns doch gut! Wir
sollten uns jeden Tag glücklich schätzen, in Frieden und
Freiheit leben zu dürfen. - Deutschland hat große Verantwortung auf sich genommen. Der Aufgabe, die vor uns
liegt, müssen wir uns als Gesellschaft gemeinsam stellen.
Ich bin zuversichtlich, dass wir das trotz aller Schwierigkeiten am Ende hinbekommen, Schritt für Schritt. Ein
Schritt ist: die Verbesserung der Lebensbedingungen.
Diese müssen stimmen, sowohl für die, die noch zu uns
kommen, als auch für die, die schon hier sind.
Die Umsetzung der EU-Aufnahmerichtlinie darf nicht
weiter auf Kosten der Schutzlosesten verzögert werden,
sondern muss zügig erfolgen.
Herzlichen Dank.
({7})
Vielen Dank. - Als nächste Rednerin hat Gudrun
Zollner von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und
Kollegen! Liebe Besucher auf den Tribünen! Ich komme
aus Bayern, meine Heimat ist Niederbayern. In diesem
Regierungsbezirk gibt es zwei Städte, die Ihnen sicherlich nicht erst seit der Flüchtlingskrise bekannt sind:
Deggendorf und Passau. Diese beiden Städte kämpften
im Juni 2013 gegen ein unglaubliches Jahrhunderthochwasser. Es war, kurz gesagt, Land unter. Die Bilder von
Menschen, die um ihr Leben, ihre Familie und ihre Existenz kämpften, gingen wochenlang durch die Medien.
Auch diese beiden Städte kämpfen heute wieder, nicht
mehr gegen brechende Wasserdämme, sondern für Menschen, die zu uns kommen und Schutz suchen. Wieder
sind es die Landräte Bernreiter und Meyer, die die Hilfskräfte koordinieren. Wieder sind es Bundeswehr, Bundes- und Landespolizei, Technisches Hilfswerk, Bayerisches Rotes Kreuz und die freiwilligen Feuerwehren,
die an ihre Grenzen kommen. Wieder sind es die Kommunalpolitiker vor Ort, die zu Krisenmanagern werden
müssen. Wieder sind es Tausende von ehrenamtlichen
Helfern, die rund um die Uhr nur eines kennen: helfen.
Sie stemmen sich mit aller Kraft gegen eine menschliche
Katastrophe, sammeln Kleidungsstücke und Lebensmittel - wieder.
({0})
Alle, egal ob haupt- oder ehrenamtlich, leisten Unglaubliches.
({1})
Sie sind das freundliche Gesicht von Deutschland. Für
diesen selbstlosen Einsatz möchte ich allen ein herzliches
„Vergelts Gott!“ sagen. Danke.
({2})
Doch diesmal kommt eine Flut von Menschen, die vor
Krieg und Gewalt flüchten, bis zu 10 000 am Tag - und
der Strom reißt nicht ab. Auch in Niederbayern wird bald
der Winter einbrechen. Deshalb baut man Traglufthallen,
besetzt Sporthallen und räumt Lagerhallen, die man beheizen kann. Sicher, das ist nicht die perfekte Lösung,
aber eine Lösung, damit die Männer und die Frauen mit
ihren Kindern und Babys nicht Kälte und Schnee ausgeliefert sind.
Ja, es gibt keine Privatsphäre, und Alltagskonflikte
nehmen zu. Die Flüchtlinge kommen aus verschiedenen
Ländern, mit verschiedenen Sprachen, verschiedenen
Bräuchen und verschiedenen Religionen. In der Enge der
Unterkünfte sind Streitigkeiten vorprogrammiert. Die
Frauen und Kinder können sich am wenigsten wehren.
Sie leiden besonders und brauchen deshalb unseren besonderen Schutz.
({3})
Die Frauen-Union Niederbayern, deren Vorsitzende
ich bin, hat bereits im Juli dieses Jahres ihren Standpunkt
deutlich gemacht. Wir haben auf die besondere Schutzbedürftigkeit von alleinreisenden, alleinerziehenden und
traumatisierten Flüchtlingsfrauen bei allen Schritten des
Asylverfahrens hingewiesen. Genau deshalb habe ich
separate Unterbringungsmöglichkeiten, abschließbare
Zimmer und Sanitäreinrichtungen auch für ethnische
Minderheiten gefordert.
({4})
Vergewaltigungen und sexualisierte Gewalt dürfen nicht
tabuisiert werden. Sie müssen verhindert werden. Hier
sind wir uns alle einig.
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, seit Anfang
September 2015 sind in Bayern mehr als 400 000 Asylsuchende angekommen. Wenn man aktuellen Schätzungen glauben darf, werden am Ende des Jahres genauso
viele Unterbringungsmöglichkeiten fehlen. Deshalb wird
geplant und gebaut. Die EU-Richtlinie 2013/33 wird bei
allen Planungen und Neubauten umgesetzt. Es entstehen
größere und kleinere Wohneinheiten, um dem besonderen Schutz von Familien sowie verletzlichen Personen
gerecht zu werden.
Wir können nicht alles sofort umsetzen. Dafür sind die
Flüchtlingszahlen einfach zu hoch.
({5})
Auch ich würde mir wünschen, dass jede Frau von Anfang an ein eigenes Zimmer bekommt; keine Frage. Aber
wenn die Asylsuchenden in der Nacht an der österreichisch-bayerischen Grenze stehen, müssen sie schnellstmöglich untergebracht, bestmöglich versorgt und bundesweit verteilt werden. Leider gibt es immer noch
Bundesländer, die Bayern bei dieser immensen Aufgabe
zu wenig unterstützen und nicht nach dem Königsteiner
Schlüssel Flüchtlinge aufnehmen. Und: Europa muss
sich endlich einigen.
({6})
Alle 28 Mitgliedstaaten müssen zeigen, dass Europa
nicht nur eine Wirtschaftsgemeinschaft, sondern auch
eine Wertegemeinschaft ist.
({7})
Wir müssen die Fluchtursachen bekämpfen, damit
diese Menschen ihre Heimat nicht verlassen und den gefährlichen Weg zu uns nach Europa gehen müssen. Und:
Wir müssen die Zahl der Flüchtlinge, die zu uns nach
Deutschland kommen will, begrenzen. Ansonsten werden wir uns nicht ausreichend um alle kümmern können.
Vielleicht sollte sich Kollege Müller einmal mit seinem
Parteikollegen Lafontaine unterhalten,
({8})
bevor er versucht, die CSU in die rechte Ecke zu drängen;
({9})
denn auch Kollege Lafontaine spricht von Obergrenzen.
Die Schutzbedürftigen vertrauen darauf, dass wir ihnen den notwendigen Schutz und Sicherheit bieten. Eine
erfolgreiche Integration kann nur gelingen, wenn wir
die Menschen, die bei uns bleiben wollen, und die Menschen, die hier geboren wurden, nicht überfordern.
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, die Bürgerinnen und Bürger von Deggendorf und Passau haben die
Wassermassen damals besiegt, weil sie zusammengerückt sind und sich gegenseitig geholfen haben. Die Welle der Flüchtlinge können wir nur meistern, wenn wir alle
zusammen helfen: in den Kommunen, in den Ländern, in
Deutschland, in Europa und in den Parteien.
Vielen herzlichen Dank.
({10})
Vielen Dank. - Als letzter Redner in dieser Debatte
hat Sebastian Hartmann von der SPD-Fraktion das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Menschen machen sich auf den Weg nach Europa. Sie
sind auf der Flucht. Sie erreichen Deutschland, und sie
erreichen damit nicht nur einen Raum des Rechts und
der Freiheit, sondern auch einen Raum der Sicherheit.
Sie erreichen Deutschland. Deswegen möchte ich an den
Anfang meiner Ausführungen stellen, dass sich natürlich
nicht aus dem Umfang der Zuwanderung oder des Einreisens ergeben kann, dass sich eine Grenze des Rechtsstaates oder der Geltung des Rechts ergibt. Dieser eine
Gedanke wird sich mit dem anderen nicht vereinbaren
lassen.
Es muss genauso klar sein, wie wir das von allen, die
zu uns kommen, einfordern, dass wir in Deutschland
auch in den Gemeinschaftsunterkünften, in den Erstaufnahmeeinrichtungen keine rechtsfreien Räume schaffen,
meine Damen und Herren, und zwar für niemanden.
({0})
Als Staat und Gemeinschaft müssen wir uns der Verantwortung bewusst sein, die wir für diejenigen tragen,
die zu uns geflohen sind und nun in Gemeinschaftsunterkünften leben. Ich bin den Grünen für ihren Antrag
dankbar, da sie darin ein paar Punkte aufgreifen, die wir
teilen, auch partei- und fraktionsübergreifend. Noch interessanter als der Antrag der Grünen ist jedoch die zugrundeliegende Studie, die zitiert worden ist, die es allerdings
sehr bezeichnend auf den Punkt bringt. Darin heißt es:
Die Ergebnisse bieten keine abschließende Bearbeitung des Themas Gewaltschutz in Flüchtlingsunterkünften, sondern werfen auf der Grundlage
des explorativen Charakters der Untersuchung erste
Schlaglichter auf ein relativ unbearbeitetes Feld.
Das ist genau die Spannkurve, in der wir uns befinden:
Auf der einen Seite erleben wir enormes ehrenamtliches
Engagement von freiwilligen Helferinnen und Helfern,
die in der Prävention arbeiten, die Sicherheit bieten, die
betroffenen Menschen helfen, egal ob Männern oder
Frauen bzw., anders ausgedrückt, all denjenigen, die in
den Einrichtungen von Gewalt betroffen sind. Das ist ehrenamtliches Engagement. Auf der anderen Seite gibt es
einen unteilbaren Bereich, der die Sicherheit betrifft, und
dieser Bereich ist nicht privat, sondern hier hat der Staat
seine Aufgabe zu erfüllen. Das müssen wir als Gemeinschaft organisieren.
({1})
Zu unserer vornehmsten Verpflichtung gehört auch die
Umsetzung des gemeinsamen europäischen Asylsystems,
dass Schutzsuchende - ich zitiere - „eine gleichwertige
Behandlung bei Verfahrensgarantien und Aufnahmebedingungen sowie einheitlichen Schutzstatus“ erhalten
sollen, so weit das Zitat des ehemaligen Innenministers
Hans-Peter Friedrich. Das muss doch die Maßgabe sein,
wenn wir uns an die Umsetzung dieser Richtlinie machen.
Es ist auch nicht so, dass es zu dieser Richtlinie ohne
tatkräftiges Mittun Deutschlands gekommen ist. Genauso werden wir als Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten - hier schließe ich mich ausdrücklich den Worten
der Kollegin Gülistan Yüksel an - darauf achten, dass es
zu dieser Umsetzung kommt.
({2})
Ein weiterer Punkt ist wichtig: Es ist sehr schwierig,
einerseits Verfahren vereinfachen und es ermöglichen zu
wollen, dass vor Ort Hilfe geleistet wird, und gleichzeitig sofort wieder die nächste Rahmenbedingung und die
nächste verbindliche Regelung vorzugeben. Hier hilft
auch die Übergangsfrist nicht; denn wir müssen vor Ort
dafür sorgen, dass die Helfenden auch helfen können.
An dieser Stelle möchte ich sehr ausdrücklich auch
denjenigen danken, die vor Ort in vielen Freizeitstunden
ehrenamtliche Hilfe leisten. Sie begleiten die von Gewalt
Betroffenen, die traumatisiert und hierher geflohen sind.
Danke schön an all diejenigen für die geleistete Arbeit.
({3})
Ein großes Bundesland wurde angesprochen. Es gibt
ein weiteres großes Bundesland, nämlich meine Heimat
Nordrhein-Westfalen. Nordrhein-Westfalen ist genau an
diesem Punkt vorangegangen. Wir haben schon im Dezember 2014 konkrete Vereinbarungen getroffen und
für das Haushaltsjahr 2015 einen Fonds in Höhe von
900 000 Euro aufgelegt, mit dem genau an diesen Stellen
vor Ort Schulungsprogramme und Hilfeleistungen finanziert werden, sodass diejenigen, die in den Einrichtungen
ehrenamtliche Hilfe leisten, die die Betreuung übernehmen und die mit den betroffenen Frauen zusammenarbeiten, diese Hilfe auch konkret leisten können.
Darum gilt der Dank auch den Ländern, die willig
sind, daran zu arbeiten und das umzusetzen, was wir als
Nationalstaat im europäischen Rechtsrahmen gemeinsam vereinbart haben; denn ohne die Länder und ohne
die Kommunen wird es genauso wenig gehen wie ohne
die zahlreichen ehrenamtlichen Helferinnen und Helfer.
Ein Dankeschön an Nordrhein-Westfalen und ein Dank
an alle Kolleginnen und Kollegen, die hier mitwirken.
Danke schön.
({4})
Vielen Dank. - Damit schließe ich die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/6646 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Federführung
liegt beim Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und
Jugend. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 11 a und 11 b auf:
a) - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zum automatischen Austausch
von Informationen über Finanzkonten in
Steuersachen und zur Änderung weiterer
Gesetze
Drucksachen 18/5920, 18/6290
- Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zu der Mehrseitigen Vereinbarung
vom 29. Oktober 2014 zwischen den zuständigen Behörden über den automatischen
Austausch von Informationen über Finanzkonten
Drucksachen 18/5919, 18/6291
Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({0})
Drucksache 18/6667
- Bericht des Haushaltsausschusses ({1}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
Drucksache 18/6682
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses ({2})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Klaus Ernst,
Matthias W. Birkwald, Susanna Karawanskij,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Die Abgeltungsteuer abschaffen - Kapitalerträge wie Löhne besteuern
- zu dem Antrag der Abgeordneten Lisa Paus,
Dr. Thomas Gambke, Britta Haßelmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Abgeltungsteuer abschaffen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Lisa Paus,
Dr. Thomas Gambke, Britta Haßelmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Transparenz von Kapitaleinkommen stärken - Automatischen Austausch von Informationen über Kapitalerträge auch im
Inland einführen
Drucksachen 18/2014, 18/6064, 18/6065,
18/6667
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Dazu gibt es
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich kann die Aussprache eröffnen, sobald die Kolleginnen und Kollegen ihre Plätze eingenommen haben.
Wenn Sie das tun würden, würde das das ganze Verfahren beschleunigen und uns helfen, unsere lange Tagesordnung zu bewältigen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner in dieser Debatte hat Dr. Mathias Middelberg von der CDU/
CSU-Fraktion das Wort.
({3})
Herzlichen Dank. - Frau Präsidentin! Meine Damen
und Herren! Liebe Kollegen! Obwohl wir hier in diesen
Tagen auch viele andere wichtige Themen zu besprechen
haben, sollten wir dieses Feld der Steuerpolitik und der
Finanzpolitik nicht aus den Augen verlieren; denn wir
gehen hier heute einen ganz grundlegenden Schritt in
Sachen Bekämpfung der Steuerhinterziehung und Bekämpfung der illegalen Steuervermeidung. Den gehen
wir höchstwahrscheinlich - da setze ich die Zustimmung
aller einmal voraus, die wir gestern in der Ausschussberatung hatten - gemeinsam und in wesentlicher Übereinstimmung. Ich finde, das ist heute ein Tag, den man feiern
kann.
Den Auftakt hat das im Oktober letzten Jahres genommen, als 51 Staaten die Vereinbarung über den automatischen Informationsaustausch über Finanzkonten in
Berlin - in unserem Bundesfinanzministerium - unterschrieben haben, wesentlich initiiert durch unser Finanzministerium, durch Wolfgang Schäuble an der Spitze.
Aber auch weitere Länder waren maßgeblich daran beteiligt: Frankreich, Großbritannien, Italien, Spanien, aber
eben auch wir Deutsche.
Wenn man verfolgt hat, wie lange es gedauert hat und
wie mühsam es war, sich über die EU-Zinsrichtlinie zu
verständigen, dann ist es bemerkenswert, wie schnell wir
es geschafft haben, uns über diesen internationalen und
automatisierten Austausch von Daten über Finanzkonten
in Europa auch weit über Europa hinaus zu verständigen.
Ich finde, das ist ein höchst bemerkenswertes Ergebnis.
({0})
Ab 2017 werden die Steuerbehörden in den Unterzeichnerstaaten - es waren zuerst 51, jetzt sind es schon
74, und 96 Staaten haben sich politisch schon fest dazu
bekannt, dass sie dieses Abkommen unterstützen - in einem automatisierten Verfahren Kontoinformationen von
den in ihrem Staat ansässigen Banken erhalten und untereinander austauschen. Das ist - ich habe es eben gesagt - ein maßgeblicher und grundlegender Schritt zur
Bekämpfung der Steuerhinterziehung. Länder, die dieses
Abkommen unterzeichnet haben und dieses Abkommen
dann exekutieren, stehen in Zukunft als Fluchtort, als
Ort, wo man Kapitalvermögen verstecken kann, nicht
mehr zur Verfügung.
({1})
Ab 2018 gilt das auch für die Schweiz. Die Schweiz
wird dieses Abkommen ein Jahr später exekutieren. Wir
können uns an viele Debatten erinnern, in denen wir uns
hier über Steuerhinterziehung und Steuerbetrüger - ich
will jetzt keine Namen mehr nennen, aber es waren prominenteste Namen dabei - unterhalten haben. Das wird
in Zukunft nicht mehr der Fall sein. In Zukunft werden
wir solche Fälle nicht mehr haben. Fälle dieser Art können sich bei dieser neuen Rechtslage nicht wiederholen.
Das ist ein ganz großer Erfolg für Deutschland, für Europa und weit darüber hinaus, und es ist ein ganz grundlegender Beitrag für mehr Steuergerechtigkeit.
({2})
Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn
Zu den Anträgen der Opposition nur so viel: Wir können bei aller Einigkeit heute im Kern diesen freundlichen
Anträgen leider die Zustimmung nicht erteilen. Es bedarf
keiner schrankenlosen Transparenz über alle Kapitaleinkünfte und auch keiner vollständigen Auflösung unseres
Bankgeheimnisses. Die Finanzbehörden - das ist entscheidend - werden in Zukunft die Informationen über
Kapitaleinkünfte im Ausland durch den Informationsaustausch umfassend erhalten. Im Inland werden Kapitaleinkünfte bereits heute durch die flächendeckende Kapitalertragsteuer erfasst. Schlupflöcher bestehen da nicht;
({3})
denn die Kapitalertragsteuer wird automatisch durch die
Banken erhoben und in anonymisierter Form an die Finanzverwaltung abgeführt.
Darüber hinaus haben Sie die Abschaffung der Abgeltungsteuer beantragt.
({4})
Hierüber kann man durchaus einmal grundsätzlich diskutieren; das ist gar keine Frage. Allerdings sollte man
darüber erst dann diskutieren, wenn wir den Informationsaustausch auch wirklich haben, und nicht schon dann,
wenn wir ihn beschließen. Wenn wir feststellen, dass er
von sämtlichen Unterzeichnerstaaten wirklich exekutiert
wird, dann macht es Sinn, in diesem Kontext auch über
die Abgeltungsteuer zu diskutieren. Dann haben wir eine
tatsächliche Handlungsalternative. Unter dieser Prämisse stehen im Übrigen auch alle rechtlichen Betrachtungen, die Sie uns wahrscheinlich gleich vorhalten werden.
Wenn es nämlich diese Alternative in der Tat noch nicht
gibt, machen diese rechtlichen Bewertungen wenig Sinn.
Es gilt, was Wolfgang Schäuble - im Übrigen unter
Bezugnahme auf seinen Vorgänger Steinbrück - gesagt
hat:
Die Abgeltungsteuer ist mit dem Argument eingeführt worden ...: 25 Prozent von X ist mehr als
45 Prozent von nix.
Wolfgang Schäuble hat hinzugefügt:
Solange man die Informationen nicht hat, ist eine
Abgeltungsteuer in der Abwägung der Argumente pro und kontra - zumindest eine mit guten Argumenten versehene Lösung.
Diese Einschätzung war und ist richtig.
({5})
An dieser halten wir so lange fest, bis wir den Informationsaustausch wirklich exekutieren. Wir sollten deshalb
nicht den zweiten vor dem ersten Schritt tun und deshalb
in diesem Punkt noch zuwarten.
Im Übrigen - das sei an dieser Stelle schon angemerkt -: Wenn wir darüber diskutieren, zu einer normalen Besteuerung überzugehen, dann müssen wir natürlich auch über die Kompensationstatbestände reden, die
damals zusammen mit der Abgeltungsteuer eingeführt
wurden.
({6})
Dann müssen wir nämlich über den vollständigen Werbungskostenabzug reden. Auch müssen wir über das
Teileinkünfteverfahren bei der Körperschaftsteuer reden.
Wenn, dann ist das ein Paket, aber keine getrennte Veranstaltung.
({7})
Abschließend möchte ich gern eine Bemerkung zu
dem Änderungsantrag machen, den Bußgeldrahmen, den
das BMF auf 5 000 Euro gesetzt hat, zu verhundertfachen. Also, es lag der Antrag vor, den Bußgeldrahmen zu
verhundertfachen. Wir in der Koalition haben uns darauf
verständigt, dass wir den vorgesehenen Bußgeldrahmen
verzehnfachen. Das halten wir für absolut angemessen
und zureichend. Sie müssen sich vor Augen halten, meine Damen und Herren: Dieser Bußgeldrahmen betrifft
gerade auch kleine Fälle. Betroffen ist der normale Sachbearbeiter in einem Finanzinstitut, der Fehler macht. Ihn
wollen wir nicht mit einem Bußgeld von 500 000 Euro
praktisch kriminalisieren. Auch da muss man eine Grenze setzen.
({8})
- Genau, das ist richtig. Vielen Dank an Lothar Binding
für den freundlichen Hinweis. Das wäre mein nächster
Punkt gewesen. - Auch das muss man sehen: Jeder Fall,
bei dem ein Fehler gemacht wird, wird demnächst mit
50 000 Euro bebußt. Wenn es also Fälle fehlerhafter Angaben gibt, dann gibt es in der Regel noch mehr solcher
Fälle. Das summiert sich. Dadurch kommt es zu ganz anderen Bußgeldsummen. Wenn es hier um systematisch
falsche Angaben geht, so wie das in der Ausschussberatung von einigen, - ich sage einmal, - beispielhaft vorgetragen wurde, dann wird in aller Regel strafbares Verhalten vorliegen. Dann gibt es Betrugssachverhalte oder
auch Untreue. Das führt zu einem ganz anderen Strafrahmen, zum Beispiel zu Freiheitsstrafen.
Ich glaube, wir haben den vorliegenden Gesetzentwurf insgesamt sehr gut gestaltet. Wir gehen einen Riesenschritt in Sachen mehr Steuergerechtigkeit. Ich sage
an dieser Stelle ganz persönlich, dass ich mich für die
tolle Vorarbeit meines Kollegen Uwe Feiler, der in den
letzten Monaten an der Arbeit gehindert wurde, sehr
herzlich bedanke.
({9})
Ich stehe nur deshalb an dieser Stelle, weil du leider verhindert warst. Ich wünsche dir weiterhin allerbeste Besserung und danke dir für deine Arbeit. Ich bedanke mich
auch bei allen anderen, auch beim Bundesfinanzministerium, für die hervorragende Zusammenarbeit.
Danke.
({10})
Vielen Dank. - Als nächster Redner hat Richard
Pitterle von der Fraktion Die Linke das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Jahrzehntelang war es den Wohlhabendsten in unserer Gesellschaft möglich, ihre Millionen und Abermillionen vor dem Zugriff des Finanzamtes
im Ausland zu verstecken. Wer ohnehin im Reichtum
schwelgte, konnte fröhlich Steuern hinterziehen und
sich an seinen prallgefüllten Konten in der Schweiz oder
Luxemburg erfreuen - auf Kosten der vielen ehrlichen
Steuerzahlerinnen und Steuerzahler aus den unteren und
mittleren Einkommensschichten. Der jetzt im Gesetzentwurf vorgesehene automatische Informationsaustausch
zwischen den Staaten über Finanzkonten macht es den
Vermögenden nun deutlich schwerer, ihr Geld im Ausland zu verstecken.
Die Finanzinstitute melden an die jeweiligen Behörden ihres Landes, wer bei ihnen wie viel Geld auf dem
Konto hat. Das können die Finanzbehörden der anderen
Länder abrufen. Die Linke hat das seit langem gefordert.
Ich freue mich, dass die Bundesregierung nun endlich ein
Einsehen hatte und unsere Forderung jetzt umsetzt.
({0})
Wir werden dem Gesetzentwurf daher zustimmen, auch
wenn wir nicht mit allen Regelungen einverstanden sind.
Dabei ist ein Punkt von herausragender Bedeutung:
das Bußgeld der Finanzinstitute bei Nichteinhaltung der
Meldepflichten. Im ursprünglichen Entwurf der Bundesregierung war dafür ein Betrag von maximal 5 000 Euro
vorgesehen. Ich bitte Sie, welche Bank hätte sich denn
von solchen Peanuts beeindrucken lassen, wenn millionenschwere Kundinnen und Kunden um die Geheimhaltung ihrer Daten gebeten hätten? Nach der Anhörung
haben Sie den Bußgeldrahmen jetzt wenigstens auf
50 000 Euro erhöht. Diese Summe dürfte zwar schon etwas mehr wehtun, zeugt aber leider immer noch davon,
dass die Steuerhinterzieher bei der Großen Koalition
weiterhin eine starke Lobby haben.
({1})
Meine Damen und Herren, zum Vergleich: Derselbe
Bußgeldrahmen, also bis zu 50 000 Euro, erwartet Sie,
wenn Sie an einem Sonn- oder Feiertag Rasen mähen
oder wenn Sie einen strenggeschützten Käfer wie das
Wachsblumenböckchen verletzen oder gar töten.
({2})
Bei aller Liebe zur Feiertagsruhe oder zu seltenen Käfern: Es geht hier um die Bekämpfung der Straftat Steuerhinterziehung.
({3})
Wir haben deswegen zusammen mit den Kolleginnen
und Kollegen vom Bündnis 90/Die Grünen in den Ausschussberatungen einen noch deutlich höheren Rahmen
für die Geldbuße gefordert. Danach hätten Banken eine
Geldbuße von bis zu 5 Millionen Euro riskiert, wenn sie
die Daten weiter verheimlichen und so der Steuerflucht
weiter Vorschub leisten. Union und SPD haben das leider
abgelehnt. Abgelehnt haben sie im Finanzausschuss auch
unseren Antrag zur Abgeltungsteuer.
Meine Damen und Herren, lassen Sie uns endlich die
unsägliche Abgeltungsteuer abschaffen und Kapitalerträge wieder dem Einkommensteuersatz unterwerfen.
({4})
Wer sein Geld für sich arbeiten lässt, zahlt momentan lediglich den pauschalen Abgeltungsteuersatz von 25 Prozent. Wer hingegen sein Einkommen aus der eigenen
Hände Arbeit erzielt, zahlt darauf Einkommensteuer bis
zu 42 oder sogar 45 Prozent. Das ist schlichtweg nicht
gerecht.
({5})
Die Linke fordert deshalb seit jeher die Abschaffung
dieses Reichenprivilegs. Die Abgeltungsteuer wurde mit
der Begründung eingeführt, dass man nur so der Steuerflucht ins Ausland Herr werden könne. Spätestens
mit dem heutigen Gesetzentwurf ist diese Begründung
hinfällig. Denn wenn die Reichen und Superreichen ihr
Geld aufgrund des Informationsaustausches nicht mehr
im Ausland verstecken können, fehlt der niedrigen Abgeltungsteuer die von Ihnen behauptete Existenzberechtigung.
Dass der Bundesfinanzminister nun eine Abschaffung
der Abgeltungsteuer erst in der nächsten Wahlperiode
erwägt, ist wieder einmal ein Beispiel für die Verschleppungstaktik der Bundesregierung. Wenn die Damen und
Herren von der CDU/CSU sich zieren, die Privilegien der
Wohlhabenden zu beschneiden, überrascht das nicht weiter. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD,
geben doch wenigstens Sie sich einen Ruck, und sorgen
Sie gemeinsam mit Bündnis 90/Die Grünen und Linken
noch hier und jetzt für ein Ende der Abgeltungsteuer und
somit für mehr Gerechtigkeit für alle Steuerzahlerinnen
und Steuerzahler!
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({6})
Vielen Dank. - Als nächster Redner hat Andreas
Schwarz von der SPD-Fraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der heute von
uns zu beschließende Gesetzentwurf zum automatischen
Informationsaustausch ist ein Meilenstein in der Bekämpfung der Steuerkriminalität. Seit vielen Jahrzehnten diskutiert man darüber, wie man Steuerhinterziehung
wirksam eindämmen bzw. vielleicht sogar verhindern
kann.
Ich denke, im letzten Jahr sind wir mit der Verschärfung der strafbefreienden Selbstanzeige einen großen
Schritt vorangekommen. Trotz allen Erfolges des Gesetzes vom letzten Jahr gilt: Steuerhinterziehung ist nicht
nur mit nationalstaatlicher Gesetzgebung beizukommen;
wir müssen international tätig werden. Dazu brauchen
wir eine internationale Zusammenarbeit.
Bereits am 13. Oktober 1931 hatte der damalige sozialdemokratische Reichstagsabgeordnete Dr. Rudolf
Breitscheid in einem Antrag die Reichsregierung Brüning
aufgefordert - ich zitiere -, „der frevelhaften Kapital- und
Steuerflucht deutscher Staatsangehöriger“ zu begegnen.
Breitscheid forderte die damalige Reichsregierung auf,
„über eigene gesetzgeberische Maßnahmen zur Bekämpfung der Steuer- und Kapitalflucht hinaus in Verhandlungen mit den Regierungen anderer Staaten einzutreten mit
dem Ziele, eine internationale Rechtshilfe gegen Kapitalund Steuerfluchthandlungen zu vereinbaren“.
({0})
Dieses über 80 Jahre alte Zitat drückt sehr gut aus, worum es geht. Steuerkriminalität bekämpft man national
und international. Es fehlte viel zu lange an dieser unerlässlichen internationalen Zusammenarbeit. Aber was
alles wurde in den letzten Jahrzehnten tatsächlich unternommen? Untätig waren Europa und die Welt nicht.
1962 erarbeitete Fritz Neumark im Auftrag der
EG-Kommission ein Konzept, das die EG-weite Einführung einer einheitlichen, anrechenbaren Quellensteuer
sowie einen gemeinschaftlichen Auskunftsdienst für
eine wirksame Steuerkontrolle vorsah. Realisiert wurde es nie. Noch 1989 war der Vorschlag, in Europa eine
Quellensteuer auf die Zinserträge ausländischer Anleger
einzuführen, von den Mitgliedstaaten mehrheitlich abgelehnt worden.
Es dauerte viele weitere Jahre, bis dann im Juni 2003
die EU-Zinsrichtlinie verabschiedet wurde. Nach einigen
Verzögerungen trat sie dann im Juli 2005 in Kraft. Lediglich Belgien, Österreich und Luxemburg wollten keine
Zinsdaten austauschen. Sie erhoben zur Wahrung ihres
Bankgeheimnisses eine Quellensteuer. Es hat also über
40 Jahre gedauert, bis endlich ein Instrument für eine effektive Besteuerung grenzüberschreitender Zinszahlungen zur Verfügung stand. Über 40 Jahre!
Im Jahre 2011 wurde von Schwarz-Gelb mit dem sogenannten deutsch-schweizerischen Steuerabkommen
der Versuch unternommen, die Besteuerung des grenzübergreifenden Kapitalverkehrs zwischen unseren beiden Ländern zu regeln. Bei Inkrafttreten dieses Abkommens wären sämtliche Steuerhinterzieher anonym und
straffrei geblieben. Dies war der Hauptgrund, warum wir
es im Jahr 2012 verhindert haben.
({1})
Erst durch diese Ablehnung und die daraus folgende
Aufdeckung all der prominenten Fälle mit nichtversteuerten Zinsgewinnen auf Schweizer Konten kam dann
Tempo in die Verschärfung der Gesetzgebung gegen
Steuerbetrug. Für mich persönlich ist die Ablehnung
dieses Abkommens die Geburtsstunde des heute zu beschließenden Gesetzes.
({2})
Bereits ein knappes Jahr nach der Unterzeichnung der
mehrseitigen Erklärung Ende Oktober 2014 gießen wir
heute den OECD-Standard in Gesetzesform; das ist wirklich rekordverdächtig. Das zeigt aber auch, dass wir es
ernst meinen mit der Bekämpfung von Steuerbetrug.
({3})
Für diese tolle Leistung möchte ich allen Beteiligten meinen herzlichen Dank aussprechen.
Die im Jahre 2014 überarbeitete Zinsrichtlinie stellte
somit einen guten Zwischenschritt hin zum automatischen Informationsaustausch nach OECD-Standard dar.
Es handelt sich deshalb um einen Zwischenschritt, weil
der OECD-Standard weiter geht als die EU-Zinsrichtlinie; denn künftig werden zum Beispiel Beteiligungs- und
Veräußerungserträge erfasst. Das ist ein großer Fortschritt.
Beim automatischen Informationsaustausch geht es
um den länderübergreifenden Austausch von persönlichen Daten. Genau deshalb ist uns hier der Datenschutz
besonders wichtig. An ihm wird nicht gerüttelt.
({4})
Der Datenaustausch nach OECD-Standard bedeutet faktisch auch das Ende des Bankgeheimnisses. Das war
unausweichlich; denn das Bankgeheimnis diente in der
Regel in den vergangenen Jahrzehnten dazu, als Deckmantel für Steuerhinterziehungen herangezogen zu werden.
Wir konnten nun im Gesetzgebungsverfahren das
Prüfungsrecht des Bundeszentralamtes für Steuern ausweiten. Die Sanktionen bei einer Verletzung der Meldepflichten durch die Finanzinstitute wurden ebenfalls
deutlich verschärft. Statt 5 000 Euro werden zukünftig
50 000 Euro pro Fall fällig. Nicht zuletzt haben wir durch
eine Präzisierung der Meldepflichten der Finanzinstitute
die Voraussetzung dafür geschaffen, dass der Informationsaustausch im Fall eines Beitritts weiterer Staaten einfach und schnell erweitert werden kann. Wir begrüßen
ausdrücklich, dass Steuerflüchtigen durch den Ankauf
weiterer Steuer-CDs - wie jüngst durch Nordrhein-Westfalen - zusätzlich Druck gemacht wird.
({5})
Steuerhinterziehung darf sich nicht lohnen. Es lohnt sich
auch deshalb nicht, weil die Gefahr, erwischt zu werden,
immer größer wird.
Die Bekämpfung von Steuerbetrug ist für uns, die
SPD-Bundestagsfraktion, immer auch eng verknüpft mit
dem Thema Gerechtigkeit. Mit der heutigen Verabschiedung kommen wir auch hier einen großen Schritt weiter.
Recht herzlichen Dank.
({6})
Ganz herzlichen Dank. - Als nächste Rednerin hat
Lisa Paus von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das
Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Auch
wir Grünen begrüßen die Einführung eines internationalen automatischen Informationsaustauschs. Wie sollten
wir anders? Wir haben das seit Jahren gefordert.
({0})
Bei all der Feierstimmung sollte aber eines dann doch
nicht unter den Tisch fallen: Die Wandlung von Schäuble
vom Saulus zum Paulus in dieser Frage ist nicht einer
visionären Erleuchtung geschuldet, sondern diese Wandlung musste wirklich sehr hart erstritten werden. Ohne
die Ablehnung des deutsch-schweizerischen Steuerabkommens durch Rot-Grün im Bundesrat - das wurde
gerade schon erwähnt - könnten wir dieses Gesetz heute
gar nicht verabschieden.
Dann hätte sich nämlich nicht der automatische Informationsaustausch durchgesetzt, dann hätten wir von
einem Fall Hoeneß oder einem Fall Alice Schwarzer
nichts erfahren, sondern es gäbe weiter viele Fälle von
unentdeckter Steuerhinterziehung. Dann hätten wir stattdessen eine Art modernen Ablasshandel bekommen, also
eine Vereinbarung mit ehemaligen Steueroasen, dass sie
uns jährlich eine - ansonsten anonyme - Mindestsumme
Geld überweisen. Gut, dass das Geschichte ist: weil wir
das verhindert haben.
({1})
Nicht gut ist dagegen, dass die Große Koalition an der
Abgeltungsteuer in Deutschland trotzdem immer noch
festhalten möchte. Wenn massenhafte Steuerhinterziehung durch Parken von Geld auf Auslandskonten nicht
mehr möglich ist, weil die nationalen Finanzbehörden
die Information über Kapitalerträge automatisch austauschen, dann löst sich eben die Steinbrück’sche Mathematik von einst endgültig auf, die da lautet: 25 Prozent von
x sind besser als 42 Prozent von nix.
({2})
Sie von der GroKo wissen auch ganz genau, dass das
damit zu Ende ist. Deshalb hat sich auch die SPD-Bundestagsfraktion inzwischen in einem Positionspapier für
die Abschaffung der Abgeltungsteuer ausgesprochen.
({3})
Selbst Finanzminister Schäuble hat gesagt, auch gestern
noch, er wäre im Prinzip dafür, nur jetzt noch nicht.
({4})
Jetzt könnte man sagen: Das ist immerhin schon ein
Schritt. Aber, meine Damen und Herren, das reicht nicht;
denn die Beibehaltung der Abgeltungsteuer ist heute keine Petitesse. Wenn dieses Gesetz über den automatischen
Informationsaustausch heute verabschiedet wird, dann
ist die Abgeltungsteuer endgültig verfassungswidrig.
({5})
Das ist nicht nur unsere Meinung, sondern das bestätigt inzwischen auch ein umfassendes Rechtsgutachten
des Steuerrechtlers Professor Joachim Englisch von der
Universität Münster, der nun wahrlich nicht verdächtig
ist, ein Grüner zu sein. Herr Professor Englisch stellt in
seinem Gutachten fest:
Erstens. Die Abgeltungsteuer hat schon immer gegen
die verfassungsrechtlich gebotene Gleichbehandlung aller Einkunftsarten verstoßen, weil Kapital niedriger besteuert wird als Löhne oder Gehälter.
Zweitens. Die Abgeltungsteuer hat schon immer gegen
das in Deutschland geltende Leistungsfähigkeitsprinzip
verstoßen, wonach finanziell starke Einkommensgruppen einen höheren Beitrag zur Finanzierung des Staates
leisten sollen als Einkommensschwache.
Drittens. Die Abgeltungsteuer konnte nur deshalb gerade noch als verfassungsgemäß durchgehen, weil man
die Privilegierung des Einkommens aus Kapital mit der
Konzession an den internationalen Steuerwettbewerb begründete, wie es auch hier heute noch einmal gemacht
wurde.
Aber es gab seit der Einführung der Abgeltungsteuer nicht einen einzigen empirischen Hinweis darauf, der
diese Begründung stützen würde. Deswegen ist sie nicht
erst in zwei Jahren, Herr Middelberg, sondern spätestens
heute mit der Verabschiedung des Gesetzes über den
automatischen Informationsaustausch, so jedenfalls das
Fazit von Professor Englisch, nicht mehr ausreichend.
Es gibt keine ausreichende Rechtfertigung mehr für den
Verstoß gegen Gleichbehandlung und das Leistungsfähigkeitsprinzip, wie es die Verfassung vorsieht.
({6})
Deswegen ist die Abgeltungsteuer endgültig verfassungswidrig.
({7})
Seien Sie ehrlich: Tatsächlich gibt es für Sie doch nur
einen einzigen Grund, die Abgeltungsteuer nicht gleichzeitig mit der Einführung des automatischen Informationsaustauschs abzuschaffen, und der lautet: Koalitionsvertrag. Oder genauer: keine Steuererhöhung. Das ist
vereinbart in der GroKo.
Aber, meine werten Damen und Herren, werte Kollegen von der Koalition, der Koalitionsvertrag steht nicht
über dem Grundgesetz. Deswegen müssen wir die Regelung ändern.
({8})
Aber für die wachsende Schar unter Ihnen, denen auch
Verfassungsverstöße mittlerweile ziemlich egal sind, die
Sie eigentlich kaltlassen, liefere ich doch noch ein Argument für den Koalitionsvertrag. Die Abschaffung der
Abgeltungsteuer würde gerade nicht - ({9})
- Mein lieber Herr Kollege, wir können uns gerne über
die Ergebnisse der Anhörung zur Erbschaftsteuer unterhalten,
({10})
bei der alle Experten unisono festgestellt haben, dass
sich keiner traut, Verfassungsgemäßheit tatsächlich festzustellen. Wir reden darüber, wie Sie mit dem Thema
Grundsteuer umgehen. In all diesen Fragen haben wir
erlebt, dass Ihnen die Verfassung ziemlich egal ist. Deswegen finde ich diese Aussage völlig gerechtfertigt und
Ihre Einlassung völlig daneben.
({11})
Aber kommen wir zurück zu Ihrem Koalitionsvertrag.
({12})
- Das haben Sie getan, und ich musste leider darauf reagieren, werter Kollege.
({13})
- Ja, das merke ich, dass Sie ganz schön getroffen sind.
({14})
- Ich hoffe, Sie können trotzdem noch einen Satz aushalten, werter Kollege.
Ich wollte einfach darauf hinweisen,
({15})
dass auch Sie mit Ihrem Koalitionsvertrag eigentlich
überhaupt kein Problem haben, weil das Bundesfinanzministerium bisher der Auffassung war, dass eine Abschaffung der Abgeltungsteuer nicht zu Mehreinnahmen
führt. Auf die Antwort der Kleinen Anfrage der Linkspartei hat das Bundesfinanzministerium festgestellt: Eine
Abschaffung würde zu Mindereinnahmen führen, auch
wenn Herr Schäuble heute behauptet, es käme zu Mehreinnahmen. Ich glaube, wir alle miteinander wissen, die
Abgeltungsteuer würde in dieser Niedrigzinsphase zu
keinen Steueraufkommensveränderungen führen, aber
sie würde zu mehr Gerechtigkeit führen.
Frau Kollegin, Sie müssen zum Schluss kommen.
Ich komme zum Schluss. - Auf niedrige Einkommen
würden weniger und auf höhere Einkommen würden
mehr Steuern zu zahlen sein. Deshalb fordere ich Sie
ein letztes Mal auf: Sorgen Sie für mehr Gerechtigkeit!
Schaffen Sie die ungerechte und verfassungswidrige Abgeltungsteuer heute ab! Stimmen Sie unserem Antrag zu!
Danke schön.
({0})
Vielen Dank. - Ich möchte die Kollegen darauf hinweisen: Wir haben bewährte Instrumente, um einen solchen Diskurs zu führen. Das ist die Zwischenfrage, und
das ist die Kurzintervention. Ich bitte, davon Gebrauch
zu machen, damit wir im Rahmen der Redezeiten bleiben.
({0})
Jetzt hat der Kollege Graf Lerchenfeld von der CDU/
CSU-Fraktion das Wort.
({1})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Hohes Haus! Lieber
Kollege Pitterle, eigentlich war das, was Sie uns unterstellt haben, schon bodenlos. Sie sagen, wir würden Steuerhinterziehung begünstigen.
({0})
Ich finde es unfassbar, dass Sie uns unterstellen, wir würden den Lobbyisten der Steuerhinterziehung hier auch
noch nachkommen. Ich habe Sie bisher immer für einen
umgänglichen Menschen gehalten. Es hat mich schwer
enttäuscht.
Das, was Sie, Frau Paus, gemacht haben, ist eine Unterstellung. Ich finde kaum Worte dafür.
({1})
Es ist eine unfassbare Unverschämtheit. Die Gutachten,
die man bestellt, bekommt man so wieder zurück.
({2})
Ich möchte Ihnen sagen: Ich habe mich mit diesem Gutachten sehr stark auseinandergesetzt. Wenn Sie es genau
lesen würden, dann würden Sie sehen, dass viele Argumente weiterhin für eine Abgeltungsteuer sprechen. Im
Übrigen: Wo ist eine Klage bis zum Verfassungsgericht
gegangen? Wo ist vom Verfassungsgericht festgestellt
worden, dass es sich hier um eine nicht verfassungsgemäße Besteuerung handelt? Man kann sehr viele Gutachten finden, die dafür sprechen, und auch andere, die
dagegen sprechen. Deswegen bitte ich Sie, uns nicht zu
unterstellen, wie Sie es getan haben, dass uns das Grundgesetz egal ist. Wir stehen auf dem Boden des Grundgesetzes. Dazu sind wir Parlamentarier in diesem Bundestag. Sie sollten sich für diese unglaubliche Frechheit
entschuldigen.
({3})
Es tut mir leid, dass man in die Diskussion jetzt eine
Schärfe über Gesetzentwürfe hereingebracht hat, die
wirklich nicht notwendig ist, da wir eigentlich alle darin übereinstimmen, dass wir dieses Gesetz begrüßen. Es
ist erfreulich, dass wir im internationalen Informationsaustausch eine Möglichkeit finden, Steuerhinterziehung,
Steuervermeidung stärker einzuschränken. Ich möchte
mich für das großartige Verhandlungsergebnis ganz besonders herzlich bei allen Verhandlungsführern bedanken, an der Spitze bei unserem Bundesfinanzminister
Dr. Schäuble. Ich bitte Sie, Herr Staatssekretär, ihm das
auszurichten.
({4})
Es ist schon gesagt worden, dass wir ab September 2017 mit vielen Staaten ganz hervorragende Austauschmöglichkeiten haben. Diese Möglichkeiten müssen nur noch entsprechend eingeführt werden und sich
in der Praxis bewähren. Es ist ein Meilenstein bei der
Bekämpfung der Steuerhinterziehung auf internationaler
Basis erreicht worden. Wir haben damit auch eine Transparenz auf internationaler Basis erreicht, von der man vor
Jahren noch nicht einmal geträumt hatte.
Was mir in diesem Zusammenhang ganz besonders
wichtig ist, ist aber auch, dass tatsächlich gewährleistet
bleibt, dass die automatische Übermittlung der Daten nur
an Staaten erfolgen soll, die erklärt haben, die Unterlagen
nur aus steuerlichen Gründen zu benötigen. Das muss
streng beachtet werden; denn es wäre fatal, wenn mit den
übermittelten Daten auch andere Ziele in diesen Staaten
verfolgt werden könnten. Ich möchte nur an die intensiven Verhandlungen zum DBA mit China erinnern, wo
wir insbesondere in Bezug auf die Todesstrafe erhebliche
Probleme hatten.
Lassen Sie mich auf die Anträge der Opposition zu
sprechen kommen. Sie von Bündnis 90/Die Grünen
haben ein Gutachten bestellt. Darin ist zusammengefasst
dargestellt, dass die Besteuerung der Kapitaleinkünfte
nach § 32 d Absatz 1 EStG in Verbindung mit § 43 Absatz 5 EStG gegen gleichheitsrechtlich verankerte Vorgaben der Gleichbehandlung aller Einkunftsarten und
der gleichmäßigen Besteuerung nach der individuellen
Leistungsfähigkeit verstoße. Gleichzeitig führt Ihr Gutachter aus, dass die Vorschriften auch einer besonderen
Rechtfertigungsanforderung genügen müssen, wenn sie
weiter angewendet werden können. Nun gebe es erhebliche verfassungsrechtliche Bedenken, da die Besteuerung aufgrund der vorliegenden Erfahrungen und der
Entwicklung bei der internationalen Bekämpfung der
Steuerhinterziehung inzwischen als unverhältnismäßig
zu beurteilen wäre.
