Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Nehmen Sie bitte Platz . Die Sitzung ist eröffnet .
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
begrüße Sie herzlich zu unserer Plenarsitzung .
Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, möchte
ich Sie darauf hinweisen, dass die Kollegin Christina
Kampmann auf ihre Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag verzichtet . Für sie ist die Kollegin Elfi Scho
Antwerpes nachgerückt . Im Namen des Hauses begrüße
ich Sie herzlich . Wir freuen uns auf die Zusammenarbeit .
({0})
Es gibt eine interfraktionelle Vereinbarung, den
Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache
18/5921 - hier handelt es sich um das Gesetz zur Ver-
besserung der Unterbringung, Versorgung und Betreuung
ausländischer Kinder und Jugendlicher - zur Mitbera-
tung an den Haushaltsausschuss zu überweisen . Sind Sie
damit einverstanden? - Ich vermute, ja; ich höre nichts
Gegenteiliges . Dann haben wir das so beschlossen .
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 17 a und 17 b auf:
a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Jahresbericht der Bundesregierung zum
Stand der Deutschen Einheit 2015
Drucksache 18/6100
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Energie ({1})
Sportausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Finanzausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicher-
heit
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenab-
schätzung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für Kultur und Medien
Ausschuss Digitale Agenda
Haushaltsausschuss
b) Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
CSU und SPD
25 Jahre Deutsche Einheit - Leistungen würdigen, Herausforderungen angehen
Drucksache 18/6188
Zum Jahresbericht der Bundesregierung liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke vor .
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache insgesamt 77 Minuten vorgesehen . Auch dazu kann ich Einvernehmen feststellen . Dann verfahren wir so .
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der
Parlamentarischen Staatssekretärin Iris Gleicke .
({2})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
reden hier nur noch selten über die alten Ost-West-Unterschiede und über all das Holpern und Stolpern auf unserem Weg der letzten 25 Jahre . Vielleicht ist das ja auch
ein Indiz dafür, dass unser Blick nach vorne gerichtet ist .
Den jungen Leuten bedeuten diese alten Unterschiede
ohnehin nicht mehr viel . Das ist eigentlich ermutigend .
Aber uns anderen, den Älteren und den nicht mehr ganz
so Jungen, steckt so manches in den Knochen, was sich
nicht so einfach abschütteln lässt . Wer im Jubiläumsjahr
nur Sekt trinken oder nur Trübsal blasen möchte, hat
nicht begriffen, was im Osten in den letzten 25 Jahren
eigentlich passiert ist .
Meine Damen und Herren, der Prozess der deutschen
Einheit ist nicht immer in geraden Bahnen, sondern
zum Teil auch sehr widersprüchlich verlaufen . Ich hoffe
sehr, dass das in meinem Bericht deutlich geworden ist .
Das liegt mir sehr am Herzen . Wir dürfen nicht darüber
schweigen, dass nicht wenige von denen, die vor 25 Jahren hoffnungsvoll und mit großen Träumen in die neue
Gesellschaft gestartet sind, bittere und zum Teil demütigende Niederlagen erlebt haben .
Es gab nicht nur andauernden Erfolg und immerwährendes Wachstum . Es gab auch Deindustrialisierung und
verheerende Massenarbeitslosigkeit . Es gab falsche Versprechungen und verheerende Fehleinschätzungen . Es
wurde eben längst nicht so schnell alles besser, wie sich
die meisten Ostdeutschen das erhofft hatten . Und: Die
Einheit war eben auch nicht aus der Portokasse zu bezahlen, wie die meisten Westdeutschen es geglaubt hatten .
Wir fanden uns gemeinsam recht schnell wieder in den
Mühen der Ebenen .
Bereits 1992 titelte der Spiegel „Opfer für den Osten Das Teilen beginnt“ . Und schon 1995 entdeckte die gleiche Zeitschrift das „Milliardengrab ‚Aufschwung Ost‘“ .
Natürlich lässt sich die deutsche Einheit nicht auf diese Irrungen und Wirrungen reduzieren, aber sie gehören
dazu . Man kann lange darüber streiten, ob sich das alles
hätte anders und besser managen lassen . Einige Fehler davon bin ich persönlich überzeugt - hätten sich schon
vermeiden lassen . Aber eine Partei, die nach eigener Definition immer recht hat, gibt es Gott sei Dank bei uns
nicht mehr, und die Unfehlbarkeit ist meines Wissens
dem Papst vorbehalten .
({0})
Ich nehme sie jedenfalls für mich nicht in Anspruch und
kann auch allen anderen nur abraten .
Wir dürfen nicht der Versuchung erliegen, uns die Geschichte zurechtzubiegen und das zu beschönigen, was
nicht ganz so gut gelaufen ist oder was vielleicht sogar
total schiefgelaufen ist . Das wäre Wasser auf die Mühlen
der Vereinfacher und Populisten, die sich dann ihrerseits
die Vergangenheit zurechtbiegen und mit Halbwahrheiten und Lügen auf Stimmenfang gehen . Wir dürfen keine nachträgliche Verklärung einer Diktatur hinnehmen,
in der es Bautzen und den Schießbefehl gab und in der
man Jugendliche dazu gebracht hat, sich gegenseitig zu
bespitzeln . Und es darf nicht beschönigt werden, wenn
es darum geht, welch totalen Umbruch die Ostdeutschen
erlebt haben und wie viele von ihnen dabei gescheitert
sind .
Trotz alledem fällt meine Bilanz positiv aus . Der Aufbau Ost ist insgesamt gelungen . Das Ziel gleichwertiger
Lebensverhältnisse ist in vielen Bereichen erreicht . Wir
verfügen heute über eine moderne mittelständisch geprägte Wirtschaft und eine gut ausgebaute Infrastruktur .
Massive Umweltschäden wurden beseitigt, die Städte
wurden saniert und viele Altbauten liebevoll restauriert . In vielen Bereichen ist der Angleichungsprozess gut
vorangekommen . Aber - und das ist ein großes Aber Ostdeutschland hinkt bei der Wirtschaftskraft und bei
den Steuereinnahmen weiter deutlich hinterher . Die Arbeitslosigkeit ist deutlich höher als im Westen, und die
Löhne sind deutlich niedriger . Der Aufholprozess kommt
schon seit Jahren nur noch sehr langsam voran . Die ostdeutsche Wirtschaft wächst zwar, aber die westdeutsche
Wirtschaft wächst eben auch . Man könnte sagen: Wir
verfolgen ein Ziel, das sich genauso schnell bewegt wie
wir selbst, und deswegen kommen wir ihm derzeit leider
nicht näher . Wir brauchen einen langen Atem .
Zurückzuführen ist das vor allem auf die Kleinteiligkeit der ostdeutschen Wirtschaft . Diese Kleinteiligkeit ist
ein strukturelles Problem . Uns fehlen im Osten die Großunternehmen und Konzerne und ihre Forschungs- und
Entwicklungsabteilungen . Angesichts dessen vertreten
manche unterdessen die Auffassung, dass der Osten den
Westen niemals einholen kann . Das ist eine sehr gefährliche Argumentation . Wer ihr folgt, könnte glatt auf die
Idee kommen, dass man komplett aus der Ostförderung
aussteigen könnte .
Meine Damen und Herren, ich bin nicht naiv . Ich
weiß, dass diese Auffassung längst von manchen vertreten wird, bislang allerdings noch eher hinter vorgehaltener Hand . Aber ein Ende der Ostförderung würde bedeuten, einen Motor abzuwürgen, den man gerade mit viel
Aufwand zum Laufen gebracht hat . Das wäre grotesk .
Dann wäre vieles, ganz vieles umsonst gewesen . Eine
reine Ostförderung ist nach dem Auslaufen des Solidarpakts II im Jahr 2019 allerdings auch niemandem mehr
zu vermitteln . Was unser Land deshalb für die Zeit nach
dem Solidarpakt braucht, ist eine zuverlässige Förderung
der strukturschwachen Regionen in Ost und West .
({1})
Was der Osten außerdem braucht, ist ein fairer Bund-Länder-Finanzausgleich, der dafür sorgt, dass besonders in
den von Abwanderung betroffenen Regionen die zentralen Aufgaben, etwa im Bereich der Daseinsvorsorge,
auch in Zukunft erfüllt werden können .
Meine Damen und Herren, es gibt noch ein Thema,
das mir auf der Seele liegt . Das ist die für 2019 versprochene Angleichung der Renten in Ost und West . Ich bin
den Koalitionsfraktionen dafür dankbar, dass sie dieses
Versprechen mit ihrem Antrag noch einmal bekräftigt
haben .
({2})
Es handelt sich um die letzte Rechtsungleichheit von größerer Bedeutung . Es geht dabei natürlich um die Vollendung der sozialen Einheit . Die Rente, meine Damen und
Herren, darf nicht zum Symbol der Ungleichheit werden .
({3})
Meine Damen und Herren, wir haben viel erreicht,
und den Rest schaffen wir auch noch . Die Deutschen in
Ost und West, wir alle haben morgen allen Grund, zu feiern . Ich wünsche mir - nicht nur für diesen Tag - ein
Deutschland, das seine Einheit feiert, ohne seine Geschichte zu vergessen .
Herzlichen Dank .
({4})
Das Wort erhält nun der Kollege Gregor Gysi für die
Fraktion Die Linke .
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Heute
halte ich meine letzte Rede als Fraktionsvorsitzender im
Deutschen Bundestag .
({0})
- Warten Sie! Los sind Sie mich noch nicht; denn ich
bleibe ja im Bundestag .
({1})
Aber ich werde dann deutlich seltener und auch zu anderen Anlässen reden .
({2})
Ich muss schon deshalb aufhören, weil ich jetzt länger
eine Abgeordnetengruppe bzw . eine Fraktion leite als
Herbert Wehner oder Wolfgang Mischnick . Da sagte ich
mir: Gregor, nicht übertreiben!
({3})
Lassen Sie mich etwas zur deutschen Teilung sagen .
Die deutsche Teilung war das Ergebnis der NS-Diktatur
und des Zweiten Weltkrieges, der 50 Millionen Menschen das Leben kostete . Die Sowjetunion allein erlebte
den Tod von 27 Millionen Menschen . Die Vernichtung
der europäischen Jüdinnen und Juden kostete 6 Millionen Menschen das Leben . Viele Länder waren zerstört,
auch Deutschland . Deutschland selbst verzeichnete
6,3 Millionen Tote .
Die Strafe der Siegermächte für Deutschland war eine
Verringerung des Territoriums und letztlich auch die
deutsche Teilung . West- und Ostdeutsche hatten keine
freie Entscheidung hinsichtlich des Systems . 1952 gab
es die Stalin-Note mit dem Angebot geheimer Wahlen in
beiden deutschen Staaten . Ich meine, Adenauer hätte darauf eingehen sollen;
({4})
aber es gab schon den Kalten Krieg .
Das wichtigste Ergebnis der deutschen Einheit 1990
bestand darin, dass durch diese Einheit ein Krieg zwischen den beiden deutschen Staaten ausgeschlossen
wurde . Wäre der dritte Weltkrieg in der Zeit des Kalten
Krieges je begonnen worden, dann hätte er - da waren
sich die USA und die Sowjetunion einig - zwischen den
beiden deutschen Staaten begonnen . Uns alle hätte es
nicht mehr gegeben .
Die Einheit ist auch dank des Mutes vieler Ostdeutscher zustande gekommen . Die Vorteile für den Osten
sind offenkundig: Es ist ein Gewinn an Freiheit und Demokratie . Nie wieder wird es eine Mauer in Deutschland
geben . Wir haben eine funktionierende Wirtschaft, keine
Mangelwirtschaft . Endlich hatten die Ostdeutschen eine
frei konvertierbare Währung, die Deutsche Mark statt der
Mark der DDR, das heißt eine Währung, die man weltweit einsetzen konnte .
Trotzdem: Die Vor- und Nachteile hängen von der
subjektiven Bewertung jeder und jedes Einzelnen ab . Für
viele gab es eine Bereicherung, auch für mich; aber sehr
viele wurden auch arbeitslos . Ein 50-Jähriger, der bis zur
Rente arbeitslos blieb, hat die Bereicherung kaum empfunden . Und Männer sind anders gestrickt als Frauen .
Männer empfinden ihre Bedeutung nur über ihre berufliche Tätigkeit
({5})
- hören Sie doch mal zu! - und unterliegen dann noch
dem Irrtum, dass sie, wenn sie höher bezahlt werden,
eine höhere Bedeutung haben . Frauen bringen neues Leben zur Welt und haben deshalb eine andere Perspektive
als wir Männer . Aber auch für Frauen gab es Verluste,
und zwar insbesondere bei den Kindereinrichtungen .
({6})
Wir Menschen sind außerdem so gestrickt: Wir genießen
weniger, was wir haben, und leiden mehr unter dem, was
wir nicht haben .
Nun lassen Sie mich aber auch Kritisches sagen . Unser Vorschlag für die Wirtschaft bestand 1990 darin, ab
1 . Juli ein Jahr lang sämtlichen DDR-Unternehmen als
Subvention die Lohnkosten zu erstatten, ein Jahr später
nur noch 90 Prozent davon, wieder ein Jahr später nur
noch 80 Prozent - also eine degressive Subvention über
zehn Jahre hinweg . Alle Unternehmen hätten die Chance
gehabt, die Produkte in besserer Qualität oder auch neue
Produkte herzustellen, dafür zu werben . Natürlich wären
auch bei diesem Weg viele Unternehmen in Konkurs gegangen, aber nicht so viele, wie es tatsächlich geschehen
ist . Stattdessen entschied die Treuhandanstalt: manchmal
scheinbar - zum Beispiel, wenn Konkurrenz beseitigt
wurde -, manchmal tatsächlich eher willkürlich, manchmal auch sinnvoll .
Nach Abschluss der Privatisierung Ende 1994 gab es
nur noch 1,5 von einst 4,1 Millionen Arbeitsplätzen in
den Treuhandunternehmen . Die Treuhandverluste bei der
Privatisierung betrugen 200 Milliarden Euro . Wie jetzt
festgestellt wurde, bleibt die Wirtschaft im Osten wohl
fast ewig hinter der westdeutschen zurück . Nur die Politik könnte wirksame Schritte dagegen einleiten .
({7})
Was mich aber besonders störte, waren zwei Dinge:
der Mangel an Respekt vor ostdeutschen Biografien und
dem dortigen Leben und kein genaues Hinsehen .
({8})
Vieles musste überwunden werden - das steht fest -,
aber einiges hätte sinnvoll in ganz Deutschland eingeführt werden können . Wenn man eine Gleichstellung der
Frauen will, auch bei der Erwerbsarbeit, dann muss es
genügend Kindertagesstätten und Nachmittagsbetreuung
an Schulen geben . Da Ferien länger dauern als der Urlaub der Eltern, muss es Schulferienspiele und Kindererholungseinrichtungen geben .
({9})
Das war nicht schlecht und hätte vom Osten übernommen werden können .
({10})
Das gilt auch für Polikliniken, die wir jetzt Ärztehäuser
nennen .
Im Osten gab es bei der Bildung leider - wirklich leider; nicht zu vertreten - eine politische Ausgrenzung,
aber keine soziale . Vor allem Kunst, Kultur und öffentlicher Nahverkehr waren für jede und jeden erschwinglich . Heute kann die Tochter einer Hartz-IV-Empfängerin
niemals die 9 . Sinfonie von Beethoven im Original hören, nur verquetscht auf dem Computer . Wir müssen uns
darüber wirklich Gedanken machen .
({11})
Lothar Späth hat mir erzählt: Als er die Geschäftsführung von Jenoptik übernahm, hat er sofort den Betriebskindergarten geschlossen, weil er der Meinung war: Das
sind völlig unnötige Kosten . Dann wollte er zwei französische Ehepaare, die hochqualifiziert waren, für sein
Unternehmen gewinnen . Die hatten aber beide je zwei
Kinder und fragten ihn, ob das Unternehmen einen Kindergarten habe . Da sagte er: Natürlich nicht . Dann sagten sie: Dann kommen wir nicht . - Daraufhin hat er den
Kindergarten wieder eröffnet . Manchmal lohnt es sich,
länger nachzudenken .
({12})
- In Jena .
Das Wichtigste ist: Wenn wir diesen Weg gegangen
wären, wenn wir bestimmte Dinge eingeführt hätten,
dann hätte das das Selbstbewusstsein der Ostdeutschen
gestärkt . Was aber noch wichtiger gewesen wäre: Die
Westdeutschen würden mit der Vereinigung verbinden,
dass in diesen Punkten ihre Lebensqualität gesteigert
wurde . Das wäre doch viel positiver gewesen als die jetzige Einstellung .
({13})
Trotzdem sage ich: Wir sind für die neue Generation gut vorangekommen bei der Herstellung der inneren
Einheit . Aber es müssen schnellstens zwei Dinge passieren: die Angleichung der Löhne und der Arbeitszeit in
Ost und West und die Angleichung der Renten . Für die
gleiche Lebensleistung muss es endlich die gleiche Rente
geben .
({14})
Bevor ich wenige weitere Wünsche und Bitten übermittle, muss ich Ihnen mittels eines jüdischen und deshalb wohl intelligenten Witzes die Dialektik erklären . Es
kommt ein Jude nach Hause und ist stark frustriert . Sein
Bruder fragt ihn, warum er so sauer sei . Er antwortet,
dass er wütend sei, weil er den Rabbiner gefragt habe, ob
er beim Beten rauchen dürfte, was dieser strikt verneint
hätte . Sein Bruder erwidert, dass er ein Depp sei, weil er
die Frage falsch gestellt habe . Er hätte fragen müssen, ob
er beim Rauchen beten dürfe, was der Rabbiner immer
erlaubt hätte . - Sehen Sie: Das ist die Dialektik .
({15})
Jetzt komme ich zu einigen Wünschen und Bitten, die
über das hinausgehen, was ich eben in Bezug auf Ost/
West schon gesagt habe .
Erstens . Wir müssen Flüchtlinge anständig behandeln
und Fluchtursachen wie Krieg, Rüstungsexporte, Hunger, Armut und Rassismus bekämpfen . Aber wir dürfen
die Benachteiligten bei uns nicht vernachlässigen . Wir
brauchen eine sanktionsfreie Mindestsicherung und eine
soziale Mindestrente gegen Altersarmut .
({16})
Zweitens . Wenn man einen Abstand zwischen Sozialleistungen und Erwerbseinkommen haben will, dann
braucht man einen höheren flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn: 10 Euro brutto die Stunde .
({17})
Drittens . Wir müssen die Mitte der Gesellschaft entlasten . Es sind die mittleren Verdiener, die die Gesellschaft bezahlen, nicht die Vermögenden, nicht die mit
hohen Einkommen - weil Sie sich an die nicht herantrauen oder nicht heranwollen -, und nicht die Armen,
denn die können es nicht . Dasselbe Beispiel gilt für die
Wirtschaft: Die kleinen Unternehmen können nicht die
Steuern bezahlen, die Konzerne und die Banken drücken
sich davor . Nur der Mittelstand bezahlt ehrlich die Steuern . Wir müssen lernen, die Mitte in der Gesellschaft zu
schützen .
({18})
Viertens . Wir müssen die Bildungsstrukturen erweitern . Ich bitte Sie: Wir haben 16 verschiedene Schulsysteme, weil wir 16 Bundesländer haben . Das passt ins
19 . Jahrhundert, aber nicht ins 21 . Jahrhundert .
({19})
Wir brauchen endlich flächendeckend Kitas, mehr und
gut bezahlte Erzieherinnen und vor allem Erzieher . Wir
brauchen in diesem Bereich Gebührenfreiheit und auch
ein gebührenfreies, gesundes, vollwertiges Mittagessen
sowohl in Kindertagesstätten als auch in Schulen .
({20})
Fünftens . Wir müssen die prekäre Beschäftigung und
die Altersarmut überwinden, jetzt und in Zukunft .
({21})
Sechstens . Wir müssen die schlechte Bezahlung der
sogenannten Frauenberufe überwinden . Das heißt, endlich gleicher Lohn für gleichwertige Arbeit .
({22})
Siebtens . Wir müssen zum Primat der Politik zurück,
und wir müssen die Macht der Banken und Konzerne deutlich zurückfahren; ich erinnere an Bankenkrise
und TTIP . Dass die Deutsche Bank entscheidet, was die
Kanzlerin macht, und dass nicht mehr die Kanzlerin entscheidet, was die Deutsche Bank macht, muss geändert
werden .
({23})
Achtens . Wir müssen die Europäische Union und den
Euro deutlich demokratischer, sozialer und ökologischer
hinsichtlich ihrer Wirkungen gestalten .
Neuntens . Wir haben eine geringe Wahlbeteiligung .
Sozial Benachteiligte gehen nur noch zu 30 Prozent wählen . Sie überlegen sich, Wahllokale länger öffnen zu lassen . Das wird nicht helfen . Wir müssen die Demokratie
attraktiver machen .
({24})
Was halten Sie von einer dritten Stimme bei der Bundestagswahl, mit der die Bürgerinnen und Bürger die Reihenfolge auf der Liste der Parteien verändern können?
({25})
Nicht nur die direkt Gewählten, sondern auch die auf
Listen Gewählten wären doppelt unterstellt: Sie müssten
ihrer Partei so nahe sein, dass sie auf die Liste kommen,
und sie müssten den Bürgerinnen und Bürgern so nah
sein, dass ihr Name von ihnen auch angekreuzt wird .
Was halten Sie davon, dass jede Partei, die im Bundestag vertreten ist, anlässlich der Bundestagswahl eine
Frage an die Bevölkerung stellen kann, die mit Ja oder
Nein zu beantworten ist? Das Bundesverfassungsgericht
muss in einem kurzen Verfahren prüfen, ob sowohl die
Antwort „Ja“ als auch die Antwort „Nein“ grundgesetzgemäß ist . Außerdem muss es Begrenzungen hinsichtlich
der Bindungen des Bundeshaushalts geben, weil wir Linken sonst mit unserer Frage gleich zwei Bundeshaushalte
auf einmal ausgeben würden . Das verstehe ich .
Was halten Sie von einer Ergänzung unserer Debattenkultur? Bisher haben wir doch nur Reden . Wenn wir
nur Reden haben, entscheidet man selbst, auf welche Argumente des Vorredners man eingeht oder nicht eingeht .
Stellen Sie sich doch einmal vor, neben den Reden hätten
wir eine Streitdebatte, zum Beispiel zehn Minuten lang
ein Streitgespräch zwischen Kauder und Gysi, immer
redet jeder je eine Minute: Ich kann seinen Argumenten
nicht ausweichen, er kann meinen Argumenten nicht ausweichen . Glauben Sie mir, es würde hier sehr viel spannender werden, wenn wir solche Dinge im Bundestag
einführen würden .
({26})
Der Ruf der Politikerinnen und Politiker in unserer
Gesellschaft ist ziemlich schlecht .
({27})
Das hat viele Gründe . Aber die wichtige Arbeit der Mitglieder des Bundestages in den Ausschüssen kann die
Öffentlichkeit nicht wahrnehmen . Ich verstehe, dass man
dort kameragerechtes Verhalten verhindern will . Aber
vielleicht kann man Ausschusssitzungen teils öffentlich,
teils nichtöffentlich durchführen, damit die Bürgerinnen
und Bürger wissen, wo Abgeordnete außerdem arbeiten
und wie viel sie arbeiten .
Auch die Fragestunde zur Politik der Bundesregierung
muss meines Erachtens dringend kulturell belebt werden .
Zehntens und letztens . Ich wünsche mir eine andere
politische Kultur . Ich weiß, dass die Union auch in den
seltenen Fällen voller Übereinstimmung zusammen mit
uns keine Anträge stellt .
({28})
Ich glaube, das stärkt falsche Ansichten in der Union und
bei uns . Denken Sie darüber nach .
({29})
Die repräsentative Demokratie zeichnet sich dadurch
aus, dass unterschiedliche Parteien unterschiedliche Interessen vertreten . Die meisten Linken haben begriffen,
dass ein Bundestag ohne Union nicht gut wäre, weil dann
bestimmte Interessen nicht mehr vertreten wären . Damit
keine Missverständnisse aufkommen: Kleiner, auch deutlich kleiner, dürfen Sie schon werden, aber nicht fehlen .
({30})
Aber ich befürchte, dass es noch zu viele in der Union
gibt, die sich einen Bundestag ohne Linke gut vorstellen
können .
({31})
- Sehen Sie . - Damit verletzten Sie aber die repräsentative Demokratie; denn wir vertreten andere Interessen,
bei denen es vielleicht wichtig ist, dass auch diese im
Bundestag vertreten sind .
({32})
Denken Sie darüber nach .
Herr Kollege, denken Sie an die Zeit .
({0})
Das ist die letzte Seite, Herr Präsident .
Ich wünsche mir ein anderes Verhältnis zu historischen Persönlichkeiten .
({0})
Ich kenne die Kritik der Linken an Bismarck . Sie ist
berechtigt; trotzdem sage ich: Er war auch ein herausragender Mann . Ich weiß, dass an der Kremlmauer Clara
Zetkin und Fritz Heckert beerdigt sind, wichtige Persönlichkeiten . Wenn Sie Franzosen wären - ich schwöre es
Ihnen -: Selbst der konservativste Präsident wäre an den
Gräbern vorbeigegangen und hätte schon mal eine Blume niedergelegt . Noch nie war ein Bundespräsident dort,
noch nie ein Kanzler oder eine Kanzlerin . Lassen Sie uns
diesbezüglich doch ein bisschen französische politische
Kultur und Toleranz einführen . Das stärkt Sie und uns
und unser Land .
({1})
Zum Schluss . Ich habe bisher die Abgeordneten nie
als Kolleginnen bzw . Kollegen begrüßt . Das wird Ihnen
gar nicht aufgefallen sein . Das hängt mit den Diskriminierungen und Verletzungen zusammen, die ich erlebt
habe, auch im Immunitätsausschuss . Die FDP hat bei
mir immer einen kleinen Stein im Brett, und zwar, weil
sie als Einzige nicht mitgemacht hat . Inzwischen werde
ich aber auch mit Respekt behandelt . Nun muss auch ich
mir einen Ruck geben . Deshalb sage ich Ihnen jetzt: Herr
Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen, ich wünsche
Ihnen allen aufrichtig beste Gesundheit, schöne Erlebnisse, viel Glück und nur ein wenig vom Gegenteil, um
nicht zu verlernen, Glück zu schätzen . Außerdem wünsche ich Ihnen allen größte politische Erfolge - natürlich nur insoweit, wie sie mit meinen politischen Sichten
übereinstimmen .
({2})
Und da Sie für mich immer eine Herausforderung waren,
was zweifellos zu meiner Entwicklung beigetragen hat,
sage ich Ihnen auch: Danke .
({3})
Lieber Kollege Gysi, Ihre letzte Rede als Fraktionsvorsitzender der Linken hatte ja streckenweise fast den
Charakter einer Regierungserklärung .
({0})
Dazu fehlt es jetzt nur noch an den erforderlichen Mehrheiten .
({1})
Ein wesentlicher Unterschied zwischen dem vereinten Deutschland - an die Wiedervereinigung erinnern
wir an diesem Wochenende in besonderer Weise - und
dem Staat, der vor 25 Jahren dem Geltungsbereich des
Grundgesetzes beigetreten ist, besteht darin, dass in diesem Parlament nicht nur überhaupt auch Minderheiten
zu Wort kommen, sondern regelmäßig auch mit längeren
Redezeiten als ihnen statistisch überhaupt zusteht .
({2})
Nun tun wir so, als wäre das eine ganz normale Debatte . Ich rufe den nächsten Redner auf . Das ist der Kollege
Hauptmann für die CDU/CSU-Fraktion .
({3})
Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kollegen! Ich
freue mich, dass der Bundesbeauftragte für die Stasiunterlagen heute dieser Debatte beiwohnt . - Lieber Thüringer Landsmann Roland Jahn, seien Sie herzlich willkommen bei dieser Debatte im Deutschen Bundestag .
Verehrte Gäste und Freunde auf den Tribünen!
({0})
Herr Präsident, eine Regierungserklärung sieht schon
anders aus . Wir haben hier einen Gregor Gysi erlebt,
der wie ein Hobbypsychologe die Geschichte verklären
will, wie er die Westanbindung Deutschlands ein Stück
weit infrage stellt, das war schon ein starkes Stück, Herr
Kollege . Deswegen möchten wir Sie gleich einmal daran
erinnern - damit Sie das auch nach Ihrer letzten Rede
als Fraktionsvorsitzender nicht vergessen -: Es waren die
Adenauers, die Brandts und die Kohls, die die Einheit
herbeigeführt haben und nicht die Lafontaines, die Honeckers und die Gysis dieser Republik .
({1})
Liebe Kollegen, wir feiern morgen, am 3 . Oktober
2015, auch zentral hier, direkt vor dem Reichstagsgebäude, unser silbernes Einheitsjubiläum, 25 Jahre deutsche
Einheit . Dass Ostdeutschland in den letzten 25 Jahren
enorm aufgeholt hat, das bestreitet niemand, nicht einmal
Herr Gysi . Was mich an dieser Debatte allerdings immer
wieder stört, ist der nostalgische Aspekt, der ein Stück
weit mitschwingt, auch in Ihren Worten, wodurch unsere
geschichtliche Leistung ein Stück weit kleingeredet und
auch verklärt wird .
Die immensen Anstrengungen der Menschen in Ostdeutschland, die Solidarität der Bürger in Westdeutschland, die Integration eines vereinigten Deutschlands
innerhalb der Europäischen Union quasi über Nacht,
der wirtschaftliche Erfolg, den wir heute im Jahr 2015
feiern - all das sind Beispiele und Kennzeichen dafür,
dass wir hier einen Transformationsprozess erfolgreich
gemeistert haben, der einmalig ist auf der ganzen Welt .
Darauf können wir stolz sein und sollten es auch .
({2})
Deswegen geht es heute bei dieser Debatte nicht nur
um den Jahresbericht zum Stand der Deutschen Einheit die Staatssekretärin hat ihn vorgestellt -, sondern auch
um einen Antrag seitens der Koalitionsfraktionen, der die
deutsche Einheit als das würdigt, was sie ist, nämlich ein
Erfolg und ein Geschenk unserer deutschen Geschichte .
80 Prozent der Menschen in den neuen Ländern erleben
das auch persönlich so; sie erleben quasi die Wiedervereinigung als das größte historische Glück, das sie erreicht
haben .
Mit den Worten „Wir sind das Volk“ haben die Ostdeutschen Freiheit und ein besseres Leben angestrebt .
Sie waren auch in den schwierigen Jahren, die es nach
der Wiedervereinigung ohne Zweifel gab, in diesem
Transformationsprozess bereit, hart anzupacken und daran mitzuwirken, die deutsche Einheit zu einem gesamtdeutschen Erfolg zu machen . Diesen können wir heute
feiern .
Das hört sich immer sehr abstrakt an; dabei ist es
unglaublich konkret, wenn es um die Lebensqualität
der einzelnen Menschen geht, wenn es um den Umweltschutz in den neuen Ländern geht, wenn es um die
bessere Anbindung Deutschlands in Europa durch eine
moderne Infrastruktur geht und wenn es darum geht,
wie es eine innovative Wirtschaft geschafft hat, sich in
diesem Transformationsprozess von der Miss- und Planwirtschaft hin zur sozialen Marktwirtschaft zu verändern .
Das sind ganz konkrete Leistungen, die wir hier heute
würdigen wollen .
Das schönste Geschenk haben sich letztendlich die
Menschen selbst gegeben . Denn dank der Lebens- und
Arbeitsbedingungen und der medizinischen Versorgung
ist die Lebenserwartung in Ostdeutschland heute sieben
Jahre länger, als sie noch 1989 war . Das heißt, die Menschen profitieren selber davon und können tagtäglich
nicht nur bei Besuchen von Bundesgartenschauen und
Landesgartenschauen erleben, dass blühende Landschaften heute Realität geworden sind .
({3})
Dass wir es geschafft haben, in der Infrastruktur Lücken zu schließen und marode Infrastruktur zu beseitigen - über die Verkehrsprojekte „Deutsche Einheit“
wurden über 40 Milliarden Euro investiert und Schienenprojekte und Autobahnprojekte aufgelegt -, zeigt doch
letztendlich, dass in vielen Bereichen unglaublich viel
passiert ist . Dies kommt heute unserem gesamten Land
zugute und nicht nur den Ostdeutschen .
Wachstum und Innovation sind ein Bereich, in dem
in den letzten Jahren enorme Fortschritte erzielt wurden,
und das trotz des Strukturwandels, den wir in den letzten
Jahren durchschritten haben . Dieser Aufholprozess, den
die neuen Bundesländer erlebt haben, zeigt, dass hier ein
gewaltiger Fortschritt erzielt wurde . Wir haben heute bei
der Zahl der Arbeitslosen einen historischen Tiefstand:
750 000 Menschen in den neuen Ländern sind noch arbeitslos; jeder Einzelne von ihnen ist zu viel . Aber das
ist der niedrigste Stand, den wir seit 25 Jahren haben .
Die Arbeitslosigkeit ist 18 Prozent geringer als 1991 . Die
Arbeitslosigkeit in meinem Südthüringer Wahlkreis liegt
mit 5 Prozent knapp 1,5 Prozentpunkte unterhalb des
deutschen Bundesdurchschnittes . Das sind doch Leistungen, die wir nach außen tragen können, auf die wir stolz
sein können, liebe Freunde .
({4})
Diese Erfolge sehen wir nicht nur im Bereich der Lebensqualität und nicht nur im Bereich des Umweltschutzes - knapp 5 Prozent des Staatsterritoriums in den neuen
Ländern haben wir als Biosphärenreservate und Naturparks unter besonderen Schutz gestellt -, sondern wir
sehen sie auch bei über 94 000 Arbeitsplätzen in innovativen Bereichen der Forschung und Entwicklung und
bei kleinen und mittelständischen Unternehmen, die sich
heute teilweise als Hidden Champions zu Weltmarktführern entwickelt haben . Wer hätte vor 25 Jahren gedacht,
dass wir Weltmarktführer in den neuen Ländern haben?
({5})
Das ist ein Erfolg, den wir nicht kleinreden sollten . Wir
unterstützen ihn vielmehr mit den Instrumenten unserer
staatlichen Förderung . ZIM, INNO-KOM-Ost, aber auch
die Programmfamilie „Unternehmen Region“ zeigen,
dass wir als Staat unserer Verantwortung gerecht werden,
weiterhin einen erfolgreichen wirtschaftlichen Aufstieg
zu gewährleisten .
Sehr geehrte Damen und Herren, eines darf man nicht
vergessen: Wir sollten heute mit dieser Debatte keinen
Schlussstrich unter die Aufarbeitung der SED-Diktatur
ziehen . Werter Herr Kollege Gysi, man kann 25 Jahre in
verschiedenen Bereichen und für verschiedene Aspekte
durchaus nutzen. Ich empfinde es schon ein Stück weit
als eine Schande, dass Sie und Ihre Kollegen als Nachfolgepartei der SED die Verantwortung für Stacheldraht,
Schießbefehl und Schlussverkauf in der Planwirtschaft
nicht aufgearbeitet, nicht analysiert und nicht geradegerückt haben .
({6})
Es ist letztendlich ein Stück weit eine Schande der deutschen Geschichte, dass Sie diese 25 Jahre nicht genutzt
haben .
({7})
Sehr geehrten Kollegen, das ist nicht abstrakt . Das ist
sehr konkret . Die Mehrheit Ihrer Regierungskoalition im
Thüringer Landtag beträgt eine Stimme, und das bei zwei
ehemaligen Inoffiziellen Mitarbeitern der Stasi. Das ist
die Realität im Jahr 2015 .
({8})
Hier werden Sie Ihrer Verantwortung nicht gerecht . Die
Stasimitarbeiter von gestern sind heute noch in maßgeblicher Verantwortung mit dabei . Das ist ein Stück weit
eine Schande .
Herr Kollege Hauptmann, darf die Kollegin
Wawzyniak Ihnen eine Zwischenfrage stellen?
Gerne .
Herr Kollege Hauptmann, Sie haben gerade gesagt,
dass die Vergangenheit nicht aufgearbeitet worden ist .
Nun haben wir mit der Drucksache 18/3145 einen Gesetzentwurf zur Verbesserung rehabilitierungsrechtlicher
Vorschriften und zur SED-Opferrente vorgelegt, in dem
wir unter anderem vorgeschlagen haben, dass auch diejenigen unter das Strafrechtliche Rehabilitierungsgesetz
fallen sollten, die Opfer von Zersetzungsmaßnahmen des
MfS waren . Diesen Gesetzentwurf haben Sie mit breiter Mehrheit abgelehnt . Der Kollege Vaatz hat sich dazu
hinreißen lassen, zu sagen, dass dieser Gesetzentwurf nur
eingebracht worden ist, um den Staat zu zerstören . Wie
verträgt sich das in Ihren Augen damit, dass die Vergangenheit aufgearbeitet werden soll?
({0})
Werte Frau Kollegin, wenn der Thüringer Landtag
feststellt, dass zwei ehemalige Inoffizielle Mitarbeiter
der Stasi parlamentsunwürdig sind,
({0})
dann erwarte ich von einer Partei - und auch von einem
Regierungsbündnis -, dass sie ihre Mehrheit nicht von
diesen zwei Stimmen abhängig macht, sondern einen
ganz klaren Schlussstrich unter die Geschichte zieht .
Diesen Schlussstrich haben Sie nicht gezogen .
({1})
Von daher sind die von Ihnen angesprochenen Punkte
keineswegs ernst zu nehmen .
Herr Gysi, Sie haben uns ein langes Pamphlet vorgetragen und gesagt, wo Sie überall Veränderungen erwarten . Wir wünschen uns als Veränderung, dass Sie damit
anfangen, die Nationalhymne hier in diesem Haus mitzusingen . Da fängt es doch bereits an!
({2})
- Bleiben Sie doch ganz ruhig . Wer sich aufregt, hat permanent unrecht; das müssten Sie doch wissen .
({3})
Sehr geehrte Damen und Herren, die Frau Kollegin
hat mich gefragt, was wir ganz konkret machen, um den
Punkt der Erinnerungskultur zu würdigen; das war ja Ihre
Frage . Da hilft ein Blick in den Antrag, den wir heute
verabschieden . Denn wir wollen mit diesem Antrag dafür sorgen, dass auch weiterhin eine lebendige Kultur der
Erinnerung gepflegt wird, wir wollen Wissensdefizite,
gerade der jüngeren Bevölkerung, bekämpfen, und wir
wollen - das ist der zentrale Punkt - das Gedenken an die
Opfer der kommunistischen Gewaltherrschaft fortführen,
und das mit einem eigenen Denkmal an einem zentralen Ort hier in Berlin . Das ist Bestandteil dieses Antrags .
Wir verpflichten uns in dieser Legislaturperiode zu der
Initiative für dieses Denkmal für die Opfer der kommunistischen Gewaltherrschaft . Das ist die große Leistung,
die diese Regierungskoalition heute mit diesem Antrag
erbringt .
({4})
Sie müssen zum Schluss kommen, Herr Kollege .
Herr Präsident, ich komme zum Schluss . - Begonnen
habe ich mit den Worten „Wir sind das Volk“, dem zentralen Ausspruch der Bürgerinnen und Bürger, die diesen
Transformationsprozess herbeigesehnt und auch bewältigt haben . Heute können wir auch den zweiten Teil dieser zentralen Aussage von 1989 bestätigen: Ja, wir sind
auch ein Volk, und wir gehen die Herausforderungen der
Zukunft, egal ob in Ost oder West, gemeinsam als ein
Volk an . Das ist letztendlich die wunderschönste und
größte Errungenschaft, die wir nach 25 Jahren deutscher
Einheit feiern können .
Herzlichen Dank .
({0})
Stephan Kühn ist der nächste Redner für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen .
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ich gehöre zu der Generation, die in
der DDR ihre Kindheit verlebt hat und im vereinigten
Deutschland aufgewachsen ist . Um zu sehen, was sich
in den 25 Jahren nach der Wiedervereinigung entwickelt
hat, brauche ich nur vor die Haustür zu treten . Meine
Berliner Wohnung liegt in der Oderberger Straße . Diese
war 40 Jahre lang eine Sackgasse, denn an der Ecke Bernauer Straße verlief die Mauer . Von Westberliner Seite
konnte man von einer Plattform in die Oderberger Straße
schauen . Heute sind die Häuser, die in den 80er-Jahren
noch durch Neubauten ersetzt werden sollten, saniert .
Zahlreiche originelle Läden und Restaurants säumen die
Straße . Dort, wo früher der Todesstreifen verlief, pulsiert
heute im Mauerpark das Leben .
An diesem historischen Ort wird versucht, das Wissen
darüber zu erhalten, wie es war . Entlang des Grenzstreifens ist eine bemerkenswerte Ausstellung über die Teilungsgeschichte entstanden . An diesem Ort lehrt uns die
Geschichte, dass Demokratie und Freiheit nicht selbstverständlich sind, sondern immer wieder neu erkämpft
und bewahrt werden müssen .
({0})
Es waren der Mut und die Entschlossenheit vieler Bürgerinnen und Bürger in der damaligen DDR: Wären sie
im Herbst 1989 nicht zu Hunderttausenden auf die Straße
gegangen, dann hätten sie die SED-Diktatur nicht zu Fall
gebracht, und es gäbe nicht seit 25 Jahren ein in Frieden
und Freiheit vereinigtes Deutschland .
({1})
Seit dem 3 . Oktober 1990 haben die Menschen in Ost
und West einen beispiellosen Prozess des Zusammenwachsens zweier, in vielerlei Hinsicht sehr unterschiedlicher Systeme bewältigt . Dabei gab es nicht wenige
Hindernisse zu überwinden: vom Rechts- und Staatsverständnis über die Wirtschafts- und Arbeitswelt, das soziale, kulturelle und gesellschaftliche Leben bis hin zur Alltagssprache . Auf das Verdienst, diese Herausforderungen
bis heute so gut gemeistert zu haben, können wir in Ost
und West gemeinsam stolz sein .
({2})
Dass inzwischen eine Generation junger Erwachsener in unserem Land lebt, die Mauer, Stacheldraht und
die Teilung Deutschlands nur aus Büchern und Filmen
kennt, ist ein Glücksfall der Geschichte, was allerdings
nicht dazu führen darf, dass - um Freya Klier aus der
gestrigen Ausgabe der Leipziger Volkszeitung zu zitieren - die DDR so weit weg ist wie das Römische Reich .
Das darf nicht passieren;
({3})
daran müssen wir gemeinsam arbeiten .
Der Bericht zum Stand der Deutschen Einheit stellt
zutreffend fest, dass der gesellschaftliche Umbruch - bis
hin zu vielen einschneidenden Veränderungen im persönlichen Leben - den Ostdeutschen viel abverlangt hat . Ich
finde, ihre Leistungen gilt es heute zu würdigen.
({4})
Ihr Wissen und ihre Erfahrungen - man könnte es auch
Transformationskompetenz nennen - brauchen wir erneut; denn der demografische Wandel stellt insbesondere
die ostdeutschen Bundesländer vor besondere Herausforderungen .
Der Aufholprozess Ostdeutschlands ist in den zurückliegenden Jahren vorangeschritten; aber er hat an
Dynamik verloren. Trotz unverändert breitflächiger
Strukturschwäche in Ostdeutschland und einer seit Jahren stagnierenden wirtschaftlichen Angleichung gelingt
es der Bundesregierung nicht, neue Impulse zu setzen .
Um die zentralen Handlungsbedarfe im Jahresbericht
zusammenzufassen, braucht die Bundesregierung gerade
eine DIN-A4-Seite . Es gibt keine vernünftige Analyse
und auch keine Evaluation der bisherigen Maßnahmen,
aus denen sich Handlungsempfehlungen zur künftigen
Wirtschaftsförderung ableiten ließen . Wenn zum Beispiel die Verkehrsprojekte „Deutsche Einheit“ angeblich die Grundlage für einen erfolgreichen Aufbau Ost
waren, warum ist dann trotz moderner Infrastruktur die
Wirtschaftskraft in den letzten Jahren kaum gestiegen?
Solche Fragen müsste man ehrlich beantworten .
Der Bericht liefert viele Zahlen, aber keine neuen Ideen . Ist die bisherige Form - eine Art Statistisches Jahrbuch - für Ostdeutschland überhaupt noch zeitgemäß?
({5})
Das bloße Beschreiben des Status quo hilft doch nicht
weiter .
Wenn wir mit herkömmlichen Rezepten nicht weiterkommen, müssen wir uns fragen, wie ein selbsttragender
Zukunfts- und Entwicklungspfad für die neuen Länder
aussehen kann . Es hilft nichts, regelmäßig die Kleinteiligkeit der ostdeutschen Wirtschaft und das Fehlen von
Konzernzentralen zu beklagen .
({6})
Ich finde, die Wirtschaftspolitik muss weg von der Investitions- und Infrastrukturförderung hin zu einer Bildungs- und Innovationsförderung . Richtig ist dabei der
Ansatz, die Förderprogramme der ostdeutschen Länder
in ein gesamtdeutsches System für strukturschwache Regionen zu überführen . Wir müssen uns aber fragen, ob
die derzeitigen Strukturen so beschaffen sind, dass die
Eigenverantwortung und die Engagementbereitschaft der
Menschen befördert statt behindert werden .
Patentrezepte gibt es freilich nicht . Wir werden regional angepasste Konzepte und Lösungen brauchen, zum
Beispiel für die Lausitz, die sich durch das Auslaufen der
Kohleförderung und den demografischen Wandel mitten
im Strukturwandel befindet. Die Bundesregierung muss
aber endlich erkennen, dass sich die Neugestaltung der
Daseinsvorsorge beispielsweise im ländlichen Raum und
das Ziel gleichwertiger Lebensverhältnisse nicht durch
eine Aneinanderreihung von Pilotprojekten und Modellvorhaben erreichen lassen .
({7})
Ich sage das bewusst mit Blick auf die bevorstehende Neuordnung der Bund-Länder-Finanzbeziehungen .
Denn dabei muss das eine zentrale Rolle spielen .
Herzlichen Dank .
({8})
Das Wort erhält nun der Kollege Axel Schäfer für die
SPD-Fraktion .
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
1950, angesichts der deutschen Teilung, schrieb Bertolt
Brecht das prophetische Gedicht Kinderhymne:
Anmut sparet nicht noch Mühe
Leidenschaft nicht noch Verstand
Daß ein gutes Deutschland blühe
Wie ein andres gutes Land .
({0})
Dass dieses realisiert werden konnte, hat auch etwas mit
unserem gemeinsamen Europa zu tun .
1990, nach der erfolgreichen friedlichen Revolution,
haben im Europäischen Parlament unter Vorsitz eines
spanischen Christdemokraten, einer französischen Liberalen und einer dänischen Sozialdemokratin die Abgeordneten den Weg planiert, dass wir durch die deutsche
Wiedervereinigung nicht noch einmal der EU beitreten
mussten . Ohne den sozialistischen Kommissionspräsidenten Jacques Delors wäre das auch nie in so kurzer Zeit
so problemlos gelungen . Es besteht eine ewig dauernde
Dankbarkeit unsererseits gegenüber unseren europäischen Nachbarn, dass dies damals so möglich war .
({1})
Es geht aber noch etwas weiter zurück . 1866 hat die
Sozialdemokratie in ihrem ersten Wahlprogramm geschrieben: Wir wollen die deutsche Einheit und betrachten diese einfach als Anfang eines solidarischen europäischen Staates . - 1866! Stellen wir uns nur eine Minute
lang vor, was uns allen erspart geblieben wäre, wenn wir
diese Form von deutscher Einheit in einem gemeinsamen
Europa schon vor 150 Jahren hätten realisieren können .
Auch das gehört an einem Tag wie diesem einmal ausgesprochen .
({2})
Heute, liebe Kolleginnen und Kollegen, sollten
wir - gerade weil sehr viele jüngere Menschen anwesend sind - daran denken, was 1990 gelungen ist . 1990
ist es gelungen, dass letztendlich alle Parteien mit einer
Ausnahme zum überwiegenden Teil gesagt haben: Wir
vollenden die Einheit . - An dieser Stelle muss auch gesagt werden - das hätten die Kolleginnen und Kollegen
der CDU/CSU etwas verdeutlichen sollen -: Das ist und
bleibt das Verdienst von Helmut Kohl als Bundeskanzler .
