Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich begrüße Sie alle
herzlich zu unserer vorläufig letzten Plenarsitzung vor
Beginn der parlamentarischen Sommerpause.
Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, möchte ich
zwei Kollegen zu ihren heutigen Geburtstagen gratulieren, und zwar der Kollegin Petra Crone zu ihrem
65. und dem Kollegen Manfred Grund zu seinem
60. Geburtstag.
({0})
Das ganze Haus ist in den guten Wünschen für Sie wieder einmal einträchtig vereint. Das Präsidium schließt
sich dem ausdrücklich an. Da kann eigentlich schon
nichts mehr schiefgehen.
Ich möchte Sie dann darüber informieren, dass sich
der Ältestenrat in seiner gestrigen Sitzung darauf verständigt hat, in der Woche der Haushaltsberatungen,
die ab dem 8. September dieses Jahres stattfinden, wie
üblich keine Befragung der Bundesregierung, keine Fragestunde und auch keine Aktuellen Stunden durchzuführen. Als Präsenztage sind die Tage von Montag, dem
7. September, bis Freitag, dem 11. September, festgelegt
worden. Das ist alles überraschungsfrei.
Ich füge - wahrscheinlich auch nur zu Ihrer mäßigen
Überraschung - hinzu, dass keineswegs sicher ist, dass
wir uns erst am 8. September dieses Jahres wieder zu einer Sitzung hier versammeln. Ich wiederhole also meine
frühere Empfehlung: Schwimmen Sie nicht zu weit raus.
Vielleicht wäre auch zu überlegen, Kurzurlaube in Berlin in fußläufiger Entfernung zum Reichstagsgebäude für
die diesjährige Sommerpause einzuplanen, um für alle
Eventualitäten gerüstet zu sein.
({1})
Dann rufe ich nun die Tagesordnungspunkte 32 a und
32 b auf:
a) - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Verbesserung der Zusammenarbeit im Bereich des Verfassungsschutzes
Drucksachen 18/4654, 18/5051
Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({2})
Drucksache 18/5415
- Bericht des Haushaltsausschusses ({3}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
Drucksache 18/5416
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Innenausschusses ({4})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Petra Pau,
Jan Korte, Dr. André Hahn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Wirksame Alternativen zum nachrichtendienstlich arbeitenden Verfassungsschutz
schaffen
- zu dem Antrag der Abgeordneten
Dr. Konstantin von Notz, Hans-Christian
Ströbele, Irene Mihalic, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Für eine Zäsur und einen Neustart in der
deutschen Sicherheitsarchitektur
Drucksachen 18/4682, 18/4690, 18/5415
Zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung liegt ein
Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 77 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Also können wir wohl so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Bundesinnenminister Thomas de Maizière das Wort.
({5})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Aufdeckung der NSU-Verbrechen vor dreieinhalb Jahren
war für uns alle ein Schock, war Ergebnis eines kollektiven Versagens der Sicherheitsbehörden, auch der Verfassungsschutzbehörden, führte zum NSU-Untersuchungsausschuss und war der Beginn eines umfassenden
Reformprozesses der Verfassungsschutzbehörden von
Bund und Ländern. Dazu gehört die Binnenreform dieses Bundesamtes - auch in den Ländern gibt es entsprechende Bemühungen -, und dazu gehört das Gesetz, das
wir heute in zweiter und dritter Lesung beraten und verabschieden.
Dieses Gesetz ist eine entschlossene Konsequenz aus
den Mängeln bei der Aufklärung der NSU-Verbrechen
für den Bereich der Verfassungsschutzbehörden.
({0})
- Klar sehen Sie das anders; es hätte mich, ehrlich gesagt, auch überrascht, wenn nicht.
({1})
Gleichzeitig setzen wir damit die Empfehlung des
NSU-Untersuchungsausschusses um, der eine zentrale
Zusammenführung von Informationen und deren gründliche Auswertung einstimmig angemahnt hat. Der Gesetzentwurf legt den Fokus auf die Zusammenarbeit der
Verfassungsschutzbehörden und sorgt für mehr Rechtssicherheit beim Einsatz von V-Leuten. Lassen Sie mich
hier drei wesentliche Komponenten erwähnen.
Erstens. Wir stärken das Bundesamt für Verfassungsschutz als Zentralstelle und den Verbund der Verfassungsschutzbehörden. Das Bundesamt erhält einen
gesetzlichen Koordinierungsauftrag für das Zusammenwirken der Verfassungsschutzbehörden im Verbund.
Diese Koordinierung wird die Abstimmung zwischen
den einzelnen Behörden verbessern und deren Zusammenarbeit effizienter machen. Davon werden auch die
Länder profitieren.
Außerdem soll das Bundesamt, wenn es nötig ist,
auch bei regionalen gewaltorientierten Phänomenen in
die Beobachtung eintreten können - notfalls auch ohne
Einvernehmen mit dem betroffenen Land. Diesen Punkt
haben wir mit den Ländern streitig diskutiert. Ich hatte
übrigens zwischendurch einmal den Eindruck, dass es
dazu auch schon Zustimmung gegeben hat, weil wir auf
einen anderen Punkt - eine noch stärkere Koordinierung verzichtet hatten. Aber nun finden die Länder das immer
noch nicht in Ordnung. Ich glaube aber, dass wir bei diesem Punkt in der Sache richtig liegen.
({2})
Das Bundesamt wird in diesen Fällen nur tätig, wenn
es nach dem Benehmen mit dem Land wirklich nicht anders geht. Die Regelung dient der Behandlung von Einzelfällen, in denen die sonst gebotenen dringenden Maßnahmen unterbleiben würden. Mit ihr wird keine
Länderzuständigkeit verdrängt, sondern sie dient dem
flächendeckenden Schutz vor extremistischer Gewalt in
Deutschland. Dort, wo in Deutschland verfassungsfeindliche Ziele gewaltorientiert verfolgt werden, können wir
uns keine blinden Flecken der Beobachtung erlauben.
({3})
Meine Damen und Herren, eines möchte ich aber
auch sagen: Dieses Gesetz fordert und regelt eine gute
Zusammenarbeit zwischen den Verfassungsschutzbehörden von Bund und Ländern. Herbeibefehlen mit einem
Gesetz kann man dies aber nicht. Ich habe von dieser
Stelle aus schon einmal gesagt: Es gibt einen guten Geist
der Zusammenarbeit bei den Polizeibehörden. Der ist
dort ganz selbstverständlich. Diesen guten Geist der Zusammenarbeit gibt es bei den Verfassungsschutzbehörden so noch nicht. Wir müssen mit diesem Gesetz und
mit weiteren Maßnahmen dazu kommen, dass das zu einer Mentalität wird. Die Verfassungsschutzbehörden von
Bund und Ländern müssen die Sicherung und den
Schutz unserer Verfassung als gemeinsame Aufgabe
empfinden. Sie dürfen ihre Informationen nicht wie ihren Augapfel hüten und damit die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland eher gefährden als schützen.
({4})
Zweitens. Wir verbessern mit dem Gesetz den Informationsfluss im Verfassungsschutzverbund und bauen
unsere Fähigkeiten bei der Analyse von Informationen
aus. Wir ermöglichen und verpflichten zugleich, das
nachrichtendienstliche Informationssystem - abgekürzt:
NADIS - im Verfassungsschutzverbund noch mehr als
bislang zu nutzen. Damit erweitern wir den Informationsaustausch zwischen den Verfassungsschutzbehörden und legen ihn gesetzlich fest.
Das NADIS ermöglicht es, länderübergreifende Zusammenhänge an einer zentralen Stelle zu analysieren.
Statt nur auf isolierte Einzelfälle zu sehen, können wir
auf diese Weise verfassungsfeindliche extremistische
Strukturen und Muster besser erkennen. Auch und gerade daran hat es bei den Ermittlungen im NSU-Verfahren gefehlt. Aus dieser Erfahrung werden nun auch hier
die gesetzlich richtigen Schlüsse gezogen.
Neben einem verbesserten Informationsaustausch
wollen wir aber auch unser Blickfeld vervollständigen:
Bislang wurde NADIS allein zur Aufklärung im Bereich
des Rechtsextremismus genutzt, nicht aber im Bereich
zum Beispiel des Salafismus, wo es bislang im sogenannten legalistischen Bereich ein bloßer Aktennachweis ist. Diese Lücke werden wir jetzt schließen. Damit
vermeiden wir auch dort Informationsinseln und gewinnen einen besseren Überblick über die Strukturen im Bereich des islamistischen Extremismus, einschließlich der
Bezüge und Zusammenhänge zwischen vorgeblichen
Legalisten und der gewaltorientierten Szene.
In diesem Zusammenhang, Herr Abgeordneter
Ströbele, würde ich gern eine Anmerkung auf Ihren Zwischenruf machen mit Blick auf Datenschutzbedenken.
({5})
Es trifft zu, dass die Datenschutzbeauftragte Bedenken
gegen diese Form der Zusammenarbeit vorgetragen hat.
({6})
- Ich will ja gerade darauf eingehen. - Ich halte diese Bedenken für unberechtigt. Man kann nicht einerseits wie
wir und wie Sie bei den Empfehlungen zum NSU-Untersuchungsausschuss sagen: „Die Verfassungsschutzbehörden sollen besser zusammenarbeiten; es kann nicht sein,
dass sie sich Informationen gegenseitig vorenthalten“;
({7})
und wenn wir das regeln, dann sagen Sie: Das dürfen die
aber nicht, wegen Datenschutzbedenken. - Das passt
doch überhaupt nicht zusammen.
({8})
Noch einmal: Wir reden über behördeninterne Beobachtungen. Alles das, was an Informationen dort ausgetauscht wird innerhalb eines Landes, ist völlig selbstverständlich.
({9})
Da gelten die gleichen Datenschutzregeln. Ich kann
nicht erkennen, warum der Datenschutz verletzt sein
soll, wenn zwischen Hamburg und Schleswig-Holstein
eine Information intern ausgetauscht wird. Wo soll der
Unterschied dazu sein, dass sie innerhalb Hamburgs ausgetauscht wird?
({10})
Deswegen glaube ich, dass diese Bedenken unberechtigt
sind.
Drittens. Wir sorgen - das wird ja auch gleich diskutiert - jetzt für Klarheit beim Einsatz von V-Leuten. Darüber wurde natürlich streitig diskutiert, und wir werden
es gleich wieder tun. Die Nutzung von V-Leuten aus der
extremistischen Szene ist und bleibt ein politisch sensibles Einsatzmittel. Niemand tut das gerne, niemand arbeitet mit diesen Menschen gerne zusammen, die meistens
irgendwie so sind, dass man mit ihnen im normalen Leben nicht zusammenarbeiten würde. Für einen Nachrichtendienst bleiben V-Leute aber ein unverzichtbares Einsatzmittel. Wir brauchen V-Leute, um an Informationen
zu gelangen - wohl wissend, dass diese Leute Nähe zu
Extremisten haben.
Beim Einsatz von V-Leuten stellen sich, wenn man
sie generell für nötig hält, zwei Fragen: Erstens, wer darf
angeworben werden? Und zweitens, was dürfen V-Leute
im Einsatz tun und was nicht? Beides werden wir mit
dem vorliegenden Gesetzentwurf maßvoll und klar regeln, und zwar erstmals in einem Gesetz.
Zur Frage der Anwerbung sind im parlamentarischen
Verfahren Änderungen in den Entwurf aufgenommen
worden. Personen mit gewichtigen Vorstrafen dürfen nur
angeworben werden, wenn das zur Aufklärung von besonders gefährlichen Bestrebungen unerlässlich ist.
({11})
Die Regelungen sehen nun außerdem vor, dass in keinem denkbaren Fall verurteilte Schwerstkriminelle für
einen Einsatz angeworben werden dürfen.
({12})
Diese neu hinzugekommenen Restriktionen ergänzen die
bereits bestehenden Ausschlusskriterien wie zum Beispiel Minderjährigkeit und machen die Anwerbevoraussetzungen noch einmal klarer und strenger.
Ich halte die Regelungen zur Anwerbung für eine
gute Lösung. Wenn wir durch eine V-Person für unser
Land gefährliche Bestrebungen aufklären können - nur
dann ist ihr Einsatz zulässig -, ist es grundsätzlich nicht
verantwortlich, hierauf zu verzichten.
Herr Minister, darf der Kollege Ströbele eine Zwischenfrage stellen?
Gerne.
({0})
Ich kann Sie beruhigen, Herr Kollege Binninger: Da
habe ich noch mehr zu sagen.
Herr Minister, Sie haben gesagt: Bei schwersten
Straftaten dürfen V-Leute nicht weiterbeschäftigt werden.
({0})
Der Änderungsantrag, dem Sie das entnehmen, bezieht
sich ausschließlich auf Tötungsdelikte, und zwar nur
Mord und Totschlag. Körperverletzung mit Todesfolge,
schwerste Erpressung beispielsweise, schwerer Raub,
das alles sind nach dem Gesetz, wie Sie es jetzt vorschlagen, keine Taten, bei denen V-Leute nicht weiterbeschäftigt werden können - der Präsident oder der Vizepräsident muss lediglich zustimmen. Sagen Sie also
nicht: bei schwersten Straftaten. Schwerste Straftaten
sind nicht nur Mord und Totschlag. Können Sie sich das
Gesetz mal anschauen und mir darauf eine Antwort geben?
Das will ich gerne tun. Aus Zeitgründen habe ich die
einzelnen Delikte nicht aufgeführt.
({0})
Ich will Ihnen aber Folgendes sagen: Nehmen wir
einmal an, es gibt einen Rückkehrer aus dem sogenannten Dschihad in Syrien, der hierher kommt und bereit ist,
über Strukturen der islamistischen Gewaltszene Aussagen zu machen, wobei wir nicht genau wissen, was er da
gemacht hat. Auch wenn man es nicht gerne macht, halte
ich es für vertretbar und verantwortbar, die Informationen eines solchen Menschen zum Schutz vor Anschlägen in Deutschland zu nutzen. Das halte ich für absolut
geboten und richtig.
({1})
Herr Abgeordneter Ströbele, im Übrigen ist dieser
Gedanke in der Strafverfolgung selbstverständlich.
Selbst Kapitalverbrecher können geeignete Kronzeugen
sein,
({2})
wenn sie zuverlässige Informationen bieten, die zur Aufklärung oder Verhinderung weiterer schwerer Straftaten
führen.
({3})
Auch das, was ein V-Mann im Einsatz darf und was
nicht, legen wir in diesem Gesetzentwurf erstmalig fest.
Hier gilt die klare Regel: Ein V-Mann darf keine anderen
Personen schädigen. Das gilt auch für szenetypisches
Verhalten. Eingriffe in Individualrechte sind ausnahmslos verboten.
In den anderen Fällen, wenn es also um Gesetze geht,
die nicht Individualrechte schützen, muss das Verhalten
für die Akzeptanz in der aufzuklärenden Szene unerlässlich und darf keinesfalls unverhältnismäßig sein. Ich will
dies an einem praktischen Beispiel deutlich machen: Bei
der Nutzung von V-Leuten ist eine Vermummung im
Schwarzen Block der Versammlung erlaubt, Sachbeschädigung bleibt verboten.
Die strafprozessuale Einstellungsmöglichkeit wird
hiervon im Übrigen weder berührt noch relativiert. Die
Strafprozessordnung ermöglicht bereits jetzt eine Verfahrenseinstellung bei geringer Schuld und mangelndem
Strafverfolgungsinteresse als Ergebnis einer Abwägung.
Wir regeln nun wesentlich klarer und erstmals, wo das
beim Einsatz von V-Leuten der Fall ist und wo nicht.
Ich sage unumwunden: Die Regelungen zu V-Leuten
sind das Ergebnis schwieriger rechtsstaatlicher Abwägungsentscheidungen; das ist wohl wahr. Mit diesem
Gesetzentwurf - insbesondere mit den jetzt aufgenommenen Änderungen - haben wir eine ausgewogene Lösung gefunden, und ich finde, diese Regelungen verdienen Unterstützung.
({4})
Im parlamentarischen Verfahren wurde außerdem
eine Regelung aufgenommen, die die Bundesregierung
dazu verpflichtet, einmal im Jahr einen Lagebericht zum
Einsatz von V-Leuten im Parlamentarischen Kontrollgremium vorzulegen. Der Verfassungsschutz wird damit
auch beim Einsatz von V-Leuten einer verstärkten strukturellen Kontrolle durch das Parlament unterliegen, und
das Parlament übernimmt damit ein Stück Mitverantwortung für den Einsatz von V-Leuten. Darauf wird sicher auch dann zurückzukommen sein, wenn einmal etwas schiefgegangen ist.
({5})
- Ja. Verantwortung gibt es nicht nur an schönen Tagen.
({6})
Bedrohungen für die Freiheit und für die Demokratie
in unserem Land beginnen nicht erst mit Gewalt und Anschlägen, sondern dort, wo radikale und extremistische
Denkweisen entstehen. Wozu diese Denkweisen führen
können, haben wir bei den NSU-Verbrechen erleben
müssen. Die Anschläge der letzten Wochen in Tunesien
und Frankreich haben uns das noch einmal auf schreckliche Weise vor Augen geführt.
Die kritische Debatte über die Organisation und
Strukturen der Verfassungsschutzbehörden in unserem
Land war und ist richtig und hat zu den ausgewogenen
Regelungen geführt, über die wir heute beraten und entscheiden. Wir dürfen nicht blind werden gegen Extremisten. Wir brauchen ein Frühwarnsystem und damit einen modernen und leistungsfähigen Verfassungsschutz übrigens auch zur Spionageabwehr.
({7})
Wir haben die Lehren aus den Defiziten bei der Arbeit
unserer Verfassungsschutzbehörden gezogen und entwickeln den gesetzlichen Rahmen dafür mit Maß und Mitte
fort. Wir brauchen Verfassungsschutzbehörden, die zusammenarbeiten und die ihre Strukturen dort, wo es nötig ist, immer wieder erneuern. Für diesen Erneuerungsprozess ist der vorliegende Gesetzentwurf ein wichtiger
Baustein. Ich bitte um eine breite Zustimmung.
({8})
Das Wort erhält nun die Kollegin Petra Pau für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich beobachte derzeit zwei widerstreitende
Entwicklungen. Die erste Entwicklung: Auch die deutschen Geheimdienste sind zunehmend diskreditiert, und
sie haben sich durch ihr Agieren selbst delegitimiert.
({0})
Die Ämter für Verfassungsschutz im Zusammenhang mit
dem NSU-Nazi-Mord-Desaster agierten im Zentrum des
Staatsversagens. Der Bundesnachrichtendienst steht mit
den globalen, unsäglichen Spähattacken der NSA im
Bunde, und das ist genauso inakzeptabel.
({1})
Die zweite Entwicklung: Die Bundesregierung schaltet trotzdem auf Offensive und will beide Geheimdienste
- das ist auch Gegenstand des Gesetzentwurfs - weiter
ausbauen. Der ehemalige Regierungssprecher, UweKarsten Heye, meinte in diesem Zusammenhang einmal:
Versager rüstet man nicht auf. - Die Linke findet: Er hat
recht.
({2})
Zwischen dem NSU-Desaster und den anhaltenden
NSA-Attacken gibt es noch eine weitere Parallele. Beide
Male, Frau Bundeskanzlerin, haben Sie bedingungslose
Aufklärung versprochen.
({3})
Von Aufklärung kann nach wie vor keine Rede sein, im
Gegenteil. Sie sollten aufpassen, dass Ihre Kollegen im
Kabinett Sie nicht in einen Meineid hineinmanövrieren.
({4})
Untersuchungsausschüsse im Bund und in Landesparlamenten werden nach wie vor systematisch hingehalten,
ausgebremst und ausgetrickst. Deshalb sollte in diesem
Zusammenhang niemand das Wort „Vertrauen“ strapazieren.
({5})
Wir entscheiden heute über ein Gesetz. Es betrifft das
Bundesamt für Verfassungsschutz und sein Verhältnis zu
den Landesämtern. Sie, Herr Innenminister, haben es als
logische Folge aus den NSU-Untersuchungen bezeichnet
und gesagt, das sei man den Opfern des Nationalsozialistischen Untergrundes schuldig.
Wir haben im Innenausschuss zu diesem Gesetzentwurf Sachverständige angehört. Ich möchte aus der Stellungnahme des Sachverständigen Sebastian Scharmer
zitieren. Er vertritt als Anwalt beim Münchner NSUProzess Opfer der Terrorbande bzw. Angehörige der Opfer. In seiner Stellungnahme heißt es ausdrücklich: Weder die Familie Kubasik noch weitere Hinterbliebene der
Mordopfer tragen dieses Gesetz auch nur ansatzweise
mit. Ich zitiere:
Vielmehr besteht eine nachvollziehbare Empörung
darüber, dass nun auf ihrem Rücken und mit dem
Leid, was sie gerade auch durch staatliche Behörden über Jahre hinweg erfahren mussten, in gesetzlicher und finanzieller Hinsicht eine der größten
Machterweiterungen des Bundesamtes für Verfassungsschutz begründet werden soll …
So weit das Zitat. - Ich finde diese Empörung verständlich; denn der Verweis auf angebliche Erwartungen der
NSU-Opfer und Hinterbliebenen ist da einfach ungezogen.
Knapp zusammengefasst zielt das Gesetz auf drei Änderungen. Erstens sollen die Kompetenzen und die Ausstattung des Bundesamtes für Verfassungsschutz ausgeweitet werden. Zweitens soll die Werbung und Führung
sogenannter Vertrauensleute, kurz V-Leute, klarer geregelt werden. Drittens sollen die Befugnisse des BfV zur
Sammlung, Verknüpfung und Verarbeitung persönlicher
Daten erhöht werden. Das alles wird mit zusätzlich
17 Millionen Euro jährlich und 260 neuen Planstellen im
Bundesamt verbunden.
({6})
Namens der Fraktion Die Linke sage ich Ihnen: Keine
der vorgeschlagenen Änderungen ist eine logische Konsequenz aus dem NSU-Desaster, und keine behebt wirklich Defizite, die zu diesem Desaster geführt haben.
({7})
Deshalb werden wir das Gesetz in der Sache ablehnen.
({8})
- Sie müssen gar nicht so aufgeregt sein.
Ich will Ihnen unser Nein an zwei Beispielen illustrieren. Das erste Beispiel ist die V-Leute-Praxis. V-Leute
sind gekaufte Spitzel und bezahlte Täter,
({9})
im NSU-Fall verbohrte Nazis mit all ihrer Menschenverachtung. Rund um das NSU-Nazinetzwerk waren übrigens rund 40 V-Leute verschiedener Sicherheitsbehörden aktiv. Ich frage Sie: mit welchem Erfolg?
Weder das Leben der NSU-Opfer noch die Verfassung
wurden geschützt. Stattdessen wurden diese V-Leute,
also Nazis, vor Ermittlungen gewarnt und geschützt.
Über üppige Honorare und Sachleistungen für diese
V-Leute wurden Nazinetzwerke obendrein gestärkt und
zum Teil erst aufgebaut. Daran ändert auch der vorliegende Gesetzentwurf nichts. Er regelt bestenfalls schwarz
auf weiß, was bislang im Grauen geschah. Die Linke fordert deshalb eine andere, eine wirkliche Konsequenz,
nämlich das V-Leute-Unwesen der Sicherheitsbehörden
sofort zu beenden.
({10})
Das zweite Beispiel ist der Informations- und Datenfluss. Alle Informationen der Ämter für Verfassungsschutz sollen verlässlicher ausgetauscht und letztlich
beim Bundesamt für Verfassungsschutz gebündelt werden. So verheißt es der vorliegende Gesetzentwurf. Das
klingt harmlos und sogar vernünftig. Das ist es aber
nicht. Denn wie das NSU-Desaster gezeigt hat, hatte der
Verfassungsschutz sehr wohl Erkenntnisse über den Verbleib und die Vorhaben des NSU-Kerntrios. Sie wurden
auch innerhalb des Verfassungsschutzes ausgetauscht.
Den Fahndern der Kriminalämter indes wurden sie verheimlicht, weil der Schutz der V-Leute mehr zählte als
die Fahndung nach Räubern und Mördern.
Ändert das Gesetz etwas an diesem Prinzip? Nein. Altes wird uns hier als etwas Neues verkauft. So etwas
nennt man Täuschung.
({11})
Das Geheime wird weiter geschützt, und nicht die Verfassung. Deshalb bleibt die Linke dabei: Der Verfassungsschutz ist als Geheimdienst aufzulösen.
({12})
Nun habe ich mehrfach unser Nein begründet. Es
stellt sich die Frage: Gibt es Alternativen? Die Regierung sagt wie immer Nein, die Opposition natürlich Ja.
Ich sage: In diesem Fall ist die Opposition weitaus klüger.