Ich denke, dass der Gutachter, aber auch Sie mit Ihren
Anträgen, eine Reihe von Sachverhalten, die durchaus
immer noch für die Beibehaltung dieser Besteuerungsart sprechen, vermissen lassen. Zunächst einmal ist es
doch in unser aller Interesse, dass durch die Abgeltungsteuer tatsächlich alle - ich betone: alle - inländischen
Kapitalerträge aller Steuerpflichtigen erfasst werden. Bei
diesem Verfahren werden Kapitalerträge von Millionen
Konten in Deutschland in einem einfachen, administrativ leicht handhabbaren Verfahren erfasst, und neben der
Steuer werden auch noch der Solidarbeitrag und sogar
die entsprechende Kirchensteuer, wenn notwendig, abgeführt. Es gibt nachvollziehbare Berechnungen, dass das
bei einem 25-prozentigen Steuersatz zu einer Besteuerung bis zu 61,5 Prozent der Nettoerträge führt, da dabei,
wie es der Kollege Middelberg schon richtig dargestellt
hat, keine Werbungskosten geltend gemacht werden können. Das liegt deutlich über dem, was Arbeitseinkommen
heute zu versteuern haben.
Wie gesagt, ist durch das Besteuerungsverfahren ein
vernünftiges, leicht administrierbares und transparentes
System gebildet worden, durch das gewährleistet wird,
alle Kapitalerträge entsprechend zu besteuern. Aus diesem Grund sollten wir warten, bis erste Erfahrungen aus
den heute zu verabschiedenden Gesetzen vorliegen, Erfahrungen darüber, wie sich der internationale Informationsaustausch in der Praxis bewährt, bevor wir ein einfach
handhabbares Verfahren letztendlich abschaffen.
Liebe Kollegen, Sie schreiben in Ihrem Antrag, dass
die Daten durch das strikte deutsche Steuergeheimnis geschützt bleiben müssten und sichergestellt werden müsse, dass sie nicht für andere Zwecke oder an anderer Stelle genutzt werden. Nun will ich niemandem unterstellen,
dass er mutwillig das Steuergeheimnis in Deutschland
verletzt. Aber die Erfahrungen mit Steuerhinterziehungsdaten prominenter Mitbürger haben doch gezeigt, dass
das Steuergeheimnis so strikt auch nicht immer eingehalten wird. Deswegen, meine ich, sollte man sich in dieser
Sache etwas zurückhalten. Man sollte auch bedenken,
dass wir strenge Datenschutzvorschriften haben. Auch
dies sollte Berücksichtigung finden.
Ich freue mich, wenn wir heute diese beiden Gesetzesvorhaben annehmen. Ich denke, damit werden Instru mente geschaffen, die uns im Kampf gegen Steuerhinterziehung wirklich helfen werden. Wir werden Ihre
Anträge ablehnen.
Liebe Frau Paus, ich möchte Sie noch einmal bitten,
über das nachzudenken, was Sie heute gesagt haben.
({5})
Vielen Dank. - Als nächste Rednerin hat Sarah
Ryglewski von der SPD-Fraktion das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wir wollen nicht, dass Steuerhinterzieher ihr
Geld weiter in Steueroasen verstecken können - sei es
in der sonnigen Karibik, auf den Kanalinseln oder bei
Schweizer Banken. Im Moment ist es - seien wir einmal
ganz ehrlich - doch so, dass sich die deutschen Steuerzahler im Wesentlichen in zwei Gruppen teilen. Es gibt
die einen, die hier mit ihrer Arbeit ihr Geld verdienen und
auch hier ihre Steuern bezahlen. Und es gibt die zweite
Gruppe, die aus denen besteht, die mit Kapitaleinkünften noch mehr Geld verdienen und Geld dafür ausgeben,
dieses Geld vor dem deutschen Fiskus im Ausland zu
verstecken.
Mit dem heute vorliegenden Entwurf eines Gesetzes
zum automatischen Austausch von Informationen über
Finanzkonten schaffen wir daher ein Stück mehr Steuergerechtigkeit.
({0})
Wie lang dieser Weg gewesen ist, hat ja der Kollege
Schwarz sehr eindrucksvoll beschrieben.
Wir schaffen hier gemeinsam die Voraussetzung, internationale Steuerhinterziehung erfolgreich zu bekämpfen und Steueroasen den Garaus zu machen. Am Datenaustausch werden sich nach derzeitigem Stand 95 Länder
beteiligen. Dass so viele mitmachen, zeigt einerseits den
großen internationalen Erfolg des OECD-Vorhabens.
Andererseits stärkt es die Schlagkraft des Vorhabens;
denn je mehr mitmachen, desto besser. Schließlich gewinnen die Staaten dank ihrer Kooperation Souveränität
zurück. Wegen des Zugewinns an Transparenz sind sie
nicht länger Getriebene, sondern erhalten Spielräume in
der Besteuerung privater Kapitalerträge.
Gleichwohl können wir uns noch lange nicht zufrieden zurücklehnen. Mit der gesetzlichen Grundlage heute
machen wir nur den ersten Schritt; denn mit der Unterzeichnung von Erklärungen und dem Verabschieden von
Gesetzen ist es noch lange nicht getan. Jetzt geht es an
die Umsetzung. Wir wissen doch alle: Das beste Gesetz
ist nur dann wirklich gut, wenn es auch gut umgesetzt
wird.
({1})
Dafür werden verlässliche Systeme, und zwar sowohl für
die Informationsgewinnung als auch für den Informationsaustausch, in Deutschland und auch in allen anderen
beteiligten Staaten benötigt. Denn nur wenn die ausgetauschten Daten möglichst vollständig und von hoher
Qualität sind, kann wirklich von Transparenz die Rede
sein. Nur wenn wir uns darauf verlassen können, dass die
Daten über Finanzkonten von Bundesbürgern in der ganzen Welt korrekt sind, können wir zufrieden sein. Das ist
die beste Voraussetzung für eine effektive Besteuerung.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, angesichts der Herausforderung, die die Umsetzung auch für unser Land
bedeutet, wird deutlich, dass wir noch eine gute Wegstrecke vor uns haben. Genau deshalb sollten wir den zweiten Schritt nicht vor dem ersten machen.
({2})
Damit sind wir bei der Abgeltungsteuer. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linken und vom Bündnis 90/Die Grünen, Sie haben ja bei allen Reden gehört,
dass eine grundsätzliche Offenheit dafür da ist, das Thema Abgeltungsteuer anzufassen, und dass wir in dem
Ansinnen geeint sind, sie perspektivisch abzuschaffen.
Uns allen ist klar: Die Abgeltungsteuer ist nicht mehr als
ein Second Best. Sie wurde in einem globalen Finanzsystem nötig, das von Steuerwettbewerb, Intransparenz und
mangelnder Zusammenarbeit geprägt war.
Aus sozialdemokratischer Sicht ist diese steuerliche
Ungleichbehandlung eine klare Ungerechtigkeit. Wir
müssen aber doch zunächst einmal schauen, dass wir das
System, das wir heute beschließen, auch vernünftig in die
Umsetzung bekommen.
Wir wissen: Es ist unfair, dass jemand, der jeden Tag
arbeiten geht, unter Umständen mehr Steuern bezahlen
muss als jemand, der, salopp gesprochen, nur einmal am
Tag den Aktienkurs checkt. Deshalb ist es der richtige
Zeitpunkt, sich von der Abgeltungsteuer zu verabschieden, wenn das System des automatischen Informationsaustausches den Praxistest bestanden hat, aber auch erst
dann.
({3})
Ich versichere Ihnen, dass Sie zu diesem Zeitpunkt die
Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten sicher an
Ihrer Seite haben werden. Und wenn ich die Zeitungsberichte richtig gelesen habe, dann werden Sie an dieser Stelle auch den Bundesfinanzminister an Ihrer Seite haben. Von daher glaube ich, dass wir da vielleicht
schneller zu einer Einigung kommen werden, als wir uns
das heute vorstellen können.
({4})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Deutsche Bundestag beschließt heute ein wichtiges Gesetz im Kampf
gegen internationale Steuerflucht. Dies ist ein großer ErPhilipp Graf Lerchenfeld
folg in Richtung globale Steuergerechtigkeit. Nun gilt es
sicherzustellen, dass alle beteiligten Länder den nächsten
Schritt gehen und verlässliche Systeme zur Erfassung
und Verteilung von Daten entwickeln.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Karibik,
die Schweiz und vielleicht ja auch die britischen Kanalinseln mögen attraktive Orte zum Urlauben sein. Ich
glaube, wir sind uns aber einig, dass das Geld in Zukunft
weniger auf Reisen gehen sollte und lieber zu Hause bleiben und dort ordentlich besteuert werden sollte.
Vielen Dank.
({5})
Vielen Dank. - Gratulation zu Ihrer ersten Rede!
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, damit schließe ich
die Debatte.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zum automatischen Austausch von Informationen über Finanzkonten
in Steuersachen und zur Änderung weiterer Gesetze.
Der Finanzausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/6667, den
Gesetzentwurf der Bundesregierung auf den Drucksachen 18/5920 und 18/6290 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf
in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das
Handzeichen. - Stimmt jemand dagegen? - Enthält sich
jemand? - Dann ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung einstimmig angenommen worden.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Stimmt jemand dagegen? - Enthält sich jemand? - Dann
ist der Gesetzentwurf einstimmig angenommen.
({1})
Wir kommen zur Abstimmung über den von der
Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zu der
Mehrseitigen Vereinbarung zwischen den zuständigen
Behörden über den automatischen Austausch von Informationen über Finanzkonten. Der Finanzausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 18/6667, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf den Drucksachen 18/5919 und 18/6291 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf
zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Stimmt jemand dagegen? - Enthält sich jemand? - Dann ist der
Gesetzentwurf in zweiter Beratung einstimmig angenommen worden.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Stimmt jemand dagegen? - Enthält sich jemand? - Dann
ist auch dieser Gesetzentwurf in der dritten Lesung einstimmig angenommen worden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir kommen zum
Tagesordnungspunkt 11 b. Wir setzen die Abstimmung
über die Beschlussempfehlung des Finanzausschusses
auf Drucksache 18/6667 fort.
Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe c seiner
Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der
Fraktion Die Linke auf Drucksache 18/2014 mit dem
Titel „Die Abgeltungsteuer abschaffen - Kapitalerträge
wie Löhne besteuern“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Gibt es eine Enthaltung? - Dann ist diese Beschlussempfehlung mit den
Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der Opposition angenommen worden.
Unter Buchstabe d empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
auf der Drucksache 18/6064 mit dem Titel „Abgeltungsteuer abschaffen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthält sich
jemand? - Dann ist auch diese Beschlussempfehlung
mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der
Opposition angenommen worden.
Schließlich, liebe Kolleginnen und Kollegen, empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe e seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen auf der Drucksache 18/6065
mit dem Titel „Transparenz von Kapitaleinkommen stärken - Automatischen Austausch von Informationen über
Kapitalerträge auch im Inland einführen“. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthält sich jemand? - Dann ist auch diese Beschlussempfehlung mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der Opposition angenommen worden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, damit kommen wir
zum nächsten Tagesordnungspunkt, zum Tagesordnungspunkt 12:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Katja
Kipping, Sabine Zimmermann ({2}),
Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion DIE LINKE
Für ein menschenwürdiges Existenz- und Teilhabeminimum
Drucksache 18/6589
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({3})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
Ich möchte auch hier wieder die Kolleginnen und Kollegen bitten, die Gespräche in den vorderen Reihen nicht
fortzusetzen, sondern die Plätze einzunehmen, damit wir
in unserer Beratung fortfahren können.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Ich höre dazu
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin in dieser Debatte hat Katja Kipping von der Fraktion Die Linke das Wort.
({4})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der
Hartz-IV-Regelsatz und alle Sozialleistungen, die davon
abgeleitet werden, decken nicht die Mindestbedarfe. Viele Menschen, die auf Hartz IV angewiesen sind, leiden
nicht nur an Armut, sondern auch an materieller Unterversorgung. Das äußert sich zum Beispiel wie folgt:
Die Hälfte aller Menschen, die auf Hartz IV angewiesen ist, hat Schulden, das heißt, sie haben keinerlei finanzielle Polster. Wenn also die Waschmaschine oder der
Kühlschrank den Geist aufgibt, ist das für diese Familien
eine mittlere Katastrophe, weil sie nicht wissen, woher
sie das Geld nehmen sollen, um beispielsweise eine neue
Waschmaschine anzuschaffen. Sie haben ein Problem,
nämlich das Problem, dass am Ende des Geldes immer
noch so viel vom Monat übrig ist.
Die Hälfte der Menschen, die auf Hartz IV angewiesen ist, hat kein Geld für medizinische Zusatzleistungen.
Wir reden hier nicht über luxuriöse Sonderbehandlungen,
sondern wir reden hier beispielsweise über elementare
Bedarfe wie eine Brille. Wer eine Brille braucht, muss
dafür zusätzlich bezahlen, und das ist für Menschen, die
auf Hartz IV angewiesen sind, ein Riesenproblem.
80 Prozent sagen, sie haben nicht einmal Geld für
eine Woche Urlaub. Nun mögen einige von Ihnen sagen:
Das steht halt Erwerbslosen nicht zu. - Aber rufen wir
uns einmal in Erinnerung, dass davon auch Familien mit
Kindern betroffen sind, und versetzen wir uns doch wenigstens eine Minute lang in die Situation von Kindern,
die nach den Ferien wieder in die Schule kommen. Alle
erzählen von den Urlauben, davon, wo sie waren, von
ihren Ferienreisen, und sie selber können nur von dem
Spielplatz vor der eigenen Haustür berichten. Das ist natürlich ein Problem.
({0})
Sie haben bei der Berechnung des Arbeitslosengeld-II-Satzes sehr deutlich gemacht, dass für Menschen,
die auf Hartz IV angewiesen sind, ein Essen im Restaurant oder in einem Café unterwegs nicht vorgesehen ist
gemäß dem Motto „Na ja, die haben ja Zeit, tagsüber
selber zu Hause zu kochen“. Aber Sie haben dabei eine
Sache außer Acht gelassen: Sich in einem Café auch einmal auf ein Getränk zu treffen, gehört einfach zur gesellschaftlichen Teilhabe dazu. Es ist doch nicht nur so, dass
Abgeordnete sich abends zu Absprachen in einem Restaurant oder Lokal treffen. Auch Bürgerinitiativen oder
ganz durchschnittliche Vereine treffen sich in Lokalen,
wo ein Verzehrzwang besteht und wo am Anfang gefragt
wird: Was wollen Sie bestellen? Für jemanden, der vom
Hartz-IV-Regelsatz leben muss, heißt das dann: Wenn
er beispielsweise an der Sitzung einer Bürgerinitiative
teilnehmen will, muss er sich das Geld an anderer Stelle
absparen. Das ist verdammt noch mal ein richtiges Problem. Deswegen sage ich: Der Hartz-IV-Regelsatz bzw.
das Existenzminimum, so wie es hier bestimmt wird, ist
auch ein Angriff auf die demokratische Teilhabe von Erwerbslosen.
({1})
Ganz offenkundig ist die Unterdeckung bei den Energiekosten. Die Paritätische Forschungsstelle hat errechnet, dass in den Jahren 2008 bis 2014 die Energiekosten
um 37 Prozent gestiegen sind. Die Regelleistungen sind
aber eben nicht entsprechend angepasst worden. „Die
im Dunkeln sieht man nicht“, so heißt es bei Brecht. Für
so manchen Haushalt ist das eben nicht nur ein Sprachbild, nicht nur eine Metapher, sondern bittere Realität.
Es kam im Jahr 2013 immerhin in rund 350 000 Fällen
zu Stromsperrungen. Menschen saßen also wirklich im
Dunkeln.
Halten wir also fest: Die Hartz-IV-Regelsätze sichern
nicht die Bedarfe. Wir als Linke meinen aber: Die Grundsicherung muss alle Menschen sicher vor Armut schützen, muss ein Mindestmaß an gesellschaftlicher Teilhabe
gewährleisten. Das muss drin sein.
({2})
Die jetzige Art, das Existenzminimum zu berechnen,
wird diesem Anspruch nicht gerecht. Es gibt theoretisch
drei Methoden: den Warenkorb, bei dem man schaut:
„Was braucht man im Monat zum Leben?“, die Armutsrisikogrenze, bei der alle Einkommen wie Orgelpfeifen
nebeneinandergestellt werden und man 60 Prozent vom
mittleren Einkommen nimmt, oder die Einkommens- und
Verbrauchsstichprobe.
Sie von der schwarz-roten Koalition setzen bei der
Ermittlung des Regelsatzes - wie auch die Bundesregierungen davor - auf die Einkommens- und Verbrauchsstichprobe. Um es denjenigen zu erläutern, die sich nicht
jeden Tag damit beschäftigen: Die EVS basiert darauf,
dass die Ausgaben von Haushalten über drei Monate
hinweg festgehalten werden. Um den Regelsatz zu ermitteln, wird der Mittelwert der Ausgaben der ärmeren
Haushalte genommen, und davon werden - Pi mal Daumen - 30 Prozent abgezogen. Dann heißt es: Das ist, was
die Menschen für ihren Lebensunterhalt brauchen.
Diese Methode hat ein grundlegendes Problem: Wenn
die ärmeren Haushalte immer ärmer werden, können sie
sich lebensnotwendige Dinge nicht mehr leisten. Wenn
man einfach stur schaut, was diese Haushalte ausgeben,
dann gibt es keinerlei Sicherheit hinsichtlich des tatsächlichen Bedarfs, da es ja keine Art Bedarfs-TÜV gibt.
Dann weiß man nicht, ob das Geld überhaupt noch für
ein Mindestmaß an Mobilität ausreicht, ob man sich für
das Geld, das die ärmeren Leute für Fahrkarten ausgeben, überhaupt noch eine Monatsfahrkarte kaufen kann
oder ob sie vielleicht sowieso schon einplanen, nicht
mehr irgendwohin zu fahren, oder möglicherweise gar in
die Schwarzfahrerei getrieben worden sind. Wir als Linke sagen deswegen: Die jetzige Form der Berechnung
Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn
kann nicht weitergeführt werden. Es müssen hier andere
Methoden eingeführt werden. Es braucht beispielsweise eine Art Bedarfs-TÜV, damit sichergestellt ist, dass
Mobilität, Zugang zu Gesundheitsleistungen usw. auch
wirklich garantiert sind.
In der Vergangenheit wurde das Existenzminimum
am Ende immer wieder im Hinterzimmer berechnet. Es
ist natürlich politisch gezielt kleingerechnet worden; da
brauchen wir uns nichts vorzumachen. Als Sie von der
SPD noch in der Opposition waren, haben Sie das auch
kritisiert. Wir als Linke meinen: Damit muss Schluss
sein. Sie müssen die Art und Weise, wie Sie das Existenzminimum berechnen wollen, vorher transparent machen.
Wir wollen, dass eine Kommission eingesetzt wird, die
sicherstellt, dass kein Mensch in Armut fällt. Wenn es um
das Existenzminimum geht, braucht es mehr Transparenz
und einen sicheren Schutz vor Armut.
Vielen Dank.
({3})
Vielen Dank. - Als nächste Rednerin hat Christel
Voßbeck-Kayser von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Kollegen von den Linken, als ich Ihren Antrag
gelesen habe, da wurde mir wieder eines bewusst: Ihre
Denke und Ihr politischer Ansatz sind vollkommen anders als unsere Denke und unser Ansatz.
({0})
Für uns von der CDU/CSU-Fraktion steht der Sozialstaat
in einer Solidargemeinschaft auf zwei Pfeilern: Es ist für
uns selbstverständlich, Menschen, die der Hilfe bedürfen, zu unterstützen; aber es gehört ebenso zu unserem
Verständnis, dass alle, die einen Beitrag zum Sozialstaat
leisten können, ihren Beitrag auch leisten.
({1})
Chancengerechtigkeit fördern wir nicht, indem wir
die Hartz-IV-Regelsätze erhöhen. Chancengerechtigkeit
können wir unter anderem erreichen, indem wir Menschen eine Perspektive eröffnen,
({2})
nämlich die Perspektive, am Arbeitsmarkt teilzuhaben.
Und wie erreichen wir dies?
({3})
- Hören Sie doch mal zu, Frau Kipping. Ich habe Ihnen auch zugehört. - Wie erreichen wir dies? Wir haben
6,1 Millionen Hartz-IV-Bezieher. Für sie stehen im Bundeshaushalt zurzeit 20,1 Milliarden Euro zur Verfügung;
das sind 900 Millionen Euro mehr als im vergangenen
Jahr. Davon entfallen auf Arbeitsfördermaßnahmen
3,9 Milliarden Euro; das ist, obwohl sich die Arbeitslosenzahl verringert hat, der gleiche Betrag wie 2014.
Ich sagte schon: Wir stehen für eine Solidarität mit
Menschen, die unserer Unterstützung bedürfen oder die
in Not geraten sind. Es wurde uns zuletzt im Juli 2014 bestätigt, dass die Sozialgesetzgebung und die sozialrechtlichen Regelbedarfsleistungen in unserem Land verfassungsgemäß ausgestaltet sind.
({4})
Das ist doch eine klare Rechtsprechung, ein klares Urteil.
({5})
- Ja.
Wie ist ansonsten die Situation in unserem Land? Wir
haben 43 Millionen Menschen in Beschäftigung, davon
31 Millionen in sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnissen.
({6})
Wir haben die niedrigste Arbeitslosenquote und auch die
niedrigste Jugendarbeitslosigkeitsquote. Diese Zahlen
sprechen für wirtschaftliches Wachstum. Das sind Tatsachen, die ermutigen und die nicht betrüben.
({7})
Von daher kann ich Ihren Pessimismus wahrlich nicht
verstehen.
({8})
Nehmen Sie doch einfach mal einen anderen Blickwinkel ein! Diese vielen Menschen in Beschäftigung
sprechen doch für sich, und Menschen in Beschäftigung
wird doch auch eine Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ermöglicht.
({9})
Und dank der guten Finanz- und Wirtschaftspolitik in
den letzten Jahren haben doch auch viele Menschen den
Sprung in Beschäftigung geschafft, auch Langzeitarbeitslose.
({10})
Denen haben wir mit arbeitsmarktpolitischen Programmen eine Perspektive eröffnet. Sie können ihren LebensKatja Kipping
unterhalt jetzt aus eigenen Kräften und mit eigenen Mitteln finanzieren.
({11})
Kollegen von den Linken, in Ihrem Antrag verwässern
Sie erneut Argumente, Begründungen und Sichtweisen
von höchstrichterlichen Instanzen. Ich gehe einmal auf
die Berechnung des Regelbedarfs, auf das Statistikmodell ein. Ich zitiere aus Ihrem Antrag:
Der Ermittlung der Regelbedarfe liegt kein objektives Verfahren zu Grunde.
({12})
Fakt ist aber, dass es sich aus Sicht des Bundesverfassungsgerichts folgendermaßen verhält:
Die Festsetzung der Gesamtsumme für den Regelbedarf lässt nicht erkennen, dass der existenzsichernde Bedarf … nicht gedeckt wäre.
Vielmehr wird festgestellt
({13})
- zuhören! -, dass sich der ermittelte Regelbedarf „mithilfe verlässlicher Daten tragfähig begründen lässt“.
({14})
Da ist doch ganz klar, dass die Zahlen nicht in einem
luftleeren Raum entstanden sind. Es spricht vielmehr dafür: Das Statistikmodell ist ein transparentes und nachvollziehbares Modell, welches das Bundesverfassungsgericht sowohl im Februar 2010 als auch im Juli 2014
bestätigt hat.
({15})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich frage Sie: Sollten wir uns dieser Frage nach der Höhe der Regelsätze,
über die wir ja jetzt sprechen, nicht mit einer anderen
Betrachtungsweise nähern? Wir leben in Deutschland
in einer Solidargemeinschaft. Die Fragen sollten deshalb lauten: Wie kann jeder Einzelne seinen Beitrag zu
dieser Solidargemeinschaft leisten? Wie können wir die
Menschen, die der Unterstützung bedürfen, hierbei auch
unterstützen? Denn Solidarität, also das Einstehen für andere, ist ein wichtiger Wert in unserer Gesellschaft und in
unserem Zusammenleben, aber auch für unsere sozialen
Sicherungssysteme.
Frau Voßbeck-Kayser, Frau Kipping hat eine Zwischenfrage. Lassen Sie die zu?
Nein, ich möchte weiterreden. Ich habe ihr auch zugehört. - Solidarität ist auch keine Einbahnstraße; denn
Fakt ist doch auch - das müssen wir sagen, wenn wir
über soziale Sicherheit reden -: Es gibt keine soziale Sicherheit, die aus himmlischen Quellen finanziert wird.
({0})
Es gibt sie nur durch Arbeit, durch unsere Schaffenskraft,
durch unserer Hände Arbeit.
({1})
Deshalb ist es wichtig, dass wir das Verantwortungsgefühl in unserer Gesellschaft fördern und jedem Betroffenen einen Weg in die Eigenständigkeit bieten.
({2})
Ich möchte auf einen weiteren Punkt in Ihrem Antrag
eingehen, auf die Gestaltung des Bildungs- und Teilhabepaketes für Kinder und Jugendliche. Fakt ist - das zeigt
der Zwischenbericht, der im Juli 2015 vorgelegt wurde -,
dass im Vergleich zum Vorjahr 11 Prozent mehr Kenntnis
von diesem Teilhabepaket hatten
({3})
und auch 11 Prozent mehr es angenommen haben.
({4})
- Das sind 45 Prozent.
({5})
Sicherlich kann man immer noch besser werden. Die
Zahlen sind faktisch ausbaufähig. Da gebe ich Ihnen
recht. Aber hieran wird - das wissen Sie - gearbeitet.
Wenn der Bericht aufzeigt, dass in der Praxis bürokratische Hürden bestehen,
({6})
dann ist es für uns selbstverständlich, dass wir daran arbeiten und uns konstruktive Gedanken machen, wie man
diese Hürden abbauen kann. Wir wollen sie abbauen,
indem wir für die Institutionen vor Ort Rahmenbedingungen setzen, dass sie flexibler und unbürokratischer im
Sinne der Anspruchsberechtigten handeln können.
({7})
Insgesamt, Kollegen der Linken, empfinde ich es als
unredlich, wenn Sie mit Ihrem Antrag wieder einmal den
Eindruck vermitteln, als würde in Deutschland zu wenig
für Menschen, die der Hilfe bedürfen, getan.
({8})
Die guten arbeitsmarktpolitischen Programme und Maßnahmen, die wir in den letzten Jahren hier auf den Weg
gebracht haben,
({9})
waren eine gute Hilfe. Unser Ansatz ist es, Menschen für
den Arbeitsmarkt fit zu machen und nicht für das Verweilen als Leistungsempfänger im SGB II; denn eines ist
klar: Wir Menschen sind nicht geboren zum Nichtstun.
({10})
Dass die Jobcenter und die Arbeitsagenturen heute ihren Blick auf die Potenziale der Menschen und nicht auf
ihre Defizite richten, ist doch der richtige Ansatz bei der
Arbeitsvermittlung;
({11})
und den gilt es weiter zu stärken.
({12})
Zusammenfassend, liebe Kolleginnen und Kollegen
der Fraktion Die Linke, ist zu sagen: Wenn auf eines Verlass ist, dann auf die wiederholten Formulierungen Ihrer
Anträge und Anfragen.
({13})
Das nehmen wir gerne zur Kenntnis. Aber da Sie aus den
Zahlen, wie ich gezeigt und ausgeführt habe, die falschen
Schlüsse ziehen und Ihrer Denke eine Sichtweise zugrunde liegt, die wir absolut nicht teilen können,
({14})
wird es Sie nicht verwundern, dass wir Ihrem Antrag
heute nicht folgen werden.
({15})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich habe vorhin
schon darauf hingewiesen, dass wir in unserer Geschäftsordnung Instrumente haben, die es jedem Kollegen Abgeordneten ermöglichen, in eine Debatte einzugreifen,
etwa durch Zwischenfragen, aber auch durch Kurzinterventionen. - Das als erster Hinweis.
Als zweiter Hinweis: Zwischenrufe sind erlaubt, aber
nicht Begleitreden oder Begleitsätze. Ich bitte darum, das
ein bisschen zu berücksichtigen. Ich halte es für richtig
und notwendig und unterstütze es, dass eine Debatte lebhaft verläuft; das ist wichtig für das Parlament, damit man
unterschiedliche Positionen kennenlernt. Natürlich kann
man Zwischenrufe machen, aber der kollegiale Umgang
untereinander gebietet es, dass das Instrument als Zwischenruf zu verstehen ist und nicht als Zwischenrede.
({0})
Ich darf jetzt den nächsten Redner bitten: Dr. Wolfgang
Strengmann-Kuhn hat das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Frau Voßbeck-Kayser, ich rate Ihnen: Schauen Sie sich
die Armutsstatistiken, unter anderem die des Statistischen Bundesamtes, gerade neu erschienen, an. Armut ist
in Deutschland ein Problem, und davor dürfen wir nicht
die Augen verschließen.
({0})
Für uns Grüne ist die Grundsicherung kein Almosen,
sondern ein Grundrecht. Mittlerweile haben wir da auch
das Bundesverfassungsgericht auf unserer Seite, das in
den letzten Jahren in mehreren Urteilen betont hat, dass
ein Grundrecht und Menschenrecht auf Existenzsicherung aus dem Grundgesetz folgt. Es ist jetzt an der Politik, dieses Grundrecht auch umzusetzen.
So müssen wir erstens dafür sorgen, dass die Grundsicherung für alle gleich hoch ist. Unter anderem deswegen
wollen wir das Asylbewerberleistungsgesetz abschaffen.
({1})
Ein kleiner Nebeneffekt davon wäre, dass die Länder und
Kommunen dadurch deutlich entlastet werden.
Zweitens. Es ist notwendig, die immer noch bestehenden Lücken im Grundsicherungsnetz zu schließen. Es
geht nicht an, dass Menschen vom Recht auf Grundsicherung ausgeschlossen werden.
Drittens müssen die Sanktionen so reformiert werden,
dass der Grundbedarf immer gesichert ist.
Und viertens muss in der Tat das Grundsicherungsniveau angehoben werden. Dass der Regelsatz der Grundsicherung zu niedrig ist, das sieht man schon allein daran, dass es in Deutschland zahlreiche Tafeln gibt, die
Lebensmittel an Bedürftige verteilen. Das ist ein Armutszeugnis! Ziel muss es sein, dass die Tafeln überflüssig
werden und alle Menschen ein Recht auf eine Grundsicherung erhalten, die existenzsichernd ist.
({2})
Wie sollen wir nun das Existenzminimum bestimmen? Die Linken schlagen vor, eine Kommission einzurichten nach dem Motto „Wenn ich nicht mehr weiter
weiß, gründe ich einen Arbeitskreis“, und diese Kommission soll einen Warenkorb vorschlagen. Das ist äußerst
problematisch. Ein Warenkorb ist enorm kompliziert und
manipulationsanfällig,
({3})
und Verhandlungen darüber, ob es zur sozialen Teilhabe gehört, dass ein Mensch alle vier Wochen oder nur
einmal im Jahr ins Kino gehen kann, bringen uns nicht
weiter.
Das Warenkorbverfahren wurde Anfang der 90er-Jahre abgeschafft - und das war gut so -, und wurde durch
ein Statistikmodell ersetzt. Ziel des Statistikmodells war
es, ein transparentes Berechnungsverfahren zu erhalten,
das nicht manipuliert werden kann. Aber wenn wir ehrlich sind: Dieses Ziel wurde nicht erreicht. Denn auch
beim bestehenden Statistikmodell wurde im Ministerium so lange herumgerechnet, bis eine vorher festgelegte Zahl herauskam. Das Hauptziel des Statistikmodells,
nämlich dass die Berechnung des Existenzminimums
nicht politisch manipuliert werden sollte, ist nach wie vor
nicht erreicht. Das müssen wir ändern.
({4})
Dafür gibt es mehrere Alternativen.
Eine Möglichkeit wäre - das wird in dem vorliegenden Antrag der Linken auch angedeutet -, einfach die Armutsdefinition zu nehmen, auf die wir uns auf EU-Ebene
geeinigt haben. Es spricht einiges dafür, aber es gibt auch
einige Nachteile. Unter anderem würde sich dadurch die
Leistung für Kinder reduzieren, und das ist durchaus problematisch.
Wenn wir bei der Berechnung anhand des Ausgabeverhaltens von Vergleichsgruppen bleiben, müssten einige Punkte geändert werden:
Erstens. Die Referenzgruppe muss eine sein, in der
keine Menschen enthalten sind, die selbst Leistungen
beziehen oder einen Anspruch auf Leistungen haben
könnten, so wie das jetzt der Fall ist, weil es sonst zu
Zirkelschlüssen kommt. Alles andere macht methodisch
keinen Sinn.
({5})
Zweitens. Bisher ist es so, dass bei den einzelnen Ausgabeposten jeweils unterschiedliche Abschläge gemacht
werden, die teils völlig willkürlich sind. Dadurch wird
der Manipulation Tür und Tor geöffnet und dafür gesorgt,
dass kaum jemand durchschaut, was da warum und wie
berechnet wurde. Sinnvoll wäre es, einen einheitlichen
Abschlag auf die Ausgaben zu machen, der vorher festgelegt wird; denn damit könnten nachträgliche Manipulationen verhindert werden.
All das sind normative Entscheidungen, die uns Abgeordnete niemand abnehmen kann. Eine objektive Bestimmung des Existenzminimums gibt es nicht; das kann
ich Ihnen als Armutsforscher sagen. Da hilft auch nicht
die Gründung einer Kommission weiter, wie es die Linke
vorschlägt. Das müssen wir als Bundestag schon selber
machen. Das verlangt auch das Bundesverfassungsgericht.
({6})
Wichtig ist, dass wir dabei ein Verfahren finden, das so
einfach und transparent ist, dass es auch jeder und jede
normale Abgeordnete versteht, damit wir hier eine politische Debatte darüber führen können. Und es ist wichtig,
dass wir als Bundestag im Vorhinein die Methode festlegen
({7})
und dann das Statistische Bundesamt den Regelsatz
ausrechnet. Was es nicht mehr geben darf, ist, dass das
Existenzminimum im Nachhinein durch diverse Rechentricks kleingerechnet wird, wie das bei allen bisherigen
Berechnungen passiert ist. Das müssen wir in Zukunft
ausschließen.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({8})
Vielen Dank. - Als nächste Rednerin hat Dagmar
Schmidt von der SPD-Fraktion das Wort.
({0})
Sehr geehrte Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Wir beschäftigen uns heute mit einem wichtigen Thema, das den Bundestag alle fünf Jahre erneut fordert; denn alle fünf Jahre
werden die Regelsätze für Leistungen des SGB II und
des SGB XII neu festgelegt. Und das ist deswegen ein
wichtiges Thema, weil davon fast 10 Prozent der Menschen in Deutschland direkt betroffen sind. Aber eigentlich sind es noch mehr; denn mit den Regelsätzen im
SGB II, der Grundsicherung für Arbeitsuchende, und im
SGB XII, der Sozialhilfe, wird auch die Höhe des steuerfreien Existenzminimums festgelegt, was wiederum alle
steuerpflichtigen Menschen in Deutschland betrifft.
Wo stehen wir gerade? Das Statistische Bundesamt
hat im September dieses Jahres die Datenaufbereitung
zum privaten Verbrauch der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe von 2013 abgeschlossen. Auf dieser
Basis können nun die Sonderauswertungen vorgenommen werden, die die Grundlage für eine Überprüfung
und Neuermittlung der Regelbedarfe bilden. All das läuft
im Rahmen des sogenannten Statistikmodells, das - das
wurde bereits gesagt - das Warenkorbmodell abgelöst
hat, zu dem Sie gerne zurück wollen - wir allerdings
nicht. Ich sage Ihnen auch, warum.
({0})
Eine rein normative Festlegung des Inhalts eines Warenkorbs, das heißt aller notwendigen Güter und Dienstleistungen zur Sicherung des soziokulturellen Existenzminimums sowie ihrer Menge im täglichen und im
monatlichen Gebrauch sowie ihr jeweiliger Preis, führt
zu einer unglaublichen Bandbreite dessen, was als notwendig angesehen wird bzw. angesehen werden kann.
Die Überlegungen der Expertinnen und Experten reichen
je nachdem von 132 bis 685 Euro. Das zeigt, dass keine
wirkliche Objektivierung des Bedarfs durch das Warenkorbmodell gegeben ist.
({1})
Im Gegenteil: Das Modell lädt dazu ein, als Gesetzgeber
darüber entscheiden zu wollen, wofür Leistungsberechtigte ihr Geld ausgeben dürfen und wofür nicht. Es ist
aber nicht unsere Aufgabe, in einer freien Gesellschaft
erzieherisch oder moralisch ein Konsumverhalten oder
eine Lebensweise zu bewerten, sondern es ist unsere
Aufgabe, soziale Teilhabe auch derer zu ermöglichen, die
nicht auf der Sonnenseite stehen.
({2})
Frau Schmidt, lassen Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Kipping zu?
Klar.
Frau Schmidt, ich freue mich über Ihre Aussage, dass
es nicht unsere Aufgabe ist, da erzieherisch einzuwirken.
Aber ich frage mich, wie diese Aussage von Ihnen mit
der Praxis bei der Berechnung zusammenpasst. Denn es
wurde, wie Sie wissen, von dem reinen Statistikmodell
Abstand genommen, weil man nicht einfach nur gesagt
hat: „Wir legen einmal zugrunde, was die ärmsten Haushalte ausgeben“, sondern man auch noch auf die Idee
kam, festzulegen, dass Verzehr im Restaurant nicht unterstützt wird, dass das Halten von Haustieren nicht regelsatzrelevant ist, dass ein Weihnachtsbaum nicht regelsatzrelevant ist und dass Übernachtungen, und sei es auf
einem Campingplatz, nicht regelsatzrelevant sind.
Das heißt, Sie haben auf das Statistikmodell sehr wohl
das Warenkorbmodell angewandt, nur negativ, indem Sie
gesagt haben: Das und das streichen wir. - Das ist natürlich, rein über den finanziellen Zwang, eine sehr schwarze Pädagogik, die Sie angewendet haben.
Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass wir in
unserem Antrag sagen: „Wir wollen den Warenkorb als
ein Prüfinstrument nehmen, um sicherzustellen, dass das,
was ausgegeben wird, wenigstens ein Mindestmaß der
entsprechenden Bedarfe garantiert“?
({0})
Frau Kipping, danke für die Zwischenfrage. - Sie wissen offensichtlich mehr als ich. Sie haben über die Vergangenheit geredet und gesagt, wie das Ergebnis beim
letzten Mal zustande gekommen ist. Ich hoffe, dass wir
hier und heute darüber reden, welche Festlegung wir
beim nächsten Mal wollen. Wir sind gerade dabei, darzustellen - auch ich werde das im Verlauf meiner Rede
noch tun -, welche Grundlage wir sehen, um einen gerechten Regelbedarf zu ermitteln. Insofern wissen Sie,
wie gesagt, entweder schon mehr als ich, oder das war
ein zusätzlicher Beitrag zu der Debatte, die wir in Zukunft, wenn es um die nächste Festlegung geht, führen
werden.
Wie war Ihre zweite Frage? Ich habe sie vergessen.
({0})
- Ja, das gibt mir aber noch ein bisschen Zeit.
Ich nutze diese Gelegenheit jetzt natürlich gnadenlos,
um noch einmal Werbung für unseren Antrag zu machen,
({0})
der vorsieht, dass man den Warenkorb auch als eine Art
Bedarfs-TÜV einzieht, um sicherzustellen, dass die Mindestbedarfe garantiert werden. Ist das nicht ein großartiger Punkt, dem man eigentlich zustimmen könnte?
Nein, das ist er leider nicht; dazu hat Herr
Strengmann-Kuhn eigentlich schon alles gesagt. Dann
wird nämlich ausgiebig über jeden Bestandteil des Warenkorbs diskutiert. Egal ob Prüfinstrument oder Grundlage, die Debatte ist am Ende dieselbe. Über den Sinn
oder Unsinn jedes einzelnen Bestandteils eines Warenkorbes zu debattieren, ist, glaube ich, nicht das richtige
Verfahren.
({0})
Am Statistikmodell wird häufig kritisiert, dass ein an
einem begrenzten Budget orientiertes Ausgabeverhalten
nicht den eigentlichen Bedarf widerspiegelt. Das ist ein
wichtiger Hinweis. Wenn mein Kind neue Fußballschuhe braucht, um weiter im Verein mitspielen zu können,
dafür aber kein Geld da ist, dann taucht dieser Bedarf
in der Statistik nicht auf. Er taucht auch nicht auf, wenn
die Oma ihm dann die Fußballschuhe schenkt und dies
nachweislich ein Bedarf ist, der zur sozialen Teilhabe
des Kindes beigetragen werden muss, weil diese soziale
Teilhabe eben nichts Abstraktes, sondern etwas Konkretes ist. Deshalb muss man, wenn man das Statistikmodell
anwendet, aufpassen, dass es nicht solche Auswirkungen
hat.
Es ist also Sorgfalt bei der Umsetzung geboten. Das
gilt vor allem bei der Auswahl der Referenzgruppe; dazu
ist schon einiges gesagt worden. So müssen zum Beispiel
alle Transferleistungsbezieherinnen und -bezieher aus
der Stichprobe herausgenommen werden - das sind Aufstocker, Arbeitslosengeldbezieher, Wohngeldbezieher
und -bezieherinnen usw. -, da sonst die Gefahr von Zirkelschlüssen - sie ist genannt worden - gegeben ist und
man sich dann der Gefahr aussetzt, dass durch Budgetres triktion der Bedarf nicht mehr widergespiegelt wird;
das Problem habe ich benannt.
Dazu gehört auch die Herausrechnung sogenannter
verdeckter Armut, also der Menschen, die ein Recht auf
Leistungen des Staates hätten, diese aber - meist aus
Scham - nicht in Anspruch nehmen. Eine in der RefeDagmar Schmidt ({1})
renzgruppe übliche Teilhabe und ein übliches Ausgabeverhalten müssen möglich sein.
Manche Menschen sind der Auffassung: Je niedriger
das Existenzminimum, desto größer die Motivation, sich
allein oder mithilfe des Jobcenters aus dieser Lage zu
befreien. Das setzt voraus, dass das für jeden Menschen
möglich wäre. Aber das ist es eben nicht. Die allermeisten Menschen sind unverschuldet arbeitslos oder haben
Hemmnisse, die ihr Leben ohnehin negativ beeinflussen;
wir reden darüber an vielen anderen Stellen.
Das gilt erst recht für diejenigen, die aufgrund von
Alter, Krankheit und Behinderung keine Möglichkeit
haben, an ihrer Situation durch eigenes Handeln etwas
zu ändern. Ich möchte nicht in einem Land leben, in dem
diesen Menschen die Teilhabe am sozialen Leben unmöglich gemacht wird, in dem Menschen kein Ehrenamt
ausüben können, weil sie die Fahrtkosten nicht aufbringen oder sich das Getränk in der Vorstandssitzung oder
beim Gesangsverein nicht leisten können.
({2})
Der ehemalige Vizepräsident der Bundesagentur für
Arbeit, Heinrich Alt, hat zu den Regelsätzen 2011 Folgendes gesagt - ich zitiere mit Ihrer Erlaubnis, Frau Präsidentin -:
Nur Lebenskünstler können auf Dauer von 364 Euro
im Monat leben. Als Überbrückung ist das vertretbar, aber auf lange Sicht ist Transferbezug menschenunwürdig.
Das lehrt auch meine Erfahrung. Ein Jahr lang - das
sagen auch viele der Betroffenen - kann man damit zurechtkommen. Wenn dann aber verschiedene Gebrauchsgegenstände, die man zu Zeiten des Erwerbseinkommens
gekauft hat, anfangen kaputtzugehen, wird es eng oder
unmöglich. Deswegen glaube ich, dass wir auch darüber nachdenken müssen, ob verschiedene langlebige
Gebrauchsgegenstände wirklich über Ansparungen oder
Darlehen finanziert werden können.
({3})
Die Höhe der Regelsätze betrifft insbesondere aber die
Kinder. Noch immer ist in unserem Land Realität, dass
nicht Fleiß und Klugheit, sondern die soziale und regionale Herkunft über die Bildungs- und Berufschancen eines Kindes und Jugendlichen entscheiden. Es darf nicht
sein, dass Kinder beschämt werden, weil ihre Eltern sich
bestimmte Dinge nicht leisten können. Stigmatisierende
und bürokratische Hilfesysteme sind kein Beitrag zur
Chancengleichheit. Hier ist ein besonders großer Handlungsbedarf. Das betrifft sowohl die Kinderregelsätze als
auch das Bildungs- und Teilhabepaket.
({4})
Es wird gerne das Stereotyp eines Leistungsberechtigten bemüht, der, wenn man ihm Geld in die Hand drückt,
das für seine Kinder gedacht ist, loszieht und Zigaretten
kauft oder auf Pferde wettet. Damit begründet man dann
Sachleistungen und bürokratische Ungetüme. Das Gegenteil ist aber nachweislich der Fall: Untersuchungen haben
gezeigt, dass Eltern von ihrem Teil des Regelsatzes Geld
abzweigen, um es ihren Kindern zur Verfügung zu stellen.
({5})
Hier besteht also dringendster Handlungsbedarf.
({6})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Fraktion
Die Linke, Sie haben in Ihrem Antrag wieder einmal die
Forderung nach einer Kommission aufgestellt. Wir kennen das bereits vom Armuts- und Reichtumsbericht. Die
Antwort, die ich Ihnen gebe, ist ähnlich: Dass Sie nicht
regieren und keine Verantwortung übernehmen wollen,
nehmen wir zur Kenntnis.
({7})
Dass Sie aber auch nicht wollen, dass wir Verantwortung übernehmen, wundert mich schon. Sie wollen lieber
Kommissionen und Experten als einer gewählten Regierung und demokratisch legitimierten Volksvertreterinnen
und Volksvertretern die Verantwortung für solche zentralen Entscheidungen in die Hand geben.
({8})
Ich persönlich setze auf verantwortliches Regierungshandeln und freue mich auf eine muntere, kontroverse
und erhellende Parlamentsdebatte, die wir im kommenden Jahr zu diesem Thema sicher führen werden.
({9})
Das Wort hat der Kollege Stephan Stracke für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Der Antrag der Linken fällt aus der Zeit. Wir erleben heutzutage den größten Flüchtlingsstrom seit dem
Zweiten Weltkrieg. Jeden Tag kommen Tausende Flüchtlinge zu uns nach Deutschland, und sie kommen nicht
deshalb in unser Land, weil es ihnen schlecht geht, sondern weil sie gute Lebensperspektiven für sich erwarten.
({0})
Deswegen kann ich überhaupt nicht nachvollziehen, dass
Sie ernsthaft darüber diskutieren wollen, dass in unserem
Land Menschen „nicht in Würde leben können“, wie Sie
Dagmar Schmidt ({1})
dies schreiben, „da ihre Existenz nicht ausreichend gesichert ist“.