Das sollten wir ihm, gerade weil er nicht mehr unserem
Hause angehört, noch einmal öffentlich zurufen .
({3})
Es gehört auch zur historischen Wahrheit, dass ohne
die Schlauheit von Gregor Gysi vielleicht die Volkskammer der Bundesrepublik beigetreten wäre, aber nicht die
DDr .
({4})
Auch das sollte man an dieser Stelle sagen: dass jemand,
der zwar gegen den Beitritt gestimmt hat, aber dafür war,
dass er möglich wurde .
Auch wenn wir politische Gegner sind, kann man respektvoll sagen: Gregor Gysi, wir danken Ihnen für Ihre
historische Leistung .
({5})
- Dort habe ich zwei Jahre gearbeitet .
Zur historischen Wahrheit gehört auch, dass wir bei
der anderen entscheidenden Frage vor der Geschichte nicht versagt haben . Ich sehe, dass von damals noch
mein Freund Michael Stübgen und Edelgard Bulmahn
auf der SPD-Seite anwesend sind . Wir haben letztlich unser Versprechen gehalten, dass Berlin nach der deutschen
Wiedervereinigung Hauptstadt wird . Heute ist das alles
selbstverständlich . Aber fragen Sie einmal Bärbel Bas
aus Nordrhein-Westfalen oder mich, was damals los war!
Denjenigen im Westen, die für Berlin waren, hat man gesagt: Ende der Karriere! Du wirst nie etwas .
({6})
Wir beide sind im Deutschen Bundestag angekommen .
({7})
Es geht sogar weiter . Manch einer in diesem Hause,
der sich heute für unfehlbar hält, hat sich damals geirrt,
Stephan Kühn ({8})
weil er für Bonn gestimmt hat . Es ist schön, dass wir hier
in Berlin gemeinsam angekommen sind .
({9})
Ich will etwas Persönliches hinzufügen . Ich war glücklich, mit meinem damals zehnjährigen Sohn am 2 . und
3 . Oktober in Berlin sein und an den Einheitsfeiern teilnehmen zu können . Heute bin ich noch glücklicher, weil
die deutsche Einheit für meine Familie zur Folge hatte,
dass ich eine Schwiegertochter aus Mecklenburg-Vorpommern habe .
({10})
Willy Brandts Worte „Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört“ haben hier für mich eine besondere Bedeutung .
Ich will mit Bertolt Brecht auch schließen . Seine Kinderhymne endet mit den Worten:
Und weil wir dies Land verbessern
Lieben und beschirmen wir‘s
Und das liebste mag‘s uns scheinen
So wie andern Völkern ihrs .
Vielen Dank .
({11})
Ich erteile das Wort der Kollegin Baerbock für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen .
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich bin Ihnen, Frau Gleicke, sehr dankbar, dass
Sie in Ihrer Rede betont haben, dass es keinen Schlussstrich geben wird . Angesichts mancher Redebeiträge in
dieser Debatte frage ich mich aber, ob das bedeutet, dass
wir heute die gleiche Diskussion wie vor 25 Jahren führen müssen . Herr Hauptmann, sorry, aber wenn Sie den
Stand der deutschen Einheit daran messen, wer die Nationalhymne mitsingt, dann könnten wir Brandenburg aus
der Bundesrepublik Deutschland komplett ausschließen .
Wir, alle Fraktionen und die Menschen aus Brandenburg,
haben dort in der letzten Woche 25 Jahre Landtag gefeiert und dabei Ode an die Freude gesungen oder nur zugehört . Die Nationalhymne spielte jedenfalls dabei keine
Rolle .
({0})
Herr Gysi, Sie haben als Beispiel die Krippenplätze
genannt . Das ist nun 25 Jahre her . Ich habe zwei kleine
Kinder, die in Brandenburg in die Kita gehen . Ich bin
dankbar, dass es dort eine Versorgung mit Krippen- und
Kitaplätzen zu 90 Prozent gibt .
({1})
Das sage ich als Westdeutsche, die in Hannover geboren ist . Aber uns, auch denjenigen, die in Ostdeutschland geboren sind wie mein Kollege Norbert Müller, ist
ziemlich egal, ob wir aus West oder Ost kommen . Auch
Männer interessieren sich dafür, ob es ausreichend Kitaplätze gibt, und auch Frauen wollen arbeiten gehen . Die
Klischees von Mann und Frau im Zusammenhang mit
Berufstätigkeit treffen nach 25 Jahren so vielleicht nicht
mehr zu .
({2})
Der Grund, warum ich denke, dass es wichtig ist, keinen Schlussstrich zu ziehen, ist, dass die Mauer - daran
müssen wir uns immer wieder erinnern - nicht einfach
umgefallen ist, sondern dass Menschen, die teilweise auf
brutalste Weise verfolgt wurden, dafür eingetreten sind,
nicht mehr in einer Diktatur und in einem Willkürstaat,
sondern in Frieden und Freiheit zu leben . Gerade in diesen Tagen sollte man sich des Kampfes für Freiheit, den
einige vor 25 Jahren geführt haben, immer wieder bewusst sein. Wir sollten uns an die Botschaftsflüchtlinge
und die Fluchthelfer erinnern . Wenn wir uns das in Erinnerung rufen, dann denken wir auch an das, was Sie zu
Recht angesprochen haben, nämlich die herben Brüche,
die Unsicherheiten, die existenziellen Ängste und auch
daran, was es bedeutet, wenn man über Jahrzehnte nicht
arbeiten kann .
Wenn wir uns das vergegenwärtigen, dann sollten wir
die Beschlüsse, die wir in der nächsten Sitzungswoche
hier fassen wollen, noch einmal überdenken . Es reicht
nicht, wenn wir den Menschen, die für Freiheit kämpfen, die vor Diktatur geflohen sind, sagen: Ihr könnt bei
uns arbeiten, aber erst nach 15 Monaten . - Das sollten
wir uns gerade bei solchen Feierlichkeiten immer wieder
vergegenwärtigen .
({3})
Wir sollten uns auch vergegenwärtigen, warum die
IHKen, die Kammern, in Ostdeutschland gerade jetzt
wieder fordern, dass Flüchtlinge eine Ausbildung beginnen können,
({4})
nämlich weil wir einen Fachkräftemangel haben, wie
Ihr Bericht ja auch betont. Warum findet sich das in den
Vorschlägen der Bundesregierung zur Flüchtlingspolitik
nicht wieder, obwohl Sie es in Ihrem Bericht selber ansprechen und es ausgerechnet die IHKen, die Kammern,
immer wieder gefordert haben?
({5})
Axel Schäfer ({6})
Wenn man Ihren Bericht liest und sich auch den demografischen Wandel anguckt, dann sollte man in der Diskussion über die Flüchtlingskrise doch auch die Chancen
sehen, gerade für Ostdeutschland . Ich meine nicht, dass
wir sagen sollten: „Da steht alles leer; jetzt sollten dort
alle einquartiert werden“, sondern ich meine die kleinen
positiven Beispiele, das, was Menschlichkeit ausmacht .
So gibt es in Märkisch-Oderland ein Dorf, das ausstirbt, 850 Einwohner . Die Grundschule sollte geschlossen werden, weil es statt der notwendigen 15 Erstklässler
kurz vor der Einschulung nur noch 14 Erstklässler gab .
Dort gibt es einen Bürgermeister, der sagt: In der Erstaufnahme in Eisenhüttenstadt leben derzeit so viele Familien mit Kindern . Könnten nicht welche in unser Dorf
kommen? - Die wurden nicht zwangszugewiesen; nein,
es wurde proaktiv darauf zugegangen und aufgezeigt,
dass doch welche in dieses Dorf kommen könnten . Das
hat dazu geführt, dass diese Grundschule, die eigentlich
keine erste Klasse mehr haben sollte und damit über kurz
und lang hätte geschlossen werden müssen, durch die
sechs syrischen Kinder, die dort mit eingeschult wurden,
sozusagen wieder zum Leben erweckt wurde und das
Dorf eine neue Zukunft bekommen hat .
Das funktioniert nicht überall problemlos; auch dort
wird es Herausforderungen mit sich bringen . Aber das
sind Maßnahmen und Geschichten, die wir in den Vordergrund rücken sollten .
Wenn wir den demografischen Wandel beklagen,
wenn wir sagen: „Leider wandern die Menschen gerade aus den ländlichen Regionen ab“ - darauf ist mein
Kollege Stephan Kühn schon eingegangen -, dann muss
es doch die Aufgabe eines politischen Berichts sein, hinzuzuschreiben: Und das sind die Maßnahmen, mit denen
wir dagegen angehen .
({7})
Ich glaube, aktuell haben wir viele Chancen, die wir in
dieser Krise nutzen sollten .
Ich würde gern noch auf einen anderen Punkt in Ihrem
Bericht eingehen, Frau Gleicke . Sie hatten beim letzten
Bericht betont, dass Sie es nicht sonderlich hilfreich finden, wenn wir nur Zahlen und Fakten aneinanderreihen .
Das ist jetzt leider wieder genau so passiert . Gerade beim
Thema „Rückstand bei der Wirtschaftskraft“ - ein Drittel
niedriger als in Westdeutschland - fällt mir das besonders
auf . Es hilft nicht, wenn wir pauschal sagen - selbst wenn
Sie im Wirtschaftsministerium angesiedelt sind -: Wir
setzen die Wirtschaftsprogramme so fort, wie wir das
auch in Westdeutschland tun . - Wenn in Ostdeutschland
kein einziges DAX-Unternehmen zu Hause ist, wenn
dort die Wirtschaft vor allen Dingen mittelständisch geprägt ist, dann können wir doch nicht eine Mittelstandspolitik betreiben, die für den Westen geschrieben ist, wo,
in Baden-Württemberg etwa, ein KMU 500 Mitarbeiter
hat, während es in Brandenburg 50, wenn nicht gar nur
10 hat . Wir brauchen eine Mittelstandspolitik, die genau
auf die besonderen Herausforderungen dort abgestellt ist .
({8})
Es wäre aus meiner Sicht eine Aufgabe für einen solchen
Bericht, auch das anzusprechen; denn sonst beschreiben
wir immer nur den Sachstand und kommen von diesen
Unterschieden nicht weg .
Da wäre ein Ansatz zum Beispiel, zu sagen: Wir gucken in Ostdeutschland nicht nur auf die Existenzförderung
Frau Kollegin .
- ich komme zum Schluss -, weil das große Problem in
Ostdeutschland die Unternehmensnachfolge ist . Wenn in
einer Region 7 500 Unternehmen keinen Nachfolger finden, dann geht es auch bei im Schnitt nur 10 Beschäftigten um 75 000 Menschen, die ihren Arbeitsplatz verlieren könnten . Da müssen wir zum Beispiel in die Lausitz
schauen . Wir müssen auf die Nachfolge bei diesen Unternehmen schauen und nicht immer nur auf die großen
Konzerne, Vattenfall zum Beispiel, wo 8 000 Menschen
beschäftigt sind .
Herzlichen Dank .
({0})
Das Wort erhält nun der Kollege Peter Ramsauer für
die CDU/CSU-Fraktion .
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wir können heute wirklich sagen, dass wir zu
unserem Glück seit 25 Jahren wiedervereinigt sind . Wo
stünde die frühere DDR, und wo stünde die Bundesrepublik Deutschland, wenn dies nicht erfolgt wäre? Ich
bin stolz darauf und glücklich darüber, dass ich - mit gar
nicht mehr so vielen Kolleginnen und Kollegen - diesem
Parlament genau diese 25 Jahre angehöre .
Aus der Distanz von 25 Jahren erscheint uns all dies
ziemlich selbstverständlich . Auf den Tribünen sitzen
heute wieder viele junge Menschen . Ich diskutiere sehr
viel mit jungen Besuchern und mit Schülergruppen . Dabei mache ich immer wieder die Erfahrung, dass 25 Jahre
Wiedervereinigung, dass das wiedervereinigte Deutschland, dass die Tatsache, dass die Mauer gefallen ist, dass
Mauer, Stacheldraht und Todesstreifen der Vergangenheit angehören, als selbstverständlich betrachtet werden .
Wenn man diesen jungen Menschen dann berichtet,
wie das damals war, was man selbst miterlebt hat, dann
beschleicht einen dasselbe Gefühl, das unsereins in diesem Alter hatte, wenn früher ältere Menschen oder die
eigenen Eltern über den Zweiten Weltkrieg berichtet haben . Das ist die gleiche, quasi historische, zeitliche Distanz . Deswegen ist es ungeheuer wichtig, dass wir gerade
auch der jungen Generation über all diese Dinge berichAnnalena Baerbock
ten . Es ist auch ungeheuer wichtig, dass heute, Herr Präsident, diese Debatte in unserem Parlament geführt wird .
({0})
Das sollte eigentlich eine Binsenweisheit sein: Selbstverständlich ist in der Geschichte nichts .
Daher ist die Frage berechtigt: Wem haben wir denn
diese Wiedervereinigung zu verdanken? Sie ist zuallererst - dazu ein klares Ja - dem Mut und dem Freiheitswillen der Menschen in der DDR zu verdanken . Und meine Damen und Herren, das gehört auch dazu - wir
haben dies Helmut Kohl zu verdanken, weil er die Zeichen der Zeit richtig deutete . Weil er in der deutschen
Wiedervereinigung niemals nur eine deutsch-deutsche
Frage sah, sondern eine zutiefst europäische Frage sah,
und weil er dies alles in einen europäischen Zusammenhang einbettete, hatten wir das Vertrauen unserer europäischen Freunde und Partner .
({1})
Die Menschen in der DDR wollten den maroden Unterdrückerstaat nicht reformieren . Nein, sie wollten ihn
vollkommen überwinden . Sie wollten Freiheit statt Sozialismus . Sie wollten soziale Marktwirtschaft anstatt sozialistischer Mangelwirtschaft . Sie wollten Menschen- und
Bürgerrechte anstatt Ideologie und Klassenkampf . Sie
wollten die Einheit, und zwar schnell . Sie wollten auch
die Wirtschafts- und Währungsunion zum 1 . Juli 1990
einführen - mit der Begründung: Wenn die Mark nicht zu
uns kommt, dann kommen wir zur Mark . Unser Dank gilt
daher auch den Architekten der Wirtschafts-, Währungsund Sozialunion Theo Waigel und Wolfgang Schäuble .
Sie haben zusammen mit Sabine Bergmann-Pohl und
Lothar de Maizière die Einheit in Freiheit vollendet .
Meine Damen und Herren, dass dies alles überhaupt
so kommen konnte, verdanken wir Deutsche - lassen Sie
mich dies ausdrücklich unterstreichen - einem europäischen Bayern, vielleicht dem glühendsten Verfechter der
deutschen Einheit, Franz Josef Strauß .
({2})
- Sie sollten sich für diese komische Reaktion schämen . - Herr Gysi, ich lobe Sie ausdrücklich: Ihnen ist
das nicht herausgerutscht, jawohl, aber den anderen .
({3})
Meine Damen und Herren, Sie wissen ganz genau,
dass sich Bayerns Klage gegen den Grundlagenvertrag
als Glücksfall der deutsch-deutschen Geschichte erwiesen hat; denn das Bundesverfassungsgericht hat klipp
und klar festgelegt: Das Wiedervereinigungsgebot ist
für alle Verfassungsorgane bindend, und das Grundgesetz gilt für alle Deutschen, auch für die Menschen in
der DDR . - Das waren die Kernsätze des Urteils . Die
Verweigerung der völkerrechtlichen Anerkennung war
Bayerns Beitrag zum Fall des Unrechtsstaates; denn so
blieben wir Deutsche, was wir trotz Teilung immer waren: ein Volk .
Trotz all dieser Freude dürfen wir die Opfer der DDR
nicht vergessen . Wir halten die Erinnerung wach an die
Helden und Toten des 17 . Juni . Wir denken an die, die
resignierten und in die innere Emigration flüchteten. Wir
fühlen mit den Unzähligen, die Opfer von Bespitzelung,
Willkürjustiz und Rechtsbeugung waren, und wir nehmen Anteil am Schicksal derer, die Gefangene in Hohenschönhausen, Bautzen, Schwedt und anderswo waren . Ja,
die DDR war ein Unrechtsstaat, nicht nur in der Konsequenz, sondern auch von Grund auf .
Heute steht Deutschland herausragend da . Wir sind
stark nach innen und nach außen, und wir tragen die entsprechende Verantwortung . Aber wenn wir diese starke
und großherzige Gesellschaft, die wir sind, bleiben wollen, dann müssen wir auch erkennen, wo unsere Grenzen sind; denn die Bindekräfte unserer Gesellschaft sind
nicht grenzenlos, sondern sie sind endlich . Ich sage deshalb mit ausgesprochen großer Besorgnis: Wenn heute
mehr Menschen als Flüchtlinge zu uns kommen als bei
uns geboren werden, dann zeigt das: Die Grenze unserer
Aufnahmefähigkeit ist erreicht .
({4})
Wir müssen deswegen Zuwanderung begrenzen . Wenn
wir eine Gesellschaft des Miteinanders bleiben wollen
und keine des Neben- und Gegeneinanders werden wollen - die Krawalle und Kämpfe in den Aufnahmelagern
lassen grüßen -, dann müssen wir entscheiden, wer zu
uns kommen kann und wer nicht . Wer sonst, kann man
fragen, wenn nicht wir, sollte das in bestmöglicher Weise
tun? Dafür muss Europa Fluchtursachen bekämpfen, seine Außengrenzen schützen und mit den Mitgliedstaaten
in der Europäischen Union feste Aufnahmekontingente
verabreden .
Meine Damen und Herren, es klingt banal, aber dennoch ist es so: Wer nach allen Seiten offen ist, ist nicht
ganz dicht .
({5})
Wir müssen alles dafür tun, dass wir weltoffen bleiben;
aber wir dürfen nie grenzenlos werden . Wir brauchen immer die Rückbindung an die eigene kulturelle Identität,
({6})
an die gemeinsam getragene Verbindlichkeit unserer
Leitkultur . Danke, dass dieser Begriff der Leitkultur inzwischen auch von anderen Parteien dieses Hauses ganz
selbstverständlich gebraucht wird .
({7})
Ich kann mich an Zeiten vor wenigen Jahren erinnern, als
von den Unionsparteien und gerade von dir, liebe Gerda
Hasselfeldt, dieser Begriff gebraucht und man hämisch
beschimpft wurde . Gut, dass dieser Begriff der deutschen
Leitkultur, der Gültigkeit hat, nun auch zur Selbstverständlichkeit in anderen Parteien geworden ist .
({8})
Ja, wir müssen uns dazu bekennen - ohne Angst, aber
auch ohne Träumereien .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die vergangenen
25 Jahre haben gezeigt, was wir Deutsche alles schaffen können: eine Wiedervereinigung, die ohne Rezeptbuch, ohne irgendein Beispiel in der Geschichte von uns
geschafft wurde . Wir haben gelernt, dass Einigkeit und
Recht und Freiheit Errungenschaften sind, die immer
wieder aufs Neue errungen werden müssen . Ich ermahne und ermuntere uns: Lassen Sie uns diesen Tag zum
Anlass nehmen, unsere Anstrengungen für ein gemeinsames, gutes Deutschland fortzusetzen .
Vielen Dank .
({9})
Das Wort hat nun der Kollege Thomas Jurk für die
SPD-Fraktion .
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Das geeinte Deutschland gibt es
seit nunmehr 25 Jahren . An Situation und Stimmung des
Jahres 1990 vermag ich mich irgendwie noch gut zu erinnern: Ich war seit knapp einem Jahr Mitglied der Sozialdemokratischen Partei, kandidierte für den Sächsischen
Landtag und arbeitete immer noch bei der PGH, der Produktionsgenossenschaft des Handwerks, Elektro-Rundfunk-Fernsehen in Weißwasser .
Der Umbruch war 1990 mit Händen greifbar . Noch
herrschte eine gewisse Unbefangenheit im Umgang mit
den gesellschaftlichen Veränderungen . Aber, viele Menschen hatten große Hoffnungen, die Hoffnung, dass die
ostdeutschen Betriebe in der Marktwirtschaft bestehen
würden, die Hoffnung, dass viele Investoren kommen
und neue Arbeitsplätze schaffen würden, die Hoffnung,
als Selbstständiger den eigenen Lebensunterhalt bestreiten zu können, oder die Hoffnung, im goldenen Westen
sein Glück machen zu können .
Einige dieser Hoffnungen haben sich erfüllt, andere
haben sich als Illusion erwiesen . So blieb von den einstigen ostdeutschen Unternehmen nicht viel übrig . Beispielsweise sind von den 110 000 Arbeitsplätzen im ostdeutschen Braunkohlebergbau vor 25 Jahren heute nur
noch ein paar Tausend erhalten geblieben . Die Auswirkungen dieses gigantischen Strukturbruchs spürt man in
meiner Region immer noch deutlich . Ich spreche dies an
dieser Stelle an, da ja gelegentlich die Auffassung vertreten wird, der Strukturwandel müsse nun endlich beginnen . Vielmehr muss er auch weiterhin mit staatlicher
Begleitung forciert werden .
Trotz großen Engagements konnten viele Selbstständige langfristig nicht bestehen . Neben der mangelnden
Erfahrung und den völlig veränderten Rahmenbedingungen fehlte es oft am nötigen Kapitalstock, um Zahlungsausfälle zu verkraften und die nötigen Investitionen
zu stemmen . Nicht zuletzt hat die desaströse Privatisierungspolitik der Treuhandanstalt dafür gesorgt, dass
häufig nur die unliebsame Ostkonkurrenz aus dem Weg
geschafft wurde . Echte Investitionen, aus denen sich
konkurrenzfähige Unternehmen entwickeln konnten,
waren eher die Ausnahme; verlängerte Werkbänke ja,
Unternehmenszentralen nein .
Damals wurde die Grundlage für die jetzige kleinteilige Wirtschaftsstruktur im Osten gelegt, was die wesentliche Ursache für das noch immer niedrigere Produktivitäts- und Lohnniveau ist . Viele Familien wurden durch
die Abwanderung gerade junger Leute auseinandergerissen . Das hat gerade auch die ältere Generation schmerzlich erfahren müssen . Neben den gesellschaftlichen Veränderungen und den vielen Umwälzungen im Leben der
Ostdeutschen waren die letzten 25 Jahre so auch ein Abschied von falschen Vorstellungen .
Bei all den Spuren, die dies bei den Ostdeutschen hinterlassen hat, ist die deutsche Einheit politisch jedoch
unzweifelhaft geglückt; denn die wesentlichen Ziele der
Ostdeutschen von 1989 wurden erreicht: Demokratie,
Freiheit, Rechtsstaatlichkeit, ein besserer Lebensstandard oder die Verbesserung der einst katastrophalen Umweltsituation . Wer unsere Städte und Gemeinden heute
anschaut und mit der damaligen Tristesse vergleicht, der
weiß auch, was in den letzten 25 Jahren städtebaulich
Unglaubliches geschaffen wurde .
({0})
Ich denke hier nur an die Stadt Görlitz in meinem Wahlkreis, die aus diesem Grund inzwischen ein Produktionsstandort für internationale Kinoproduktionen geworden
ist .
Zu den großen Erfolgen der deutschen Einheit gehört
zweifellos die Integration Ostdeutschlands in die sozialen Sicherungssysteme der alten Bundesrepublik . Die
gesundheitliche Versorgung hat sich deutlich verbessert,
und so ist es nicht verwunderlich, dass die Lebenserwartung seitdem stark gestiegen ist .
Auch wenn es leider noch Unterschiede bei der Rentenberechnung gibt, war die Einführung des umlagefinanzierten dynamischen Rentensystems im Zuge der
deutschen Einheit ein Meilenstein, konnten so doch die
Rentnerinnen und Rentner in den neuen Ländern mit
deutlichen Rentensteigerungen an der Lohnentwicklung
der Beschäftigten teilhaben . All dies war und ist noch immer mit einem gewaltigen Finanztransfer von West nach
Ost verbunden - eine großartige Solidarleistung, über die
man immer wieder froh und dankbar sein sollte .
({1})
Dennoch hatten die Ostdeutschen in das wiedervereinte Deutschland mehr als nur das Ampelmännchen oder
den grünen Pfeil einzubringen . Ich will an dieser Stelle
aber auch meine Hochachtung und meinen Respekt für
all jene Menschen aus Ost und West zum Ausdruck bringen, die in Ostdeutschland eine gewaltige Aufbauleistung auf sich genommen und einfach angepackt haben .
({2})
Es geht der großen Mehrheit der Ostdeutschen nach
eigener Auskunft heute viel besser als vor 25 Jahren .
Wenn wir heute Bilanz ziehen, können wir mit gutem
Recht sagen: Das meiste ist geglückt, und wir haben vieles erreicht . Es sicherlich wichtig, an Tagen wie diesen
innezuhalten und auf unsere Geschichte zurückzuschauen . Jedoch ist die deutsche Einheit für mich weniger ein
Feiertag, an dem wir gemeinsame Erinnerungen auffrischen, sondern vielmehr eine Aufgabe, eine Aufgabe, an
der wir alle gemeinsam weiterarbeiten müssen .
Bei allem Für und Wider: Wir Deutschen können zu
Recht stolz auf unsere staatliche Einheit sein .
({3})
Katharina Landgraf erhält nun das Wort für die CDU/
CSU-Fraktion .
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Liebe Gäste! Zahlenspiele zum Stand der
deutschen Einheit sind nicht mein Ding . Die überlasse
ich gerne den Wirtschaftspolitikern .
Es gibt zu unserem heutigen Thema viele kräftige
schwarze Zahlen, die mein Kollege Hauptmann schon in
die Debatte eingebracht hat . Die roten Zahlen überlasse
ich gerne der Opposition; denn ich will Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen, nicht die Show stehlen . Die goldenen Zahlen, die den Gesamterfolg des Unternehmens
deutsche Einheit untermauern, entnehmen Sie bitte dem
Jahresbericht der Bundesregierung .
Daneben gibt es auch noch die grünen Zahlen . Die
überlasse ich nicht der Grünenfraktion; die lasse ich mir
nicht streitig machen . Grüne Zahlen sind für mich beispielsweise die Milliardensummen für die Bergbausanierung seit 1991 .
({0})
Mein Wahlkreis Leipzig‑Land profitiert von diesem wohl
stärksten Programm für den Osten .
({1})
Kommen Sie einmal nach Ostdeutschland und nach
Mitteldeutschland . Das müssen Sie sehen! Hier ist eine
völlig neue Landschaft entstanden . Die Wunden der
DDR-Wirtschaft sind hier geschlossen .
({2})
Sicherlich schon vergessen ist, dass hier über
40 000 Bergleute über Nacht ihren Job verloren haben .
Nicht vergessen werden darf, dass der deutsche Sozialstaat mit seinen Sozialsystemen und die vielen engagierten Gewerkschafter und Betriebsräte den Prozess des
Wandels mit viel Weitsicht getragen haben . Ganz persönlich sage ich hier meinem SPD-Kollegen Ulrich Freese
ein herzliches Dankeschön . Er ist ein Gewerkschaftsmann der ersten Stunde, der mit all seinen Erfahrungen
und seinem Engagement zu uns in den Osten gekommen
ist .
({3})
Das war und ist gelebte Solidarität unter Deutschen, die
aus zwei völlig verschiedenen Welten zueinander gefunden haben .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, als Landwirtschaftspolitikerin greife ich hier ein besonderes Thema
der deutschen Einheit auf: die Landwirtschaft . An diesem Wochenende feiern wir in allen Regionen Deutschlands das Erntedankfest . Der Geburtstag der deutschen
Einheit passt dazu . Wir alle sagen den unzähligen Menschen Dank, die sich Tag für Tag um landwirtschaftliche
Produkte und Lebensmittel kümmern - bei jedem Wetter
und zu allen Zeiten . Ihnen gebühren dafür Achtung und
Anerkennung .
({4})
Wer jedoch meint, man könnte die Landwirtschaft in
Deutschland wie andere Wirtschaftszweige zurückbauen,
der ist auf dem berühmten Holzweg; denn zu den wichtigsten Lebensthemen gehört die Ernährung der Menschen . Das ist für uns in der Union ein fundamentaler
Wert . Die Landwirtschaft darf kein Spielball von Ideologen sein .
({5})
Für die Landwirtschaft in den jungen Bundesländern
war der Eintritt in das geeinte Deutschland eine unglaubliche Herausforderung . Es war am Ende eine ganz spezielle Reifeprüfung . Kurz und knapp: Der Systemwandel
ist gelungen . Er hat vor allem in den 90er-Jahren viel
Kraft gekostet . Die Landwirtschaft im Osten ist heute
modern und leistungsstark . Sie ist und bleibt der entscheidende Faktor für lebendige ländliche Räume . Heute
können wir sagen: Die gesamte deutsche Landwirtschaft
ist gelebte Einheit in Vielfalt .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, diesen Augenblick
hier und jetzt empfinde ich persönlich als Gnade. Die gibt
es in der grauen und ungeliebten Politik auch .
Am Abend des 2 . Oktober 1990 stand ich auf den Stufen des Reichstages und blickte in Richtung Westen . Ich
sah auf eine riesige, fröhliche Menschenmenge, die zu
uns herauf Richtung Osten blickte . Wir VolkskammerabThomas Jurk
geordnete waren an diesem historischen Abend mit unserer Arbeit fertig . Um Mitternacht war mein Arbeitsplatz
in Berlin weg, das Mandat der Volkskammer war erloschen . Wir haben uns selbst abgeschafft .
Auf diesen Augenblick haben wir ein gutes halbes
Jahr hingearbeitet . So kann eine Diktatur auch enden:
ohne einen Schuss, aber mit riesigem Feuerwerk, friedvoll und mit vielen Tränen der Freude .
({6})
Wir haben damals in Ost und West als Gesellschaft
und als Politik die Reifeprüfung bestanden . Und dafür
gebe ich noch heute allen Beteiligten die Bestnote . Das
Verhalten der Akteure und der gesamte Prozess waren lobenswert: Anders kann ich die Vereinigung in Frieden,
Recht und Freiheit nicht bezeichnen . Es ist damals etwas
geschehen, was es in der Geschichte so noch nie gegeben
hat . Ohne Gewalt vereinte sich eine geteilte Nation mit
einer eigenen, einer souveränen Entscheidung .
Meine Anmerkungen hier sind persönliche Reflexionen auf das Gestern und auf unser Heute . Ich möchte aus
dem damaligen Geschehen Schlüsse ziehen für unsere
heutige Zeit . Die Kreativität der Volkskammer von 1990,
mit Problemen des Landes umzugehen, ist ein bleibender
Wert . Ich wünschte mir eine solche Arbeitsweise auch für
unsere Tage in der gesamten Politik .
Deutschland ist nicht mehr eine Insel der Glückseligkeit . Die Nöte und das Elend in anderen Regionen der
Welt sind plötzlich durch unzählige Hilfesuchende in
unserem gut bestellten Hause präsent . Für diese neue Situation haben wir genau genommen keine Rezepte . Die
hatte die Volkskammer damals auch nicht . Wir sahen
zwar das Ziel, aber nicht den Weg dorthin . Also haben
wir einfach losgelegt . Da gab es keine Konjunktur für
Bedenkenträger . Die eigentliche Arbeit zur Gestaltung
der Einheit wurde ein gemeinsamer Lern- und Lebensprozess .
Details erspare ich mir; auch die Diskussion über Gelungenes oder über Webfehler der Einheit . Viel wichtiger
ist die staatliche und private Solidarität zwischen den
Ländern und den Menschen in West und Ost . Immerhin
sollte der Wandel für alle verträglich, erträglich und am
Ende auch einträglich sein . Und das war er zumeist, trotz
zahlreicher Schicksale von Menschen, die ihren Arbeitsplatz verloren haben .
Wir haben in den zurückliegenden 25 Jahren im geeinten Deutschland ein Gemeinwesen geformt, das von den
Grundwerten des christlichen Abendlandes geprägt ist .
Der Fleiß der arbeitenden Menschen hier in Deutschland,
die engagierten Unternehmerinnen und Unternehmer,
die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sicherten und
sichern dem Land und seinem Staatswesen eine starke,
tragfähige Basis . Die politische staatliche Einheit ist gegeben .
Wie können wir aber die vorhandenen Entwicklungsdefizite zwischen alten und neuen Bundesländern in den
kommenden Jahren überwinden? Können wir das überhaupt mit neuen und mit einem Mehr an Gesetzen leisten? Ich glaube: kaum .
Jetzt zum 25 . Geburtstag der Einheit habe ich einen
besonderen Wunsch: Es sollte künftig jährlich einen
Bericht zur Lage der deutschen Nation geben, der die
Entwicklung des gesamten Landes und seine Stellung
in Europa und der Welt in den Fokus nimmt . Mit einem
scharfen Blick auf die innere Situation des gesamten Landes - und nicht nur des Ostens - wären wir dann ganz bestimmt zu einer besseren und gerechteren Bundespolitik
in der Lage . Einen Bericht der Bundesregierung zur Lage
der Nation hat es schon einmal gegeben - allerdings für
das geteilte Deutschland .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, zum Schluss und am
Vorabend unseres gemeinsamen 25 . Geburtstages noch
ein Wunsch: Gehen wir auf die Besucherplattform des
Reichstages . Von diesem „Dach der Republik“ haben
wir einen freien Blick in alle Himmelsrichtungen . Wir
schauen nicht mehr nur nach Westen oder Osten . Diesen
Weitblick brauchen wir für den Umgang mit der neuen,
komplizierten Situation unserer Tage .
Wir stehen wieder einmal vor einer Reifeprüfung,
ähnlich wie 1990 . Das erfolgreiche geeinte Deutschland
ist in der jüngsten Geschichte zu einem starken Magneten geworden . Jetzt steht die Frage im Raum: Halten wir
dank unserer gelebten Werte diesem Druck stand, oder
stehen wir vor einer noch nie gekannten Spaltung der Gesellschaft? Gibt es eine Spaltung in Offenheit und Ablehnung, in Angst und Gleichgültigkeit, in Akzeptanz und
Ignoranz, in Freunde und in Feinde?
Wir müssen antworten - bei all unserer Freude über
diesen Tag der Deutschen Einheit erst recht .
Vielen Dank .
({7})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Sabine Poschmann
für die SPD-Fraktion .
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Morgen jährt sich zum 25 . Mal die politische
Einheit Deutschlands . Auch nach einem Vierteljahrhundert empfinde ich - und wohl wir alle - Freude und
Dankbarkeit, diesen Tag feiern zu können .
Die Wiedervereinigung war mit vielen Hoffnungen
und Wünschen verbunden . Heute können wir sagen:
25 Jahre später haben sich vielleicht nicht alle, aber doch
zahlreiche Hoffnungen erfüllt . Die Lebensverhältnisse in
Ost und West haben sich angenähert, die Unterschiede in
der Arbeitslosenquote und in der Wirtschaftskraft zumindest verringert .
Mithilfe verschiedenster Förderprogramme von Bund,
Ländern und der Europäischen Union hat die Wirtschaft
in Ostdeutschland einen starken Aufholprozess gestartet .
Diese Entwicklung müssen wir Ende 2019, nach Auslaufen des Solidarpaktes II, weiterhin kontinuierlich unterstützen, möglichst sogar beschleunigen .
Wir haben in den vergangenen 25 Jahren einiges erreicht . Wir wissen aber auch, dass wir in vielen Punkten noch lange nicht am Ziel sind . Bei allem Fortschritt
sehen wir weiter große Herausforderungen . An oberster Stelle steht der Bau eines neuen, gesamtstaatlichen
Fördersystems für mehr Wachstum und Innovation . Wir
benötigen kein Fördersystem, das seine Prioritäten an
den Himmelsrichtungen orientiert . Wir benötigen eine
Förderarchitektur, von der alle schwächeren Regionen in
Deutschland profitieren, ohne gleichzeitig Strukturbrüche in den neuen Ländern zu riskieren; denn die Trennlinie verläuft meines Erachtens schon lange nicht mehr
haarscharf zwischen Ost und West .
Die Trennlinie, meine Damen und Herren, verläuft
zwischen wirtschaftlich starken und schwachen Regionen in ganz Deutschland . Die Unterschiede sind teilweise enorm: Auf der einen Seite gibt es starke und attraktive Wirtschaftsräume, die vor allem junge Menschen
anlocken, auf der anderen Seite haben wir altindustrielle
Regionen mit oft mäßiger Wirtschaftskraft, niedriger Erwerbsquote, hartnäckig hohen Arbeitslosen- und sinkenden Bevölkerungszahlen . Dies gilt für Ost wie für West .
Unsere Aufgabe muss es sein, die vorhandenen Förderprogramme noch flexibler zu gestalten. Wir benötigen
eine Förderung, die passgenauer auf die Bedürfnisse der
jeweiligen Region ausgerichtet ist, gleich ob Ost oder
West .
({0})
Die von der Bundesregierung vorgelegten Eckpunkte sind dafür eine erste Grundlage . Hierüber müssen wir
weiter diskutieren . Unsere Präferenzen der Struktur- und
Wirtschaftsförderung müssen noch stärker jenen Regionen und Bundesländern gelten, die den Anschluss
aus eigener Kraft nicht schaffen . Das muss die künftige
Richtschnur bei den Finanzbeziehungen zwischen Bund
und Ländern für die Zeit ab 2020 sein .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, im 25 . Jahr der Einheit ist unseren heutigen Schulkindern der Gedanke an
ein geteiltes Deutschland völlig fremd . Sie kennen es
nur aus Geschichtsbüchern und Erzählungen . Lassen Sie
uns weiter jene Wirklichkeit schaffen, die in den Köpfen vieler unserer Kinder bereits existiert und die uns das
Grundgesetz vorgibt: ein vereintes Deutschland mit überall gleichwertigen Lebensverhältnissen .
Herzlichen Dank .
({1})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Arnold Vaatz für die CDU/CSU-Fraktion .
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren im Plenum und auf der Tribüne! Ich möchte mit der
Frage beginnen, was uns Deutsche in Ost und West die
ganze Zeit, unabhängig von Teilung oder Nichtteilung,
zusammengehalten hat . Das ist in hohem Maße unsere
gemeinsame Kultur . In unserer gemeinsamen Kultur gibt
es einen kleinen Teil, und das sind die deutschen Volksmärchen .
Ein Volksmärchen ist das Märchen vom Fischer und
seiner Frau . Ich weiß nicht, ob es jeder im Saal kennt .
Deshalb ganz kurz der Inhalt: Der Fischer fängt einen
Butt . Der Butt bittet darum, am Leben zu bleiben und
gewährt dem Fischer im Gegenzug einen freien Wunsch .
Da der Fischer und seine Frau in einem alten Kahn, Pott
genannt, leben, wünschen sie sich ein festes Haus, eine
kleine Hütte . Sofort gibt es einen Knall, und die kleine
Hütte ist da . Nach einer gewissen Zeit wird die Frau
unzufrieden und schickt den Fischer wieder zum Butt . Das ergänzt auf schöne Weise das Bild von Herrn Gysi
von der Arbeitsteilung von Mann und Frau .
({0})
Jedenfalls wird der Butt erneut herbeizitiert, und als
Nächstes spendiert er ein größeres Haus . So geht das immer weiter . Als Nächstes möchte sie Fürst, dann König,
dann Kaiser, dann Papst und zuletzt der liebe Gott werden .
({1})
Dann gibt es wieder einen Knall, und plötzlich landen der
Fischer und seine Frau wieder im alten Pott .
Ich möchte Sie, insbesondere diejenigen, die in der
DDR geboren und aufgewachsen sind, einfach mal einladen, sich vorzustellen, es gäbe einen Knall und wir landeten alle binnen einer Sekunde in der DDr .
({2})
Wie sähe es dort aus? Wir wollen jetzt einfach mal über
die Lebenswirklichkeit nachdenken, die es damals dort
gab und die einige von uns noch kennen .
Es beginnt bei den Schülern . Es war bei uns üblich ich weiß nicht, ob sich diejenigen, die in der DDR zur
Schule gegangen sind, noch erinnern -, dass man vielleicht monatlich einmal mittwochs in der großen Pause
auf dem Appellplatz antrat .
({3})
- Oder montags, je nachdem; da hatten alle ihre eigene
Zeitrechnung .
({4})
Jedenfalls standen wir dort in Reih und Glied, wie die
Soldaten . Dort wurden die Schüler, die Fortschritte zeigten, belobigt und die etwas schlechteren Schüler runtergemacht, und zwar in einer Weise, die man sich heute
überhaupt nicht mehr vorstellen kann . Heute haben wir
Datenschutz: Schlechte Leistungen dürfen überhaupt
nicht mehr mit guten Leistungen verglichen werden .
({5})
Damals wurde in einer Rigorosität mit Schülern umgegangen, die man sich heute überhaupt nicht mehr vorstellen kann .
Nächstes Beispiel . Die Schule beginnt im September .
Was passierte Ende September, Anfang Oktober? Da
ging es auf die Kartoffelfelder .
({6})
Das heißt, die Schüler mussten Kartoffeln sammeln .
Das halte ich aus pädagogischen Gründen gar nicht für
so verfehlt . Aber dass eine Gesellschaft in diesem Maße
auf Kinderarbeit angewiesen war, ist natürlich eine ganz
andere Sache .
({7})
Als Nächstes wurden die Kinder erwachsen . Sie gründeten eine Familie und zogen, wenn sie Glück hatten, in
eine Wohnung .
({8})
Die Wohnung musste dicht, warm und sicher sein; das
waren die Kriterien .
({9})
Sie werden sich erinnern; so war das . Wir hatten damals
alle Kohleheizungen . In Dresden wurden die Kohlefuhren Ende der 70er-Jahre noch in Säcken in die Keller getragen . Nach einer gewissen Zeit hatten sie wahrscheinlich keine Säcke mehr .
({10})
Da wurden 100 Zentner Kohlen einfach vor das Haus gekippt . Dann hieß es: reinschaufeln . Wenn man fertig war,
dann kriegten die Nachbarn, das ältere Ehepaar, auch
noch Kohlen . Dann konnte man nicht anders, als für sie
auch noch die Kohlen hereinzuschaufeln . Dann war man
ziemlich fertig .
({11})
Dann gab es ein häufiges Problem, nämlich den Zustand der Öfen . Im Herbst kam die Feuerwehr und stellte
fest: Die Öfen sind nicht in Ordnung, da muss was gemacht werden . - Man ging also zum Ofensetzer und fragte, ob er vielleicht bereit wäre, den Ofen zu reparieren .
Die Antwort war, dass er bis nächstes Jahr ausgebucht
sei, es sei denn, man hätte blaue Fliesen - das war Westgeld . Meine Damen und Herren, das war die Realität .
({12})
Wie sah es in Forschung und Entwicklung aus? Wir
hatten fantastische Ingenieure . Diese haben beispielsweise in den Trabant-Werken alle paar Jahre ein neues
Modell kreiert . Mangels wirtschaftlicher Möglichkeiten
konnte aber keines dieser Modelle jemals gebaut werden .
Die Konsequenz: Es sind Tausende Mannjahre Ingenieurarbeit in Ostdeutschland im Papierkorb gelandet . Das
war Arbeitslosigkeit am Arbeitsplatz, meine Damen und
Herren . Das war das Problem .
({13})
Ein weiterer Punkt, der etlichen von Ihnen auch noch
in Erinnerung sein dürfte, waren die Beratungsmuster .
Ich weiß nicht, ob jemand etwas mit diesem Begriff anzufangen weiß .
({14})
Wir hatten ja wunderbare technische Errungenschaften, zum Beispiel Warmwasserboiler . Die wärmten nicht
nur das Wasser, sondern gleich noch die ganze Wohnung
mit .
({15})
Der Zähler rotierte wie die Hinterräder unserer Giganten
der Landstraße, der Friedensfahrer .
({16})
Und was passierte, wenn sie einen neuen Warmwasserboiler brauchten, weil sie kleine Kinder hatten, die
auch einmal baden mussten? Sie gingen ins Centrum
Warenhaus nach Dresden, und dort sahen Sie einen wunderbaren Boiler, genau wie Sie ihn sich vorgestellt haben,
ausgestellt . Wenn Sie sagten: „Einen solchen Boiler will
ich kaufen“, entgegnete Ihnen der Verkäufer: Dabei handelt es sich um ein Beratungsmuster .
({17})
Das heißt, das Ganze war überhaupt nicht erhältlich, sondern es war zur Täuschung der westlichen Öffentlichkeit
als Potemkin’sches Dorf im Centrum Warenhaus ausgestellt .
({18})
Meine Damen und Herren, dies alles sind die Dinge, mit denen wir die schönen statistischen Vorteile der
DDR - die unsere Linkspartei gerne gegenüber der Bundesrepublik Deutschland herausstreicht - erkauft haben .
({19})
Nachdem wir einen Blick darauf geworfen haben,
möchte ich in diesem Zusammenhang noch einen Punkt
hinzufügen . Nach der Wiedervereinigung gab es in der
ehemaligen SED in Bezug auf das, was die DDR ausmachte, sehr viel Ehrlichkeit .
({20})
Diese Ehrlichkeit, zum Beispiel beim Politbüromitglied
Günter Mittag, sah damals so aus - ich zitiere, was er im
Spiegel zu diesem Thema gesagt hat -:
Ohne die Wiedervereinigung wäre die DDR einer
ökonomischen Katastrophe mit unabsehbaren sozialen Folgen entgegengegangen, weil sie auf Dauer
allein nicht überlebensfähig war .
({21})
Und weiter sagte er:
Das sozialistische System insgesamt war falsch, wie
wir heute wissen . Es ist eine Illusion, in der Planwirtschaft nach einem Weg zu suchen und ihn zu
finden. Die Wirtschaft muss mit Gewinn arbeiten,
wie das in einer Marktwirtschaft ist .
Enorme Einsicht von einem Mitglied des Politbüros der
SED .
({22})
Herr Gysi, Sie haben vorhin gesagt, wie nötig Sie beispielsweise die CDU brauchen . Nun sage ich Ihnen einmal, wie ich mir eine Linke, deren Vorstellungen nicht
etwa mit meinen hätten übereinstimmen müssen, vorgestellt hätte:
({23})
Ich hätte mir eine Linke gewünscht, die mit der Ehrlichkeit, wie ich sie eben zitiert habe, vorangeht und die
nicht bei jeder Gelegenheit mit den alten Rezepten, die
die DDR zugrunde gerichtet haben, in immer neuer Verpackung die Diskussion in der Bundesrepublik Deutschland befeuert,
({24})
und eine Linke, die sich gefragt hätte: Wie können wir
das wiedergutmachen, was wir in Ostdeutschland angerichtet haben?
({25})
Wie können wir helfen, dass Deutschland zusammenfindet? Was können wir tun? Was können wir einbringen?
Aber genau das machen Sie nicht . Vielmehr überprüfen Sie alle Ihre Argumente darauf, inwieweit sie geeignet sind, die Bundesrepublik Deutschland auf denselben
Weg zu führen, auf den Sie die DDR geführt haben . Das
ist das Problem .
({26})
Wenn Sie das ablegen, meine Damen und Herren, dann
heiße ich Sie im Deutschen Bundestag herzlich willkommen .
({27})
Na ja, jedenfalls hat sich auch bei mir zum Schluss der
Eindruck doch sehr verfestigt, dass aus einem möglichen
gemeinsamen Projekt von Gysi und Vaatz, aufzuzeigen, wie eine gesamtdeutsche Partei eigentlich aussehen
müsste, wohl nichts Richtiges werden könnte .
({0})
Mit dieser ernüchternden Einsicht schließe ich die
Aussprache .
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/6100 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen . Der Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 18/6195
soll an dieselben Ausschüsse überwiesen werden . Sind
Sie damit einverstanden? - Das ist offensichtlich der
Fall . Dann sind die Überweisungen so beschlossen .
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen der CDU/CSU und SPD auf der Drucksache 18/6188 mit dem Titel „25 Jahre Deutsche Einheit Leistungen würdigen, Herausforderungen angehen“ . Wer
möchte für diesen Antrag stimmen? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Nun hat Gregor Gysi selbst
die historische Chance verpasst, gegen diesen Antrag zu
stimmen .