({13})
Bündnis 90/Die Grünen fordern in ihrem Antrag, das
Regierungsgesetz zurückzuziehen. Dem stimme ich als
Linke zu. Außerdem listen sie detailliert auf, warum der
Regierungsentwurf am eigentlichen Problem vorbeigeht.
Auch das teile ich.
({14})
Ich will dennoch auf das Grundproblem und damit
auf den Antrag der Fraktion Die Linke zurückkommen.
Wir sind der festen Überzeugung: Geheimdienste sind
Fremdkörper in einer Demokratie, zudem unkontrollierbar und mithin nicht reformierbar.
({15})
Deshalb fordert die Linke, übrigens in Übereinstimmung
mit dem Grundgesetz, den Verfassungsschutz als Geheimdienst aufzulösen. Denn das Grundgesetz schreibt
zwar eine Behörde zum Schutz der Verfassung vor, aber
mitnichten in der Organisationsform eines Nachrichtendienstes. Auch das muss man wissen.
({16})
Deshalb schlagen wir alternativ eine „Koordinierungsstelle des Bundes zur Dokumentation neonazistischer, rassistischer und antisemitischer Einstelllungen
und Bestrebungen sowie sonstiger Erscheinungsformen
gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit“ vor. Korrespondierend mit ihr soll eine „Bundesstiftung zur
Beobachtung, Erforschung und Aufklärung der Erscheinungsformen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit“ eingerichtet werden. Beide Einrichtungen sollen kompetent, transparent und ohne geheimdienstliche
Befugnisse arbeiten.
({17})
Damit würden zugleich Grundrechte wie das Recht auf
informationelle Selbstbestimmung, das Post- und Briefgeheimnis sowie die Meinungsfreiheit verfassungsgemäß gestärkt.
({18})
Für die SPD-Fraktion hat nun die Kollegin Eva Högl
das Wort.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Einen schönen guten
Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr
geehrten Damen und Herren! Ich möchte meine Rede
mit einem ausdrücklichen Lob beginnen, und zwar mit
einem Lob für unsere Sicherheitsbehörden im Bund und
in den Ländern.
({0})
Sie leisten jeden Tag hervorragende Arbeit, und sie sind
im Großen und Ganzen exzellent aufgestellt.
({1})
Das gilt für Polizei, Justiz und Verfassungsschutz.
({2})
Die Menschen, die in diesen Behörden arbeiten, verhindern jeden Tag Straftaten. Sie ermitteln Täter und klären
auf. Täter werden auch verurteilt. Ich finde, es gehört zu
dieser Debatte auch dazu, dafür ganz herzlich Danke zu
sagen.
({3})
Ja, es gab ein flächendeckendes Versagen. Es gab
Fehler und Versäumnisse. Ich möchte das noch einmal
darlegen, weil das der Grund ist, warum wir heute Morgen diese Debatte über den Reformprozess im Verfassungsschutz führen. Der 4. November 2011 stellte eine
Zäsur für Polizei, Verfassungsschutz und Justiz sowie
die Politik im Bund und in den Ländern dar. Der NSU
enttarnte sich in Eisenach, und in den Tagen danach traten nach und nach - wir alle erinnern uns daran - die
Verbindungen zutage. Der ganze Schrecken wurde deutlich. Wir alle hatten das nicht vermutet: zehn Morde,
zwei Sprengstoffanschläge und mehr als ein Dutzend
Banküberfälle. Fast 14 Jahre lang zog die rechtsextreme
Terrorgruppe NSU völlig unerkannt eine Schneise der
Gewalt und des rassistischen Hasses durch Deutschland.
Zu keinem einzigen Zeitpunkt - das ist das Erschreckende an dieser Erkenntnis - wurde eine Verbindung
zwischen den 1998 in Jena untergetauchten Rechtsextremisten sowie der Mordserie und den SprengstoffanschläDr. Eva Högl
gen hergestellt. Das zeigt: Es muss etwas schiefgelaufen
sein. Sonst wären die Täter gefasst worden und wären
die Taten aufgeklärt worden. Damit hat sich der NSUUntersuchungsausschuss 20 Monate lang befasst.
Wir sind der Frage nachgegangen: Wie konnte das
passieren? Wie konnte es passieren, dass ein rechtsextremes Netzwerk mit der Unterstützung Gleichgesinnter in
Deutschland 14 Jahre lang unbehelligt lebt und Morde
begeht? Wie konnte es vor allen Dingen passieren, dass
die Sicherheitsbehörden zu keinem einzigen Zeitpunkt
auf die Spur der Täter kamen? Wir hatten im Untersuchungsausschuss die Aufgabe - das hat unseren Blick
gelenkt -, nach Fehlern, Versäumnissen und Versagen zu
suchen und dann Erklärungen dafür zu geben und Vorschläge zu machen, aus denen hervorgeht, was wir verbessern müssen. Wir haben herausgearbeitet, dass es
sich um das Versäumnis einzelner Personen an ihrem Arbeitsplatz handelte. Diejenigen, die damit befasst waren,
haben nicht gut gearbeitet. Aber was uns hauptsächlich
beschäftigt, sind die systematischen Fehler und das systematische Versagen.
Wir befassen uns heute Morgen mit dem Verfassungsschutz. In diesem Zusammenhang sind drei Themen anzusprechen, die wir herausgearbeitet, analysiert und im
Gesetzentwurf aufgegriffen haben. Das Erste ist die fehlende Zusammenarbeit. Wir haben flächendeckend - von
Nord nach Süd, von Ost nach West - festgestellt, dass
die Verfassungsschutzbehörden nicht ausreichend zusammengearbeitet haben, und zwar weder zwischen den
Bundesländern noch untereinander noch zwischen Bund
und Ländern und auch nicht innerhalb der Bundesländer
mit anderen Behörden, insbesondere mit der Polizei
nicht, beispielsweise in Bayern und Hessen. Ich nenne
diese Bundesländer exemplarisch, weil es dort besonders
augenfällig war. Ich gehe so weit, zu sagen: Die rechtsextremen Terroristen haben sich den Föderalismus zunutze gemacht. Sie haben genau die Schwäche in der Zusammenarbeit ausgenutzt. Das ist ein Kardinalfehler,
den wir herausgearbeitet haben.
Der zweite Punkt ist - dieser ist genauso erschreckend -: Wir mussten feststellen, dass der Verfassungsschutz überhaupt nicht ausreichend aufgestellt ist, um
Rechtsextremismus zu analysieren. Der Rechtsextremismus wurde verharmlost und bagatellisiert. Von Anfang
an wurde die Gefährlichkeit des Rechtsextremismus völlig falsch eingeschätzt. Es wurde nicht gesehen, dass der
Rechtsextremismus eine Gefahr für unsere Demokratie
ist. Das begann schon 1998 in Jena und setzte sich fort.
Ich will ein Beispiel nennen, weil wir genau das bei der
Reform bedenken müssen. Es gab eine ganz fatale Fehleinschätzung in den Jahren 2003 und 2004 durch das
Bundesamt für Verfassungsschutz. Es hat damals das
Terrortrio zwar erwähnt, aber noch nicht als solches erkannt. Es hatte also das Terrortrio noch auf dem Schirm.
Es kam zu dem Ergebnis: Ja, die drei Rechtsextremisten
aus Jena sind abgetaucht. Wir wissen nicht, wo sie sind.
Sie sind auf der Flucht, aber sie verüben erkennbar keine
Gewalttaten und haben bisher noch keine Straftaten begangen. - Da hatte das Terrortrio bereits vier Menschen
ermordet und sieben Überfälle begangen.
({4})
Das war eine ganz fatale Fehleinschätzung. Deswegen
kam der Untersuchungsausschuss zu dem Ergebnis, dass
es hier tatsächlich an der erforderlichen Analysekompetenz ganz unbestreitbar mangelte und der Verfassungsschutz hier versagt hat.
Dritter Punkt: die Praxis der V-Leute. Das ist kein
einfaches Thema. Das diskutieren wir zu Recht streitig.
V-Leute sind keine netten Menschen.
({5})
Wir möchten mit ihnen nicht zu Hause auf dem Sofa sitzen. Wir haben in puncto V-Leute viel herausgearbeitet
und Kritik vorgetragen. Ich komme zu dem Ergebnis:
Bei den V-Leuten gab es viel Aufwand, viel Geld ist geflossen, und wenige Informationen hat es gegeben.
({6})
- Ich komme dazu. - Es ist kein einfaches Thema. Ich
sage gleich, warum wir trotzdem V-Leute brauchen.
({7})
Im NSU-Untersuchungsausschuss haben wir festgestellt,
dass Aufwand und Ertrag in keinem Verhältnis standen.
Ich nenne drei Beispiele und sage Ihnen gleich, warum diese drei Beispiele mit dem neuen Gesetz nicht
mehr möglich wären. „Piatto“, der V-Mann aus Brandenburg, ein wegen versuchten Mordes zu acht Jahren
Gefängnis verurteilter Straftäter, wurde aus dem Strafvollzug heraus vom brandenburgischen Verfassungsschutz angeworben. Dieser verurteilte Gewaltverbrecher bekam dann diverse Erleichterungen und wurde
auch vorzeitig aus der Haft entlassen. Ein erschreckendes Beispiel.
Das zweite Beispiel ist Tino Brandt, allen bestens bekannt, ein vom Thüringer Verfassungsschutz geführter
V-Mann. Er hat rund 200 000 D-Mark während seiner
Zeit als V-Mann als Vergütung für seine Tätigkeit bekommen. Dieses Geld hat er - so sagt er selbst, und das
ist auch nachgewiesen worden - in den „Thüringer Heimatschutz“ gesteckt und damit den Rechtsextremismus
in Thüringen und weit darüber hinaus gestärkt und unterstützt.
({8})
Das dritte Beispiel ist der Fall „Corelli“, der uns hier
noch immer beschäftigt. Auch „Corelli“ ist ein Beispiel
dafür, wie V-Leute nicht ausgewählt werden dürfen,
nicht geführt werden dürfen, nicht eingesetzt werden
dürfen. Viel Geld ist geflossen. Er wurde immer tiefer in
die rechtsextreme Szene gedrückt und wurde nie zum
Ausstieg motiviert.
Jetzt spreche ich die Kolleginnen und Kollegen von
den Grünen an. Wir sind uns völlig einig in der Analyse.
Es gab ein völliges Versagen an dieser Stelle. Es gab
massive Missstände.
({9})
Ich zitiere aus Ihrem Antrag: Wir brauchen eine Zäsur,
wir brauchen einen Neustart, und wir brauchen eine
grundlegende Reform. - Da haben wir hier Einigkeit im
Deutschen Bundestag.
({10})
- Jetzt bin ich dran.
({11})
Wir streiten uns darüber, ob wir die richtigen Konsequenzen ziehen, und wir sind uneinig - das waren wir
schon im NSU-Untersuchungsausschuss - bei der Frage
des Umgangs mit dem Verfassungsschutz. Ich sage: Ja,
dieses Gesetz ist ein richtiger und wichtiger Schritt im
Prozess der Reform des Verfassungsschutzes.
({12})
Wir brauchen den Verfassungsschutz, und wir stärken
mit diesem Gesetz den Verfassungsschutz. Ich will Sie
alle nur ermuntern, einmal einen Blick in den Verfassungsschutzbericht 2014 zu werfen, der diese Woche
vom Innenminister vorgestellt wurde.
({13})
Rechtsextremistisch motivierte Gewalttaten haben den
höchsten Stand seit 2008 erreicht. Sie sind um 23,6 Prozent gestiegen. Wir sind bedroht von Spionageangriffen,
sogenannten Cyberangriffen, und von internationalem
Terror. Wir haben gerade gestern in der Aktuellen
Stunde darüber diskutiert. Auch gewaltbereiter Linksextremismus macht uns Sorgen.
Ich sage Ihnen ganz klar - das geht an die Adresse der
Linken und Grünen -: Diese Aufgaben können wir nicht
mit einer neuen Inlandsaufklärung erledigen, wie Sie
von den Grünen das fordern, oder mit einer Bundesstiftung oder einer Koordinierungsstelle, wie Sie von den
Linken es vorschlagen. Wir brauchen einen starken Verfassungsschutz für diese Aufgaben.
({14})
Deswegen stärken wir mit diesem Gesetz den Verfassungsschutz. Das ist genau der richtige Ansatz, und das
ist die richtige Konsequenz aus dem Versagen, das wir
im Zusammenhang mit dem NSU aufgedeckt haben. Wir
brauchen eine bessere Zusammenarbeit. Es war der Kardinalfehler im Hinblick auf den NSU, dass es keine ausreichende Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern
gab; ich habe das dargestellt. Deswegen ist es richtig und
wichtig, dass wir jetzt das Bundesamt für Verfassungsschutz stärken, die Zentralstelle ausbauen und eine bessere Zusammenarbeit mit den Landesbehörden organisieren. Das ist eine ganz wichtige Konsequenz.
Das Zweite ist die Analysekompetenz; da komme ich
auf die Bedenken in Sachen Datenschutz zu sprechen.
Herr de Maizière hat es eben schon richtig gesagt: Wir
haben bei der Beschäftigung mit dem NSU festgestellt,
dass die Informationen nicht richtig ausgewertet wurden,
dass nicht genügend Informationen vorlagen und dass
deswegen die Analyse des Rechtsextremismus fehlerhaft
und, wie ich eben schon gesagt habe, sogar bagatellisierend war. Deswegen bauen wir NADIS aus. Es ist genau
die richtige Konsequenz, NADIS jetzt analysefähig zu
machen. Dass wir diese Daten nutzbar machen, ist genau
die richtige Konsequenz aus den Erkenntnissen der Beschäftigung mit dem NSU.
Ich sage Ihnen ganz offen: Ich bin dafür, dass Daten
ausgetauscht werden können, dass sie dann aber einem
hohen Schutz und einer nur eingeschränkten Möglichkeit des Zugriffs durch bestimmte Personen unterliegen.
Aber dass die Daten genutzt werden müssen, das halte
ich für den absolut richtigen Schritt.
({15})
Ich komme zu dem sensiblen Thema V-Leute. Ich
habe eben schon angedeutet: Das ist kein einfaches
Thema. Aber wir haben uns entschieden, und das aus guten Gründen, auf den Einsatz von V-Leuten nicht zu verzichten. Ein Einsatz von menschlichen Quellen ist nach
wie vor ein wichtiges Instrument der nachrichtendienstlichen Aufklärung. Diese Quellen sind nicht ohne Weiteres zu ersetzen. Deswegen ist es ein großer Schritt nach
vorne, dass wir den Einsatz von V-Leuten aus der Grauzone herausholen. Wir regeln ihn erstmals klar gesetzlich.
({16})
Wir regeln die Auswahl, wir regeln den Einsatz, wir regeln die Vergütung und wir regeln die weiteren Rahmenbedingungen für Vertrauensleute. Außerdem regeln wir
die Befugnisse für verdeckte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.
Ich will noch einmal ganz klar sagen: Wir legen fest,
dass Personen, für die Geld oder Sachzuwendungen auf
Dauer die Lebensgrundlage darstellen, als V-Leute nicht
angeworben werden dürfen.
({17})
Ebenfalls nicht angeworben werden dürfen Personen,
die an einem Aussteigerprogramm teilnehmen. Das
heißt, der Fall Brandt und der Fall „Corelli“ wären nach
Verabschiedung unseres Gesetzentwurfs überhaupt nicht
mehr möglich. Das ist ein Riesenschritt nach vorne.
({18})
Wir regeln, Herr Ströbele - jetzt hören Sie gut zu -,
dass das Anwerben von Personen, die bereits wegen eines Verbrechens oder zu einer Freiheitsstrafe ohne Bewährung verurteilt wurden, künftig nicht mehr möglich
ist. Das ist in unserem Gesetzentwurf klar geregelt.
({19})
Wir schließen kategorisch, ohne Ausnahme, die Verpflichtung eines Mörders oder Totschlägers aus. Warum
machen wir das? Damit der Fall „Piatto“ mit diesem Gesetz niemals wieder möglich sein wird.
({20})
Wir ziehen unmittelbar die Konsequenzen aus dem, was
wir herausgearbeitet haben.
({21})
Die Strafbarkeit von V-Leuten ist und bleibt ein sensibler Punkt. Wir tun uns damit natürlich nicht leicht.
Wir haben in diesem Gesetz erstmals die Strafbarkeit
von V-Leuten geregelt,
({22})
weil wir der Auffassung sind, dass wir auch das keinem
Graubereich überlassen können, dass auch das ausdrücklich geregelt werden muss. Darüber, ob das sinnvoll ist,
haben wir lange diskutiert. Aber es ist sinnvoll.
Wir haben klargestellt, dass es keinen Eingriff in Individualrechte geben darf - das ist eine ganz wichtige Einschränkung - und dass das Begehen einer Straftat selbstverständlich unerlässlich sein muss zum Erlangen einer
Information. Es geht darum, dass wir eine Verbindung
haben zwischen Qualität der Information und der zur Erlangung der Information begangenen Straftat. Außerdem
gibt es eine Verhältnismäßigkeitsprüfung. Ich finde - ich
sage das für die SPD-Fraktion -, dass wir damit in einem
sensiblen Punkt eine ganz klare und sehr gute Regelung
gefunden haben. Ich kann Sie nur ermuntern, dieser Regelung zuzustimmen.
({23})
Die Reform des Verfassungsschutzes muss weitergehen. Wir haben innerhalb der Behörden noch einiges vor.
Wir müssen an einigen Punkten noch weiterarbeiten. Wir
müssen etwa die Analysekompetenz des Personals stärken; die Herangehensweise an die Arbeit muss verbessert werden. Auf unserer Agenda steht vor allen Dingen
außerdem die Stärkung der parlamentarischen Kontrolle.
Dazu werden wir in dieser Legislaturperiode noch einiges verabschieden. Ich hoffe jedenfalls, dass wir das zustande bringen. Aber schon dieser Gesetzentwurf enthält
dazu einen wichtigen Punkt: Wir bekommen von der
Bundesregierung einen Bericht über den Einsatz von
V-Leuten, einen sogenannten Lagebericht.
({24})
Das versetzt uns in die Lage, den Verfassungsschutz
deutlich besser zu kontrollieren, als es in der Vergangenheit der Fall war.
({25})
Mein Fazit ist: Es ist ein hervorragender Gesetzentwurf geworden. Wir stärken den Verfassungsschutz. Wir
ziehen die Konsequenzen aus dem NSU-Desaster. Ich
denke, dass wir damit ein deutliches Signal an alle senden, die von den NSU-Straftaten betroffen waren. Auch
was die Opfer angeht, hoffe ich, dass wir mehr Vertrauen
in unseren Rechtsstaat schaffen. Ich freue mich, wenn
Sie dem Gesetzentwurf zustimmen.
Vielen Dank.
({26})
Hans-Christian Ströbele erhält nun das Wort für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Es stimmt ja, dass wir alle hier im Saal - ({0})
Frau Bundeskanzlerin, das muss sich auch anderswo
erledigen lassen.
({0})
Die interessiert das Thema offenbar wenig.
({0})
Aber auch die Frau Bundeskanzlerin hat wie wir alle den
Opfern und der deutschen Bevölkerung versprochen,
dass wir alles tun wollen, dass so etwas an Mord und
Verbrechen, wie es in den Jahren von 1998/99 bis 2011
geschehen ist, wovon vor allen Dingen eine Bevölkerungsgruppe besonders betroffen war, nie wieder passiert. Dieses Gesetz, das Sie jetzt hier vorgelegt haben,
ist kein Gesetz, das hilft, zu verhindern, dass so etwas
wieder passiert.
({1})
Dieses Gesetz leidet unter ganz erheblichen Mängeln.
Sie schreiben nur das im Gesetz auf, was schon vorher
praktiziert worden ist und was bei der Verfolgung des
Nationalsozialistischen Untergrunds so wenig genützt
hat.
Ich will Ihnen zwei Beispiele nennen: Im Jahr 2006,
nach den Morden in Nürnberg und München,
({2})
ist vom Landeskriminalamt in Bayern ein Gutachten erstellt worden, bei dem festgestellt worden ist, dass die
Täter wahrscheinlich im Bereich der rechtsextremistischen Gewalttäter zu suchen sind. Die BAO seinerzeit,
also die Ermittlungsgruppe in Bayern, hat sich an das
Landesamt für Verfassungsschutz in Bayern gewandt
und dieses gebeten, alle Erkenntnisse über die rechte
Szene, die möglicherweise Gewaltbereiten, zu liefern.
Sie hat als allererste Antwort bekommen: Wir können
keine Informationen geben. Dagegen spricht der Quellenschutz, und dagegen spricht der Datenschutz. - Das
Landesamt hat nichts gegeben. Es sind dann mehrere
weitere Versuche unternommen worden, unter anderem
vom Vorsitzenden der Polizeibehörde, doch Informationen zu bekommen. Die Ermittlungsgruppe hat mehr als
ein halbes Jahr lang gewartet - mehr als ein halbes Jahr
lang! -, bis sie in dieser Mordsache Informationen bekommen hat, und sie hat dann lediglich allgemeine Daten über Rechtsextreme in Bayern bekommen, weder Informationen darüber, was denen vorgeworfen wurde,
noch Informationen darüber, wessen sie verdächtig waren, noch weitere Hinweise.
Wenn jetzt ein solcher Fall wieder passieren würde,
würde sich nach den neuen gesetzlichen Regelungen an
dieser Lage nichts ändern, weil § 23 des Bundesverfassungsschutzgesetzes, das die Übergabe von Informationen vom Verfassungsschutz an die Polizeibehörden
- nicht an die Landesämter für Verfassungsschutz, sondern an die Polizeibehörden - regelt, völlig unverändert
geblieben ist. Darin steht: Die Verfassungsschutzbehörden können Informationen geben; aber wenn angenommen wird, dass überwiegende Sicherheitsinteressen dagegenstehen, dann brauchen sie keine Informationen zu
geben. - Das heißt, selbst in solchen Fällen, in denen es
um Mord und Totschlag geht, sind sie nicht verpflichtet,
ihre Informationen, die bei der Aufklärung von Morden
helfen könnten, weiterzugeben. Ein solches Gesetz können Sie nicht verteidigen, Herr Binninger.
({3})
Sie waren selber in der Anhörung dabei, als Sachverständige gesagt haben: Diese Regelung des § 23 Bundesverfassungsschutzgesetz ist nicht nur völlig untauglich,
sondern verfassungswidrig. - Nachdem Sie Kontakt mit
der Kollegin Högl aufgenommen hatten, haben Sie angekündigt, dass man da etwas ändern wolle. Ich habe dann
in Ihren Änderungsantrag hineingeguckt und habe dazu
nichts gefunden.
({4})
- Nein, zu § 23 steht darin nichts.
({5})
Ich sage Ihnen: Mit Blick auf die vielen Fälle, in denen
der Verfassungsschutz versagt hat, wird durch die neuen
gesetzlichen Regelungen keine Abhilfe geschaffen.
Nun komme ich zu der V-Leute-Problematik. Es ist ja
hier mehrfach darauf hingewiesen worden, dass V-Leute
eine ganz besondere Rolle spielen. V-Leute im rechtsextremen Bereich bleiben Rechtsextreme!
({6})
Rassisten und Neonazis bleiben Rassisten und Neonazis.
Die Erfahrung zeigt - gerade auch die Erfahrung dieses
Untersuchungsausschusses -, dass sie vieles melden und
sich immer Neues einfallen lassen, weil sie ja danach bezahlt werden, wie viel sie melden, wie hoch das Meldeaufkommen ist. Aber was sie nie, in keinem einzigen
Fall, getan haben, das war, ihre Informationen über „Kameraden“ weiterzugeben, sodass die hätten erwischt
werden können. Bei einzelnen V-Leuten bezog sich das
sogar auf das NSU-Trio im Untergrund. Diese V-Leute
- das wissen Sie auch, Frau Högl; das haben wir herausgefunden - verfügten über Informationen. Sie haben zu
Beginn sogar dabei geholfen, dieses NSU-Trio in Sachsen unterzubringen. Sie waren bei der Wohnungsbeschaffung dabei. Das heißt, sie haben nicht nur ihre
Leute nicht verraten, sondern sie haben sogar die gefährlichen Leute im Untergrund unterstützt. Und daran wird
sich in Zukunft nichts ändern.
Anstatt zunächst eine Evaluierung durchzuführen, ob
der Einsatz von Verfassungsschutz-V-Leuten mehr Nutzen als Schaden erbracht hat, sagen Sie, dass die V-Leute
auf jeden Fall weiter benötigt werden. Ich sage Ihnen:
Wenn Sie eine solche Analyse gemacht hätten, hätten Sie
festgestellt, dass diese V-Leute mehr Schaden angerichtet haben und weniger der Aufdeckung der Straftaten des
NSU-Trios sowie der Strafverfolgung genutzt haben.