({2})
Es ist bemerkenswert: Die Linken mausern sich nahezu zu einer Drucksachenfabrik. Sie stellen Anträge und
Anfragen bei der Bundesregierung - das ist ja auch in
Ordnung - und erhalten umfassende Antworten darauf.
Sie haben eine Anfrage an die Bundesregierung gestellt
und am 2. November - sehr schnell - eine Antwort darauf bekommen, und schon am 5. November lag dann Ihr
Antrag auf dem Tisch. Herr Kollege Birkwald, Sie sind
tatsächlich schnell.
({3})
Aber Schnelligkeit ist ja kein Wert an sich, sondern auf
die Inhalte kommt es natürlich auch immer an. Hier muss
Masse nach Klasse stehen.
Ich denke, Sie sollten durchaus auch einmal Ihre Mitarbeiter wertschätzen, die ja wohl meistens die Anträge
schreiben müssen.
({4})
Aus Wertschätzung entwickelt sich dann auch Wertschöpfung. Insofern wäre es sicherlich ganz gut, wenn
Sie hier auch Ihre Mitarbeiter stärker in den Blick nehmen würden.
Da lobe ich mir die Anträge der Grünen - zwar nicht
immer, aber in den Schattierungen sind sie jedenfalls oftmals durchaus besser.
({5})
Ihr Antrag enthält einen paternalistischen Gestus. Sie
wollen ein Kümmern von oben herab: Seien Sie unbesorgt. Ich sorge für dich. Es gibt auch ein paar Euro mehr,
({6})
und wir treten beispielsweise für eine unbedingte Grundsicherung im Alter und Änderungen beim Existenzminimum ein.
Diese Form des Kümmerns hat ja durchaus etwas
Sympathisches, allerdings nur auf den ersten Blick;
({7})
denn dahinter steht ein defizitärer Ansatz. Sie begreifen
den Menschen eher als Fürsorgeempfänger. Dies teile ich
eben nicht. Es gibt auch ein Kümmern, das auf die Kräfte
des Einzelnen abzielt, das insbesondere darauf gerichtet
ist, verborgene oder verschüttete Kräfte zu wecken und
die Potenziale des Einzelnen in den Blick zu nehmen.
Das ist oftmals viel nachhaltiger als alle finanziellen Zuwendungen und Gesten von oben herab. Ein Mensch, der
für sich entdeckt, was in ihm steckt, der hat Freude am
Leben, am Gestalten, an der Leistung; er ist leistungsfähig und leistungsbereit. Die Kräfte des Einzelnen zu
wecken, ohne ihn gleichzeitig zu überfordern,
({8})
das ist unser Blick auf den Menschen. Und das ist aus
unserer Sicht auch die Aufgabe des Sozialstaats.
({9})
Deshalb ist auch Ihre Grundthese im Antrag falsch.
Zitat:
Das strategische Ziel der Einführung von Hartz IV
war die Ausweitung des Niedriglohnsektors.
({10})
Unser Ziel ist die Entwicklung von Eigenständigkeit
und Eigenverantwortung, die Schaffung von Arbeit und
die Erhöhung von Chancen auf dem Arbeitsmarkt gerade für die Menschen, die es schwer haben, die vielleicht
auch geringere Qualifikationen vorzuweisen haben. Die
Erfolge geben uns ja durchaus recht: Die Arbeitslosigkeit
hat sich seit Rot-Grün von deutlich über 5 Millionen im
Jahre 2005 auf aktuell 2,65 Millionen halbiert.
({11})
Diese Erfolge sind gut, weil sie den Menschen guttun,
sehr verehrte Damen und Herren.
({12})
Die Schlacht um die richtige Methodik zur Ermittlung
des Existenzminimums ist geschlagen. Wir haben uns für
das Statistikmodell entschieden. Das Modell ist bewährt
und auch verfassungskonform. Die Kritik der Linken ist
alt und bekannt. Wir haben in den letzten Jahren häufig
und sehr intensiv diese Debatte geführt. Deshalb ist es
müßig, mit Ihnen hier und heute über die richtige Methodik zu diskutieren.
Außerdem ist Ihre Kritik auch scheinheilig. Im Wahlprogramm für die Bundestagswahl 2013 hat Ihre Partei
ein Programm angekündigt, in dem keine Mindestsicherung unter 1 500 Euro liegen soll.
({13})
- Ja, das haben Sie.
({14})
Kurzfristig müssten die Hartz-IV-Sätze auf 500 Euro erhöht werden.
Herr Kollege Birkwald, bitte schön.
Moment, das Wort erteile immer noch ich. - Zunächst
frage ich, ob Sie bereit sind, eine Frage oder Bemerkung
des Kollegen Birkwald zuzulassen. Das scheint ja der
Fall zu sein.
Frau Präsidentin, in aller Demut, ja.
Gut, dann haben Sie das Wort.
Vielen Dank, Frau Präsidentin, dass Sie die Frage zulassen.
({0})
Herr Kollege Stracke, wir müssen einmal deutlich sagen: Das, was Sie hier gerade gemacht haben, ist unbillig, wie das so schön im Rechtsdeutsch heißt.
Nein.
Man könnte auch sagen: Wer lesen kann, ist klar im
Vorteil. In unserem Wahlprogramm stand natürlich nichts
von 1 500 Euro, sondern dort stand, dass wir anstreben,
dass keine Mindestsicherung unter 1 050 Euro liegt. Gestehen Sie mir zu, dass das eine Differenz von 450 Euro
ist, dass man mit 1 050 Euro gerade so über die Runden
kommt und von 1 500 Euro nicht die Rede war?
({0})
Herr Birkwald, zunächst zolle ich Ihnen Respekt, dass
Sie das Wahlprogramm zum einen auswendig können
und zum anderen auch noch richtig wiedergeben.
({0})
Es ist tatsächlich richtig, was Sie sagen. Zitat:
Wir wollen ein Konzept einbringen, in dem keine
Mindestsicherung mehr unter 1 050 Euro liegt.
Allerdings sagen Sie zum gleichen Zeitpunkt, dass der
Hartz-IV-Satz auf 500 Euro erhöht werden soll. Wie Sie
allerdings auf 500 Euro kommen, darüber schweigen Sie
sich natürlich aus. Uns werfen Sie immer Methodikfehler vor, aber tatsächlich halten Sie sich an keine eigene
Methodik, sondern setzen diese politisch. Darum geht es
mir.
({1})
- Wahrscheinlich können wir es dann wieder als Drucksache haben.
Letztlich diskreditieren Sie Ihren eigenen Antrag, indem Sie uns Methodikfehler vorwerfen, während Sie selber welche machen.
Warum wir jetzt wieder eine Kommission brauchen die Kollegin hatte darauf hingewiesen -, weiß ich nicht.
Sämtliche Verbände wurden hier richtigerweise eingefügt. Auch ein Blick ins Wahlprogramm zeigt, dass - Zitat - „Teile der LINKEN ... das Konzept des bedingungslosen Grundeinkommens“ vertreten:
Dieses Konzept wird in der Partei kontrovers diskutiert. Diese Diskussion wollen wir weiterführen.
Wir befürworten auch die Einsetzung einer Enquetekommission zum Grundeinkommen im Deutschen
Bundestag.
Es ist schon erstaunlich, dass man in einem Wahlprogramm schreibt, dass man sich noch auf gar nichts geeinigt hat und dass man die Diskussion noch weiterführen
muss. Substanzloser geht es kaum.
({2})
Ich empfehle, sich zunächst einmal parteiintern zu verständigen. Aber vielleicht haben Sie ja als Fraktion Ihre
Partei schon überholt. Dadurch, dass in Ihrem Antrag von
einem Mindesteinkommen gar nicht mehr die Rede ist,
habe ich eher den Eindruck, dass Sie dieses Ziel aufgegeben haben, während sich Ihre Partei noch entscheiden
muss, ob sie dafür oder dagegen ist.
Auch die Ausgestaltung des Bildungs- und Teilhabepakets ist verfassungskonform und hat sich im Übrigen
bewährt. Ihre Kritik geht auch hier ins Leere. Die Ausgestaltung von ergänzenden Bedarfen für Bildung und Teilhabe wird die Bundesregierung im Rahmen der anstehenden Neuermittlung der Regelbedarfe auf der Grundlage
von Sonderauswertungen der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe 2013 prüfen. Warten wir einfach die
Ergebnisse ab.
Für diskussionswürdig halte ich aus gegebenem Anlass eher eine finanzielle Obergrenze des Betrags für
mehrtägige Klassenfahrten. Wenn eine Fahrt nach New
York im Umfang von 38 000 Euro für 15 Schüler gezahlt
werden muss, dann zahlt hierfür der Steuerzahler die Zeche. Das ist in keinem Fall gerechtfertigt. Ich halte es
auch für unfair denen gegenüber, deren Einkommen beispielsweise knapp oberhalb der Hartz-IV-Sätze liegt und
die eine solche Fahrt aus eigener Tasche zahlen müssten.
Die einen haben eine große Sause, und die anderen machen lange Gesichter. Das halte ich in der Tat für unfair.
({3})
Wir führen heute einmal mehr eine Debatte, die uns
keinen Millimeter weiterbringt; das gilt insbesondere für
Debatten, die von den Linken angestoßen werden. Die
Drucksachenfabrik der Linken arbeitet weiter. Gönnen
Sie sich und Ihren Mitarbeitern eine Denkpause, am besten zum Denken. Aber wahrscheinlich ist es einfach so,
dass Ober Unter schlägt. In diesem Fall hat wahrscheinlich Frau Kipping gesagt: Ich möchte gerne wieder mein
Lieblingsthema diskutieren. - Deswegen glaube ich, dass
wir in diesem Bereich auch in Zukunft noch erhebliche
Diskussionen zu führen haben werden.
({4})
Ein herzliches Dankeschön.
({5})
Das Wort hat der Kollege Markus Paschke für die
SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren!
Manchmal scheint es ziemlich subjektiv zu sein, ob man
ein Verfahren als objektiv betrachtet.
({0})
Ich finde, das Verfahren zur Ermittlung der Regelbedarfe ist durchaus objektiv. Es ist nämlich nachvollziehbar,
und ihm liegt eine berechenbare Basis zugrunde. Damit
ist das Verfahren objektiv.
Nun kann man allerdings trefflich darüber streiten, ob
die statistischen Grundlagen und die Inhalte für die Berechnung der Regelbedarfe richtig sind. Reden wir also
über die Grundlagen und darüber, ob die bisherigen Regeln zur Deckung des Bedarfs ausreichen.
Das Bundesverfassungsgerichtsurteil aus dem
Jahr 2014 hat uns auf Leistungslücken und Unterdeckungen hingewiesen.
({1})
Die Richter haben allerdings den Gesamtbedarf als gerade noch ausreichend gedeckt gesehen.
({2})
Erfahrungen aus der Praxis zeigen aber auch, dass wir
den Zugang zum Bildungs- und Teilhabepaket verbessern müssen. Immer noch werden damit viele Kinder und
Jugendliche nicht erreicht. Ich finde, wir müssen den Zugang zum Paket vereinfachen und von unnötigem Ballast
befreien.
({3})
Der bürokratische Aufwand schreckt nämlich immer
noch viel zu viele Eltern ab, die Anträge überhaupt zu
stellen. Außerdem werden wichtige Ressourcen der Jobcenter mit Anträgen und Bescheiden blockiert.
Für jede Leistung für jedes Kind ist ein Antrag zu stellen, sei es nun der Sportverein, die Nachhilfe oder das
tägliche Mittagessen in der Schule. Weniger bürokratischer Aufwand wäre eine effektive Zugangserleichterung.
({4})
Hier halte ich Bürokratieabbau für sinnvoll.
Der aktuelle Regelsatz von 399 Euro beinhaltet
25,14 Euro für Mobilität. In Berlin kostet eine Monatskarte für Empfänger von SGB-II-Leistungen 36 Euro. In
meinem Wahlkreis zum Beispiel gibt es aber keinen Sozialtarif für eine Monatskarte. Dort kostet sie zwischen
37,30 und 66,80 Euro, je nach Strecke. Mobilität ist aber
gerade im ländlichen Raum sehr wichtig.
Viele Bezieher von SGB-II-Leistungen können sich
auch kein Auto leisten. Mobilität ist jedoch eine Grundvoraussetzung, um Bewerbungsgespräche führen zu können, zum Arzt zu fahren, oder auch, um sich mit Freunden zu treffen, kurz: um am gesellschaftlichen Leben
teilzuhaben.
Jedem von uns ist klar, dass die Regelbedarfe sehr eng
gerechnet sind. Da bleibt am Ende des Monats kaum etwas bis gar nichts übrig, um Rücklagen für Unvorhergesehenes zu bilden. Grundlegendes wie eine neue Brille,
weil sich die Sehstärke verändert hat, ein neuer Kühlschrank oder eine Waschmaschine können zum Problem
werden. Die Kosten dafür übernimmt das Jobcenter nämlich nicht. Da sehe ich bei der Berechnung der Regelsätze
durchaus Handlungsbedarf.
({5})
Die SPD hat ein transparentes und sachgerechtes Verfahren als Ziel, realitätsnah und nachvollziehbar. Das
Bundesverfassungsgericht hat der Bundesregierung entsprechende Hausaufgaben aufgegeben. Ich denke, diese
arbeiten wir in gewohnter Weise gemeinsam mit unserem
Koalitionspartner ab.
({6})
Sie von der Opposition - auch die Grünen - sind herzlich
eingeladen, sich daran zu beteiligen.
({7})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/6589 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines GesetStephan Stracke
zes zur Änderung des Aktiengesetzes ({0})
Drucksache 18/4349
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz ({1})
Drucksache 18/6681
Hierzu liegen zwei Änderungsanträge der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. - Ich bitte,
die notwendigen Umgruppierungen nun zügig vorzunehmen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Dr. Johannes Fechner für die SPD-Fraktion.
({2})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr geehrte Zuhörerinnen und Zuhörer! Schon im
Jahr 2012 hat sich der Bundestag mit der Aktienrechtsnovelle beschäftigt. Der damals beschlossene Gesetzentwurf ist der Diskontinuität anheimgefallen. Grund war,
dass zwei Tage vor der Bundestagswahl der Vermittlungsausschuss angerufen wurde, und das wird auch dem
allerbesten Gesetzentwurf zum Verhängnis.
Wir packen dieses Thema jetzt nochmals an. Nachdem
wir zum Thema Delisting schon eine wichtige Neuregelung für Aktionäre beschlossen haben, nehmen wir nun
einige wichtige Änderungen im Aktienrecht vor.
Zum einen geht es uns darum, die Finanzierung der
Aktiengesellschaften, vor allem der Banken, zu verbessern. Die Kreditinstitute müssen in bestimmtem Umfang Eigenkapital nachweisen. Vorzugsaktien können
heute nicht als kalkulatorisches Eigenkapital anerkannt
werden, weil nach heutiger Rechtslage bei ausbleibenden Dividendenzahlungen diese Gewinnausschüttungen
nachzuholen sind. Wird also der Vorzug in einem Jahr
nicht gezahlt, muss dies im Folgejahr nachgeholt werden.
Nur Vorzugsaktien, bei denen der Vorzug nicht nachzahlbar ist, können als sogenanntes regulatorisches Eigenkapital anerkannt werden. Deshalb ermöglichen wir nun
Vorzugsaktien, bei denen diese Nachzahlung nicht stattfinden muss. So kann die Vorzugsaktie als Kernkapital
anerkannt werden mit der Folge, dass den Aktiengesellschaften mehr Kapital zur Verfügung steht. Wir sprechen
in der Tat über aktienrechtliche Feinschmeckerei; das
will ich bei diesem Thema ausdrücklich einräumen.
Zudem schaffen wir die Möglichkeit für Aktiengesellschaften, durch sogenannte umgekehrte Wandelschuldverschreibungen vorab Kapitalerhöhungen zu
genehmigen. Bei Wandelschuldverschreibungen kann
der Gläubiger einer Aktiengesellschaft bestimmen,
ob die Aktiengesellschaft eine Anleihe in Geld oder in
Aktien zurückzahlen muss. Bei umgekehrten Wandelschuldverschreibungen kann die Aktiengesellschaft nun
bestimmen, ob sie auf die Wandelanleihe das geliehene
Geld oder in Aktien zurückzahlen möchte. Mit dieser
Neuregelung kann das betreffende Unternehmen etwa in
Krisenzeiten statt der Rückzahlung von Geldbeträgen was die Liquiditätskrise verschärfen würde - Aktien zur
Schuldentilgung ausgeben und gleichzeitig das Grundkapital, also das gezeichnete Kapital, erhöhen. Das ist
richtig; denn es ist sinnvoll, dass bei Finanzproblemen
einer Aktiengesellschaft zunächst die Gläubiger und die
Aktionäre der Bank dazu beitragen müssen, die Krise
zu entschärfen, und nicht der Staat und damit die Allgemeinheit und der Steuerzahler.
({0})
Den Gesetzentwurf haben wir auch zum Anlass genommen, eine ziemlich missglückte Definition des gezeichneten Kapitals in den Bilanzierungsvorschriften des Handelsgesetzbuches zu korrigieren. Nach dieser sachlich falschen
Definition haftet der Aktionär angeblich für Verbindlichkeiten der Aktiengesellschaft, was aber bei Kapitalgesellschaften gerade nicht der Fall ist. Ein Dank für diesen Hinweis auf den Reformbedarf geht in meinen Wahlkreis, an
Professor Feist, dem dies aufgefallen ist und der zu Recht
die Korrektur dieser Gesetzesdefinition anregte.
({1})
Vor allem aber - dies ist der wichtigste Teil dieses
Gesetzentwurfes - schaffen wir mehr Transparenz bei
den Inhaberaktien. Die internationale Organisation zur
Bekämpfung von Geldwäsche, aber auch die G 8 2013
und das Bundeskriminalamt haben vermehrt darauf hingewiesen, dass die Aktienrechtslage in Deutschland nicht
börsennotierte Aktiengesellschaften mit Inhaberaktien
für Geldwäsche attraktiv macht. Vor dem Hintergrund,
dass in Deutschland nach einer Schätzung des Internationalen Währungsfonds etwa 50 Milliarden bis 60 Milliarden Euro kriminell erlangte Gelder jedes Jahr gewaschen
werden, müssen wir auf allen Ebenen handeln, um jede
Möglichkeit der Geldwäsche zu verhindern.
({2})
- Danke, Herr Ullrich.
({3})
Denn nach heutiger Rechtslage können bei nicht börsennotierten Aktiengesellschaften mit Inhaberaktien die Aktien auf neue Eigentümer übertragen werden, ohne dass
dies nach außen erkennbar ist. Wir schaffen deshalb mehr
Transparenz, indem wir regeln, dass eine Aktiengesellschaft Inhaberaktien zukünftig nur dann ausstellen darf,
wenn sie entweder börsennotiert ist - denn in diesem Fall
unterliegen die Gesellschafter den kapitalmarktrechtlichen Veröffentlichungspflichten, das heißt, die Aktionäre
müssen mitteilen und sich offenbaren, wenn sie 3 Prozent der Stimmanteile besitzen - oder, falls sie nicht
börsennotiert ist, wenn die Aktiengesellschaft Anspruch
auf Einzelverbriefung ausschließt. Denn dann gibt es nur
eine Sammelurkunde, die bei einer Wertpapiersammelbank oder einem Zentralverwahrer verwahrt wird; die
Vizepräsidentin Petra Pau
Identität des Aktionärs kann dann über den Verwahrvertrag ermittelt werden. Damit ist sichergestellt, dass es
keine nennenswerten Aktienpakete von anonymen Aktionären mehr gibt. Dadurch bekämpfen wir Geldwäsche.
Auch deswegen ist dieses Gesetz eine ganz wichtige
Maßnahme.
({4})
Diskutiert haben wir schließlich auch, einen Tag festzulegen, an dem im Vorfeld der Hauptversammlung festzustellen ist, wer Aktionär der Aktiengesellschaft ist. Das
ist der sogenannte Record Date. Problematisch ist nämlich, dass viele ausländische Aktionäre sich erst in das
Aktienregister ihrer Aktiengesellschaft eintragen lassen
müssen, bevor sie die Hauptversammlung besuchen können. Wir möchten nun möglichst vielen Aktionären den
Besuch der Hauptversammlung erleichtern und ermöglichen und meinen, dass ein einheitlicher Record Date
möglich ist. Wir wollen eine einheitliche europäische Regelung; denn die Bandbreite in Europa ist groß: In Malta
sind es 30 Tage, in Irland 2 Tage. Deshalb brauchen wir
einen europaweit einheitlichen Stichtag, damit mehr ausländische Aktionäre zu den Hauptversammlungen kommen. Wir fordern deshalb in unserem Entschließungsantrag genau zu diesem Thema die EU-Kommission auf,
einen Gesetzgebungsvorschlag für einen einheitlichen
Record Date zu unterbreiten; das ist sinnvoll. Wir wollen gut besuchte Hauptversammlungen; denn ansonsten
besteht die Gefahr, dass nur Großaktionäre und Hedgefonds über die Unternehmensgeschicke bestimmen. Das
können wir alle nicht wollen.
({5})
Noch ein Wort zu den Änderungsanträgen, die vorliegen. Auch wir von der SPD-Fraktion wollen, dass unverhältnismäßig hohe Managergehälter und Gehaltsexzesse
verhindert werden. Auch wir meinen, dass es sinnvoll ist,
dass ein Aufsichtsrat bei der Vorstandsvergütung ein Verhältnis zwischen der Vergütung der Belegschaft und der
Vergütung des Vorstands festsetzt.
({6})
Allerdings sollten wir uns bei solch detaillierten Regelungen auf die wirklich großen Aktiengesellschaften beschränken, weil erfahrungsgemäß auch nur dort die Exzesse stattfinden.
Wir freuen uns sehr, dass die Europäische Kommission in ihrem aktuellen Vorschlag zur Überarbeitung der
Aktionärsrichtlinie genau diesen Ansatz verfolgt. Große
Aktiengesellschaften müssen danach grundsätzlich das
Verhältnis der Durchschnittsvergütung der Mitglieder
der Unternehmensleitung zur Durchschnittsvergütung
der Vollzeitbeschäftigten angeben. Damit haben wir eine
transparente und gerechte Lösung.
Sie sehen: Dieses Gesetz und auch unser Entschließungsantrag enthalten viele für die Aktionäre wichtige
und für die Unternehmen sinnvolle Regelungen, sodass
ich Sie um Zustimmung bitte.
Vielen Dank.
({7})
Das Wort hat der Kollege Richard Pitterle für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten heute mit der Aktienrechtsnovelle 2014 Änderungen am Aktienrecht. Die
interessierten Zuhörerinnen und Zuhörer werden aber
vermutlich über die Debatte enttäuscht sein. Der Begriff
„Novelle“ lässt im allgemeinen Sprachgebrauch eher
eine umfassende Reform erwarten. Das ist die Aktienrechtsnovelle nicht.
Sie präsentiert sich in der klassischen Wortbedeutung als eine einfache Gesetzesänderung. Daran lässt der
Entwurf, fast wie als Entschuldigung für den markigen
Arbeitstitel, keine Zweifel aufkommen. Bereits im ersten Satz heißt es: „Das geltende Aktienrecht bedarf einer
punktuellen Weiterentwicklung.“ Genau das liefert der
Entwurf: feine Drehungen an Stellschrauben.
Auch die Ergänzung des Titels um die Jahreszahl 2014
erweckt einen falschen Eindruck. Das Aktienrecht ist
keine dynamische Materie, die jährlich angepasst werden
müsste. Ganz im Gegenteil: Beständigkeit und Rechtssicherheit sind im Gesellschaftsrecht essenziell. Leider hat
gesetzgeberischer Aktionismus dieses Haus fest im Griff.
Der vorliegende Entwurf ist davon eine erfrischende
Ausnahme: Bereits 2010 erblickte er das Licht der Welt.
Fachleute adelten diese - ich zitiere - „ungewöhnlich
lange Reifezeit“ daher auch unisono mit den Prädikaten
„sachgerecht“, „überzeugend“ und „begrüßenswert“. Gut
Ding braucht eben Weile. Das gilt ganz besonders für das
sträflich vernachlässigte Handwerk guter Rechtsetzung.
Was bleibt aber zu sagen, wenn sich Fachleute einig sind,
dass ein Gesetz gut ist? Dann wird es schwer, mehr als
nur einzelne Änderungen in einer langweiligen Litanei
vorzubeten. Nun ist es aber Aufgabe der Opposition, das
Haar in der Suppe und den Kork im Wein zu finden.
({0})
Sie werden es ahnen: Das haben wir.
Doch zunächst möchte ich eine gute Änderung vorstellen. Diese betrifft die Ausgabeform der Aktien. Aktien können bisher entweder auf eine konkrete, namentlich
benannte Person ausgestellt werden, oder sie gewähren
denen, die eine Aktie vorweisen können, das Anteilsrecht
am Unternehmen. Diese letztgenannten Inhaberpapiere
haben jedoch einen schlechten Ruf.
Erst kürzlich veröffentlichte die gegen Steuerhinterziehung und Geldwäsche kämpfende Nichtregierungsorganisation Netzwerk Steuergerechtigkeit den Schattenfinanzindex für das Jahr 2015. Der Index gibt an, wie
attraktiv ein Staat für Steuerhinterziehung und Geldwäsche im internationalen Vergleich ist. Und siehe da:
Deutschland ist auf der Liste der attraktivsten Standorte
wiederholt auf den ersten Plätzen, neben den Cayman-Inseln oder Luxemburg.
Verdient haben wir uns diesen unrühmlichen Platz
auch mit der Intransparenz bei Unternehmensbeteiligungen. Zwar werden auch bei uns nur noch in Filmen
Koffer mit Geld gegen Aktien auf schlecht beleuchteten
Parkplätzen ausgetauscht. Ausgeschlossen ist es aber
nicht, dass Inhaberpapiere für Steuerhinterziehung und
Geldwäsche genutzt werden. Wer sich anonym an Unternehmen beteiligen kann, muss nicht fürchten, dass sich
Finanz- und Strafbehörden für die Herkunft und die Anlage des Geldes interessieren könnten.
In Zukunft sollen daher Namenspapiere die Regel und
Inhaberpapiere nur noch unter bestimmten Voraussetzungen zulässig sein. Damit erfüllt Deutschland endlich
auch eine Forderung der Arbeitsgruppe für finanzielle
Maßnahmen gegen Geldwäsche bei der OECD.
({1})
Ein Grund, sich im Kampf gegen Steuerhinterziehung
und Geldwäsche entspannt zurückzulehnen, ist diese Regelung allerdings noch nicht. Echte Transparenz wäre
erst hergestellt, wenn alle Anteilseigner unabhängig von
der Rechtsform in einem öffentlich einsehbaren Register
verzeichnet wären,
({2})
nicht anders also, als es jetzt schon für Einzelkaufleute
oder Gesellschafter einer GmbH, OGH oder KG im Handelsregister der Fall ist.
Warum können wir dem Gesetzentwurf dennoch nicht
zustimmen? In dem Entwurf findet sich keine Regelung
zu den Managergehältern. In der letzten Legislaturperiode scheiterte die Aktienrechtsnovelle am Widerstand der
SPD im Bundesrat wegen unzureichender Regelungen
zu Managergehältern. Vor einem Jahr schimpfte der Vizekanzler noch öffentlich über - ich zitiere - „obszöne“
Managergehälter und kündigte ein Eingreifen der Politik an. Von einem SPD-geführten Justizministerium, das
den Gesetzentwurf zu verantworten hat, wäre ein solches
Eingreifen mit tatkräftiger Unterstützung des Vizekanzlers zu erwarten gewesen, oder? Aber es findet sich kein
Wort zu diesem wichtigen Thema.
Glaubwürdige Politik, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, bedeutet, in der Regierung das umzusetzen, was zuvor als Opposition gefordert wurde.
({3})
Daran fehlt es hier erneut. Deshalb können wir uns heute
nur enthalten.
({4})
Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege
Dr. Stephan Harbarth das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Kollege
Pitterle, als ich Ihrer Rede lauschte, habe ich mich schon
auf ein Novum eingestellt. In der ersten Hälfte Ihrer Rede
haben Sie darauf hingewiesen, dass das, was hier vorliegt, gut gemacht ist,
({0})
dass man sich das in Ruhe überlegt hat, dass man im Einzelnen abgewogen hat und zu einem handwerklich und
inhaltlich richtig guten Gesetzentwurf gekommen sei.
Ich dachte schon, dass sich Ihre Rede auch als Blaupause
für Rednerinnen und Redner Ihrer Fraktion zu ganz anderen Themen eignen würde.
({1})
Sie haben zu meinem Bedauern doch noch die Kurve genommen und gemeint, das berühmte Haar in der Suppe
suchen zu müssen.
Unsere Wirtschaftspolitik ist von der Überzeugung
geprägt, dass es nicht die Aufgabe des Staates ist, in der
Wirtschaft mitzuspielen, sondern dass es Aufgabe des
Staates ist, gleichsam einem Schiedsrichter die Spielregeln zu setzen, nach denen das Wirtschaftsleben stattfindet. Die Setzung des Ordnungsrahmens ist die große
Bedeutung des Wirtschaftsrechts. Das, was wir heute
debattieren und beschließen werden, trägt genau diesen
Maßstäben Rechnung.
Es geht darum, dass der äußere Rahmen der Rechtsordnung fortentwickelt wird. Wir haben das vor wenigen
Wochen - Kollege Fechner hat es angesprochen - im Bereich des Aktienrechts bereits hinsichtlich des Delisting
getan, weil wir im Bereich des Delisting der Auffassung
waren, dass durch die veränderte Rechtsprechung des
Bundesgerichtshofs die Kleinaktionäre schutzlos gestellt
wurden und dass es Aufgabe des Gesetzgebers war, den
Kleinaktionären angemessenen Schutz zu gewähren. Die
Große Koalition hat gehandelt, und die Große Koalition
handelt hier im Bereich des Aktienrechts erneut.
Es geht in der Tat um punktuelle Fortentwicklungen.
Es geht nicht darum, das Aktienrecht insgesamt neu zu
schreiben. Aber eine Rechtsordnung punktuell fortzuentwickeln, ist nichts Illegitimes. Das ist dann das richtige
Vorgehen, wenn die Rechtsordnung im Übrigen gut funktioniert.
Ich möchte stichwortartig einige Bereiche nennen.
Wir erhöhen zum Beispiel die Rechtssicherheit bei den
Veröffentlichungen im Bundesanzeiger. Wir regeln, um
die Praktikabilität der Dividendenausschüttungen zu verbessern, dass künftig Dividendenzahlungen am dritten
Tag nach der Hauptversammlung fällig werden. Wir regeln, dass die Pflicht zur Führung eines Aktienregisters
auch bei fehlender Verbriefung der Anteile gilt. Wir klären Zweifelsfragen hinsichtlich der Vorbesitzzeit und der
Haltefrist. Das sind zugegebenermaßen technische Materien, aber es sind wichtige Materien. Immerhin haben wir
in Deutschland 16 000 Aktiengesellschaften mit Millionen Beschäftigten.
Ich möchte drei Punkte etwas stärker herausgreifen:
Der eine ist die Frage des sogenannten Record Date,
des maßgeblichen Nachweisstichtags vor der Hauptversammlung bezüglich des Aktienbesitzes. Der Regierungsentwurf sah noch vor, hier zu einer Harmonisierung
zwischen Namens- und Inhaberaktien zu kommen. Wir
haben das im parlamentarischen Verfahren auch auf Basis der Sachverständigenanhörung eingehend debattiert.
Wir sind zu dem Ergebnis gekommen, dass wir diese
gesetzliche Veränderung nicht vornehmen, sondern dass
wir den europäischen Gesetzgeber bitten, aktiv zu werden.
Wir bitten deshalb den europäischen Gesetzgeber, aktiv zu werden - auch das hat Kollege Fechner kurz skizziert -, weil wir in Europa, veranlasst durch eine Richtlinie aus dem Jahr 2007, im Augenblick 26 verschiedene
Rechtssysteme in 28 Mitgliedstaaten haben und weil wir
vermeiden wollten, dass für internationale Investoren viele Aktien deutscher Aktiengesellschaften liegen in den
Händen internationaler Investoren - ein höheres Maß an
Verwirrung geschaffen wird. Wir wünschen, dass der
Record Date europaweit vereinheitlicht wird und dass
dadurch die Ausübung der Aktienrechte in der Hauptversammlung im Sinne einer verbesserten Hauptversammlungspräsenz und damit auch im Interesse eines besseren
und erfolgreicheren Kapitalmarkts erleichtert wird.
({2})
Insofern werden wir heute über einen entsprechenden
Entschließungsantrag abstimmen, der sich nach Europa
richtet. Wir werden nacharbeiten, damit aus Europa die
entsprechenden Vorgaben kommen.
Lassen Sie mich einen zweiten Punkt ansprechen,
der uns wichtig ist: Das ist das Thema des Beschlussmängelrechts. Im Regierungsentwurf war vorgesehen,
dass die Nichtigkeitsklagen in bestimmten Fällen einer
sogenannten relativen Befristung unterstellt werden. Wir
haben diese Regelung deshalb aus dem Gesetzentwurf
herausgenommen, weil wir der Auffassung sind, dass es
im Beschlussmängelrecht nicht um punktuelle Fortentwicklung geht, sondern dass wir auf diesem Gebiet eher
noch einmal eine grundsätzliche, eine breiter angelegte
Diskussion führen müssen.
Wir haben es etwa mit der Situation zu tun, dass in Fällen, in denen ein Beschluss unter einem besonders schweren Mangel leidet, die Eintragung im Handelsregister nur
auf Klage eines Aktionärs verhindert werden kann, der
den anteiligen Betrag von mindestens 1 000 Euro hält.
Es erscheint durchaus zweifelhaft, ob es wirklich so sein
sollte, dass die Eintragung von Beschlüssen mit besonders schweren Mängeln nur von Aktionären mit einem
gewissen Beteiligungsbesitz verhindert werden kann.
Wir sehen auch, dass etwa die Eintragung eines Beschlusses, der unter einem ganz offensichtlichen Mangel leidet, der aber nicht besonders schwer ist, im Handelsregister zum Teil gar nicht verhindert werden kann.
Deshalb wollen wir jetzt - dementsprechend ist unsere
Bitte an das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz - eine breiter angelegte Reform des Beschlussmängelrechts anstoßen. Eine solche Reform lässt
sich nicht übers Knie brechen; sie braucht Vorarbeiten.
Wir denken, diese Vorarbeiten sollten rasch in die Wege
geleitet werden.
Wir haben im parlamentarischen Verfahren gerade
für die kleineren und mittleren Aktiengesellschaften, die
nicht mitbestimmt sind, eine weitere Erleichterung vorgesehen. Diese Gesellschaften benötigten bisher einen
Aufsichtsrat, bei dem die Zahl der Mitglieder durch drei
teilbar war. Eine sachliche Rechtfertigung dafür gibt es
nicht. Deshalb streichen wir dieses Erfordernis. Der Aufsichtsrat muss sich zwar aus mindestens drei Personen
zusammensetzen, wir überlassen es aber den Aktionären
selbst, ob sie einen Dreier-, Vierer- oder Fünfer-Aufsichtsrat haben möchten. Das ist unser Verständnis von
Wirtschaftspolitik. Wir geben einen Rahmen vor. Wir
sind aber überzeugt davon, dass die Unternehmer in aller Regel selbst am besten wissen, wie dieser Rahmen zu
füllen ist.
Dies alles vorausgeschickt, denke ich, dass wir das
Aktienrecht jetzt mit der Aktienrechtsnovelle in einer
sachgerechten Weise weiterentwickeln. Es gibt noch
einige weitere Aufgaben, die ungelöst bleiben. Deren
Bewältigung werden wir in Behutsamkeit vorantreiben.
Ich darf Sie um Zustimmung zu dem nun vorliegenden
Gesetzentwurf bitten.
Vielen Dank.
({3})
Das Wort hat die Kollegin Katja Keul für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Das Publikum ist etwas zu bedauern;
aber auch diese rechtstechnischen Themen müssen eben
manchmal sein.
({0})
Schon der erste Anlauf zur Novellierung des Aktienrechts vor fünf Jahren war nicht der große Wurf. Inzwischen ist aus dem ursprünglichen Referentenentwurf von
2010 die Aktienrechtsnovelle 2016 geworden. Und diese
ist nun wirklich ein schlankes Gesetz, um nicht zu sagen:
ein Gerippe. Der Entwurf besteht nur noch aus drei sehr
technischen Punkten:
Erstens sollen Aktiengesellschaften künftig Kernkapital auch durch Ausgabe stimmrechtsloser Vorzugsaktien
bilden können. - Okay.
Zweitens sollen bestimmte Schuldverschreibungen
künftig nicht nur von den Gläubigern, sondern auch von
der Schuldnerin, also der Aktiengesellschaft selbst, in
Aktien umgewandelt werden können. Das soll in Krisenzeiten helfen, eine Insolvenz zu vermeiden. - Auch okay.
Drittens sollen die Beteiligungsverhältnisse bei nicht
börsennotierten Aktiengesellschaften transparenter werden. Insbesondere bei Inhaberaktien dieser Gesellschaften gibt es keine hinreichende Transparenz hinsichtlich
der Gesellschafter. Das soll jetzt verbessert werden. - So
weit, so gut.
Und jetzt zu dem, was mal drinstehen sollte: Einen
einheitlichen Stichtag, zu dem der Eigentümer einer Namens- bzw. Inhaberaktie feststehen muss, um dann bei
der Aktionärsversammlung stimmberechtigt zu sein,
wird es nicht geben. Hierzu hat die Koalition einen Entschließungsantrag mit dem Ziel eingebracht, zu einem
europäisch einheitlichen Stichtag zu kommen. Und das
macht auch Sinn. - Also auch hier haben Sie unsere Zustimmung.
({1})
- Danke sehr.
Ein weiterer Punkt, der ursprünglich vorgesehen war,
nämlich eine Änderung des Beschlussmängelrechtes in
§ 249 Aktiengesetz, wurde ebenfalls im letzten Moment
zurückgenommen. Zur Verhinderung angeblich missbräuchlicher Nichtigkeitsklagen sollte eine Befristung
eingeführt werden. - Auch hier teile ich Ihre Bedenken.
Bevor man eine Kürzung der Klagebefugnis Einzelner
in Kauf nimmt, um einen Missbrauch von Klagerechten
zu verhindern, sollte man überlegen, ob es nicht andere
Wege gibt.
Nun aber zu den wirklich wichtigen Dingen des Lebens, die Sie leider ausgespart haben. Dabei geht es einmal um die Vorstandsvergütung. Hier besteht nach wie
vor dringender Handlungsbedarf.
({2})
Es soll zwar eigentlich schon jetzt darauf geachtet werden, dass die Vergütungsstaffelung beim Vorstand nicht
Maß und Bezug zu den Vergütungsgepflogenheiten im
Unternehmen verliert. Dennoch zahlen viele Unternehmen ihren Vorstandsmitgliedern das über 100-Fache des
durchschnittlichen Lohnes eines Facharbeiters. Deshalb
braucht es eine gesetzliche Verpflichtung zur Beachtung
dieses Verhältnisses und mehr Transparenz durch Veröffentlichungen im Jahresbericht.
({3})
Genau das beantragen wir mit unserem grünen Änderungsantrag.
Interessanterweise war es ja so, dass das Gesetz in
der letzten Legislaturperiode noch „Gesetz zur Verbesserung der Kontrolle der Vorstandsvergütung und zur Änderung weiterer aktienrechtlicher Vorschriften“ heißen
sollte. Jetzt heißt es nur noch „Entwurf eines Gesetzes
zur Änderung des Aktiengesetzes“. Es ist aber höchste
Zeit, Regelungen einzuführen, die den Aufsichtsrat dazu
verpflichten, auch überhöhte Vorstandsgehälter und maßlose Abfindungen zu begrenzen und diese auch stärker
am langfristigen Erfolg des Unternehmens auszurichten.
Das geht nur, wenn man die steuerliche Abzugsfähigkeit
beschränkt.
({4})
Denn letztlich werden Managergehälter und -abfindungen über die steuerliche Anrechenbarkeit von der Allgemeinheit - also von uns allen - mitfinanziert. Darum
beantragen wir mit unserem zweiten Änderungsantrag,
Gehaltszahlungen von mehr als 500 000 Euro jährlich
und Abfindungen von über 1 Million Euro zu nicht abziehbaren Betriebsausgaben zu machen.
({5})
- Ja. So eine begrenzte Abzugsfähigkeit gibt es auch bei
anderen Betriebsausgaben. Sie sind daher, wie manche
behaupten, keine Verletzung des Nettoprinzips.
Nutzen Sie die Gelegenheit, unseren Änderungsanträgen zuzustimmen und Ihr Gesetz zu vervollständigen!
Ein weiteres Problem, das Ihr Gesetz nicht löst, betrifft die Berichtspflicht von Aufsichtsratsmitgliedern bei
Gesellschaften mit staatlicher Beteiligung. Um was geht
es? Die Sitzungen des Aufsichtsrates sind nicht öffentlich, und es besteht eine Verschwiegenheitspflicht. Eine
Ausnahme gilt für Aufsichtsratsmitglieder, die auf Veranlassung einer Gebietskörperschaft, also einer Kommune, in den Aufsichtsrat gesandt werden, also bei Gesellschaften mit öffentlicher Beteiligung. Die Frage, die sich
bei diesen Aufsichtsräten stellt, ist die nach der Grenze
zwischen Berichtspflicht und Verschwiegenheitspflicht;
denn die öffentliche Hand, die sich an einem Unternehmen beteiligt, muss auch kontrollieren können, ob diesem öffentlichen Interesse Rechnung getragen wird.
Der vorliegende Gesetzentwurf stellt nun zwar
klar, wie die Berichtspflicht dieser Aufsichtsräte formell-rechtlich begründet werden kann, doch das eigentliche Problem, nämlich das Spannungsverhältnis zwischen
Berichtspflicht und Verschwiegenheitspflicht, wird nicht
gelöst. Hier warten wir jetzt mal wieder auf höchstrichterliche Rechtsprechung.
Fazit: Ihr Gesetz spart alle Antworten auf die wesentlichen Fragen aus und verdient nicht wirklich den Namen
„Novelle“.
({6})
Die technischen Details sind aus unserer Sicht zwar unproblematisch und sinnvoll, aber für die fehlende Begrenzung von Managervergütungen können wir Ihnen
nicht allen Ernstes noch unsere Zustimmung geben.
({7})
Sollten Sie also unseren Änderungsanträgen nicht zustimmen, werden Sie mit unserer Enthaltung leben müssen.
Vielen Dank.
({8})
Der Kollege Dr. Volker Ullrich hat für die CDU/
CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wir feiern in diesem Jahr „50 Jahre Aktiengesetz“. Das sollte in dieser Debatte auch Anlass sein, zu
formulieren, dass sich dieses Gesetz bewährt hat, nicht
allein wegen der mehreren Hundert börsennotierten Aktiengesellschaften, sondern auch vor dem Hintergrund von
insgesamt über 14 000 Aktiengesellschaften in Deutschland. Die Aktiengesellschaft ist eine Rechtsform des Mittelstands, und deswegen steht sie im Vordergrund unserer
Wirtschaftsrechtspolitik.
Man muss auch formulieren, dass die Aktiengesellschaft durch ihre Formstrenge, durch die Leitung durch
Aufsichtsrat und Vorstand einen deutlichen Vorteil gegenüber dem monistischen System in der anglo-amerikanischen Welt hat; sie hat sich damit bewährt. Deswegen
sagen wir mit Fug und Recht: Eine Aktienrechtsreform
muss nicht das ganze Haus auf den Kopf stellen. Es
handelt sich hier um ein Gesetz, das sich in der Praxis
bewährt hat. Deswegen sind punktuelle Reformen die
richtige Ansage.
({0})
Wir werden die Beteiligungsverhältnisse transparenter gestalten. Es wird zukünftig nicht mehr möglich sein,
dass eine nicht börsennotierte Aktiengesellschaft ohne
Weiteres Inhaberaktien ausgibt; die Namensaktie wird
zum Regelfall werden. Damit kommen wir auch einer
Empfehlung der OECD nach, die im Jahr 2010 gesagt
hat: Ihr seid nicht gut genug bei der Bekämpfung der
Geldwäsche. Ihr müsst etwas tun im Bereich der Selbstgeldwäsche. Aber auch bei den Beteiligungsverhältnissen
von Aktiengesellschaften ist noch viel Luft nach oben.
Wir haben hier vor einigen Wochen die Selbstgeldwäsche unter Strafe gestellt. Deswegen ist es konsequent,
dass wir heute auch sagen: Wir schaffen mehr Transparenz bei den Beteiligungsverhältnissen. Das ist ein
wertvoller Schritt zur Bekämpfung der Geldwäsche, und
damit stellen wir uns an die Spitze der Länder, die sagen: Wir setzen Vereinbarungen mit der OECD nahtlos
um. - Ich glaube, das sind wir auch dem Kampf gegen
Kriminalität und Geldwäsche schuldig.
({1})
Ich möchte noch mit einem Satz oder zwei Sätzen auf
die Frage von Vorstandsvergütungen eingehen. Ja, es gibt
in der Tat Exzesse bei den Vorstandsvergütungen. Es sind
in Deutschland Fälle augenscheinlich, bei denen sich Arbeitnehmer zu Recht fragen, weshalb Vorstandsmitglieder sehr hohe Summen bekommen, Summen, die möglicherweise wenig mit dem Unternehmenserfolg selbst zu
tun haben
({2})
und die vielleicht auch nicht mehr anständig sind; das ist
gar keine Frage. „Marktwirtschaft“ und „soziale Marktwirtschaft“ heißt, dass sich alles in einem angemessenen
Rahmen abspielen soll und dass die Balance zu wahren
ist.
Ich möchte aber daran erinnern, dass vor einigen Jahren schon der § 87 des Aktiengesetzes, der die Grundzüge der Vorstandsvergütung regelt, so reformiert worden
ist, dass die Aufsichtsräte bei der Festlegung der Vorstandsvergütung nicht nur eine nachhaltige Unternehmensentwicklung zu berücksichtigen haben; es verbietet
sich, auf kurzfristigen Erfolg zu setzen. Vielmehr sind
mehrjährige und langjährige Ziele zu berücksichtigen.
Deswegen sollte die Botschaft des Bundestages an die
Aufsichtsratsmitglieder sein: Berücksichtigen Sie das
geltende Recht! Dann werden Sie eine Vorstandsvergütung bekommen, die auch mit dem im Einklang steht,
was die Menschen erwarten.
Im Übrigen halte ich nichts davon, einem Aktionismus das Wort zu reden. Der Änderungsantrag der Grünen, der formuliert, die Vorstandsvergütung müsse in
einem gewissen Verhältnis zur Vergütung der oberen
Managementkreise und der Belegschaft stehen, schafft
neue Probleme. Was ist das obere Management? Welchen Durchschnittswert setzen Sie bei der Belegschaft
an? Deswegen ist es der wesentlich bessere Schritt, wenn
wir jetzt gemeinsam darauf drängen, dass in der europäischen Aktionärsrechte-Richtlinie hierzu klare Vorgaben
gemacht werden und europaweit verankert wird, dass die
Hauptversammlungen mehr Kompetenzen bekommen
bei der Beantwortung der Frage: Wie viel verdient das
Management? Ich glaube, das ist die klarere Position.