({1})
Damit hat er unwillentlich dazu beigetragen, dass dieser
Antrag angenommen worden ist .
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 18 a und 18 b
auf:
a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
18. Bericht der Bundesregierung zur Auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik
Drucksache 18/5057
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({2})
Sportausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenab-
schätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwick-
lung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
17. Bericht der Bundesregierung zur Auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik
Drucksache 18/579
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({3})
Sportausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsauschuss
Auch hier soll die Aussprache nach einer interfraktionellen Vereinbarung 77 Minuten dauern . Hat jemand dagegen Einwände? - Das ist nicht der Fall . Also machen
wir das so .
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der
Kollegin Ulla Schmidt für die SPD-Fraktion .
({4})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste! Die Berichte, über die wir heute diskutieren
und die Gott sei Dank wieder von einem Außenminister vorgelegt wurden, für den diese dritte Säule der Außenpolitik eine ganz wichtige Bedeutung hat, legen das
Hauptaugenmerk auf die Krisen‑ und Konfliktprävention .
Ich glaube, gerade angesichts der derzeitigen Situation gilt: Eigentlich war Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik nie so aktuell wie heute . Wenn wir berücksichtigen, dass sich laut UNHCR rund 60 Millionen Menschen
auf der Flucht befinden - so viele wie seit dem Zweiten
Weltkrieg nicht mehr -, zeigt das sehr deutlich, wie in
einer Welt, die aus den Fugen zu geraten scheint, die soziale Kraft der Kultur in der Frage der Krisen- und Konfliktprävention eine immer größere Bedeutung erhält.
Denn viele der Krisen, die wir heute als humanitäre Krisen erleben, sind ja, wie es der Bundesaußenminister immer sagt, auch Krisen der Humanität, also der Menschlichkeit, die in Gefahr ist aufgrund von Terrorismus,
ideologischem Radikalismus und auch aufgrund der Situation, dass in immer mehr Staaten jede zivile Ordnung
auseinanderbricht und dass gerade in den Krisenregionen
dem staatlichen Gewaltmonopol überhaupt keine Bedeutung mehr zukommt .
Deswegen, liebe Kolleginnen und Kollegen, müssen
wir in diesen Bereich der auswärtigen Politik investieren .
Denn all das, worüber wir heute im Hinblick auf Fluchtursachen, worüber wir im Hinblick auf Hilfe beim Aufbau
zivilgesellschaftlicher Strukturen in den verschiedenen
Ländern, worüber wir im Hinblick auf die Vermittlung
von Werten diskutieren, ist von großer Bedeutung, und
hier muss mit und von unseren Mittlerorganisationen
sehr viel geleistet werden . Für uns, die Mitglieder des
Unterausschusses Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik, war immer wichtig, dass wir mithilfe unserer Mittlerorganisationen dafür sorgen, dass in den Flüchtlingslagern und in all den bedrohten Regionen keine verlorene
Generation aufwächst, und dass wir zugleich in Bildung,
in Kultur, in die Vermittlung von Werten investieren, dass
wir den jungen Menschen die Chance geben, überhaupt
wieder an Demokratie zu glauben und dafür einzutreten .
({0})
Ich möchte heute einmal den Blick auf die deutschen
Auslandsschulen richten . Sie sind seit jeher eine tragende
Säule der Auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik . Sie
haben Tag für Tag damit zu tun, mit unterschiedlichen
Biografien umzugehen, die Menschen in den Herkunftsländern kennenzulernen, Kindern die Chance zu geben,
Werte zu entwickeln, an Demokratie zu glauben . Sie sind
im Grunde genommen Orte der Begegnung, der Vielfalt,
und sie sind oft Orte des Beginns des interkulturellen
Austauschs . Weil sie so dafür prädestiniert sind, diese
unterschiedlichen, heterogenen Aufgaben zu meistern,
müssen wir in die Auslandsschulen investieren .
({1})
Viele von Ihnen haben sich bei Ihren Besuchen in den
verschiedenen Ländern immer wieder vor Ort von der
hervorragenden Arbeit der Auslandsschulen überzeugen
können . Sie haben sich davon überzeugen können, wie
dort Schülerinnen und Schüler mit den verschiedensten
persönlichen, sozialen, religiösen und kulturellen Hintergründen miteinander und voneinander lernen, wie dort
mithilfe der Lehrerinnen und Lehrer diese Schülerinnen
und Schüler zu weltoffenen, toleranten, selbstbewussten
jungen Erwachsenen herangebildet werden und wie die
Auslandsschulen über ihre Arbeit vor Ort mit den verschiedenen Kulturen verwachsen .
Ich habe heute Morgen mit der Kollegin Müntefering
darüber gesprochen, welche Chancen sich für unsere
Auslandsschulen bieten, auch innerhalb Europas, insbesondere in Osteuropa . Denken wir an die Diskussionen, die wir derzeit über eine gerechte Behandlung der
Flüchtlinge und eine wirklich europäische Flüchtlingsund Asylpolitik führen . Unsere Schulen können dazu
beitragen, dass dort Menschen heranwachsen, die mit
ihren Familien dafür eintreten und vielleicht in manchen
Punkten einen Sinneswandel in der Gesellschaft herbeiführen können .
({2})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, weil die Schulen so
gut sind, haben wir im Ausschuss und hier im Parlament
entschieden, dass sie auch im Bereich der inklusiven
Bildung Aufgaben wahrnehmen sollen . Wir wollen bei
der Umsetzung der Behindertenrechtskonvention vorangehen . Wir wollen, dass von unseren Auslandsschulen
vor Ort das Signal ausgeht: Ja, auch für behinderte Menschen, für behinderte Kinder ist Teilhabe ein Menschenrecht; denn dieses Menschenrecht ist unteilbar .
Schließlich wollen wir auch, dass über die Auslandsschulen unsere hervorragenden Erfahrungen im Bereich
der dualen Berufsbildung vermittelt werden können .
Präsident Dr. Norbert Lammert
Ich füge aber hinzu: Wenn wir all das wollen, wenn
wir die Möglichkeiten der Auslandsschulen nutzen wollen und wenn wir die Qualität der Ausbildung in diesen
Schulen beibehalten wollen, dann müssen wir investieren; denn gute Schulen brauchen hervorragende Lehrerinnen und Lehrer .
({3})
Dem entspricht nicht, dass die Auslandsschulen seit Jahren an Attraktivität einbüßen . Mittlerweile liegen die
Lehrerinnen und Lehrer an Auslandsschulen 23 Prozent
hinter der Gehaltsentwicklung von Bundesbeamten im
Ausland zurück . Wir erleben derzeit, dass Lehrerinnen
und Lehrer sagen: Ich würde das gerne machen, aber ich
kann doch meine Familie, meine Kinder nicht schlechterstellen, nur weil ich eine wichtige Aufgabe wahrnehmen
möchte . - Ich bitte Sie alle darum, dass wir gemeinsam
daran arbeiten . Wir müssen die Besoldung der Lehrerinnen und Lehrer an die Besoldung aller anderen ins Ausland entsandten Beamten und sonstigen Kräften anpassen . Wir müssen die seit 1999 geltende Abkopplung ihrer
Besoldung beenden .
({4})
Außerdem müssen wir dafür sorgen, dass wir ausreichend Geld zur Verfügung haben, damit die Auslandsschulen die Aufgaben, die sie im Bereich der Inklusion
und hinsichtlich der Förderung der beruflichen Bildung
wahrnehmen sollen, erfüllen können . Wir müssen aber
auch die Chance haben, mit entsprechenden Mitteln die
Schulen zum Beispiel in Erbil im Nordirak oder in Kabul
zu unterstützen,
({5})
und dort, wo es noch keine Auslandsschulen gibt, kleine
Schulen zu unterstützen, damit dort langsam Auslandsschulen aufgebaut werden können . Ich bitte Sie dafür um
Unterstützung . Im Ausschuss werden wir darüber noch
reden . Ich glaube, wir müssen jetzt investieren .
Wir brauchen zusätzliches Geld im Haushalt . Dafür
werbe ich bei Ihnen allen . Sie wissen, in der Kulturpolitik ist es immer so: Mit wenig Geld kann man viel erreichen, aber durch Entzug von wenig Geld kann man
vieles kaputtmachen . Wir jedoch sollten in die Zukunft
investieren .
Danke schön .
({6})
Nun erhält die Kollegin Tank für die Fraktion Die Linke das Wort .
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich freue mich, dass die Bundesregierung laut
dem vorgelegten 18 . Bericht vom bisherigen Kurs in der
Auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik abweichen
möchte . Infolge des Paradigmenwechsels ab 2011 hieß
es - ich zitiere -:
Es geht für Deutschland darum, Einfluss in der Welt
zu sichern . . .
Stattdessen möchte Bundesaußenminister Steinmeier
nun zur traditionellen Rolle der Auswärtigen Kultur- und
Bildungspolitik als dritte Säule der Außenpolitik zurückkehren . Das ist eine überfällige Kurskorrektur; denn aus
Sicht der Linken kommt gerade der Auswärtigen Kulturund Bildungspolitik angesichts der aktuellen Krisen in
Europa eine besondere Bedeutung zu .
({0})
Die Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik darf nicht
länger als Einbahnstraße begriffen werden, sondern muss
auf gegenseitigem Austausch, Respekt und Toleranz beruhen . Sie darf nicht als Instrument der Interessenvertretung deutscher Außenpolitik benutzt werden .
({1})
Um einen echten Wandel zu vollziehen, benötigen wir
finanzielle Mittel. Von den 400 Millionen Euro, die dem
Auswärtigen Amt 2015 für humanitäre Hilfe zur Verfügung stehen, muss die Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik einen ausreichenden Anteil erhalten .
Betonen will ich hier den internationalen Jugendaustausch . Ohne Planungssicherheit kann er seine nachhaltige Wirkung nicht entfalten . Im Unterausschuss bemühen
wir uns gerade um die langfristige Gewährleistung der
Bildungs- und Erinnerungsarbeit in Sobibor und Belzec,
zwei ehemaligen deutschen Vernichtungslagern in Polen
an der Grenze zur Ukraine . Hierfür braucht es seit langem mehr finanzielle Mittel. Doch das allein reicht nicht.
Es müssen auch Projekte entwickelt werden, die die Zivilgesellschaft einbinden, die Wege zum Ausbau der Gedenkstätteninfrastruktur aufzeigen und Mittlerorganisationen wie das Deutsche Historische Institut einbeziehen .
Den Absichtserklärungen des 18 . Berichtes müssen
jetzt konkrete Maßnahmen folgen . Angesichts der aktuellen Lage müssen die Projekte für und mit Flüchtlingen
in Lagern Priorität haben .
({2})
Dabei kann das Goethe-Institut im Bereich der Sprachvermittlung helfen . Sprache ist Grundlage der Integration .
Als einen neuen Schwerpunkt nennt die Regierungskoalition im 18 . Bericht die Östliche Partnerschaft . Wir
als Linke sehen das kritisch .
({3})
Es stellt sich die Frage, ob es sich bei der Östlichen Partnerschaft um eine wirklich gleichberechtigte PartnerVizepräsidentin Ulla Schmidt
schaft handelt . Aus unserer Sicht bestehen da begründete
Zweifel .
Kritisch sehen wir in diesem Zusammenhang auch die
strukturelle Neuaufstellung der Deutschen Welle, die im
18 . Bericht als Werkzeug, so wörtlich, „zur Reputation
Deutschlands in der Welt“ verstanden wird . Auswärtige
Kultur- und Bildungspolitik darf aber nicht zum Sprachrohr der Interessen deutscher Außenpolitik werden .
({4})
In der Kultur- und Bildungspolitik brauchen wir einen
Wandel hin zu einem Dialog auf Augenhöhe und gegenseitige Anerkennung .
({5})
Werte wie Demokratie und Respekt vor der Menschenwürde, die von Deutschland ins Ausland getragen
werden sollen, müssen umgekehrt auch von uns gelebt
werden . Liebe Kolleginnen und Kollegen, dazu ein persönliches Erlebnis, das mich sehr bewegt: Vor wenigen
Tagen war ich an der kroatisch-ungarischen Grenze in
Botovo . Hunderte Flüchtlinge, Babys in Decken gehüllt,
alte und kranke Menschen, deren Rollstuhl im Schlamm
stecken blieb, und die schließlich Stacheldrahtzaun und
Grenzsoldaten passieren mussten - ein unvergesslicher
Anblick, der bei mir und anderen Trauer und Wut auslöste .
Mir wurde außerdem berichtet, dass die Geflüchteten
danach in Ungarn vom Militär eskortiert und geschubst
und getreten wurden, wenn sie nicht schnell genug waren . Ich möchte an dieser Stelle ausdrücklich allen Menschen danken, die den Geflüchteten in Deutschland und
in Europa selbstlos geholfen haben und helfen .
({6})
Enttäuscht bin ich hingegen von dem sogenannten
Flüchtlingsgipfel . Die Chance für eine faire und gerechte Aufnahmepolitik wurde vertan . Die Bundesrepublik
setzt erneut auf Abschreckung und Entrechtung . Sie teilt
Asylsuchende in vermeintlich gute und schlechte Flüchtlinge ein, in potenzielle Fachkräfte und Unqualifizierte
und plant weitere Abschreckungsmaßnahmen .
({7})
Wo sind hier die demokratischen, die humanistischen
Werte, wo die Menschenwürde, die Willkommenskultur?
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Linke steht für
eine von Toleranz getragene, dialogorientierte Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik . Wir wollen ihre Bedeutung klar nach außen sichtbar machen und gegen jede
Einflussnahme schützen. Dafür benötigen wir aber, wie
meine frühere Kollegin Luc Jochimsen bereits vor Jahren
vorgeschlagen hat, die Einführung einer Bundeskulturministerin mit Kabinettsrang .
({8})
Ich möchte diesen Vorschlag noch einmal aufgreifen .
Ja, Frau Kollegin, aber vielleicht in einem zusammenfassenden Satz .
({0})
Es kann doch nicht sein, dass ein Land wie Deutschland kein Kulturministerium besitzt .
({0})
Nur ein Ministerium kann die verschiedenen Aufgabenfelder und die Belange der Kultur sowohl gegenüber anderen Ressorts als auch auf europäischer Ebene bündeln
und wirksam vertreten . Lassen Sie uns die Möglichkeiten internationaler, friedlicher Kulturförderung durch ein
Kulturministerium stärken .
Ich danke Ihnen .
({1})
Für die Bundesregierung hat nun die Staatsministerin
Maria Böhmer das Wort .
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Liebe Frau Tank, lassen Sie mich zunächst
einmal feststellen: Die Anwesenheit der Kulturstaatsministerin Professor Monika Grütters ist gegeben .
({0})
Deshalb sage ich an Monika Grütters einen ganz herzlichen Gruß .
({1})
Mit der Auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik
schaffen wir ein stabiles Fundament für unsere internationalen Beziehungen, weil wir auf Dialog zwischen Menschen und zwischen Kulturen setzen . Dazu gehört, dass
wir die deutsche Sprache in Europa und weltweit fördern .
Wir tragen dazu bei, dass überall kulturelle Identität und
Vielfalt erhalten bleiben . Damit leisten wir zweifellos einen Beitrag zur weltweiten Krisen‑ und Konfliktprävention . Kulturelle Arbeit bereitet im vorpolitischen Raum
den Boden für Verständigung, für Krisenprävention und
Krisenbewältigung . Sie werden erst dadurch richtig möglich, und das ist heute wichtiger als je zuvor .
({2})
Mit der Auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik ist
das Ziel verbunden, ein wirklichkeitsgetreues, ein lebendiges Bild von Deutschland zu vermitteln . Wir sind
ein Land, in dem Bildung und berufliche Entwicklung,
Wissenschaft und Forschung im Fokus stehen . Wir sind
ein Land, in dem Kreativität und Kultur eine wesentliche
Rolle spielen . Wir sind aber nicht nur Goethe und Schiller . Wir sind auch - das sage ich ganz bewusst als Frau eine begeisterte Fußballnation . Es ist wichtig, auch ein
solches Bild nach außen zu tragen .
({3})
Ich freue mich, dass wir uns hier einig sind; das gilt
auch für die Bundesregierung . Ich stimme mit dem
Bundesaußenminister überein, dass wir die Auswärtige
Kultur- und Bildungspolitik weiter stärken müssen . Besonders gefordert sind wir angesichts der dramatischen
Flüchtlingssituation . Gestern haben wir uns hier im
Deutschen Bundestag auf die Situation in Deutschland
konzentriert . Wir haben ein wichtiges Gesetzespaket auf
den Weg gebracht . Damit stützen wir die Solidarität und
die Hilfsbereitschaft der Menschen in unserem Land .
Diese Hilfsbereitschaft und diese Solidarität sind ungebrochen . Dafür sage ich herzlichen Dank .
({4})
Aber wir werden diese Flüchtlingskrise nur bewältigen, wenn es uns gelingt, die Fluchtursachen wirksam
zu bekämpfen: in Syrien, im Irak, in Afghanistan und in
großen Teilen Afrikas; auch diese Bereiche müssen wir
im Blick behalten . Wir müssen dort verstärkt helfen, wo
humanitäre Hilfe gebraucht wird und wo es oft um das
nackte Überleben geht .
In den Flüchtlingslagern in Jordanien und im Libanon
ist die Lage zunehmend dramatisch . Das darf uns nicht
ruhen lassen . Anders ist die Situation in den Flüchtlingslagern in der Türkei . Ich war kürzlich in Antakya,
an der türkisch-syrischen Grenze . In dem Zeltlager, das
ich besucht habe, sind 3 000 Flüchtlinge untergebracht,
darunter 600 Kinder . Es ist - zugegeben - ein kleineres
Flüchtlingslager . Aber - was ich jetzt sage, gilt für alle
Flüchtlingslager in der Türkei - die Versorgung ist gut;
es gibt einen Kindergarten, eine Schule, medizinische
Versorgung und einen Supermarkt . Das ist den erheblichen Anstrengungen zu verdanken, die in der Türkei unternommen werden . Und das gilt es auch anzuerkennen .
Aber ich frage auch: Was ist mit den vielen anderen
Flüchtlingen, die kein Dach über dem Kopf haben, die
keine Schule für ihre Kinder finden, die keine Arbeit
haben, deren Ersparnisse jetzt zur Neige gehen, die verzweifelt sind und denen in dieser Verzweiflung kein anderer Weg offensteht, als sich auf die Flucht zu begeben,
die Grenzen zu überschreiten, um nach Europa und nach
Deutschland zu kommen? Diese Flüchtlinge brauchen
eine Perspektive . Sie haben mir immer wieder gesagt, sie
wollen eines Tages in ihre Heimat zurückkehren . Dann
müssen sie in der Lage sein, ihr Land wieder aufzubauen,
und dafür müssen wir jetzt die Weichen stellen . Genau
hier muss die Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik
ansetzen .
({5})
Ich will anhand von vier Beispielen erläutern, was das
Auswärtige Amt in die Wege leitet .
Erstens . Zusammen mit dem Deutschen Akademischen Austauschdienst haben wir im vergangenen Jahr
ein Stipendienprogramm für syrische Flüchtlinge unter
dem Motto „Leadership for Syria“ aufgelegt . Wir fördern
damit 100 junge Menschen auf dem Weg zum Bachelor,
zum Master oder einem Doktorgrad . Jetzt könnte man
fragen: 100 junge Menschen angesichts dieser großen
Zahl von Flüchtlingen? Aber es werden genau diejenigen
sein, auf die Schlüsselpositionen zukommen . Es werden
diejenigen sein, auf die sich die Blicke richten, wenn es
darum geht, morgen voranzugehen, Verantwortung für
ihr Land wieder zu übernehmen .
Zweitens . Dazu passt, was wir mit der Alexander-von-Humboldt-Stiftung unternehmen . Wir haben
ein Scholars-at-Risk-Programm für Wissenschaftler im
Exil aufgelegt, damit diese später den Brückenschlag in
ihre Heimat schaffen und der Wiederaufbau dann auch
gelingt .
Drittens . Das Goethe-Institut leistet wichtige pädagogische Arbeit in den Flüchtlingslagern . Ja, Frau Schmidt,
wir stimmen überein . Auch ich sage: Wir dürfen keine
verlorene Generation zulassen . Wir müssen gerade Kindern und Jugendlichen eine Hoffnung, eine Perspektive
geben .
({6})
Viertens ist mir wichtig: Das Deutsche Archäologische Institut leistet in Flüchtlingslagern in Jordanien, im
Libanon, im Irak und in der Türkei wichtige handwerkliche Qualifizierungsarbeit. Ich weiß, wie gut sie gerade
vom Kreis des Unterausschusses Auswärtige Kultur- und
Bildungspolitik begleitet wird . Das stärkt den Einzelnen,
das hilft, Kulturgüter zu erhalten und wiederherzustellen .
Das ist eine grundlegende, eine unverzichtbare Aufgabe,
wenn es um Identität, wenn es um den dringend notwendigen Zusammenhalt geht .
Die beiden Berichte, liebe Kolleginnen und Kollegen, die Ihnen heute vorliegen, belegen eindrucksvoll
die große Bandbreite der Auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik . Ich will auf nur einen Themenschwerpunkt
eingehen:
Das Interesse an Deutschland ist groß, und es hat sich
verändert . Bei Kultur und Lebensqualität, Regierungsführung, Qualität von Produkten haben wir Bestnoten .
Darauf können wir stolz sein . Aber ich sage auch, dass
uns das nicht übermütig machen soll . Die Wertschätzung
muss uns ein Ansporn sein .
Deutsch als Fremdsprache erlebt einen weltweiten
Aufschwung . 15,4 Millionen Menschen lernen Deutsch,
und das sind mehr als vor fünf Jahren . Das Interesse an den deutschen Auslandsschulen und den knapp
1 800 Schulen, die sich an unserer Partnerschulinitiative
PASCH beteiligen, ist ungebrochen .
Es gibt immer mehr Studierende, die es nach Deutschland zieht . Ich bin guten Mutes, dass wir im Jahr 2020 die
Zahl von 350 000 ausländischen Studierenden erreichen
werden .
Das alles ist wichtig, weil die Schüler, die Studenten,
die Deutschlerner unsere Partner von morgen sind . Sie
legen die Grundlage für eine gute internationale Zusammenarbeit, und sie alle sprechen im wahrsten Sinne des
Wortes unsere Sprache .
Aber ich sage auch: Es wartet noch ein gutes Stück
Arbeit auf uns, wenn es um die Auslandsschulen geht;
ich will das hier mit aller Deutlichkeit unterstreichen .
All diejenigen, die dabei waren, als im Januar die Jahrestagung der Schulleiterinnen und Schulleiter stattfand,
wissen, wie schwierig es ist, deutsche Lehrerinnen und
Lehrer für deutsche Auslandsschulen zu gewinnen . Das
wird noch schwieriger werden angesichts des großen
Bedarfs, den wir gegenwärtig in unserem Land haben,
angesichts der steigenden Schülerzahlen durch mehr
Flüchtlingskinder in den Schulen; das macht es für die
Auslandsschulen nicht leichter . Wir haben darüber im
Unterausschuss gesprochen, und ich hatte gestern einen
sehr intensiven Austausch mit der Präsidentin der Kultusministerkonferenz, Frau Kurth . Wir waren uns einig:
Wir wollen gemeinsam daran arbeiten, dass es zu Verbesserungen kommt . Das heißt, wir brauchen eine bessere
Wertschätzung der Arbeit an Auslandsschulen . Der Auslandsschuldienst darf nicht zum Karriereknick werden .
({7})
Wir brauchen diese Lehrerinnen und Lehrer mit ihrer
interkulturellen Kompetenz . Sie werden anderen eine
Richtung geben. Es gilt, die eklatante Schieflage endlich
zu beseitigen: Eine Gehaltsdifferenz von 23 Prozent ist
natürlich ein Hemmnis für die Entscheidung, an eine
Auslandsschule zu gehen . Wir haben im Auswärtigen
Amt einen entsprechenden Vorschlag vorbereitet, der Ihnen bereits zugegangen ist . Er liegt Ihnen vor, und wir
werden darüber sprechen . Meine herzliche Bitte ist: Lassen Sie uns an einem Strang ziehen . Wir brauchen dafür
die entsprechenden Finanzmittel . Es geht um eine gute
Zukunft für die Auslandsschulen .
({8})
Ich darf mit einem sehr herzlichen Dank an Sie alle
enden . Denn Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik
braucht starke Partner, und ich empfinde alle im Deutschen Bundestag - ganz besonders die Mitglieder aus
dem Unterausschuss Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik, aber ich binde auch unsere Haushälterinnen und
Haushälter mit ein - als solche starken Partner . Lassen
Sie uns weiter an einem Strang ziehen . Die Erwartungen
an diesen Politikbereich sind groß . Es liegt an uns, sie zu
erfüllen .
Herzlichen Dank .
({9})
Das Wort hat die Kollegin Claudia Roth für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Welt ist im Umbruch, und wie Ulla Schmidt auch
mit Blick auf die hohen Flüchtlingszahlen und die vielen
Konfliktherde gesagt hat: Die Welt ist eigentlich längst
aus den Fugen geraten . In dieser Welt im Umbruch, die
wie nie zuvor von der Globalisierung geprägt ist, erhält
die Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik eine immer
größere Bedeutung .
Die Welt von heute ist aber auch geprägt von einer
Repolarisierung, von Schwarz-Weiß-Denken und alten
und neuen Feindbildern . Alte Gräben werden wieder aufgerissen wie zwischen Russland, Europa und den USA,
zwischen Iran und Saudi-Arabien, zwischen der türkischen Regierung und den Kurden, zwischen Juden und
Palästinensern oder auch innerhalb Europas, wie wir es
in diesem Sommer ganz besonders und sehr erschrocken
beobachten mussten .
Aber auch die neuen Gräben vergrößern sich von Tag
zu Tag . So lässt die Umsetzung des Friedensprozesses in
der Ukraine weiter auf sich warten, und die Konflikte,
die entgrenzte Gewalt in Syrien, im Jemen, in Afghanistan, in Libyen und im Irak verschlimmern sich immer
mehr . Wir erleben in dieser Welt von heute postkoloniale
Umbrüche, das Entstehen neuer Autokratien und die Entrechtung der universellen Menschenrechte .
Dort, wo politische Kontakte nicht mehr stattfinden,
sondern wo Schweigen oder, schlimmer noch, nur noch
Waffengewalt herrscht, dort, wo eigentlich politisch
nichts mehr geht, braucht es Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik .
({0})
Es braucht sie als leisen und vorsichtigen Brückenbauer . Es braucht sie als ersten Türöffner für den Dialog . Es
braucht sie zur Stärkung einer geschwächten Zivilgesellschaft .
Es muss uns Sorgen bereiten, dass in den letzten Jahren in über 80 Staaten sogenannte NGO-Gesetze verabschiedet wurden, die keinen anderen Inhalt haben, als die
Rechte und Räume von NGOs einzuschränken, manchmal sogar, um ihre Arbeit zu erdrosseln . Wenn Presseund Meinungsfreiheit und die Freiheit der Kunst kaum
mehr vorhanden sind, dann braucht es die Auswärtige
Kultur- und Bildungspolitik, die geschützte Räume für
kritische Gedanken schafft und ziviles Engagement und
oppositionellen Mut beheimaten kann .
({1})
Auch dort, liebe Kolleginnen und Kollegen, wo terroristische Gewalt nicht nur Menschenleben fordert,
sondern auch kulturelles Menschheitserbe systematisch
zerstört wird, wie die Tempel von Palmyra in Syrien, die
Buddha-Statuen von Bamiyan in Afghanistan, die Bibliothek von Timbuktu in Mali und die assyrischen Stätten in der Ninive-Ebene im Irak oder jetzt im Jemen, wo
Saudi-Arabien das Land ins Mittelalter bombt und die
Weltkulturerbestätten von Sanaa und Schibam zerstört
werden, braucht es die Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik, die versucht, zu schützen und zu erhalten, was
unsere gemeinsame globale Identität ausmacht .
({2})
Sie gibt sich nicht zufrieden mit einem Eintrag in die rote
UNESCO-Liste, sondern versucht, Druck - auch politischen - auszuüben .
Es ist dringend notwendig - wir begrüßen das -, dass
das Deutsche Archäologische Institut stärker unterstützt
wird . Dieses Institut plant nun zum Beispiel in Teheran
eine Ausstellung zur Geschichte der deutsch-iranischen
Forschung und zur 50-jährigen Geschichte der Außenstelle des Instituts in der iranischen Hauptstadt . Auch
Archäologie ist Kulturerhalt . Mehr noch: Sie bietet die
Chance, über die Arbeit am Gestern ein gemeinsames
Morgen zu eröffnen .
({3})
Wir brauchen die Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik aber auch als Teil unserer Erinnerungskultur . Das
haben wir gerade in diesem Jahr erleben und beweisen
können . 50 Jahre diplomatische Beziehungen zu Israel
werden emotional erfahrbar beispielsweise durch Installationen von Sigalit Landau - unterstützt vom Auswärtigen Amt -, die wir in unserem Haus ausstellen konnten,
oder durch ein Konzert mit den „Violinen der Hoffnung“ .
Das Gedenken an den Genozid an den Armeniern vor
100 Jahren vermag noch heute, Politik zu prägen und
Konsequenzen für die Lebenden zu fordern . Genau da
setzt die Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik an;
denn sie zeigt in der Erinnerungskultur, wie wir mit unserer Vergangenheit verantwortlich umgehen und ob wir
wirklich bereit sind, uns ihr vollständig zu stellen, um
so Vertrauen bei den Nachgeborenen des Naziterrors zu
schaffen . Unsere Debatte über den deutschen Völkermord an den Herero zeigt doch exemplarisch, dass es
nicht reicht, vergangenes Leid bzw . Schuld anzuerkennen, wenn damit nicht gleichzeitig eine Verantwortungsübernahme einhergeht . Da ist noch sehr viel zu tun .
({4})
Die Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik ist die
dritte Säule der Außenpolitik . Damit das alle wissen: Sie
ist kein Sahnehäubchen und auch kein Accessoire, das
man sich nur in guten Zeiten leisten kann . Nein, oft ist sie
gerade Voraussetzung für eine auswärtige Politik .
({5})
Aber auch hier müssen wir uns die Frage nach der Kohärenz stellen; denn die Maßnahmen der klassischen Außenpolitik dürfen nicht den Zielen der Auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik zuwiderlaufen . Gerade beim
Instrument der Sanktionen ist das künftig viel stärker zu
bedenken . Es darf doch nicht sein, wie wir es im Fall
Iran erlebt haben, dass die verhängten Sanktionen gegen
das Regime auch und gerade die Bildungszusammenarbeit zwischen deutschen und iranischen Universitäten
unmöglich machen . Dort, wo mit Sanktionen auch zivile,
kulturelle und wissenschaftliche Kooperationen getroffen werden, werden die Falschen bestraft, zur Freude des
Regimes . Dann läuft etwas falsch .
Im Kultur- und Bildungsaustausch sollten wir die
originären Akteure in den Mittelpunkt stellen; denn es
sind die Künstler, die Kreativen, die Pädagogen und die
Wissenschaftler, die zumeist selbst am besten wissen, wo
in den eigenen Bereichen die spannenden Ansätze bestehen und welche Initiativen und Projekte zukunftsträchtig sind . Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik ist also
nicht einseitig als Instrument der Cultural Diplomacy zu
definieren; denn der Eigensinn von Kunst und Kultur, die
kreative Kraft, droht sonst unter die Räder zu geraten .
Es geht also nicht vorrangig um Sichtbarkeit, um riesengroße Ausstellungsformate . Ich erinnere mich an die
Deutschlandjahre der Vergangenheit zur höheren Ehre
der deutschen Wirtschaft . Das ist nicht das, was ich mir
unter Auswärtiger Kulturpolitik vorstelle .
({6})
Es sind die vielen kleineren Formate, Tausende Kulturbegegnungen, das nachhaltig angelegte Alltagsgeschäft der
Goethe-Institute und die Stipendien des Deutschen Akademischen Austauschdienstes beispielsweise für Syrerinnen und Syrer, für die Frauen des Arabischen Frühlings,
die endlich wieder eine Perspektive brauchen . Das alles
ist Humus für die Demokratie und die Menschenrechte .
Das sind auch und gerade die deutschen Schulen im Ausland; da kann ich mich Ulla Schmidt voll und ganz anschließen . Denn es geht bei der Vermittlung von Sprache
auch um Wertevermittlung . Dafür braucht es die allerbesten Lehrerinnen und Lehrer . Diese brauchen anständige
Löhne . Ich hoffe, Frau Böhmer, dass Sie das dem Finanzminister so richtig beibringen .
({7})
Doch was sind die neuen großen Herausforderungen
und Aufgaben der Auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik? Wir erleben im Nahen und im Mittleren Osten
das Entstehen neuer riesengroßer Städte . Es sind die großen Flüchtlingslager im Libanon, in der Türkei, im Irak,
in Jordanien . Wir sollten auch nicht den afrikanischen
Kontinent mit Millionen von Flüchtlingen vergessen .
Beispielhaft dafür steht das Lager Dadaab in Kenia . Die
Menschen in diesen neuen Zeltstädten werden voraussichtlich nicht nur wenige Jahre, sondern wohl eher Jahrzehnte, vielleicht sogar immer dort leben müssen . Das
sind die neuen Orte, wo Kultur, wo Bildung Nahrungsmittel für die Menschen bedeuten, wo Bildung und Kunst
so wichtig sind wie Wasser und Brot, weil sie helfen können, sich ein neues Leben einzurichten und Traumata zu
überwinden .
Vizepräsidentin Claudia Roth
Deshalb ist es eine großartige Initiative des Goethe-Instituts, in Zusammenarbeit mit Flüchtlingsorganisationen
Kultur- und Bildungsprojekte zu realisieren, die besonders Kindern und Jugendlichen, aber auch Künstlern
selbst, die zu Flüchtlingen geworden sind, sinnvolle Beschäftigung vermitteln, die das Erlebte verarbeiten helfen
und die kreative Alternativen entwickeln .
({8})
Es geht dabei um den Versuch, zu verhindern, dass durch
das aktuelle Flüchtlingselend tatsächlich eine weitere
verlorene Generation entsteht .
Auch da, wo Menschen in ihre Heimat zurückkehren können, wie zum Beispiel Erbil, die Hauptstadt des
kurdischen Nordirak, bilden die Kulturmittler und die
deutschen Auslandsschulen ein zivilisatorisches Fundament für den perspektivischen Wiederaufbau und für die
Selbstermächtigung der Menschen . Aber gerade diese
Schule ist von der Schließung bedroht, weil die finanzielle Unterstützung fehlt . Da muss etwas passieren .
({9})
Also: Die Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik
geht dorthin, wo sonst nichts mehr oder noch nichts
möglich ist . Sie öffnet Türen, wo politische Diplomatie
noch nicht angekommen ist oder wo sie am Ende ist . Sie
bereitet Wege, die Begegnungen hin zu Frieden und Aussöhnung ermöglichen, und das muss uns viel, das muss
uns sehr viel mehr wert sein .
Vielen Dank .
({10})
Die Kollegin Michelle Müntefering hat für die
SPD-Fraktion das Wort .
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Haben Sie auch die
Kinderzeichnung gesehen, die ein syrisches Kind der Polizei geschenkt hat? Auf der einen Seite, unter syrischer
Flagge, bewaffnete Terroristen, abgetrennte Gliedmaßen; unter deutscher Flagge ein Weg, ein Haus, eine Zuflucht. - Es ist nicht ganz klar, wie alt das Kind war, das
das gezeichnet hat, ob es Mohammed oder Fatma hieß .
Aber wie auch immer, wir wissen: Es zeigt die Realität .
Frau Präsidentin, liebe Kolleginnen und Kollegen,
sehr geehrte Damen und Herren, das ist die Wirklichkeit von Millionen Menschen . Viele von ihnen suchen
Schutz, auch bei uns . Um helfen zu können, brauchen wir
alle Kräfte . Meine Vorrednerinnen haben es gesagt: Der
Auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik kommt hierbei
eine besondere Rolle zu . Denn die Kulturdiplomatie als
tragende Säule deutscher Außenpolitik hat eine besondere, eine eigene Kraft .
Unser verstorbener Kollege Philipp Mißfelder, den ich
in unseren Reihen vermisse, hat vor gar nicht allzu langer
Zeit an diesem Pult gesagt: Die AKBP ist das Zaunkönigtum des Deutschen Bundestages . - Ich weiß nicht, wie
viele Hobbyornithologen unter uns ihn damals verstanden haben, aber das stimmte: Der Zaunkönig ist winzig
klein, sein Gefieder recht unscheinbar, aber sein Gesang
ist laut und über Hunderte Meter weit zu hören, im Sommer wie im Winter .
({0})
Ja, so ist das auch mit unserer Arbeit im Ausschuss .
Liebe Kollegen, die AKBP ist nicht weniger als die
„sanfte Macht“ der Außenpolitik, das, was wir durch die
Beziehungen von Künstlern, Wissenschaftlern und der
Zivilgesellschaft an Verständigung und Veränderung bewirken können . Sie kann helfen, kulturell, religiös oder
weltanschaulich bedingte Konflikte zu bewältigen, und
auch zu ihrer Prävention beitragen . Deswegen ist klar,
dass wir sie brauchen . Fluchtursachen bekämpfen wir am
besten, wenn wir Menschen nicht nur ein Bett, ein Dach
und etwas zu essen geben, sondern wenn wir ihnen auch
eine Perspektive geben: auf ein sicheres Leben, auf Bildung und auf Arbeit - in ihren Heimatländern, aber auch
denjenigen, die bei uns bleiben .
Es ist gut, dass Außenminister Frank-Walter
Steinmeier diesen Bereich fördert, und zwar weit mehr
als seine Vorgänger . Da wir im Unterausschuss als Zaunkönige für die gemeinsame Sache arbeiten, bin ich sehr
froh, dass auch Frau Böhmer und alle anderen Kolleginnen und Kollegen beim Finanzminister noch einmal kräftig vorsingen werden .
Die Flüchtlingsfrage zeigt, wie die Trennung von innen und außen aus der Zeit gefallen ist . Willy Brandt hat
schon in meinem Geburtsjahr 1980 gesagt:
Die Globalisierung von Gefahren und Herausforderungen - Krieg, Chaos, Selbstzerstörung - erfordert
eine Art „Weltinnenpolitik“ . . .
Daran arbeiten wir heute noch .
Wenn sich also wie heute die Trennung von innen und
außen, von „hier bei uns“ und „dort bei den anderen“ so
sehr aufhebt, dann muss auch die AKBP den Blick nach
innen richten . Unsere Mittler können dabei helfen . Sie
haben Kompetenz und Erfahrung . Sie können bei Sprachvermittlung und Integration helfen . Sie kennen kulturelle
Vielfalt und wissen um die Bedeutung unserer Werte .
({1})
Aber einiges müssen wir noch verbessern - das muss
an dieser Stelle in einer solchen Debatte gesagt werden -:
Wir müssen unsere Mittler besser koordinieren und ihre
Kompetenzen eben auch im Inland stärker nutzen . Ich
will zwei Beispiele nennen, um deutlich zu machen, wie
das gehen kann .
Erstes Beispiel . Auch in meinem Wahlkreis Herne-Bochum II haben wir Asylsuchende aufgenommen
Vizepräsidentin Claudia Roth
und dazu Erstaufnahmeeinrichtungen des Landes NRW
errichtet . Wie viele von Ihnen war auch ich vor Ort, habe
mit Ehrenamtlichen, mit Betroffenen und mit Anwohnern
gesprochen . Mir ist aufgefallen: Wir schicken die Kinder
in den Kindergarten, die Jugendlichen in Aufnahmeklassen in die Schule . Für die jungen Erwachsenen haben wir
meistens Tischtennisplatten . Aber wir wissen doch: Wo
die jungen Männer nix zu tun haben, gibt es Kloppe; das
war schon immer so . Darüber müssen wir uns auch nicht
wundern .
Deswegen: Nutzen wir doch, was da ist: Smartphones, die jeder hat, mit Onlineangeboten, damit alle die
Möglichkeit haben, unsere Sprache und auch etwas über
unser Land, über Deutschland, zu lernen . Der Langenscheidt-Verlag zum Beispiel hat als privates Unternehmen sein Deutsch-Arabisches Wörterbuch frei zur Verfügung gestellt; das ist gut . Auch unsere Mittler steigen ein:
Die Deutsche Welle hat eine Internetseite geschaltet, und
das Goethe-Institut will nun auch eine App bereitstellen .
All das ist gut und prima . Aber nicht jeder darf jetzt
für sich allein loslegen, sondern das muss koordiniert
werden . Das AA, das Auswärtige Amt, dem ich für seine
Arbeit ganz ausdrücklich danke, ist bereits auf dem Weg,
die Akteure zusammenzuholen . Mein Rat: Fragen Sie
auch einmal die Menschen, die es betrifft . Diese werden
Ihnen sagen, sie müssen nicht nur eine Zahnbürste kaufen gehen, sondern sie müssen auch auf der Behörde mit
dem Amtsdeutsch zurechtkommen .
Zweites Beispiel . Der DAAD und das Deutsche Archäologische Institut arbeiten in Kairo zusammen . Dabei
ist etwas Außergewöhnliches entstanden . Während die
Terroristen von Daesch, von ISIS, in ganz Arabien jahrtausendealte Kulturgüter zerstören, haben sie begonnen,
junge Menschen auszubilden, und zwar gleichermaßen
an einer deutschen und an einer ägyptischen Universität .
Sie lernen von Experten, wie man Kultur erhalten kann,
aber auch für die Bevölkerung nutzbar machen kann, und
zwar gerade nicht dadurch, dass ausländische Fachkräfte eingeflogen werden, sondern indem junge Menschen
vor Ort befähigt werden, ihr eigenes Erbe zu sichern . Das
zeigt das Potenzial gemeinsamer Programme .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das, was wir brauchen, sind gleichermaßen Sprachdolmetscher und Kulturdolmetscher . Tragen wir unseren Teil dazu bei!
Herzlichen Dank .
({2})
Das Wort hat die Kollegin Sigrid Hupach für die Fraktion Die Linke .
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Paradigmenwechsel in der Auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik, ein
Dialog auf Augenhöhe als dritte Säule, wurde heute
schon vielfach angesprochen . Ich möchte noch einmal
unterstreichen, warum er aus kulturpolitischer Sicht
überfällig war .
Vor zwei Tagen erläuterte Klaus-Dieter Lehmann im
Tagesspiegel, welche Aufgabe die Goethe-Institute, deren Präsident er ist, angesichts der aktuellen Flüchtlingssituation übernehmen könnten . Im Zentrum steht dabei
natürlich die Vermittlung der Sprache, aber genauso
gehört die kulturelle Vermittlung dazu . Gemeinsam mit
Flüchtlingsorganisationen hat das Goethe-Institut Kultur- und Bildungsprojekte für die Arbeit in den Flüchtlingslagern der Nachbarländer von Syrien und Irak entwickelt . Sie wollen das Leben in den Flüchtlingslagern
erträglicher gestalten und Beschäftigung bieten, wo es
ansonsten keine Möglichkeit zum sinnvollen Tun gibt .
Sie wollen bei der Verarbeitung traumatischer Erfahrungen helfen und mit Bildung und Kultur einer verlorenen
Generation entgegenwirken . Hier zeigt sich die große
Bedeutung, die der Auswärtigen Kultur und Bildungspolitik zukommt . Mit ihr können durch Dialog und über
den Weg des kulturellen Austausches Räume für Humanität geschaffen und kann für gegenseitiges Verständnis
geworben werben .
Ein weiteres Beispiel kultureller Vermittlung ist auch
das vom Deutschen Archäologischen Institut koordinierte Projekt, bei dem Geflüchtete und Einheimische für
den Kulturerhalt sensibilisiert werden und ihnen wissenschaftliche und handwerkliche Kenntnisse dafür vermittelt werden sollen . Programme dieser Art müssen aus den
umfangreichen Mitteln, die das Auswärtige Amt aktuell
für humanitäre Hilfe bereitstellt, adäquat finanziert werden . Dies ist ein explizites und interfraktionelles Anliegen des Unterausschusses für Auswärtige Kultur und
Bildungspolitik . Eine dialogorientierte Auswärtige Kultur und Bildungspolitik kann dazu beitragen, Konflikte
zu minimieren und stabilisierend in Krisenregionen zu
wirken . Aber wahr ist auch: Kulturpolitik kann nicht wiederherstellen, was durch Kriegseinsätze verloren ging .
Projekte dieser Art dienen nicht nur dazu, Fähigkeiten
und Fertigkeiten zu vermitteln . Sie sollen vor allem auch
für die Bedeutung des kulturellen Erbes und die Notwendigkeit seines Erhalts sensibilisieren . Die Zerstörung
von Nimrud, Hatra und Palmyra durch den sogenannten
„Islamischen Staat“ belegt, dass wir uns dringend um
Strategien für einen nachhaltigen Schutz des vielfältigen
Erbes der Weltgemeinschaft kümmern müssen .
({0})
Auch vor diesem Hintergrund begrüßen wir Linke
die Novellierung des Kulturgutschutzgesetzes . Bei aller
öffentlichen Aufregung darum geriet eine wesentliche
Absicht des Gesetzesvorhabens ins Hintertreffen: der
Versuch, den illegalen Handel mit geraubten Kunst und
Kulturgütern zu unterbinden bzw . ihn wenigstens einzudämmen und zu erschweren . Die Novelle ist aber auch
nötig, weil das Kulturgüterrückführungsgesetz von 2007
sich als wirkungslos erwiesen hat . Abgesehen von freiwilligen Rückgaben konnte seit 2008 nicht ein einziger
Antrag auf Rückführung von unberechtigt nach Deutschland verbrachtem Kulturgut bewilligt werden . Grund dafür waren die viel zu hohen Anforderungen an die antragMichelle Müntefering
stellenden Staaten . Wir müssen uns in einem öffentlichen
Diskussionsprozess darüber verständigen, was wir unter
national wertvollem Kulturgut verstehen . All das, was
wir hier in Deutschland halten wollen? Was verstehen
wir unter dem gemeinsamen Erbe der Menschheit? All
das, was im Zuge des Kolonialismus in die Sammlungen
der deutschen Völkerkundemuseen gelangte und was als
geteiltes Erbe einfach hierbleiben sollte?
In diesem Zusammenhang möchte ich auf das Humboldt-Forum zu sprechen kommen - nicht als wiederaufgebautes Preußenschloss, sondern als Ort der
Debatte zwischen Kunst, Kultur, Wissenschaft und
Medien in wirklich internationaler und interkultureller
Perspektive . Minister Steinmeier hat in seiner Rede bei
der Konferenz des Goethe-Instituts im Februar 2015 das
Sechs-Augen-Prinzip angesprochen . Gemeint ist damit
ein gegenseitiger Austausch im Sinne des Voneinander-lernen-Wollens, indem neben der eigenen Perspektive die des anderen einbezogen und zugleich eine dritte
gemeinsame Perspektive entwickelt wird . Aktuell hat
dazu Martin Roth, Direktor des Londoner Victoria and
Albert Museums, den wirklich innovativen Vorschlag
gemacht, auch Flüchtlinge aus den nahöstlichen Bürgerkriegsgebieten in die Planung zum Humboldt-Forum
einzubeziehen. Er empfiehlt außerdem, bereits zum jetzigen Zeitpunkt Vertreter jener Länder in die Gremien des
Humboldt-Forums zu integrieren, mit denen in Zukunft
ein kultureller Austausch stattfinden soll. Denn es sollte
nicht um Projekte gehen, so sagt er, „die hier erfunden
und dort ‚unten‘ und ‚da drüben‘ akzeptiert werden, sondern um wirkliche Co-Entwicklungen“ . Wir unterstützen
diesen Ansatz und hoffen, dass ihm Taten folgen, unterstreicht er doch, dass die Auswärtige Kultur und Bildungspolitik nicht länger nur der Repräsentation und der
Sicherung des deutschen Einflusses in der Welt dienen
sollte .
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit .
({1})
Der Kollege Dr . Bernd Fabritius hat für die CDU/
CSU-Fraktion das Wort .