({7})
Jetzt komme ich zu den einzelnen Regelungen des
Gesetzentwurfs zu den V-Leuten. Dort findet sich tatsächlich die Regelung, dass sie ihren Lebensunterhalt
nicht allein durch den Lohn des Staates bestreiten dürfen.
({8})
Nun frage ich mal ganz zynisch, Herr Binninger: Wofür
sollen die denn das Geld ausgeben, wenn nicht für ihren
Lebensunterhalt? Sollen sie, was Tino Brandt immer
wieder bekannt hat, davon die Bewegung, wie die das
nennen, unterstützen? Sollen die Rechtsextremen davon
zum Beispiel den Aufbau des „Thüringer Heimatschutzes“ finanzieren, wie Tino Brandt es gemacht hat? Dazu
steht dort nichts drin. Was machen die mit den Hunderttausenden, die sie zum Teil bekommen haben?
({9})
Was ist Ihre Auffassung dazu? Sie dürfen den nicht aufbauen, aber sie dürfen den unterstützen. Wo ist da die
Grenze? Das ist eine völlig unzulängliche Regelung.
({10})
Das Gleiche gilt für die Regelung, die hier mehrfach
diskutiert worden ist, worüber wir auch schon in anderen
Sitzungen beraten haben: Wenn V-Leute beschäftigt
werden und sie während ihrer Beschäftigung erhebliche
Straftaten begehen, sollen sie grundsätzlich abgeschaltet
werden. Allerdings können der Präsident und der Vizepräsident Ausnahmen davon zulassen. Zunächst gab es
im Gesetzentwurf Ausnahmen ohne jede Grenze nach
oben. Jetzt haben Sie in den Gesetzentwurf geschrieben,
dass Straftaten gemäß § 212 und § 213 des Strafgesetzbuches davon ausgenommen sind. Aber Sie dürfen - das
habe ich ja schon vorhin gesagt - beispielsweise eine
Körperverletzung mit Todesfolge, einen schweren Raub,
eine schwere Erpressung, eine Entführung, Sexualdelikte begangen haben.
({11})
Tino Brandt, der zurzeit wegen anderer Sachen im Gefängnis sitzt, könnte also theoretisch weiterbeschäftigt
werden, wenn er noch beschäftigt würde.
({12})
- Auch dann, wenn eine allein mit lebenslanger Haft bedrohte Straftat erfolgt ist, darf eine Ausnahme gemacht
werden.
({13})
Nach oben ist also keine ausreichende Grenze gesetzt.
Das kann nicht funktionieren, und das kann auch nicht
rechtsstaatlich sein.
({14})
Nun komme ich zu dem Argument, dass jetzt der Datenaustausch unter den Verfassungsschutzbehörden geregelt ist. Der entscheidende Fehler - ich kann Ihnen
Hessen nennen, ich kann Ihnen Nordrhein-Westfalen
nennen - war doch, dass die Verfassungsschutzbehörden
keine Informationen an die Strafverfolgungsbehörden,
an die Polizei und an die Staatsanwaltschaft, weitergegeben haben,
({15})
dass sie nicht einmal die Befragung von Zeugen, etwa
aus dem hessischen Verfassungsschutz, zugelassen haben, dass sie nicht einmal die Befragung von V-Leuten
durch die Strafermittlungsbehörden zugelassen haben.
({16})
Nein, wir bräuchten eine eindeutige Regelung, nach
der immer dann, wenn schwerste Delikte aufzuklären
sind, das Strafverfahren Vorrang hat und allein maßgeblich ist und alle Informationen, die der Verfassungsschutz
hat, den Strafverfolgungsbehörden selbstverständlich zugeleitet werden. Eine solche Vorschrift müsste in § 23
des Bundesverfassungsschutzgesetzes eingebaut werden.
({17})
Wir lehnen dieses Gesetz ab, weil leider weder Sie
noch wir die Bevölkerung - schon gar nicht den besonders betroffenen Teil der Bevölkerung - damit beruhigen
können nach dem Motto „Jetzt sind wir auf einem guten
Weg“. Nein, das sind wir nicht.
Herr Kollege.
Wir brauchen völlig neue gedankliche Ansätze. Ich
fordere von Ihnen, das fortzusetzen, was wir im Untersuchungsausschuss praktiziert haben:
({0})
dass Sie sich mit uns zusammensetzen, Dinge durchdenken und mit uns diskutieren, Alternativen zu einer solchen Art von Verfassungsschutz entwickeln, wie wir sie
in unserem Entschließungsantrag angedeutet haben.
({1})
Stephan Mayer ist der nächste Redner für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen! Sehr geehrte Kollegen! Mit dem Gesetz zur Verbesserung der Zusammenarbeit im Bereich des Verfassungsschutzes setzen wir die wesentlichen Empfehlungen des
NSU-Untersuchungsausschusses eins zu eins um.
({0})
Ich möchte zu Beginn deutlich machen, dass wir die
im Rahmen der Aufdeckung der schrecklichen NSUMorde zutage getretenen Mängel in unserer Sicherheitsarchitektur sehr ernst nehmen und daraus die erforderlichen Konsequenzen ziehen. Das gilt sowohl für den Justiz- als auch für den Polizeibereich, aber eben auch für
den Bereich der Nachrichtendienste.
Stephan Mayer ({1})
Ich möchte mich, sehr verehrte Frau Kollegin Pau, in
aller Deutlichkeit gegen Ihre Pauschalverurteilung der
Nachrichtendienste verwahren.
({2})
Wenn Sie hier mit dem Begriff „Versager“ inflationär
umgehen und behaupten, dass die Nachrichtendienste
generell Versager wären, dann müssen Sie zur Kenntnis
nehmen: Es waren die Versager des Bundesnachrichtendienstes und des Militärischen Abschirmdienstes, die
mit dazu beigetragen haben, dass seit 2011 19 geplante
Anschläge auf Bundeswehrsoldaten in Afghanistan verhindert werden konnten.
({3})
Es waren die Versager des Verfassungsschutzes, die
2007 mit dazu beigetragen haben, dass die sogenannte
Sauerland-Gruppe rechtzeitig zur Strecke gebracht und
ihr Vorhaben aufgedeckt werden konnte. Es waren beispielsweise auch die Versager des Verfassungsschutzes,
die mit dazu beigetragen haben, dass das Terrorduo von
Oberursel, das einen ganz konkreten Anschlag auf ein
Radrennen in Frankfurt-Eschborn am 1. Mai dieses Jahres geplant hatte, rechtzeitig zur Strecke gebracht werden konnte. All dies waren die Versager des Verfassungsschutzes und der Nachrichtendienste.
Es sind Fehler passiert, keine Frage.
({4})
Es gab erhebliche Fehler der Nachrichtendienste.
({5})
Aber die einzigen auf unserer Welt, die keine Fehler machen, sind die Vertreter der Opposition. Die Kolleginnen
und Kollegen der Oppositionsfraktionen sind komplett
fehlerlos. Ich muss schon sagen - das möchte ich auch
sehr ernsthaft betonen -: Wenn wir nicht gut funktionierende, motivierte Mitarbeiter bei den Nachrichtendiensten hätten, dann hätte es in den letzten zehn Jahren mehrere Anschläge in Deutschland gegeben, die mit Opfern
verbunden gewesen wären. Dies gehört mit zur Wahrheit
dazu.
({6})
Es hat sich, auch was die Bekämpfung des Rechtsextremismus und des Rechtsterrorismus anbelangt, in
den letzten Jahren viel verändert und auch viel verbessert, sowohl in der innerbehördlichen Organisation, insbesondere im Bundesamt für Verfassungsschutz, aber
auch in der Zusammenarbeit der Behörden untereinander. Ich möchte exemplarisch das Gemeinsame Abwehrzentrum gegen Rechtsextremismus nennen. Dies ist
zweifelsohne ein unverzichtbares Kommunikations- und
Kooperationsinstrument, eine ganz wichtige Plattform
für den Informationsaustausch zwischen den verschiedenen Sicherheitsbehörden.
Wir haben darüber hinaus den Bereich der Justiz gestärkt, als wir vor einigen Monaten den Generalbundesanwalt legislativ deutlich aufgewertet haben. Wir werden
mit diesem Gesetz das Bundesamt für Verfassungsschutz
bezüglich seiner Zentralstellenfunktion qualitativ erheblich stärken. Das Bundesamt für Verfassungsschutz wird
in Zukunft eine stärkere koordinierende Rolle im Verfassungsschutzverbund einnehmen. Ich möchte kein Geheimnis daraus machen und in aller Offenheit sagen,
dass wir uns durchaus noch mehr hätten vorstellen können, was die koordinierende Funktion des Bundesamtes
für Verfassungsschutz angeht. Aber - dies ist schon erwähnt worden -, es gab einen langen, einen sehr intensiven Diskussionsprozess mit den Ländern. Der jetzt vorliegende Gesetzentwurf ist meines Erachtens ein sehr
ordentliches und sehr tragbares Ergebnis. Ich möchte
aber noch einmal darauf hinweisen, dass wir uns bezüglich der Stärkung des BfV noch mehr hätten vorstellen
können.
Wichtig ist aber, dass es mit diesem Gesetz in Zukunft
ermöglicht wird, dass das Bundesamt für Verfassungsschutz bei gewaltorientierten Bestrebungen oder gewaltbereiten Organisationen in den Ländern im Einzelfall
auch im Benehmen mit den Ländern tätig wird. Dies soll
nicht die Regel sein, um es klar zu sagen. Die Regel wird
sein, dass versucht wird, das Einvernehmen mit den Ländern herzustellen. Es wird auch in keiner Weise die
generelle Länderzuständigkeit verdrängt. Aber die Regelung, die jetzt geschaffen wird, sieht eine Auffangfunktion für den Fall vor, dass die Länder entweder nicht
tätig werden wollen oder nicht tätig werden können,
wenn es um die Observation von regionalbezogenen gewaltorientierten Bestrebungen geht. Es ist mir auch sehr
wichtig: Wir können uns keine blinden Flecken leisten,
wenn es um die Überwachung von gewaltorientierten
Bestrebungen geht.
({7})
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, wir
verbessern darüber hinaus den Datenaustausch zwischen
Bund und Ländern. Das sollte an sich eine Selbstverständlichkeit sein. Aber wie der NSU-Untersuchungsausschuss zutage gefördert hat, ist das leider nicht immer
so gewesen. Ich möchte auch betonen: Es wird aus meiner Sicht in der einen oder anderen Behörde notwendig
sein und auch bei dem einen oder anderen Mitarbeiter erforderlich sein, einen Mentalitätswechsel hervorzurufen.
Es wird in Zukunft nicht mehr möglich sein, dass Herrschaftswissen nur für die eigene Behörde behalten wird.
Man wird intensiver miteinander reden müssen, und man
wird sich auch intensiver miteinander austauschen müssen. Das ist unverzichtbar.
Wir regeln darüber hinaus NADIS neu, das Informationssystem des Verfassungsschutzverbundes. Auch hier
möchte ich in aller Deutlichkeit betonen: Ein Verfassungsschutz ohne ein vernünftiges und modernes InforStephan Mayer ({8})
mationssystem macht keinen Sinn. Wir berücksichtigen
bei dieser Neuregelung zum einen datenschutzrechtliche
Belange, dass zum Beispiel die Befugnis derer, die auf
die Daten zugreifen können, deutlich begrenzt wird, und
führen zum anderen eine umfangreiche Protokollierungspflicht ein. Es muss im Einzelfall also immer klar
protokolliert werden, welcher Mitarbeiter auf welche Information zugreift. Darüber hinaus wird die bislang
nicht nachvollziehbare Ausklammerung bestimmter
Phänomenbereiche aufgehoben.
Ein weiterer sehr wichtiger Punkt ist die Neuregelung
des Einsatzes von V-Leuten. Auch hier möchte ich zur
Sachverhaltsaufklärung, sehr geehrter Herr Ströbele,
beitragen. Es gibt zwei unterschiedliche Tatbestände.
Zum einen die Fragestellung: Wer kommt grundsätzlich
für die Arbeit als V-Mann in Betracht? Die andere Frage
ist: Was darf ein V-Mann im Einsatz?
Zum Ersten. Wir schaffen erstmals - das ist ein Paradigmenwechsel - eine gesetzliche Regelung für die Auswahl der V-Leute. Bisher war das nur auf der Ebene von
Verwaltungsvorschriften geregelt. Jetzt wird erstmals
gesetzlich festgelegt und auch mit Grenzen verbunden,
wer als V-Mann überhaupt in Betracht kommt. Es gibt
klare Ausschlusskriterien: Parlamentarier, Minderjährige, Personen, die sich in Aussteigerprogrammen befinden, und Personen, die auf Dauer durch die Vergütung,
die sie als V-Mann erhalten, ihren Lebensunterhalt bestreiten, kommen nicht in Betracht. Um dies klar dazu zu
sagen: Die Alternative wäre gewesen, dass wir auf den
Einsatz von V-Leuten komplett verzichten, wie dies beispielsweise die rot-rote Koalition in Thüringen möchte.
Ich möchte in aller Deutlichkeit sagen: Das wäre ein fatales Ergebnis. Wenn wir in bestimmte extremistische
Organisationen rein wollen, um Informationen zu erhalten, dann ist der Einsatz von V-Leuten unverzichtbar.
Wenn man es so macht, wie es Thüringen jetzt beabsichtigt, dann würde dies - um dies klar zu sagen - das Ende
des Verfassungsschutzverbundes bedeuten. Der Verfassungsschutzverbund kann nur funktionieren, wenn sich
sowohl der Bund als auch alle 16 Länder daran beteiligen, wenn Informationen von allen beigesteuert werden
und dann auch alle davon profitieren. Das Land Thüringen nimmt da eine isolierte Position ein und sieht eine
Regelung vor, die der Funktionsfähigkeit des Verfassungsschutzverbundes diametral entgegengesetzt ist.
({9})
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, darüber hinaus gibt es klare Regelungen, was den Ausschluss bestimmter Personen anbelangt, die ansonsten
möglicherweise als V-Männer in Betracht kämen. Wer
sich gewichtige Vorstrafen zu Schulden hat kommen lassen, also Verbrechen begangen hat, oder wer zu einer
Freiheitsstrafe ohne Bewährung verurteilt wurde, kommt
als V-Mann nicht in Betracht. Es gibt nur ganz wenige
Ausnahmemöglichkeiten: wenn der Einsatz für die Aufklärung von besonders gefährlichen Bestrebungen unerlässlich ist und - das ist auch sehr wichtig - wenn sichergestellt ist, dass durch den Einsatz des V-Manns wirklich
qualitativ hochwertige Informationen gewonnen werden.
({10})
Das ist aus meiner Sicht ein erheblicher Fortschritt, der
mit dem neuen Gesetz erreicht wird: Es werden qualitative Anforderungen an die Person des V-Manns gestellt.
Er sollte nicht nur möglichst unbescholten sein, sondern
muss auch durch seinen Einsatz wirklich werthaltige Informationen zutage fördern. Auch dies ist ein erheblicher Fortschritt, der mit diesem Gesetz einhergeht.
Es gibt darüber hinaus einen Totalausschluss von
Schwerstkriminellen - es ist schon erwähnt worden -:
Wenn sich jemand einen Mord, einen Totschlag oder
eine andere zwingend mit Freiheitsstrafe bedrohte Straftat zu Schulden hat kommen lassen, kommt er kategorisch nicht als V-Mann in Betracht.
Ich habe, sehr geehrter Herr Kollege Ströbele, in der
ersten Lesung dieses Gesetzes erwähnt, dass es mir sehr
wichtig ist und es mir enorm darauf ankommt, dass ein
Fall „Piatto“ nach der neuen Rechtslage nicht mehr möglich ist. Auch hier kann man ganz klar rückmelden: Wir
haben Wort gehalten.
({11})
Der Fall „Piatto“ wäre nach der neuen Rechtslage nicht
mehr möglich. Ich glaube, auch das ist ein erheblicher
Fortschritt, der in diesem Gesetz liegt.
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, ich
glaube aber auch, dass man dieses Gesetz nicht nur im
Lichte der schrecklichen Erkenntnisse aus dem NSUUntersuchungsausschuss sehen darf, sondern man es
auch progressiv im Lichte der aktuellen Bedrohungssituation sehen muss. Da möchte auch ich auf den Verfassungsschutzbericht Bezug nehmen, den unser Bundesinnenminister am vergangenen Dienstag vorgestellt
hat. Es wird doch keiner von uns behaupten wollen, dass
die Welt sicherer geworden ist. Die Welt droht an vielen
Ecken und Enden aus den Fugen zu geraten. Die Auswirkungen sind sehr schnell mittelbar oder unmittelbar
auch in Deutschland spürbar. Der Extremismus nimmt in
allen Bereichen zu, sowohl rechts als auch links als auch
im Bereich des Islamismus. Deswegen brauchen wir einen leistungsfähigen, einen qualitativ hochwertigen Verfassungsschutz. Dieser ist zur Bewahrung unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung und für eine
wehrhafte Demokratie unerlässlich.
({12})
Herr Kollege, lassen Sie eine Zusatzfrage des Kollegen von Notz zu?
Selbstverständlich, sehr gerne.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Vielen Dank, Herr
Mayer. Sie haben den dramatischen Anstieg der Zahl der
Straftaten im rechtsextremistischen Bereich eben beschrieben. Während die Möglichkeit zum Einsatz von V-Leuten
in den letzten Jahren voll bestand, ist diese Entwicklung
zu verzeichnen gewesen. Jetzt erklären Sie mir mal, wie
sich die Ihrer Meinung nach erfolgreiche V-Mann-Arbeit
der letzten Jahre, die ja ganz unreguliert erfolgen konnte,
da positiv ausgewirkt hat!
Herr Mayer, finden Sie es wirklich richtig, dass Menschen, die in Syrien gefoltert haben und hier nach
Deutschland kommen, oder Nazis, die Brandstiftungen
begangen haben, über Jahre und Jahre hinweg staatlich
dafür alimentiert werden können, irgendwelche Informationen durchzustecken, an den Staat weiterzugeben?
Kann das rechtsstaatlich sein?
({0})
Sehr geehrter Herr Kollege von Notz, ich antworte
sehr gerne auf die beiden Fragen, die Sie mir gestellt haben.
Zur ersten Frage. Natürlich ist mit Besorgnis festzustellen, dass die Zahl der Gewalttaten im Bereich des
Rechtsextremismus in Deutschland deutlich zugenommen hat. Aber es wäre natürlich perfide, jetzt so zu argumentieren, wie Sie es machen, und zu sagen: Na ja, ihr
hattet ja bisher schon die Möglichkeit, V-Leute zum Einsatz zu bringen,
({0})
und trotzdem gibt es diese Gewalttaten. - Ich könnte andersherum fragen: Was wäre der Fall, wenn es überhaupt
keine Möglichkeit des Einsatzes von V-Leuten im Bereich rechtsextremistischer Organisationen gäbe? Vielleicht wären dann die Gewalttaten noch weitaus größer.
Auch dies ist eine Hypothese, die man durchaus aufstellen kann.
({1})
Ich glaube, man kann es sich nicht so einfach machen
wie Sie, Herr Kollege von Notz, indem Sie sagen: Na ja,
es gibt hier eine deutliche Zunahme gewaltorientierter
Bestrebungen im Bereich des Rechtsextremismus, auch
mehr Gewalttaten, und dies zeigt ganz klar, dass der Einsatz von V-Leuten obsolet und untauglich ist.
({2})
Meines Erachtens - und das möchte ich deutlich unterstreichen - gibt es verschiedenste extremistische Bestrebungen sowohl im Bereich des Islamismus als auch
im Bereich des Rechtsextremismus. Da kommt man mit
herkömmlichen Aufklärungsinstrumenten nicht zurecht.
Im Einzelfall ist der Einsatz von V-Leuten - das sind, zugegebenermaßen, keine angenehmen Zeitgenossen - unverzichtbar.
({3})
Ich möchte noch einmal betonen: Mit diesem neuen
Gesetz werden die Qualität der Auswahl der V-Leute
und auch die Kontrolle ihrer Tätigkeit deutlich verbessert. Mit diesem neuen Gesetz gehen wir einen großen
Schritt nach vorne, besonders was den Einsatz von V-Leuten anbelangt.
({4})
Zum zweiten Teil Ihrer Frage, Herr Kollege von Notz.
Sie haben das Thema „Syrienrückkehrer“ angesprochen.
Sie haben gefragt: Was ist mit einem Dschihadisten oder
mit jemandem aus dem rechtsextremistischen Bereich,
der sich der Brandstiftung schuldig gemacht hat? Um es
noch einmal klar zu sagen: Wer eine schwere Straftat begangen hat, die mit einer Freiheitsstrafe verbunden war,
die nicht zur Bewährung ausgesetzt wurde - und das ist
bei Brandstiftungsdelikten üblicherweise der Fall -, der
kommt kategorisch nicht als V-Mann in Betracht.
({5})
Eine Ausnahme wird nur im Einzelfall gemacht, und
zwar dann, wenn er zum einen werthaltige Informationen liefern kann - hier muss der Behördenleiter persönlich zustimmen - und zum anderen - das ist die zweite
Voraussetzung -, wenn sein Einsatz zur Aufklärung extremistischer Bestrebungen unerlässlich ist.
({6})
Beide Voraussetzungen müssen kumulativ erfüllt sein,
damit Ihr erwähnter Brandstifter im Einzelfall, als absolute Ausnahme, als V-Mann überhaupt eingesetzt werden kann.
({7})
Ich muss wirklich sagen: Ihre Vorwürfe und Zweifel gehen völlig ins Leere.
Mit diesem Gesetz zur Stärkung unseres Verfassungsschutzes gehen wir einen erfreulichen Schritt nach
vorne. Ich darf Sie deshalb dringend um Zustimmung
bitten.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({8})
Für die SPD-Fraktion hat nun der Kollege Uli
Grötsch das Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor
ein paar Wochen habe ich an gleicher Stelle gesagt, dass
ich fest davon überzeugt bin, dass wir das Bundesamt für
Verfassungsschutz brauchen. Genauso deutlich habe ich
gesagt, dass eine Reform dringend notwendig ist. Auch
jetzt nach der öffentlichen Anhörung des Innenausschusses, nach der öffentlichen Debatte der letzten Wochen
und nach den Gesprächen mit zahlreichen Interessenvertretern hat sich an meiner Meinung nichts geändert.
({0})
Im Gegenteil: Die Bewertungen der meisten Sachverständigen haben uns gezeigt, dass das BfV nicht abgeschafft, sondern dass dessen Befugnisse und rechtliche
Grundlagen an die neuen Herausforderungen angepasst
werden müssen. Insbesondere die Ergebnisse aus dem
NSU-Untersuchungsausschuss waren ausschlaggebend
für diese Bewertung.
In einigen Punkten gab es natürlich auch Kritik am
vorliegenden Entwurf eines Gesetzes zur Verbesserung
der Zusammenarbeit im Bereich des Verfassungsschutzes. Ich glaube aber, dass wir diese Kritikpunkte gut in
unseren Änderungsantrag integriert haben. Herr Kollege
Ströbele, Sie haben es inzwischen sicher schon gefunden:
({1}) - Gegenruf des Abg. Burkhard Lischka ({2}): Der
will das nicht finden!)
Die von Ihnen angesprochene Kritik an § 23 des Gesetzentwurfs befindet sich auf Seite 4, zweiter Absatz des
Änderungsantrags;
({3})
nach unserer Lesart jedenfalls.
({4})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben in intensiven Gesprächen mit den Kollegen unseres Koalitionspartners den Gesetzentwurf an einigen, meiner Meinung
nach wesentlichen Punkten nachgebessert.
({5})
Mir war dabei ganz besonders wichtig, dass der Einsatz
und die Auswahl der vom BfV eingesetzten Vertrauensleute einer strikten Kontrolle unterliegen, und damit
meine ich nicht die Kontrolle durch die Fachaufsicht,
sondern ausdrücklich die parlamentarische Kontrolle.
Als Mitglied des Parlamentarischen Kontrollgremiums
begrüße ich es ausdrücklich, dass die Bundesregierung
in Zukunft eine gesetzliche Berichtspflicht gegenüber
dem Gremium hat. Ich meine, das war längst überfällig.
({6})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir als Abgeordnete nehmen unsere Aufgabe als parlamentarische Kontrolleure ernst. Wir erwarten eine entsprechende Kooperation vonseiten der Bundesregierung, wenn es darum
geht, deutsche - und ich füge ganz bewusst hinzu - und
europäische Interessen zu schützen.