({3})
Insgesamt haben wir es mit einer sorgsamen und
punktuellen Verbesserung eines Gesetzes zu tun, das sich
bewährt hat. Deswegen darf ich Ihnen dieses Gesetz zur
Zustimmung empfehlen.
({4})
Das Wort hat der Kollege Metin Hakverdi für die
SPD-Fraktion.
({0})
Vielen Dank. - Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Gegenstand der heutigen Debatte ist die
Novelle des Aktienrechts. Mit der Novelle wollen wir
das geltende Aktienrecht in einigen Punkten weiterentwickeln; viele davon sind schon angesprochen worden.
Dazu gehört erstens die Flexibilisierung der Finanzierung von Aktiengesellschaften. Zweitens sollen die Beteiligungsverhältnisse bei nicht börsennotierten Aktiengesellschaften transparenter gemacht werden. Drittens
soll das Aktienrecht im Bereich der Aktionärsklagen weiterentwickelt werden, und natürlich müssen wir uns mit
der Stichtagsregelung für Namensaktien beschäftigen.
In der Debatte ist bereits zu vielen Punkten Stellung
genommen worden. Ich will mich deshalb auf zwei
Punkte konzentrieren: zum einen auf den Aspekt der
Transparenz bei den Beteiligungsverhältnissen nicht börsennotierter Aktiengesellschaften und zum anderen auf
die Stichtagsregelung bei Namensaktien.
Hinsichtlich der Transparenz bei den Beteiligungsverhältnissen nicht börsennotierter Aktiengesellschaften
gilt bisher: Eigentümer ausgegebener Inhaberaktien dieser AGs, bei denen sich die Anzahl der Aktien unterhalb
der Schwelle für Mitteilungspflichten gemäß den §§ 20
und 21 Aktiengesetz bewegt, müssen nicht mitgeteilt
werden. Personen, die Inhaberaktien unter dem Schwellenwert erwerben, müssen daher nicht bekannt sein.
Damit muss bei diesen Gesellschaften die Information
über den Gesellschafterbestand nicht vollständig sein.
Dieser Umstand macht diese Gesellschaften übrigens zu
besonders attraktiven Anlageobjekten für Menschen, die
gerne im Verborgenen arbeiten. Das bestätigen auch die
Erkenntnisse des Bundeskriminalamtes. Diesen zufolge
sind solche Aktiengesellschaften für kriminelle Handlungen im Bereich der Geldwäsche besonders anfällig. Die
Ermittlungstätigkeit ist in solchen Aktiengesellschaften
erschwert. Die Vorstände solcher Aktiengesellschaften
können sich heute auf den Standpunkt stellen, dass die
Aktionäre der Aktiengesellschaft gar nicht bekannt seien. Aus rechtlicher Sicht müssen die Vorstände dies auch
nicht wissen. Dieser Zustand hat Deutschland bereits im
Jahr 2010 eine Rüge der Financial Action Task Force on
Money Laundering eingebracht: Diesen Unternehmen
fehle die Transparenz bezüglich ihrer Gesellschafterstruktur. Es sei nicht gewährleistet, dass die zuständigen
Behörden rechtzeitig an aktuelle Informationen über die
Aktionäre einer solchen Gesellschaft kämen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist bemerkenswert, dass trotz der Rüge der Financial Action Task Force
on Money Laundering aus dem Jahr 2010 und der Hinweise des Bundeskriminalamtes diese Gesetzesnovelle
unter der schwarz-gelben Koalition in der letzten Wahlperiode liegen geblieben ist. Ich bin froh, dass wir diesem
Zustand mit diesem Gesetz heute ein Ende setzen. Wir
begrenzen die Möglichkeit, Inhaberaktien auszustellen.
Wir wollen keine intransparenten Eigentümerstrukturen.
({0})
Der zweite Aspekt, den ich ansprechen will, betrifft
die Stichtagsregelung, den sogenannten Record Date.
Der Record Date ist der Stichtag, an dem festgestellt
wird, wer Aktionär und damit in der Hauptversammlung
stimmberechtigt ist. Bisher gilt, dass jede Aktiengesellschaft den Record Date selber in ihrer Satzung festlegt.
Wir hatten uns vorgenommen, dies zu ändern. Wir wollten einen einheitlichen Stichtag für alle börsennotierten
Unternehmen mit Namensaktien. Das sollte der 21. Tag
vor der Hauptversammlung sein. Zwei Ziele hatten wir
damit verfolgt:
Erstens. Wir wollten eine Vereinfachung bei der Feststellung der Aktionärseigenschaft für Namensaktien.
Zweitens. Wir wollten damit mehr Beteiligung der
Kleinaktionäre auf den Hauptversammlungen erreichen.
Die Bestimmung von Unternehmensgeschicken darf
nicht allein die Angelegenheit von Großaktionären
und Hedgefonds sein. Wir müssen daran arbeiten, dass
Kleinaktionäre einen einfacheren Zugang zu den Hauptversammlungen haben. Die öffentliche Anhörung war
diesbezüglich aber leider ernüchternd. Welcher einheitliche Stichtag der richtige ist, konnten wir nicht klären.
Einige haben die Drei-Wochen-Frist favorisiert, andere wollten eine kürzere. Ferner wurde in der Anhörung
deutlich, dass eine Lösung auf EU-Ebene vorzugswürdiger sei. Daher sollte der Deutsche Bundestag eine europäische Lösung anstreben. Wir sollten die Europäische
Kommission auffordern, einen einheitlichen Record Date
für Aktiengesellschaften festzulegen. Das scheint mir
momentan der bessere Weg zu sein.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({1})
Für die CDU/CSU-Fraktion hat der Kollege Professor
Dr. Heribert Hirte das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe verbliebene Zuhörer!
({0})
Was lange währt, wird endlich gut. Es wurde schon ein
paarmal angesprochen: Hier geht es um die Wiedereinbringung eines Gesetzentwurfs, der als Aktienrechtsnovelle 2011 schon einmal dieses Haus erblickt hatte und
dann liegen geblieben ist. Er ist lange gereift; aber das,
was übrig geblieben ist, Frau Keul, ist kein „Gerippe“.
Das, was hier vorliegt, enthält eine ganze Reihe wichtiger und wesentlicher Änderungen des Aktienrechtes.
Diese wesentlichen Änderungen fokussieren zu einem
ganz erheblichen Teil auf Fragen der Verbesserung der
Eigenkapitalausstattung der deutschen Aktiengesellschaften. Dass es hiermit am Ende nicht ganz so eilig
war, wie es am Anfang schien, hängt damit zusammen,
dass die Finanz- und Bankenkrise überwunden wurde
und wir es mit vielen anderen Maßnahmen geschafft
haben, die damit verbundenen Probleme erst einmal in
den Griff zu bekommen.
Wir fügen jetzt in diesem Bereich ein weiteres Puzzleteil ein. Das ist ein weiterer wichtiger Schritt. Es geht um
die Verbesserung der Eigenkapitalausstattung der Unternehmen. Dabei muss man in Erinnerung rufen: Eigenkapital ist, was die Finanzierung von Unternehmen angeht,
der Puffer, der die Verluste auffängt, wenn es zu einer
Krise kommt. Deshalb ist es wichtig, dass wir hier zur
Stärkung des Eigenkapitals beitragen.
({1})
Wir tun das insbesondere bei Kreditinstituten, bei Banken, und zwar in zwei Bereichen.
Zum einen geht es - Kollege Fechner hat es eingangs schon angesprochen - um die Vorzugsaktien ohne
Stimmrecht. Solche Aktien kann man ausgeben. Jemand,
der ein bisschen mehr Dividende bekommen oder sie ein
bisschen schneller bekommen will als andere - wir stellen klar, dass beides möglich ist -, darf nicht abstimmen,
wenn die entsprechenden Vorzüge gezahlt wurden. Im
Augenblick ist es so: Um ein Aufheben des Stimmrechts
zu vermeiden, muss der Vorzug nachgezahlt werden.
Die Vorzugsaktien werden dann im Bankenaufsichtsrecht nicht als sogenanntes regulatorisches Eigenkapital
angesehen, wie es der Kollege Fechner eben zu Recht
bezeichnet hat. Das heißt, hier haben wir - nach unserer Vorstellung - Eigenkapitaltitel, die trotzdem nicht als
Bankeigenkapital angesehen werden. Wir ändern das und
sagen: Der Vorzug muss nicht mehr nachgezahlt werden.
Das ist ein wichtiger Schritt zur Stärkung der Bankenbilanzen.
({2})
Wir machen in diesem Zusammenhang einen zweiten Schritt, nämlich im Bereich der sogenannten Wandel- und Optionsanleihen. Was ist das? Unternehmen,
insbesondere Banken, können Anleihen ausgeben; das ist
Fremdkapital. Bisher ist es jedenfalls nach dem Gesetzestext so, dass es die Gläubiger in der Hand haben, zu
irgendeinem Zeitpunkt zu sagen: Wir switchen rüber, wir
wandeln um und werden dann zu Aktionären. - Aber im
Hinblick auf die Stärkung der Solvenz der Gesellschaften
wäre es wichtig, das dann zu machen, wenn die Banken
es brauchen. Deshalb drehen wir das Wahlrecht jetzt um:
Wir schaffen die Möglichkeit, dass auch die Gesellschaften, vor allen Dingen die Kreditinstitute, dafür sorgen
können, dass die Gläubiger dann, wenn es nötig ist, wenn
die Aufsichtsbehörden es erzwingen oder verlangen, auf
die Seite des Eigenkapitals geholt werden. Auch das ist
ein wichtiger Schritt zur Stärkung der Solvenz unserer
Banken.
({3})
Damit komme ich zu einigen kleineren Punkten. Einer
der Detailpunkte - Frau Keul hat es angesprochen - ist
die Frage, wie Aufsichtsratsmitglieder, die von öffentlich-rechtlichen Körperschaften entsandt sind, ihrerseits
Bericht erstatten können. Wir machen auch hier einen
wichtigen Schritt nach vorne, indem wir klarstellen,
wann sie solche Berichte weitergeben können und dürfen.
In einem Punkt bin ich völlig anderer Meinung als Sie:
Die Verschwiegenheitspflicht bleibt bestehen, und da bedarf es auch keiner Klarstellung; denn es ist selbstverständlich, dass Angelegenheiten des Aufsichtsrates anschließend nicht öffentlich in irgendeinem Gemeinderat
diskutiert werden können. Das stünde aktienrechtlichen
Prinzipien entgegen.
Ein letzter Punkt: Vorstandsvergütungen. Sie sagen,
wir hätten diesbezüglich noch einiges tun müssen. Wir
haben das in der letzten Legislaturperiode getan. Sie
haben dadurch, dass Sie den Vermittlungsausschuss angerufen haben, blockiert und damit verhindert, dass die
Änderung, die wir am Ende der letzten Legislaturperiode
vorgeschlagen haben, Gesetz werden konnte. Deshalb
können Sie jetzt guten Gewissens zustimmen. Ich hoffe
auch auf die Zustimmung aller anderen zu dem Gesetzentwurf.
Vielen Dank.
({4})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung
des Aktiengesetzes. Der Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/6681, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 18/4349 in
der Ausschussfassung anzunehmen.
Hierzu liegen zwei Änderungsanträge der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen vor, über die wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache 18/6690? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält
sich? - Der Änderungsantrag ist mit den Stimmen der
Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen abgelehnt.
Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache 18/6691? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält
sich? - Der Änderungsantrag ist mit den Stimmen der
CDU/CSU-Fraktion und der SPD-Fraktion gegen die
Stimmen der antragstellenden Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen und der Fraktion Die Linke abgelehnt.
Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der
Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der
Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Enthaltung der
Opposition angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen der CDU/CSU-Fraktion und
der SPD-Fraktion bei Enthaltung der Fraktion Die Linke
und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 18/6681 empfiehlt der Ausschuss, eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält
sich? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Agnieszka Brugger, Katja Keul, Katharina
Dröge, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Panzerlieferung nach Katar sofort stoppen
Drucksache 18/6647
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Agnieszka Brugger für die Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Waffenexporte seien ein „Geschäft mit dem Tod“. Es ist „eine
Schande“, dass Deutschland der drittgrößte Waffenlieferant dieser Welt ist. Das waren nicht etwa die Aussagen
der Opposition, sondern das waren die Worte des in der
Bundesregierung dafür zuständigen Ministers, des Wirtschaftsministers Sigmar Gabriel.
({0})
Herr Gabriel hat damit die Hoffnung geweckt, dass sich
in der Rüstungsexportpolitik endlich wirklich etwas ändern würde. Nach zwei Jahren muss man bei einer nüchternen Betrachtung seiner Bilanz sagen: Sigmar Gabriel
hat da versagt.
({1})
Es gibt eine Reihe von Beispielen, die zeigen, dass
eine große Lücke klafft zwischen den schönen, markigen
Ankündigungen und der hässlichen Realität. Nehmen wir
heute das Beispiel „Panzerlieferungen nach Katar“.
({2})
Kollegin Brugger, ich bitte Sie einen kleinen Moment
um Geduld. Frau Kollegin Haßelmann, Sie müssen den
Antrag zur Geschäftsordnung gar nicht stellen. Ich habe
vor, die Sitzung zu unterbrechen.
Zur Klarstellung für alle Kolleginnen und Kollegen:
Uns erreichte vor wenigen Minuten die Nachricht, dass
der Minister auf dem Weg aus dem Haushaltsausschuss
hierher ist. Deshalb habe ich im Vertrauen darauf, dass er
es schafft und ihm sich keiner in den Weg stellt, die Debatte eröffnet. Ich ging davon aus, dass der Minister nach
der Grußformel der Kollegin Brugger hereineilt. Das ist
ihm offensichtlich nicht gelungen. Ich bitte Sie, Kollegin
Brugger, um Entschuldigung dafür, dass das jetzt so ist,
wie es ist.
Ich unterbreche die Sitzung, bis der Herr Bundesminister hier im Saal ist,
({0})
und eröffne die Debatte dann neu.
({1})
Die unterbrochene Sitzung ist wieder eröffnet.
Es wird eine Umbesetzung in der Redeliste geben.
Das heißt, die SPD-Fraktion wird in dieser Debatte als
Redner den Herrn Parlamentarischen Staatssekretär
Beckmeyer benennen, er wird als Zweiter sprechen.
({0})
Es ist eine ungewöhnliche Praxis, dass das jetzt von hier
vorne verkündet wird, aber wir wollen jetzt nicht noch
mehr Zeitverzug durch eine Übermittlung all der technischen Daten.
({1})
Die Debatte ist eröffnet. Das Wort hat die Kollegin
Agnieszka Brugger.
({2})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Waffenexporte seien ein Geschäft mit dem Tod; es sei eine
Schande, dass Deutschland der drittgrößte Waffenlieferant der Welt ist.
({0})
Das ist keine Aussage, die aus einer Rede der Linken oder
der Grünen hier im Bundestag stammt, sondern das hat
der für Rüstungsexporte federführende Minister Sigmar
Gabriel nach Amtsantritt gesagt.
({1})
Er hat damit die Hoffnung geweckt, dass sich bei der
Rüstungsexportpolitik endlich wirklich etwas ändern
könnte und würde. Nach zwei Jahren muss man, wenn
man nüchtern seine Bilanz betrachtet, feststellen: Sigmar
Gabriel hat da eindeutig versagt.
({2})
Vizepräsidentin Petra Pau
Es gibt eine Reihe von Beispielen dafür, dass eine sehr
große Lücke klafft zwischen dem, was er schön und markig ankündigt, und dem, was die hässliche Realität ist.
Heute beschäftigen wir uns mit den Panzerlieferungen
nach Katar. Sigmar Gabriel hat 2014 bei seiner großen
Rüstungsexportrede vor der DGAP - das war, wohlgemerkt, vor dem Jemen-Krieg - gesagt, Panzerlieferungen
in den arabischen Raum seien nicht zu rechtfertigen. Nun
hätte er die Chance gehabt, seine Worte wahrzumachen
und diesen Panzerdeal zu stoppen, den Schwarz-Gelb
2013 auf den Weg gebracht hat. Das hat er aber nicht
gemacht. Da fragt man sich schon: Gilt sein Wort noch,
oder hat er seine Meinung geändert?
Meine Damen und Herren, statt die Genehmigung zu
versagen, kam es dann zu einem sehr ungewöhnlichen
Vorgang. Wir Abgeordnete haben aus der Süddeutschen
Zeitung erfahren, dass uns in den nächsten Tagen ein
Brief aus dem Wirtschaftsministerium zugeht. Ich überspitze das jetzt ein bisschen, aber sinngemäß stand da
drin, man hätte die Genehmigung zur Auslieferung versagen können, aber das Auswärtige Amt, geführt von
Herrn Steinmeier, und das Bundeskanzleramt seien dagegen gewesen, Sigmar Gabriel schon irgendwie dafür.
Dann wird in dem Brief noch darauf hingewiesen, dass
es in diesem Zusammenhang auch sehr hohe Schadensersatzforderungen gegeben hätte. Ich finde, so einfach
kann Herr Gabriel sich hier nicht aus der Verantwortung
stehlen.
({3})
Meine Damen und Herren, die deutschen Gesetze
sehen vor, dass die Exportgenehmigung für Kriegswaffen jederzeit widerrufen werden kann. Sie ist sogar zu
widerrufen, wenn die Gefahr besteht, dass diese Waffen
bei einer friedensstörenden Handlung, insbesondere einem Angriffskrieg verwendet werden. Da fragt man sich
schon - diese Frage würde ich gerne Herrn Gabriel stellen, aber auch den anderen Kolleginnen und Kollegen
aus dem Kabinett, die im Bundessicherheitsrat sind -:
Was kann denn mehr darunterfallen, als wenn ein Land
Teil einer von Saudi-Arabien geführten Kriegsallianz
wird, die den Jemen in die Steinzeit zurückbombt?
({4})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition,
was hat es mit Sicherheitspolitik zu tun, wenn Deutschland Panzer an einen Staat liefert, der für die grausame
Gewalt im Jemen mitverantwortlich ist und gerade angekündigt hat, mit noch mehr Bodentruppen hineingehen
zu wollen? Was hat es mit Sicherheitspolitik zu tun, einem Staat deutsche Waffen zu liefern, der billigend dabei
zuschaut, wenn einflussreiche Personen aus dem Land
heraus den ISIS-Terror finanziell unterstützen? Was hat
es mit Menschenrechtspolitik zu tun, wenn man mit Katar ein Land beliefert, das eine verheerende Menschenrechtsbilanz hat? Ich finde, das sind drei sehr gravierende
Gründe, dieses schmutzige Geschäft zu verhindern; denn
es ist sicherheitspolitisch wahnwitzig und verantwortungslos.
({5})
Der Stopp der Rüstungsexporte nach Russland im
letzten Jahr hat ja gezeigt, dass es möglich ist, wenn der
politische Wille dazu da ist. Aber offensichtlich hatte
die Bundesregierung nicht den politischen Willen dazu,
und offensichtlich konnte sich auch Vizekanzler Sigmar
Gabriel hier nicht durchsetzen.
Meine Damen und Herren, es ist schlimm genug, dass
der Panzerhersteller bei Rücknahme der Genehmigung
für diesen Waffendeal mit deutschem Steuergeld entschädigt werden müsste. Aber das ist immer noch besser, als
sich durch die Lieferung von deutschen Waffen an der
Aufrüstungsspirale und der Gewalt im Nahen und Mittleren Osten mitschuldig zu machen. Sigmar Gabriel sollte
vielleicht weniger Reden schwingen und weniger schöne
Worte machen, er sollte vielmehr in den zwei Jahren dafür sorgen, dass endlich Schluss ist mit einer Rüstungsexportpolitik, die Frieden, Sicherheit und Menschenrechte
immer wieder den Gewinninteressen einzelner deutscher
Waffenkonzerne opfert.
({6})
Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Uwe
Beckmeyer.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Kaum ein Thema bewegt die beunruhigten Bürgerinnen und Bürger zurzeit stärker als die Flucht von
Millionen von Menschen aus einigen Kriegs- und Krisenregionen. In dieser Situation ist es unverantwortlich,
mit falschen Behauptungen Stimmung zu machen. Dazu
gehört auch der Vorwurf an die Bundesregierung, sie trage mit Waffenlieferungen zur Verstärkung von Krisen
und zur Flucht von vielen Menschen bei.
({0})
Ich habe jetzt erst einmal die Uhr angehalten, Herr
Beckmeyer. Ihnen geht jetzt also keine wertvolle Redezeit verloren.
Selten ist ein Bundesminister mit so viel Freude und
durch ein so zahlreich herbeigeeiltes Auditorium fraktionsübergreifend begrüßt worden.
({0})
Herr Minister, bitte übernehmen Sie!
Sie bleiben jetzt bitte am Redepult, Kollege
Beckmeyer. Wir üben hier jetzt sicherlich ein ungewöhnliches Format, aber es ist ja nicht ausgeschlossen, dass
wir uns mit diesem Thema auch im Weiteren wieder im
Plenum beschäftigen. Ich appelliere an die natürlich sehr
wichtigen Mitglieder des Haushaltsausschusses, bei der
Neuauflage dieser Debatte Rücksicht auf die Interessen
des Plenums zu nehmen, dieses Thema hier entsprechend
zu behandeln
({0})
und es dem Herrn Bundesminister zu ermöglichen, hier
beim nächsten Mal darüber zu sprechen, wozu er natürlich das Recht hat.
({1})
Ich denke, es ist für alle ein großer Gewinn, wenn wir
jetzt dem Kollegen Beckmeyer nicht nur zu Ende lauschen, sondern wenn auch der Herr Bundesminister das
zur Vertiefung dieser Debatte und dieses Themas mitnimmt, was hier zu diesem Tagesordnungspunkt gesagt
wird.
({2})
Bitte.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir finden
es böswillig, den Eindruck zu erwecken, die Bundesregierung bewerte den Profit von Waffenherstellern höher
als die politische Stabilität in den Krisenregionen dieser
Welt.
({0})
Wir, diese Bundesregierung und ich - das will ich an
dieser Stelle auch sagen -, ärgern uns schon darüber, dass
aktuell immer noch Ausfuhrgenehmigungen von Vorgängerregierungen mitzutragen sind, die erst jetzt zur Abwicklung kommen. Das betrifft unter anderem auch die
Panzerlieferungen nach Katar.
Die Vorgängerregierung hat bereits im Jahr 2012
politisch über die Lieferung nach Katar entschieden
und im Jahr 2013 auch die Genehmigung nach dem
Kriegswaffenkontrollgesetz für die Ausfuhr von 62 Leopard-2-Kampfpanzern und 24 Panzerhaubitzen sowie
entsprechender Munition erteilt. Über diesen Fall wurde also von der Vorgängerregierung politisch, aber auch
rechtlich entschieden. Die aktuelle Bundesregierung soll
nun dafür in Misskredit gebracht werden, weil ihr der
Vollzug und die Berichterstattung darüber obliegen.
Der Bundesminister für Wirtschaft selbst, denke ich,
hätte die Genehmigung für die Lieferung nach Katar aktuell nicht erteilt. Er hat innerhalb der Bundesregierung
erneut eine Abstimmung zu diesem Fall angestoßen, um
zu klären, ob die Entscheidung der Vorgängerregierung
aufrechterhalten werden soll. Dabei wurden im Rahmen der maßgeblichen außen- und auch sicherheitspolitischen Bewertung die Gründe abgewogen, die für und
gegen einen Export der Waffen sprechen. Ebenso wurde
berücksichtigt, dass sich das exportierende Unternehmen
im Vertrauen auf die Genehmigung vertraglich gebunden
und auch entsprechende Investitionen für die Produktion
getätigt hat.
({1})
- Dann nehmen Sie ein Taschentuch.
({2})
Nach intensiver Erörterung ist die Bundesregierung zu
dem Ergebnis gekommen, dass die Lieferungen weiterhin außen- und auch sicherheitspolitisch zu rechtfertigen
sind.
({3})
Hier geht es nicht zuletzt auch um die Verlässlichkeit
Deutschlands im Hinblick auf einmal getroffene Entscheidungen, gerade wenn andere Nationen darin besonderes Vertrauen gesetzt haben.
({4})
Allerdings war für das Bundesministerium dabei entscheidend, dass wir eine Zusicherung der katarischen
Regierung erhalten, dass gelieferte Panzer nicht in den
aktuellen Krisenherden der Region, besonders im Jemen,
eingesetzt werden.
({5})
Diese Zusicherung haben wir auch erhalten.
({6})
Dieser Fall zeigt deutlich, wie die Genehmigungspraxis der alten Bundesregierung heute noch fortwirkt und
rechtliche Bindungen für die Zukunft erzeugt. Deshalb
hat sich der Bundesminister für Wirtschaft in seiner
Amtszeit immer dafür starkgemacht, dass die aktuelle
Bundesregierung eine restriktive Rüstungsexportpolitik
auch in der Praxis lebt.
({7})
Lassen Sie mich exemplarisch auf die Verabschiedung
der Kleinwaffengrundsätze und die geplante Einführung
von Post-Shipment-Kontrollen hinweisen, womit das
Bundesministerium für Wirtschaft ein Zeichen in diesem
Sinne gesetzt hat.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({8})
Das Wort hat der Kollege Jan van Aken für die Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr
Gabriel, die Rede war super vorgetragen, aber inhaltlich
echt schwach.
({0})
Sie haben sagen lassen, Sie hätten diese Genehmigung
für Panzerlieferungen nach Katar nicht erteilt. Ich sage
Ihnen: Sie haben sie aber erteilt, egal mit welcher Entschuldigung Sie uns jetzt hier plattreden wollen.
({1})
Es bleibt dabei: Sie haben eine Panzerlieferung nach Katar genehmigt.
({2})
Das ist genau der gleiche Sigmar Gabriel, der noch vor
einem Jahr wörtlich hier in Berlin vor der gesamten
Hauptstadtpresse gesagt hat, dass sich die Lieferung von
Leopard-Panzern in den arabischen Raum - ich zitiere - „nicht rechtfertigen ließe“. Da haben Sie recht, Herr
Gabriel.
({3})
Diese Lieferung ist durch nichts, aber auch gar nichts zu
rechtfertigen. Sie war vor einem Jahr schon falsch, und
Sie wissen, dass sie heute noch viel falscher ist; denn
Katar ist das Land, das jetzt auch mit deutschen Waffen
den Jemen zurück in die Steinzeit bomben will, das im
Jemen jetzt möglicherweise auch mit deutschen Waffen
die Menschen, die Zivilisten angreift, vernichtet, vertreibt und verletzt. Das haben Sie mit zu verantworten,
wenn Sie das jetzt genehmigen. Deutlicher kann man
doch gar nicht zeigen, dass, wenn ein Minister sagt, er
finde es falsch, und es trotzdem genehmigt, das gesamte
System der Waffenexportkontrolle in Deutschland überhaupt nicht funktioniert. Sonst hätten Sie es jetzt nicht
genehmigt.
({4})
Ihr zentrales Argument ist: Ich habe es gar nicht genehmigt, es war die Vorgängerregierung, und es hätte
sonst Schadensersatz gezahlt werden müssen. Das ist
der entscheidende Punkt. Es geht hier um Geld und nur
um Geld. Ihr Argument ist: Es gibt für jeden Export von
Kriegswaffen zwei Genehmigungen. Die eine hat die
Vorgängerregierung - noch mit der FDP - erteilt; das ist
richtig. Aber die zweite Genehmigung haben Sie jetzt erteilt. Und Ihre lauwarme Entschuldigung ist: Wenn ich
sie nicht erteilt hätte, hätte es eine Schadensersatzforderung der Firma gegeben. - Dazu möchte ich Ihnen jetzt
zwei Dinge sagen:
Erstens. Na und? Herr Gabriel, wo ist das Problem?
Wenn es eine Schadensersatzforderung der Panzerbauer
gibt, dann sollen die Panzerbauer doch klagen.
({5})
Und wenn am Ende wirklich Schadensersatz gezahlt
werden muss, dann ist es eben so. Denn eines ist doch
klar: Irgendwer wird hier verlieren. Entweder verlieren
wir eine Stange Geld, oder die Menschen im Jemen verlieren ihr Leben. Und ich fasse es nicht, dass Sie sich
für das Geld entschieden haben. Das, Herr Gabriel, ist
unmoralisch!
({6})
Zweitens. Was ist das für ein System, in dem Sie eine
Waffenexportgenehmigung, die ja noch nicht einmal abschließend war - vielmehr war ja nur der erste Teil genehmigt -, nicht mehr widerrufen können? Das ist doch
ein schlechter Witz. Die Panzerfirma hat sich ihre Kunden selbst ausgesucht. Es ist doch die Schuld der Panzerfirma, sich eine Diktatur als Kunden auszusuchen. Wenn
dann der Diktator einen Krieg anfängt, dann muss es
doch möglich sein, dass eine deutsche Bundesregierung
eine Genehmigung zurückzieht.
({7})
Wenn es heute tatsächlich so ist - ich weiß es nicht;
ich bin Biologe, kein Anwalt -, dass eine deutsche Bundesregierung in diesem Fall Schadensersatz zahlen müsste, dann ändern Sie die Kriegswaffenexportgesetze.
({8})
Es kann doch nicht wahr sein, dass es ein Recht darauf
gibt, Waffen in einen Krieg zu liefern, dass man eine
Entscheidung nicht rückgängig machen kann, auch wenn
sich Jahre später die politische Situation ändert. Die Bundesregierung muss immer das Recht und die Möglichkeit
haben, eine Waffenexportgenehmigung zu widerrufen:
zu jedem Zeitpunkt - Punkt, aus, Ende - und ohne jede
Zahlung.
({9})
Im Übrigen bin ich der Meinung - das wissen Sie
mittlerweile -, dass Deutschland überhaupt keine Waffen
exportieren sollte. Aber eines ist an diesem Fall völlig
klar geworden: dass Ihr System der Waffenexportkontrolle nicht funktioniert. Sie müssen endlich einsehen, so
wie das mittlerweile auch die Grünen erkannt haben,
({10})
dass dieses Exportkontrollsystem der rot-grünen Koalition so nicht funktioniert. Wenn Sie die Zahl der Waffenexporte wirklich reduzieren wollen - ich glaube, Sie
wollen das -, dann müssen Sie punktuelle Exportverbote
erlassen. Daran führt kein Weg vorbei.
Danke.
({11})
Sigmar Gabriel hat für eine Kurzintervention das
Wort.
Frau Präsidentin! Herr Kollege van Aken, ich will nur
die Behauptung zurückweisen, dass diese Entscheidung
etwas mit Schadensersatzklagen zu tun hatte.
({0})
Richtig ist, dass es eine nach dem Kriegswaffenkontrollgesetz geltende Ausfuhrgenehmigung gibt, die von der
alten Bundesregierung erteilt wurde. Diese Genehmigung gilt fort.
({1})
- Nein, diese kann man eben nicht einfach zurückziehen.
Dazu müssen Sie erst einen Beschluss fassen, den wir
nicht gefasst haben.
({2})
Zurzeit hat überwiegend Sigmar Gabriel das Wort.
({0})
Danach hat der Kollege Jan van Aken die Möglichkeit,
auf diese Kurzintervention zu reagieren. Dann geht es in
der Debatte weiter. Ich bitte, das so zu respektieren.
Also, die gesamte Argumentation, Herr van Aken, es
stehe die Androhung einer Schadensersatzklage ins Haus
und deswegen hätten wir nicht entschieden, ist sachlich
falsch.
Wir haben entschieden, weil wir eine rechtliche Beurteilung vorgenommen haben, nämlich dass die Genehmigung nach dem Kriegswaffenkontrollgesetz nachwirkt
und dass wir deshalb die AWG-Genehmigung zu erteilen
hatten. Dies haben wir im Bundessicherheitsrat besprochen.
Ich weise ausdrücklich zurück, dass dabei Geldfragen eine Rolle gespielt haben. Die Möglichkeit, eine
Entscheidung nach dem KWKG zurückzunehmen, ist
durchaus vorgesehen. Wir handeln auch nicht auf der
Grundlage von rot-grünen Erlassen oder Verordnungen,
sondern es gibt zwei Gesetze, nach denen wir handeln.
Diese Möglichkeit hätte sich dann ergeben, wenn sich
zwischen dem Genehmigungszeitpunkt, also 2013, und
heute die Lage grundsätzlich geändert hätte.
({0})
Das hat sie trotz der Situation im Jemen nicht, weil Ihre
Behauptungen über die Aktivitäten Katars im Jemen nicht
der Realität entsprechen. Wir haben das geprüft. Hätte es
hier eine Möglichkeit gegeben, dann hätten wir versucht,
diese KWKG-Genehmigung rückgängig zu machen.
Sie mögen eine andere rechtliche Beurteilung haben;
das steht Ihnen frei. Aber dann müssen wir uns über
rechtliche Beurteilungen unterhalten. Die Unterstellung,
die Bundesregierung oder wir hätten aus finanziellen Erwägungen die Genehmigung nicht rückgängig gemacht,
ist sachlich falsch.
({1})
Zur Erwiderung hat der Kollege Jan van Aken das
Wort.
Tja, Herr Gabriel, was soll ich jetzt glauben? Ich höre
Ihnen zu und bin sogar versucht, Ihnen zu glauben. Ich
habe hier in der Hand aber einen Brief, den Ihr Staatssekretär, Herr Machnig, uns allen am 22. Oktober 2015
geschrieben hat.
({0})
Da steht auf Seite 2, zweiter Absatz - ich zitiere -:
Im Rahmen dieses Prozesses waren allerdings einige Ressorts trotz der veränderten politischen Rahmenbedingungen nicht bereit, vor allem aus rechtlichen Gründen und
- hören Sie zu den damit verbundenen Schadenersatzansprüchen,
die KWKG-Genehmigung zu widerrufen.
Wenn jetzt Herr Gabriel hier behauptet, das hat mit
Geld nichts zu tun, dann lügt entweder er jetzt, oder Herr
Machnig hat mich vor zwei Wochen angelogen. Entscheiden Sie sich!
({1})
Es gab in Ihrem Beitrag gerade auch einen zweiten
sachlichen Fehler. Denn - Sie haben völlig recht - es gibt
zwei Genehmigungen. Das eine ist die Genehmigung
nach dem Kriegswaffenkontrollgesetz. Sie war erteilt.
Mit einer KWKG-Genehmigung alleine darf niemand
eine Kriegswaffe ausführen. Das reicht nicht für eine
Ausfuhr, Herr Gabriel. Man braucht immer noch eine
zweite Genehmigung. Das ist die Genehmigung nach
dem Außenwirtschaftsgesetz. Diese Genehmigung lag
nicht vor. Das heißt, wenn Sie keine KWKG-Genehmigung erteilt hätten, hätte die Panzerfirma gar nichts
machen können. Insofern hätte auch nichts widerrufen
werden müssen. Sie hätten einfach gar nichts zu tun brauchen, aber dazu waren Sie nicht in der Lage, weil es auch
um Schadensersatzansprüche ging. Damit haben Sie eine
ganz schwache Leistung hingelegt, Herr Gabriel.
({2})
Wir machen anders weiter als bisher geplant, aber ganz
streng nach unserer Geschäftsordnung und nach Recht
und Gesetz. Nach unserer Geschäftsordnung haben Mitglieder der Bundesregierung jederzeit die Möglichkeit
und das Recht, sich zu Wort zu melden.
({0})
- Moment, ich bin noch nicht fertig. Ich will nur für alle
Beteiligten ganz klar erklären, was jetzt hier geschieht.
Das liegt nicht im Ermessen, sondern ist ganz klar geregelt. Danach wird es nicht nur für den noch vorgesehenen Redner der CDU/CSU-Fraktion, sondern für alle
Fraktionen die Möglichkeit geben, sich auch dazu entsprechend zu verhalten. Wir werden dann mit den Parlamentarischen Geschäftsführern klären, wie die zweite
Runde abläuft.
Das Wort hat der Bundesminister Sigmar Gabriel.
Herr Kollege van Aken, ich werde jetzt notfalls von
dem Recht, aber ich glaube, auch der Pflicht der Bundesregierung Gebrauch machen, jeweils dann zu intervenieren und mich in dieser Debatte zu Wort zu melden, wenn
Sie aus meiner Sicht die Tatsachen verdrehen.
Sie haben den Brief korrekt vorgelesen. Darin steht:
Die Bundesregierung war der Überzeugung, dass es
rechtswidrig gewesen wäre, die KWKG-Genehmigung
zu widerrufen. Es ging um Schadensersatzforderungen
wegen eines rechtswidrigen Verhaltens. Das ist etwas
völlig anderes, als zu sagen: Ihr habt Angst vor Schadensersatzansprüchen gehabt; deswegen habt ihr das
nicht gemacht.
Eine Regierung wird doch wohl noch über die Frage reden müssen, Herr van Aken, ob sich eine Entscheidung rechtmäßig vollziehen lässt oder nicht. Wenn man
als Regierungsmitglied oder als Bundesregierung weiß,
dass man eine rechtswidrige Entscheidung trifft und daraus ein Schadensersatzanspruch erwächst, dann allerdings verstößt man gegen seinen Amtseid. Denn man
soll Schaden vom deutschen Volk abwenden. Das ist der
Hintergrund.
({0})
Sie unterstellen eine moralische Illegitimität des Verfahrens wegen einer Angst vor Schadensersatzforderungen. Ich wiederhole - Sie mögen eine andere Auffassung
haben -: Wir waren an die alte KWKG-Genehmigung
gebunden.
Übrigens ist auch Ihre Darstellung falsch, eine
AWG-Genehmigung könne sozusagen völlig frei entzogen werden. Wir hätten vielmehr die KWKG-Genehmigung zurückziehen müssen, um die AWG-Genehmigung
neu verweigern zu können. Dazu sahen wir uns rechtlich
nicht in der Lage.
({1})
Deswegen haben wir das so gemacht. Ich finde, das muss
man sauber erklären und darf nicht den Eindruck erwecken, wir würden sozusagen aus Angst vor der Rüstungsindustrie den Schwanz einziehen. Darum ging es nicht,
({2})
sondern es ging darum: Im Kern hat die alte Regierung
eine Entscheidung getroffen, die aus meiner Sicht falsch
war. Aber so ist das nun einmal: Man ist dann rechtlich
gebunden.
Übrigens bin ich auch in der Lage, noch ein paar andere Entscheidungen früherer Regierungen zum Beispiel
zum Thema Kleinwaffen zu erläutern, bei denen wir
bis heute versuchen, uns zu weigern, sie zu vollziehen.
Daran waren Sie nicht beteiligt, aber der Antragsteller
beispielsweise bei einer Viertelmillion G36 nach Saudi-Arabien. Auch da versuchen wir, das zu verhindern,
was Vorgängerregierungen - im Jahr 2003 leider auch
mit Beteiligung meiner Partei - auf den Weg gebracht
haben. Aber rechtlich sauber muss sich jede Regierung
verhalten, ob es einem politisch passt oder nicht.
({3})
Damit für alle durchsichtig ist, wie wir weiter verfahren: Ganz planmäßig hat jetzt gleich der Kollege
Klaus-Peter Willsch für die CDU/CSU-Fraktion das
Wort. Danach werden die anderen Fraktionen die Möglichkeit haben, auf den Minister zu reagieren, und zwar
mit jeweils maximal vier Minuten Redezeit.
Das Wort hat der Kollege Klaus-Peter Willsch für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Danke, Frau Präsidentin. - Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kollegen! Ich freue mich, dass
der Minister das noch einmal klarstellen konnte. Damit
sind diesbezüglich alle Punkte aus der Welt.
({0})
Ich will vor allen Dingen für die Zuschauer, die uns
hier und vor dem Fernseher zuhören, deutlich machen,
dass die Welt eben nicht nur schwarz-weiß ist und dass es
entgegen dem Eindruck, den Sie von den Grünen und der
Linken zu erwecken versuchen, keinesfalls so einfach ist,
als ob man mit Plastikeimerchen oder Speisekartoffeln
handelte. Vielmehr ist alles bei uns hochgradig reguliert.
Rüstungsexportpolitik ist bei uns rechtlich einwandfrei
geregelt.
Wie ist das geregelt? Dem Ganzen liegen die Politischen Grundsätze der Bundesregierung für den Export
von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern in der
aktuellen Fassung vom 19. Januar 2000 zugrunde. Kanzler war zu diesem Zeitpunkt Gerhard Schröder; der Außenminister war Joseph Fischer. Jede Rüstungsexportgenehmigung ist eine Einzelfallentscheidung. Gemäß
Außenwirtschaftsgesetz und Außenwirtschaftsverordnung ist die Ausfuhr aller Rüstungsgüter genehmigungspflichtig. Rüstungsexporte werden grundsätzlich nicht
genehmigt, wenn der hinreichende Verdacht besteht,
dass mit den Rüstungsgütern interne Repressionen oder
sonstige Menschenrechtsverletzungen verübt werden;
das zeigt auch der Prozess, der gerade geschildert wurde.
Die Prüfung und die Genehmigung der Ausfuhr von
Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern obliegen
dem Bundessicherheitsrat, der geheim tagt. Den Vorsitz
hat die Bundeskanzlerin inne. Weiterhin gehören dem
Sicherheitsrat der Vizekanzler, die Minister der Verteidigung, des Auswärtigen, des Innern, der Justiz, der Finanzen, für Wirtschaft und Energie, für wirtschaftliche
Zusammenarbeit und Entwicklung sowie der Chef des
Bundeskanzleramts an. Der Regierungssprecher und der
Generalinspekteur der Bundeswehr nehmen ebenfalls an
den Sitzungen dieses Rates teil. Weitere Mitglieder der
Bundesregierung oder andere Personen können hinzugezogen werden. Das alles zeigt - genauso wie dieser
erneute Abwägungsprozess -, dass der Sachverhalt von
allen Seiten beleuchtet und nicht nur eindimensional betrachtet wird. Vielmehr wird die Angelegenheit als Ganzes in ihrer sicherheitspolitischen, außenpolitischen und
technologiepolitischen Dimension beleuchtet. Daraufhin
wird eine verantwortliche Entscheidung gefällt.
Die Ausfuhrgenehmigung ist kein formeller Akt. Es
besteht kein Anspruch auf Erteilung einer Ausfuhrgenehmigung bei Kriegswaffen. Vielmehr sind zahlreiche
Gesetze und Vereinbarungen zu beachten; diese wurden
schon genannt. Es handelt sich dabei im Einzelnen um
das Gesetz über die Kontrolle von Kriegswaffen, das
Außenwirtschaftsgesetz über Exporte von Kriegswaffen und sonstige Wirtschaftsgüter, den Verhaltenskodex
der Europäischen Union für Waffenausfuhren und die
Prinzipien zur Regelung des Transfers konventioneller
Waffen der OSZE. Gerade der Export an Nicht-EU- und
Nicht-NATO-Staaten wird, wenn sie nicht zu den befreundeten Staaten gehören, äußerst restriktiv gehandhabt. Eine Genehmigung wird nur in Ausnahmefällen
erteilt. Im Rahmen dieser restriktiven Genehmigungspraxis für Drittländer können legitime Sicherheitsinteressen
solcher Länder im Einzelfall für die Genehmigung einer
Ausfuhr sprechen. Ich erinnere an die Diskussion, die wir
über die Küstensicherung geführt haben. Es ist das legitime Recht eines jeden Staates, seine Küste zu sichern und
damit einen Beitrag gegen Piraterie zu leisten, um einmal
ein sehr fassbares Beispiel zu nennen. Weitere Beispiele
sind die Bekämpfung des internationalen Drogenhandels, die Abwehr von Terrorismus sowie das Interesse der
Staatengemeinschaft an der Freihaltung von Seewegen.
Zum konkreten Fall: Im März 2013 - das wurde schon
angesprochen - hat die Bundesregierung unter Beachtung der erwähnten Grundsätze eine Ausfuhrgenehmigung für 62 Leopard-2-Panzer und 24 Panzerhaubitzen
nach Katar erteilt, Auftragswert 2 Milliarden Euro. Die
erste Tranche wurde jüngst ausgeliefert.
Rüstungsexporte sind dabei kein Mittel der Wirtschaftspolitik, sondern eher ein außenpolitisches Instrument. Vermeintliche Schadensersatzansprüche - das
hat der Minister deutlich gemacht - treten hier gegenüber den sicherheitspolitischen Erwägungen zurück. Das
zeigt doch der Fall Russland. Die Auslieferung des Gefechtsübungszentrums für Russland ist gestoppt worden,
unbeschadet der Möglichkeit von Schadensersatzforderungen, weil die erneute Beurteilung der sicherheitspolitischen Lage dazu Anlass gegeben hat.
Die erneute Überprüfung, die seitens des Wirtschaftsministeriums angestoßen wurde, führte dazu, dass im
Ergebnis die Genehmigung erteilt wird. Es handelt sich
bei Katar natürlich nicht um eine Demokratie rechtsstaatlicher Prägung; das wissen wir nun alle. Aber es handelt
sich nicht um einen Schurkenstaat. Die deutsch-katarischen Beziehungen auf politischer, wirtschaftlicher und
kultureller Ebene sind traditionell gut. Es gab hochrangige Staatsbesuche in beide Richtungen in den zurückliegenden Jahren. Die Bundeskanzlerin war in Katar, umgekehrt sind wir hier vom Emir im April 2013 besucht
worden. Zuletzt besuchte der katarische Außenminister
Khalid bin Mohammed Al-Attiyah im August 2013 und
im März 2014 Berlin. Bundeswirtschaftsminister Gabriel
war im März dieses Jahres zu Besuch in Katar. Erst im
September war das katarische Staatsoberhaupt Emir
Scheich Tamim in Deutschland und führte Gespräche mit
dem Bundespräsidenten und der Bundeskanzlerin.
Auf der Homepage des Auswärtigen Amtes - das ist
Teil dieser Gesamtabwägung, die hier vorgenommen
worden ist - heißt es nicht umsonst:
Aufgrund seiner engagierten Außenpolitik ist Katar auch in vielen regionalpolitischen Fragen für
Deutschland ein wichtiger Partner.
({1})
So ist Katar Teil der internationalen Koalition gegen den
IS. Wir beobachten natürlich mit Sorge die Entwicklungen auf der arabischen Halbinsel. Wir müssen sehen,
dass al-Qaida dort einen ihrer Hauptschwerpunkte etabliert hat und sich der IS ebenfalls zu etablieren beginnt.
Die Spuren der Attentäter auf die Redaktion von Charlie
Hebdo führen bezeichnenderweise in den Jemen.
Katar ist Teil einer Koalition von arabischen Staaten
und Golfmonarchien, die sich militärisch an dem Konflikt im Jemen beteiligen; auch unsere NATO-Partner
USA, Frankreich und Großbritannien unterstützen den
Golfkooperationsrat. Katar hat - das ist eben dargestellt
worden - nicht aktiv an den Kampfhandlungen teilgenommen. Es beschränkt sich auf Grenzsicherung, logistische Dienstleistungen und Ähnliches. Es liefert keine
Kampfausrüstung ins Krisengebiet. In Bezug auf den
Leopard 2 ist ausdrücklich erklärt worden, dass es weder
beabsichtigt noch militärisch sinnvoll oder gar technisch
möglich wäre, diese Panzer jetzt im Jemen einzusetzen.
Diese Erklärung ist abgegeben worden.