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! In der Zeit nach dem Fall des Eisernen Vorhangs,
der immer größeren europäischen Familie und der immer
tiefer werdenden Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten
in der Europäischen Union - untereinander und mit den
Nachbarschaftsstaaten in Partnerschaft - wähnten wir
uns in einer Epoche des Friedens in Europa . War dieser
Blick womöglich zu sehr nach innen gekehrt? Haben wir
nicht bemerkt, dass um uns herum Konflikte schwelten,
und darauf etwa zu spät reagiert? Diese Interpretation favorisieren die Gegner Europas, und ich halte sie entschieden für falsch . Wir sollten nicht der Versuchung erliegen,
mit zu einfachen Antworten all jenes infrage zu stellen,
was - aktuellen Schwierigkeiten zum Trotz - eines der
größten friedenspolitischen Projekte der Geschichte ist .
Um dieses wieder in gutes Fahrwasser zu bringen und
weiterzuführen, sind konstruktive Lösungen gefragt . Die
Diplomatie kennt viele Instrumente, mit denen die aktuellen Konflikte in der Welt gelöst werden könnten. Ein
solches Instrument ist mit Sicherheit auch die Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik .
Der vorliegende 18 . Bericht der Bundesregierung
zur AKBP beschreibt, wie dieses Instrument in den
Jahren 2013 und 2014 angewendet worden ist . Seither
hat sich die weltpolitische Lage deutlich verändert . Der
Bericht sollte daher vorausschauend auch als Anleitung
zur Lösung aktueller Krisen gelesen werden . Denn: Die
Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik wirkt präventiv und kann verhindern, dass Konflikte überhaupt erst
entstehen . Sie wirkt krisenbegleitend zur Linderung der
Konfliktauswirkungen und leistet Pionierarbeit im Vorfeld der klassischen Diplomatie .
({0})
Zudem ist sie Nachbereiterin sowohl nach Erfolgen
als auch dann, wenn Herausforderungen nicht ganz so
überzeugend gelöst werden konnten . Die jüngsten diplomatischen Erfolge in den Atomverhandlungen mit dem
Iran könnten ein gutes Beispiel für einen unterstützenden
Beitrag der AKBP zu den Bemühungen des Bundesaußenministers sein . Im Jahr 2010, als der UN-Sicherheitsrat letztmalig und drastisch die Sanktionen gegen den
Iran verschärfte, reiste eine Delegation des Unterausschusses Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik gerade in den Iran und signalisierte so der damaligen iranischen Regierung: Trotz des notwendigen internationalen
Drucks bleibt die Tür für Gespräche geöffnet . Die von
Ihnen, Frau Kollegin Roth, genannten Einschränkungen
betrafen wenige und konkrete Ausnahmen, etwa technische Studiengänge .
Dasselbe Prinzip gilt auch für den Umgang mit Russland im Hinblick auf die Ukraine-Krise . Von den Sanktionen, die wegen der völkerrechtswidrigen Annexion der
Krim verhängt wurden, sind die Mittel der Auswärtigen
Kultur- und Bildungspolitik explizit ausgenommen worden. Häufig fiel damals der Satz: Man müsse trotz der
Differenzen weiter mit Russland sprechen . - Das war
selbstverständlich zutreffend, und damit war auch die
Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik gemeint .
Sosehr ich von der AKBP als Krisenbegleiterin und
Wegbereiterin bei der Lösung von Konflikten überzeugt
bin, so muss ich zugleich auch Grenzen erkennen . Zur
Lösung des Syrien‑Konflikts kann die Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik derzeit leider wenig beitragen .
Von der Sitzung des UNESCO-Welterbekomitees im
Juni in Bonn unter der Leitung von Staatsministerin
Böhmer ist aber ein deutliches Signal für einen besseren
Schutz der Welterbestätten vor der Zerstörungswut des
sogenannten „Islamischen Staates“ ausgegangen .
({1})
Wir unterstützen Sie, Frau Staatsministerin, in Ihrem
Engagement zum Schutz des Kulturerbes ebenso wie bei
Ihrem Vorhaben einer strukturellen Reform des Welterbekomitees .
Mindestens genauso wichtig wie der Schutz des Welterbes ist der Schutz der Menschen vor Krieg und Terror .
Hier kann die Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik zumindest die Not der Menschen lindern, die durch Flucht
und Vertreibung Opfer derartiger Ereignisse geworden
sind . Ein Ansatz: Durch AKBP kann dazu beigetragen
werden, dass in den Zufluchtsregionen dieser Welt, in
den Lagern, aus denen es zur Sekundärmigration kommt,
die Situation erträglicher wird und Menschen, die bereits
gerettet sind, sich nicht erneut auf Wanderschaft begeben
müssen. Es muss die allererste Pflicht der gesamten Staatengemeinschaft sein, die notwendigsten Bedürfnisse der
Menschen in den Flüchtlingslagern - etwa in Jordanien,
der Türkei und im Libanon - zu decken, ausreichend
Nahrung, Schlafplätze und ärztliche Versorgung zu sichern . Gleich danach, meine Damen und Herren, sind es
aber auch die kulturellen und pädagogischen Angebote,
die für die oftmals traumatisierten Menschen eine deutliche Hilfe sind .
Sie erleichtern den tristen Alltag und helfen, Traumata zu
überwinden . Lebhaft in Erinnerung bleiben später, wenn
Negatives aus dem Gedächtnis verschwindet, gerade die
kulturellen Angebote . Hier können wir mit relativ wenig
Einsatz viel bewirken . Sie, Frau Kollegin Roth, haben
das zu Recht deutlich angesprochen .
({2})
Sicherlich wird es neben der dringlichen Aufbau- und
Entwicklungshilfe gerade auch die AKBP sein, die als
eine der Ersten wieder nach Syrien zurückkehren wird,
wenn dieser grausame Konflikt beendet ist. Noch mehr
kann Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik bewirken,
wenn sie präventiv ansetzt und dazu beiträgt, dass Konflikte erst gar nicht entstehen.
Wenn im Zuge der Flüchtlingskrise in den vergangenen Wochen häufig die Rede davon war, dass die
Fluchtursachen bekämpft werden müssen, dann ist damit
zumindest begleitend auch die Auswärtige Kultur- und
Bildungspolitik gemeint . Am Beginn eines friedlichen
Miteinanders von Kulturen, von Religionen und von
Nationen steht das gegenseitige Verständnis . Ein solches
Verständnis kann nicht verordnet werden . Es entsteht
langsam und muss im gegenseitigen Dialog auf Augenhöhe erarbeitet werden .
Hier setzt der Schwerpunkt „Kooperation und Dialog“
der Auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik an . Jeder
Euro, den wir in die Prävention von Konflikten investieren, ist gut angelegtes Geld .
({3})
Je früher dieses Prinzip in den Bildungsbiografien
einer Gesellschaft ansetzt, desto besser . Deshalb fördert
die Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik den Kinderund Jugendaustausch gerade auch durch Begegnungen
an historischen Gedenkorten . Sie fördert darüber hinaus
über verschiedenste Stipendienprogramme unter anderem Schüler, Studierende, Wissenschaftler und Künstler .
Diese Investition in das kulturelle Verständnis und die
Toleranz der kommenden Generationen ist eine Investition in eine friedliche Zukunft .
Damit komme ich zum wichtigsten Kapital, das die
deutsche Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik zu bieten hat . Es sind die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der
Mittlerorganisationen, Entsandte, Lektoren, Redakteure,
Kulturmanager, Lehrer und andere . Sie, meine Damen
und Herren, setzen Tag für Tag das um, was die Ausschüsse, der Bundestag, das Auswärtige Amt und die anderen beteiligten Ministerien beschließen . Dafür sage ich
an dieser Stelle deutlich: Danke schön .
({4})
Eine Gruppe möchte ich besonders hervorheben,
nämlich unsere Auslandslehrkräfte . Das deutsche Auslandsschulwesen ist ein Flaggschiff der deutschen Auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik, was auch in dem
vorliegenden Bericht klar seinen Niederschlag findet.
Die deutschen Auslandslehrkräfte vermitteln unsere Werte in Regionen der Welt, in denen oftmals ein Mangel an
Chancengleichheit und Demokratie herrscht . Sie leisten
damit wertvolle Arbeit als Bildungs- und Wertebotschafter der Bundesrepublik Deutschland .
Sie vermitteln und fördern als primäre Aufgabe die
deutsche Sprache im Ausland . Die Vermittlung von
Deutsch als Fremdsprache schafft eine nachhaltige Bindung an Deutschland bei denen, die dann auch unsere
Sprache sprechen . Mindestens ebenso wichtig ist nach
meiner Überzeugung die Vermittlung von Deutsch als
Muttersprache dort, wo eine entsprechende Nachfrage
besteht . Muttersprachlicher Unterricht ist für im Ausland
lebende Deutsche und deren Kinder existenziell wichtig .
Die Sprache ist Teil ihrer Persönlichkeit und Identität .
Ohne entsprechende Angebote wären gerade diese in
allen Gebieten im Ausland, in denen deutsche Gemeinschaften leben, erheblich gefährdet .
Ich komme zurück auf die entsandten deutschen
Lehrer . Seit bald 15 Jahren sind deren Bezüge von der
Lohnentwicklung abgekoppelt . Der Unterausschuss für
Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik ist sich in weiten Teilen darüber einig, dass sich die Probleme bei der
Personalfindung für die deutschen Auslandsschulen erheblich verschärfen werden, wenn wir nicht bereits im
nächsten Haushalt deutlich gegensteuern .
({5})
Ich komme zum Ende . - Mir ist natürlich klar, dass
wir schon wegen der aktuellen Flüchtlingskrise vor großen Herausforderungen stehen . Trotzdem und gerade
wegen der vorher dargelegten Bedeutung und Wirkungsweise der Auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik wäre
ein nachlassendes Engagement auf diesem Gebiet fatal .
Ich werbe daher eindringlich um die Unterstützung des
gesamten Bundestages für diesen Bereich .
Danke .
({6})
Die Kollegin Doris Barnett hat für die SPD-Fraktion
das Wort .
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Es ist schön, zu sehen, dass der Unterausschuss Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik sich hier in weiten Teilen einig ist und wie eine Front steht . Das müssen wir als
Haushälter auch zur Kenntnis nehmen .
({0})
Aber auch bei uns - das wissen Sie - gibt es Grenzen .
Ich sage einmal ganz unumwunden: Diese Grenzen kann
praktisch nur der Bundesfinanzminister beseitigen. Wir
haben zwar alle ein Einsehen bezüglich der Forderungen,
die Sie stellen . Aber aus den Mitteln, die wir jetzt für die
humanitäre Hilfe zusätzlich bekommen, die Gelder für
die Schulen herauszuziehen, davor kann ich nur warnen .
In der Tat ist die Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik als unverzichtbarer Teil der Außenpolitik und damit
auch der friedenstiftenden Politik zu begreifen . Deswegen haben wir zu Beginn dieser Legislatur bei den Mitteln kräftig zugelegt, und zwar wir Abgeordnete zusammen mit dem Außenministerium .
Begonnen hat dies alles mit dem Review-Prozess im
Dezember 2013 . Daraus haben sich dann für die AKBP
Schwerpunkte herauskristallisiert . Ich nenne zum Beispiel - darauf wurde immer hingewiesen - die Zusammenarbeit mit der Zivilgesellschaft . Das gilt insbesondere für die Länder der Östlichen Partnerschaft . 82 Projekte
konnten gefördert werden . Wir konnten diesen Ländern
damit helfen, einen Neuanfang zu beginnen, insbesondere was den Kampf gegen die Korruption betrifft .
Das ist ein weiter Weg, den die Staaten gehen müssen .
Aber ich denke, dass die Mittel, die wir in den - so will
ich es einmal nennen - Ukraine-Topf hineingeben, gut
angelegtes Geld sind . Ich kann aus eigener Erfahrung ein
Beispiel nennen . In meiner Heimatstadt gibt es einen offenen Kanal . Ich habe die Verantwortlichen angeschubst
und gesagt: Helft doch mal mit! - Die haben ein Projekt
in der Ukraine auf den Weg gebracht . Jetzt entsteht in der
Ukraine ein Bürgerfernsehen, also ein Fernsehprogramm
gemacht von Bürgern für Bürger . Auch in Kaliningrad
gibt es Menschen, die dieses Projekt kopieren möchten .
Das ist die Arbeit, die wir uns wünschen . Dafür stellen
wir auch die nötigen Mittel bereit .
({1})
Wir haben gute Kulturmittler wie das Goethe-Institut,
die Alexander-von-Humboldt-Stiftung, den DAAD oder
das Deutsche Archäologische Institut . Es wurde schon
darauf hingewiesen: Es ist wichtig, dass DAAD und das
Deutsche Archäologische Institut vor Ort den Menschen
helfen, zu begreifen, was alles in ihrer Heimat zerstört
wird: Das ist ihre eigene Identität . An dieser Stelle müssen wir helfen . Wir sind dabei, die notwendigen Mittel
bereitzustellen .
Für mich ist ganz wichtig, dass wir dem Goethe-Institut zu altem Glanz, so will ich es sagen, verholfen haben .
In der letzten Legislaturperiode wurden dem Goethe-Institut einfach mal so 15 Millionen Euro genommen . Diese
Kürzung haben wir zurückgenommen . Das Goethe-Institut kann nun mit dem alten Ansatz wieder vernünftig arbeiten . Ich glaube, ich spreche auch im Namen des Kollegen Karl - ich sehe ihn im Augenblick nicht -, wenn
ich sage: Vor Ort in Windhuk konnten wir sehen, wie toll
das dortige Goethe-Zentrum angenommen wird . Wir haben mitgeholfen, dass es jetzt zu einem Institut ausgebaut
werden kann . Darauf sind wir als Haushälter natürlich
ein Stück weit stolz .
Ein anderes Beispiel . Wenn wir auf Auslandsreisen
sind, schauen wir uns immer die Schulen an . Im letzten
Jahr haben wir die deutschen Schulen in Washington und
in Accra, in Ghana, besucht . Natürlich gibt es schon allein
hinsichtlich der baulichen Substanz riesige Unterschiede .
Aber was immer wieder auffällt, ist, wie engagiert unsere
Lehrer sind und welcher Glanz in den Augen der Kinder
zu sehen ist, wenn man mit ihnen Deutsch spricht . Das
ist eine Bestätigung dafür, dass wir hier hervorragende
Arbeit leisten .
In Accra haben wir nicht nur etwas für die Bildung,
sondern auch etwas für die Wirtschaftsförderung getan .
Wir haben nämlich gesehen, wie schlecht dort die Stromversorgung ist . Als wir wieder zu Hause waren, haben
wir gesagt: Es wäre doch eine gute Idee, der deutschen
Schule in Accra Solarpaneele zu geben, damit der Strom
vor Ort erzeugt werden kann . Dann können auch die
Klassenzimmer gekühlt werden, sodass die armen Kinder nicht bei 40 Grad lernen müssen .
Das passiert jetzt gerade . Hier zeigen wir nicht nur, dass
wir ein wirtschaftsstarkes Land sind, sondern auch, wie
erneuerbare Energie erzeugt werden kann, und lernen sie
an . Sonne haben sie reichlich . Dieses Modellprojekt an
unserer Schule kann Schule machen . So kann man vieles
miteinander verbinden .
({2})
Ich bin froh, dass wir sowohl eine vernünftige Außenund Kulturpolitik als auch ein Stück weit Wirtschaftspolitik machen können . Ich möchte darum bitten - bei der
Auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik haben wir auch
eine Regierungsvertreterin an unserer Seite -, dass wir
unseren Finanzminister davon überzeugen, wie wichtig
unsere Auslandsschulen und unsere Lehrer dort sind .
Deswegen müssen wir für zusätzliches Geld trommeln .
Hier setze ich auf uns alle, damit es uns gelingt .
Vielen Dank .
({3})
Der Kollege Dr . Christoph Bergner hat für die CDU/
CSU-Fraktion das Wort .
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wer die Broschüre-Ausgabe des 18 . Berichts zur Auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik durchblättert,
findet sehr viele schöne, ansprechende und sympathieweckende Fotos . Diese angenehmen Bilder dürfen uns
allerdings nicht - das zeigt die bisherige Debatte - darüber hinwegtäuschen, dass sich die Auswärtige Kulturund Bildungspolitik im Moment in einer Welt bewähren
muss, die aus den Fugen geraten ist . Unsere Aufgabe als
Parlamentarier besteht ganz wesentlich darin, die Arbeit
der Mittlerorganisationen, die Arbeit unserer Auslandsvertretungen mit Kulturpartnern und anderen in den
Kontext der bestehenden Konflikte zu rücken und die Lösungsansätze, die dabei gefunden werden, zu unterstützen . Das ist eine Aufgabe, die aus meiner Sicht sehr viel
anspruchsvoller ist, als es auf den ersten Blick scheint .
Gelegentlich ist die politische Analyse leichter als die
Analyse der kulturellen und geistigen Hintergründe von
Konfliktsituationen.
Ich will deshalb an zwei aktuellen Stichworten versuchen, zu demonstrieren, was ich damit meine . Die
Stichworte sind: Ukraine-Krise und Flüchtlingsfrage Stichworte, die von Kolleginnen und Kollegen schon angesprochen wurden .
Wenn ich „Ukraine-Krise“ sage, meine ich sehr viel
mehr . Der 18 . Bericht betont zu Recht, Frau Tank, den
Schwerpunkt der Östlichen Partnerschaft in der Auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik; denn es geht um den
Wunsch der osteuropäischen und südkaukasischen Länder, besser: Gesellschaften, sich an europäischen Leitbildern zu orientieren - ein Wunsch, der in einen Kontrast,
einen Gegensatz zu den politischen Leitbildern Russlands
geraten ist . Es ist an dieser Stelle wichtig, sich klarzumachen, dass hinter den politischen Leitbildern Russlands
auch geistig-kulturelle Vorstellungen stehen . Ich erinnere
an die Schriften von Alexander Dugin, der die eurasische
Idee pflegt und dies mit einem derartigen Sendungsbewusstsein vertritt, dass die Wirkung bis zu Marine Le
Pen nach Frankreich reicht . Diese Dimensionen müssen
wir im Blick haben, wenn wir Östliche Partnerschaft mit
den Mitteln der Auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik
fördern und unterstützen wollen . Insofern ist es richtig,
dass die Kulturzusammenarbeit aus den Sanktionsmaßnahmen der EU ausdrücklich ausgenommen ist . Mit der
gemeinsamen Pflege von Strawinsky oder Puschkin bis
hin zu deutschen Autoren und deutscher Literatur schaffen wir gewissermaßen ein Gegengewicht zu trennenden
Ideologien und trennenden Ansätzen und sorgen dafür,
dass dieses Gegengewicht Raum erhält .
({0})
Es ist richtig, dass wir einen Sondertitel - er ist schon
erwähnt worden - zur Pflege zivilgesellschaftlicher Kontakte im Rahmen der Östlichen Partnerschaft haben .
Auch das ist ein ganz wertvolles Instrument . Wir haben
uns im Rahmen der Berichterstattung im Unterausschuss
darüber informieren lassen . Ich will aber darauf hinweisen, dass es Disparitäten gibt, die bei diesem Aufgabenfeld durchaus problematisch sind . 25 Jahre nach dem
Fall des Eisernen Vorhangs gibt es in der Auswärtigen
Kultur- und Bildungspolitik nach wie vor Disparitäten
zwischen Ost und West . Ich könnte mehrere Zahlen nennen, will aber beispielhaft nur die Zahl der Goethe-Institute nennen: Während es in Frankreich und Italien je
sieben Goethe-Institute gibt, gibt es in Polen zwei und
in der Tschechischen Republik nur ein Goethe-Institut .
Wenn wir die Zahl der ins Ausland entsandten Lehrer
miteinander vergleichen, kommen wir zu einer ähnlichen Betrachtung . Wenn wir uns also mit dem Thema der
Östlichen Partnerschaft in der Auswärtigen Kultur- und
Bildungspolitik befassen, das ich für außerordentlich
wichtig halte und das im 18 . Bericht auch ausdrücklich
hervorgehoben wird, dann müssen uns die bestehenden
Disparitäten beunruhigen .
Ich komme zum zweiten Punkt, der Flüchtlings- bzw .
Migrationskrise . Hierzu ist schon viel gesagt worden .
Ich fände es richtig, wenn es sich bestätigen sollte, dass
von den zusätzlichen Mitteln, die für Flüchtlinge zur
Verfügung gestellt werden, ein bestimmter Anteil für die
Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik reserviert wird .
Ich halte es für einen außerordentlich wichtigen Beitrag,
nicht allein bei den unmittelbaren, „harten“ humanitären
Maßnahmen anzusetzen, sondern durchaus auch Maßnahmen der Auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik
mit im Blick zu haben .
({1})
Die Flüchtlingslager sind schon angesprochen worden . Wir dürfen nicht zulassen, dass eine verlorene
Generation entsteht . Das zu verhindern, ist richtig und
sollte von uns unterstützt werden . Ich will aber in diesem Kontext auf einen anderen Punkt hinweisen, der mir
Sorge macht - ich erkenne hier ein Bewährungsfeld der
Auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik -: Wir wollen,
dass die Flüchtlingsaufnahme europäisch gelöst wird;
das heißt, wir wollen gemeinsame Verfahren und eine
faire Verteilung der Aufgenommenen . Wir kennen die
Probleme, auf die wir dabei gestoßen sind und die im
Moment durch Mehrheitsentscheidung im JI-Rat vorübergehend gelöst scheinen . Die Weigerung, Flüchtlinge
aufzunehmen, interpretieren wir im Moment mit einer
gewissen Berechtigung als einen Mangel an Solidarität . Aber ich glaube, sich allein darauf zu berufen, greift
zu kurz . Als Politiker im Bereich der Auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik sollten wir uns herausgefordert
fühlen, wenn der slowakische Innenminister sagt: „Die
Slowakei will keine Muslime aufnehmen“ und wenn der
ungarische Ministerpräsident sein Land in die historische
Tradition stellt, Bollwerk des christlichen Abendlandes
zu sein . Dies sind Sichtweisen, die eine gewisse nationale Prägung zum Ausdruck bringen . Wenn wir Auswärtige
Kultur- und Bildungspolitik ernst nehmen, dann müssen
wir die Herausforderung annehmen, in einen Dialog über
die Frage einzutreten, wie wir bei so unterschiedlichen
nationalen Prägungen gewissermaßen zu einem europäischen Gemeinwohlbegriff kommen können .
Ich glaube, der dogmatische Verweis auf die Grundwerte der Europäischen Union allein löst dieses Problem
nicht . Der Gedanke der Schaffung gemeinsamer kultureller Identitäten im vereinten Europa und unter den Mitgliedstaaten hat schon im Review-Prozess des Auswärtigen Amtes eine Rolle gespielt . Insofern wünsche ich mir
durchaus, dass wir auch hier, bei dieser Frage, Dialogformen und -möglichkeiten organisieren, die das Ganze
nicht allein zu einer Frage von Mehrheit oder Minderheit,
sondern zu einer Frage der kulturellen Verständigung
machen .
Herzlichen Dank .
({2})
Für die SPD-Fraktion hat der Kollege Martin Rabanus
das Wort .
({0})
Vielen Dank . - Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich finde, wir hatten bisher eine richtig gute Debatte;
denn sie belegt, dass es im ganzen Hause sehr viel Übereinstimmung hinsichtlich der Bedeutung der Auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik gibt, und sie hat noch
einmal klargestellt: Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik ist kein Sahnehäubchen - wie Frau Kollegin Roth
das gesagt hat -, sondern sie ist eine tragende Säule der
deutschen Außenpolitik .
({0})
Das möchte auch ich als Bildungspolitiker und als Mitglied des Ausschusses für Bildung und Forschung unterstreichen .
Es ist auch deutlich geworden, welche wichtigen
Funktionen die Mittlerorganisationen wahrnehmen, dass
sie zum Teil unter schwierigsten Bedingungen Menschen
zusammenbringen, auch zusammenhalten, getreu dem
Motto „Wer miteinander spricht, wird gegeneinander
weniger gewalttätig“ . Deswegen gebührt denjenigen, die
diese Arbeit leisten, unser aller Dank; Herr Dr . Fabritius
hat auch schon dafür gedankt .
({1})
Es gibt natürlich auch noch einiges zu besorgen . Für
den Bereich der deutschen Auslandsschulen ist das bereits angedeutet worden . Daher muss ich nicht das wiederholen, was Frau Kollegin Schmidt gesagt hat und was
Sie, Frau Staatsministerin Böhmer, bestätigt haben . Ich
ahne, dass der Kollege Feist nachher noch etwas dazu
beiträgt,
({2})
nämlich was die Stärkung der beruflichen Bildung an den
deutschen Auslandsschulen angeht .
({3})
Wir sind da ja auch ganz einer Meinung . Wir diskutieren
das in Bildungszusammenhängen immer wieder. Das finde ich auch richtig und wichtig .
Ich will ein weiteres Stichwort nennen, über das wir
noch nicht gesprochen haben: Das ist die Außenwissenschaftspolitik .
({4})
Wir als Bundesrepublik Deutschland, liebe Kollegin De
Ridder, haben einiges dazu beizutragen, wenn ich an die
Fachhochschulen und die anwendungsorientierten Hochschuleinrichtungen denke .
Zurück zu dem, was wir aktuell leisten . Der Studierendenaustausch und der Wissenschaftleraustausch sind
angesprochen worden . Im Bereich des Bundesbildungsministeriums stellen wir dafür - über den dicken Daumen
gepeilt - 140 Millionen Euro bereit . Liebe Frau Kollegin
Roth, ich würde mich Ihrer Forderung, dass wir mit dem
Herrn Finanzminister auch noch einmal über den Bildungshaushalt sprechen, gerne anschließen wollen .
({5})
Auch da hätten wir noch ein paar Dinge zu besorgen, um
bereits begonnene, aber auch sinnvolle weitere Projekte
anschieben zu können - das aber nur als Fußnote -, das
betrifft insbesondere den DAAD .
Wir lassen uns die Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik relativ viel kosten, um das Bild Deutschlands in
der Welt positiv zu prägen . Die Welt hat ja auch ein tolles
Bild von Deutschland . Das merken wir an unserer aktuellen Beliebtheit bei den Flüchtlingen . Ich will es einmal
so herum sagen: Wir dürfen durchaus stolz darauf sein,
dass alle der Auffassung sind: In Deutschland kann man
ein gutes Leben führen . - Das ist nicht zu beklagen . Vielmehr ist die Frage, wie wir produktiv damit umgehen .
Und es ist bereits angedeutet worden: Unsere Mittlerorganisationen sind nicht nur im Ausland gut, sie sind auch
im Inland gut .
Die Vorschläge des Goethe-Institutes sind angesprochen worden . Auch der DAAD hat Vorschläge entwickelt, wie man diese Kompetenz im Inland einsetzen
kann. Ich finde tatsächlich - Frau Müntefering hat es
angesprochen -, dass wir die Frage der Onlineplattformen, der MOOCs, die sehr schnell eine große Reichweite
haben können, sehr ernst nehmen müssen . Es gibt viele
Hochschulen, die entsprechende Angebote machen . Wir
haben Partner, die sie in die Fläche bringen können . Das
wird nicht zum Nulltarif zu machen sein . Umso wichtiger
ist, dass wir hier etwas tun .
({6})
Lassen Sie mich zum Abschluss noch ein konkretes
Beispiel nennen, wie es aussehen kann, wenn sich Startups dieses Themas annehmen . Die Kiron University in
Berlin - der eine oder andere wird das in den Medien
verfolgt haben - ist ein Start-up, das eine Hochschule speziell für Flüchtlinge gegründet hat . In den ersten
zwei Jahren tritt sie ausschließlich mit Onlineangeboten an Flüchtlinge heran . Im dritten Jahr möchte sie mit
Partneruniversitäten arbeiten . Das soll zu einem Bachelorabschluss führen . Das ist eine ganz großartige Sache .
Ich finde, dass wir solche Initiativen unterstützen sollen, können und müssen . Ich werde das später an Herrn
Rachel vom BMBF weitergeben, weil ich glaube, dass
so mit relativ wenigen Mitteln sehr viel geholfen werden
kann, sodass viele Menschen hier möglichst optimale
Bildungsangebote bekommen und Ressourcen nicht verschwendet, sondern für unser Land erschlossen werden .
(Beifall der Abg . Ulla Schmidt ({7})
[SPD] und Claudia Roth ({8}) [BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN])
Dann können wir mit Recht sagen: Wir schaffen das .
Danke schön .
({9})
Der Kollege Dr . Thomas Feist hat für die CDU/
CSU-Fraktion das Wort .
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich habe mir bei den vorherigen Reden einmal
die Zeit genommen, auf die Tribünen zu schauen .
({0})
- Doch, ich kann gleichzeitig hören und schauen . Wenn
Sie das nicht können, müssen Sie es einmal trainieren .
({1})
Der Kollege Gysi kann das auch . Schauen Sie es sich
einmal ab von ihm! - Ich habe die Konzentration in den
Gesichtern der jungen Menschen gesehen - ich würde es
zumindest freundlicherweise als Konzentration interpretieren -, wenn von Auswärtiger Kultur- und Bildungspolitik gesprochen wurde . Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik, was für ein sperriger Ausdruck! Ich weiß
nicht, wie es Ihnen geht: Bei mir im Wahlkreis muss ich
jedes Mal erklären, was das ist . Da Plenarsitzungen sozusagen das Schaufenster des Parlaments sind, würde ich
das auch an dieser Stelle gerne einmal versuchen: Die
Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik ist gewissermaßen der sichtbare Teil der Außenpolitik . Während Diplomaten meistens hinter verschlossenen Türen agieren und
später mit irgendeinem Ergebnis herauskommen, werden
die Ergebnisse in der Auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik sichtbar gemacht .
Da wir am Vortag des 25 . Jahrestages der deutschen
Einheit sind, möchte ich das gern einmal aus einer persönlichen Sichtweise heraus illustrieren . Ich habe mein
halbes Leben in einem Land verbracht, das es nicht mehr
gibt . Es hieß Deutsche Demokratische Republik oder,
wie Erich Honecker immer nuschelnd gesagt hat, „Deutsche Kratische Plick“ .
({2})
In diesem Land hatten wir zwar Westfernsehen - ich bin
in Leipzig groß geworden, nicht im Tal der Ahnungslosen - und konnten uns informieren; natürlich wurden
wir über den schwarzen Kanal von Karl-Eduard von
Schnitzler, bei uns liebevoll „Sudel-Ede“ genannt, auch
immer informiert, wie schrecklich „da drüben“ alles ist .
Aber wirklich interessant war, was sich mit Kultur verbunden hat; denn Kultur spricht jeden Menschen an . Sie
spricht die Sinne an, die Vernunft und die Emotionen .
Genau dafür bieten wir Orte an, beispielsweise mit den
weltweit vorhandenen Goethe-Instituten, aber auch mit
anderen Einrichtungen . Dadurch erreichen wir nicht nur
den Verstand, sondern auch die Herzen der Menschen .
Deswegen ist Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik
eine gute Art der Politik .
({3})
Es gab und gibt zum Glück noch heute in Leipzig das
Polnische Informations- und Kulturzentrum . Nun kann
man sich über Polen auch über Bücher informieren; das
machen viele sicher auch . Sie lesen und schauen im Internet - das hatten wir damals noch nicht -, was da so
los ist . In diesem Informations- und Kulturzentrum gab
es genau das, was mich als jungen Menschen damals interessiert hat, zum Beispiel Musik von Czeslaw Niemen,
elektronische Musik oder die sogenannten Lizenzplatten
von den Sex Pistols .
({4})
- Ja, kennst du die noch, Michaela? Super Musik! - Darüber hinaus gab es - das organisieren auch unsere Goethe-Institute - Veranstaltungen . Die Veranstaltungen,
die das Polnische Informations- und Kulturzentrum
durchgeführt hat - das waren meistens irgendwelche wilden Free-Jazz-Konzerte, was vielleicht nicht jedermanns
Musik ist -, boten die Möglichkeit, mit Menschen aus
anderen Ländern zusammenzukommen, mit Künstlern,
mit Kreativen, mit Verrückten . Das war eine tolle Sache .
Deswegen ist das, was wir hier machen, wirklich gut .
({5})
- Claudia, ich habe die Toten Hosen nicht erwähnt . Ton
Steine Scherben sind auch gut gewesen .
Außerdem gab es zu DDR-Zeiten gar nicht weit von
hier, Unter den Linden, ein französisches Kulturzentrum,
gar nicht weit weg von der Berliner Mauer . Ich hatte damals als zweite Fremdsprache - Russisch war ja für alle
als erste Fremdsprache verpflichtend - nicht Englisch,
sondern Französisch gewählt .
({6})
Nun, mit wem konnte man in der DDR Französisch sprechen? Mit niemandem! Deswegen war es unheimlich
wichtig, dass es hier in Berlin ein französisches Kulturzentrum gab, wo es Bücher gab, wo man sich auch einmal eine Schallplatte kaufen konnte . Das war sozusagen
unser Blick in die Welt, und zwar ein Blick, der nicht von
irgendwelchen Klischees geprägt war; der war echt .
Es ist daher wichtig, dass wir mit den Goethe-Instituten weltweit Möglichkeiten für einen solchen Blick in
die Welt schaffen . Ich gebe dem Kollegen Bergner recht:
Wir müssen schauen, wie man das in Zukunft noch ein
bisschen ausgeglichener gestalten kann .
({7})
Aber etwas Gewachsenes abzusägen, ist sehr schwierig;
das muss man schon sagen . - Für Menschen die Möglichkeit zu schaffen, sich auszutauschen, das ist eine tolle
Sache, und das ist Außenpolitik . So verstehe ich die Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik . Sie ist Außenpolitik
nah am Menschen .
({8})
Es ist außenpolitisch wichtig, wenn Menschen mit klangvollen Namen von A nach B reisen, sich tief in die Augen
schauen und sich die Hände schütteln . Das ist alles gut;
ich habe nichts dagegen . „Nah am Menschen“ heißt aber,
dass wir jungen Menschen die Möglichkeit geben, in
diese Begegnungen einzusteigen; denn die jungen Menschen von heute sind diejenigen, die morgen oder übermorgen Verantwortung übernehmen müssen . - Gemeint
seid auch ihr auf der Tribüne .
Wir haben einen Antrag vorgelegt, in dem es darum
geht, im Bereich der Auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik den Jugendaustausch zu verstärken. Ich finde, das
ist eine gute und sinnvolle Sache . Leider gibt es verschiedene Stellungnahmen von Kulturorganisationen, die das
gar nicht gut finden. Sie sagen: Wieso? Jetzt wollt ihr uns
vorschreiben, was wir machen sollen, in welche Richtung wir gehen sollen? - Dazu kann ich nur sagen: Liebe
Kulturorganisationen, fragt, bevor ihr das nächste Mal
eine solche Kritik äußert, vorher die Menschen, die diesen Antrag geschrieben haben, die sich damit beschäftigt
haben . Natürlich haben wir das Feld der freien Jugendarbeit und des Jugendaustausches, wo eigene Ideen einfließen können . Dafür ist aber ein anderes Ministerium zuständig . Bei uns geht es darum, mehr jungen Menschen
im Bereich der auswärtigen Politik die Möglichkeit zu
geben, an diesem Austausch teilzunehmen, und zwar bezogen auf die Schwerpunkte, die wir gesetzt haben . Die
Östliche Partnerschaft ist angesprochen worden; aber es
gibt auch andere . Die jungen Menschen sollen verstärkt
die Möglichkeit erhalten, durch Partizipation, durch eigenes Erfahren zu lernen, wie wichtig das ist . Warum ist
das wichtig? Jetzt komme ich noch einmal ganz kurz auf
die Bücher zurück: Aus Büchern kann man viel über ein
Land lernen - mittlerweile kann man sich auch im Internet informieren ; aber die Begegnung von Menschen
kann durch Bücher nicht ersetzt werden . Genau diese
Begegnung von Menschen ermöglichen wir durch den
Jugendaustausch im Rahmen der Auswärtigen Kulturund Bildungspolitik . Deswegen ist es richtig, dass wir als
Parlament diesen Titel aufstocken wollen . Ich bitte alle
herzlich dabei um Unterstützung .
({9})
- Es ist immer schwer, Beifall zu spenden, wenn der
Redner keine Pause macht . Ich verstehe das; aber so ist
das nun einmal, wenn es einen mitreißt . Frau Kollegin
Schmidt, Sie wissen ja selber, wie das ist .
Ich möchte auf die deutschen Auslandsschulen zurückkommen, um deutlich zu sagen, wie wichtig sie sind .
Die deutschen Auslandsschulen sind mitnichten Schulen,
die exklusiv die Beschulung von Deutschen im Ausland
übernehmen, sondern sie sind offen für junge Menschen
aus diesen Ländern . Deswegen ist es wichtig, dass wir
diese deutschen Schulen in Zukunft besser ausstatten .
({10})
Wichtig ist auch, dass die Lehrer - über sie ist schon
mehrfach gesprochen worden - so vergütet werden, dass
sie es attraktiv finden, im Ausland zu unterrichten. Die
Lehrer bleiben ja nicht immer dort . Sie kommen zurück .
Angesichts der Entwicklungen in Europa und in unserem
Land sind das genau die Lehrkräfte, die wir brauchen .
Sie haben einen breiten interkulturellen, interreligiösen
Hintergrund und können deswegen eine bessere Beschulung von Kindern und Jugendlichen hier vor Ort ermöglichen . Deswegen ist es wichtig, dass wir in diesem Bereich tätig sind .
Frau Präsidentin, mit Verlaub, an dieser Stelle möchte
ich gerne unserer Staatsministerin danken: Ich finde Ihr
Engagement sehr gut . Es gab schon andere Staatsministerinnen, die sich nicht so engagiert eingesetzt haben . Mit
Ihnen wissen wir eine verlässliche Partnerin an unserer
Seite . Bitte richten Sie das auch dem Außenminister aus .
Wir kämpfen für die Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik . Wenn Sie das im Ministerium auch machen, kann
gar nichts schiefgehen .
Vielen Dank .
({11})
Ich schließe die Aussprache .
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 18/5057 und 18/579 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen .
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall . Dann
sind die Überweisungen so beschlossen .
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 19 a und 19 b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Roland
Claus, Dr . Gregor Gysi, Matthias W . Birkwald,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Ungerechtigkeiten bei Mütterrente in Ostdeutschland und beim Übergangszuschlag
beheben
Drucksache 18/4972
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({0})
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
({1}) zu dem Antrag der Abgeordneten Roland Claus, Dr . Gregor Gysi, Matthias W .
Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Spezifische Altersarmut Ost durch Korrektur
der Rentenüberleitung beheben
Drucksachen 18/1644, 18/5290
Über die Beschlussempfehlung werden wir später namentlich abstimmen .
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen . - Ich höre keinen Widerspruch . Dann ist so beschlossen .
Ich eröffne die Aussprache . Das Wort hat der Kollege
Dr . Dietmar Bartsch für die Fraktion Die Linke .
({2})
Frau Präsidentin! Ich freue mich, dass Sie bei diesem
Tagesordnungspunkt präsidieren . Meine Damen und
Herren! Wir hatten heute früh eine sehr umfangreiche
und intensive Debatte zur deutschen Einheit . Bei allen
Rednerinnen und Rednern ist deutlich geworden, dass
die Menschen - trotz mancher Defizite - auf das stolz
sein können, was wir in den 25 Jahren erreicht haben,
und zwar die Menschen in Ost und West .
({0})
Aber eines bleibt: Bei der Rente haben wir weiterhin
ganz große Defizite. Wir als Linke haben heute, ein Vierteljahrhundert nach Herstellung der deutschen Einheit,
diese Debatte beantragt, um am Tag vor diesem Jubiläum ein Zeichen zu setzen, ein Zeichen für mehr soziale
Gerechtigkeit . Deswegen lassen wir im Übrigen auch
namentlich abstimmen . Ich hoffe, dass insbesondere die
ostdeutschen Abgeordneten, die häufig in Wahlkämpfen
sagen, dass sie sich dafür einsetzen werden, diese Gelegenheit nutzen und heute so abstimmen, wie sie es ihren
Wählerinnen und Wählern versprochen haben .
({1})
Die Mehrheit des Hauses muss heute einfach nur den
Anträgen der Linken zustimmen und die Bundesregierung beauftragen, die Ungerechtigkeiten bei der Rentenüberleitung und bei der Mütterrente zu beenden . Hier
spricht ein Haushälter zu Ihnen . Daher möge niemand
mit dem Argument kommen, das sei nicht zu bezahlen . Ich könnte Ihnen jetzt ganz viele Beispiele nennen,
die zeigen, für welche Bereiche wir in letzter Zeit sehr
schnell sehr große Summen beschlossen haben . Wenn
wir das beschließen würden, hätten Tausend Ältere in
unserem Land morgen noch einen Grund mehr, zu feiern .
({2})
Es bleibt: Die fehlende Angleichung der Renten ist
zum Symbol der Rechtsungleichheit Ost/West geworden .
Die Beseitigung der Rentenungerechtigkeit wäre ein
wichtiger Beitrag zur deutschen Einheit .
({3})
Ich will daran erinnern, dass Frau Merkel auf dem Seniorentag im Juni 2009 gesagt hat:
Ich stehe dazu, dass wir eine solche Angleichung
von Ost und West brauchen . Ich würde . . . sagen,
dass das Thema in den ersten beiden Jahren der
nächsten Legislaturperiode erledigt sein wird .
Das wäre 2011 gewesen . Wir schreiben inzwischen das
Jahr 2015 . Jetzt sagen Sie, es solle eventuell bis 2019
geschehen . Das wäre wieder die nächste Legislaturperiode . Das glaubt Ihnen niemand . Den Ankündigungen
der Kanzlerin müssen endlich Taten folgen . Heute ist die
Gelegenheit dazu .
({4})
Die Überleitung der Alterssicherungssysteme der
DDR in bundesdeutsches Recht Anfang der 90er-Jahre
war zweifelsfrei eine sehr komplexe Herausforderung .
Ich will auch deutlich sagen, dass vieles dabei gelungen
ist . Vieles ist, Gott sei Dank, auch erkämpft worden . Aber
es ist nicht alles gut . Viele Menschen aus der DDR haben
nach der Herstellung der staatlichen Einheit Rentengerechtigkeit leider nicht mehr erlebt . Die Beendigung aller
Diskriminierung und Regelungen, die die Lebensleistung
aus DDR-Zeiten nicht anerkennen, wäre für viele Ältere
finanziell wichtig; dies wäre soziale Gerechtigkeit. Ich
will Ihnen drei Beispiele nennen .
Erstens: die Mütterrente . Es gibt unterschiedliche
Rentenentgeltpunkte Ost und West und damit Kinder
erster und zweiter Klasse . Das gilt nicht nur für Kinder,
die in der DDR geboren sind, sondern auch für Kinder,
die nach der Wende auf dem Territorium der ehemaligen DDR geboren sind . Es ist so, dass ein Kind, das im
Jahre 1991 in Stuttgart geboren wurde, für die Mutter
29,21 Euro wert ist, ein Kind, das in Schwerin geboren
wurde, allerdings nur 27,05 Euro . Ja, geht‘s noch? Das
ist doch völlig inakzeptabel .
({5})
Wie kann man akzeptieren, dass Kinder unterschiedlich
viel wert sind, meine Damen und Herren von der GroVizepräsidentin Petra Pau
ßen Koalition? Das ist neues Unrecht, das Sie geschaffen
haben .
Ein zweiter Punkt: die Überführungslücken für viele
Beschäftigungsgruppen . Ich will die in der Braunkohleveredelung Beschäftigten - wahrhaftig nicht „staatsnah“ - nennen . Es leben noch 400 Betroffene, deren
Rentenansprüche nicht anerkannt werden . Das ist weder
sozial noch gerecht . Das ist einfach kleinkariert . Es geht
in der Braunkohleveredelung um 400 Menschen . Das
muss doch zu machen sein!
({6})
Es gibt übrigens weitere Berufsgruppen, für die dasselbe
gilt .
Ich will ein drittes Problem nennen: die aus der DDR
Geflüchteten, Abgeschobenen und Ausgereisten. Einer
der Betroffenen, Gundhardt Lässig, sitzt heute Mittag auf
der Tribüne . Wir haben damals, vor der Wende, so manchen Abend zusammen verbracht, auch viele Tage im
schönen Prerow, wo wir manchmal zusammen am Strand
gestanden haben . Er hat, als er damals gegangen ist, wie
viele andere auch den „Wegweiser“ des Bundesministeriums des Innern für Flüchtlinge und Übersiedler aus der
DDR bekommen, in dem es heißt:
Flüchtlinge und Übersiedler aus der DDR oder
Berlin ({7}) werden in der gesetzlichen Rentenversicherung grundsätzlich so behandelt, als ob sie
ihr gesamtes Arbeitsleben in der Bundesrepublik
Deutschland zurückgelegt hätten .
Für sie galt das sogenannte Fremdrentengesetz . Durch
eine kleine Gesetzesänderung im Jahre 1993 - kaum
beachtet - wurde diese Regelung abgeschafft . Für die
DDR-Arbeitszeiten werden sie seitdem rentenrechtlich
wieder behandelt wie ehemalige DDR-Bürger . Für ihn,
für Gundhardt, sind das 500 Euro Monatsrente weniger .
Jeden Monat! Das ist völlig inakzeptabel . Betroffen sind
200 000 Einzelpersonen . Ändern Sie das! Ändern Sie das
wenigstens für diese Personengruppe!
({8})
Es ist im Übrigen egal, was das Bundesverfassungsgericht dazu ausführt . Es urteilt darüber, ob eine Regelung
gegen das Grundgesetz verstößt . Hier geht es aber um
eine soziale Frage . Diese Regelung ist nicht sozial gerecht,
({9})
zumal für diejenigen, die in die Schweiz gegangen sind,
etwas anderes gilt . Für diejenigen, die in der Schweiz leben, gilt die alte Regelung weiterhin . Das ist doch völlig
inakzeptabel . Nehmen Sie sich ein Beispiel daran!
({10})
Meine Damen und Herren, 25 Jahre deutsche Einheit,
das ist eine gute Gelegenheit, Bestrafungen von ehemaligen DDR-Bürgern und von Bundesbürgern, die auf dem
Gebiet der ehemaligen DDR gelebt haben, zu beenden .
Sie haben eine ganz einfache Möglichkeit: Stimmen Sie
mit der blauen, nein, roten, Stimmkarte ab! Dann tun Sie
am Vortag der Feierlichkeiten zu 25 Jahren deutscher
Einheit ein sehr gutes Werk .
Herzlichen Dank .
({11})
Die Kollegin Jana Schimke hat für die CDU/
CSU-Fraktion das Wort .
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir haben heute Morgen eine sehr interessante, sehr aufschlussreiche Debatte geführt, weil wir morgen unseren Nationalfeiertag begehen und 25 Jahre deutsche Einheit feiern .
Diese Debatte hat vor allem eines deutlich gemacht: Sie
hat nicht das gezeigt, was Kollege Bartsch gerade dargestellt hat - wo Unterschiede bestehen -, sondern sie
hat gezeigt, wo wir einig geworden sind, wie weit wir
letztendlich vorangekommen sind .
({0})
Das Projekt „Deutsche Einheit“ zielt darauf ab, Einheit
zu schaffen . Wenn man zwei unterschiedliche Staaten
zusammenführt, dann ist es schlichtweg nicht möglich,
dafür zu sorgen, dass sich wirklich jeder Einzelne bis ins
letzte Detail mit all seinen Interessen wiederfindet.
({1})
Es geht darum, eine gesamte Gesellschaft zusammenzuführen . Wir erleben das bei unserer Arbeit täglich, wenn
wir mit Bürgerinitiativen oder mit größeren Gruppen von
Menschen sprechen: Es ist nie möglich, für alle immer
das Bestmögliche zu erreichen . Letztendlich kommt es in
einer Demokratie aber darauf an, dass sich die Mehrheit
wiederfindet und dieses System akzeptiert. Ich glaube, da
sind wir nach 25 Jahren sehr weit gekommen .