Ich erhoffe mir und erwarte von der neuen Regelung
zur Berichtspflicht, dass die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter beim Bundesamt für Verfassungsschutz zukünftig
angehalten sind, bei der Auswahl der V-Leute noch genauer hinzuschauen. Außerdem gehe ich davon aus, dass
sie vor allem auf die Qualität der Informationen achten
werden und nicht eine Vielzahl von unverwertbaren Dokumenten, Bildern und Dateien sammeln, wie das in der
Vergangenheit der Fall war. Schließlich wissen sie nun,
dass sie Rechenschaft vor dem Parlament ablegen müssen. Sie werden daher im eigenen Interesse die neu aufgestellten Kriterien zum Einsatz von V-Leuten einhalten.
Ich glaube auch, dass der Einsatz von V-Leuten in Zukunft wohl zurückgehen wird,
({7})
ganz bestimmt nicht, weil dafür keine Notwendigkeit
mehr besteht, sondern weil das Ermittlungsinstrument
des Einsatzes von V-Personen nicht das Allheilmittel für
die Aufklärung terroristischer Strukturen in Deutschland
ist. Es ist nur ein Ermittlungsinstrument unter vielen,
wenn auch ein höchst sensibles, weil die Sicherheitsbehörden mit Menschen zusammenarbeiten müssen, die
unseren Staat im Grunde ablehnen. Das ist an sich schon
schrecklich genug, aber ihr Einsatz ist aus den schon beschriebenen Gründen und Umständen wichtig und erforderlich.
({8})
Was aus unserer Sicht aber auf keinen Fall stattfinden
darf, ist die Zusammenarbeit mit Verbrechern. Dieser
Gesetzentwurf regelt das. Dieser Gesetzentwurf sieht
vor, dass die Anwerbung von V-Personen, die sich des
Mordes oder des Totschlags strafbar gemacht haben,
künftig nicht mehr möglich ist. Hier haben wir eine ganz
klare Grenze gezogen.
({9})
Ich möchte an dieser Stelle die gute Zusammenarbeit
mit dem Bundesinnenministerium loben. Ich habe die
Gespräche als konstruktiv und zielführend empfunden.
Die Ankündigung von Bundesinnenminister de Maizière
in der ersten Lesung des Gesetzentwurfs, dass er für Änderungsvorschläge offen ist, hat, wie ich finde, dazu geführt, dass wir ein wirklich gutes Ergebnis gefunden haben.
Was den NSU-Untersuchungsausschuss in der letzten
Wahlperiode stark gemacht hat, das hat bei den Beratungen des heute zur Abstimmung stehenden Gesetzes auch
die Mehrheit des Parlaments stark gemacht: der gemeinsame Wille, das gemeinsame Arbeiten an der Umsetzung
der Handlungsempfehlungen des NSU-Untersuchungsausschusses und jetzt der gemeinsame Weg hin zu einem
Gesetz, das sich sehen lassen kann und dafür sorgen
wird, dass die Missstände, die in der Vergangenheit vorgeherrscht haben, in der Zukunft nicht mehr möglich
sein werden. Das ist unsere Aufgabe als Gesetzgeber,
und dieser Aufgabe sind wir mit diesem Gesetzentwurf
gerecht geworden.
({10})
Auch ich will, wie mein Vorredner, gegen Ende meiner Redezeit eine Lanze für das Bundesamt für Verfassungsschutz brechen: Es greift zu kurz, alle Verantwortung beim Bundesamt für Verfassungsschutz abzuladen
und es sozusagen zur Strafe gleich abzuschaffen. Liebe
Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, in Ihren
Anträgen fordern Sie genau das, meiner Meinung nach
völlig zu Unrecht. Das BfV ist eine zentrale Säule in der
Sicherheitsarchitektur der Bundesrepublik Deutschland.
Das Bundesamt für Verfassungsschutz beschützt die
Menschen in Deutschland vor den Gefahren einer Welt,
die sich auch hinsichtlich terroristischer Bedrohungen so
schnell und drastisch entwickelt, dass Außenstehenden
leicht schwindelig werden kann. Was es meiner Meinung
nach braucht, ist eine Stärkung des Bundesamtes für
Verfassungsschutz, eine Stärkung hinsichtlich der Personal- und der Sachausstattung. Dazu gehören natürlich
der Wille und die feste Überzeugung von uns Parlamentariern, bei den nach der Sommerpause anstehenden
Haushaltsberatungen dazu zu stehen, wenn es um die
Stärkung des Bundesamtes geht.
({11})
Wir sprechen nämlich nicht nur über den Bereich des
Rechtsterrorismus, sondern wir sprechen über alle Bereiche, die unseren Staat und damit die Menschen in
Deutschland bedrohen.
Vielen Dank.
({12})
Zum Schluss dieser Debatte erhält der Kollege
Clemens Binninger für die CDU/CSU-Fraktion das
Wort.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Die Sicherheit in unserem Land ist zurzeit sowohl von
innen wie von außen so bedroht wie noch nie. Eine
starke Zunahme von gewaltbereitem Rechtsextremismus, die uns mit großer Sorge erfüllen muss, die Bedrohung durch den IS, mehr als 3 000 sogenannte Foreign
Fighters aus Europa, die für den IS morden und irgendwann zurückkommen und für uns auch ein Problem darstellen, neue Formen von Angriffen wie Cyberattacken,
wie wir in diesem Hause selber leidvoll erfahren mussten - all das zeigt, wie schwierig es ist, die Sicherheit für
die Menschen in diesem Land zu gewährleisten, und wie
wichtig es ist, dass wir dafür Sicherheitsbehörden, auch
Nachrichtendienste, haben, die das tun können. Ich halte
es mit Blick auf die Anträge der Opposition an diesem
Punkt schlicht für unverantwortlich,
({0})
fast schon naiv, bei dieser Sicherheitslage zu sagen: Wir
schaffen die Nachrichtendienste ab. - Nicht mit uns.
({1})
Wenn wir heute im Zusammenhang mit dem NSU
über konkrete Veränderungen im Bereich des Verfassungsschutzes reden, muss man, um es für die Öffentlichkeit deutlich zu machen, etwas vorausschicken: Ja,
es gab schwere Fehler beim Verfassungsschutz - auf
diese sind viele Redner zu sprechen gekommen -, aber
Fehler gab es auch bei der Polizei in Bund und Ländern,
Fehler gab es auch bei der Justiz bis hin zum Generalbundesanwalt,
({2})
und Fehler gab es auch bei uns in der Politik, bei der parlamentarischen Kontrolle der Dienste. Es war also eine
Ansammlung von verschiedenen Fehlern. Wir alle sind
gefordert. Bei aller Kritik an den Nachrichtendiensten
dürfen wir nicht so tun, als ob es nur die träfe. Denn für
einiges, was hinterher schiefging, waren sie gar nicht zuständig. Wir alle sind gefordert, und wir alle hier sind
aufgerufen, einen Teil dazu beizutragen.
An dieser Stelle gestatten Sie mir, weil ja auch viel
über das Verhältnis von Bund und Ländern gesprochen
wird, etwas Kritik in Richtung der Länder. Bei einer Debatte von dieser Wichtigkeit und der gleichzeitig immer
wieder vorgetragenen Kritik der Länder, wir würden hier
im Rahmen des Föderalismus zu weit gehen, hätte ich
mir gewünscht, dass in der zweiten und dritten Lesung
außer dem Vertreter des Landes Bayern - herzlich willkommen - noch ein paar andere da wären; bis auf ihn ist
die ganze Bundesratsbank leer.
({3})
Beim Stichwort „Föderalismus“ muss man natürlich
sagen, dass die NSU-Verbrechensserie - das klang schon
in der Rede meiner geschätzten Kollegin Högl an - den
Föderalismus an seine Grenzen gebracht hat. In Deutschland sind für die Bekämpfung von Extremismus und Terrorismus 37 verschiedene Behörden bei Verfassungsschutz und Polizei zuständig. Dass es da sehr schnell zu
Reibungsverlusten, zu Informationsverlusten kommen
kann, liegt auf der Hand. Wenn man diese Fehler korrigiert, nimmt man, glaube ich, keinen Angriff auf den
Föderalismus vor. Ganz im Gegenteil: Wir stärken das
föderale System, indem wir seine Schwachstellen beseitigen.
({4})
Hierzu passt vielleicht ein interessanter Satz aus unseren Empfehlungen. An die Kollegen der Linken und der
Grünen gerichtet sage ich: Es war klar, irgendwann enden alle Gemeinsamkeiten; das ist so. Ich gestehe Ihnen
selbstverständlich Ihre Position zu, die hinsichtlich der
Dienste eine grundlegend andere ist. Da werden wir
auch nie zusammenkommen. Sie von den Linken wollen
sie abschaffen, wir wollen sie stärker machen. Sie von
den Grünen wollen eine andere Behörde aufbauen und
die Dienste in Teilen abschaffen. Da wird es keinen Konsens geben. Wir sollten auch nicht so tun, als ob.
({5})
- Da werden Sie mit Ihrer Lösung sicherlich auch nicht
zu einem besseren Ergebnis kommen.
({6})
- Ja, ja, für Skandale sind Sie immer zu haben, Herr Kollege von Notz. Das weiß ich. Aber Politik in diesem
Land besteht aus ein bisschen mehr, als immer nur
„Skandal“ zu schreien.
({7})
Ich will Ihnen nur einen Satz aus unseren Empfehlungen verkürzt wiedergeben - ich hoffe, ich zitiere
richtig -, Empfehlung Nummer 32 aus unserem Abschlussbericht NSU; diese betrifft den Bereich der Verfassungsschutzbehörden. Dort steht unsere gemeinsame
Empfehlung - beschlossen von allen Fraktionen in diesem Hause -, dass wir im Hinblick auf die Verfassungsschutzbehörden fordern, dass zukünftig alle notwendigen Informationen an einer zentralen Stelle gebündelt,
dort gründlich ausgewertet und die Ergebnisse allen Verfassungsschutzbehörden zur Verfügung gestellt werden
sollen.
({8})
Genau dafür sorgen wir heute mit diesem Gesetz. Ich
muss sagen: Jetzt so zu tun, als würden wir Empfehlungen nicht umsetzen, geht einigermaßen an der Realität
vorbei.
({9})
Ich darf für die Zuhörer, die dem Zwiegespräch zwischen Herrn von Notz und Herrn Lischka nicht folgen
konnten, kurz sagen: Herr von Notz, Sie haben gesagt,
ich hätte mir eine Nummer herausgepickt - das war die
zentrale Empfehlung unseres Ausschusses -,
({10})
und Kollege Lischka hat zu Recht darauf hingewiesen,
dass Sie wenigstens die Ergebnisse und unsere Anträge
lesen sollten; dann wäre manche Debatte seriöser.
({11})
Jetzt zu den konkreten Änderungen, die wir vornehmen. Wir stärken das BfV. Ich verstehe schon, dass sich
manche fragen: Ist es denn nicht ein Paradoxon, dass wir
die Stelle, an der auch Fehler passiert sind, jetzt stärken,
ihr mehr Personal zur Verfügung stellen und ihr mehr
Befugnisse geben? Aber es wäre ja ein Widerspruch in
sich, zu sagen: Auch wenn dort Fehler passiert sind, korrigieren wir sie nicht - nur um irgendetwas Politisches
zu erreichen - und machen die Situation hinterher viel
schlimmer. - Fehler zu korrigieren, heißt, diese auszumerzen und dort, wo notwendig, für neue Stärken zu sorgen. Anders geht es nicht.
({12})
Das, was Sie machen würden, wäre nur eine weitere
Schwächung des Verfassungsschutzes, und dabei machen wir nicht mit.
Es geht uns um mehrere Punkte: Das BfV wird als
Zentralstelle gestärkt, der Informationsfluss wird verbessert, und auch die Analysefähigkeit von NADIS wird
verbessert; das war unsere Forderung.
({13})
Jetzt muss man der Öffentlichkeit erklären: NADIS, das
Informationssystem der Nachrichtendienste, war in der
Vergangenheit nur eine Aktenfundstelle. Wenn also eine
Landesbehörde etwa Erkenntnisse über gewaltbereite
Neonazis hatte und etwas mehr wissen wollte, zum Beispiel, ob sie auch schon woanders bekannt sind, hat sie
aus NADIS in der Vergangenheit nur ein Aktenzeichen
bekommen. Dann hieß es: „Bitte dort anrufen und um
Informationen bitten“, und dann konnte es schon einmal
ein bisschen dauern. Jetzt stellen wir diese Informationen zur Verfügung; sie werden analysiert. Das ermöglicht allen Behörden, die in diesem Verbund mitarbeiten,
eine sehr viel bessere Einschätzung der Lage. Gerade angesichts der zunehmenden Gewaltbereitschaft und der
steigenden Zahl von Anschlägen, die uns allen Sorge
machen müssen, halte ich das für unverzichtbar. Wir
können doch nicht nur mit Tagebuchnummern untereinander handeln, sondern wir müssen auch Informationen austauschen.
({14})
Jetzt komme ich zu Ihrem Lieblingspunkt, Herr Kollege Ströbele - das ist gar nicht ironisch gemeint -,
({15})
der auch mich lange beschäftigt hat: zum Einsatz von
V-Leuten. Wir sollten nicht so tun, als ob wir nicht wüssten, dass V-Leute natürlich nicht Mitarbeiter einer Behörde sind, sondern Angehörige einer extremistischen
Szene - Salafisten, Linksextremisten oder Neonazis und das auch bleiben. Sie werden ja nicht zu geläuterten
Bürgern, nur weil sie uns Informationen liefern; das wis11300
sen wir alle. Deshalb ist für uns alle klar, dass dieses Instrument für den Rechtsstaat eine Gratwanderung ist.
({16})
Aber wir sagen genauso klar: Wir werden Situationen
erleben, in denen man keinen anderen Zugang zu kleinen, abgeschotteten Gruppen haben wird - im Bereich
des Salafismus sowieso, aber auch im Bereich des Islamismus und bei Neonazis -, wenn man nicht eine Quelle
im Umfeld platziert. Wollen wir dann ernsthaft sagen:
„Nein, lieber verzichten wir darauf, das letzte Mittel anzuwenden, und nehmen in Kauf, dass sich gewaltbereite
Phänomene etablieren können“?
({17})
Wir sagen: Nein, für diesen Fall können wir nicht darauf
verzichten; das ist der Punkt.
({18})
Ich selbst habe in allen NSU-Debatten an diesem
Rednerpult gestanden und im Zusammenhang mit der
Aufklärung immer wieder gesagt - daran lasse ich mich
auch messen -, dass im Hinblick darauf, wie V-Leute im
Bereich des Rechtsextremismus in der Vergangenheit
eingesetzt waren, Aufwand und Ertrag in keinem Verhältnis standen. Weil das in der Vergangenheit so war,
haben wir Änderungen vorgenommen.
({19})
- Alles andere hätte mich enttäuscht. Herr Kollege
Ströbele, ich würde Ihre Frage zulassen, wenn der Präsident Sie aufruft.
Das mache ich ganz besonders gerne, wenn es wechselseitig dieses erkennbare Interesse gibt. - Bitte schön,
Herr Kollege Ströbele.
Wenn Sie auch meine Redezeit anhalten würden,
wäre ich Ihnen noch mehr verbunden.
({0})
Das ist längst erfolgt. - Bitte schön.
Herr Kollege Binninger, Sie haben das als meinen
Lieblingspunkt angesprochen. Ich habe heute die ganze
Zeit, auch bei der Frage an den Minister, den anderen
Lieblingspunkt angesprochen, zu dem Sie sich bisher
nicht geäußert haben. Sie haben hier gesessen und versucht, mich zu verunsichern. Das ist Ihnen fast gelungen.
({0})
- Fast. - Das wäre angesichts der Kompliziertheit und
der, sagen wir mal, Schwierigkeit dieses Gesetzes, das
von allen Sachverständigen in der Anhörung kritisiert
wurde - sie haben gesagt: wie kann man so ein Gesetz
schreiben? aber lassen wir das dahingestellt sein -, ja
nicht verwunderlich: Man kann ja was übersehen. Aber ich habe nichts übersehen.
Sagen Sie doch vorne vom Pult aus klar etwas zu der
Frage der Übermittlung von Erkenntnissen des Verfassungsschutzes von Bund und Ländern an Strafverfolgungsbehörden. Das ist doch die Schlüsselfrage. Da haben Sie behauptet: Das steht hier drin. - Das steht für
den einen seltenen Ausnahmefall drin. Dabei geht es darum, dass ein V-Mann auffällt, der erhebliche Straftaten
begangen hat. Dann soll das auch an die Strafverfolgungsbehörden weitergegeben werden. Das steht in der
neuen Vorschrift.
Aber es geht doch darum: Der Verfassungsschutz
hatte - in diesem Fall in Nürnberg und München - umfassendes Wissen. Er hatte dicke Akten dazu, in denen
auch das NSU-Trio vorkam, nämlich die „Rennsteig“Akten, die Sie ja auch kennen. Der Verfassungsschutz
hatte die vorliegen. Davon hat er den Strafverfolgungsbehörden nichts mitgeteilt, als sie danach gefragt haben.
Es geht darum, dass solche Skandale in Zukunft vermieden werden. Jetzt sagen Sie mal, wo das geregelt ist.
({1})
Ich beantworte die Frage gerne. Die Empfindlichkeit
verstehe ich nicht ganz. Wer austeilt, muss sich auch,
glaube ich, einmal einen Zwischenruf gefallen lassen.
Ich wollte Sie aber nicht aus der Ruhe bringen.
Mein Eindruck ist nur - der hat sich durch Ihre Frage
bestätigt -: Sie verwechseln dauernd verschiedene Passagen aus einem sicher anspruchsvollen Gesetz. Das ist
der Punkt. Die bringen Sie durcheinander. Es geht einerseits um die Frage: Welche Straftaten darf ein V-Mann
überhaupt begehen? Zweitens: Welche V-Leute sind aufgrund ihrer kriminellen Vorgeschichte von vornherein
von der Anwerbung ausgeschlossen? Und drittens: In
welchen Situationen muss der Verfassungsschutz seine
Erkenntnisse an die Polizei mitteilen?
({0})
Das sind die drei Dinge, die man aber auseinanderhalten
muss. Das machen Sie aber nicht.
({1})
Sie vermischen sie dauernd und ziehen daraus die falschen Schlussfolgerungen. Das ist das Problem.
({2})
Ich werde jetzt versuchen, Ihnen alle drei Punkte im
Stenogrammstil noch einmal zu erklären, ohne dass ich
die Hoffnung habe, Erfolg zu haben.
({3})
Aber ich spreche auch für die Öffentlichkeit und für die
Kollegen.
Punkt eins. Ein V-Mann darf keine Straftaten begehen, mit denen er Individualinteressen verletzt. Punkt.
Das steht im Gesetz.
({4})
- Doch, er hat eine Mischfrage gestellt. Er wirft doch
dauernd alles durcheinander.
Punkt zwei. Wenn er dennoch Straftaten begeht, muss
der Einsatz abgeschaltet werden. Und nur in Bezug auf
die Frage, wann diese Abschaltung stattfindet, hat der
Behördenleiter im Ausnahmefall ein eigenes Recht. Es
wird aber in keiner Weise eine Straftat erlaubt. Und das
suggerieren Sie hier dauernd.
({5})
- Sie reden jetzt nicht von V-Leuten?
({6})
Von was dann?
({7})
- Es wird heute mit uns beiden schwierig, aber ich habe
es versucht. Ich glaube, das Bemühen war mir anzusehen.
({8})
Punkt drei - diesen einen Punkt darf ich noch erwähnen, dann sind wir damit ja auch durch; wir sehen uns
nachher wieder, dann können wir noch einmal darüber
reden -: Ja, die Übermittlung der Informationen des
bayerischen Verfassungsschutzes an die Polizei hat skandalös lange gedauert.
({9})
Das ist wahr. Aber wir haben doch schon festgestellt:
Die bayerischen Verfassungsschützer hätten schon nach
geltender Rechtslage übermitteln müssen. - Da gab es
gar nichts zu ändern. Sie haben sich nicht an die geltende
Rechtslage gehalten.
({10})
Deshalb brauchen wir § 23 Bundesverfassungsschutzgesetz auch nicht zu ändern. Auf das, was wir aber gemacht haben, hat Sie Frau Kollegin Högl - das war wirklich fast schon pädagogisch wertvoll - mehrfach
hingewiesen: Wir haben in unserer Begründung deutlich
gemacht, dass die Bestimmung, wann der Verfassungsschutz etwas nicht übermitteln darf, restriktiv - so steht
dieses Wort drin - zu handhaben ist.
({11})
Ich glaube, da sind wir auch auf einem guten und richtigen Weg. Unterstellen Sie uns bitte nicht dauernd Dinge,
die so wirklich nicht stimmen!
({12})
Jetzt hat aus irgendeinem Grund der Präsident die Uhr
doch wieder laufen lassen, und die Minute ist weg; aber
ich will einen Satz noch sagen: Bei aller Unterschiedlichkeit der Ansichten glaube ich, dass wir hier als Parlament durch die Aufarbeitung der NSU-Verbrechensserie
und das im Zusammenhang damit stehende Behördenversagen sowie durch unsere Empfehlungen viel erreicht
haben. Es gab in der Vergangenheit - und gibt es möglicherweise auch in Zukunft - keinen Untersuchungsausschuss, der so konkret parteiübergreifend Maßnahmen
vorgeschlagen hat, und es gab keinen Untersuchungsausschuss, dessen Empfehlungen auch so konkret - wie hier
in diesem Parlament gemeinsam mit der Regierung umgesetzt wurden. Darauf, glaube ich, kann man mit
Stolz zurückblicken. Es gab Grund, zu handeln. Wir sind
sicher noch nicht am Ende des Prozesses; aber wir haben
eine Menge erreicht im Sinne der Sicherheit der Menschen in unserem Land und für eine Stärkung unserer
Behörden, damit sie ihre Arbeit auch machen können.
Herzlichen Dank.
({13})
Ich schließe die Aussprache.
Um den auch nur angedeuteten Verdacht, dass ausgerechnet bei einem solch wichtigen Thema der Präsident
nickelig mit den Redezeiten umgehe, auszuräumen,
weise ich darauf hin, dass wir zu Beginn dieser Debatte
beschlossen haben, 77 Minuten zu debattieren. Jeder
Blick auf die Uhr macht deutlich, dass wir jetzt 95 Minuten debattiert haben. Das räumt den Verdacht aus, mit
den Redezeiten sei restriktiv umgegangen worden.
({0})
Wir kommen nun zur Abstimmung über den von der
Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Ver-
besserung der Zusammenarbeit im Bereich des Verfas-
sungsschutzes. Der Innenausschuss empfiehlt unter Buch-
stabe a seiner Beschlussempfehlung auf der Drucksache
18/5415, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf
den Drucksachen 18/4654 und 18/5051 in der Aus-
schussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen
wollen, um ihr Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? -
Wer enthält sich? - Damit ist der Gesetzentwurf in zwei-
ter Beratung mit den Stimmen der Koalition gegen die
Stimmen der Opposition angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. -
Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist der
Präsident Dr. Norbert Lammert
Gesetzentwurf mit den gleichen Mehrheiten angenom-
men.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie-
ßungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf
der Drucksache 18/5431. Wer stimmt für diesen Ent-
schließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer ent-
hält sich? - Damit ist der Entschließungsantrag mit den
Stimmen der Koalition bei Enthaltung der Fraktion Die
Linke abgelehnt.
Wir setzen die Abstimmungen zu der Beschlussempfeh-
lung des Innenausschusses auf der Drucksache 18/5415
fort und kommen nun zum Tagesordnungspunkt 32 b.
Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung emp-
fiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der
Fraktion Die Linke auf der Drucksache 18/4682 mit dem
Titel „Wirksame Alternativen zum nachrichtendienstlich
arbeitenden Verfassungsschutz schaffen“. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? -
Wer enthält sich? - Damit ist die Beschlussempfehlung
mit der Mehrheit der Koalition angenommen.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buch-
stabe c seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des
Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf der
Drucksache 18/4690 mit dem Titel „Für eine Zäsur und
einen Neustart in der deutschen Sicherheitsarchitektur“.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist diese
Beschlussempfehlung, wiederum mit der Koalitions-
mehrheit, angenommen.
Damit sind wir am Ende dieses Tagesordnungspunk-
tes.
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 31 a und 31 b
auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Markus
Kurth, Brigitte Pothmer, Beate MüllerGemmeke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Flexible und sichere Rentenübergänge ermöglichen
Drucksache 18/5212
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({1})
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Markus
Kurth, Britta Haßelmann, Kordula SchulzAsche, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Kommunales Ehrenamt stärken - Anrechnung von Aufwandsentschädigungen auf die
Rente neu ordnen
Drucksache 18/5213
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({2})
Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll auch
diese Aussprache 77 Minuten dauern. - Dazu höre ich
keinen Widerspruch. Also können wir so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Kollegen Markus Kurth für die Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen.
