Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Nehmen Sie bitte Platz . Die Sitzung ist eröffnet .
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit Entsetzen und
Trauer ist überall in der Welt, nicht nur im islamischen
Kulturkreis, die Nachricht von der großen Zahl von Opfern zur Kenntnis genommen worden, die die Massenpanik bei der Hadsch, der großen Pilgerfahrt nach Mekka,
verursacht hat: über 700 Tote, mehr als 800 Verletzte .
Unser Mitgefühl und unsere Anteilnahme gelten allen
Angehörigen und allen Betroffenen . Ich möchte Sie bitten, sich als Zeichen unserer Anteilnahme von den Plätzen zu erheben .
({0})
- Ich danke Ihnen .
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 21 a und 21 b auf:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur
Stärkung der pflegerischen Versorgung und zur
Änderung weiterer Vorschriften
({1})
Drucksache 18/5926
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({2})
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 der GO
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Elisabeth
Scharfenberg, Katja Dörner, Kordula SchulzAsche, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Gute Pflege braucht sichere und zukunftsfeste
Rahmenbedingungen
Drucksache 18/6066
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({3})
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 60 Minuten vorgesehen . - Dazu sehe ich
keinen Widerspruch . Also können wir so verfahren .
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Bundesminister für Gesundheit, Hermann Gröhe .
({4})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
„Vergiss mich nicht“, „Remember me“, das war das Motto des Welt-Alzheimer-Tages am vergangenen Montag .
Damit wurde auf eine Krankheit hingewiesen, deren
eindrücklichstes Zeichen der Verlust der eigenen Erinnerungsfähigkeit ist . Gleichzeitig wurde darauf hingewiesen, dass es unsere Aufgabe ist, dass es Aufgabe der
gesamten Gesellschaft ist, die Menschen, die an demenziellen Erkrankungen leiden, nicht zu vergessen .
Es gibt in dieser Woche für Menschen mit einer Demenz viele Aktionen der 40 Partner der Allianz für Menschen mit Demenz . Im ganzen Land wird darauf hingewiesen, was wir als Gesamtgesellschaft tun müssen,
damit Menschen mit demenziellen Erkrankungen möglichst gute Lebensumstände finden, um möglichst lange
selbstbestimmt, in guter Begleitung ihr Leben führen zu
können . Dabei geht es um die Erkrankten und um ihre
Angehörigen .
Es trifft sich gut, dass wir am Ende dieser Woche, an
diesem Freitag, im Deutschen Bundestag den Entwurf
eines Gesetzes auf den Weg bringen, das einen entscheidenden Fortschritt bringen wird: Wir erreichen den
gleichberechtigten Zugang für demenziell Erkrankte zu
allen Leistungen der Pflegeversicherung.
({0})
Das ist eine wichtige - die Bundeskanzlerin hat in der
Haushaltsberatung gesagt: revolutionäre - Entwicklung .
Zehn Jahre wurde in diesem Land über einen neuen
Pflegebedürftigkeitsbegriff diskutiert. Jetzt wird er eingeführt .
({1})
Das bedeutet, dass wir nicht länger allein auf körperliche Beeinträchtigungen und einen zeitlich messbaren
Unterstützungsbedarf bei Grundfertigkeiten schauen . In
Zukunft wird anhand von fünf Modulen genauer auf die
Potenziale, die Möglichkeiten von Menschen, die pflegebedürftig sind, geschaut: Wo sind die konkreten individuellen Unterstützungsbedarfe? Was ist erforderlich,
damit sie auch mit Pflegebedürftigkeit möglichst selbstbestimmt leben können? Dabei geht es nicht allein um
Mobilität, um kognitive Möglichkeiten, um die Fähigkeit
zur Selbstversorgung oder den Umgang mit Krankheit
und Therapie . Das ist ein großer Fortschritt .
Gute Pflege gibt es nicht von der Stange. Sie wird
hiermit gleichsam ein Stück weit zu einem Maßanzug,
bei dem wirklich geschaut wird, was sie bzw . er braucht .
Gute Pflege zu erhalten, das ist der Wunsch der Pflegebedürftigen, das ist der Wunsch ihrer Angehörigen, sie zu
leisten, das ist nicht zuletzt der Wunsch der Pflegekräfte
in unserem Land, die herausragende Arbeit leisten, meine Damen, meine Herren .
({2})
Der Pflegebedürftigkeitsbegriff wird eingeführt. Auf
dem Weg dorthin haben wir zum 1 . Januar dieses Jahres
wichtige Leistungen für demenziell Erkrankte nachhaltig verbessert . Wir haben darüber hinaus im letzten Jahr
intensiv die Begutachtung erprobt, die in Zukunft der
Einstufung der Pflegebedürftigkeit zugrunde liegen wird.
Mir sind drei Dinge wichtig, die ich in diesem Zusammenhang hervorheben möchte .
Erstens. Die Leistungen der Pflegeversicherung setzen zukünftig früher an. Mit dem Pflegegrad 1 wird am
Beginn einer Pflegebedürftigkeit bereits frühzeitig mit
Maßnahmen zur Wohnumfeldgestaltung, zur Betreuung
und Entlastung begonnen . Auch Beratung gehört dazu .
Mittelfristig werden dadurch ungefähr 500 000 Menschen erstmalig unterstützende Leistungen der solidarischen Pflegeversicherung erhalten. Die Pflegeversicherung greift früher .
Der zweite Punkt ist mir genauso wichtig . Er betrifft
die stationäre Altenpflege. Durch das Fortschreiten des
Pflegebedarfs werden wir in Zukunft aufgrund eines
einheitlichen pflegebedingten Eigenanteils nicht mehr
ansteigende Belastungen haben . Damit tragen wir der
Erfahrung aus der Praxis Rechnung, dass in so mancher
Pflegeeinrichtung die Höherstufung trotz nachgewiesenem höheren Pflegebedarf unterblieb, weil die Pflegebedürftigen oder ihre Angehörigen Angst vor einem steigenden Eigenanteil hatten .
Indem wir einen einheitlichen Eigenanteil festsetzen,
verhindern wir, dass sachgerechte Einstufungen aufgrund
finanzieller Ängste unterbleiben. Das stärkt die Solidarität. Außerdem wird der reale Pflegebedarf in einer Einrichtung so besser abgebildet . Das ist ein Fortschritt, der
mir ganz wichtig ist .
({3})
Drittens. Wir machen mit dem Ansatz „Reha vor Pflege“ ernst . Das beginnt, wenn ich das so offen sagen darf,
im Kopf . In unserem Kopf gilt „ambulant vor stationär“,
weil wir die Vorstellung haben, dass wir möglichst lange
in den eigenen vier Wänden leben möchten .
„Reha vor Pflege“ ist nicht in vergleichbarer Weise
bereits in den Köpfen verankert. Viel zu häufig denken
wir: Rehabilitation, das ist doch das Wiederfitmachen für
den Beruf, für den Gang am morgigen Tag in den Betrieb,
ins Büro oder wohin auch immer . - Nein, auch nach der
Verrentung, auch bei beginnender Pflegebedürftigkeit
kann Rehabilitation Selbstständigkeit und Lebensqualität sichern .
Wenn aus über 1 Million Begutachtungen der Pflegebedürftigkeit in diesem Land aufgrund der im Jahr 2012
eingeführten Verpflichtung, zu prüfen, ob Rehabedarf
gegeben ist, gerade einmal 5 000 Rehaempfehlungen resultieren, dann zeigt dies, dass wir da noch gewaltig Luft
nach oben haben, dass der Grundsatz „Reha vor Pflege“
noch nicht in unseren Köpfen verankert ist .
Eines der Ergebnisse der Erprobung des neuen Begutachtungsverfahrens war, dass es geeignet ist, genau diesen Mehrbedarf an Rehabilitation abzubilden und dann
den Menschen auch solche Maßnahmen zugutekommen
zu lassen. „Reha vor Pflege“ ist ein weiterer wichtiger
Schritt unserer Pflegereform.
({4})
Wenn Pflege individueller wird, dann wird Beratung
wichtiger. Deswegen ist ein Element unserer Pflegereform, dass wir die Beratung qualifizieren und einen
entsprechenden Auftrag erteilen, festzulegen, welcher
Qualität die Beratung entsprechen muss . Nach meiner
Vorstellung sollte diese qualifizierte Beratung wo auch
immer vom Pflegebedürftigen gewünscht, also auch in
seinem eigenen Wohnumfeld, angeboten werden . Wir
führen auch einen Beratungsanspruch der Angehörigen
ein; dieser gilt selbstverständlich nur, wenn der Pflegebedürftige einverstanden ist . Auch damit unterstützen
wir die Angehörigen und die Situation in der häuslichen
Pflege.
Doch nicht nur das ist in der Reform, die wir heute auf
den Weg bringen, ein wichtiger Punkt für die Angehörigen. Wir verbessern auch die Leistungen der Pflegeversicherung in der Rentenversicherung . Von derzeit 900 Millionen Euro im Jahr steigern wir die Mittel um ungefähr
400 Millionen Euro im Jahr erheblich, um damit die
Anerkennung von Pflege durch Angehörige in der Rente zu verbessern . Es kann doch nicht sein, dass jemand,
der für die Pflege eines Angehörigen beruflich kürzer tritt
und dadurch Einkommenseinbußen hinnimmt, im Alter
selbst über ein Minus in der Rente und dann vielleicht
auch Auswirkungen im Fall eigener Pflegebedürftigkeit
gleichsam doppelt büßt . Deswegen ist es richtig, die rentenrechtliche Absicherung der Pflegearbeit von Angehörigen jetzt zu verbessern .
({5})
Ein Weiteres ist mir wichtig . Wir stellen einiges um .
2,7 Millionen Menschen erhalten zurzeit Leistungen aus
der Pflegeversicherung. Wichtig ist: Wer heute Leistungen bekommt, bekommt in keinem Fall zukünftig weniger . Es gibt im Rahmen der Überleitung einen umfassenden Bestandsschutz . Das ist wichtig . Viele werden durch
die automatische Überleitung, durch die demenzielle
Erkrankungen höher eingestuft werden, besser gestellt
werden . Niemand wird schlechter gestellt werden . Diesen Bestandsschutz werden wir über die nächsten Jahre
durch ungefähr 4,4 Milliarden Euro aus dem Ausgleichsfonds abfedern und bezahlen können . Das ist nicht - das
ist mir angesichts mancher missverständlichen Berichterstattung wichtig - der Vorsorgefonds, sondern sozusagen die Ausgleichsreserve . Das ist möglich . Das sichert
Bestandsschutz . Das ist eine gute und wichtige Nachricht
für die heute Pflegebedürftigen.
({6})
Gute Pflege gibt es nur dank engagierter Pflegekräfte
in diesem Land . Wir gehen mit dieser Reform einen weiteren Schritt, diesen Pflegekräften bessere Arbeitsbedingungen zu bieten. Im Pflegestärkungsgesetz I zu Beginn
des Jahres haben wir die Tarifbezahlung der Pflegekräfte
rechtlich abgesichert
({7})
und 20 000 zusätzliche Betreuungskräfte vorgesehen, um
Entlastung bei der Arbeit zu schaffen . Ich danke KarlJosef Laumann, dem Pflegebevollmächtigten, dafür, in
welchem Umfang er die Entbürokratisierung bei der Pflegedokumentation vorantreibt .
({8})
Über 30 Prozent der Einrichtungen machen da bereits
mit. Der Wunsch der Pflegerinnen und Pfleger, möglichst
viel Zeit für die Pflegebedürftigen und nur, wenn es unbedingt nötig ist, Zeit fürs Papier aufzubringen, wird dadurch unterstützt . Herzlichen Dank, Karl-Josef Laumann .
({9})
Gemeinsam mit Manuela Schwesig und in engen Gesprächen mit den Ländern treiben wir die Modernisierung der Pflegeausbildung voran, die in ein Pflegeberufsgesetz münden soll . Dies alles und auch die Erinnerung
an die Vertragspartner auf Länderebene, ihre Zusagen,
den Personalschlüssel zu überarbeiten, wenn dies in den
letzten Jahren noch nicht geschehen ist, und dies auch
in Zukunft durch ein Bemessungsverfahren, das wir auf
Bundesebene erproben und erarbeiten wollen, zu unterstützen, tragen dazu bei, dass Menschen, die in der Pflege
arbeiten, die diesen Beruf heute wählen - es gibt einen
Rekord bei der Zahl der Auszubildenden -, auch merken,
dass sie eine gute Berufswahl getroffen haben . Dies treibt
uns bei den nächsten Schritten an . Heute machen wir einen großen Schritt nach vorne für die Pflegebedürftigen,
für ihre Angehörigen und für die Pflegekräfte in unserem
Land .
Herzlichen Dank .
({10})
Das Wort erhält nun die Kollegin Pia Zimmermann für
die Fraktion Die Linke .
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der neue
Pflegebedürftigkeitsbegriff soll nun Wirklichkeit werden . Ja, durch die Reform des Begutachtungsverfahrens
werden nun endlich auch Menschen mit einbezogen,
die bisher keinen oder nur unzureichenden Anspruch
auf Pflegeleistungen hatten. Das betrifft in besonderem
Maße - Herr Gröhe, Sie haben es genannt - Menschen
mit demenziellen Erkrankungen . Dass sich damit der
Kreis der Anspruchsberechtigten deutlich erweitert, ist
sehr zu begrüßen .
({0})
Was auch wichtig ist: Dieser längst überfällige Schritt
ist dem jahrelangen gesellschaftlichen Druck auf die verschiedenen Regierungen zu verdanken . Sie geben diesem
Druck nun nach, aber nur so weit, dass es nicht wehtut
und nicht so viel kostet . Meine Damen und Herren, anstatt die Pflegeversicherung endlich auf eine solide finanzielle Basis zu stellen, setzen Sie von Union und SPD auf
Ihre altbewährte Strategie der Konzeptlosigkeit und vergessen die Pflegerealität, nämlich dass pflegende Angehörige am Limit sind, nicht nur körperlich, sondern auch
finanziell; denn Pflege in Deutschland macht arm. Das
hat nicht zuletzt die Antwort auf unsere Kleine Anfrage
an die Bundesregierung bestätigt .
Das Personal in der Pflege leistet sehr gute Arbeit, und
das, obwohl die Personalsituation im Grenzbereich ist;
denn die Personaldecke in der Pflege ist viel zu dünn.
Gut ausgebildete Fachkräfte verlassen ihren Beruf schon
nach wenigen Jahren, weil der Dauerstress nicht länger
zu ertragen ist, die Löhne nicht ansatzweise eine angemessene Anerkennung der täglichen Leistung spiegeln
und auch, weil sie ein anderes Verständnis von ihrem Beruf haben . Die zunehmende Auslagerung von Tätigkeiten an Betreuungskräfte ist für die Arbeitgeber billiger .
Die Pflege wird somit aber aufgespalten. Für viele Pflegekräfte führt das zu Frust . Sie haben ein ganzheitliches
Verständnis von Pflege.
({1})
Nicht zuletzt die Teilleistungsversicherung in der
Pflege bleibt ungerecht. Menschen mit Pflegebedarf können nicht selbstbestimmt entscheiden - Ihr Gesetz ändert daran gar nichts, Herr Gröhe -, wo und von wem
sie gepflegt werden wollen; das können Menschen mit
Pflegebedarf heute, aber auch nach Ihrem Gesetz nicht
entscheiden . Ganz im Gegenteil: Ihr Gesetz zwingt die
Menschen in den unteren Pflegegraden gerade dazu, von
Angehörigen gepflegt zu werden, und das, ohne dass Sie
die Rahmenbedingungen dafür verbessern . Ganz im Gegenteil: In den unteren Pflegegraden werden mal eben Bundesminister Hermann Gröhe
hopplahopp - mehrere 100 Euro gestrichen . Sie können
sich darauf verlassen: Das ist mit uns nicht zu machen .
({2})
Ihre Reform des Pflegebedürftigkeitsbegriffes reicht einfach nicht aus. Was die Menschen, die auf Pflege angewiesen sind, und diejenigen, die pflegen, brauchen, ist
ein neuer Pflegebegriff, der auch mit Leben erfüllt wird
und nicht als leere Luftblase daherkommt .
({3})
Meine Damen und Herren, es geht nicht nur darum,
ab wann und in welchem Grad ein Mensch auf Pflege
und Unterstützung angewiesen ist, sondern auch darum,
wie diese Pflege und Unterstützung gestaltet und geleistet wird . Es reicht nicht, das Begutachtungsverfahren zu
verbessern, wenn die Leistungen dahinter nicht qualitativ
weiterentwickelt und auf die Bedürfnisse der Menschen
mit Pflegebedarf und die ihrer Angehörigen ausgerichtet
werden .
({4})
Meine Fraktion ist der Auffassung, dass ein neues Verständnis von Pflege auch zu einem veränderten Pflegeprozess führen muss .
({5})
Das heißt, Mechthild Rawert, teilhabesichernde Pflege
braucht Zeit und qualifiziertes Personal. Es muss ebenso
das Ziel sein, die Menschen dabei zu unterstützen, den
Alltag weitestgehend alleine zu meistern . Daher fordern
wir gemeinsam mit Gewerkschaften und Sozialverbänden schon lange eine verbindliche Personalbemessung .
({6})
Die Bundesregierung hat diesem Druck jetzt nachgegeben und will bis 2020 ein Personalbemessungsinstrument entwickeln . Aber das ist nur ein ganz kleiner
Schritt - zwar in die richtige Richtung, aber nur ein kleiner Schritt -; denn das Personal wird jetzt gebraucht .
Kurzfristige Maßnahmen fehlen in Ihrem Gesetz völlig .
Stattdessen parken Sie Geld, das jetzt so dringend benötigt wird, in einem Pflegefonds. Ihr Gesetz führt zu einer
weiteren Arbeitsverdichtung für die Pflegekräfte und gefährdet die Pflegequalität noch weiter.
({7})
Ich wiederhole mich gerne, meine Damen und Herren:
Gute Pflege ist ein Menschenrecht.
({8})
Der Zugang zu einer qualitativ hochwertigen und umfassenden pflegerischen Versorgung darf nicht Kostenkalkülen untergeordnet werden . Es liegt in der gesellschaftlichen Verantwortung, Bedingungen zu schaffen, damit
dieses Menschenrecht auch verwirklicht wird .
({9})
Die Linke versteht unter gesellschaftlicher Verantwortung Solidarität .
Ich komme zum Schluss . - Um grundsätzlich ein neues Pflegeverständnis und eine bedarfsdeckende pflegerische Versorgung nachhaltig zu sichern, ist ein Systemwechsel in der Finanzierung erforderlich . Eine solche
solidarische Pflegeversicherung schafft den notwendigen
finanziellen Spielraum für eine gute Pflege und für gute
Arbeitsbedingungen .
Herzlichen Dank .
({10})
Karl Lauterbach von der SPD-Fraktion ist der nächste
Redner .
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich möchte mich zunächst einmal bei Minister Gröhe und auch bei den Mitgliedern der Fraktionen
ganz herzlich dafür bedanken, dass wir gestern bei der
Lösung der Probleme im Bereich der Gesundheit für die
Asylsuchenden aus meiner Sicht einen sehr tragfähigen
und weitreichenden Kompromiss finden konnten, der
sich sehen lassen kann . Die Gesundheitsversorgung von
Flüchtlingen wird dadurch deutlich und auch nachhaltig
verbessert . Das wäre ohne die Zusammenarbeit, die, wie
wir gesehen haben, ohne politisches Geschrei und sehr
konstruktiv erfolgte, nicht möglich gewesen . Daher vielen Dank an alle, die daran mitgewirkt haben .
Die Reform der Pflegeversicherung, die wir jetzt beschlossen haben, führt zur größten prozentualen Aufstockung der Mittel einer Sozialversicherung, die wir in
Deutschland jemals gesehen haben . Sie werden um fast
25 Prozent aufgestockt . Diese Mittel sind gut eingesetzt .
Ich will die Grundzüge nur noch einmal in Umrissen
erklären, sodass die Gesamtstruktur dieser Pflegereform
gewürdigt werden kann:
Die körperliche Pflegebedürftigkeit wurde bei der Pflegeversicherung bisher einigermaßen gut berücksichtigt,
die demenzielle Pflegebedürftigkeit wurde nur wenig berücksichtigt, und die Pflegebedürftigkeit bei psychischen
Erkrankungen wurde so gut wie gar nicht berücksichtigt .
Das war eine systematische Diskriminierung insbesondere derjenigen, die an psychischen Erkrankungen oder an
Demenz gelitten haben . Diese Diskriminierung beenden
wir nun, indem wir die Pflegebedürftigkeit in allen drei
Bereichen in vergleichbarer Art und Weise anerkennen,
die Mittel aufstocken und allen eine qualitativ gleich gute
Pflege ermöglichen.
({0})
Ein zweiter sehr wichtiger Grundzug dieser Reform
besteht darin, dass wir dazu übergehen, nicht mehr zu
messen, was bei jemandem pro Tag gemacht werden
muss - das war im Wesentlichen der Reparaturansatz in
der Pflege -, sondern zu schauen, was ein Mensch noch
kann, und dass wir das, was er noch kann, stärken . Das
ist ein ganzheitlicher Teilhabeansatz, den wir auch in anderen Bereichen verfolgen .
Dazu passt, dass wir versuchen, denjenigen zu rehabilitieren, bei dem das noch möglich ist . Wir stärken das,
was jemand noch kann, und reparieren nicht das, was er
nicht mehr kann . Dieser Ansatz, dieses Umdenken, ist
der wichtigste Grundsatz bei der Neudefinition der Pflegestufen und der Pflegebedürftigkeit. Das ist eine ganz
andere Herangehensweise als bisher . Dadurch werden
die Pflegebedürftigen die Hilfe bekommen, die sie benötigen, ohne dass es zu einer Reparaturpflege kommt, und
auch die in der Pflege Tätigen werden dadurch motiviert,
weil sie das tun können, was sie am liebsten tun, nämlich,
jemandem zu helfen, das, was er noch kann, zu erhalten
oder weiter aufzubauen .
Das ist die wichtigste Umstellung, aber keine technische Umstellung, sondern dahinter steht eine ganz andere
Pflegephilosophie. Es war höchste Zeit, dass wir hier umstellen; das ist schon angesprochen worden . Ich glaube,
dies ist sehr gut gelungen . Darauf können wir stolz sein .
({1})
Ein weiterer sehr wichtiger Ansatz dieser Reform der
Pflegeversicherung, der sich durch alle Bereiche zieht, ist
die Vermeidung von stationärer Pflegebedürftigkeit. Ich
will nur zwei Beispiele nennen:
Das Wohnumfeld der Menschen, die unter den ersten
Pflegegrad fallen, wird deutlich verbessert. Das kommt
etwa 500 000 Menschen zugute, die bisher nicht als
pflegebedürftig galten. Dadurch helfen wir diesen Menschen, weiterhin zu Hause leben zu können . Durch die
Anpassung des Wohnumfeldes werden viele dieser Menschen niemals eine stationäre Pflege in Anspruch nehmen
müssen . Das ist ein sehr wichtiger Schritt in Richtung
Pflegebedürftigkeitsvorbeugung. Damit stärken wir diejenigen, die zu Hause leben wollen und das noch können .
({2})
In die gleiche Richtung - Vorbeugung statt Heilung geht der Versuch, diejenigen, die diese Leistung erbringen können - die Familienangehörigen -, dafür auch ein
Stück weit besser abzusichern . Die bessere Anerkennung
der Rentenansprüche für diejenigen, die zu Hause jemanden pflegen, ist - in Kombination mit der Stärkung der
häuslichen Pflege, auch mit den erhöhten Mitteln, die
wir für die häusliche Pflege zur Verfügung stellen - ein
ganz wichtiger Schritt, damit diese Menschen nicht bei
der Rente benachteiligt werden . Wir wollen dafür sorgen, dass es Familien leichter haben, ihre Angehörigen
zu Hause zu versorgen, sodass die Pflege zu Hause eine
noch stärkere Rolle spielen wird und die höheren Pflegegrade in der stationären Versorgung nicht notwendig
werden .
Die Reform leistet auch einen wichtigen Beitrag zur
sozialen Gerechtigkeit . Es war bisher ungerecht, dass die
sozial Schwächeren durch den Anstieg der Eigenanteile
bei höheren Pflegestufen diese aus finanziellen Gründen oft gemieden haben . Wir haben eine systematische
Unterversorgung der ärmeren Menschen, weil diese zur
Schonung ihrer Angehörigen oder ihrer Ressourcen nicht
in die höheren Pflegestufen übergegangen sind, obwohl
es oft medizinisch notwendig gewesen wäre .
Die wichtige Beseitigung dieser Ungerechtigkeit würde ich nicht unterschätzen . Es ist richtig, dass wir die Eigenanteile für alle Pflegestufen einheitlich gestalten. Nur
so wird es möglich sein, dass auch die sozial schwächeren Menschen die Pflege bekommen, die sie benötigen.
({3})
Ich komme zum Schluss . Wir stärken die Lebensqualität . Wir dehnen die Betreuungsleistungen aus, sodass
auch einmal gespielt werden kann, dass man mit den
Pflegebedürftigen nach draußen gehen kann, sodass nicht
nur das Medizinische im Vordergrund steht, sondern
Pflegebedürftige auch das erleben, was am Leben noch
schön ist . Da sind die Betreuungsleistungen, die man
nicht gegen die eigentliche Fachpflege ausspielen darf,
eine wichtige Ergänzung . Die gesamte Reform ist paritätisch finanziert worden. Das ist für mich auch für zukünftige Reformen in der Krankenversicherung vorbildlich .
({4})
Die Reform ist ein wichtiger Baustein, eine aus meiner
Sicht gelungene ganzheitliche Reform, die die Pflegelandschaft in Deutschland nachhaltig beeinflussen wird.
({5})
Das Wort erhält nun die Kollegin Elisabeth
Scharfenberg, Bündnis 90/Die Grünen .
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrter Herr Minister Gröhe! Herr Laumann! Sehr geehrte Damen und
Herren! Ich könnte Sie hier auch mit „Sehr geehrte Pflegebedürftige von morgen und übermorgen“ begrüßen .
({0})
Sie bringen heute den Entwurf eines Gesetzes, des
PSG II, ein . Offensichtlich sind Ihnen ja blumige Namen
wie „Pflegeneuausrichtungsgesetz“ und „Pflegeweiterentwicklungsgesetz“ ausgegangen . Wir fangen jetzt an,
durchzunummerieren . Das PSG I hatten wir ja schon .
Wir werden sehen, wo wir am Ende dieser Legislatur
landen . Ich befürchte, das wird jetzt eine unendliche Geschichte werden .
Nach vielen Jahren soll nun endlich mit dem PSG II
der Pflegebegriff umgesetzt werden. Dieser Pflegebegriff - ich habe das immer betont - ist das Herzstück aller Pflegereformen der letzten Jahre. 500 000 Menschen
mehr sollen in die Pflegeversicherung mit einbezogen
werden, und die Beiträge werden um insgesamt ein Viertel ansteigen . Das sind 6 Milliarden Euro zusätzliche Beiträge der Versicherten jährlich . Dies ist eine der größten
Veränderungen in der Pflegeversicherung seit ihrem Bestehen .
({1})
Demenzkranke sollen erstmals gleichberechtigt in die
Pflegeversicherung einbezogen werden. Und Leistungen
für Pflegebedürftige werden danach bemessen, wie stark
die Selbstständigkeit eingeschränkt ist . Das heißt, es wird
nicht mehr gefragt: Was kann wer nicht mehr? Vielmehr
wird die Frage gestellt: Was kann wer noch? Und da geht
es, ehrlich gesagt, richtig um was .
Wir nehmen uns gerade einmal etwas mehr als eine
Stunde Zeit, um dieses Gesetz einzuführen und zu beraten . Wir werden auch bei der Anhörung am nächsten
Mittwoch nicht viel Zeit haben . Und die kritischen Stimmen der Expertinnen und Experten werden Sie - wie bei
so vielen anderen Themen - einfach überhören . Noch
im November wird dann das PSG II hier verabschiedet .
Das ist, ehrlich gesagt, ein Husarenritt nicht in Hochgeschwindigkeit, sondern in Höchstgeschwindigkeit,
({2})
und das bei einem Gesetz, das wichtig ist für so viele
Menschen in unserem Land: für die Pflegebedürftigen,
für die Angehörigen und insbesondere auch für die Pflegekräfte .
Das ganze Vorgehen wundert mich nicht einmal . Sie
betonen gerne und häufig die Wichtigkeit der Pflege. Um
diese Wichtigkeit zu beweisen, jagen Sie ein Pflegegesetz nach dem anderen durchs Parlament:
({3})
das Pflegestärkungsgesetz I, das Gesetz zur besseren
Vereinbarkeit von Familie, Pflege und Beruf, aktuell das
PSG II mit dem neuen Pflegebegriff, demnächst dann die
unsägliche Reform der Pflegeausbildung.
({4})
Dazu kommt das Krankenhausstrukturgesetz . Auch hier
ist ein zentraler Punkt der Pflegepersonalmangel in den
Krankenhäusern . Dann kommt noch das Hospiz- und
Palliativgesetz. Davon sind Pflegeeinrichtungen und
Pflegekräfte wesentlich betroffen. Aber es bleibt keine
Zeit für eine öffentliche Auseinandersetzung .
({5})
Ehrlich: Sie selbst kommen bei diesem Tempo nicht
mehr mit . Unterm Strich: Sie weigern sich, die wirklich
wichtigen Fragen zu beantworten . Ich habe das Gefühl,
Sie schaffen lieber erst einmal Tatsachen . Aber Quantität
bedeutet eben nicht automatisch Qualität, und gut gemeint bedeutet eben noch lange nicht gut gemacht .
({6})
Ein neuer Pflegebegriff, eine Pflege, die den Menschen
mehr Selbstständigkeit und Teilhabe am Leben ermöglichen soll, 500 000 Menschen mehr, die Leistungen aus
der Pflegeversicherung erhalten sollen: Das kostet Geld.
Dazu braucht es natürlich mehr gut qualifiziertes Personal . Woher soll das denn bitte kommen?
({7})
- Dazu komme ich gleich . - Sie haben den Beitrag zur
Pflegeversicherung erhöht. Aber Sie selbst geben ja zu,
dass diese Finanzierung eben mal bis 2022 steht . Nur bis
2022! Ehrlich: Das ist alles andere als nachhaltig!
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, lieber Herr Minister, eine Reform, die so viele Menschen betrifft, braucht
ein wirklich starkes Fundament .
({8})
Aber davon fehlt mir hier jede Spur .
({9})
Das Einzige, was Ihnen zur Finanzierung einfällt, ist
der Pflegevorsorgefonds; ein Fonds, der jährlich rund
1,2 Milliarden Euro an Beitragsgeldern einfach schluckt;
({10})
Beitragsgelder, die wir aktuell woanders viel dringender
bräuchten, Beitragsgelder, die aktuell dringend für die
Pflege verwendet werden müssten.
({11})
- Hören Sie auf die Expertinnen und Experten! Diese haben Ihnen bestätigt, dass das kein Element der Vorsorge
ist, sondern nur absolute Showpolitik .
({12})
Dieser Fonds wird dazu führen, dass der Beitrag in der
Zukunft um gerade einmal 0,1 Prozentpunkte sinken
wird . Ehrlich: Das ist keine spürbare Entlastung .
({13})
Nach 20 Jahren wird dieser Fonds leer sein . Es wird aber
nicht plötzlich mehr Beitragszahlerinnen und Beitragszahler geben; das ist doch eine absolute Milchmädchenrechnung . Der Beitrag wird dann einfach wieder sprunghaft steigen müssen .
Wir haben einen besseren Vorschlag . Wir predigen
schon lange Zeit die grüne Pflegebürgerversicherung.
({14})
Sie würde uns finanzielle Spielräume eröffnen, zum Beispiel mehr Geld für Pflegekräfte; denn natürlich brauchen wir mehr Personal . Es muss uns doch allen klar
sein: Wir brauchen mehr Personal, wenn mehr ältere und
pflegebedürftige Menschen in unserer Gesellschaft leben . Wir werden auch mehr Personal brauchen, wenn das
PSG II so umgesetzt werden soll, wie es uns der Kollege
Lauterbach gerade so blumig dargestellt hat .
Wo soll denn dieses zusätzliche Personal herkommen?
Die Pflegekräfte arbeiten jetzt schon am Limit; das wissen wir doch alle . Wenn das PSG II 2017 in Kraft treten
wird, dann werden die Pflegekräfte noch mehr gefordert
werden; denn die Pflege wird sich ändern, ändern müssen, wenn wir den Pflegebegriff ernst nehmen. Die Antwort auf dieses Problem? Tja, leider Fehlanzeige!
Sie wollen bis 2020 ein Personalbemessungsinstrument entwickeln . Ehrlich: Das ist viel zu spät .
({15})
Wenn dieses Instrument entwickelt ist, dann ist es auch
noch nicht flächendeckend umgesetzt. Ich möchte noch
einmal erinnern: Ihre Finanzierung steht bis 2022 . Wenn
Sie 2020 anfangen, zu überlegen, wie Sie ein Personalbemessungsinstrument umsetzen, dann ist die Kasse schon
lange wieder am Limit .
Wir brauchen mehr Menschen, die in der Pflege arbeiten und das auch wollen . Nur so können wir auch Personalbemessungsvorgaben umsetzen und erfüllen . Diese
Menschen kommen aber nur, wenn sich die Arbeitsbedingungen in der Pflege wesentlich verbessern.
({16})
Die generalistische Pflegeausbildung, die Sie planen,
wird das Gegenteil erreichen . Drei Ausbildungen sollen
zu einem Beruf zusammengelegt werden, und das bei
der gleichen Ausbildungsdauer: drei Berufsausbildungen
eingedampft auf drei Jahre .
({17})
Es springt einen doch an: Da wird Fachwissen verloren
gehen . Das wertet einen Beruf nicht auf; das wertet einen
Beruf ab .
({18})
Und: Sie ignorieren die massiven Probleme bei der
Umsetzung . Es scheint Sie überhaupt nicht zu interessieren . Doch es gibt diese Probleme . Es gibt einen Mangel
an generalistisch qualifizierten Lehrkräften.
(Mechthild Rawert [SPD]: Wir wollen doch
in Richtung Qualität!
Es wird zu wenig Praxisstellen, es wird zu wenig Praxisanleitungen geben . Die Kosten werden steigen . Die Finanzierung ist ungeklärt . Diese Probleme existieren . Sie
blenden sie aus . Wir bekommen keine Antworten, und
das ist, ehrlich gesagt, ein ganz unlauteres Vorgehen .
({19})
Diese Probleme werden aber dazu führen, dass die
Zahl der Ausbildungsplätze in der Pflege nicht steigen,
sondern zurückgehen wird . Das wird verheerende Auswirkungen auf die gesamte Pflegelandschaft haben.
Der neue Pflegebegriff wird nicht umzusetzen sein.
Sie versprechen auch mehr Unterstützung für pflegende
Angehörige: ein bisschen mehr Absicherung in der Arbeitslosenversicherung, ein bisschen mehr Rente - für
manche . Viele wird das gar nicht erreichen .
Das wird bei weitem nicht reichen . Wir brauchen endlich Angebote für pflegende Angehörige, die wirklich
entlasten .
({20})
Die Gesetze, die Sie bisher dazu gemacht haben, belasten
die Angehörigen, beispielsweise das Gesetz zur besseren
Vereinbarkeit von Familie, Pflege und Beruf. Mit dem
Darlehen bleiben alle Lasten bei den Angehörigen hängen .
Sie tun nichts, was Strukturfragen angeht, und sie tun
nichts für eine nachhaltige Finanzierung . Alles wird in
die Zukunft verschoben . Das sind ungedeckte Schecks,
und das bei einem PSG II, in das so viele Menschen berechtigte Hoffnung setzen .
Ich fordere Sie auf: Denken Sie die Probleme in der
Pflege endlich zusammen! Lösen Sie die wichtigen
Probleme! Kümmern Sie sich um eine zukunftsfeste
Finanzierung! Sorgen Sie für ein besseres Ansehen des
Pflegeberufs, und tun Sie endlich etwas für bessere Arbeitsbedingungen in der Pflege!
({21})
Am Mittwoch haben Tausende Pflegekräfte am Brandenburger Tor genau dafür demonstriert .
({22})
Das sollte Sie endlich wachrütteln . Sehen Sie doch einmal die Realität!
Vielen Dank .
({23})
Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege
Georg Nüßlein das Wort .
({0})
Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Frau
Kollegin Scharfenberg, ich war wirklich auf Ihre Rede
gespannt . Ich war gespannt, weil ich noch im Ohr hatte,
was Sie uns die ganze Legislatur über alles erzählt haben:
Es komme alles zu spät - das haben Sie heute wiederElisabeth Scharfenberg
holt -, und es gehe alles nicht schnell genug . „Ankündigungspolitik“ war eines Ihrer Worte .
({0})
Wir würden Menschen ruhigstellen und ständig an
kleinsten Schräubchen drehen .
Und heute reden Sie von einem Husarenritt . Sie müssen sich schon entscheiden, was Sie denn an der Stelle
wollen .
({1})
Ich hätte erwartet, dass Sie sagen:
({2})
Wir haben es nicht geglaubt . Wir waren skeptisch . Aber
Sie haben es gut gemacht . Wir haben es Ihnen einfach
nicht zugetraut . - Es hätte Ihrer Rolle als Opposition angestanden, zu sagen: Wir haben es Ihnen nicht zugetraut;
aber Sie haben jetzt diesen zusätzlichen Schritt, diesen
großartigen, großen Schritt gemacht, und wir haben in
unserer Kleinkrämerei einfach nicht geglaubt, dass das
so kommen wird .
Stattdessen kritisieren Sie an Kleinigkeiten herum .
Beim letzten Mal haben Sie uns noch dafür gescholten,
dass wir die Dinge wohlüberlegt angehen . Darum ist es
doch gegangen . Es geht doch an der Stelle um ein hochsensibles Thema, meine Damen und Herren . Es geht um
Menschen in einer schwierigen, wenn nicht sogar in ihrer
schwierigsten Lebensphase . Es geht um Angehörige, die
mit einer Situation, die für sie neu und auch problematisch ist, konfrontiert sind . Und es geht in der Tat - da haben Sie recht - auch um das Personal und um diejenigen,
die Großartiges - auch professionell - leisten . Das muss
ich auch sagen .
Wenn Sie eine anständige Rede gehalten hätten, dann
hätten Sie gesagt: Jawohl, diese Reform - Stufe I wie
Stufe II - tut für alle etwas. Sie hat die zu Pflegenden im
Blick, um die es geht . Sie hat die Angehörigen im Blick,
die viel leisten, und sie tut auch im Personalbereich etwas . - Stattdessen kritisieren Sie daran herum . Schauen
Sie sich doch Ihren Antrag an! Sie sagen doch, das sei
alles zu wenig . 25 Prozent mehr an Rentenbeiträgen und
6 Milliarden Euro: Was soll man denn sonst noch tun?
({3})
Das war aus meiner Sicht der Gipfel .
({4})
Wenn Sie dann auch noch kritisieren, dass wir nur eine
Beitragsperspektive bis zum Jahr 2022 - das sind sieben
Jahre, und das in heutiger Zeit - vorsehen, und sagen, das
sei noch zu wenig, dann glaubt Ihnen das doch niemand .
({5})
Die Beitragsperspektive von sieben Jahren gibt uns Zeit,
etwas zu tun; das ist richtig . Man darf nicht vergessen,
dass wir an einem Gesetz operieren, das 20 Jahre Bestand
hatte . Wenn dies der Maßstab für alles wäre, was wir hier
machen, dann wäre schon etwas gewonnen . Ich möchte
an dieser Stelle einen Gruß an Norbert Blüm senden . Ich
weiß nicht, ob er zuhört, aber es war eine großartige Leistung, damals eine solche Reform auf die Beine zu stellen,
({6})
die 20 Jahre Bestand gehabt hat und damals einen Paradigmenwechsel darstellte . Wir haben Menschen, die
pflegebedürftig wurden - das ist eine ganz schwierige Situation -, vor der Schmach bewahrt, in die Sozialhilfe zu
fallen . Das ist das Großartige dieses Ansatzes gewesen .
Wir entwickeln dieses großartige Gesetz nun in einem
riesigen Schritt fort .
({7})
Kollege Lauterbach hat fachlich präzise beschrieben,
worum es geht, nämlich um die Demenzkranken, aber
nicht nur um die . Auch die psychisch Kranken werden
einbezogen . Meine Damen und Herren von der Opposition, Sie sagen: Überfällig . - Ja, das stimmt . Aber warum kritisieren Sie dann das als Husarenritt? Entweder ist
dieser Schritt überfällig, oder es handelt sich um einen
Husarenritt . Wir machen das auf jeden Fall wohlüberlegt
und zielgerichtet . Die Weiterentwicklung erfolgt in zwei
Stufen. Die Pflegestufe I hat pflegebedürftigen Personen,
auch Demenzkranken und Menschen mit eingeschränkter Alltagskompetenz sowie deren Angehörigen deutliche
Verbesserungen, mehr Flexibilität und mehr Leistungen
gebracht . Wenigstens das hätten Sie anerkennen können .
Das ist nämlich Fakt; das haben wir schon in der ersten
Stufe geleistet . Wir geben Geld für mehr Betreuung und
damit für mehr Personal aus . Das müssen Sie anerkennen .
Das, was wir hier tun, kostet Geld und ist mit Beitragserhöhungen in erheblichem Ausmaß verbunden . Aber es
sind die unumstrittensten Beitragserhöhungen im Sozialversicherungsbereich, die wir jemals hatten .
({8})
Der allergrößte Teil der Bevölkerung sagt: Das, was ihr
macht, hat Sinn und ist zielführend und gut . Wir sind
bereit, dafür Geld auszugeben . - Das sagen Arbeitgeber
und Arbeitnehmer gemeinsam . Ich bin überzeugt, dass
Ähnliches auch für die Stufe II gilt .
Normalerweise wissen Parlamentarier sofort - egal
ob ein Gesetzentwurf aus einem CDU/CSU-geführten
oder aus einem SPD-geführten Haus kommt -, was man
grundsätzlich ganz anders machen müsste . Die Minister
kennen das Struck’sche Gesetz - Herr Gröhe kann ein
Lied davon singen -: Kein Gesetz verlässt den Bundestag
so, wie es hineingekommen ist . - Ich habe ein Problem
mit diesem Gesetz; denn mir fällt auf Anhieb nichts ein,
was man an dem vorliegenden Gesetzentwurf groß ändern müsste .
({9})
Es handelt sich um eine ganz, ganz gute Vorlage . Ich
möchte mich herzlich bedanken beim Minister, beim Pflegebeauftragten, Herrn Laumann, und bei Frau Kraushaar .
Eine ganz, ganz tolle Vorlage! Vielen herzlichen Dank!
({10})
In der Tat verhält es sich so, wie die Vorredner gesagt
haben: Das Herzstück ist ein neuer Pflegebedürftigkeitsbegriff . Das Hauptanliegen muss natürlich sein, gerade
die Demenzkranken von Anfang an richtig und sinnvoll
zu versorgen . Das erwartet man von uns, und das muss
auch in die Zukunft gerichtet so sein; denn das Risiko,
an Demenz zu erkranken, steigt mit zunehmender Lebenserwartung, die Gott sei Dank ebenfalls steigt . Das
ist sicherlich ein Wohlstandsthema . Mittelfristig werden
jedenfalls zusätzlich 500 000 Menschen Leistungen aus
der Pflegeversicherung beziehen. Das kann man unter
Kostengesichtspunkten sehen . Aber ich sehe das hauptsächlich unter dem Gesichtspunkt der medizinisch-pflegerischen Versorgung . Auch deshalb müsste man dieses
Gesetz loben . Dass die Opposition das nicht kann,
({11})
mag an der Rolle liegen, die ihr der Wähler zugewiesen hat . Das kann man bedauern . Wenn Sie aber in Ihrer
Kritik ein bisschen differenzierter gewesen wären, Frau
Scharfenberg, dann wäre das glaubhafter gewesen .
({12})
Da wir das mit einer Übergangsphase machen, muss
niemand Sorge haben, dass er heruntergestuft wird und
dass die Angehörigen stärker belastet werden . Das zeigt,
wie wohlüberlegt wir das Ganze gemacht haben . Ich
möchte auch unterstreichen, dass wir durchaus sehen,
dass viele pflegende Angehörige an die Grenze ihrer Belastbarkeit gehen. Diesen Punkt, die Hilfe für die Pflege
zu Hause, haben wir schon Anfang dieses Jahres mit insgesamt 1,4 Milliarden Euro verstärkt .
Ich möchte das wiederholen, was Herr Lauterbach hier
gesagt hat: Wir haben das Ganze so austariert, dass die
Chance, gar nicht in eine Pflegeeinrichtung zu müssen,
gewachsen ist . Wir haben es so gemacht, dass mehr Menschen die Option haben, viel länger zu Hause zu bleiben .
Es ist doch ein Anliegen derjenigen, die langsam in die
Pflegebedürftigkeit rutschen, möglichst lang zu Hause zu
bleiben und eben nicht in eine Einrichtung zu kommen .
Aber natürlich gibt es dann irgendwann einmal den
Punkt, an dem das unvermeidlich ist . Daher haben wir
die Beratung der Angehörigen gestärkt . Wir werden das
Thema Pflege-TÜV aufgreifen. In diesem Zusammenhang werden wir auch das Thema Bürokratieabbau im
Blick haben. Ich darf Ihnen sagen: Den Pflege-TÜV werden wir neu aufstellen. Der heutige Pflege-TÜV ist in
spätestens zweieinhalb Jahren Geschichte . Das ist keine
Ankündigung, sondern etwas, worauf sie sich verlassen
können .
Meine Damen und Herren, wir werden die Bedingungen für das Pflegepersonal weiter verbessern; auch das
ist wichtig . Da geht es um die Arbeitsbedingungen auf
der einen Seite und um die materiellen Bedingungen auf
der anderen Seite . Niemand arbeitet für lau . Letztendlich
arbeitet jeder, um seinen Lebensunterhalt zu sichern . Das
muss man im Blick haben, wenn man über die Frage
redet: Wie bekommt man mehr Pflegekräfte? Natürlich
werden wir uns in diesem Zusammenhang in der nächsten Zeit auch über die Frage der Pflegeausbildung unterhalten . Dabei muss abgewogen werden, was die generalistische Pflegeausbildung am Schluss bringt und was sie
verändern wird .
Vielen herzlichen Dank fürs Zuhören .
({13})
Ich erteile dem Kollegen Harald Weinberg das Wort
für die Fraktion Die Linke .
({0})
Vielen Dank . - Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Herr Nüßlein, welche Rolle wir als Opposition
einnehmen, das müssen Sie uns schon selber überlassen .
({0})
Das ist das erste Wesentliche, was ich Ihnen sagen möchte .
Dann möchte ich allerdings schon noch einmal betonen: Ich kann mich noch recht gut an die letzte Wahlperiode erinnern . Da haben wir irgendwie einen extrem
langen Herbst gehabt . Der damalige Gesundheitsminister Bahr hat uns immer wieder angekündigt: Es gibt im
Herbst einen neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff. Dieser
Herbst war extrem lang: Er ging bis in den November, bis
in den Dezember, bis in den Januar hinein, und es kam
und kam und kam nichts . Insofern ist es natürlich schon
so, dass man dieser Regierung Anerkennung dafür zollen
kann, dass sie etwas vorlegt, und zwar schnell .
({1})
Ich denke, man kann auch anerkennen, dass das Pflegestärkungsgesetz I und das Pflegestärkungsgesetz II
vom Finanzvolumen her sicher die größte Reform der
Pflegeversicherung seit ihrem Bestehen sind. Außerdem
gilt es erst einmal, einiges weitere durchaus Positive an
diesem Pflegestärkungsgesetz anzuerkennen.
({2})
Aber - jetzt kommt natürlich das Aber - dennoch reicht
das Geld aus den Beitragssatzanhebungen um 0,5 Prozentpunkte nicht aus, um die grundsätzliche Unterfinanzierung und die grundsätzlichen Probleme der Pflege zu
lösen . Dass diese Beitragssatzerhöhung unumstritten sei,
darin gebe ich Ihnen durchaus recht . Aber umstritten an
dieser Beitragssatzerhöhung ist durchaus, dass 0,2 Prozentpunkte, das heißt 40 Prozent von 0,5 Prozentpunkten, in einen sogenannten Spahn-Fonds fließen sollen.
({3})
- „Spahn-Fonds“ . Ja, ich nenne es „Spahn-Fonds“, weil
Herr Spahn mit Sicherheit seine Finger darin gehabt hat,
als es darum ging, dass es diesen Fonds in der Form gibt .
({4})
Das, was in diesen Fonds hineinkommt, steht der Pflege und der Pflegeversorgung natürlich nicht zur Verfügung. Was wir in der Pflege brauchen, das sind natürlich
vor allen Dingen Personal, Personal, Personal, gute Arbeit für die Beschäftigten, gute Pflege für die Pflegebedürftigen, eine bessere Bezahlung, eine Wertschätzung
der Arbeit . Wir müssen weg von der Teilkaskoversicherung mit Verarmungsgarantie für die Betroffenen, hin
zu einer Pflegeversicherung, die notwendige Leistungen
voll übernimmt .
({5})
Das alles geht nur mit einer Reform der Einnahmeseite . Damit sind wir beim Thema . Nur, ich würde es nicht
„grüne Bürgerversicherung“ nennen, sondern „solidarische Bürgerinnen- und Bürgerversicherung“ .
({6})
Damit sind wir bei der solidarischen Bürgerinnen- und
Bürgerversicherung in der Pflege. Ich meine, das wäre
ein gutes Einstiegsprojekt; denn wir haben in der Pflege
die Situation, dass die Leistungen in der privaten Versicherung und in der gesetzlichen Versicherung identisch
sind . Wir können hier tatsächlich sozusagen ein Einstiegsprojekt mit einer Systematik machen und könnten
dabei womöglich auch die Rücklage von 25 Milliarden
Euro, die es bei der privaten Pflegeversicherung gibt, in
die Versorgung und in die zukünftige Versorgung einbringen .
({7})
Theoretisch hätten wir sogar eine Mehrheit dafür in
diesem Haus. Praktisch befindet sich die SPD hier in babylonischer Gefangenschaft . Dennoch wollen wir diese
Alternative zumindest mit diskutieren und haben daher
unseren Antrag zu einer solidarischen Bürgerinnen- und
Bürgerversicherung in der Pflege eingebracht. Ich freue
mich auf die Beratungen . Ich glaube, es gibt schon noch
einigen Änderungsbedarf bei dem hier vorgelegten Gesetzentwurf .
Danke .
({8})
Nun erhält die Kollegin Hilde Mattheis das Wort für
die SPD-Fraktion .
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
freue mich und meine Fraktion freut sich, weil wir nach
vielen Jahren Überzeugungsarbeit heute wirklich ein
Herzstück einer Pflegereform auf den Weg bringen - ein
Herzstück!
({0})
Ich glaube, wir können für uns in Anspruch nehmen, dass
wir das, was wir in der Opposition immer vertreten haben, jetzt in der Regierung umsetzen .
({1})
Das ist ein wichtiger Schritt; denn uns allen ist klar: Wir
brauchen in der Pflege große Anstrengungen, und diese
großen Anstrengungen gehen dahin, nicht nur mehr Geld
in die Pflege zu geben, sondern auch strukturelle Verbesserungen zu erreichen .
({2})
Diese strukturellen Verbesserungen hängen fest und
eng mit dem Pflegebedürftigkeitsbegriff zusammen.
Wenn wir es nicht geschafft hätten, weg von der Mangelerhebung und hin zu einem Teilhabeaspekt zu kommen,
hätten wir noch so viele Leistungsverbesserungen auf
den Weg bringen können - wir hätten es nicht erreicht,
individuell zu helfen .
Deshalb ist es so wichtig, dass wir dieses Herzstück
nicht nur diskutieren, sondern auch auf den Weg bringen . Sie und Sie von der Opposition haben vor wenigen Jahren - da bitte ich Sie, einfach einmal Ihre Reden
nachzulesen - mit uns genau diese Forderung erhoben .
Ich fand es damals gut und richtig, dass wir eine breite
Übereinstimmung hatten . Deshalb appelliere ich an Sie:
Begleiten Sie uns durchaus kritisch-konstruktiv! Auch
wir werden im parlamentarischen Verfahren an der einen oder anderen Stelle sicherlich nicht nur Nachfragen
haben, sondern auch Schwerpunkte anders setzen . Denn
unser gemeinsames Streben muss es sein, dass wir in dieser Großen Koalition das hinkriegen, was wir den Menschen versprochen haben, nämlich auch in der letzten
Lebensphase Lebensqualität zu erhalten .
({3})
Das geht damit, dass man auf der einen Seite mehr
Geld in dieses Sozialversicherungssystem hineinholt .
Mehr Solidarität wäre auch uns als SPD noch lieber . Daran werden wir arbeiten; denn die solidarische Absicherung dieser wichtigen Sozialversicherungssäule ist unser
Ziel . Aber wir können nicht alles auf einmal erreichen;
das ist richtig .
Frau Mattheis, darf die Kollegin Zimmermann eine
Frage stellen?
Bitte, Frau Zimmermann; gern .
Bitte schön .
Vielen Dank, Frau Mattheis, dass Sie die Zwischenfrage
zulassen . - Zu meiner Frage . Sie sagen, dass es darum
geht, was wir den Menschen versprochen haben, und
dass wir nachlesen sollen, was in unseren Reden stand .
Im Wahlprogramm der SPD zur letzten Bundestagswahl
stand die Bürgerinnen- und Bürgerversicherung . Da frage ich mich: Wie gehen Sie denn jetzt damit um, vor allen
Dingen auch vor dem Hintergrund, dass die private Pflegeversicherung - mein Kollege, Herr Weinberg, hat es
erwähnt - 2014 eine Rücklage von 25 Milliarden Euro jetzt wahrscheinlich noch mehr - hatte? Um das einmal
anhand von Versorgungszeiten deutlich zu machen: Es ist
so, dass die private Pflegeversicherung mit dieser Rücklage 32 Jahre lang ihre Pflegeleistungen erbringen kann,
während die sogenannte soziale Pflegeversicherung das
mit ihrer Rücklage nur ein Vierteljahr lang kann . Wie
wollen Sie das denn politisch bewältigen, um da zu einem Gleichgewicht zu kommen und das, was auch Sie
selbst fordern, nämlich die solidarische Bürgerinnenund Bürgerversicherung, umsetzen zu können?
({0})
Frau Zimmermann, wir kennen die Zahlen . Ich habe
gerade gesagt, dass das unser Ziel ist und bleibt: Wir wollen mehr Solidarität in diesem System . Wir wollen eine
Bürgerinnen- und Bürgerversicherung, die diesen Namen
auch verdient . Ich glaube auch, dass Sozialversicherungssysteme nie abgeschlossen sind, Frau Scharfenberg . Man
muss immer daran arbeiten, dass das System besser wird .
Und wir erreichen jetzt mit diesem wichtigen Schritt,
dass es besser wird .
Das, was wir in die Koalitionsverhandlungen eingebracht haben, was wir Wort für Wort mit unserem Koalitionspartner fest vereinbart haben, können wir jetzt
umsetzen - mit der Reform, mit dem Pflegestärkungsgesetz II .
({0})
Worum geht es dabei? Es geht im Kern darum, die Beratung auszudehnen . Wir haben mit dem PSG I wichtige
Leistungsverbesserungen verabschiedet, die jetzt passgenau eingefügt werden müssen . Das bedeutet: Wir müssen
genau schauen, ob eine niedrigschwellige Beratung das wird einer unserer Schwerpunkte sein - mit diesem
Grundstein tatsächlich verwirklicht werden kann . Dabei
geht es darum, die Kommunen sehr viel mehr zu stärken,
damit diese die Infrastruktur planen können, um niedrigschwellige Pflegeangebote auszubauen. Das ist für uns
ein wichtiger Punkt .