({2})
Ich habe es schon einmal gesagt: Die Wiedervereinigung war ein gesamtgesellschaftlicher Kraftakt - das
muss man so deutlich sagen -, auf den ganz Deutschland,
auf den wir alle sehr stolz sein können . Wir können insbesondere auf die politische und die soziale Einheit stolz
sein, die von den Kollegen der Linken immer wieder in
Zweifel gezogen und abgelehnt wird .
({3})
Gerade im Bereich der sozialen Einheit sind wir sehr
weit vorangekommen; das gilt es auch anzuerkennen .
({4})
Meine Damen und Herren, eine der wichtigsten sozialpolitischen Entscheidungen der deutschen Einheit war
das Renten-Überleitungsgesetz . Es steht für eine großartige Leistung aller Versicherten .
({5})
Letztendlich kam es ja darauf an, zwei unterschiedlich
aufgebaute und finanzierte Sozialsysteme miteinander in
Einklang zu bringen, und das vor dem Hintergrund einer
heruntergewirtschafteten DDr . Wer glaubt denn ernsthaft, dass solch ein Prozess ohne Nachteile für den einen
oder anderen vonstattengeht? Es war und ist schlichtweg nicht möglich, alle Härte- und Einzelfälle sowie
die damals entstandenen Ansprüche des einen Systems
abzubilden . Ganz ehrlich: Bei der Frage, wie wir unser
Rentenrecht ausgestalten, kam es eben nicht darauf an,
ob jemand „staatsnah“ war . Das sehen wir gerade auch
bei der Vielzahl an Gruppen, die heute mitunter noch ihr
Recht einklagen . Es ging um die gesamte Gesellschaft
und nicht darum, was jemand geleistet oder auch nicht
geleistet hat .
Dennoch ist es nachvollziehbar, dass sich Betroffene
durch entsprechende Regelungen benachteiligt fühlen;
das gebe ich durchaus zu . So nehmen wir zum Beispiel
das Anliegen der DDR-Flüchtlinge sehr ernst .
({6})
Wir alle wissen, dass diese Menschen sehr viel gewagt
und auch aufgegeben haben . Aber das Fremdrentengesetz galt als Ausnahmetatbestand und war ausweislich
der Gesetzesbegründung von Beginn an nur als Übergangslösung vorgesehen . Auch das gehört zur Wahrheit,
und auch das muss gesagt werden . Sie werden dadurch
nicht zu Bürgern der DDR gemacht, wie es oftmals von
der Linken behauptet wird .
({7})
Was geschieht, ist lediglich, dass man bei der Rentenberechnung an Sachverhalte aus DDR-Zeiten anknüpft .
Aber sie werden nicht zu Bürgern der DDR gemacht,
meine Damen und Herren .
({8})
Auch bei den in der DDR Geschiedenen ist die Lage
eindeutig . Man muss wissen, dass das Recht in der DDR
im Scheidungsfall keinen Versorgungsausgleich kannte .
Deshalb wurde er auch mit dem Renten-Überleitungsgesetz nicht nachträglich eingeführt .
Kollegin Schimke, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung des Kollegen Matthias W . Birkwald?
Gerne . - Herr Birkwald .
Vielen Dank, Frau Kollegin, dass Sie die Zwischenfrage zulassen . - Sie haben gesagt, die soziale Einheit sei
sehr weit gediehen und wir Linken würden das nicht anerkennen . Dazu möchte ich zunächst einmal sagen, dass
wir gerade, was die Rentnerinnen und Rentner angeht,
sehr wohl anerkennen, was mit der Überleitung geleistet
worden ist, dass es für viele Rentnerinnen und Rentner
deutliche Verbesserungen gegeben hat . Das erkennen wir
ausdrücklich an . Aber wir kritisieren die Lücken und die
Ungerechtigkeiten, die es in diesem Prozess in der Vergangenheit gegeben hat und die es heute noch gibt, und
das machen wir ebenso deutlich .
Eben haben Sie von denen gesprochen, die aus der
DDR - in der Regel aus guten Gründen - geflohen sind
und heute, wie Kollege Bartsch vorhin ausgeführt hat,
zum Teil 500 Euro Rente im Monat weniger bekommen .
Nur für alle Menschen, die bis 1936 geboren wurden, gab
es einen entsprechenden Schutz . Wer nach 1936 geboren
wurde und aus der DDR in die Bundesrepublik geflohen ist, dem wurde zugesichert: Du bekommst dieselbe
Rente, als wenn du hier immer als Ingenieur, Krankenschwester oder Lehrerin gearbeitet hättest . - Das ist aber
nicht der Fall . Diese Betroffenen sagen selbst: Wir werden nachträglich wieder zu DDR-Bürgerinnen und -Bürgern gemacht, zu Bürgern des Staates, aus dem wir geflohen sind. - Ich bitte Sie, das zur Kenntnis zu nehmen.
({0})
Ich habe noch eine andere Frage . Wir haben am
12 . Juni 2015 einen Beschluss des Bundesrates auf den
Tisch bekommen, in dem der Bundesrat die Bundesregierung auffordert, mit den Vorbereitungen zur Vereinheitlichung der Rentenwerte nicht erst 2016, sondern
umgehend zu beginnen . In der Stellungnahme der Bundesregierung dazu heißt es: Nö, das haben wir gar nicht
nötig . - Die Zeitung Die Welt wiederum schrieb am
21 . September, dass es einen gemeinsamen Antrag
({1})
der Koalition gibt - Sie haben gerade auf die Debatte von
heute Morgen Bezug genommen -, worin steht, dass die
Bundesregierung sofort mit der Teilangleichung beginnen soll .
({2})
Ich habe es in der Drucksache nachgelesen: Der Satz
steht nicht mehr drin . Bitte erklären Sie uns, warum Sie
die Ostrentnerinnen und Ostrentner im Regen stehen lassen und sie auf 2019 vertrösten . Alle Erfahrung sagt uns:
Das wird wieder nichts .
Kollege Birkwald .
Die Kanzlerin hat es vor zehn Jahren versprochen .
Herzlichen Dank .
({0})
Sie hatten die Chance, zu wählen, ob Sie eine Frage
stellen oder eine Bemerkung machen . Aber Sie sollten
das dann auch deutlich machen .
Herr Birkwald, vielen Dank für Ihre Anmerkungen,
die ich selbstverständlich zur Kenntnis genommen habe .
Was wir in Bezug auf die Angleichung der Renten im
Jahr 2016 tun, ist, uns an den Koalitionsvertrag zu halten .
({0})
So ist es auch in unserem Antrag, den wir heute Morgen
beraten haben, festgehalten . Wir werden uns im kommenden Jahr mit diesem Thema auseinandersetzen .
({1})
Meine Damen und Herren, ich war in meinen Ausführungen bei den in der DDR Geschiedenen stehen geblieben . Zur Erinnerung: Der Versorgungsausgleich wurde
in der alten Bundesrepublik 1977 eingeführt . Die Gesetzgeber haben sich damals darauf verständigt, dass der
Versorgungsausgleich nur für Ehen gilt, die ab diesem
Zeitpunkt geschieden wurden . Somit können auch die
in Westdeutschland vor diesem Stichtag geschiedenen
Ehepartner nicht von der Regelung des Versorgungsausgleichs profitieren.
Auch die Mütterrente ist heute wieder Gegenstand
unserer parlamentarischen Debatte . Ja, es stimmt, dass
eine Rentnerin im Osten 27 Euro und im Westen 29 Euro
Mütterrente pro Kind erhält, und ja, wir wissen, dass dies
ein Unterschied ist, der uns perspektivisch nicht zufriedenstellen kann . Aber wir haben bei der Einführung der
Mütterrente nichts anderes gemacht - das adressiere ich
gerade auch an die Linke, die uns immer wieder mit diesen Fragen konfrontiert -, als uns schlichtweg an geltendes Recht zu halten .
({2})
Wir haben geltendes Recht eingehalten und angewandt .
Natürlich würden wir uns auch wünschen, dass Ost
und West 25 Jahre nach der Wiedervereinigung keine
Unterschiede mehr aufweisen . Aber wirtschaftlicher
Aufschwung und Wachstum - damit hängt die Rentenpolitik nun einmal zusammen - können nicht politisch
verordnet werden; ich habe Verständnis dafür, dass man
das gerade den Linken immer wieder erklären muss . Wir
haben uns doch etwas dabei gedacht, als wir nach der
Wiedervereinigung den Hochwertungsfaktor in der Rente eingeführt haben . Auch er ist an die jährliche Lohnentwicklung und damit an die wirtschaftlichen Gegebenheiten unseres Landes angepasst . Der Rentenwert ist nichts
anderes als Ausdruck dessen, wo wir momentan stehen,
und ich bin davon überzeugt - das ist heute schon in vielen Reden der Kollegen deutlich geworden -: Wir stehen
nicht schlecht da . Im Gegenteil: Wir stehen gut da .
({3})
Wir haben seit der Wiedervereinigung bei der Angleichung der Renten große Fortschritte erzielt . Seit der Wiedervereinigung stiegen die Renten in den neuen Bundesländern um deutlich mehr als 100 Prozent . In den alten
Bundesländern hingegen betrug der Anstieg nur 25 Prozent . Der Rentenwert Ost beträgt heute mehr als 92 Prozent, und er steigt jährlich. Wir können uns trefflich darüber streiten, ob das Glas halb voll oder halb leer ist . Ich
glaube, es ist ersichtlich, dass wir ein großes Stück vorangekommen sind, und absehbar, dass wir jährlich weiter
vorankommen . Das sage ich auch den Bürgerinnen und
Bürgern in meinem Wahlkreis immer wieder, und das ist
sehr einleuchtend .
({4})
Ich kann auch keine spezifische Altersarmut Ost erkennen, von der Sie immer wieder sprechen, Kollegen
der Linken . Nur 2,1 Prozent der Menschen in den neuen Bundesländern beziehen Grundsicherung im Alter . In
den alten Bundesländern sind es 3,2 Prozent . Auch im
Osten gehen die Menschen heute früher in Rente, trotz
Abschlägen . Das ist sehr interessant; denn das belegt,
dass sich kontinuierliche Erwerbsbiografien lohnen. Das
zeigt sich gerade bei den Frauen: Die durchschnittliche
Rente von Frauen im Osten ist um 44 Prozent höher als
die von Frauen in den alten Bundesländern . Wir reden
jedes Jahr im Zusammenhang mit dem Equal Pay Day
auch über den sogenannten Gender Pay Gap, den Einkommensunterschied bei Frauen und Männern, der unter
anderem erwerbs- oder berufsbedingt ist . Für den Gender
Pension Gap gilt: Auch er ist bei den Rentnerinnen und
Rentnern im Osten deutlich geringer als bei den Rentnerinnen und Rentnern in den alten Bundesländern .
Diese Fakten zeigen, dass die Linke mit ihren Anträgen stets versucht, den Osten gegen den Westen auszuspielen,
({5})
und das auch noch 25 Jahre nach der Wiedervereinigung .
Noch einmal: Niemand behauptet, dass das Rentenrecht
im Zuge der Wiedervereinigung alle individuellen Ansprüche berücksichtigte . Den Müttern und Vätern der
deutschen Einheit, denke ich, ist es aber hervorragend
gelungen, ein einheitliches Rentenrecht zu schaffen und
die soziale Einheit in Deutschland herzustellen .
({6})
Ich bin der Meinung, dass neben der erneuerten Infrastruktur und den restaurierten Städten, die wir täglich in
unseren Wahlkreisen sehen, die Einheit Deutschlands
gerade am Rentenrecht ablesbar ist . Diese Einheit zielte
von Beginn an darauf ab, Lebensleistung anzuerkennen .
Dass wir nach 25 Jahren nach wie vor den Hochwertungsfaktor verwenden, ist nichts anderes als die Anerkennung von Lebensleistung .
({7})
Natürlich haben wir uns mit unserem Koalitionspartner - die Kollegen haben mich schon darauf angesprochen - auf einen Fahrplan zur vollständigen Angleichung
des Rentenwerts verständigt; das ist richtig . Wir werden
2016 den Angleichungsprozess gemeinsam prüfen und
schauen, ob eine Angleichung mit Wirkung ab 2017 notwendig ist .
Ich danke Ihnen .
({8})
Der Kollege Markus Kurth hat für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort .
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Frau Schimke, das Geeier vonseiten der Union, das man
nach 25 Jahren deutsche Einheit noch immer und immer
wieder hört, wenn es um einen einheitlichen Rentenwert
in Ost und West geht, ist wirklich nur noch schwer zu
ertragen .
({0})
„Das wird geprüft“ oder „Dann werden wir mal sehen“,
das alles sind wachsweiche Formulierungen . In der Zeitung kann ich derweil lesen, dass der Ministerpräsident
von Mecklenburg-Vorpommern, Herr Sellering, auf
Eckhardt Rehberg, der ebenfalls aus Mecklenburg-Vorpommern stammt, losgeht und dass sich die beiden streiten . Bei dieser Gelegenheit ist eines klar festzustellen das wird gerne vergessen -: Die einzige Fraktion hier im
Deutschen Bundestag, die eine sofortige Angleichung
der Rentenwerte Ost und West will und konsequent bei
neuen Ansprüchen auf die Höherwertung verzichten will,
die einzige Fraktion, die eine Angleichung und damit den
Vollzug der deutschen Einheit im Rentenrecht will, ist
Bündnis 90/Die Grünen und niemand sonst, noch nicht
einmal die Linke . Das darf man nicht vergessen .
({1})
Wir sind in den letzten 25 Jahren viel differenzierter
geworden . Es gibt auch zwischen Nord und Süd, zwischen Schleswig-Holstein und Bayern große Lohnunterschiede . Regionale Ausgleichsmechanismen könnte man
beispielsweise auch innerhalb Brandenburgs begründen .
Zu diesem Schluss könnte man kommen, wenn man sich
die Unterschiede bei Lohn und Tarifbindung zwischen
Potsdam und Templin oder anderen Städten in der Uckermark vor Augen führt . Wir sehen, dass wir im Bereich
der Tariflöhne - erst kürzlich war dies im Tarifarchiv
der Hans-Böckler-Stiftung zu lesen - bei der Ost-WestAngleichung gut vorangekommen sind . Der Lohn- und
der Rentenunterschied zwischen Ost und West besteht,
weil im Osten Deutschlands die Tarifbindung so gering
ist . Das ist der Kern des Problems . Das Rentenrecht kann
an dieser Stelle nicht alle Probleme lösen .
({2})
Herr Bartsch, wenn sich der Antrag Ihrer Fraktion
nur auf die beiden Gruppen beschränkte, die Sie beispielhaft als Härtefälle angeführt haben, würden wir ihm
zustimmen; denn die aus der DDR Geflüchteten hatten
bestimmte Zusagen, quasi Rechtsgarantien bekommen,
die ihnen nachträglich aberkannt wurden . Das ist der entscheidende Punkt, Frau Schimke . Es geht nicht darum,
jede individuelle Ungerechtigkeit mit dem Rentenrecht
zu nivellieren; das geht selbstverständlich nicht . Aber
in diesen Fällen ist Personen etwas zuerkannt worden .
Diese haben sich auf eine bestimmte Lebensplanung verlassen
({3})
und haben bereits Jahre vor dem Mauerfall beispielsweise in Köln und Dortmund gearbeitet . Es ist absolut nachvollziehbar, dass an dieser Stelle etwas geschehen muss .
Herr Bartsch, wenn Sie sich beispielsweise auf diesen
Punkt konzentriert hätten, würden wir dem Antrag Ihrer
Fraktion zustimmen .
({4})
Das gilt auch für die in der DDR geschiedenen Frauen .
Wir weisen schon seit vielen Jahren auf die besondere
Härte in diesen Fällen hin . Wir sind der Meinung, dass
dort Regelungsbedarf besteht . Die in der DDR Geschiedenen kämpfen seit Jahren um ihr Recht . Wir schätzen
ihre Zahl auf Hundertausende . Viele von ihnen leben leider in bitterer Armut .
Dann gibt es noch zwei Berufsgruppen, die nach meiner Auffassung Besonderheiten aufweisen, darunter die
in der Braunkohle Beschäftigten . Dabei handelt es sich,
wie Sie zu Recht gesagt haben, um eine sehr geringe Anzahl .
Aber Sie beschränken sich nicht auf die Gruppen,
bei denen dies nachvollziehbar und begründbar ist, sondern, Herr Bartsch, Sie nehmen auch noch andere Gruppen dazu, die bestimmte Sonderansprüche in der DDR
hatten, die aber keine Entsprechung im westdeutschen
Rentenrecht, im SGB VI, haben . Ich nenne auch einmal
Beispiele, die zeigen, wo man das nicht nachvollziehen
kann . Das ist etwa bei den Spitzensportlerinnen und Spitzensportlern der Fall, die Sonderrentenansprüche gehabt
haben . Man würde wiederum Privilegierungen einführen, und das ist in der Tat nicht sachgerecht . Deswegen
werden wir uns bei der Abstimmung über Ihren Antrag
an dieser Stelle enthalten .
({5})
- Nein, nein .
Was die aus der DDR Geflüchteten anbelangt, muss
man auch noch einmal eines sagen . In der letzten Legislaturperiode haben Linke, SPD und Grüne gemeinsam
ihren politischen Willen bekundet, an dieser Stelle etwas
zu machen . Jetzt hat es im Petitionsausschuss eine Petition gegeben . Und was stellen wir fest? Die SPD hat
ihre Position um 180 Grad geändert, lässt diese Petition
abschließen und lässt Grüne und Linke in ihrem Einsatz
für die aus der DDR Geflüchteten im Regen stehen. Ich
finde es unmöglich, wirklich, dass Sie an dieser Stelle Ihr
Fähnlein so sehr nach dem Wind hängen .
({6})
Wir werden - das ist im Moment das parlamentarische
Verfahren - das im Petitionsausschuss natürlich noch
einmal aufrufen . Sie können sicher sein: Früher oder
später werden wir parlamentarische Initiativen zu diesem
Punkt starten - vielleicht kann man das, beschränkt auf
diesen Punkt, Herr Bartsch, auch einmal gemeinsam in
diesem Parlament machen -,
({7})
und dann werden Sie Farbe bekennen müssen in der Frage, ob Sie den aus der DDR Geflüchteten diese vernünftige und ihnen zustehende Rente zugestehen . Das werden
Sie dann entscheiden und hier bekennen müssen .
Vielen Dank .
({8})
Das Wort hat die Kollegin Waltraud Wolff für die
SPD-Fraktion .
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Meine Damen und Herren! Ich bin seit
1998 Mitglied dieses Hauses, und ich kann nicht mehr
zählen, wie viele Gespräche ich zu den Ostrenten geführt habe: mit Menschen, die zu mir ins Büro gekommen sind, auf Veranstaltungen, auch mit Menschen, die
sich zusammengetan haben, um ihre Situation deutlich
zu machen . Ich muss sagen: Vieles, was diese Menschen
mir erzählt haben, hat mich persönlich sehr berührt . Ich
habe mich damals auch aufgerufen gefühlt, zu Lösungsansätzen beizutragen . Da will ich auch die Landesgruppe
Ost ansprechen, die wir von der SPD haben . Wir haben
in unzähligen Diskussionen das Thema rauf und runter
behandelt . Wir haben uns mit Berufsgruppen getroffen .
Wir haben Vorschläge erarbeitet, und die meisten, meine
Damen und Herren, muss ich sagen, haben wir wieder
verworfen . Die Frage ist: Warum?
Erstens müssen wir heute - wie damals - zur Kenntnis
nehmen, dass zum 1 . Januar 1992 das Rentenrecht der
DDR in das Sechste Buch Sozialgesetzbuch übernommen wurde . Was man auch wissen muss: Die Sondersysteme sind gerade nicht in die Sondersysteme der Bundesrepublik eingeordnet worden .
({0})
Dazu kommt: 1999 hat das Bundesverfassungsgericht
abschließend darüber befunden .
Zweitens haben wir festgestellt: Selbst wenn wir die
Rentensystematik außer Kraft setzen würden, würden
wir bei den vielen Sonderfällen, die heute auch schon
zur Debatte standen, nur wieder neue Ungerechtigkeiten schaffen . Wir hätten kein Recht besser gemacht . Ich
weiß, nach 25 Jahren ist das keine frohe Botschaft . Aber,
meine Damen und Herren, es ist eine ehrliche Botschaft .
({1})
Schon die PDS hat in jeder Wahlperiode
({2})
Anträge mit bis zu 18 Berufsgruppen eingebracht, für die
sie Korrekturen bei der Rentenüberleitung gefordert hat .
Die Linke hat dies fortgesetzt . Liebe Kolleginnen und
Kollegen von den Linken, ich sage das jetzt wirklich mit
ganz großer Ernsthaftigkeit: Mit Ihren immer wiederkehrenden Anträgen machen Sie doch den Menschen falsche
Hoffnungen .
({3})
Sie machen ihnen Hoffnungen, wohl wissend, dass sie
nicht erfüllt werden können .
({4})
- Nein . - Sie senden lieber frohe Botschaften als ehrliche .
({5})
Meine Damen und Herren, ich weiß, dass viele Menschen im Osten der Republik diese heutige Debatte verfolgen. Ich finde, auch wenn es keine gute Botschaft ist:
Alle haben diese Ehrlichkeit verdient .
({6})
Zu dieser Ehrlichkeit gehört, dass nicht alles, was die
Linken als ungerecht beschreiben, wirklich ungerecht ist .
({7})
Sie beklagen zum Beispiel, die Anrechnung der Mütterrente - das haben wir eben gehabt - auf den Übergangszuschlag sei ungerecht . Der Übergangszuschlag ist ein
Zuschlag zum Bestandsschutz, auf den die Rentensteigerungen die ganze Zeit angerechnet werden . Da ist es in
der Rentensystematik doch logisch, dass auch die Erhöhung der Mütterrente darauf angerechnet wird. Ich finde
das nicht schön, aber das gehört zur Rentensystematik
dazu .
({8})
Wir haben das im Bundestag nicht extra beschlossen,
sondern das ist die Rentensystematik . Das ist Rentenrecht in der Bundesrepublik Deutschland .
({9})
Meine Damen und Herren, zur Ehrlichkeit gehört
auch, dass ich als Mitglied der SPD Verständnis für die
Menschen habe, die gerne besser behandelt werden wollen .
({10})
Das Gefühl, dass einem keine Gerechtigkeit widerfährt,
das kenne ich sehr gut, und das kann ich auch nachvollziehen . Aber wir müssen doch feststellen, dass die Messen 1992 gesungen wurden . Da ist Schluss . Alles andere,
was wir jetzt tun würden, würde zu neuer Ungerechtigkeit führen .
({11})
Zur Ehrlichkeit gehört auch, dass die Änderungen im
Rentenrecht Auswirkungen auf zukünftige Renten haben
können . Das gilt für Positives wie die Mütterrente . Das
gilt aber auch für Negatives, zum Beispiel die Anrechnung der Ausbildungszeiten . Das gilt im Osten, und das
gilt im Westen . Hier wieder Ausnahmen zuzulassen, hieße, Rentenrecht nach Gutdünken zu machen . Das wollen
wir nicht .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich weiß sehr wohl,
dass es bei der Rentenüberleitung Ungerechtigkeiten gegeben hat; das steht zweifellos fest . Aber sie sind nicht im
Rentenrecht zu lösen . Wir brauchen deshalb eine andere
Lösung . Wir als SPD haben im letzten Wahlprogramm
den Vorschlag gemacht, die Probleme in einem Rentenüberleitungsabschlussgesetz endgültig und abschließend
zu klären und die Probleme zu beseitigen . Wir haben gesagt: Wir wollen einen steuerfinanzierten Härtefallfonds
einrichten, um damit einzelne Problemfälle besserzustellen .
({12})
Zu diesem Vorschlag stehe ich und steht die SPD noch
immer .
({13})
Wir haben im Koalitionsvertrag vereinbart, noch in
dieser Legislaturperiode dieses Rentenüberleitungsabschlussgesetz vorzulegen . Darin heißt es: 2019 soll es
einheitliche Rentenwerte geben . - Auch daran halte ich
fest .
({14})
Frau Kollegin .
25 Jahre nach der Wiedervereinigung ist für das Gefühl von niedrigerer Wertschätzung der eigenen Lebensleistung einfach kein Platz mehr . Wir setzen uns für klare
Lösungen ein: gleicher Rentenwert, Härtefallfonds, keine neuen Ungerechtigkeiten . Das ist für viele, wie ich am
Anfang sagte, nicht die frohe Botschaft, aber die ehrliche
Botschaft .
Vielen herzlichen Dank .
({0})
Die Kollegin Dr . Astrid Freudenstein hat für die CDU/
CSU-Fraktion das Wort .
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linkspartei, Sie
schreiben in Ihrem Antrag von einer spezifischen Alters‑
armut Ost . Sie schreiben weiter, dass eine armutsfeste
und den Lebensstandard sichernde Rente für viele Menschen in Ostdeutschland nicht möglich sei . Der Zeitpunkt
Ihres Antrages ist natürlich nicht zufällig gewählt .
({0})
Zum 25 . Jahrestag der deutschen Einheit wollen Sie nun
endlich Rentengerechtigkeit zwischen Ost und West herstellen .
Liebe Kollegen der Linksfraktion, ich bin der Meinung, dass Sie Ihr Gerechtigkeitsempfinden nachjustieren müssen . Die Rentner im Osten sind im Endeffekt und
im Gesamten eben nicht so benachteiligt, wie Sie das beharrlich darstellen .
({1})
Nehmen wir die Durchschnittsrenten von ost- und westdeutschen Frauen und Männern: Die durchschnittliche
Altersrente für Ostrentner ist deutlich höher als die der
Westrentner . Zusätzlich haben Versicherte in den neuen
Ländern bei gleichem Entgelt und gleicher Beitragszahlung aktuell um 6 Prozent höhere Rentenansprüche als
Versicherte in den alten Ländern . Es ist richtig, dass die
Waltraud Wolff ({2})
gesetzliche Rente für Ostrentner oft die einzige Bezugsquelle ist, während viele Westrentner zusätzlich Betriebsrenten und Lebensversicherungen haben . Das ändert aber
nichts daran, dass es das von Ihnen beschworene Problem der spezifischen Altersarmut Ost so nicht gibt.
({3})
Nehmen wir noch einmal den Wert, den Sie so gerne
nutzen, wenn Sie Deutschland wieder einmal in Armut
versinken sehen: die Armutsgefährdungsquote . Diese Armutsgefährdungsquote liegt für die über 65-Jährigen in
den neuen Bundesländern deutlich niedriger als in den
alten Bundesländern . Schauen Sie sich den Anteil der
Menschen an, die auf Grundsicherung im Alter angewiesen sind: Ostdeutsche Rentner, und zwar Frauen ebenso
wie Männer, sind dort deutlich seltener auf die Grundsicherung angewiesen als westdeutsche Rentner .
Insgesamt bewegen sich alle Zahlen auf niedrigem
Niveau . Wir haben kein generelles Problem der Altersarmut in Deutschland . Der Anteil der Rentner, die Grundsicherung brauchen, liegt unter 3 Prozent . So bitter es ist:
Das größte Armutsrisiko in Deutschland ist eben nicht
das Alter . Das größte Armutsrisiko in Deutschland haben
Menschen ohne ordentliche Schulbildung, ohne Berufsausbildung und Alleinerziehende . Junge sind in unserem
Land stärker von Armut betroffen als Alte .
({4})
Vor allem aber haben wir kein spezifisch ostdeutsches
Problem der Altersarmut . Das wird auch nicht wahrer,
wenn Sie das immer wiederholen .
({5})
Damals, bei der Wiedervereinigung - es wurde erwähnt -, wurde ein allgemein akzeptiertes Verfahren
der Rentenberechnung gefunden . Es berücksichtigt unterschiedliche Erwerbsbiografien und Lohnunterschiede.
Dass dieses Verfahren im Einzelfall als ungerecht empfunden wird und auch im Einzelfall ungerecht ist, ist
richtig . Es stimmt aber nicht, dass sich nur Ostrentner
ungerecht behandelt fühlen könnten .
({6})
Ich kann Ihnen sagen: Es gibt auch westdeutsche Frauen
und Männer, die sich durch das Renten-Überleitungsgesetz diskriminiert und benachteiligt fühlen . Die Planwirtschaft der SED-Diktatur wirkte sich ja im Nachhinein
positiv für die Bürger in den neuen Ländern aus . Es gab
in der sozialistischen Planwirtschaft eine vermeintliche, eigentlich eine künstliche Vollbeschäftigung, somit
durchgängige Erwerbsbiografien und damit vor allem
längere Versicherungszeiten .
({7})
Davon profitieren die Ostrentner heute.
({8})
Ganz speziell betrifft das die Frauen im Osten . Sie
bekommen heute deutlich mehr Rente als westdeutsche
Rentnerinnen,
({9})
im Schnitt 50 Prozent mehr . Es ist eben mitnichten so,
dass nur die Frauen im Osten gearbeitet hätten . Frauen
im Westen haben natürlich ganz genauso viel geleistet:
Sie haben Kinder erzogen, die Familie organisiert und
sich vielfach ehrenamtlich engagiert . Weniger wert ist
auch das nicht .
({10})
Kollegin Freudenstein, ich habe die Uhr angehalten
und würde gern für Gerechtigkeit sorgen, dass wir hier
auch den letzten beiden Rednern in dieser Debatte folgen können . Ich bitte also darum, unbedingt notwendige
Gespräche vor den Plenarsaal zu verlagern . Wir haben
uns im Präsidium hier vorne davon überzeugt, dass für
jeden Kollegen und für jede Kollegin, die an dieser Debatte teilnehmen, eine Sitzgelegenheit im Saal vorhanden ist . Wir brauchen also auch keine Warte- und Diskussionsgruppen hier in den Gängen zu bilden . Ich bitte
jetzt wirklich darum, die Gespräche einzustellen und der
Debatte - in diesem Fall der Kollegin Freudenstein - zu
folgen .
Vielen Dank, Frau Präsidentin . - Die westdeutschen
Frauen stehen heute rentenrechtlich deutlich schlechter
da als die Frauen im Osten . Von daher hätten vermutlich
die westdeutschen Rentnerinnen am ehesten Grund, sich
jetzt zu beschweren .
Meine Kolleginnen und Kollegen, die Überführung
der Renten gehörte und gehört zur Wiedervereinigung
dazu . Es ist im Großen und Ganzen ein gutes Verfahren,
das in der Gesamtheit eben nicht ungerecht ist .
Es bringt uns auch nicht weiter, wenn Sie von der
Linksfraktion sich hier immer wieder als Anwalt der armen Rentner im Osten verkaufen,
({0})
und es ist schon gar nicht in Ordnung, wenn Sie das zum
25 . Jahrestag der deutschen Einheit tun .
({1})
Ich meine, wir sollten in diesen Tagen das gemeinsam
Erreichte feiern und nicht so tun, als lägen immer noch
Welten zwischen Ost und West .
Wenn Sie, Herr Kollege Bartsch, vorhin empfohlen
haben, mit Hellblau - also mit Ja - zu stimmen, dann
stimme ich Ihnen in diesem Falle zu: Auch die Große Koalition empfiehlt heute, mit Hellblau abzustimmen.
({2})
Das Wort hat der Kollege Dr . Martin Rosemann für
die SPD-Fraktion .
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Was mich am meisten an dieser Debatte ärgert, ist die Unehrlichkeit, mit der Sie hier
auftreten; denn Sie haben mit keinem Satz erwähnt, dass
der Höherwertungsfaktor für die Einkommen in Ostdeutschland deutlich höher ausfällt als die Differenz zwischen den Rentenentgeltpunkten Ost und den Rentenentgeltpunkten West . Das haben Sie nämlich verschwiegen,
liebe Kolleginnen und Kollegen von den Linken .
({0})
Was Sie wollen, ist ja: Sie wollen den gleichen Rentenwert plus den Höherwertungsfaktor . Das müssen Sie
einmal den Menschen beispielsweise in Schleswig-Holstein erklären, die 20 Prozent und mehr weniger verdienen als die Menschen bei mir in Baden-Württemberg,
meine Damen und Herren .
({1})
Ich will mich aber auf Punkt 4 Ihres Antrages konzentrieren . Das ist das Thema „DDR-Übersiedler und
Rentenüberleitung“, also das Thema, das wahrscheinlich
das größte politische Interesse, das größte öffentliche
Interesse erfährt . Ich selber wurde mit diesem Thema
konfrontiert, weil ich einen Herrn kennengelernt habe,
der 1984 aus der DDR übergesiedelt ist . Nennen wir ihn
Herrn Meyer . Er stellte nun bei Renteneintritt fest, dass
die Rente nicht so hoch ausgefallen ist, wie er sich das
immer dachte . Der Grund dafür ist, dass für diejenigen,
die vor 1989, als es die DDR noch gab, in die Bundesrepublik übergesiedelt sind, das Fremdrentengesetz galt .
Das heißt, da DDR-Beschäftigungszeiten nicht direkt erfasst werden konnten, wurden ihnen fiktive Tabellenentgelte zugeordnet, die dem durchschnittlichen Verdienst
einer vergleichbaren Tätigkeit in der Bundesrepublik
entsprachen .
Es ist schon gesagt worden: Mit der Wiedervereinigung wurde dann ein einheitliches Rentenrecht geschaffen, das SGB VI . Damit wurden für alle Bürgerinnen und
Bürger, alt wie neu, Ost wie West, für die Rentenberechnung auch die tatsächlichen Einkommen herangezogen .
Diese Regelung - das ist sicher richtig - war für Herrn
Meyer mit finanziellen Einbußen verbunden. Meine erste
Reaktion war auch: Das ist eine Ungerechtigkeit . Hier
müssen wir etwas tun . - Ich weiß, dass es quer durch alle
Fraktionen vielen Kolleginnen und Kollegen in diesem
Haus so gegangen ist . Ich habe mich dann - wie viele
von Ihnen auch - sehr intensiv damit beschäftigt . Mein
Fazit vorneweg: Es gibt keine gerechte Lösung für dieses
Problem, zumindest keine, ohne neue Ungerechtigkeiten
zu schaffen .
({2})
Das erste Problem ist die Abgrenzung der Gruppe, die
da überhaupt erfasst werden soll . Ein erster Anhaltspunkt
könnte ja sein, diejenigen davon profitieren zu lassen,
die einen sogenannten Feststellungsbescheid bekommen
haben . Aber eben nicht alle, die vor dem Mauerfall in
den Westen gegangen sind, gerade in den Wendemonaten
kurz vor dem Mauerfall, haben einen Feststellungsbescheid bekommen .
Deswegen wäre die Alternative vielleicht ein Stichtag .
({3})
Aber, meine Damen und Herren, welches wäre denn der
richtige Stichtag, der Tag des Mauerfalls am 9 . November
1989 oder der Tag des Staatsvertrags am 18 . Mai 1990?
Gerechter wäre wahrscheinlich das Erste . Aber bisher hat
man immer den zweiten verwendet . Alle Stichtage haben
auch noch ein Problem; denn es gibt Leute, die gar nicht
nachweisen können, an welchem Tag sie eigentlich übergesiedelt sind .
({4})
Noch schwerer wiegt aber, dass es neue Ungerechtigkeiten gegenüber anderen Personengruppen geben
würde: gegenüber den SED-Verfolgten mit einem vergleichbaren Versicherungsverlauf, vor allem dann, wenn
diese weder in ein Zusatz- oder Sonderversorgungssystem noch in die freiwillige Zusatzrentenversicherung der
DDR eingezahlt haben . Sie wären auch deutlich bessergestellt als in der DDR Gebliebene, beispielsweise Leute, die auch flüchten wollten, denen die Flucht aber nicht
geglückt ist oder denen die Ausreise nicht genehmigt
wurde . Schließlich wären sie auch gegenüber der großen
Gruppe der Spätaussiedler aus der ehemaligen Sowjetunion bessergestellt . Für die gilt nämlich weiterhin das
Fremdrentenrecht, allerdings bekommen sie nur noch
60 Prozent von den ursprünglichen Tabellenentgelten .
({5})
Seit Anfang der 90er-Jahre ist es nämlich auch im Fremdrentenrecht zu Verschlechterungen gekommen .
({6})
Eines kommt noch hinzu: Im Fremdrentenrecht wurden Frauen gegenüber Männern systematisch benachteiligt, weil Frauen im Westen auch in den gleichen Berufen
im Durchschnitt weniger verdient haben als Frauen im
Osten . Würde man zum Fremdrentenrecht zurückkehren,
dann wäre das eine Diskriminierung von Frauen, die vor
dem Europäischen Gerichtshof wahrscheinlich keinen
Bestand haben könnte .
({7})
Es gibt sogar Frauen, die sich durch den Vorschlag
systematisch schlechterstellen würden . Herr Birkwald,
Sie würden dann bestimmt gleich „Günstigerprüfung“
rufen .
({8})
Ich will Ihnen sagen: Wenn wir im Rentenrecht an einer
Stelle mit der Günstigerprüfung anfangen, dann müssen
wir für jeden Fall, für jede Personengruppe und für jede
Rechtsänderung zukünftig Günstigerprüfungen einführen . Das Ergebnis wäre, wir könnten das Rentenrecht
überhaupt nicht mehr ändern .
({9})
Ich komme zum Schluss . Es gilt nun einmal der
Grundsatz, dass immer das Rentenrecht gilt, das in dem
Moment im Gesetzblatt steht, in dem man in Rente geht .
Das müssen wir all denjenigen, die davon betroffen sind,
der Ehrlichkeit halber auch sagen .
({10})
Weil Sie - auch die Kollegen von den Grünen - sagen, Sie wollen dazu wieder einen Antrag vorlegen: Ich
finde, wir sind es den Betroffenen - wie meinem Herrn
Meyer - 25 Jahre nach der deutschen Einheit schuldig,
hier eine endgültige Entscheidung zu treffen,
({11})
auch wenn sie an der einen oder anderen Stelle hart ist .
Eine ehrliche Entscheidung, wie Kollegin Wolff gesagt
hat, ist besser .
Kollege .
25 Jahre nach der deutschen Einheit, denke ich, brauchen diese Leute eine klare Antwort .
Danke schön .
({0})
Ich schließe die Aussprache .
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/4972 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen . Sind Sie damit ein-
verstanden? - Das ist der Fall . Dann ist die Überweisung
so beschlossen .
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschus-
ses für Arbeit und Soziales zu dem Antrag der Fraktion
Die Linke mit dem Titel „Spezifische Altersarmut Ost
durch Korrektur der Rentenüberleitung beheben“ . Der
Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 18/5290, den Antrag der Fraktion Die Lin-
ke auf Drucksache 18/1644 abzulehnen . Wir stimmen
nun über die Beschlussempfehlung auf Verlangen der
Fraktion Die Linke namentlich ab . Ich bitte die Schrift-
führerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze
einzunehmen . - Sind alle Schriftführerinnen und Schrift-
führer an ihrem Platz? - Das ist der Fall . Ich eröffne die
Abstimmung über die Beschlussempfehlung .
Ist ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Stim-
me noch nicht abgeben konnte? - Das ist nicht der Fall .
Ich schließe die Abstimmung und bitte die Schriftführe-
rinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu begin-
nen . Das Ergebnis der Abstimmung wird Ihnen später
bekannt gegeben .1)
Ich wäre jetzt den Kolleginnen und Kollegen, die an
den weiteren Beratungen nicht teilhaben wollen und können, sehr verbunden, wenn sie uns die Möglichkeit schaffen würden, unsere Beratungen fortzusetzen .
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf .
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung ({0})
zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU
und SPD
Zugang und Teilhabe ermöglichen - Die Dekade für Alphabetisierung in Deutschland
umsetzen
Drucksachen 18/5090, 18/6179
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen . - Ich höre keinen Widerspruch . Dann ist so beschlossen .
Ich eröffne die Aussprache . Das Wort hat der Kollege
Xaver Jung für die CDU/CSU-Fraktion; er ist freundlicherweise schon am Redepult .
({1})
Vielen Dank, Frau Präsidentin . - Liebe Kollegin-
nen und Kollegen! Lesen und schreiben können ist ein
wesentlicher Schlüssel zur Teilhabe am alltäglichen
Leben . Ich freue mich, dass wir Anfang September am
1) Ergebnis Seite 12468 B
Weltalphabetisierungstag die Nationale Dekade für Alphabetisierung begrüßen durften . Der Bund übernimmt
Verantwortung im Kampf gegen Analphabetismus in unserem Land . Damit steht das Thema ganz oben auf der
bildungspolitischen Agenda .
({0})
- Ja, da kann man klatschen .
Frau Ministerin Wanka hat gemeinsam mit unserer
Vorsitzenden der Kultusministerkonferenz, Brunhild
Kurth, verkündet, dass in den kommenden zehn Jahren
180 Millionen Euro investiert werden, um Menschen zu
helfen, die nicht richtig lesen und schreiben können . Mit
dieser Menge an zusätzlichem Geld kann man ordentlich
was machen . Vielen herzlichen Dank!
({1})
Das eigentliche Ziel unseres Antrags wäre damit fast erreicht, so könnte man sagen . Ich sage: Es ist ein weiterer,
ein großer Schritt .
Im Jahr 2008 wurden wir durch die Ergebnisse der
„leo . - Level-One“-Studie wachgerüttelt . Seither wissen
wir, dass 7,5 Millionen Menschen im erwerbsfähigen
Alter zwischen 16 und 65 Jahren in Deutschland nicht
richtig lesen und schreiben können . Es handelt sich um
sogenannte funktionale Analphabeten . Diese Zahl klingt
nicht nur erschreckend, sie ist gerade für ein Hochtechnologieland wie Deutschland auch nicht hinnehmbar .
Dennoch sagen mir viele Menschen, mit denen ich
über diese Zahl spreche, dass sie keinen Erwachsenen
kennen, der nicht lesen und schreiben kann . Statistisch
gesehen hat aber jeder - Sie alle - mindestens einen
Nachbarn, auf den das zutrifft . Oft weiß man es nur nicht;
den Betroffenen ist es unangenehm, sich zu bekennen .
Genau darin liegt das eigentliche Problem: Wie kommen
wir mit unseren Angeboten an die Menschen heran?
Mit dieser Debatte wollen wir auf das Problem aufmerksam machen . Wir wollen Barrieren abbauen, und
wir müssen das soziale Umfeld sensibilisieren .
({2})
Wir wissen, die meisten aller funktionalen Analphabeten sind Muttersprachler . Über die Hälfte der Menschen sind über 50 Jahre alt . 80 Prozent haben sogar
einen Schulabschluss; wie auch immer sie das geschafft
haben . Als Antwort auf diese Studie hatten wir bereits
2012 gemeinsam mit den Ländern ein Bündnis für Alphabetisierung vereinbart . Diese nationale Strategie für
Alphabetisierung und Grundbildung Erwachsener haben
wir vom Bund mit 20 Millionen Euro unterstützt und gemeinsam mit zahlreichen Partnern viele Projekte in den
Bundesländern durchgeführt . An dieser Stelle möchte ich
mich für das Engagement der verantwortlichen Partner,
aber auch besonders der vielen ehrenamtlichen Helfer
herzlich bedanken .
({3})
Mit den sogenannten Alphabetisierungskursen haben
wir circa 500 000 Lerner erreicht . Das ist eine Menge .
Aber wir können und werden uns damit nicht zufriedengeben .
Nach Abschluss dieser nationalen Strategie haben wir
Bilanz gezogen und geschaut, welche Bildungsangebote
gut funktionieren und wo es hilfreiche Multiplikatoren
gibt . Besonders erfolgreich laufen die Maßnahmen am
Arbeitsplatz . Die Betriebe entwickeln immer mehr Interesse an solchen Angeboten .
Darüber hinaus fordern wir in unserem Antrag mehr
Kompetenzen und Möglichkeiten für die Bundesagentur
für Arbeit . Deren Mitarbeiter müssen sensibilisiert an die
Bewerber herangehen . Mit der folgenden Dekade wollen
wir erreichen, dass alle Initiativen, die erfolgreich waren,
verstetigt werden und in die Breite getragen werden . Wir
wollen erreichen, dass es zu den passenden Bildungsangeboten auch die nötige Infrastruktur gibt und sich länderübergreifend Synergieeffekte bilden . Aus diesem Grunde freue ich mich ganz besonders, dass sich das BMBF
auf unseren Vorschlag hin dazu bereit erklärt hat, eine
Monitoringstelle beim Bundesinstitut für berufliche Bildung einzurichten, welche die Projekte in den nächsten
zehn Jahren begleiten wird .
({4})
Wir geben nicht nur Geld und lassen die Initiativen
allein, sondern wir bieten Unterstützung vor Ort . Wir
übernehmen Verantwortung und Koordination .
({5})
Wir setzen hiermit ein klares Zeichen . Im Rahmen der
Bildungsberichterstattung wird das Parlament regelmäßig über die Entwicklung auf dem Laufenden gehalten .
Für die Betroffenen, aber auch für deren engste Vertraute, also das wissende Umfeld, bedarf es kurzer Wege .
Wir appellieren an die Länder, die Zahl der regionalen
Grundbildungszentren und Koordinierungsstellen zu erhöhen . Nur so wird der Austausch zwischen Verbänden
und Lernern schnell und unkompliziert stattfinden. Digitale Angebote zur Fort- und Weiterbildung sind gefragt
und werden künftig für die Betroffenen zur Verfügung
stehen .
({6})
Defizite gibt es nicht nur bei der Lesekompetenz.
Selbstlernplattformen bieten einen guten niederschwelligen Zugang zu den wichtigsten Grundkompetenzen wie
Lesen, Schreiben und Mathematik sowie zu demokratischer Grundbildung. Auch im Bereich der beruflichen
Bildung werden Konzepte der Grundbildung weiterentwickelt und umgesetzt . Selbstverständlich sollen diese
Angebote auch Menschen zur Verfügung stehen, die
derzeit zu uns kommen, und ihnen Berührungspunkte
mit der deutschen Sprache, der Verfassung und unserer
Kultur ermöglichen . Die genauen Inhalte und Orte der
Kurse, die im Rahmen der Dekade für Alphabetisierung
stattfinden, nehmen die gesamte Familie in den Blick und
suchen Alltagsbezug . So unterstützt das Projekt ABCami
gezielt Frauen am Lernort Moschee, um die Menschen
dort abzuholen, wo sie gerade sind . Ich spreche von
Kochkursen in Mehrgenerationenhäusern . Ich spreche
von Kursen wie zum Beispiel Computer für Anfänger
oder KettensägePlus, welche die Menschen bei der Arbeit abholen .
({7})
Über den Deutschen Volkshochschul-Verband wollen
wir gemeinsam mit den Ländern die Aus- und Fortbildung der Kursleitenden unterstützen und Standards dafür
setzen . Dies gilt genauso für standardisierte Lehrpläne
und optimierte Lehrmaterialien . Dann werden wir auch
messbare Erfolge verzeichnen .
({8})
Um ständige Wechsel beim Lehrpersonal zu vermeiden, fordern wir die Länder auf, die Kursleitenden angemessen zu honorieren und ihnen eine sichere Perspektive
zu geben .
({9})
Ebenso appellieren wir an die Länder, dafür zu sorgen,
dass kein Kind und kein Jugendlicher von der Schule
geht, ohne richtig lesen und schreiben zu können . Ich
hoffe darauf, Herr Mutlu, dass sich die Länder nicht wieder in dem Maße aus der Finanzierung zurückziehen, in
dem sich der Bund beteiligt .
Die Dekade wird von weiterer Forschung zu sozialen
und schulischen Ursachen von Analphabetismus begleitet . Wir wissen zwar, dass viel Vorlesen kleinen Kindern
beim Zugang zu Büchern und zum Erlernen des Lesens im
Allgemeinen hilft . Allerdings brauchen wir mehr Kenntnis: Wieso gibt es Menschen, die einen Schulabschluss
schaffen und nicht richtig lesen und schreiben können?
Und wieso kann es immer noch Kinder und Jugendliche
geben, denen niemand hilft, obwohl man feststellt, dass
sie Schwierigkeiten oder Probleme haben? Wir müssen
herausfinden: Welche Rolle kommt dabei Eltern, Erziehern, Lehrern und Sozialarbeitern zu?
Meine Damen und Herren, dieser Antrag richtet sich
an alle in unserem Land; es ist eine gemeinsame Aufgabe . Ich freue mich darüber, dass die Opposition angekündigt hat, nicht dagegen zu stimmen .
({10})
Es wäre schön, wenn Sie zustimmten .