Herr Präsident! Sehr verehrte Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Was beschäftigt die
Menschen in diesem Land, wenn sie sich Gedanken über
ihre Alterssicherung machen? Zwei Fragen dürften sich
die meisten in jedem Fall stellen: Erstens diejenige nach
der Höhe der Altersversorgung und eng damit zusammenhängend zweitens, ob und wie lange sie zum Ende
ihres Berufslebens arbeiten werden, ob sie sich bis zum
Renteneintritt quälen oder ob sie sogar über das gesetzliche Renteneintrittsalter hinaus Spaß an ihrem Job haben
können.
Auf der Suche nach Antworten werden sie bei der jetzigen Regierung jedenfalls nicht fündig. Obwohl der
Anstieg des Renteneintrittsalters nun im fünften Jahr
läuft und obwohl das Durchschnittsalter der Erwerbsbevölkerung stetig steigt - diese Regierung handelt nicht.
({0})
Bei dem Thema, das wir heute auf die Tagesordnung
stellen, dem flexiblen Renteneintritt, haben wir es mit einem eklatanten Fall von Führungsversagen zu tun.
({1})
Unfähig, die Initiative zu ergreifen, versteckt sich sogar
die Bundeskanzlerin hinter einer Fraktionsarbeitsgruppe.
Geht es noch? Auf dem Deutschen Seniorentag in Frankfurt sagte sie gestern zum Thema:
Sie müssen noch ein bisschen warten, bis wir da zu
Potte kommen. Aber ich hoffe, dass es gelingt.
Ich nehme an, sie hatte nicht die lange Liste der unerledigten Aufgaben ihrer Arbeits- und Sozialministerin im
Kopf. Sonst dürfte ihre Hoffnung schnell schwinden.
Es geht ja nicht nur um die sogenannte Flexirente,
nein. Auch bei der Betriebsrente regeln Sie nichts. Die
Rechtsvereinfachung für die Jobcenter schieben Sie
schon seit bald zwei Jahren vor sich her. Die RiesterRente erfüllt ihren Sicherungszweck nicht, und Sie analysieren sie nicht einmal. Sie versprechen, tun aber
nichts. Die Regulierung der Leiharbeit und der Werkverträge, die Angleichung der Ost- und der Westrentenwerte
und ganz zu schweigen von der solidarischen Lebensleistungsrente: Stets vertrösten Sie Beschäftigte und Sozialversicherte, und ich bin mir sicher, dass Sie, wie Sie
das seit Monaten tun, auch nach dieser Rede wieder
schwören werden: Wir machen hier auf jeden Fall etwas.
Dabei sind die beiden Koalitionsfraktionen in einer
gegenseitigen Blockade gefangen. Wie zwei Boxer, die
sich in der ersten Runde gegenseitig ordentlich eins auf
die Nase gegeben haben, haben Sie sich jetzt aufs Halten
und Klammern verlegt und schaffen nichts mehr. Große
Koalition: Das ist entweder großer Mist, wie wir im letzten Jahr gesehen haben, oder eben, wie jetzt, großer
Stillstand.
({2})
Was ist in der Rentenpolitik die Ursache für den Stillstand? Ihr unseliges Rentenpaket. Sie haben keine Politik für alle Rentenversicherten, sondern Interessenpolitik
gemacht.
({3})
Insbesondere der Streit um die Rente mit 63 hat beide
- Union und SPD - in ihre Trutzburgen getrieben, und
von dort aus belauern Sie sich jetzt gegenseitig. Dabei
böte gerade das Thema des selbstbestimmten und sozialpolitisch flankierten flexiblen Rentenübergangs genügend Chancen, konstruktiv mit dem demografischen
Wandel umzugehen, Sozialpartner zusammenzuführen
und vor allen Dingen den Menschen die Angst vor der
Rente mit 67 zu nehmen und ihnen tragfähige Wege aufzuzeigen.
({4})
Stattdessen passiert nichts. Es scheint so, als ob
Andrea Nahles bei ihrem Blitzstart, dessen sie sich im
letzten Jahr ja so rühmte, ein bisschen zu viel aufs Gas
getreten und dann auch noch vergessen hat, rechtzeitig
zu schalten. Jetzt hängt sie da mit einem veritablen Getriebeschaden, und die Abgeordneten der Koalition rufen
in ihrer Verzweiflung die Chefmechaniker von der Fraktionsspitze zu Hilfe, sie mögen dort doch bitte mal was
tun und ihre Karre wieder flottmachen. Aber Herr
Kauder und Herr Oppermann haben Ihnen ja beschieden,
sie hätten gerade andere Sorgen. Ehrlich gesagt, an deren
Stelle hätte auch ich keine Lust, an dieser abwrackreifen
Koalitionsarbeitsgruppe noch länger herumzuwerkeln.
({5})
Wir, die Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen, zeigen
Ihnen heute mit unserem Antrag, wie es geht.
({6})
- Doch.
Herr Kollege, Sie sollten aber jetzt ganz langsam zum
Mitschreiben sprechen.
({0})
Ja. - Es ist immer schön, wenn man als Redner merkt,
dass man einen gewissen Unterhaltungswert hat. Aber
kommen wir wieder zur Sache.
({0})
Wir denken in beide Richtungen: Einerseits machen wir
Vorschläge, wie das Arbeiten jenseits der Altersgrenze
attraktiv gemacht werden kann. Andererseits machen
wir Angebote für diejenigen Beschäftigten,
({1})
die schon einige Jahre vor dem Renteneintrittsalter mit
ihren Kräften haushalten müssen, um den Renteneintritt
nicht als Arbeitslose, Minijobber oder Erwerbsgeminderte zu erleben.
Wir brauchen neue Wege, um Menschen früher als
bisher die Chance zu bieten, Arbeitszeit und damit
Belastung zu reduzieren. Bevor Sie das gleich falsch
interpretieren, sage ich: Ziel ist es ausdrücklich nicht,
irgendwelche neuen Frühverrentungsmöglichkeiten zu
schaffen, sondern Ziel ist es, unter dem Strich durch eine
rechtzeitige Belastungsreduzierung einen längeren Verbleib im Erwerbsleben zu ermöglichen. Das ist uns ganz
wichtig.
({2})
Da halten wir eine reformierte Teilrente für ein taugliches Instrument.
({3})
Wir glauben, dass die Kombination aus einer Teilrente
und einer Teilzeitbeschäftigung einen gleitenden Rentenübergang über die Jahre ermöglichen kann. Er sollte
vor dem 64. Lebensjahr möglich sein.
({4})
Auf der anderen Seite haben wir natürlich die Beschäftigten, die das Glück haben, fit zu sein, und über die Regelarbeitsgrenze hinaus arbeiten möchten und das auch
können. Diese Menschen - von ihnen habe ich schon einige Zuschriften bekommen - verstehen nicht, dass der
Arbeitgeber für sie Rentenversicherungsbeiträge entrichtet, diese sich aber in keiner Weise auf ihren Rentenanspruch auswirken.
Bei all dem, was ich der Presse über die Koalitionsarbeitsgruppe entnehmen konnte, habe ich nie verstanden,
dass die Sozialdemokraten eisern daran festhalten, dass
das so umstandslos nur der Rentenkasse zufließt, ohne
dass dem Ansprüche gegenüberstehen.
({5})
Wir wollen, dass sich die Rentenbeiträge, die der Arbeitgeber zahlt, auf die Ansprüche der Rentnerinnen und
Rentner nachher auswirken und sie davon etwas haben.
Das steht ihnen auch zu.
({6})
Meine Damen und Herren, mein Kollege Wolfgang
Strengmann-Kuhn wird gleich noch auf einige Details
eingehen können, die ich wegen der knappen Redezeit
nicht mehr unterbringen kann.
({7})
Wir werden dazu die Beratungen durchführen. Ziel ist
es, Zeitsouveränität selbstbestimmt zu ermöglichen und
das notwendige Maß an sozialer Absicherung denjenigen zur Verfügung zu stellen, die darauf angewiesen
sind. Diese Kombination aus Selbstbestimmung und
Zeitsouveränität ist jedenfalls nach meiner Beobachtung
etwas, was in diesem Haus nur die Fraktion der Grünen
hinbekommen hat.
Vielen Dank.
({8})
Peter Weiß ist der nächste Redner für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer! Natürlich macht es
Spaß, im Parlament eine Rede mit Unterhaltungswert zu
hören. Aber auch zum Inhalt hätte man von den Grünen
gerne etwas erfahren.
({0})
Sie haben einen schönen Satz an den Anfang Ihres
Antrags gestellt:
Menschen sollen grundsätzlich selbst entscheiden
können, wann und wie sie den Übergang vom Erwerbsleben in den Ruhestand gestalten möchten.
({1})
Vollkommen richtig. Das ist auch unser Ziel. Ich glaube,
das entspricht dem modernen Menschen. Wir wollen
mehr Flexibilität. Viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer können sich vorstellen, länger als nur bis zur Regelaltersgrenze zu arbeiten, andere wollen das nicht.
({2})
Wir wollen es jedem ermöglichen, dass er das, was er
möchte, für sich realisieren kann.
({3})
Herr Kurth, wenn Sie nun dieser Regierung und der
Großen Koalition in dieser Frage Führungsversagen vorhalten, dann muss ich sagen: Offensichtlich ist die demenzielle Erkrankung, sprich: die Altersverwirrung, bei
den Grünen weit vorangeschritten.
({4})
Warum? Am 1. Juli war es ein Jahr her, seit das Rentenpaket der Großen Koalition in Kraft getreten ist. Zu
diesem Rentenpaket gehört eine ganz entscheidende Gesetzesänderung, die wir miteinander durchgesetzt haben,
nämlich die Änderung des § 41 Satz 3 des Sozialgesetzbuches VI. Darin heißt es jetzt - das möchte ich jetzt
gerne vorlesen -:
Sieht eine Vereinbarung die Beendigung des Arbeitsverhältnisses mit dem Erreichen der Regelaltersgrenze vor, können die Arbeitsvertragsparteien
- also der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer durch Vereinbarung während des Arbeitsverhältnisses den Beendigungszeitpunkt, gegebenenfalls auch
mehrfach, hinausschieben.
({5})
Das heißt, wir haben eine rechtliche Grundlage dafür
geschaffen, dass Arbeitgeber und Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer, wenn sie dies wollen, das Arbeitsverhältnis deutlich über die Regelaltersgrenze hinaus fortsetzen können.
({6})
Das ist die Flexibilisierung, die wir geschaffen haben.
Insofern ist die Flexirente nicht etwa ein Fantasiegebilde, sie ist vielmehr seit einem Jahr gesetzlich in Kraft.
({7})
Ein weiterer Punkt: Auch die Deutsche Rentenversicherung hat reagiert. Bis vor kurzem hat jemand, der
kurz vor dem Renteneintritt stand, einen netten Brief von
der Rentenversicherung bekommen, in dem es sinngemäß hieß: Sie erreichen demnächst die Regelaltersgrenze. Wir empfehlen Ihnen, einen Rentenantrag zu
stellen. - Das haben die meisten so verstanden: Jetzt
muss ich aber schnell einen Antrag auf Rente stellen.
In dem neuen Schreiben, das seit dem 1. Januar dieses
Jahres an die künftigen Rentnerinnen und Rentner versandt wird, heißt es: Wir möchten Sie darauf hinweisen,
dass Sie einen Antrag bei Erreichen der Regelaltersgrenze stellen können. - Es heißt also nicht „müssen“,
sondern „können“. Es folgt eine Aufklärung darüber,
was es bedeutet, wenn man zum Beispiel seinen Rentenantrag nicht bei Erreichen der Regelaltersgrenze stellt,
Peter Weiß ({8})
sondern weiterarbeitet. Das ist bisher verschwiegen worden.
Für jedes Jahr, das ein Arbeitnehmer nach Erreichen
der Regelaltersgrenze länger arbeitet, steigert sich sein
Rentenanspruch um 6 Prozent. Das ist eine ordentliche
Zahl. Dies zeigt: Länger arbeiten lohnt sich auch durch
mehr Rente.
({9})
Was noch nicht ausreichend geregelt ist - darauf weist
der Antrag der Grünen in der Tat hin -, was aber nicht
durch den Gesetzgeber geregelt werden kann, ist die Tatsache, dass die Beendigung eines Arbeitsverhältnisses
nicht durch ein Gesetz geregelt ist, sondern durch den
Arbeitsvertrag. Entweder bezieht er sich auf einen Manteltarifvertrag, oder in dem Arbeitsvertrag ist ausdrücklich festgehalten, dass das Arbeitsverhältnis automatisch
ohne Kündigung mit dem Erreichen der Regelaltersgrenze endet.
Es wäre wünschenswert, wenn Arbeitgeber und Gewerkschaften in ihren Manteltarifverträgen oder unsere
Industrie- und Handelskammern und Handwerkskammern in ihren Musterarbeitsverträgen, die sie den Mitgliedsbetrieben an die Hand geben, die Regelungen, die
wir ins Sozialgesetzbuch VI aufgenommen haben, übernehmen würden, um klarzumachen: Jeder Arbeitnehmer
hat die Möglichkeit, vor seinem Ausscheiden aus dem
Erwerbsleben mit dem Arbeitgeber frei darüber zu verhandeln, ob er den Arbeitsvertrag über die Regelaltersgrenze hinaus verlängert. Das ist eine Aufgabe, die Gewerkschaften und Arbeitgeber in der Tat noch zu leisten
haben.
({10})
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, seit der Debatte
über das Rentenpaket der Großen Koalition und auch danach haben wir erlebt, dass vor allem die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen diesen Maßnahmenkatalog scharf kritisiert, die Nachhaltigkeit der Finanzierung unserer
gesetzlichen Rente infrage gestellt
({11})
und vor allen Dingen eine deutliche Polemik gegen die
sogenannte abschlagsfreie Rente mit 63 nach 45 Beitragsjahren geführt hat. Nun wundere ich mich sehr, dass
der Antrag der Grünen Folgendes vorsieht: Künftig soll
man die Rente ab 60 beantragen können.
({12})
Was ist das für ein rentenpolitischer Zickzackkurs? Gegen die Rente mit 63 wird polemisiert, und jetzt wird die
Rente ab 60 beantragt.
({13})
Lieber Kollege Weiß, darf der Kollege Kurth eine
Zwischenfrage stellen?
({0})
Bitte schön.
Herr Weiß, eines muss ich klarstellen. Ich habe fast
vermutet, dass Sie der Versuchung nicht widerstehen
können, unseren Antrag unvollständig wiederzugeben,
um den Eindruck zu erwecken, dass wir ein neues Frühverrentungsfenster öffnen. Ich habe vorhin ausdrücklich
gesagt, dass das nicht unser Ziel ist. Unser Vorschlag, es
zu ermöglichen, die Teilrente früher zu beziehen, wird
sich im Gegensatz zur Rente mit 63 und zur Mütterrente
nicht negativ auf die Rentenkasse auswirken, weil die
vollen Abschläge wirksam werden; das ist der entscheidende Punkt. Zusätzlich sehen wir für gesundheitlich
Beeinträchtigte die Möglichkeit vor - darauf wird Herr
Strengmann-Kuhn nachher noch näher eingehen -, diese
Abschläge auszugleichen. Ansonsten werden mit dem,
was wir vorschlagen, die Rentenkasse sowie die Beitragszahlerinnen und Beitragszahler nicht belastet. Sind
Sie bereit, das zur Kenntnis zu nehmen?
({0})
Herr Kollege Kurth, das heutige Recht sieht wie folgt
aus - um das allen Zuhörerinnen und Zuhörern zu erklären -: Ab dem Erreichen des 63. Lebensjahres kann ich
vorzeitig in Rente gehen. Ich kann aber auch, wenn ich
will, eine Teilrente beantragen, zum Beispiel zu 50 Prozent in Rente gehen und zu 50 Prozent weiterarbeiten.
Diese Grenze von 63 bleibt auch dann bestehen, wenn
wir die Regelaltersgrenze von 67 haben. Es gibt eine
vierjährige Übergangszeit, in der Flexibilität herrscht. In
der Tat: Auf diese Rente werden im Vergleich zu dem,
was sich erreichen lässt, wenn man erst mit 67 in Rente
geht, Abschläge erhoben.
({0})
Sie wollen diese Möglichkeit nun auf einen Zeitraum
von 60 bis 67 ausdehnen.
({1})
Peter Weiß ({2})
Entschuldigung, aber das bedeutet die Möglichkeit, früher in Rente zu gehen. Dabei haben Sie bei der Rente mit
63 gegen die Regelung polemisiert, die wir geschaffen
haben.
({3})
- Das ist doch für die Rentenkasse egal.
Das Zweite ist: Die Abschläge bedeuten zwar, dass
das für die Rentenkasse am Schluss pari aufgeht. Aber
richtig ist auch: Zuerst einmal muss die Rentenversicherung für mehrere Jahre diese vorzeitige Rente mit hohen
Summen vorfinanzieren. Diese Belastung der Rentenkasse erzeugen Sie.
Das Dritte, was Sie vorschlagen, ist, dass wir bestimmten Beschäftigtengruppen diese Abschläge durch
Steuergelder ausgleichen sollen.
({4})
Da frage ich mich: Was ist das für eine Gerechtigkeit gegenüber den Rentnerinnen und Rentnern? Der eine hat
Abschläge bei der Rente hinzunehmen, die ihm ein Leben lang bleiben, während dem anderen seine Abschläge
durch Steuermittel ausgeglichen werden. Herr Kollege
Kurth, was Sie hier vorschlagen, bedeutet, dass Sie für
eine neue Ungerechtigkeit im Rentensystem sorgen und
zwei Klassen von Rentnerinnen und Rentnern schaffen.
({5})
Wenn die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf die
Wichtigkeit der Nachhaltigkeit der Staatsfinanzen und
der Rentenfinanzierung hinweist und mahnt, darauf zu
achten, dass die Rentenversicherung generationenübergreifend sicher finanziert ist, dann kann sie keinen solchen Vorschlag wie den heutigen machen; denn das widerspricht jedem Nachhaltigkeitsgesichtspunkt.
({6})
Interessant ist: Als es um das Rentenpaket der Großen
Koalition vor einem Jahr ging, war es die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen, die mit Nachfragen ohne Ende
die exakte Finanzierung dargelegt haben wollte. Seither
stellt sie praktisch jede Woche eine Kleine Anfrage im
Deutschen Bundestag, in deren Mittelpunkt die Fragen
stehen: Wie steht es um das Finanzierungstableau? Welche Kosten sind entstanden? - Aber heute wird uns ein
Antrag vorgelegt, der keine einzige Kostenberechnung
enthält. Das ist nicht solide. Über Geld sprechen die
Grünen nicht. Geld gibt es offensichtlich wie Heu.
({7})
- Entschuldigung. Wenn ein solcher Antrag mit einer
ganzen Reihe rentenpolitischer Maßnahmen - Garantierente ab 60 und Ausgleich durch Steuermittel - vorgelegt wird, dann kann man verlangen, dass er auch ein solides Finanzierungstableau enthält. Aber das fehlt völlig.
Ein Antrag ohne Finanzierungsgrundlage ist wertlos.
({8})
- Zu diesem Zuruf „die Rentenkasse plündern“: Die
Plünderer der Rentenkasse sind die Grünen, wenn wir
den vorliegenden Antrag annehmen.
({9})
In der Tat ist es erfreulich, dass die längere Lebenserwartung der Menschen in unserem Land, die ja weiter
ansteigt, dazu führt, dass immer mehr Menschen bereit
und in der Lage sind, länger zu arbeiten. Das hat wiederum dazu geführt, dass sich die Beschäftigungssituation
älterer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in den
letzten Jahren deutlich verbessert hat. Es ist nicht nur der
Anteil der Beschäftigten zwischen 60 und 65 Jahren
stark gestiegen, sodass mittlerweile 35 Prozent von ihnen sozialversicherungspflichtig beschäftigt sind, sondern auch bei den über 65-Jährigen sind mittlerweile fast
9 Prozent in sozialversicherungspflichtiger Arbeit. Damit liegen wir Deutsche übrigens im europäischen Vergleich ganz vorne. Das ist ein erfreuliches Ergebnis.
Wir als Koalition wollen diesen Trend weiter beflügeln. Richtig ist: Ein Instrument ist die Teilrente, die
heute bereits ab 63 Jahren bezogen werden kann. Sie hat
allerdings ein Hindernis, nämlich eine sehr komplizierte
Regelung zu den Hinzuverdienstgrenzen. Wir sind uns
einig, dass diese Hinzuverdienstgrenzen reformiert werden müssen.
({10})
Das wäre ein wichtiger Beitrag, um den Gesamtkomplex
der Flexibilisierung beim Renteneintritt zu vervollständigen. Den ersten großen und entscheidenden Schritt haben wir mit der Reform, die wir vor einem Jahr beschlossen haben, gemacht; der zweite Schritt, die
Reform der Hinzuverdienstgrenzen, wird folgen.
Herr Kurth hat ja so grundsätzlich angefangen. Was
die Grünen heute vorlegen, ist kein rentenpolitisches
Konzept, sondern eine rentenpolitische Irrfahrt, zumindest ein rentenpolitischer Zickzackkurs, weil sie das,
was sie gestern verkündet haben, heute wieder infrage
stellen.
({11})
Im Vergleich dazu ist die Rentenpolitik der Großen Koalition von Solidität und Seriosität gekennzeichnet. In
diesem Sinne wollen wir weitermachen.
({12})
Vielen Dank.
({13})
Für die Fraktion Die Linke spricht jetzt der Kollege
Matthias W. Birkwald.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vorgestern hatte das Rentenpaket mit der sogenannten Mütterrente und der Rente ab 63 seinen ersten Geburtstag.
({0})
Seit einem Jahr tagt auch Ihre Arbeitsgruppe für einen
flexiblen Übergang in die Rente, die AG „Flexi-Rente“.
Und was ist seit einem Jahr? Still ruht der See. Mit anderen Worten: Die Große Koalition ist rentenpolitisch
handlungsunfähig.
({1})
Dabei gibt es gute Gründe, über flexible Altersübergänge nachzudenken. Den wichtigsten kann ich Ihnen
allen leider nicht ersparen. Die Rente erst ab 67 ist nach
wie vor für die übergroße Mehrheit der Beschäftigten
nicht zu schaffen. Darum fordert die Linke: Alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sollen spätestens ab
65 Jahren abschlagsfrei aus guter Arbeit in die Altersrente gehen können. Dafür müssen wir alles tun.
({2})
Wir müssen dringend dafür sorgen, dass die Krankenschwester und der Bauarbeiter in Rente gehen können,
ohne am Ende ihres Berufslebens auf Hartz IV angewiesen zu sein.
({3})
Die Krankenschwester muss im Durchschnitt vor ihrem
61. Geburtstag aus dem Beruf ausscheiden, und der Bauarbeiter kann durchschnittlich nur bis 57,5 Jahren
schwere Steine schleppen. Dann geht es nicht mehr. Vor
allem für diese Menschen sollte die Große Koalition
nach Lösungen suchen.
({4})
Ja, es stimmt: Die SPD setzt sich in der AG „FlexiRente“ dafür ein, dass besonders belastete Beschäftigte
vor dem 63. Geburtstag in die Rente gehen können sollen.
({5})
Okay, diese Zielrichtung stimmt. Aber, liebe Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten, seit einem Jahr lassen Sie sich von der Union ausbremsen, und das ist
schlecht.
({6})
- Doch, Herr Brauksiepe. - Die Union will, dass die
Rentnerinnen und Rentner arbeiten bis zum Umfallen,
weit über das Rentenalter hinaus. Ich sage: Diese Art
von flexiblem Übergang brauchen wir nicht.
({7})
Die SPD will in eine andere Richtung als die Union.
({8})
Selbst das Bundesarbeitsministerium beteiligt sich nicht
mehr an dieser Zeitverschwendung, wie das Kollege
Linnemann genannt hat. Kein Wunder. Ein Jahr lang
läuft Ihre AG „Flexi-Rente“ nun. Was haben Sie vorgelegt? Nichts. Niente. Nietzsche. Nada. Null. So ist es.
({9})
Ich mache Ihnen einen Vorschlag - das, was Herr
Kurth gesagt hat, trifft nämlich auf die Linke zu -: Wir
Linken haben bereits im November 2014 einen Antrag
mit dem schönen Titel „Statt Rente erst ab 67 - Altersgerechte Übergänge in die Rente für alle Versicherten erleichtern“ eingebracht. Schauen Sie da einmal hinein;
darin stehen gute Ideen, zum Beispiel: Weg mit den Abschlägen bei der Erwerbsminderungsrente!
({10})
Wer wegen Krankheit in Rente gehen muss, dem darf
doch die Rente nicht gekürzt werden.
({11})
Den Gesetzentwurf dazu hatten wir Linken übrigens
schon direkt nach der Bundestagswahl im Oktober 2013
eingebracht. Und: Die Hartz-IV-Betroffenen dürfen
nicht mehr gegen ihren Willen in die Rente gezwungen
werden.