({1})
Ein weiterer wichtiger Punkt ist, mehr Gerechtigkeit
in dieses System zu bringen . Deshalb müssen wir hinterfragen, ob mit dem gedeckelten Betrag für Zusatzleistungen, mit Eigenanteilen unser Ziel tatsächlich erreicht
wird, ob das wirklich mehr Gerechtigkeit im System
schafft . Diese Fragen werden wir erörtern müssen . Und
dabei setze ich schon auf eine breite Unterstützung . Ich
glaube, davon brauche ich Sie auch gar nicht zu überzeugen; denn das haben wir alle hier so diskutiert . Das
Anliegen, dass Menschen in ihrer letzten Lebensphase
die größtmögliche Solidarität von uns, von der Solidargemeinschaft, erfahren sollen, tragen wir gemeinsam .
Dieses Anliegen wollen wir mit dem Pflegestärkungsgesetz I und dem Pflegestärkungsgesetz II verwirklichen.
Wir werden hier aber ebenfalls noch zu besprechen
haben, was die Ergebnisse der Bund-Länder-Arbeitsgruppe bedeuten .
({2})
Und wir werden noch das Pflegeberufegesetz zu besprechen haben . Das sind die wichtigen Bausteine . In diesem Kontext sollten wir alle miteinander diskutieren, wie
wichtig es ist, dass wir die Reform des Pflegebedürftigkeitsbegriffs jetzt gemeinsam auf den Weg bringen . Dabei setze ich auf Ihre Unterstützung .
Ich glaube, auch in der Opposition muss man an manchen Stellen einmal sagen: Ja, die Zielsetzung stimmt,
auch wenn nicht alles in Reinkultur umgesetzt werden
kann. - Aber die Reform des Pflegebedürftigkeitsbegriffs
betrifft unsere Ansprüche in Reinkultur, die wir immer
gemeinsam formuliert haben . Ich meine, man sollte auch
in der Opposition manchmal über den eigenen Schatten
springen und dem zustimmen, was da an Grundsteinen
gelegt wird . Um diese Zustimmung bitte ich Sie; denn
wir brauchen an dieser Stelle eine breite gesellschaftliche
Debatte und eine breite gesellschaftliche Unterstützung .
Natürlich gibt es bei der Umsetzung einige Hürden
zu überwinden - Stichworte „Übergangsregelungen“
und „Begutachtung“ . Wir müssen schauen, ob das neue
Begutachtungssystem funktioniert . Aber stellen Sie sich
einmal vor, was passieren würde, wenn wir das in dieser
Phase der Pflegereform nicht hinbekommen würden!
({3})
Wir hätten viel versprochen, aber nichts für die Menschen gewonnen .
In diesem Sinne: Ich würde mich über eine breite Unterstützung und durchaus auch über eine kritische Begleitung während der parlamentarischen Beratungen freuen .
Aber wir sollten uns klarmachen, dass wir den Kern
dieser Reform nicht aus dem Auge verlieren dürfen, den
neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff.
Vielen Dank .
({4})
Nun spricht der Kollege Erwin Rüddel für CDU/
CSU-Fraktion .
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren! Frau Scharfenberg, ich weiß, es ist Ihre Rolle, unsere gute Arbeit zu kritisieren . Und da diese Arbeit
immer besser wird, fällt es Ihnen natürlich auch immer
schwerer, diese Arbeit zu kritisieren .
({0})
Aber es war auch einmal Ihre Rolle, Pflegepolitik zu betreiben . Als die Grünen hier im Hause regiert haben, hat
es nicht einen einzigen Ansatz gegeben, die entsprechenden Strukturen zu verändern .
({1})
Da waren die Grünen ein Totalausfall . Ich denke, Sie
sollten sich in Ihrer Kritik etwas mäßigen .
({2})
Was die Bürgerversicherung angeht, kann ich nur sagen: Wir haben das beste Gesundheitssystem weltweit .
Überall dort, wo es eine Bürgerversicherung gibt, ist das
Gesundheitssystem schlechter .
({3})
Warum sollen wir auf ein schlechtes System hinarbeiten?
Wir wollen unser gutes System noch besser machen .
({4})
Das Zweite Pflegestärkungsgesetz, über das wir heute
diskutieren, ist ein weiterer Baustein bei der Runderneuerung der Pflegeversicherung. Ich bin froh, dass in dieser
Legislaturperiode so viel Aufmerksamkeit auf die Pflege
gerichtet ist wie noch nie . Wir lösen mit diesem Gesetz
ein zentrales Versprechen aus unserem Koalitionsvertrag
ein: Wir verwirklichen den Pflegebedürftigkeitsbegriff.
Wir stellen Menschen mit kognitiven Einschränkungen
und Menschen mit somatischen Einschränkungen erstmals gleich und schließen eine große Gerechtigkeitslücke . Wir mobilisieren insgesamt zusätzlich 5 Milliarden
Euro jährlich für eine bessere Versorgung pflegebedürftiger Mitbürgerinnen und Mitbürger .
Alle Menschen mit demenziellen Erkrankungen werden davon profitieren und wesentlich besser gestellt als
bisher . Eine halbe Million Menschen erhalten zusätzlich
Leistungen aus der Pflegeversicherung. In Zukunft wird
es passgenaue Einstufungen geben. Die Minutenpflege wird entfallen . Es wird einen Bestandsschutz geben .
Niemand, der heute schon pflegebedürftig ist, muss sich
Sorgen machen, künftig schlechter eingestuft zu werden .
({5})
Ausdrücklich begrüße ich in diesem Gesetzentwurf auch
die neu hinzukommenden, verbesserten Leistungen in
der gesetzlichen Rentenversicherung und in der Arbeitslosenversicherung für pflegende Angehörige. Damit wird
die Pflege eines Angehörigen nun auch in den sozialen
Sicherungssystemen endlich angemessen anerkannt .
Herr Rüddel, darf die Kollegin Scharfenberg Ihnen
eine Zwischenfrage stellen?
Sie darf .
Bitte .
Sehr geehrter Herr Kollege, vielen Dank, dass Sie die
Zwischenfrage erlauben . - Ich habe eine ganz konkrete
Frage. Sie haben gesagt: Zukünftig wird die Minutenpflege entfallen . - Erklären Sie mir und den vielen Tausend
Pflegekräften hier im Land einmal, was das bedeutet.
Wie schaffen Sie die Minutenpflege ab, und was meinen
Sie genau damit?
({0})
Sie wissen, dass heute bei der Begutachtung sehr genau auf die Anzahl der Minuten geachtet wird und dies
darüber entscheidet, in welche Pflegestufe man kommt.
Hier kommt es durch die Einführung des Pflegebedürftigkeitsbegriffes zu einem Paradigmenwechsel . Es wird
nämlich danach gefragt, wie viel Hilfe man braucht, um
ein eigenständiges Leben führen zu können . Dabei spielen dann die Minuten keine Rolle mehr, sondern es wird
insgesamt betrachtet, wie viel Hilfe jemand braucht . Man
sieht nicht mehr auf die Minuten . Das bedeutet die Abschaffung der Minutenpflege, so wie sie von uns angedacht ist . Ich denke, das ist wertvoll für alle Menschen,
die vor einem Begutachtungsverfahren stehen und anschließend betreut werden .
({0})
- Dann machen wir direkt mit der nächsten Frage weiter .
Nein . Ich weiß ja, dass die Großzügigkeit von Rednern beinahe unerschöpflich ist, beliebig viele Zwischenfragen zuzulassen . Ich lasse diese Frage jetzt nicht zu;
denn wir haben uns auf eine Gesamtdebattenzeit geeinigt, auf die ich ebenfalls achten muss . - Bitte schön,
Herr Rüddel .
Wir klären das nachher .
({0})
Zusammen mit dem Ersten Pflegestärkungsgesetz gibt
es die größte Leistungsverbesserung in der Pflegeversicherung seit 20 Jahren . Schon seit dem 1 . Januar sind
Leistungsverbesserungen im Wert von 2,4 Milliarden
Euro wirksam . Die Mittel kommen dort an, wo sie gebraucht werden: bei Pflegebedürftigen, deren Familienangehörigen und den Pflegekräften. Die Leistungen
dienen vor allem der besseren häuslichen Versorgung .
Ausgebaut wurden auch die Kurzzeit- und Verhinderungspflege sowie die Tages- und Nachtpflege, und es
gibt zusätzliche Mittel für die Verbesserung des Wohnumfeldes .
Die beiden Pflegestärkungsgesetze bedeuten in der
Summe eine so massive Aufstockung in unserem Sozialleistungssystem, wie es das noch nie gegeben hat . Das
kann man nicht oft genug betonen . Wir haben zu Beginn
der Legislaturperiode mehr Qualität, mehr Geld, mehr
Betreuung und mehr Hände für gute Pflege in unserem
Land versprochen, und wir haben Wort gehalten .
Meine Damen und Herren, das Gesamtbild wird aber
erst dadurch komplett, dass wir die bedeutenden Verbesserungen mit einer großen Anzahl weiterer Maßnahmen
flankiert haben. Wir senken den Schlüssel für die Betreuungskräfte. Wir reduzieren überflüssige Bürokratie. Pflege muss am Bett ankommen. Wir reformieren den Pflege-TÜV grundlegend . Wir brauchen möglichst bald eine
Bewertungspraxis, die sich an der Ergebnisqualität, das
heißt an der Pflegequalität, in der jeweiligen Einrichtung
orientiert . Wir wollen ferner noch in dieser Wahlperiode
ein neues Pflegeberufegesetz verabschieden; denn wir
brauchen Anreize, um noch mehr Menschen als bisher
für die Pflege zu motivieren.
In diesem Kontext ist sicherlich positiv zu vermerken,
dass die Altenpflege in Deutschland im laufenden Jahr
mit über 29 000 Ausbildungsplätzen so viele angeboten
hat wie nie zuvor . Ich könnte mir sehr gut vorstellen,
dass wir bald auch vermehrt junge Flüchtlinge ausbilden
können, zumal die Altenpflege mit der Ausbildung von
Menschen aus Drittstaaten bereits positive Erfahrungen
gemacht hat . Dabei versteht sich von selbst, dass die Beherrschung der deutschen Sprache auch für den Umgang
mit alten und pflegebedürftigen Menschen eine Grundvoraussetzung ist .
Unabhängig davon müssen sich die Arbeitsbedingungen in der Pflege weiter verbessern; denn leider gilt nach
wie vor, dass gerade viele jüngere Menschen nicht dauerhaft im Beruf bleiben . Zuvörderst sind die Arbeitgeber
in der Pflicht, anständige Tariflöhne zu zahlen, um den
Pflegeberuf attraktiv zu machen. Die brauchen dann aber
auch die Rückendeckung bei den Kostenträgern .
({1})
Meine Damen und Herren, viele Senioren und pflegebedürftige Menschen haben Probleme mit der Einnahme
mehrerer Medikamente . Nicht immer sind die Therapien
optimal aufeinander abgestimmt. Häufig gibt es unerwünschte Wechselwirkungen . Mit dem E-Health-Gesetz
werden wir dafür sorgen, dass gerade ältere Patienten,
die mehrere Wirkstoffe einnehmen, einen verbrieften
Anspruch auf einen übersichtlichen Medikationsplan
erhalten . Das heißt, ein Arzt muss die Medikamente auf
Wechselwirkungen prüfen und die Therapien möglichst
optimal aufeinander abstimmen .
Um die medizinische Versorgung für die Heimbewohner in Deutschland zu verbessern, werden wir außerdem
im Palliativ- und Hospizgesetz die Voraussetzungen für
Verträge zwischen Heimträgern und Ärzten schaffen .
Bislang sind die Heimbewohner gerade von fachärztlicher Versorgung häufig ausgeschlossen. Auch ist es
immer schwierig, Ärzte zu motivieren, nachts und am
Wochenende in Einrichtungen zu gehen . Diese Versorgungslücke wollen wir schließen, indem wir die Ärzte für
eine Rufbereitschaft besonders vergüten . Das hilft, dass
Pflegebedürftige nicht unnötig in Krankenhäuser eingewiesen werden müssen . Das hilft den Patienten, aber
auch den Pflegemitarbeitern.
Wir haben in dieser Debatte eine Gesamtschau des
Pflegestärkungsgesetzes gesehen. Ich komme zu dem
Schluss, dass wir in dieser Wahlperiode in diesem Bereich einen großen Wurf und eine Runderneuerung geschaffen haben . Ich denke, wir können in diesem Haus
darauf stolz sein, dass wir in dieser Legislaturperiode so
viele positive Dinge für die Pflege, für die Pflegebedürftigen, für die Familienangehörigen und für die Mitarbeiter in der Pflege auf den Weg gebracht haben.
Vielen Dank .
({2})
Letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt ist
die Kollegin Mechthild Rawert für die SPD-Fraktion .
({0})
Geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuhörende und Zuschauende! Wir haben
einen neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff, und das ist eine
wirklich gute und frohe Botschaft .
({0})
Ich freue mich, wenn ich jetzt den Bürgerinnen und Bürgern mitteilen kann: Wir machen in der Pflege einen Riesenschritt nach vorne. Wir vollziehen die größte Pflegereform seit der Einführung der Pflegeversicherung 1995.
({1})
Denn die SPD hat über viele Jahre hart daran gearbeitet . Ich erinnere an den unermüdlichen Einsatz von Ulla
Schmidt . Ich erinnere an unsere unermüdliche Arbeit in
der Opposition, an unser tolles Wahlprogramm und an
den guten Koalitionsvertrag .
({2})
Der Pflegebedürftigkeitsbegriff wurde lange und gründlich vorbereitet, und das ist auch gut so .
Trotz der vielen, teilweise auch noch sehr komplizierten Worte im Pflegestärkungsgesetz - möglicherweise
zählt auch das Wort „Pflegebedürftigkeitsbegriff“ dazu sind sehr viele Menschen gut informiert und sehr interessiert . Wir alle wissen: Wenn wir Veranstaltungen zum
Thema Pflege anbieten, kommen im Durchschnitt über
100 Menschen pro Versammlung . Das zeigt: Das ist ein
Thema, das die Gesellschaft bewegt, nicht nur die Älteren, sondern die gesamten Familien, Familiensysteme
und auch viele jüngere Leute .
Wenn ich jetzt der Opposition zuhöre, die ja auch an
der Entwicklung und der gesamten Diskussion beteiligt
gewesen ist, denke ich mir: Die Opposition hat ein wenig Angst vor der eigenen Courage . Jetzt, kurz vor der
Umsetzung, zu sagen, es gäbe ausschließlich Schwierigkeiten, die ganze Reform wäre - in Anführungszeichen Mist, trifft den Kern der Verbesserungen für die gesamte
Bevölkerung nicht .
({3})
Wir modernisieren die Pflege. Die Strukturveränderungen und die Leistungsverbesserungen kommen direkt
im Alltag der Pflegebedürftigen, direkt im Alltag der
stationären Einrichtungen, direkt im Alltag der Familiensysteme an,
({4})
und das ist auch gut so . Wir schaffen mehr Gerechtigkeit,
wir schaffen mehr Lebensqualität, und zwar durch die
jetzt besseren Zugänge nicht nur für körperlich Erkrankte, sondern auch für demenziell Erkrankte und psychisch
Erkrankte . Das ist ein ganz wesentliches Moment, um
sagen zu können: Jede Bürgerin und jeder Bürger ist uns
in der Pflege gleich viel wert.
({5})
Mir ist sehr wichtig - auch das hat der Minister herausgestellt -: Wir stärken das Prinzip „Prävention vor
Rehabilitation vor Pflege“. Wir helfen damit, die Pflegebedürftigkeit hinauszuzögern, manches Mal sogar zu
vermeiden, und das ist gut so .
Vorhin ist kritisiert worden, wir würden zu wenig in
die Gesellschaft hineingehen, die öffentliche Debatte
wäre nicht groß genug . Ich denke, das ist falsch .
Noch ein Punkt, der mich ein wenig geärgert hat . Wir
führen am 30 . September, nächste Woche Mittwoch, eine
fast dreistündige Anhörung durch .
({6})
Bei dieser Anhörung werden alle gesellschaftlichen Akteure miteinbezogen . Uns liegen jetzt schon Stellungnahmen vor, die teilweise 175 Seiten lang sind . Wer sich
also am Wochenende noch intensiv damit beschäftigen
möchte, ist herzlich eingeladen, dies zu tun . Die Anhörung zeigt: Wir greifen aus Sicht der Parlamentarierinnen
und Parlamentarier noch bestehende Probleme auf .
({7})
Das ist gut so; denn Sie wissen: Die parlamentarischen
Beratungen sind bedeutungsvoll, und das Bessere ist immer der Feind des Guten .
Wir werden in der Anhörung über verschiedene Themen diskutieren: über ausreichendes Personal in den
Pflegeeinrichtungen, über eine reibungslose Überleitung
in die neuen Pflegegrade und über gerechte Bezahlung.
Wir werden auch darüber diskutieren, dass wir bei der
Pflege nicht nur an Ältere, an Senioren und Seniorinnen,
denken dürfen . Vielmehr müssen wir gewährleisten, dass
es auch für Kinder und Jugendliche gute Pflege in ausreichender Form gibt .
({8})
Wir werden über die Abgrenzung zwischen stationärer
Pflege und Unterbringung in Wohngruppen diskutieren;
denn hierzu haben sich viele Fragen ergeben . Wir werden
auch über die soziale Absicherung der pflegenden Angehörigen diskutieren .
Seien Sie gewiss: Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten stehen in der Welt . Viele von Ihnen wissen, dass mir das Thema Frauen -und Genderpolitik sehr
wichtig ist .
({9})
Das werden wir jetzt mit der gebotenen Gründlichkeit
nicht mehr behandeln können .
Aber den Satz darf ich noch zu Ende führen? - Danke
schön .
Ich empfehle allen, die Stellungnahme des Deutschen
Frauenrates zu lesen. Denn eines ist klar: Pflege darf
nicht zum alleinigen Frauenthema werden .
({0})
Das würde das Thema „Gleichstellung in der Gesellschaft“ zu Unrecht schmälern . Von daher: Auf eine gerechte Gesellschaft, auf eine gleichgestellte Gesellschaft!
Danke für die Aufmerksamkeit .
({1})
Ich schließe die Aussprache .
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 18/5926 und 18/6066 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen .
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist offensichtlich
der Fall . Dann sind die Überweisungen so beschlossen .
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 22 a und 22 b
auf:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung der Unterbringung, Versorgung und
Betreuung ausländischer Kinder und Jugendlicher
Drucksache 18/5921
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für. Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({0})
Innenausschuss
Ausschuss für. Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für. Arbeit und Soziales
Ausschuss für. Gesundheit
Ausschuss für. Bildung, Forschung und Technikfolgenab-
schätzung
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Beate Walter-Rosenheimer, Luise Amtsberg,
Dr . Franziska Brantner, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Das Kindeswohl bei der Versorgung unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge absichern
Drucksache 18/5932
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für. Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({1})
Innenausschuss
Ausschuss für. Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für. Gesundheit
Ausschuss für. Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für. Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll auch
diese Aussprache 60 Minuten dauern . - Das ist offenbar
einvernehmlich . Dann verfahren wir so .
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der
Bundesministerin Manuela Schwesig .
({2})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren Abgeordnete! Kein anderes Thema wie die
Situation der Flüchtlinge beschäftigt uns in den letzten
Wochen und Monaten so intensiv . 60 Millionen Menschen weltweit sind auf der Flucht, die Hälfte davon sind
Kinder und Jugendliche . Viele von ihnen machen sich
sogar alleine auf den Weg, sind vier Monate quer durch
die Welt auf der Flucht, ohne Angehörige, ohne Familie für uns fast unvorstellbar . Allein 200 000 Kinder und Jugendliche in diesem Jahr sind als Flüchtlinge in unser
Land gekommen, davon viele unbegleitete minderjährige
Flüchtlinge . In diesem Jahr waren es 22 000 . Wir schätzen, dass es im nächsten Jahr sogar 30 000 sein werden .
Deshalb ist es gut, dass die Bundesregierung gestern
gemeinsam mit den Ministerpräsidenten ein klares und
starkes Zeichen gesetzt hat . Wir lassen die Kommunen
und Länder bei der Bewältigung dieser großen Herausforderung nicht im Stich . Der Bund übernimmt Verantwortung, insbesondere für Kinder, Jugendliche und ihre
Familien .
({0})
Der Bund wird die Länder in diesem Jahr um zusätzlich 1 Milliarde Euro entlasten, im nächsten Jahr um
2,7 Milliarden Euro . Wir werden uns an den laufenden
Kosten für die Flüchtlinge beteiligen . Aber - das ist ganz
wichtig -: Die von uns getroffenen Maßnahmen kommen
nicht nur Familien, die mit ihren Kindern geflüchtet sind,
zugute, sondern auch Familien, die bereits hier leben .
Dazu gehört die Entscheidung, die Mittel für den sozialen Wohnungsbau um 500 Millionen Euro aufzustocken .
Das hilft allen Familien, denen, die hier schon leben, und
denen, die zu uns kommen .
({1})
Wir haben uns entschieden, dass freiwerdende Mittel
aus dem Betreuungsgeld nicht gegen andere Leistungen
gegengerechnet werden, auch nicht gegen andere Familienleistungen . Wir haben uns entschieden, ein klares Zeichen für die Familien in unserem Land und die, die zu
uns kommen, zu setzen: Wir werden diese freiwerdenden
Mittel - 1 Milliarde Euro pro Jahr - Familien und Kindern für eine bessere Kinderbetreuung zugutekommen
lassen .
({2})
Wir wollen die Hilfen vor Ort, das Ehrenamt, mit
10 000 zusätzlichen Stellen im Bundesfreiwilligendienst
unterstützen . Auch das ist ein wichtiges Zeichen .
Die besonders schutzbedürftige Gruppe der unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge wird von uns zukünftig
mit jährlich 350 Millionen Euro unterstützt .
Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete, dieses
Paket zeigt: Die Bundesregierung steht zu den Familien,
Kindern und Jugendlichen in unserem Land, egal ob hier
geboren oder zu uns gekommen . Es gibt nicht Kinder erster und zweiter Klasse . Sie sind uns alle etwas wert .
({3})
Deshalb lege ich Ihnen heute einen Gesetzentwurf zur
Verbesserung der Unterbringung, Versorgung und Betreuung ausländischer Kinder und Jugendlicher vor . Wir
haben in unserem Land etwas ganz Besonderes: Kinder
und Jugendliche erhalten durch die Kinder- und Jugendhilfe einen besonderen Schutz . Wir wollen sie eben nicht
behandeln wie kleine Erwachsene, weil Kinder besondere Bedürfnisse haben . Sie haben ein Recht auf Bildung,
sie haben ein Recht auf Schutz, sie haben ein Recht auf
Versorgung, auf medizinische Betreuung .
Mit diesem Gesetz legen wir noch einmal fest, dass
alle Kinder, auch alle ausländischen Kinder, Zugang
zur Kinder- und Jugendhilfe haben . Ein Beispiel: Auch
Kinder, die zu uns kommen, können einen Kitaplatz in
Anspruch nehmen . Das ist wichtig, um früh die deutsche
Sprache zu lernen, um unter Kindern zu sein, um Freunde zu finden. Damit das funktioniert, damit wir genügend
Kitaplätze für die Flüchtlingskinder haben, aber auch
genügend Kitaplätze für die Kinder, die hier geboren
werden - wir haben mehr Geburten, was toll ist -, stellt
der Bund den Ländern zukünftig Geld zur Verfügung, sodass sie selbst entscheiden können, für welche Art der
Kinderbetreuung sie das Geld einsetzen wollen, ob für
individuelle Leistungen oder für institutionelle Leistungen . Die 1 Milliarde Euro aus dem Betreuungsgeld ist
ein wichtiges Signal: Wir kürzen nicht zulasten der Familien, sondern wir investieren weiter in die Familien in
unserem Land .
({4})
Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete, ich
habe es angesprochen: In der Gruppe der Kinder und Jugendlichen gibt es eine kleine, aber sehr schutzbedürftige
Gruppe . Das sind Kinder und Jugendliche, die sich alleine auf den Weg machen, aus Afghanistan, aus Eritrea,
aus Syrien . Für mich ist das, offengestanden, unvorstellbar . Sie machen sich alleine auf diesen gefährlichen und
schwierigen Weg und suchen hier Schutz und Zuflucht.
Diese Kinder und Jugendlichen können nicht einfach in
die großen Erstaufnahmeeinrichtungen gesteckt werden .
Das Gesetz sagt jetzt, dass diese Kinder und Jugendlichen dort in Obhut genommen werden, wo sie ankommen, dass wir als Staat Verantwortung übernehmen, so
lange, bis sie wieder bei ihren Eltern sind oder Pflegeeltern haben, oder in einer Jugendhilfeeinrichtung leben .
Wir haben also ein gutes Gesetz für diese unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge . Aber es trägt in den
heutigen Zeiten nicht mehr; denn dieses Gesetz schreibt
vor, dass wir sie nur dort in einem Kinderheim oder einer
Jugendwohngruppe unterbringen dürfen, dass wir sie nur
dort mit Sozialarbeitern und Therapeuten begleiten dürfen, wo sie ankommen . Sie kommen aber nicht gleichmäßig in Deutschland verteilt an, sondern sie kommen in
den Ballungszentren an, in Passau, in Hamburg, in München, in Dortmund . Die Kapazitäten dort sind erschöpft .
Das ist nicht eine Frage des Geldes . Es geht darum, dass
man eben nicht auf einmal für 1 800 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge Plätze in Jugendwohngruppen
in Dortmund hat, dass man für diese 1 800 Kinder und
Jugendlichen nicht genügend Sozialarbeiter und Therapeuten hat .
Ich selbst habe mit einem jungen Afghanen gesprochen, der vier Monate auf der Flucht war . Er ist in Hamburg gestrandet und schläft dort mit vielen Jugendlichen
in einer Turnhalle . Die Hamburger Sozialarbeiter strengen sich sehr an, sagen aber auch: Wir schaffen das gar
nicht, so schnell so viele individuell zu betreuen . Warum können wir nicht Angebote von Jugendwohngruppen in Schleswig-Holstein oder in Rostock in Mecklenburg-Vorpommern nutzen? - Das bisherige Gesetz ist
sozusagen nicht auf die heutige Krise ausgelegt . So sagt
es auch die Dortmunder Jugenddezernentin . So sagen
es die Vertreter der Diakonie in München. Ich finde, wir
sollten auf diese Praktiker hören .
({5})
Deshalb wird mit diesem Gesetzentwurf vorgeschlagen, dass wir zukünftig Kapazitäten in allen Bundesländern nutzen, sodass sich alle Bundesländer der
besonderen Verantwortung der Betreuung von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen stellen . Es ändert sich
nichts daran, dass die Jugendlichen zunächst von dem
Jugendamt in der Kommune aufgenommen werden, in
der sie ankommen . Dieses Jugendamt schaut, ob es zum
Beispiel in Hamburg noch freie Plätze gibt . Wenn nicht,
dann schaut das Jugendamt, ob woanders Plätze frei sind .
Dann wird der Jugendliche dorthin begleitet, immer unter dem Gesichtspunkt der Kindeswohlsicherung .
Eine Besonderheit dieses Gesetzentwurfs ist es, dass
wir in einer Zeit, in der alle über Standardabsenkung
sprechen und in der viele auch mich fragen, ob wir diese Standards eigentlich noch halten können, ein Signal
setzen und sagen: Wir heben das Mindestalter für die
Handlungsfähigkeit im Asylverfahren von 16 Jahren auf
18 Jahre an, wie es auch die UN-Kinderrechtskonvention
vorsieht . Auch das trägt zum Schutz bei . Deshalb kann
ich keine Kritik an diesem Gesetzentwurf verstehen .
({6})
Diese besondere Begleitung, diese besondere Versorgung kostet Kraft und Energie . Deshalb möchte ich mich
an dieser Stelle ganz herzlich bei allen, die jetzt in den
Kommunen, insbesondere in den besonders belasteten
Kommunen, diese Arbeit verrichten, bedanken . Es ist
eine wirklich aufopferungsvolle Arbeit für Kinder und
Jugendliche, die diesen Schutz brauchen, es ist mehr als
Dienst nach Vorschrift . Danke für dieses Engagement .
({7})
Wir können aber nicht einfach denjenigen Danke sagen und darauf verweisen, dass alles so bleibt, wie es ist,
sondern wir müssen neue Wege gehen . Wir haben diesen
Gesetzentwurf gemeinsam mit den Ländern sehr lange
vorbereitet . Ich bin froh, dass wir nicht erst jetzt, da alle
über Flüchtlinge reden, damit anfangen, sondern bereits
seit einem Jahr in intensiven Gesprächen sind .
Natürlich kostet dieser besondere Schutz, kostet diese
besondere Begleitung mehr Geld . Deshalb hat sich der
Bund gestern entschieden, neben der regulären Unterstützung für Flüchtlinge ein Zeichen zu setzen und jährlich 350 Millionen Euro zusätzlich für diese besonders
schutzwürdige Gruppe zur Verfügung zu stellen . Das ist
ein starkes Signal der Bundesregierung, dass uns diese
Kinder und Jugendlichen nicht egal sind, sondern dass
wir eine besondere Verantwortung übernehmen .
({8})
Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete, wir
sollten diesen Gesetzentwurf schnell verabschieden . Die
Ministerpräsidenten haben gestern darum gebeten, dass
das Gesetz möglichst zum 1 . November in Kraft tritt mit
einer Übergangsregelung bis zum 1 . Januar 2016, die die
aufnehmenden Länder brauchen . Viele sind vorbereitet .
Ich möchte mich bedanken für positive Stimmen der jetzt
aufnehmenden Länder .
Der Sozialdezernent von Greifswald in Mecklenburg-Vorpommern, einer strukturschwachen Region,
sagt: Wir sehen das nicht als Belastung an . Wir sehen diese jungen Menschen als einen Gewinn für unsere Region
an . Wenn wir immer beklagen, dass junge Leute weggehen, dann sollten wir froh sein, dass junge Menschen zu
uns kommen .
Der Ministerpräsident Thüringens hat gesagt, er stehe
dazu, er werde Jugendliche aufnehmen . Es ist wichtig,
dass wir die unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge
nicht nur als Kostenfaktor debattieren, sondern sagen:
Da kommen junge Menschen zu uns . Wenn wir es gut
machen, wenn sie die Chance auf einen Schulabschluss,
auf eine Berufsausbildung und auf eine gute Begleitung
haben, dann sind das junge Staatsbürger von morgen, auf
die wir setzen .
In diesem Sinne wünsche ich mir ein positives Signal,
das von diesem Gesetz ausgeht . Ich hoffe auf schnelle
und konstruktive Beratungen .
Gleichzeitig bitte ich um Verständnis, dass ich während der Debatte schon in den Bundesrat gehe, weil dieser Gesetzentwurf heute auch den Ländern vorgestellt
wird . Schließlich ist das auch ein wichtiges Gesetz für
die Länder .
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit und wünsche
gute und konstruktive Beratungen, dass wir so schnell
wie möglich denen helfen können, die den Schutz am
meisten brauchen: den Kindern und Jugendlichen, die bei
uns Zuflucht suchen.
Herzlichen Dank .
({9})
Bestellen Sie, Frau Ministerin, dem Bundesrat herzliche Grüße des geschwisterlichen Verfassungsorgans .
Wir setzen in der Zwischenzeit unsere Beratungen
fort, zunächst mit dem Kollegen Norbert Müller für die
Fraktion Die Linke .
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Liebe Gäste! Frau Bundesministerin
Schwesig, ich glaube, es geht völlig in Ordnung, dass
Sie in den Bundesrat fahren, um dort den Gesetzentwurf
einzubringen .
Meine Fraktion hat am 5 . März dieses Jahres einen guten Antrag vorgelegt, in dem wir ein kindeswohlgerechtes
Verfahren für die Verteilung unbegleiteter minderjähriger
Flüchtlinge aus überlasteten Einreiseknotenpunkten vorschlagen . In unserem Antrag fordern wir als Grundlage
einer freiwilligen Verteilung der unbegleiteten Minderjährigen eine Stärkung der Kinder- und Jugendhilfe und
den Aufbau kompetenter Strukturen für ein umfassendes
Clearingverfahren . Dies wird von den Fachverbänden
auch ausdrücklich unterstützt . Einige Kolleginnen und
Kollegen waren ja gestern beim parlamentarischen Frühstück zum Thema Flüchtlingskinder .
Der nun vorliegende Gesetzentwurf ist das Ergebnis
eines offenbar nicht ganz einfachen politischen Aushandlungsprozesses . Getrieben von den betroffenen
Bundesländern standen Umverteilungsinteressen der
Länder einerseits gegen Grundsätze der Jugendhilfe und
der UN-Kinderrechtskonvention andererseits . In diesem
Spannungsfeld hat die Koalition untereinander und mit
den Ministerpräsidenten verhandelt . Am Ende haben die
Ministerpräsidenten der am stärksten betroffenen Länder
zusammen mit dem Bundesinnenministerium die Feder
geführt, auch weil innerhalb der Bundesregierung - das
bedaure ich sehr - nach wie vor ungeklärt zu sein scheint,
ob sie grundsätzlich eine flüchtlingsfreundliche oder eine
flüchtlingsablehnende Politik fährt.
({0})
Die Handschrift des Bundesministeriums für Familie,
Senioren, Frauen und Jugend kann ich in diesem Gesetzentwurf nicht mehr sehen; er entspricht nicht den Ankündigungen, die Sie noch vor einem Dreivierteljahr getätigt
haben . Monatelang sind Sie nicht zu Potte gekommen .
Nun, nachdem ein meines Erachtens schlechter Entwurf
vorliegt, machen Sie Druck, dass dieses Gesetz noch früher in Kraft treten soll und die Umverteilung noch früher
beginnen soll, nachdem es zwischenzeitlich hieß, dass
die Länder bis zum 1 . April 2016 Luft haben .
Ihre Handlungsunfähigkeit hat dazu geführt, dass sich
die betroffenen Kommunen und Länder derzeit selbst
helfen . Helfen ist hier ein Euphemismus . Um es ganz
klar zu sagen: Wenn in Brandenburg und in anderen Bundesländern in den letzten Wochen Hunderte unbegleitete minderjährige Flüchtlinge aus Bayern angekommen
sind, die man dort schlichtweg einfach in Züge und Busse gesetzt hat, ohne sie in Obhut zu nehmen, ohne sie zu
registrieren, ohne die Kinder- und Jugendhilfe in Kraft
treten zu lassen, dann ist das schlichtweg ein rechtswidriges Verfahren gewesen .
({1})
Die Bayerische Staatsregierung hat die Verteilung der
unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge, weil ihr das
Gesetz offenbar zu lange gedauert hat, inzwischen in die
eigenen Hände genommen . Das ist meines Erachtens illegal . Das hat mit Jugendhilfe nichts zu tun . Hier kann
man nicht mehr von einer Überforderung der Kinderund Jugendhilfe sprechen, sondern nur noch von einem
Totalversagen der politisch Verantwortlichen .
({2})
An die Adresse der CSU: Liebe Kolleginnen und Kollegen, wie hätten Sie eigentlich reagiert, wenn das nicht
Hunderte ausländische Kinder und Jugendliche gewesen
wären, die in München gestrandet sind, sondern wenn
das deutsche Kinder gewesen wären? Hätten Sie die
auch planlos in irgendwelche Züge und Busse zu anderen Jugendämtern gesetzt, damit sie dort aufgenommen
werden, frei nach dem Motto: Ob Budapest oder Wien,
es hält sich gerade eh niemand mehr an die Gesetze und
das Recht, warum sollte es dann Bayern machen? Das ist
inakzeptabel . Das geht so nicht .
({3})
Vielleicht ist Ihnen aber das Kindeswohl - da kommen
Sie möglicherweise in Widerspruch zu Bundesministerin Schwesig - im Falle der unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge eben nicht ganz so wichtig, da es sich
nicht um deutsche Kinder handelt . Sie können sich jetzt
aufregen . Die grüne Landtagsfraktion im Bayerischen
Landtag - ich bin ihr dafür sehr dankbar - hat sich im
Zuge einer Kleinen Anfrage von der Bayerischen Staatsregierung beantworten lassen, dass es sogar Ziel der
Bayerischen Staatsregierung ist, die Kinder- und Jugendhilfestandards für nichtdeutsche Kinder herabzusetzen .
Das ist übrigens genau das Gegenteil von dem, was Frau
Bundesministerin Schwesig gerade vorgestellt hat .
In einer so schwierigen Situation legen Sie nun Ihren
Gesetzentwurf vor. Dabei ist es doch so: Sie erfinden ein
total bürokratisches Umverteilungsverfahren nach dem
Königsteiner Schlüssel; das wird nicht funktionieren, das
prognostiziere ich Ihnen . Aber gehen wir einmal davon
aus, dass zumindest diese Umverteilung funktionieren
wird, dann können Sie das beste Interesse der Kinder das schreibt die UN-Kinderrechtskonvention vor - damit
nicht sichern .
Fakt ist doch: Die Kinder- und Jugendhilfe steht schon
jetzt in vielen Teilen des Landes vor dem Kollaps, und
zwar nicht, weil wir Flüchtlingskinder aufnehmen, weil
wir unbegleitete Minderjährige aufnehmen, sondern weil
es eine chronische Unterfinanzierung der sozialen Infrastruktur über Jahre gegeben hat .
({4})
Wenn jetzt ein paar dazu kommen, tun sich die Probleme
auf . Mit der starren Umverteilung der unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge nach dem Königsteiner Schlüssel
verteilen Sie die Überforderung bundesweit . Wie sollen
denn unvorbereitete, unterfinanzierte und unerfahrene
Kommunen bzw . Jugendämter dem Kindeswohl von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen gerecht werden?
Ich will Ihnen einmal skizzieren, wie das Verteilungsverfahren im Gesetz beschrieben ist - das muss man
sich, glaube ich, ein Stück weit auf der Zunge zergehen
lassen -: Ein 15-jähriger afghanischer Flüchtling wird
in München von der Bundespolizei aufgegriffen, wird
registriert und dem Münchener Jugendamt vorgestellt .
Das Münchener Jugendamt hat dann sieben Tage Zeit,
um Meldung an das Land abzusetzen, um das Alter feststellen zu lassen und zu schauen, ob es möglicherweise
Geschwisterkinder gibt, mit denen er zusammengeführt
werden soll . Sieben Tage! Das Landesjugendamt in Bayern muss dann binnen drei Tagen nach dieser Meldung
dem Bundesverwaltungsamt Meldung machen, dass ein
15-jähriger afghanischer Flüchtling in München aufgegriffen wurde und, weil Bayern davon schon so viele
hat, irgendwohin verteilt werden soll . Das Bundesverwaltungsamt hat dann wiederum zwei Tage Zeit, um
eine Entscheidung zu treffen, wo dieser 15-jährige afghanische Junge hin soll . Binnen zwei Tagen nach der
Entscheidung, die dann getroffen wurde, muss sich das
Landesjugendamt des aufnehmenden Bundeslandes ein
regionales Jugendamt aussuchen, wo der junge, 15-jährige Afghane hin soll . Dann sind bereits mindestens zwei
Wochen ins Land gegangen . Wenn gerade Sommerpause
ist, es zu Urlaubsvertretungen kommt oder Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter erkrankt oder schlichtweg nicht
verfügbar sind, weil überlastet, dann ist der Monat, den
das Gesetz für die Umverteilung vorschreibt - danach
darf sie nicht mehr erfolgen -, bereits abgelaufen . Das
heißt, sie erfolgt in der Praxis überhaupt nicht . Das Gesetz ist selbst nach Ihren eigenen Ansprüchen überhaupt
nicht praktikabel .
Nun hat der gestrige Flüchtlingsgipfel beschlossen, 350 Millionen Euro zur Verfügung zu stellen; das
haben Sie gerade ausgeführt . Ich habe das über Nacht
durchrechnen lassen: Für einige Bundesländer reicht das
für etwa 10 Prozent des Mehrbedarfs in der Kinder- und
Jugendhilfe aus . 10 Prozent des Mehrbedarfs! Andere
Bundesländer sagen: Wir kommen damit vielleicht zwei
Monate hin . - Zwei Monate! Nach Ihrem Konzept müssen in Zukunft alle Kommunen und Jugendämter flüchtlingskindgerechte Kapazitäten
({5})
im Allgemeinen Sozialen Dienst, Vormünder, Ergänzungspfleger, Schulen, Schulplätze, Jugendhilfeangebote, Gesundheitsdienste, Übersetzer und Sprachlernkurse
vorhalten. Das soll ohne ausreichende finanzielle Mittel
geschehen, und das Ganze am besten aus dem Stegreif,
weil das Gesetz nämlich zum 1 . Januar 2016 in Kraft tritt .
Wie soll das leistbar sein?
Um es deutlich zu sagen: Nach Aussagen der Arbeitsstelle Kinder- und Jugendhilfestatistik der Technischen
Universität Dortmund haben von den 402 Landkreisen und kreisfreien Städten, die wir heute haben, ganze
60 Erfahrung mit unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen . - In Sachsen-Anhalt wurden letztes Jahr ganze
22 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge betreut . Ganze
22! - Die müssen jetzt relativ schnell, aus dem Stegreif,
deutlich mehr aufnehmen . Sie müssen auch die Strukturen dafür vorhalten, Kollege Rix, und die entsprechenden
Norbert Müller ({6})
Strukturen aufbauen . Sie wissen doch ganz genau: Das
Fachpersonal dafür gibt es überhaupt nicht . Die Schulplätze sind nicht zur Verfügung gestellt . Sie können mir
nicht erklären, dass das ein sinnvoller, guter Weg ist .
Das hat etwas damit zu tun, dass wir die soziale Infrastruktur über Jahre unterfinanziert haben, sie am
Ende verknappt wurde und jetzt fehlt . Richtig wäre es,
eine Umverteilung auf bestehende Kompetenzzentren durchzuführen . Zur Finanzierung muss neben einer
Aufstockung der 350 Millionen Euro aber auch ein Ausgleichsmechanismus zwischen Ländern und Kommunen
entwickelt werden, weil es natürlich völlig richtig ist,
Länder und Kommunen nicht aus der Verantwortung zu
lassen . Aber hier ist es sinnvoller, die Finanzen zu verteilen, als die Kinder durch die Gegend zu schicken .
Mit Ihrem Gesetz werden die bestehenden Kompetenzzentren aber sogar noch geschwächt . Denn wenn
Zentren, die seit Jahren Erfahrung mit unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen haben und jetzt überlaufen auch hier muss Abhilfe geschaffen werden -, schlagartig
deutlich weniger haben, entstehen sogar freie Kapazitäten, während anderswo aufnehmende Jugendämter gar
nicht wissen, wie sie fachgerecht und kindeswohlgerecht
mit den unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen zurechtkommen sollen .
Wir müssen flächendeckend große Strukturen aufbauen . Aber was passiert eigentlich, wenn die Fallzahlen in
zwei, drei, vier, fünf Jahren möglicherweise zurückgehen?
({7})
Dann haben Sie flächendeckend in der Kinder- und Jugendhilfe passgenaue Strukturen für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge aufgebaut, die dann möglicherweise
so niemand mehr braucht . Das halten Ihnen übrigens
auch die Fachverbände immer wieder vor .
Hinzu kommt, dass sich fluchterfahrene Kinder nicht
nach Ihrer Quote richten werden .
({8})
Herr Kollege, denken Sie an die Redezeit?
Ich komme zum Ende, Herr Präsident . - Schon heute
sind die Abgänge in die Illegalität, gezwungene Kriminalität und Menschenhandel nicht zu vernachlässigen . Was
glauben Sie eigentlich, was ein Jugendlicher macht, dem
man nach Wochen der Ungewissheit erzählt, dass er nach
Heidenau kommt?
({0})
Wir brauchen dringend eine Lösung, welche Ihr Gesetzentwurf nicht anbietet . Mit Ihrem Gesetz verlagern
Sie die Probleme auf die Länder und Kommunen und lassen sie damit im Wesentlichen allein . Die 350 Millionen
Euro sind ein Tropfen auf den heißen Stein . Am Ende
lassen Sie die Kinder und Jugendlichen, um die es hier
geht, alleine . Ich hoffe, dass wir in den Beratungen hier
noch substanzielle Änderungen vornehmen können .
Vielen Dank .
({1})
Marcus Weinberg hat nun für die CDU/CSU-Fraktion
das Wort .
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Lieber Herr Müller, es waren viele Punkte, die Sie angesprochen haben - aber leider kein Treffer . Robert
Lewandowski war am Dienstag in acht Minuten erfolgreicher .
({0})
Ich will gerne zu dem kommen, was die Ministerin
zu Anfang angesprochen hat . Wir haben in den letzten
Wochen und Monaten über dieses große Thema diskutiert - das ist möglicherweise die größte Herausforderung
für die deutsche Gesellschaft in den letzten 60 Jahren -,
und wir haben strittig darüber diskutiert . Wir erkennen
tatsächlich Chancen und sehen die Begeisterung vieler
Menschen in Deutschland, die sagen: Wir müssen für
diese Menschen, die aus Krisen- und Kriegsgebieten
kommen, etwas tun . - Auf der anderen Seite - das gehört
zur Ehrlichkeit - gibt es aber auch Sorgen, Nöte, Ängste,
teilweise beginnende Überforderung, gerade im Bereich
der Jugendhilfe .
Am Ende dieser Woche der strittigen Diskussionen
gibt es, glaube ich, zwei wesentliche Entscheidungen,
durch die wir unsere Handlungsfähigkeit zeigen: Gestern
haben wir die erste kluge und gute Entscheidung getroffen, dass der Bund den Kommunen und den Ländern zusätzliche finanzielle Mittel bereitstellt. Die zweite kluge
Entscheidung zeigt sich in dem heute vorliegenden Gesetzentwurf, mit dem wir die Rahmenbedingungen weiter verbessern werden .
Ich glaube, insgesamt können wir sagen: Nach einer
intensiven Diskussion stehen wir heute davor, das Thema
Integration endlich nachhaltig auf den Weg zu bringen .
({1})
Unsere Handlungsfähigkeit ist also bewiesen . Der Bund
hat verstanden und auch gehandelt .
Norbert Müller ({2})
Jetzt geht es darum, dass wir das gerade mit Blick auf
die Familien, die Kinder und die Jugendlichen, die - Sie
haben es erwähnt - in einer besonderen Situation sind,
gestalten . Unsere Erfahrungen aus der Vergangenheit es gab viele Epochen der Migrationsbewegung - müssen
dabei mit einfließen. Wir müssen jetzt weiterhin Handlungsfähigkeit zeigen, Chancen erkennen, Herausforderungen definieren, gleichermaßen fördern und fordern
und dabei auch mit viel Ehrlichkeit und im Sinne einer
fördernden und fordernden Integration von Anfang an
gestalten .
Im Zentrum stehen dabei die jungen unbegleiteten
minderjährigen Flüchtlinge . Die Kinder werden immer
jünger . Es sind nicht mehr nur 16- oder 15-Jährige, sondern mittlerweile kommen 12-, 10- und sogar 9-Jährige
nach Deutschland . Die meisten von ihnen werden auch in
10 oder 15 Jahren noch in Deutschland leben . Die Frage
muss für uns doch lauten: Was passiert in den nächsten
10 bis 15 Jahren unter dem Gesichtspunkt der Integration? Wie geht es den heutigen Kindern dann, wenn sie
junge Erwachsene sind, wenn sie 25 oder 30 Jahre alt
sind? Sind sie dann gut ausgebildet? Haben sie dann hier
in Deutschland eine Sprachkompetenz? Konnten sie sich
in den Arbeitsmarkt integrieren? Haben sie ihr Lebensumfeld so organisiert, dass sie ihr Leben auch gestalten
können? Verstehen sie die Prinzipien in Deutschland, wie
Freiheit? Richten sie sich nach der freiheitlich-demokratischen Grundordnung, zu der zum Beispiel auch die
Gleichberechtigung von Frauen und Männern gehört?
Haben sie das übernommen und akzeptiert? Tragen sie
das auch in sich? Sind sie bereit, der deutschen Gesellschaft auch etwas zurückzugeben?
Oder aber - das wäre die Alternative - ist es so, dass
sie im Bildungsbereich nicht angekommen sind, dass
sie arbeitslos sind und unter Armut leiden und dass sie
sich von dieser Gesellschaft möglicherweise entfernt haben? Hier sehe ich die große Gefahr, dass es dann, wenn
wir jetzt nicht richtig handeln, eine Gruppe von 25- bis
30-Jährigen geben wird, die sich von der Gesellschaft distanziert hat, ihr eigenes Leben nicht organisieren kann
und sich möglicherweise radikalisiert - auch über besondere religiöse Zugänge .
Deswegen ist es wichtig, dass wir jetzt nach dieser Begeisterung und Unterstützung, die richtig und gut waren,
entsprechende Strukturen schaffen und eine nachhaltige
Integration organisieren . Das ist die Voraussetzung .
({3})
Die Zahlen wurden angesprochen: Mittlerweile kommen sechsmal so viele junge unbegleitete minderjährige Flüchtlinge als in der Vergangenheit zu uns . Im Jahre
2015 werden es insgesamt wahrscheinlich 30 000 sein .
Diese Kinder und Jugendlichen haben Schlimmes erfahren und sind traumatisiert . Dadurch, dass sechsmal so
viele wie in den vergangenen Jahren bei uns aufgenommen werden, kommt auf die Jugendämter und all diejenigen, die in der Jugendhilfe verantwortlich sind, eine
immense Aufgabe zu .
Es wurde hier zu Recht noch einmal denjenigen gedankt, die diese Aufgabe in den letzten Monaten schon
gemeistert haben . Ich weiß das aus Hamburg; aber auch
die Jugendämter in München, Dortmund und Köln, die
mit der Jugendhilfe ohnehin schon eine besondere Aufgabe haben, erleben das ja tagtäglich . Deswegen war es
jetzt auch wichtig, dass wir vonseiten des Bundes reagiert
und uns überlegt haben, wie wir das finanziell unterlegen
und in einen Gesetzentwurf packen können .
Ich stimme ausdrücklich zu: Dieses Gesetz muss so
schnell wie möglich kommen . Hamburg, Bayern und
auch andere haben viel geleistet, aber es muss jetzt
endlich eine gerechtere Verteilung im Sinne des Kindeswohls geben . Herr Müller, das ist entscheidend: Das
Kindeswohl muss immer an erster Stelle stehen . Das ist
auch unstrittig .
({4})
Es war richtig und natürlich auch verständlich, dass
die Ministerpräsidenten am 11 . Dezember 2014 gesagt
haben: Wir müssen hier endlich ein Gesetz auf den Weg
bringen . - Den entsprechenden Gesetzentwurf beraten
wir heute .
Ich möchte das noch einmal ausdrücklich betonen: Es
gibt nicht nur die UN-Kinderrechtskonvention, sondern
bei uns gilt ohnehin der Grundsatz, dass wir Kinder und
Jugendliche gleichbehandeln . Es wird nicht gefragt: „Wo
kommst du eigentlich her?“, sondern: Wo spiele ich mit
dir zusammen? - Unter dem Gesichtspunkt des Kindeswohls bieten wir ihnen entsprechende Möglichkeiten .
Ich glaube, unser Gesetzentwurf ist hier richtig angelegt, weil die Verteilung endlich anders organisiert wird .
Wir verteilen nicht nach dem Königsteiner Schlüssel
zwischen den Kommunen . Das ist nicht unsere Aufgabe . Wir können aber erwarten, dass die Bundesländer,
die möglicherweise noch nicht so viel aufgenommen,
teilweise aber die entsprechenden Strukturen haben, jetzt
auch in die Verantwortung genommen werden .
Es wird dann so sein, dass, wenn Hamburg entlastet
wird, Mecklenburg-Vorpommern oder Brandenburg natürlich mehr Jugendliche aufnehmen müssen . Die Verteilung zwischen den Kommunen wird von den Ländern
geregelt . Sie wissen, wo ihre Strukturen sind . Sie wissen,
wie die Jugendhilfe in der Kommune aufgestellt ist . Die
Kommunen, die noch nicht so weit sind, werden sicherlich nicht belastet werden . Es ist aber, glaube ich, auch
gut so, dass wir hier Strukturen aufbauen und unterstützen. Ich finde - das sage ich noch einmal -, dass die finanzielle Leistung des Bundes in diesem Zusammenhang
wirklich ein hervorragender Aufschlag ist .
({5})
Es gibt im Gesetz weitere Punkte, die wichtig sind .
Das gilt gerade für das Thema der Familienzusammenführung, was auch in der UN-Kinderrechtskonvention
bereits formuliert ist . Wichtig ist es aber, noch einmal ein
Signal zu geben, indem wir sagen: Es ist für das Kind immens wichtig, dass es sich dort aufhalten kann, wo sich
Familienangehörige - zum Beispiel Onkel oder Tante befinden. Es gibt den besonderen, exemplarischen Fall
eines Neunjährigen in Hamburg: Dessen Vater wurde
in Damaskus umgebracht . Seine Mutter war nicht mehr
in der Lage, zu flüchten. Sie hat zu dem Onkel gesagt:
Marcus Weinberg ({6})
Nimm das Kind mit, bringe es in Sicherheit, bringe es
nach Deutschland . - Es muss natürlich gewährleistet
sein, dass diese Kinder nicht von ihrer Bezugsperson getrennt werden .
({7})
Ich glaube, es ist wichtig, dass das noch deutlicher im
Gesetz herausgearbeitet wird .
Was das Thema Mindestalter angeht, geht es darum,
im Asyl- bzw . Ausländerrecht die Handlungsfähigkeit zu
betrachten . Hier wird das Alter von 16 Jahre auf 18 Jahre hochgesetzt . Die Maßnahmen der Jugendhilfe galten
schon immer für die unter 18-Jährigen . Daran wird sich
nichts verändern . Da wird auch nichts ausgebaut werden .
({8})
Jetzt bietet dieses Gesetz den ersten Rahmen . Wir
werden das Asylgesetz bzw . die Pakete des Asylgesetzes
in der nächsten bzw . übernächsten Sitzungswoche intensiv besprechen . Das ist der Rahmen, der gesetzt werden
muss .
Jetzt wird es darauf ankommen, das Thema Nachhaltigkeit zu begleiten . Im Übrigen wollen und sollten wir
das Thema mit den Ländern und Kommunen gemeinsam
begleiten; denn es stehen jetzt ein paar wichtige Dinge an .
Es ist gut und richtig, den Bundesfreiwilligendienst um
10 000 Plätze zu erweitern . Es muss aber gewährleistet
sein, dass sich diejenigen, die das anbieten, in der Arbeit
mit Flüchtlingen auskennen, dass sie qualifiziert werden.
Wir müssen verhindern, dass Salafisten möglicherweise versuchen, sich hier irgendwie einzuschleichen . Das
heißt, jetzt wird es darauf ankommen, die guten Dinge
zu gestalten . Das betrifft den Bundesfreiwilligendienst
in Bezug auf die 10 000 Stellen . Es betrifft auch andere
Fälle .
Wir wollen genau sehen, wie die Kinder jetzt in die
Kinder- und Jugendhilfe bzw . in die Kindertagesstätten
bzw . Schulen kommen . Denn eines darf nicht passieren:
dass die vielen Menschen in diesem Land, die sagen „Jawohl, wir wollen hier helfen“, dann erkennen: Oh, es
kommen mehr Flüchtlingskinder in die Kitas . - Sie müssen auch sehen, dass mehr Erzieherinnen und Erzieher in
die Kitas kommen .
({9})
Auch müssen sie erkennen, dass jetzt mehr Lehrerinnen
und Lehrer eingestellt werden . Auch das ist dann - ich
sage das ganz deutlich - eine Verantwortung der Länder .
Wir haben ein großes, wichtiges Paket - das ist an dieser
Stelle wirklich entscheidend - geschnürt . Die Umsetzung
aber muss dann auch erfolgen . Das werden wir auch begleiten . Denn wir sind nicht diejenigen - schönen Gruß
an den Bundesrat! -, die das Geld am Ende zur Verfügung stellen, sondern wir sind auch diejenigen, die hier
unserer Verantwortung gerecht werden wollen .