Ich weiß nicht, wie sich der eine oder andere einen
Panzer vorstellt. Ich selbst bin Kommandant des Flakpanzers Gepard gewesen. Das ist kein Roller, auf den
man sich einfach setzen und mit dem man dann losfahren
kann. Das ist ein Hochtechnologieprodukt, wozu man etwas mehr braucht. Es ist aus meiner Sicht völlig legitim,
dass Katar eine Armee, ein Heer nach unserem westlichen Vorbild aufbauen möchte, um das eigene Territorium zu verteidigen.
({2})
Wir haben Katar sogar empfohlen, eine geordnete Streitmacht und keine Milizverbände aufzubauen. Es gab
mehrfach Konsultationen zwischen dem Verteidigungsministerium und den Kataris in den vergangenen Jahren
dazu.
Wir können feststellen, dass unsere Rüstungsprodukte
für den Aufbau eines solchen Heeres gesucht sind. Wir
waren nicht die Einzigen, die sich beworben haben. Wir
wissen natürlich auch, dass wir mit Katar weiter reichende Beziehungen haben: Die Kataris sind Investoren in
wichtigen Industrieunternehmen. Sie sind dort gern gesehen. Es ist schon ein bisschen bigott, auf der einen Seite
die Investitionen für richtig zu halten, auf der anderen
Seite aber andere Entscheidungen nahezulegen.
Im Jahr 2022 wird in Katar die Fußballweltmeisterschaft ausgerichtet. Ich glaube, dass wir, wenn wir in der
Welt mit einer sinnvollen Außenpolitik unterwegs sein
wollen, nicht mit all unseren Vorstellungen, wie Rechtsstaat und Demokratie aussehen sollten, in allen Ländern
dieser Welt erfolgreich sein können.
({3})
Katar bekommt die Panzer auf den Hof gestellt. Wir wahren unseren Einfluss, weil die logistische Kette natürlich
weiterhin zu uns reicht. Munition für die Panzer gibt es
in Katar nicht. Wir haben insofern durch die Zusammenarbeit in dieser Frage der Ausrüstung die Möglichkeit,
weiter in dieser Region einen stabilisierenden Einfluss
auszuüben. Wir sind auch nicht alleine: Großbritannien, Frankreich, Italien, Holland, Österreich, Schweden,
Finnland und Griechenland sind beteiligt. Die Ausbildung der Panzerfahrer wird in Griechenland stattfinden.
Sie alle wissen, dass wir als Deutsche unsere Rüstungsexportpolitik immer mit großer Selbstbeschränkung ausgeübt haben. Im Vergleich zu anderen Staaten wie den
USA, Russland, Frankreich oder Großbritannien gibt es
bei uns keine institutionalisierte staatliche Rüstungsexportagentur. Wir betreiben kein aktives Marketing.
({4})
Wir wissen, dass sich unsere Produkte gegen die Konkurrenzprodukte durchgesetzt haben. Das ist auch ein
Punkt, weshalb man auf unsere Spitzentechnologie stolz
sein kann.
Die Franzosen liefern - der Vertrag ist in Anwesenheit
des französischen Präsidenten unterschrieben worden 24 Rafale-Kampfflugzeuge. Unsere britischen Verbündeten haben eine enge militärische Zusammenarbeit. Die
USA, unser wichtigster NATO-Verbündeter, unterhalten
in Katar einen ihrer weltweit größten Luftwaffenstützpunkte.
Insofern müssen wir Entscheidungen in ihrer Mehrdimensionalität sehen. Dazu ist das Instrumentarium, das
wir eingerichtet haben - mit dem Bundessicherheitsrat,
mit der Einbindung der verschiedenen Ressorts -, der
richtige Weg. Insofern halte ich für unsere Fraktion noch
einmal fest, dass dieses Projekt vertretbar ist, dass es
richtig ist, auch vor dem Hintergrund unserer Überlegungen, wo wir zukünftig unsere Schwerpunkte in den Technologiefeldern, was Verteidigung anbelangt, setzen wollen. Dazu gehören ausdrücklich gepanzerte Plattformen.
Mit den paar Panzern, die wir in Deutschland abnehmen,
kann man natürlich keine Innovation erzielen.
Herr Kollege.
Wir sind geradezu auf den Export angewiesen, wenn
wir unseren eigenen Soldaten, die wir in den Einsatz
schicken, das richtige Material und modernes Gerät geben wollen.
Ich sehe, dass die Präsidentin nachhaltig klingelt, um
mich zum Ende zu ermahnen. Dem will ich nachkommen.
Vielen Dank für die Geduld. Ich bedanke mich für die
Aufmerksamkeit.
({0})
Das Wort hat die Kollegin Katja Keul für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Sehr geehrter Herr Außenminister Gabriel!
({0})
- Da sehen Sie einmal, wie es mit der Zuständigkeit ist.
Wir Grüne fordern, die Zuständigkeit für die Rüstungsexporte an das Auswärtige Amt zu übertragen. Das war
wohl ein Freud‘scher Lapsus.
({1})
Nichtsdestotrotz freue ich mich, dass wir hier die
Gelegenheit haben, noch einmal ein paar Dinge klarzustellen. Jeder Kriegswaffenexport muss drei Hürden
nehmen; das sind: der Vorbescheid - das läuft im Bundessicherheitsrat -, die Genehmigung nach dem Kriegswaffenkontrollgesetz und die Genehmigung nach dem
Außenwirtschaftsgesetz. In diesem Fall war es so, dass
im Juli 2012 der Bundessicherheitsrat sich damit befasst hat und einen Vorbescheid erteilt hat. Das alles
läuft geheim; darüber erfahren wir nichts. Dann waren
die Kataris im März/April 2013 bereit, den Kaufvertrag
zu unterschreiben. Das Unternehmen meldet sich beim
Wirtschaftsministerium und sagt: Jetzt gilt es. Es muss
ganz schnell gehen. - Innerhalb von zwei Wochen wird
die Genehmigung nach dem Kriegswaffenkontrollgesetz
erteilt. Das war im Mai 2013, und der Kaufvertrag wird
unterschrieben. Das ist der entscheidende Punkt für das
Unternehmen. Deswegen ist Krauss-Maffei Wegmann
mit einer Pressemitteilung an die Öffentlichkeit gegangen und hat es bekannt gegeben. Die Einzigen, denen das
in keinem Exportbericht bekannt gegeben worden ist, ist
das Parlament, bis heute nicht. Das ist ein Skandal.
({2})
Zu Katar muss man sagen: Es ist eine Insel mit
1,2 Millionen Einwohnern, von denen gerade einmal
200 000 Kataris sind. Der Rest sind Dienstboten und
Bauarbeiter. Diese 200 000 Kataris teilen sich jetzt
62 moderne Leopard-Kampfpanzer. Wenn sie die hintereinander parken, ist die Insel quasi dicht.
({3})
Was passiert dann? Es passiert eine ganze Weile
nichts. Es kommt eine neue Bundesregierung, es finden Bundestagswahlen statt, und jetzt kommt das, was
kommen muss, nämlich jetzt soll ausgeliefert werden. Es
kommt der Antrag, die Genehmigung nach dem Außenwirtschaftsgesetz zu erteilen.
Herr Minister Gabriel, wenn ein Antrag vorliegt,
dann entscheidet man. Was soll denn ein Antrag, bei
dem die Bundesregierung - angeblich - überhaupt keinen Entscheidungsspielraum mehr hat? Einen solchen
Antrag könnte man sich doch komplett schenken. Natürlich ist es so, dass, wenn Sie den Antrag ablehnen, die
KWKG-Genehmigung fortbesteht, und das ist natürlich
das Problem; denn dann stehen Schadensersatzansprüche
im Raum. Das steht sogar so im KWKG-Gesetz. Deswegen geht es hier um 1,8 Milliarden Euro; das finde
ich schon schlimm genug. Aber Sie haben es heute noch
schlimmer gemacht; denn Sie haben uns gesagt, es gehe
Ihnen nicht um diese 1,8 Milliarden Euro, sondern Sie
fänden schlichtweg, die außenpolitische Lage habe sich
nicht geändert. Das finde ich noch viel abstruser.
({4})
Wenn es denn so ist, dass die KWKG-Genehmigung
verbindlich ist, weswegen Sie überhaupt keinen Ermessensspielraum mehr haben, dann kann man daraus nur
zwei Forderungen ableiten:
Erstens. Wir brauchen in Zukunft in den Rüstungsexportberichten an die Parlamente, vor allen Dingen an uns,
Angaben über die Genehmigungen nach dem Kriegswaffenkontrollgesetz; denn diese Angaben sind die entscheidenden.
({5})
Wir wollen, dass sich in Zukunft die Bundesregierung,
die eine solche Genehmigung erteilt hat, vor dem Bundestag rechtfertigt. Wir wollen nicht, dass die Stellungnahme durch die nachfolgende Bundesregierung erfolgt,
die dann sagt: Wir können nichts dafür; das war die vorherige Regierung. - Dieses System kann so nicht fortbestehen.
({6})
Darüber hinaus ist das auch aus außen- und sicherheitspolitischen Gesichtspunkten unverantwortlich.
Das heißt, wir müssen das Gesetz so ändern, dass die
KWKG-Genehmigungen in Zukunft vorbehaltlich erteilt werden, nämlich vorbehaltlich einer Änderung der
außen- und sicherheitspolitischen Lage, damit eine Bundesregierung, wenn ein Antrag nach dem AWG gestellt
wird, noch einen Spielraum hat.
Das steht jetzt an. Sie haben gesehen, was für ein Problem Sie haben. Ändern Sie das Gesetz, damit das zukünftig anders wird.
Vielen Dank.
({7})
Vielen Dank. - Als nächster Redner hat Hubertus Heil
von der SPD-Fraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Immerhin, Frau Keul, gibt es einen Unterschied zwischen Ihnen
und der Linkspartei. In Ihrer letzten Bemerkung haben
Sie im Gegensatz zu Herrn van Aken eingeräumt, dass
es eine Rechtsbindung gegeben hat. Sie wollen daher
das Gesetz ändern; das ist eine legitime Position. Aber,
Herr van Aken, dann hören Sie der Kollegin von den
Grünen einmal zu: Es gibt eine Rechtsbindung. Nur weil
Sie nicht glauben, dass sich Regierungen an Recht und
Gesetz halten müssen, dürfen wir dem nicht folgen. Wir
halten uns an Recht und Gesetz.
({0})
Was ist denn das für ein Verständnis von Rechtsstaatlichkeit?
({1})
Wir Sozialdemokraten befinden uns tatsächlich in der
Situation, dass wir diese Entscheidung - Sigmar Gabriel
hat das deutlich gemacht - kritisch sehen. Die Vorgängerregierung hat die Exportgenehmigung erteilt. Ich
glaube, dass Sigmar Gabriel deutlich gemacht hat, dass
er dieses Problem bei der Befassung des Bundessicherheitsrats aufgerufen hat, zumal, wie gesagt, die Frage zu
klären war, ob man zu einer anderen Beurteilung kommt.
Dazu ist man nicht gekommen. Ich will das gar nicht
kommentieren; denn diese Sitzungen sind geheim. Ich
kenne die Argumente im Einzelnen nicht. Aber ich will
eines deutlich sagen: Für uns ist ganz klar, dass wir die
Wende zu einer restriktiveren Rüstungsexportpolitik in
dieser Legislaturperiode eingeleitet haben. Das ist unbestreitbar, Herr van Aken.
({2})
Wir haben für mehr Transparenz gesorgt. Die Berichte
werden schneller vorgelegt. Die Öffentlichkeit kann darüber diskutieren. Es ist auch so - schauen Sie sich den
Rüstungsexportbericht an -,
({3})
dass die Zahl der Rüstungsexportgenehmigungen massiv
zurückgegangen ist,
({4})
vor allen Dingen im Bereich der Kleinwaffen; das ist ein
ganz wichtiger Punkt. Es gab eine Halbierung im letzten
Jahr.
({5})
Zudem geht ein großer Teil der Kleinwaffenexporte
in Länder, die nun wirklich nicht problematisch sind: in
NATO-Länder, in der NATO gleichgestellte Länder, in
die Schweiz. Es ist unverantwortlich, wenn Sie versuchen, das zu bestreiten. Sigmar Gabriel hat dafür gesorgt,
dass wir eine restriktivere Rüstungsexportpolitik betreiben. Für uns stehen bei den Rüstungsexportgenehmigungen Sicherheitsaspekte im Vordergrund und nicht ökonomische Aspekte. Das sollten Sie zur Kenntnis nehmen.
({6})
Herr Kollege Heil, lassen Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Brugger zu?
Bitte schön.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. Vielen Dank, Herr
Kollege. - Weil Sie in Ihrer Rede auf die Kleinwaffenexporte und die großen Veränderungen abgestellt haben,
möchte ich fragen, ob Sie zur Kenntnis genommen
haben, dass wir in der letzten Woche eine Unterrichtung
über die letzten Entscheidungen des Bundessicherheitsrates bekommen haben, die vor allem darin bestand, dass
in Drittstaaten, in Staaten außerhalb von NATO und EU,
vor allem in den arabischen Raum, Kleinwaffen geliefert worden sind. Deshalb frage ich Sie: Wissen Sie, ob
das aufgrund der strengeren neuen Grundsätze für den
Export von Kleinwaffen geschehen ist, wonach Endverbleibskontrollen vorgesehen sind und „Neu für Alt“-Regelungen eingeführt werden sollen? Meines Wissens ist
dies rechtlich ja noch gar nicht umgesetzt. Das heißt, Sie
haben hier entgegen der gewollten Verschärfung eine
große Lieferung an Kleinwaffen in Drittstaaten genehmigt. Das ist doch sicherheitspolitisch unverantwortlich
und nichts anderes als das, was wir in den letzten Jahren
gesehen haben.
({0})
Ich kann Ihnen dazu sagen: Meiner Kenntnis nach
handelt es sich um ungefähr 500 Waffen für den Oman.
Das halten wir sicherheitspolitisch für nicht bedenklich.
Ich habe auf die Dimension hingewiesen. Frau
Brugger, wir müssen uns leider beide - Rot und Grün,
aber vor allen Dingen auch Schwarz und Gelb - eingestehen: In keiner Legislaturperiode in den letzten 15 Jahren
sind die Exportgenehmigungen im Bereich der Kleinwaffen so restriktiv gehandhabt worden wie in der Amtszeit
von Sigmar Gabriel.
({0})
Ich will Ihnen das anhand von Zahlen erklären, auch
weil das ein Stück Vergangenheitsbewältigung ist:
Mit rot-grüner - vor allen Dingen auch mit grüner Zustimmung - sind im Jahre 2003 Sturmgewehre nach
Saudi-Arabien geliefert worden. Das hat diese Regierung
nicht getan. Bei der Frage, wer hier eine höhere Moral für
sich beansprucht, gilt immer: Wenn man mit dem Finger
auf andere zeigt, dann zeigen immer mindestens drei Finger zurück.
({1})
Jetzt reden wir aber über diese Legislaturperiode; das
sage ich auch in Richtung Bündnis 90/Die Grünen. Sie
wollten die Zahlen hören. Ich will sie Ihnen gerne vortragen. Wir haben im ersten Halbjahr 2015 bei den KleinHubertus Heil ({2})
waffen einen Rückgang um 12,5 Millionen. Das ist der
geringste Halbjahreswert für Kleinwaffen seit 15 Jahren.
Und um die Relation deutlich zu machen: 50 Prozent der
Kleinwaffenexporte gingen in Länder wie die Schweiz,
Frankreich und Großbritannien. Das ist moralisch nicht
zu kritisieren; denn das sind unsere Bündnispartner.
Noch einmal: Es wird immer Grenzentscheidungen
geben. Da geht es nicht um Schwarz oder Weiß, sondern
um Abwägungsentscheidungen. Ich will nur für uns und
für Sigmar Gabriel in Anspruch nehmen, dass wir nicht
aufgrund ökonomischer Interessen in Krisenländer exportieren. Das ist nicht unsere Haltung. Wenn wir Genehmigungen für Exporte in Drittländer erteilen, dann
geschieht das aus einem einfachen Grund, nämlich aus
sicherheitspolitischen Erwägungen.
({3})
Wir sorgen für eine restriktivere Politik, weil uns nicht
egal ist, was mit deutschen Waffen auf der Welt passiert,
meine Damen und Herren. Ich finde, es wäre fair gewesen, zumindest das anzuerkennen.
({4})
Dass wir uns aus rechtsförmigen Gründen an Vorgängerregierungsentscheidungen halten müssen, ärgert uns; das
ist gar keine Frage. Wir werden aber nicht Rechts- und
Gesetzesbrecher, nur weil Herr van Aken sich das so vorstellt.
({5})
Herzlichen Dank.
({6})
Vielen Dank. - Als nächster Redner hat Jan van Aken
von der Fraktion Die Linke das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr
Heil, Sie kennen die Zahlen nicht.
({0})
Tatsächlich hat Sigmar Gabriel in der ersten Hälfte dieses
Jahres Rüstungsexporte im Wert von 6,5 Milliarden Euro
genehmigt - 6,5 Milliarden Euro in einem halben Jahr,
genauso viel wie im gesamten Jahr 2014! Und Sie sagen,
das sei restriktiv. Ich lache mich tot.
({1})
Dann kommt immer Ihre Entschuldigung: Na ja, bei
den 6,5 Milliarden Euro war ein U-Boot für Israel mit
dabei. - Das U-Boot für Israel hat 300 Millionen Euro
gekostet. Ich ziehe das ab, wie Sie wollen. Dann bleiben
immer noch 6,2 Milliarden Euro übrig. Wenn sich das
fortsetzt, schaffen Sie es in diesem Jahr auf über 10 Milliarden Euro. Das hat vor Ihnen noch nie eine Regierung
geschafft. Das ist nicht restriktive Rüstungsexportpolitik,
das ist der Rüstungsexporteur Nummer eins.
({2})
Das zu dem, was Sie gesagt haben.
Herr Heil, ich glaube, Sie haben mir vorhin nicht zugehört. Ich habe gesagt: Ja, es kann gut sein, dass am
Ende jemand zahlen muss. - Aber es geht doch um die
Abwägung: Wollen wir hier Geld verlieren, oder sollen
die Menschen im Jemen ihr Leben verlieren?
({3})
Ich finde, bei dieser Abwägung sollte es um die Menschenleben im Jemen gehen und nicht um eine Schadensersatzklage. Da haben sie eine falsche moralische Entscheidung getroffen.
({4})
Noch einmal zu Ihnen, Herr Gabriel: Herr Gabriel, ich
glaube Ihnen, dass Sie die Zahl der Rüstungsexporte verringern möchten.
({5})
Aber dann trauen Sie sich doch endlich einmal. Sie stellen sich hier hin und sagen, Ihre Aufgabe sei es, Schaden vom deutschen Volk abzuwenden. Ja, das ist so. Ich
garantiere Ihnen aber: In dem Moment, in dem Sie die
Rüstungsexporte wirklich herunterfahren, wird Ihnen das
deutsche Volk zujubeln; denn die große Mehrheit möchte keine Waffenexporte. Das wissen Sie genauso gut wie
ich.
({6})
Also trauen Sie sich einmal: Lassen Sie es einmal auf
eine Schadenersatzklage ankommen. Warum kneifen Sie
denn den Schwanz ein? Nur weil jemand mit dem Gesetz wedelt? Versuchen Sie es doch einmal! Sie haben
in Bezug auf den Jemen wunderbare Argumente. Dort
hat sich die politische Situation total verändert. Es gibt
dort Krieg, und Katar ist daran beteiligt; das wissen wir.
Wir können das belegen. Ich finde, einmal können Sie es
versuchen.
Die Briten haben das gemacht. Die Briten haben vor
einigen Jahren, nachdem die Saudis ihre Außenpolitik
geändert haben, tatsächlich einmal schon genehmigte
Waffenexporte noch im Hafen gestoppt. Trauen Sie sich
einmal! Beim Gefechtsübungszentrum haben Sie sich
getraut, als alles schon geliefert war. Lassen Sie es doch
einmal auf einen Prozess ankommen! Wenn dann in einem solchen Fall, in dem nur eine von zwei Genehmigungen erteilt ist, am Ende wirklich das Urteil kommt,
Hubertus Heil ({7})
dass Schadensersatz zu zahlen ist, dann machen wir es
eben so, wie Frau Keul gesagt hat: Dann ändern wir
das Kriegswaffenkontrollgesetz. Sie bekommen es gerichtlich und verfassungsrechtlich wasserdicht hin, dass
solche Waffenexportgenehmigungen immer nur vorbehaltlich einer Änderung der politischen Situation erteilt
werden. Das können Sie machen. Sie müssen es nur wollen.
({8})
Da ich Ihnen glaube, dass Sie die Zahl der Rüstungsexporte reduzieren wollen, sage ich Ihnen: Wir werden
hoffentlich in einem halben Jahr einmal zusammensitzen
und gemeinsam, vielleicht auch mit einigen Kolleginnen
und Kollegen von den Grünen, daran arbeiten, wie Sie
es wasserdicht und gerichtsfest hinbekommen, dass Sie
eine Genehmigung auch einmal widerrufen können und
eben keine Waffen direkt in den Krieg liefern. Das ist das
Entscheidende. Ansonsten bleibe ich dabei: Das System,
so wie es im Moment ist, funktioniert nicht.
Das Zweite, was ich gern mit Ihnen im Kriegswaffenkontrollgesetz ändern würde - da muss ich aber auch die
Grünen noch überzeugen -, ist, dass Sie wenigstens ein
generelles Exportverbot für Kleinwaffen erlassen.
({9})
Bleiben wir doch einmal auf dem Teppich! Wertmäßig
sind Kleinwaffen total irrelevant; das sind zwischen
50 und 100 Millionen Euro. Das ist ganz wenig Geld,
bedeutet aber ganz viel Tod. Da würde die Wirtschaftsmacht Deutschland kaum Geld verlieren, aber ganz viel
Leben retten.
({10})
Ringen Sie sich endlich dazu durch, Herr Gabriel! Ich
finde die Argumente, die Sie seit Jahren dazu vortragen,
immer noch schwach. Machen wir es gemeinsam!
Ich danke Ihnen.
({11}).
Vielen Dank. - Das Wort zu einer Kurzintervention
erhält der Abgeordnete Gabriel.
({0})
Frau Präsidentin! Herr Kollege van Aken, einmal abgesehen davon, dass die Bemerkung, man solle sich nicht
davon irritieren lassen, wenn einer mit dem Gesetz wedelt, schon für einen Abgeordneten ein schwieriges Argument ist, für ein Regierungsmitglied erst recht,
({0})
finde ich, dass Sie bei den Kleinwaffen völlig recht haben.
Deswegen sind wir so stolz darauf, erstens dass diese
Bundesregierung beschlossen hat, Lizenzproduktionen
für Kleinwaffen in Drittländern zu verbieten - das gab
es noch nie -, zweitens dass wir eine so drastische Reduktion der Zahl der Kleinwaffenexporte erreicht haben,
wie es Herr Heil vorgetragen hat. Aber ich will trotzdem
sagen, dass Sie aufpassen müssen, dass Sie, wenn Sie anderen Leuten vorwerfen, sie kennten die Zahlen nicht,
sich selber nicht als Zahlenverdreher betätigen.
Sie haben völlig recht: Wir haben im ersten Halbjahr
ein hohes Maß an Umsätzen beim Rüstungsexport. Das
zeigt übrigens, dass wir recht haben, wenn wir sagen: Die
Zahlen selber sagen wenig aus. - Es ist natürlich nicht
das U-Boot für Israel, das auch dabei ist - dazu stehe
ich ausdrücklich -, sondern es sind vor allen Dingen fünf
Tankflugzeuge für Großbritannien, die diese Zahl ausmachen. Dass Sie das bei der Summe verschweigen
({1})
und nur sagen: „Guckt mal, das ist eine ganz hohe Summe“, obwohl fünf Tankflugzeuge mit einem großen Volumen dabei sind - für die Sicherheitslage in der Welt
vermutlich völlig unproblematisch, wohingegen ein
kleines Volumen für Kleinwaffen viel größere Probleme
auslöst -, zeigt, dass Sie in Wahrheit versuchen, die Tatsachen zu verdrehen. Das ist das Problem, das ich mit
Ihrer Bemerkung habe.
({2})
Herr van Aken, Sie haben das Wort für eine Erwiderung.
Danke. - Herr Gabriel, zu dem Verdrehen. Nehmen
wir einmal, was Sie gerade gesagt haben, nämlich Sie
hätten jetzt das Verbot der Lizenzproduktion von Kleinwaffen beschlossen. Nein, das haben Sie nicht beschlossen. Sie haben beschlossen, dass grundsätzlich keine
Lizenzen mehr für Kleinwaffenproduktionen vergeben
werden. Das „grundsätzlich“ hat es auch vorher schon
gegeben; das steht in ganz vielen Rüstungsexportberichten. Nur für die unter uns, die keine Juristinnen
und Juristen sind: „Grundsätzlich“ heißt, dass es davon
Ausnahmen geben kann. Zum Beispiel sagen Sie auch:
Grundsätzlich werden keine Waffen an private Sicherheitsdienste geliefert. - Wir haben nachgefragt und eine
lange Liste bekommen. Natürlich gibt es das! Das heißt,
„grundsätzlich“ heißt überhaupt keine Veränderung. Sie
haben sich nicht getraut, das generell zu verbieten, sonJan van Aken
dern eben nur grundsätzlich. Das heißt, es gibt überhaupt
keine Veränderung.
({0})
Das sind Wortspielereien und Verdrehereien. Deswegen
haben die Menschen auf der Tribüne überhaupt keine
Lust mehr auf diese Politik. Sie haben keine Lust mehr
darauf, weil sie immer nur angeschmiert werden.
({1})
- Seien Sie einmal ehrlich bei diesem „grundsätzlich“!
Das Zweite: die Tankflugzeuge. Das letzte Mal war
das Argument das U-Boot für Israel. Deshalb habe ich es
ja ehrlicherweise erwähnt. Ich kann auch die Tankflugzeuge erwähnen. Ziehen Sie die Tankflugzeuge ab! Sie
sind dann immer noch bei 5 Milliarden Euro in einem
halben Jahr.
({2})
Damit knacken Sie die 10 Milliarden Euro im ganzen
Jahr auch.
({3})
Ich muss Ihnen sagen: Auch unter der FDP - Gott hab
sie selig - waren es in einem Jahr die vielen Flugzeuge,
im nächsten Jahr die vielen Schiffe. Jedes Mal war das
Argument: In diesem Jahr ist die Zahl eigentlich ganz
gering; aber es gab das eine große Projekt. - Das haben
Sie im letzten Jahr übrigens auch gesagt, in diesem Jahr
wieder, und im nächsten Jahr sind es wahrscheinlich drei
Fregatten für Algerien, die die Zahlen nach oben treiben.
Unterm Strich - vergleiche ich die Gesamtjahreszahlen - muss ich sagen: Da haben Sie einfach versagt, Herr
Gabriel.
({4})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zum Antrag der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen auf Drucksache 18/6647 mit dem Titel „Panzerlieferung nach Katar sofort stoppen“. Die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen beantragt die Abstimmung über
ihren Antrag in der Sache, die Fraktionen der CDU/CSU
und SPD wünschen Überweisung.
({0})
Mir ist mitgeteilt worden, dass hierzu das Wort zur
Geschäftsordnung gewünscht wird. Frau Haßelmann hat
als Erste das Wort.
({1})
Die Zeit haben alle noch. Außerdem ist es ja ganz interessant, wenn das Parlament mal wieder debattiert.
({0})
Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Frau Präsidentin! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer! Ich komme wieder auf den Kern der Debatte zurück. Der Ausgangspunkt für die heutige Debatte in der
Sache ist der Antrag zum Thema „Panzerlieferung nach
Katar sofort stoppen“, über den wir jetzt abstimmen. Dieser Antrag beinhaltet nur einen einzigen Satz:
Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf, die Lieferung von Panzern und anderen
Kriegswaffen nach Katar unverzüglich zu stoppen
und die bereits erteilte Genehmigung an die Firma
Krauss-Maffei Wegmann GmbH & Co. KG zurückzunehmen.
Wir haben zu diesem Antrag eine Sofortabstimmung
beantragt. Wir gehen davon aus, dass das Parlament in
der Lage ist, heute über diesen einen Satz zu entscheiden.
Deshalb beantragen wir Sofortabstimmung.
({1})
Um Ihnen zu erläutern, warum wir jetzt überhaupt das
Wort suchen - wir haben ja öfter mal Streit darüber, ob
es eine Sofortabstimmung oder eine Überweisung geben
soll -, möchte ich Sie auf zwei Punkte hinweisen.
Erster Punkt. Der Wirtschaftsminister und auch sein
Staatssekretär haben in ihren Redebeiträgen deutlich gemacht, dass diese Entscheidung längst getroffen ist und
dass diese Entscheidung nicht revidiert wird. Die Tatsache, dass nichts revidiert wird und darüber schon abschließend entschieden ist, haben auch alle Rednerinnen
und Redner der Großen Koalition in ihren Redebeiträgen
mehr als deutlich gesagt. Deshalb gibt es aus grüner Sicht
keine Begründung dafür, heute keine Sofortabstimmung
durchzuführen und stattdessen der Öffentlichkeit und
dem Parlament vorzumachen, man habe noch Beratungsbedarf zu diesem einen Satz und müsse deshalb den Antrag an die Ausschüsse überweisen.
({2})
Ein wirklich schwacher Auftritt; denn Sie haben so
was von deutlich gemacht, und zwar für alle im Protokoll nachlesbar, dass Sie als Parlamentarier in der Sache
den Vorschlägen und Festlegungen, auch den erneuten
Festlegungen dieser Bundesregierung folgen. Deshalb ist
es doch eigentlich nur ein Täuschungs- und Ablenkungsmanöver, jetzt eine Überweisung an die Ausschüsse bzw.
eine Versenkung dieses Antrags in den Ausschüssen
vorzunehmen. Aus diesem Grund haben wir heute eine
GO-Debatte gefordert.
({3})
Zweiter Punkt. Meine Damen und Herren, zuerst waren Sie als Koalition mit der Sofortabstimmung einverstanden. Am Dienstag haben Sie mir erklärt, Sie wollten
prüfen, ob Sie für eine Überweisung sind oder Ihr Einverständnis zur Sofortabstimmung erklären. Dann haben
Sie sich bereiterklärt - was wir sehr gut fanden und begrüßt haben -, der Sofortabstimmung im Bundestag zuzustimmen. Als Sie dann gehört haben, dass wir eine namentliche Abstimmung beantragen wollen,
({4})
haben Sie gesagt: Nein, jetzt ziehen wir unsere Zustimmung zurück. Das wird ja unbequem für die Abgeordneten von SPD und Union.
({5})
Dann wollen wir doch lieber die Überweisung. - Das ist
doch durchschaubar, meine Damen und Herren.
({6})
Dann kam auch noch das billige Argument, der Wirtschaftsausschuss sei federführend und leider seien die
Abgeordneten des Ausschusses heute in Brüssel; dadurch
sei ihnen verwehrt, an der namentlichen Abstimmung
teilzunehmen. Meine Damen und Herren, ist das Ihr
Ernst? Ich hoffe, Sie wiederholen das nicht hier am Pult.
Ihre Leute aus dem Wirtschaftsausschuss, die heute nicht
da sind, fehlen bei zwei Wahlen und zwei namentlichen
Abstimmungen, die heute hier im Bundestag stattfinden.
Was sagen Sie denn dazu?
({7})
Ich finde, es gibt keinen Grund, heute keine Sofortabstimmung durchzuführen. Das ist ein reines Ablenkungsmanöver, weil es Ihnen unbequem ist, sich als Parlamentarier zu der Sache zu verhalten. Das wollen wir
Ihnen nicht durchgehen lassen. Deshalb haben wir diese
GO-Debatte beantragt.
({8})
Zur Erwiderung erhält Petra Ernstberger das Wort.
({0})
Liebe Kolleginnen und liebe Kollegen! Das, was hier
gemacht wird, erinnert mich schon sehr viel an Theaterdonner.
({0})
Wir wollen doch einmal auf die sachliche Ebene zurückkehren, auf die Ebene der Geschäftsordnung.
Es ist richtig: Die Grünen haben das Recht, eine Beschlussfassung zu ihrem Antrag einzufordern. Darüber
gibt es gar keine Diskussion.
(Claudia Roth ({1}) ({2})
Es ist aber auch das Recht der Koalition, die Überweisung an einen federführenden Ausschuss zu fordern.
({3})
Ich glaube, es ist berechtigt, zu fordern, dass ein Antrag
in Ruhe besprochen werden kann.
({4})
Das muss im Wirtschaftsausschuss geschehen.
Übrigens war auch einer von den Grünen in Brüssel.
Inzwischen sind alle wieder da.
({5})
Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass wir an dem
Wunsch festhalten, den Antrag in den Wirtschaftsausschuss zu überweisen,
({6})
und zwar aus einem einfachen Grund: Das Thema soll
noch einmal in Ruhe in dem Ausschuss diskutiert werden, in den es gehört,
({7})
und zwar im Wirtschaftsausschuss. Wenn Sie vorher mit
dem Gedanken gespielt haben, eine namentliche Abstimmung zu beantragen, dann frage ich mich schon, warum
Sie sich jetzt weigern, das noch einmal sauber zu diskutieren und den Antrag dann zur Abstimmung zu stellen.
Insofern werden wir Ihrem Antrag nicht zustimmen
und für die Überweisung in den federführenden Ausschuss für Wirtschaft und Energie einstehen.
({8})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir stimmen nach
ständiger Übung zuerst über den Antrag auf Ausschussüberweisung ab. Die Fraktionen der CDU/CSU und
SPD wünschen Überweisung der Vorlage auf DrucksaBritta Haßelmann
che 18/6647 an den Ausschuss für Wirtschaft und Energie, an den Auswärtigen Ausschuss, an den Ausschuss
für Recht und Verbraucherschutz, an den Verteidigungsausschuss, an den Ausschuss für Menschenrechte und
humanitäre Hilfe sowie an den Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. Wer stimmt für
die beantragte Überweisung? - Wer stimmt dagegen? Enthält sich jemand? - Dann ist die Überweisung mit den
Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der Opposition beschlossen.
Damit stimmen wir heute über den Antrag auf Drucksache 18/6647 nicht in der Sache ab.
Wir müssen nun den federführenden Ausschuss bestimmen. Die Fraktionen der CDU/CSU und SPD wünschen Federführung beim Ausschuss für Wirtschaft und
Energie. Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen wünscht
Federführung beim Auswärtigen Ausschuss. Ich lasse
zuerst abstimmen über den Überweisungsvorschlag der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Wer stimmt für diesen
Überweisungsvorschlag, also für die Federführung beim
Auswärtigen Ausschuss? - Wer stimmt dagegen? - Damit ist dieser Überweisungsvorschlag abgelehnt worden
mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der
Opposition.
Ich lasse nun abstimmen über den Überweisungsvorschlag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD, Federführung beim Ausschuss für Wirtschaft und Energie. Wer
stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? - Wer stimmt
dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist dieser Überweisungsvorschlag mit den Stimmen der Koalition gegen die
Stimmen der Opposition angenommen worden.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf:
- Beratung der Beschlussempfehlung und
des Berichts des Auswärtigen Ausschusses
({0}) zu dem Antrag der Bundesregierung
Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter
deutscher Streitkräfte an der von den Vereinten Nationen geführten Friedensmission
in Südsudan ({1}) auf Grundlage der
Resolution 1996 ({2}) des Sicherheitsrates
der Vereinten Nationen vom 8. Juli 2011
und Folgeresolutionen, zuletzt 2241 ({3})
vom 9. Oktober 2015
Drucksachen 18/6504, 18/6638
- Bericht des Haushaltsausschusses ({4}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
Drucksache 18/6683
Über die Beschlussempfehlung werden wir später namentlich abstimmen.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. Gibt es dazu
Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das so
beschlossen worden.
Wenn die Kolleginnen und Kollegen ihre Plätze eingenommen haben, werde ich der ersten Rednerin das Wort
erteilen. - Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin
spricht Dagmar Freitag von der SPD-Fraktion.
({5})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Mit der Gründung im Jahr 2011 ist die Republik Südsudan der jüngste Staat der Welt. Gleichzeitig ist es ein
weiterer Staat auf dem afrikanischen Kontinent mit unendlichen Problemen, mit einer wirklich dramatischen
politischen und humanitären Lage. Korruption, kaum
oder fast nicht vorhandene staatliche Strukturen, ein
verheerender Bürgerkrieg - all das hat zu der aktuellen,
beklagenswerten Situation geführt. Ich füge hinzu: Das
Ausmaß der Kriegsverbrechen ist wirklich unvorstellbar.
Immerhin, ein erster Lichtblick: Am 17. August 2015
unterzeichneten die Konfliktparteien aufgrund massiven
internationalen Drucks ein 77-seitiges Friedensabkommen. Ich denke, Herr Minister Steinmeier, an dieser Stelle ist Ihnen für Ihren Einsatz für dieses Friedensabkommen ausdrücklich zu danken.
({0})
Aber man muss leider auch feststellen, dass es erkennbar
an der Bereitschaft zur Unterstützung der Vertragsinhalte
mangelt. Vereinbarte Waffenstillstände werden gebrochen, zuletzt vor zweieinhalb Wochen. Zudem bedeutet
die jetzt vorgenommene Zersplitterung der ursprünglich
nur 10 Bundesstaaten in jetzt 28 einen erneuten Rückschritt. Im Übrigen verstößt auch das gegen den Geist des
Friedensvertrages.
Es ist klar: Jahrelange kriegerische Auseinandersetzungen haben die Bevölkerung zutiefst traumatisiert und
sie natürlich auch - wen wundert es? - zu einem gewissen Grade ihrer Friedensfähigkeit beraubt. Ein stabiler
Friedensaufbau ist daher ohne die weitere Unterstützung
der internationalen Gemeinschaft weder möglich noch
vorstellbar.
Ich räume ein: UNMISS konnte den Bürgerkrieg
nicht verhindern. Aber UNMISS bietet humanitären und
militärischen Schutz für die vertriebene Zivilbevölkerung. Die Friedensmission UNMISS läuft - das wissen
wir - seit 2011. Die Neuausrichtung des Mandates im
Jahr 2014 machte den Schutz der südsudanesischen Zivilbevölkerung zum Kernelement der Mission. Erst vor
wenigen Wochen, im Oktober 2015, wurde die Mission
erweitert, und zwar, um die Implementierung des Friedensabkommens zu unterstützen.
Rund 4,5 Millionen der rund 12 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner des Landes sind in diesem Jahr auf
Nahrungsmittelhilfen der Vereinten Nationen angewiesen. Ich möchte in diesem Zusammenhang ausdrücklich
betonen, wie wichtig die Sicherstellung der Finanzierung
der humanitären Nothilfe ist. Doch es bedarf natürlich
nicht nur einer vernünftigen finanziellen Basis. Nein,
auch ohne eine ausreichende Sicherheit im Land sind
zum Beispiel viele Hilfsmaßnahmen des World Food
Programme überhaupt nicht möglich.
Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn
Wir wissen: Die Kindersterblichkeit im Südsudan ist
extrem hoch. Hauptursache dafür ist Mangelernährung.
Wir wissen auch um einen katastrophalen Bildungsstand
im Land. Rund zwei Drittel der Erwachsenen im Land
können nicht oder nur unzureichend lesen und schreiben.
Das heißt: Neben Sicherheit und Verteidigung müssen
wir uns dafür einsetzen und Unterstützung leisten, dass
der Staat auch in den Bereichen Gesundheitsversorgung
und Bildung massiv investieren wird. Denn eines ist klar:
Die vielen jungen Menschen im Land brauchen eine Perspektive, und ich füge ausdrücklich hinzu: im eigenen
Land. Das ist ein ganz entscheidender Punkt.
Es muss im Interesse der Weltgemeinschaft sein, dass
dieses Land nicht noch stärker ins Chaos abgleitet,
({1})
im Übrigen auch wegen der fragilen Stabilität in der gesamten ostafrikanischen Region. Das heißt auch: Das
Engagement der Regionalorganisationen muss beachtet
werden. IGAD zum Beispiel hat im Rahmen der Friedensverhandlungen durchaus dazu beigetragen, dass
erste Schritte unternommen worden sind. Man muss allerdings hinzufügen: Zählbare Erfolge sind im Moment
leider noch nicht zu verzeichnen. Das bedeutet natürlich,
dass die Bemühungen nicht nachlassen dürfen, und auch
im Land selber muss für Frieden und Stabilität gesorgt
und geworben werden. Die internationale Gemeinschaft
darf sich nicht zurückziehen. Vertrauen muss wieder aufgebaut werden, und die Umsetzung des Friedensabkommens muss überwacht und begleitet werden.
({2})
Eines ist klar - ich denke, da sind wir uns alle einig -:
Der Schutz der Zivilbevölkerung muss oberste Priorität
haben.
Das ist die richtige Stelle, um sich bei unseren Soldatinnen und Soldaten und Polizistinnen und Polizisten im
Südsudan zu bedanken. Das ist ein Einsatz, der wichtig
und unverzichtbar ist.
({3})
Denn gerade das deutsche Personal besetzt wichtige
Schlüsselpositionen.
Wir müssen nicht nur gemeinsam dafür werben, sondern auch unseren Beitrag dazu leisten, dass der Konflikt
im Südsudan nachhaltig beigelegt werden kann. Dazu das ist jedenfalls unsere Überzeugung - brauchen wir die
Fortsetzung der internationalen Unterstützung im Rahmen der UNMISS-Friedensmission. Liebe Kolleginnen
und Kollegen, aus diesem Grunde bitte ich um Zustimmung zu dem vorliegenden Antrag.
Ich danke Ihnen.
({4})
Vielen Dank. - Als nächster Redner hat Jan van Aken
von der Fraktion Die Linke das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sie alle
hier haben in der letzten Woche - ich finde, vollkommen
zu Recht - auf die Flüchtlingskatastrophe im Südsudan
hingewiesen. Zwei Millionen Menschen sind dort auf der
Flucht. Ich finde auch: Diese Menschen müssen unbedingt Unterstützung bekommen. Aber ein Punkt ist mir
aufgefallen: Niemand hat erwähnt, dass es auch diese
Bundesregierung ist, die im Moment alles daransetzt, den
Menschen im Südsudan die Flucht zu verwehren.
Schon vor einem Jahr hat die Europäische Union mit
einer ganzen Reihe afrikanischer Staaten vereinbart, die
sogenannte irreguläre Migration zu bekämpfen. Im Klartext geht es doch darum, Flüchtlinge gar nicht erst bis an
die Mittelmeerküste herankommen zu lassen, damit sie
von dort nicht weiter nach Europa fliehen können. Diese
Initiative gegen Flüchtlinge wird Khartoum-Prozess genannt.
Ein leitendes Mitglied dieses Khartoum-Prozesses ist
der Südsudan. Das müssen wir uns jetzt einmal im Detail vorstellen: Der südsudanesische Präsident Salva Kiir
führt gerade einen grausamen Krieg gegen die eigene Zivilbevölkerung und wird jetzt von Ihnen und von der EU
gemeinsam darin unterstützt, seine Grenzen noch besser
dichtzumachen, damit seine Bevölkerung nicht vor seinen eigenen grausamen Mörderbanden fliehen kann. Ich
finde das widerlich.
({0})
Wer hier im Saal wirklich Sorge um die Zivilbevölkerung
im Südsudan hat, der muss sich auch darum bemühen,
den Khartoum-Prozess zu stoppen und endlich dafür zu
sorgen, Fluchtmöglichkeiten für die Menschen im Südsudan zu organisieren. - Das erst einmal nur vorweg.
Jetzt sagen Sie alle - das haben Sie auch letzte Woche alle gesagt -, dass UNMISS für den Schutz der Zivilbevölkerung im Südsudan unverzichtbar ist. Fakt ist
aber, dass UNMISS den Schutz der Zivilbevölkerung
von Anfang an nicht sicherstellen konnte und bis heute
nicht kann. Dann kommt von Ihnen immer das Argument: Es gibt 200 000 Flüchtlinge, die UNMISS an den
eigenen Standorten schützt. - Ja, aber zur Ehrlichkeit
gehört auch, dass 10 Millionen weitere Menschen im
Südsudan vollkommen schutzlos sind, dass 2 Millionen
von ihnen auf der Flucht sind und dass 4 Millionen von
ihnen auf Nahrungsmittelhilfe angewiesen sind. Das ist
die ganz erschütternde Bilanz. Dann sagen Sie: Na ja,
ohne UNMISS wäre alles noch viel schlimmer. ({1})
Ich sage Ihnen: Es wird von Jahr zu Jahr schlimmer und
schlimmer. Das liegt auch daran, dass Sie völlig falsche
Prioritäten gesetzt haben, dass Sie eben auf das Militärische gesetzt haben und nicht auf andere Möglichkeiten.
({2})
Die Frage, die wir uns stellen und die Sie sich, wie ich
finde, auch stellen müssten, ist doch: Was haben wir alles
nicht getan, um den Menschen im Südsudan zu helfen?
Was haben wir nicht getan und somit dazu beigetragen,
dass die Situation im Südsudan immer schlimmer geworden ist? Unsere Antwort ist relativ klar: Sie haben immer einseitig auf das Militärische gesetzt, und wir haben
von Anfang an viele, viele andere Vorschläge gemacht;
das können Sie alles nachlesen. Im Jahr 2011 direkt zur
Gründung des neuen Staates Südsudan haben wir eine
ganze Reihe von Vorschlägen gemacht, wie man die Entstehung des Bürgerkrieges hätte verhindern können und
wie man später die Zivilbevölkerung hätte schützen können. Kaum etwas davon ist gemacht worden.
Ich will nur ein Beispiel nennen, damit Sie wissen,
worum es geht. Wir haben es genau ausformuliert. Ein
Punkt, der 2011 völlig deutlich war, als wir dort vor Ort
waren, war: Es muss darum gehen, den Ausbruch von lokalen Gewaltkonflikten zu verhindern. Deswegen haben
wir gefordert, lokale Friedensfachkräfte auszubilden, und
zwar zu Hunderten, wenn nicht gar zu Tausenden, damit
in allen Teilen des Landes Trauma- und Versöhnungsarbeit geleistet werden kann, damit in allen Regionen des
Landes entstehende Konflikte gewaltfrei gelöst werden
können. Wir haben, wie gesagt, gefordert, Hunderte auszubilden. Was hat die Bundesregierung gemacht? Sie hat
die letzten fünf Friedensfachkräfte aus dem Sudan auch
noch abgezogen. Das war Ihr Beitrag zu einer friedlichen
Konfliktlösung.
({3})
Eines ist doch ganz klar: Ein Ende der Gewalt können
Sie mit UNMISS im Südsudan niemals erreichen, und
ganz sicher können Sie das nicht, wenn Sie auch noch
mit Despoten wie Salva Kiir bei der Flüchtlingsabwehr
zusammenarbeiten. Aus unserer Sicht heißt es deswegen:
Nein zu UNMISS und endlich ein Umdenken hin zu zivilen Interventionen.
({4})
Im Übrigen bin ich der Meinung, dass Deutschland
keine Waffen mehr exportieren sollte.
({5})
Eines würde mich wirklich einmal interessieren: Kann
mir irgendjemand hier im Raum erklären, zum Beispiel
Sie, warum es heute immer noch legal ist, Waffen in den
Südsudan zu liefern? Das Mindeste, wozu wir uns endlich durchringen müssten, wäre doch ein Waffenembargo
durch die Vereinten Nationen. Auch daran scheitern Sie.