({12})
Diesen Antrag hat die Linke bereits im Februar in den
Bundestag eingebracht.
({13})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, ich
freue mich, dass Sie uns Linke hier unterstützen und
diese beiden Punkte in Ihren Antrag aufgenommen haben. Ich danke Ihnen dafür ausdrücklich im Namen der
Erwerbsminderungsrentnerinnen und -rentner und der
63-jährigen Hartz-IV-Berechtigten.
({14})
Ihr Antrag enthält noch andere gute Vorschläge. Sie
wollen die Erhöhung der Regelaltersgrenze für Schwerbehinderte von 63 auf 65 Jahre zurücknehmen und das
Aussortieren von älteren Arbeitslosen abschaffen. Gut
so! Hier sind wir uns einig. Das war es dann aber auch.
In der FAZ vom 23. Juni 2015 war zu lesen - ich zitiere -:
Jeder entscheidet ab 60 Jahren selbst, wann er in
Rente geht. Wer früher in Rente geht, erhält eine
geringere, wer später geht, eine höhere Rente.
({15})
Das sagte Johannes Vogel, FDP-Bundesvorstandsmitglied.
({16})
Bündnis 90/Die Grünen schlagen jetzt in die gleiche
Kerbe. Die Grünen wollen - ich zitiere aus ihrem Antrag „eine längere Teilhabe am Erwerbsleben … ermöglichen“.
({17})
Im Handelsblatt vom 29. Juni heißt es - Zitat -:
Der Vorschlag der Grünen zielt darauf ab, Ältere so
lange wie möglich im Job zu halten. … Jeder dürfte
ab 60 gehen, aber mit vollen Abschlägen.
Die Rückkehr von Rentnern ins Erwerbsleben soll
gefördert werden, indem der Rentenbeitrag, den Arbeitgeber auch für sie zahlen, zu einer höheren
Rente führt.
Jetzt kommt es:
Damit kommen die Grünen ähnlichen Forderungen
des CDU-Wirtschaftsflügels entgegen.
({18})
FDP und CDU-Wirtschaftsflügel, liebe Grüne, das
zeigt: Hier seid ihr auf dem Holzweg.
({19})
Meine Damen und Herren, die Grünen sagen, man
soll schon vor 63 in Rente gehen können, aber dann eben
mit noch höheren Abschlägen. Das klingt ja schön und
einfach. Aber was bedeutet das? Der Jahrgang 1950 geht
ab 65 Jahren und vier Monaten in Rente. Ginge man
schon ab 61 in Rente, müsste man dann lebenslang
15,6 Prozent Abschläge von der monatlichen Rente von
sagen wir einmal 1 200 Euro in Kauf nehmen. Das
macht bei der aktuellen Lebenserwartung also rund
- halten Sie sich an den Stühlen fest - 46 000 Euro Verlust für den Mann und 54 250 Euro Verlust für die Frau.
Nein, liebe Liberale vom Wirtschaftsflügel der Union,
und nein, liebe Liberale von den Grünen, das ist keine
Grundlage für eine freie Entscheidung. Ihr Vorschlag ist
nur für Besserverdienende gut. Alle anderen können sich
die Abschläge nicht leisten. Dieser Vorschlag ist sozial
ungerecht, und darum lehnen wir ihn ab.
({20})
Sie, liebe Grüne, schlagen vor, dass „Rentenbeiträge
der Arbeitgeber künftig rentenwirksam und freiwillige
Rentenbeiträge der beschäftigten Rentnerinnen und
Rentner ermöglicht werden“. Ich sage Ihnen klipp und
klar: Davon halte ich gar nichts. Entweder jemand ist sozialversicherungspflichtig beschäftigt und will über
seine persönliche Regelaltersgrenze hinaus arbeiten. Wer
das kann und das will, darf das tun - heute schon; das hat
Herr Weiß berichtet. Dafür brauchen wir kein neues Gesetz. Wer länger arbeiten will, bekommt dafür 6 Prozent
lebenslange Zuschläge pro Jahr auf seine Rente und den
üblichen Entgeltpunktanteil. Das bedeutet bei einer regulären Altersrente von 1 000 Euro: Ein Jahr länger arbeiten gibt 1 090 Euro Rente. Anders gesagt: Es wird so
getan, als hätte er oder sie in diesem Jahr rund 9 000
Euro verdient. Ich finde, das ist attraktiv genug.
Herr Kollege Birkwald, darf ich Sie an die Redezeit
erinnern, welche schon ausreichend genutzt wurde?
Ja, Herr Präsident, ich komme zum Schluss. Lassen
Sie mich noch diesen Gedanken ausführen. - Oder aber
jemand ist bereits in Altersrente; dann darf er oder sie
unbegrenzt hinzuverdienen und zahlt weder Beiträge zur
Arbeitslosenversicherung noch Beiträge zur Rentenversicherung, hat also netto mehr in der Tasche. Ich finde,
auch das ist attraktiv genug.
({0})
Wir dürfen die Grenze zwischen Erwerbsarbeit und
Ruhestand nicht weiter auflösen. Wir Linken wollen
kein neues gesellschaftliches Leitbild des arbeitenden
Rentners oder der rentenberechtigten Arbeiterin. Wir
sind gegen Maloche bis zum Tode. Was wir brauchen, ist
eine armutsfeste und den Lebensstandard sichernde
Rente und ein deutlich höheres Rentenniveau.
Herzlichen Dank.
({1})
Für die SPD spricht jetzt die Kollegin Katja Mast.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Liebe Bürgerinnen und Bürger! Der Unterschied zwischen einer Koalitionsarbeitsgruppe und
Oppositionsanträgen ist, dass das, was wir in einer Koalitionsarbeitsgruppe besprechen und beschließen, Realität wird, während Oppositionsanträge nicht umgesetzt
werden. Das ist der wichtigste Unterschied an dieser
Stelle.
({0})
Deshalb können wir es uns auch nicht so leicht machen
wie die Grünen und nur Überschriften aufschreiben,
ohne zu überlegen, welche Finanztableaus dahinterstehen, sondern beschäftigen wir uns in unserer Arbeitsgruppe sehr ernsthaft damit, wie wir flexible Übergänge
in Rente ermöglichen.
({1})
Aber bevor ich dazu komme, ist mir wichtig, noch
einmal zu betonen: Menschen, die über das Renteneintrittsalter hinaus keine Rente beziehen und weiterarbeiten, bekommen pro Monat ein halbes Prozent mehr
Rente, das heißt am Ende des Jahres 6 Prozent. Weil sich
das Einkommen auch noch rentensteigernd auswirkt,
sind es am Ende des Jahres 8 bis 10 Prozent mehr Rente
pro Jahr der Weiterbeschäftigung.
({2})
Das ist sehr attraktiv. Allerdings wissen viele Bürgerinnen und Bürger das nicht. Deshalb kann es heute an diesem Rednerpult gar nicht oft genug gesagt werden.
({3})
Die Koalition hat zum Thema „Flexible Übergänge in
Rente“ auch schon gehandelt; der Kollege Weiß hat es
vorhin gesagt.
({4})
Wir haben § 41 SGB VI verändert und Unsicherheiten
bei der Weiterbeschäftigung Älterer beseitigt und flexibles Weiterarbeiten ermöglicht, indem das Renteneintrittsalter durch eine gemeinsame Vereinbarung von Arbeitnehmern und Arbeitgebern nach hinten verschoben
werden kann. Das ist ein ganz wichtiger Punkt, weil es
da sehr viel Rechtsunsicherheit gab. Im Übrigen steht in
keinem Gesetz, dass man mit 65, 66 oder 67 Jahren aufhören muss.
({5})
Das ist in der Regel in Arbeits- oder Tarifverträgen geregelt. Deshalb war es so wichtig, das an dieser Stelle noch
einmal klarzustellen.
({6})
Ich finde, dass das Institut der deutschen Wirtschaft
- zugegebenermaßen kein Institut, das in Arbeitnehmerfragen immer an vorderster Front ist - kürzlich in seiner
Studie „Fachkräfte 65 plus - Erwerbstätigkeit im Rentenalter“ sehr erhellende Erkenntnisse für unsere Debatte
in der Koalition publiziert hat, nämlich dass das Weiterarbeiten über das Renteneintrittsalter hinaus de facto nur
für zwei Gruppen infrage kommt. Die meisten derjenigen, die weiterarbeiten, nämlich über ein Viertel, sind
sehr hoch qualifizierte und sehr gut verdienende Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer.
({7})
Meist liegt es daran, dass sie eine individuelle Sinnhaftigkeit in ihrem Job sehen; in der Regel sind sie im Alter
von 55 oder 66 Jahren aber auch in einem relativ guten
Gesundheitszustand. Für diese Zielgruppe ist die Frage:
„Bekomme ich 1,5 Prozent, 2 Prozent oder 3 Prozent
mehr?“ am Ende des Tages in der Regel nicht von Relevanz, diese Menschen arbeiten aus ganz anderen Gründen weiter. Die andere Gruppe, eine viel kleinere, sind
diejenigen, die Renten deutlich unter 1 100 Euro bekommen, die de facto arbeiten müssen, weil sie sonst mit ihrer Rente nicht klarkommen. - Das sind die zwei großen
Gruppen. In der Mittelschicht gibt es kaum Beschäftigung über das Rentenalter hinaus.
({8})
Wir haben uns in der Koalition - ich will doch noch
auf den Einsetzungsbeschluss für unsere Koalitionsarbeitsgruppe eingehen, weil das bisher nicht gemacht
worden ist ({9})
drei Ziele vorgenommen: Wir haben flexibleres Arbeiten
bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze vereinbart. Wir
haben attraktives Weiterarbeiten nach Erreichen der Regelaltersgrenze vereinbart. Wir haben vereinbart, uns
über das Thema Zwangsverrentung auszutauschen. Alle drei Punkte sind Bestandteil des Auftrags unserer
Arbeitsgruppe und werden von uns sehr ernsthaft und
konsequent verfolgt.
({10})
Weil uns von der SPD die Frage „Wie schaffen wir es,
dass Menschen gesund und fit und mit guter Arbeit bis
zum Renteneintrittsalter arbeiten können?“ am meisten
beschäftigt und wir wissen, dass wir in der Arbeitswelt
viel verbessern müssen, will ich einige unserer Leitfragen für diese Arbeitsgruppe noch einmal reflektieren:
({11})
Sind alle Menschen, die in Erwerbsminderungsrente
sind, zu Recht darin, und müssen sie darin bleiben?
Hätte man nicht durch klügeres, früheres Agieren, durch
Prävention bei Gesundheit und Qualifizierung viel mehr
erreichen können?
({12})
Es gibt auch Menschen, die für die Erwerbsminderungsrente zu gesund sind, aber zu krank, um Vollzeit weiterzuarbeiten. Ich rede über Bauarbeiter, Pflegekräfte,
Krankenschwestern. Diese verlieren häufig im Alter von
55 Jahren ihren Job und bekommen dann 24 Monate
lang Arbeitslosengeld. Ist es klug, die Arbeitslosigkeit
zu finanzieren, oder finden wir nicht Modelle, die da ansetzen und die Arbeit von Menschen finanzieren, vielleicht auch Teilzeit?
({13})
Ist es richtig, mit der Teilrente so spät anzufangen? Muss
sie nicht früher beginnen, muss sie nicht flexibler sein?
Muss man nicht besser und klarer hinzuverdienen können? Ist es richtig, dass derjenige, der früher in Rente
geht, nur 450 Euro pro Monat hinzuverdienen kann?
Wäre es nicht besser, ein bisschen mehr hinzuverdienen
zu können? Last but not least: Reha und Prävention zu
stärken, ist ein gemeinsames Anliegen. Wir reden immer
von „Reha vor Rente“. Brauchen wir in der Politik nicht
einen neuen Grundsatz, der lautet: Prävention vor Reha?
({14})
Wir wissen, dass das, was wir aufschreiben, für alle
Gültigkeit entfaltet. Gut Ding will Weile haben. Wir
brauchen nicht nur Überschriften, wie im Antrag der
Grünen, ohne ein Finanzierungstableau. Sie werden unsere Ergebnisse noch in diesem Jahr kennenlernen.
Vielen Dank.
({15})
Für die CDU/CSU spricht jetzt der Kollege Matthäus
Strebl.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen
und Kollegen! Bis vor einigen Jahren endete die Berufstätigkeit für viele Menschen in Deutschland mit dem Erreichen des Renteneintrittsalters. Das hat sich geändert.
Hierzu möchte ich einige Zahlen nennen: Nach einer
Untersuchung des Instituts der deutschen Wirtschaft
Köln hat sich der Anteil der Erwerbstätigen zwischen
65 und 74 Jahren in den vergangenen Jahren mehr als
verdoppelt. Während im Jahr 2000 noch 3,7 Prozent der
Menschen in der genannten Altersgruppe erwerbstätig
waren, lag der Anteil 2013 bereits bei 8,7 Prozent, und
das bei weiterhin steigender Tendenz. Die Steigerung erscheint mir logisch und nachvollziehbar. Längere
Erwerbstätigkeit wird heute meist positiv bewertet, positiver als in früheren Jahren. Sie bedeutet für den Einzelnen die Beibehaltung eines jahrzehntelangen Tagesrhythmus, Austausch, soziale Kontakte mit Kollegen,
Anerkennung in der Gesellschaft. Eine niedrige Rente ist
für viele Ältere eben nicht der ausschlaggebende Grund,
im Rentenalter weiterzuarbeiten. Die Menschen arbeiten
länger, weil sie es wollen.
Wir dürfen nicht außer Acht lassen, dass nicht nur die
Gründe des Einzelnen für ein längeres Arbeiten sprechen. Auch für den derzeitigen Arbeitsmarkt und das
deutsche Rentensystem ist eine Verlängerung der Erwerbstätigkeit zu begrüßen. Den demografischen Wandel und den Renteneintritt von vielen älteren Arbeitnehmern spüren viele Betriebe in Deutschland bereits jetzt.
Viele Firmen blicken mit Sorge auf den drohenden Fachkräftemangel, wenn die älteren Mitarbeiter ihre Erwerbstätigkeit beenden. Immer mehr Arbeitgeber versuchen, mit flexiblen Arbeitszeiten und Prämien ihre
Fachkräfte im Unternehmen zu halten. Leider beenden
heute viele Beschäftigte ihre Erwerbstätigkeit, obwohl
sie noch weiterarbeiten wollen. Eines ist sicher, verehrte
Kolleginnen und Kollegen: Wir dürfen die erprobte Erfahrung und das Wissen von älteren Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmern nicht verschwenden.
Im Koalitionsvertrag haben wir vereinbart, dass wir
den rechtlichen Rahmen für flexiblere Übergänge vom
Erwerbsleben in den Ruhestand verbessern werden. Einen ersten Schritt in die richtige Richtung haben wir in
der Großen Koalition mit dem Gesetz über Leistungsverbesserungen in der gesetzlichen Rentenversicherung gemacht, das am 1. Juli 2014, also vor fast genau einem
Jahr, in Kraft getreten ist. Arbeitnehmer und Arbeitgeber
können sich demnach noch während des laufenden Arbeitsverhältnisses darauf verständigen, die Beendigung
des Arbeitsverhältnisses hinauszuschieben. Dies ist insbesondere dann sinnvoll, wenn noch kein Ersatz für den
ausscheidenden Arbeitnehmer gefunden wurde oder eine
Nachwuchskraft noch nicht vorhanden ist bzw. eingearbeitet werden muss.
Diese Änderung ist jedoch nicht ausreichend; denn es
geht um mehr. Im Kern müssen wir den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern mehr Flexibilität ermöglichen.
Die Arbeitsgruppe der Koalition befasst sich deshalb mit
Fragen des flexiblen Übergangs in die Rente. Dabei
stellt sie sich vor allem die Frage: Wie können wir vernünftige und einfache Anreize schaffen, um längeres Arbeiten attraktiver zu gestalten? In der Arbeitsgruppe
widmen sich die Kollegen Themen wie Hinzuverdienstgrenzen, Arbeitgeberbeiträge und Rehabudget.
Erfreulich ist, dass wir fraktionsübergreifend die
Überzeugung teilen, dass das Weiterarbeiten von Beschäftigten jenseits des Renteneintrittsalters nicht finanziell bestraft werden darf. Deshalb begrüße ich grundMatthäus Strebl
sätzlich die Überlegungen, die Hinzuverdienstgrenze für
Vollrenten vor dem Erreichen der Regelaltersgrenze zu
erhöhen. Welcher Betrag statt der derzeit 450 Euro sinnvoll ist, wird noch diskutiert. Es ist sicher eine gute Idee,
sich hier an der Gleitzone zu orientieren und die Grenze
bei 850 Euro, um eine Hausnummer zu nennen, festzulegen. Mit der Teilrente könnte übrigens auch ein einfacheres Anrechnungsmodell verbunden werden. Ganz abschaffen sollten wir die Hinzuverdienstgrenzen jedoch
nicht. Wir müssen hier genau abwägen, um eine Frühverrentungswelle zu vermeiden. Dabei sollten wir vor allem klare und einfache Lösungen finden, um den bürokratischen Aufwand zu reduzieren. Auch sollten wir
darüber diskutieren, ob sich die gezahlten Arbeitgeberbeiträge rentenerhöhend auswirken sollten. Mit diesen
Ideen können wir längeres Arbeiten attraktiver gestalten
und Anreize schaffen.
In Ihrem Antrag fordern Sie von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, die Beschäftigungssituation älterer
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer deutlich zu verbessern, und bringen auch eine Anti-Stress-Verordnung
ins Spiel. Natürlich obliegt es der Politik, den Sozialpartnern und den Betrieben, die Arbeitswelt altersgerecht
anzupassen und der Leistung entsprechende Arbeitsplätze zu schaffen. Grundsätzlich halte ich es für erstrebenswert, die Beschäftigungssituation für Beschäftigte
aller Altersklassen zu verbessern. Ob eine Anti-StressVerordnung tatsächlich hilft, ist zu bezweifeln.
({0})
Ich sehe da schon Schwierigkeiten, allgemeingültige und
rechtssichere Kriterien für unterschiedliche Beschäftigte
und unterschiedliche berufliche Tätigkeiten festzulegen.
Ihr Konzept der Garantierente mit einem Mindestniveau von 850 Euro für Versicherte mit 30 oder mehr Versicherungsjahren halte ich für schwer finanzierbar. Auch
lässt sich die Garantierente schwer mit dem Äquivalenzprinzip des deutschen Rentenversicherungssystems vereinbaren.
({1})
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, in
Ihrem zweiten Antrag widmen Sie sich dem kommunalen Ehrenamt und den Aufwandsentschädigungen. Damit möchte ich mich ganz kurz auseinandersetzen. Ohne
ehrenamtliches Handeln - darin sind wir uns einig würde in vielen Bereichen des sozialen und politischen
Lebens Stillstand herrschen. Menschen engagieren sich
in den verschiedensten Bereichen: in Sportvereinen,
Feuerwehren, Kirchen oder Parteien. Für die CDU/CSUFraktion hatte das Ehrenamt schon immer einen hohen
Stellenwert. Wir sprechen jedem Menschen hohe Anerkennung aus, der in seiner Freizeit Verantwortung für
das Gemeinwesen übernimmt. Die Übergangsregelung
für die kommunalen Ehrenbeamten haben wir bis 2017
verlängert. Ich halte Ihren Antrag zwar von der Idee her
für richtig; die Umsetzung würde aber zu einer Ungleichbehandlung führen.
({2})
Wenn jeder so viel hinzuverdienen kann, wie er früher
netto verdient hat, führt das zu einer gravierenden Ungleichbehandlung zwischen den kommunalen Ehrenbeamten. Den Antrag halte ich nicht für zielführend. Er
hilft auch nicht, das kommunale Ehrenamt zu stärken.
({3})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich begrüße
es, dass sich die Arbeitsgruppe der Großen Koalition
zum flexiblen Renteneintritt weiter beraten und austauschen wird. Wir sollten uns bei einem so wichtigen
Thema ausreichend Zeit nehmen und keinen Schnellschuss riskieren. Die Anträge der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen lehnen wir daher ab.
Herzlichen Dank.
({4})
Vielen Dank. - Nächste Rednerin ist für die Fraktion
Die Linke die Kollegin Kerstin Kassner.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste! Das Thema, das uns mit
der Drucksache 18/5213 auf den Tisch gelegt wurde,
geht uns alle an. In Zeiten knapper Kassen, namentlich
in den Kommunen, wird immer mehr auf das Ehrenamt
gesetzt. Vieles, was vorher von hauptamtlichen Mitarbeitern geregelt wurde, wird jetzt durch ehrenamtlich
Engagierte - Gott sei Dank haben wir sie - erledigt. Es
gibt aber Grenzen. Diese Grenzen gibt es immer im Zusammenspiel mit Menschen, mit Kindern. Es wird nicht
nur guter Wille gebraucht, sondern auch Wissen und
Können, insbesondere bei den kommunalen Mitstreitern,
den kommunalen Ehrenämtern. Dort wird eine riesengroße Verantwortung wahrgenommen. Es geht nicht nur
um eine sinnvolle Freizeitgestaltung.
({0})
Sie haben Verantwortung für Geld, aber in allererster
Hinsicht für Menschen; denn die kommunalen Mitstreiter entscheiden über Stellenpläne und sorgen dafür, dass
in den kommunalen Einrichtungen noch etwas läuft. Damit haben sie sehr viel zu tun.
Aus diesen Gründen ist es für mich unverständlich,
dass es seit zehn Jahren - nun noch einmal verlängert
um zwei Jahre - eine Übergangsfrist für Menschen gibt,
die vorgezogene Altersrente oder Erwerbsunfähigkeitsrente bekommen und sich in den Kommunen engagieren. Viele, die die vorgezogene Altersrente oder die Erwerbsunfähigkeitsrente in Anspruch nehmen, machen
das nicht freiwillig, sondern weil die Umstände sie dazu
gezwungen haben. Für sie ist es sehr wichtig, dass sie
eine Aufgabe haben, die sie ausfüllt und mit der sie etwas bewegen können. Viele sind einsam und bekommen
durch das Ehrenamt Kontakte mit anderen; andere haben
einfach Spaß am Ehrenamt, weil sie etwas befördern
können. Ich glaube, das ist ein Riesengewinn für unsere
Gesellschaft.
({1})
Sie sollten für ihre verantwortungsvolle Arbeit nicht mit
einem Grundbetrag bestraft werden, den sie hinzuverdienen können, sondern das bekommen, was ihnen zusteht,
wie jeder andere auch.
({2})
Ein weiterer Aspekt betrifft die Bezieher von Hilfen
im Rahmen von SGB XII oder SGB II. Sie dürfen nur
den Grundfreibetrag von 175 Euro behalten. Das ist einfach zu wenig.
({3})
In meiner Zeit als Landrätin und als Chefin vom Jobcenter standen Bürgerinnen und Bürger vor mir, die fragten,
warum das so ist. Ich musste ihnen dann die Gesetzeslage erklären, und sie waren natürlich unzufrieden. Da
ich heute hier stehe, kann ich nur an Sie appellieren,
liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU und
SPD: Bitte ändern Sie etwas an dieser Situation! Die
Menschen, die sich engagieren, haben das wirklich verdient.
({4})
Es ist einfach unwürdig, wenn wir ihnen nicht das geben,
was ihnen zusteht und was jeder andere bekommt. Ich
weiß auch: Viele davon könnten sich sehr viel weniger
engagieren, wenn ihnen diese Möglichkeit genommen
würde. Ich glaube, wir gewinnen als Gesellschaft insgesamt ungeheuer dadurch, dass die Menschen bereit sind,
sich zu engagieren. Das sollten wir entsprechend honorieren. So viel muss einfach drin sein.
Ich danke Ihnen.
({5})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Martin
Rosemann für die SPD.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte zu
Beginn meiner Rede der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen sehr herzlich danken, dass Sie mit Ihrem Überschriftenantrag uns die Gelegenheit zu der heutigen Debatte
geben und damit mir die Möglichkeit, die Position der
SPD-Bundestagsfraktion zum Thema „flexible Übergänge“ deutlich zu machen.
Was bedeuten für uns flexible Übergänge? Sie bedeuten nicht einen früheren Renteneintritt. Denn wenn wir
im Durchschnitt, liebe Kolleginnen und Kollegen, immer älter werden, dann müssen wir im Durchschnitt
auch länger arbeiten.
({0})
Hierzu müssen flexible Übergänge einen Beitrag leisten.