({11})
Ich bedanke mich bei meiner Kollegin Frau Schieder
für die wunderbare Zusammenarbeit .
Ich darf darauf hinweisen, dass der Antrag auch in
leichter Sprache vorliegt .
({12})
2018 wird es wieder eine „Level-One“-Studie geben .
Dann werden wir sehen, was wir erreicht haben .
Vielen Dank .
({13})
Vielen Dank . - Bevor ich die nächste Rednerin aufrufe, möchte ich Ihnen das von den Schriftführerinnen und
Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen
Abstimmung bekannt geben: abgegebene Stimmen 501 .
Mit Ja haben gestimmt 403, mit Nein haben gestimmt 45,
und 53 Kolleginnen und Kollegen haben sich enthalten .
Damit ist die Beschlussempfehlung des Ausschusses für
Arbeit und Soziales angenommen .
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 501;
davon
ja: 402
nein: 46
enthalten: 53
Ja
CDU/CSU
Stephan Albani
Katrin Albsteiger
Artur Auernhammer
Thomas Bareiß
Günter Baumann
Maik Beermann
Manfred Behrens ({0})
Sybille Benning
Dr . Andre Berghegger
Dr . Christoph Bergner
Ute Bertram
Peter Beyer
Steffen Bilger
Clemens Binninger
Peter Bleser
Dr . Maria Böhmer
Wolfgang Bosbach
Norbert Brackmann
Michael Brand
Dr . Reinhard Brandl
Helmut Brandt
Dr . Ralf Brauksiepe
Dr . Helge Braun
Ralph Brinkhaus
Cajus Caesar
Gitta Connemann
Alexandra Dinges-Dierig
Alexander Dobrindt
Michael Donth
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Hansjörg Durz
Iris Eberl
Jutta Eckenbach
Dr . Bernd Fabritius
Hermann Färber
Dr . Thomas Feist
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Dirk Fischer ({1})
Dr . Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Thorsten Frei
Dr . Astrid Freudenstein
Dr . Hans-Peter Friedrich
({2})
Michael Frieser
Hans-Joachim Fuchtel
Ingo Gädechens
Dr . Thomas Gebhart
Alois Gerig
Eberhard Gienger
Reinhard Grindel
Ursula Groden-Kranich
Klaus-Dieter Gröhler
Michael Grosse-Brömer
Astrid Grotelüschen
Markus Grübel
Manfred Grund
Oliver Grundmann
Dr . Herlind Gundelach
Fritz Güntzler
Olav Gutting
Christian Haase
Florian Hahn
Dr . Stephan Harbarth
Gerda Hasselfeldt
Matthias Hauer
Dr . Stefan Heck
Dr . Matthias Heider
Helmut Heiderich
Mechthild Heil
Frank Heinrich ({3})
Mark Helfrich
Uda Heller
Jörg Hellmuth
Rudolf Henke
Michael Hennrich
Ansgar Heveling
Dr . Heribert Hirte
Robert Hochbaum
Thorsten Hoffmann ({4})
Alexander Hoffmann
Karl Holmeier
Franz-Josef Holzenkamp
Dr . Hendrik Hoppenstedt
Margaret Horb
Bettina Hornhues
Charles M . Huber
Anette Hübinger
Hubert Hüppe
Thomas Jarzombek
Sylvia Jörrißen
Andreas Jung
Bartholomäus Kalb
Hans-Werner Kammer
Steffen Kampeter
Steffen Kanitz
Alois Karl
Anja Karliczek
Bernhard Kaster
Roderich Kiesewetter
Dr . Georg Kippels
Volkmar Klein
Jürgen Klimke
Axel Knoerig
Jens Koeppen
Markus Koob
Carsten Körber
Hartmut Koschyk
Kordula Kovac
Michael Kretschmer
Gunther Krichbaum
Dr . Günter Krings
Rüdiger Kruse
Bettina Kudla
Dr . Roy Kühne
Günter Lach
Uwe Lagosky
Dr . Karl A . Lamers
Andreas G . Lämmel
Dr . Norbert Lammert
Ulrich Lange
Dr . Silke Launert
Paul Lehrieder
Dr . Katja Leikert
Dr . Philipp Lengsfeld
Dr . Andreas Lenz
Philipp Graf Lerchenfeld
Antje Lezius
Matthias Lietz
Andrea Lindholz
Dr . Carsten Linnemann
Patricia Lips
Wilfried Lorenz
Dr . Claudia Lücking-Michel
Dr . Jan-Marco Luczak
Karin Maag
Thomas Mahlberg
Gisela Manderla
Matern von Marschall
Hans-Georg von der Marwitz
Andreas Mattfeldt
Stephan Mayer ({5})
Reiner Meier
Dr . Michael Meister
Jan Metzler
Dr . Mathias Middelberg
Dietrich Monstadt
Karsten Möring
Volker Mosblech
Elisabeth Motschmann
Carsten Müller ({6})
Stefan Müller ({7})
Dr . Gerd Müller
Dr . Philipp Murmann
Michaela Noll
Helmut Nowak
Dr . Georg Nüßlein
Julia Obermeier
Wilfried Oellers
Florian Oßner
Dr . Tim Ostermann
Henning Otte
Ingrid Pahlmann
Sylvia Pantel
Martin Patzelt
Dr . Martin Pätzold
Ulrich Petzold
Dr . Joachim Pfeiffer
Eckhard Pols
Thomas Rachel
Alexander Radwan
Alois Rainer
Dr . Peter Ramsauer
Eckhardt Rehberg
Lothar Riebsamen
Josef Rief
Johannes Röring
Dr . Norbert Röttgen
Erwin Rüddel
Albert Rupprecht
Dr . Wolfgang Schäuble
Andreas Scheuer
Karl Schiewerling
Tankred Schipanski
Heiko Schmelzle
Gabriele Schmidt ({8})
Ronja Schmitt
Patrick Schnieder
Nadine Schön ({9})
Dr . Kristina Schröder ({10})
Dr . Ole Schröder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Dr . Klaus-Peter Schulze
Uwe Schummer
Armin Schuster ({11})
Christina Schwarzer
Detlef Seif
Johannes Selle
Reinhold Sendker
Dr . Patrick Sensburg
Bernd Siebert
Thomas Silberhorn
Johannes Singhammer
Tino Sorge
Jens Spahn
Carola Stauche
Dr. Wolfgang Stefinger
Albert Stegemann
Peter Stein
Sebastian Steineke
Johannes Steiniger
Christian Frhr . von Stetten
Dieter Stier
Rita Stockhofe
Gero Storjohann
Stephan Stracke
Max Straubinger
Matthäus Strebl
Thomas Strobl ({12})
Lena Strothmann
Michael Stübgen
Dr . Peter Tauber
Antje Tillmann
Dr . Hans-Peter Uhl
Dr . Volker Ullrich
Oswin Veith
Thomas Viesehon
Michael Vietz
Volkmar Vogel ({13})
Christel Voßbeck-Kayser
Nina Warken
Kai Wegner
Albert Weiler
Marcus Weinberg ({14})
Dr . Anja Weisgerber
Sabine Weiss ({15})
Ingo Wellenreuther
Karl-Georg Wellmann
Marian Wendt
Waldemar Westermayer
Kai Whittaker
Peter Wichtel
Heinz Wiese ({16})
Elisabeth WinkelmeierBecker
Oliver Wittke
Barbara Woltmann
Heinrich Zertik
Emmi Zeulner
Dr . Matthias Zimmer
Gudrun Zollner
SPD
Niels Annen
Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Heike Baehrens
Ulrike Bahr
Heinz-Joachim Barchmann
Klaus Barthel
Dr . Matthias Bartke
Sören Bartol
Bärbel Bas
Lothar Binding ({17})
Burkhard Blienert
Dr . Karl-Heinz Brunner
Edelgard Bulmahn
Martin Burkert
Dr . Lars Castellucci
Dr . Daniela De Ridder
Dr . Karamba Diaby
Sabine Dittmar
Elvira Drobinski-Weiß
Siegmund Ehrmann
Michaela Engelmeier
Dr . h .c . Gernot Erler
Petra Ernstberger
Saskia Esken
Karin Evers-Meyer
Dr . Johannes Fechner
Vizepräsidentin Ulla Schmidt
Dr . Fritz Felgentreu
Elke Ferner
Dr . Ute Finckh-Krämer
Christian Flisek
Gabriele Fograscher
Dr . Edgar Franke
Ulrich Freese
Michael Gerdes
Martin Gerster
Ulrike Gottschalck
Kerstin Griese
Gabriele Groneberg
Wolfgang Gunkel
Bettina Hagedorn
Rita Hagl-Kehl
Metin Hakverdi
Ulrich Hampel
Sebastian Hartmann
Dirk Heidenblut
Gabriela Heinrich
Marcus Held
Wolfgang Hellmich
Heidtrud Henn
Gustav Herzog
Gabriele Hiller-Ohm
Thomas Hitschler
Dr . Eva Högl
Matthias Ilgen
Christina Jantz
Frank Junge
Oliver Kaczmarek
Johannes Kahrs
Ralf Kapschack
Gabriele Katzmarek
Ulrich Kelber
Marina Kermer
Arno Klare
Lars Klingbeil
Birgit Kömpel
Dr . Hans-Ulrich Krüger
Christine Lambrecht
Burkhard Lischka
Gabriele Lösekrug-Möller
Hiltrud Lotze
Dr . Birgit Malecha-Nissen
Caren Marks
Hilde Mattheis
Dr . Matthias Miersch
Klaus Mindrup
Susanne Mittag
Detlef Müller ({18})
Bettina Müller
Dr . Rolf Mützenich
Ulli Nissen
Thomas Oppermann
Mahmut Özdemir ({19})
Aydan Özoguz
Markus Paschke
Christian Petry
Achim Post ({20})
Florian Post
Dr . Wilhelm Priesmeier
Florian Pronold
Dr . Sascha Raabe
Stefan Rebmann
Gerold Reichenbach
Dr . Carola Reimann
Andreas Rimkus
Sönke Rix
Dr . Martin Rosemann
Dr . Ernst Dieter Rossmann
Bernd Rützel
Sarah Ryglewski
Annette Sawade
Dr . Hans-Joachim
Schabedoth
Dr . Nina Scheer
Udo Schiefner
Dr . Dorothee Schlegel
Ulla Schmidt ({21})
Dagmar Schmidt ({22})
Carsten Schneider ({23})
Elfi Scho‑Antwerpes
Ursula Schulte
Swen Schulz ({24})
Ewald Schurer
Frank Schwabe
Stefan Schwartze
Andreas Schwarz
Rita Schwarzelühr-Sutter
Rainer Spiering
Norbert Spinrath
Svenja Stadler
Sonja Steffen
Kerstin Tack
Claudia Tausend
Michael Thews
Dr . Karin Thissen
Franz Thönnes
Rüdiger Veit
Ute Vogt
Dirk Vöpel
Bernd Westphal
Waltraud Wolff ({25})
Gülistan Yüksel
Dagmar Ziegler
Stefan Zierke
Manfred Zöllmer
Brigitte Zypries
Nein
DIE LINKE
Dr . Dietmar Bartsch
Herbert Behrens
Karin Binder
Matthias W . Birkwald
Heidrun Bluhm
Christine Buchholz
Eva Bulling-Schröter
Roland Claus
Sevim Dagdelen
Klaus Ernst
Dr . Gregor Gysi
Dr . Andre Hahn
Heike Hänsel
Dr . Rosemarie Hein
Inge Höger
Andrej Hunko
Ulla Jelpke
Jan Korte
Jutta Krellmann
Katrin Kunert
Sabine Leidig
Stefan Liebich
Dr . Gesine Lötzsch
Thomas Lutze
Birgit Menz
Niema Movassat
Norbert Müller ({26})
Dr . Alexander S . Neu
Thomas Nord
Richard Pitterle
Martina Renner
Dr . Petra Sitte
Dr . Kirsten Tackmann
Frank Tempel
Kathrin Vogler
Katrin Werner
Birgit Wöllert
Jörn Wunderlich
Hubertus Zdebel
Sabine Zimmermann
({27})
Enthalten
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Kerstin Andreae
Volker Beck ({28})
Dr . Franziska Brantner
Agnieszka Brugger
Ekin Deligöz
Katja Dörner
Katharina Dröge
Harald Ebner
Dr . Thomas Gambke
Matthias Gastel
Kai Gehring
Anja Hajduk
Britta Haßelmann
Dr . Anton Hofreiter
Bärbel Höhn
Uwe Kekeritz
Katja Keul
Sven-Christian Kindler
Maria Klein-Schmeink
Sylvia Kotting-Uhl
Oliver Krischer
Stephan Kühn ({29})
Christian Kühn ({30})
Renate Künast
Monika Lazar
Steffi Lemke
Dr . Tobias Lindner
Nicole Maisch
Beate Müller-Gemmeke
Dr . Konstantin von Notz
Omid Nouripour
Friedrich Ostendorff
Lisa Paus
Brigitte Pothmer
Tabea Rößner
Claudia Roth ({31})
Corinna Rüffer
Manuel Sarrazin
Elisabeth Scharfenberg
Ulle Schauws
Dr . Gerhard Schick
Kordula Schulz-Asche
Dr . Wolfgang StrengmannKuhn
Hans-Christian Ströbele
Dr . Harald Terpe
Jürgen Trittin
Dr . Julia Verlinden
Dr . Valerie Wilms
Vizepräsidentin Ulla Schmidt
Als nächste Rednerin hat jetzt Frau Dr . Rosemarie
Hein, Fraktion Die Linke, das Wort . Bitte schön .
({32})
Vielen Dank, Frau Präsidentin . - Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Ja, in Deutschland können 7,5 Millionen
Menschen im erwerbsfähigen Alter nicht richtig lesen
und schreiben . Man kann die Zahl gar nicht oft genug
wiederholen, allerdings nicht, um sich daran einfach nur
in irgendeiner Art und Weise abzuarbeiten . Vielmehr
müssen wir etwas tun, müssen Strategien entwickeln und
überlegen, wie wir diesen Menschen helfen können, ihre
Fähigkeiten zu erweitern und Grundbildung zu erwerben .
Wir müssen endlich entsprechend handeln .
({0})
Wir sind uns über alle Fraktionen hinweg einig, dass
die Fragen der Grundbildung ganz dringend angegangen
werden müssen; denn wer nicht richtig lesen und schreiben oder nicht richtig rechnen kann, ist in der Gesellschaft doppelt und dreifach benachteiligt . Allerdings hilft
es wenig, die Nationale Strategie für Alphabetisierung
und Grundbildung Erwachsener, die 2011 von Bund und
Ländern ausgerufen wurde, nun als Dekade für Alphabetisierung fortzusetzen, wenn damit im Wesentlichen
keine neuen Maßnahmen und Ziele verbunden sind und
es - was auch wichtig ist - zunächst einmal nur um Verstetigung der Mittel geht .
({1})
Die Maßnahmen gibt es schon . Die Mittel zu verstetigen,
ist gut .
({2})
Aber wir müssen uns auch etwas Neues einfallen lassen;
denn obwohl es viele gute Konzepte und Ideen gibt, gibt
es bisher noch keinen messbaren Fortschritt . Das Problem scheint nicht kleiner geworden zu sein .
Eine gute Idee war zum Beispiel die multimediale
Wanderausstellung . Sie war zum Kampagnenstart im
Magdeburger Rathaus zu sehen . Die Frage ist nur: Wen
erreichen solche Ausstellungen? Im Magdeburger Rathaus trafen sich diejenigen, die man von der Notwendigkeit der Alphabetisierung nicht mehr überzeugen musste .
({3})
- Deshalb muss man dorthin gehen, wo die Leute sind,
nämlich zum Beispiel in die Einkaufstempel .
Es reicht auch nicht aus, wenn wir immer nur an den
Symptomen herumdoktern . Herr Jung hat es vorhin
schon gesagt: Wir denken zu wenig über die Ursachen
fehlender Grundbildung nach . Herr Jung, Sie sind Lehrer, ich bin Lehrerin . Wir beide wissen, in welchen Zwängen man als Lehrer vor der Klasse steht und was Lehrkräfte unter den heutigen Umständen, in den Situationen,
in denen sie sich heute befinden, noch merken. Wir beide
wissen auch, dass wir - ich bin Deutschlehrerin - zu wenig Strategien haben, um damit umzugehen . Das heißt,
wir brauchen die Möglichkeit, Lehrkräfte in die Lage zu
versetzen - zeitlich, didaktisch und fachlich -, Defizite
rechtzeitig zu erkennen und sie wirksam zu beheben .
Diese Möglichkeit gibt es zu wenig .
({4})
Wir müssen uns auch die Frage stellen: Warum entsteht Analphabetismus eigentlich nach dem Abschluss
schulischer und beruflicher Bildungsphasen neu? Offensichtlich merken wir nicht, wenn jemand die Schule
verlässt, aber nicht richtig lesen und schreiben kann . Die
Studien, die uns dazu vorliegen, sind sehr aussagekräftig:
Viele haben sich durchgeschummelt . Das ist aber nicht
das Problem . Manche können lesen und schreiben - vielleicht nicht auf einem besonders hohen, aber auf einem
akzeptablen Niveau - und machen den Schulabschluss,
aber nach einigen Jahren können sie es nicht mehr . Warum ist das so? Ich glaube, auch hier bedarf es einer intensiveren Forschung, die es gegenwärtig so noch nicht
gibt . Das haben uns Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die in diesem Bereich arbeiten, auch bestätigt .
Ich finde, nach den vielen Exzellenzprogrammen wäre
es an der Zeit, ein Forschungsprogramm zu den Ursachen
fehlender Grundbildung aufzulegen und gleichzeitig fundierte Strategien entwickeln zu lassen, die aufzeigen, wie
man dem entgegenwirken kann . So etwas könnten wir,
der Bund, sogar leisten . Also machen wir das doch .
({5})
Ich finde es auch richtig, dass wir Wert darauf legen,
dass die Arbeitsweltorientierung Teil der Alphabetisierungsstrategie wird . Trotzdem lässt mich die Sorge nicht
los, dass die Jobcenter und Arbeitsagenturen die Möglichkeit, Alphabetisierungskurse anzubieten, willfährig
annehmen, weil sie damit ein Problem gelöst kriegen,
und dass man jemanden in einen Alphabetisierungskurs
schickt, bevor überhaupt versucht wird, ihn in Arbeit zu
vermitteln. Ich finde, solche Kurse müssen berufsbegleitend bzw . arbeitsplatzbegleitend angeboten werden . Sie
sollten nicht die Voraussetzung dafür sein, vielleicht irgendwann einmal Arbeit zu bekommen .
Viele Punkte in dem uns vorliegenden Antrag sind
nicht falsch, sie sind aber auch nicht neu . Uns fehlt vor
allem der präventive Ansatz . Weil das so ist und weil
viele Fragen offen bleiben, weil Ziele nicht klar genug
formuliert sind und es lediglich bei einem Appell an die
Länder bleibt, werden wir uns bei diesem Antrag der
Stimme enthalten .
Sie haben es vorhin zitiert:
Alphabetisierung und Grundbildung müssen als gesamtgesellschaftliche Aufgabe aufgefasst werden .
So steht es im Antrag . Nehmen wir das doch als Motto!
Lassen Sie uns die Hemmnisse für eine effektivere Zusammenarbeit von Bund und Ländern endlich aufheben!
({6})
Dann könnten wir gemeinsam viel mehr für die Grundbildung tun und müssten nicht befürchten, dass sich die
Länder aus ihrer Verantwortung stehlen . Vielleicht könVizepräsidentin Ulla Schmidt
nen wir dann am Ende der Dekade, wenn nicht sogar
schon 2018, einen messbaren Erfolg verzeichnen .
Ich will Sie noch ganz kurz auf einen Fehler hinweisen . Ich muss nun alle Berichterstatterinnen und Berichterstatter kritisch anschauen; denn wir alle haben
uns die erste Seite unseres Berichts nicht richtig angesehen . Es betrifft natürlich die erwerbsfähige Bevölkerung
zwischen 18 und 64 Jahren und nicht zwischen 18 und
24 Jahren . So ausbeuterisch sind wir dann doch nicht .
Vielen Dank .
({7})
Vielen Dank . - Als Nächstes hat die Kollegin Marianne
Schieder für die SPD-Fraktion das Wort .
({0})
Liebe Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr“ - ich gehe davon aus, dass viele von Ihnen diese Redewendung kennen . In diesen Worten steckt viel
Wahrheit; denn in der Tat lernen Kinder sehr viel leichter
und sehr viel schneller als Erwachsene . Aber wir wissen
genauso gut - das gilt für uns alle -: Wir brauchen die
Bereitschaft zum lebenslangen Lernen, und es ist nie zu
spät, etwas Neues dazuzulernen .
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Menschen brauchen aber nicht nur die Motivation, sondern auch die
Möglichkeit, Neues dazuzulernen . Für 7,5 Millionen
funktionale Analphabeten in unserem Land möchten wir
mit der Dekade für Alphabetisierung neue Möglichkeiten
und neue Strategien eröffnen, um Neues dazuzulernen .
Politik muss nach unserer sozialdemokratischen
Grundüberzeugung dafür Sorge tragen, dass allen Menschen gesellschaftliche Teilhabe möglich wird . Selbstverständlich ist richtig lesen und schreiben können eine
der wichtigsten Fähigkeiten, um gesellschaftliche Teilhabe realisieren zu können . Deswegen haben wir bereits
im Koalitionsvertrag dafür gekämpft, dass aus der Nationalen Strategie für Alphabetisierung und Grundbildung
eine Dekade für Alphabetisierung geworden ist .
Der Antrag von Union und SPD, den wir heute abschließend beraten, beschreibt, wie diese Alphabetisierungsdekade ausgestaltet werden kann . Auch ich darf,
lieber Herr Kollege Jung, mich herzlich bei Ihnen bedanken für die gute Zusammenarbeit . Ich meine, es ist wirklich ein guter Antrag geworden, den wir erarbeitet haben .
Die Kritik daran im Ausschuss war wenig substanziell
und hat wenig Neues gebracht . Deswegen kann ich wirklich nicht verstehen, liebe Kolleginnen und Kollegen von
den Linken und von den Grünen, warum Sie nicht mitstimmen können, warum Sie nicht gemeinsam mit uns an
einem Strang ziehen können .
({1})
Es wurde bereits darauf hingewiesen: Die Gesellschaft
für deutsche Sprache hat unseren Antrag in einfache
Sprache übersetzt . Diese neue Version unseres Antrags
soll es den Betroffenen ermöglichen, sich selbst über ihre
Belange zu informieren . Das ist also ein erster Schritt,
um auf die Betroffenen zuzugehen .
Ausgerufen wurde unsere Alphadekade bereits durch
die Frau Ministerin und die Präsidentin der Kultusministerkonferenz; jetzt muss es also darum gehen, sie mit
Leben zu füllen . Dabei muss das Rad nicht neu erfunden
werden . Es gibt bereits viele gute und erprobte Ansätze,
etablierte Projekte, die heute schon den Menschen helfen
und die weitergeführt werden können . Genauso müssen
wir aber Pilotprogramme, die sich bewährt haben, in die
Breite tragen, und wir brauchen neue Förderprogramme,
um die Träger der Erwachsenenbildung zu motivieren, in
entsprechende Programme einzusteigen und Neuangebote zu entwickeln .
Auch darauf ist schon hingewiesen worden, aber ich
möchte es wiederholen: Trotz der Vielfalt der erfolgreichen Projekte haben sie eines gemeinsam: Sie sind für
die Betroffenen leicht zu erreichen . Zum Beispiel lässt
sich der Anruf beim Alphatelefon schnell und ohne Verpflichtung realisieren. Es droht keine öffentliche Brandmarkung, weil der Kontakt anonym bleiben kann . Ähnliches gilt für Onlineangebote . Man könnte hier viele
weitere Beispiele aus den unterschiedlichen Bereichen
aufzählen .
Wir brauchen, liebe Frau Kollegin Hein, natürlich
auch die Ausstellung im Magdeburger Rathaus; denn wir
müssen schon mehrgleisig fahren . Wir müssen die Betroffenen erreichen, und wir müssen aber auch all diejenigen erreichen, die mit den Betroffenen zusammenkommen, die als Multiplikatoren in den Volkshochschulen,
in den Betrieben, in den Schulen, in den Verbänden, in
den Vereinen und wo auch immer mit Analphabeten zusammenkommen . Auch sie brauchen wir . Es geht darum,
dass sie sich überlegen: Was können wir denn tun, um die
Menschen anzusprechen?
({2})
Unsere Alphadekade soll zuerst den Betroffenen selbst
helfen - das ist ganz klar ; denn durch das Erlernen von
Lesen und Schreiben, durch die Verbesserung des Lesens
und Schreibens wird natürlich ein weiterer Grundstein
gelegt für gesellschaftliche Teilhabe, aber auch für den
weiteren beruflichen Erfolg. Immerhin ist ein Großteil
der Betroffenen - darüber dürfen wir sehr froh sein, meine ich - berufstätig. Über berufliche Weiterbildung bieten sich neue Chancen, aus einer geringfügigen Beschäftigung in eine bessere berufliche Position zu kommen.
Eins wissen wir doch alle miteinander: Das Angebot
an Arbeitsplätzen für Menschen, die nicht richtig lesen
und schreiben können, wird in diesem Land weniger und
nicht mehr . Deswegen besteht auch ein gesamtgesellDr. Rosemarie Hein
schaftliches Interesse, die Situation von Analphabetinnen
und Analphabeten zu verbessern .
({3})
Wir wollen aber auch all den Menschen helfen - Herr
Kollege Jung hat darauf hingewiesen; das ist dringend
notwendig -, die diese Angebote durchführen, also den
vielen Kursleiterinnen und Kursleitern; denn sie brauchen wirklich endlich verlässliche Perspektiven und eine
gerechte Bezahlung .
Wir brauchen aber auch neue Forschungsaufträge;
denn um die richtigen Wege zu finden, brauchen wir
noch mehr wissenschaftlich fundierte Daten . Die „leo . Level-One“-Studie war ein guter Anfang; aber sie muss
fortgesetzt und differenziert werden .
Wir müssen heute den Menschen helfen, die betroffen
sind . Aber wir müssen auch in Zukunft dafür Sorge tragen - das möchte ich auch betonen -, dass keine Schülerin und kein Schüler mehr die Schule verlässt, ohne
wirklich rechnen, schreiben und natürlich auch lesen zu
können . Deswegen liegt uns daran, dass dieses Thema
Teil des Bildungsberichtes wird . Denn wenn wir dieses
Problem wirklich erfolgreich in Angriff nehmen wollen,
müssen wir es langfristig im Auge behalten und müssen
kontinuierlich an einer Lösung arbeiten . Nur dann werden wir erfolgreich sein .
Ich muss zu guter Letzt noch einmal auf die Finanzierungsfrage zu sprechen kommen . Frau Ministerin Wanka
hat 180 Millionen Euro für die nächsten zehn Jahre angekündigt . Für 2016 stehen im Haushalt 16,5 Millionen
Euro zur Verfügung . Mal zehn genommen ergeben sich
daraus keine 180 Millionen Euro . Frau Ministerin Wanka
verweist zu Recht darauf, dass es auch einen Bedarf an
Alphabetisierungsangeboten für Flüchtlinge gibt . Die errechneten Zahlen und der Bedarf von 180 Millionen Euro
beziehen sich aber auf Zahlen, die vor dem Einsetzen des
Flüchtlingsstroms erhoben wurden . Es ist richtig, auch
für Flüchtlinge Angebote zu schaffen; aber dafür müssen
weitere Finanzmittel zur Verfügung gestellt werden .
({4})
Auch ich möchte allen Akteuren danken, die sich
landauf, landab engagieren, um Analphabetismus zu
bekämpfen . Vor allen Dingen möchte ich aber all denen
Danke sagen, die sich trauen und öffentlich bekennen,
dass sie von diesem Problem betroffen sind . Damit tragen sie dazu bei, dass dieses Phänomen aus der Tabuzone
herauskommt und sich letztlich mehr Menschen trauen,
sich ihrem Problem zu stellen .
({5})
Frau Kollegin Schieder, jetzt müssen Sie aufhören mit
dem Danken .
Sofort, Frau Präsidentin . - Liebe Kolleginnen und liebe Kollegen, ich glaube, eine sehr spannende und sehr
lohnende Aufgabe liegt vor uns . Unterstützen Sie alle unseren Antrag, um all den Menschen, die besser lesen und
schreiben lernen wollen, die Möglichkeit dazu zu geben .
Vielen Dank .
({0})
Vielen Dank . - Für Bündnis 90/Die Grünen hat jetzt
Özcan Mutlu das Wort .
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! 2,3 7,5 - 13 - das sind drei Zahlen, die im Kontext von Analphabetismus für sich selbst sprechen: 2,3 Millionen erwerbsfähige Menschen können lediglich einzelne Wörter
lesen, verstehen und schreiben, jedoch nicht ganze Sätze .
7,5 Millionen Menschen - wir haben es hier wiederholt
gehört; das sind 14 Prozent der erwerbsfähigen Bevölkerung - gelten als funktionale Analphabeten, können
nicht richtig lesen und schreiben . Circa 13 Millionen
Menschen - das sind ganze 25 Prozent der erwerbsfähigen Bevölkerung - haben in ihrer Schulzeit nicht gelernt,
wie man richtig schreibt . - Das sind drei Zahlen, hinter
denen sich knapp 23 Millionen Biografien und ganz unterschiedliche Schicksale verbergen . Diese Zahlen sind
erschreckend, und wir können nicht einfach so tun, als
wäre das nicht unser Geschäft .
({0})
Dass wir in puncto Alphabetisierung neue Wege einschlagen müssen, das wissen wir spätestens seit Veröffentlichung der „leo . - Level-One“-Studie aus dem
Jahr 2010 . Das ist im Übrigen fünf Jahre her . Funktionalem Analphabetismus wirksam zu begegnen und so
mehr Menschen Teilhabe zu ermöglichen, muss unser
aller Aufgabe sein . Ich denke, dass hier Ideologie fehl
am Platze ist .
({1})
Eine neue Studie zum Analphabetismus ist deshalb dringend nötig . Sie wird hoffentlich spätestens 2018 vorgelegt werden .
Ich gebe gerne zu, dass Sie sich in puncto Alphabetisierung zumindest auf den Weg gemacht haben, zwar
spät, aber immerhin . In Ihrem Antrag stellen Sie Richtiges und Wichtiges fest .
({2})
Er enthält Vorschläge, die man tatsächlich begrüßen
kann . Weil uns das aber noch nicht ausreicht, werden wir
uns enthalten und Sie auf dem Weg weiter begleiten .
({3})
Erstens . Die bisher ergriffenen Maßnahmen sind in
der Tat nicht falsch, aber sie reichen nicht aus; denn mit
Ihren Maßnahmen erzielen Sie keine flächendeckende
Verbesserung . Es gilt, das, was sich als Good Practice
bewährt hat, zu verstetigen und in der Breite umzusetzen,
nicht nur punktuell .
Zweitens . Die 180 Millionen Euro an Investitionen
für die Dekade für Alphabetisierung sind schön und gut .
Aber gut gemeint ist in den seltensten Fällen auch gut
gemacht .
({4})
Wenn Sie die 180 Millionen Euro für zehn Jahre allein
auf die 7,5 Millionen funktionalen Analphabeten herunterbrechen, kommen Sie auf einen Betrag von 2,40 Euro
pro Person . Das ist in Anbetracht von 23 Millionen Menschen, die einen Förderbedarf haben, nicht ausreichend .
({5})
- Ja, das sind nur die Bundesmittel, genau .
({6})
Das reicht trotzdem nicht .
Drittens . Was uns bei Ihnen fehlt, ist die Auseinandersetzung mit den Gründen, mit den Ursachen des Analphabetismus . Wir können gerne einmal darüber nachdenken, ob zwischen der Nichtzuständigkeit des Bundes
und den besagten 23 Millionen nicht vielleicht doch ein
Zusammenhang besteht .
({7})
Unser Bildungssystem ist unterfinanziert. Wir sind der
Meinung, dass hier deutlich mehr Engagement des Bundes erforderlich ist; denn wenn ein Viertel der Schülerinnen und Schüler die Schule verlässt, ohne richtig lesen
und schreiben zu können, dann machen wir zu früh etwas
falsch, dann machen wir zu lange und zu viel falsch . Das
können wir nicht einfach auf die Bundesländer abschieben . Dafür tragen wir alle gemeinsam Verantwortung .
Da hätte mehr geliefert werden müssen . Da haben Sie Stichwort „Kooperationsverbot“ - leider mit der letzten
Verfassungsänderung die Chance verpasst .
Kollege Jung, es ist ja schön und gut, dass Sie vieles
an die Länder delegieren, aber das reicht nicht .
({8})
Ihre Politik repariert etwas, das nie hätte sein dürfen .
Menschen müssen erst beschämt werden, bevor sie ihre
Würde wieder zurückerlangen können . Da, so sagen wir,
läuft etwas gewaltig schief .
({9})
Ich sage hier und jetzt in aller Deutlichkeit: Dass die
Kommunen 20 Prozent, die Länder 70 Prozent und der
Bund knapp 10 Prozent der gesamtstaatlichen Bildungsausgaben tragen, kann so im Kern nicht richtig sein .
Deshalb sagen wir: Früher und gezielter investieren, das
muss unser Motto sein .
({10})
Da ist zum Beispiel das Programm „Lesestart - Drei
Meilensteine für das Lesen“ zu nennen, das ganz früh
ansetzt; es ist hier bisher nicht zur Sprache gekommen .
Die Evaluationsergebnisse der ersten Projektphase belegen sowohl die hohe Durchdringung des Programms in
den Kinderarztpraxen als auch die Akzeptanz und Nutzung der Lesestartangebote durch die Eltern . Das ist ein
erfolgreiches Programm . Wir fordern hier deshalb - da
können Sie zeigen, wie ernst Sie es meinen -, dieses Programm über 2018 hinaus zu verfestigen und nachhaltig
zu sichern .
({11})
Summa summarum sage ich zum Schluss: Das, was es
an Good Practice in puncto Alphabetisierung gibt, gilt es
nun in die Breite zu tragen,
({12})
und zwar landauf, landab, und finanziell nachhaltig abzusichern . Die 180 Millionen Euro, die Sie für die nächsten zehn Jahre im Haushalt festschreiben wollen, reichen
nicht und sind auch keine Antwort auf die aktuellen politischen Entwicklungen, die unser Land zu bewältigen
hat . Deshalb enthalten wir uns .
({13})
Wir hoffen, dass wir in Zukunft bei dieser Frage vielleicht an einem gemeinsamen Strang ziehen können .
Danke sehr .
({14})
Vielen Dank . - Jetzt hat der Kollege Sven Volmering,
CDU/CSU-Fraktion, das Wort .
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es
ist ein Zufall, dass Frau Hein mir jetzt direkt eine Vorlage
gegeben hat, indem sie auf einen Fehler hingewiesen hat .
Der chinesische Philosoph Konfuzius hat gesagt: „Wer
einen Fehler gemacht hat und ihn nicht korrigiert, begeht
einen zweiten .“ Damit mir dies nicht passiert, möchte ich
zu Beginn einen Fehler korrigieren, der mir im Rahmen
der ersten Debatte über diesen Antrag unterlaufen ist . Die
Beiträge dieser Debatte wurden ja bekanntlich zu Protokoll gegeben . Wahrscheinlich wäre der Fehler auch unbemerkt geblieben, wenn wir nicht alle zur Vorbereitung
auf die heutige Debatte noch einmal nachgelesen hätten,
was die anderen Kolleginnen und Kollegen über den
wirklich guten Antrag von CDU/CSU und SPD denken .
({0})
Der Kollege Spiering ist leider nicht da . Ich möchte
mich bei ihm entschuldigen, dass sein Name in meinem
Redemanuskript falsch geschrieben wurde . Er war auch
leider nicht der Berichterstatter aufseiten der SPD, dem
zu danken war .
({1})
- Jetzt hören Sie doch zu . - Das ist dem Kollegen Jung
aufgefallen, der nicht nach dem Motto „Egal ob Stiering
oder Spiering, Hauptsache SPD“ gehandelt hat, sondern
mich direkt darauf hingewiesen hat, dass die Kollegin
Schieder den Antrag aufseiten unseres Koalitionspartners
mit ausgearbeitet hat . Daher gilt mein Dank zu Beginn
diesmal richtigerweise den Kollegen Jung und Schieder
für ihre ausgezeichnete Arbeit .
({2})
Beim Lesen des Protokolls sind mir noch zwei weitere
Dinge aufgefallen, die, zumal sie teilweise in der heutigen Debatte wieder angeklungen sind, Herr Mutlu und
Frau Hein, nicht unwidersprochen bleiben dürfen .
Liebe Kollegin Hein, Sie erkennen ja durch Ihre Enthaltung die Leistungen der Koalitionsfraktionen und
auch der Bundesregierung an . Wir sind uns ja auch
fraktionsübergreifend einig, dass die Bekämpfung des
Analphabetismus eine gesamtgesellschaftliche Daueraufgabe ist, deren Lösung Zeit braucht, da dieser trotz
vieler Bemühungen und Initiativen immer noch zu oft ein
Tabuthema ist . Von heute auf morgen werden natürlich
auch Scham, Vorurteile und Halbwissen in diesem Bereich nicht verschwinden . Aber ich bin davon überzeugt,
dass im Rahmen der Dekade deutliche Fortschritte erzielt
werden . Gestört hat mich daher vor allem eines: Sie haben in Ihrer ersten Rede behauptet, dass den Regierungsfraktionen „‚die schwarze Null‘ wieder näher als die
Lese- und Schreibkompetenz der Menschen in unserem
Land“ sei. Ich finde, in dieser Einfachheit und auch in
dieser Zuspitzung kann das nicht unwidersprochen bleiben . Wir als CDU und CSU sind stolz auf die schwarze
Null . Sie leistet einen enormen Beitrag zur Generationengerechtigkeit. Sie ermöglicht finanzielle Handlungsspielräume . Die Bildungsausgaben sind seit Beginn der
Kanzlerschaft von Angela Merkel permanent gestiegen .
Das Volumen des Haushalts des BMBF hat sich verdoppelt; in diesem Jahr packen wir 7,2 Prozent drauf . Genauso gerne stellen wir jetzt auch finanzielle Mittel für
die Dekade zur Verfügung . 180 Millionen Euro sind eine
stolze Summe, mit der man eine Menge auf die Beine
stellen kann .
({3})
Kollege Kaczmarek hat in der letzten Debatte völlig richtig gesagt, dass die Dekade für Alphabetisierung einen
deutlichen Schritt nach vorne bedeutet .
Die Grundfarben dieses Themas sind nicht Schwarz
und Weiß wie auf einem Schachbrett, lieber Herr Mutlu .
Es ist nicht so, dass - Zitat - „die Betroffenen angeschmiert sind“ und ihnen in - Zitat - „keiner Weise geholfen wird“ . Es ist auch nicht so, dass die Abschaffung
des Kooperationsverbotes der Zaubertrank zur Unbesiegbarkeit des deutschen Bildungssystems ist .
({4})
Es ist gut, dass das BMBF jetzt die Federführung
bei der Koordinierung all dieser Maßnahmen hat; dort
gibt es ja auch sehr viel Kompetenz und sehr großes
Engagement . Aber die Auswirkungen der notwendigen
Maßnahmen haben auch viele Berührungspunkte mit der
Familien-, der Integrations- und der Arbeitsmarktpolitik . Alphabetisierung und Grundbildung sind eine Querschnittsaufgabe für alle gesellschaftlichen Akteure:
({5})
für Gewerkschaften genauso wie für Arbeitgeber, für
Länder und Kommunen ebenso wie für den Bund . Deshalb sind die Regionalen Grundbildungszentren, die wir
einführen wollen, lokale Bündnispartner und Netzwerke
unabdingbar für den Erfolg der Dekade .
Im Gegensatz zu den Grünen habe ich die Antwort
der Regierung auf die Anfrage nicht als PR empfunden,
sondern als eine gelungene Übersicht über die Vielzahl
bereits existierender Programme und Fördermaßnahmen,
die hier gerade auch alle schon genannt worden sind . Von
daher möchte ich mich an dieser Stelle bei allen Beteiligten,
(Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Danken Sie uns doch für unsere Anfrage!
die sich seit Jahren beruflich und ehrenamtlich in diesem
Bereich engagieren, für ihren Einsatz bedanken,
({6})
Es ist nicht so, dass wir jetzt einfach weitermachen
wie bisher . Es ist auch niemand damit zufrieden, dass die
Lesekompetenz in Deutschland unter dem OECD-Durchschnitt liegt . Deshalb ist es selbstverständlich - wir als
CDU/CSU-Bundestagsfraktion unterstützen das ausdrücklich -, dass wir die Maßnahmen aufgrund neuer,
veränderter gesellschaftlicher und politischer Rahmenbedingungen stärker mit der Lebenswirklichkeit der Menschen verknüpfen müssen . Wir brauchen eben qualitativ
hochwertige Aktivitäten am Arbeitsplatz, in der Aus- und
Fortbildung und in der Weiterbildung ebenso wie auch
in den Sportvereinen . Deshalb ist es richtig, dass im Antrag die Qualitätsfrage, beispielsweise hinsichtlich der
Curricula, gestellt und gefordert wird, die bisherigen
Forschungs- und Evaluationsergebnisse im Hinblick auf
erfolgreiche Maßnahmen weiter zu berücksichtigen .
Aber es ist genauso wichtig, dass die Teilnehmer an
all diesen Maßnahmen auch von Anfang an das Gefühl
haben, dass ihre Teilnahme kein Zeichen der Schwäche
oder Demütigung, sondern ein Zeichen der Stärke ist,
({7})
dass die Maßnahmen ihnen einen Mehrwert bringen und
sie bei allem Ernst auch Spaß machen können .
Des Weiteren möchte ich als Berichterstatter für das
Thema „Digitale Bildung“ auf die entsprechenden Potenziale hierzulande zu sprechen kommen . Die Ministerin
hat in ihrer Haushaltsrede zu Recht darauf hingewiesen, dass bereits 500 000 Lernende an den Selbstlernprogrammen des Deutschen Volkshochschul-Verbandes
teilgenommen haben . Qualitativ gute Blended- und Mobile-Learning-Angebote bieten enorme Chancen, kostenlos, zeit-, orts- und lehrerunabhängig ohne Druck zu lernen . Als Lehrer kann ich nur bestätigen, dass das Gefühl
permanenter Beobachtung durch jemanden, der jeden
Fehler sieht, oftmals dazu führt, dass man gehemmt ist .
Von daher ist das eine gute Idee. Deswegen, finde ich,
können die Plattformen „www .ich-will-lernen .de“ und
„www .ich-will-deutsch-lernen .de“ nicht oft genug positiv erwähnt werden .
({8})
Weil die digitale Welt auch ein Bestandteil der Lebensrealität von Menschen ist, die nicht ausreichend
lesen und schreiben können, möchte ich die Bundesregierung bestärken, auf diesem Weg fortzuschreiten . Die
Entwicklung einer App zum Deutschlernen für Flüchtlinge ist bereits angesprochen worden; über die Bildungsmaßnahmen in diesem Bereich diskutieren wir gleich .
Das ist, finde ich, eine sehr gute Idee. Man kann durchaus
überlegen, ob man einmal mit der Bundesagentur für Arbeit darüber spricht, ob es möglich ist, diesen Ansatz auf
die Grundbildung auszuweiten . Wir sollten auch darüber
nachdenken, ob es sinnvoll ist, die Informationskampagne des Bundesbildungsministeriums über funktionalen
Analphabetismus, die bald startet, zu einem großen Teil
im Internet und in sozialen Netzwerken durchzuführen .
Auch ich möchte auf den präventiven Ansatz des Projektes „Lesestart“ der Stiftung Lesen hinweisen .
({9})
Es ist ein gutes Beispiel dafür, dass der Bund auch in
der Schule helfen kann und dass Koordination und Kooperation dort funktionieren bzw . funktionieren können .
Der Parlamentarische Abend in dieser Woche hat auch
noch einmal verdeutlicht, welch hohe Sympathie dieses
Projekt genießt .
Da ich am Anfang über Fehler gesprochen habe,
möchte ich nicht damit enden, dass ich hier die Redezeit
überziehe .
({10})
Vielmehr möchte ich mit einem weiteren Konfuzius-Zitat schließen, das auch passt, weil Sie, lieber Herr Mutlu,
auch von Wegen gesprochen haben . Konfuzius sagt nämlich: „Wenn du siehst, dass dein Ziel noch fern ist, dann
fang an, dich auf den Weg zu machen .“ Meine Damen
und Herren, CDU/CSU und SPD sind bereits auf dem
Weg .
({11})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen und
den Linken, bleiben Sie jetzt nicht am Rand stehen und
enthalten sich, sondern stimmen Sie unserem Antrag zu .
Vielen herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit und
uns morgen allen einen schönen 25 . Jahrestag der Deutschen Einheit .
({12})
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der
Kollege Oliver Kaczmarek, SPD-Fraktion .
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das ist
einer der seltenen Fälle, in denen wir über eine Anregung
des Parlaments reden, die die Regierung zwischen der
ersten und der zweiten Lesung des Antrags direkt schon
in die Tat umsetzt .
Wir finden es erst einmal gut, dass das jetzt Fahrt aufgenommen hat . Wir wollen als Parlament mit diesem Antrag aber auch deutlich machen: Wir wollen das Thema
jetzt nicht für zehn Jahre abgeben, sondern es aktiv mitgestalten . Das zeigt auch die engagierte Debatte hier . Gemeinsam - Parlament und Regierung - schaffen wir das .
({0})
Es ist aber auch wichtig, zum Schluss der Debatte
einen Blick auf die Frage zu werfen: Was wollen wir
eigentlich nach den zehn Jahren der Alphabetisierungsdekade erreicht haben? Ich möchte gerne vier Anmerkungen dazu machen .
Erstens . Wir müssen besser machen, was in der Vergangenheit nicht geklappt hat . Die Vereinten Nationen
haben 2003 bis 2012 zur Weltalphabetisierungsdekade
aufgerufen mit dem Ziel, die Zahl der betroffenen Menschen zu halbieren . Das Ergebnis war, dass weltweit die
Zahl der betroffenen Menschen von 20 auf 17 Prozent
gesunken ist . Das war gut, aber nicht ausreichend .
Wir müssen aus dieser Weltalphabetisierungsdekade
für unsere nationale Dekade lernen . Wir brauchen realistische Ziele . Wir brauchen geeignete Instrumente . Wir
brauchen Personen, die vorangehen . Deswegen war es
gut, dass die Ministerin gemeinsam mit der Kultusministerkonferenz den Impuls gesetzt hat . Und wir brauchen
Geld . Ich will daran erinnern, dass Tony Blair in Großbritannien 3,6 Milliarden Euro für die Skills-for-Life-Strategie mobilisiert hat . Das kann man mit unserer Summe
nicht vergleichen, weil wir hier nur über Bundesgeld
reden; die Länder werden noch ein Vielfaches drauflegen . An dieser Stelle wollen wir jedoch auch sagen: Die
180 Millionen Euro, die die Ministerin in den Raum gestellt hat, finden wir gut, aber das kann nur eine Untergrenze sein . Wir helfen gern mit, da noch mehr Geld zu
mobilisieren .
({1})
Zweite Anmerkung . So gut es ist, dass Bund und Länder jetzt vorangegangen sind: Allein werden sie es nicht
schaffen . Wir müssen in den nächsten zehn Jahren ein
tragfähiges Alpha-Netzwerk aufbauen . Wir brauchen
die Kompetenz derjenigen, die sich teilweise schon seit
Jahrzehnten in der Alphabetisierungs- und Grundbildungsarbeit engagieren, sei es die Volkshochschule in
meiner Heimatstadt, die schon seit den 80er-Jahren Alphabetisierungskurse anbietet, oder seien es die großen
Verbände: der Deutsche Volkshochschul-Verband allen
voran, die Stiftung Lesen ist schon genannt worden, der
Bundesverband Alphabetisierung und Grundbildung, um
nur drei Beispiele zu nennen . Das sind diejenigen, die die
Kurse durchführen . Sie beraten am Alpha-Telefon, stellen die Unterrichtsmaterialien zusammen und qualifizieren die Kursleiter . Die Einbeziehung der Akteure der Alphabetisierungs- und Grundbildungsarbeit in die Dekade
ist daher auch eine Frage der Wertschätzung der Arbeit,
die dort teilweise schon seit Jahrzehnten geleistet wird .