Ich danke Ihnen.
({6})
Als nächster Redner hat Roderich Kiesewetter von der
CDU/CSU das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir haben
heute früh bei der Debatte über die OSZE über Valletta
gesprochen. Zwischenzeitlich ist der gemeinsame Gipfel von Europäischer und Afrikanischer Union zu Ende
gegangen. Neben dem Thema Fluchtursachenbewältigung war ein ganz entscheidendes Thema - dies wurde
auf Bitten der Afrikanischen Union nach vorne getragen - die Forderung nach einem verstärkten Engagement
für Frieden, Stabilität und wirtschaftliche Entwicklung.
Genau darum geht es im Südsudan, nämlich darum, die
Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass wirtschaftliche
Entwicklung überhaupt stattfinden kann. Wenn internationale Einrichtungen und Staaten zivile Hilfskräfte abziehen, weil es dort nicht sicher ist, ist doch der erste Punkt,
Sicherheit im Südsudan zu schaffen.
({0})
Das geschieht, indem sich 53 Staaten in dieser Mission engagieren, davon 15 Staaten aus Afrika. Das ist
genau das, was wir anstreben müssen: dass die Staaten
aus Afrika Verantwortung übernehmen. Wir erleben das
in vielen Bereichen, auch in der unmittelbaren Nachbarschaft. Die Unterorganisation der Afrikanischen Union,
die Intergouvernementale Autorität für Entwicklung, die
IGAD, wird von drei Staaten unterstützt: von Kenia, vom
Sudan und von Äthiopien. Wir erleben in der unmittelbaren Nachbarschaft, dass Uganda das Bestreben dieser
drei Staaten gefährdet, indem es unmittelbar Waffen an
die südsudanesische Regierung liefert.
Wir sehen: Es ist dort eine Gemengelage, die geradezu nach einem internationalen Engagement ruft. Deshalb ist es im Übrigen richtig, dass die Bundesrepublik
Deutschland dort mehr Polizisten als Soldaten einsetzt.
Wir haben unseren Polizeiansatz dort verdoppelt.
Gerade der Einsatz im Südsudan zeigt, dass wir Deutschen unsere drei Prinzipien der Außenpolitik hier auch
praktisch anwenden: erstens ein Vorgehen mit VN-Mandat, zweitens nicht allein, sondern in einem vernetzten
Ansatz, und drittens - das halte ich für ganz wichtig - ist
das Militär eingebunden in einen übergreifenden Ansatz
und nicht isoliert, wie wir es in Libyen oder im Irak erlebt
haben.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, worauf
kommt es jetzt an? Wir haben im Südsudan eine Entwicklung, die dazu führt, dass die Bevölkerung überhaupt kein Vertrauen in die eigene Regierung hat. Es
ist der jüngste Staat der Erde, es gibt ihn erst seit vier
Jahren. Ich erinnere mich, mit welcher Euphorie dies im
Jahr 2011 im Unterausschuss für Zivile Krisenprävention
als eine gelungene Staatenbildung betrachtet wurde. Ja,
das war es am Anfang auch. Aber in der Zwischenzeit
haben wir gesehen: Wenn Sicherheit der Entwicklung
nicht folgt bzw. wenn Sicherheit mit entwicklungspolitischem Engagement nicht fest einhergeht, dann scheitert
jeglicher entwicklungspolitische Ansatz. Deshalb wird
sich die Bundesrepublik Deutschland dort intensiv beteiligen, mit den Fähigkeiten, die die Arbeiten dort weiterbringen, nämlich vernünftiger Stabsarbeit und vor allen
Dingen entsprechender Beratung in der Überwachung
des Waffenstillstandsabkommens und, was aus meiner
Sicht auch sehr wichtig ist, in der Überwachung der humanitären Hilfe. Hier liegt das meiste im Argen.
Wir müssen uns, liebe Kolleginnen und Kollegen,
auf einen jahrelangen Einsatz im Südsudan einstellen.
15 000 Helferinnen und Helfer mit und ohne Uniform
werden die nächsten Jahre intensiv gefordert sein. Unser
Ziel muss in allererster Linie sein, dass afrikanische Staaten aus der Nachbarschaft selbst Verantwortung übernehmen, dass die Afrikanische Union dort mit aller Kraft
zeigt, dass sie fähig ist, und das mit westlicher Hilfe. Das
sehen wir, glaube ich, recht gut in dem Ansatz, den die
Afrikanische Union mit der Europäischen Union jetzt in
Valletta verhandelt hat.
Lassen Sie mich abschließend auf einen weiteren Aspekt hinweisen. Die Entwicklungen, die wir in Afrika,
in Mali, in der Zentralafrikanischen Republik und auch
in Libyen erleben, erfordern, dass wir uns über einen
stärker vernetzten Ansatz Gedanken machen. Die Europäische Union wird viel mehr zur Ertüchtigung dieser
Staaten beitragen müssen als in der Vergangenheit. Wir
Deutschen werden großen Wert darauf legen müssen,
dass bei der Fluchtursachenbekämpfung die Fragen der
guten entwicklungspolitischen Begleitung und der guten
Regierungsführung und die gesamte Unterstützungsleiste der Grenzsicherung und der Flüchtlingsbetreuung viel
stärker in den Mittelpunkt geraten. Ich habe großes Verständnis, Herr van Aken, dass Sie sich heute schon mehrfach warmgeredet haben, aber da reicht brühwarme Rhetorik nicht. Dort geht es heiß zur Sache. Deshalb müssen
wir uns auf einen langfristigen Einsatz einstellen.
Ich unterstütze den UNMISS-Einsatz, der uns die
nächsten Jahre sicherlich fordern wird, deshalb sehr und
werbe um Ihre Zustimmung.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({1})
Vielen Dank. - Als nächste Rednerin hat Agnieszka
Brugger von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das
Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Stellvertretend für viele Frauen im Südsudan, die großes Leid
ertragen müssen, möchte ich Rosa Koang zu Wort kommen lassen, die ein wirklich schreckliches Schicksal hinter sich hat. Von ihren fünf Töchtern sind zwei ermordet
worden. Mit dreien konnten sie sich selbst in den Stützpunkt der Friedensmission UNMISS retten. Sie sagt:
Wir Frauen im Camp leiden sehr. Um Wasser und
Feuerholz zu holen, müssen wir das Lager verlassen, aber da draußen lauern alle möglichen Gefahren. Es gibt wilde Tiere, aber noch schlimmer ist,
dass wir vergewaltigt werden. Zwei Mal musste ich
schon zusehen, wie sie meinen Töchtern Gewalt antaten. Trotzdem müssen wir immer wieder in den
Busch. Wir haben keine andere Wahl, wir brauchen
Holz und Wasser zum Leben. Wir können nur zu
Gott beten.
Meine Damen und Herren, ich finde, diese schrecklichen Schilderungen zeigen noch viel dramatischer und
persönlicher als die extrem hohen abstrakten erschreckenden Zahlen, die wir immer wieder nennen, wenn wir
über den Konflikt im Südsudan sprechen, wie wichtig es
ist, dass die internationale Gemeinschaft hier präsent ist
und handelt.
Über 2 Millionen Menschen sind dort auf der Flucht.
Nach Schätzungen der Vereinten Nationen gibt es
13 000 Kindersoldaten im Südsudan. In manchen Dörfern gibt es keine Jungen mehr, die älter als 14 Jahre sind.
In großen Teilen des Landes herrscht eine Hungerkatastrophe. 30 000 Menschen sind unmittelbar vom Hungertod bedroht.
Ich habe wie viele Kolleginnen und Kollegen hier in
den letzten Monaten bei verschiedenen Konflikten dieser Welt gefragt: Wie kann es eigentlich sein, dass die
reichen Staaten dieser Welt und die internationale Gemeinschaft es nicht schaffen, im Südsudan und in den
Nachbarländern von Syrien wenigstens sicherzustellen,
dass die Menschen genug zu essen haben?
({0})
Ich habe darauf keine gute Antwort bekommen, und ich
finde, die EU - oder wer auch immer - sollte einfach
Geld in die Hand nehmen und wirklich dafür sorgen, dass
die Menschen, die vor Krieg fliehen mussten, jetzt nicht
auch noch den Hungertod fürchten müssen.
Kindersoldaten, Hungerkatastrophe, Massenvergewaltigungen, mehrere Zehntausend Tote: Das sind die
Folgen des grauenvollen Machtkampfes zwischen Präsident Kiir und seinem Kontrahenten Machar. IGAD, die
Regionalorganisation der Staaten in Nordostafrika, hat
unermüdlich versucht, zwischen diesen Gruppen zu vermitteln. Es sind zahlreiche Vereinbarungen geschlossen
worden, und zahlreich sind sie auch gebrochen worden.
Auf das neue Friedensabkommen blicken wir daher natürlich einerseits mit großer Hoffnung und andererseits
mit einer gewissen Skepsis.
Meine Damen und Herren, die Friedensmission der
Vereinten Nationen UNMISS hat nicht nur den Auftrag,
bei der Umsetzung des Friedensabkommens zu unterstützen, sondern sie ist mit vielen Hilfsorganisationen
die Kraft im Land, die trotz aller Gefahren versucht, die
Menschen zu schützen.
Es war eine mutige und außergewöhnliche Entscheidung, dass nach dem Gewaltausbruch 2013 die damalige Leiterin der UN-Mission beschlossen hat, einfach die
Türen für die Flüchtlinge zu öffnen. Heute, zwei Jahre
später, befinden sich noch immer 184 000 Menschen in
den Camps der Vereinten Nationen.
Denken wir an die Schilderungen von Frau Koang am
Anfang der Rede zurück. Sie zeigen nicht nur das unermessliche Leid, sondern auch die Grenzen von UNMISS, die auch der Kollege van Aken hier angesprochen
hat. Aber ist die Schlussfolgerung dann, hier zu sagen:
„Weil UNMISS nicht auch noch im Land präsent sein
und jede Gewalt verhindern kann, wollen wir, dass diese
184 000 Menschen nicht geschützt sind“? Herr Kollege
van Aken, ich kann Ihre zynische Argumentation an dieser Stelle nicht nachvollziehen.
({1})
Ja, die Frauen und Männer haben Angst, das Camp zu
verlassen, weil die Mission auch nicht wirklich außerhalb wirken kann. Ihr fehlen Fahrzeuge, Hubschrauber
und Aufklärungsmittel. Ja, auch die Lage in den Camps
selbst ist extrem angespannt. Die Versorgung ist schwierig, aber natürlich gibt es auch Übergriffe und hohe Kriminalitätsraten. Deshalb fehlt es auch ganz viel an Polizei.
Herr Kollege Kiesewetter, Sie haben recht: Es ist eine
gute Entscheidung, wenn das deutsche Polizeiengagement erhöht wird. Allerdings wird es von 10 auf 20 Polizeikräfte erhöht, und ich denke, wir brauchen hier viel
mehr. Erst wenn wir bei einer Zahl von 100 sind, macht
es einen Unterschied.
({2})
Meine Damen und Herren, derzeit sind 16 Bundeswehrangehörige und 15 Polizisten Teil dieser wichtigen
Friedensmission. Das ist ein sehr bescheidener Beitrag.
Großbritannien hat aktuell 300 zusätzliche Kräfte in den
Raum gestellt. Wir führen hier große Debatten über die
neue deutsche Verantwortung in der Außen- und Sicherheitspolitik, und auch Herr Steinmeier als Außenminister und Frau von der Leyen als Verteidigungsministerin
fordern das immer wieder ein. Hier können wir einen
unmittelbaren Beitrag dazu leisten, dass Menschen vor
Gewalt geschützt werden - zivil, polizeilich, aber auch
militärisch. Ich finde, wir könnten und wir sollten viel
mehr für die Menschen im Südsudan tun.
({3})
Als letzte Rednerin in dieser Debatte hat Julia
Obermeier von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Mädchen im
Südsudan an den Folgen von Schwangerschaft und Geburt verstirbt, ist dreimal größer, als dass es eine Grundschulausbildung abschließt.
Der Bürgerkrieg, der im Südsudan seit Dezember 2013 wütet, trifft vor allem die Schwächsten. Jedes
dritte Kind im Südsudan ist unterernährt, und eine Viertelmillion Kinder ist vom Hungertod bedroht. Zudem berichtet UNICEF von einer immer schlimmer werdenden
Gewalt gegen Kinder.
Es gehört zur grausamen Kriegstaktik beider Parteien,
gezielt Kinder zu vergewaltigen, zu verstümmeln und zu
töten. Unter den 80 Zivilisten, die im Oktober bei Kämpfen im Südsudan getötet wurden, waren mindestens
57 Kinder. Damit nicht genug: Etwa 13 000 Minderjährige werden als Kindersoldaten zum Kämpfen gezwungen.
Die Gewalt in einem der ärmsten Länder Afrikas hat unvorstellbare Ausmaße angenommen.
Als der Südsudan vor vier Jahren gegründet wurde,
war die Hoffnung der internationalen Gemeinschaft groß,
dass dort Frieden eintreten könnte. Mittlerweile ist diese
Hoffnung verflogen. Präsident Kiir und sein ehemaliger
Stellvertreter Machar tragen ihren brutalen Machtkampf
auf dem Rücken der Bevölkerung aus. Sie treiben einen
blutigen Bürgerkrieg zwischen den beiden Volksgruppen, der Dinka und der Nuer, an. Bisher forderte dieser
Konflikt Zehntausende Todesopfer.
Auch wenn UNMISS diese grausamen Auswüchse des
Bürgerkriegs nicht verhindern konnte, durch die Mission
wurde und wird zumindest eine noch größere humanitäre
Katastrophe abgewendet. Die Mission ist also wichtig.
Sie schützt unschuldige Menschen und rettet Leben.
({0})
Viereinhalb Millionen Menschen im Südsudan überleben dank der Nahrungsmittelhilfe der UN. 200 000 Menschen haben Schutz vor Krieg und Gewalt in den Camps
von UNMISS gefunden.
Deutschland leistet einen wichtigen Beitrag zur Versorgung und zum Schutz der Menschen im Südsudan.
Seit Ausbruch des Bürgerkrieges hat Deutschland
über 80 Millionen Euro an humanitärer Hilfe geleistet.
Diese Hilfe kann nur dank UNMISS bei den Bedürftigen ankommen. Daher beteiligt sich die Bundeswehr
seit Beginn an der Mission. Die deutschen Soldatinnen
und Soldaten leisten insbesondere im Stab des Missionshauptquartiers einen wichtigen Dienst. Sie sorgen dafür,
dass die über 10 000 Blauhelme gut koordiniert eingesetzt werden.
Zuletzt haben sich bis zu 16 deutsche Soldatinnen und
Soldaten ihrer Aufgabe gewidmet. Künftig können es bis
zu 50 sein. Wir waren auch jetzt schon bereit, mehr als
16, bis zu 50 dorthin zu senden. Dieser höhere Bedarf
wurde aber bisher noch nicht abgefragt.
Auch unterstützen deutsche Polizeikräfte die UN-Mission. Bisher sind es zehn, und künftig werden es doppelt
so viele sein.
Ein Spezialteam widmet sich insbesondere der Problematik sexueller Gewalt und Gewalt gegen Frauen.
An dieser Stelle danke ich ganz herzlich all unseren
deutschen Einsatzkräften, die im Südsudan tätig sind.
({1})
Durch sie und ihre Mitstreiter der UN-Mission kommen
die überlebensnotwendigen Hilfslieferungen an. Unsere
Soldaten tun ihr Möglichstes, um die Zivilbevölkerung
zu schützen und für Frieden im Südsudan einzutreten.
Sehr geehrte Damen und Herren, ich bitte Sie um Ihre
Unterstützung für den Antrag der Bundesregierung, insbesondere um den Kindern im Südsudan eine Hoffnung
auf Frieden zu geben.
Danke.
({2})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, damit schließe ich
die Debatte.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Bundesregierung
zur Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher
Streitkräfte an der von den Vereinten Nationen geführten Friedensmission in Südsudan ({0}). Der Aus-
schluss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 18/6638, den Antrag der Bundesregierung
auf Drucksache 18/6504 anzunehmen. Wir stimmen nun
über die Beschlussempfehlung namentlich ab. Ich bitte
die Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehe-
nen Plätze einzunehmen. Sind die Plätze an den Urnen
besetzt? - Dann eröffne ich die Abstimmung über die
Beschlussempfehlung.
Ist ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Stim-
me noch nicht abgegeben hat? - Das ist nicht der Fall.
Ich schließe die Abstimmung und bitte die Schriftführe-
rinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu begin-
nen. Das Ergebnis der Auszählung wird Ihnen später be-
kannt gegeben.1)
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir kommen jetzt
zum Tagesordnungspunkt 16 a und 16 b:
a) Erste Beratung des von den Abgeordneten
Dr. André Hahn, Frank Tempel, Ulla Jelpke,
weiteren Abgeordneten und der Fraktion DIE
LINKE eingebrachten Entwurfs eines Ersten
Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über
die parlamentarische Kontrolle nachrichten-
dienstlicher Tätigkeit des Bundes
Drucksache 18/6640
1) Ergebnis Seite 13355 D
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({1})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Verteidigungsausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. André Hahn, Frank Tempel, Ulla Jelpke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Parlamentarische Kontrolle der nachrichtendienstlichen Tätigkeit des Bundes verbessern
Drucksache 18/6645
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({2})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Verteidigungsausschuss
Ich möchte die Kolleginnen und Kollegen bitten, die
Plätze einzunehmen und die Gespräche zu beenden, damit wir in der Debatte fortfahren können.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. Gibt es dazu
Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das so
beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner in dieser
Debatte hat Dr. André Hahn von der Fraktion Die Linke
das Wort.
({3})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Eines möchte ich gleich zu Beginn klarstellen:
An unserer programmatischen Zielsetzung zur Überwindung bzw. zur mittelfristigen Abschaffung der Geheimdienste halten wir als Linke nach wie vor fest.
({0})
Ein wichtiger Schritt dahin ist der komplette Verzicht auf
den Einsatz von V-Leuten, wie wir es in unserem Antrag
fordern und wie es Thüringen bereits heute praktiziert.
Solange wir die Geheimdienste nicht auflösen können - Mehrheiten dafür sind leider nicht in Sicht -, muss
alles getan werden, um wenigstens die derzeit völlig unzureichenden parlamentarischen Kontrollmöglichkeiten
zu verbessern.
({1})
Im Gesetzentwurf sowie im Antrag schlägt die Linke
daher knapp 20 konkrete Änderungen vor. Aus Zeitgründen kann ich nur einige ausgewählte Punkte nennen. So
gibt es gegenwärtig für das Parlamentarische Kontrollgremium keinerlei Stellvertreterregelung.
({2})
Das Kontrollgremium besteht aus neun Mitgliedern. Die
beiden kleinen Fraktionen haben jeweils ein Mitglied im
PKGr. Im Falle einer Erkrankung oder eines anderweitigen Ausfalls sind insbesondere diese Fraktionen womöglich über einen langen Zeitraum überhaupt nicht im
Kontrollgremium vertreten. Dies soll mit der vorgeschlagenen Neuregelung verändert werden.
Nach der bisherigen Rechtslage können sich Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Nachrichtendienste bei Problemen, Missständen oder der Feststellung von Rechtsverstößen zwar an das PKGr oder eines seiner Mitglieder
wenden; sie sind jedoch zugleich verpflichtet, die Leitung
des jeweiligen Dienstes darüber zu unterrichten. Das hat
in der Praxis dazu geführt, dass es kaum derartige Informationen an das Kontrollgremium gab, weil Mitarbeiter
der Dienste berufliche Nachteile befürchten mussten.
Deshalb soll dieser Passus nunmehr gestrichen werden.
Die Wirtschaftspläne der Nachrichtendienste sollen
nach unserem Vorschlag nicht länger im geheim tagenden Vertrauensgremium, sondern im regulären Haushaltsausschuss beraten werden. Wir wollen hier vollständige Transparenz.
({3})
Nach unserem Gesetzentwurf soll es künftig nach Zustimmung eines Drittels der Mitglieder des PKGr möglich sein, dass zu bestimmten brisanten Vorgängen entgegen der grundsätzlichen Pflicht zur Geheimhaltung eine
öffentliche Bewertung abgegeben werden kann. Bislang
ist dafür eine Zweidrittelmehrheit erforderlich. Durch die
vorgeschlagene Neuregelung werden die Minderheitenrechte gestärkt.
Zudem wollen wir eine Rechtsgrundlage dafür schaffen, dass die Mitglieder des Kontrollgremiums ihre Fraktionsvorsitzenden über wichtige Vorgänge informieren
können. Denn sie sind nicht als Privatpersonen in den
Gremien, sondern als Vertreter ihrer Fraktionen.
({4})
Weiterhin soll im Gesetz festgeschrieben werden, dass
von den Sitzungen des Kontrollgremiums ein kompletter
Tonbandmitschnitt anzufertigen ist, um später bei Bedarf
prüfen zu können, ob Aussagen der Bundesregierung
oder der Vertreter der Nachrichtendienste wahrheitsgemäß und vollständig erfolgt sind. So waren zum Beispiel
die brisanten BND-Selektoren der Bundesregierung seit
2013 bekannt. Eine Unterrichtung des Kontrollgremiums
erfolgte erst im September 2015, und auch das nur unter
dem Druck absehbarer Medienveröffentlichungen.
Und schließlich: Nach der geltenden Rechtslage kann
das Bundesverfassungsgericht bei Streitigkeiten mit der
Bundesregierung nur dann eingeschaltet werden, wenn
dies von einer Zweidrittelmehrheit des Kontrollgremiums beschlossen wird. Das bedeutet im Klartext, dass
eine Anrufung des höchsten deutschen Gerichts nur dann
möglich ist, wenn die jeweilige Koalition die eigene Regierung verklagt. Das ist nicht nur theoretisch abwegig,
sondern in der Praxis auch noch nie vorgekommen. Deshalb sollte es künftig einer Fraktion ermöglicht werden,
eine Klage einzureichen, sofern sie sich in ihren Rechten
verletzt sieht.
({5})
Abschließend noch ein letztes Wort zu den jüngsten
Vorwürfen gegen den BND. Wenn es denn stimmen
sollte, dass reihenweise befreundete Regierungen, deren
Botschaften oder sogar deutsche Diplomaten ausgespäht
wurden, dann gibt es dafür keinerlei Rechtfertigung,
nicht juristisch und schon gar nicht politisch.
({6})
Umso wichtiger ist eine wirksame parlamentarische
Kontrolle der Geheimdienste. Dem dienen unser Gesetzentwurf und unser Antrag.
Herzlichen Dank.
({7})
Als nächster Redner hat Clemens Binninger von der
CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Zunächst einmal bin ich positiv überrascht, dass dieses
Thema heute Abend auf so viel Interesse im Plenum
stößt.
({0})
Das hat sicherlich nichts mit der anschließenden namentlichen Abstimmung zu tun. Vielmehr sind Sie alle nur
hier, weil Sie Interesse an der parlamentarischen Kontrolle haben.
({1})
Insofern vielen Dank für Ihr Interesse.
({2})
- Es liegt nicht an mir? Das ist ein harter Zwischenruf.
Ich hoffe, dass es mir gelingt, ein paar Dinge klarzustellen. Ich bin Ihnen dankbar, Kollege Hahn, dass Sie
mit einem Satz begonnen haben, der die ganze Debatte
eigentlich fast überflüssig macht.
({3})
- Doch. - Wer zu Beginn seiner Rede zum Tagesordnungspunkt betreffend die parlamentarische Kontrolle
der Nachrichtendienste sagt: „Unsere programmatische
Grundaussage, dass wir die Nachrichtendienste abschaffen wollen, bleibt bestehen“, vergibt sich nach meiner
Auffassung das Recht auf die Kontrolle und die Reform
der Kontrolle.
({4})
Wenn man eine faire, objektive und nachhaltige parlamentarische Kontrolle ausüben will, kann man nicht
gleichzeitig sagen: Eigentlich hat die Kontrolle nur das
Ziel, die von mir zu Kontrollierenden abzuschaffen. Dann bekommen Sie auf Dauer ein Glaubwürdigkeitsproblem.
Nun muss man wissen, dass das Parlamentarische
Kontrollgremium durchaus eine besondere Stellung hat.
In Artikel 45 d unserer Verfassung sind wir, die Mitglieder des Parlamentarischen Kontrollgremiums, ausdrücklich genannt, weil wir etwas machen, was die anderen
Ausschüsse nicht machen können. Wir sind stellvertretend für das ganze Plenum mit dieser Aufgabe betraut.
Wir werden - auch die Vertreter der Opposition - in
geheimer Wahl mit Kanzlermehrheit gewählt - das ist
nichts Triviales -, weil wir hier die Interessen des ganzen Hauses vertreten. Wenn wir über parlamentarische
Kontrolle reden und hier Reformbedarf sehen - auch wir
tun das; ich komme gleich darauf zurück -, dann sollten
wir uns bewusst sein, dass es eine Kontrolle sein muss,
die unserem Anspruch genügt und nicht zum Ziel haben
kann, Nachrichtendienste sturmreif zu schießen, weil es
im Parteiprogramm steht.
({5})
Nebenbei glaube ich, dass wir der Sicherheit unseres
Landes keinen Gefallen tun würden, wenn wir auf Ihrem Weg, Herr Hahn, voranschreiten würden. Wir sind
uns doch hoffentlich einig, dass die Herausforderungen,
vor denen wir stehen - auch die Bedrohung durch den
islamistischen Terrorismus -, Nachrichtendienste notwendig machen. Wie sollen wir sonst an Erkenntnisse
herankommen? Wie sonst sollen wir zu Beurteilungen
gelangen, die für unsere Sicherheit von Bedeutung sind?
Deshalb kann es zumindest für meine Fraktion - das gilt
mit Sicherheit auch für die Kollegen von der SPD und
wahrscheinlich ebenfalls für die Kollegen von den Grünen - an der Grundaussage, dass unsere wehrhafte parlamentarische Demokratie Nachrichtendienste braucht über die Kontrolle können wir ja reden -, keinen Zweifel
geben.
({6})
Ich versuche nun, mich mit Ihrem Antrag konkret auseinanderzusetzen, auch wenn er das Ziel hat, die Dienste
abzuschaffen. Ich habe die darin enthaltenen Forderungen genau gelesen. Ich will gleich vorausschicken: Bei
zwei oder drei Forderungen können wir uns durchaus
annähern.
({7})
- Das kommt vor. Wir versuchen, es objektiv zu machen.
({8})
Eigentlich geht es Ihnen aber nur um eines - das zieht
sich wie ein roter Faden durch -: den Mitwisserkreis vergrößern, mehr Teilnehmer, weniger Geheimhaltung und
am liebsten gleich alles an das schwarze Brett hängen.
({9})
So funktioniert die Kontrolle von Nachrichtendiensten
aber wirklich nicht. Deshalb kann man Ihren Vorlagen
überhaupt nicht nahetreten. Wir Mitglieder des Parlamentarischen Kontrollgremiums sind gewählt. Aus diesem gutem Grund gibt es keine Stellvertreterregelung.
Wenn Sie sagen, wenn jemand länger ausfalle, dann
sei eine kleine Fraktion nicht mehr in dem Gremium vertreten, dann antworte ich: Für solche längeren Phasen,
die ich niemandem wünsche, gäbe es auch die Möglichkeit, ein anderes Mitglied der Fraktion für diese Dauer
zu wählen. Das wird Ihnen niemand verwehren. Es gibt
Möglichkeiten, für Ersatz zu sorgen. Aber einfach nur
mehr Öffentlichkeit herstellen und den Kreis der Personen, die Brisantes erfahren, einfach erweitern zu wollen,
bringt keinen Mehrwert für die Kontrolle. Wo ist da wirklich der Mehrwert? Sie haben mehr Mitwisser, aber keine
bessere Kontrolle. Deshalb kann man alle diese Punkte
rundherum ablehnen.
Wo ich etwas näher bei Ihnen bin - bei aller Vorsicht,
weil ich weiß, dass auch die Kollegen der SPD und, wie
ich glaube, auch die Kollegen der Grünen es so sehen -,
ist, dass wir als Gremiumsmitglieder zukünftig die Erlaubnis haben sollten, die Fraktionsvorsitzenden über
besondere Sachverhalte zu informieren. Das halte ich
für notwendig angesichts der Bedeutung, die wir hier
im Hause haben, und auch angesichts der Bedeutung der
Aufgabe. Das sind Punkte, die wir, wie ich glaube, schon
verändern müssen.
({10})
- Volker, auch du wirst manches erfahren müssen. So ist
es halt.
({11})
Kommen wir zum Punkt Öffentlichkeit. Wir tagen
grundsätzlich geheim. Jeder, der das seriös bewertet,
muss das einräumen. Das Dilemma wird sich nicht auflösen lassen, weil die Sachverhalte, die wir erfahren, zu
brisant sind und weil eine Veröffentlichung die Arbeitsfähigkeit unserer Dienste gefährden würde. Aber dass
man - die USA machen es auch - einmal im Jahr eine
öffentliche Befragung der Präsidenten der Nachrichtendienste durchaus anberaumen kann, unter Berücksichtigung des Geheimschutzes, könnte am Ende nicht nur
der Kontrolle, sondern auch der Akzeptanz der Dienste
in unserer Gesellschaft dienen. Über solche Dinge kann
man mit uns reden. Aber einfach den Mitarbeiterkreis zu
erweitern, die Zahl der Wissenden zu erhöhen und das
Ganze mit dem Ziel zu machen, die Nachrichtendienste
am Ende abzuschaffen, darüber kann man mit uns nicht
reden und auch nicht verhandeln. Das ist eine klare Aussage.
({12})
Herr Kollege Hahn, Sie sind derzeit der Vorsitzende
des Gremiums, und ich bin Stellvertreter. Ich hätte mir
gewünscht, dass Sie mit zwei Sätzen den Kollegen, die
heute Abend hier sind, weil sie das Thema interessiert,
sagen, dass sich bei der parlamentarischen Kontrolle
doch schon einiges verbessert hat. Wir haben in dieser
Legislatur, zum ersten Mal übrigens, sieben konkrete
Kontrollaufträge benannt. Das war alles öffentlich, und
ich verrate hier keine Geheimnisse. Die reichen von der
Thematik der V-Leute bis hin zur Zusammenarbeit des
BND in anderen Bereichen.
Wir haben eine Task Force gebildet. Auch das hatten
wir noch nie. Das sind Mitarbeiter, die in unserem Auftrag die Nachrichtendienste aufsuchen dürfen, sich dort
Akten zeigen lassen dürfen und dort Mitarbeiter befragen dürfen. Dieses Mittel setzen wir ein. Wir setzen es
auch bei dem aktuellen Thema ein, das Sie angesprochen
haben, nämlich bei der Frage, ob die Suchbegriffe des
BND möglicherweise gegen das Gesetz oder gegen das
Auftragsprofil verstoßen. Auch da haben wir unsere Task
Force eingesetzt.
Wir werden unserer Kontrollaufgabe gerecht. Deshalb müssen wir, wenn wir über Reformen sprechen,
über die größte Schwachstelle der parlamentarischen
Kontrolle sprechen. Das ist die Selbstkritik, Herr Kollege Hahn. Alle, die in diesem Gremium einmal waren,
werden zugeben müssen, dass man als Abgeordneter, der
noch andere Aufgaben hat, überhaupt nicht die notwendige Zeit hat, um die Kontrollinstrumente, die das Gesetz
vorsieht, anzuwenden. Uns fehlt schlicht und einfach die
Zeit. Man brauchte viele Tage und Wochen im Jahr, um
Behörden aufzusuchen und Mitarbeiter zu befragen. Wir
machen das, aber alles nur sehr punktuell.
Herr Kollege Binninger, lassen Sie eine Zwischenfrage zu?
({0})
- Okay. Dann machen wir anschließend eine Kurzintervention.
Ich würde auch die Frage zulassen. Dann sind wir
durch.
Deshalb sind wir zurzeit dabei, die größten Schwachpunkte mit einer Reform zu beseitigen. Wir sagen gemeinsam mit den Kollegen der SPD: Es wäre hilfreich,
wenn wir im Gremium eine hochrangige Person - Sie
können sie Geheimdienstbeauftragter nennen oder Ständiger Bevollmächtigter - hätten, die mit einem Arbeitsstab das ganze Jahr in unserem Auftrag diese Kontrollfunktion ausübt, sich also ganzjährig dieser Aufgabe
widmet. Dann hätten wir ein Kontrollniveau, das sehr
viel höher wäre als das, das wir erreichen können. Man
hätte am Ende Ergebnisse, und das würde zur Versachlichung manch aufgeregter Debatte beitragen.
Wir als vom Parlament Gewählte hätten trotzdem das
Sagen, wir würden die Aufträge erteilen. Dabei kämen
selbstverständlich alle Kollegen gleichermaßen zum
Zuge. Wir verfahren nicht nach Opposition und Regierung. Ich glaube, das ist der zentrale Ansatz. Die Instrumente, die wir zwar anwenden dürfen, aber so gut wie
nie anwenden - das ist der ehrliche Befund -, können
wir an einen Stab geben, der uns zugeordnet ist und diese
Aufgabe machen kann. Dann sind wir auch auf einem
Weg, dass die parlamentarische Kontrolle so ausgeführt
wird, dass sie der Dimension der Aufgabe gerecht wird,
dass sie unserem Anspruch gerecht wird, dass sie aber
auch den Diensten nutzt. Ich sage immer: Ich stelle mich
vor die Dienste. Das kann ich aber nur, wenn ich sie vorher konsequent kontrolliert habe. Dann kann ich mich
davorstellen. Fehler benennen und sagen: „Das ist kein
Fehler“, beides muss man können. Dazu brauchen wir
diesen Stab.
Wir werden wahrscheinlich im nächsten Jahr einen
konkreten Gesetzentwurf vorlegen. Ich bitte Sie herzlich,
uns dabei zu unterstützen. Das wäre eine wirkliche Reform der parlamentarischen Kontrolle. Ihr Papierchen ist
getragen von dem ersten Satz: Eigentlich wollen wir die
Nachrichtendienste abschaffen. Dafür sind wir, aber auch
die Mehrheit in diesem Hause, nicht zu haben.
({0})
Jetzt erhält der Kollege Dr. Hahn das Wort zu einer
Kurzintervention.
Frau Präsidentin! Sehr geehrter Kollege Binninger, da
Sie mich mehrfach direkt angesprochen haben, möchte
ich auf drei Punkte kurz reagieren.
({0})
Sie haben sinngemäß gesagt: Wer für die Abschaffung
der Geheimdienste sei, der hätte nicht das Recht, Verbesserungs- und Veränderungsvorschläge zu machen. Ich
halte das für ein sehr fragwürdiges Demokratieverständnis - um das klar zu sagen.
({1})
Wir haben eine politische Programmatik, und wir arbeiten hier im Parlament konstruktiv mit. Sie haben zu Recht
gesagt, es gibt dafür keine Mehrheiten. Dann behalten
wir uns aber auch das Recht vor, konkrete Vorschläge zu
machen, was an der jetzigen Situation verbessert werden
kann.
({2})
Zweiter Punkt. Sie haben gesagt, Sie hätten sich gewünscht, dass ich einräume, dass sich bei der parlamentarischen Kontrolle das eine oder andere verbessert hat.
Ich habe gestern eine Pressekonferenz gegeben, in der
ich unsere Entwürfe vorgestellt habe. Ich habe zehn Minuten damit verbracht, zu sagen, was sich positiv entwickelt hat.
({3})
- Herr Kollege Binninger, ich habe die Punkte dort benannt. Ich habe hier, anders als Sie, nur vier Minuten
Redezeit. Da muss ich mich leider darauf beschränken,
unsere Vorschläge vorzustellen.
({4})
Dritter Punkt. Herr Kollege Binninger, Sie haben
gesagt, man kann die Nachrichtendienste nicht einfach
sturmreif schießen, weil man die Auflösung in seinem
Parteiprogramm vorgesehen hat. Hier muss ich ganz klar
sagen: Die deutschen Nachrichtendienste haben in den
letzten Monaten und Jahren durch Pannen und Skandale
selbst alles dafür getan, ihre eigene Existenzberechtigung
infrage zu stellen. Darüber müssen wir hier reden.
({5})
Herr Kollege Binninger, wünschen Sie das Wort zur
Erwiderung?
({0})
Ich mache es kurz.
Erster Punkt. Ich habe gesagt, Sie haben ein Glaubwürdigkeitsproblem. Natürlich können Sie hier Anträge
einbringen, wie Sie es für richtig halten. Aber wie soll
man dem, der sagt, er will die Dienste abschaffen, ernsthaft abnehmen, dass er in der Lage ist, objektiv und fair
zu kontrollieren? Das ist ein Glaubwürdigkeitsproblem.
({0})
Zweiter Punkt. Dafür, dass Sie nur vier Minuten Redezeit haben, kann ich nichts. Es ist letztendlich Ausdruck
des Wählerwillens, dass Sie vier Minuten haben und ich
zehn Minuten. Das müssen Sie einfach so akzeptieren.
({1})
- Es ist halt so. Ich kann nichts dafür.
({2})
Also, jetzt muss ich einmal unterbrechen. Der Kollege
Binninger hat das Wort.
Ich bin auch gleich fertig.
Dritter Punkt. Natürlich gab es in den letzten Jahren
Versäumnisse und schwere Fehler bei den Nachrichtendiensten, Beispiel NSU. Aktuell gehen wir den Fragen
nach. Das ist richtig und auch unsere Aufgabe. Ich möchte aber nicht dieses Pauschalurteil, das besagt, dass die
Dienste per se alle auf dem falschen Dampfer sind, wir
müssen sie abschaffen.
({0})
Differenzierung und faire Kritik gehören auch zur parlamentarischen Kontrolle.
({1})
Als nächster Redner spricht Hans-Christian Ströbele
von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Freundinnen und Freunde der
Geheimdienste und liebe Freundinnen und Freunde der
Kontrolle der Geheimdienste!
({0})
Jeder kann überlegen, wo er sich da einordnet.
Der Vorschlag, den die Linke relativ überraschend
gemacht hat - ich habe die Vorlagen trotzdem gelesen enthält viel Richtiges, vieles von dem, was wir schon seit
Jahren fordern, wozu wir Gesetzesvorschläge gemacht
haben, die leider noch keine Mehrheit im Deutschen
Bundestag gefunden haben. Dazu gehören das stellvertretende Mitglied im Parlamentarischen Kontrollgremium - das muss einfach sein; aus unbekannten Gründen
wird das verweigert -, die Unterrichtung des Fraktionsvorstandes - es ist völlig absurd, dass man das nicht darf;
das war früher schon einmal anders - und natürlich auch
die Anwesenheit von Mitarbeitern bei Sitzungen. Auch
sie sollten dabei sein dürfen.
Aber ich sage Ihnen: Das eigentliche Problem ist ein
anderes. Lieber Kollege Binninger, ich schließe mich
gern an, wenn wir einmal einen Abend lang Selbstkritik
üben.
({1})
Bei einigem haben Sie ja recht. Viele Abgeordnete haben
einfach nicht die Zeit, sich ausreichend zu kümmern. Wir
können gerne einen solchen Abend veranstalten; ich mache mit.
Heute will ich einmal sagen, woran die Kontrolle der
Nachrichtendienste in den letzten Jahren, vor allen DinDr. André Hahn
gen seit der Snowden-Enthüllung, gescheitert ist, nämlich an den Mitgliedern der Bundesregierung, der Geheimdienste, die mich und Sie und andere, die in dem
Parlamentarischen Kontrollgremium sitzen, belogen
haben, die die Unwahrheit gesagt haben,
({2})
die verschwiegen haben, die da saßen wie Engel und den
Eindruck erweckten: Wir wissen von nichts; keine Ahnung, was der Snowden da will; keine Ahnung, was die
USA machen. Wir kümmern uns doch nicht um Freunde. - Sogar hatte die Kanzlerin gesagt, das Abhören von
Freunden gehe gar nicht. Was wir jetzt alles an Informationen, an Meldungen bekommen, das zeigt, dass das
überwiegend gelogen war, und das darf doch nicht wahr
sein.
({3})
Da müssen Sie etwas verbessern. Deshalb fordere ich
drei Punkte:
Erstens. In solchen parlamentarischen Gremien muss
die Opposition die Möglichkeit haben, allein Sachen
durchzusetzen.
({4})
Das heißt, wir brauchen Oppositionsrechte, auch wenn
die Opposition noch so klein ist. Denn die Regierungskoalition sieht ihre Hauptaufgabe darin - das ist auch
eine Kritik an Ihnen -, sich vor die Geheimdienste zu
stellen, sie zu schützen und zu rechtfertigen, was sie tut.
So ist die Realität. Nur die Opposition kann das durchbrechen.
Zweitens. Wir brauchen - das fordere ich jetzt seit
zehn Jahren - eine wörtliche Protokollierung von dem,
was in den Sitzungen dieses Gremiums gesagt wird.
({5})
Es ist doch ein Unding, dass wir uns jetzt nicht über die,
glaube ich, acht oder zehn Sondersitzungen im Jahr 2013
unterhalten können, um der Frage nachzugehen: Was hat
da Herr Schindler gesagt? Was hat da Herr Pofalla gesagt? Was hat der Minister gesagt? Wenn wir das nicht
nachhalten können, können wir sie nicht überführen, dass
sie uns belogen haben; vielmehr sind wir auf unser eigenes Gedächtnis angewiesen.
Das, was in anderen Ausschüssen möglich ist, beispielsweise im Auswärtigen Ausschuss - da werden auch
geheime Sitzungen mitgeschnitten -, muss eingeführt
werden.
({6})
Jeder, der das Kontrollgremium arbeitsfähig machen
will, der muss das wollen. Warum wollen Sie das nicht?
Haben Sie Angst vor Ihrer eigenen Rede, die dann protokolliert worden ist? Das darf nicht sein.
Drittens. Wir brauchen Sanktionen gegen Mitglieder
der Bundesregierung, gegen Mitglieder der Geheimdienste, die uns im Parlamentarischen Kontrollgremium
belogen haben.
({7})
Es reicht nicht, im Gesetz zu verankern, wie es die Linke
jetzt will, dass die Mitglieder von Bundesregierung und
Geheimdiensten vollständig und wahrheitsgemäß informieren müssen; vielmehr muss es Folgen haben, wenn
sie lügen. Wir müssen gesetzlich verankern, dass es mindestens ein Disziplinarvergehen ist, wenn dort falsch
ausgesagt wird. Es kann doch nicht angehen, dass zwar
Falschaussagen im Untersuchungsausschuss strafrechtliche Konsequenzen haben, während wir Abgeordnete
im Parlamentarischen Kontrollgremium nach Strich und
Faden belogen werden können, ohne dass das irgendeine
Konsequenz hat.
({8})
Der letzte Punkt, den ich anfügen will - das ist mein
Lieblingspunkt -: Das sind die Whistleblower. Wir brauchen in unseren Gesetzen - wir haben das mehrfach
beantragt - Möglichkeiten, dass, wenn unter dem Deckmantel der Geheimhaltung Grundrechte verletzt werden,
wenn die Verfassung von Bund oder Ländern gebrochen
wird, man das als Abgeordneter frei hier von diesem Podium aus oder auch in den Ausschüssen sagen darf, ohne
dass der Staatsanwalt anschließend anklopft.
({9})
Eine solche Regelung haben wir schon einmal im Strafgesetzbuch gehabt.
({10})
Die muss man wieder einführen. Wenn Sie eine wirkliche
Kontrolle haben wollen, dann schließen Sie sich mir an.
({11})
Als letzte Rednerin in dieser Debatte hat Gabriele
Fograscher von der SPD-Fraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Es vergeht kaum ein Tag, an dem nicht neue Enthüllungen - Einzelheiten aus geheimen Unterlagen, Skandalträchtiges - über die Dienste in den Medien berichtet
wird. Und so fällt es einem in diesen Tagen nicht gerade
leicht, sich für die Nachrichtendienste in Deutschland
und ihre Notwendigkeit für die Sicherheit in Deutschland
und Deutscher im Ausland auszusprechen. Verfassungsschutz und Bundesnachrichtendienst haben viel Vertrauen und Glaubwürdigkeit verspielt.
Die Unfähigkeit des Verfassungsschutzes von Bund
und Ländern und anderer Sicherheitsbehörden, die Mordserie des Nationalsozialistischen Untergrunds aufzudecken und Straftaten zu verhindern, beschäftigt bis heute
den Bundestag und die Länderparlamente. Weil es viele
Zweifel und ungelöste Fragen gibt, haben wir gestern
den 2. Untersuchungsausschuss zum NSU eingesetzt. Als
Konsequenz aus dem 1. NSU-Untersuchungsausschuss
haben wir mit Reformen des Verfassungsschutzes begonnen. Zufrieden können wir damit aber noch nicht sein.
({0})
Die Veröffentlichungen von Edward Snowden
im Sommer 2013, der Untersuchungsausschuss zur
NSA-Affäre, Medien und Kontrollgremien des Bundestages decken immer neue Sachverhalte auf. Sie legen
das teilweise problematische Agieren des BND und befreundeter Dienste offen. Schwere technische und organisatorische Defizite sind beim Bundesnachrichtendienst
zutage getreten.
Unsere Antwort auf die Vorwürfe und Affären besteht
in der Aufklärung der Defizite in den Strukturen und der
Ursachen für die Fehlentwicklungen. Daraus müssen und
werden wir Konsequenzen für die Reform und Neuausrichtung der Dienste ziehen und diese zügig umsetzen.
({1})
Erste Schritte haben wir bereits unternommen. Wir
haben die Geschäftsordnung des Parlamentarischen
Kontrollgremiums verbessert, es personell aufgestockt
und eine Task Force geschaffen, die Sachverhalte untersuchen kann, und die Einsetzung eines Sonderermittlers
ermöglicht. Die Task Force arbeitet. Der Sonderermittler
hat einen Bericht zum Komplex „Corelli“ vorgelegt. Mit
diesen erweiterten Handlungsoptionen kann das Parlamentarische Kontrollgremium aktiver agieren, und die
Qualität der Kontrolle hat sich verbessert.
Das reicht uns aber noch nicht. Deshalb wollen wir
den Ständigen Beauftragten mit eigenem Arbeitsstab.
Dieser soll sowohl für das Parlamentarische Kontrollgremium als auch für das Vertrauensgremium und die
G10-Kommission arbeiten und diese unterstützen. Wir
erwarten auch noch mehr selbstständige Information
durch die Bundesregierung und die Nachrichtendienste
über Vorkommnisse, die politisch brisant sind oder sein
könnten.
Klar ist für uns: Der Bundesnachrichtendienst braucht
eine neue gesetzliche Grundlage. Dafür haben wir bereits vor der Sommerpause Eckpunkte vorgelegt. Wir
fordern: Bei Erstbeauftragung einer Maßnahme muss
der BND-Präsident zustimmen. Weiter fordern wir: ausdrückliches Verbot der Wirtschaftsspionage; besonderen
Schutz von EU-Bürgern, EU-Mitgliedstaaten und EU-Institutionen; ausdrückliches Verbot eines systematischen
Ringtauschs zur Umgehung nationaler Restriktionen und
deutliche organisatorische Maßnahmen, was heißt, dass
einzelne Abteilungen kein Eigenleben mehr führen dürfen.