Die Familienzusammenführung habe ich bereits angesprochen . Es gibt aber noch weitere Themen, die auch
wichtig sind . Wir werden erst jetzt erkennen, dass es gewisse Veränderungen gibt . Ich will zwei Themen ansprechen .
Das muss jetzt aber ganz zügig gehen .
Herr Präsident, da ich ja zügig oder schnell sprechen
kann, werde ich es versuchen . - Ich will das Thema
Frauen ansprechen, wo wir eine besondere Verantwortung haben . Und ich will auch das Thema Einhaltung
der freiheitlich-demokratischen Grundordnung ansprechen . - Das will ich hiermit angesprochen haben .
Ich glaube, es ist ein guter Entwurf . Wir alle sind jetzt
aufgefordert, diesen Entwurf schnell umzusetzen und
dann auch zu schauen, dass wir das Thema Integration
von Anfang an - jetzt auf den Weg bringen; denn wir haben eine Riesenchance . Nutzen wir diese Chance . Diskutieren wir ehrlich darüber, was zu tun ist . Ich freue mich
auf die Beratungen in den nächsten Wochen und Monaten . Wir haben - das wissen wir - noch viel zu tun . Das
wollen wir aber für die Flüchtlinge und die Menschen in
Deutschland angehen .
Herzlichen Dank .
({0})
Katja Dörner hat nun das Wort für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen .
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Über die Verwendung der Betreuungsgeldmittel haben wir ja noch gestern debattiert, und wir
werden das garantiert noch weiter tun . Wir Grüne haben
sehr vehement gefordert, dass das Geld für die Kitas zur
Verfügung gestellt werden soll . Auch die Ministerin bzw .
die SPD haben das sehr vehement gefordert . Ich will festhalten: Die Vereinbarung von gestern Abend stellt gerade
nicht sicher, dass es wirklich in den Kitas ankommt .
({0})
So viel Ehrlichkeit muss in dieser Debatte sein, liebe
Kolleginnen, liebe Kollegen .
({1})
Zum vorliegenden Gesetzentwurf . Es ist richtig, dass
zurzeit eine Handvoll Jugendämter bundesweit für einen
sehr großen Teil der minderjährigen unbegleiteten Flüchtlinge zuständig ist . Es ist auch richtig beschrieben worden, dass diese Jugendämter finanziell und personell sehr
stark gefordert, zum Teil auch überfordert sind . Deshalb
ist trotz des sehr großen Engagements dieser Jugendämter und vieler Initiativen und ehrenamtlicher Helferinnen
und Helfer eine dem Kindeswohl entsprechende Inobhutnahme neu ankommender minderjähriger Flüchtlinge
mancherorts nicht mehr oder kaum noch möglich . Diesen
Marcus Weinberg ({2})
Fakt, der hier beschrieben worden ist, müssen wir ernst
nehmen . Es macht aus unserer Sicht Sinn, eine andere
Verteilung zwischen den Kommunen und auch zwischen
den Bundesländern anzustreben . Ich denke, das ist auch
im Sinne der betroffenen jungen Flüchtlinge .
({3})
Aber wir sprechen über Kinder und Jugendliche, die
allein, ohne ihre Familien, teilweise ohne Freunde und
teilweise ohne irgendwelche Bezugspersonen, zu uns
flüchten. Viele von ihnen haben eine Fluchtgeschichte
hinter sich, die wir uns überhaupt nicht vorstellen können . Es ist ganz klar, dass wir für diese Kinder und Jugendlichen eine ganz besondere Schutzverantwortung
tragen . Deshalb müssen das Kindeswohl und die Sicherstellung einer guten Versorgung dieser jungen Menschen
unmissverständlich im Vordergrund der Verteilungsfrage
stehen . Das ist für uns Grüne ganz klar .
({4})
Eine schnöde Verteilung nach dem Königsberger
Schlüssel ist für uns nicht der richtige Weg . Das, was hier
beschrieben worden ist, nämlich die Verteilung nach dem
Königsteiner Schlüssel und die Orientierung am Kindeswohl, ist sozusagen die Quadratur des Kreises . Wir hätten
uns in dieser Frage eine größere Flexibilität gewünscht .
({5})
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, ich will auch sagen, dass der Gesetzentwurf, so wie er heute vorliegt,
deutlich besser als das ist, was wir befürchten mussten,
als die ersten Initiativen des Landes Bayern im Bundesrat
aufgeschlagen sind . Darin war nämlich von einer Kindeswohlorientierung überhaupt nichts zu merken . Hier
hat es deutliche Fortschritte gegeben .
({6})
Ich will einen Punkt ganz besonders hervorheben - er
ist auch schon angesprochen worden -: 16- bis 18-Jährige werden in ihren Asylverfahren zukünftig nicht mehr
wie Erwachsene behandelt, sondern, konform mit der
UN-Kinderrechtskonvention, als Minderjährige . Das
haben wir Grüne und die Kinderschutzverbände in den
letzten Jahren immer wieder vehement gefordert . Es ist
sehr gut, dass dies in diesem Gesetzentwurf verankert ist .
({7})
Ob wir bereit sind, die Rechte von Kindern und Jugendlichen, und zwar von allen Kindern und Jugendlichen, gerade auch der minderjährigen unbegleiteten
Flüchtlinge, zu wahren, diese Frage stellt sich insbesondere dann, wenn der Wind rau bläst, also heute und jetzt .
Deshalb will ich zwei Aspekte aus dem Gesetzentwurf
aufgreifen, hinter die wir Grüne noch Fragezeichen machen möchten .
Das eine ist die Frage: Was muss am Erstaufnahmeort
zur Klärung der Situation der Minderjährigen tatsächlich
erfolgen? Dazu will ich sagen: Aus unserer Sicht ist es
unbedingt notwendig, dass schon bei der vorläufigen Inobhutnahme ein Abgleich der persönlichen Daten erfolgt,
dass eine Alterseinschätzung vorgenommen wird und
dass wir die Alterseinschätzung nach seriösen Standards
durchführen, also gemäß der Handlungsempfehlung der
BAG der Landesjugendämter . Auch der medizinische
und therapeutische Bedarf muss unmittelbar bei der vorläufigen Inobhutnahme festgestellt werden.
Ich will den zweiten Aspekt ansprechen, der uns ganz
wichtig ist . Auch minderjährige unbegleitete Flüchtlinge
haben ein Recht auf Beteiligung . Die Wünsche und Bedürfnisse der Jugendlichen, auch bei ihren Reisezielen,
zu berücksichtigen, ist gerade in der derzeitigen Situation
kein „Nice to have“ . Ich habe es schon gesagt: Wir sprechen über Kinder und Jugendliche, die sich allein durch
fremde Länder, durch Kriege, durch Elend gekämpft
haben und die ihre Familien zurückgelassen haben . Die
Vorstellung, dass man diese Kinder einfach an einen Ort
verschieben kann, wo gerade Platz ist und wo es Kapazitäten gibt, ist illusionär .
Frau Dörner .
Deshalb ist die Beteiligung der Kinder und Jugendlichen in dieser Frage absolut zentral und eine Grundvoraussetzung dafür - ich komme zum Schluss -, dass die
Integration der Kinder und Jugendlichen da, wo sie dann
untergebracht werden, überhaupt gelingen kann . Deshalb
ist es uns sehr wichtig, dass die Beteiligungsrechte im
Gesetzentwurf stark verankert sind .
({0})
Abschließend
Nein, das geht jetzt nicht . Sie haben die Redezeit deutlich überschritten . Jetzt können Sie nicht noch einmal
eine Zugabe geben . Ich bitte um Nachsicht .
Junge Flüchtlinge haben es verdient, dass wir sie besonders in den Blick nehmen . Trotz des sehr verkürzten
Beratungsverfahrens haben wir ein großes Interesse daran, dass wir uns seriös mit Verbesserungsvorschlägen
auseinandersetzen .
Ich komme zum Schluss und freue mich auf die Beratungen .
({0})
Nun hat die Kollegin Gülistan Yüksel für die
SPD-Fraktion das Wort .
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben in den letzten Monaten Entwicklungen erlebt, die
wir uns alle so nicht haben vorstellen können . Die Bilder
der flüchtenden Menschen, die lebensgefährliche Routen
über das Meer und über das Land auf sich nehmen, um
einen Ort zu finden, wo sie in Frieden leben können, haben sich uns allen ins Gedächtnis eingebrannt .
Heute diskutieren wir über eine besonders schutzbedürftige Gruppe: die unbegleiteten minderjährigen
Flüchtlinge . Insbesondere für diese müssen wir jetzt Lösungen finden. Wir brauchen eine schnelle Entlastung der
Jugendämter an den Knotenpunkten wie München und
Hamburg .
Ich bin sehr dankbar, dass das Familienministerium,
dessen Vertreter sich früh mit den Ländern zusammengesetzt haben, um eine Lösung zu finden, diesen Gesetzentwurf jetzt nach intensiven Beratungen vorgelegt hat .
Ich weiß, dass die Belange der Kinder und Jugendlichen
in unserem Familienministerium in guten Händen sind
und dass das Kindeswohl stets im Mittelpunkt steht . Das
Primat der Kinder- und Jugendhilfe ist gegeben .
Besonders freue ich mich über die Anhebung der Altersgrenze zur aufenthalts- und asylrechtlichen Handlungsfähigkeit von 16 auf 18 Jahre . Auch dringend
notwendig sind belastbare Daten zur Lebenssituation
der unbegleiteten Minderjährigen, die nun erhoben werden sollen . Zusammen mit den gestern beschlossenen
350 Millionen Euro, die schon mehrfach erwähnt worden
sind, ist der Gesetzentwurf ein erster wichtiger Schritt,
um die Herausforderung im Sinne der Kinder und Jugendlichen anzugehen .
({0})
Mit dem vorliegenden Entwurf gelingt ein schwieriger
Spagat zwischen dem besonderen Schutzbedürfnis der
Kinder und Jugendlichen und praktikablen Verfahrensregeln, ein Spagat zwischen den Forderungen der Länder
und Kommunen und den Forderungen der Verbände . Ich
gebe zu, dass der Zeitplan für das Gesetz sehr eng getaktet ist . Aber angesichts der angespannten Flüchtlingssituation, in der wir uns jetzt befinden, müssen wir schnell
handeln . Die Kinder und Jugendlichen brauchen jetzt unsere Hilfe und nicht erst in ein bis zwei Jahren .
({1})
Abwarten löst die Probleme nicht, sondern macht sie täglich größer .
Letztendlich haben wir alle dasselbe Ziel und - das
möchte ich betonen - auch die Pflicht, etwas zu tun. Die
UN-Kinderrechtskonvention gibt vor, dass für alle Kinder, egal welcher Herkunft, gleiches Recht gilt . Lassen
Sie uns deshalb parteiübergreifend dafür sorgen, den
Kindern und Jugendlichen, die in großer Not und unter
unfassbaren Umständen zu uns fliehen, die hier alleine
sind, in einem fremden Land mit einer fremden Kultur
und Sprache, und die zum Teil traumatisiert sind, so gut
zu helfen, wie wir können .
({2})
Es geht darum, dass wir ihnen einen neue Heimat bieten, eine neue Perspektive, dass wir ihnen vom ersten Tag
nicht nur eine gute Unterbringung, sondern auch Wärme
und Schutz bieten, dass wir ihnen durch Spracherwerb
und Bildungszugang die Chance auf Beteiligung und
eine bessere Zukunft fernab von Krieg und Gewalt ermöglichen und dass sie Zugang zu den Angeboten der
Kinder- und Jugendhilfe wie Kita und Sport haben . Für
eine gelingende Integration ist das das A und O, liebe
Kolleginnen und Kollegen .
Diese Kinder und Jugendlichen haben ihr ganzes Leben noch vor sich, und es liegt in unserer Hand, dass sie
eine gute Grundlage mit auf den Weg bekommen . Eine
solche Grundlage kann auch woanders als in Hamburg
oder München gelegt werden .
({3})
Dabei müssen wir darauf achten, dass die bewährten
Standards der Kinder- und Jugendhilfe eingehalten werden . Wenn die personellen und räumlichen Kapazitäten
erschöpft sind, wenn keine Feldbetten und keine Sanitäranlagen mehr zur Verfügung stehen, wenn Turnhallen
überbelegt sind, dann gibt es schlicht und einfach keinen
Platz . Wie soll das Kindeswohl dort geachtet werden?
({4})
Ich finde, das ist keine Situation, die einem Flüchtling
zugemutet werden darf . Wir kommen daher um eine Verteilung nicht herum .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Integration ist anstrengend und ein langwieriger Prozess . Ich kenne das
aus meiner über 20-jährigen Erfahrung mit Integrationspolitik in meinem Wahlkreis sehr gut . Aber sie lohnt sich .
Sie lohnt sich für junge Menschen; denn sie bekommen
eine Perspektive . Sie lohnt sich für uns; denn was wir
heute geben, bekommen wir morgen zurück . Wir als Gesellschaft haben es in unserer Hand, diesen Kindern und
Jugendlichen eine echte Zukunft zu geben .
Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Kolleginnen
und Kollegen, ich bin stolz auf unser Land . Ich bin gerührt über die große Hilfsbereitschaft, die wir tagtäglich
sehen . Ich bin dankbar für jeden Haupt- und Ehrenamtlichen, der sich engagiert . Jetzt müssen wir dafür sorgen,
dass die Willkommenskultur nicht in Unmut umschlägt .
({5})
Es ist ganz wichtig, alle mitzunehmen, sowohl diejenigen, die zu uns kommen, als auch diejenigen, die bereits
hier sind . Nur gemeinsam können wir Verbesserungen
erreichen, zusammen mit den Kommunen, den Ländern,
den Verbänden, den Helfern und der Bevölkerung . Wir
stehen vor einer großen gesamtgesellschaftlichen Herausforderung . Die Zukunft der Kinder und Jugendlichen
ist auch unsere Zukunft, oder, um es abschließend mit
den Worten von Johannes Rau zu sagen:
Es kommt nicht auf die Herkunft des einzelnen an,
sondern darauf, dass wir gemeinsam die Zukunft
gewinnen .
Lassen Sie uns also gemeinsam die Zukunft mitgestalten!
Herzlichen Dank .
({6})
Vielen Dank . - Nächste Rednerin ist Beate WalterRosenheimer, Bündnis 90/Die Grünen .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Liebe Zuhörer und Zuhörerinnen! Ich bin seit
langem in Bayern unterwegs und schaue mir die Lage
vor Ort an, in Flüchtlingsunterkünften, in den Landratsämtern und auch in den Jugendämtern . Die Überforderung ist groß . Ich denke an Passau, Rosenheim und
München - Sie alle kennen die Bilder .
In Bayern kommen besonders viele Flüchtlinge an,
darunter viele Minderjährige und auch unbegleitete Minderjährige . Bisher waren die Kommunen damit ziemlich
alleingelassen; das muss man so sagen . Das alles war nur
zu stemmen durch einen fast überirdischen Einsatz sowohl der Landräte als auch der Kommunalpolitikerinnen
und -politiker als auch der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Jugendämtern und den Landratsämtern . Vor
allem ist es den vielen Ehrenamtlichen zu verdanken,
dass man das überhaupt stemmen konnte .
({0})
Man darf die Kommunen damit nicht länger alleinlassen . Ich wollte das heute eigentlich fordern . Aber der
gestrige Gipfel hat viele Verbesserungen beschlossen,
auch dank der grün regierten Bundesländer, die viele
gute Dinge hineinverhandelt haben . Verbesserungen sind
also in Sicht . So werden zum Beispiel 350 Millionen
Euro für die Versorgung von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen bereitgestellt . Wie lange das Geld reichen wird, werden wir sehen . Es ist auf jeden Fall gut,
dass jetzt etwas passiert .
({1})
Wir fordern in unserem Antrag - ich muss ein bisschen schneller reden, weil mir von meiner Redezeit eine
Minute abgezogen wird, weil Frau Dörner ihre überzogen hat -, dass vor einer eventuellen Verteilung eine intensive Feststellung des Bedarfs durchgeführt wird . Wir
wollen, dass in keinem Fall verteilt wird, wenn es Verdachtsmomente auf Sklavenhandel, Zwangsprostitution
oder Sklaverei gibt . Wir wollen auch nicht, dass verteilt
wird, wenn der Verdacht besteht, dass die betreffenden
Kinder oder Jugendlichen Kindersoldaten waren . Diese
Kinder haben genug durchgemacht . Sie brauchen Ruhe,
sie müssen erst einmal ankommen . Dafür braucht es Zeit,
Empathie, viel Sensibilität und viel Professionalität .
({2})
Eine überhastete Verteilung würde jedes Vertrauen dieser jungen Menschen in ihre Betreuer und Betreuerinnen,
aber auch in unsere Behörden erschüttern, was eine Zusammenarbeit sehr erschweren würde .
Vergessen wir den zentralen Punkt nicht, den uns die
UN-Kinderrechtskonvention vorgibt . Wir müssen die
Kinder und Jugendlichen - Frau Dörner hat das schon
gesagt - an solchen Entscheidungen beteiligen . Wir müssen sie auch fragen, welches Reiseziel sie haben und warum . Es macht auch gar keinen Sinn, Kinder, die monatelang allein auf Reisen waren, irgendwo hinzubringen .
Sie bleiben dort nicht, sie gehen weg und fallen in die
Illegalität . Sie können dann nicht mehr unter den Schutz
der Jugendhilfe des Staates gestellt werden und sind dann
ganz allein . Deswegen muss man mit ihnen auch verhandeln .
Es ist natürlich klar, dass wir nicht jeden Wunsch dieser Flüchtlinge erfüllen können; das ist nicht möglich .
Aber wir können ihre Bedürfnisse ernst nehmen und genau hinschauen, was mit ihnen passiert ist und warum sie
einen Wunsch äußern . Das ist sehr wichtig .
Insofern bitte ich Sie von der Regierungskoalition:
Geben Sie sich einen Ruck, und schauen Sie sich Ihre
Gesetzesvorhaben noch einmal an, damit Sie wirklich
das Kindeswohl und nicht die Finanzen in den Mittelpunkt stellen .
Vielen Dank .
({3})
Vielen Dank . - Nächster Redner ist für die CDU/
CSU-Fraktion Martin Patzelt .
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Besucher auf den Tribünen! Ich muss erst einmal
zu Ihnen sagen, Herr Müller: Sie haben die Dinge nach
meinem Ermessen auf den Kopf gestellt .
({0})
Es ging ausdrücklich um das Kindeswohl . Im Interesse
der jungen Menschen mussten wir dringend eine Umverteilung in die Länder hinein vornehmen . Denn nicht etwa
die bayerische Staatsregierung oder Kommunen in Bayern - wir haben es gerade gehört - haben versagt,
({1})
sondern der unerwartete Ansturm junger ausländischer
Menschen in einer solchen Größenordnung verlangte,
dass wir sie in ihrem Interesse an Orten unterbringen, wo
man ihren Bedürfnissen besser gerecht werden kann .
({2})
Insofern bietet der vorliegende Gesetzentwurf wirklich
eine gute Lösung . Im Übrigen ist die Unterbringung dieser jungen Menschen die Hauptregelung in diesem Gesetzentwurf .
Das Kinder- und Jugendhilfegesetz ({3}) galt ja für
die jungen unbegleiteten Flüchtlinge schon immer .
({4})
Es gibt also nichts Neues . Es wird an bestimmten Stellen - da, wo vielleicht Unklarheiten bestanden - justiert .
Gerade wir, die Mitglieder des Familienausschusses,
haben noch einmal festgestellt, dass das KJHG galt und
weiter gilt und dass es auch schon früher spezifische Regelungen für die unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge gab, nach denen verfahren wurde .
Ich danke an dieser Stelle besonders den freien Trägern der Jugendhilfe, die im Prozess der Gesetzgebung
ihre Erfahrungen und Impulse eingebracht haben . Sie haben sich in den vergangenen Jahren ja schon intensiv um
junge Menschen gekümmert . Dadurch konnten sie wesentliche Erfahrungen als Input für unsere Gesetzgebung
beisteuern .
({5})
Wir verweisen durch die vorgesehene Regelung die
ganze Last auf die Länder . Die Länder werden in noch
höherem Maße für die Einhaltung der Qualitätsstandards
zuständig sein . Insbesondere die Kommunen werden
die Last zu tragen haben . Die Kommunen als Träger der
Jugendhilfe haben hierbei die Hauptverantwortung und
die Hauptlast . Insofern stellen die in Rede stehenden Unterstützungen des Bundes - sie sind erheblich; das zeigt
sich, wenn man bedenkt, dass die Unterstützung für die
einzelnen Flüchtlinge zusammen mit der Sonderunterstützung für die unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge bei insgesamt 350 Millionen Euro liegt - eine erhebliche Entlastung für die Kommunen dar .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, in der vorletzten
Ausgabe der Zeit trug ein Artikel die Überschrift: „Starke
Truppe“ . In diesem Artikel wurde mit der Notwendigkeit
der Aufstockung der Polizei und der Sicherheitsorgane
für einen starken Staat argumentiert . Es heißt dort, dass
wir in Zeiten kommen werden, in denen wir angesichts
der dramatischen Zuwächse von Flüchtlingen in unserem
Lande eine sehr starke Polizei und einen sehr starken
Staat brauchen . Ich sage an dieser Stelle noch einmal:
Damit allein wäre es nicht getan . Wir brauchen jetzt vor
allen Dingen ganz starke Jugendämter, starke Kommunen, die fachlich, personell und finanziell das stemmen
können, was wir ihnen aufgetragen haben,
({6})
die mit Realitätsbezug und Augenmaß ihre tatsächlichen
Möglichkeiten sehen .
Hier warne ich davor, dass wir uns Illusionen hingeben . Das, was hier uns als Gesellschaft abverlangt wird,
wird angesichts der schon jetzt nicht ausreichenden Anzahl an Erzieherinnen und Sozialpädagogen überhaupt
nicht in der Form zu stemmen sein, wie es eigentlich
gemacht werden müsste . Ich höre schon, wie wieder gesagt wird: Hier versagt die öffentliche Jugendhilfe . Hier
versagen die Länder . Hier versagt der Bund . - Es geht um
Ressourcen, die wir niemals einplanen konnten und die
erst einmal nicht da sind . Schon jetzt sucht man in ganz
Deutschland dringend nach Erzieherinnen .
Wenn der Verband der Psychotherapeuten fordert,
dass schwer traumatisierte junge Menschen eine entsprechende psychotherapeutische Hilfe bekommen sollen,
dann frage ich: Wo leben denn diejenigen, die das fordern? Sie alle wissen doch, dass es Wartelisten gibt und
dass man jahrelang auf eine Behandlung warten muss .
Schon jetzt können sie deutsche Patienten nicht kurzfristig behandeln .
({7})
Woher sollen also die notwendigen Kapazitäten kommen? Wir müssen uns jetzt gemeinsam bemühen, entsprechende Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass wir
die Bedarfe stillen . Aber im Moment müssen wir uns anders behelfen .
Deshalb sage ich: Wir brauchen auch eine starke Zivilgesellschaft . Wir können es nicht der Politik und den Jugendämtern überlassen, zu bestimmen, wie es den jungen
Menschen geht . Wenn das Willkommen verklungen ist,
wenn die Träume der jungen Menschen vom Paradies der
Desillusion gewichen sind, wenn die jungen Menschen
in der Wirklichkeit in Deutschland angekommen sind,
dann brauchen sie vor allen Dingen Hilfe, Begleitung,
Nähe von Menschen . Die jungen Menschen haben Hunger auf Leben, und sie haben sich uns anvertraut . Ich bin
tief überzeugt, dass Integration, von der jetzt so viel gesprochen wird, die gefordert wird - meist einseitig von
denen, die zu uns kommen -, nicht einseitig funktioniert .
Ich glaube, dass auch wir uns bemühen müssen, diesen
Integrationsprozess miteinander zu gehen .
({8})
Integration bedarf auch immer der Partizipation . Wenn
wir die Menschen nicht an unserem Leben teilhaben lassen, dann ist die ganze Integrationsforderung eine Utopie .
({9})
Auf noch etwas möchte ich aufmerksam machen . Wir
müssen darauf bedacht sein, dass wir Identitäten schützen . Es kann nicht sein, dass die jungen Menschen, die
zu uns kommen, von ihrer Vergangenheit, von ihren Wurzeln, aus denen sie hervorgekommen sind, abgeschnitten
werden . Kindeswohl verlangt danach, dass sie ihr bisheriges Leben - das Milieu, aus dem sie kommen, ihre
lieben Menschen, auch ihr Vaterland - in ihrem BewusstMartin Patzelt
sein behalten können, schon deshalb, weil wir gar nicht
wissen, ob sie nicht eines Tages zurückgehen werden hoffentlich als ausgebildete Facharbeiter, vielleicht sogar
mit einem Studium . Wir kennen ihre Zukunft nicht . Aber
unabhängig davon, auch wenn sie hierbleiben: Sie haben
Wurzeln, und die dürfen wir ihnen nicht nehmen .
Herr Kollege Patzelt, darf ich kurz unterbrechen? Der Kollege Mutlu möchte Ihnen gern eine Frage stellen .
Wenn es wesentlich ist, gern .
Bitte schön .
Danke, Frau Präsidentin . Danke, Herr Kollege, dass
Sie die Frage zulassen . Zunächst einmal möchte ich Ihnen ganz persönlich für Ihren Einsatz und für den Einsatz
Ihrer Frau danken . Sie haben, wie wir über die Medien
erfahren haben, Flüchtlinge bei sich aufgenommen . Trotz
Anfeindungen, trotz Angriffen haben Sie daran festgehalten .
({0})
Das ist absolut vorbildhaft .
Sie haben ja jetzt über die letzten Monate am eigenen
Leib Erfahrungen gemacht und wissen, wie es ist, einen
Flüchtling aufzunehmen - trotz dieser Anfeindungen in
Ihrer Gemeinde, von manchen, Gott sei Dank nicht von
allen . Sind Sie denn aufgrund der Erfahrungen, die Sie
jetzt gesammelt haben, der Meinung, dass das, was gerade als Vorhaben vor uns liegt, hinreichend ist? Was würden Sie auf die Frage sagen, wo ergänzt werden kann, wo
Verbesserungsbedarf besteht?
Ich bedanke mich ausdrücklich für die Frage . Ich werde nämlich in meinen weiteren Ausführungen genau darauf Antwort geben . Ich bedanke mich auch für die Wertschätzung, wobei ich mir immer bewusst bin, dass das,
was wir als Familie tun, nicht verallgemeinerbar ist . Das
ist bei der Herkunft und dem Lebenskontext eine spezifische Möglichkeit. Wir haben an Lebensqualität nur
gewonnen, Gott sei Dank; es hätte auch anders kommen
können . Aber das will ich nun wirklich nicht als Maßstab
für andere setzen . - Danke schön .
({0})
Ich sprach davon, dass wir die Identitäten der jungen Menschen schützen müssen . Ich meine auch, dass
wir achtgeben müssen, dass keine Parallelwelten entstehen . Wenn wir das nicht begleiten und wenn wir nicht
aufmerksam sind und wenn wir vor allen Dingen keine
Partizipation an unserem Leben zulassen, an unseren gesellschaftlichen Aktivitäten in Vereinen, Sportvereinen,
Chören, Schulklassen, dann werden ganz schnell, wie
man das auch jetzt schon in Deutschland in bestimmten
Großstädten erleben kann, Parallelwelten entstehen, die
uns und den Menschen, die zu uns gekommen sind, auf
Dauer eher schaden als nützen werden .
Wir dürfen keine Angst davor haben, dass auch wir uns
in diesem Prozess verändern werden . Wenn wir uns auf
die jungen Menschen, auf die Fremden, einlassen, wenn
wir mit ihnen leben - jetzt weiß ich auch, wovon ich
spreche -, dann wird das auch uns wahrnehmbare Veränderungen abfordern . Davor brauchen wir keine Angst zu
haben . Jeder, der Kinder hat, weiß, dass er, wenn die Kinder groß sind, nicht mehr der junge Vater oder die junge
Mutter sein wird, der oder die er einmal war . Wir können
uns bei unseren Kindern eigentlich bedanken, dass sie
uns immer in ihre Lebenswelt mit hineinnehmen und uns
Älteren damit auch Lernmöglichkeiten schenken .
Ich denke, dass sich in Deutschland so etwas wie eine
Willkommenseuphorie - so würde ich fast sagen - abspielt, was auch schön und wunderbar zu erleben ist,
weil es eine so wertvolle und gute Stimmung sowie ein
gutes Zeichen für unser Land ist . Aber wenn diese Euphorie verflogen ist, müssen wir über Sachmittel hinaus
vor allen Dingen Beziehungsangebote machen . Die Jugendämter haben dafür Sorge zu tragen, dass die sachliche Ausstattung gut ist, ausreichend ist . Und wenn man
das vergleicht: Kinder aus manchen Milieus in Deutschland haben lange nicht den gleichen materiellen Standard
für ihre Lebensführung wie die Kinder, die durch die
Jugendhilfe betreut werden . Das müssen die Jugendämter verantworten . Aber keine Politik, kein Amt kann das
geben, was uns Menschen so nottut, nämlich lebendige
Beziehungen . Das auch als Antwort auf Ihre Frage .
({1})
Wir sollten deswegen von hier und überall in unseren
Wahlkreisen das Signal aussenden: Liebe Freunde, liebe
Verwandte, liebe Kolleginnen und Kollegen, kümmert
euch um diese jungen Menschen! Sucht euch einen aus,
nehmt ihn mit in eure Familien, nehmt ihn mit in eure
Bekanntenkreise, nehmt ihn mit auf eure Reisen! Ladet
ihn ein! Ermuntern wir unsere Kinder, zu sagen: Wir haben jetzt neue Mitbürgerinnen und Mitbürger . - Ich war
am Dienstag bei einer Versammlung, auch wieder zu
diesem Thema, und da haben mich Kinder aus mehreren
Schulklassen gefragt: Wie können wir helfen? Was können wir denen geben? - Ich habe geantwortet: Eure Gemeinschaft, eure Nähe, eure Anteilnahme . Spielt, singt,
wandert, redet einfach miteinander! Macht miteinander
Ausflüge! Hört einander zu!
Wir erleben in Deutschland eine zunehmende Angst das nehme ich jedenfalls so wahr - vor dem, was angesichts der Menge der Flüchtlinge auf uns zukommt . Diese Angst lähmt uns; diese Angst verführt uns vielleicht
dazu, in extreme Positionen zu verfallen, von denen wir
gar nicht wissen, wohin sie unser Land bringen könnten .
Angst ist ein schlechter Berater; Angst macht blind .
({2})
Ich wünsche mir, unserem Land und auch denen, die
zu uns gekommen sind, sehr, dass wir miteinander einen
Weg gehen, auf dem wir die Angst verlieren . Denn beim
Gehen kann man die Angst verlieren .
Letzten Endes nehmen wir auch durch die Beispiele,
die wir geben, die Ängstlichen in unserem Lande mit, indem wir ihnen zeigen: Es geht doch! - Auf einmal haben
Flüchtlinge ein Gesicht . Sie haben einen Namen . Dann
werden sie auf einmal sogar angenehme Zeitgenossen .
Ich könnte Ihnen dazu ein Beispiel erzählen . Ein Nachbar
kam zu uns und sagte: Jetzt möchte ich die beiden mal zu
mir einladen; ich möchte ihnen beibringen, wie man einen Computer bedient . - Er hat ihnen gestern den Schlüssel von seiner Wohnung gegeben und gesagt: Ihr könnt
immer in meine Wohnung gehen, wenn ihr am Computer
arbeiten wollt .
Da entwickeln sich Dinge, die man vorher nie geglaubt hätte, weil Menschen ein Beispiel sehen und sich
dadurch ermutigt fühlen und keine Angst mehr haben .
Wir haben Angst um unsere Identität . Deutschland wird
aus diesem Prozess nicht wieder so hervorgehen, wie
es hineingegangen ist . Aber das muss nicht zu unserem
Schaden sein .
({3})
Herr Kollege Patzelt, ich muss Sie jetzt trotzdem bitten, zum Schluss zu kommen .
Noch zwei kurze Sätze, in denen ich eine Lebenserfahrung mitteilen möchte, die viele machen und die man
auch immer wieder auf Kalenderblättern liest: Es gibt
nirgendwo Glück zu kaufen; Glück entsteht aus Begegnung . Versagen wir uns doch nicht dieses Glück, Menschen zu begegnen, die uns besonders brauchen .
({0})
Vielen Dank . - Der nächste Redner ist der Kollege
Paul Lehrieder, CDU/CSU-Fraktion .
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Werte Zuschauer! Als letzter Redner in
dieser Debatte zu Wort zu kommen, hat den großen Vorteil, dass man noch kurz auf einige vorherige Ausführungen eingehen kann .
Herr Müller - Sie schauen zu Recht her -, natürlich
muss ich Ihren Wortbeitrag abermals, wie bereits gestern
Nachmittag, kritisieren . Sie haben ja ausgeführt, was an
diesem Gesetz noch verbesserungsfähig ist . Wir werden
am 12 . Oktober eine Anhörung dazu haben . Aber ich will
Ihnen eines mitteilen - Frau Präsidentin, wenn Sie die
Uhr nicht laufen lassen, dann darf ich hier unbegrenzt
reden . Darauf wollte ich nur hinweisen .
({0})
Gut, ab jetzt laufen meine neun Minuten . Bitte nichts abziehen!
Also, Herr Müller, ich darf darauf hinweisen - ich
habe mich extra noch bei der Frau Ministerin kundig
gemacht -: Gestern bei der Besprechung im Kanzleramt war auch der thüringische Ministerpräsident Bodo
Ramelow dabei . Und ich wünsche mir ausdrücklich, dass
ihm Ihr Redebeitrag zugesandt wird, damit er einmal
beurteilen kann, was Ihre Fraktion im Bundestag zu den
Ergebnissen sagt, die er am Vorabend ausgehandelt hat .
({1})
Wir sind froh, dass wir endlich einen guten Kompromiss Herr Müller möchte mir eine Frage stellen . Ich würde
sie zulassen, Frau Präsidentin .
({2})
Herr Müller muss sich richtig melden, damit wir das
hier auch sehen können .
Er hat sich bei mir gemeldet .
Sie würden die Frage zulassen . - Herr Müller, bitte
schön .
Vielen Dank, dass Sie die Frage zulassen, Herr
Lehrieder . Sie sind ja schneller als das Präsidium . Respekt!
({0})
Übrigens höre ich Ihnen immer aufmerksam zu .
Ich will gerne Folgendes von Ihnen wissen - vielleicht
haben Sie schon davon gehört -: Ist Ihnen bekannt - wenn
nicht, ist es Ihnen nach meiner Frage bekannt -, dass die
Thüringer Staatsregierung gestern ihr Einverständnis nur
gegeben hat, damit es überhaupt einen Kompromiss in
der Runde der Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten gibt, und dass sie ihr Einverständnis unter den
Vorbehalt gestellt hat, dass sie nicht jedem dieser Punkte,
wenn er als Gesetzesvorhaben in den Bundesrat kommt,
zustimmen wird? Ist Ihnen das bekannt?
({1})
- Das ist eine Protokollerklärung . Die bezieht sich selbstverständlich nicht nur auf die Herkunftsstaaten .
Es geht um die sicheren Herkunftsstaaten . Aber das
ändert nichts an der Tatsache, dass Thüringen einer besseren Verteilung zugestimmt hat, Herr Müller . Das müssen Sie akzeptieren .
({0})
Bodo Ramelow hält diesen Kompromiss für gut in den
Punkten, über die wir heute debattieren . Wir debattieren
jetzt nicht über das Asylpaket, sondern wir debattieren
die Situation der unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge . Den Umgang mit diesen haben Sie in Ihrem Wortbeitrag kritisiert .
({1})
Dem gefundenen Kompromiss hat Bodo Ramelow gestern sogar ausdrücklich und vernünftigerweise zugestimmt . Es gibt ja auch noch ein paar Vernünftige bei den
Linken . Man sollte das nicht für möglich halten .
({2})
Von daher sind wir froh, dass wir Bodo Ramelow in
Thüringen haben . Die Frage ist beantwortet . Wie schon
gesagt: Wir hoffen, dass wir das in den weiteren Beratungen gut hinbekommen .
Aber noch einmal, Herr Müller: Man sollte bitte nicht
alles vermischen . Die Frage der sicheren Herkunftsländer
mag zu einem Vorbehalt bei Bodo Ramelow geführt haben; das ist kein Thema . Aber die Lösung für die Problematik, die wir heute debattieren, begrüßt auch Thüringen
ausdrücklich, im Übrigen auch Herr Kretschmann aus
Baden-Württemberg . Frau Dörner, Frau Rosenheimer,
das muss einfach auch gesagt werden .
In Anbetracht dessen, was gerade passiert, sind wir
alle gefordert, die Kräfte zu bündeln . Wir stehen derzeit
vor der größten zentralen Herausforderung unserer Zeit .
Es wurde von den Vorrednern bereits darauf hingewiesen: Alle Probleme, die wir in den letzten Jahren gehabt
haben, werden vor dem Hintergrund dieser gesamtgesellschaftlichen Aufgabe, die jetzt vor uns liegt, relativiert .
Ich darf an dieser Stelle auch noch einmal ausdrücklich
den Dank an alle wiederholen, die sich hier engagieren .
Ich beginne mit den Ehrenamtlichen: Es gibt eine
Vielzahl von Ehrenamtlichen, die in Notunterkünften
und in Flüchtlingsunterkünften Aufnahme überhaupt erst
möglich machen . Ja, es kommen unwahrscheinlich viele
Menschen zu uns . Die Menschen, die zu uns kommen,
müssen wir ordnungsgemäß, human und fair behandeln .
Darum bemühen wir uns .
Ich darf mich bedanken beim THW, beim Roten
Kreuz, bei den Maltesern, bei den Johannitern, bei der
Polizei, bei den Kommunen und bei den Bürgermeistern,
die schweren Herzens manche Turnhalle zur Verfügung
gestellt haben und jetzt die Gratwanderung schaffen
müssen zwischen Schulsport einerseits und der Schaffung von Unterkunftsmöglichkeiten andererseits . Wir
haben sehr viele tüchtige Bürgermeister landauf, landab .
Sie dürfen versichert sein: Was Bayern angeht, weiß ich,
wovon ich rede .
Darüber hinaus sind es natürlich die Länder, die toll
mitziehen bei der Erfüllung ihrer Aufgaben . Mit dem
gestrigen Kompromiss haben sie 1 Milliarde Euro extra
bekommen, damit sie ihren Aufgaben nachkommen können .
Es ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, an der
wir als Bund uns beteiligen, an der sich die Länder beteiligen, an der sich die Kommunen beteiligen, an der sich
die Ehrenamtlichen beteiligen . Nur so kann es gelingen .
Dafür ein herzliches Wort des Dankes an alle, die daran
einen Anteil haben: an die Bürgermeister, die Landtagskollegen, die Ehrenamtlichen des THW und des Roten
Kreuzes . Herzlichen Dank!
({3})
Gleichwohl gebietet es aber auch die Ehrlichkeit, zu
sagen: Unsere Kapazitäten sind nicht unbegrenzt . Wir
müssen aufpassen und uns fragen: Wie viele Menschen
können wir aufnehmen? Wie viele Menschen können
wir - mit den ganzen Institutionen, die ich angeführt
habe - hier bei uns betreuen, wenn wir ihnen gerecht
werden wollen? Deshalb ist auch der gestern Abend gefundene Kompromiss - Herr Müller, man muss sichere
Herkunftsländer definieren - durchaus richtig, und es ist
vertretbar, zu sagen: Jawohl, wir werden die Kapazitäten, über die unsere Gesellschaft verfügt - und die sind
sehr groß -, auf die beschränken müssen, die tatsächlich Kriegsflüchtlinge sind, die tatsächlich aus Not zu
uns kommen und die tatsächlich um ihr Leben fürchten .
Es gibt viele Beispiele . Viele von uns kennen aus ihren
Wahlkreisen syrische oder afghanische Flüchtlinge .
({4})
Wir sind gefordert, an einer gelingenden Integration mitzuwirken . Herr Kollege Patzelt hat das völlig zu
Recht gesagt: Die jungen Menschen kommen zu uns
nach wochen-, monate- oder zum Teil jahrelanger Flucht .
Sie wähnen sich am Ziel . Daher dürfen wir sie nicht ins
Nichts fallen lassen . Wir müssen sie betreuen . Wir müssen sie auffangen . Wenn uns diese Integration nicht gelingt, drohen uns in mehreren Jahren große gesellschaftliche Probleme . Deshalb ist richtig, dass wir uns mit dem
Gesetz zur Verbesserung der Unterbringung, Versorgung
und Betreuung ausländischer Kinder und Jugendlicher
auf die Gruppe der unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge besonders konzentrieren .
Alle unter 18-Jährigen, die alleine zu uns kommen,
verdienen besonderen Schutz . Das ist aufwendig; das
kostet viel Geld . Ja, das ist richtig . Aber wenn uns das
nicht gelingt und wir diese Gruppe Jugendlicher als
verlorene Generation Salafisten oder anderen radikalen
Kräften zutreiben lassen, dann haben wir etwas falsch gemacht . Deshalb ist dieses Gesetz, zu dem wir am 12 . Oktober eine Anhörung durchführen, das wir am 14 . Oktober im Ausschuss abschließend beraten werden und das
am 15 . oder 16 . Oktober in zweiter und dritter Lesung
bereits den Bundestag verlassen soll, ebenso der richtige
Weg wie die Kompromisse, die wir gestern Abend gefunden haben .
({5})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, unabhängig
von der noch ungeklärten Frage, wie auch die europäiPaul Lehrieder
schen Nachbarländer die Verantwortung, die wir als EU
gemeinsam tragen, wahrnehmen können, gehen wir die
Herausforderungen in unserem Lande an . Es wurde bereits ausgeführt, dass wir die bei uns lebenden Menschen
anständig und menschenwürdig behandeln müssen . So
hat es unser Fraktionsvorsitzender Volker Kauder gestern
in seiner Bundestagsrede ausdrücklich formuliert .
Wir müssen insbesondere diejenigen Kinder und Jugendlichen schützen, die ohne ihre Eltern zu uns kommen . Dass sie die Kraft dazu haben - Frau Ministerin hat
darauf hingewiesen -, kann man sich oft nicht vorstellen .
Wie kann ein 10-, 12-jähriges Kind Tausende Kilometer
mit Schlepperbooten über das Mittelmeer den Weg zu uns
schaffen? Woher haben sie die Kraft? - Wir müssen also
besonders diejenigen Kinder und Jugendlichen schützen,
die ihre Eltern während der Flucht verloren oder aus den
Augen verloren haben, deren Eltern auf der Flucht verstorben sind, vielleicht getötet worden sind .
Gleichzeitig stellt die stetig steigende Anzahl der ausländischen Kinder und Jugendlichen, die ohne ihre Familie nach Deutschland fliehen, unsere Kommunen vor Ort
vor erhebliche, auch finanzielle, Herausforderungen und
Belastungen . Da nach geltendem Recht das Jugendamt,
in dessen Zuständigkeitsbereich die Einreise des unbegleiteten ausländischen Minderjährigen fällt, zu dessen
Inobhutnahme verpflichtet ist, stellt das viele Kommunen - ich denke insbesondere an Rosenheim, an Passau,
aber auch an Hamburg - vor große Probleme . Insbesondere die vorgenannten Einreiseknotenpunkte haben ihre
Kapazitätsgrenzen erreicht .
Es stellt sich nun die Frage, ob ein überlastetes Jugendamt im Grenzbereich besser für die Betreuung der
Jugendlichen geeignet ist als ein Jugendamt im Landesinneren, wo freie Kapazitäten sind und man sich
mit Engagement, mit Verve und mit Leidenschaft besser um die Jugendlichen kümmern kann . So ist die Zahl
der unbegleiteten minderjährigen Ausländer, die nach
Deutschland gekommen sind, seit 2010 um 133 Prozent
gestiegen . In Anbetracht der aktuellen Lage müssen wir
diesbezüglich mit einem weiteren Anstieg der Zahlen
rechnen .
In Bayern befanden sich mit über 10 000 Minderjährigen derart viele unbegleitete Kinder und Jugendliche in
der Obhut der bayerischen Jugendämter, dass teilweise
eine dem Kindeswohl entsprechende Unterbringung,
Versorgung und Betreuung der Kinder und Jugendlichen
nicht mehr ausreichend gewährleistet werden kann . Aber
gerade dies, meine sehr geehrten Damen und Herren,
muss sichergestellt werden . Auch wenn ich aus Bayern
komme, will ich dem Freistaat Bayern ganz bewusst danken, dass man es in diesem Jahr geschafft hat, dass man
in Vorleistung getreten ist in der Erwartung, dass es einen vernünftigen finanziellen Kompromiss als Ausgleich
durch den Bund geben wird . Das ist ja auch nicht selbstverständlich . Bayern hat vieles geleistet . Herzlichen
Dank an die Jugendämter, die in den letzten Monaten
besonders betroffen waren .
({6})
Meine Damen und Herren, nicht nur nach den Vereinbarungen der UN-Kinderrechtskonvention, sondern auch
nach unserem christlichen und humanitären Menschenbild müssen wir eine den Bedürfnissen der Kinder und
Jugendlichen angepasste Betreuung sicherstellen . Mit
dem vorliegenden Gesetzentwurf wollen wir erreichen,
dass Kinder und Jugendliche, die ohne ihre Eltern vor
Krieg und Vertreibung aus ihren Heimatländern fliehen,
bei uns die bedarfsgerechte Versorgung und Betreuung
erhalten, die sie benötigen . Durch die Einführung einer
gesetzlichen bundesweiten Aufnahmepflicht der Länder
soll eine am besonderen Schutzbedürfnis und Kindeswohl der einreisenden Kinder und Jugendlichen ausgerichtete Versorgung sichergestellt werden .
Die angesprochene Aufnahmequote - darauf wurde
bereits hingewiesen - orientiert sich am sogenannten Königsteiner Schlüssel - also nicht Königsberger Schlüssel,
wie hier schon gesagt wurde - und wird durch einige
Kindeswohlgesichtspunkte ergänzt, wie zum Beispiel
möglichst auf einen Abschluss des Verteilungsverfahrens
innerhalb von 14 Werktagen hinzuwirken, die Überführung zum Jugendamt durch eine geeignete Begleitperson
durchzuführen oder einen Ausschluss des Verteilungsverfahrens vorzusehen, sofern der Gesundheitszustand des
Minderjährigen dies nicht zulässt oder das Kindeswohl
hierdurch gefährdet wäre . Zudem werden etwaige soziale
Bindungen bei einer eventuellen Verteilung berücksichtigt, das heißt beispielsweise familiäre Beziehungen . Wir
wollen ganz bewusst den Jugendlichen dahin schicken,
wo der Onkel, die Tante oder ein Familienangehöriger
bereits Unterkunft gefunden hat .
Meine Damen und Herren, es wird eine Querschnittsaufgabe . In meinem vorbereiteten Redebeitrag hätte ich
dazu noch einiges auszuführen . Meine Zeit neigt sich
abermals sehr schnell dem Ende zu . Ich bekomme auch
keine Zwischenfragen mehr von Ihnen, Herr Müller, und
leider auch nicht von Frau Dörner .
({7})
Deshalb darf ich darauf hinweisen: Wir müssen aufpassen, dass wir die Kinder und Jugendlichen, die bei uns
sind, angefangen von der Kita über die schulische Ausbildung, die Berufsausbildung bis in das Berufsleben, begleiten, dass wir ihrem Leben einen Sinn geben, wenn sie
schon bei uns sind . Vor kurzem habe ich bei einer Glasspezialfirma in meinem Wahlkreis erlebt, mit welchem
Stolz zwei afghanische Praktikanten Elektroteile zusammengeschraubt haben . Das hat mich beeindruckt . Wir haben hier Potenziale. Wir sind aber verpflichtet, es richtig
zu machen . Lassen Sie uns gemeinsam daran arbeiten .
Liebe Opposition, Sie brechen sich nichts ab, wenn
Sie das Gesetz auch einmal loben würden .
Herzlichen Dank .
({8})
Vielen Dank . - Der Kollege Lehrieder hat schon darauf hingewiesen, dass er der letzte Redner zu diesem
Tagesordnungspunkt war . Damit sind wir am Schluss der
Aussprache .
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 18/5921 und 18/5932 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen . Ich sehe, dass Sie damit einverstanden sind . Dann sind
die Überweisungen so beschlossen .
Wir kommen dann zum Tagesordnungspunkt 23 b:
- Beratung des Antrags der Abgeordneten Maria
Klein-Schmeink, Luise Amtsberg, Kordula
Schulz-Asche, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Psychotherapeutische und psychosoziale Versorgung von Asylsuchenden und Flüchtlingen
verbessern
Drucksache 18/6067
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({0})
Innenausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen . - Ich sehe, Sie
sind damit einverstanden .
Dann eröffne ich die Aussprache . Das Wort hat die
Kollegin Maria Klein-Schmeink, Bündnis 90/Die Grünen .
Liebe Frau Vorsitzende! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren heute zum zweiten Mal über die
Situation von Flüchtlingen . Zu jungen Menschen auf der
Flucht haben wir gerade eben viel gehört . Wir alle wissen, dass es darauf ankommt und dass es auch eine unserer größten humanitären Pflichten ist, dass wir Flüchtlingen zuallererst den Schutz gewähren, den sie brauchen,
ihnen Sicherheit geben, ihnen medizinische Versorgung
und auch psychotherapeutische Versorgung zukommen
lassen .
({0})
Es ist sehr deutlich geworden, dass da, gerade was die Situation der unbegleiteten Jugendlichen anbelangt, großer
Handlungsbedarf besteht .
Insgesamt müssen wir davon ausgehen, dass circa
40 Prozent aller Flüchtlinge, die hierhergekommen sind,
mit schweren posttraumatischen Belastungsstörungen zu
kämpfen haben, 20 Prozent mit sehr schweren und einschränkenden Belastungsstörungen, dass 40 Prozent der
Kinder, die hierhergekommen sind, psychisch auffällig
und wiederum 20 Prozent schwer traumatisiert sind . Das
alles bedeutet: Es ist eine große Herausforderung, da die
wirklich passende Hilfe bereitzustellen, die die betroffenen Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen brauchen . Das wollte ich vorausschicken .
Wir müssen sagen: Da waren wir auch schon in der
Vergangenheit nicht besonders gut . Schon vor der großen
Flüchtlingswelle gab es deutliche Defizite in der psychotherapeutischen und psychosozialen Versorgung von
Flüchtlingen und Flüchtlingskindern hier in Deutschland . Das müssen wir erst einmal festhalten und es jetzt
als ganz klaren Auftrag verstehen, die Situation wirklich
zu verbessern .
({1})
Wir müssen diese Aufgabe nicht nur aus humanitären
Gründen annehmen; wir sind es auch unserer Bevölkerung insgesamt schuldig . Auf der einen Seite geht es um
enorm viel ehrenamtliches Engagement im Rahmen der
Begleitung von betroffenen Flüchtlingen bei dem Versuch, die neue Situation zu bewältigen und den Weg in
unsere Gesellschaft hinzubekommen . Auf der anderen
Seite dürfen wir nicht zulassen, dass eine Konkurrenz
entsteht zwischen denen aus der deutschen Bevölkerung,
die nach Versorgung suchen, und denen, die notfallgetrieben unser System brauchen, die Versorgung, Unterstützung und medizinische Hilfe brauchen . Deshalb müssen wir handeln .
({2})
Unser Antrag geht zwar auf bestehende Defizite zurück, die schon vor der Flüchtlingswelle bekannt waren;
aber er hat jetzt natürlich eine besondere Brisanz erhalten .
Ich muss sagen: Der Asylkompromiss von gestern
Abend beinhaltet zwar einen Teilbereich dessen, was hier
nötig ist, nämlich die Sonderermächtigung von Psychotherapeuten für die Versorgung von besonders Schutzbedürftigen; aber Sie sollten noch einmal genau hinschauen . Das, was jetzt vorliegt, springt zu kurz .
({3})
Wir werden mehr machen müssen . Es darf nicht sein,
dass wir unsere Hilfe nur auf diejenigen beschränken,
die länger als 15 Monate in Deutschland sind und eine
sichere Bleibeperspektive haben . Vielmehr müssen wir
alle einbeziehen, die akuten und absehbaren Bedarf haben, damit auf der einen Seite keine Chronifizierung und
auf der anderen Seite keine schwerwiegenden, auf einem
Trauma basierenden Erkrankungen entstehen . Sonst werden die Menschen später in der Notfallambulanz einer
Psychiatrie oder eines Uniklinikums landen, weil im Vorfeld nicht genug getan worden ist . Da müssen wir gegensteuern .
({4})
Eine besondere Aufgabe ist die Finanzierung der psychosozialen Zentren für Folteropfer und Traumatisierte .
Es gibt circa 33 solcher Einrichtungen hier in Deutschland. Die meisten arbeiten hauptsächlich spendenfinanziert . Nur zu einem kleinen Teil werden sie durch Bund,
Länder oder Kommunen finanziert. Diese Zentren sind
derzeit die Hauptanlaufstellen für die betroffenen Personengruppen . Deshalb müssen wir bei der Finanzierung
Vizepräsidentin Ulla Schmidt
nachsteuern . Es kann nicht sein, dass ein so überaus
wichtiges Angebot von Spendenaufkommen abhängig
ist . Hier müssen wir umsteuern .
Sie müssen für eine regelhafte Finanzierung dieser
Zentren sorgen, damit diese ihrer übergreifenden Arbeit
nachkommen können . Gerade dort wird besondere Arbeit geleistet . Dort gibt es Fachleute für den Umgang mit
dieser besonderen Art der Traumatisierung . Sie kennen
die psychosoziale Situation der Flüchtlinge . Deshalb ist
es wichtig, diese völlig unterfinanzierten Zentren in den
Blick zu nehmen und dafür zu sorgen, dass sie auf Dauer bestehen und ihrer wichtigen Aufgabe nachkommen
können .
({5})
Zum Schluss möchte ich folgenden Punkt ansprechen:
In Ihrer Vereinbarung von gestern Abend steht, dass die
Eingrenzung der Leistungen gemäß §§ 4 und 6 des Asylbewerberleistungsgesetzes bestehen bleibt . Ich bitte Sie:
Schauen Sie sich einmal an, was das eigentlich heißt . Es
liegt eine Studie vor, die deutlich zeigt: Die Regelversorgung ist preiswerter und besser . Wir müssen die verrückte Unterscheidung aufgeben nach Flüchtlingen, die in
Erstaufnahmeeinrichtungen untergebracht sind, Flüchtlingen, die - nach der neuen Richtlinie - nach einem halben Jahr in einen Zwischenbereich fallen, wo sie über die
Kommunen versorgt werden müssen, und Flüchtlingen,
die nach 15 Monaten in die Regelversorgung aufgenommen werden . Überdenken Sie Ihre Position! Überlegen
Sie sich: Was bedeutet das an bürokratischem Aufwand,
an Intransparenz und Leistungseinbrüchen? Das können
wir uns gerade in Anbetracht der großen Flüchtlingszahlen nicht mehr erlauben .
({6})
In unserem Antrag schlagen wir eine Möglichkeit vor,
wie mit diesem Problem umgegangen werden könnte;
unabhängig von dem gesamten Asylpaket, das in den
nächsten zwei Wochen geschnürt werden soll . Bitte überdenken Sie noch einmal die Situation, die wir zu stemmen haben . Zeigen Sie sich offen, und gehen Sie konstruktiv mit unseren Vorschlägen um .
Danke schön .
({7})
Vielen Dank . - Als Nächste hat Ute Bertram, CDU/
CSU-Fraktion, das Wort .
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Wir alle sind sehr berührt von den Flüchtlingsströmen,
die aus Syrien, dem Irak und auch aus Afrika, vor allem
aus Eritrea, zu uns kommen . 70 Jahre nach Ende des
Zweiten Weltkrieges, der Flucht und Vertreibung in bis
dahin unvorstellbarer Größe hervorgebracht hat, wird die
Erinnerung an diese katastrophalen Zeiten gleichsam aktualisiert . Wir stehen als Bundesrepublik Deutschland in
der Pflicht, die gegenwärtigen Zustände zu bewältigen.