({1})
Es geht beim Thema „flexible Übergänge“ aber nicht
nur darum, das Arbeiten über die Regelaltersgrenze hinaus attraktiver zu machen; denn das Kernproblem - darauf haben einige Vorrednerinnen und Vorredner schon
hingewiesen - ist ja nicht, dass man es nicht dürfte oder
dass es dafür keine Anreize gäbe. Es gibt keinerlei rentenrechtliche Hürde für ein Weiterarbeiten über die Regelaltersgrenze hinaus. Es gibt sogar Zuschläge - es ist
gesagt worden -: 6 Prozent mehr Rente für jedes zusätzliche Jahr. Hinzu kommen die Entgeltpunkte, die man
dann zusätzlich erwirbt. Das bedeutet für einen Standardrentner: Wenn er ein Jahr länger arbeitet, hat er pro
Monat circa 110 Euro mehr in der Tasche. Das ist ja
nicht nichts, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({2})
Das Problem ist doch eher: Die meisten wissen es
nicht. Das geht bis in die Medienberichterstattung
hinein. Vor einigen Monaten konnte man bei Spiegel
Online lesen - ich zitiere -:
Wer will, soll länger arbeiten können - das fordert
der Chef der Bundesagentur für Arbeit, FrankJürgen Weise.
Ich muss zugeben, dass ich zuerst Herrn Weise im Verdacht hatte. Nähere Recherchen haben dann aber gezeigt: Der Fehler lag bei der Spiegel-Online-Redaktion.
({3})
Die Spiegel-Online-Redaktion befindet sich da durchaus
in guter Gesellschaft, beispielsweise mit SWR1 Arbeitsplatz oder - ganz aktuell in dieser Woche - mit
Beckmann.
({4})
Dabei - darauf ist von Frau Mast schon hingewiesen
worden - sind die letzten arbeitsrechtlichen Hürden mit
dem ersten Rentenpaket beseitigt worden.
({5})
Deshalb meine ich: In allererster Linie ist eine bessere
Informationspolitik notwendig, damit deutlich wird, was
möglich ist und was ein längeres Arbeiten über die Regelaltersgrenze hinaus bedeutet.
({6})
Das Kernproblem ist aber doch, dass trotz insgesamt
steigender Erwerbsbeteiligung Älterer viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer es eben nicht bis zur Regelaltersgrenze schaffen. Herr Birkwald hat es angesprochen: In der Baubranche liegt das durchschnittliche
Ausstiegsalter unter 58 Jahren, in den Gesundheitsdienstberufen bei knapp 61 Jahren, bei den Hilfsarbeitern über alle Branchen hinweg bei 59 Jahren. Dafür,
meine Damen und Herren, brauchen wir eben auch Lösungen. Deshalb ist es das Ziel der SPD, die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bei möglichst guter Gesundheit möglichst lange im Arbeitsleben zu halten.
({7})
Denn für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bedeutet es höhere Rentenanwartschaften, und den Arbeitgebern sichert es die dringend benötigten Fachkräfte.
({8})
Dafür, meine Damen und Herren, gibt es zwei zentrale Ansatzpunkte: erstens Übergänge zu flexibilisieren
und gleitende Ausstiege zu ermöglichen, zweitens Prävention und Rehabilitation zu stärken. Wir haben zu beidem Vorschläge gemacht. Wir wollen die Teilrente attraktiver machen.
({9})
Wir wollen die bisher zu starren drei Stufen flexibilisieren und die Hinzuverdienstgrenzen bei vorzeitigem Rentenzugang großzügiger ausgestalten.
({10})
Wir wollen aber auch, dass ein gleitender Übergang
bereits vor dem 63. Geburtstag möglich ist: bei gesundheitlichen Einschränkungen oder bei Modellen, die das
Arbeitsvolumen insgesamt erhöhen. So hat zum Beispiel
die IG BCE ein Modell vorgeschlagen, dass man von
60 Jahren bis zur Regelaltersgrenze 60 Prozent arbeitet.
Das ist mehr, als wenn man, wie bisher häufig, von
60 bis 63 Jahren voll arbeitet und danach gar nicht mehr.
Was wir nicht wollen, liebe Kolleginnen und Kollegen
von den Grünen, das ist die volle Altersrente bereits ab
60 Jahren, ob mit Abschlägen, wie Sie es fordern, oder
ohne Abschläge, wie das die Linke fordert.
({11})
Wir haben Vorschläge zur Stärkung von Prävention
und Reha gemacht. Wir müssen dabei insbesondere diejenigen erreichen, die besonders gefährdet sind, nicht bis
zur Regelaltersgrenze arbeiten zu können. Wir müssen
hier rechtzeitig Angebote machen - nicht erst, wenn das
Kind schon in den Brunnen gefallen ist -, zum Beispiel
durch aufsuchende Reha. Im Einzelfall kann mit 45,
46 oder 48 Jahren eine berufliche Umorientierung notwendig sein.
Genauso wichtig finde ich es, dass wir endlich Teilzeitarbeitsverhältnisse für jene Menschen schaffen, die
häufig nur teilerwerbsgemindert sind, aber trotzdem bisher die volle Erwerbsminderungsrente bekommen, weil
es auf dem Arbeitsmarkt keine entsprechenden Teilarbeitsverhältnisse gibt bzw. weil das Zusammenspiel
von Rentenversicherung und Bundesagentur für Arbeit
an dieser Stelle noch nicht gut genug ist. Daran müssen
wir arbeiten.
({12})
Sie sehen also: Bei der Diskussion um flexible Übergänge geht es um weit mehr als um ein paar Verbesserungen bei der Teilrente. Es geht auch um weit mehr als
um das Arbeiten oberhalb der Regelaltersgrenze. „Flexible Übergänge“ ist eines der großen Themen an der
Schnittstelle von Arbeitsmarkt- und Alterssicherungspolitik. Ein so großes Thema verlangt mehr als Überschriften. Deshalb nehmen wir uns die notwendige Zeit,
um Lösungen gemeinsam mit unserem Koalitionspartner
zu finden.
({13})
Der Kollege Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ist der nächste Redner.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sie
hatten relativ lange Zeit, sich um das Thema „flexible
Rentenübergänge“ zu kümmern. In Bezug auf die Problembeschreibung sind wir uns einig, aber wenn es um
eine Lösung geht, dann sind Sie sehr blockiert. Diese
Debatte macht sehr deutlich, dass die Grünen an dieser
Stelle die Partei der Freiheit sind.
({0})
Deswegen habe ich auch überhaupt kein Problem, wenn
der Kollege Matthias Birkwald uns als liberal bezeichnet. Wir sind aber auch die Partei für soziale Gerechtigkeit. Deswegen unterbreiten wir mit unserem Antrag einen Vorschlag, in dem wir Flexibilität und soziale
Sicherung kombinieren. Daran sollten Sie sich in Ihrer
Arbeitsgruppe orientieren, dann kommen Sie vielleicht
auch voran, und das sowohl bei den Möglichkeiten nach
oben als auch nach unten.
({1})
Die CDU/CSU betont, dass es mehr Flexibilität nach
oben gibt, die SPD betont, dass es mehr Flexibilität nach
unten gibt.
({2})
Wir sagen: Wir brauchen Flexibilität in beide Richtungen, damit die Menschen selbstbestimmt entscheiden
können, ob sie früher oder später in Rente gehen.
({3})
Zum Thema „länger arbeiten“. Hier ist es wichtig
- mein Kollege Markus Kurth hat das schon gesagt, aber
Sie sind nicht darauf eingegangen -, dass die Beiträge,
die die Arbeitgeber in die Rentenkasse einzahlen, auch
zu höheren Rentenansprüchen führen.
({4})
Das würde die soziale Sicherheit erhöhen, und das
würde auch den Anreiz, länger zu arbeiten, erhöhen.
Menschen, die länger arbeiten, würden belohnt werden.
Das ist ein wichtiger Punkt, um Flexibilität nach oben zu
ermöglichen.
({5})
- Es gab eben den Zwischenruf: „Dann gibt es
Lohndumping!“ Im Gegenteil: Zu Lohndumping kommt
es dann, wenn, wie der Wirtschaftsflügel der CDU/CSU
es vorgeschlagen hat, keine Beiträge mehr gezahlt werden.
({6})
Deswegen sagen wir: Die Beiträge sollen weiter gezahlt
werden, und es soll die Möglichkeit geben, dass die Arbeitnehmer freiwillige Beiträge zahlen, die dann rentensteigernd wirken. So wird ein Schuh daraus.
Ich gebe dem Kollegen Rosemann durchaus recht,
wenn er sagt, dass die Möglichkeit, früher auszusteigen,
tatsächlich die sozial relevantere ist. In vielen Punkten
kann ich Ihnen durchaus zustimmen. Ich glaube, wenn
wir in einer Koalitionsarbeitsgruppe zusammenarbeiten
würden, würden wir sehr viel schneller zu einem Ergebnis kommen, als das bei der jetzigen Koalition der Fall
ist.
({7})
Ich will verdeutlichen, was wir vorschlagen. Es ist
wichtig, Freiheit und soziale Sicherung miteinander zu
kombinieren. In der Tat hatte die FDP ähnliche Vorschläge wie wir. Diese Vorschläge orientieren sich an
dem skandinavischen Modell. Wir haben nichts dagegen, wenn auch die FDP nach Skandinavien schaut, wo
man mit der Kombination aus Freiheit und sozialer Sicherung gerade beim Thema Rente gute Erfahrungen gemacht hat.
({8})
Bezogen auf die Teilrente heißt das: Wir wollen es
Menschen ermöglichen, ab 60 teilweise Rente in Anspruch zu nehmen, und zwar damit sie die Möglichkeit
haben, länger zu arbeiten.
({9})
Wir wollen eine Reduzierung der Arbeitszeit plus soziale Sicherung. Die empirischen Studien zeigen, dass
die Menschen in Skandinavien länger arbeiten, obwohl
es dort die Möglichkeit gibt, ab 60 Teilrente zu bekommen.
Bezüglich der Menschen, die besondere gesundheitliche Probleme haben, muss man tatsächlich über die Abschläge nachdenken; aber das ist eine eng begrenzte
Gruppe. Wir schlagen vor, dass die Erwerbsgeminderten,
also diejenigen, die gesundheitlich beeinträchtigt sind,
ohne Abschläge in Rente gehen können. Dann gibt es
noch die Gruppe derjenigen, die nicht erwerbsgemindert
sind, aber auch nicht voll erwerbsfähig sind. Für diese
Gruppe brauchen wir eine Lösung, um die Abschläge
auszugleichen, damit auch sie sich eine Teilrente leisten
können.
({10})
Auf die weiteren Punkte kann ich jetzt nicht mehr eingehen. Wir schlagen vor, Flexibilität, Freiheit und soziale Sicherheit miteinander zu verbinden. Die Skandinavier haben damit gute Erfahrungen gemacht. Dort ist
das Renteneintrittsalter gestiegen, ist die Erwerbstätigkeit im Alter gestiegen. Dort gibt es sowohl die Möglichkeit, länger zu arbeiten, als auch die Möglichkeit,
früher in Rente zu gehen.
Wenn Sie Freiheit und soziale Sicherung haben wollen, dann orientieren Sie sich an unserem Antrag. Wenn
Sie ihm schon nicht zustimmen, dann nehmen Sie ihn
wenigstens mit in Ihre Koalitionsarbeitsgruppe.
Vielen Dank.
({11})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Carsten
Linnemann für die CDU/CSU.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Lieber Martin Rosemann, ich reihe mich gerne ein:
Auch ich bedanke mich dafür, dass Sie dieses Thema in
die Kernzeit und nicht in die Randzeit unserer Plenartage
geschoben haben. Das Thema „Arbeiten im Alter“ ist
wichtig. Ich freue mich auf die Diskussionen im Ausschuss. Bisher kam aber, glaube ich, der Umstand, warum wir über dieses Thema reden, ein bisschen zu kurz.
Jeder geht dieses Thema auf seine eigene Art und
Weise an. Für mich sind drei Zahlen interessant:
Erstens. Alle Institutionen Deutschlands sagen, dass
das Arbeitskräftepotenzial in den nächsten 10, 20 Jahren
zurückgehen wird. Manche sprechen von 6 Millionen,
andere von 8 Millionen; aber alle sind sich einig, dass
das Arbeitskräftepotenzial signifikant zurückgehen wird.
Zweitens. Die Babyboomer-Generation geht in diesen
Jahren in Rente. Man kann sagen, dass in den nächsten
10 Jahren durchschnittlich 300 000 Menschen mehr den
Arbeitsmarkt verlassen als hinzukommen.
Drittens. Die Rentenbezugsdauer ist von 10 auf
20 Jahre gestiegen. 1960 betrug sie knapp 10 Jahre. Damals hat man nach dem Renteneintritt im Durchschnitt
noch knapp 10 Jahre gelebt, heute sind es fast 20 Jahre.
Man muss zudem konstatieren, dass die Menschen nicht
nur länger leben, sondern auch im Alter länger fit bleiben.
Deshalb sprechen wir über dieses Thema. Deshalb ist
das Thema Demografie für mich das zentrale Thema in
diesem zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts, vielleicht neben dem Thema Digitalisierung. Ich glaube, das
ist die große Linie, die wir im Auge behalten müssen.
Ziel muss es sein - ich glaube, das wollen wir alle -,
dass die Menschen nicht nur länger arbeiten können,
sondern auch länger arbeiten wollen. Ich glaube, das ist
der Mentalitätswechsel, den wir brauchen, und ich
glaube, da ziehen wir alle an einem Strang. Das ist unser
Ziel.
({0})
Bundespräsident Gauck hat kürzlich in einer Rede zur
Flexirente bzw. zum längeren Arbeiten zum Ausdruck
gebracht, dass wir die Möglichkeit dazu schaffen müssen. Interessant ist, dass die Menschen in Deutschland
praktisch mit einer Vollbremsung in die Rente gehen.
Die Erwerbsbeteiligung Älterer steigt. Sie arbeiten bis
65, und dann kommt das Fallbeil. Einige arbeiten dann
noch in 450-Euro-Jobs. Auch einige Selbstständige wollen oder müssen länger arbeiten. Interessant ist, dass in
anderen Ländern, zum Beispiel in Japan, die Menschen
freiwillig gerne länger arbeiten. In Deutschland hingegen gibt es ein anderes Klima. Hier sagt man: Die Menschen arbeiten nur deshalb länger, weil sie Geld benötigen. Das kommt ja auch, Herr Birkwald, häufig von
Ihnen.
({1})
- Ja, das mache ich. - Dafür schauen Sie sich die
Umfrage der Hans-Böckler-Stiftung an, bei der 64- und
65-Jährige gefragt wurden, warum sie gern sozialversicherungspflichtig weiterarbeiten. Das Ergebnis ist ganz
interessant. An Stelle eins steht: Spaß an der Arbeit. Das
sagten fast 75 Prozent. Drei Viertel derjenigen, die im
Rentenalter länger arbeiten, machen das nicht wegen des
Geldes, sondern aus Spaß an der Arbeit. An zweiter
Stelle steht der Wunsch nach einer Aufgabe und an dritter Stelle der Kontakt zum Menschen. Das sind die Top
drei der Gründe, warum man länger arbeitet. Erst danach
kommen die finanziellen Gründe. Ich glaube, das sollten
wir mehr beachten. Denn manchmal hat man den Eindruck, dass Arbeit gar kein Wert an sich ist, sondern dass
man das nur wegen des Geldes machen muss. Viele arbeiten auch deshalb, um weiter Kontakte und Teilhabe
im Leben zu haben.
({2})
Herr Kurth, wir können uns gerne im Ausschuss darüber unterhalten. Ich habe jetzt zum Teil auch andere
Informationen aus Schweden bekommen. Es gibt eine Expertenkommission, die gesagt hat, dass die Rente mit 60,
also auch Ihr Vorschlag, mit Abschlägen zwar mathematisch korrekt ist, aber in Schweden - dort sind es
61 Jahre - dazu führt, dass die Lebensarbeitszeit am
Ende des Tages in Summe nicht steigt. Deswegen überlegen die, jetzt umzuschwenken. Darüber können wir
gerne im Ausschuss debattieren. Deswegen unterstütze
ich auch den Kollegen Weiß, der gesagt hat: Das ist nicht
das Ziel.
Aber es stimmt, Frau Mast, dass der zentrale Schritt
der Flexirente geschafft ist, nämlich dass wir befristet
weiterarbeiten können. Wenn wir uns die aktuellen Zahlen der Bundesagentur für Arbeit ansehen, werden wir
feststellen: Seitdem wir die Flexirente verabschiedet haben, arbeiten in Deutschland 25 000 Menschen im Alter
über 65 mehr. Da gibt es einen Zusammenhang mit unserer Befristungsmöglichkeit. Das war richtig. Das war die
Leistung der Großen Koalition. Das war der erste
Schritt. Weitere müssen folgen.
Herr Rosemann, Sie haben recht: Wir müssen dafür
sorgen, dass die Menschen länger arbeiten können, aber
wir müssen auch dafür sorgen, dass sie es wollen. Vielleicht sollten wir einmal darüber nachdenken, es nicht
Renteneintrittsalter zu nennen, sondern Rentenbezugsalter.
Herr Strengmann-Kuhn, wenn Sie das lesen, was ich
und andere sagen, wissen Sie, dass ich völlig bei Ihnen
bin. Ich habe überhaupt kein Problem damit, im Gegenteil. Wenn die isolierten Rentenbeiträge der Arbeitgeber
bei den Arbeitnehmern, bei den arbeitenden Rentnern
ankommen, dann wird die Arbeit nicht teurer.
({3})
Das ist attraktiv; das ist richtig. Diesen Vorschlag unterstütze ich. Die Arbeitslosenversicherungsbeiträge, diese
1,5 Prozent, gehören meines Erachtens abgeschafft. Der
Vorschlag stammt nicht nur von mir, sondern auch von
Herrn Weise, dem Chef der Bundesagentur für Arbeit.
Das alles sind Maßnahmen, die vielleicht nur punktuell wirken; es sind kleine Bausteine. Die einzelnen
Punkte führen nicht dazu, dass die Menschen jetzt länger
arbeiten, aber es ist das richtige Signal. Diese Bausteine
brauchen wir. Flexirente heißt Flexibilität im Rentenalter. Der erste große Schritt ist mit der befristeten
Beschäftigung gemacht. Weitere müssen folgen. Wir
müssen es schaffen, einen Mentalitätswechsel herbeizuführen, sodass die Menschen nicht nur länger arbeiten
können, sondern dies auch freiwillig wollen.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({4})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Dagmar Schmidt
für die SPD.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Unser allererstes Anliegen als SPD ist es, allen Menschen ein gesundes Arbeiten bis zum Regelrenteneintrittsalter zu ermöglichen. Das Problem ist ja nicht - das ist an vielen
Stellen schon angesprochen worden -, länger arbeiten zu
können. Es ist gesagt worden: Diese Möglichkeiten haben wir geschaffen. Das Problem ist doch eigentlich,
dass viele Menschen es aus den unterschiedlichsten
Gründen nicht schaffen, Vollzeit bis zur Rente zu arbeiten.
Unser Rentensystem ist an verschiedenen Stellen reformbedürftig. Wichtige Reformen sind von uns bereits
umgesetzt worden. Lasst mich einmal sagen: Wir regieren seit anderthalb Jahren. Zeigen Sie mir eine andere
Bundesregierung, die so viel auf den Weg gebracht und
in der Rente und darüber hinaus umgesetzt hat wie wir!
({0})
Ich nenne die abschlagsfreie Rente nach 45 Beitragsjahren, die Mütterrente, die Verbesserung bei der Erwerbsminderung und bei der Reha.
Aber bei allen Reformen, eines wird das Rentensystem nicht leisten können, nämlich soziale Härten, Ungerechtigkeiten und Defizite, die im Erwerbsleben entstanden sind, vollständig auszugleichen oder zu korrigieren.
Deswegen ist es eine wichtige sozialpolitische Aufgabe
und ein notwendiger Beitrag zur Armutsbekämpfung,
dafür zu sorgen, dass Menschen länger gesund bei gerechtem Lohn arbeiten können.
({1})
Gerade die flexiblen Übergänge dürfen nicht nur eine
Möglichkeit für Besserverdienende sein. Es braucht
Ordnung am Arbeitsmarkt und starke Tarifpartner, damit
die Voraussetzungen für alle geschaffen werden können.
({2})
Auch dafür haben wir in den letzten anderthalb Jahren
schon einiges getan - wir haben aber auch noch einiges
vor -: Genannt seien der Mindestlohn, die Öffnung des
Arbeitnehmer-Entsendegesetzes, die Vereinfachung der
Allgemeinverbindlichkeitserklärung, die Stärkung der
Tarifpartner - die Regulierung von Werkverträgen und
Leiharbeit liegt noch vor uns -, die Unterstützung von
Langzeitarbeitslosen, aber auch die Stärkung der sozialen und der Erziehungsberufe durch entsprechende Mittelerhöhung in der Pflegeversicherung und zusätzliche
Mittel für Bildung und Betreuung für Länder und Kommunen. All das haben wir in den letzten anderthalb Jahren schon geschafft.
({3})
Mit dem Präventionsgesetz haben wir die betriebliche
Prävention gestärkt. Bei alledem, was wir auf den Weg
gebracht haben, gilt es aber auch, sich die einzelne Erwerbsbiografie anzuschauen und passgenaue Unterstützung - über Prävention, Reha, Beratung, Fort- und Weiterbildung - zu gewährleisten, damit Gesundheit und
Arbeitsplatz geschützt werden. Wenn man Neues und
manchmal auch Großes vorhat, dann sollte dies wohlgeprüft, durchdacht und durchgerechnet werden. In manchen Koalitionen - vielleicht ist das ja in den Koalitionen auf Landesebene, an denen Sie von den Grünen
beteiligt sind, anders - muss man über die Dinge auch
noch diskutieren.
({4})
Ich möchte Ihnen eines unserer Vorhaben - das ist
mein Lieblingsvorhaben - vorstellen: den Ü-45-Checkup, formerly known as Ü-50-Check-up.
({5})
Daran sehen Sie schon, dass es sich lohnt, über manche
Dinge etwas länger nachzudenken. Denn bei genauem
Hinsehen erkennt man, in welch großem Umfang bereits
mit Mitte 40 Rehamaßnahmen, aber auch eine Erwerbsminderung stattfinden. Insbesondere betrifft das den Bereich der psychischen Probleme, der ja schon angesprochen worden ist. Deshalb haben wir unsere Idee des
Check-ups fünf Jahre vorgezogen.
Um was geht es uns genau? Wir wollen mit dem Ü-45Check-up einen wichtigen individuellen Baustein zur
Gesundheitsprävention und zur Arbeitsplatzsicherheit
etablieren. Es gibt viele Berufe und auch persönliche,
gesundheitliche Situationen, bei denen man schon mit
Dagmar Schmidt ({6})
45 weiß, dass man nicht mehr 20 Jahre wie bisher weiterarbeiten kann. Deswegen wollen wir vor allem den
Menschen in kleinen und mittleren Betrieben, die es
schwerer haben, Prävention und individuelle Gesundheitsförderung umzusetzen, und in denen es meistens
keine Arbeitnehmervertretung gibt, die sich um einen
verbesserten Gesundheitsschutz kümmert, rechtzeitig
und früh ein individuelles Recht auf Prävention und
Hilfe zukommen lassen.
({7})
Im 46. Lebensjahr - jeder und jede soll darüber in einem persönlichen Anschreiben informiert werden - kann
der Arbeitnehmer oder die Arbeitnehmerin einen berufsbezogenen Gesundheitscheck machen und sich im und
mit dem Unternehmen beraten lassen, welche Maßnahmen am Arbeitsplatz selbst oder durch einen Arbeitsplatzwechsel innerhalb des Betriebes, aber auch durch
einen Berufs- und Arbeitsplatzwechsel insgesamt ergriffen werden sollten, um Gesundheit und Arbeitsfähigkeit
zu sichern. Inklusive sind persönliche Beratung, auf
Wunsch Beratung und Gespräch mit dem Betrieb, ein
Profiling und, wenn notwendig, Fort- und Weiterbildung, finanziert über die Bundesagentur für Arbeit, und
das alles unter Berücksichtigung der realen Situation des
Arbeitnehmers oder der Arbeitnehmerin und der regionalen Arbeitsmarktlage.
„Arbeit ist der Umweg zu allen Genüssen“, sagte
Willy Brandt. Gute Arbeit soll dazu beitragen, dass auch
das Rentenalter genießbar wird. Ich wünsche allen Kolleginnen und Kollegen, dass sie in den kommenden Wochen nicht nur im Wahlkreis arbeiten, sondern auch eine
schöne, freie Urlaubszeit genießen können.
In diesem Sinne: Glück auf!
({8})
Nach diesen guten Wünschen hat der Kollege Albert
Stegemann für die CDU/CSU das Wort.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Die
Sommerpause im Parlament wirft ihre Schatten voraus.
Ich freue mich sehr, dass wir uns heute, bevor das Parlament in die wohlverdiente Ruhepause startet, mit der
Phase des Ruhestandes im Arbeitsleben beschäftigen.