Die Linke macht in ihrem Antrag und in ihrem Gesetzentwurf zahlreiche Vorschläge, die mal mehr, mal
weniger geeignet sind, die parlamentarische Kontrolle
der Dienste zu stärken. Ich frage mich aber: Wozu der
ganze Aufwand, wenn es - ich zitiere aus dem Antrag nur als Übergangslösung auf dem Weg zur Abschaffung
der Geheimdienste gedacht ist?
({2})
Wir als Koalition wollen mit unseren Vorschlägen die
Dienste stärken, sie leistungsfähiger und zielgerichteter
aufstellen und befähigen, die Herausforderungen der
heutigen Zeit und der Zukunft bewältigen zu können.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({3})
Vielen Dank. - Damit schließe ich die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 18/6640 und 18/6645 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.
Jetzt, liebe Kolleginnen und Kollegen, möchte ich,
bevor ich den nächsten Tagesordnungspunkt aufrufe,
das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung über
die Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher
Streitkräfte an der von den Vereinten Nationen geführten
Friedensmission in Südsudan ({0}) auf Grundlage
der Resolution 1996 des Sicherheitsrates der Vereinten
Nationen vom 8. Juli 2011 und Folgeresolutionen, zuletzt 2241 vom 9. Oktober 2015 bekannt geben: abgegebene Stimmen 578. Mit Ja haben gestimmt 518, mit
Nein haben gestimmt 58, Enthaltungen gab es 2. Die Beschlussempfehlung ist damit angenommen.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 577;
davon
ja: 517
nein: 58
enthalten: 2
Ja
CDU/CSU
Stephan Albani
Katrin Albsteiger
Artur Auernhammer
Dorothee Bär
Thomas Bareiß
Norbert Barthle
Günter Baumann
Maik Beermann
Manfred Behrens ({1})
Veronika Bellmann
Sybille Benning
Dr. Andre Berghegger
Ute Bertram
Peter Beyer
Steffen Bilger
Peter Bleser
Norbert Brackmann
Klaus Brähmig
Michael Brand
Dr. Reinhard Brandl
Helmut Brandt
Dr. Ralf Brauksiepe
Dr. Helge Braun
Ralph Brinkhaus
Cajus Caesar
Gitta Connemann
Alexandra Dinges-Dierig
Alexander Dobrindt
Michael Donth
Marie-Luise Dött
Iris Eberl
Dr. Bernd Fabritius
Hermann Färber
Uwe Feiler
Dr. Thomas Feist
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Dirk Fischer ({2})
Axel E. Fischer
({3})
Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Thorsten Frei
Dr. Hans-Peter Friedrich
({4})
Michael Frieser
Dr. Michael Fuchs
Hans-Joachim Fuchtel
Alexander Funk
Dr. Thomas Gebhart
Alois Gerig
Eberhard Gienger
Cemile Giousouf
Josef Göppel
Reinhard Grindel
Ursula Groden-Kranich
Hermann Gröhe
Klaus-Dieter Gröhler
Michael Grosse-Brömer
Astrid Grotelüschen
Markus Grübel
Manfred Grund
Oliver Grundmann
Monika Grütters
Dr. Herlind Gundelach
Fritz Güntzler
Christian Haase
Jürgen Hardt
Gerda Hasselfeldt
Matthias Hauer
Mark Hauptmann
Dr. Stefan Heck
Dr. Matthias Heider
Helmut Heiderich
Mechthild Heil
Frank Heinrich ({5})
Mark Helfrich
Uda Heller
Jörg Hellmuth
Rudolf Henke
Michael Hennrich
Ansgar Heveling
Christian Hirte
Robert Hochbaum
Thorsten Hoffmann
({6})
Alexander Hoffmann
Karl Holmeier
Franz-Josef Holzenkamp
Dr. Hendrik Hoppenstedt
Margaret Horb
Bettina Hornhues
Anette Hübinger
Hubert Hüppe
Erich Irlstorfer
Thomas Jarzombek
Sylvia Jörrißen
Dr. Franz Josef Jung
Xaver Jung
Dr. Egon Jüttner
Bartholomäus Kalb
Hans-Werner Kammer
Steffen Kanitz
Alois Karl
Anja Karliczek
Bernhard Kaster
Volker Kauder
Dr. Georg Kippels
Volkmar Klein
Axel Knoerig
Jens Koeppen
Markus Koob
Carsten Körber
Kordula Kovac
Michael Kretschmer
Gunther Krichbaum
Dr. Günter Krings
Rüdiger Kruse
Bettina Kudla
Dr. Roy Kühne
Uwe Lagosky
Andreas G. Lämmel
Katharina Landgraf
Ulrich Lange
Dr. Silke Launert
Paul Lehrieder
Dr. Katja Leikert
Dr. Philipp Lengsfeld
Dr. Andreas Lenz
Dr. Ursula von der Leyen
Antje Lezius
Matthias Lietz
Patricia Lips
Wilfried Lorenz
Dr. Claudia Lücking-Michel
Dr. Jan-Marco Luczak
Karin Maag
Yvonne Magwas
Thomas Mahlberg
Dr. Thomas de Maizière
Gisela Manderla
Hans-Georg von der Marwitz
Andreas Mattfeldt
Stephan Mayer ({7})
Reiner Meier
Dr. Michael Meister
Jan Metzler
Maria Michalk
Dr. h.c. Hans Michelbach
Dietrich Monstadt
Karsten Möring
Marlene Mortler
Volker Mosblech
Elisabeth Motschmann
Carsten Müller
({8})
Stefan Müller ({9})
Dr. Gerd Müller
Dr. Philipp Murmann
Dr. Andreas Nick
Michaela Noll
Helmut Nowak
Dr. Georg Nüßlein
Wilfried Oellers
Florian Oßner
Dr. Tim Ostermann
Ingrid Pahlmann
Sylvia Pantel
Martin Patzelt
Dr. Martin Pätzold
Ulrich Petzold
Dr. Joachim Pfeiffer
Sibylle Pfeiffer
Eckhard Pols
Thomas Rachel
Kerstin Radomski
Alexander Radwan
Alois Rainer
Dr. Peter Ramsauer
Eckhardt Rehberg
Lothar Riebsamen
Josef Rief
Dr. Heinz Riesenhuber
Johannes Röring
Dr. Norbert Röttgen
Erwin Rüddel
Albert Rupprecht
Anita Schäfer ({10})
Andreas Scheuer
Jana Schimke
Norbert Schindler
Tankred Schipanski
Heiko Schmelzle
Christian Schmidt ({11})
Gabriele Schmidt ({12})
Ronja Schmitt
Patrick Schnieder
Nadine Schön ({13})
Bernhard Schulte-Drüggelte
Dr. Klaus-Peter Schulze
Uwe Schummer
Armin Schuster
({14})
Christina Schwarzer
Detlef Seif
Reinhold Sendker
Dr. Patrick Sensburg
Bernd Siebert
Thomas Silberhorn
Tino Sorge
Jens Spahn
Carola Stauche
Dr. Frank Steffel
Dr. Wolfgang Stefinger
Albert Stegemann
Peter Stein
Erika Steinbach
Sebastian Steineke
Johannes Steiniger
Christian Frhr. von Stetten
Dieter Stier
Rita Stockhofe
Stephan Stracke
Max Straubinger
Matthäus Strebl
Karin Strenz
Thomas Stritzl
Lena Strothmann
Michael Stübgen
Dr. Sabine Sütterlin-Waack
Antje Tillmann
Astrid Timmermann-Fechter
Dr. Hans-Peter Uhl
Arnold Vaatz
Oswin Veith
Thomas Viesehon
Volkmar Vogel ({15})
Sven Volmering
Kees de Vries
Dr. Johann Wadephul
Marco Wanderwitz
Kai Wegner
Albert Weiler
Marcus Weinberg ({16})
Peter Weiß ({17})
Sabine Weiss ({18})
Ingo Wellenreuther
Karl-Georg Wellmann
Marian Wendt
Waldemar Westermayer
Kai Whittaker
Peter Wichtel
Annette Widmann-Mauz
Heinz Wiese ({19})
Elisabeth WinkelmeierBecker
Oliver Wittke
Dagmar G. Wöhrl
Barbara Woltmann
Tobias Zech
Heinrich Zertik
Emmi Zeulner
Gudrun Zollner
SPD
Niels Annen
Ingrid Arndt-Brauer
Heike Baehrens
Ulrike Bahr
Heinz-Joachim Barchmann
Dr. Katarina Barley
Doris Barnett
Klaus Barthel
Sören Bartol
Bärbel Bas
Lothar Binding ({20})
Burkhard Blienert
Willi Brase
Dr. Karl-Heinz Brunner
Martin Burkert
Dr. Lars Castellucci
Petra Crone
Bernhard Daldrup
Dr. Daniela De Ridder
Dr. Karamba Diaby
Sabine Dittmar
Martin Dörmann
Elvira Drobinski-Weiß
Siegmund Ehrmann
Michaela Engelmeier
Saskia Esken
Karin Evers-Meyer
Dr. Fritz Felgentreu
Christian Flisek
Dr. Edgar Franke
Ulrich Freese
Michael Gerdes
Martin Gerster
Iris Gleicke
Angelika Glöckner
Ulrike Gottschalck
Gabriele Groneberg
Michael Groß
Uli Grötsch
Wolfgang Gunkel
Bettina Hagedorn
Rita Hagl-Kehl
Ulrich Hampel
Michael Hartmann
({21})
Dirk Heidenblut
Hubertus Heil ({22})
Gabriela Heinrich
Marcus Held
Dr. Barbara Hendricks
Heidtrud Henn
Gustav Herzog
Gabriele Hiller-Ohm
Thomas Hitschler
Dr. Eva Högl
Christina Jantz
Frank Junge
Thomas Jurk
Oliver Kaczmarek
Johannes Kahrs
Ralf Kapschack
Gabriele Katzmarek
Marina Kermer
Cansel Kiziltepe
Dr. Bärbel Kofler
Daniela Kolbe
Birgit Kömpel
Anette Kramme
Dr. Hans-Ulrich Krüger
Christine Lambrecht
Christian Lange ({23})
Dr. Karl Lauterbach
Steffen-Claudio Lemme
Burkhard Lischka
Hiltrud Lotze
Kirsten Lühmann
Caren Marks
Hilde Mattheis
Dr. Matthias Miersch
Klaus Mindrup
Susanne Mittag
Detlef Müller ({24})
Bettina Müller
Michelle Müntefering
Dr. Rolf Mützenich
Andrea Nahles
Dietmar Nietan
Ulli Nissen
Mahmut Özdemir ({25})
Jeannine Pflugradt
Detlev Pilger
Sabine Poschmann
Joachim Poß
Achim Post ({26})
Florian Post
Dr. Wilhelm Priesmeier
Florian Pronold
Dr. Sascha Raabe
Dr. Simone Raatz
Martin Rabanus
Mechthild Rawert
Stefan Rebmann
Gerold Reichenbach
Dr. Carola Reimann
Andreas Rimkus
Sönke Rix
Petra Rode-Bosse
Dennis Rohde
Dr. Martin Rosemann
René Röspel
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Michael Roth ({27})
Bernd Rützel
Johann Saathoff
Annette Sawade
Dr. Hans-Joachim
Schabedoth
Dr. Nina Scheer
Marianne Schieder
Udo Schiefner
Dr. Dorothee Schlegel
Ulla Schmidt ({28})
Matthias Schmidt ({29})
Dagmar Schmidt ({30})
Carsten Schneider ({31})
Ursula Schulte
Swen Schulz ({32})
Ewald Schurer
Stefan Schwartze
Rita Schwarzelühr-Sutter
Rainer Spiering
Norbert Spinrath
Svenja Stadler
Martina Stamm-Fibich
Sonja Steffen
Peer Steinbrück
Christoph Strässer
Kerstin Tack
Claudia Tausend
Michael Thews
Dr. Karin Thissen
Carsten Träger
Rüdiger Veit
Ute Vogt
Dirk Vöpel
Gabi Weber
Bernd Westphal
Dirk Wiese
Dagmar Ziegler
Stefan Zierke
Dr. Jens Zimmermann
Manfred Zöllmer
Brigitte Zypries
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Annalena Baerbock
Marieluise Beck ({33})
Volker Beck ({34})
Agnieszka Brugger
Ekin Deligöz
Katja Dörner
Katharina Dröge
Harald Ebner
Dr. Thomas Gambke
Matthias Gastel
Kai Gehring
Katrin Göring-Eckardt
Anja Hajduk
Dr. Anton Hofreiter
Bärbel Höhn
Katja Keul
Maria Klein-Schmeink
Tom Koenigs
Sylvia Kotting-Uhl
Oliver Krischer
Stephan Kühn ({35})
Christian Kühn ({36})
Renate Künast
Markus Kurth
Monika Lazar
Steffi Lemke
Dr. Tobias Lindner
Nicole Maisch
Peter Meiwald
Irene Mihalic
Beate Müller-Gemmeke
Özcan Mutlu
Omid Nouripour
Friedrich Ostendorff
Cem Özdemir
Brigitte Pothmer
Tabea Rößner
Claudia Roth ({37})
Corinna Rüffer
Manuel Sarrazin
Elisabeth Scharfenberg
Ulle Schauws
Dr. Gerhard Schick
Dr. Frithjof Schmidt
Kordula Schulz-Asche
Dr. Wolfgang
Strengmann-Kuhn
Markus Tressel
Dr. Julia Verlinden
Beate Walter-Rosenheimer
Dr. Valerie Wilms
Nein
SPD
Christian Petry
DIE LINKE
Dr. Dietmar Bartsch
Herbert Behrens
Karin Binder
Heidrun Bluhm
Eva Bulling-Schröter
Roland Claus
Dr. Diether Dehm
Klaus Ernst
Annette Groth
Dr. Andre Hahn
Dr. Rosemarie Hein
Inge Höger
Andrej Hunko
Sigrid Hupach
Ulla Jelpke
Susanna Karawanskij
Kerstin Kassner
Jan Korte
Caren Lay
Sabine Leidig
Ralph Lenkert
Michael Leutert
Stefan Liebich
Dr. Gesine Lötzsch
Thomas Lutze
Birgit Menz
Cornelia Möhring
Niema Movassat
Norbert Müller ({38})
Thomas Nord
Harald Petzold ({39})
Martina Renner
Dr. Petra Sitte
Kersten Steinke
Dr. Kirsten Tackmann
Azize Tank
Frank Tempel
Dr. Axel Troost
Alexander Ulrich
Halina Wawzyniak
Harald Weinberg
Birgit Wöllert
Hubertus Zdebel
({40})
Pia Zimmermann
Enthalten
SPD
Dr. Ute Finckh-Krämer
Petra Hinz ({41})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir kommen jetzt
zum Tagesordnungspunkt 17:
- Beratung der Beschlussempfehlung und
des Berichts des Auswärtigen Ausschusses
({42}) zu dem Antrag der Bundesregierung
Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter
deutscher Streitkräfte an der AU/UN-Hybrid-Operation in Darfur ({43}) auf
Grundlage der Resolution 1769 ({44}) des
Sicherheitsrates der Vereinten Nationen
vom 31. Juli 2007 und folgender Resolutionen, zuletzt 2228 ({45}) vom 29. Juni 2015
Drucksachen 18/6503, 18/6639
Bericht des Haushaltsausschusses ({46}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
Drucksache 18/6684
Über die Beschlussempfehlung werden wir später
ebenfalls namentlich abstimmen.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. Gibt es dazu
Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das auch
so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner in der
Debatte hat Lars Klingbeil von der SPD-Fraktion das
Wort.
({47})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Auch wenn die Zeit schon fortgeschritten ist, halte ich
die Diskussion hier im Deutschen Bundestag über eine
weitere Beteiligung der Bundeswehr am Mandat in Darfur für sehr wichtig. Ich möchte mich auch gleich zu
Beginn dieser Diskussion bei all denen bedanken, die in
den letzten Jahren für die Bundesrepublik Deutschland
in Darfur waren, egal ob als Helfer in den NGOs, ob als
Polizisten oder als Soldatinnen und Soldaten. Wir haben
viele Menschen dorthin entsandt. Ich denke, wir alle können dankbar sein für den Einsatz, den sie dort geleistet
haben.
({0})
Die Vereinten Nationen haben die Situation in Darfur
vor wenigen Jahren als eine der schrecklichsten humanitären Katastrophen bezeichnet. Wenn wir uns die Zahl
der Opfer anschauen, dann sehen wir, dass es seit 2003 in
diesen Auseinandersetzungen über 300 000 Tote gegeben
hat.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben gestern
Abend mit einem Zapfenstreich und heute Morgen mit
einer großen parlamentarischen Debatte „60 Jahre Bundeswehr“ gefeiert. Ich finde, bei einer Mission wie UNAMID sollten wir uns immer wieder bewusst machen: Wir
haben eine Parlamentsarmee. Wir als Parlamentarier sind
es, die die Soldatinnen und Soldaten in den Auslandseinsatz schicken. - Selbst wenn es im aktuellen Mandat nur
sieben Soldatinnen und Soldaten sind: Trotzdem gehört
eine solche Diskussion in das Parlament, hier in den
Deutschen Bundestag. Wir müssen uns unsere Verantwortung bewusst machen. Es ist richtig, dass wir über
jeden Einsatz der Bundeswehr hier im Parlament diskutieren und auch namentlich darüber abstimmen.
({1})
Ein Weiteres, was auch eng mit diesem Einsatz zusammenhängt, ist: Es gilt, uns noch einmal bewusst zu
machen, wie sehr die Welt im Umbruch ist. Ich erinnere mich daran: Vor sechs Jahren, als ich Mitglied des
Deutschen Bundestages wurde, war die außen- und sicherheitspolitische Diskussion eine Nebendebatte. Heute
reden wir eigentlich nur noch über die Außen- und Sicherheitspolitik. Wenn wir uns die weltpolitische Lage
anschauen - die Ukraine, Syrien, der Nahe Osten, aber
auch Afrika -, dann sehen wir, wie brachial die weltpolitische Lage auf einmal auch in unseren Fokus gerückt
ist. Es ist unsere Verantwortung als Parlament, die entsprechende sicherheitspolitische Diskussion zu führen.
Wir tun das gerade im Rahmen des Weißbuch-Prozesses.
Ich finde aber, wir müssten hier im Parlament noch viel
stärker sicherheitspolitische Diskussionen führen in der
Art, wie es heute Morgen der Fall war. Das gehört auch
zu unserer Verantwortung als Parlamentarier.
({2})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Situation in
Darfur ist seit 2003 fragil. Wir haben dort nicht die
Fortschritte, die wir uns wünschen. Nein, viel zu häufig
gibt es sogar Rückschritte vor Ort. Wir sehen, dass unterschiedliche ethnische Gruppen, Rebellengruppen und
Regierungen sich immer wieder in Kämpfen befinden.
Aber es ist richtig, dass wir uns dort engagieren. Wenn
man sich die Zahlen anschaut, dann sieht man, dass
4,4 Millionen Menschen auf humanitäre Hilfe angewiesen sind. Allein 2 Millionen Kinder in Darfur sind unterernährt. Und in der Region sind 2,6 Millionen Menschen
als Binnenflüchtlinge unterwegs.
Ich will nur zwei weitere Zahlen nennen, die verdeutlichen, wie wichtig unser Engagement in Afrika
ist. Bis 2050 wird sich die Bevölkerungszahl in Afrika
auf 2,4 Milliarden Menschen verdoppeln. Von diesen
2,4 Milliarden Menschen im Jahr 2050 wird 1 Milliarde
unter 18 Jahren sein. Wir können doch heute schon absehen, dass viele dieser Menschen versuchen werden, ein
besseres Leben zu führen, als das heute in Afrika der Fall
ist. Wenn wir in diesen Tagen ausführlich über Fluchtursachen reden, dann müssen wir uns hier im Parlament
bewusst machen, wie wichtig Frieden und Stabilität auf
dem afrikanischen Kontinent sind, wenn wir wollen, dass
die Menschen dort vernünftig leben können. Wir müssen
ihnen eine Perspektive bieten. Deswegen ist unser Engagement auf dem afrikanischen Kontinent so wichtig.
({3})
Eine militärische Stabilisierung der Region kann nicht
funktionieren. Eine Gesamtstrategie ist wichtig. Ich will
auch hier ein paar Fakten nennen, damit man einfach
sieht, wie umfassend das Engagement der Bundesregierung ist. Allein im Jahr 2015 haben wir 7,1 Millionen
Euro in humanitäre Hilfe investiert. Am Kofi Annan
International Peacekeeping Training Centre, das vom
Auswärtigen Amt gefördert wird, wurden über 300 Polizisten ausgebildet. Das BMZ finanziert über einen Regionalfonds unterschiedlichste NGOs, die an der Sicherung
der Wasser- und Gesundheitsversorgung arbeiten. Und
16 Millionen Euro fließen vonseiten der Bundesregierung in Projekte, die die berufliche Bildung und Ausbildung in der Region fördern sollen. Hier sieht man, wie
unterschiedlich der Ansatz ist. Ich glaube, nur eine solche
gemeinsame Strategie im Sinne einer Gesamtstrategie
kann erfolgreich sein.
Das Mandat, über das wir heute entscheiden, ist ein
gemeinsames Mandat der Vereinten Nationen und der
Afrikanischen Union und verfolgt drei Ziele: zum Ersten den Schutz von Zivilpersonal und zivilen Helfern,
zum Zweiten die Erleichterung bei der Bereitstellung
von humanitärer Hilfe und zum Dritten die Unterstützung bei der Vermittlung zwischen den Konfliktparteien.
Insgesamt sind es 16 000 Soldatinnen und Soldaten und
1 500 Polizistinnen und Polizisten, die dort unterwegs
sind. Noch einmal: Das Mandat sieht vor, dass es bis zu
50 deutsche Soldatinnen und Soldaten sein können. Aktuell sind sieben Soldaten und ein Polizist vor Ort, die
vor allem die Stäbe unterstützen.
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, ich will noch
einmal betonen: Ich glaube, dass Militär in dieser Region
keinen Frieden bringen kann. Aber Militär und Bundeswehr können eine wichtige Unterstützung bieten, wenn
es darum geht, auf dem steinigen Weg politischer Verhandlungen ökonomischen Aufbruch und soziale Stabilität herzustellen. Die Bundeswehr kann helfen, dort einen
Rahmen zu setzen. Deswegen halten wir als SPD-FraktiLars Klingbeil
on es für richtig, dass wir heute das Mandat um ein weiteres Jahr verlängern.
({4})
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, ich würde
mich freuen, wenn wir das mit einem deutlichen Signal
hier im Parlament tun
({5})
und damit auch den Soldatinnen und Soldaten, auch wenn
es nur wenige sind, ein klares Signal geben, dass wir ihre
Mission richtig finden und sie unterstützen. Noch einmal:
Wir wünschen ihnen alles Gute für diese Mission.
Herzlichen Dank.
({6})
Vielen Dank. - Als nächste Rednerin hat Kathrin
Vogler das Wort.
({0})
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Gestern haben ja viele von Ihnen bei
Fackelschein und Militärmusik vor dem Reichstagsgebäude den 60. Jahrestag der Gründung der Bundeswehr
gefeiert.
({0})
- Klatschen Sie ruhig. - Das Volk musste allerdings
draußen bleiben. Dafür sorgten Feldjäger in der Bannmeile. Heute schicken Sie die Bundeswehr erneut in zwei
bewaffnete Einsätze, von denen Sie genau wissen, dass
die Mehrheit der Bevölkerung diese ablehnt.
({1})
Die Bundesregierungen der letzten 20 Jahre von RotGrün über Schwarz-Gelb bis zur Großen Koalition haben
die Bundeswehr ja ganz gezielt zu einer weltweit einsetzbaren Truppe umgebaut. Gerade der Einsatz in Darfur,
über den wir jetzt reden, zeigt, in welches Dilemma Sie
diese Politik der weltweiten Militäreinsätze bringt.
Seit 2007 ist die Bundeswehr an der UNAMID-Mission in der sudanesischen Provinz Darfur beteiligt. Dieses
Mandat wollen Sie heute zum achten Mal verlängern.
Und auch dieses Mal sagt die Linke dazu Nein.
({2})
Mehr als genug Gründe für dieses Nein finden sich schon
in Ihrer Mandatsbegründung. Ich fasse es kurz zusammen: Sicherheitslage weiter angespannt, Kämpfe sind an
der Tagesordnung, Übergriffe auf humanitäre Helfer 131 allein in diesem Jahr -, eine äußerst prekäre humanitäre Lage, 2 Millionen Kinder akut unterernährt, eine
desaströse Menschenrechtslage, Vergewaltigungen und,
und, und.
Der UN-Sicherheitsrat hat aufgrund fehlender Fortschritte beschlossen, diese Mission zu verlängern, und
dem schließt sich diese Bundesregierung an. Also, damit
ich es noch einmal richtig verstehe: UNAMID ist seit
acht Jahren erfolglos und wird genau deshalb verlängert.
Das ist doch absurd, Kolleginnen und Kollegen.
({3})
Dieser Mandatsantrag ist ein einziges Dokument des
Scheiterns, aber diese Bundesregierung hat nicht die
Kraft oder den Mut, aus diesem Scheitern die einzig richtigen Konsequenzen zu ziehen. Wissen Sie, was mich
richtig sauer macht? Es gibt keinen Hinweis darauf, dass
es der Bevölkerung in Darfur jetzt, nach acht Jahren
Mandatsausübung, irgendwie besser ginge.
Nun wissen wir natürlich auch, dass Friedensprozesse in Bürgerkriegsgebieten häufig kompliziert sind und
lange dauern können. Aber wenn es um den wirksamen
Schutz der Zivilbevölkerung geht, dann darf man damit
nicht warten, bis alle politischen Konflikte gelöst und
alle Waffen eingesammelt sind.
({4})
Ein Blick ins Nachbarland Südsudan könnte einen Weg
aus diesem Dilemma aufzeigen.
({5})
Dort zeigt nämlich die internationale Organisation Nonviolent Peaceforce, wie man mit gewaltfreien Mitteln,
also ohne Waffen, und mit sehr geringer finanzieller Ausstattung den Schutz der Zivilbevölkerung gewährleisten
kann.
({6})
Natürlich kann man das nicht eins zu eins auf Darfur
übertragen. Aber man muss sich schon mal die Frage
stellen, warum man das, was im Südsudan wirkt, was auf
den Philippinen und in Sri Lanka gewirkt hat, nicht auch
als Hoffnungsschimmer für Darfur sehen könnte.
({7})
Genau dieser Hoffnungsschimmer wird inzwischen
auch bei den Vereinten Nationen zur Kenntnis genommen. Der Bericht des High-level Independent Panel on
Peace Operations und die Globale Studie zur Umsetzung der Resolution 1325, in der es ganz speziell um den
Schutz von Frauen in bewaffneten Konflikten und um die
Beteiligung von Frauen an Friedensprozessen geht, empfehlen explizit den Ausbau von Instrumenten zum unbewaffneten Schutz von Zivilpersonen. Mit der halben Million Euro, die Sie jedes Jahr für den Bundeswehreinsatz
in Darfur mit sieben Soldaten und einem Polizeibeamten
ausgeben wollen, könnte man diesem wichtigen Engagement einen richtigen Schub geben.
Meine Damen und Herren, setzen Sie nicht weiter auf
gescheiterte Militäreinsätze! Handeln Sie zivil, im Interesse der Menschen! Dabei würde die Linke Sie unterstützen. Bei diesem Bundeswehreinsatz unterstützen wir
Sie aber nicht.
({8})
Als nächster Redner hat Michael Vietz von der CDU/
CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr geehrte Damen und Herren! Der Sudan: Nubien,
Kusch, das Königreich von Kerma, 1700 vor Christi
Geburt, immerhin der älteste uns bekannte schwarzafrikanische Staat. Aus unserem Geschichtsunterricht ist er
uns als wohlhabendes und geheimnisvolles Land südlich
Ägyptens bekannt. An diese reichhaltige Geschichte sollten wir uns erinnern, um uns eine Zukunft für diese Region auch vorstellen zu können.
Wenn wir heute den Sudan betrachten, zeichnet sich
ein düsteres Bild. Sudan und Südsudan gehören weltweit zu den am stärksten belasteten Krisengebieten. Die
Region Darfur, im Westen Sudans, versinkt seit 2003 im
Chaos. Schätzungen zufolge hat dieser blutige Konflikt
bereits etwa 300 000 Menschenleben gekostet, darunter
viele Zivilisten.
Die brutalen Auseinandersetzungen zwischen Regierungstruppen, Rebellenorganisationen und regierungsnahen Milizen schaffen den Nährboden für Terror und
Kriegsverbrechen. Über 2,5 Millionen Menschen haben
ihre Dörfer verlassen und sind auf der Flucht. Fast 2 Millionen von ihnen leben in Flüchtlingslagern. Annähernd
die Hälfte der Bevölkerung von Darfur ist auf humanitäre
Hilfe angewiesen. 2 Millionen Kinder sind unterernährt.
So sehen Fluchtursachen aus!
Was können wir dem entgegensetzen? Im Rahmen
von UNAMID leisten wir mit der internationalen Gemeinschaft, gemeinsam mit der Afrikanischen Union,
einen substanziellen Beitrag zur Bewältigung des Konflikts. Kernaufgabe ist dabei der Schutz der Zivilbevölkerung. Ein besonderes Augenmerk wird aktuell auf die
Vermittlung zwischen den bewaffneten Gruppen gelegt,
die noch nicht das Doha-Dokument unterzeichnet haben,
sich einem weiteren Friedensprozess verweigern. Hier
haben wir alle noch viel zu tun.
Die Herausforderungen an die Mission sind nicht kleiner geworden. Der Konflikt flammt in Wellen der Gewalt
immer wieder auf und wirft die Friedensbemühungen zurück. Über 200 Peacekeeper haben seit Beginn der Mission im Einsatz ihr Leben verloren. Das zeigt, wie riskant
der Einsatz ist, natürlich auch für unsere Kräfte. Daher
müssen wir mit der Fortsetzung unserer Beteiligung ein
deutliches Zeichen setzen, dass wir unser Engagement
weiterverfolgen und die Menschen vor Ort nicht aufgeben. Ich danke an dieser Stelle allen Männern und Frauen, allen Kräften, die seit Beginn der Mission im Dienst
ihre Pflicht erfüllen.
({0})
Wir setzen im Rahmen der Mission auf eine verstärkte
Zusammenarbeit zwischen militärischen, polizeilichen
und zivilen Komponenten. Dieser vernetzte Ansatz ist in
meinen Augen ein wichtiges Kennzeichen unserer Außenpolitik. Wir sind weiterhin bereit, Verantwortung, wo
notwendig, zu tragen. Deshalb ist unsere weitere Beteiligung an UNAMID richtig. Wir sind die einzigen, wir
sind die letzten Europäer in Darfur. Wir beteiligen uns
mit sieben Soldaten. Hinzu kommt ein Polizist außerhalb dieses Mandats. Dieser Beitrag sendet trotzdem ein
wichtiges Signal an unsere Partner in Afrika. Wir könnten dieses Signal noch verstärken.
Lassen Sie mich an dieser Stelle deutlich sagen: Wir
dürfen Afrika nicht aus den Augen verlieren. Trotz zahlreicher anderer Krisenherde weltweit, die uns beschäftigen, müssen wir auch in Afrika weiterhin aktiv bleiben.
Wegschauen ist keine Option. Dies würde die afrikanischen Krisen nur noch weiter verschlimmern und weitere
Fluchtursachen schaffen.
UNAMID allein - da stimme ich Herrn Kollegen
Klingbeil zu - wird die Krise im Sudan nicht lösen können; aber es ist ein wichtiger Baustein für die langfristige Lösung dieses Konflikts. Wir sind bereit, dies weiter
anzugehen, damit die Republik Sudan an ihre alte Geschichte als wohlhabende Kultur anschließen und ihrer
Bevölkerung eine Perspektive in Sicherheit, Frieden und
Freiheit bieten kann.
Deshalb stimmt die Koalition dem Antrag der Bundesregierung zu. Ich bitte jeden im Hause darum, die Arbeit
an einem dauerhaften Frieden in der Region nicht aufzugeben. Ich bitte um Ihre Zustimmung.
Danke.
({1})
Vielen Dank. - Als nächster Redner hat Uwe Kekeritz
von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Seit 2007 stimmen wir jährlich über die deutsche Beteiligung am UN-Einsatz in Darfur ab. Dies ist notwendig, da eine politische Lösung zurzeit nicht in Sicht ist.
Die Auseinandersetzungen zwischen Rebellengruppen,
Verbrecherbanden, regulären und irregulären Streitkräften finden weiterhin und verstärkt auf dem Rücken der
Bevölkerung statt. Gewaltausbrüche, Massenvergewaltigungen und andere Menschenrechtsverletzungen sind
an der Tagesordnung. Neben den Attacken auf die Zivilbevölkerung - das wurde schon richtigerweise gesagt kommt es aber auch immer wieder zu gewalt samen
Übergriffen auf Hilfsorganisationen. Das erschwert die
Situation dort natürlich dramatisch. Die Lage ist und
bleibt gefährlich.
Natürlich kann ein Militäreinsatz eine politische Lösung nicht ersetzen; aber der nationale Dialog kommt
eben noch nicht voran. Die Gründe hierfür sind vielfältig.
Problematisch ist auch, dass die Afrikanische Union das
al-Baschir-Regime stützt und auch die Arabische Liga
zur Legitimierung des steckbrieflich Gesuchten beiträgt.
Leider schlägt die EU, und mit ihr auch die Bundesregierung, inzwischen in die gleiche Kerbe. Was die Europäische Union heute auf dem Gipfel in Valletta beschlossen
hat, ist ein politischer Paradigmenwechsel und zum Teil
auch zynisch. Damit verabschiedet sich die Regierung
Merkel von der immer wieder beschworenen werteorientierten europäischen Politik.
({0})
Der Gipfel von Valletta zeigt auch, dass der Begriff
der wertebasierten Politik wohl nur in politischen Schönwetterlagen Bedeutung für diese Regierung hat. Wie
sonst wäre es trotz des europäischen Wertekanons möglich, dass die EU jetzt plant, mit Folterknechten, Diktatoren und Mördern, die ihr Volk seit vielen Jahren oder gar
Jahrzehnten schinden, Verträge abzuschließen, die deren
Macht gegenüber ihrem Volk noch verstärken?
({1})
Damit meine ich auch die geplante Unterstützung des
Terrorregimes al-Baschir, das möglichst viele Menschen
an der Flucht aus tödlicher Bedrohung und Elend hindern
soll.
Die Verträge sollen auf Basis des Prinzips „More for
more“ basieren; ein doch sehr euphemistischer Begriff.
Dahinter verbirgt sich auch eine Verlagerung der Außengrenzen Europas in Länder, die bisher durch schwerste
Menschenrechtsverletzungen von sich reden machten.
Die Bundesregierung und auch ihre europäischen Verbündeten sollten sich klarmachen, dass es sich um einen
schmutzigen und auch kurzsichtigen Deal handelt. Warum das so ist, erklärt uns auch Ban Ki-moon. Er sagt: Diese Politik ist kontraproduktiv und schädlich für Gesundheit, Bildung und Chancen auf ein besseres Leben von
Millionen von Menschen. Die Regierung spricht doch
immer davon, Fluchtursachen zu bekämpfen. Kommt
Ihnen denn nicht in den Sinn, dass Sie mit einer solchen
Politik die Fluchtursachen langfristig vermehren?
In der heutigen Debatte kann es für uns dennoch keine Frage sein, ob die Menschen in den Flüchtlingslagern
Darfurs Anspruch auf Schutz haben. Ich sage Ihnen: Sie
haben Anspruch, und wir sind moralisch dazu verpflichtet, dazu einen Beitrag zu leisten.
({2})
In diesem Zusammenhang kann ich die Linke nur auffordern, endlich Farbe zu bekennen. Ihre Kritik an unverantwortlichen Waffenlieferungen, an der Klimapolitik
und an der falschen Agrar- und Handelspolitik teilen wir
ja. Aber die Systemkritik darf nicht dazu missbraucht
werden, konkrete Hilfe im Hier und Jetzt zu verweigern.
({3})
- Frau Vogler, nennen Sie doch einmal konkrete Maßnahmen und Alternativen!
({4})
Sie stellen sich hierhin und sagen: Wir wollen zivile
Maßnahmen.
({5})
Bitte, schreiben Sie ein Handbuch „Zivile Maßnahmen“
und überzeugen Sie uns damit. Dann werden wir Ihnen
auch folgen. Aber allein die Aussage „Wir wollen zivile
Maßnahmen“, das ist zu wenig; das ist auch zu billig.
Danke schön.
({6})
Vielen Dank. - Als letzter Redner in dieser Debatte hat
Dr. Karl Lamers von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es
ist sicher ein Zufall, dass wir heute am 60. Gründungstag
der Bundeswehr über die Fortsetzung der deutschen Beteiligung am UNAMID-Einsatz beraten. Gerade die Beratung des vorliegenden Antrags zeigt uns aber, welchen
Weg die Bundeswehr in den 60 Jahren ihres Bestehens
zurückgelegt hat.
Seit dem Ende des Kalten Krieges sind Stabilisierungs- und Friedenseinsätze zu einem festen Bestandteil,
ja zu einem Markenzeichen der Bundeswehr geworden.
Ich bin überzeugt, dass diese Einsätze zum Frieden in der
Welt erheblich beitragen.
({0})
Darauf können auch unsere Soldatinnen und Soldaten
stolz sein. Deswegen, meine ich, müssen wir ihnen immer wieder und gerade auch öffentlich Dank für ihren
Einsatz für Frieden und Stabilität in vielen Teilen der
Welt sagen.
({1})
Die Bundesregierung hat gute Gründe, heute die Fortsetzung der deutschen Beteiligung an der gemeinsam
von den Vereinten Nationen und der Afrikanischen Union geführten Friedensmission in Darfur für ein weiteres
Jahr bis zum 31. Dezember 2016 zu beantragen. Bis zu
50 deutsche Soldatinnen und Soldaten können eingesetzt
werden für Führungs- und Verbindungsaufgaben und für
Beratungs-, Beobachtungs- und Unterstützungsaufgaben.
Warum werden wir dort gebraucht? Wir werden dort
gebraucht, weil Deutschland zusammen mit anderen eine
dauerhafte politische Konfliktlösung anstrebt. Davon
sind wir heute aber leider noch weit entfernt. Seit 2003
tobt ein schrecklicher Konflikt zwischen der sudanesischen Zentralregierung und Volksgruppen in den sudanesischen Bundesstaaten Darfur, Südkordofan und Blauer
Nil mit bisher 300 000 Toten.
Die Umsetzung des Doha-Friedensabkommens von
2011 geht in meinen Augen viel zu langsam. Der angestrebte nationale Dialog zwischen den Kontrahenten hat
bisher auch keine zufriedenstellenden Ergebnisse gezeitigt. Die Betroffenen sind die Menschen. Sie leiden unter den Kämpfen. Sie leiden unter den ethnischen Konflikten. Sie leiden unter der zunehmenden Kriminalität.
Hinzu kommt, wie Herr Vietz es bereits beschrieben hat,
das Flüchtlingselend: 4 Millionen Menschen sind ständig
auf humanitäre Hilfe angewiesen, 2,6 Millionen Binnenflüchtlinge, 500 000 in den Nachbarländern.
Meine Damen und Herren, was wir wollen, ist klar:
eine dauerhafte Bewältigung des Konflikts und eine Verbesserung der humanitären Lage in Darfur. Das ist aber
nur möglich, wenn die Unterstützung und Präsenz der
internationalen Gemeinschaft auch weiterhin bestehen
bleibt. So fordern es die Vereinten Nationen, so fordert
es die Afrikanische Union. Deswegen, Frau Vogler, bin
ich sehr erstaunt, dass Sie sich diesem Erkenntnisprozess
partout penetrant widersetzen. Sie sollten umdenken.
({2})
Art und Umfang des deutschen Engagements stimmen
wir wie bisher eng mit unseren internationalen Partnern
ab. Unser Leitgedanke ist Solidarität. Unsere Soldaten
leisten mit ihrer Präsenz einen dauerhaften Beitrag zu
mehr Stabilität in der Region. Der Stärkung der Zivilgesellschaft und der Menschenrechte gilt dabei unsere ganz
besondere Aufmerksamkeit. Wir sehen in der deutschen
Beteiligung ein wichtiges Zeichen insbesondere an die
Vereinten Nationen und an die Afrikanische Union, dass
Deutschland die Friedensanstrengungen der internationalen Gemeinschaft in Darfur tatkräftig unterstützt.
Über diesen militärischen Beitrag zu UNAMID hinaus
soll der Sudan im Sinne der Afrikapolitischen Leitlinien
der Bundesregierung von 2014 weiterhin ein wichtiges
Element deutscher Entwicklungszusammenarbeit in Afrika bleiben. Die humanitäre Hilfe wird wie bisher eine
wesentliche Rolle für uns spielen. Der deutsche Beitrag
zur Ausgestaltung des sogenannten Khartoum-Prozesses
mit Staaten entlang der afrikanischen Migrationsrouten
muss gerade angesichts der Flüchtlingssituation in Europa mit besonderem Engagement erfüllt werden.
Meine Damen und Herren, der UNAMID-Einsatz
bleibt bis auf Weiteres als stabilisierendes Element zur
Verbesserung der Sicherheitslage in Darfur und zur Begleitung der politischen Bemühungen um innere Befriedung unverzichtbar. Meine Fraktion, die CDU/CSU,
stimmt diesem Antrag zu. Ich bitte Sie alle, es uns nachzutun.
Danke.
({3})
Vielen Dank. - Damit schließe ich die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag
der Bundesregierung zur Fortsetzung der Beteiligung be-
waffneter deutscher Streitkräfte an der AU/UN-Hy brid-
Operation in Darfur. Der Ausschuss empfiehlt in seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/6639, den An-
trag der Bundesregierung auf Drucksache 18/6503 anzu-
nehmen.
Wir stimmen über diese Beschlussempfehlung na-
mentlich ab. Ich möchte die Schriftführerinnen und
Schriftführer bitten, die vorgesehenen Plätze an den Ur-
nen einzunehmen. - Sind jetzt die Plätze an den Urnen
besetzt? - Alle Plätze sind besetzt. Damit eröffne ich die
Abstimmung über die Beschlussempfehlung.
Ist jemand im Saal, der seine Stimme noch nicht ab-
gegeben hat? - Jetzt frage ich zum letzten Mal: Ist noch
ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Stimme
nicht abgegeben hat? - Das ist nicht der Fall. Ich schlie-
ße die Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen und
Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Wie im-
mer wird Ihnen das Ergebnis der Abstimmung später mit-
geteilt.1)
Ich bitte, die interessanten Gespräche in den Gängen,
vor allem auf der rechten Seite, aber auch die interessanten Gespräche am Ende des Saals und auf der linken Seite
eventuell draußen fortzusetzen. - Ich meine es wirklich
ernst. Ich möchte gern mit der Tagesordnung weitermachen, weil wir noch einiges vor uns haben.
Schönen guten Abend von mir! Auch den Gästen auf
der Tribüne wünsche ich einen schönen guten Abend und
eine spannende Debatte.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Energie ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Konstantin von Notz, Tabea Rößner,
Renate Künast, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Netzneutralität als Voraussetzung für eine
gerechte und innovative digitale Gesellschaft
effektiv gesetzlich sichern
Drucksachen 18/5382, 18/6402
({1})
- Ich meine es jetzt echt ernst: Wenn Sie quatschen wol-
len, dann gehen Sie raus! Wir wollen hier jetzt eine De-
1) Ergebnis Seite 13366 C
batte führen, und die Kollegen warten darauf, dass wir
anfangen.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. - Ich höre und
sehe keinen Widerspruch.
Dann eröffne ich die Aussprache. Das Wort hat der
Kollege Matthias Ilgen für die SPD.
({2})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Zunächst einmal möchte ich
feststellen, dass ich der Forderung im Antrag von Bündnis 90/Die Grünen nach einer dauerhaften Gewährleistung der Netzneutralität durch eine effektive und technologieneutrale gesetzliche Festschreibung auf nationaler
und europäischer Ebene vollkommen zustimme, meine
Fraktion im Kern auch.
({0})
- Der Forderung! Allerdings müssen wir jetzt auch einmal über das Timing reden.
({1})
Fest steht aber auch, dass im Europäischen Parlament
und im Rat leider keine Mehrheit für eine restriktivere
Regelung da war, was die SPD-Fraktion - ich besonders - bedauert.
Der erreichte Kompromiss ist allerdings das Beste,
was wir im Moment haben können. Dieser Kompromiss
steht auch im Einklang mit unserem Koalitionsvertrag,
in dem vereinbart ist, die Ziele der Netzneutralität im
Telekommunikationsgesetz zu verankern. Ich persönlich
hätte die Ausnahmen, wie gesagt, jedoch enger gefasst.
Darauf werde ich später noch einmal kommen.
Was den Kompromiss angeht, liegt es jetzt an uns
allen, die Situation zu beobachten, zu evaluieren und
gegebenenfalls schnellstmöglich Konsequenzen zu ziehen, wenn wir auf Probleme stoßen. Ich halte es hier wie
unser verstorbener Altkanzler Schmidt: „Für mich bleibt
das eigene Gewissen die oberste Instanz.“
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Ihr Antrag kommt
leider zu einem falschen und unpassenden Zeitpunkt. Wir
alle wollen doch, dass schnelles Internet für jeden Nutzer
in derselben Geschwindigkeit und ohne Diskriminierung
funktioniert, egal ob er E-Mails abruft, einen Film anschaut oder über das Netz telefoniert.
Als Berichterstatter für Existenzgründungen, Freie
Berufe und die Kreativwirtschaft liegt es mir übrigens
besonders am Herzen, in diesem Zusammenhang zu erwähnen, dass wir natürlich auch Internet-Start-up-Unternehmern, App-Entwicklern und kleinen Leuten, die im
Internet unterwegs sind, möglichst einen diskriminierungsfreien Wettbewerb ermöglichen sollten. Deswegen
geht an dieser Stelle auch ein Appell an Herrn Höttges
von der Telekom, der sich schon geäußert hat, als Erstes
auf Start-ups losgehen zu wollen - wodurch es zu einer
Diskriminierung käme -,
({2})
um sich eine Umsatzbeteiligung zu sichern, was ich, ehrlich gesagt, ungeheuerlich finde.
({3})
Gerade sie brauchen zu Beginn ihrer Wachstumsphase
das Kapital und können nicht noch weitere Mitbesitzer
oder Unternehmen wie dann die Telekom gebrauchen,
welche ihren Umsatz schröpfen. Das wäre eine klare
Diskriminierung.
Wir alle in der Fraktion haben natürlich bedauert, dass
es bei dem Kompromiss in Europa eine gewisse Dehnbarkeit gibt. Allerdings hat Herr Höttges die Dehnbarkeit
hier aus meiner Sicht doch arg überstrapaziert, und wir
sollten dem mit allen Kräften entgegentreten.
({4})
- Das sagen Sie.
Wir werden auch gucken müssen, wie wir insgesamt
ein pluralistisches Internet erhalten können, in dem es
diskriminierungsfreie Räume und einen funktionierenden Wettbewerb gibt.
({5})
- Ja, das werden wir sehen müssen. Deswegen wollte ich
darauf hinweisen, dass wir auch einmal auf Formen wie das ist gerade im Gespräch - Zero-Rating gucken müssen
und darauf, was das für den Wettbewerb bedeutet.