Was da noch auf uns zukommt, können wir bestenfalls
erahnen .
Unser ganzes Staatswesen ist gefordert: Bund, Länder
und Kommunen; aber das reicht noch nicht . Wir benötigen die Hilfe aus allen Ecken der Gesellschaft: von der
professionellen Unterstützung bewährter Großorganisationen wie dem Deutschen Roten Kreuz und dem Technischen Hilfswerk bis hin zur nachbarschaftlichen Hilfe .
Die Flüchtlinge haben Schlimmes erlebt . Oft sind sie
geradezu der Hölle entronnen . Da stellt sich nicht nur
die Frage nach Essen, Trinken und Unterkunft, sondern
da stellen sich auch diese Fragen: Wie verwundet sind
ihre Seelen? Wie verarbeiten diese Menschen das Erlebte? Und vor allem: Wie groß ist überhaupt der Bedarf an
einer medizinischen und psychotherapeutischen Versorgung? Und: Was kann tatsächlich geleistet werden?
Die Bundespsychotherapeutenkammer hat hierzu
vor wenigen Tagen einige Zahlen veröffentlicht, die zumindest erahnen lassen, mit welchen Dimensionen des
Schreckens wir es zu tun haben . So sind 70 Prozent der
nun hier lebenden Erwachsenen und 41 Prozent der Kinder und Jugendlichen in ihren Heimatländern oder auf
der Flucht Zeugen von Gewalt geworden . 55 Prozent
der Erwachsenen haben selbst Gewalt erfahren, bei den
Kindern sind es 15 Prozent . Folter haben 43 Prozent
der Erwachsenen erlitten . Von Gefangenschaft waren
35 Prozent der Erwachsenen betroffen . 20 Prozent der
Erwachsenen waren Opfer von Vergewaltigungen, erlitten sexuellen Missbrauch . 5 Prozent der Kinder waren
ebenfalls davon betroffen .
In Deutschland werden momentan bis zu 4 000 Flüchtlinge in psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer behandelt . Bundesweit gibt es 23 dieser Zentren,
in denen etwa 130 Psychotherapeuten arbeiten . Allein
im Berliner Zentrum wird die Betreuung in 22 Sprachen
abgedeckt . Der Arbeit, die hier geleistet wird, zolle ich
meine Hochachtung und meinen Respekt .
({0})
Die in diesen psychosozialen Zentren arbeitenden
Therapeuten sind geradezu massenweise konfrontiert mit
der sogenannten Posttraumatischen Belastungsstörung,
deren Symptome sich in Albträumen, Konzentrationsstörungen, Schreckhaftigkeit und emotionaler Taubheit
äußern . Zu den Symptomen gehören auch sogenannte
Flashbacks, in denen sich Angstzustände, bis zur Todesangst, zeigen, wenn schmerzliche Erinnerungen
wach werden . Nicht zuletzt sind Depressionen unter den
Flüchtlingen weit verbreitet . Unsere besondere Aufmerksamkeit muss der schnellen und konsequenten Behandlung und Betreuung von Kindern gelten; denn hier besteht in erhöhtem Maße die Gefahr einer Chronifizierung
von traumabedingten Störungen .
({1})
Die Bundespsychotherapeutenkammer schätzt, dass
mindestens jeder zweite Flüchtling unter einer psychischen Störung leidet . Sollte sich bewahrheiten, dass in
2015 fast 800 000 Flüchtlinge nach Deutschland kommen,
hätten wir einen Personenkreis von 400 000 Flüchtlingen,
der zumindest aus der Perspektive der Bundespsychotherapeutenkammer psychotherapeutisch zu versorgen wäre .
Aus dem Bereich der Ärztlichen Psychotherapeuten ist
demgegenüber zu hören, dass bei Flüchtlingen Depressionen keineswegs häufiger auftreten als in Gesellschaften
in Friedenszeiten . Wie dem auch sei, eine grundsätzliche
Tatsache kann weder geleugnet noch kurzfristig behoben
werden: In der jetzigen Situation, die durch eine anhaltend steigende Flüchtlingszahl gekennzeichnet ist, kann
auch die psychiatrische Versorgung zunächst nur eine
Akutversorgung sein .
({2})
Wir wissen nicht, ob, wie lange und in welchem
Ausmaß der Zustrom der Flüchtlinge anhalten wird; da
müssen wir uns alle ehrlich machen . Ich halte es deshalb
für nicht angebracht, wenn Berufsverbände der Psychotherapeuten die jetzige Situation zum Anlass nehmen,
eine Debatte über die allgemeine psychotherapeutische
Versorgungslage loszutreten . Darüber haben wir schon
vor der Sommerpause im Zusammenhang mit dem
GKV-Versorgungsstrukturgesetz ausgiebig diskutiert .
Wir wissen alle, dass es keinen Mangel an ausgebildeten
Psychotherapeuten gibt . Es gibt hinsichtlich der Versorgung aber bekanntlich eine ungleiche Verteilung, die zu
überversorgten und unterversorgten Regionen geführt
hat . Wir haben ein Stadt-Land-Gefälle, dessen tiefere Ursache in der demografischen Entwicklung liegt. Dieser
strukturellen Problemlage stellen wir uns, aber bitte nicht
im Zusammenhang mit der Akutversorgung von Flüchtlingen .
Ich hätte es übrigens begrüßt, wenn Berufsverbände
der Psychotherapeuten an ihre Mitglieder appelliert hätten, sich für die Versorgung von Flüchtlingen unbürokratisch zur Verfügung zu stellen . Die entsprechende Erklärung der Kassenzahnärztlichen Bundesvereinigung von
gestern, dass die Zahnärzteschaft zu einer schnellen und
unbürokratischen Versorgung der zahlreichen Flüchtlinge bereit ist, hat mir jedenfalls sehr gefallen .
({3})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Flüchtlinge werden,
sobald sie sich 15 Monate in Deutschland aufhalten, im
Krankheitsfall über das System der gesetzlichen Krankenversicherung versorgt . Nun wird kritisiert, dass in
diesem System nicht genügend Ärzte und Psychotherapeuten für die psychiatrische bzw . psychotherapeutische
Behandlung besonders schutzbedürftiger und traumatisierter Flüchtlinge zur Verfügung stehen .
({4})
Eine begonnene Versorgung durch die Therapeuten in
den psychosozialen Zentren könne nicht fortgesetzt werden, wenn diese Therapeuten keine Kassenzulassung besäßen. Diese Situation ist häufig gegeben, weil in vielen
NGOs ausgebildete Psychotherapeuten beschäftigt sind,
die aber keine Kassenzulassung haben .
In der Tat ist es ein grundsätzliches Problem, wenn im
Laufe einer psychotherapeutischen Versorgung der Therapeut gewechselt werden muss . Dies gefährdet oft den
bis dahin erreichten Behandlungserfolg und ist deshalb
nach Möglichkeit zu vermeiden .
Deshalb begrüßt meine Fraktion die Absicht der Bundesregierung, dem Problem durch eine Änderung der
Zulassungsverordnung für Vertragsärzte der GKV abzuhelfen und eine bruchlose Versorgung zu sichern, wenn
nach 15 Monaten Leistungen nach dem GKV-Katalog
anstehen . Dies soll dadurch geschehen, dass die Zulassungsausschüsse verpflichtet werden, Ärzte, Psychotherapeuten und Einrichtungen wie die psychosozialen Zentren auf Antrag zu ermächtigen, einen eingeschränkten,
besonders schutzbedürftigen Personenkreis psychotherapeutisch und psychiatrisch zu versorgen . Dieser Personenkreis soll beschränkt sein auf Empfänger laufender
Leistungen nach § 2 des Asylbewerberleistungsgesetzes,
die Folter, Vergewaltigung oder sonstige schwere Formen psychischer, physischer oder sexueller Gewalt erlitten haben . Auf diese Weise können begonnene Therapien
der Akutversorgung von den behandelnden Therapeuten
auch dann fortgesetzt werden, wenn sie bislang nicht zugelassen worden sind . So wird die Kontinuität der Behandlung gewährleistet .
Damit stellt sich die Bundesregierung auch ihrer Verantwortung aus Artikel 19 der EU-Aufnahmerichtlinie,
der eine psychologische Behandlung in besonderer Weise einfordert . Nebenbei kommt diese Regelung auch der
allgemeinen vertragsärztlichen und vertragspsychotherapeutischen Versorgung der Versicherten in der GKV
zugute; denn die regulär im GKV-System tätigen Leistungserbringer werden nicht angezapft .
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, die Akutversorgung von Flüchtlingen ist schon für sich genommen
eine außerordentliche Herausforderung für alle Beteiligten . Hinzu kommen die sprachlichen Hürden und kulturellen Barrieren .
Bei der Kommunikation stellt sich zunächst die quantitative Frage nach Dolmetschern . Vielfach wird es auch
notwendig sein, auf eine Drittsprache - vielleicht Spanisch, Englisch oder Französisch - auszuweichen . Dabei
besteht naturgemäß das permanente Risiko von Missverständnissen .
Vor allem aber besteht in einer psychotherapeutischen
Behandlung fremdsprachiger Flüchtlinge das grundlegende Problem, dass es sich bei einem Dolmetscher
immer um eine dritte Person handelt . Ob und inwieweit
diese als Vertrauensperson von Patient und Therapeut
anerkannt wird, kann sich immer nur von Fall zu Fall
erweisen . Das gilt oft auch dann, wenn Sprachmittler Familienangehörige sind .
Auch die bereits erwähnten kulturellen Barrieren
dürfen nicht unterschätzt werden . Die Offenlegung persönlichster Gedanken und Empfindungen als Opfer von
Gewalt gegenüber einem Therapeuten, der zugleich ein
Unbekannter, ein Fremder ist, stellt schon für sich geUte Bertram
nommen eine Hürde dar, die nicht jeder Mensch überwinden kann oder will . Dies gilt umso mehr für Menschen aus einem Kulturkreis, in dem die Offenlegung
von persönlichen oder intimen Darstellungen weitgehend
tabuisiert ist .
({5})
Frau Kollegin, ich muss Sie bitten, zum Schluss zu
kommen .
Ja . Ich bin gleich beim Schluss .
Nach Ablauf der Redezeit ist keine Zwischenfrage
mehr erlaubt .
Ich will mit diesen Hinweisen auf keinen Fall den
Eindruck erwecken, die anstehenden Aufgaben für eine
psychotherapeutische Betreuung der Flüchtlinge könnten
nicht bewältigt werden . Sie können bewältigt werden,
wenn es uns gelingt, die hierfür vorhandenen Kräfte koordiniert und möglichst frei von bürokratischen Hemmnissen einzusetzen . Dazu müssen die Stellen von Bund,
Ländern und Kommunen sowie die gesellschaftlichen
Ressourcen engagiert zusammenarbeiten und neben den
anerkannten Kompetenzen beim Organisieren auch die
Tugend der Improvisation reichlich bedienen .
Frau Kollegin Bertram, das geht jetzt zulasten der Redezeit Ihrer Kollegin .
({0})
Jetzt ist die Zeit zupackenden Helfens . Wir werden
daraus lernen können . Darüber diskutieren wir danach .
Vielen Dank .
({0})
Vielen Dank . - Als Nächste hat Kathrin Vogler, Fraktion Die Linke, das Wort .
({0})
Vielen Dank . - Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Liebe Gäste oben auf der Tribüne! Gestern hat die Bundeskanzlerin mit den Ministerpräsidenten der Länder eine Vereinbarung zur Gesundheitskarte
für Flüchtlinge getroffen . Wir als Linke begrüßen sehr,
dass sie eingeführt wird . Dazu haben wir ja hier im Haus
schon vor drei Monaten einen Antrag eingebracht . Leider
kommt sie zu spät und vor allem nicht überall . Denn es
gibt gerade in der Union noch Leute, denen sogar das zu
viel ist . Ich zitiere:
Hätte jeder Asylbewerber Anspruch auf eine solche
Karte, würde dies eine fatale Sogwirkung vor allem
auf dem Westbalkan haben .
Das meint Georg Nüßlein, stellvertretender Vorsitzender
der Unionsfraktion, laut Handelsblatt .
({0})
Weiter meint er:
Die Gesundheitskarte steht im Ausland für die gute
Gesundheitsversorgung in Deutschland . Es besteht
mithin die Gefahr, dass Menschen sich nur deswegen nach Deutschland auf den Weg machen .
({1})
Da kann man doch nur sagen: Ja, geht es noch? Das ist
zynisch, absurd, unsinnig .
({2})
Die Bundeskanzlerin hat gestern in ihrer Regierungserklärung erstaunlich klar über Fluchtursachen gesprochen . Man konnte in ihren Worten sogar so etwas wie
menschliches Mitgefühl für die Flüchtlinge aus Eritrea
und Syrien hören . Vielleicht ist ja die Kanzlerin in der
Lage, ihren Fraktionskollegen zu erklären, dass diese
Menschen, die alles aufgeben, die Haus und Hof verlassen, die ihre Eltern verlassen, die ihr Leben riskieren, um
es zu retten, ganz bestimmt nicht nach Deutschland kommen, um sich in Günzburg in einer Arztpraxis anzustellen . Es wäre wirklich zu wünschen, dass der Kanzlerin
dies gelingt .
({3})
Auch Herr Dr . Nüßlein weiß es besser . In demselben
Artikel gibt er zu, dass Asylbewerber und Flüchtlinge
auch mit der Karte noch lange nicht vollen Zugang zu
unserem Gesundheitssystem haben .
Es ist doch so: Bislang muss ein Flüchtling in unserem
Land zunächst ins Rathaus laufen und dort einem Sachbearbeiter oder einer Sachbearbeiterin seine Beschwerden schildern . Dieser Mensch, meistens ohne medizinische Ausbildung, entscheidet dann, ob der Kranke einen
Behandlungsschein erhält und zum Arzt gehen darf . Die
Kosten für die Behandlung übernimmt dann die Kommune, allerdings nur für akute, lebensbedrohliche und
schmerzhafte Erkrankungen sowie für Impfungen und
Schwangerschaftsvorsorge .
Stellen wir uns das einmal praktisch vor . Der siebenjährige Achmed A . aus Syrien bekommt am Freitagmittag schlimmes Zahnweh . Leider hat das Sozialamt schon
geschlossen . Bis zum Montagmorgen bekommt das Kind
also keinen Behandlungsschein . Ein Wochenende mit
einem weinenden Kind in einer Flüchtlingsunterkunft dafür, dass das so bleibt, kämpft die CSU . Na sauber!
({4})
Brigitte B . aus Nigeria leidet an Bluthochdruck . Das
ist weder schmerzhaft noch akut lebensbedrohlich . Der
Beamte hält daher die Ausstellung eines Behandlungsscheins für unnötig . Das Risiko, dass die Frau einen
Schlaganfall bekommt, ist ihm nicht bewusst .
Schon aus diesen Beispielen wird deutlich, dass es
notwendig ist, dass jeder kranke Mensch unmittelbar
zum Arzt gehen kann . Nur Ärztinnen und Ärzte können
beurteilen, ob eine Erkrankung behandlungsbedürftig
ist . Dafür sind sie ausgebildet . Für die Kommunen ist
die Karte angesichts wachsender Flüchtlingszahlen eine
Erleichterung . Denn bei mehr Flüchtlingen müssten sie
auch mehr Scheine ausstellen . Deswegen unterstützt
die Linke alle Bemühungen, die Gesundheitskarte für
Flüchtlinge flächendeckend einzuführen.
({5})
Wir sagen aber auch: Die Kosten dafür muss der Bund
übernehmen,
({6})
und keinesfalls dürfen sie den Versicherten in der gesetzlichen Krankenversicherung durch die Hintertür aufgebürdet werden .
({7})
Außerdem verlangt die Linke, das Menschenrecht
auf Gesundheit auch für Flüchtlinge und Asylbewerber
umzusetzen . Denn wenn jemand eine chronische oder
psychische Erkrankung hat, dann muss diese ebenso behandelt werden wie ein akuter Schmerz, und zwar unabhängig vom Aufenthaltsstatus .
({8})
Alles andere verstößt unserer Auffassung nach gegen die
Menschenrechte, gegen die Prinzipien der Humanität
und gegen die medizinische Ethik .
Ich freue mich, dass auch die Grünen genau dies in
ihrem Antrag fordern, darüber hinaus weitere diskussionswürdige Vorschläge machen, etwa zu Dolmetscherdiensten, zur psychotherapeutischen Versorgung, zur
Stärkung der Strukturen in der psychosozialen Betreuung
usw . usf ., und sich auch mit der Frage der traumatisierten
Kinder in Flüchtlingsunterkünften auseinandersetzen .
Ich finde, in den Beratungen über die Anträge, die im
Ausschuss anstehen, sollten wir gemeinsam versuchen,
die Union wieder auf den Boden der Menschlichkeit und
der christlichen Nächstenliebe zurückzuholen . Darauf
freue ich mich .
({9})
Vielen Dank . - Für die SPD-Fraktion hat jetzt Hilde
Mattheis das Wort .
({0})
Werte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ja, Zahlen sind hier schon viele genannt worden .
800 000 bis 1 Million Menschen suchen bei uns Schutz,
Unterkunft und auch gesundheitliche Versorgung . Hinter
jeder Zahl steht ein Mensch, mit all seinen Ängsten, mit
all seinen Bedürfnissen und vor allen Dingen auch mit
der Hoffnung, hier bei uns gut unterzukommen und Hilfe
zu bekommen .
Viele Ehrenamtliche leisten diese Hilfe . Ich bin froh,
dass wir durch die Einigung von gestern Abend auch im
Gesundheitsbereich einige Maßnahmen auf den Weg
bringen, die ich „Basisvereinbarungen“ nenne, Basisvereinbarungen, bei denen wir - neben den Problemen der
Erstunterkunft und der weiteren Unterkünfte, den Versorgungsnöten wie ausreichend Essen, ausreichend Kleidung und Bewegungsmöglichkeiten - auch den wichtigen Punkt der gesundheitlichen Versorgung im Blick
haben . Diesen Blick, der sich in vier Punkten zusammenfassen lässt, möchte ich gerne beleuchten .
Als ersten Punkt will ich die Gesundheitskarte ansprechen. Ich finde, dazu ist schon einiges Richtiges gesagt
worden . Die Gesundheitskarte ist ein Instrument, das
Zugänge erleichtert, nicht Leistungen ausweitet . Lassen
Sie uns die Gesundheitskarte also nicht als Instrument
missbrauchen, um irgendwelche Aggressionen zu schüren, sondern sie als das gebrauchen, was sie tatsächlich
ist . Sie ermöglicht ohne Bürokratie niedrigschwellige
Zugänge zu einem Leistungssystem, das nach dem Asylbewerberleistungsgesetz klare Leistungsansprüche umreißt .
({0})
Das kann man gut oder schlecht finden; aber sie ist ein
Instrument . Von daher, glaube ich, sollten wir uns hier einig sein: Wir begrüßen das Instrument der Gesundheitskarte und sagen: Ja, in den Fällen, die Sie, Frau Vogler,
gerade beschrieben haben, muss es möglich sein, diese
niedrigschwelligen Zugänge zu ermöglichen . - Das ist
der erste Punkt .
({1})
Der zweite Punkt betrifft die Ausweitung der Schutzimpfungen . Wir haben erlebt, dass im letzten Winter die
Masern ausgebrochen sind . Daher brauchen wir geeignete Möglichkeiten, um die Impfquote zu erhöhen . In der
Umsetzung wird sich zeigen, wo wir weitere Hilfestellung leisten müssen .
Der dritte wichtige Punkt ist: Lasst uns, bitte schön,
all diejenigen, die eine Qualifikation im Gesundheitsbereich haben und bereits in ihrem Herkunftsland aktiv
einen entsprechenden Beruf ausgeübt haben, auch hier
bei uns einspannen . Wir sollten diese Menschen bitten,
bei uns Hilfe zu leisten, damit wir keine Dolmetscherprobleme haben und wir eine Unterstützung bekommen,
was den direkten kulturellen Zugang anbelangt . Das fände ich gut . Vielleicht sollte man das sogar ausweiten . An
den Universitäten gibt es ja viele Arabisch sprechende
Studierende . Vielleicht besteht die Möglichkeit, auch sie
einzubeziehen .Auch auf dieser Seite gibt es ein großes
ehrenamtliches Engagement .
Sie heben In Ihrem Antrag einen vierten Punkt heraus,
der uns natürlich alle beschäftigt: Ja, es gibt keine Teilung von Körper und Seele . Die Menschen kommen mit
körperlichen, aber auch mit seelischen Problemen zu uns .
Hier denken wir natürlich insbesondere an die Kinder
und Minderjährigen, die unsere Unterstützung brauchen .
Dabei sollten wir uns auf den Sach- und Fachverstand
der Psychotherapeuten und Psychiater verlassen, die uns
Vorschläge gemacht haben, und zwar auch über die Kassenzulassung hinaus .
Wir alle haben sicherlich in gewisser Weise Kontakt
zu den entsprechenden Zentren - ich selbst bin Mitglied
im Förderverein des Behandlungszentrums für Folteropfer Ulm - und wissen, welch wichtige Arbeit sie leisten .
Sie sind für die Bewältigung der vor uns stehenden Herausforderungen ein wichtiger und zentraler Baustein . Da
es aber nur circa 24 dieser Zentren gibt, erreichen sie womöglich nicht alle Flüchtlinge . Deswegen ist es wichtig,
auch die Angebote der Kammern anzunehmen, die uns
vorschlagen: Lasst uns doch ein E-Learning-Programm
auflegen, mit dem wir Ehrenamtliche schulen, sodass sie
psychische Probleme erkennen, wenn sie vorliegen . Die 2 Millionen Euro, die dafür aufzuwenden sind, sind
angesichts der vorhandenen Problematik sicher als überschaubar zu bewerten . Die Kammern schlagen auch vor:
Lasst uns wesentlich stärker eine Therapieform anwenden, die die Menschen nicht über Sprache, sondern über
Augenbewegungen erreicht . - Das kann man in dieser
Phase für die Problembewältigung sicherlich aufgreifen .
All das muss nun gebündelt und organisiert werden .
Uns als SPD beschäftigt dies sehr stark, weil wir den
Bereich der Gesundheit als sehr wichtig für die Befindlichkeit, den Austausch und die Integration der Menschen in unsere Gesellschaft ansehen . Wir wollen, dass
die Organisation über die Taskforce etwas konzentrierter
gestaltet wird . Man darf sich zum Beispiel bei der Lösung der Problematik, woher man fahrbare Röntgengeräte für den Einsatz in den Ländern bekommt, nicht auf
Privatinitiativen verlassen; das muss vielmehr zentral
gesteuert werden . Deshalb haben wir den Anspruch an
die Bundesebene, auch an das Bundesinnenministerium,
dass die Taskforce des Bundes diese Dinge ein Stück
weit stärker und zentraler organisiert . Daneben müssen
die Taskforces der Länder für die Weitergabe an die entsprechenden Stellen sorgen; denn das Ehrenamt muss
unterstützt werden . Wir müssen auf politischer Ebene
für die entsprechende Organisation und die notwendigen
Rahmenbedingungen sorgen .
Vielen Dank .
({2})
Vielen Dank . - Für die CDU/CSU-Fraktion spricht
jetzt Emmi Zeulner .
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Die Menschen in unserem Land fordern zu
Recht Antworten vonseiten der Politik auf die aktuellen
Entwicklungen . Für mich ist dabei das Wichtigste, dass
die Politik die Realitäten anerkennt . Selbstverständlich
hat jede Opposition das Recht, in ihren Anträgen Maximalforderungen zu formulieren; aber die Parteien, die in
politischer Verantwortung stehen, müssen sich an den
Realitäten messen lassen . Für mich ist Fakt, dass es für
Deutschland in Bezug auf den Zustrom von Flüchtlingen
eine Belastungsobergrenze gibt, und ich bitte, das auch
anzuerkennen . Fakt ist auch, dass die Landratsämter und
die Polizei in unserem Land nicht erst gestern an ihre Belastungsgrenze gestoßen sind .
({0})
Fakt ist weiterhin, dass die Ehrenamtlichen alles geben; aber auch sie sind keine unerschöpfliche Ressource . Wenn Flüchtlinge verteilt werden, geschieht es nicht
selten - wie bei uns in Bayern, in München -, dass der
eigentlich für 15 Uhr angekündigte Bus mit hundert
Flüchtlingen erst zu später Stunde in der Nacht eintrifft
oder dass der Bus plötzlich da ist und das Rote Kreuz
sehr schnell reagieren muss . Die Ehrenamtlichen, die
versuchen, diese Aufgabe zu bewältigen, haben aber auch
noch einen Beruf, dem sie nachgehen müssen . Ein Krankenpfleger, der ehrenamtlich beim Roten Kreuz arbeitet,
hat bis spät in die Nacht hinein Flüchtlinge zu untersuchen . Trotzdem muss er um 5 Uhr in der Früh aufstehen
und im Krankenhaus arbeiten . Deswegen stellt sich für
mich die Frage: Wie lange können wir diese Solidarität
strapazieren?
({1})
Wir haben aktuell die Situation - es ist mir wichtig, das
zu schildern -, dass ein Flüchtling mit Krätze schnell zu
behandeln ist . Er wird in der Praxis geduscht, eingecremt
und für einen Tag isoliert . Wenn jetzt aber der Winter
kommt, werden die Erstuntersuchungen andere Krankheitsbilder ergeben .
({2})
Das ist für unser System wirklich eine sehr große Herausforderung .
Ich bin überzeugt, dass wir das schaffen können . Es
wird aber nicht so reibungslos vonstattengehen, wie sich
das manche vielleicht vorstellen . Bereits jetzt ist es so,
dass wir in vielen Bereichen Abstriche machen, auch was
die innere Sicherheit angeht . Da machen wir Kompromisse .
({3})
Es ist mir aber wichtig, zu sagen, dass wir - entgegen
den Unterstellungen, die hier laut geworden sind - jeden
Flüchtling, der bei uns ankommt, im Notfall natürlich gut
versorgen .
Liebe Kollegen vom BÜNDNIS 90/Die Grünen, Ihr
Antrag zur Verbesserung der psychotherapeutischen
und psychosozialen Versorgung von Asylsuchenden
und Flüchtlingen in allen Ehren: Die Forderung, dass
„Schutzsuchende innerhalb von höchstens 15 Tagen
nach Antragstellung in einer ihnen verständlichen Sprache umfassende Information und Beratung über ihre
Ansprüche nach der Aufnahmerichtlinie erhalten und
hierbei insbesondere über ihr Recht auf angemessene
medizinische, psychotherapeutische und psychosoziale
Versorgung informiert werden“, hört sich sehr gut an, ist
aber natürlich in der jetzigen Situation in gewisser Weise
etwas realitätsfern .
({4})
Frau Kollegin Zeulner, die Kollegin Klein-Schmeink
würde Ihnen gerne eine Frage stellen . Lassen Sie das zu?
Selbstverständlich .
Bitte schön .
Frau Zeulner, ist Ihnen bekannt, dass der Passus wortgleich in der EU-Richtlinie enthalten ist, die wir bereits
seit August 2015 zu erfüllen haben - wir begehen im
Moment sogar Vertragsverletzungen -, und dass genau
diese Regelung hier in Kürze sowieso beschlossen werden muss? Natürlich müssen wir Sorge tragen, dass die
Flüchtlinge nicht nur Schutz und Unterstützung bzw . gesundheitliche Versorgung erhalten, sondern auch wissen,
dass sie überhaupt Anspruch auf diese Hilfen haben . Genau das würde damit geregelt . Das steht eins zu eins so
in der EU-Richtlinie . Insofern entspricht diese Passage
schlichtweg der Umsetzung schon vorhandenen Rechts
in deutsches Recht .
Ja, es geht eben darum, dass wir das in die Praxis umsetzen . In der Richtlinie steht es sehr gut, auch in Ihrem
Antrag steht es sehr gut . Wenn wir das beschließen, wird
es auch im Beschluss entsprechend gut stehen . Wir brauchen aber eine Umsetzung in der Praxis . Deshalb habe
ich zu Beginn meiner Rede dafür plädiert, dass wir die
Realitäten einfach ein bisschen mehr anerkennen . Im
Moment stehen wir einfach vor anderen großen Herausforderungen, sodass dies in gewisser Weise schon ein
Stück weit in den Hintergrund rückt . Das sind die Realitäten, die ich bitte anzuerkennen .
({0})
Sie haben für alle Flüchtlinge - egal ob es sich um
einen Wirtschaftsflüchtling oder um einen tatsächlich
Verfolgten handelt - ab dem ersten Tag ihrer Ankunft einen uneingeschränkten Zugang zum Gesundheitssystem
gefordert . Das kann ich einfach nicht unterstützen . Auch
wenn die Kollegin von der Linken etwas anderes behauptet: Selbstverständlich brächte das weitere Pull-Effekte
mit sich, und genau diese Pull-Effekte gilt es zu vermeiden . Auch wenn in Gesundheitsdebatten immer wieder
suggeriert wird, die Gesundheitsversorgung in Deutschland sei nicht so gut und so attraktiv, ist festzustellen,
dass die Leute aufgrund unserer im internationalen Vergleich guten Gesundheitsversorgung zu uns kommen .
({1})
Ich mache niemandem einen Vorwurf; aber es ist auch
hier Teil der Realität, dass es einen weiteren Pull-Effekt
gäbe, wenn wir sagen würden: Jeder, der zu uns kommt,
hat ab dem ersten Tag die gleichen Ansprüche wie ein
gesetzlich Krankenversicherter .
({2})
- Doch, das stimmt . Wir würden innerhalb der Europäischen Union ein weiteres Gefälle bei der Versorgung
schaffen . Wenn wir in Zukunft eine faire Verteilung von
Flüchtlingen innerhalb der Europäischen Union anstreben, dann müssen wir auch unsere Standards angleichen .
({3})
Nur dann können wir sicher sein, dass die Verteilung
funktioniert und die Flüchtlinge bzw . anerkannten Asylbewerber in dem ihnen zugewiesenen Land bleiben .
Sie haben weiter die Ausgabe einer Gesundheitskarte
gefordert . Diese Entscheidung wird den Ländern überlassen .
({4})
- Ja, weil wir darin einen falschen Anreiz sehen . Das
würde in gewisser Weise auch einen Verlust an Sicherheit
in unserem Land bedeuten .
({5})
- Nein . Aber wenn sich ein Flüchtling beim Landratsamt
melden muss, besteht die Möglichkeit, noch einmal zu
kontrollieren: Wer ist da, und wo genau befindet er sich
gerade?
({6})
Wir in Bayern, um das noch einmal deutlich zu sagen,
werden die Gesundheitskarte nicht einführen . Aber wir
leben in einem föderalen System, und das hat uns so stark
gemacht .
({7})
Deswegen gilt in einem Stadtstaat wie Bremen anderes
als in einem Flächenstaat wie Bayern .
Ich möchte aber auf Folgendes hinweisen: Das bayerische System hat sich bewährt . In jeder Erstaufnahmeeinrichtung sowie in den Notunterkünften gibt es Ärztezentren und Konsiliardienste, die für die psychiatrische
Betreuung zuständig sind .
({8})
Wenn eine weitere fachliche Expertise gefordert ist, erfolgt natürlich eine Überweisung zum Facharzt .
Auch ich erkenne die Realitäten an und sehe, dass
wir aufgrund der steigenden Zahl an Flüchtlingen einen weiteren Bedarf haben, was die psychotherapeutische und psychiatrische Behandlung angeht . Deswegen
unterstütze ich den Vorschlag der Bundesregierung, die
Zulassungsverordnung für Vertragsärzte zu ändern und
eine sichere, zeitnahe und kontinuierliche psychotherapeutische und psychiatrische Behandlung von Flüchtlingen zu gewährleisten . Auch die Zusicherung, das Angebot an Personal im medizinischen System zu erweitern,
muss mit Leben erfüllt werden . Das wird schwer genug
werden . Ich halte den vorliegenden Vorschlag für eine
seriöse und machbare Antwort auf die aktuellen Herausforderungen . Er zeichnet sich durch eine gewisse Nachhaltigkeit, Professionalität und - diesen Begriff darf man
an dieser Stelle eigentlich nicht in den Mund nehmen; ich
mache es trotzdem - Bezahlbarkeit aus .
({9})
Über alles Weitere werden wir im Ausschuss diskutieren . Wie schon die Kollegin von der SPD gesagt hat: Wir
brauchen pragmatische Lösungen . Davor verschließen
wir uns nicht .
Vielen herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit .
({10})
Vielen Dank . - Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Dirk Heidenblut, SPD-Fraktion .
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich muss
zugeben: Nach dem letzten Vortrag fällt es mir recht
schwer, meine geplante Rede zu halten . Ich will zumindest auf einige Aspekte kurz eingehen .
Erstens . Die Tatsache, dass viele Menschen zu uns
kommen, muss natürlich dazu führen, dass wir einzelne
Bereiche entlasten . So werden wir etwa 3 000 Polizeibeamte zusätzlich einstellen und Ähnliches mehr . Aber
das darf nicht dazu führen, dass wir Menschen, die Not,
Verfolgung und Elend erlebt haben und bei uns Hilfe und
Zuflucht suchen, durch Zugangsbeschränkungen vor der
Tür stehen lassen und im Zweifel in Ungarn verhungern
lassen .
({0})
Das kann nicht das Ergebnis sein . Das ist auch nicht unsere Politik .
Zweitens . Für mich heißt eine Anpassung der Standards zunächst einmal, die Standards nach oben und nicht
nach unten anzugleichen . Das heißt, wir sollten alles versuchen, die anderen europäischen Länder mitzunehmen .
({1})
- Frau Zeulner, ob das die Realität ist oder nicht: Wir
müssen versuchen, Realitäten zu schaffen, und wir haben
die Möglichkeit, auf die Realitäten in Europa Einfluss zu
nehmen .
({2})
Oder möchten Sie unterstellen, dass unsere Kanzlerin
keinen Einfluss in Europa hat? Wir sollten also alles tun,
um die Standards anzuheben und nicht nach unten zu
drücken .
Drittens . Lassen Sie mich als energischen Verfechter
der elektronischen Gesundheitskarte auch für Flüchtlinge
und als jemand, der sich sehr freut, dass das Flächenland
Nordrhein-Westfalen diese Einführung sehr konsequent
umgesetzt hat, sagen: Sie machen in Bayern einen Fehler,
wenn Sie das nicht tun .
({3})
Aber das ist Ihnen als Land überlassen .
({4})
- Ja, das überlassen wir Ihnen ja auch .
({5})
Bayern überlassen wir Ihnen .
({6})
- Ja, Entschuldigung: nicht ganz, nur was die Gesundheitskarte angeht, sonst nicht .
Jetzt komme ich aber auf den Antrag zurück. Ich finde
gut, dass dieser Antrag vorliegt; denn Sie rücken damit
einen Aspekt in den Fokus, der bei aller berechtigten
Konzentration auf die Frage der Unterbringung, Verpflegung und Versorgung nicht verloren gehen darf .
({7})
Als Gesundheitspolitiker kann ich nur sagen: Auch die
Erstuntersuchung und die Frage der Versorgung von
Traumata oder Traumafolgeschäden gehören zum unmittelbaren Bedarf . Wenn wir uns in diesem Bereich nicht
auf den Weg machen, wird es schwierig .
Aufgrund der nahezu unvermeidlichen schrecklichen
Erfahrungen vieler Flüchtlinge, die zu uns kommen zum Großteil haben sie Folter, Krieg, Vertreibung und
ähnliches Leid selbst erlebt, oder sie haben es bei Freunden, Verwandten oder Begleitern auf der Flucht miterlebt -, haben viele von ihnen - die Zahlen sind schon
genannt worden - mit erheblichen psychischen Problemen und Traumata zu kämpfen . Wir müssen versuchen,
diesen Flüchtlingen die nötige Hilfe zu geben, aber den
Eindruck vermeiden, bei allen Flüchtlingen sei automatisch von einem Trauma auszugehen . Das ist natürlich
nicht der Fall; denn es gibt sicherlich viele, die das Erlebte anders überstehen .
Ich möchte an dieser Stelle noch einmal den psychosozialen Zentren danken, die eine Herkulesaufgabe zu
leisten haben . Diese Zentren, die - Frau Klein-Schmeink
hat es bereits angesprochen - schon vorher nicht optimal
aufgestellt waren, haben jetzt noch ein richtiges Pfund
dazubekommen . Ich möchte ihnen ausdrücklich dafür
danken, wie engagiert sie versuchen, zu helfen .
({8})
Sie sind in der aktuellen Situation in der Zahl - das macht
Ihr Antrag deutlich - etwas zu wenige; sie liegen zu weit
auseinander, sind unzureichend finanziert und ausgestattet . Es gibt zwar weitere Traumazentren und Spezialeinrichtungen - das weiß ich aus meiner Heimatstadt -;
aber wir müssen erst einmal die Wege ebnen, damit sie
mit diesen speziellen Formen der Traumata, die uns in
Deutschland glücklicherweise nicht so vertraut sind, umgehen können .
Ich möchte eines deutlich sagen: Die Frage, ob das
Teil der Gesundheitsleistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz ist oder nicht, darf hier eigentlich keine
Rolle spielen; denn wir müssen an dieser Stelle die nötige Hilfe erbringen . Für mich liegt unzweifelhaft ein sofortiger Behandlungsbedarf vor .
({9})
Das wäre nach dem Asylbewerberleistungsgesetz ebenso
der Fall . Die erforderliche Therapie ist aus meiner Sicht
sozusagen die OP am akut entzündeten Blinddarm . Auch
wenn man das eigentlich nicht vergleichen kann - das
sage ich mit Blick auf einen anwesenden Arzt -, gibt es
insofern Ähnlichkeiten, als dass auch eine nicht geleistete erforderliche Therapie bedeutet, dass keine Hilfe geleistet wird, und wenn wir das laufen lassen, werden die
Folgeschäden exorbitant sein .
({10})
Das ist im Übrigen auch für die Helferinnen und Helfer sowie für die Lehrer und Erzieher in den Einrichtungen wichtig. Denn wir haben es hier sehr häufig mit
Patientinnen und Patienten zu tun, die von sich aus gar
keine Krankheitseinsicht haben, wie man so schön sagt,
und womöglich gar nicht zum Arzt gehen würden . Aber
den Helferinnen und Helfern fallen die Symptome auf .
Den Lehrern und Erziehern fällt auf, wenn etwas nicht
stimmt . Sie müssen Unterstützung und Hilfe bekommen,
damit sie damit nicht allein gelassen werden und die Probleme am Ende in den Schulen oder Kindergärten landen, ohne dass es Möglichkeiten gibt, darauf einzugehen .
Jetzt habe ich mich durch die einführenden Worte
selbst herausgebracht, Frau Präsidentin . Ich werde versuchen, zum Schluss zu kommen .
Gestatten Sie mir eine letzte Bemerkung . Eines sollten
wir immer im Blick behalten: Die Menschen, um die es
hier geht, werden wohl bei uns bleiben . Wir werden sie
integrieren müssen, und das wollen wir auch . Deshalb ist
es grob fahrlässig, im Vorfeld die erkennbar hohen Risiken durch Traumatisierung außer Acht zu lassen, statt
so schnell wie möglich im Interesse aller Beteiligten und
auch unserer Gesellschaft darauf einzugehen .
Ich bedanke mich ganz herzlich für die Aufmerksamkeit und freue mich auf die weitere Diskussion .
({11})
Vielen Dank .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die Vorlage auf Drucksache 18/6067 an die in der Tagesordnung aufgeführten
Ausschüsse überwiesen werden . - Ich sehe, Sie sind
damit einverstanden . Dann ist die Überweisung so beschlossen .
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 24 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Anpassung
des Erbschaftsteuer- und Schenkungsteuergesetzes
an die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts
Drucksache 18/5923
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({0})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 der GO
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 60 Minuten vorgesehen . - Ich sehe, dass
Sie damit einverstanden sind .
Dann eröffne ich die Aussprache . Das Wort hat der
Parlamentarische Staatssekretär Dr . Michael Meister .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir haben hier ein wirtschaftspolitisch, steuerpolitisch
und verfassungsrechtlich bedeutsames Thema auf der
Tagesordnung .
({0})
Aus unserer Sicht ist es von zentraler Bedeutung, dass
wir die besondere Kultur der Familienunternehmen in
Deutschland erhalten . In den Familienunternehmen hat
der Inhaber eine personelle Verantwortung gegenüber
seinen Arbeitnehmern und dem Geschehen im Unternehmen . Mit dieser Kultur unterscheiden wir uns wesentlich von kapitalmarktfinanzierten Ländern wie etwa den
Vereinigten Staaten oder Großbritannien . Wir wollen in
Deutschland bei der nun anstehenden Reform diese Kultur erhalten .
({1})
Wir sprechen hier über 60 Prozent der Arbeitsplätze und
über mehr als 90 Prozent der Unternehmen in Deutschland . Deshalb ist es wirtschaftspolitisch von zentraler
Bedeutung, wie wir uns an dieser Stelle positionieren .
Wir müssen uns in Erinnerung rufen, dass für ein
Familienunternehmen die Generationenübergabe eine
Schlüsselsituation ist, in der es darum geht, die Weiterführung des Unternehmens in die Zukunft zu gewährleisten . Wir sollten dabei keine Hindernisse in den Weg
stellen, sondern darauf achten, dass bestehende Unternehmen und Arbeitsplätze sicher in die nächste Generation geführt werden können .
({2})
Wir werden dabei zwischen der steuerpolitischen Betrachtung - es handelt sich um einen Vermögenszufluss
aufseiten des Erben oder des Beschenkten - und der Verantwortung für das Unternehmen und seine Mitarbeiter
abwägen . Wir streben eine ausgewogene Lösung an . Ich
will ausdrücklich sagen, dass wir eine verfassungskonforme Lösung wollen, die diesem Ziel entspricht . Unsere
Absicht ist nicht das Erzielen von Steuermehreinnahmen .
Das ist kein Ziel dieses Gesetzes .
({3})
Seit 1995 gab es bislang drei Urteile in Karlsruhe zur
Erbschaft- und Schenkungsteuer . Der Tenor der Urteile lautete jedes Mal: „Ja im Grundsatz, aber . . .“ . Beim
vierten Anlauf sollten wir uns daher auf eine nachhaltig
rechtssichere Lösung konzentrieren und darauf achten,
dass das Ganze verfassungskonform ist . Das liegt hochgradig auch im Interesse der betreffenden Arbeitnehmer
und Unternehmen .
({4})
- Diese Aufgabe wird auch durch Zurufe nicht weniger
komplex .
({5})
Selbst das Bundesverfassungsgericht hat zur Erläuterung der Frage, ob eine Abweichung vom in Artikel 3
des Grundgesetzes verankerten Gleichheitsgrundsatz aus
Gründen des Erhalts von Arbeitsplätzen, Unternehmen
und Familienunternehmenskultur erlaubt werden kann,
nahezu 300 Randnummern in seinem Urteil gebraucht .
Das zeigt die Komplexität der Aufgabe .
Wir haben uns vorgenommen, an der bisherigen
Grundkonzeption festzuhalten; denn die Grundkonzeption der Verschonung ist im Urteil ausdrücklich als zulässig und mit dem Grundgesetz vereinbar erklärt worden .
({6})
Wir werden uns also auf diejenigen Punkte konzentrieren, bei denen das Bundesverfassungsgericht Korrekturen angemahnt hat . Ich will diese vier Punkte benennen:
Der erste Punkt ist die Tatsache, dass mit zunehmender
Größe des Unternehmens und damit mit zunehmender
Größe des Erbes die Abweichung von dem in Artikel 3
Absatz 1 des Grundgesetzes verankerten Gleichheitsgrundsatz zunimmt . Deshalb muss es ab einer gewissen
Unternehmensgröße eine besondere Rechtfertigung geben, um eine Verschonung gewähren zu können, Stichwort „Bedürfnisprüfung“ .
Der zweite Punkt ist die Tatsache, dass eine große
Zahl der Unternehmen - weit über 90 Prozent - weniger als 20 Mitarbeiter hat . Das Verfassungsgericht hat
uns aufgetragen: Wenn der Erhalt der Arbeitsplätze im
Mittelpunkt steht, dann muss dies auch entsprechend verifiziert werden.
Der dritte Punkt ist die Tatsache, dass bisher zugelassen ist, dass 50 Prozent des Verwaltungsvermögens der
Verschonung unterliegen . Diesen Umfang hat das Verfassungsgericht nicht akzeptiert .
Der vierte Punkt ist die Tatsache, dass es in unserem
Land viele hochintelligente Steuerberater gibt, die immer
wieder dazu neigen, bestimmte Gestaltungen auszuprobieren . Das Verfassungsgericht hat uns beauftragt, solche
Gestaltungen, wenn sie erkennbar werden, zu unterbinden . Dieser Auftrag ist nicht an die Steuerberater gerichtet, sondern an den Gesetzgeber, der hier vor mir sitzt .
Diesen Auftrag sollten wir ernst nehmen .
({7})
Mit dem Gesetzentwurf, den die Bundesregierung am
8 . Juli 2015 im Kabinett beschlossen hat und der heute
in den Deutschen Bundestag eingebracht wird, wird versucht, die wirtschaftspolitische, steuerpolitische und verVizepräsidentin Ulla Schmidt
fassungsrechtliche Dimension aufzugreifen . Wie haben
wir die vier angemahnten Korrekturen umgesetzt?
Wir haben zunächst einmal festgelegt: Als groß gilt,
wer dem höchsten Erbschaftsteuersatz unterliegt . Sobald der Wert des begünstigten Vermögens die Grenze
von 26 Millionen übersteigt, haben wir es mit größeren
Erbschaften zu tun . Wir betrachten dabei nicht die Größe des Unternehmens, sondern den einzelnen Erben oder
Beschenkten gemäß dem Unternehmensanteil, der ihm
zufließt. Das ist also die vorgeschlagene Grenzgröße.
Oberhalb dieser Grenze lassen wir den Erben oder Beschenkten die Wahl . Sie haben zwei Optionen: Die eine
ist, eine Bedürfnisprüfung vornehmen zu lassen, die andere ist, ein sogenanntes Abschmelzmodell, bei dem der
Grad der Verschonung mit zunehmendem Vermögen reduziert ist, zu wählen . Ich glaube, das ist ein vernünftiges
und faires Angebot .
Bei dem Verschonungsabschlag, also bei der zweiten Option, verringert sich die Verschonung um jeweils
1 Prozentpunkt für jede vollen 1,5 Millionen Euro, die
der Wert des begünstigten Vermögens die Grenze von
26 Millionen Euro übersteigt . Das geht bis zu einer Größenordnung von 116 Millionen Euro . Danach gilt eine
feste Verschonung . Wir, die Bundesregierung, glauben,
dass wir damit den verfassungsrechtlich gezogenen Rahmen ausgeschöpft haben und keinerlei Spielraum besteht, noch weiter zu gehen .
Bei der Bedürfnisprüfung wird die Erbschaftsteuerschuld festgestellt und erlassen, soweit der Erbe sie nicht
aus nichtunternehmerischem Vermögen bzw . der Hälfte seines nichtunternehmerischen Vermögens bedienen
kann .
Zum Thema Lohnsumme schlagen wir vor, dass wir
bei der bisherigen Konzeption bleiben . Wir haben die
Länder, die Bundestagsfraktionen und auch die Öffentlichkeit gefragt, ob es einen anderen geeigneten Parameter gibt, um Kleinstunternehmen, die wir von der
Lohnsummenprüfung verschonen wollen, abzugrenzen .
In der Diskussion der letzten Monate ist deutlich geworden, dass der Parameter „Anzahl der Mitarbeiter“ der
richtige ist . Wir haben versucht, die Zählweise etwas
praxisnäher auszugestalten . Wir schlagen jetzt als Grenze
die Anzahl 3 vor, damit wir das Verhältnis von Regel und
Ausnahme in die richtige Balance bringen . Der Vorwurf
des Bundesverfassungsgerichts lautete ja, dass wir den
Ausnahmefall zur Regel erklären . Ich glaube, wir müssen
den Regelfall zur Regel erklären . Das versuchen wir mit
diesem Ansatz .
Weil das Ausscheiden eines Mitarbeiters aus einem
kleinen Unternehmen natürlich eine besondere Auswirkung auf die Prozentzahlen hat, haben wir uns darauf
verständigt, die Anforderungen an die Lohnsumme bei
Unternehmen mit einer Mitarbeiteranzahl zwischen 4
und 15 zu reduzieren . So wird die Wirkung des Ausscheidens eines Mitarbeiters vernünftig abgebildet .
({8})
Ich weiß, dass es an dieser Stelle viele Diskussionen gibt,
aber, ich glaube, es ist ein richtiger Ansatz .
({9})
Zu den Punkten 3 und 4 des Bundesverfassungsgerichtsurteils: Gestaltungsanfälligkeit, 50 Prozent Verwaltungsvermögen . Wir schlagen an dieser Stelle vor, einen
neuen Ansatz zu wählen, von der seitherigen Definition
„Verwaltungsvermögen“ abzugehen und zu einer Definition „Hauptzweck“ zu kommen. Das heißt, wir definieren positiv, was wir verschonen wollen, und treffen
nicht eine Negativdefinition, in der wir erklären, was wir
nicht verschonen wollen. Die Negativdefinition war so,
dass wir eine Aufzählung hatten und Ausnahmen von der
Aufzählung und Rückausnahmen von der Aufzählung
gemacht hatten . Ich glaube, es ist vernünftig, hier einen
positiven und geraden Ansatz zu wählen . Das erspart
uns möglicherweise, Frau Präsidentin, dass wir in der
Zukunft noch öfter und länger über die Erbschaftsteuer
sprechen müssen . Ich hoffe, dass die Kollegen hier im
Haus und auch die Kollegen im Bundesrat damit eine
gute Grundlage für die anstehenden Gesetzesberatungen
haben, und hoffe im Interesse der Unternehmen und der
Arbeitnehmer in Deutschland, dass wir in dieser Diskussion zu einem guten Ergebnis kommen .
Vielen Dank .
({10})
Vielen Dank, Herr Staatssekretär . - Nächster Redner
ist der Kollege Richard Pitterle, Fraktion Die Linke .
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Liebe Zuhörer auf der Tribüne! Seit vielen Wochen und Monaten wird die Erbschaftsteuer auf
Betriebsvermögen von den Lobbyverbänden als todbringende Gefahr für den Mittelstand gegeißelt . Und ich sage
Ihnen vorweg: Ich kann dieses Märchen wirklich nicht
mehr hören .
({0})
Erst einmal zur Erinnerung: Das Bundesverfassungsgericht hatte Ende letzten Jahres verlangt, die weitreichenden Verschonungsregeln für Erbinnen und Erben
von Unternehmen bei der Erbschaftsteuer einzuschränken . Als dann das erste Eckpunktepapier des Finanzministeriums zur Erbschaftsteuerreform herauskam, brach
ein unfassbarer Propagandasturm der Lobbyisten los, der
den Teufel in Form des Endes des Mittelstandes an die
Wand gemalt hat .
Unter diesem Druck ist der Gesetzentwurf entstanden,
der heute vor uns liegt . Er besteht letztlich wieder aus
großzügigen Steuergeschenken an die Unternehmensdynastien . Die Linke wird dem nicht zustimmen .
Die Geschenke sehen so aus: Wird Betriebsvermögen vererbt, winken den Erbinnen und Erben, abhängig
vom Vermögenswert und unter der Voraussetzung, dass
sie das Unternehmen eine bestimmte Zeit weiterführen,
satte Verschonungsbeträge . Erbt man zum Beispiel ein
Unternehmen im Wert von 20 Millionen Euro und führt
man den Betrieb über sieben Jahre unter Einhaltung einer
bestimmten Lohnsumme für die Beschäftigten weiter, so
erhält man einen Abschlag von 100 Prozent .
({1})
Man muss also überhaupt keine Erbschaftsteuer zahlen .
Erbt man mehr als 26 Millionen Euro, so ist künftig eine Verschonungsbedarfsprüfung vorgesehen . Das
heißt, man muss, um in den Genuss einer Verschonung zu
kommen, darlegen, dass man sozusagen bedürftig ist und
die Steuerschuld nicht begleichen kann . Diese Prüfung
hat das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil angemahnt . Es ist eigentlich schon kaum vorstellbar, dass
jemand, der Unternehmensvermögen im Wert von zum
Beispiel 70 Millionen Euro erbt, bedürftig sein soll und
sich die Zahlung der Erbschaftsteuer nicht leisten kann .
Aber jetzt kommt der Hammer: Um den Wohlhabendsten unserer Gesellschaft noch weiter entgegenzukommen, wurde für Erbfälle über dieser besagten Grenze
von 26 Millionen Euro noch das sogenannte Abschmelzmodell eingeführt . Anstatt sich einer Bedarfsprüfung zu
unterziehen, können sie alternativ dieses Modell wählen
und bekommen bei Fortführung des Unternehmens immer noch einen satten Verschonungsabschlag, ganz egal,
wie viel sie erben und ob sie überhaupt bedürftig sind .
Wer Hartz IV bekommt, wird auf das Gründlichste
durchleuchtet, bevor gezahlt wird, aber bei den Reichen
macht man natürlich wieder eine Ausnahme, und das ist
eine Frechheit, meine Damen und Herren .
({2})
Es ist angesichts der genannten Zahlen auch absolut lächerlich, vom Ende des deutschen Mittelstands zu
sprechen . Das immer wiederkehrende Argument, dass
die Unternehmen und somit die Arbeitsplätze durch die
Erbschaftsteuer in ihrer Existenz gefährdet seien, ist an
den Haaren herbeigezogen . Folgende Fakten müssen von
allen Beteiligten endlich einmal zur Kenntnis genommen
werden:
Erstens . Bis heute ist kein einziger Fall bekannt, in
dem ein Unternehmen an der Last der Erbschaftsteuer
zugrunde gegangen wäre; wohlgemerkt: weder vor noch
nach Einführung der Verschonungsregeln im Jahr 2009 .
Sollte ein Unternehmen tatsächlich einmal aufgrund anstehender Erbschaftsteuerzahlungen in Schieflage geraten, was - ich muss es einfach wiederholen - noch nie
passiert ist, so ließe sich dies ganz einfach über eine
Stundung, im Extremfall sogar über einen Steuererlass
regeln .
Zweitens . Die Lobbyisten nutzen hier gern das romantische Bild des Familienunternehmens . Es geht aber bei
der vom Bundesverfassungsgericht angemahnten Verschärfung der Verschonungsregeln gar nicht um den kleinen Bäckereibetrieb oder das in dritter Generation geführte Familienhotel, sondern vor allem um schwerreiche
Unternehmensdynastien wie die Familie Quandt und Co .
Von der von den Lobbyisten verteufelten Bedarfsprüfung etwa sind nach dem jetzigen Entwurf gerade einmal
weniger als 2 Prozent aller Unternehmen in Deutschland
überhaupt betroffen .
Dritter und wichtigster Punkt: Auch hierzulande
nimmt die Vermögenskonzentration immer weiter zu .
Immer mehr Vermögen befindet sich in immer weniger
Händen . Mittlerweile besitzt 1 Prozent der Bevölkerung
in Deutschland ein Drittel des gesamten Vermögens,
während die unteren 50 Prozent, also die ärmere Hälfte
der Bevölkerung, gerade einmal 1 Prozent des Gesamtvermögens besitzt . Hier wäre die Erbschaftsteuer ein
adäquates Mittel, um dieser unheilvollen Entwicklung
und der fortschreitenden Spaltung der Gesellschaft entgegenzuwirken . Die derzeitigen Einkünfte aus der Erbschaftsteuer betragen aber weniger als 1 Prozent des
gesamten Steueraufkommens . Da ist noch reichlich Luft
nach oben - auch und gerade bei den Erbinnen und Erben
großer Unternehmensvermögen .
Ausgerechnet in der bayerischen Verfassung steht übrigens ein Satz, den ich Ihnen an dieser Stelle nicht vorenthalten will:
Die Erbschaftssteuer dient auch dem Zwecke, die
Ansammlung von Riesenvermögen in den Händen
einzelner zu verhindern .