({2})
Ich habe eine Bitte: Lassen Sie uns auch die lokalen
Netzwerke, die sich in letzter Zeit gebildet haben, im
Blick behalten . Die regionalen Grundbildungszentren
sind sicherlich ein guter Ansatz; das ist hier schon thematisiert worden .
Vor Ort, in den Städten, können wir weitere Akteure
an den Tisch holen, die wichtig sind: die Schulen, die
Jobcenter, die lokale Wirtschaft, die Stadtverwaltung und
viele andere mehr . Direkte Hilfe vor Ort zu organisieren,
das könnte auch ein Erfolgsrezept dieser Dekade sein .
Deswegen lassen Sie uns auch die Vor-Ort-Ebene im
Blick behalten .
Dritte Anmerkung . Was wollen wir in zehn Jahren erreicht haben? Wir wollen in zehn Jahren mehr über Analphabetismus und seine Ursachen wissen . Viele stehen
immer noch ratlos vor dem Phänomen und fragen sich:
Wie ist das eigentlich möglich - 7,5 Millionen betroffene Menschen in Deutschland trotz Schulpflicht, trotz
Erwerbstätigkeit, trotz Muttersprache Deutsch? Und wie
können sie das eigentlich in unserem schriftgeprägten
Alltag verheimlichen?
Die Wahrheit ist: Wir wissen etwas über das Ausmaß des funktionalen Analphabetismus, aber wir wissen
herzlich wenig über die Ursachen und die Wechselwirkungen des Analphabetismus . Deswegen ist es gut, dass
die „leo .“-Studie - sie ist hier mehrfach genannt worden - fortgesetzt wird . Wir brauchen in diesem Bereich
kontinuierliche und gut ausgestattete Forschung . Die
„leo .“-Studie ist ein Teil davon . Wir wollen, dass da in
den nächsten Jahren noch mehr passiert .
({3})
In dem Zusammenhang möchte ich neben der Forschung und den anderen Akteuren auch die Menschen
benennen, die sich in den letzten Jahren getraut haben,
als Betroffene an die Öffentlichkeit zu gehen und zu zeigen, wie sie gelebt haben . Wir haben von denjenigen, die
sich getraut haben, als Botschafter und Lernende an die
Öffentlichkeit zu gehen, viel gelernt . Herzlichen Dank
dafür, und Respekt vor dem Mut!
({4})
Vierte Anmerkung . Wir wollen in diesen zehn Jahren erreichen, dass kein Analphabet mehr am Rande der
Gesellschaft steht; wir wollen, dass ihm oder ihr geholfen wird . Wir wollen Menschen ermutigen, Lesen und
Schreiben zu lernen . Das ist oft ein langwieriger Prozess .
Dabei reicht es nicht aus, einen Kurs zu besuchen . Es
braucht Anreize, sich der Herausforderung zu stellen und
zu erkennen, dass man mit dem Problem des Analphabetismus nicht allein ist .
Aber es braucht auch - Frau Kollegin Schieder hat
darauf hingewiesen - einen Anreiz, zu erkennen, wo
ein Mitmensch von Analphabetismus betroffen ist . Wir
brauchen mehr ausgestreckte Hände: in der Familie, im
Betrieb, in den Verwaltungen oder anderswo . Dabei sind
die Öffentlichkeitskampagnen, die dort gestartet werden,
besonders wichtig . Es geht nicht um eine Werbekampagne . Die Kampagne soll diejenigen erreichen, die einen
Kurs besuchen wollen, wie auch diejenigen, die erkennen, dass jemand ihre Hilfe braucht . Deswegen ist auch
das ein ganz besonders wichtiger Teil .
({5})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich komme zum
Schluss . Wir haben viele gute Ziele in unseren Antrag
aufgenommen . Wir werden die Dekade als Parlament begleiten . Ich bin zuversichtlich, dass wir einen wichtigen
Fortschritt dabei erzielen, dass wir die Menschen unterstützen, Lesen und Schreiben zu lernen .
Herzlichen Dank .
({6})
Vielen Dank . - Mit dem Beitrag von Herrn Kaczmarek
ist die Aussprache beendet .
Wir kommen damit zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung zu dem Antrag
der Fraktionen der CDU/CSU und SPD mit dem Titel
„Zugang und Teilhabe ermöglichen - Die Dekade für Alphabetisierung in Deutschland umsetzen“, der, wie Sie
alle gehört haben, auch in einfacher Sprache vorliegt und
damit auch für uns im Bundestag beispielhaft ist auf dem
Weg zu einem barrierefreien Parlament .
({0})
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 18/6179, den Antrag der Fraktio-
nen der CDU/CSU und SPD auf Drucksache 18/5090
anzunehmen . Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die
Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von CDU/
CSU und SPD bei Enthaltung der Fraktionen Die Linke
und Bündnis 90/Die Grünen angenommen .
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 21 a und 21 b auf:
a) Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
CSU und SPD
Die Alpen - Vielfalt in Europa - Ziele der Alpenkonvention voranbringen und nachhaltig
gestalten
Drucksache 18/6187
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Tourismus ({1})
Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft
Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicher-
heit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss für Kultur und Medien
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Markus
Tressel, Dr. Anton Hofreiter, Steffi Lemke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Tourismusprotokoll der Alpenkonvention umsetzen - Wintertourismus nachhaltig gestalten
Drucksache 18/4816
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Tourismus ({2})
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss für Kultur und Medien
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen . - Ich sehe bei
Ihnen keinen Widerspruch . Dann ist so beschlossen .
Ich bitte Sie jetzt alle, die Plätze einzunehmen . - Dann
eröffne ich die Aussprache . Das Wort hat der Kollege
Dr . Hans-Joachim Schabedoth, SPD .
({3})
Vielen Dank . - Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Als Hannibal 218 vor Christus mit großem
Heer und vielen Elefanten über die Alpen zog, hat das
den Alpen wohl weniger geschadet als den Elefanten . Die
Verkehrsströme von heute wirken sicherlich deutlich belastender . Deshalb sind die Alpen auf schützende Regeln
angewiesen . Denn die Alpen sind eine Schatztruhe für
Europa, in vielerlei Hinsicht einzigartig und von existenzieller Bedeutung . Sie sind Erholungs-, Wirtschafts- und
Lebensraum . Sie zeigen atemberaubende Landschaften .
Die Gletscher, Seen und Schneefelder halten wichtige
Süßwasserreserven für große Teile Europas . Die Bergwälder schützen vor Erosion, Lawinen und Hochwasser . Insgesamt leben in den Alpen rund 30 000 Tier- und
13 000 Pflanzenarten. Einige davon sind nach der Roten
Liste gefährdet, und leider nicht nur Edelweiß und Enzian .
Der Reichtum der Alpen ist allerdings auch ein Magnet der Wünsche . Eine Vielzahl von Interessen trifft
hier aufeinander . Knapp 14 Millionen Menschen leben
in den Alpen . In der Alpenregion mit Voralpenland leben
70 Millionen . Alle wollen hier irgendwie gut leben und
wirtschaften, ihren Traditionen nachgehen und möglichst
auch den kommenden Generationen ein Naturerbe hinterlassen . Mindestens 100 Millionen Menschen suchen
jährlich in den Alpen Erholung und Vergnügen beim
Skifahren, Klettern, Radfahren, Wandern, Gleitschirmfliegen und beim Golfen. Die Vielzahl der Interessen,
die hier aufeinandertreffen, zeigt sich in der Dichte der
Initiativen, Vereine, Verbände, Projekte und Programme
über die Nutzung, den Schutz und den Erhalt der Alpen .
Mittlerweile gibt es vier makroregionale Strategien
der EU für den Alpenraum . Die älteste der europäischen
Alpenstrategien ist die Alpenkonvention . Auf sie bezieht
sich unser Antrag . Was ist die Alpenkonvention? Sie ist
ein regionales politisches Programm, ein völkerrechtlicher Vertrag, mit dem sich die Alpenstaaten verpflichten,
ihr Handeln im Alpenraum grenzüberschreitend zu koordinieren . Ziel ist, den Lebens- und Wirtschaftsraum im
Einklang mit den natürlichen, ökologischen und sozialen
Anforderungen zu gestalten . Dabei sollen die Interessen
der Alpenstaaten, der alpinen Regionen, der EU, der Zivilgesellschaft und der alpinen Netzwerke aufgenommen
und berücksichtigt werden .
Mitglieder der Alpenkonvention sind die EU und die
acht Alpenstaaten . Wer jetzt beim Aufzählen nur auf Österreich, Deutschland, Italien, die Schweiz und Frankreich kommt, der hat Slowenien, Liechtenstein und Monaco vergessen .
Die Alpenkonvention besteht aus einer Rahmenkonvention sowie ihren Durchführungsprotokollen und Deklarationen. Die Rahmenkonvention definiert über zwölf
Themenfelder die allgemeinen Maßnahmen und Grundsätze, nach denen die Alpenstaaten gemeinsam agieren
wollen . Durchführungsprotokolle gibt es zu acht Fachthemen: Raumplanung und nachhaltige Entwicklung,
Naturschutz und Landschaftspflege, Berglandwirtschaft,
Bergwald, Tourismus, Energie, Bodenpflege und Verkehr .
Was ist aber das Besondere an der Alpenkonvention?
Sie ist eine von unten gewachsene Organisation, eine sogenannte Bottom-up-Institution, entstanden auf Initiative
der Internationalen Alpenschutzkommission CIPRA . Sie
bezieht ihren Anwendungsbereich auf ein klar definiertes
regionales Gebiet . Die Ziele sind zwischen den Alpenstaaten abgestimmt und bilden die Grundlage für alpenweit integrative und nachhaltige Strategien . Hervorheben
will ich deshalb diesen ganzheitlichen Ansatz . Sowohl
Schutzbedürfnisse als auch Wertschöpfungsinteressen
im Alpenraum werden aufgenommen und in Einklang
gebracht .
({0})
Die Alpenkonvention verfügt über ein bewährtes Mehrebenen-Steuerungssystem . Sie verbindet die europäische, die nationale und die kommunale Ebene . Das Gesamtkonzept der Alpenkonvention ist äußerst ehrgeizig,
wie Sie daran erkennen können . Es hat Vorbildcharakter
Vizepräsidentin Ulla Schmidt
für andere Gebirgsregionen der Welt . In den Karpaten ist
inzwischen eine Schwesterkonvention entstanden, die
Karpatenkonvention . Die westlichen Balkanstaaten haben 2010 eine Erklärung unterzeichnet, die den Weg für
eine künftige internationale Rechtsvereinigung - ähnlich
der Alpenkonvention - bereiten soll . Auch im Kaukasus,
in Zentralasien und sogar in den südamerikanischen Andenstaaten gibt es Überlegungen, die Gestaltung von Politiken für Bergregionen in einer gemeinsamen Strategie
über die jeweiligen Ländergrenzen hinaus zu koordinieren .
({1})
Die Bundesrepublik hat im November 2014 von Italien - ich glaube, darauf sind wir alle stolz - den Vorsitz
der Alpenkonvention übernommen und gibt diesen Vorsitz im November 2016 an Österreich weiter . Die deutsche Haltung ist dabei nicht: Jetzt haben wir den Vorsitz
und bringen das irgendwie mit Anstand hinter uns . - Wir
wollen den Vorsitz nutzen, um unter dem Motto „Die Alpen - Vielfalt in Europa“ Schrittmacherdienste zu leisten . „Vielfalt“ steht hier für die Vielfalt der Kulturen der
Alpenstaaten, für die biologische Vielfalt der Bergregion, für die Einbindung in europäische Verkehrsströme,
für die Infrastrukturentwicklung und die Einbindung in
die Entwicklung einer europäischen makroregionalen
Strategie .
({2})
Die Bundesrepublik hat den Ehrgeiz, gemeinsam mit der
Bayerischen Staatsregierung die Ziele der Alpenkonvention maßgeblich und beispielhaft voranzubringen .
Bis 2016 hat sich der deutsche Vorsitz eine Vielzahl
an Projekten vorgenommen . Ich nenne hier die Themenfelder Biodiversität, nachhaltiger Tourismus, Transport
und Mobilität, Bodenschutz, Berglandwirtschaft, Bergwald, Raumplanung, Wasserwirtschaft . Und eine digitale
Agenda gibt es auch . Aus der Fülle der Beispiele will ich
nur wenige hervorheben:
Bad Hindelang arbeitet derzeit an einer Digitalisierung seines gesamten Tourismusangebots . Es gibt bereits
eine virtuelle Pistenabfahrt und eine Gästekarte, mit der
öffentlicher Nahverkehr, Bergbahnen und verschiedene
Freizeitangebote genutzt werden können . Das Projekt
„Digitales Bad Hindelang“ ist ein Gewinner des Wettbewerbs „Zukunftsstadt 2030+“ und wird bereits im aktuellen Bundeshaushalt verdientermaßen gefördert .
Ein weiteres Beispiel ist das Projekt „Crossing Borders“, ein transnationales Projekt mit Italien und Österreich . Es soll die Elektromobilität im Alpenraum fördern .
Zum Ausbau der digitalen Infrastruktur wird unter
dem deutschen Vorsitz erstmals ein Erfahrungsaustausch
zwischen den Vertretern der Alpenstaaten angeregt . Dabei will man die Möglichkeiten für einen flächendeckenden und grenzüberschreitenden Ausbau von schnellem
Internet und Funkdiensten identifizieren und dann koordinieren .
Allen Projekten gemeinsam ist der Grundgedanke,
im Einklang mit den Grundsätzen der Alpenkonvention
und orientiert an den Bedürfnissen der Menschen vor Ort
musterhafte Lösungen für einen nachhaltigen und ressourcenschonenden Tourismus zu entwickeln .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir wollen mit unserem Antrag das höchst ambitionierte Programm der
Bundesregierung im Vorsitz der Alpenkonvention unterstützen . Wir greifen das Konzept der Vielfalt auf . Wir
verstehen auch den Tourismus als Querschnittsthema, das
in viele Ressorts hineinwirkt: Wirtschaft und Umwelt,
Verkehr, Arbeit und Soziales, Ernährung und Landwirtschaft, Sport, Europa-, Länder- und Kommunalpolitik .
Nun liegt ein zweiter Antrag, nämlich von den Grünen, vor . Er enthält auch gute Ansätze .
({3})
- Das erwarten wir auch von Ihnen . - Doch wie schon
ein rascher Vergleich belegt, ist unser Ansatz doch etwas
umfassender und weiterführender .
({4})
Der grüne Antrag verengt die Thematik auf innovative
Tourismuskonzepte, zu sehr konzentriert auf den Wintertourismus . Wenn Sie unseren Antrag noch einmal etwas
sorgfältiger lesen, werden Sie sehen: Wir verknüpfen
die Anliegen des nachhaltigen Tourismus mit der Fülle
der eben genannten sonstigen Herausforderungen . Die
Interessen der Bewohner des Alpenraums, der Zivilgesellschaft und der alpinen NGOs werden mit berücksichtigt . Wir heben die sozioökonomische Bedeutung des Alpentourismus hervor, beziehen uns auf die Lebens- und
Arbeitsbedingungen der ansässigen Bevölkerung und auf
die ländlichen Siedlungsstrukturen .
Für den Tourismus geht es uns um die Entwicklung
eines ausgewogenen ganzjährigen Tourismusangebots,
also nicht nur im Winter, um eine Balance zwischen den
Interessen und der Lebensqualität der Ortsansässigen und
einer schonenden touristischen Nutzung . Wir legen sehr
viel Wert darauf, die grenzüberschreitende Zusammenarbeit zu vertiefen, um ein kohärentes Gesamtkonzept für
den gesamten Alpenraum aufzustellen, Synergieeffekte
zu identifizieren und zu nutzen.
Fazit: Die Alpenkonvention enthält eine Fülle etablierter Strukturen und Arbeitsweisen, die dem deutschen
Vorsitz beste Anknüpfungspunkte bieten, um den Lebensraum Alpen für Natur und Mensch nachhaltig zu
sichern .
Wir wollen ganz besonders dazu beitragen, dass wir
nicht nur Nutzer, sondern auch Schützer der Alpen sind .
Ich bitte um die Zustimmung zu unserem Antrag .
({5})
Vielen Dank . - Für die Fraktion Die Linke hat jetzt die
Kollegin Kerstin Kassner das Wort .
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Für mich hat dieses Thema - zumal am Vorabend des
25 . Geburtstages - die Dimension der deutschen Einheit . In den 90er-Jahren - Sie werden sich vielleicht erinnern - gab es die Fernsehserie Ein Bayer auf Rügen .
Jetzt spricht eine Rüganerin über die Alpen in Bayern .
Allerdings gehören die Alpen ja nicht nur zu Deutschland, sondern, wie wir gerade von Herrn Dr . Schabedoth
gehört haben, zu vielen Ländern . Deshalb ist das eine
spannende Aufgabe .
Nun kenne ich mich, ehrlich gesagt, in den Alpen nicht
so gut aus . Ich habe noch nicht so oft Gelegenheit gehabt,
dort Urlaub zu machen oder mich über das Thema noch
weitgehender zu informieren . Allerdings habe ich beim
Studium der beiden Anträge, aber auch der Konvention
an sich erfahren, dass die Problematiken, die wir Rüganer oder Bewohner von Küstenländern haben, mit denen
der Bewohner der Alpen vergleichbar sind: Überall dort,
wo es sehr viele Touristen gibt und wo der Tourismus die
stärkste Wirtschaftskraft ist, gibt es ähnliche Probleme .
Man muss eben die Herausforderungen, die die weltweite Klimaerwärmung mit sich bringt, anpacken und Strategien entwickeln, wie man damit umgeht .
Uns bereitet die ansteigende Meeresoberfläche Pro‑
bleme . In den Alpen ist es der auftauende Permafrostboden, der nur noch am Gipfel der Alpen fest vereist ist . Inzwischen beginnt dieser Permafrostboden schon 150 bis
200 Meter höher, also die Fläche, die lange genug über
ausreichend Schnee verfügt . Das stellt viele vor große
Herausforderungen .
Man muss auch sagen: Das hat noch weitere Folgen .
Durch das Abschmelzen werden die Berge auch brüchiger . Man muss in dieser Gegend mit Schlammlawinen
und Steinschlag rechnen . All das macht das Leben dort
nicht leichter . Deshalb suchen wir gemeinsam nach Strategien, wie man aus dieser Situation herauskommt .
Ein Thema, das auch wir kennen, ist die Saisonverlängerung . Dabei wird nicht nur auf eine Saison gesetzt, hier
die Wintersaison, sondern auch auf eine andere Saison,
also hier die Sommersaison; bei uns ist das genau umgekehrt . Man reagiert mit vielfältigen Angeboten, etwa
durch die Schaffung von zusätzlichen Wandermöglichkeiten und anderen Möglichkeiten zur Freizeitgestaltung,
die man den Gästen offeriert, also nicht nur das Skifahren . Weitere Möglichkeiten sind verkehrliche Angebote,
indem man tatsächlich Alternativen schafft . Ich nenne
hier nur das Stichwort „Elektrofahrzeuge“ .
Eine ganz wichtige Sache - das möchte ich sogar an
den ersten Punkt der Liste stellen - ist, dass man die
Menschen mitnimmt, dass man den Menschen von Anfang an darlegt, was das Besondere in der Region ist und
wie wichtig und erhaltenswert sie ist . Natürlich muss
auch das, was vorhanden ist, miteinander verknüpft werden, also Alpen und Landwirtschaft - das kennen wir -,
aber auch gesunder Raum mit Flora und Fauna . Damit
kann man eine ganze Menge an zusätzlichen Angeboten
entwickeln .
Eines aber sage ich ganz bewusst: Das Berieseln der
Hänge mit Schneekanonen ist wahrscheinlich nicht der
richtige Weg . Er bringt vielleicht kurzfristig Erfolg, aber
auf lange Sicht ist das nicht die Lösung für die Probleme
in den Alpen; das muss man ganz deutlich sagen .
({0})
Ich habe gerade auf einer Website etwas über ein Skigebiet zwischen Bayrischzell und Brandenburg gelesen;
Frau Ludwig wird dazu bestimmt etwas sagen .
({1})
In einem Winter werden dort 430 000 Kilowatt Strom
benötigt, um dieses Skigebiet mit Schnee zu versorgen .
Weiterhin wird da ein CO
-Ausstoß von 79 Tonnen pro
Jahr angegeben und dieser Wert - jetzt hören Sie einmal
genau hin - mit dem Ausstoß eines Diesel-Pkw verglichen . Wir wollen einmal ehrlich sein: So richtig glauben
wir dem alle nicht . Deshalb sage ich: Andere Strategien,
wie ich sie vorhin nannte, die soziokulturelle und verkehrliche Alternativen umfassen, sind der deutlich bessere Weg, um aus dieser Situation herauszukommen .
({2})
Ich wünsche dem deutschen Vorsitz wirklich gute Ergebnisse . Bei der XIV . Alpenkonferenz, die am 13 . Oktober 2016 stattfinden wird, soll ja ein Handbuch mit dem
Titel 10 Jahre ökologische Konnektivität in den Alpen
vorgelegt werden . Ich bin sehr gespannt auf die Ergebnisse, die uns beispielsweise die Raumordner dort vorlegen . Denn ich bin mir sicher: Das, was wir dort erfahren,
wird nicht nur für die Alpen Modellcharakter haben, sondern auch für uns .
An die Kollegen der Großen Koalition habe ich eine
Bitte: Sie haben einen Antrag vorbereitet, der viel enthält . Vielleicht gelingt es Ihnen, die 500 000 Euro, die
wir für den Titel „Leistungssteigerung im Tourismusgewerbe“ verlieren, wiederzubekommen, beispielsweise
für innovative Vorhaben in der Alpenregion . Ich würde
mich darüber sehr freuen, auch als Rüganerin .
Vielen Dank .
({3})
Vielen Dank . - Als Nächste hat Daniela Ludwig,
CDU/CSU-Fraktion, das Wort .
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Frau Kassner, ich darf mir Ihre letzte Aufforderung
persönlich und ganz wörtlich ins Stammbuch schreiben .
Ich habe schon am vergangenen Mittwoch im Ausschuss
genau das gleiche Anliegen formuliert . Wir sind jetzt gerade dabei, dies auch unseren Haushältern näherzubringen . DZT-Mittel sind schön und gut, aber wir brauchen
auch weiterhin eine Förderung innovativer Projekte vonseiten des Bundes . Da können wir diese 500 000 Euro
sehr gut gebrauchen .
({0})
Dafür werden wir uns einsetzen . Wenn Sie uns dabei unterstützen, freut uns das natürlich umso mehr .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Deutschland ist auch
2015 das geblieben, was es bereits in den vergangenen
Jahren war: eines der attraktivsten Reiseziele der Welt .
Allein im ersten Halbjahr 2015 konnten wir die Zahl der
Übernachtungen von in- und ausländischen Gästen bei
uns im Land um 3 Prozent steigern . Wir dachten schon,
2014 sei ein Rekordjahr . Das Ergebnis von 2015 wird das
von 2014 definitiv noch toppen. Das liegt sicherlich nicht
nur daran - das wissen wir alle -, dass wir in Deutschland
eine breite Palette touristischer Angebote haben, sondern
das liegt insbesondere auch daran, dass uns der Erhalt unserer Landschaft, und zwar von Rügen bis zu den Alpen,
wie auch der biologischen Vielfalt sehr am Herzen liegt
und wir sie trotz Tourismus weiter aufrechterhalten wollen . Insofern ist es ganz besonders schön - das ist auch
der Anlass unseres Antrages -, dass die Bundesrepublik,
namentlich die Bundesregierung, derzeit den Vorsitz der
Alpenkonvention hat . Das Motto ihres Programms ist
„Die Alpen - Vielfalt in Europa“ . Besonderes Augenmerk wird der deutsche Vorsitz auf eine Politik des „Grünen Wirtschaftens im Alpenraum“ richten . Ich glaube, da
sind wir schon sehr nah beieinander .
Es sind viele Ziele formuliert worden . Ich möchte
mich auf einige wenige konzentrieren .
Zum einen müssen wir uns die Verkehrsströme im Alpenraum sehr genau anschauen . Sehr viele touristische
Orte erreicht man am Ende des Tages eigentlich nur mit
dem Pkw, weil die Bahn vielleicht nicht ins letzte Bergdorf fährt, das aber ein ordentliches touristisches Angebot vorhalten kann . Das heißt, wir müssen die Alpen
als sensiblen Lebensraum dringend vom Pkw-Verkehr
entlasten und deutlich mehr Augenmerk auf den öffentlichen Personennahverkehr, aber eben auch auf den Schienenfernverkehr legen .
({1})
Das können wir auch schaffen . Die Alpen bieten uns
nämlich praktischerweise etwas an, was wir sonst selten
finden: Die touristische Infrastruktur konzentriert sich
auf ein paar wenige Regionen . 46 Prozent der Beherbergungsbetriebe befinden sich in 5 Prozent der Alpengemeinden . Das heißt, wenn wir uns darauf konzentrieren,
diese Gemeinden ordentlich an den Schienenverkehr anzubinden, muss das keine Vision bleiben, sondern kann
tatsächlich Wirklichkeit werden .
Einiges ist dazu in der Vergangenheit bereits getan
worden . Frau Kassner, Sie hatten es angesprochen: 2012
wurde schon das Projekt AlpInfoNet unter Federführung
des Bayerischen Staatsministeriums für Wirtschaft ins
Leben gerufen . Das ist keine neue Informationsplattform, sondern sie führt vielmehr alle Informationssysteme aus den Bereichen Tourismus und Verkehr zusammen, sodass sich jeder, der in die Alpen reisen will, sehr
konzentriert informieren kann, wie er sich dort am besten
fortbewegt . Das sollten wir ausbauen . Deswegen unterstützen wir mit unserem Antrag die Bundesregierung in
diesem Bemühen .
Wichtig ist natürlich, dass wir eine weitere Tourismussteigerung in den Alpen erwarten können . Man geht
davon aus, dass sich der Tourismus in den Alpen bis zum
Jahr 2030 noch um weitere 30 Prozent steigern lassen
wird . Umso wichtiger ist es, dass wir uns auch mit dem
CO
-Ausstoß in diesem sensiblen Lebensraum stärker
befassen; denn die Emissionen nehmen demgemäß von
Jahr zu Jahr zu . Daher müssen wir den Aktionsplan für
die Alpen, den es bereits gibt, auch an dieser Stelle sehr
ernst nehmen; denn, wie zu Anfang schon gesagt, Tourismus bei uns funktioniert nur deshalb so gut, weil wir
ihn immer zusammen mit dem Erhalt unserer Landschaft
betrachten . Es bedarf also einer starken Unterstützung
des Aktionsplans, der unter anderem sagt: Wir müssen
die Baubeschränkungen in Gletschergebieten und in sensiblen Naturräumen sehr ernst nehmen . Wir müssen den
Verkehr besser bündeln . Renovierung von touristischen
Betrieben muss vor ständigen Neubauten gehen . Das
sind, glaube ich, Kernpunkte, die wir alle unterstützen
können .
Wichtig ist ferner, dass wir, auch wenn ein Gebiet zu
einem großen Teil von Erholung und Tourismus lebt, die
einheimische Bevölkerung nicht vergessen und sie mitnehmen . Ich denke, dass das in Zukunft im Prinzip für
fast jeden touristischen Ort gelten muss, wenn wir von
nachhaltigem Tourismus sprechen und nicht nur von
kurzlebigen Aktionen, die da vor Ort stattfinden.
Natürlich bringt der Tourismus oftmals Probleme mit
sich bringt . Die Debatten, die wir zurzeit führen über die
Zulässigkeit von Ferienwohnungen in Wohngebieten und
dergleichen mehr, können wir selbstverständlich eins zu
eins auf die Alpen übertragen . Die touristischen Ziele
in den Alpen haben die gleichen Probleme wie wir: demografische Entwicklung, Umweltbelastungen, zu viel
Zuzug von Neubürgern und zu viel Wegzug von Leuten,
die dort aufgewachsen sind und mal gedacht haben, sie
könnten sich dort ihre Zukunft aufbauen . Auch hier muss
man schauen, dass man die Interessen der Fremdenverkehrswirtschaft langfristig mit den Interessen der einheimischen Bevölkerung zusammenbringt .
Wir unterstützen ganz ausdrücklich das Netzwerk der
sogenannten Bergsteigerdörfer - ich finde, das ist eine
ganz tolle Initiative -, wir haben es in unserem Antrag
explizit erwähnt . Es werden mit nationalen und EU-Mitteln beispielsweise Südtiroler Dörfer gefördert, die eine
ganz besondere Infrastruktur für Bergsteiger ausgebaut
haben . Dies geschieht nicht auf Kosten der Natur, weil
damit letztlich nicht zu viel Bautätigkeit verbunden ist .
Es soll bei einer exzellenten Landschaftsqualität ein
Bergsteigererlebnis auf ganz hohem Niveau angeboten
werden können . Ich glaube, dass das ganz wichtig ist .
Das ist nur eine von vielen Initiativen, mit denen sich die
Alpenkonvention beschäftigt und die in ihrem Rahmen
realisiert werden .
Ich möchte noch eine nennen, die zeigt, wie wichtig es
ist, auch die Jugend nicht nur in Erhalt und Förderung der
Tourismuswirtschaft in den Alpen mit einzubinden, sondern auch in Fragestellungen wie: Wie erhalten wir unsere Berglandschaft? Wie erhalten wir dieses einzigartige,
wahnsinnige Berggebilde, das uns in der Mitte Europas
so auszeichnet?
Das Akademische Gymnasium in Innsbruck hatte
2006 die Idee, ein Jugendparlament ins Leben zu rufen .
Dieses Jugendparlament begleitet sozusagen regelmäßig
die Alpenkonvention . Es soll den Jugendlichen, die in
den Alpen leben, die Möglichkeit geben, sich untereinander auszutauschen: Wie ist die Perspektive? Was stellt
ihr euch vor? Was wünscht ihr euch? Wie können wir die
Alpen ganz besonders schützen?
Das Karolinen-Gymnasium in meinem Wahlkreis, in
Rosenheim, beteiligt sich seit Jahren daran . Es ist wirklich eine tolle Sache, wenn man sieht, wie engagiert sich
die jungen Leute in diesem institutionalisierten Rahmen
mit der Thematik auseinandersetzen .
Insofern ist die Alpenkonvention eine tolle Sache . Es
ist schön, dass wir in diesem und im nächsten Jahr den
Vorsitz haben dürfen . Es zeigt sich natürlich auch: Qualität ist die Zukunft auch im Tourismus, nicht die Quantität. Ich finde, viele Touristiker, gerade im Alpenraum,
machen dies in toller Weise vor . Der Tourismusausschuss
hat Südtirol besucht und konnte sich davon überzeugen,
dass auch hier die Qualität an oberster Stelle steht und
nicht unbedingt der Massentourismus . Ich glaube, dass
wir hier gemeinsam noch viel erreichen können . Das ist
der Grund unseres Antrages .
Ich danke Ihnen herzlich für die Aufmerksamkeit und
darf um Ihre Zustimmung bitten .
({2})
Vielen Dank . - Für Bündnis 90/Die Grünen hat jetzt
Markus Tressel das Wort .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir haben jetzt schon viel über die Bedeutung der Tourismusbranche und auch über die Bedeutung der Alpen
gehört . Wir alle, die wir Tourismuspolitik betreiben, wissen, dass die Tourismusbranche vor allem von intakter
Natur lebt .
Die Alpen sind nicht nur eines der wertvollsten und artenreichsten Ökosysteme, sondern auch ein touristischer
Hotspot in Europa, und wir wissen auch, dass sie nicht
immer die politische Aufmerksamkeit bekommen, die
sie verdienen . Deshalb ist es wichtig und richtig, dass sie
mit dem deutschen Vorsitz in den Fokus rücken und dass
wir diese Debatte im Deutschen Bundestag heute auch
im Kontext eines der wichtigsten Wirtschaftszweige der
Alpen, des Tourismus, führen .
({0})
Wichtig ist - deswegen diskutieren wir das heute
auch -, dass Deutschland mit dem Vorsitz die Verantwortung dafür trägt, Treiber und Vorreiter für eine nachhaltige Entwicklung des Alpenraumes zu sein . Wir haben in
dieser Zeit des Vorsitzes die Chance, eine Zukunftsstrategie voranzutreiben, um die Alpen zu einem zukunftsfesten Urlaubsziel zu machen, sie ökologisch zu bewahren
und als Lebens- und Wirtschaftsraum zu erhalten und zu
entwickeln .
Wenn wir uns die Bilder der Alpen ansehen - im Fernsehen, aber auch, wenn wir selber vor Ort sind - und dabei einen Rückgang der Artenvielfalt und zerstörte Hänge erkennen, die nach immer milder werdenden Wintern
zum Vorschein kommen, dann wissen wir: Dagegen müssen wir etwas tun, und zwar grenzüberschreitend, aber
auch national .
Damit sich die Alpen als Reiseziel im Wettbewerb
erfolgreich behaupten können, müssen Politik und Unternehmen schnellstens auf die Klimakrise und die demografischen Veränderungen reagieren. Gerade bei
rückläufiger Schneesicherheit brauchen wir Alternativen
zum Skitourismus, der die Wertschöpfung im Alpenraum
erhält .
Herr Kollege Schabedoth, der Wintertourismus belastet die Alpen am meisten - nicht der Sommertourismus .
Deswegen haben wir in unserem Antrag auch einen Fokus darauf gelegt .
({1})
Der Tourismus muss seinen Beitrag leisten, um die
Umwelt und das Klima zu schützen und die Region
gleichzeitig attraktiver zu gestalten . Die Lösung heißt
hier „Innovation und unternehmerische Weiterentwicklung“ . Es geht auch darum - das hat die Kollegin gerade
ja auch gesagt -, die Menschen in der Region zu halten,
sodass wir die Fachkräftebedarfe vor Ort decken können .
Deswegen brauchen wir ein entsprechendes Konzept .
Aus diesem Grunde müssen wir hier auch Bundesmittel einsetzen, um zum Beispiel einen Forschungsschwerpunkt zum Thema „Innovationsprozesse im Tourismus
am Beispiel des Alpenraumes“ zu finanzieren, dessen
Ergebnisse am Ende auch für die Mittelgebirgsregionen
nutzbar wären . Da muss jetzt investiert werden - auch
außerhalb der klassischen Genres der vergangenen Jahrzehnte .
({2})
Wichtig ist auch, dass wir die Alpen zur Klimamodellregion entwickeln müssen . Das bedeutet auch Verbesserungen im Verkehrsbereich - das ist angesprochen
worden -: Wie komme ich dahin? Wie bewege ich mich
vor Ort? Daneben müssen wir auch sehr intensiv über die
Energieeffizienz und den Flächenverbrauch diskutieren.
Hier spielt die E-Mobilität sicher eine Rolle, aber auch
andere Themen sind hier wichtig .
Wie sieht das in der Praxis aus? Die Kollegin Kassner
hat das Skigebiet Sudelfeld mit dem, ich glaube, mittlerweile größten Speicherteich der Bundesrepublik angesprochen . Angesichts der Klimakrise waren die Anschaffung von 250 neuen Schneekanonen und die weiteren
Maßnahmen dort kein Weg, der weiter gangbar sein wird .
Dort sind über 3 Millionen Euro deutsches Steuergeld in
eine Technik investiert worden, die eben nicht zukunftsträchtig ist . Ich glaube, das Geld wäre in der Forschung
für zukunftsträchtige touristische Produkte und deren
Förderung besser angelegt gewesen .
({3})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ja, die Protokolle
der Alpenkonvention müssen schnellstmöglich umgesetzt und zum besseren Schutz der alpinen Arten- und
Ökosystemvielfalt weiterentwickelt werden . Dazu haben
wir jetzt die Chance . Diese sollten wir nutzen .
Bereits bestehende Förderprogramme müssen daraufhin überprüft werden, ob ihre Auswirkungen mit den
Zielen der Alpenkonvention in Einklang stehen . Hier
muss die Bundesregierung verstärkt auf die großen Zusammenhänge achten . Wir müssen das Know-how grenzüberschreitend bündeln und gucken, was wir hier grenzüberschreitend noch mehr tun können - insbesondere
im Hinblick auf die Klimakrise .
({4})
An dieser Stelle will ich festhalten, dass Ihre Forderungen durchaus in die richtige Richtung gehen . Ich
glaube auch, dass wir im Grunde genommen nicht weit
voneinander entfernt sind, liebe Frau Kollegin Ludwig .
Ich habe mit Wohlwollen zur Kenntnis genommen, dass
Sie eben, als die Kollegin das Sudelfeld angesprochen
hat, geklatscht haben . Wenn Sie das vor Ort als CSU
dann auch einmal umsetzen würden, dann könnten wir
alle ganz froh sein .
({5})
An dieser Stelle muss ich aber auch deutlich sagen:
Es ist bedauerlich, dass wir es bei einem so wichtigen
Thema nicht geschafft haben, heute hier einen gemeinsamen Antrag vorzulegen . Die Initiative dazu gab es ja . Ich
glaube, das wäre ein Signal der Geschlossenheit und dafür gewesen, dass wir den Alpenschutz ernst nehmen und
gemeinsam voranbringen wollen . Ich glaube, die Alpen
und auch die Branche würden es uns danken, wenn wir
da einen gemeinsamen Weg finden für die restliche Zeit
des deutschen Vorsitzes .
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit .
({6})
Und ich danke Ihnen . - Jetzt erhält die Kollegin Heike
Brehmer, CDU/CSU-Fraktion, das Wort .
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wir beraten heute den Antrag der Koalitionsfraktionen und den Antrag von Bündnis 90/Die Grünen
zur nachhaltigen Gestaltung der Alpenkonvention . Der
Alpenraum - wir haben es heute schon mehrfach gehört - ist landschaftlich einzigartig und eines der wichtigsten Erholungsgebiete Europas .
120 Millionen Touristen nutzen die Alpen jedes Jahr
zur Erholung sowie für Sport- und Freizeitaktivitäten .
Unsere Gäste schätzen besonders den direkten Zugang
zur Natur, die beeindruckenden Landschaften und das
breite Spektrum touristischer Angebote . Der Erfolg der
Alpen als eine der führenden Destinationen auf dem
internationalen Touristikmarkt ist maßgeblich auf ihre
Vielfalt zurückzuführen . Die breite Palette regionaler
Ressourcen und das kulturelle Erbe erfüllen zu jeder Zeit
die Erwartungen der Gäste .
Der Tourismus boomt, nicht nur in den Alpen, sondern in allen Regionen unseres Landes . Die Tourismusbranche ist einer der wichtigsten Wirtschaftsfaktoren:
2,9 Millionen Beschäftigte und rund 97 Milliarden Euro
Bruttowertschöpfung in Deutschland sind dafür der beste Beleg . Mit einem Marktanteil von rund 30 Prozent ist
und bleibt Deutschland das Lieblingsreiseland heimischer Landsleute . Diese Zahlen zeigen, dass Deutschland
in der ganzen Welt für seine Gastfreundschaft geschätzt
wird . Dieser Erfolg ist aber kein Selbstläufer . Er ist das
Ergebnis von Fleiß und harter Arbeit . Deshalb möchte
ich den Beschäftigten der Branche, die täglich mit viel
Engagement im Tourismus arbeiten, ein herzliches Dankeschön aussprechen .
({0})
Dass der Deutschlandtourismus insgesamt boomt, daran haben die Alpen einen erheblichen Anteil . Sie sind eines unserer wichtigsten Urlaubs- und Erholungsgebiete .
Mit der Alpenkonvention haben sich acht Staaten und die
Europäische Union verpflichtet, das einzigartige natürliche und kulturelle Erbe der Alpen zu schützen und den
Tourismus nachhaltig zu gestalten .
Der Antrag von CDU/CSU und SPD zur Alpenkonvention ist daher ganz bewusst auf Nachhaltigkeit und
den Schutz natürlicher Ressourcen ausgelegt . Wir wollen
unser Handeln mit Blick auf die Lebensqualität nachfolgender Generationen langfristig ausrichten . Mit der Alpenkonvention sind wir auf einem sehr guten Weg . Zu
den wichtigsten Grundlagen des Tourismus zählen eine
intakte Natur und Umwelt . Die Konvention legt Mindestanforderungen zum Bergtourismus fest und berücksichtigt dabei wirtschaftliche, soziale und ökologische
Auswirkungen .
Deutschland hat gemeinsam mit dem Freistaat Bayern
im Dezember 2014 für zwei Jahre den Vorsitz der AlpenMarkus Tressel
konvention übernommen . Wir wollen einen konkreten
Beitrag zum Erhalt des landschaftlichen und kulturellen
Erbes der Alpenregion leisten . Dazu zählt der Abschluss
des Interreg-Projektes zum länderübergreifenden Austausch von Verkehrs- und Tourismusdaten als Grundlage für gemeinsame statistische Erhebungen . Es wird
zusätzlich eine Arbeitsgruppe „Nachhaltiger Tourismus“
eingerichtet . Sie führt die Erkenntnisse aus dem Vierten
Alpenzustandsbericht kontinuierlich fort .
Wir arbeiten eng mit den Vertragsparteien, der Zivilgesellschaft vor Ort und den alpinen Netzwerken zusammen . Die Bundesregierung wird Vertreter der Alpenstaaten, der lokalen Wirtschaft sowie von Verbänden und
Politik zu einem Erfahrungsaustausch zusammenbringen . Die Zusammenarbeit der Alpenstaaten ist für den
Tourismus bedeutender denn je; denn manche Chancen
und Herausforderungen lassen sich in diesem Naturraum
nur gemeinsam und grenzüberschreitend lösen .
Beispielhaft nenne ich das Projekt „Crossing Borders“ - wir haben es heute schon gehört - zur Förderung
der Elektromobilität im Alpenraum und das Gemeindenetzwerk „Allianz in den Alpen“ . Es setzt sich mit seinen
Projekten für den Erhalt der Biodiversität und die Vermarktung regionaler Produkte ein . Der deutsche Vorsitz
hat für sein Programm den Titel „Die Alpen - Vielfalt in
Europa“ gewählt . Unser heutiger Antrag zeigt konkrete
Möglichkeiten auf, unterschiedliche Interessen und Ansprüche mit dem Erhalt lokaler Landschaften und Traditionen in Einklang zu bringen . Nachhaltiger Tourismus erfordert ein konzertiertes Vorgehen auf nationaler,
regionaler und lokaler Ebene . Hier ist das Land Bayern
Vorbild . Mit seiner nachhaltigen Tourismusstrategie gehört Bayern zweifellos zu den Vorreitern der deutschen
Tourismuswirtschaft .
Mit über 31 Milliarden Euro Bruttoumsatz und über
84 Millionen Übernachtungen sichert die Leitökonomie
Tourismus das Einkommen von mehr als 560 000 Einwohnern im Freistaat . Der Ressourcenreichtum - besonders in den bayerischen Alpen - ist Verpflichtung, schonend damit umzugehen und ihn als Lebensgrundlage für
künftige Generationen zu bewahren .
({1})
Der Erhalt von Natur und regionaler Identität hat auch
aus tourismuspolitischer Sicht hohe Priorität . In den
bayerischen Alpen gibt es eine Fülle erstklassiger Lösungsansätze für den nachhaltigen Tourismus, die uneingeschränkt zur Nachahmung empfohlen werden können .
Nennen möchte ich zum Beispiel das Ökomodell Achental zum grenzüberschreitenden Schutz lokaler Kulturlandschaften . Davon hat sich unser Tourismusausschuss
bei seiner Reise in das Berchtesgadener Land selbst
überzeugen können . So sind im Nationalpark Berchtesgadener Land die Wanderwege barrierefrei ausgebaut .
Die meisten Ziele sind mit öffentlichen Verkehrsmitteln
ohne eigenes Auto zu erreichen, und spezielle Wegeleitkonzepte schützen Flora und Fauna .
Deutschland führt aus gutem Grund gemeinsam mit
dem Freistaat Bayern den Vorsitz der Alpenkonvention .
Die aktuellen Herausforderungen in den Alpenländern
betreffen den Ausbau nachhaltiger Tourismuskonzepte .
So wollen wir beispielsweise im Rahmen der Alpenkonvention die Verkehrsbelastung senken - das haben wir
heute schon mehrmals gehört - und eine nachhaltige Verkehrspolitik umsetzen . Dazu gehört die bessere Erreichbarkeit von Tourismusdestinationen mit öffentlichen Verkehrsmitteln und die Förderung der Elektromobilität .
Weiterhin wollen wir als CDU/CSU und SPD die
barrierefreie Erreichbarkeit touristischer Ziel verbessern
und Best-Practice-Lösungen aus dem Bereich Barrierefreiheit bekannter machen .
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, zur
Weiterentwicklung der Alpenkonvention wird die Bundesregierung eine Arbeitsgruppe einrichten, die einen
Mehrjahresentwurf unter den bereits genannten Gesichtspunkten erarbeitet . Weiterhin wird es in Zusammenarbeit
mit der Bayerischen Staatsregierung im Juni 2016 eine
Konferenz der Alpenstaaten zum Thema „Nachhaltiger
Tourismus und Innovation im Alpenraum“ geben . Die
Konferenz wird konkrete Politikempfehlungen für die
XIV . Alpenkonferenz erarbeiten . Weiterhin begrüßen
wir, dass die Bundesregierung Vertreter der Alpenstaaten
und der alpinen Regionen zu einem Erfahrungsaustausch
zusammenbringen wird, um über Initiativen zum Thema
„Digitale Netze und Mobilität“ zu beraten .
Unser Antrag von CDU/CSU und SPD sieht weiterhin vor, die Deutsche Zentrale für Tourismus als größte
Einrichtung zur Vermarktung Deutschlands als Urlaubsund Reiseland in die Beratungen der Fachkonferenzen
einzubeziehen . Unser Antrag enthält wichtige Ansätze
zur sinnvollen Weiterentwicklung der Alpenkonvention .
Dies gelingt uns nur in überlegter Zusammenarbeit mit
den Alpenstaaten und den Bewohnern des Alpenraums .
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen, Ihren Antrag lehnen wir natürlich ab, weil er die nachhaltige touristische Entwicklung
des Alpenraums zu oberflächlich behandelt und die Potenziale für die Weiterentwicklung des naturnahen Tourismus in den Alpen nicht ausreichend berücksichtigt .
({2})
Unser Antrag hingegen entwickelt den Wirtschaftsfaktor
Tourismus weiter . Wir wollen die vorhandenen Wachstumspotenziale nutzen und langfristig sichern . Daran lassen Sie uns gemeinsam arbeiten .
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit .
({3})
Vielen Dank . - Ich schließe die Aussprache .
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 18/6187 und 18/4816 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen . -
Ich sehe, Sie sind damit einverstanden . Dann ist es so
beschlossen .
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 22 a und 22 b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Beate
Walter-Rosenheimer, Luise Amtsberg, Özcan
Mutlu, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Zugang zu Bildung und Ausbildung für junge
Flüchtlinge sicherstellen
Drucksache 18/6198
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({0})
Innenausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Nicole
Gohlke, Sigrid Hupach, Dr . Rosemarie Hein,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Gleicher Zugang zur Bildung auch für Geflüchtete
Drucksache 18/6192
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({1})
Innenausschuss
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen . - Ich sehe hier
keinen Widerspruch . Dann ist so beschlossen .
Wenn jetzt Frau Kollegin Hiller-Ohm und Herr Kollege Tressel Ihre Gespräche draußen fortsetzen würden,
könnte ich die Aussprache eröffnen .
Ich eröffne jetzt die Aussprache . Das Wort hat Beate
Walter-Rosenheimer, Bündnis 90/Die Grünen .
Frau Präsidentin! Liebe Kollegen und Kolleginnen!