Zero-Rating könnte die schärfste Form einer Konkurrenzverdrängung werden. Davon profitieren schon
heute eigentlich nur Marktmächtige, nämlich diejenigen,
die große Volumina haben und sozusagen for free, also
umsonst, anbieten können. Das ist eine nicht zu unterschätzende Gefahr für unsere Medienvielfalt im Internet
und letztlich auch für die Kultur. Deshalb wäre es gesellschaftspolitisch eine fatale Entwicklung, wenn wir dem
so zuschauen würden. Wir werden also gesetzliche Einschränkungen finden müssen, wenn wir feststellen, dass
der Wettbewerb an dieser Stelle nicht mehr funktioniert.
Trotz alledem - ich habe es am Anfang gesagt - ist Ihr
Timing unpassend.
({6})
Wir sollten jetzt abwarten, wie und ob der Kompromiss
trägt, wie dehnbar er von denjenigen gehalten wird, die
am Markt agieren, und dann werden wir gegebenenfalls
auch zu gesetzlichen Regelungen kommen.
Danke schön.
({7})
Vizepräsidentin Claudia Roth
Vielen Dank, Kollege Ilgen. - Nächste Rednerin in der
Debatte: Halina Wawzyniak für die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen
und Kollegen! Wir stimmen heute über den Antrag der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Netzneutralität als Voraussetzung für eine gerechte und innovative digitale Gesellschaft effektiv gesetzlich sichern“
ab. Die Grünen wollen - und das zu Recht - die Netzneutralität gesetzlich sichern.
({0})
- Wenigstens ein Grüner klatscht; das ist schon mal gut.
({1})
Netzneutralität bedeutet die grundsätzlich diskriminierungsfreie Gleichbehandlung aller Datenpakete und
ist, wie der Antrag richtig beschreibt, das konstituierende
Prinzip eines offenen und freien Internets. Die Netzneutralität ist damit neben einem Internetanschluss Grundvoraussetzung für die gerechte Teilhabe an der digitalen
Gesellschaft. Doch die Netzneutralität beißt sich mit dem
Prinzip des Profits.
Schon vor der EU-Verordnung wurde die Netzneutralität direkt oder indirekt infrage gestellt. Es ging um
„Diensteklassen“ oder „Spezialservices“ und viele andere Bezeichnungen. Am Ende ging es aber immer um
eins: Internetanbieter wollten bestimmte Daten schneller
transportieren und dafür extra Geld kassieren. Die sogenannten Kapazitätsengpässe, von denen immer die Rede
war und die angeblich eine Priorisierung von Daten erforderlich machen, wurden bisher nicht ansatzweise belegt. Aber selbst wenn sie belegt worden wären, wäre die
Alternative nicht die Priorisierung von Daten, sondern
die Erweiterung der Kapazitäten, und zwar durch einen
sinnvollen und schnellen Glasfaserausbau.
({2})
Bei der im Antrag aufgeführten Aufzählung der in den
vergangenen Jahren bereits eingereichten Initiativen zur
Sicherung der Netzneutralität fehlt zwar der Antrag der
Linken; darüber sehen wir aber großzügig hinweg und
werden dem Antrag trotzdem zustimmen.
({3})
Und wir sind sogar noch besser: Wir werden dem Bundestag demnächst Gelegenheit geben, erneut über das
Thema abzustimmen.
({4})
Denn wir haben schon fast einen Antrag fertig, wie die
Netzneutralität trotz EU-Verordnung gesichert werden
kann.
({5})
Die EU-Verordnung zum Telekommunikationsbinnenmarkt erlaubt tatsächlich Telekommunikationsunternehmen, bestimmte Angebote vom Prinzip der Netzneutralität auszunehmen und sie als priorisierte Dienste zu
behandeln. Der Chef der Telekom - das ist schon gesagt
worden - hat auch gleich angekündigt, davon umfassend
Gebrauch zu machen. Er hat die Absicht, ein Zweiklasseninternet zu schaffen. Das Ziel von Konzernen wie der
Telekom ist nun einmal die Etablierung von zweiseitigen
Märkten und Zero-Rating-Angeboten.
Bei zweiseitigen Märkten müssen insbesondere die
Anbieter von Inhalten zusätzlich zum Anschluss an das
Netz auch noch für die Nutzung der Zugangsnetze bezahlen. Bei Zero-Rating-Angeboten würde die Nutzung
von spezifischen Diensten vom monatlichen Datentransfervolumen ausgeklammert.
Aus Sicht der Linken enthält nun aber die EU-Verordnung trotz der Unbestimmtheit und Auslassung bei einer
strengen Auslegung der betroffenen Bestimmungen und
strengen Auflagen die Möglichkeit, genau diese zweiseitigen Märkte und Zero-Rating-Angebote auszuschließen.
Man muss sie nur richtig und bis zum Ende lesen.
({6})
Nun plant die Bundesregierung, die Bundesnetzagentur mit der genauen Umsetzung der EU-Verordnung zu
beauftragen. Das halten wir für falsch.
({7})
Angesichts der überragenden wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bedeutung der Netzneutralität muss in
einem demokratischen Rechtsstaat nach dem Wesentlichkeitsprinzip der Gesetzgeber die unbestimmten Bedingungen der EU-Verordnung untersetzen.
Wir wollen, und zwar nur, weil die EU-Verordnung
das überhaupt ermöglicht, dass bis zur Errichtung einer flächendeckenden Glasfaserinfrastruktur priorisierte Dienste auf 5 Prozent der tatsächlich vorhandenen
Übertragungskapazität begrenzt werden. Wir wollen Geschäftsmodelle untersagen, auf deren Basis die Anbieter
von Inhalten, Diensten oder Anwendungen zusätzlich
zum Anschluss auch für die Nutzung der Zugangsnetze
bezahlen. Das geht nach der EU-Verordnung; denn diese besagt, dass auf kommerziellen Interessen beruhende
Erwägungen keine angemessenen Maßnahmen des Verkehrsmanagements darstellen.
Drittens und letztens - damit komme ich auch zum
Ende - wollen wir Zero-Rating-Angebote untersagen, da
sie kein spezifisches Qualitätsniveau erfordern und auch
auf kommerziellen Erwägungen beruhen.
Wir stimmen heute dem Antrag der Grünen zu und
hoffen, dass Sie, wenn wir unseren Antrag vorlegen, unserem Antrag zustimmen.
({8})
Vielen Dank, Frau Kollegin. - Herr Durz, bevor ich
Sie aufrufe, gebe ich das von den Schriftführerinnen und
Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen
Abstimmung über das UNAMID-Mandat bekannt: abgegebene Stimmen 575. Mit Ja haben gestimmt 516, mit
Nein haben gestimmt 57, Enthaltungen 2. Die Beschlussempfehlung ist damit angenommen.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 573;
davon
ja: 514
nein: 57
enthalten: 2
Ja
CDU/CSU
Stephan Albani
Katrin Albsteiger
Peter Altmaier
Artur Auernhammer
Dorothee Bär
Thomas Bareiß
Norbert Barthle
Günter Baumann
Maik Beermann
Manfred Behrens ({0})
Veronika Bellmann
Sybille Benning
Dr. Andre Berghegger
Ute Bertram
Peter Beyer
Steffen Bilger
Peter Bleser
Norbert Brackmann
Klaus Brähmig
Michael Brand
Dr. Reinhard Brandl
Helmut Brandt
Dr. Ralf Brauksiepe
Dr. Helge Braun
Ralph Brinkhaus
Cajus Caesar
Gitta Connemann
Alexandra Dinges-Dierig
Alexander Dobrindt
Michael Donth
Iris Eberl
Dr. Bernd Fabritius
Hermann Färber
Uwe Feiler
Dr. Thomas Feist
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Dirk Fischer ({1})
Axel E. Fischer
({2})
Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Thorsten Frei
Dr. Hans-Peter Friedrich
({3})
Michael Frieser
Dr. Michael Fuchs
Hans-Joachim Fuchtel
Alexander Funk
Dr. Thomas Gebhart
Alois Gerig
Eberhard Gienger
Cemile Giousouf
Josef Göppel
Reinhard Grindel
Ursula Groden-Kranich
Hermann Gröhe
Klaus-Dieter Gröhler
Michael Grosse-Brömer
Astrid Grotelüschen
Markus Grübel
Oliver Grundmann
Monika Grütters
Dr. Herlind Gundelach
Fritz Güntzler
Christian Haase
Dr. Stephan Harbarth
Gerda Hasselfeldt
Matthias Hauer
Mark Hauptmann
Dr. Stefan Heck
Dr. Matthias Heider
Helmut Heiderich
Mechthild Heil
Frank Heinrich ({4})
Mark Helfrich
Uda Heller
Jörg Hellmuth
Rudolf Henke
Michael Hennrich
Ansgar Heveling
Christian Hirte
Robert Hochbaum
Thorsten Hoffmann
({5})
Alexander Hoffmann
Karl Holmeier
Franz-Josef Holzenkamp
Dr. Hendrik Hoppenstedt
Margaret Horb
Bettina Hornhues
Anette Hübinger
Hubert Hüppe
Erich Irlstorfer
Thomas Jarzombek
Sylvia Jörrißen
Dr. Franz Josef Jung
Xaver Jung
Dr. Egon Jüttner
Bartholomäus Kalb
Hans-Werner Kammer
Steffen Kanitz
Alois Karl
Anja Karliczek
Bernhard Kaster
Volker Kauder
Dr. Georg Kippels
Volkmar Klein
Axel Knoerig
Jens Koeppen
Markus Koob
Carsten Körber
Kordula Kovac
Michael Kretschmer
Gunther Krichbaum
Dr. Günter Krings
Rüdiger Kruse
Bettina Kudla
Dr. Roy Kühne
Uwe Lagosky
Andreas G. Lämmel
Katharina Landgraf
Ulrich Lange
Dr. Silke Launert
Paul Lehrieder
Dr. Katja Leikert
Dr. Philipp Lengsfeld
Dr. Andreas Lenz
Dr. Ursula von der Leyen
Antje Lezius
Matthias Lietz
Patricia Lips
Wilfried Lorenz
Dr. Claudia Lücking-Michel
Dr. Jan-Marco Luczak
Karin Maag
Yvonne Magwas
Thomas Mahlberg
Dr. Thomas de Maizière
Gisela Manderla
Hans-Georg von der Marwitz
Andreas Mattfeldt
Stephan Mayer ({6})
Reiner Meier
Dr. Michael Meister
Jan Metzler
Maria Michalk
Dr. h.c. Hans Michelbach
Dietrich Monstadt
Karsten Möring
Marlene Mortler
Volker Mosblech
Elisabeth Motschmann
Carsten Müller
({7})
Stefan Müller ({8})
Dr. Gerd Müller
Dr. Philipp Murmann
Dr. Andreas Nick
Michaela Noll
Helmut Nowak
Dr. Georg Nüßlein
Wilfried Oellers
Florian Oßner
Dr. Tim Ostermann
Ingrid Pahlmann
Sylvia Pantel
Martin Patzelt
Dr. Martin Pätzold
Ulrich Petzold
Dr. Joachim Pfeiffer
Sibylle Pfeiffer
Eckhard Pols
Thomas Rachel
Kerstin Radomski
Alexander Radwan
Alois Rainer
Dr. Peter Ramsauer
Eckhardt Rehberg
Lothar Riebsamen
Josef Rief
Dr. Heinz Riesenhuber
Johannes Röring
Dr. Norbert Röttgen
Erwin Rüddel
Albert Rupprecht
Anita Schäfer ({9})
Andreas Scheuer
Jana Schimke
Norbert Schindler
Tankred Schipanski
Heiko Schmelzle
Christian Schmidt ({10})
Gabriele Schmidt ({11})
Ronja Schmitt
Patrick Schnieder
Nadine Schön ({12})
Bernhard Schulte-Drüggelte
Dr. Klaus-Peter Schulze
Uwe Schummer
Armin Schuster
({13})
Christina Schwarzer
Detlef Seif
Reinhold Sendker
Dr. Patrick Sensburg
Bernd Siebert
Thomas Silberhorn
Tino Sorge
Jens Spahn
Carola Stauche
Dr. Frank Steffel
Dr. Wolfgang Stefinger
Albert Stegemann
Peter Stein
Erika Steinbach
Sebastian Steineke
Johannes Steiniger
Christian Frhr. von Stetten
Dieter Stier
Rita Stockhofe
Stephan Stracke
Max Straubinger
Matthäus Strebl
Karin Strenz
Thomas Stritzl
Lena Strothmann
Michael Stübgen
Dr. Sabine Sütterlin-Waack
Antje Tillmann
Astrid Timmermann-Fechter
Dr. Hans-Peter Uhl
Arnold Vaatz
Oswin Veith
Thomas Viesehon
Volkmar Vogel ({14})
Sven Volmering
Kees de Vries
Dr. Johann Wadephul
Marco Wanderwitz
Kai Wegner
Albert Weiler
Marcus Weinberg ({15})
Peter Weiß ({16})
Sabine Weiss ({17})
Ingo Wellenreuther
Karl-Georg Wellmann
Marian Wendt
Waldemar Westermayer
Kai Whittaker
Peter Wichtel
Annette Widmann-Mauz
Heinz Wiese ({18})
Elisabeth WinkelmeierBecker
Oliver Wittke
Dagmar G. Wöhrl
Barbara Woltmann
Tobias Zech
Heinrich Zertik
Emmi Zeulner
Gudrun Zollner
SPD
Niels Annen
Ingrid Arndt-Brauer
Heike Baehrens
Ulrike Bahr
Heinz-Joachim Barchmann
Dr. Katarina Barley
Doris Barnett
Klaus Barthel
Sören Bartol
Bärbel Bas
Lothar Binding ({19})
Burkhard Blienert
Willi Brase
Dr. Karl-Heinz Brunner
Martin Burkert
Dr. Lars Castellucci
Petra Crone
Bernhard Daldrup
Dr. Daniela De Ridder
Dr. Karamba Diaby
Sabine Dittmar
Martin Dörmann
Elvira Drobinski-Weiß
Siegmund Ehrmann
Michaela Engelmeier
Saskia Esken
Karin Evers-Meyer
Dr. Fritz Felgentreu
Christian Flisek
Dr. Edgar Franke
Ulrich Freese
Michael Gerdes
Martin Gerster
Iris Gleicke
Angelika Glöckner
Ulrike Gottschalck
Gabriele Groneberg
Michael Groß
Uli Grötsch
Wolfgang Gunkel
Bettina Hagedorn
Rita Hagl-Kehl
Ulrich Hampel
Michael Hartmann
({20})
Dirk Heidenblut
Hubertus Heil ({21})
Gabriela Heinrich
Dr. Barbara Hendricks
Heidtrud Henn
Gustav Herzog
Gabriele Hiller-Ohm
Thomas Hitschler
Dr. Eva Högl
Christina Jantz
Frank Junge
Thomas Jurk
Oliver Kaczmarek
Johannes Kahrs
Ralf Kapschack
Gabriele Katzmarek
Marina Kermer
Cansel Kiziltepe
Dr. Bärbel Kofler
Daniela Kolbe
Birgit Kömpel
Anette Kramme
Dr. Hans-Ulrich Krüger
Christine Lambrecht
Christian Lange ({22})
Dr. Karl Lauterbach
Steffen-Claudio Lemme
Burkhard Lischka
Hiltrud Lotze
Kirsten Lühmann
Caren Marks
Hilde Mattheis
Dr. Matthias Miersch
Klaus Mindrup
Susanne Mittag
Detlef Müller ({23})
Bettina Müller
Michelle Müntefering
Dr. Rolf Mützenich
Andrea Nahles
Dietmar Nietan
Ulli Nissen
Mahmut Özdemir ({24})
Jeannine Pflugradt
Detlev Pilger
Sabine Poschmann
Joachim Poß
Achim Post ({25})
Florian Post
Dr. Wilhelm Priesmeier
Florian Pronold
Dr. Sascha Raabe
Dr. Simone Raatz
Martin Rabanus
Mechthild Rawert
Stefan Rebmann
Gerold Reichenbach
Dr. Carola Reimann
Andreas Rimkus
Sönke Rix
Petra Rode-Bosse
Dennis Rohde
Dr. Martin Rosemann
René Röspel
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Michael Roth ({26})
Bernd Rützel
Johann Saathoff
Annette Sawade
Dr. Hans-Joachim Schabedoth
Dr. Nina Scheer
Marianne Schieder
Udo Schiefner
Dr. Dorothee Schlegel
Ulla Schmidt ({27})
Matthias Schmidt ({28})
Dagmar Schmidt ({29})
Carsten Schneider ({30})
Ursula Schulte
Swen Schulz ({31})
Ewald Schurer
Stefan Schwartze
Rita Schwarzelühr-Sutter
Rainer Spiering
Norbert Spinrath
Svenja Stadler
Martina Stamm-Fibich
Sonja Steffen
Peer Steinbrück
Christoph Strässer
Kerstin Tack
Claudia Tausend
Michael Thews
Dr. Karin Thissen
Carsten Träger
Rüdiger Veit
Ute Vogt
Dirk Vöpel
Gabi Weber
Bernd Westphal
Dirk Wiese
Dagmar Ziegler
Stefan Zierke
Dr. Jens Zimmermann
Manfred Zöllmer
Brigitte Zypries
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Annalena Baerbock
Marieluise Beck ({32})
Volker Beck ({33})
Agnieszka Brugger
Ekin Deligöz
Katja Dörner
Katharina Dröge
Harald Ebner
Dr. Thomas Gambke
Matthias Gastel
Kai Gehring
Katrin Göring-Eckardt
Anja Hajduk
Dr. Anton Hofreiter
Bärbel Höhn
Katja Keul
Maria Klein-Schmeink
Tom Koenigs
Sylvia Kotting-Uhl
Oliver Krischer
Stephan Kühn ({34})
Christian Kühn ({35})
Renate Künast
Markus Kurth
Monika Lazar
Steffi Lemke
Dr. Tobias Lindner
Nicole Maisch
Peter Meiwald
Irene Mihalic
Beate Müller-Gemmeke
Özcan Mutlu
Omid Nouripour
Friedrich Ostendorff
Cem Özdemir
Brigitte Pothmer
Tabea Rößner
Claudia Roth ({36})
Corinna Rüffer
Manuel Sarrazin
Elisabeth Scharfenberg
Ulle Schauws
Dr. Gerhard Schick
Dr. Frithjof Schmidt
Kordula Schulz-Asche
Dr. Wolfgang
Strengmann-Kuhn
Markus Tressel
Dr. Julia Verlinden
Beate Walter-Rosenheimer
Dr. Valerie Wilms
Nein
SPD
Christian Petry
DIE LINKE
Dr. Dietmar Bartsch
Herbert Behrens
Karin Binder
Heidrun Bluhm
Eva Bulling-Schröter
Roland Claus
Dr. Diether Dehm
Klaus Ernst
Annette Groth
Dr. Andre Hahn
Dr. Rosemarie Hein
Inge Höger
Andrej Hunko
Sigrid Hupach
Ulla Jelpke
Susanna Karawanskij
Kerstin Kassner
Jan Korte
Caren Lay
Sabine Leidig
Ralph Lenkert
Michael Leutert
Stefan Liebich
Dr. Gesine Lötzsch
Thomas Lutze
Birgit Menz
Cornelia Möhring
Niema Movassat
Norbert Müller ({37})
Thomas Nord
Harald Petzold ({38})
Martina Renner
Dr. Petra Sitte
Kersten Steinke
Dr. Kirsten Tackmann
Azize Tank
Frank Tempel
Dr. Axel Troost
Alexander Ulrich
Halina Wawzyniak
Harald Weinberg
Birgit Wöllert
Hubertus Zdebel
({39})
Pia Zimmermann
Enthalten
SPD
Dr. Ute Finckh-Krämer
Petra Hinz ({40})
Der nächste Redner ist Hansjörg Durz für die CDU/
CSU-Fraktion.
({41})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Den
Antrag der Grünen zur Netzneutralität müssen wir schon
deshalb ablehnen - es ist bereits angeklungen; vorhin
wurde „Timing“ genannt -, da bereits am selben Tag, als
wir diesen Antrag im Wirtschaftsausschuss debattierten,
parallel in Brüssel der dort zuständige Ausschuss über
Netzneutralität abstimmte. Am 27. Oktober 2015 hat
dann das Europäische Parlament der gemeinsamen europäischen Regelung zugestimmt. Dadurch wird Netzneutralität erstmals einheitlich europäisch definiert und
festgeschrieben.
Bisher war Netzneutralität ein Konzept, jetzt ist sie
per Verordnung festgeschrieben. Gerade Netzneutralität kann nur im Sinne eines digitalen Binnenmarktes
gemeinsam auf europäischer Ebene festgeschrieben
werden. Netzneutralität darf und kann nicht an innereuropäischen Grenzen haltmachen. Das haben wir im Koalitionsvertrag so festgeschrieben, und das ist jetzt auch so
beschlossen und festgelegt.
Die Debatte über Netzneutralität wurde und wird teilweise sehr emotional geführt. Das ist auch nachvollziehbar, da neben technischen und wirtschaftlichen Aspekten
auch gesellschaftliche Aspekte und Vorstellungen damit
verbunden sind.
Wie sehen nun in diesem Zusammenhang die wesentlichen Herausforderungen aus?
Erstens stellt sich aus technischer Sicht die Frage, wie
die stetig ansteigenden Datenmengen im Internet bewältigt werden können. Die dazu bekannten Prognosen sind
atemberaubend. Das Volumen der jährlich generierten digitalen Datenmengen weltweit wird in den kommenden
fünf Jahren mindestens um den Faktor acht ansteigen.
Wir sprechen dann von einem jährlichen Datenvolumen,
das sich auf 44 Billionen Gigabyte beläuft. Angesichts
dieser Entwicklung steht außer Frage, dass man sich darüber Gedanken machen muss, welche Maßnahmen zur
Datenverkehrssteuerung möglich und rechtlich zulässig
sein sollen und welche eben nicht.
Zweitens müssen wir uns aus wirtschaftspolitischer
Sicht damit auseinandersetzen, wie gleichzeitig eine
weiterhin offene Infrastruktur aussieht, die durch niedrige Zugangsschwellen Start-ups und den Mittelstand in
ihrer Rolle als Innovationstreiber stärkt.
Drittens bleibt aus gesellschaftspolitischer Sicht die
Herausforderung zu bewältigen: Wie kann der freie und
offene Zugang zu Informationen als eine wesentliche Voraussetzung für gesellschaftliche Teilhabe erhalten bleiben? Die Sicherung dieser Teilhabe sowie der Schutz von
Meinungsvielfalt und -austausch sind nicht nur erklärtes
Ziel dieser Koalition und auch der Digitalen Agenda der
Bundesregierung, sondern von uns allen, wie wir nun
schon gehört haben.
({0})
Die Regelungen der Verordnung über den digitalen
Binnenmarkt, wie sie am 27. Oktober dieses Jahres vom
Europäischen Parlament verabschiedet wurden, führen
die verschiedenen Interessen auf europäischer Ebene zusammen und sind ein guter Kompromiss. Als Aspekt der
gesellschaftlichen Teilhabe und auch aus wirtschaftlicher
Sicht ist der Erhalt des offenen Internets unabdingbar.
Bei beiden Punkten bringt uns die beschlossene Regelung einen großen Schritt voran.
Künftig gelten für das Internet klare gesetzliche Regelungen im Sinne der Netzneutralität. Die Internetnutzer
erhalten das Recht auf diskriminierungsfreie Datenübertragung. Das offene Internet, in dem sämtliche Verkehrsdaten unter dem Grundsatz der Gleichbehandlung
transportiert werden, ist und bleibt als Regelfall erhalten.
({1})
Netzbetreiber dürfen auch in Zukunft Inhalte nicht aus
kommerziellen Gründen sperren oder verlangsamen.
Die Regulierungsbehörden werden die Einhaltung einer
zeitgemäßen Qualität des Internets mithilfe einer starken
Ex-post-Kontrolle sicherstellen. Wir müssen streng darauf achten, dass dies auch geschieht. Das liegt in unserem ureigenen Interesse; denn eine ausreichende Qualität
ist die wesentliche Voraussetzung für Innovationen.
Der gefundene Kompromiss hilft uns auch, die technischen Herausforderungen zu bewältigen, indem Rahmenbedingungen für Investitionen in moderne Breitbandnetze verbessert werden. Bereits heute existiert eine
Vielzahl von Mediendiensten. Die Entwicklung wird
noch drastisch an Tempo gewinnen. Es geht aber nicht
nur um den Content. Automatisiertes Fahren, Telemedizin, sämtliche Anwendungen auf dem Gebiet Industrie 4.0: All das wird sehr hohe Bandbreiten in Anspruch
nehmen. Daher brauchen wir neue und verbesserte Infrastrukturen. Diese sind die Voraussetzung für Wachstum
und Beschäftigung in allen Wirtschaftszweigen und damit das Rückgrat moderner Volkswirtschaften.
Der Staat allein kann diese Herausforderungen allerdings nicht stemmen.
({2})
Wir brauchen notwendige Investitionsanreize für privatwirtschaftliche Netzbetreiber, damit diese den Netzausbau voranbringen und stetig leistungsfähigere Anschlüsse schaffen.
Diensteanbieter können künftig an der Finanzierung
des zusätzlichen Infrastrukturausbaus beteiligt werden,
indem sie für kostenpflichtige qualitätsgesicherte Datenübertragungen im Internet bezahlen. Der für mich entscheidende Punkt und die gleichzeitig wesentliche Neuerung der Regelung ist: Spezialdienste dürfen nur bei
ausreichender Netzkapazität und nicht als Ersatz für das
offene Internet angeboten werden. Diese Verknüpfung ist
der wesentliche Kern der Vereinbarung.
({3})
Künftig gilt: Parallel zum offenen Internet sind qualitätsgesicherte Datenübertragungen, sogenannte Spezialdienste, erlaubt, wenn bestimmte Voraussetzungen erfüllt
sind: Erstens. Spezialdienste dürfen nur angeboten werden, wenn ein solches Angebot notwendig ist. Zweitens.
Spezialdienste dürfen kein Ersatz für einen offenen Internetzugang sein. Drittens. Spezialdienste dürfen nur bei
ausreichender Netzkapazität erbracht werden. Viertens.
Spezialdienste dürfen die Qualität des Internets nicht beeinträchtigen.
Damit werden qualitätsbasierte Dienste erlaubt, ohne
dass gleichzeitig andere Dienste und Anwendungen im
offenen Internet diskriminiert werden. Auf diese Weise
können neue Geschäftsmodelle und Dienstleistungen im
Bereich der Spezialdienste entstehen, die den Zugang
zum offenen Internet weder verdrängen noch vereiteln.
Um es noch einmal klar zu sagen: Es geht nicht darum, dass die Netzbetreiber in Zukunft entscheiden können, welche Inhalte sie transportieren, sondern darum,
dass Diensteanbieter in bestimmten Bereichen zusätzliche entgeltliche Leistungen anbieten können. Damit wird
es wichtig, dass der Zugang zu diesen Spezialdiensten
diskriminierungsfrei für alle Marktteilnehmer ausgestaltet wird, um Markteintrittsschwellen in den qualitätsgesicherten Bereichen so gering wie möglich zu halten.
Eine Diskriminierung von Inhalten muss ausgeschlossen
bleiben.
Um es noch konkreter zu machen: Es gibt eine Reihe
von Anwendungen und Diensten, bei denen eine schnelle Übermittlung von Daten elementar ist. Gerade bei innovativen Entwicklungen wie Internet der Dinge oder
Industrie 4.0 werden die mobilen Daten dabei von entscheidender Bedeutung sein. Wir wissen, dass wir immer
kürzere Latenzzeiten benötigen. Wir brauchen das taktile
Internet, Internet ohne Reaktionszeit, damit ferngesteuerte Operationen oder selbstfahrende Autos Realität werden können.
({4})
Wir brauchen zwingend verlässlich hohe Bandbreiten,
um Echtzeitnutzung zu ermöglichen. Die dafür notwendige nächste Mobilfunkgeneration heißt 5G. Sie wird gerade entwickelt. Wir kennen heute bereits die Situation,
dass beispielsweise Internettelefonie nur dann genutzt
wird, wenn die Sprachübermittlung tatsächlich störungsfrei funktioniert.
Noch viel bedeutsamer ist das Thema Spezialdienste
im Bereich vernetztes Fahren. Als Kommissar Oettinger
das Beispiel als Argument für die Notwendigkeit von
Spezialdiensten nannte, gab es vor allem im Netz eine
Diskussion darüber, ob dies tatsächlich notwendig sei.
Hierzu sagt Professor Fitzek vom Lehrstuhl Kommunikationsnetze der TU Dresden und Koordinator des 5G
Lab:
Die autonomen Autos … wissen nicht, was um der
zweiten Ecke passiert, dafür brauchen wir ein zellulares Netz.
Und damit auch ein Internet, in dem einzelne wichtige
Anwendungen in einem speziellen Netz Vorrang haben.
Ohne diese Möglichkeit der qualitätsgesicherten Datenübermittlung wird es nicht gehen.
Professor Fitzek hat vor einigen Tagen im Ausschuss
Digitale Agenda auch gesagt: Wichtig bei der Netzneutralität ist, dass man Mission-critical und Content unterscheidet, innerhalb dieser Klassen aber unbedingt Neutralität gewahrt bleiben muss.
({5})
Für uns steht fest: Innerhalb bestimmter Diensteklassen muss gleiches Recht für alle gelten. Es darf zum Beispiel im Bereich automatisiertes Fahren keine Vorrechte
für einzelne Anbieter geben, und der Zugang zu Spezialdiensten muss diskriminierungsfrei ausgestaltet werden.
Große Player dürfen keine Vorteile gegenüber Mittelstand und Gründern haben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die formale Verabschiedung durch das Europäische Parlament erfolgte
am 27. Oktober. Eine Umsetzung in nationale Gesetze
ist nicht erforderlich, da die vorliegende Verordnung ab
dem 30. April 2016 unmittelbar in allen Mitgliedstaaten
gilt. Worüber jedoch noch zu sprechen sein wird, sind
jene Fragen, die bis dahin von der nationalen Regulierungsbehörde zu klären sind.
Die Verankerung der Netzneutralität auf europäischer
Ebene ist wichtig und der gefundene Kompromiss ein
gutes Ergebnis. Mit ihm wird eine jahrelange Diskussion
pragmatisch gelöst und erstmals ein Anspruch verankert.
Insgesamt wurde ein guter Kompromiss gefunden, der
auch durch die klare Positionierung der Bundesregierung
in Europa erreicht wurde.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({6})
Vielen Dank, Kollege Durz. - Nächster Redner in der
Debatte: Dr. Konstantin von Notz, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lieber Kollege
Durz, Sie haben ganz viel von 5G und allen möglichen
Dingen erzählt. Es geht aber in dieser Debatte darum,
ob der Zugang zum Netz bzw. zum Wissen vom Portemonnaie der Leute abhängt. Das ist die Kernfrage. Daran
haben Sie sauber vorbeigeredet.
({0})
Die Netzneutralität ist eine der wichtigsten Fragen
oder vielleicht sogar die wichtigste Frage des Internets,
der digitalen Welt von morgen. Wir diskutieren das in
diesem Haus schon lange; da haben Sie völlig recht. Früher haben Sie noch zusammen mit der FDP zu unseren
Anträgen zur gesetzlichen Verankerung der Netzneutralität immer gesagt: Macht euch keine Sorgen! Das müssen
wir nicht machen. Sobald sie gefährdet ist, machen wir
ein Gesetz.
Nun ist sie gefährdet. Nachdem Sie am Anfang der
Wahlperiode großzügig angekündigt haben, den digitaHansjörg Durz
len Verbraucherschutz zum Schwerpunkt Ihrer Politik
zu machen, sind die Zeiten, als die Große Koalition, die
Regierung Merkel oder auch die SPD die Netzneutralität
retten wollten, ein für alle Mal vorbei. Das muss man hier
einmal festhalten, meine Damen und Herren.
({1})
Herr Ilgen, mit Ihrer Aussage „Da muss man mal gucken“ kommt man nicht weiter. Wenn man nur guckt,
dann geschieht das, was jetzt passiert, und das ist
schlecht: Sie verramschen die Netzneutralität über den
Umweg Europa. Das verbrämen Sie hier heute Abend
mit der Aussage, unser Antrag komme Ihnen unpassend.
Das glaube ich gern. Aber um die Netzneutralität zu retten, versuchen wir einfach alles. Was Sie hier versuchen,
ist peinlich. Sie reden das Problem nämlich klein.
({2})
Mit einer Sache hatten Sie recht, Herr Durz: Die Netzneutralität wurde am 27. Oktober in einem durchsichtigen Deal auf EU-Ebene verramscht. Was machen Sie
hier heute allen Ernstes? Sie erzählen, dass es sich hier
um den ersten Gesetzentwurf handelt, der die Netzneutralität sichert. Allen Ernstes ein guter Kompromiss, Herr
Durz? Ich sage Ihnen: Die Menschen sind nicht dumm.
Sie verstehen, dass ein Gesetz, das es den großen TK-Anbietern explizit ermöglicht, Überholspuren im Internet,
Diensteklassen und Special Services einzuführen, eben
kein Gesetz zur Sicherung der Netzneutralität ist, sondern das Gegenteil, ein Freibrief, der das Tor zu einem
Zweiklasseninternet öffnet. Das braucht kein Mensch.
({3})
Was wir brauchen, sind starke Verbraucherrechte und
ein Internet, das Informationszugang sichert und Innovationen ermöglicht, statt ohnehin marktmächtige Player
weiter zu stärken, wie Sie das tun. Es ist doch offensichtlich: Gerade angesichts immer vorgeschobener Kapazitätsengpässe - als Beispiel nenne ich die Onlineoperation; Herr Durz, sobald Sie sich online im normalen
Internet operieren lassen, mache ich das auch - kann eine
Priorisierung bestimmter Daten rein sinnlogisch eben
nicht ohne die gleichzeitig Diskriminierung anderer Daten einhergehen. Wie sollte es auch anders sein? Immer
wenn man bestimmte Daten priorisiert, diskriminiert
man andere Daten. Es hat nur einen Tag gebraucht, da
hat die Telekom gezeigt, was man plant, nämlich all diejenigen zur Kasse zu bitten, bei denen man es kann. Nun
stellen Sie sich hier hin, tun ganz entsetzt und überrascht
und ermahnen die Telekom. Das ist bigott.
({4})
Die SPD-Expertin im Europäischen Parlament Petra
Kammerevert hat das erkannt. Sie attestiert dem jetzigen Kompromiss Rechtsunklarheit gleich an mehreren
Stellen - zu Recht! Sie sagt, der verabschiedete Text
ermögliche ein Blockieren des Datenverkehrs. Auch
Spezialdienste sind nach dem vorliegenden Text explizit
zulässig. Schließlich wird auch das Zero-Rating ermöglicht, das absehbar zu einer weiteren ganz erheblichen
Marktkonzentration führt. Das bedeutet die völlige Aufweichung der Netzneutralität. Deswegen haben 22 von
23 deutschen SPD-Abgeordneten im Europäischen Parlament gegen den Entwurf gestimmt, den Sie hier verteidigen; das war konsequent. Dieser Kompromiss, der den
großen US-Unternehmen durch Zero-Rating-Verträge in
die Hände spielt, hilft uns nicht weiter.
Wir haben immer gewarnt, nicht so lange abzuwarten,
bis das Kind in den Brunnen gefallen ist. Nun liegt es im
Brunnen. Uns bleibt allerdings eine allerletzte Chance das klang eben an -: In den nächsten Monaten können Sie
gemeinsam mit den nationalen Regulierungsbehörden,
die die Einhaltung der Netzneutralität und der Regeln
für Verkehrsmanagement überwachen sollen, technische
Qualitätskriterien festlegen. Zeigen Sie wenigstens hier,
dass Ihnen eines der grundlegendsten Prinzipien eines offenen, demokratischen und innovationsfreundlichen Netzes nicht völlig egal ist. Hierzu fordert Sie unser Antrag
noch einmal auf.
Ganz herzlichen Dank.
({5})
Vielen Dank, Konstantin von Notz. - Der letzte Redner nicht nur in dieser Debatte, sondern auch des heutigen Abends: Lars Klingbeil für die SPD.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Vielen Dank für die Möglichkeit, ein weiteres Mal über
das wichtige Thema Netzneutralität hier im Parlament zu
diskutieren. Konstantin von Notz, vielen Dank für das
engagierte Streiten zu später Stunde. Aber ich will dir
schon noch ein paar Sachen sagen. Wenn du hier behauptest, die Regierung verramsche die Netzneutralität über
den Umweg Europa, dann frage ich mich: Was ist aus
den Grünen geworden, die eigentlich für Verhandlungsprozesse in Europa stehen?
Das kann man doch nicht aberkennen. Dass das nicht
bedeutet, nationale Interessen rigoros durchzusetzen,
sondern dass wir mit 28 Staaten in Europa verhandeln
und nicht immer zu 100 Prozent das bekommen, was wir
wollen, das müsstest du als Grüner doch anerkennen. Das
ist in Europa manchmal schwieriger, als es auf nationalstaatlicher Ebene der Fall wäre.
({0})
Das Zweite, was ich sagen will, ist: Schau einmal in
den Koalitionsvertrag der Großen Koalition. Darin steht
die gesetzliche Verankerung der Netzneutralität, so wie
wir das jetzt in Europa durchgesetzt haben.
({1})
Du weißt, wenn ich alleine hätte entscheiden können,
hätte ich das anders gemacht,
({2})
aber es ist im Koalitionsvertrag festgehalten, dass wir
in engen Grenzen Spezialdienste zulassen wollen. Man
kann der Politik vieles vorwerfen, aber dass man das
umsetzt, was im Koalitionsvertrag steht, sollte man der
Politik nicht vorwerfen.
({3})
Das hat, glaube ich, auch etwas mit Konsequenz zu tun.
({4})
Wir haben jetzt in Europa die Einigung erzielt. Ohne
die deutsche Bundesregierung hätte es keine gesetzliche
Verankerung der Netzneutralität gegeben. Wenn man sich
die Gemengelage in Europa anschaut, dann sieht man:
Wir hatten genug Staaten in Europa, die keine gesetzliche Verankerung, sondern weiterhin das freie Spiel des
Marktes wollten. Es ist gut, dass die Bundesregierung am
Ende einen Kompromissvorschlag vorgelegt hat.
Herr Oettinger als zuständiger Kommissar hat gesagt,
es dürfe Abweichungen von der gesetzlich vorgeschriebenen Netzneutralität geben. Er hat einige Kriterien dafür genannt. Ich will aus einigen Interviews zusammenstellen, was er gesagt hat.
({5})
Er hat gesagt, es müsse eine technische Notwendigkeit
dafür geben, er hat gesagt, es müsse ein öffentliches Interesse geben, und er hat gesagt, es müssten vor allem
ausreichend Bandbreite und Kapazität vorhanden sein,
und das bedeutet wesentlich mehr als 50 Mbit.
Jetzt bin ich einmal gespannt, welche Leistung das am
Ende überhaupt betreffen wird. Ich rate zu etwas mehr
Gelassenheit. Wir haben jetzt die Regelung, und wir
werden sehen, wie das Ganze von den nationalen Regulierungsbehörden umgesetzt wird. Ich bin mir ziemlich
sicher, dass es am Ende sehr wenig Abweichungen von
der Netzneutralität geben wird.
({6})
Ich glaube übrigens auch - ein Argument, das wir immer
hören -, dass das automatisierte Fahren die Netzneutralität nicht aufbricht.
Am Ende will ich eines sagen: Ich glaube, dass der
Telekom-Chef der ganzen Debatte einen Bärendienst erwiesen hat.
({7})
Wir alle werden aufmerksam schauen, was da passiert.
Herr von Notz, ich will zum Schluss noch sagen: Ich habe
gelesen, dass der Kollege Jarzombek sich kritisch geäußert hat. Auch ich habe mich kritisch geäußert. Von den
Grünen habe ich zu der Telekom-Debatte nichts gelesen.
({8})
Vielen Dank fürs Zuhören.
({9})
Vielen Dank, lieber Kollege Lars Klingbeil. - Ich
schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Energie zum Antrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Netzneutralität
als Voraussetzung für eine gerechte und innovative digitale Gesellschaft effektiv gesetzlich sichern“. Der
Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 18/6402, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/5382 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit Zustimmung der CDU/CSU und der
SPD bei Gegenstimmen von Bündnis 90/Die Grünen und
den Linken angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Berufsqualifikationsfeststellungsgesetzes und anderer Gesetze
Drucksache 18/5326
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({0})
Drucksache 18/6632
Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen vor.
Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden. Ist
jemand nicht damit einverstanden? - Alle sind einver-
standen.1)
Dann kommen wir zur Abstimmung über den von
der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur
Änderung des Berufsqualifikationsfeststellungsgesetzes
und anderer Gesetze. Der Ausschuss für Bildung, For-
schung und Technikfolgenabschätzung empfiehlt unter
Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa-
1) Anlage 4
che 18/6632, den Gesetzentwurf der Bundesregierung
auf Drucksache 18/5326 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um
das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält
sich? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung
angenommen. Zugestimmt haben CDU/CSU und SPD,
dagegengestimmt haben die Grünen, Enthaltung von den
Linken.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist angenommen mit Zustimmung der CDU/
CSU und der SPD bei Gegenstimmen von Grünen und
Enthaltung von den Linken.
Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 18/6632 empfiehlt der Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung, eine
Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
CDU/CSU und SPD waren dafür, Grüne dagegen, Enthaltung von den Linken.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 18/6668. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält
sich? - Der Entschließungsantrag ist abgelehnt: Zustimmung von den Grünen, Gegenstimmen von CDU/CSU
und SPD, Enthaltung von der Linken.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Katrin
Kunert, Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Anerkennung von Kriegsdienstverweigerungen erleichtern
Drucksache 18/6363
Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuss ({1})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden. Ist
jemand dagegen? - Nein.1)
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/6363 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 auf:
- Zweite und dritte Beratung des von der Bun-
desregierung eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Umsetzung der EU-Mobili-
täts-Richtlinie
1) Anlage 5
Drucksache 18/6283
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales ({2})
Drucksache 18/6673
- Bericht des Haushaltsausschusses ({3}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
Drucksache 18/6685
Die Reden sollen auch hier zu Protokoll gegeben
werden. - Ich sehe, Sie sind einverstanden. Dann machen
wir es so.2)
Wir kommen damit zur Abstimmung. Der Ausschuss
für Arbeit und Soziales empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/6673, den Gesetzentwurf
der Bundesregierung auf Drucksache 18/6283 in der
Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen
wollen, um ihr Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen. Zugestimmt haben CDU/
CSU, SPD und Grüne, keine Gegenstimmen, Enthaltung
von den Linken.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist angenommen mit Zustimmung von CDU/
CSU, SPD, Bündnis 90/Die Grünen und Enthaltung von
den Linken.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 sowie Zusatzpunkt 3 auf:
22. Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch und weiterer Vorschriften
Drucksache 18/6284
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales ({4})
Drucksache 18/6674
ZP 3 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
({5}) zu dem Antrag der Abgeordne-
ten Roland Claus, Matthias W. Birkwald, Caren
Lay, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Keine Anrechnung von NVA-Verletztenrente
auf Grundsicherung im Alter
Drucksachen 18/3170, 18/5278
Die Reden sollen auch hier zu Protokoll gegeben
werden. - Alle sind einverstanden.3)
2) Anlage 6
3) Anlage 7
Vizepräsidentin Claudia Roth
Dann kommen wir jetzt zur Abstimmung über den
von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf
zur Änderung des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch
und weiterer Vorschriften. Der Ausschuss für Arbeit und
Soziales empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 18/6674, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 18/6284 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um
ihr Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält
sich? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung
angenommen. Zugestimmt haben CDU/CSU, SPD, enthalten haben sich Bündnis 90/Die Grünen und die Linken. Niemand hat dagegengestimmt.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist angenommen. CDU/CSU, SPD waren dafür,
niemand war dagegen, enthalten haben sich die Linken
und Bündnis 90/Die Grünen.
Zusatzpunkt 3. Der Ausschuss für Arbeit und Soziales
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/5278, den Antrag der Fraktion Die Linke mit dem
Titel „Keine Anrechnung von NVA-Verletztenrente auf
Grundsicherung im Alter“ auf Drucksache 18/3170 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen. Zugestimmt haben CDU/
CSU und SPD. Dagegengestimmt haben die Linken und
Bündnis 90/Die Grünen. Niemand hat sich enthalten.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 23 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten
Gesetzes zur Änderung des Seearbeitsgesetzes
Drucksache 18/6162
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales ({6})
Drucksache 18/6675
Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden. -
Alle sind einverstanden. 1)
Dann kommen wir zur Abstimmung. Der Ausschuss
für Arbeit und Soziales empfiehlt in seiner Beschlus-
sempfehlung auf Drucksache 18/6675, den Gesetzent-
wurf der Bundesregierung auf Drucksache 18/6162 in
der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen,
die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustim-
men wollen, um ihr Handzeichen. - Wer stimmt dage-
gen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist damit
in zweiter Beratung einstimmig angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. -
1) Anlage 8
Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist damit einstimmig angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 24 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Nachhaftung für Rückbau- und Entsorgungskosten
im Kernenergiebereich ({7})
Drucksachen 18/6615, 18/6671
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Energie ({8})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicher-
heit
Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden. -
Auch hier sind alle einverstanden.2)
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf den Drucksachen 18/6615 und 18/6671 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Dazu gibt es keine anderweitigen Vorschläge.
Damit ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 25 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Hochschulstatistikgesetzes
Drucksache 18/6560
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({9})
Innenausschuss
Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden. -
Auch damit sind Sie einverstanden.3)
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs
auf Drucksache 18/6560 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Dazu gibt es
keine anderen Vorschläge. Dann ist die Überweisung so
beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 26 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten
Gesetzes zur Änderung des Verkehrsinfrastrukturfinanzierungsgesellschaftsgesetzes
Drucksache 18/6487
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr und digitale Infrastruktur
({10})
Drucksache 18/6669
Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden. -
Niemand hat etwas dagegen. 4)
2) Anlage 9
3) Anlage 10
4) Anlage 11
Vizepräsidentin Claudia Roth
Dann kommen wir zur Abstimmung über den von
der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur
Änderung des Verkehrsinfrastrukturfinanzierungsgesellschaftsgesetzes. Der Ausschuss für Verkehr und digitale
Infrastruktur empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung
auf Drucksache 18/6669, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 18/6487 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen,
um ihr Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist damit in zweiter
Beratung angenommen. Zugestimmt haben CDU/CSU,
SPD und Bündnis 90/Die Grünen. Dagegengestimmt hat
die Linke.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich jetzt zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist angenommen. Zugestimmt haben CDU/
CSU, SPD und Bündnis 90/Die Grünen. Dagegengestimmt hat die Linke.
Damit sind wir am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich hoffe, Sie sind jetzt nicht völlig verzweifelt, weil
die Sitzung viel früher als geplant aus ist. Sie können sich
noch etwas Schönes vornehmen. Es ist ja erst ungefähr
Viertel vor zehn. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen
Abend. Genießen Sie den Abend; genießen Sie die freien
Stunden.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 13. November 2015,
9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.