Und auch im Grundgesetz steht:
Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich
dem Wohle der Allgemeinheit dienen .
Ich meine, diese beiden Verfassungsnormen sollten die
Richtschnur für diese Erbschaftsteuerreform sein .
({3})
Und wo wir gerade beim Verfassungsrecht sind: Meine
Damen und Herren von der Großen Koalition, ich streite
zwar gerne mit Ihnen über Ihre unbegründeten Ängste
bezüglich des deutschen Mittelstands . Dennoch will ich
Ihnen den Hinweis geben, dass Ihre ganze Dampfplauderei, mit der Sie Ihr Steuergeschenk durchs Plenum wuchten wollen,
({4})
am Ende umsonst gewesen sein wird . Wenn Sie nämlich
dieses Gesetz so verabschieden, wird der nächste Gang
nach Karlsruhe nicht lange auf sich warten lassen . Das
Bundesverfassungsgericht wird das Gesetz allein schon
wegen Ihres Abschmelzmodells kassieren, und das zu
Recht .
An Herrn Schäuble gerichtet, der heute nicht da ist,
aber die Diskussion sicherlich vor dem Fernseher verfolgt: Wenn es um die Sparauflagen für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Griechenland geht, dann zeigen
Sie unbarmherzige Härte . Nach unten lässt sich immer
leicht treten, aber bei der Lobby der Superreichen knicken Sie trotz der eindeutigen Hinweise des Bundesverfassungsgerichts sofort ein. Das finde ich, mit Verlaub,
beschämend .
({5})
Ganz besonders bitter ist für mich übrigens der Beitrag eines Teils der SPD bei diesem Trauerspiel . Ausgerechnet der SPD-Finanzminister meines Bundeslandes
hat Schäuble noch rechts überholt und eine noch umfassendere Verschonung der Erbinnen und Erben von Betriebsvermögen gefordert . Da kann man sich wirklich nur
noch an den Kopf fassen!
Ich hoffe, dass wenigstens die Grünen nicht einknicken, deren Stimmen für die Verabschiedung des Gesetzes im Bundesrat erforderlich sind .
Meine Damen und Herren, wie Sie es auch drehen
und wenden - am Ende gibt es für dieses riesige Steuergeschenk, das Sie den Unternehmenserbinnen und Unternehmenserben machen wollen, keine tragfähige Begründung . Das Mantra vom Untergang des Mittelstands
und von massenhafter Arbeitsplatzvernichtung ist der
allerletzte Quatsch . Die Verschonungsregelungen gehören ersatzlos gestrichen . Alle, auch die Unternehmenserbinnen und Unternehmenserben, müssen ihren Beitrag
für die Gemeinschaft leisten und die ihren Verhältnissen
angemessenen Steuern zahlen . Dafür wird zumindest die
Linke kämpfen .
Vielen Dank .
({6})
Vielen Dank . - Für die SPD-Fraktion spricht jetzt der
Kollege Lothar Binding .
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Zuschauer hier im Haus und auch an den Fernsehern! Als Dr . Meister vorhin das Modell sehr schön und
geschickt, wie ich fand, erklärt hat, da hat er gesagt, dass
bei dem Betrag von 26 Millionen Euro eine Grenze ist .
Bei einem geerbten Vermögen bis zu einem Betrag von
26 Millionen Euro wird man zu 100 Prozent verschont
bzw . kann eine 100-prozentige Verschonung erreichen .
Jetzt müssen Sie aufpassen: Jeder hier im Saal oder
von den Zuschauern, der mehr als 26 Millionen Euro
erbt, wird von dem Betrag, der die Summe von 26 Millionen Euro übersteigt, ein klein wenig versteuern müssen .
Erst ab einer Summe von weit mehr als 100 Millionen
Euro wird die Steuer, die wir uns überlegt haben, dann
überhaupt zur Geltung kommen .
({0})
Ich rate Ihnen also jetzt schon einmal zu ein bisschen
Panik; denn die Belastung von Vermögen oberhalb von
26 Millionen Euro wird Sie alle ereilen .
({1})
- Christian von Stetten muss jetzt seine Rede umschreiben . - Interessant ist: In der Gemeindeordnung von Baden-Württemberg steht, dass man, wenn der Anschein
der Befangenheit besteht, nicht an der Abstimmung teilnehmen darf . Wer sich jetzt einmal die Berichterstatter
der Union anschaut, kann sich seinen Teil denken .
({2})
Das Gute an dem Gesetz ist, dass wir die Erbschaftsteuer erhalten; das steht im Koalitionsvertrag . Das ist
sehr gut . Das Schlechte ist, dass wir die optimale Lösung noch nicht gefunden haben . Wir wissen: Der heute
vorliegende Gesetzentwurf ist nur ein Entwurf, und wir
stecken sehr tief im Suchprozess nach einem Kompromiss . Vor wenigen Stunden hat ja auch der Bundesrat
festgestellt, dass ihm einiges hinsichtlich der Verschonung zu weit geht . Es wird also sicher noch ein langer
Weg werden . Ich bin gleichwohl optimistisch, dass wir
einen Kompromiss finden. Wir kommen von sehr weit
auseinanderliegenden Positionen . Das zeigt schon, wie
sehr wir uns anstrengen müssen, einen Kompromiss zu
finden. Das ist der Charakter einer Großen Koalition, und
das ist auch gut so .
Außerdem ist es nicht allein unser Problem . Das Bundesverfassungsgericht hat ja schon drei Mal Korrekturen
verlangt: 1995, 2006 und 2015 . Jedes Mal hielt es die entsprechende Regelung für verfassungswidrig . Jetzt gibt es
also eine neue Aufgabe für uns . Daran sieht man schon:
Ganz so einfach ist es nicht . Jetzt könnte man natürlich
vermuten, dass das Bundesverfassungsgericht gesagt hat:
Ihr belastet den Bürger zu stark . - Denn normalerweise
will das Parlament vom Einzelnen immer zu viel Steuern .
Das ist doch die große Idee .
({3})
Weit gefehlt! Wir wurden gerügt, weil wir vom Einzelnen für die Gemeinschaft zu wenig Steuern verlangt haben . Es ist doch eine interessante Beobachtung, dass das
Bundesverfassungsgericht sagt, dass wir übervorsichtig
waren . Wir waren sozusagen verfassungswidrig übervorsichtig . Die Übervorsichtigkeit begann aber erst ab einem bestimmten Vermögen, über das nur die verfügen,
die richtig reich sind .
Ich finde, das Bundesverfassungsgericht hat eine gute
Entscheidung getroffen . Diese zeigt uns auch einen Weg .
Wir hatten 2008 die Besteuerung der Vermögensarten
am Verkehrswert orientiert, weil die vorherige Regelung ungerecht war . Das war sehr gut und hätte auch zu
Mehreinnahmen führen können . Leider haben wir diese
Mehreinnahmen, die wir gut hätten gebrauchen können,
sofort dadurch kompensiert, dass wir wieder Begünstigungen eingeführt haben . Dadurch wurde dieser schöne
Effekt, wenn man so will, wieder ruiniert . Das Dumme
war: Das war zu viel des Guten, und zu viel des Guten ist
das Schlechte .
Die Unternehmer waren jedenfalls hochzufrieden .
Das ist auch in Ordnung . Da schließe ich mich auch dem
an, was Dr . Meister gesagt hat: Natürlich wollen wir die
mittelständischen Strukturen in Deutschland erhalten .
Natürlich wollen wir Familienunternehmen erhalten . Wir
wären doch verrückt, wenn wir die Basis unseres Landes
zerstören wollten . Wer will denn das? Diese wollen wir
natürlich erhalten .
({4})
Wir wollen aber auch, dass sie sich fair an der Stärkung der Gemeinschaft beteiligen . Um noch einmal
auf die Verantwortung zurückzukommen: Man muss ja
schon sagen, dass zwischen den beiden Urteilen die Erben von Unternehmen durch eine vorweggenommene
Erbfolge mit allen denkbaren Nachhol- und Vorzieheffekten versucht haben, sich dieser marginalen und lächerlichen Steuer zu entziehen und dadurch Steuern in
Milliardenhöhe zu sparen . Da meine ich: Wenn wir uns
anstrengen, um mittelständische Strukturen und Familienunternehmen zu stärken, dann müssen diese sich auch
anstrengen, die Gemeinschaft zu stärken . Das ist etwas
Symmetrisches .
({5})
Was uns an dem Urteil sehr gefreut hat, war, dass der
Erhalt von Arbeitsplätzen im Interesse des Gemeinwohls
liegt . Das heißt, wir können den Erhalt von Arbeitsplätzen als Rechtfertigung benutzen, um Unternehmer bzw .
Erben von der Steuer zu befreien oder sie zumindest in
dieser Hinsicht zu privilegieren, wenn sie Arbeitsplätze
schaffen . Ich will trotzdem noch einmal eines erwähnen:
Jemand, der einen Arbeitsplatz schafft, schafft diesen ja
nicht, um keine Steuern zahlen zu müssen, sondern er
schafft ihn, weil er damit eine Ertragserwartung verbindet . Denn denjenigen, der einen Arbeitsplatz schafft, um
Verluste zu generieren, den möchte ich einmal kennenlernen . Der Arbeitsplatz ist nicht altruistisch, also selbstlos,
geschaffen, sondern zum Zwecke der Gewinnerzielung .
Hinsichtlich der Erbschaften haben mich manche Verbände sehr irritiert . Das, was vererbt wird, wurde natürlich zuvor vom Manager und dem Eigner erarbeitet . Es
wird aber gelegentlich vergessen, dass bei den richtig dicken Erbschaften von über 100 Millionen Euro auch der
eine oder andere Arbeitnehmer daran beteiligt gewesen
ist, dieses Vermögen zu schaffen . Auch das muss man in
den Blick nehmen, wenn man über Erbschaften redet .
({6})
Nachdem wir also bewiesen haben, dass wir verfassungswidrig sensibel sind, erschreckt mich - das muss
ich sagen - die simulierte Panik vieler Unternehmer .
Wenn ich sehe, wie dick der Stapel der Gutachten ist, wie
dick der Stapel von Briefen ist, die ich von Leuten bekomme, denen es richtig gut geht - deswegen schreiben
sie gar nicht selber; meistens schreibt uns eine Rechtsanwaltskanzlei -, wie viele Gespräche, Anrufe, Podiumsdiskussionen und Besuche wir durchführen mussten, wie
extrem hoch der Druck der Verbände, Vorstände, Einzelpersonen, Rechtsanwaltsbüros, Berater war, dann glaube
ich, dass wir uns davon frei machen müssen . Wir brauchen eine eigene Meinung hinsichtlich der Besteuerung,
({7})
damit sie gleichmäßig, gerecht und in angemessener
Höhe, die wir definieren, erhoben wird, die wir auch verantworten können .
Wir dürfen nicht vergessen, dass einer nicht anruft das hat mich total enttäuscht -: Das Gemeinwesen hat
überhaupt nicht angerufen .
({8})
Das Gemeinwesen hat nicht gesagt: Ihr müsst mehr Steuern einnehmen . Wir sorgen für Verkehrsinfrastruktur, wir
sorgen für innere Sicherheit . Wir schaffen eigentlich die
Basis für die Unternehmen, die die Gewinne erzielen, die
anschließend nicht versteuert werden sollen . - Da das
Gemeinwesen immer vergisst, anzurufen, müssen insbesondere wir uns darum gut kümmern . Ich glaube, wenn
wir an das Gemeinwesen denken, sind wir mit der Erbschaftsteuer auf einem guten Weg .
Jetzt will ich noch eine Lanze für die Unternehmer
brechen . Mir ist nämlich aufgefallen, dass es eine große
Diskrepanz gibt zwischen dem Bemühen der Verbände,
mit uns etwas zu erreichen, und den Einzelunternehmern .
Die Einzelunternehmer sagen mir in Gesprächen ganz
oft: Ich hätte gerne eine unbürokratische, einfache Steuer mit einem Satz, den wir aushalten . Lasst das andere
weg . - Das wäre eine synthetische Erbschaftsbesteuerung .
({9})
Dann würden die ganzen Sonderregelungen wegfallen
können . Was wir leider aus Zeitgründen versäumt haben,
ist, die anderen Modelle, die es gibt - vom Sachverständigenrat, vom Wissenschaftlichen Beirat beim BMF,
vom Bundesverband der Steuerberater und auch vom
Wirtschaftsministerium des Saarlands - näher zu untersuchen .
({10})
Wir sollten uns etwas stärker darum kümmern; denn
dann hätten wir eine gute Perspektive für eine Erbschaftsteuer . Wir werden an diesem Entwurf arbeiten . Ich bin
immer noch optimistisch, dass wir es schaffen, einen guten Kompromiss zu finden. Daran wollen wir arbeiten.
({11})
Vielen Dank . - Als Nächste hat Lisa Paus das Wort für
Bündnis 90/Die Grünen .
Das ist schwer zu toppen . Allerdings wäre es schön,
wenn dem auch Taten folgen würden .
({0})
Lothar Binding ({1})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In der
bayerischen Verfassung steht ein sehr schöner und klarer
Satz:
Die Erbschaftssteuer dient auch dem Zwecke, die
Ansammlung von Riesenvermögen in den Händen
einzelner zu verhindern .
({2})
Meine lieben Kollegen aus Bayern, Ihnen ist doch
auch sonst alles Bayerische so heilig . Daher frage ich Sie
heute: Warum halten Sie sich eigentlich mit Ihrer Politik
nicht an Ihre eigene Verfassung?
({3})
Eines steht außer Frage: Weder die derzeitige verfassungswidrige Regelung der Erbschaftsteuer noch der hier
heute vorliegende Gesetzentwurf werden diesem Zweck
gerecht, meine Damen und Herren . Sie wollen weiterhin sehr großzügige Befreiungen - das haben wir schon
gehört - bei einem Erwerb von Vermögen in Höhe von
bis zu 52 Millionen Euro für Unternehmenserben ohne
Prüfung gewähren, und das, wo man in Deutschland
im Durchschnitt 120 000 Euro erbt . In Berlin liegt der
Durchschnitt übrigens bei 65 000 Euro . Also: ein Erwerb
von 52 Millionen Euro ohne Prüfung für die Unternehmenserben, auch wenn nicht ein einziger Arbeitsplatz
gefährdet ist .
Worum geht es jetzt? Es geht um die Korrektur . Am
17 . Dezember hat das Bundesverfassungsgericht die derzeitige Erbschaftsteuerregelung für verfassungswidrig
erklärt . So mancher Nicht-Steuerexperte hat tatsächlich
erst infolge dieses Urteils mitbekommen, was die Große Koalition damals, 2008, beschlossen hat, was 2009
in Kraft getreten ist . Die bisherige Regelung ist schlichtweg unglaublich . Ich zitiere jetzt den Verfassungsrichter
Reinhardt Gaier, der es in der mündlichen Anhörung des
Bundesverfassungsgerichts so formuliert hat: Das geltende Erbschaftsteuergesetz ist eine Subventionierung des
Großkapitals .
({4})
Man kann es auch wissenschaftlich formulieren: Die
4,5 Milliarden Euro Erbschaftsteuer, die jährlich seit
2009 erhoben wurden, wurden fast ausschließlich von
der Mittelschicht gezahlt . Im Durchschnitt mussten diese Erben nämlich 14 Prozent Erbschaftsteuer pro Erbfall zahlen, während selbst Superreiche, etwa Erben von
DAX-Konzernen, wegen der Steuerfreistellung von Betriebsvermögen bestenfalls - wenn es hoch kam - 2 Prozent Erbschaftsteuer zahlen mussten . 19 Milliarden Euro
sind dem Fiskus dadurch bis 2013 verloren gegangen .
Deswegen hat das Bundesverfassungsgericht zu Recht
geurteilt:
Die Privilegierung betrieblichen Vermögens ist …
unverhältnismäßig, soweit sie über den Bereich
kleiner und mittlerer Unternehmen hinausgreift,
ohne eine Bedürfnisprüfung vorzusehen .
Zehn Monate später liegt jetzt ein Gesetzentwurf einer
Großen Koalition vor . Man muss leider konstatieren: Er
unterscheidet sich materiell kaum vom derzeitigen Gesetz . Das ist insbesondere für die SPD peinlich . Denn Sie
von der SPD hatten sich ja auch mal für eine höhere Besteuerung von großen Vermögen eingesetzt - Sie haben
es heute auch noch mal so formuliert -,
({5})
aber die Wahrheit ist, dass Wirtschaftsminister Gabriel,
Ihr Parteivorsitzender, genau das verhindert: die Besteuerung von großen Vermögen .
({6})
Wir Grüne legen bei der Umsetzung des Urteils drei
Kriterien an:
Erstens . Die Erbschaftsteuer muss wieder zu einer Gerechtigkeitssteuer werden .
Zweitens . Sie muss natürlich wirtschaftspolitisch vernünftig sein . Wir wollen die Wirtschaft in diesem Land
stärken und weiterentwickeln .
({7})
Drittens . Das Mindeste ist: Sie muss verfassungsfest
sein .
({8})
Gehen wir die Punkte durch: Ist der vorliegende Entwurf gerecht? Ich habe es schon deutlich gemacht: Er ist
es nicht . Ich mache es noch mal anhand anderer Zahlen
deutlich: Laut Bundesfinanzministerium - es sind nicht
unsere Zahlen, sondern die Zahlen des BMF - wären
schon nach dem Referentenentwurf, der eine Freigrenze
von 20 Millionen Euro pro Unternehmenserben vorsah,
mehr als 99 Prozent aller Unternehmenserben ohne irgendwelche Prüfungen steuerfrei geblieben . Das heißt
umgekehrt und in absoluten Zahlen: Ganze 80 Personen, vielleicht auch mal 100 Personen pro Jahr in ganz
Deutschland wären nach dem Schäuble-Entwurf überhaupt nur gefährdet gewesen, jetzt oder in Zukunft Steuern zahlen zu müssen, und auch das nur maximal bis zur
Hälfte ihres Privatvermögens, um Liquidität und Investitionsfähigkeit der Unternehmen nicht zu beeinträchtigen .
Jetzt, mit der hier auch schon angesprochenen weiteren
Erhöhung der Freigrenze auf 26 bzw . 52 Millionen Euro
für Familienunternehmen, verbunden mit der Option, das
Privatvermögen doch nicht offenlegen zu müssen, reden
wir vielleicht noch von ganzen 50 Fällen im Jahr . Und
die Betroffenen schreiben Briefe, Briefe, Briefe .
Meine Damen und Herren, der Gesetzentwurf sieht
keine Begrenzung des Steuerprivilegs auf kleine und
mittlere Unternehmen zum Zwecke des Erhalts von Arbeitsplätzen vor . Damit bleibt es dabei: Mit diesem GeLisa Paus
setzentwurf wird die Mittelschicht die Erbschaftsteuer
zahlen und die Leistungsfähigen in diesem Land eben
nicht . Deswegen ist sie nicht gerecht .
({9})
Ist die Erbschaftsteuer wirtschaftspolitisch vernünftig? Das ist ja Ihr Hauptargument . Dazu kann man zum
einen sagen: Der Wissenschaftliche Beirat beim BMF hat
schon vor mehreren Jahren festgestellt, dass die derzeitige Regelung nicht wirtschaftspolitisch vernünftig ist .
Das könnte man vom vorliegenden Gesetzentwurf auch
sagen .
Aber eine Regelung im Gesetzentwurf finden wir tatsächlich wirtschaftspolitisch vernünftig: die Begrenzung
der Steuerschuld auf die Zahlungsfähigkeit bezogen auf
das Privatvermögen. Wir finden in der Tat: Das ist eine
klare Ansage, wenn es darum geht, die Liquidität des Unternehmens nicht zu gefährden . Allerdings muss man im
weiteren Prozess noch sehen, wie man es gut abgrenzen
kann, damit es nicht zu Steuergestaltungen kommt .
Allerdings gibt es in diesem Gesetzentwurf noch weitere Punkte, zum Beispiel neue Halteregeln - nicht nur
bezogen auf die Lohnsumme -, die es ermöglichen, entsprechende Privilegien in Anspruch zu nehmen . Da darf
man jetzt 10 Jahre im Voraus und 30 Jahre nach Eintreten des Erbfalles, also 40 Jahre lang, sozusagen nichts
ändern, um massive Privilegien in Anspruch nehmen zu
können . Das ist schlichtweg wirtschaftspolitischer Irrsinn, weil es total ineffizient ist.
({10})
Der Hauptpunkt: Ich habe an vielen Gesprächsrunden
teilgenommen . Die meisten Experten sagen schon jetzt,
dass der vorliegende Gesetzentwurf verfassungswidrig
ist . Somit besteht nach wie vor eine massive Investitionsunsicherheit bei der deutschen Wirtschaft, und das ist
schlichtweg Gift für die Wirtschaft .
Seit einem Jahr wartet die Wirtschaft auf eine vernünftige Regelung, und sie ist immer noch nicht in Sicht . Der
vorliegende Gesetzentwurf ist sehr wahrscheinlich verfassungswidrig . Er wird sicherlich wieder vor dem Bundesverfassungsgericht landen . So ein Damoklesschwert
braucht Deutschland nicht . Investitionsunsicherheit zu
schüren, ist das wirtschaftspolitisch Schlechteste, was
man in Deutschland machen kann .
({11})
Ist der Gesetzentwurf verfassungsgemäß? Wie gesagt: Es gibt zahlreiche Experten, die das deutlich hinterfragen . Der erste wichtige Punkt - ich habe es schon
gesagt -: 99 Prozent der Unternehmenserben und mehr
werden von der Regel ausgenommen . Das Regel-Ausnahme-Verhältnis, das im Gesetz eigentlich beachtet
werden soll, wird eklatant verletzt .
Zweiter Punkt . Die Regelungen des Gesetzentwurfes
sind extrem gestaltungsanfällig . Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil festgehalten, dass allein diese
Gestaltungsanfälligkeit ein Grund für Verfassungswidrigkeit ist .
Drittens . Im Unterschied zum Referentenentwurf gibt
es im vorliegenden Gesetzentwurf keine Folgerichtigkeit
der Verschonungswege mehr . Auch deswegen wird er aus
meiner Sicht verfassungswidrig sein .
Es gibt übrigens inzwischen neue Zahlen zur Vermögenskonzentration in Deutschland . Das Deutsche Institut
für Altersvorsorge prognostiziert, dass in den nächsten
zehn Jahren die reichsten 2 Prozent der Deutschen ein
Drittel des Gesamtvolumens der Erbschaften auf sich
vereinen werden .
Ich komme zum Schluss . In der bayerischen Verfassung steht:
Die Erbschaftsteuer dient auch dem Zwecke, die
Ansammlung von Riesenvermögen in den Händen
einzelner zu verhindern .
Ich appelliere an Sie: Überarbeiten Sie also den vorliegenden Gesetzentwurf grundlegend . Auch Erbschaften
und Schenkungen von großen Betriebsvermögen müssen angemessen besteuert werden . Dann werden wir uns
auch wieder konstruktiv an der Debatte beteiligen .
Herzlichen Dank .
({12})
Vielen Dank . - Das Wort hat jetzt Antje Tillmann,
CDU/CSU-Fraktion .
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Zuschauerinnen und Zuschauer! Man sollte meinen, dass wir heute das Erbschaftsteuergesetz schon in
zweiter und dritter Lesung beraten . Wir diskutieren über
dieses Thema seit dem 26 . Februar dieses Jahres: zuerst
über die Eckpunkte, dann über den Referentenentwurf,
jetzt über den Gesetzentwurf . In zahlreichen verschiedenen Veranstaltungen sind wir immer wieder aufeinandergetroffen und haben über dieses Thema diskutiert .
Sie haben der Rede meines Kollegen Binding entnehmen können, dass es zwischen den Koalitionsfraktionen
durchaus noch Einigungsbedarf gibt . Aber solange das in
einer konstruktiven Stimmung ausgetragen wird, ist mir
das recht . Wir haben noch einiges zu bereden . Das sollten
wir auch tun . Sie können sich sicher sein, dass wir über
dieses Thema verantwortungsbewusst diskutieren und einen Kompromiss finden werden.
({0})
Die erforderliche Neuregelung haben nicht wir uns
ausgedacht . Vielmehr hat das Bundesverfassungsgericht - das ist mehrfach gesagt worden - uns ins Buch geschrieben, dass Betriebsvermögen nur aus zwei Gründen
anders besteuert werden darf als Privatvermögen: zum
einen, um mittelständische Strukturen in Deutschland
aufrechtzuerhalten, und zum anderen, um Arbeitsplätze
zu sichern .
Herr Kollege Pitterle, Sie erwecken den Eindruck, als
wollten wir den Tennis spielenden Nichtstuer begünstigen; das tun wir eben nicht . Vielmehr geht es um den
Arbeitnehmer und um die Arbeitnehmerin . Um deren Arbeitsplatz zu erhalten, schaffen wir bestimmte Begünstigungen bei der Besteuerung von erworbenen Betriebsvermögen .
Ich finde das Verhalten der Linken ausgesprochen
wenig konkludent; denn wenn in einer Stadt das größte
mittelständische Unternehmen pleitezugehen droht, dann
sind Sie die Ersten, die mit den Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmern demonstrieren, Sie sind die Ersten, die
Steuermittel für Auffanggesellschaften fordern, Sie sind
die Ersten, die sagen, der Staat muss dieses Unternehmen
retten . Wir gehen den anderen Weg . Wir bringen das Unternehmen erst gar nicht in Schwierigkeiten . Damit sind
die Arbeitsplätze gesichert . Ich glaube, unser Weg ist für
die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer der viel sicherere und der nervenschonendere .
({1})
Auch Sie, lieber Kollege Binding, haben vermutlich
überhaupt keine Probleme, Arbeitsplätze durch Subventionen zu sichern bzw . entstehen zu lassen . In den Kommunen werden Grundstücke vergünstigt zur Verfügung
gestellt . Es gibt eine GFAW-Förderung . Wir subventionieren die Schaffung von Arbeitsplätzen . - Das alles sind
Steuergelder . Aber an der Stelle, an der wir mit einem
Teil von Steuergeldern Arbeitsplätze, die schon da sind,
bestehen lassen wollen, haben Sie Probleme? Ich kann
nicht nachvollziehen, inwiefern das eine besser sein soll
als das andere . Wir glauben, es ist sehr viel leichter, einen
bestehenden Arbeitsplatz zu erhalten, als einen neuen zu
schaffen .
({2})
Deswegen beschreiten wir mit dem, was wir tun, den
richtigen Weg . Wir begünstigen wirklich nur das Betriebsvermögen .
Dass der Eindruck erweckt wird, dass der Unternehmenserbe demnächst keine Steuern zahlt, ist doch völlig
irre .
({3})
Es wird keinem einzigen Unternehmenserben gelingen,
nur Betriebsvermögen zu erben . Er wird natürlich auch
Privatvermögen erben, und das wird er ganz normal versteuern . Nach der Neuregelung wird er auch nichtbegünstigtes Betriebsvermögen, sogenanntes Verwaltungsvermögen, erben . Auch das wird er ganz normal versteuern,
sogar noch stärker als vorher, weil das Verfassungsgericht die Grenze für unschädliches Verwaltungsvermögen von 50 Prozent auf 10 Prozent reduziert hat .
({4})
Selbstverständlich wird er das Verwaltungsvermögen
versteuern .
Aus diesem Grund sind wir dankbar, dass es von der
Vorlage des Eckpunktepapiers bis zum jetzt vorliegenden
Gesetzentwurf einige Veränderungen gegeben hat:
Hinsichtlich der Lohnsummenprüfung steht im Gesetzentwurf jetzt eine Zahl von drei Mitarbeitern . Das
war ursprünglich anders vorgesehen . Man wollte den
Wert des Betriebsvermögens zugrunde legen . Wir sind
froh, dass wir jetzt wieder die Anzahl der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zugrunde legen, weil das für die
Unternehmen weniger bürokratisch ist, als das Betriebsvermögen zu berechnen . Ich bin auch froh, dass es eine
Gleitklausel gibt: zwischen 4 und 15 Mitarbeitern .
Ich bin mir manchmal nicht sicher, ob das, was hier
zur Freigrenze gesagt wird, draußen ankommt, und umgekehrt . Zur Erhöhung der Freigrenzen auf 26 Millionen
Euro bzw . auf 52 Millionen Euro sagen interessanterweise alle Verbände: Das ist ein reiner Placeboeffekt . Nicht
ein einziges Unternehmen wird unter diese Grenzen fallen . - Sie haben Bilder an die Wand gemalt, nach denen
die meisten Unternehmen demnächst 52 Millionen Euro
erbschaftsteuerfrei übergeben können . Irgendwo dazwischen liegt die Wahrheit . Die werden wir in den Anhörungen finden. Wir werden uns auch mit diesem Punkt
sehr intensiv befassen .
Lothar Binding, in einem bin ich mit Ihnen einer Meinung: Über den Ton der Verbände, die uns im Moment
aus meiner Sicht in ausgesprochen unangemessener Weise beschimpfen, obwohl wir uns wirklich Mühe geben ich sage das für die CDU/CSU-Fraktion ausdrücklich -,
eine Lösung zu finden, die die besonderen Beschränkungen bei Familienunternehmen widergespiegelt, bin ich
sehr verärgert .
({5})
Ich denke, die Angesprochenen wissen das . Die sollen
sich das ruhig einmal zu Herzen nehmen .
Abschließend möchte ich einen Appell an die Mitglieder des Bundesrates richten: Wir erleben heute den
Beginn einer Debatte über eine Ländersteuer . Die Erbschaftsteuer ist ausschließlich Länderaufkommen . Sie
wird von den Ländern verwaltet . Ich sehe hier keinen
Ländervertreter, der mitberät . Das mag daran liegen,
dass heute der Bundesrat tagt . Die Meinungen im Bundesrat über diese Steuer gehen aber noch weiter auseinander als die Meinungen von Lothar Binding und mir,
als die Meinungen von SPD und CDU/CSU . Das muss
sich ändern . Es ist Aufgabe der Länder, ihre Steuer zu reformieren . Ich erwarte, dass in den nächsten Wochen ein
abgestimmter Vorschlag der Ministerpräsidentinnen und
der Ministerpräsidenten vorgelegt wird, damit wir dieses
Gesetz gemeinsam reformieren und verfassungskonform
gestalten können, damit wir die Arbeitsplätze sichern
können . Das ist ausdrücklich unser Ziel .
({6})
Dabei haben wir natürlich auch die Bürokratie im
Auge . Frau Paus, diesbezüglich teile ich Ihre Auffassung: Eine Aufbewahrungs- und Nachweispflicht von
30 Jahren scheint mir für die Betriebe gar nicht so problematisch zu sein . Die werden die Belege schon aufbewahren können . Aber die armen Finanzbeamten, die bei
jeder Erbschaftsteuererklärung demnächst in den Keller
wandern, um 30 Jahre alte Akten herauszusuchen, bedauere ich sehr . Auch darauf werden wir einen Schwerpunkt
legen .
Wir wollen ein Gesetz, das möglichst wenig Bürokratie verursacht, das zu einer gerechten Besteuerung führt,
das Arbeitsplätze sichert, das Unternehmensübertragungen möglich macht und das natürlich auch sicherstellt,
dass ein gewisser Beitrag zum Allgemeinwohl geleistet
wird . Ich bin sicher, das werden wir schaffen . Die Debatte hat heute erst begonnen . Wir haben noch Zeit, um
endgültige Lösungen zu finden.
Ich danke Ihnen .
({7})
Vielen Dank . - Als nächste Rednerin hat Cansel
Kiziltepe von der SPD-Fraktion das Wort .
({0})
Frau Präsidentin! Als Erstes möchte ich ausdrücklich meine Kolleginnen und Kollegen vom Bundesrat in
Schutz nehmen: Der Bundesrat tagt zeitgleich . Der Bundesrat - das möchte ich Ihnen und Euch als Botschaft mitteilen - hat heute beschlossen - Ziffer 18 zum Erbschaftund Schenkungsteuergesetz -, dass die Abschmelzzone
in der im Entwurf vorliegenden Form abgelehnt wird und
die Sockelverschonung abgeschafft werden soll .
Der vorliegende Gesetzentwurf der Bundesregierung
ist durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom
Dezember vergangenen Jahres notwendig geworden . Es
ist nicht das erste Urteil des Verfassungsgerichts zu diesem Thema . Das haben wir schon mehrfach gehört . Gerade deshalb sollte es unser vorrangiges Ziel sein, dass
die zu findende Lösung auch eine verfassungsfeste Lösung ist, liebe Kolleginnen und Kollegen .
Das Erbschaftsteuer- und Schenkungsteuergesetz
hat in seiner heutigen Ausgestaltung Gültigkeit seit Anfang 2009 . Es gab also mehrere Reformen . Es gewährt
hohe persönliche Freibeträge . Für Ehepartner und Lebenspartner sind bis zu 500 000 Euro, für Kinder sind
bis zu 400 000 Euro steuerfrei . Diese persönlichen Freibeträge sind also so ausgestaltet, dass sich niemand Sorgen machen muss, dass die Übertragung des vielzitierten
Häuschens der Oma besteuert wird .
Das Bundesverfassungsgericht hat sich allein mit der
Praxis der Verschonungsregelung von Betriebsvermögen
auseinandergesetzt . Die gute Nachricht ist, dass wir als
Gesetzgeber den Arbeitsplatzerhalt als Ziel verfolgen
können . In Zukunft müssen wir aber unterscheiden zwischen denen, die dafür eine Verschonung von der Erbschaftsteuer brauchen, und denen, die diese Verschonung
dafür nicht brauchen .
Der Bundesfinanzminister hat im März solide Eckpunkte für die Diskussion vorgelegt, die zu großen Teilen
in den Gesetzentwurf eingeflossen sind, zu Teilen aber
auch nicht . Für die allermeisten Betriebe in Deutschland
konnten wir eine Lösung finden, die unkompliziert ist.
Diese orientiert sich an der Betriebsgröße gemäß Beschäftigtenzahl und der Einhaltung gewisser Lohnsummenregeln .
In Zukunft wird aber auch bei großen und größten
Erbschaften und Schenkungen geschaut werden müssen,
ob die Erwerber eine Verschonung wirklich nötig haben
oder nicht .
Jetzt komme ich zur Bedürfnisprüfung . Die Verfassungsrichter haben klargemacht: Je größer das Unternehmen ist, umso größer ist auch die Notwendigkeit, eine
Verschonung zu rechtfertigen . Sie haben auch klar herausgestellt, dass mit der steuerlichen Privilegierung unternehmerischen Vermögens nicht das Ziel verfolgt werden darf, einzelne Erben und Beschenkte zu verschonen .
Es geht immer um den Erhalt von Arbeitsplätzen - das
kann man nicht oft genug betonen -, aber nicht um die
Verschonung von hohen Erbschaften .
Insofern ist aus unserer Sicht die Einbeziehung des
Privatvermögens nicht nur folgerichtig, sondern auch
eine Frage der Gerechtigkeit . Wir brauchen diese Verteilungsgerechtigkeit in Deutschland, liebe Kolleginnen
und Kollegen .
({0})
Über die Grenze, ab der eine Bedürfnisprüfung notwendig werden soll, ist in den vergangenen Monaten viel
gesprochen worden . Die Eckpunkte vom März sahen eine
Grenze von 20 Millionen Euro je Erbfall vor . Im Gesetzentwurf stehen nun 26 Millionen Euro bzw . 52 Millionen
Euro, aber auch das reicht einigen nicht .
Wir alle, die sich intensiv mit dieser Neuregelung
der Erbschaftsteuer beschäftigen, sind seit Wochen und
Monaten mit dem massiven Druck der Lobbyarbeit konfrontiert . Vor allem angesichts dieses Drucks möchte ich
die Kolleginnen und Kollegen von CSU und CDU bitten:
Laufen Sie mit Ihren Forderungen bitte nicht denjenigen
hinterher, deren einziges Ziel es ist, keinen Cent Steuern
auf ihre Erbschaften zu zahlen!
({1})
Denn die Steuerausfälle durch die Überprivilegierung
des Betriebsvermögens sind enorm . Das Statistische
Bundesamt hat berechnet, dass zwischen 2009 und 2013
sage und schreibe 105 Milliarden Euro steuerfrei übertragen wurden. Hiervon profitieren vor allen Dingen große
Vermögen .
Im Rahmen des vorgeschlagenen Wahlrechts zwischen Bedürfnisprüfung und Abschmelztarif können
auch in Zukunft Erben von Milliardenvermögen selbst
dann steuerbefreit werden, wenn sie umfangreiches Privatvermögen besitzen, weil sie eben die Wahlmöglichkeit haben .
({2})
Erst ab 116 Millionen Euro bzw . ab 142 Millionen
Euro gilt - Stichwort „Sockelverschonung“ - eine Mindestbesteuerung . Dabei hatte das Bundesverfassungsgericht eine Bedürfnisprüfung für große und sehr große
Vermögen als zwingend angemahnt . Das fehlt hier noch .
Im Ergebnis führt das dazu, dass nur 0,2 Prozent der
Erbvorgänge über dem Schwellenwert für diese Mindestbesteuerung liegen . Somit werden weiterhin über
98,5 Prozent der Erben die Möglichkeit der Vollverschonung in Anspruch nehmen . Das halten wir für nicht verfassungsfest .
Diese Zahlen zeigen aber auch, dass nicht davon gesprochen werden kann, dass der gesamte Mittelstand
betroffen ist . Betroffen sind vielmehr nur einige wenige . Wie heute in der FAZ zu lesen war, hat mein Kollege
Christian von Stetten wieder einmal propagiert, dass wir
große deutsche Familienunternehmen nicht verstünden
und mit unserer Position dafür sorgen würden, dass diese
Deutschland verlassen würden .
({3})
- Genau . - Befangenheit, Herr von Stetten? Nein, glaube
ich nicht .
Diese Punkte werden wir uns im Gesetzgebungsverfahren ganz genau anschauen müssen . Alle Zweifel an
der Verfassungsfestigkeit müssen ausgeräumt werden .
Ich möchte an dieser Stelle auch auf die Beratungen
der Länder hinweisen . Ich hatte anfangs erwähnt, dass es
heute einen Beschluss dazu gab . Dem vorausgegangen
war ein Beschluss der Landesfinanzminister, die auch
Bedenken bei dem Abschmelzmodell haben . Die Mehrheit der Landesfinanzminister ist der Meinung, dass die
Schwelle für die Bedürfnisprüfung wieder gesenkt werden muss .
({4})
Sie sehen, die Liste an Fragen und Aufgaben ist lang .
Länder und Kommunen sind auf die Einnahmen angewiesen . Sie brauchen die Gelder für lange aufgeschobene
Zukunftsinvestitionen .
Ich möchte die Aufmerksamkeit auch noch auf einen
weiteren Punkt lenken; dieser kam in den letzten Monaten zu kurz . Drei Richter des Bundesverfassungsgerichts
haben ein Minderheitenvotum abgegeben, das wir ernst
nehmen müssen . Dieses besagt, dass die Erbschaftsteuer
nicht nur an der Sicherung von Arbeitsplätzen orientiert
werden kann, sondern es auch Instrumente bedarf, um
der zunehmenden Ungleichverteilung von Vermögen und
damit Macht und Lebenschancen entgegenzuwirken .
Artikel 20 unseres Grundgesetzes definiert Deutschland als Sozialstaat . Das vergessen viele immer wieder .
Die Erbschaftsteuer ist daher aus Sicht der drei Richter
ein zentrales Instrument, um der Vermögenskonzentration zu begegnen . Dieses Minderheitenvotum sollten sich
vor allem diejenigen zu Gemüte führen, die in den letzten Monaten mit dem Gedanken gespielt haben, die Erbschaftsteuer gleich ganz abzuschaffen . Das wird es mit
mir, das wird es mit uns, mit der SPD, nicht geben, liebe
Kolleginnen und Kollegen .
({5})
Wenn wir über die Erbschaftsteuer reden, dann reden
wir über diejenigen, die das Glück hatten, in die richtige
Familie geboren worden zu sein .
({6})
Die Zeit schrieb im Juni an die Adresse der zukünftigen
Erben: „Hört auf zu jammern!“ . Das Ziel der SPD ist es
nicht, größtmögliche Erbschaften abzusichern, sondern
im Rahmen der Verfassungsmäßigkeit Arbeitsplätze zu
erhalten und einen kleinen Beitrag zur Finanzierung des
Sozialstaates zu leisten .
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit .
({7})
Vielen Dank . - Als nächster Redner hat Christian Freiherr von Stetten von der CDU/CSU-Fraktion das Wort .
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
In der Tat: Es ist nicht das erste Mal, dass wir uns im
Deutschen Bundestag mit der Reform der Erbschaft- und
Schenkungsteuer beschäftigen . Das Bundesverfassungsgericht hat es so gewollt . Deswegen ist es wichtig und
richtig, dass wir uns in den nächsten Wochen intensiv mit
diesem Thema beschäftigen und - das ist mir besonders
wichtig - den Betroffenen in der Anhörung ausreichend
Gelegenheit geben, ihre Sorgen und Befürchtungen im
intensiven Dialog mit uns deutlich zu machen .
Herr Dr . Meister für die Bundesregierung und Antje
Tillmann, unsere finanzpolitische Sprecherin, haben für
unsere Fraktion deutlich gemacht, dass wir uns für eine
mittelstandsfreundliche Reform einsetzen und für eine
Reform, die von den großen Familienunternehmen in
Deutschland praktikabel umgesetzt werden kann . Der
Gesetzentwurf der Bundesregierung hat Lösungswege
vorgegeben, die wir für unsere Kleinbetriebe und den
Mittelstand brauchen . Herzlichen Dank auch für dieses
klare Bekenntnis zum Mittelstand . Für uns kommt es
jetzt darauf an, dass wir im vor uns liegenden Gesetzgebungsverfahren noch einige Feinjustierungen vornehmen . Denn am Ende brauchen wir eine Gesetzgebung,
die die besonderen Situationen und die besonderen Bedürfnisse der großen deutschen Familienunternehmen
ebenfalls berücksichtigt .
({0})
Diese Familienunternehmen sind Weltmarktführer,
sind Hidden Champions, lieber Lothar Binding, um die
uns die ganze Welt beneidet .
({1})
- Eben . Da sind wir stolz drauf . - Ob CDU-Minister oder
SPD-Minister, CSU-Minister oder grüne Ministerpräsidenten - davon haben wir leider auch einen -, weltweit
nehmen sie die Unternehmer mit, um zu zeigen, was die
besondere Unternehmenskultur in Deutschland bedeutet .
Deswegen ist es ganz wichtig, dass wir diese Unternehmen, die maßgeblich zum wirtschaftlichen Wohlstand in
unserem Land beitragen und sichere Arbeitsplätze am
Wirtschaftsstandort Deutschland sichern, im Gesetzgebungsverfahren berücksichtigen .
({2})
Um es klar zu sagen: Am Ende des Gesetzgebungsprozesses muss die Gefahr - die in einigen Einzelfällen
besteht -, dass Unternehmen und Unternehmer unser
Land wegen zu hoher Erbschaftsteuer verlassen, beseitigt
sein . Wenn Unternehmen das Land verlassen, weil sie die
Löhne nicht mehr zahlen können, weil sich Produktionstechniken verändert haben, weil vielleicht Kunden ins
Ausland gegangen sind und die Unternehmen deswegen
mitwandern, dann ist das ein Punkt . Aber wenn Unternehmen aufgrund zu hoher Erbschaftsteuer den Standort
verlassen, dann ist das ein Punkt, den wir nicht zulassen
dürfen .
Es sieht ja ganz gut aus, dass es uns gemeinsam gelingt, dafür zu sorgen, dass dies nicht passiert . Wenn ihr
Fachpolitiker - die unseres roten Koalitionspartners und
die der grünen Opposition - im Finanzausschuss das umsetzet, was eure Spitzenleute bei Unternehmensbesuchen
propagieren und in Sonntagsreden vor Unternehmerinnen und Unternehmern vortragen, dann können wir,
glaube ich, innerhalb kürzester Zeit einen vernünftigen
Gesetzentwurf, der Hunderttausende von Arbeitsplätzen
sichert, auf den Weg bringen und verabschieden .
({3})
Aber eines, lieber Lothar Binding und liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, ist klar: Das, was
ihr in eurem Wahlprogramm zur letzten Bundestagswahl
zur Erbschaftsteuer stehen hattet, können und werden wir
hier nicht umsetzen . Das, was auf Parteitagen von euch
beschlossen wurde, ist weder praxistauglich, noch ist es
für den Wirtschaftsstandort Deutschland Erfolg versprechend .
({4})
Ich bekomme, wie auch ihr, viele Briefe von betroffenen Unternehmern . Sie sind keine Lobbyisten . Sie sind
vielleicht Patrioten - aber auch das gefällt euch ja nicht -,
({5})
deutsche Patrioten, die ihre Unternehmen am Standort
Deutschland aufgebaut haben, in diesem Land bleiben
wollen, da sie hier ihre Mitarbeiter haben und hier Arbeitsplätze geschaffen haben, und die jetzt auf die katastrophalen Folgen hinweisen, die eventuell eintreten,
wenn wir im Gesetzgebungsverfahren einen Fehler machen . Deswegen ist das kein verbotener Lobbyismus .
({6})
Vielmehr erwarte ich von allen Betroffenen, egal in welchem Gesetzgebungsverfahren, dass sie auf ihre Abgeordneten - ob von Rot, Grün oder Schwarz - zugehen
und ihnen mitteilen, welche Punkte besonders wichtig
sind .
Was noch viel besser ist: Sehr viel mehr Briefe als von
betroffenen Unternehmern bekomme ich von Mitarbeitern von Familienunternehmen, die mir klarmachen: Ein
Familienunternehmen ist etwas ganz Besonderes .
({7})
Ich bekomme auch Briefe von Betriebsräten und gewerkschaftlich engagierten Bürgerinnen und Bürgern, die mir
mit dramatischen Worten verdeutlichen, welche Vorteile es hat, statt bei einem anonymen Börsenkonzern bei
einem familiengeführten Unternehmen zu arbeiten, bei
einem Unternehmer, den man kennt,
({8})
den man persönlich ansprechen kann und der nicht im
erbschaftsteuerfreien Ausland wohnt . Sie schreiben mir
mit Begeisterung, dass sich Familienunternehmer in der
letzten Krise Sorge um jeden einzelnen Arbeitsplatz gemacht haben, dass privates Kapital in das Unternehmen
gesteckt worden ist und dass man zusammengerückt ist,
um die Krise gemeinsam - Familienunternehmer und Belegschaft - zu meistern .
Sie schreiben mir auch vom sozialen und kulturellen
Engagement der Unternehmer, das aber dann abbricht,
wenn der Unternehmer nicht mehr am Sitz des Unternehmens, sondern ins Ausland verzogen ist . Sie schreiben
mir auch - Dr . Meister hat es angesprochen - von den besonderen Strukturen, auch von den kulturellen Strukturen
in einem solchen Unternehmen, die es so wahrscheinlich
nur in unserem Land gibt .
Sie haben Angst um die Arbeitsplätze und befürchten
einen Wettbewerbsnachteil, der dadurch entstehen könnChristian Freiherr von Stetten
te, dass der Unternehmer in Deutschland wohnt . Ja, es
ist klar: Börsennotierte Unternehmen oder ausländische
Unternehmen müssen eine eventuell zu erwartende Erbschaftsteuer bei der Preisfindung nicht berücksichtigen.
Wenn das Werkstück in Deutschland produziert wurde
und es deswegen einige Prozentpunkte oder Cent teurer
ist als das im Ausland produzierte, dann erweisen wir uns
damit sicherlich einen Bärendienst .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, zum Schluss möchte
ich klarmachen: Im jetzt beginnenden parlamentarischen
Verfahren werden wir uns intensiv mit den Betroffenen
austauschen . Wir geben auch in unserem Gesetzentwurf
ein klares Bekenntnis zu unseren Familienunternehmen
ab . Es würde mich freuen, wenn auch die Kolleginnen
und Kollegen dieses klare Bekenntnis im Ausschuss abgeben würden und dies auch bei der abschließenden Beratung unseres Gesetzentwurfes, über den wir jetzt diskutieren, deutlich würde .
Herzlichen Dank .
({9})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich habe die Bitte,
sich an die Redezeit zu halten . Wir sind nämlich schon
eine halbe Stunde in Verzug, inzwischen wahrscheinlich
schon 35 Minuten . Ich bitte, das in Erinnerung zu behalten .
Als nächster Redner hat Philipp Graf Lerchenfeld von
der CDU/CSU-Fraktion das Wort .
({0})
Vielen Dank, Frau Präsidentin . - Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Hohes Haus! Nachdem die bayerische Verfassung hier mehrfach zitiert worden ist, möchte
auch ich sie zitieren . Zunächst einmal ist festzustellen,
dass es nach unserer Verfassung eine eigene bayerische
Staatsangehörigkeit gibt . Das ist auch gut so .
({0})
Daneben steht in Artikel 153 - ich empfehle Ihnen allen, diesen Artikel zu lesen -:
Die selbstständigen Kleinbetriebe . . . in Landwirtschaft, Handwerk, Handel, Gewerbe und Industrie
sind in der Gesetzgebung und Verwaltung zu fördern und gegen Überlastung und Aufsaugung zu
schützen .
({1})
Was tun wir anderes, indem wir jetzt den Auftrag des
Bundesverfassungsgerichts erfüllen und einen verfassungsfesten Gesetzentwurf zur Erbschaftsteuer vorlegen?
({2})
Ein ganz besonderer Punkt in dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts war, dass es die Verschonung
gewisser Vermögensarten grundsätzlich zugelassen
hat . Dazu zählen auch - das möchte ich betonen - das
selbstbewohnte Haus und das Betriebsvermögen . Als
Hauptzweck - um in der Sprache des Gesetzestextes zu
bleiben - sind die Sicherung und Erhaltung von Arbeitsplätzen der typisch deutschen Unternehmenslandschaft
zu nennen .
Die tragende Säule der deutschen Wirtschaft sind mittelständische, familiengeprägte Unternehmen, die sich
gerade in den Zeiten der Wirtschaftskrise, also noch vor
kurzem, als Stabilitätsanker und Arbeitsplatzgarant erwiesen haben .
({3})
Diese einzigartige Unternehmensstruktur müssen wir
erhalten . Wir dürfen nicht zulassen, dass die Unternehmensnachfolger durch ein falsch ausgestaltetes Gesetz
gezwungen werden, Unternehmen zu verkaufen oder
Investitionen hintanzustellen, weil sie zu hohe Steuerbelastungen haben .
Unsere mittelständischen Unternehmen - das hat
Christian von Stetten schon ganz richtig gesagt - stehen im internationalen Wettbewerb mit Unternehmen,
die sich über den Kapitalmarkt finanzieren und damit
eine ganz andere Kapitalstruktur haben als unsere Unternehmen . Wir müssen damit rechnen, dass es bei einer falschen Gesetzgebung auf Dauer zu einer massiven
Veränderung der Kapitalstruktur deutscher Unternehmen
kommen wird .
({4})
In den letzten Jahren ist es den meisten mittelständischen Unternehmen gut gegangen . Die Wirtschaftslage
hat dazu geführt, dass Eigenkapital wieder aufgebaut
werden konnte . Auf diese Art und Weise wurde auch
das Rating der Unternehmen verbessert . Ich erinnere mich daran, dass die Unternehmen vor einiger Zeit
noch Schwierigkeiten hatten, Kredite aufzunehmen, weil
das Rating aufgrund des so geringen Eigenkapitals so
schlecht war .
({5})
Natürlich würde eine Steuerbelastung durch die Erbschaftsteuer jetzt wiederum in das Rating der Finanzinstitutionen einfließen und gegebenenfalls dafür sorgen,
dass sich mittelständische Unternehmen wieder schlechter refinanzieren können. Das müssen wir verhindern.
Wir dürfen den Unternehmern den Zugang zu Kreditmitteln nicht erschweren .
({6})
Sicherlich sind bei dem Gesetzentwurf, der jetzt vorliegt, noch einige Baustellen offen . Hier werden wir vernünftige und in der Praxis auch handhabbare Regelungen
finden.
Wir werden noch viele Detailfragen beantworten müssen: Der Begriff „begünstigtes Vermögen“ ist sicherlich
noch genauer zu definieren. Auch Fragen hinsichtlich des
Finanzmitteltests und der Aufteilung bzw . der Verrechnung der Schulden müssen beantwortet werden . Daneben müssen wir uns damit beschäftigen, dass eine Doppelbelastung durch Erbschaft- und Einkommensteuer zu
dramatischen Problemen führen kann . Der Umfang des
einzubeziehenden Privatvermögens wird uns ebenso beschäftigten wie die Aufgriffsgrenzen bei entsprechenden
gesellschaftsvertraglichen Bindungen der Anteilseigner,
und nicht zuletzt müssen wir uns auf jeden Fall auch mit
der vereinfachten Bewertung auseinandersetzen; denn
die jetzige Ausprägung führt zu total unrealistischen
Werten .
({7})
Wir sollten in unsere Überlegungen natürlich auch
einbeziehen, was inzwischen im Bundesrat diskutiert und
beschlossen worden ist . Dort wurden einige sicherlich
nicht uninteressante Vorschläge gemacht . Ich denke hier
zum Beispiel an die Verkürzung der Fristen bei Kapitalbindungen, die wir gut in den Gesetzentwurf übernehmen können . Wir müssen in den nächsten Wochen darum
ringen, administrative Holpersteine in diesem Gesetz zu
entfernen und unnötige Belastungen für die Unternehmen zu vermeiden .
({8})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es geht jetzt bei
dieser Reform nicht darum, vorgefasste ideologische Gedanken zu verwirklichen, sondern es geht ausschließlich
darum, Arbeitsplätze in unseren mittelständischen Unternehmen jeder Größenordnung zu erhalten . Ich appelliere
deshalb an alle, die sich in den nächsten Wochen mit diesem Gesetzentwurf beschäftigen werden, ideologische
Scheuklappen abzulegen und sich ausschließlich auf den
Erhalt der einzigartigen Unternehmenslandschaft mit
vielen Tausend Arbeitsplätzen zu konzentrieren .
Ich wünsche uns gute und vor allem vernünftige Beratungen . Unsere deutsche Wirtschaft, die eben nicht überwiegend aus börsennotierten Großkonzernen, sondern
aus familiengeprägten mittelständischen Unternehmen
besteht, ist es wert, dass wir uns alle um ein vernünftiges
Gesetz zur Besteuerung von Unternehmensübergängen
bemühen .
Vielen Dank .
({9})
Vielen Dank . Die Redezeit wurde hervorragend eingehalten . - Liebe Kolleginnen und Kollegen, interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 18/5923 an die in der Tagesordnung aufgeführten
Ausschüsse vorgeschlagen . Gibt es anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall . Dann ist die Überweisung so beschlossen .
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 25 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung
der Wohnimmobilienkreditrichtlinie
Drucksache 18/5922
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz ({0})
Finanzausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen . - Ich höre dazu
keinen Widerspruch . Dann ist das so beschlossen, und ich
kann die Aussprache eröffnen . Als erster Redner hat der
Parlamentarische Staatssekretär Ulrich Kelber das Wort .
({1})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Wir kommen nun von den glücklichen Erben
großer Vermögen - auch Immobilienvermögen - zu denjenigen, die sich eine Immobilie Stück für Stück sparsam
über einen Immobilienkredit erarbeiten müssen .
Mit dem Gesetz zur Umsetzung der Wohnimmobilienkreditrichtlinie - also der europäischen Richtlinie - stärken wir den Verbraucherschutz bei der Vergabe und der
Vermittlung solcher Immobilienkredite . Zudem setzen
wir zwei Vorhaben des Koalitionsvertrages um: Es wird
die Honorarberatung bei Immobilienkrediten eingeführt,
mit ihr bauen wir die unabhängige Beratung weiter aus .
Außerdem schaffen wir ein verpflichtendes Beratungsangebot bei dauerhafter und erheblicher Inanspruchnahme
eines Dispokredites .