Liebe Gäste! Sehr geehrte Frau Ministerin! Wer in diesen Tagen die flüchtlingspolitische Debatte verfolgt,
bekommt nicht selten abenteuerliche und absurde Vorschläge zu hören . Da will zum Beispiel eine CSU-Landesgruppenchefin Menschen abschieben, bevor sie überhaupt in Deutschland angekommen sind, da will ein
Ministerpräsident aus Sachsen-Anhalt Schutzsuchende
benutzen, um den Mindestlohn zu untergraben, und da
will ein Finanzminister aus Bayern Zäune zur Flüchtlingsabwehr an den deutschen Grenzen errichten .
Solche Vorschläge, meine sehr geehrten Damen und
Herren, widersprechen geltendem Recht,
({0})
vergiften das gesellschaftliche Klima und bringen in der
Sache rein gar nichts, sagen dafür aber einiges über die
Mauern in den Köpfen derjenigen aus, die ganz offensichtlich Politik mit Polemik verwechseln .
({1})
Den Hasselfeldts, Haseloffs und Söders dieses Landes
möchte ich deshalb sagen: Lassen Sie diesen Unsinn!
Hören Sie auf, Menschen in gute und schlechte Flüchtlinge zu sortieren!
({2})
Leisten Sie stattdessen endlich einen Beitrag dazu, dass
wir die großen Herausforderungen meistern!
({3})
Eine der großen, vielleicht sogar die größte Herausforderung bei der Integration von Flüchtlingen ist der offene
und schnelle Zugang zu Bildung und Ausbildung . Über
die Hälfte der Menschen, die bei uns Schutz suchen, die
hierherkommen, um eine bessere Zukunft zu haben, die
in diesen Wochen in Passau, München, Rosenheim und
anderswo in der Republik ankommen, ist unter 25 Jahre alt . Allein dieses Jahr wird es vermutlich eine halbe
Million junger Menschen sein . Es muss vor allen Dingen
auch Ihnen, Frau Ministerin, ein Anliegen sein, dass diese 500 000 jungen Menschen schnell und unbürokratisch
in Kitas, Schulen, Berufsschulen und Unis kommen .
({4})
Der Zugang zu Bildung ist ja keine kleine Fußnote in
einer allgemeinen Flüchtlingsagenda, sondern Bildung davon sind wir überzeugt - ist der zentrale Dreh- und Angelpunkt jeder gelungenen Asyl- und Integrationspolitik .
Kitas, Schulen, Betriebe und Universitäten verschaffen
diesen jungen Menschen nicht nur einen neuen Alltag,
sondern geben ihnen auch Halt und Sicherheit . Ihr Besuch ist der erste und wichtigste Schritt im neuen Leben
dieser jungen Menschen . Wer das nicht sieht, der will es
nicht sehen oder weigert sich aus parteipolitischer Taktiererei, in der Realität des 21 . Jahrhunderts anzukommen. Das muss man einfach, finde ich, so sehen.
Länder, Kommunen und die vielen ehrenamtlichen
Helfer, die wir überall haben, leisten heute schon Beachtliches . Ihnen gelten unser Respekt und unser Dank . Sie
bemühen sich, den jungen Flüchtlingen einen Zugang zur
Bildung zu vermitteln, so gut es geht. Aber wir finden,
dies sollte den Bund herausfordern, mehr Verantwortung
zu übernehmen .
({5})
Auch die Bundesregierung muss sich endlich ihrer Verantwortung stellen . Das hören Sie heute nicht zum ersten
Mal - das weiß ich -, und Sie hören es auch nicht nur
von mir .
Wenn ich feststellen muss, dass Ihnen als Bildungsministerin - verzeihen Sie bitte! - nicht mehr einfällt als
eine Smartphone-App und Ihnen dann nur noch der GeisVizepräsidentin Ulla Schmidt
tesblitz kommt, auf noch mehr Ehrenamtliche zu setzen,
dann sehe ich schwarz für die Zukunft .
({6})
Wenn ich mir einen kleinen Scherz erlauben darf: Dass
Sie, Frau Ministerin Wanka, nicht mit Zahlen rechnen,
wissen wir spätestens seit der heute-show; aber wenn
Sie allen Ernstes glauben, fehlende Investitionen in Milliardenhöhe mit einem 130-Millionen-Euro-Programm
wettmachen zu können, dann haben Sie sich dieses Mal
richtig verrechnet .
({7})
Bildung - das sollten Sie als Bildungsministerin doch
am besten wissen - gibt es nicht zum Nulltarif . Statt
Smartphone-Apps und kleine Modellprojekte brauchen
wir eine große Bildungsoffensive, die auch in der Fläche
wirkt . Das kostet Geld, das Sie, geehrte Frau Ministerin,
offenbar nicht investieren wollen .
Seit vielen Monaten drängt die Wirtschaft zum Beispiel auf ein sicheres Bleiberecht für Menschen in der
Berufsausbildung . Hören Sie doch zur Abwechslung
mal auf Ihre Freunde aus der Wirtschaft, und schaffen
Sie endlich eine rechtssichere Lösung, die diesen Namen
auch verdient!
({8})
Das Gleiche gilt für den Zugang zu Unterstützungsangeboten während der Ausbildung . Asylsuchende und Geduldete sind hier immer noch stark benachteiligt . Es ist
doch einfach absurd, einen jungen motivierten Menschen
in den ersten 15 Monaten von jeder dieser Hilfen auszuschließen, obwohl er vielleicht schon nach drei oder
sechs Monaten eine Ausbildung oder auch ein Studium
aufnehmen könnte .
({9})
Warum sperren Sie sich so gegen die Vorschläge von
Arbeitgebern und Gewerkschaften? Geben Sie sich doch
einen Ruck, und lassen Sie uns gemeinsam dafür sorgen,
dass alle jungen Flüchtlinge in Deutschland vom ersten
Tag an unterstützt werden .
({10})
Wir dürfen in dieser Debatte eines nicht vergessen:
Bildung ist nicht nur der Grundstein für ein selbstbestimmtes Leben . Teilhabe durch Bildung ist auch der
soziale Kitt, der unsere Gesellschaft zusammenhält . In
unserem Antrag finden Sie ein paar sehr konkrete Vorschläge, wie dieser Kitt gestärkt werden kann . Wir sind
der Meinung: Eine Selbstlern-App - so gut sie als niedrigschwelliges Angebot auch sein kann - wird hier definitiv nicht ausreichen .
({11})
Vielen Dank . - Für die Bundesregierung erhält jetzt
Frau Bundesministerin Professor Dr . Johanna Wanka das
Wort .
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir haben eine sehr große humanitäre Aufgabe vor uns . Damit, dass Hunderttausende, vor allen Dingen viele junge
Menschen, deren Bildungsbiografien wir anerkennen
müssen, in unser Land kommen, müssen wir umgehen .
Es ist natürlich allen klar, dass es in den Gesprächen
zwischen Bundesregierung und Ministerpräsidenten jetzt
vor dem Winter um die akute Versorgung mit Wohnraum,
mit Essen und Trinken geht; denn das ist im Moment das
akute Problem .
({0})
- Sehr schön .
({1})
Die eigentliche Aufgabe besteht aber darin, eine solch
große Zahl junger Menschen zu integrieren .
({2})
Und Integration durch Bildung - da sind wir uns mit den
Antragstellern der beiden Anträge, die heute vorliegen,
einig -,
({3})
ist die effektivste Form . Deswegen ist das ganz wichtig .
Wenn es gelingt, Integration so zu vollziehen, wie wir
das vorhaben, dann profitieren alle davon, und zwar nicht
nur der Arbeitsmarkt, sondern das ganze Land . Das ist
für mich deswegen eine sehr wichtige Aufgabe .
Sie haben etwas völlig missverstanden .
({4})
Wir haben in meinem Haus überlegt: Was muss jetzt sofort passieren? Wir beschäftigen uns nicht erst in Anträgen zum nächsten Haushalt mit der Frage: Wie kriegen
wir das Geld, und was können wir stemmen? Ein großes
Programm, wie wir es planen, um viele Jugendliche in
Arbeit zu bringen, kostet sehr viel Geld . Wir werden darüber diskutieren müssen: Wird das mitgetragen? Ist das
möglich? Ist das finanzierbar? Die 130 Millionen Euro
für die Integration junger Flüchtlinge legen wir aber sofort auf den Tisch . Wir sagen nicht: „130 Millionen, das
ist die Summe, die wir für Bildung brauchen“, und fordern auch nicht nur das im Haushalt . Vielmehr bedarf es
einer großen Anstrengung im Haus . Deswegen verwahre
ich mich dagegen, dass behauptet wird, dass wir glauben,
dass mit 130 Millionen Euro das Problem zu lösen sei .
Nein, natürlich nicht!
({5})
Der Bereich Schule liegt natürlich in Länderhand . Sie
haben doch mitbekommen, wie viele Milliarden wir letzten Donnerstag beschlossen haben, den Ländern für die
Bewältigung der damit zusammenhängenden Aufgaben
zu geben . Natürlich ist es klar, dass die Jugendlichen, die
schulpflichtig sind, jetzt Schulklassen besuchen müssen.
Das ist eine große Aufgabe für die Länder . Das ist aber
nicht der Punkt, an dem wir als BMBF sofort aktiv werden können .
Entscheidend sind also drei Punkte: Erwerb der deutschen Sprache, Erkennen der Kompetenzen, also was
Ausbildungen, was Qualifikationen hier in Deutschland
wert sind und was man damit machen kann, und natürlich
Integration in Ausbildung oder Beruf .
Wenn Sie zustimmen, dass es von ganz zentraler Bedeutung ist, die Sprache zu lernen, würde ich mich an
Ihrer Stelle nicht lustig darüber machen, dass wir sagen:
Wir wollen Hunderttausende junge Menschen, die sich
jetzt als Flüchtlinge in Deutschland aufhalten, per App
über ihre Smartphones erreichen . Damit haben sie ihre
Flucht organisiert; da sind sie wunderbar vernetzt . Ein
niedrigschwelliges Angebot für jeden dieser Jugendlichen, der schnell ins Deutsche einsteigen will, ohne dass
er Kurse oder sonst etwas besucht, ist ein klasse Angebot .
Und das kostet nicht einmal viel .
({6})
Frau Ministerin, der Kollege Mutlu möchte eine Zwischenfrage stellen .
Nein . Hinterher gerne .
Hinterher geht nicht mehr . Jetzt oder nie .
Gut, okay, dann nicht .
Gut .
Das heißt, es ist genau wie beim Programm Lesestart .
Dieses Programm hat bei deutschen Kindern funktioniert,
({0})
und wir haben zusammen mit der Stiftung Lesen den
Zugang zum ihm sofort auch Flüchtlingskindern ermöglicht .
Den Einsatz von Lernbegleitern finden Sie nicht toll.
Wissen Sie denn nicht, was in den Ländern los ist?
({1})
Haben Sie denn keine Ahnung davon, wie viele Lehrer - ich denke da nicht nur an Deutsch-, sondern auch
an andere Lehrer - für diese vielen Willkommensklassen
fehlen?
({2})
Anscheinend haben Sie keine Ahnung davon . Es ist jedenfalls nicht unsere Aufgabe, diese Lehrer einzustellen .
({3})
Wir aber können zum Beispiel etwas machen, was
Sie ebenfalls abgetan haben, nämlich Tausende von
Menschen in die Lage zu versetzen, dass sie jetzt sofort
Deutsch als Alltagssprache vermitteln können . Da arbeiten wir mit den Volkshochschulen zusammen . Ich spiele
auf die Lernbegleiter an . Das heißt, Menschen, die sich
engagieren wollen,
({4})
bekommen in der Volkshochschule eine Grundausbildung - es geht nicht darum, dass sie Lehrer für Deutsch
werden -,
({5})
sodass sie in der Lage sind, einer arabischen oder einer
türkischen Familie schnell und konsequent etwas klarzumachen,
({6})
zum Beispiel, wie man sich in Deutschland bewegt, was
für Vokabeln man im Gesundheitssystem braucht, wie
man beim Einkaufen zurechtkommt . Das sind praktische
Dinge . Sie zu vermitteln, das funktioniert nicht mit Anweisungen von oben, etwa von Lehrern, sondern es muss
in der Fläche vermittelt werden . Deswegen ist die Idee,
Lernbegleiter auszubilden, richtig gut . Die Volkshochschulen sind, Herr Rossmann, ein breites Netz, das beste,
das wir haben . In jedem Landkreis gibt es eine Volkshochschule, und deswegen ist das von mir gerade Dargestellte das Instrument . Das Ganze ist also nicht als Peanuts abzutun; vielmehr steckt dahinter eine kluge Idee .
Diese Idee aber hatten wir .
({7})
Stichwort „Berufsorientierung“: Wie gelingt es, junge
Flüchtlinge in Ausbildung zu bringen? Alle jungen
Flüchtlinge, die jetzt in die Schule kommen und dort
normal beschult werden, müssen, wenn sie in der siebten und achten Klasse sind, sofort qualifiziert erfahren,
was man in Deutschland lernen kann, welche Berufe es
gibt und was man dafür wissen muss . Deswegen führen
wir Potenzialanalysen und Berufseinstiegsbegleitungen
durch . Die damit verbundenen Maßnahmen haben wir,
Frau Nahles und ich, nicht im Rahmen von Modellversuchen getestet; vielmehr haben wir für die Qualifizierung von mindestens 500 000 jungen Leuten im Haushalt
1,2 Milliarden Euro verankert . Diese Mittel stehen sofort
zur Verfügung; sie stehen auch zur Qualifizierung jedes
Flüchtlingsjungen und jedes Flüchtlingsmädchens zur
Verfügung, wenn sie in der entsprechenden Klasse sind .
Wir müssen über die Frage reden: Reicht das? Müssen wir diese Mittel in den nächsten Jahren weiter aufstocken? Im Moment ist dieses Geld auf jeden Fall vorhanden; es ist veranschlagt . Deswegen setzen wir es an
dieser Stelle ein .
({8})
Ich komme auf etwas zu sprechen, was wir in den
letzten Jahren ebenfalls gefördert haben: die KAUSA-Beratungsstellen . Dort motiviert man beispielsweise
Unternehmer mit Migrationshintergrund, etwa türkische
Gemüsehändler, junge Leute auszubilden .
({9})
In KAUSA-Beratungsstellen werden auch Eltern und
Großeltern entsprechender Personen mit Migrationshintergrund unterrichtet . Die KAUSA-Beratungsstellen
funktionieren . Aber angesichts vieler Tausend Flüchtlinge müssen wir die Zahl dieser Beratungsstellen erhöhen;
vielleicht müssen wir sie verdoppeln, verdreifachen
({10})
oder vervierfachen, sodass in den Ballungsgebieten qualifizierte Personen vorhanden sind, die das nötige Wissen
vermitteln können .
Wenn wir in Deutschland junge Flüchtlinge in Ausbildung bringen wollen, dann müssen wir das Verteilungsproblem lösen . Es gibt unversorgte Bewerber, die
keinen Ausbildungsplatz haben, und gleichzeitig gibt es
freie Ausbildungsplätze . Was meinen Sie, wie schwierig
es wird, junge Flüchtlinge zum Beispiel nach Mecklenburg-Vorpommern zu vermitteln! Wenn dort ein Maler,
ein Bäcker oder ein Fleischer zum allerersten Mal seit
Jahren einen Lehrling bekommen soll, dann müssen wir
das organisieren . Das ist kein Wünsch-dir-was; das funktioniert nicht automatisch .
Seit dem 1 . August 2015 ist für die Geduldeten, also
für die, die in ihre Herkunftsländer eventuell zurückgehen müssen, geregelt - es geht nicht um diejenigen,
die die Anerkennung haben; diese bekommen vom ersten Tag an nahezu alles, worauf man in Deutschland ein
Anrecht hat -, dass sie, wenn sie eine Ausbildung angefangen haben, diese auch abschließen können, da deren
Aufenthaltsgenehmigung in diesem Zeitraum sicher ist .
Die Gesetzeslage in Deutschland ist des Weiteren so,
wie ich sie jetzt darstelle: Wenn einer eine Ausbildung,
etwa als Bäcker, erfolgreich abgeschlossen hat, dann
kann er im gelernten Beruf in Deutschland für zwei Jahre
ohne Vorrangprüfung und ohne andere Hindernisse arbeiten, wenn er einen Arbeitsplatz hat .
({11})
Wenn also ein Bäcker sagt: „Den nehme ich“, dann kann
der Geduldete hierbleiben . Wenn der Geduldete zwei
Jahre in seinem Beruf gearbeitet hat, dann kann er auch
weiterhin in Deutschland bleiben, und dann kann er auch
in einem anderen Beruf arbeiten . Wenn er vier Jahre hier
war, hat er die Chance auf ein dauerhaftes Bleiberecht .
Das ist doch, wie ich finde, eine sehr gute Regelung.
({12})
Meine Damen und Herren, was den gesamten Bereich
Anerkennung angeht: Es kommen ja auch Menschen
nach Deutschland, die in einem ganz anderen Land einen Beruf erlernt haben . Ein Anerkennungsgesetz in der
Form, wie es in Deutschland gilt, gibt es in keinem anderen Land .
({13})
Man hat nämlich einen Rechtsanspruch darauf, dass zum
Beispiel festgestellt wird, was eine Ausbildung in Syrien
als Ingenieur hier in Deutschland wert ist .
Mit diesem Anerkennungsgesetz haben wir auch von
Anfang an dem Umstand Rechnung getragen, dass auch
Menschen zu uns kommen, die kein Zeugnis mehr haben, die zum Beispiel kein Facharbeiterzeugnis haben,
weil es das in ihren Heimatländern vielleicht gar nicht
gibt . In diesen Fällen gibt es die Möglichkeit, durch Arbeitsproben und Fachgespräche festzustellen, ob derjenige schweißen kann oder in der Lage ist, bestimmte Maschinen zu bedienen . Diese Methoden haben wir mit den
Handwerkskammern und den IHKs in den letzten Jahren
ganz intensiv erprobt, um sicherzustellen, dass überall in
Deutschland die gleichen Qualitätsstandards gelten . Diese Methoden können jetzt eingesetzt werden .
({14})
In den Kommunen und Kreisen haben wir ja Bündnisse für Bildung . Ich bin besonders stolz darauf - das sage
ich in Richtung Bündnis 90/Die Grünen -, dass wir jetzt
in der Lage sind, über mein Ministerium in 400 Kommunen bzw . Gebietskörperschaften die Koordination der
Bildungsangebote für die Flüchtlinge vor Ort zu finanzieren . Das ist wichtig, weil ganz viel parallel läuft . Ich denke, das ist eine handfeste Unterstützung der Kommunen
vor Ort, die für die Realisierung zuständig sind und damit
zum Teil alleingelassen werden .
Meine Redezeit ist gleich zu Ende . Ich möchte aber
noch eine Bemerkung machen: In dem Antrag der SED
stand:
({15})
- Ja .
({16})
- Nein, das ist nicht witzig, Frau Gohlke . Die Partei heißt
jetzt anders, aber das ist die SED .
({17})
Sie ist nie aufgelöst worden .
({18})
- Nein . - Heute früh hat jemand hier am Pult gesagt, das
sei die Nachfolgeorganisation .
({19})
Das ist keine Nachfolgeorganisation .
({20})
Sie haben Ihren Namen geändert .
({21})
- Frau Gohlke, Sie sind vielleicht zu jung .
({22})
- Es stimmt aber trotzdem . Manches stimmt noch nach
50 Jahren .
({23})
In Ihrem Antrag steht, wir sollen die Hochschulen für
Flüchtlinge öffnen . - Sie sind offen . Es ist ganz eindeutig
möglich, an diese Hochschulen zu kommen .
({24})
Wir haben ein großes Paket geschnürt, um den jungen
Flüchtlingen zu zeigen, wie das geht und wie man Tests
leichter bestehen kann. Außerdem übernehmen wir finanzielle Verpflichtungen. Es geht aber nicht um das Absenken von Standards . Eine Hochschulzugangsberechtigung
muss schon vorhanden sein .
Meine Redezeit ist zu kurz, um zu allem Ausführungen zu machen . Ich glaube, dass wir gezeigt haben, dass
es für uns beim Thema Bildung nicht nur um die Forderung nach mehr Geld in riesigen Dimensionen geht . Wir
haben gezeigt, dass wir anpacken können . Wir haben sofort etwas auf den Tisch gelegt . Wir brauchen aber auch ich verspreche Ihnen, mich dafür einzusetzen - weiteres
Geld .
({25})
Vielen Dank . - Nächste Rednerin für die Fraktion Die
Linke ist die Kollegin Nicole Gohlke .
({0})
- Nein, hier sitzt die Fraktion Die Linke .
Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Eine
sachfremde Bemerkung muss ich vorwegschicken: Ich
glaube tatsächlich, dass Ihre Bundeskanzlerin mit der
SED und der FDJ etwas mehr zu tun hatte, als ich jemals
zu tun hatte .
({0})
Es wäre schön, wenn Sie 25 Jahre später vielleicht auch
so weit denken könnten .
Der Antrag der Linken, der heute auch vorliegt, will
den gleichberechtigten Zugang zu Bildung für Geflüchtete sicherstellen; denn jeder weiß, wie zentral Bildung
und Sprache dabei sind, Menschen gesellschaftliche Teilhabe und Perspektiven zu eröffnen . Aus zwei Gründen ist
diese Initiative der beiden Oppositionsparteien dringend
nötig:
Erstens . Die Regierung darf nicht länger mit dem
Finger auf die Länder zeigen . Es ist ja völlig klar: Viele Dinge fallen in die Zuständigkeit der Länder und der
Kommunen, und sie tragen bislang die finanzielle Hauptlast . Genauso klar ist aber doch wohl auch, dass wir es
hier mit einer gesamtgesellschaftlichen Aufgabe zu tun
haben . Das Herumschieben von politischen Verantwortlichkeiten ist der Situation absolut unwürdig,
({1})
und der Bund ist viel stärker als bisher gefordert .
({2})
Zweitens . Die Initiative ist auch deswegen nötig,
weil die eigentlich selbstverständliche Haltung, nämlich
schnell und unbürokratisch Unterstützung für Menschen
in Not zu leisten, leider nicht in allen Teilen der Großen
Koalition selbstverständlich ist . Es war zwar wirklich positiv - es fällt mir jetzt gerade zwar ein bisschen schwer,
das zu sagen, aber ich sage es trotzdem, weil es wirklich
positiv war -, dass die Bildungsministerin nicht in die
schrille Tonlage von manch anderem eingestimmt hat
({3})
und stattdessen, auch im Rahmen der Allianz für Ausund Weiterbildung, Maßnahmen zur Integration von Geflüchteten angekündigt hat.
Aber gleichzeitig sind es Ihre Fraktionskollegen, die einen ganz dumpfen Rassismus bedienen,
({4})
zum Beispiel, wenn aus Bayern Parolen kommen wie
die, dass Deutschland „nicht das Sozialamt für den Balkan“ sei, und wenn Horst Seehofer große Verbrüderung
mit einem Rassisten wie Viktor Orban feiert .
({5})
Ich muss sagen: Ich erwarte von der Bildungsministerin auch mal ein paar klare Worte, wenn hierzulande
Flüchtlingskinder von der Polizei mitten aus dem Unterricht geholt werden, weil den Eltern die Abschiebung
droht,
({6})
oder wenn so unglaubliche Vorschläge gemacht werden
wie der, die Schulpflicht für Kinder von Asylbewerbern
gleich ganz abzuschaffen .
({7})
Kolleginnen und Kollegen, hier geht es um ein Menschenrecht, um das Recht auf Bildung . Dieses Recht gilt
universell. Es ist nicht verhandelbar. Ich finde, das hat die
Bildungspolitik auch einmal klarzustellen .
({8})
Ich sage Ihnen: Es ist sehr gefährlich, wenn hier ständig nach Gruppen gesucht wird, für die diese Rechte
nicht gelten sollen . Mal sind es die Asylsuchenden insgesamt, dann versucht man, Menschen über die Konstruktion von sogenannten sicheren Herkunftsstaaten von Arbeit und Bildung auszuschließen . Wer so denkt und so
Politik macht, hat die Menschenrechte nicht verstanden .
({9})
Die Bundesregierung steht in der Pflicht, allen Menschen,
auch den zugewanderten, gute Bildung zu ermöglichen
und die Länder und Kommunen dabei zu unterstützen,
das umzusetzen .
({10})
Deswegen fordert die Linke ein Bund-Länder-Programm für Sofortmaßnahmen in der Bildung . Und die
beginnt in der Kita . Da brauchen wir endlich ausreichend
Plätze . Das war schon richtig, bevor eine größere Zahl
von Geflüchteten zu uns gekommen ist, und jetzt gilt
es erst recht . Viel zu lange haben Sie in der Regierung
mit der sinnlosen Herdprämie herumgemurkst und den
Kitaausbau hinten angestellt .
({11})
Mehr als ein Drittel der Geflüchteten ist jünger als
18 Jahre . Es ist mit bis zu 400 000 neuen Schülerinnen
und Schülern zu rechnen, die in den Schulalltag integriert
werden müssen . Da sage ich Ihnen: Dem Bildungsministerium muss natürlich mehr einfallen als eine Smartphone-App zum Deutschlernen und ehrenamtliche Flüchtlingshelfer als Lernbegleiter .
({12})
Diese Aufgabe kann man nicht auf diese Weise abwälzen . Was es braucht - jetzt können Sie mir zuhören -,
({13})
sind mehr festangestellte, qualifizierte und gut bezahlte
Lehrkräfte und pädagogische Fachkräfte, und zwar an öffentlichen Schulen und öffentlichen Einrichtungen,
({14})
und da muss der Bund mithelfen .
({15})
Das ist der Unterschied zwischen uns, Frau Wanka:
Ihre Partei hat Stellen von Lehrerinnen und Lehrern zum
Beispiel in Brandenburg in der Zeit der Großen Koalition
zu Tausenden - ich glaube, es waren über Zehntausend abgebaut . Wir wollen Lehrerinnen und Lehrer neu einstellen,
({16})
weil wir wissen, vor welchen Aufgaben wir im Bildungsbereich stehen .
({17})
An dieser Stelle wird wieder einmal deutlich, was für
ein Hemmnis das Kooperationsverbot, das Verbot der
Zusammenarbeit von Bund und Ländern, in der Bildung
ist .
({18})
Sie als Regierung hätten es in der Hand, damit endlich
Schluss zu machen und dieses unnötige Problem aus dem
Weg zu räumen und einfach das Selbstverständliche zu
tun und gesamtgesellschaftliche Bildungsaufgaben auch
gemeinsam zu stemmen . Es wäre schön, wenn die neue
Situation wenigstens dazu führte, dass Sie einmal darüber nachdenken .
({19})
Lassen Sie mich noch einen Satz zur Finanzierung
sagen . Es ist unredlich, wenn aus der Politik suggeriert
wird, die neue Situation brächte das Land an seine Belastungsgrenze . Was uns an die Belastungsgrenze bringt,
ist schlechtgemachte Politik . Die Bundesrepublik hat im
ersten Halbjahr dank der guten Konjunktur den höchsten Überschuss seit rund 15 Jahren erzielt . Bund, Länder
und Kommunen haben deutliche Mehreinnahmen zu verzeichnen . Ich weise Sie gerne noch einmal darauf hin,
dass wir ein Land mit einer sehr hohen Steuerbasis sind .
Es kommt auf die richtige Verteilung an . Haben Sie den
Mut, endlich die Verteilungsfrage zu stellen!
Vielen Dank .
({20})
Vielen Dank . - Für die SPD-Fraktion spricht jetzt der
Kollege Dr . Karamba Diaby .
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Was tut die
Bundesregierung für die Bildung von Geflüchteten? Öffnung von Integrations- und Sprachkursen,
({0})
bereits nach 15 Monaten Zugang zu BAföG,
({1})
zusätzlich 130 Millionen Euro vonseiten des Bildungsministeriums
({2})
und nicht zuletzt die dauerhafte Unterstützung der Länder und Kommunen .
({3})
Meine sehr verehrten Damen und Herren der Linken
und der Grünen, viele Ihrer Forderungen sind gut gemeint, aber wir haben bereits viele davon auf den Weg
gebracht .
({4})
Uns allen ist doch bewusst: Mit guter Bildungspolitik
steht und fällt ein gutes Zusammenleben; denn de facto bleibt der Großteil der Menschen über viele Jahre bei
uns . Die Frage ist also, wie Integration gemeinsam erfolgreich gestaltet werden kann . Ob Spracherwerb, der
Aufbau sozialer Netzwerke oder die berufliche Ausbildung: Bildung ist ein zentraler Baustein für Integration .
Ob Kita, Schule, Ausbildungsstelle, Hochschulen: Unsere Bildungseinrichtungen sind für eine erfolgreiche Integration der Menschen, die zu uns kommen, von großer
Bedeutung .
({5})
Dabei können die Bildungseinrichtungen an die vorhandenen vielfältigen schulischen und beruflichen Qualifikationen der Geflüchteten anknüpfen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Integration der
Geflüchteten ist eine Chance für unser Bildungssystem.
({6})
Die Tatsache, dass Menschen in unser Land kommen
und hier bleiben, hat bildungspolitische Konsequenzen .
Unser Bildungssystem muss dieser Tatsache Rechnung
tragen . Ich nenne drei Punkte, die für die SPD-Fraktion
besonders wichtig sind:
Erstens . Spracherwerb ist eine entscheidende Voraussetzung, um an Bildungsprozessen und am gesellschaftlichen Leben teilhaben zu können. Geflüchtete
mit Bleibeperspektive erhalten daher rasch Zugang zu
Sprachförderung .
({7})
Die Sprachförderung müssen wir aber flexibel und pragmatisch gestalten, zum Beispiel Praktikum und Sprachkurs gleichzeitig .
({8})
Erlauben Sie mir an dieser Stelle eine persönliche
Bemerkung . Heute vor genau 30 Jahren bin ich um
15 .15 Uhr als Stipendiat in die DDR gekommen .
({9})
Tag eins: Da war meine Ankunft . Tag zwei: Anmeldungen . Tag drei: Gesundheitscheck; auch das musste sein .
({10})
Tag fünf: Sprachkurs .
({11})
Sicherlich, die Situation ist nicht eins zu eins übertragbar . Aber sie kann uns ein Ideengeber dafür sein, wie es
laufen sollte .
({12})
Das könnte vielleicht als Orientierung dienen .
Beim Thema Spracherwerb dürfen wir zudem unsere
Lehrkräfte nicht vergessen . Für sie brauchen wir ordentliche Beschäftigungsverhältnisse und eine angemessene
Bezahlung .
({13})
Zweitens . Die Aufhebung des Kooperationsverbots
für den Hochschulbereich eröffnet dem Bund bereits
Handlungsspielräume . Wir wollen die Länder dabei unterstützen, Geflüchteten den Zugang zu Hochschulen
zu ermöglichen . Hierfür sollten wir auf die vorhandene
Expertise unserer Organisationen zurückgreifen . DAAD,
Alexander-von-Humboldt-Stiftung und andere: Sie alle
haben Ideen, die Hochschulen dort zu unterstützen, wo
zum Beispiel Zeugnisse fehlen - auch Frau Ministerin
hat davon gesprochen -, nämlich um die Studier- und
Promotionsfähigkeit zu überprüfen, um Sprachkompetenzen festzustellen und Spracherwerb zu fördern und
um Beratungsangebote zu bündeln und zielgruppengerecht auszubauen .
({14})
Die Kompetenzen von Geflüchteten dürfen wir nicht
brachliegen lassen . Wir müssen sie fördern .
({15})
Drittens geht es um die Anerkennung beruflicher Qualifikationen. Geflüchtete sind unsere Nachbarn und Kollegen von morgen . Aber das ist kein Selbstläufer, meine
Damen und Herren .
({16})
Es gibt viele Unternehmer, die Asylsuchende einstellen
oder ausbilden wollen . Das ist ein wunderbares Signal
für unser Land . Es zeigt: Ihr seid willkommen, und ihr
werdet gebraucht . - Wir wissen aber auch: Nicht jeder
Asylsuchende hat bereits eine Ausbildung oder ein Studium abgeschlossen, zum Beispiel weil ein Großteil noch
sehr jung ist . Außerdem müssen wir neue Wege gehen,
um berufliche Kompetenzen festzustellen; denn Teilhabe
über Arbeit ist ein wichtiger Hebel für Integration .
Meine Damen und Herren, ich bin überzeugt davon auch meine Fraktion ist überzeugt davon -, dass das
Anerkennungsgesetz seine volle Wirkung erst entfalten
kann, wenn es finanziell ausgestattet wird. Wir brauchen
endlich ein Darlehensprogramm . Es liegt im Interesse
der Geflüchteten und in unserem Interesse, wenn wir ihre
Fähigkeiten fördern .
Erlauben Sie mir abschließend noch eine Bemerkung
zum Thema Schulpflicht. In unserem demokratisch verfassten Staat darf die Schulpflicht auf keinen Fall angetastet werden .
({17})
Es liegt in unser aller Interesse, dass Kinder und Jugendliche von Anfang an unsere Schulen besuchen - Frau Präsidentin, ich komme zum Ende -; denn mit guter Bildung
legen wir den Grundstein für unser Zusammenleben .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, uns eint folgender
Gedanke: Bildung ist ein Menschenrecht . Wir setzen dieses Recht für alle Menschen gleichermaßen um .
Danke schön .
({18})
Vielen Dank . - Jetzt hat die Kollegin Giousouf für die
CDU/CSU-Fraktion das Wort .
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Frau Ministerin Wanka! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eine
Bemerkung vorab: Bei der Einhaltung der Menschenrechte brauchen wir uns von Ihnen, liebe Kollegen der
linken Fraktion, bestimmt nichts erzählen zu lassen .
({0})
Fakt ist: Wenn wir die Integration der Neuzuzügler, der
Flüchtlinge - da stimme ich mit dir, lieber Karamba, vollkommen überein - nicht ausreichend unterstützen, werden wir verlorene Biografien in Deutschland haben. Das
widerspricht nicht nur unserer persönlichen politischen
Ethik, darüber hinaus ist Integration auch ganz einfach in
unserem eigenen Interesse, wenn wir weiterhin als Nation stark und wettbewerbsfähig sein wollen .
({1})
Deutschland hat über Jahrzehnte Einwanderer und
Flüchtlinge aufgenommen . Wir sind ein Einwanderungsland . Aber wir haben am Anfang auch Fehler gemacht .
Die sogenannte Gastarbeitergeneration hatte eben keine
Sprachkurse und Beratungsangebote - eine Situation, die
übrigens in den meisten Ländern der Welt bis heute so ist .
Aber wir haben dazugelernt . Es war die unionsgeführte Bundesregierung, die Integrationspolitik maßgeblich
konzeptionell entwickelt hat .
({2})
Deshalb müssen wir, wenn wir über Integration von
Flüchtlingen sprechen, den Menschen auch sagen: Wir
fangen heute nicht bei null an .
({3})
So hat sich auch das Bildungsministerium seit knapp
zehn Jahren intensiv mit dieser Thematik auseinandergesetzt . Die Rede der Hausherrin des integrationspolitischen Schlüsselministeriums hat gerade sehr eindrücklich
deutlich gemacht, dass sich das Ministerium für Bildung
und Forschung dieser Aufgabe nicht nur im aktuellen
Kontext stellt . Bereits seit vielen Jahren setzt die unionsgeführte Bundesregierung bei der Integration auf den
Bildungsbereich . Ich möchte daher kurz folgende Fragen
aufwerfen: Wo wären wir heute angesichts der aktuellen
Herausforderungen ohne das Anerkennungsgesetz, ohne
die frühkindliche Bildung, ohne Sprachtests in den Kitas,
ohne unsere Allianz für Aus- und Weiterbildung, ohne
die Koordinierungsstelle Ausbildung und Migration?
({4})
Wo wären wir ohne eine deutsche Ausbildung in islamischer Theologie? Kein Zweifel, die zukünftigen Probleme wären ohne diese Initiativen des BMBF sehr viel
größer .
({5})
Deswegen kann das BMBF auch mit großer Zuversicht in die Zukunft blicken . Wir haben eindrücklich gehört: Die eben vorgestellten Maßnahmen sind ein erster
Schritt und nicht abschließend zu betrachten .
Kommen wir zu den Anträgen, die schon im Ansatz
problematisch sind . Beim Antrag der Linken steht in der
Präambel:
Der finanzielle Reichtum der Bundesrepublik
Deutschland basiert auch auf der Verarmung großer
Teile der Weltbevölkerung .
Ich möchte dazu nur eines sagen: Ich bin fest davon
überzeugt, dass die zu uns kommenden Flüchtlinge ein
sehr viel positiveres Bild von Deutschland haben als
ganz offenbar die Bundestagsfraktion der Linken .
({6})
Vielleicht können Sie von den Zuwanderern in Landeskunde schon sehr bald lernen, ich sehe da durchaus Bedarf .
({7})
Zum milliardenschweren Entlastungspaket für die
Kommunen und Länder kein einziges Wort in Ihren Anträgen! Stattdessen werden Länderaufgaben mit leichter
Hand dem Bund zugeschoben . Natürlich brauchen wir
mehr Lehrer . Ich muss Sie aber nicht daran erinnern, dass
das der schulische Bereich ist und in Länderhoheit liegt .
Sie suggerieren, der Bund täte nichts . Genau nach diesem
Muster werden auch Forderungen an das BMBF adressiert, die gar nicht in dessen Ressort liegen, wie, spezielle Beratungen der Flüchtlinge bei der Bundesagentur für
Arbeit zu etablieren .
Das Problem ist auch: Vieles von dem ist bereits in der
Praxis eingeführt und als Handlungsaufforderung damit
längst überholt . Erstens wird in beiden Anträgen für junge
Geflüchtete und Geduldete der Schutz vor Abschiebung
in der Ausbildung gefordert . Das ist eine wichtige Forderung, keine Frage . Aber mit dem 1 . August 2015 wurde
für jugendliche und heranwachsende Geduldete, die eine
qualifizierte Berufsausbildung aufnehmen, für die Dauer
der Ausbildung ein Schutz vor Abschiebung erreicht . Es
gibt diese Rechtssicherheit bereits .
({8})
Im Falle eines erfolgreichen Ausbildungsabschlusses
können die jungen Menschen dann eine Aufenthaltserlaubnis erhalten und damit in Deutschland bleiben . Ihr
Gerede von der Rechtsunsicherheit führt lediglich zu
mehr Verunsicherung bei den Betrieben .
Zweitens monieren Sie die BAföG-Regelungen . Zum
Mitschreiben: Geduldete und Inhaber bestimmter humanitärer Aufenthaltstitel müssen künftig nicht mehr eine
Vierjahresfrist abwarten, ehe sie BAföG-berechtigt sind,
sondern können bereits nach 15 Monaten Unterstützung
erhalten .
({9})
Ursprünglich sollte diese Frist zum 1 . August 2016 gekürzt werden . Jetzt wurde dies aber auf den 1 . Januar
2016 vorgezogen, um noch schneller helfen zu können .
({10})
- Genau . - Sie fordern, dass diese 15 Monate Mindestaufenthalt bei der BAföG-Berechtigung auf drei Monate
reduziert werden sollen . Nach drei Monaten sollen nach
Ihren Vorschlägen faktisch alle Asylberechtigten BAföG
bekommen können . Um studierfähig zu sein, braucht
man das Sprachniveau B 2 . Wie schnell soll das gehen?
Welchen Sinn macht es, dass gegebenenfalls Menschen
BAföG erhalten, die mit hoher Wahrscheinlichkeit wieder ausgewiesen werden? Deswegen ist es richtig, dass
die Bundesregierung die Mindestaufenthaltsdauer von
vier Jahren auf 15 Monate reduziert hat . Ihre drei Monate
sind purer Aktionismus . Wir müssen auch auf den Kostenfaktor achten und realistisch bleiben .
({11})
Ein dritter Punkt ist die Beschäftigungsverordnung .
Auch hier kann ein Blick in die Dokumente erhellend
sein: Das Bundeskabinett hat am 3 . August 2015 eine
Änderung beschlossen, mit der jungen Asylsuchenden
und Geduldeten, die gute Bleibeperspektiven haben, der
Zugang unter anderem zu berufsorientierenden und studienbegleitenden Praktika erleichtert wird .
Kommen wir viertens zu Ihrer Forderung nach zusätzlichen Sprach- und Alphabetisierungskursen auch für
erwachsene Flüchtlinge . Unser Bundesinnenminister ist
Ihnen auch hier bereits voraus . Die bewährten Integrationskurse werden für Asylbewerber mit guter Bleibeperspektive geöffnet, und die hierfür vorgesehenen Mittel
werden entsprechend dem gestiegenen Bedarf aufgestockt .
Auch das BMBF wird in den nächsten Jahren rund
130 Millionen Euro zusätzlich für den Erwerb der deutschen Sprache, das Erkennen von Kompetenzen und Potenzialen von Flüchtlingen und für Ausbildung und Beruf investieren . Wohlgemerkt, das sind Mittel neben dem
milliardenschweren Finanzpaket, mit dem der Bund die
Länder und die Kommunen unterstützen wird .
Es ist richtig, dass Sprachlehrer für die Integrationskurse fehlen . Auch hier setzt das BMBF an, und die zahlreichen Ehrenamtlichen sollen in Schnellkursen zu Lernbegleitern ausgebildet werden .
({12})
Ich möchte damit nicht sagen, dass die beiden Oppositionsanträge völlig obsolet sind .
({13})
Aber Sie sollten schon zur Kenntnis nehmen, dass die
Bundesregierung, das BMBF und auch ganz persönlich
Ministerin Wanka diese Themen mit großer Ernsthaftigkeit behandeln . Eine solche Ernsthaftigkeit würde ich
mir von allen politischen Akteuren sehr wünschen .
Vielen Dank .
({14})
Vielen Dank . - Für die SPD-Fraktion spricht jetzt die
Kollegin Daniela De Ridder .
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Liebe Gäste auf der Tribüne! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Hinter uns liegen zwei harte
Sitzungswochen, in denen wir sehr viel über Flüchtlingspolitik geredet haben . Ich fahre - das will ich als letzte
Rednerin in dieser Woche sagen - frohen Mutes nach
Hause . Das hat nicht nur mit den Maßnahmen zu tun,
die wir auf den Weg gebracht haben, sondern auch mit
dem Besuch von Schülerinnen und Schülern aus meiner
Heimatstadt Schüttorf . In der Radio-AG, die mich besucht hat, waren lauter Zweit-, Dritt- und Viertklässler,
und ich habe, ehrlich gesagt, noch nie mit Schülerinnen
und Schülern dieser Altersgruppe gesprochen, die so offenherzig, neugierig und vehement mit mir über Flüchtlingspolitik reden wollten . Zugegeben: Das lag auch daran, dass sie gute Lehrerinnen und Lehrer haben, die im
wahrsten Sinne des Wortes politische Bildung mit ihnen
betrieben haben . Auf diesem Feld müssen wir unbedingt
weiter arbeiten .
Lassen Sie mich deshalb noch einmal die Gelegenheit
nutzen, diesen Lehrerinnen und Lehrern, aber auch den
Erzieherinnen und Erziehern herzlichen Dank zu sagen .
({0})
Politische Bildung ist in der Tat etwas, das wir weiter
betreiben müssen . Davon habe ich aber in Ihren Anträgen
wenig gelesen, liebe Oppositionskolleginnen und -kollegen .
({1})
Darüber bin ich sehr enttäuscht . Ich sage das auch mit
Blick auf die Fernsehbilder, die wir zu sehen bekommen .
Für mich ist es unerträglich - ich hoffe, das teilen Sie
mit mir -, wenn in Deutschland wieder Flüchtlingsheime
brennen . Wir haben hier eine ganz maßgebliche Aufgabe .
Ich finde es geradezu fahrlässig, dass Sie hier den Eindruck erwecken, wir würden nichts oder zu wenig tun,
die vielen helfenden Hände vor Ort ignorieren oder die
Kommunen im Stich lassen .
({2})
Ich will nur drei Zahlen nennen, damit Sie wissen,
was ich genau meine . 4 Milliarden Euro zusätzlich wird
es - Frau Ministerin Wanka hat das bereits erwähnt - in
diesem und im kommenden Jahr für diese wichtige und
wertvolle Arbeit geben . Damit stärken wir Länder und
Kommunen . Diese sind dann an der Reihe, das Geld
entsprechend einzusetzen . Mit zusätzlich 350 Millionen
Euro jährlich beteiligt sich der Bund an der Versorgung
von Kindern und Jugendlichen, die unbegleitet in unser
Land kommen, also ohne ihre Eltern . Das ist eine mindestens ebenso wichtige Aufgabe . Als dritten Punkt will
ich die 900 Millionen Euro nennen, die aus den Mitteln
für das gestoppte Betreuungsgeld stammen, Frau Wanka .
Wir müssen ehrlich zugeben, dass es in Sachen Betreuungsgeld sehr unglücklich verlaufen ist . Aber ich freue
mich, dass das Geld nun insgesamt für die Qualitätssicherung in den Kitas und bei der frühkindlichen Bildung
eingesetzt werden und so - ich hoffe, dass Sie mir darin
zustimmen - allen Kindern in diesem Land, unabhängig
von der Herkunft, zugutekommen kann .
({3})
Ich will keinen Hehl daraus machen, dass es mir und
meiner Fraktion darum geht, solche Maßnahmen auf den
Weg zu bringen - auch dank der Unterstützung unseres
Koalitionspartners - und es den Menschen, die aufgrund
von Kriegs- und Krisensituationen in ihren Heimatländern zu uns kommen, zu ermöglichen, ganz schnell Fuß
auf dem Arbeitsmarkt zu fassen . Das, liebe Kolleginnen
und Kollegen, unabhängig welcher politischen Couleur
Sie angehören, will ich Ihnen mit auf den Weg geben;
denn das hat auch etwas mit der Würde dieser Menschen
zu tun .
({4})
Mir geht es auch um die Sprachkompetenz . Hier können wir gar nicht genug tun . Hier freue ich mich auf
Ihre kritisch-konstruktiven Vorschläge . Es geht darum,
Sprach- und Integrationskurse weiterhin zu betreiben .
Sprache ist der Schlüssel zur Verständigung und dafür,
im Alltag zurechtzukommen . Sprache ist aber auch ein
Schlüssel für gelungene Integration . Sprache ist immer
auch Träger von Kultur . Sprache ist zudem das Vehikel - ich sage das vor allem in Richtung CSU, weil ich in
dieser Woche interessante Töne von dort gehört habe -,
um unsere Werte zu transportieren . Deshalb müssen wir
als Bildungspolitikerinnen und -politiker hier in der Tat
weiter investieren, liebe Frau Wanka . Mir ist das ganz
besonders wichtig .
({5})
Wie Sie wissen, wurde jahrelang gesagt - ich habe das
persönlich zu spüren bekommen -, dieses Land sei kein
Einwanderungsland . Die aktuelle Krisensituation, die
wir nun erleben, belehrt uns eines Besseren .
({6})
Sie erinnern sich vielleicht daran, dass bereits 1965 Max
Frisch mit Blick auf die sogenannten Gastarbeiterinnen
und Gastarbeiter sagte - Sie alle kennen sicherlich dieses
Zitat -: „Wir riefen Arbeitskräfte, und es kamen Menschen .“ Dass es hier immer auch um Menschen geht, dürfen wir nie vergessen .
({7})
Gleichwohl geht es um ein gutes Paket, an dem wir
weiter arbeiten wollen . Liebe Frau Gohlke, wir sind nicht
verlegen, gute Ratschläge von Ihnen anzunehmen, wenn
sie denn finanzierbar und umsetzbar sind.
({8})
Aber auf das, was Sie in Ihren Anträgen vorschlagen, haben wir weiß Gott nicht gewartet; denn in der Tat sind
wir bereits aktiv geworden und haben das in Rede stehende Paket mit Erfolg auf den Weg gebracht . Nehmen
Sie es einfach mit in Ihren Wahlkreis, und haben Sie dort
hoffentlich viele Termine an Schulen, die Sie dann beglücken können .
Haben Sie vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit .
({9})
Vielen Dank . - Damit sind wir am Ende der Aussprache angekommen .
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 18/6198 und 18/6192 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen .
Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe, dass das der
Fall ist . Dann sind die Überweisungen so beschlossen .
Wir sind am Schluss unserer heutigen Tagesordnung
angekommen .
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 14 . Oktober 2015, 13 Uhr, ein .
Die Sitzung ist geschlossen . Ich wünsche Ihnen allen
ein gutes Wochenende .