Ein Immobilienkredit ist durchaus mit erheblichen finanziellen Risiken verbunden . Mit den neuen Regelungen werden wir Verbraucherinnen und Verbraucher besser vor möglichen Fehlentscheidungen schützen, indem
wir die Transparenz und Vergleichbarkeit der Produkte
erhöhen . Künftig müssen Verbraucherinnen und Verbraucher vor Vertragsabschluss besser über die wesentlichen
Inhalte des Angebots informiert werden . Die Kreditwürdigkeit muss strenger geprüft werden, um auch im Verbraucherinteresse unverantwortliche Kreditvergaben zu
vermeiden .
Wer zukünftig Beratungsleistungen bei Abschluss eines Kreditvertrages erbringen möchte, muss Verbraucher
transparent beraten und bestimmte Standards einhalten .
Der Verkauf von mit anderen Finanzprodukten gekoppelten Immobilienkrediten ist nur noch in einigen Fällen
zulässig . Außerdem schützen wir die Verbraucherinnen
und Verbraucher vor den Risiken von Fremdwährungskrediten .
Die in Deutschland vorherrschende Kultur, Immobilienkredite mit festen Zinsen zu vergeben, hat sich in der
Finanzkrise als Vorteil erwiesen . Mit der Umsetzung der
Wohnimmobilienkreditrichtlinie stärken wir diese Kultur . Sie liegt gerade auch im Interesse von Verbraucherinnen und Verbrauchern .
Wir wollen die Anforderungen an die Vermittlerinnen
und Vermittler verschärfen . Sie müssen nachweisen, über
spezifische Sachkunde zu verfügen. Sie müssen bei der
Beratung bestimmte Qualitätsstandards einhalten und
über eine Haftpflichtversicherung verfügen.
Wir bauen auch die Honorarberatung weiter aus . In
Zukunft wird es den Honorarberater geben . Wer diese
Funktion innehaben will, darf keine Provision von Kreditgebern mehr annehmen . Er wird ausschließlich von
seinen Kundinnen und Kunden bezahlt, die dann wissen,
dass die Beratung unabhängig erfolgt . Der Honorarberater dient nicht der Bank, er dient den Verbraucherinnen
und Verbrauchern .
Außerdem verbessern wir den Verbraucherschutz bei
Dispokrediten . Wenn Verbraucherinnen und Verbraucher in der sogenannten Dispofalle stecken, wird ihnen
in Zukunft ein Beratungsgespräch über Alternativen zum
Dispokredit angeboten . Wir wissen aus Erhebungen, dass
viele Verbraucherinnen und Verbraucher nicht darüber
informiert sind, dass es selbst in dieser Situation oft noch
preisgünstige Alternativen für sie gibt .
Darüber hinaus soll rechtzeitig vor den Folgen einer
dauerhaften Inanspruchnahme eines Dispokredites gewarnt werden . Ich freue mich, dass sich die Kreditwirtschaft bereit erklärt hat - über das hinaus, zu dem wir
sie nach europäischem Recht rechtlich verpflichten können -, ihre Kunden mit einem Warnhinweis zu informieren .
Die Banken werden überdies dazu verpflichtet, die
Höhe ihrer Kreditzinsen auf ihrer Website gut sichtbar
darzulegen . Hierdurch versetzen wir Verbraucherinnen
und Verbraucher in die Lage, Zinssätze, Konditionen und
Bedingungen für Girokonten schnell und einfach miteinander zu vergleichen . Wir setzen über Transparenz auf
den Wettbewerb . Es wird schwer, von den Verbraucherinnen und Verbrauchern unangemessen hohe und vorher
nicht bekannte Dispozinsen zu verlangen .
Wir mussten immer wieder feststellen, zuletzt in einer Untersuchung der Stiftung Warentest, dass selbst
bekannte Institute versucht haben, die Verbraucherinnen
und Verbraucher nicht zu informieren, zum Beispiel über
die Höhe von Dispokrediten . Das ist schlicht ein Fall von
unseriösem Geschäftsgebaren .
({0})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, durch eine
transparente und verantwortungsvolle Kreditvergabe
wird die im Verbraucherinteresse liegende Kultur von
festverzinslichen Krediten in Deutschland weiter gestärkt . Wir wollen, dass Kredite für Verbraucherinnen
und Verbraucher bezahlbar bleiben, damit sie sich ihren
Traum von einer eigenen Immobilie erfüllen können .
({1})
Wir erleichtern die unabhängige Beratung, damit ich
weiß, dass derjenige oder diejenige, die mich berät, auf
meiner Seite ist und ich wirklich die besten Konditionen vermittelt bekomme . Aus Erfahrung wissen wir: Ein
nach einer bezahlten, unabhängigen Beratung vermittelter Kredit ist oft günstiger als ein Kredit, der auf Provisionsbasis durch eine Bank vermittelt wurde .
Ein transparenter Wettbewerb wird außerdem - davon
bin ich fest überzeugt - zur Senkung der Höhe der Dispozinsen führen . In einer solchen Landschaft können Werte
von 10 Prozent und mehr nicht gehalten werden .
Für diese Vorhaben bitte ich Sie um Ihre Unterstützung bei den bevorstehenden Beratungen .
Vielen Dank .
({2})
Ebenfalls vielen Dank . - Als nächste Rednerin hat
Caren Lay von der Fraktion Die Linke das Wort .
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Für viele Menschen ist der Bau oder Kauf eines
Eigenheims ein ganz großer Traum . Darauf wird jahrelang hingearbeitet, dafür wird jahrelang gespart . Die allermeisten können das aber alleine nicht stemmen . Sie
sind also auf einen Kredit angewiesen .
Ausgerechnet da, wo es um diese Kredite geht, gibt
es viele versteckte Kosten, weil die Banken denken, dass
sie bei dieser Gelegenheit ordentlich mitverdienen können . Weil es eben für die meisten Menschen der größte
Kauf ist, den sie im Leben tätigen, ist das Ausmaß der
versteckten Kosten und der Verbraucherabzocke hier besonders hoch . Deswegen, denke ich, ist es völlig unstrittig, dass Häuslebauer gesetzlich besser geschützt werden
müssen .
({0})
Ich finde es allerdings umso bedauerlicher - da habe
ich an zwei Punkten eine andere Einschätzung -, dass
die Bundesregierung an einigen Stellen im vorliegenden
Gesetzentwurf nicht die Möglichkeiten nutzt, die die EU
hier bietet . Es ist im Verbraucherschutz ein ganz typischer Vorgang: Zuerst zwingt die EU Sie zum Handeln .
Dann werden die Spielräume, die uns Brüssel lässt, von
der Bundesregierung nicht genutzt .
Kommen wir beispielsweise zu dem Merkblatt, auf
dem alle wichtigen Informationen stehen sollen . Das
sieht auf den ersten Blick nicht schlecht aus . Auf den
zweiten Blick finde ich das etwas mutlos. Wir kennen die
Debatte von den sogenannten Beipackzetteln bei Finanzprodukten . Aus dieser Erfahrung wissen wir, dass diese
Merkblätter nur dann etwas nutzen, wenn es Mindestanforderungen gibt und wenn diese Merkblätter standardisiert sind . Wir sagen: Die Regeln an dieser Stelle müssen
deutlich konkretisiert werden, damit sie überhaupt etwas
nützen .
({1})
Dass Provisionen, die sich ergeben, offengelegt werden und dass die Honorarberatung eingeführt wird, ist
zweifellos ein wichtiger Schritt . Wir wissen, dass viele
Kreditvermittler auf Provisionsbasis arbeiten . Das lädt
natürlich dazu ein, dass die Interessen der Bank Vorrang
gegenüber den Interessen der Häuslebauer bekommen .
Denn je teurer der verkaufte Kreditvertrag ist, desto höher ist am Ende die Provision .
Wir halten die Provisionsberatung für den falschen
Weg . Es geht um eine Stärkung der Honorarberatung,
und vor allen Dingen geht es auch um eine Stärkung der
Verbraucherzentralen . Denn die unabhängige Beratung
durch die Verbraucherzentralen halten wir für den richtigen Weg .
({2})
Ein Fall, der aus meiner Sicht hätte geregelt werden
sollen: Wenn ein Kreditnehmer, also ein Häuslebauer,
seinen Kredit früher zurückzahlen will, weil er beispielsweise eine Gehaltserhöhung bekommen hat, zocken die
Banken ordentlich ab . Eine Studie hat ergeben, dass für
eine vorzeitige Kreditrückzahlung 15 bis 20 Prozent fällig werden . Wir sagen: Das muss unterbunden werden .
Wir brauchen endlich klare Obergrenzen . Ich habe wenig Verständnis dafür, dass diese Möglichkeit, die die EU
eingeräumt hat, von Deutschland nicht genutzt wird . Hier
muss der Gesetzentwurf nachgebessert werden .
({3})
Wenn man schon über Immobiliendarlehen redet,
dann sollte man in diesem Zusammenhang auch über andere Verbraucherdarlehen reden, wie es die Verbraucherzentralen und die Verbraucherverbände auch fordern .
Nehmen wir beispielsweise die Restschuldversicherungen. Auch sie sind ein lukratives und häufig verstecktes
Zusatzgeschäft für die Banken, das für die Verbraucherinnen und Verbraucher zwar einen höheren Preis bedeutet - was sie bei Vertragsabschluss häufig gar nicht erkennen können -, ihnen im Endeffekt aber wenig bringt .
Der Vorschlag lautet, dass das automatisch in den Effektivzins mit eingerechnet wird, der dadurch höher ausfallen würde . Dann könnten die Verbraucher von vornherein sehen, dass es sie teuer zu stehen kommt . Ich bin
mir sicher, dass diese häufig unsinnigen Versicherungen
dann den Verbrauchern nicht mehr so leicht unterzujubeln wären .
Zu guter Letzt zum Dispozins . Wir fordern als Linke
seit sieben Jahren, dass die Dispozinsen gesetzlich gedeckelt werden müssen . Im Bundestagswahlkampf hat die
SPD sich dieser Forderung angeschlossen, und in jeder
Wahlkampfrede wurde die Abzocke durch die Banken
gegeißelt, und zwar zu Recht. Deswegen finde ich es
enttäuschend, dass dieser Gesetzentwurf nichts weiter
vorsieht als die Herstellung von Transparenz . Das mag
ja schön und gut sein, aber wenn alle Banken in einer
Art Kartellabsprache nur Dispozinsen zwischen 8 und
12 Prozent anbieten, dann gibt es gar keine Wahlfreiheit
für die Verbraucherinnen und Verbraucher .
Deswegen sagen wir: Die Dispozinsen müssen gesetzlich gedeckelt werden, und zwar auf 5 Prozent über dem
Leitzinssatz . Das ist der einzige richtige Weg, um diese
Abzocke der Banken endlich zu beenden .
Vielen Dank .
({4})
Vielen Dank . - Als nächster Redner hat Dr . Stefan
Heck von der CDU/CSU-Fraktion das Wort .
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
„Auf diese Steine können Sie bauen“: So lautet ein Werbeslogan, der uns allen bekannt ist . Dieser Satz steht
nicht nur für einen großen Anbieter auf dem Baufinanzierungsmarkt; er steht auch für unser deutsches Baufinanzierungssystem in seiner Gesamtheit .
Im europäischen Vergleich gehören wir noch immer
zu den Ländern mit den niedrigsten Zinsen im gesamten
Immobilienfinanzierungsbereich. Eine Studie zu Beginn
dieses Jahres hat gezeigt, dass Darlehen mit zehnjähriger
Zinsbindung in unserem Nachbarland Frankreich immerhin 0,8 Prozentpunkte teurer sind als in Deutschland, in
Großbritannien und Italien jeweils ganze 2 Prozentpunkte und in Spanien sogar 2,73 Prozentpunkte . Das heißt im
Klartext: Bei einem Hausbau mit den üblichen Kreditkonditionen sind die Kosten für einen zehnjährigen Kredit in Deutschland oftmals um einen hohen fünfstelligen
Betrag niedriger als in unseren Nachbarländern .
Hinzu kommt die nach wie vor große Solidität unseres Bankensektors . Die globale Finanzkrise ist am
Subprime-Markt und eben nicht im deutschen Festzinssystem ausgebrochen .
Unser Bankensystem ist zwar nicht ganz ohne Blessuren aus der Krise gekommen, aber wir haben sie doch
wesentlich besser meistern können als viele unserer europäischen Partner . Darauf können wir stolz sein, und das
wollen wir auch in Zukunft bewahren .
Im Zuge der Umsetzung der europäischen Wohnimmobilienkreditrichtlinie wollen wir unser funktionierendes Baufinanzierungssystem ergänzen und weiter befestigen . Den ersten Baustein hatte ich bereits erwähnt: Es
ist das deutsche Festzinssystem . Es ermöglicht seit vielen
Jahren den Verbrauchern sichere und planbare Darlehensmöglichkeiten, damit der Traum vom Eigenheim auch in
Erfüllung gehen kann . Weil auch Banken langfristig planen müssen, profitieren die Verbraucher wiederum von
im internationalen Vergleich niedrigen Zinshöhen .
Dies führt mich bereits zum zweiten wichtigen Baustein, den wir bewahren werden . Es sind das Prinzip
der Vertragsfreiheit und der damit verbundene Grundsatz „pacta sunt servanda“ . Die langfristige Bindung an
wechselseitige Vorteile ist für beide Seiten gut, einerseits
für die Verbraucher, andererseits für die Banken . Deswegen sind wir der festen Überzeugung, dass das vertragliche Gleichgewicht zwischen beiden Seiten nicht durch
gesetzgeberische Maßnahmen gestört werden darf . Ein
vorzeitiger Ausstieg aus einem Kreditvertrag mit zumeist langfristiger Bindung muss daher im Rahmen der
vertraglichen Vereinbarungen auch in Zukunft eine entsprechende Vorfälligkeitsentschädigung zur Folge haben
können . Sonst bestünde für die Banken hinsichtlich ihrer
Refinanzierung keine Planungssicherheit mehr. Beispiele
dafür erleben wir unter anderem in den USA . Dort wird
keine Vorfälligkeitsentschädigung gefordert, mit der Folge, dass alle Verbraucher höhere Zinsen für ihre Kredite
zahlen müssen . Das wollen wir als CDU/CSU-Fraktion
in Deutschland so nicht hinnehmen .
({0})
Richtig hingegen ist - ich glaube, diese Überzeugung teilen wir alle -, dass der Vermittler dem Verbraucher genau
und verständlich erklären muss, zu welchen Modalitäten
eine vorzeitige Rückzahlung möglich ist, wie die Vorfälligkeitsentschädigung berechnet wird und wie hoch sie
am Ende werden kann .
Damit komme ich zum dritten Baustein, auf den wir
weiterhin bauen werden und der untrennbar mit der Vertragsfreiheit verbunden ist: Verbraucherschutz durch
Transparenz . Um den Verbrauchern mehr Klarheit über
den Inhalt des Festzinsdarlehensvertrags zu verschaffen,
sieht der Gesetzentwurf eine detaillierte Beratung vor, in
der der Vermittler eine individuelle Empfehlung zu einem Produkt abgibt . Eine zwingende Kreditwürdigkeitsprüfung soll gewährleisten, dass dem Verbraucher keine
unzumutbare Kreditlast auferlegt wird . Der Darlehensvermittler muss zukünftig Sachkunde und Zuverlässigkeit nachweisen .
Die Koalition wird die Gelegenheit nutzen - Sie haben
das bereits angesprochen -, um Transparenz in einem anderen Finanzierungsbereich zu schaffen . Ich spreche von
den wichtigen Neuregelungen bei den Dispokreditzinsen . Kunden, die über längere Zeiträume den Dispositionskredit in erheblicher Höhe in Anspruch nehmen, werden künftig über günstigere Finanzierungsmöglichkeiten
beraten . So wollen wir sicherstellen, dass die Kunden
umfassende Informationen über mögliche Alternativen
erhalten. Die Kreditinstitute werden verpflichtet, die
Höhe ihrer Dispozinsen transparent auf ihrer Webseite
zu veröffentlichen . Dadurch wollen wir die Position der
Verbraucher bei Dispokrediten weiter stärken .
Gleichzeitig müssen wir feststellen, dass in einem
anderen Bereich ein überfrachteter Verbraucherschutz
in keinem Verhältnis mehr zur Rechtssicherheit steht .
Es ist zwar richtig, dass fehlende oder falsche bzw . unvollständige Belehrungen über Widerrufsrechte zu einer
Verlängerung der sonst üblichen 14-Tages-Frist führen,
innerhalb derer Verbraucher bei vielen Geschäften ihre
Kaufentscheidung widerrufen können . Unverhältnismäßig war jedoch, dass die Widerrufsfrist in diesen Fällen
erst dann begann, wenn später eine zutreffende Belehrung ergangen ist . Die Notwendigkeit einer Einschränkung haben wir alle erkannt: das Ministerium, das einen
entsprechenden Vorschlag gemacht hat, aber auch wir im
Parlament. Die Banken müssen sich durch die Refinanzierung dauerhaft festlegen, um ihren Kunden niedrige
Zinsen weiterhin anbieten zu können . Die Unsicherheit,
ob ein Darlehensnehmer vielleicht nach 10 oder 15 Jahren doch widerruft, bringt das Festzinssystem insgesamt
in Gefahr . Damit solche Widerrufe nicht zulasten aller
anderen Darlehensnehmer gehen, müssen klare Fristen
für den Widerruf gelten .
Ich möchte abschließend noch einmal betonen: Vertragsfreiheit, Planbarkeit und Verlässlichkeit durch das
Festzinssystem sowie Transparenz für den Verbraucher,
auf diese Steine sollten wir auch in Zukunft bauen .
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit .
({1})
Vielen Dank . - Als nächster Redner hat Dr . Gerhard
Schick von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das
Wort .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Heck, ich möchte als Erstes sagen: Ich finde, Productplacement muss bei einer Bundestagsrede nicht sein .
Ich würde zumindest davon absehen, hier Werbeslogans
von Unternehmen zu verwenden . Ich hoffe, dass das nicht
in Absprache mit dem Unternehmen stattgefunden hat .
({0})
Bei der Umsetzung der Wohnimmobilienkreditrichtlinie geht es im Kern darum, wie wir die Stärke von Bank
und Kunden in einem Vertragsverhältnis rechtlich regeln .
Das heißt, die Frage ist, ob sich der Gesetzgeber in den
verschiedenen Bereichen eher auf die Seite der Banken
oder auf die Seite der Kunden stellt . Leider sind Sie da
zu bankenfreundlich . Ich will an vier Punkten deutlich
machen, warum diese Kritik gerechtfertigt ist:
Der erste Punkt betrifft die Dispozinsen . Einmal ganz
ehrlich: Wenn wir stolz darauf sind, dass wir im Gesetz
regeln, dass die Banken ihre Konditionen veröffentlichen
müssen - das kann ja wohl nicht sein! Das ist doch wohl
eine Selbstverständlichkeit . Das ist doch das absolute
Minimum . Wenn man darauf stolz ist, dann heißt das,
dass man die eigentlichen Fragen nicht angeht . Beim
Thema Dispozins heißt das auch: Es braucht eine Begrenzung, die natürlich gewisse Spielräume lässt, sich an
den Marktzinsen orientiert . Aber es kann doch nicht sein,
dass wir das, was es teilweise an Auswüchsen gibt, einfach nur mit dem Regeln von Selbstverständlichkeiten,
mit der Offenlegung der Konditionen, angehen . Das ist
eindeutig zu wenig .
({1})
Der zweite Punkt betrifft das Widerrufsrecht . Das Widerrufsrecht war für die Banken und Sparkassen in der
Vergangenheit tatsächlich ein großes Problem, auch weil
im Gesetz ein Fehler war . Das muss man konstatieren .
Wenn wir uns das Ganze allerdings einmal mit Blick auf
die Zukunft anschauen, gilt trotzdem: Beide, der Verbraucher und die Bank, haben es mit komplexen rechtlichen Fragen zu tun . Es ist ja wohl eher der Bank, dem
Profi, als dem Kunden zuzumuten, diese Regelungen
zu verstehen und richtig anzuwenden . Deswegen ist es
richtig, dass der Kunde hier ein Widerrufsrecht hat . Ich
glaube, dass Sie hier zu bankenfreundlich sind . Für den
Kunden muss es auch in Zukunft die Möglichkeit geben,
zu widerrufen .
({2})
Der dritte Punkt betrifft das Thema Vorfälligkeitsentschädigung . Dabei sind folgende Fragen wichtig: Die
eine ist: Wie hoch dürfen Vorfälligkeitsentschädigungen
sein? Braucht es eine Begrenzung oder nicht? Die andere Frage lautet: Wie ist die Berechnungsmethode? Wird
das überprüft? Läuft das sauber? Außerdem stellt sich die
grundlegende Frage: Wollen wir Vorfälligkeitsentschädigungen überhaupt?
Es ist klar, dass es dann, wenn wir - das gilt auch für
meine Fraktion - an einem über mehrere Jahre festen
Zins, also an der Zinsbindung, festhalten wollen, richtig
ist, dass es Vorfälligkeitsentschädigungen gibt; sonst haben die Banken keine Planungssicherheit - so weit d’accord . Darüber hinaus stellt sich die Frage, ob man eine
Begrenzung festlegen muss . Ich meine, eine Begrenzung
ist notwendig, um sicherzustellen, dass es keine Exzesse gibt . Außerdem muss die Berechnungsmethode - das
ist das absolute Minimum - einheitlich und transparent
sein . Es kann nicht sein, dass sich die Verbraucher darauf
nicht verlassen können; denn sie können im Einzelnen
nicht so gut rechnen wie eine Bank . Es ist eine absolute
Selbstverständlichkeit, dass wir im Gesetz eine einheitliche und transparente Berechnungsmethode festlegen .
Auch da springen Sie mit Ihrer gesetzlichen Regelung
deutlich zu kurz .
({3})
Ich will noch einen vierten Punkt nennen - es gibt weitere Punkte; die werden wir in den weiteren Beratungen
ansprechen -: die Kopplungsgeschäfte . Die EU-Richtlinie legt fest, dass man Kopplungsgeschäfte nur durchführen kann, wenn sie behördlich genehmigt sind . Es bleibt
den Mitgliedstaaten überlassen, das entsprechend umzusetzen . Sie haben aber hier genau diese Begründung, dass
es einen Nutzen für den Verbraucher haben muss, weggelassen . Damit öffnen Sie Tür und Tor dafür, dass es weiterhin eine Reihe von unsinnigen Kopplungsgeschäften
gibt, dass etwa ein Immobilienkredit mit einem Bausparvertrag oder mit einer Versicherung gekoppelt wird, bei
denen die Kosten für den Kunden teilweise deutlich steigen, was für ihn weder transparent noch nachvollziehbar
ist, oder die Risiken deutlich zunehmen, weil nicht klar
ist, ob ein Kunde am Ende das Geld hat, um seinen Kredit wirklich zurückzahlen zu können .
Solche problematischen Geschäfte, die es reihenweise in Deutschland gibt, auch bei vielen, wie wir meinen,
eigentlich seriösen Häusern, müssen wir zurückdrängen .
Wir müssen schauen, dass es hierfür nicht wieder eine offene Tür gibt . Sie haben aber genau hier die Bindung an
die Voraussetzung, dass ein solches Geschäft dem Kunden nutzen muss, weggelassen . Auch dieser Fehler zeigt,
dass Sie zu bankenfreundlich sind .
Deswegen sehen wir in dem vorgelegten Gesetzentwurf einen großen Korrekturbedarf und hoffen, dass es
in den Ausschussberatungen gelingt, diesen auch durchzusetzen .
Danke .
({4})
Vielen Dank . - Als nächste Rednerin hat Mechthild
Heil von der CDU/CSU-Fraktion das Wort .
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Frau Lay, Sie haben recht: Der Traum
vom Eigenheim ist bei vielen Deutschen wirklich stark
verankert . Etwa drei Viertel aller Deutschen halten das
Eigenheim für die beste Geldanlage . Daran hat auch
die Finanzkrise nichts geändert . So verwundert es heute
nicht, dass die aktuell noch sehr niedrigen Zinsen auch
zum Kauf von Wohnimmobilien genutzt werden . Ich halte das für eine gute Idee, natürlich nicht nur deshalb, weil
ich Architektin bin . Ich freue mich auch als Verbraucherschutzbeauftragte darüber, dass wir heute in erster Beratung über die Wohnimmobilienkreditrichtlinie sprechen;
denn wir werden viele Dinge beschließen, die die Position der Verbraucher weiter stärken werden .
Was planen wir da genau? Wer sich zukünftig zu einer
Immobilie beraten lässt, der muss über die Höhe des Beratungsentgelts und die Berechnungsmethode informiert
werden, und er muss informiert werden, ob der Berater
seiner Empfehlung nur eigene Produkte oder auch fremde Produkte zugrunde legt .
Zu Beginn der Beratung steht natürlich immer die Datenerfassung . Darüber hinaus müssen auch die Wünsche
und Bedürfnisse eines Kunden aufgenommen werden .
Damit gilt dann auch hier das, was wir bereits in anderen
Finanzdienstleistungsbereichen erfolgreich eingeführt
haben .
Wir legen einen anderen Schwerpunkt auf die Qualifikation der Berater . Was für die Finanzanlagen- und Versicherungsvermittler heute schon eine Selbstverständlichkeit ist, gilt nun bald auch für die Immobilienberater .
Dazu gehören die Einführung eines Sachkundenachweises, der Nachweis einer Berufshaftpflichtversicherung
und eine Registrierung bei der jeweiligen Aufsichtsbehörde .
Nicht selten werden zusätzlich zum Immobilienkredit
noch weitere Produkte verkauft . Es werden Verträge abgeschlossen, die den Kunden - vermeintlich - absichern
sollen . In vielen Fällen sind sie aber gar nicht notwendig
und nutzen in erster Linie dem Darlehensgeber . Diese
Geschäfte werden wir stark eindämmen, indem wir ein
Kopplungsverbot aussprechen werden . Der Kunde soll
nicht mehr gezwungen werden können, einen Vertrag zu
einem weiteren Produkt gemeinsam mit dem Immobilienkredit abschließen zu müssen . Freiwillig kann er das
natürlich nach wie vor tun, aber ein Kopplungsgeschäft
werden wir ausschließen .
Um auch in diesem Bereich die Zahl der Wahlmöglichkeiten zu erhöhen, schaffen wir die Voraussetzungen
für eine Honorarberatung analog zur Anlageberatung .
In dem vorliegenden Entwurf sprechen wir noch ein
weiteres Thema an - auch die Kollegen haben es schon
angesprochen -: den Dispozins . Seit Jahren fordern wir
die Banken auf, die Dispozinssätze im Internet zu veröffentlichen . Auch das, sollte man meinen, sollte eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein; Herr Schick, da
gebe ich Ihnen vollkommen recht . Manche Banken sind
in den letzten Jahren allerdings sehr hartnäckig gewesen
und sind unserer Aufforderung nicht gefolgt . Damit muss
jetzt Schluss sein . Deswegen schreiben wir in dem Gesetz jetzt eine Offenlegung vor . Jeder Kunde kann dann
die Dispozinsen online vergleichen und für sich das beste
Angebot heraussuchen .
({0})
Ein weiterer Punkt, den wir angehen, sind die Beratungspflichten bei der Überziehung. Aus einer Umfrage
aus dem Jahr 2013 geht hervor, dass etwa 10 Prozent
aller Bürger jeden Monat den Dispo nutzen; 8 Prozent
nutzen ihn permanent, das ganze Jahr und über Jahre
hinweg . Das legt den Schluss nahe, dass vielen dieser
Dispokunden nicht bekannt sein kann, dass es wirklich
kostengünstigere Alternativen zum Dispo gibt . Das wollen wir und das müssen wir ändern .
Wenn ein Kunde - um das jetzt genau festzulegen sein Konto zukünftig über sechs Monate zu mehr als
75 Prozent des vereinbarten Höchstbetrages überzieht
oder die geduldete Überziehung über drei Monate ununterbrochen zu mehr als 50 Prozent nutzt, wird ihm ein
Beratungstermin offeriert . Wichtig dabei: Es bleibt nach
wie vor seine freie Entscheidung, ob er die Beratung annimmt oder ob er sie ablehnt .
Die Beratung - das fordern wir allerdings ein - muss
auf alle Alternativen zum Dispokredit hinweisen, mögliche Konsequenzen aufzeigen oder auch geeignete Beratungsstellen nennen, etwa eine Schuldnerberatung .
({1})
Mir als CDU/CSU-Verbraucherschutzpolitikerin sind
natürlich die Verbraucherinformationen ganz besonders
wichtig . Überall und immer spreche ich davon: Nur wenn
man gute Informationen hat, kann man auch eigenverantwortlich handeln und eigenverantwortliche Entscheidungen treffen . Der Entwurf geht an dieser Stelle schon in
die richtige Richtung, aber sicherlich gibt es an der einen
oder anderen Stelle auch noch etwas nachzujustieren .
Ich freue mich auf die weiteren Beratungen mit Ihnen
und bin mir sicher, dass wir am Ende eine Umsetzung
der Wohnimmobilienkreditrichtlinie haben werden, die
ein Stück weit mehr die Handschrift der CDU trägt und
uns als CDU/CSU in der Verbraucherpolitik ein weiteres
Stück nach vorne bringt .
Vielen Dank .
({2})
Vielen Dank . - Als nächster Redner spricht Dennis
Rohde von der SPD-Fraktion .
({0})
Geschätzte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Die Welt ist komplizierter und globaler geworden . Wenn wir heute Kreditprodukte kaufen wollen,
dann haben wir eine Fülle von Angeboten vor uns . Wenn
meine Großeltern Bankgeschäfte getätigt haben, dann
sind sie meistens im Dorf geblieben . Sie sind zu ihrem
„Bankbeamten“ gegangen . Das war zwar in der Regel
kein Beamter, aber allen Leuten kam es so vor, als sei
er ein Beamter . Hatten sie Geld über, haben sie es aufs
Sparbuch gelegt; benötigten sie Geld, haben sie bei ihm
einen Kredit aufgenommen . Und wenn sie eine Beratung
bei einem Hauskauf brauchten, dann hat das alles bei dieser einen Person stattgefunden, die in der Regel in der
Nachbarschaft gewohnt hat . Und wenn die Mist gebaut
hat, hat man bei ihr an der Haustür geklingelt und sich
dort beschwert .
Die Welt ist, wie ich gesagt habe, etwas komplizierter geworden . Wir kaufen Produkte im Internet und
schließen dort Kredite ab . Wenn wir ein Haus kaufen
wollen, dann haben wir nicht nur das Angebot von unserem „Bankbeamten“ vor Ort, sondern wir können unter
vielen verschiedenen Angeboten auswählen . Wir haben
verschiedenste Produkte zur Auswahl, Produkte wie einfache Immobilienkredite, die wir sofort verstehen, aber
auch Produkte mit ganz komplizierten Namen, bei denen
wir erst einmal gar nicht wissen, was sich dahinter versteckt . So bietet zum Beispiel meine Bank einen Select
Emerging Markets Investment Grade Bond Fund an . Es
ist wohl allen klar, was damit gemeint ist . Wenn jemandem es nicht klar ist - ich habe die Beschreibung dabei .
Die Welt ist also komplizierter geworden . Entsprechend muss auch die Antwort der Verbraucherschutzpolitik sein . Wir müssen die Verbraucherinnen und Verbraucher ein bisschen an die Hand nehmen .
Gleichzeitig harmonisieren wir den europäischen
Markt . Wir treffen nicht nur Entscheidungen für unser
Land, sondern versuchen, einen möglichst einheitlichen
europäischen Markt aufzubauen . Dafür wurde heute ein
Gesetzentwurf zur Umsetzung der Wohnimmobilienkreditrichtlinie eingebracht, die ganz viele Bereiche der
Wohnimmobilienkredite regelt . Sie enthält - ich zitiere
aus der Begründung des Gesetzentwurfs im Wesentlichen Bestimmungen zu Werbung, ({0})
vertraglichen Informationen, Kreditwürdigkeitsprüfung, Widerrufsrecht oder Bedenkzeit, vorzeitiger Rückzahlung und Vorfälligkeitsentschädigung,
Fremdwährungsdarlehen, Beratungsleistungen bei
der Kreditvergabe und -vermittlung sowie zu Kopplungsgeschäften .
Ich weiß, die Frau Präsidentin schaut hinter mir auf
die Uhr; ich kann nicht zu allen Punkten etwas sagen . Ich
möchte daher zwei Punkte herausgreifen und sie etwas
näher ausführen .
Zum einen regeln wir mit der Wohnimmobilienkreditrichtlinie auch die Honorarberatung für diesen Bereich. Ich finde, es ist ganz wichtig, dass wir ein zusätzliches Angebot für die Verbraucherinnen und Verbraucher
schaffen . Aber ich möchte betonen, dass es ein zusätzliches Angebot ist . Denn ich glaube, dass bei vielen Verbraucherinnen und Verbrauchern an dieser Stelle erst
einmal ein Umdenken stattfinden muss. Wenn wir heute
eine Versicherung oder einen Kredit brauchen, dann gehen wir davon aus, dass die Beratungsdienstleistung für
uns kostenfrei ist, dass wir nicht dafür bezahlen müssen;
denn der Berater bekommt ja am Ende die Provision von
der Versicherung bzw . von der Bank . Deshalb glaube ich,
dass erst einmal ein Umdenken stattfinden muss, dass
jetzt für diese Leistung bezahlt werden soll .
Aber natürlich ergibt sich daraus auch ein Mehrwert;
denn ich kann zumindest mit dem sicheren Gefühl nach
Hause gehen, auch wirklich das für meine individuelle
Situation beste Produkt bekommen zu haben . Ich muss
nicht immer die Frage im Hinterkopf haben, ob es wirklich das beste Produkt für mich ist oder ob es für dieses
Produkt vielleicht nur die höchste Provision gab. Ich finde es gut, dass wir mit der Umsetzung dieser Richtlinie
die Honorarberatung für diesen Bereich auf den Weg
bringen .
({1})
Der zweite Punkt ist schon mehrfach angesprochen
worden: Wir legen neue Regelungen für die Dispozinsen fest . Ich möchte Frau Heil ausdrücklich recht geben:
Was da auf dem Zinsmarkt stattfindet, ist zum Teil eine
schreiende Ungerechtigkeit . Wir haben momentan einen
Basiszinssatz von 0,83 Prozent . Der Euribor liegt weit
unter 0,5 Prozent . Der Zinssatz für einen Dispokredit
liegt im Durchschnitt - so die Stiftung Warentest - immer noch im zweistelligen Bereich . Es gibt immer noch
Banken, die für Dispozinsen 15 Prozentpunkte mehr verlangen und ihre Dispozinsen verschleiern - das hat Frau
Heil gerade gesagt - und nicht veröffentlichen, sodass
man sich als Verbraucher nicht informieren kann . Es ist
richtig und wichtig, dass wir endlich sagen: Mit diesem
Geschäftsgebaren muss Schluss sein . Jeder, der Dispozinsen anbietet, muss auch transparent machen, wie hoch
diese sind .
({2})
Ich muss für unsere Fraktion noch einmal betonen,
dass es uns natürlich am liebsten wäre, wenn wir sagen würden: Wir warten jetzt einmal nicht ab, was diese Transparenzregelung bringt . Wir warten jetzt einmal
nicht ab, ob sie greift . - Wir sind da guter Dinge . Die
beste Lösung ist, dass wir eine gesetzliche Deckelung
auf den Weg bringen, wie sie übrigens vor wenigen Stunden wenige Meter von hier entfernt der Bundesrat beschlossen hat . Der Bundesrat fordert in der Umsetzung
der Wohnimmobilienkreditrichtlinie eine Deckelung auf
8 Prozentpunkte über dem Basiszinssatz. Ich finde, dass
wir uns zumindest damit noch einmal intensiver beschäftigen müssen .
({3})
Natürlich helfen Dispozinsen nicht denjenigen, die
überschuldet sind . Wir wissen, dass fast 10 Prozent der
Bundesbürgerinnen und Bundesbürger in einer Situation
sind, die man schon fast als Überschuldung oder als klare
Überschuldung, bei der der einzige Ausweg die Privatinsolvenz ist, bezeichnen muss . Für diese Bürgerinnen
und Bürger brauchen wir andere Lösungen . Ich bin dafür, dass wir uns in den nächsten Wochen und Monaten
auch einmal selbst die Frage stellen: Welche Regelung
können wir denn auf den Weg bringen, um Menschen davor zu schützen, überhaupt in die Verschuldungsfalle zu
kommen? Denn Vorbeugung ist, glaube ich, besser, als
Leute nachher in die Privatinsolvenz zu schicken . Auch
das sollte für uns eine Herausforderung in den nächsten
Wochen und Monaten sein .
Vielen Dank .
({4})
Vielen Dank . - Als nächster Redner hat Dr . Volker
Ullrich von der CDU/CSU-Fraktion das Wort .
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Das Wort „Kredit“ kommt aus dem Lateinischen
und bedeutet „das in Treu und Glauben Anvertraute“ . Wir
haben die Aufgabe, in einem umfangreichen Gesetzgebungsprozess Vertrauen gerecht zu werden und Vertrauen zu schaffen, einerseits das Vertrauen des Verbrauchers
in einen praktikablen und ordnungsgemäßen rechtlichen
Rahmen der Kreditabwicklung und andererseits das notwendige Vertrauen einer Volkswirtschaft in einen funktionierenden Kreditmarkt . Aus Sicht des Verbrauchers
steht diese Anforderung im Spannungsfeld zwischen
dem notwendigen Schutz einerseits und der notwendigen
Eigenverantwortung andererseits . Ich meine, dieser Gesetzentwurf wird diesem Spannungsfeld gerecht .
({0})
Ich möchte auf drei Punkte eingehen, die aus meiner
Sicht eine nähere Betrachtung erfahren sollten .
Erstens . Wir führen auch zivilrechtlich eine sogenannte Kreditwürdigkeitsprüfung im Bereich der Verbraucherdarlehen ein . Bislang war es so, dass lediglich
die darlehensausreichende Bank aufsichtsrechtlich nach
dem Kreditwesengesetz eine Kreditwürdigkeitsprüfung
vornehmen musste . Jetzt wird diese auch im BGB verankert . Die Sanktionen sind durchaus gravierend: Wenn
ein Kredit ausgereicht wird, ohne eine ordnungsgemäße
Kreditwürdigkeitsprüfung vorgenommen zu haben, ermäßigt sich gesetzlich der Zinssatz auf den öffentlicher
Pfandbriefe, das heißt im Augenblick auf praktisch null .
Allerdings tritt diese Ermäßigung nur bei grober Fahrlässigkeit oder Vorsatz in Bezug auf die Mitwirkungspflicht
des Darlehensnehmers ein . Kommt der Darlehensnehmer
seiner Mitwirkungspflicht fahrlässig oder leicht fahrlässig nicht nach, dann kann er diese Ermäßigung nicht in
Anspruch nehmen . Ich möchte betonen, dass wir im Ergebnis den schlampigen Kreditnehmer nicht auch noch
belohnen sollten . Deswegen sollten wir bei dieser Frage
noch einmal genauer hinsehen .
Ich möchte in diesem Zusammenhang auch betonen, dass
wir uns überlegen sollten, ob sich die Kreditwürdigkeitsprüfung nicht auch auf sogenannte Null-Prozent-Finanzierungen erstrecken sollte . Null-Prozent-Finanzierungen unterliegen nicht dem Darlehensbegriff, weil sie
eben nicht entgeltlich sind . Aber die Folgen sind ähnlich,
vielleicht sogar gravierender, weil demjenigen, der eine
Null-Prozent-Finanzierung in Anspruch nimmt, beispielsweise die Möglichkeit der Einrede der Mängelrüge
fehlt . Das heißt, wenn er das gekaufte Gut zurückgibt,
dann muss im Zweifel der Kredit dennoch bedient werden . Das ist eine Unbilligkeit, die wir aufheben sollten .
({1})
Bei der Frage der Dispozinsen möchte ich ein wenig
meine Enttäuschung darüber zum Ausdruck bringen, dass
trotz der Appelle aus diesem Hohen Haus und der Debatte, die wir seit eineinhalb Jahren führen, die Banken kein
Zinsniveau erreicht haben, das allgemein akzeptabel und
dankbar ist . Die Dispozinsen sind nach wie vor zu hoch .
({2})
Die Frage ist, wie wir darauf reagieren . Gesetzliche
Deckelungen mögen eine Antwort sein . Die andere ist
aber, auf Transparenz und Beratung zu setzen, und zwar
Beratung in einem Umfang, der es für die Banken gar
nicht mehr attraktiv macht, hohe Dispozinsen zu verlangen . Wenn Sie in diesen Gesetzentwurf schauen, dann
stellen Sie fest, dass die Banken beraten und dokumentieren müssen . Sie müssen mehrmals beraten . Am Ende
des Tages müssen sie sogar auf Schuldnerberatungen und
andere Einrichtungen hinweisen . Da wäre es doch für die
Banken zukünftig einfacher, die Dispozinsen zu senken,
um diesen Dokumentationspflichten zu entgehen.
Der letzte Punkt bezieht sich auf die Vorfälligkeitsentschädigung und ihre Deckelung . Es ist zunächst einmal
Konsens, dass Vorfälligkeitsentschädigungen ein wichtiges Instrument sind, weil sie die Disposition der Bank
und das Vertrauen auf die Laufzeit des Darlehens ein
Stück weit kompensieren und weil damit die Banken ihre
eigenen Refinanzierungsmöglichkeiten besser absichern
können . Die Frage ist also, ob eine Vorfälligkeitsentschädigung gerade im Bereich der Immobilienkredite gedeckelt werden sollte oder nicht . Ich bitte darum, dass wir
diese Frage sehr sorgsam prüfen . Es nützt nämlich nichts,
wenn wir die Vorfälligkeitsentschädigungen bei Immobiliendarlehen deckeln, dadurch aber das Zinsniveau allgemein steigt, wir das Festzinsniveau in Deutschland unterminieren und damit am Ende die Kredite für Häuslebauer
teurer sind . Wir hätten dem ganzen System damit einen
Bärendienst erwiesen . Das wollen wir nicht . Wir stehen
an der Seite unserer Häuslebauer .
({3})
Meine Damen und Herren, es ist ein umfangreiches
Gesetzespaket mit einer enormen praktischen Auswirkung . Deswegen kann ich für unsere Fraktion zusichern,
dass wir dieses Gesetzesvorhaben sehr sorgsam und intensiv begleiten und offen sind für praxistaugliche, verbraucherfreundliche und das System unserer Volkswirtschaft schützende Vorschriften und Vorschläge .
Herzlichen Dank .
({4})
Vielen Dank . - Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich
schließe die Aussprache .
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent-
wurfes auf Drucksache 18/5922 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen . Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall .
Dann ist die Überweisung so beschlossen .
Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 26 a und 26 b
auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Norbert
Müller ({0}), Sigrid Hupach, Nicole
Gohlke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Kinderrechte umfassend stärken
Drucksache 18/6042
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({1})
Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({2}) zu dem
Antrag der Abgeordneten Doris Wagner, Beate
Walter-Rosenheimer, Dr . Franziska Brantner,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Von Anfang an beteiligen - Partizipationsrechte für Kinder und Jugendliche im demografischen Wandel stärken
Drucksachen 18/3151, 18/5276
Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, ihre Plätze
einzunehmen .
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen . - Ich höre dazu
keinen Widerspruch . Dann ist das so beschlossen .
Ich eröffne die Aussprache . Als erster Redner hat
Norbert Müller von der Fraktion Die Linke das Wort .
Gleichzeitig bitte ich die Kolleginnen und Kollegen, sich
an die Redezeit zu halten; denn wir sind schon in Verzug .
({3})
Ich will es versuchen, Frau Präsidentin .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Liebe Besucherinnen und Besucher, die Sie
am Freitagnachmittag auf der Tribüne sitzen! Es ist eine
gute Gelegenheit, dass wir auf der Grundlage einer Petition, die über 100 000 Menschen unterzeichnet haben,
jetzt darüber reden können, in Deutschland einen Kinderbeauftragten einzuführen . Die Debatte ist deutlich älter . Es gibt sie seit den 80er-Jahren . Aber immerhin hat
der Druck der Petition insgesamt wieder Bewegung in
das ganze Thema „Kinderrechte“ und „Kinderrechte ins
Grundgesetz“ gebracht .
Der Antrag, den wir vorgelegt haben, vereint erstmals
die Frage der Einberufung eines Kinderbeauftragten auf
der einen Seite mit der Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention, die am 20 . November ins 27 . Jahr ihres Bestehens geht, und der Aufnahme von Kinderrechten ins
Grundgesetz auf der anderen Seite . Warum wollen wir
Kinderrechte stärken? Wir glauben, dass Kinderrechte
ins Grundgesetz gehören, damit die UN-Kinderrechtskonvention in all ihren Punkten wirkungsmächtig umgesetzt werden kann .
Gerade die Vereinten Nationen weisen immer wieder
auf Defizite in Deutschland hin. Ich will nur einige exemplarisch nennen: hohe Kinderarmut bei gleichzeitigem
massivem Reichtum im Land, frühe Selektion im Bildungssystem und verwehrte Bildungschancen, die häufig
mit der Armut der Familien zu tun haben und sich dann
vererben, massive Qualitätsunterschiede bei Betreuung
und Bildung im Land, aber auch Rekrutierung und Werbung der Bundeswehr in Schulen und Kitas, Rekrutierung von 17-Jährigen zum Dienst an der Waffe - auf freiwilliger Basis, aber immerhin -, mangelnder Schutz für
besonders schutzbedürftige Gruppen wie junge Flüchtlinge oder junge Menschen mit Behinderung; über junge
Flüchtlinge haben wir heute früh bereits gesprochen .
Ich glaube übrigens, Herr Lehrieder: Hätten wir bereits einen Bundeskinderbeauftragten, dann würde er
Ihnen - ähnlich wie ein Menschenrechtsbeauftragter angesichts des heute früh andiskutierten Gesetzes zur
Umverteilung von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen die Leviten lesen .
({0})
Was ist jetzt der Stand im Verfahren, und was sind die
Interessen der Koalition? Ich hatte gesagt: Die Debatte
um die Verankerung von Kinderrechten im Grundgesetz
ist 25 Jahre alt . Es gab bereits in den 80er-Jahren eine
Bewegung für die Einsetzung eines Kinderbeauftragten .
Im Ergebnis wurde immerhin die Kinderkommission des
Deutschen Bundestages eingerichtet . Nun müssen wir einen Schritt weiter gehen .
Die Petition hat 114 000 Unterschriften erzielt . Aber
sie betrifft eben nur eine Seite der Medaille . Um einen
UN-kinderrechtskonformen Zustand in Deutschland herzustellen - darauf weist die Konvention selbst bereits
hin -, muss die Konvention in nationales Recht, auch in
nationales Verfassungsrecht, überführt werden . Ein Kinderbeauftragter kann dabei als Ergänzung zur Stärkung
der Rechtssubjektstellung von Kindern im Grundgesetz
angesehen werden . Es gehört eben zusammen; man darf
es nicht voneinander isolieren .
Was sind die drei Kernziele unseres Antrages?
Erstens . Wir wollen die Kinderrechte ins Grundgesetz
bringen, das heißt, wir wollen den Vorrang des Kindeswohls und den Anspruch der Kinder auf Schutz, Förderung und Beteiligung verfassungsrechtlich verankern .
Das ist dringender denn je .
Zweitens . Wir wollen im Grundgesetz einen unabhängigen Kinderbeauftragten verankern . Das ist eine
Forderung, die auch von den Verbänden erhoben wird .
Es gibt immer den Hinweis auf den Wehrbeauftragten .
So ähnlich kann man sich das vielleicht vorstellen . Ich
glaube, wenn man auf der einen Seite die Rechtssubjektstellung der Kinder stärkt, indem man die Kinderrechte
im Grundgesetz verankert, muss dies zwingend nach sich
ziehen, den Kinderbeauftragten ebenfalls im Grundgesetz zu verankern .
Drittens . Wir brauchen ein Gesetz über die Befugnisse
eines Kinderrechtsbeauftragten .
({1})
Wie können diese Befugnisse aussehen, liebe Kolleginnen und Kollegen? Ein Kinderbeauftragter könnte unseres Erachtens zur Kinderrechtskonformität von
Gesetzesvorhaben des Bundes - möglicherweise auch
der Länder, wenn man das ganze System so ausgestaltet - Stellung nehmen . Er könnte Behördenhandeln, das
gegen die UN-Kinderrechtskonvention verstößt, kritisieren . Wir bauen allmählich über das Deutsche Institut für
Menschenrechte entsprechende Strukturen auf, aber wir
sind da erst ganz am Anfang .
Kinderrechte müssen ins öffentliche Bewusstsein gebracht werden . Auch dafür kann ein Kinderbeauftragter
Botschafter an prominenter Stelle sein . Er kann aber auch
Ansprechpartner für die zum Teil schon vorhandenen
Kinderbeauftragten auf Landes- und kommunaler Ebene
sein .
Wir wollen dem Kinderbeauftragten darüber hinaus
Rechte geben . Auch deswegen muss er in der Verfassung
verankert werden . Wir wollen, dass er Akteneinsicht und
ein Anhörungsrecht, aber auch ein Recht auf Amtshilfe
erhält, um beschwerdeführende Kinder vertreten zu können .
Wir wollen, dass Landesverfassungen und Landesgesetze an den Vorrang des Kindeswohls angepasst werden
bzw . - um es mit den Worten der UN-Kinderrechtskonvention zu sagen - im besten Interesse des Kindes formuliert werden .
Wir wollen, dass die Beteiligungsmöglichkeiten sukzessive ausgebaut werden . Dafür bedarf es aber auch entsprechender finanzieller Möglichkeiten auf kommunaler
und Landesebene sowie auf Bundesebene .
Die Monitoringstelle, die jetzt beim Deutschen Institut für Menschenrechte eingerichtet werden soll, muss
deutlich stärker aufgestellt werden, damit sie wirklich befähigt wird, dafür zu sorgen, dass die UN-Kinderrechtskonvention vollständig umgesetzt wird und es keine gröNorbert Müller ({2})
ßeren Verletzungen mehr geben kann; sie muss ertüchtigt
werden . Dass es sie gibt, kann eben nur ein Anfang sein .
({3})
Wir haben erste Befürchtungen, was die Koalition daraus
machen wird . Wir wissen, dass Sie da unterschiedlichste
Vorstellungen haben . Ich weiß, dass die Sozialdemokraten ebenso - da sind wir uns sehr einig - die Kinderrechte
ins Grundgesetz aufnehmen und einen Kinderbeauftragten einsetzen wollen . Wir hören aus der Union - wir hatten ja schon eine erste Anhörung dazu -, dass auch Sie
sich vorstellen könnten, einen Kinderbeauftragten einzusetzen . Aber was ich da an konkreten Vorstellungen höre,
das macht mir eher Angst und Bange .
Ich sage Ihnen deutlich: Wenn die Debatte über einen
Kinderbeauftragten am Ende dazu genutzt wird, um die
spezifische Stellung der Kinderkommission des Deutschen Bundestages zu schleifen - das nennen Sie dann
Aufwertung, ich nenne das Abwertung -, daraus einen
ordentlichen Ausschuss zu machen, oder wenn sich die
Fraktionen der Großen Koalition mit Fraktionszwang
durchsetzen, um den Anfang von öffentlicher Ombudschaft für Kinder - denn das ist die KiKo ein Stück
weit - wegzuschleifen, um dann einen zahnlosen Kinderbeauftragten, der in Personalunion auch Vorsitzender
der Kinderkommission sein soll, zu installieren, dann ist
das genau der falsche Weg . Das führt zum Abbau von
Kinderrechten . Das geht nicht in die richtige Richtung .
({4})
Wir wollen, dass das Amt des Bundeskinderbeauftragten keine Alibiveranstaltung wird . Wir wollen die
114 000 Petentinnen und Petenten ernst nehmen . Sie
ernst zu nehmen, heißt in erster Linie - ich komme zum
Schluss -, Kinderrechte ins Grundgesetz aufzunehmen,
aber auch, einen Kinderbeauftragten zu installieren, der
handlungsfähig ist . Er muss Verfassungsrang bekommen,
und er muss eine gesetzliche Grundlage bekommen, damit er ordentlich arbeiten kann .
Ich wünsche mir eine konstruktive Debatte über unseren Antrag im Ausschuss . Herr Lehrieder, ich wünsche
mir auch, dass wir die Durchführung einer Anhörung im
Ausschuss nicht weiter aufschieben, sondern zu einer
zeitnahen Terminierung kommen .
Vielen Dank .
({5})
Vielen Dank . - Als nächster Redner hat Eckhard Pols
von der CDU/CSU-Fraktion das Wort .
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe
Jugendliche auf der Tribüne, ich freue mich, dass dieser
Debatte auch junge Leute beiwohnen!
Herr Müller hat es schon gesagt: Wir befassen uns
heute mit zwei Anträgen der Oppositionsfraktionen, die
sich in unterschiedlicher Breite und unterschiedlicher
Tiefe der Frage der Kinderrechte widmen . Sie beziehen
sich auf Rechte - das haben wir schon gehört -, die in
der UN-Kinderrechtskonvention verbrieft sind und damit
unmittelbare Geltung in unserem Land haben . Es sind die
wichtigen Rechte auf Schutz vor Gewalt und Krieg, auf
freie Meinungsäußerung, auf ein gesundes Aufwachsen,
aber auch auf Freizeit, Ruhe und Spiel, um nur einige zu
nennen .
Ich denke, Kollege Müller, dass wir in einigen Punkten nicht ganz so weit mit den anderen Fraktionen auseinanderliegen, was die Wertschätzung und den Wunsch
nach Stärkung der Kinderrechte in Deutschland angeht .
({0})
Insbesondere in Zeiten von Flüchtlingsströmen und internationalen Krisen ist das Kindeswohl etwas, das unserer besonderen Aufmerksamkeit bedarf . Vielmehr: Es
sind die Kinder, die unseres Schutzes bedürfen . Ich denke hier besonders an die unzähligen unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge, denen wir schnellstens Obdach,
Sicherheit und ein möglichst kindgerechtes Umfeld bieten müssen .
({1})
Nicht umsonst ringen wir intensiv um den Gesetzentwurf zur Verbesserung der Unterbringung, Versorgung
und Betreuung ausländischer Kinder und Jugendlicher,
über den wir heute Vormittag in diesem Hause debattiert
haben .
Bei aller Einigkeit bei der Einstellung zu Kinderrechten gibt es jedoch im Detail einiges, was uns, die Oppositionsfraktionen und die Koalitionsfraktionen, trennt . Das
ist vor allem die Frage der praktischen Umsetzung . Welche Wege wollen wir einschlagen, um eine Stärkung der
Kinder und ihrer unveräußerlichen Rechte zu erreichen?
Im Grunde lässt sich dabei die wiederkehrende Debatte
auf zwei zentrale Punkte zuspitzen: Werden Kinderrechte stärker wahrgenommen, wenn sie im Grundgesetz stehen? Werden sie besser geachtet, wenn es einen Bundeskinderbeauftragten bzw . eine -beauftragte in Deutschland
gibt?
Gerade in der letzten Zeit - Herr Müller hat es angesprochen - hat der letzte Punkt durch eine Petition des
Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte ein bisschen Aufwind bekommen . An dieser Stelle möchte ich
den Petenten danken, dass sie uns wichtigen und richtigen Input gegeben haben und den Finger auf einen Punkt
legen, über den seit vielen Jahren innerhalb und außerhalb der Politik debattiert wird .
({2})
Der Antrag der Linken und in Teilen auch der Antrag
der Grünen greift die Forderung der Petenten auf . Sie
fügen dem potenziellen Amt aber auch weitere Anforderungen, Aufgaben und Strukturen hinzu . Ich sage auch es ist ein offenes Geheimnis -, dass ich einer Stärkung
Norbert Müller ({3})
der Kinderrechte, in welcher Form auch immer, offen
gegenüberstehe .
Dennoch halte ich den Zeitpunkt der Anträge für unglücklich . Denn wie auch Sie, liebe Kollegen der Oppositionsfraktionen, wissen, findet innerhalb der Regierungskoalition eine intensive Diskussion - ich schaue
hier besonders meine Kollegin Rüthrich an - über die Petition und die politischen Handlungsmöglichkeiten statt .
({4})
Diese Diskussion ist noch nicht abgeschlossen,
({5})
und ich möchte dem Ergebnis an dieser Stelle auch nicht
vorgreifen . Für mich ist bei allen Optionen, die wir haben, die derzeit im Raum stehen, entscheidend, dass wir
am Ende eine substanzielle Verbesserung für Kinder und
deren Interessen erreichen . Das ist genau das, was ich,
glaube ich, vor einem Jahr in der Debatte zum 25 . Jubiläum der Kinderrechtskonvention hier deutlich gemacht
habe .
Es muss die Frage geklärt werden, ob die Einrichtung
einer neuen Bundesstelle für die Anliegen von Kindern
hilfreich ist oder ob dadurch hinderliche Doppelstrukturen zu bestehenden Institutionen und Organen geschafft
würden . Auch muss geklärt werden, ob Verbesserungen
bestehender Organisationen nicht sinnvoller sind, um
eine Aufwertung der Kinderrechte zu erreichen .
Parallel zur Diskussion der angesprochenen Fragen
nehmen wir voraussichtlich schon im Herbst eine wichtige Stärkung von Kinderrechten vor, indem wir die
Monitoringstelle für die Umsetzung der Kinderrechtskonvention einsetzen . Sie wird beim Deutschen Institut
für Menschenrechte angesiedelt und mit Bundesmitteln
gefördert . Daran wird deutlich: In Sachen Kinderrechte
ist einiges in Bewegung . Es ist also anders, als die Opposition uns das immer wieder glauben machen will .
An dieser Stelle möchte ich einen Hinweis zum Antrag der Grünen geben - das habe ich in der Ausschussdebatte schon angesprochen; als aktiver Kommunalpolitiker möchte ich das aber wiederholen -: Viele Ihrer
Vorschläge zur Beteiligung mögen im ersten Moment
sinnvoll und schön klingen, aber leider nur im ersten Moment; denn - das wissen Sie alle - wir haben in der Bundesrepublik Deutschland aus gutem Grund eine föderale
Grundordnung . Aus einem ebenso guten Grund werden
viele Entscheidungen möglichst nah am Menschen getroffen . Das ist übrigens ein Gütezeichen dieser föderalen Ordnung: geteilte Zuständigkeiten und gemeinsame
Aufgaben . Diese Erkenntnis sprechen Sie, werte Kollegen der Grünen, in Ihrem Antrag indirekt selbst an . Sie
stellen zu Recht fest, dass eine Beteiligung von Kindern
an den Orten am meisten Sinn macht, an denen die Kinder direkt betroffen sind, nämlich in ihrem Lebensumfeld . Umso verwunderlicher ist es für mich, dass Sie
dabei nicht feststellen, dass ein Großteil der in Ihrem Antrag formulierten Forderungen nicht in die Zuständigkeit
des Bundes fällt, sondern dafür aus guten Gründen die
Landesebene oder die Kommunen zuständig sind .
Partizipation von Kindern fängt überall dort an, wo die
Lebenswelten von Kindern berührt sind . Das beginnt in
der Familie, geht über den Kindergarten und die Schulen
bis zum Sportverein, also im direkten örtlichen Umfeld .
Es gibt wunderbare Beispiele, wie Kinder und Jugendliche vor Ort eingebunden werden können . Ich denke an
die engagierten Schülersprecher, an Vorstandsmitglieder
in Vereinen, aber auch die zahlreichen Kinder- und Jugendparlamente, an die Kreisjugendringe, die Jugendgemeinderäte oder die Kinder- und Jugendbeauftragten . Sie
leisten eine hervorragende Arbeit im Lebensumfeld der
Kinder, und damit unmittelbar erlebbar für die Kinder .
Die engagierten Jugendlichen, aber auch die Mandatsträger vor Ort können sich der Unterstützung des
Bundes sicher sein, sei es über Fördermittel aus dem
Fonds „Demokratie leben!“, die gezielt für die Bildung
von Jugendforen und Jugendfonds zur Verfügung stehen,
über spezielle Förderinstrumente des Innovationsfonds
des Kinder- und Jugendplans des Bundes oder durch
praktische Tipps in der Broschüre „Qualitätsstandards
für Beteiligung von Kindern und Jugendlichen“ des Bundesministeriums .
Sie sehen, liebe Kolleginnen und Kollegen: Viele Kommunen gehen bereits neue und auch innovative
Wege in Sachen Kinder- und Familienfreundlichkeit,
schlicht und ergreifend, weil sie es müssen . Offenheit für
die Belange der Kinder und die besonderen Bedürfnisse
von Familien ist ein Standortvorteil, den ein Lokalpolitiker natürlich gerne für sich nutzt .
({6})
Dieses Engagement und den Ideenreichtum kleinzureden, liebe Kolleginnen und Kollegen, empfinde ich ein
bisschen als Missachtung des Engagements der Menschen vor Ort . Anträge, die von einer solchen Einstellung
getragen werden, Herr Müller, kann und will ich nicht
unterstützen .
Lassen Sie uns den Menschen und den Strukturen vor
Ort vertrauen . Bringen wir ihnen Vertrauen entgegen;
denn die Menschen vor Ort wissen, wo Hilfe dringend
nötig ist . Unsere Aufgabe besteht zum großen Teil darin,
die dafür notwendigen Rahmenbedingungen zu schaffen .
Ich glaube, wir sind da auf dem richtigen Weg .
Vielen Dank .
({7})
Vielen Dank . - Als nächste Rednerin spricht Beate
Walter-Rosenheimer von der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Liebe Zuhörer und Zuhörerinnen! Ich bin froh,
dass wir heute diese Debatte zum Thema Kinderrechte
führen . Ich begrüße ausdrücklich den Antrag der Linken,
über den wir heute sprechen und zu dem wir unseren Antrag „Von Anfang beteiligen“ dazugestellt haben .
Kinder- und Jugendpartizipation im Zeitalter des
demografischen Wandels ist in aller Munde. Diskutiert
wird über Kinderrechte . Experten referieren, wie gut und
wichtig eine möglichst frühe altersgerechte Beteiligung
von Kindern ist und wie wichtig diese für unsere Gesellschaft ist . Ich glaube, da sind wir uns alle einig .
Warum sprechen wir aber immer noch und immer wieder darüber, Kinderrechte umfassend zu stärken? Weil,
sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, diese Begriffe in
der Theorie zwar gut klingen, in der Praxis aber immer
noch relativ stiefmütterlich behandelt werden .
({0})
Da heißt es: endlich handeln!
({1})
Die UN-Kinderrechtskonvention ist bei uns nicht
vollständig umgesetzt, auch nicht im Hinblick auf die
Partizipationsrechte . Die Vereinten Nationen ermahnen
Deutschland immer wieder, den Kinderrechten mehr
politisches Gewicht zu verleihen . Deutschland ist, was
Kinderrechte angeht, ein Flickenteppich . Das sage nicht
ich, das sagen nicht die Grünen, sondern das sagen die
Vereinten Nationen .
({2})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linken, Sie
fordern in Ihrem Antrag einen Gesetzentwurf, „der die
Kernaufgaben, die Befugnisse, die Stellung sowie die
Ausstattung des/der Bundeskinderbeauftragten regelt“ .
Das finde ich gut. Das wollen auch wir als Grünefraktion.
Eines muss klar sein: Wenn wir einen Kinderbeauftragten auf Bundesebene etablieren, dann braucht dieser eine
gewichtige Stimme - und kein Stimmchen .
({3})
Die Position muss stark sein und darf kein Spielball politischer Interessen werden .
Kinder- und Jugendpolitik ist aber viel mehr . Sie
bedeutet Beteiligung . Das hat Herr Pols, mein Kollege
aus der Kinderkommission, gerade schon gesagt . Selbst
entscheiden, selbst mitmachen, natürlich vor Ort in der
Familie, aber auch überall, Demokratie lernen . In Ihrem
Antrag, liebe Linke - das ist für mich ein Wermutstropfen -, kommt dieser Partizipationsstrang ein bisschen zu
kurz . Deshalb haben wir uns in unserem Antrag auf das
Wahlalter 16 fokussiert . Auch dieses Thema wird seit
langem diskutiert .
({4})
Einzelne Kommunen und Länder sind mit gutem Beispiel vorangegangen . Nur im Bund warten wir bis heute
darauf . Das muss sich ändern .
({5})
Warum? Ich finde, da lohnt sich ein genauerer Blick.
Ihre Ministerin, Frau Schwesig, war auch Ministerin im
Mecklenburg-Vorpommern und hat sich dort vehement
für die Einführung des Wahlrechts ab 16 eingesetzt . Und
was ist passiert? Dürfen Jugendliche unter 18 jetzt den
Landtag in Schwerin mitwählen? Nein, sie dürfen es
nicht . Nun ist Frau Schwesig Bundesfamilienministerin .
({6})
- Ja . Da war sie aber nicht . - Plötzlich scheint dieses
Thema von ihrer jugendpolitischen Agenda komplett verschwunden zu sein . Die Opposition in Mecklenburg-Vorpommern hat der Ministerin, die heute leider nicht da ist,
({7})
damals vorgeworfen, dass sie, was dieses Thema angeht,
zwar - ich zitiere jetzt nur - kluge Reden hält, aber wenn
es darauf ankommt, schweigt und nicht handelt . Ich hoffe, dass wir es auf Bundesebene nicht mit dem gleichen
Phänomen zu tun haben .
Die Frau Ministerin hat in ihrer eigenen Fraktion bei
diesem Thema doch einen großen Rückhalt . Erst kürzlich, im Juli, hat der werte Herr Kollege Rix die generelle Absenkung des Wahlalters auf 16 gefordert . Die Frau
Ministerin hat viele gute Dinge durchgesetzt - das will
ich nicht bestreiten, und ich bin auch sehr froh darüber -,
aber jugendpolitisch sieht das anders aus . Jugendpolitisch ist ihre Bilanz ein weißer Fleck auf der Landkarte .
({8})
Die Hälfte dieser Wahlperiode ist um . Langsam wird
es Zeit . Oder ist Ihnen beim Thema Jugendpolitik buchstäblich auf halber Strecke die Luft ausgegangen? Ich
nenne ein Beispiel . Nach der Wahl haben Sie einen Jugend-Check angekündigt . Das klingt erst einmal total gut
und hört sich richtig gut an . Im Juli 2015 wollte ich von
Ihrem Ministerium wissen, was daraus wird und wann
der Jugend-Check eingeführt wird . In der Antwort lese
ich, dass Sie sich im September auf Arbeitsebene mit den
Kollegen des österreichischen Familienministeriums zusammensetzen . Das ist Mitte der Legislaturperiode das
erste Gespräch auf Arbeitsebene . Na ja, da brauche ich
nicht mehr viel zu sagen .
({9})
Sehr geehrte Große Koalition, geben Sie sich einen
Ruck! Es spricht vieles für das Wahlalter 16 und nichts
Vernünftiges dagegen .
({10})
Wie sagte Frau Ministerin Schwesig selbst zum Weltkindertag am vergangenen Sonntag so schön: „Wir müssen Jugendliche ernst nehmen, ihnen konkrete Angebote
machen, die Zukunft unserer Gesellschaft aktiv mitzugestalten“?
({11})
- Genau . - Machen Sie sich ans Werk . Die Devise heißt:
Wagen statt Zaudern, Handeln statt Ankündigen, Umsetzen statt Versprechen . Stehen Sie zu Ihren Worten, und
handeln Sie auch für Jugendliche .
({12})
Vielen Dank . - Als nächste Rednerin hat Svenja
Stadler von der SPD-Fraktion das Wort .
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Liebe Zuschauerinnen und Zuschauer! Kürzlich habe ich auf einem Elternabend einen interessanten Satz gehört: Dass Kinder Pflichten haben, wird gern
erwähnt, dass sie aber auch Rechte haben, wird ebenso
gern vergessen . - Natürlich haben Kinder Rechte, und
zwar ganz spezielle Rechte .
({0})
Dazu gehört insbesondere die Feststellung, dass Kinder
und Jugendliche Träger eigener Rechte sind und nicht
bloß als Teil einer Familie oder als Kind von Eltern betrachtet werden dürfen .
Deshalb freue ich mich, dass wir zwei Anträge vorliegen haben, die uns einen Anlass geben, hier heute über
das wichtige Thema Kinderrechte zu diskutieren . - Herr
Weinberg, ich freue mich, wenn Sie mitdiskutieren . Danke .
({1})
- Vorher sollten Sie mir vielleicht zuhören .
Zum einen diskutieren wir über den Antrag der Linken, der die UN-Kinderrechtskonvention in den Mittelpunkt stellt . In diesem Monat jährt sich zum 25 . Mal das
Inkrafttreten der Konvention . Das bedeutet, dass heute
die erste Generation Kinder bereits erwachsen ist, die
von diesen Rechten profitiert hat. Ich finde, das ist ein
Grund zum Feiern, zum Feiern der Konvention selbst als
Grundlage für eine Politik, die Kindern ein gutes Aufwachsen ermöglicht, und zum Feiern der Fortschritte, die
wir bei ihrer Umsetzung gemacht haben . Denn der Kinderrechtsausschuss der Vereinten Nationen, der die Staatenberichte zur Umsetzung der Konvention auswertet
und beurteilt, stellte zuletzt fest, dass Deutschland große
Fortschritte gemacht hat .
({2})
Darüber hinaus gab es auch Verbesserungsvorschläge . Zum Beispiel wurde vorgeschlagen, eine unabhängige Monitoringstelle einzurichten . Diese wird übrigens
inzwischen vom Familienministerium installiert . Sie ist
vollständig unabhängig und - das wurde richtig festgestellt - beim Deutschen Institut für Menschenrechte
angesiedelt . Die Geschäftsführerin und auch die Mitarbeiter sind eingestellt, und die Strukturen werden gerade
aufgebaut .
({3})
Sehen Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Linken, wir arbeiten kontinuierlich daran, die Umsetzung
der Konvention zu verbessern .
Das Jubiläum ist aber auch ein Anlass, wie ich finde,
sich zu fragen, was wir noch tun können, um die Rechte von Kindern und Jugendlichen zu verbessern und zu
stärken . Für mich liegt es ganz klar auf der Hand: Die
Kinderrechte gehören ins Grundgesetz .
({4})
Schon in der letzten Legislaturperiode legte die SPD-Bundestagsfraktion einen Antrag dazu vor .
({5})
Auch mit unserer Familienministerin Manuela Schwesig
sind wir uns darin einig .
Neben dem Antrag der Linken sprechen wir heute
auch über einen Antrag der Grünen .
({6})
Ihnen geht es insbesondere um die Beteiligungsrechte
und die Partizipation von Kindern und Jugendlichen .
Dieser Teilbereich der Kinderrechte ist mir als engagementpolitische Sprecherin meiner Fraktion besonders
wichtig .
({7})
Denn Beteiligung und das Sicheinbringen in eine demokratische Gesellschaft müssen von Anfang an erfahren
und erlernt werden .
Ich möchte hier noch einmal auf die aktuelle Situation der Flüchtlinge zu sprechen kommen . Bei uns in
Deutschland leben bereits jetzt viele Kinder und Jugendliche, die aufgrund von Kriegen, Terror und Verfolgung
aus ihren Heimatländern flüchten mussten. Machen wir
uns nichts vor: Weitere werden kommen . Viele von ihnen
leben ohne Eltern oder Familie bei uns . Ihnen müssen im
Sinne der Chancengleichheit, wie sie in der UN-Kinderrechtskonvention festgeschrieben ist, dieselben Rechte
zukommen wie allen anderen Mädchen und Jungen in
Deutschland auch .
({8})
Deshalb ist es unendlich wichtig, dass gerade diese Kinder und Jugendlichen von Anfang an das Gefühl haben,
dass sie sich und ihre Interessen einbringen können, dass
sie bei uns Gehör finden, dass wir sie ernst nehmen.
Wer Demokratie lernen soll, der muss von Anfang an
die Erfahrung machen, dass Demokratie etwas mit ihm
selbst zu tun hat . Wir müssen dafür Sorge tragen, dass
die Beteiligungsrechte wirklich allen Kindern zustehen,
unabhängig von ihrer Herkunft und unabhängig von ihrer
Religion .
Bereits heute Vormittag haben wir über die unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge und ihre Situation gesprochen . Der dazu vorgelegte Gesetzentwurf ist in meinen Augen eine gute Grundlage . Wir müssen aber auch
weiterhin sehr genau darauf achtgeben, dass die Rechte
von Kindern gewahrt und geachtet bleiben . Auch angesichts einer Krisensituation können und dürfen wir hier
keine Abstriche machen .
({9})
Lassen Sie uns gemeinsam daran arbeiten, dass in
unserem Land jedes Kind gut und frei von Gewalt aufwächst, von Anfang an gute Bildung genießt und sich aktiv in unsere Gesellschaft einbringen kann, unabhängig
von seiner Herkunft und unabhängig von seiner Religion .
Packen wir es an!
Vielen Dank .
({10})
Vielen Dank . - Als nächste Rednerin hat Dr . Silke
Launert von der CDU/CSU-Fraktion das Wort .
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Seit Jahren
wird kontrovers darüber diskutiert, ob wir Kinderrechte in das Grundgesetz aufnehmen sollen . Das 25-jährige Jubiläum der UN-Kinderrechtskonvention bietet nun
einmal mehr Gelegenheit, darüber zu diskutieren, und ist
Anlass für die Anträge der Opposition .
({0})
Was da beantragt wird, hört sich zunächst einmal gut
an: „Kinderrechte ins Grundgesetz!“ - Was, die stehen da
noch nicht drin? Das kann doch nicht sein .
({1})
Aber beim Durchlesen des Antrages stellt man sich,
wenn man sich genau mit dem Verfassungsrecht beschäftigt hat, die Frage: Ist es denn wirklich so? Sind Kinder
bei uns in Deutschland verfassungsrechtlich noch nicht
ausreichend abgesichert?
({2})
Wenn man sich ein bisschen mehr mit der Verfassung
beschäftigt, erkennt man, dass Kinder natürlich Träger
von Grundrechten sind;
({3})
das wird hier nicht oft genug betont, aber es ist so . Sie
sind Träger des Grundrechts auf Menschenwürde, Artikel 1 Grundgesetz . Sie sind Träger des Grundrechts auf
Leben und Gesundheit, Artikel 2 Absatz 2 Grundgesetz;
das ist relevant, wenn Kinder zu Hause verletzt werden .
Sie sind Träger des allgemeinen Persönlichkeitsrechts;
das wird immer wieder angeführt . Sie sind nach der
geänderten Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts inzwischen sogar Träger des Rechts auf Pflege und
Erziehung durch die Eltern aus Artikel 6 Absatz 2 Grundgesetz . Die Rechtsprechung hat also schon sehr viel entwickelt; es gibt da sehr viel . Kinder sind Menschen, und
sie haben dieselben Grundrechte wie Menschen .
({4})
- Ja, weil Sie so tun, als seien Kinder bei uns in der Verfassung nicht ausreichend geschützt . So ist es eben nicht .
({5})
Ich frage mich: Wenn wir jetzt anfangen, Kindern besonderen Schutz zuzugestehen, kommen dann nicht auch
die Senioren, kommen dann nicht zu Recht auch die Behinderten und sagen: „Auch wir möchten einen besonderen Schutz bekommen“?
({6})
Kommt dann nicht - zu Recht - die nächste Gruppierung?
({7})
Genau darum geht es . Das ist mit dem System der Grundrechte, so wie es derzeit angelegt ist, nicht vereinbar .
({8})
Wissen Sie, ich habe ein Jahr Verfassungsrecht gemacht, mich ein Jahr mit Artikel 6 Grundgesetz beschäftigt .
({9})
- Nein, aber die, die das fordern, haben sich meistens
eben nicht so tief eingearbeitet . Deshalb würde ich Ihnen
gern kurz sagen, was da drinsteht .
Es gibt in der Verfassung eine zentrale Norm, in der
das Verhältnis Kinder/Eltern/Staat geregelt ist . Dafür
gibt es auch einen Grund; den erzähle ich Ihnen nachher .
Wenn ich Sie jetzt fragen würde, würden Sie ihn nämlich
wahrscheinlich nicht kennen .
({10})
Artikel 6 Absatz 2 Grundgesetz besagt:
Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche
Recht der Eltern
- das natürliche Recht! und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht.
Das heißt, die Eltern sind in der Pflicht. Das ist also nicht
nur das einseitige Recht der Eltern, sondern es ist ein
dienendes Recht im Interesse des Kindes . Entscheidend
ist das Kindeswohl . Wenn Sie sagen: „Wir brauchen das
Kindeswohl“, antworte ich Ihnen: Da steckt es drin . Das
Bundesverfassungsgericht sagt das schon die ganze Zeit .
In Artikel 6 Absatz 2 Grundgesetz geht es wie folgt
weiter - Satz zwei -:
Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft .
Genau das ist der Unterschied, den wir hier haben: Es
erfolgt eine Kontrolle durch den Staat . Die Eltern haben
das natürliche Recht und die Pflicht, die Interessen der
Kinder wahrzunehmen . Der Staat darf dagegen nur wachen und nicht von vornherein bestimmen, was das Kindesinteresse ist .
({11})
Der Staat darf eingreifen - es gibt aber Gegenrechte, zum Beispiel das allgemeine Persönlichkeitsrecht
des Kindes -, und er darf sogar - Artikel 6 Absatz 3 des
Grundgesetzes - das Kind von den Eltern trennen, wenn
die Erziehungsberechtigten versagen oder wenn das Kind
zu verwahrlosen droht . Glauben Sie mir: In der Praxis
passiert es nicht selten, dass die Eltern versagen und man
ihnen die Kinder wegnehmen muss . Weil es Kinderrechte
gibt, dürfen Kinder auch jetzt schon den Eltern weggenommen werden .
Wir haben ein ausdifferenziertes System, und das
funktioniert . Sie wollen mir doch nicht im Ernst sagen,
dass alle Kinder bei uns schrecklich leiden .
({12})
Der Rechtsprechung gelingt es hier, für einen angemessenen Ausgleich zu sorgen .
Ich möchte jetzt noch einmal ganz kurz sagen, warum
sich diejenigen, die die Verfassung geschrieben haben,
für diesen Ausgleich entschieden haben: Sie haben sich
für diese Gestaltung entschieden, weil man während der
NS-Diktatur entsprechende Erfahrungen gemacht hat .
Damals war es üblich, die Kinder den Eltern wegzunehmen und sie, wann man wollte, von morgens bis abends
fremdzubetreuen und zu indoktrinieren . Glauben Sie es
mir: Genau das ist der Grund, warum diejenigen, die die
Verfassung geschrieben haben, den Artikel 6 Absatz 2 so
verankert haben, wie er ist .
({13})
- Ich weiß, dass Sie es nicht wissen, sonst würden Sie
sich nicht so aufregen . - Die Eltern sollen ein bisschen
Freiheit haben, und der Staat soll nicht diktieren, was das
Wohl des Kindes ist .
({14})
Das ist mein Problem:
({15})
Was wollen Sie mit Ihrem Antrag? Wollen Sie, dass wir
einfach nur eine schöne Symbolpolitik machen, die man
gut verkaufen kann, nach dem Motto: Kinderrechte jetzt
auch ins Grundgesetz?
({16})
- Nein, Sie haben es nicht verstanden .
({17})
Wollen Sie nur eine Symbolpolitik? Die haben wir jetzt
schon. Wollen Sie, dass der Staat mehr in die Pflicht genommen wird? Oder wollen Sie - das ist der Grund, warum ich bezüglich dieses Antrags Angst habe -, dass wir
noch mehr Gegenrecht - Kinder gegen Eltern - haben?
Wer bestimmt das Recht der Kinder? Der Staat? Wollen Sie, abgesehen von all den Einschränkungen des Elternrechts, die wir jetzt schon haben, dass jemand vom
Schreibtisch aus alles besser weiß und bestimmt? Ich will
das nicht .
({18})
Ich kann es nicht mehr hören, dass man von morgens
bis abends immer nur sagt, Fremdbetreuung sei das einzig Wahre .
({19})
Glauben Sie es mir: Wir brauchen auch ein bisschen Freiheit für die Eltern . Geben Sie sie ihnen, und lassen Sie
es sein .
({20})
Ich habe einfach Angst, dass hier eine weitere Stärkung wieder dazu genutzt wird, um gegen die Eltern zu
schießen . In diesem Zusammenhang sage ich: Denken
Sie noch einmal darüber nach . Ich weiß, es ist 70 Jahre
her . Viele wissen es nicht mehr . Wehret den Anfängen!
Es gibt einen Grund, warum der Artikel 6 Absatz 2 des
Grundgesetzes so aussieht, wie er aussieht .
Vielen Dank .
({21})
Vielen Dank . - Als nächste Rednerin hat Susann
Rüthrich von der SPD-Fraktion das Wort .
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Dem überwiegenden Teil der Kinder in
Deutschland geht es gut . Sie wachsen geborgen auf und
bringen sich ein . Ein Beispiel aus der vergangenen Woche: Ich habe die Kinder zweier Grundschulklassen aus
meiner Region dazu eingeladen, mir ihre Stadt aus ihrer
Sicht zu zeigen . Was wir da hörten, war: Es geht uns gut,
wir fühlen uns wohl in unserer Stadt, wir fühlen uns wohl
mit unseren Eltern, wir fühlen uns wohl in unserer Schule . - Das soll auch so sein, und das freut mich .
({0})
Die Kinder sagten aber auch: Wir hätten noch ein paar
Vorschläge . Es geht nämlich noch besser . - Hier schlugen sie einen Fußgängerüberweg und da einen Spielplatz
vor . Außerdem hätten sie gern mehr Zeit, und zwar nur
für sich .
({1})
Das ist vielleicht ein kleiner Baustein dafür, was wir
manchmal ein bisschen abstrakt „Beteiligung“ nennen .
Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, wollen das Recht auf Beteiligung von Kindern stärken . Wir wollen das auch .
({2})
Ich will, dass das überall passiert: von der Einrichtung
über die einzelnen Ebenen bis hin zur internationalen Politik .
Ein gutes Beispiel dafür ist „Plant for the Planet“ .
Das ist eine Initiative von Kindern und Jugendlichen, die
kommunal gestartet ist und mittlerweile weltweit Kinder
und Jugendliche organisiert, um sich für Klimaschutz einzusetzen, und sie tun auch selbst etwas, indem sie Bäume
pflanzen. Außerdem streiten die sehr engagiert und, wie
ich finde, mit sehr guten Argumenten - wir haben uns in
der Kinderkommission davon überzeugt - dafür, selber
wählen zu können bzw . Kinder an allen sie betreffenden
Entscheidungen und Fragen selber zu beteiligen . Das ist
kein Fall für: Wenn es nichts kostet und wenn es gerade passt, dann machen wir das gerne . - Nein, es ist ihr
Recht .
({3})
Nicht alle Kinder kommen zu diesem Recht - weder
zu dem auf Beteiligung noch zum Beispiel zu dem auf
beste gesundheitliche Versorgung . Das ist so, wenn ich
etwa an Flüchtlingskinder denke, die leider weitestgehend immer noch nicht mit einer Karte einfach zum Arzt
gehen können . Auch kommen nicht alle Kinder zu dem
Recht der freien Entfaltung der Persönlichkeit . Dabei
denke ich etwa an den Umgang mit intergeschlechtlich
geborenen Kindern oder an Kinder mit Behinderung .
Mich macht es richtig traurig, dass auch Deutschland die
Kinderrechtscharta noch nicht vollständig umsetzt . Da
müssen wir aber hin .
({4})
Nur wie? Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, schlagen
verschiedene Hebel vor . Die Aufnahme der Kinderrechte
ins Grundgesetz ist einer . Dafür haben Sie, wie Sie wissen, unsere vollständige Zustimmung . Ich würde liebend
gerne endlich in die Debatte einsteigen, welche Formulierung und welche Aspekte wohin geschrieben werden,
anstatt dauernd beim Ob aufgehalten zu werden .
({5})
Sie wollen einen nationalen Aktionsplan für Kinderund Jugendbeteiligung . Wir wollen das auch . Da sind
wir dabei . Sie wollen das Wahlalter auf 16 Jahre senken .
Gern, das wäre ein Schritt in die richtige Richtung . Sie
können gerne in den Bundesländern, wo Sie mitregieren,
damit anfangen:
({6})
zum Beispiel in Baden-Württemberg und in Hessen . Da
haben wir noch ein bisschen vor uns .
Da, wo die Jugendlichen von „Plant for the Planet“
hinkommen wollen, wären wir damit immer noch nicht .
Die schlagen zum Beispiel - ich finde das durchaus überzeugend - ein Wahlregister vor, in das sich Menschen
unter 18 Jahre eintragen lassen können . Sie müssen dazu
nur ihren persönlichen freien Willen bekunden . Dann
sollte ihnen dieses hohe Gut auch nicht vorenthalten
werden .
Die unabhängige Monitoringstelle muss dankenswerterweise nicht mehr gefordert werden . Es gibt sie
seit Juli . Wir werden sie nach Kräften unterstützen und
wünschen der Leiterin, Frau Kittel, die wir alle aus guter
Zusammenarbeit mit der National Coalition kennen, und
ihren Kolleginnen und Kollegen bestes Gelingen .
({7})
Sie fordern des Weiteren einen Kinderbeauftragten .
Wir alle kennen die Petition dazu . Ich habe mich darüber sehr gefreut . Der Bundestag befasst sich noch damit .
Hier und jetzt einen Beschluss dazu zu fassen, würde
dem Verfahren vorgreifen . Ich nehme trotzdem zu ein
paar Punkten daraus Stellung .
Viele der Problembeschreibungen der Petenten teilen
wir . Sie gehen in Ihren Anträgen ja auch darauf ein . Diese Probleme abzustellen, muss unser gemeinsames Ziel
sein . Wir wollen aber natürlich nicht, dass der Kinderbeauftragte im Rahmen einer Symbolpolitik - so nach
dem Motto: klingt gut, dann haben wir ja immerhin etwas
gemacht - in die Landschaft gestellt wird . Nein, wir müssen uns natürlich um die in der Petition beschriebenen
Aufgaben kümmern . Die nennen Sie ja auch in Ihrem
Antrag .
Schauen wir uns die also im Einzelnen an: Die Monitoringstelle gibt es schon . Weiter fordern Sie, Gesetze
auf ihre Auswirkungen auf Kinder und Jugendliche hin
zu prüfen . Das ist der Jugend-Check . Der wird gerade im
Ministerium erarbeitet . Er steht im Koalitionsvertrag . Ich
wünsche mir, dass er nicht nur im Familienministerium,
sondern in allen Häusern angewendet wird .
({8})
Wir haben ein Beschwerdesystem . Das nennt sich
Petitionsausschuss . Wenn wir den mit einem Beschwerdesystem nur zu Kinderthemen ausstatten würden, um
die Zugänge kindgerecht zu machen, hätten wir eine Beschwerdestelle .
Es gibt die Kinderkommission . Sie bringt die Belange
von Kindern ins Parlament - und damit in die Gesetzgebung - ein . Das Einstimmigkeitsprinzip, Herr Müller,
macht uns in der Kinderkommission stark . Da wollen wir
nicht ran .
({9})
Doch, wir könnten mehr, wenn wir ein eigenes Antragsrecht, eigene Mitbefassungen und die Ressourcen
dazu hätten und wenn wir als KiKo-Mitglieder im Zweifel die Kinderpetitionen bearbeiten würden .
Sie sprechen die Öffentlichkeitsarbeit an . Das macht
das Ministerium . Und Sie wollen Beteiligung . Richtig!
Aber das zum Beispiel ist ja gerade die Stärke von Kinder- und Jugendverbänden . Dort engagieren sich die Kinder und Jugendlichen .
({10})
Und es ist unsere Aufgabe, die dann auch entsprechend
zu hören und auszustatten .
Meine Schlussfolgerung ist demzufolge: Ja, wir stärken die Kinderrechte . Wir haben Instrumente neu geschaffen, und wollen die ausbauen, die es schon gibt . An
den ganz dicken Brettern bohren wir gemeinsam weiter,
bis wir es geschafft haben . Die Kinderrechte werden irgendwann im Grundgesetz stehen; da bin ich mir ganz
sicher .
Vielen Dank .
({11})
Vielen Dank . - Liebe Kolleginnen und Kollegen, damit schließe ich die Aussprache .
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/6042 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen . Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall . Dann ist die Überweisung
so beschlossen .
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen
und Jugend zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen mit dem Titel „Von Anfang an beteiligen - Partizipationsrechte für Kinder und Jugendliche im demografischen Wandel stärken“. Der Ausschuss empfiehlt in
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/5276,
den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 18/3151 abzulehnen . Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Die Koalition . Wer stimmt dagegen? - Die Opposition . Gibt es Enthaltungen? - Das ist
nicht der Fall . Dann ist die Beschlussempfehlung mit den
Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der Opposition angenommen worden .
Ich rufe jetzt Zusatzpunkt 5 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Haltung der Bundesregierung zu unzutreffenden Angaben beim Spritverbrauch und
Schadstoffausstoß von Pkw
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte Sie bitten, zügig Ihre Plätze einzunehmen und keine Gespräche
mehr zu führen . Das gilt auch für die Kolleginnen .
Ich eröffne die Aussprache . Als erstem Redner in der
Aktuellen Stunde gebe ich Oliver Krischer von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Ermittlungen der US-amerikanischen Umweltbehörde EPA haben in dieser Woche den wohl größten industrie- und umweltpolitischen Skandal der letzten Jahre offenbar gemacht - nicht ausgelöst -, der den VW-Konzern
ins Wanken bringt und den Ruf der Vorzeigeindustrie
Deutschlands, der Automobilbranche, schwer beschädigt .
Es ist deutlich geworden, dass zumindest der
VW-Konzern, aber offensichtlich auch - das können wir
nicht ausschließen - die gesamte Branche mehr RessourSusann Rüthrich
cen dareingesetzt hat, mit Tricksen und Täuschungen bis
hin zu illegalen Betrügereien die Abgastests so zu manipulieren, dass die Fahrzeuge die Abgaswerte im Labor
einhalten, aber nicht auf der Straße .
Diese Aufweichung von Umwelt- und Klimaschutzstandards, dieses Hintergehen von Vorgaben zeigt, dass
es langfristig einer Industrie schadet, wenn sie versucht,
zu tricksen und zu täuschen, statt zu versuchen, die
höchsten Standards tatsächlich einzuhalten .
({0})
Es macht deutlich: Nur wer die höchsten Standards auf
der Welt hat und sie auch einhält, der hat eine Chance auf
den Weltmärkten der Zukunft .
({1})
Dabei ist das Problem keineswegs neu . Millionen
deutscher Autofahrer, die sich einen VW Passat kaufen,
kennen das: In den Papieren steht, dass das Auto 4 Liter
auf 100 Kilometern verbraucht, aber an der Tankstelle
gibt es das böse Erwachen . Der Wagen verbraucht 5,5
oder 6 Liter . Ich sage: Schon allein diese Tatsache ist
ein Betrug . Das ist Verbrauchertäuschung . Damit muss
Schluss sein .
({2})
Darüber hinaus belegen diverse Studien, dass gerade
Dieselfahrzeuge der neuen Generation die Grenze für
Stickoxidwerte, die in unseren Städten vielfach überschritten wird, wobei dieser Stoff als Ursache für eine
Vielzahl von Erkrankungen gilt, trotz ihrer Zulassungen
aufgrund der Abgaswerte und der erfolgreichen Tests im
Labor um ein Vielfaches überschreiten .
Ich kann, ehrlich gesagt, nur kopfschüttelnd fragen:
Wie skrupellos oder inkompetent müssen Manager eigentlich sein, die in Kenntnis dieser Studie versuchen,
genau diese Fahrzeuge unter der Überschrift „Clean Diesel“ in den USA auf den Markt zu bringen? Das ist ein
Skandal . Das ist ein Negativbeispiel für deutsches Management und deutsche Industrie .
({3})
Ich fürchte, das ist auch das Ende des Traums vom
Diesel als sauberer Antriebstechnologie . Wir werden darüber reden müssen, was das in Zukunft zum Beispiel
auch für das Subventionieren des Diesels an der Zapfsäule heißt .
Aber noch schlimmer als das, was im Management
passiert ist, ist, dass die Automobilindustrie die Tests selber durchgeführt hat und dass es keine Kontrolle gab . Mit
freundlicher Unterstützung der Bundesregierung hat man
akzeptiert, dass die Automobilindustrie sich selber kontrollieren kann und dass sie manipulieren, tricksen und
täuschen kann . Das zuständige Kraftfahrt-Bundesamt,
das Herrn Dobrindt untersteht, hat nicht einmal einen
Etat dafür, solche Überprüfungen vorzunehmen .
Es ist doch unglaublich, dass der Rückzug des Staates,
die Kumpanei zwischen Bundesregierung und Automobilindustrie, genau dazu führt, dass diese Industrie jetzt
schwer beschädigt wird . Damit muss Schluss sein . Wir
brauchen eine starke Kontrolle des Staates bei Abgaswerten . Nur so werden wir auch in Deutschland nicht nur
die Umwelt und das Klima schützen, sondern auch der
Autoindustrie auf Dauer eine Perspektive geben, meine
Damen und Herren .
({4})
Ich staune über den zuständigen Verkehrsminister
Herrn Dobrindt . Er sagt allen Ernstes, er habe von diesen
Manipulationen und Überschreitungen der Grenzwerte
für CO
und Stickoxide zum ersten Mal am Sonntag aus
der Zeitung erfahren . Meine Damen und Herren, wenn
man vorher schon Zeitung gelesen und sich ein paar Studien angesehen hätte, dann hätte man das als normaler
Zeitungsleser mitbekommen können, erst recht als Verkehrsminister .
Ich will jetzt gar nicht darüber reden, dass der Minister seinen Antworten auf unsere Anfrage selber nicht
glaubt . Ich staune, dass die Bundesregierung am 18 . August 2015 geschrieben hat, dass ihr seit Herbst 2014 belastbare Indizien vorliegen, dass bei Stickoxiden Überschreitungen gerade bei Euro-6-Fahrzeugen vorliegen .
Man staunt, dass das der EU-Kommission geschrieben
worden ist, der zuständige Verkehrsminister aber davon
offensichtlich nichts gewusst haben will .
Was wir brauchen, ist ein Mentalitätswechsel . Wir
brauchen die ehrliche Einhaltung von Umwelt- und Klimastandards, gerade auch zum Schutz für eine Zukunftsperspektive der deutschen Automobilindustrie .
({5})
Wenn VW jetzt reinen Tisch machen will, dann muss
dieser Mentalitätswechsel her . Der erste Schritt ist, dass
umfassende Transparenz hergestellt wird und dass die
Fahrzeuge all derjenigen, die geglaubt haben, einen sauberen Wagen zu kaufen, zurückgerufen und nachgerüstet
werden .
Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen .
Diesen Mentalitätswechsel brauchen wir . Dazu brauchen wir auch einen Verkehrsminister, der das vorantreibt und diese Maßnahmen angeht . Herr Dobrindt, ich
habe aber Zweifel, dass Sie dazu in der Lage sind .
Ich danke Ihnen .
({0})
Vielen Dank . - Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir
haben uns selber die Regel gegeben, dass die Redezeit
im Rahmen einer Aktuellen Stunde fünf Minuten beträgt,
nicht sechs Minuten, und ich bitte, das auch zu beachten .
Als nächster Redner hat der Bundesverkehrsminister
Alexander Dobrindt für die Bundesregierung das Wort .
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Sehr geehrter Herr Krischer, Sie setzen das fort, was Sie schon
die ganze Woche über in den Medien öffentlich verkündet haben . Ich sage Ihnen noch einmal sehr deutlich: Ich
missbillige dieses Verhalten von Ihnen .
({0})
Sie haben in einem Interview gesagt:
Es ist … ganz offensichtlich so, dass man hingenommen hat, dass diese Manipulationen stattfinden.
Sie haben dabei die Bundesregierung verdächtigt . Ich
kann Ihnen dazu sagen: Ihre Verdächtigungen sind
falsch . Ihr Verhalten ist unanständig, und Ihr Auftritt hier
war ein Minusrekord auf der Skala, lieber Herr Krischer .
({1})
Die von Volkswagen eingestandenen Manipulationen
bei Emissionen an Dieselfahrzeugen sind unzulässig und
illegal . Daran gibt es keinen Zweifel . Das bedeutet nicht
nur einen großen Schaden für die Marke VW, sondern
erschüttert auch das Vertrauen der Verbraucher zutiefst .
VW steht hier in der Verantwortung, den Schaden zu beheben und das Vertrauen wiederherzustellen .
({2})
Deswegen sind in der Tat lückenlose Aufklärung der Manipulationen, vollständige Transparenz, Kooperation und
öffentliche Unterrichtung gefordert . Das ist von uns auch
so gegenüber Volkswagen eingefordert worden .
Ich habe zu diesem Zweck bereits am Montag nach
Bekanntwerden der Manipulationen das Kraftfahrt-Bundesamt angewiesen, strenge spezifische Nachprüfungen
bei Volkswagen durch unabhängige Gutachter vornehmen zu lassen . Die Nachprüfungen erstrecken sich übrigens auch auf Fahrzeuge anderer Hersteller sowohl aus
dem Inland als auch aus dem Ausland . Und wir werden
diese Nachprüfungen sowohl auf dem Prüfstand, der sogenannten Rolle, als auch unter realen Verkehrsbedingungen vornehmen .
Am Dienstag habe ich eine Untersuchungskommission aus Fachleuten des Bundesverkehrsministeriums und
des Kraftfahrt-Bundesamtes eingesetzt, die bereits am
Mittwoch vor Ort in Wolfsburg zu ersten Gesprächen
waren und Einsicht in Unterlagen genommen haben . Sowohl bei diesem Termin als auch bei den weiteren Gesprächen mit Volkswagen hat VW zugesagt, die Arbeit
der Kommission vollumfänglich zu unterstützen und bei
der Aufklärung mitzuarbeiten .
Klar ist inzwischen, dass auch Fahrzeuge in Deutschland von diesen Manipulationen betroffen sind . Es sind
nach unserer aktuellen Kenntnis Fahrzeuge der 2-Literund der 1,6-Liter-Dieselklasse . Dabei handelt es sich um
circa 2,8 Millionen Fahrzeuge auf dem deutschen Markt .
Es ist jetzt in der Diskussion, dass 1,2-Liter-Fahrzeuge
ebenfalls betroffen sind . Zumindest aktuell gehen wir
davon aus, dass sich auch hier mögliche Manipulationen zeigen können . Weiteres wird gerade in den aktuellen Gesprächen mit Volkswagen ermittelt . Wir konnten
ebenfalls feststellen - so unser aktueller Kenntnisstand -,
dass auch leichte Nutzfahrzeuge von Volkswagen betroffen sind, in denen ebenfalls die in Rede stehenden Motoren zum Einsatz kamen .
Das Kraftfahrt-Bundesamt fordert Volkswagen auf,
verbindlich zu erklären, ob sich das Unternehmen in der
Lage sieht, die eingestandenen technischen Manipulationen zu beheben,
({3})
sodass die Fahrzeuge in einen den technischen Regeln
entsprechenden Zustand gebracht werden können . Wir
erwarten einen verbindlichen Zeitplan, aus dem hervorgeht, bis wann eine technische Lösung vorliegt und bis
wann sie umgesetzt werden kann . Klar ist dabei auch,
dass die Verbraucherinteressen vollumfänglich berücksichtigt werden müssen .
({4})
Das heißt, dass alle Maßnahmen, die der Schadensbehebung dienen, wie auch mögliche Folgeauswirkungen
nicht zulasten des Kunden gehen dürfen .
Meine Damen und Herren, wir achten darauf, dass sowohl die Aufklärung als auch die Transparenz als auch
die Schadensbehebung als auch die vollumfängliche Berücksichtigung der Kundeninteressen so stattfinden. Ich
habe gegenüber Volkswagen keinen Zweifel daran gelassen, dass wir dies ständig aufmerksam begleiten werden
und nicht nachlassen, bis der ganze Fall aufgeklärt ist .
({5})
Sehr geehrter Herr Krischer, was wir dabei nicht machen sollten, ist die unzulässige Vermischung von einer
verbotenen technischen Manipulation an Fahrzeugen mit
den Verhandlungen, die wir seit 2011 auf europäischer
Ebene führen, um die Prüfmechanismen zu optimieren .
Sie wissen eigentlich sehr genau, dass sich die Verhandlungen zwischen der Kommission und den Nationalstaaten in Brüssel seit 2011 darum drehen, dass wir neben
Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn
dem Test auf der Rolle auch einen Test im Realverkehr
auf der Straße schaffen, den sogenannten RDE-Test .
({6})
Aktuell finden Diskussionen darüber statt, wie dieser
Test ausgestaltet werden soll . Die Verkehrsminister der
Länder sind sich seit langem darüber einig, dass diese
RDE-Tests eingeführt werden . Deswegen wird in den
nächsten Wochen und Monaten weiter darüber debattiert,
bis wann dies geschehen kann .
({7})
Wir werden auf dem nächsten Verkehrsministerrat in
Brüssel ebenfalls darüber reden .
Die Vermischung der beiden Diskussionen ist - ich
sage es noch einmal - eindeutig unzulässig . Auf der einen Seite geht es um eine verbotene Manipulation .
({8})
Auf der anderen Seite versuchen wir, die Prüfmechanismen zu verbessern .
Diskussionsgegenstand hinsichtlich der Prüfungen
war, dass die Tests auf der Rolle andere Verbräuche und
damit andere Schadstoffausstoßwerte hervorbringen, als
bei Fahrten auf der Straße entstehen . Das liegt aber daran, dass bei den Tests auf der Rolle klar definiert ist, wie
die Emissionen des Fahrzeugs zu messen sind . Das kann
sich natürlich vom individuellen Fahrverhalten auf der
Straße unterscheiden .
({9})
Gerade deswegen wird die Idee verfolgt, Tests auf die
Straße zu verlegen, um so näher an das reale Fahrverhalten der Autofahrer heranzukommen . Wir führen darüber
eine Diskussion, und wir setzen das entsprechend um .
Das ist allgemein bekannt .
({10})
Und wir werden da zu einem Ergebnis kommen .
Dass Sie versuchen, das eine mit dem anderen zu vermischen und daraus einen Vorwurf zu machen, das halte
ich in der Tat für unredlich . Wir arbeiten daran, dass die
Bedingungen der Tests verbessert werden, und wir lassen
keinen Zweifel daran, dass Manipulationen - diese sind
ja unzulässig - nicht stattfinden dürfen. Zumindest dürfen sie nicht ungestraft stattfinden.
Danke schön .
({11})
Vielen Dank . - Als nächste Rednerin hat Sabine
Leidig von der Fraktion Die Linke das Wort .
({0})
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Besucherinnen und Besucher! Ich will zunächst
darüber sprechen, warum dieser Abgasskandal eigentlich
so gewaltig ist . Dann stelle ich einige Sofortmaßnahmen
vor, die wir als Linksfraktion fordern .
Zunächst also: Was ist Sache? In den USA wurde
nachgewiesen, dass VW mit einem technischen Eingriff seine Dieselmotoren manipuliert hat, und zwar bei
11 Millionen Autos; das hat VW zugegeben . Die meisten
Autos sind in Europa, viele auch in Deutschland, unterwegs . VW hat dafür gesorgt, dass bei den standardisierten Messverfahren niedrige Abgaswerte vorgetäuscht
werden . Im wirklichen Fahrbetrieb aber kommt das
Zigfache aus dem Auspuff . Andere Autokonzerne haben
das Gleiche gemacht . BMW ist in den Schlagzeilen . Die
Firma Bosch hat bekannt gegeben, dass sie das Förderund Dosiermodul zur Abgasnachbehandlung an fast alle
Autohersteller geliefert hat .
Auch die Werte von Benzinmotoren werden mit verschiedenen Eingriffen so manipuliert, dass sie auf dem
Prüfstand deutlich weniger verbrauchen oder ausstoßen
als auf der Straße . Das weiß man seit Jahren; die Deutsche Umwelthilfe hat es akribisch nachgewiesen . Ich war
auf einem Seminar zu diesem Thema . Einige Fraktionen
von hier haben dort komplett gefehlt - schade . Heute
veröffentlichte der VCD, dass diese Abweichungen 2001
noch bei 8 Prozent lagen . Mittlerweile liegen sie bei
40 Prozent . Das heißt, das Ganze hat System . Die Autofahrerinnen und Autofahrer, die auf sparsamen Verbrauch
achten, werden belogen und betrogen .
Seit Jahren wird darüber gesprochen . Die Umweltverbände haben es öffentlich kritisiert .
({0})
Seit Jahren werden unabhängige Prüfungen gefordert .
Passiert ist nichts . Der Verkehrsminister hat nicht reagiert . Das zuständige Kraftfahrt-Bundesamt hat keine
einzige eigene Kontrollmessung durchgeführt . Dabei
geht es ja nicht irgendwie um gewisse Abweichungen .
Die Verantwortlichen in der Automobilindustrie haben
veranlasst, dass Schadstoffe weit über das verträgliche
Maß hinaus in die Landschaft und in die Städte geblasen werden, und zwar, weil sie noch mehr Profit machen
wollen . Was in den Chefetagen der Automobilindustrie
organisiert wurde, ist gewerbsmäßiger Betrug .
({1})
Sie tragen bewusst und systematisch zur Schädigung von
Gesundheit, Umwelt und Klima bei, und das ist der eigentliche Skandal, den wir nicht länger hinnehmen dürfen .
({2})
Es reicht nicht, wenn ein paar Herren aus den Vorständen zurücktreten . Die Verantwortlichen müssen
strafrechtlich verfolgt werden . Die Bundesregierung
muss alle rechtlichen Möglichkeiten ausschöpfen, um
die milliardenschweren Eigentümer der Autokonzerne
für den finanziellen Schaden haftbar zu machen, der den
Verbraucherinnen und Verbrauchern, dem Fiskus und der
Allgemeinheit entstanden ist .
Damit bin ich bei unseren Forderungen für ein Sofortprogramm:
Erstens . Es muss eine neue und unabhängige Untersuchungskommission eingesetzt werden . Die Expertinnen
und Experten, die da zum Einsatz gebracht werden, müssen von den Umwelt- und Verbraucherorganisationen
oder vom VCD und anderen benannt werden, von den
Organisationen, die tatsächlich seit Jahren gegen diesen
Abgasbetrug vorgehen . Herr Dobrindt hat die eigenen
Fachleute eingesetzt, aus seinem Ministerium und aus
dem Kraftfahrt-Bundesamt .
({3})
Aber genau die Leute haben diese Machenschaften seit
Jahren einfach nicht gekontert .
({4})
Sie haben sie durchgehen lassen, als Helfershelfer quasi,
und jetzt sollen sie der Sache auf den Grund gehen . Das
ist der ungeeignete Mechanismus .
({5})
Zweitens . Die Kommission, deren Einsetzung wir
fordern, muss bei allen in Deutschland produzierenden
Autoherstellern, beim Automobilverband VDA und bei
Autozulieferern wie Bosch zu den Manipulationen an
Fahrzeugmotoren ermitteln, und sie muss dabei umfassend mit der Staatsanwaltschaft zusammenarbeiten .
({6})
Es geht nicht nur darum, herauszufinden, mit welchem
technischen Modul es VW gemacht hat .
Drittens . Die Kommission muss eine unabhängige
Überprüfung der tatsächlichen Abgas- und Verbrauchswerte veranlassen . Das muss für alle Pkw repräsentativ
durchgeführt werden . Da darf man auch nicht auf das
neue europäische Prüfverfahren warten, das ja die Bundesregierung bisher immer verzögert hat .
({7})
Es ist überhaupt nicht sinnvoll, darauf zu warten . Man
kann sofort etwas tun . Und dann muss die Kommission
aus diesen Überprüfungen errechnen, wie hoch die gesellschaftlichen Schäden sind, die die Automobilkonzerne verursacht haben .
({8})
Schließlich muss diese Kommission dem Bundestag
berichten, und nicht dem Minister; denn der Bundestag
ist dafür verantwortlich, Schaden von der Bevölkerung
und auch von der Umwelt abzuwenden .
Zum Schluss noch eine Anmerkung . Dieser Skandal
ist kein einzigartiges Ereignis . Die Bundesregierung hat
immer wieder ihre schützende Hand über die Automobilindustrie gehalten . Auch in dieser Legislatur gehen die
Spitzenvertreter der Automobilindustrie im Kanzleramt
und im Verkehrsministerium ein und aus . Das nützt aber
den Menschen in diesem Land nichts .
({9})
Frau Kollegin, Sie müssen zum Schluss kommen .
Es ist höchste Zeit, dass die Verkehrspolitik auf andere
Füße gestellt und sozialökologisch umgebaut wird,
({0})
und das geht nicht mit diesem Verkehrsminister .
({1})
Ich bitte wirklich noch einmal, auf die fünf Minuten
zu achten .
({0})
Als nächste Rednerin spricht Kirsten Lühmann von
der SPD-Fraktion .
({1})
Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen!
Als Erstes ist festzustellen: Die deutsche FahrzeugindusSabine Leidig
trie ist ein weltweiter Innovationsmotor für neue Sicherheits- und Umwelttechnik .
({0})
Das haben wir in den letzten Jahrzehnten deutlich gesehen . Ich könnte Ihnen Beispiele nennen; das geht vom
Fahrerairbag über ABS bis hin zu digitalen Außenspiegeln und teilautonomem Fahren .
({1})
Über 750 000 Menschen in unserem Land bauen zuverlässige und sichere Fahrzeuge . Das war letzte Woche
so, das ist diese Woche so, und das wird nächste Woche
auch so sein, liebe Kollegen und Kolleginnen .
({2})
Nur eines ist in dieser Woche anders . Es ist etwas bekannt geworden, was uns die Wirtschaft immer als bei
deutschen Firmen undenkbar dargestellt hat, nämlich
dass aus Gründen der Gewinnmaximierung bei gesetzlichen Standards betrogen wurde .
Für mein gänzliches Unverständnis sorgt die Tatsache, dass einige Fachleute jetzt sogar sagen, dass der zur
Diskussion stehende Motor durchaus die strengen amerikanischen Normen problemlos hätte einhalten können,
wenn nur zum Beispiel ein entsprechender Filter eingebaut worden wäre . Das ist allerdings nicht passiert, weil
einige VW-Verantwortliche das Geld dafür eben sparen
wollten . Das ist skandalös, liebe Kollegen und Kolleginnen .
({3})
Das Thema hat zwei Dimensionen . Die erste ist die
Aufklärung . Dabei hat VW uneingeschränkte Kooperation zugesagt; VW hat auch erste personelle Konsequenzen gezogen . Der neue Vorstandsvorsitzende muss jetzt
allerdings den Worten Taten folgen lassen . Das kann er
sehr gut, weil der Minister - er hat es eben angesprochen - eine Kommission eingesetzt hat, die die Frage
untersuchen soll, ob die Motoren die europäischen Normen auch ohne Manipulationen erfüllen können . Da die
Antwort auf diese Frage und die möglicherweise daraus
resultierenden rechtlichen Folgen bis hin zu Rückrufaktionen die Menschen in Deutschland besonders bewegen,
sind wir der Meinung, dass es einen zeitnahen Zwischenbericht im Verkehrsausschuss geben sollte - möglichst
noch im nächsten Monat .
({4})
Die zweite Dimension betrifft die Frage, wie solche Manipulationen in Zukunft möglichst verhindert
werden können . Zurzeit schreibt die EU umfangreiche
Prüfungen vor, und zwar sowohl für Neufahrzeuge bei
der Typzulassung als auch später mit Gebrauchtwagen .
Und, Herr Krischer, Sie wissen genau: Die Prüfungen
mit Gebrauchtfahrzeugen werden nicht von den Fahrzeugherstellern durchgeführt, sondern von unabhängigen Prüforganisationen . Allerdings - da gebe ich Ihnen
recht - finden all diese Prüfungen im Labor unter den
gleichen Bedingungen statt, um eine Vergleichbarkeit der
Ergebnisse sicherzustellen . Das Problem dabei ist:
({5})
Auf dem Prüfstand kommen idealisierte Werte zustande,
die wenig mit dem tatsächlichen Verbrauch der Fahrzeuge zu tun haben und daher als Kundeninformationen wenig hilfreich sind .
({6})
Der zweite Punkt in diesem Zusammenhang ist: Vorhersehbare Prüfzyklen sind relativ einfach manipulierbar . Es ist bekannt, dass Programme, die Prüfzyklen
erkennen, nicht nur zur Beeinflussung von CO
- und
Stickoxidemissionen, sondern zum Beispiel auch zur
Beeinflussung von Lärmemissionen existieren. EU-weit
sind bei Motoren sogenannte Abschaltautomatiken verboten - grundsätzlich . Grundsätzlich heißt aber auch,
dass sie ausnahmsweise eingebaut werden können . Das
nun ist das Problem bei der Prüfung: Die Prüfenden müssen feststellen, ob es sich um eine legale Abschaltautomatik handelt oder ob neben der legalen Software noch
eine illegale Software aufgespielt ist . Dazu muss tief in
die Programmierung geschaut werden .
Allen EU-Mitgliedstaaten ist diese Problematik bekannt . Daher haben sie auch gehandelt . Sie haben eben
nicht nichts getan . Vielmehr haben alle Verkehrsminister
verabredet, Lösungen zu entwickeln .
({7})
Und wir alle gemeinsam haben im Verkehrsausschuss
die Fortschritte dabei verfolgt . Niemand wusste mehr als
der andere . Wir alle wussten - es ist eben angesprochen
worden; ADAC und Deutsche Umwelthilfe haben seit
Jahren darauf hingewiesen -: Die Werte aus dem Labor
können nicht realistisch sein, seien sie nun manipuliert
oder nicht . Daher sind neue Verfahren im Echtbetrieb erforderlich .
Der Minister will so etwas jetzt prüfen, auch wenn das
noch keine Rechtsfolgen haben kann . Denn Rechtsfolgen
kann es nur haben, wenn wir die von der EU inzwischen
entwickelten Verfahren endlich verbindlich einführen,
nämlich vergleichbare Standards im Echtbetrieb, die wenig manipulationsanfällig sind . Die Kommission hat uns
solche Verfahren vorgeschlagen .
Ja, es gibt da auch noch einige Bedenken . Deshalb
habe ich erfreut zur Kenntnis genommen, dass der Verband der Automobilindustrie jetzt sagt, er möchte intensiv und konstruktiv an der Lösung dieses Themas mitarbeiten . Angesichts der aktuellen Ereignisse gehe ich
also davon aus, dass der Verband aktiv die möglichen
Bedenken von Kritikern ausräumen wird, damit wir das
neue Verfahren möglichst schnell - möglichst noch im
nächsten Jahr - einführen können . Das führt dann endlich
zu der erforderlichen Klarheit sowohl für die Verbrauchenden als auch für die Behörden . Das wäre wenigstens
ein positives Ergebnis dieses Skandals .
Herzlichen Dank .
({8})
Vielen Dank . - Als nächster Redner hat Thomas
Viesehon von der CDU/CSU-Fraktion das Wort .
({0})
Verehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und
Herren! Das VW-Werk im nordhessischen Baunatal ist
mit rund 16 000 Beschäftigten der größte Arbeitgeber
meines Wahlkreises mit einer herausragenden Bedeutung
für die gesamte Region .
Mit großem Fleiß und großer Zuverlässigkeit werden
dort von den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern jährlich
unter anderem mehr als 4 Millionen Schalt- und Automatikgetriebe produziert . Das entspricht der Hälfte der
weltweit vom Konzern benötigten Getriebe . Die von dem
jetzigen Skandal ausgehende Betroffenheit ist daher in
meiner Heimat besonders groß .
Ich selbst bin fassungslos, wie Einzelne im VW-Konzern mit ihrer Verantwortung für das Unternehmen und
für Hunderttausende Beschäftigte umgegangen sind . Ich
will aber, ohne das Handeln von VW in irgendeiner Weise zu relativieren, auch auf die Verantwortung der Gesetzgeber bei der Festlegung von Grenzwerten eingehen .
In Sachen Dieseltechnologie hat sich in den letzten
Jahrzehnten viel getan, auch unter Mitwirkung der Politik . Durch strengere Abgasnormen auf EU-Ebene haben
wir die Einführung von Rußpartikelfiltern bei Dieselfahrzeugen erreichen können, eine Regelung, die die Industrie mit vorhandener Technik umsetzen konnte und die
heute zum Standard gehört . Dazu kommt die seit Februar
2012 bestehende Möglichkeit einer vom Bund geförderten Nachrüstung dieser Filter . Wir haben den Dieselmotor im Pkw-Bereich mit erfüllbarem Aufwand sauberer
gemacht - zusammen mit der Automobilindustrie -, und
wir bleiben am Ball .
Mit Einführung der Euro-6-Norm haben wir den zulässigen Ausstoß von Stickoxid
({0})
für neu zugelassene Dieselfahrzeuge auf einen Maximalwert von 80 Milligramm pro Kilometer begrenzt .
({1})
- Herr Kreischer .
({2})
- Entschuldigung . Herr Krischer, ein bisschen mehr Zurückhaltung bitte .
({3})
Für Ottomotoren gilt ein Grenzwert von 60 Milligramm .
Der Fortschritt in der Dieseltechnologie ist gewaltig,
wenn man bedenkt, dass wir von einem Grenzwert von
500 Milligramm in 2001 kommen .
Die Gründe dafür, dass der Grenzwert für Dieselfahrzeuge in den USA gerade einmal halb so hoch ist, können
verschieden sein . Es sind sicherlich Umweltaspekte, aber
ich bin sicher, dass die USA damit auch wirtschaftliche
Eigeninteressen verfolgen .
({4})
Die Dieseltechnologie kommt aus Europa und ist für die
Verbraucher attraktiv, weil der Treibstoff energieeffizienter, günstiger und der Verbrauch überdies geringer ist .
({5})
Im Jahr 2012 waren lediglich 3 Prozent der zugelassenen
Fahrzeuge in den USA Dieselfahrzeuge .
({6})
Die neuen, höchst innovativen Dieseltechnologien, die
auch VW nutzt, ließen eine Steigerung um mehr als das
Doppelte auf 7 Prozent zu . Für 2023 wurden 28 Prozent
prognostiziert .
Worauf will ich hinaus? Mit der Herabsetzung von
Grenzwerten kann man eine Technologie natürlich auch
ganz vom Markt verdrängen . Scheinbar wollen Sie das .
Ich will es nicht; denn ich bin für einen schonenden und
effizienten Umgang mit unseren Ressourcen. Bei allem
Fortschritt und der Förderung umweltschonender Technologien, die ich ausdrücklich gutheiße, kommt derzeit
eine völlige Verdrängung des Diesels ja wohl nicht in
Betracht . Um zu verstehen, warum das so ist, muss man
sich einmal mit der Gewinnung von Dieselkraftstoff befassen . Diesel ist ein Produkt, das unweigerlich bei der
Aufbereitung von Rohöl gewonnen wird, genauso wie
Benzin, Kerosin und Flüssiggas . Deshalb sollten wir dieses Produkt auch weiterhin einer Nutzung zuführen . Die
Verdrängung oder die Abschaffung des Diesels wäre der
falsche Schritt und würde nicht einmal zur weiteren Verbesserung des Klimas führen . Ganz im Gegenteil: Bei der
Verbrennung von Benzin entstehen mehr Treibhausgase
als bei der Verbrennung von Diesel .
Auch ich bin dafür, dass die Weiterentwicklung vorangetrieben wird . Dazu hat auch die Politik einen Beitrag
geleistet und wird ihn weiter leisten, aber mit Bedacht
und zumutbaren Vorgaben, die die Hersteller auch umsetzen können .
Ich will das Vorgehen von VW - das wird Sie dann
beruhigen - in keiner Weise entschuldigen oder bagatellisieren . Ich möchte aber, dass der Vorfall zum Anlass
genommen wird, die Grenzwertpolitik der vergangenen
Jahre - im Übrigen gilt das auch für andere Emissionen ab und zu einmal zu hinterfragen .
({7})
- Wir sind auf einem guten Weg, Herr Krischer . Ihr Weg
ist natürlich, die Autos einfach stehen zu lassen . Wenn
das Ihr Weg ist, dann sage ich Ihnen: Meiner ist es nicht .
({8})
Natürlich geht vollumfassende Aufklärung vor .
Alexander Dobrindt hat zu Recht eine Überprüfung angeordnet, ob vergleichbare Manipulationen am Abgassystem auch in Deutschland stattgefunden haben . Die
von ihm einberufene Untersuchungskommission wird
dies in Zusammenarbeit mit dem Kraftfahrt-Bundesamt
und auf technischer Seite mit den unabhängigen Sachverständigen von TÜV und DEKRA klären . Lassen Sie uns
das Ergebnis dieser Untersuchung abwarten und dann
urteilen .
Lassen wir aber nicht zu, dass dieser Fall dazu führt,
dass eine ganze Branche, die in den letzten Jahren gerade
im Hinblick auf die Verminderung von Schadstoffemissionen vieles geleistet hat - auch Frau Lühmann hat das
eben betont -, in Verruf gerät . Das schadet nicht nur zu
Unrecht den anderen Unternehmen, sondern am Ende
auch den fleißigen, ehrgeizigen und zu Recht stolzen
Mitarbeitern der deutschen Automobilindustrie .
Danke schön .
({9})
Vielen Dank . - Als nächster Redner hat Herbert
Behrens von der Fraktion Die Linke das Wort .
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wenn das, was uns Herr Viesehon hier vorgestellt hat, auch der Punkt sein sollte, mit dem die Untersuchungskommission in Wolfsburg unterwegs ist, dann
wird mir angst und bange .
({0})
So würde aber genau das Gegenteil von dem erreicht,
was Sie gesagt haben . Sie haben gesagt: Lasst uns bloß
bei den Grenzwerten aufpassen, damit wir nicht eine ganze Industrie in eine Ecke drängen, in die sie nicht gehört .
({1})
Wenn wir nicht aufpassen, dass die Industrie mit diesem
Vorgehen um Marktanteile ringt, dann schafft die Industrie uns und die Arbeitsplätze ab .
({2})
So herum müssen Sie das denken . Von daher sind wir
sowohl als Gesetzgeber als auch als Parlamentarier gehalten, in das, was wir hier sehen, politisch einzugreifen .
Wir wissen: Autoabgase töten . Darum wird der Gesetzgeber aktiv . Er ist dafür verantwortlich, dass die
Bevölkerung in diesem Land gesund leben kann, auch
bei zunehmenden Verkehrsbelastungen . Darum gibt es
Grenzwerte. Darum gibt es auch die Pflicht, diese Grenzwerte einzuhalten .
({3})
Und es gibt die Notwendigkeit, diese Grenzwerte zu kontrollieren . Umzukehren und zu sagen: „Jetzt passen wir
die geltenden Grenzwerte den tatsächlichen Verbräuchen
und dem tatsächlichen Schadstoffausstoß an“, würde bedeuten, sämtliche Umweltpolitik, sämtliche Verkehrspolitik der letzten Jahre mit einer Tat aus der Welt zu räumen . Das dürfen wir auf keinen Fall zulassen .
({4})
Autokäufer sind sich beim Kauf eines Autos durchaus
bewusst: Wenn sie möglichst umweltschonend fahren
wollen, dann müssen sie sich ein Auto aussuchen, das
sowohl beim Schadstoffausstoß als auch beim Verbrauch
die Werte einhält, die angegeben sind . Wenn diese Werte
gar nicht stimmen, dann ist es ein vorsätzlicher Betrug
an den Interessen der Kundinnen und Kunden, mit dem
entsprechenden wirtschaftlichen Schaden .
In den USA wird angesichts der entsprechenden
Klagemöglichkeiten, die man dort hat, damit gerechnet,
dass für den VW-Konzern ein Schaden in Höhe von bis
zu 18 Milliarden Euro entstehen kann . Wenn das mal
kein Schaden für die deutsche Volkswirtschaft ist! Daran
sind wir durch unsere falsche Kontrollpolitik, wie sie von
meiner Kollegin Leidig schon dargestellt worden ist, auch
ein Stück weit mitverantwortlich . Wenn wir nicht dafür
sorgen, dass durch Kontrollen die Angaben eingehalten
werden, sind wir ebenfalls mitverantwortlich, wenn die
Verbraucherinnen und Verbraucher so getäuscht und betrogen werden .
Wir haben deshalb einen Fünf-Punkte-Plan aufgelegt,
um sehr schnell und gründlich mit den Punkten aufzuThomas Viesehon
räumen, die offenkundig - so der Sachstand heute - dazu
geführt haben, dass diese Betrügereien am Kunden stattfinden konnten. Die Automobilindustrie täuscht bei den
Verbrauchswerten, beim Schadstoffausstoß . Sie geht mit
solchen Maßnahmen vor, um im mörderischen Wettbewerb der Automobilindustrie zu bestehen . Wir haben als
Gesetzgeber die Pflicht, diesem mörderischen Konkurrenzkampf zulasten der Kundinnen und Kunden und der
Bevölkerung Einhalt zu gebieten . Darum ist es wichtig,
sofort und schnell zu handeln .
Die Bosse haben den Schaden erst einmal von sich
weggeschoben und haben gesagt: Wir werden das mit
entsprechenden personellen Maßnahmen lösen . - Darum
wurden schon einmal die Manager ausgetauscht . Winterkorn und Neußer gehen bei VW, Hatz geht bei Porsche, Hackenberg geht bei Audi . Damit werden offenbar
Verantwortliche aus dem Verkehr gezogen . Aber sie sind
trotzdem verantwortlich . Darum ist es so wichtig, dass
die Verantwortung bei denen bleibt, die jetzt aus ihren
Verantwortungsbereichen abgelöst worden sind und
künftig nicht mehr verantwortlich sein sollen . Darum
sind sie sowohl beim finanziellen Ausgleich als auch bei
strafrechtlichen Konsequenzen, wenn es sie geben sollte,
heranzuziehen . Der Porsche-Piëch-Clan, so kann man es
ja sagen, verfügt über ein privates Vermögen von 35 Milliarden Euro . Winterkorn gehörte zu den bestbezahlten
Managern Europas . Sie haben über Jahre gescheffelt,
immer mit dem Hinweis: Wir sind die Erfolgreichen auf
dem Automobilmarkt . Darum stehen uns solche Gehälter, darum stehen uns solche Boni zu . Das, was sie in den
letzten Jahren da abgeräumt haben, muss zum Ausgleich
des Schadens wieder herangezogen werden .
({5})
Die Belegschaft steht vor einer Riesenaufgabe . Sie
hat, wenn es der Verkehrsminister am Sonntag aus der
Zeitung erfahren hat, vielleicht auch erst am Sonntag aus
der Zeitung erfahren, welche Instrumente sie in den Jahren in den Autos verbaut hat . Das wollten sie nicht .
Von daher ist es notwendig, dass wir innerhalb des
VW-Konzerns zu einer Zusammenarbeit zwischen den
Mitbestimmungsgremien und der Belegschaft kommen; denn sie hat offenbar überhaupt nicht funktioniert .
Wenn Herr Osterloh, der Betriebsratsvorsitzende, davon
spricht, in Wolfsburg habe ein Kasernengehorsam geherrscht, dann ist da doch das Problem zu sehen .
Insofern ist es notwendig, dass wir jetzt im Rahmen
der Untersuchungen - wir wollen sie auf der Grundlage
unseres Fünf-Punkte-Programms durchführen - alle Hinweisgeber, sogenannte Whistleblower, davor schützen,
dass sie Nachteile erleiden, wenn sie endlich auspacken
und über die Struktur des vorsätzlichen Betrugs berichten, den es bei VW gegeben hat und den wir bekämpfen
wollen .
({6})
Vielen Dank . - Als nächster Redner hat Arno Klare
von der SPD-Fraktion das Wort .
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich bin der Auffassung, dass wir jetzt zwei große Aufgaben haben . Die erste Aufgabe besteht darin, das
Vertrauen wiederherzustellen . Das Vertrauen drückt sich
darin aus, dass die gemessenen Verbrauchswerte auch die
tatsächlichen sind .
({0})
Das Zweite ist - etwas in die Zukunft gesprochen -: Wir
müssen jetzt politisch die richtigen Weichen stellen, indem wir diese Krise als Chance zur Dekarbonisierung
der Mobilität nutzen .
({1})
Lassen Sie mich etwas zum ersten Punkt sagen . Kann
man es hinbekommen, dass die gemessenen Werte die
tatsächlichen sind? Ja, das geht; Frau Lühmann hat gerade schon darauf hingewiesen . Die Systemanforderungen
sind eigentlich auf ein paar Punkte zu reduzieren, die da
lauten: Das System muss transparent sein, das System
muss messgenau sein, es muss zuverlässig, zukunftssicher, kosteneffizient und standardisierbar sein, und es
muss natürlich auch - leider muss man das sagen - möglichst manipulationsresistent sein .
({2})
Die Frage ist jetzt: Gibt es so etwas schon? Im
Lkw-Bereich gibt es das bereits . Manchmal muss man
nachschauen, was für Dinge man im eigenen Hause - um
es mit Kafka zu sagen - vorrätig hat . Das System heißt
VECTO . Das ist ein Akronym und heißt im Langtext: Vehicle Energy Consumption Calculation Tool . Das kann
man als Nichtverkehrspolitiker sofort wieder vergessen;
nur VECTO sollte man sich merken .
Was ist das? Das ist eine Kalkulationssoftware, die
einzelne Elemente, die verbrauchsrelevant sind, und
zwar die tatsächlichen Verbrauchswerte, misst und dann
im Kalkulationstool zusammenführt . Bei Prototypen von
Lkws, bei denen das Tool im Gebrauch ist, funktioniert
das so gut, dass die Abweichungen unter 3 Prozent liegen . Das ist also durchaus treffgenau .
Am Ende könnte so etwas wie ein Verbrauchertool
stehen: Man sucht sich dann ein Auto nicht mehr anhand
der Marke aus, sondern legt im Rahmen der Konfiguration bestimmte Bedingungen fest . So erhält man Fahrzeuge mit optimierter THG-Bilanz, und erst dann werden
ihnen die Marken zugeordnet . Das wäre ein Fortschritt .
({3})
- Es ist nicht nur eine Idee . VECTO gibt es bereits . Es
geht also über die Blaupause hinaus .
Der zweite Punkt, zu dem ich kommen will: Die Zukunft sind Wasserstoff- und Brennstoffzellenantriebe und
die Elektromobilität .
({4})
Herr Rimkus wird nicht müde, immer wieder darauf
hinzuweisen, dass das die Zukunft sei, und er hat völlig
recht . Wir müssen nicht Emissionen heraus- und herunterrechnen, sondern technologische Innovationen in die
Welt setzen und natürlich auch - darauf hat der Bundeswirtschaftsminister gestern hingewiesen - durch Kaufanreize den Markt in diesem Bereich stimulieren .
({5})
Er hat gesagt, wir brauchen jetzt Incentives .
({6})
Man muss auch mal einen Blick in den Haushalt werfen:
Genau für diesen Bereich, für die NOW, stehen 20 Millionen Euro mehr bereit .
({7})
In der mittelfristigen Finanzplanung summiert sich das
auf 220 Millionen Euro genau für diesen Bereich . Das
heißt, die Behauptung, die Große Koalition würde dort
nicht investieren, stimmt einfach nicht .
({8})
Das gibt es nämlich schon .
Wir müssen aus der Krise eine Chance machen . Ich bin
relativ sicher, dass uns das gelingt, dass wir das können .
Frau Lühmann hat zu Recht zu Beginn ihrer Rede darauf
hingewiesen: Wir haben die besten Automobilingenieure
der Welt, und wir bauen auch mit die besten Autos der
Welt . Diese Autos müssen in Zukunft emissionsfrei und
CO
-neutral durch die Gegend fahren . Dann wird daraus
der Business Case für das ganze Land .
Danke schön . - Vier Minuten!
({9})
Super! Vorbildlich! - Als nächster Redner spricht
Stephan Kühn von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dass VW die
Abgaswerte illegal manipuliert hat, ist wirklich schockierend . Die wirtschaftlichen Folgen sind derzeit noch nicht
absehbar . Aber klar ist: Die gesamte Automobilbranche
hat nicht nur einen Kratzer abbekommen, da ist richtig
der Lack ab .
({0})
Der noch größere Skandal ist aber, dass seit Jahren
durch zahlreiche Untersuchungen belegt ist, dass Dieselautos die Abgaswerte um ein Vielfaches überschreiten
und die Bundesregierung null dagegen unternommen hat .
Volkswagen ist insofern nur ein neues Kapitel in einer
langen Kette von Mogeleien .
({1})
Man habe seit dem Herbst 2014 belastbare Indizien, dass selbst moderne Euro-6-Diesel im Realbetrieb
vielfach erhöhte Stickoxidemissionen aufweisen . Das
schrieb die Bundesregierung im August in ihrer Antwort
auf einen Mahnbrief aus Brüssel; denn Brüssel hat gegen
Deutschland ein Vertragsverletzungsverfahren eröffnet,
weil die gesundheitsgefährdende Stickoxidbelastung in
unseren deutschen Städten zu hoch ist . Sehr geehrter
Kollege Viesehon, das ist das Problem, über das wir hier
reden . Zwei Drittel der NOx-Belastungen gehen auf den
Verkehr und hier vor allen Dingen auf Dieselmotoren zurück . Das gehört zur Wahrheit dazu . Diese Emissionen
müssen gesenkt werden .
({2})
Der ICCT hat im Oktober 2014 herausgefunden, dass
die Stickoxidwerte auf der Straße die erlaubten Werte im
Durchschnitt um das Siebenfache überschreiten . Diese
Abweichungen lassen sich im Übrigen nicht mit Unterschieden zwischen Laborbedingungen und realem Fahrverhalten erklären; denn der überwiegende Teil der beobachteten Überschreitungen konnte weder extremen noch
untypischen Fahrsituationen zugeordnet werden . Das ist
also ganz klar ein systematisches Problem .
Was haben Sie, Herr Dobrindt, mit den Ergebnissen,
die seit 2014 vorliegen, gemacht? Nichts! Sie haben
nichts gegen diese Verbrauchertäuschung unternommen .
Spätestens nach der Veröffentlichung des ICCT-Berichts
2014 hätten Sie eine Untersuchungskommission einrichten müssen .
({3})
Spätestens 2014 hätten Sie das Kraftfahrt-Bundesamt
mit Nachtests beauftragen müssen und nicht erst diese
Woche .
Auch das Umweltbundesamt hat Untersuchungen
durchgeführt und Nachprüfungen eingefordert . Insofern
ist es albern, sich hier hinzustellen und zu sagen, dass
wir auf das RDE-Messverfahren warten sollen; denn das
wird bekanntlich nicht vor 2017 in die Praxis umgesetzt .
Trotz der Untersuchung einer nachgeordneten Behörde des Bundes hat der Bundesverkehrsminister sich nicht
ein einziges Mal die Mühe gemacht, die Angaben der
Hersteller zu kontrollieren . Erst jetzt wollen Sie prüfen,
ob das, was typgenehmigt wurde, auch tatsächlich verbaut wurde . Das ist viel zu spät .
({4})
Die grüne Bundestagsfraktion hat in dieser Woche
den Antrag „Zum Schutz der Verbraucher - Unzutreffende Angaben beim Spritverbrauch und Schadstoffausstoß von PKW beenden“ eingebracht . Darin fordern wir
regelmäßige, unabhängige Nachtests für Abgase und
CO
-Emissionen. Die zahlreichen legalen Schlupflöcher
bei den Labortests müssen beseitigt werden . Die Abgastests spiegeln in keiner Weise die Wirklichkeit wider .
Schnelles Beschleunigen oder Fahren über 120 km/h
kommen darin überhaupt nicht vor . Das geht an den realen Fahrsituationen aber völlig vorbei . Deshalb brauchen
wir andere Labortests, damit Abgastests wirklich aussagekräftig sind .
({5})
Es ist im Übrigen traurig, dass es einen Skandal solchen Ausmaßes braucht, damit das Kraftfahrt-Bundesamt
das tut, was es schon längst hätte tun müssen . Zusätzlich
zur Überprüfung der Fahrzeuge im Labor müssen auch
Straßentests vorgenommen werden, also Messungen
während Realfahrten, nicht nur auf dem Rollenprüfstand .
Die zuständigen Behörden müssen diese Ergebnisse dann
auch endlich allen Verbraucherinnen und Verbrauchern
öffentlich zugänglich machen . Auch das ist bisher nicht
erfolgt .
({6})
Der Verband der Automobilindustrie - der in den
letzten Tagen auffällig abgetaucht ist - wollte uns immer weismachen, dass der sogenannte Clean Diesel für
das Erreichen der Klimaziele absolut unverzichtbar sei .
Genau das Gleiche hat das Bundesverkehrsministerium
auch immer behauptet .
({7})
Nein, meine Damen und Herren, der Diesel ist ein Teil
des Problems . Es wird erkennbar, dass die Bundesregierung kein Konzept hat, wie sie die Stickoxidbelastungen
in unseren Städten deutlich reduzieren und die Luftqualität deutlich verbessern will . Das fehlt . Das ist das
Problem, über das wir zu sprechen haben, Herr Kollege
Viesehon .
Auch die Reduktion der CO
-Emissionen im Verkehr findet nur auf dem Papier statt . Wir reden nicht nur über
Abgase . Auch hier hat der ICCT Differenzen zwischen
Herstellerangaben und tatsächlichem Kraftstoffverbrauch festgestellt, die im Übrigen immer größer werden. Auch hier gibt es zahlreiche Schlupflöcher in Testverfahren im Labor . Wenn jetzt die Abgaswerte vom
Kraftfahrt-Bundesamt kontrolliert werden, müssen auch
die Verbrauchsangaben in die Untersuchung einbezogen
und kontrolliert werden . Herr Minister, das erwarten wir
jetzt von Ihnen .
({8})
Wer die CO
-Emissionen wirklich reduzieren und die
Luft in den Städten verbessern will, der muss endlich die
Chance ergreifen und die Elektromobilität zum Fliegen
bringen . Das sehe ich ganz genauso wie der Kollege
Klare . Insofern sage ich auch:
Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen .
- Wenn wir das erreichen wollen, brauchen wir ein entsprechendes Marktanreizprogramm zum Kauf von Elektroautos . Dieses Marktanreizprogramm muss jetzt kommen .
Herzlichen Dank .
({0})
Als nächster Redner hat Florian Oßner von der CDU/
CSU-Fraktion das Wort .
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich denke, wir stimmen alle darin überein, dass
es sich bei den Manipulationen in einem Automobilkonzern um ein völlig inakzeptables Fehlverhalten handelt .
Allerdings stehen wir erst am Anfang der Ermittlungen .
Viele Details und Fragen sind derzeit noch ungeklärt .
Deswegen warne ich ausdrücklich davor - dies ist insbesondere an Sie gerichtet, liebe Kollegen der Grünen -,
sich im Eifer des Gefechts wie ein Elefant im Porzellanladen aufzuführen und die positive Reputation unserer
Automobilindustrie zu zerdeppern .
({0})
Hören Sie bitte auf, immer alles zu skandalisieren und
schlechtzureden .
({1})
Allerdings ist es schon interessant, sich in diesem Zusammenhang die Chronologie der Ereignisse anzuschauen . Der International Council on Clean Transportation
mit Sitz in Berlin liefert Informationen in die USA . Die
Fraktion der Grünen stellte hierzu im Sommer eine Kleine Anfrage . Die Diskussion kommt ausgerechnet zu dem
Zeitpunkt auf, wo mit der IAA in Frankfurt die weltweit
größte Leistungsschau der Automobilbranche stattfindet.
({2})
Stephan Kühn ({3})
Wir sollten im Rahmen dieser Debatte nicht vergessen, dass in der deutschen Automobilindustrie erstklassige Arbeit geleistet wird . Die deutschen Autobauer sind
weltweit spitze, insbesondere was die Umweltverträglichkeit angeht . Die hart arbeitenden Mitarbeiter in der
Automobilbranche dürfen deshalb nicht aufgrund Verfehlungen Vereinzelter unter Generalverdacht gestellt
werden .
({4})
Zudem warne ich davor, die jetzige Debatte dazu zu
missbrauchen, die Selbstzünder komplett zu verteufeln,
auch wenn ich selbst, wie auch einige Vorredner, ein
Freund der wasserstoffbetriebenen und vollelektrischen
Fahrzeuge bin . Bei Verbrennungsmotoren hat sich in
den letzten zehn Jahren nämlich Gewaltiges getan, sowohl im Verbrauch als auch hinsichtlich der spezifischen
CO
-Emissionswerte der Pkws, die in Deutschland von
175 auf 125 Gramm CO
pro Kilometer gesunken sind,
also um fast ein Drittel .
({5})
- Herr Krischer, Schreien allein hilft da auch nicht . Das ist eine beeindruckende Zahl, vor allem, wenn man
zugleich den stetigen Anstieg der Verkaufszahlen der
sparsameren Dieselfahrzeuge berücksichtigt . Das ist eine
großartige Leistung der Automobilindustrie . Das war übrigens nur mit der Dieseltechnologie möglich .
Für das Einsetzen einer Untersuchungskommission
mit dem Auftrag, festzustellen, ob die betroffenen Fahrzeuge unter Einhaltung der bestehenden deutschen und
europäischen Vorschriften gebaut wurden, möchte ich
ausdrücklich ein großes Lob an unseren Bundesverkehrsminister aussprechen: Lieber Alexander Dobrindt, herzlichen Dank für dieses sehr beherzte Handeln .
({6})
Die Kommission hat am 22 . September 2015 ihre Arbeit
aufgenommen und wird unter anderem Gespräche mit
der amerikanischen Umweltbehörde EPA sowie mit den
Automobilherstellern führen .
Mit Ihren falschen Anschuldigungen, liebe Grüne, die
Bundesregierung hätte seit dem Frühsommer alle Vorgänge gekannt, sowie mit Ihren fortgesetzten Angriffen
auf Bundesminister Dobrindt tragen Sie keineswegs zur
Aufklärung des Sachverhalts bei,
({7})
sondern verzögern diese vorsätzlich, und zwar aus einfacher, populistischer Profilierungssucht.
({8})
Ihr Verhalten ist nicht nur kontraproduktiv, sondern auch
ein Stück weit scheinheilig .
({9})
Ich will ergänzen, warum dies so ist . Die Antwort der
Bundesregierung, die Sie als direkten Beweis heranziehen, war Ihnen doch schon seit Monaten bekannt . Sie
hätten also schon vor Monaten Alarm schlagen müssen,
wenn doch alles so klar gewesen wäre .
({10})
Da Sie das nicht getan haben, sondern der Bundesregierung nun Untätigkeit vorwerfen, kann man Ihr Verhalten
nur als heuchlerisch bezeichnen .
({11})
Man muss schon auf dem Boden der Tatsachen bleiben . Fakt ist, dass Artikel 3 Absatz 10 der Verordnung
({12}) Nummer 715/2007 den Begriff einer Abschalteinrichtung legal definiert. Fakt ist aber auch, dass diese
Definition im Zusammenhang mit Artikel 5 Absatz 2 zu
sehen ist . In diesem wird klar und unmissverständlich geregelt, wann die Verwendung einer Abschalteinrichtung
zulässig ist und wann nicht . Dies ist beispielsweise dann
der Fall, wenn es darum geht, den Motor vor Beschädigungen oder bei einem Unfall zu schützen .
({13})
Ein Blick in Ihre eigene Anfrage, liebe Grüne, erleichtert definitiv die Wahrheitsfindung. Darin steht, dass die
Bundesregierung die Auffassung der Europäischen Kommission teilt, dass sich das Konzept zur Verhinderung
von Abschalteinrichtungen in der Praxis bislang nicht
umfänglich bewährt hat
({14})
und daher die Arbeiten
({15})
- hören Sie doch einmal zu, damit Sie etwas dazulernen - zur Fortentwicklung des EU-Regelwerks weiter
unterstützt werden, und zwar nicht erst seitdem die Vorgänge in den USA bekannt geworden sind .
({16})
Anstatt politische Scheingefechte zu führen, sollten
wir lieber gemeinsam an der Aufklärung dieser aktuellen
Missstände arbeiten
({17})
und weiteren Schaden vom Industriestandort Deutschland abwenden .
Auch Sie muss ich ermahnen, zum Schluss zu kommen .
Herzliches Vergelts Gott fürs Zuhören .
({0})
Als nächste Rednerin hat die Kollegin Ulli Nissen von
der SPD-Fraktion das Wort .
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter
von VW! Wir alle sind am Wochenende von den unter
Betrugsabsicht manipulierten Abgaswerten von VW kalt
erwischt worden . Erst dachte ich, das kann doch nur eine
gefälschte Nachricht sein, aber leider erwies sie sich als
wahr .
Alle sind geschockt von diesem Vorgehen, auch die
Belegschaft von VW . Der Betriebsratsvorsitzende Osterloh hat es in einem Schreiben formuliert - ich zitiere -:
Dies rüttelt am Selbstverständnis unseres Unternehmens und diskreditiert die gute Arbeit . . .
Dem kann ich nur zustimmen .
Weltweit sind knapp 600 000 Beschäftigte betroffen,
in Deutschland etwa 270 000, davon etwa 16 000 in
Nordhessen; das ist schon erwähnt worden .
Wie geht es jetzt der Belegschaft? Viele machen sich
Sorgen um ihren Arbeitsplatz und haben zudem Verluste durch den Kursverfall bei Mitarbeiteraktien erlitten .
Auch in deren Interesse ist die lückenlose Aufklärung
hinsichtlich des Ausmaßes der Manipulationen wichtig .
Aufklärung allein genügt aber nicht . Wir müssen auch
handeln und verändern .
Mich als Umweltpolitikerin hat es besonders empört,
dass erneut sträflich mit der Gesundheit der Bevölkerung umgegangen wurde . Grenzwerte wurden bewusst
umgangen . Damit wurden mehr Schadstoffe als erlaubt
ausgestoßen . Der Gedanke der Nachhaltigkeit, der Unternehmensverantwortung für die Umwelt, für die Luft
und auch für die Menschen hörte an der eigenen Fabriktür auf . Das ist schäbig .
({0})
Das ist auch kein Problem eines einzigen Unternehmens oder einer einzelnen Branche; das will ich hier
deutlich machen . Hohe Absatzzahlen und deutliche Gewinnsteigerungen sind bei vielen Unternehmen wichtiger
als Umwelt und Gesundheit. Die Gemeinwohlverpflichtung des Grundgesetzes scheinen viele nicht zu kennen .
Was nutzen Werte - ich meine sowohl Messwerte als
auch moralische, ethische Werte -, wenn sie nur auf dem
Papier existieren und nicht ins reale Handeln umgesetzt
werden?
Das Umweltbundesamt hat deutlich gemacht, dass
Stickstoffdioxid Luftschadstoff Nummer eins ist . Die erlaubten Werte überschreiten wir immer noch um 60 Prozent im Jahresmittel . Dies hat Deutschland zu Recht
reichlich Ärger mit der Europäischen Kommission eingetragen .
Ein Beispiel für Überschreitungen ist Darmstadt . Dort
hatten wir - Stand gestern Abend - schon 57 Fälle . Erlaubt sind für das gesamte Jahr aber nur 18 .
({1})
- Kollege Krischer, es wäre schön, wenn Sie zuhören
würden . - Auch in meinem Wahlkreis Frankfurt kommt
es an der Friedberger Landstraße immer wieder zu Überschreitungen . An einer solchen Straße zu leben, erhöht
das Risiko, an Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder an
Lungenkrebs zu erkranken . Stickstoffdioxid ist zudem
an der Entstehung von Ozon beteiligt . Bei Sonneneinwirkung kann es zu Sommersmog führen, der zu Lungenreizungen führt und gefährlich für Asthmatiker und andere
Empfindliche ist. Auch das müssen wir bedenken, liebe
Kolleginnen und Kollegen .
({2})
Nach einer aktuellen Studie eines Max-Planck-Instituts sterben jährlich weltweit 3,3 Millionen Menschen
an den Folgen von Luftverschmutzung; Ursache sind
natürlich nicht nur Verkehrsemissionen, aber auch . In
Deutschland sind das 35 000 Tote pro Jahr, hiervon allein
7 000 durch die Luftbelastung im Verkehr . Das sind doppelt so viele Tote wie durch Verkehrsunfälle . Ich selber
fahre schon seit 2009 einen Elektroroller und seit 2012
ein Elektroauto .
({3})
Ich versuche - es hat mich letzte Woche hart getroffen,
weil ich in strömenden Regen gekommen bin; aber ich
habe es gemacht -,
({4})
möglichst alle Fahrten im Stadtgebiet mit diesen Fahrzeugen zu erledigen . Das ist gut für die Luft und senkt
zusätzlich die Lärmbelastung .
Wir müssen endlich die Gesundheit der Menschen in
den Vordergrund rücken . Noch einmal: In Deutschland
sterben doppelt so viele Menschen an den Folgen der
Verkehrsemissionen wie an Verkehrsunfällen . Deshalb
brauchen wir Grenzwerte . Sie wirken aber natürlich nur,
wenn sie eingehalten werden .
({5})
Deshalb brauchen wir bessere Tests und bessere Kontrollen in Deutschland und natürlich auch in Europa .
Wir haben schon einiges auf den Weg gebracht . Meine
Kollegin Kirsten Lühmann hat es bereits angesprochen .
Weitere Schritte und schärfere Maßnahmen müssen natürlich folgen . Sie müssen klar und deutlich sein sowie
unabhängig kontrolliert werden . Ich denke, das wollen
wir alle .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Schock sollte
für uns Anreiz und Antrieb sein, endlich mit dem nötigen Druck in der EU, aber auch in Richtung der Automobilhersteller zu sagen: Wir müssen die Grenzwerte im
realen Betrieb einhalten . So können wir Vertrauen wiedergewinnen . Das ist ein Wettbewerbsvorteil und keine
zusätzliche Bürde . Nutzen wir die Chance, um saubere
Autos herzustellen, damit wir saubere Luft, saubere Städte und gesunde Menschen haben .
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit und herzliche Grüße an die Kolleginnen und Kollegen von VW .
({6})
Vielen Dank . - Als nächster Redner hat Dr . Matthias
Heider von der CDU/CSU-Fraktion das Wort .
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Als ich am vergangenen Wochenende
die ersten Meldungen aus den USA über die Verstöße von
VW gesehen habe, war ich genauso entsetzt wie Sie . Wir
alle kennen die Produkte von VW als zuverlässig und
qualitativ hochwertig . Umso mehr sind die offenbar gezielten Manipulationen an den Testergebnissen von VW
in den USA zu kritisieren . Sie sind inakzeptabel .
Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, was Sie hier heute in der Öffentlichkeit abziehen, ist
mindestens genauso inakzeptabel .
({0})
Ich habe ja ein gewisses Verständnis dafür, dass die Opposition immer ein gesatteltes Pferd im Stall stehen haben
muss . Aber wenn Sie es schon heute herausholen, dann
sollten Sie zumindest nicht die anderen Pferde scheu machen . Beschädigen Sie nicht eine Branche, beschädigen
Sie nicht den Wirtschaftsstandort Deutschland .
({1})
Fügen Sie den Unternehmen und Arbeitnehmern und vor
allen Dingen ihren Familien heute keinen Schaden zu .
Das ist meine dringende Bitte .
({2})
Meine Damen und Herren, das Gebot der Stunde ist,
umfassend und unverzüglich weiter aufzuklären . Das ist
VW den Verbrauchern, den Aktionären, aber auch der gesamten Branche schuldig . Es muss für die Verbraucher
klar werden, welche Autos in Deutschland betroffen sind .
Es geht nicht an, dass wir Wasserstandsmeldungen über
den Ticker bekommen, wie viele Fahrzeuge betroffen
sind . Das muss jetzt auf den Tisch . Ich bin dem Verkehrsminister sehr dankbar, dass er über das Umweltbundesamt und das Kraftfahrt-Bundesamt dazu beiträgt, dass
die entsprechenden Werte auf den Tisch kommen .
({3})
Das sind erste Schritte, um das Vertrauen der Verbraucher, der deutschen Autofahrer, wieder zu sichern . Die
bereits getroffenen personellen Konsequenzen in den
Gremien von VW sprechen für sich . Das zeigt, dass VW
handelt . Das macht Hoffnung auf eine weitere umfassende und schnelle Aufklärung . Das ist gut so . Auch die
anderen international tätigen Autobauer müssen schnell
aufkommende Verdachtsmomente aus dem Weg räumen
und klarstellen, dass das bei VW ein Einzelfall ist .
({4})
Mich hat noch etwas anderes völlig entsetzt . Das sind
die Auswirkungen auf die Branche und auf den Automobilbau in Deutschland, die wir zu befürchten haben .
Wir wissen, dass jeder siebte Arbeitsplatz in Deutschland
mittelbar vom Automobilbau abhängt; direkt sind es sogar 750 000 Arbeitsplätze . Deshalb kann ich kaum verstehen, meine Damen und Herren von den Grünen, dass
Sie hier heute versuchen, eine ganze Branche für einen
Vorfall in Mithaft zu nehmen .
({5})
Wir müssen aufklären, ja - aber bitte ohne politisches
Kalkül . Daran sollten Sie denken, wenn Sie so vortragen,
wie Sie es heute getan haben . Die Automobilindustrie ist
eine Schlüsselindustrie mit einigen Hunderttausend Arbeitsplätzen, die davon betroffen sind .
({6})
Jetzt kommt es auf Verantwortungsbewusstsein an, auch
im politischen Raum .
({7})
Im Übrigen: Zu unterstellen, dass es keine Informationen über und keine Anhaltspunkte für unterschiedliche Testverfahren, für Echtbetrieb und Testverfahren im
Labor, gegeben habe, ist völlig abwegig . Das ist längst
bekannt .
({8})
Der guten Ordnung halber wäre hier vielleicht auch
der Hinweis angebracht gewesen, dass schon zwischen
dem Typzulassungsverfahren und den normalen Abgasuntersuchungen bei einer Hauptuntersuchung ein großer
Unterschied besteht .
({9})
Bei der Hauptuntersuchung wird beispielsweise sichergestellt, dass sich die Abgaswerte der zugelassenen Fahrzeuge über den Nutzungszeitraum innerhalb der festgelegten Überwachungsgrenzen bewegen . Diese sind mit
den Grenzwerten, die von der jeweiligen Abgasnorm
einmalig bei einem Zulassungsverfahren gefordert werden, keineswegs identisch . Herr Krischer, das hätten Sie
mit einigen Klicks im Internet herausbekommen können .
Das ist doch kein Geheimnis .
({10})
Dass das Messverfahren der NEFZ von 1996 inzwischen sicherlich veraltet ist, ist klar . Dass ein neues Messverfahren, das WLTP, gerade in Arbeit ist - wir werden es
in wenigen Jahren bekommen -, ist richtig .
({11})
Hier spielen nicht nur die Werte zum CO
-Ausstoß, sondern auch die Stickoxidemissionen eine Rolle .
Lassen Sie mich zum Schluss, wenn Sie schon Werte
vergleichen, ein Beispiel anführen: Ein Kleinwagen hat
andere Werte als ein Familien-Van;
({12})
das muss auch messbar sein . Ein Familien-Van ist ein
Gegenstand, der schwer ist . Der braucht eben mehr Energie, um in Bewegung gebracht zu werden, und er hat
auch einen höheren Schadstoffausstoß . Das ist Physik,
Herr Krischer,
({13})
und wenn man Messzyklen zusammenrechnet, dann ist
das Mathematik . Die entsprechenden Ergebnisse müssen
dann evaluiert werden . Das ist vernünftig . Vernunft ist,
glaube ich, das Gebot der Stunde .
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit .
({14})
Vielen Dank . - Als nächster Redner hat Andreas Jung,
ebenfalls von der CDU/CSU-Fraktion, das Wort .
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Es ist offenkundig: Durch die Manipulation von VW ist
viel Vertrauen zerstört worden . Deshalb muss es jetzt bei
allem und uns allen darum gehen, Vertrauen wiederherzustellen . Darauf müssen jetzt alle Anstrengungen gerichtet sein .
Der erste wichtige Punkt ist dabei Aufklärung und
Transparenz . Deshalb halte ich und halten wir es für
richtig, dass der Bundesverkehrsminister sofort nach Bekanntwerden der Manipulation eine Untersuchungskommission eingesetzt hat, in der die Experten aus dem Ministerium und die Experten des Kraftfahrt-Bundesamtes
den Vorwürfen nachgehen und untersuchen, was bei VW
passiert ist und wie die Situation bei anderen Automobilkonzernen ist . Das ist der richtige Weg . Es muss alles auf
den Tisch . Für dieses Vorgehen hat der Minister unsere
volle Unterstützung .
({0})
Zweitens . Selbstverständlich stellt sich auch die Frage
nach der Belastbarkeit der Messwerte; auch sie ist wichtig . Aber dabei geht es um etwas anderes . Deshalb, glaube
ich, tut man dem Anliegen, Vertrauen zu schaffen, keinen
Gefallen, wenn man diese beiden Sachverhalte wissentlich miteinander vermischt, obwohl sie nicht zusammengehören, und dann irgendwelche Vorwürfe daraus strickt .
Auch dieses Thema ist wichtig und schon länger bekannt .
Dabei geht es aber, wie gesagt, um etwas anderes als bei
den aktuellen Fragen . Hier wird schon länger an einer
Antwort gearbeitet; auch das ist gesagt worden .
({1})
Die Bundesregierung befindet sich in Abstimmung
mit den europäischen Partnern . Es ist entschieden worDr. Matthias Heider
den, dass man ein neues Messverfahren einführt, bei dem
unter realistischen Bedingungen auf der Straße gemessen
wird und nicht im Labor . Der Minister hat gesagt, bei der
nächsten Tagung der EU-Verkehrsminister wird dieses
Thema auf der Tagesordnung stehen. Ich finde, wir sollten ihn gemeinsam dabei unterstützen, dieses Thema voranzubringen, damit das neue Messverfahren so schnell
wie möglich eingeführt werden kann .
({2})
Drittens geht es natürlich darum - ich denke, auch hier
gibt es große Übereinstimmung -, Vertrauen dadurch zu
gewinnen bzw . jetzt zurückzugewinnen, dass Deutschland die Technologieführerschaft hat,
({3})
weil unsere Autos die effizientesten, die besten und die
ökologischsten sind und sie auch unserem Anspruch,
Vorreiter beim Klimaschutz zu sein, gerecht werden .
({4})
Das ist eine ökologische, aber auch eine wirtschaftliche
Frage .
({5})
Das werden die Autos der Zukunft sein .
Wenn wir weiterhin das Autoland Nummer eins bleiben wollen, dann müssen wir hier an der Spitze sein . Das
muss unser Anspruch sein .
({6})
Das richtet sich natürlich als Erstes an die Automobilunternehmen, die diese Entwicklungen vorantreiben müssen, aber auch an die Politik . Wir setzen die Rahmenbedingungen . Die Bundesregierung hat einen Prozess
eingeleitet, um die Brennstoffzelle und die Elektromobilität voranzubringen und genau das zu erreichen . Sie hat
Milliardenprogramme aufgelegt und ihre Forschungsanstrengungen in den Bereichen Batterietechnik, Antriebstechnik, Leichtbautechnik und in Bezug auf die Verbindung zum Energiesystem erhöht .
({7})
- Herr Krischer, mit der Forderung nach Kaufanreizen
greifen Sie eine Forderung der Automobilindustrie auf .
({8})
- Diese Forderung wird auch in der Automobilindustrie
so vertreten . - Ich bin da etwas zurückhaltend . Ich glaube, ein Auto wird dann gekauft, wenn die Technik überzeugt, wenn es effizient ist, wenn der Käufer das Auto
fahren will, weil es einfach gut ist .
Natürlich geht es auch darum, Rahmenbedingungen
zu setzen . Diese haben wir mit dem Elektromobilitätsgesetz auf den Weg gebracht .
({9})
Denken Sie zum Beispiel an die Nutzervorteile und
andere Dinge . Es geht hier auch um steuerliche Anreize . Kaufprämien, wie Sie sie fordern - normalerweise
nennen Sie das „Subventionen“ -, sind zum Beispiel in
Frankreich eingeführt worden . Damit hatte man aber nur
sehr begrenzt Erfolg . Ich glaube deshalb, dass man noch
einmal darüber nachdenken muss, wie man bei diesem
Thema anders vorankommt, gemeinsam mit der Nationalen Plattform Elektromobilität, die hierzu bereits Vorschläge erarbeitet hat .
Das Ziel ist klar: Wir brauchen die besten Autos mit
alternativen Antrieben, und wir brauchen Fortschritte bei
den konventionellen Fahrzeugen . Das ist die Linie der
Bundesregierung und auch die Linie unserer Fraktion .
Auf diesem Weg sollten wir gemeinsam mit der Autoindustrie vorankommen . Unser Anspruch muss sein: Die
besten Autos kommen aus Deutschland .
Herzlichen Dank .
({10})
Vielen Dank . - Als letzter Redner in der Aktuellen
Stunde hat Carsten Müller von der CDU/CSU-Fraktion
das Wort .
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen
und Herren! In meiner Heimatregion Braunschweig/
Wolfsburg spreche ich im Moment mit vielen besorgten Menschen, mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern
von Volkswagen, mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern
von Zulieferern, auch mit Leuten, die mit dem Volkswagen-Konzern und der Branche gar nichts zu tun haben,
aber trotzdem besorgt sind . Wir haben es in den Kommunen in meiner Heimatregion mit der Situation zu tun,
dass die Haushaltsberatungen verschoben werden, weil
die Kalkulationsbasis für die Gewerbesteuereinnahmen
überhaupt nicht mehr vorhanden ist . Sie mögen daraus
ableiten, wie tief die Verunsicherung ist .
Es gibt an dieser Stelle keine zwei Meinungen . Die
illegalen Manipulationen, die es bei Volkswagen ganz offensichtlich gegeben hat, sind überhaupt nicht tolerierbar .
Hier ist Vertrauen verspielt worden, und dieses Vertrauen
muss durch rückhaltlose Aufklärung zurückgewonnen
werden . Daran arbeitet die Bundesregierung hart - das
ist heute mehrfach richtigerweise gesagt worden -; sie
hat in dieser Woche umgehend die richtigen Maßnahmen
ergriffen .
Wie gesagt: Die Situation ist schlimm . Ich will den
Kolleginnen und Kollegen der Linksfraktion und der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen aber auch einmal ganz
deutlich sagen: Wie Sie sich heute hier aufgeführt haben,
ist fast genauso schlimm . Für die Menschen in meiner
Heimatregion, die Sie heute beobachtet und gesehen haben, mit welcher klammheimlichen Schadenfreude Sie
diese Diskussion geführt bzw . begleitet haben, war das
über alle Maßen erschreckend .
({0})
Frau Leidig, zu Ihnen komme ich am Schluss . Das, was
Sie hier heute geäußert haben, fand ich ganz besonders
bemerkenswert .
({1})
Der SPD will ich einen guten Rat geben - Kolleginnen und Kollegen aus Nordrhein-Westfalen sind ja da -:
Sagen Sie Ihrem SPD-Justizminister in Nordrhein-Westfalen einmal, dass es in dieser Situation nicht hilfreich
ist, wenn er um einer billigen Schlagzeile willen sofortige Schadensersatzzahlungen an VW-Fahrerinnen und
-fahrer fordert . Damit spielt er meines Erachtens mit den
Ängsten .
({2})
Die Linken haben gefordert, dass die milliardenschweren Eigner von Autokonzernen erst einmal enteignet werden müssen . Frau Kollegin Leidig, das ist kenntnislos .
({3})
- Ich habe ganz genau zugehört .
({4})
Sie wollen vor allen Dingen das Land Niedersachsen
drankriegen, das an Volkswagen beteiligt ist, und die vielen Belegschaftsaktionärinnen und -aktionäre . Das halte
ich für schäbig .
Zu den Grünen . Herr Kollege Krischer, ich halte das,
was Sie hier gesagt haben, ehrlich gesagt, für über alle
Maßen wohlfeil . Es kommt selten vor - es gibt nur einen Fall -, dass die öffentliche Hand an einem Automobilkonzern beteiligt ist . Die Beteiligung an Volkswagen
wird durch eine Landesregierung ausgeübt, an der die
Grünen beteiligt sind, und Sie stellen sich jetzt hierhin und unterstellen dem mit der Aufklärung befassten
Alexander Dobrindt, der das hervorragend macht,
({5})
dass er bestimmte Dinge gewusst hätte . Ich frage Sie:
Was haben Sie und Ihre Parteifreunde in Niedersachsen in ihrer Eigentümerstellung eigentlich gemacht, um
dieses Thema frühzeitig anzugehen? Ich sage es Ihnen:
Nichts! Deswegen ist das auch wohlfeil, was Sie hier abliefern . Sie spielen mit den Ängsten der Menschen .
({6})
Was ist zu tun? Erstens . Das verlorengegangene Vertrauen muss zurückgewonnen werden; darüber denken
wir heute alle nach, hoffentlich auch Sie von den Linken
und den Grünen . Das geht aber nicht einfach so . Rückhaltlose Aufklärung ist erforderlich . Da ist die Bundesregierung gefordert, ebenso andere Stakeholder . Da ist
auch die Industrie gefordert, zwar nicht nur Volkswagen,
aber vor allen Dingen Volkswagen .
Zweitens . Das Thema RDE, Real Driving Emissions,
ist heute mehrfach angesprochen worden . Eigentlich soll
das 2017 kommen . Dann sollen die Prüfzyklen so durchgeführt werden, dass sie der wirklichen Benutzung der
Fahrzeuge auf der Straße entsprechen . Das ist wichtig;
denn mit reiner Theorie kann man nichts ausrichten . Zudem führt das zu Verbraucherverunsicherung . Ich könnte mir schon vorstellen - und würde mir das auch wünschen -, dass man hier schneller vorankommt und die
RDE-Zyklen nicht erst 2017 auf dem Weg über Europa
einführt . Hier müssen wir dranbleiben .
({7})
Drittens . Wenn man sich mit diesem Thema auseinandersetzt, sieht man, dass es noch andere Möglichkeiten
gibt . Wenn wir uns anschauen, welche ISO-Normen beispielsweise für sicherheitsrelevante Systeme in Fahrzeugen gelten - ich hebe hier auf die ISO-Norm 26262 ab -,
kann ich mir durchaus vorstellen, eine analoge Regelung
in Bezug auf eine unabhängige Testierung der umweltrelevanten Komponenten bei Straßenfahrzeugen zu erreichen . Das sollten wir uns überlegen . Damit können
wir, glaube ich, ganz wesentlich Verbrauchervertrauen
zurückgewinnen .
Meine Damen und Herren, das waren drei Punkte . Ich
habe mir während der Debatte noch einen vierten Punkt
notiert . Wir alle sollten - ich wende mich abermals an
die Grünen und die Linken - nicht mit den Ängsten der
Menschen spielen .
({8})
- Frau Leidig, ich hatte versprochen, dass ich noch zu
Ihnen komme .
Herr Kollege, ich würde Sie bitten, zum Schluss zu
kommen .
Das mache ich . Ich komme Ihrer Bitte gerne nach . Als der Kollege Kühn sagte, bei der Automobilindustrie
sei der Lack ab, haben Sie dazwischengerufen: „Schön
Carsten Müller ({0})
wär’s!“ - Das ist zynisch . Die Menschen in diesem Lande sollen das wissen . Schlimm! Schämen Sie sich!
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, damit ist die Aktuelle Stunde beendet .
Wir sind am Schluss unserer heutigen Tagesordnung .
Dieses Thema wird uns aber sicherlich noch etwas länger
beschäftigen .
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages, auf Mittwoch, den 30 . September 2015, 13 Uhr,
ein .
Die Sitzung ist geschlossen . Ich wünsche Ihnen eine
gute Heimfahrt .