Hierzu hatte ich mir einen Vers notiert, den ich vortragen
wollte, um danach in die nächsten Seiten meiner Rede
einzusteigen. Diesen Vers kann ich heute aber auch
anwenden; denn unser geschätzter Saaldiener Herr
Grothkopf wird am 31. Juli dieses Jahres in den Ruhestand gehen. Wir wünschen ihm von hier aus alles, alles
Gute!
({0})
Nach dieser verdienten Wertschätzung und allgemeinem Beifall - das wird von der Redezeit abgezogen - haben Sie wieder das Wort.
({0})
Herzlichen Dank. - Der von mir angewandte Spruch
hieß: Mein lieber Pensionär, wir hier im Büro vermissen
dich sehr. Du hast mit uns hinter dem Schalter gesessen,
wir werden dich niemals vergessen! - Mit solchen oder
ähnlichen Sprüchen werden tagtäglich langgediente Mitarbeiter in den Ruhestand geschickt.
Wir müssen feststellen, dass sich die Arbeitswelt seit
einigen Jahren grundlegend ändert. Die Erwerbsbiografien werden vielfältiger und bunter. Um hierauf reagieren zu können, muss auch das System der Rente flexibler
werden. Dennoch gilt in der allgemeinen Wahrnehmung
fälschlicherweise der Grundsatz, dass das Berufsleben
zu einem gesetzlich festgelegten Stichtag endet. Damit
nähert sich der Renteneintritt unaufhaltsam, ob der Mitarbeiter nun möchte oder nicht, ob er fit ist oder nicht.
Vor diesem Hintergrund bin ich Ihnen, liebe Kollegen
von den Grünen, sehr dankbar, dass Sie das Thema der
flexiblen Rentenübergänge auf die heutige Tagesordnung gesetzt haben.
Ich stimme Ihnen zu, dass wir uns auch fragen müssen, ob das traditionelle Bild noch zeitgemäß ist. Die Regierungsparteien haben vor ziemlich genau einem Jahr
im Rahmen des Rentenpakets die ersten Weichen gestellt, damit flexiblere Übergänge gelingen können. So
ermöglicht - das wurde hier schon einige Male erwähnt § 41 SGB VI das Arbeiten über das Renteneintrittsalter
hinaus.
Als Gesetzgeber müssen wir allerdings feststellen,
dass diese Möglichkeit in der Praxis bisher viel zu wenig
genutzt wurde. Arbeitnehmer und Arbeitgeber sind unsicher, was die konkrete Umsetzung anbelangt. Hier stehen wir in der Verpflichtung. Zugleich braucht es aber
auch eine gesellschaftliche Debatte, ein Umdenken im
Kopf, um die Notwendigkeit einer solchen Regelung
insbesondere vor dem Hintergrund des demografischen
Wandels anzuerkennen.
Daher suchen die Regierungsparteien mit der Arbeitsgruppe „Flexi-Rente“ eine langfristige Lösung, die den
Bedürfnissen der heutigen Arbeitswelt umfänglich gerecht wird. Uns alle eint das Ziel, dass Arbeitnehmer
grundsätzlich frei entscheiden sollen, wann und wie sie
den Übergang vom Erwerbsleben in die Rente gestalten.
Sofern es die eigene Gesundheit zulässt, soll jeder so
lange arbeiten, wie er möchte. Damit aber die Proportionen in der Dreiteilung des Lebens in der Waage bleiben,
kommen wir nicht umhin, durchschnittlich länger zu arbeiten, zumindest dann, wenn wir alle älter werden. Er11318
freulicherweise können wir feststellen, dass das in den
letzten Jahrzehnten der Fall war. Am besten lässt sich
das an der Rentenbezugsdauer ablesen. So erhielt 1960
ein Rentner in der Bundesrepublik Deutschland durchschnittlich noch zehn Jahre Leistungen von der Rentenversicherung. Mittlerweile liegt die durchschnittliche
Rentenbezugsdauer bei fast 20 Jahren. Die Ausweitung
der Lebensarbeitszeit - die sogenannte Rente mit 67 war daher eine richtige Entscheidung.
({0})
- Doch!
Ein weiterer Grund, Menschen ein längeres Berufsleben zu ermöglichen, ist der Bedarf an Fachkräften. Viele
Firmen und Institutionen können in einer sich rasch wandelnden Arbeitswelt nicht auf erfahrene Mitarbeiter verzichten. Seien wir doch ehrlich: Die Zeiten der Frühverrentung wie in den 90er-Jahren sind vorbei. Der Großteil
der Unternehmen hat kein Interesse daran, den gut ausgebildeten 60-jährigen Mitarbeiter mit einem goldenen
Handschlag zu verabschieden. Hierfür braucht es allerdings vernünftige Rahmenbedingungen und altersgerechte Arbeitsplätze. Zugleich gilt es aber auch, so
manche Vorurteile älteren Mitarbeitern gegenüber abzubauen. Daher noch einmal: Politik kann Anstöße geben
und Regeln festlegen. Wirklich entscheidend ist aber
auch eine gesellschaftliche Debatte.
({1})
Letztlich - das sollte nicht vergessen werden - gibt es
schlicht und einfach den Wunsch von zukünftigen Rentnern, weiterzuarbeiten. Gerade der Kontakt mit den bekannten Kollegen und eine tägliche Aufgabe machen
den Alltag wertvoll. Wenn wir von einem selbstbestimmten Altern reden, gehört dies auch dazu, getreu
dem Motto: Wer rastet, der rostet.
Insofern ist festzustellen, dass Politik und Gesellschaft in den vergangenen Jahren entscheidende Schritte
in die richtige Richtung getan haben. So ist die Erwerbstätigenquote bei den 55- bis 64-Jährigen in den letzten
fünf Jahren um fast 30 Prozent gestiegen. In Europa
nimmt Deutschland damit einen Spitzenplatz ein, was
die Beschäftigung älterer Menschen anbelangt.
({2})
- Genau. - Es kommt allerdings noch ein kleines Aber:
Die Rente mit 63 wirkt dieser Entwicklung aktuell etwas
entgegen; aber insgesamt stimmt die Richtung.
Der Auftrag liegt also klar vor uns. Und doch gebe ich
zu: Wir haben in den letzten Wochen sehr intensiv diskutiert; denn wie so oft steckt der Teufel - vor allen Dingen
im Rentenrecht - im Detail.
Da wäre zum Beispiel der Punkt der Hinzuverdienstgrenzen vor Erreichen des regulären Renteneintrittsalters. Die Grünen sprechen dieses Problem in ihrem Antrag an, und sie haben recht: Hier hakt es, hier sind
Änderungen notwendig - allerdings nicht in der Form,
wie Sie sie vorschlagen. Die von Ihnen ins Spiel gebrachte Regelung würde dazu führen, dass gerade im
kommunalen Ehrenamt eine Zweiklassengesellschaft
entstünde. Es darf nicht passieren, dass im Gemeinderat
zwei Vertreter sitzen, die aufgrund unterschiedlich hoher
Verdienste im Berufsleben abweichende Abzüge von ihrer Entschädigung hinnehmen müssen. Ihre Idee ist gut
gemeint, aber nicht gut gemacht. Aus Sicht der CDU/
CSU-Fraktion lässt sich die offene Baustelle durch höhere Hinzuverdienstgrenzen lösen.
({3})
Wir brauchen eine deutliche Anhebung, allerdings ohne
dabei neue Anreize zur Frühverrentung zu setzen. Ich
bin optimistisch, dass dies gelingen wird.
Beim Thema Arbeitgeberbeiträge sind wir eng beieinander. Nach geltendem Recht zahlen Arbeitgeber für einen älteren Beschäftigten weiterhin den Anteil an die
Rentenversicherung, obwohl sich dieser nicht rentenerhöhend auswirkt. Dies ist nicht nachvollziehbar. Daher
sollten Rentner zukünftig mit diesen Beiträgen ihr Ruhegehalt weiter aufbessern können.
Darüber hinaus möchte ich den Punkt der Gesundheit
nennen. Wie lange jemand arbeiten kann, hängt maßgeblich von seiner Gesundheit ab. Vor diesem Hintergrund
müssen wir uns noch stärker mit präventiven und Rehamaßnahmen beschäftigen. Hier schwebt uns ein ganzes
Bündel von Maßnahmen vor: Die Erhöhung des Rehabudgets im Rentenpaket war ein erster Schritt dazu. Zukünftig sollten sich Leistungen stärker an der individuellen gesundheitlichen Situation orientieren. In diesem
Kontext sind eine engere Abstimmung zwischen Rentenund Krankenversicherung und eine Stärkung der Selbstverwaltung unerlässlich. Es sollte außerdem sichergestellt werden, dass Menschen, die teilweise erwerbsgemindert sind, weiter am Arbeitsleben teilhaben können,
zum Beispiel auf einem alternativen Arbeitsplatz.
({4})
In der Summe bleibt festzuhalten, dass Deutschland
auf dem Feld der Integration von Älteren in den Arbeitsmarkt auf dem richtigen Weg ist. Diesen gilt es konsequent weiterzugehen: mit stärkeren Anreizen und Sicherheit für alle Beteiligten, allerdings nicht mit einer
Antistressverordnung oder sonstigen bürokratischen
Hindernissen. Die Politik sollte den Menschen nicht vorschreiben, wie sie ihr Leben führen sollen, sondern Rahmenbedingungen schaffen, damit sie leben können, wie
sie es wollen. Kurz gesagt: Die Entscheidung, wann jemand in Rente geht, sollte nicht bei der Politik liegen.
Zugleich dürfen individuelle Entscheidungen nicht die
Solidargemeinschaft gefährden; denn bei aller Freiheit
steht die Politik in der Verantwortung, die langfristige
Finanzierbarkeit sicherzustellen.
Viele der von Ihnen gestellten Forderungen sind gut
gemeint und manche auch richtig. Ich kann Ihnen aber
versichern, dass die Regierungsparteien zeitnah vernünftige und noch geeignetere Lösungen vorlegen werden.
Diese sollten es älteren Arbeitnehmern erlauben, weiterhin im Berufsleben zu bleiben, sofern sie das können
und auch wollen. Wir können und wollen als GesellAlbert Stegemann
schaft nicht auf ihre Ideen und ihr Können verzichten.
Deshalb lehnen wir Ihren Antrag ab.
Herzlichen Dank. Schöne Sommerpause.
({5})
Abschließender Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Ralf Kapschack für die SPD.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Zuschauer! Ich möchte mich erst einmal bedanken
für die bisher sehr konstruktive Debatte. Ich glaube, sie
ist auch angemessen, wenn man sich überlegt, dass jeder
Zweite über 55 gerne schrittweise in die Rente gehen
will und nicht abrupt.
({0})
Bei den Frauen liegt dieser Anteil noch höher. Voll
durcharbeiten bis 67 wird für die meisten oder für viele
jedenfalls kaum möglich sein. Der Bedarf an flexiblen
Übergängen ist extrem hoch.
Deshalb ist es gut, dass wir heute darüber reden und
dass die Koalition eine Arbeitsgruppe eingerichtet hat,
die Vorschläge vorlegen soll. Wir haben es gehört: Bauarbeiter scheiden im Schnitt mit 58 aus dem Arbeitsleben aus, Beschäftigte im Gesundheitswesen mit 61.
Deshalb brauchen wir bessere gesetzliche Rahmenbedingungen für gleitende und abgesicherte Übergänge von
der Arbeit in die Rente. Eine, ich sage mal, kreative und
unkomplizierte Kombination von Teilzeitbeschäftigung
und Teilrente ab 60 kann dabei aus unserer Sicht ein
wichtiger Baustein sein.
({1})
Seit 1992 gibt es die Möglichkeit der Teilrente. Das
Problem ist: Kaum jemand weiß davon, und noch weniger nehmen sie in Anspruch. Nur rund 1 000 Beschäftigte pro Jahr nutzen diese Chance, um ihre Arbeitszeit
zu reduzieren und über eine echte Altersteilzeit aus dem
Berufsleben auszusteigen.
Das derzeitige Modell ist viel zu starr und vor allem
viel zu kompliziert. Zumindest darin sind wir uns einig.
Wir brauchen mehr Flexibilität bei den Stufen der Teilrente und andere Hinzuverdienstgrenzen; denn die Teilrente wird nur dann attraktiv, wenn sie nicht zu gravierenden Einkommensverlusten führt.
({2})
Ein ganz entscheidender Punkt ist: Wir müssen über
die bestehenden Einschränkungen beim Recht auf Teilzeitarbeit sprechen; denn der Rechtsanspruch steht viel
zu oft nur auf dem Papier. Dass sich echte Altersteilzeit
noch nicht durchgesetzt hat, liegt aber sicher auch daran,
dass die Arbeitsplätze oft für nicht teilbar gehalten werden und dass eine Teilzeitbeschäftigung in den Betrieben
oft unbeliebt ist. Angesichts des immer wieder beschworenen Fachkräftemangels ist es aber auch im Interesse
der Unternehmen, diese Vorbehalte aufzuknacken. Es ist
relativ simpel: Wenn ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ihre Belastung reduzieren und im Betrieb
bleiben, dann bleiben auch Erfahrungen und Kompetenzen im Betrieb.
({3})
Eine Teilrente ab 60 würde aus unserer Sicht anders,
als oft behauptet wird - auch heute ist das wieder behauptet worden -, keine Frühverrentungswelle auslösen.
Im Gegenteil: Diese Teilrente würde vielen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern überhaupt erst die Möglichkeit geben, das gesetzliche Renteneintrittsalter zu erreichen, und genau das wollen wir.
({4})
Den größten Handlungsbedarf sehen wir aktuell allerdings bei Beschäftigten mit gesundheitlichen Einschränkungen; das ist in der Debatte vielfach schon angesprochen worden. Sie sind oft zu krank, um in Vollzeit bis
zur Regelaltersgrenze zu arbeiten, und sie sind oft zu gesund, um Anspruch auf eine Erwerbsminderungsrente zu
haben.
Wir haben hier eine Idee, das Arbeitssicherungsgeld,
mit der wir Vorschläge der IG BAU aufgreifen. Wie der
Name schon sagt, soll die Arbeitsfähigkeit der Beschäftigten gesichert werden. Es ist keine Rente im eigentlichen Sinne. Mit dem Arbeitssicherungsgeld sollen für
bestimmte, besonders belastete Berufsgruppen Anreize
gesetzt werden, in Teilzeit weiterzuarbeiten, statt ganz
aus dem Arbeitsleben auszuscheiden und in der Arbeitslosigkeit zu landen.
({5})
Auch hier gilt unser Ziel, Arbeit statt Arbeitslosigkeit zu
finanzieren.
Das Arbeitssicherungsgeld kommt für Beschäftigte
ab 61 infrage, die im bisherigen Beruf nicht mehr Vollzeit arbeiten können und für die sich keine andere Vollzeitbeschäftigung findet. Das Arbeitssicherungsgeld
gleicht maximal für zwei Jahre die Differenz zwischen
dem vorigen Nettoentgelt und dem Nettoentgelt der Teilzeitbeschäftigung teilweise aus. Durch das Arbeitssicherungsgeld stehen gesundheitlich eingeschränkte Beschäftigte finanziell besser da, als wenn sie arbeitslos
würden, und die Arbeitslosenversicherung würde durch
die Teilzeittätigkeit weniger in Anspruch genommen
werden als bei der drohenden Arbeitslosigkeit.
({6})
Unsere Idee ist, das Arbeitssicherungsgeld als Versicherungsleistung im SGB III zu verankern.
({7})
Die Bundesagentur für Arbeit wäre für die Umsetzung
zuständig, die Finanzierung würde über Beitragsmittel
sichergestellt.
Ganz offen zugegeben: Es gibt noch eine Reihe von
Details zu klären. Wir denken aber, das ist ein Vorschlag,
über den man intensiv diskutieren kann, und das würden
wir gerne tun.
Die Bundeskanzlerin hat gestern gesagt, sie sei zuversichtlich, dass die Koalitionsarbeitsgruppe noch „zu
Potte“ kommt. Ich hoffe das sehr.
({8})
Das wäre gut für ältere Beschäftigte, das wäre gut für die
Unternehmen, das wäre gut für die Renten- und die Arbeitslosenversicherung, und das wäre auch gut für die
öffentlichen Haushalte.
Vielen Dank.
({9})
Damit schließe ich die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 18/5212 und 18/5213 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe keine andere
Haltung oder Meinung. Dann ist die Überweisung so be-
schlossen.
Trotz der schon mehrfach geäußerten guten Wünsche
für die nahen Ferien ist unsere Tagesordnung noch nicht
abgeschlossen.
Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 33 a und 33 b
auf:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Berufsqualifikationsfeststellungsgesetzes und anderer Gesetze
Drucksache 18/5326
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({0})
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht zum Anerkennungsgesetz 2015
Drucksache 18/5200
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({1})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
diese Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das somit beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Parlamentarischen Staatssekretär Stefan Müller
das Wort.
({2})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor
rund drei Jahren, am 1. April 2012 - das war kein Aprilscherz -, ist das sogenannte Anerkennungsgesetz des
Bundes in Kraft getreten. Wir haben damals eine, wie
ich finde, gute rechtliche Grundlage dafür geschaffen,
dass im Ausland erworbene Abschlüsse in Deutschland
einfacher anerkannt werden können und wir damit Migrantinnen und Migranten besser in den Arbeitsmarkt integrieren können.
Eines kann man feststellen: Dieses Gesetz hat in der
Bevölkerung ein Umdenken in der Form bewirkt, dass
die ausländischen Qualifikationen Zugewanderter als
Potenzial wahrgenommen werden.
({0})
Das Bild hat sich gewandelt: weg von den unterstützungsbedürftigen Migranten, hin zu einem Menschen,
der eine Chance für unser Land bietet. Viele Menschen
in Deutschland sehen jetzt mit mehr Respekt und Wertschätzung auf die Qualifikationen und Lebensleistungen
Zugewanderter. Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch
das ist eine positive Wirkung dieses Gesetzes.
({1})
Herr Mutlu, falls es Ihrer Aufmerksamkeit entgangen
ist: Auch die CSU hat damals zugestimmt. Deswegen ist
es wahrscheinlich ein so gutes Gesetz und auch so erfolgreich geworden.
({2})
Gerade gestern hat der Bundestag die Zuwanderungsmöglichkeiten im Rahmen der Anerkennung ausländischer Qualifikationen weiter verbessert. Das Gesetz zum
Bleiberecht enthält einen neuen Aufenthaltstitel zur
Durchführung von Qualifizierungs- und Anpassungsmaßnahmen sowie von Sprachkursen, die dazu dienen,
in Deutschland die volle Anerkennung solcher Abschlüsse zu erhalten. Darüber hinaus haben wir klargestellt, dass während der Berufsausbildung keine Abschiebung erfolgt. Auch das schafft Perspektive und
Planungssicherheit für die jungen Menschen, aber eben
auch für die Betriebe in unserem Land.
({3})
Die Zahlen des Statistischen Bundesamtes belegen,
dass sich das Anerkennungsgesetz von Anfang an als Instrument der Fachkräftesicherung etabliert hat. Seit dem
Inkrafttreten des Gesetzes bis Ende 2013 wurden insgesamt rund 26 500 Anträge gestellt. Ich meine, das ist bei
einem neuen Gesetz durchaus beachtlich.
Noch erfreulicher ist die Tatsache, dass die allermeisten Anträge bereits beschieden wurden, und zwar positiv. Gerade einmal 4 Prozent der Anträge wurden gänzlich abgelehnt. Fast 80 Prozent der Anträge betrafen
reglementierte Berufe, insbesondere im medizinischen
Bereich, in dem es nachgewiesenermaßen einen großen
Fachkräftebedarf gibt. Erfreulich finde ich auch, dass bei
den dualen Ausbildungsberufen im gewerblich-technischen, im kaufmännischen oder im handwerklichen Bereich die Anerkennungszahlen ebenfalls weiter steigen.
Auch das Interesse an der Anerkennung steigt weiter.
Das sehen wir an der Nachfrage in unserem Anerkennungsportal. Wenn Sie es sich ansehen wollen: www.
anerkennung-in-deutschland.de. Sie können gleich nachschauen - die Möglichkeit haben Sie ja - und sich informieren, ob das, was ich sage, stimmt. Es ist tatsächlich
richtig: Die Zahl der Besucher hat sich seit 2012 jedes
Jahr verdoppelt. Insgesamt waren es bisher rund 2,7 Millionen, die sich über dieses Anerkennungsportal über die
Möglichkeiten, ihren Abschluss in Deutschland anerkennen zu lassen, informiert haben. Ich sagte: Die Zahl ist in
den letzten Jahren deutlich angestiegen, was mit Sicherheit auch damit zu tun hat, dass dieses Informationsangebot mittlerweile in acht Sprachen angeboten wird und
wir im Ausland sehr erfolgreich dafür werben.
Die Aufzählung ließe sich fortsetzen. Es gibt eine
stärkere Nachfrage nach persönlicher Beratung durch die
Hotline genauso wie nach Beratung in den Beratungsstellen im Netzwerk „Integration durch Qualifizierung“.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, angesichts dieser
Nachfrage und dem offensichtlich großen Interesse, was
dieses Instrument der Anerkennung angeht, war es umso
wichtiger, dass die Länder beim sogenannten Flüchtlingsgipfel am 18. Juni - auf Drängen der Bundeskanzlerin - zugesagt haben, mehr eigenes Personal für die Bearbeitung der Anerkennungsverfahren zur Verfügung zu
stellen. Es sollen nicht nur die für die Anerkennung zuständigen Stellen adäquat ausgestattet werden, sondern
es soll auch endlich die seit langem geforderte Gutachtenstelle für Gesundheitsberufe bei der ZAB bzw. der
KMK eingerichtet werden.
({4})
Ich sage „endlich“, weil dieser Prozess nun schon sehr
lange dauert, und ich hoffe, dass das jetzt auch rasch umgesetzt werden kann.
({5})
Wir schaffen seitens der Bundesregierung auch weitere umfangreiche Möglichkeiten zum Beispiel für
Nachqualifizierungen, wenn in einem Anerkennungsverfahren Defizite zwischen deutschen und ausländischen
Abschlüssen festgestellt wurden. Wir werden im Förderprogramm „Integration durch Qualifizierung“ die Angebote für Anpassungsmaßnahmen und Sprachkurse weiterentwickeln.
({6})
Wir wollen damit die Chancen der Antragsteller auf eine
volle Anerkennung verbessern und werden dafür in den
Jahren 2015 bis 2018 insgesamt 188 Millionen Euro gemeinsam mit Mitteln des Europäischen Sozialfonds bereitstellen.
Wie Sie sehen, nehmen wir das Thema sehr ernst, und
wir wollen auch weiter daran arbeiten, in der Umsetzung
und in den Verfahren noch deutliche Verbesserungen für
die betroffenen Migrantinnen und Migranten zu erreichen.
({7})
Genauere Ergebnisse und Erfahrungen zum gesamten
Anerkennungsgeschehen können Sie dem Bericht zum
Anerkennungsgesetz entnehmen, den das Bundeskabinett am 10. Juni beschlossen hat und der auch schon Gegenstand einer Regierungsbefragung war. Weil Sie alle
ihn lesen konnten, will ich - das kann ich auch aus Zeitgründen nicht - nicht auf jeden einzelnen Punkt eingehen.
Ich will nur einen Punkt herausgreifen, den ich persönlich für außerordentlich spannend halte. Vielleicht
wollen Sie es noch einmal nachlesen: Der Bericht enthält
auch eine Darstellung aus der Perspektive der Betriebe.
Eine repräsentative Befragung des Bundesinstituts für
Berufsbildung bei 5 300 Betrieben hat gezeigt, dass es
eine große Bereitschaft zur Rekrutierung ausländischer
Fachkräfte in den Unternehmen gibt und - auch das ist
entscheidend - eine große Bereitschaft, die jeweiligen
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer dann auch im Anerkennungsverfahren zu unterstützen.
Gleichwohl - das ist sicherlich auch Ergebnis der Gespräche, die Sie alle führen - gibt es noch die eine oder
andere Hürde. In der Praxis werden erst wenige Fachkräfte aus dem Ausland beschäftigt. Eine Erkenntnis, die
man gewinnen kann, ist, dass es in den Unternehmen
selbst noch an konkreten Informationen über die Möglichkeiten des Anerkennungsgesetzes mangelt und dass
- ich will es einmal so formulieren - die nötige Sensibilisierung in den Unternehmen noch nicht vorhanden ist.
Wir werden deshalb gemeinsam mit dem DIHK ein Projekt auflegen und anstoßen, mit dem wir Betriebe darüber informieren wollen, welche Möglichkeiten das
Anerkennungsgesetz bietet.
Es geht heute speziell um eine Änderung des Anerkennungsgesetzes. Der Gesetzentwurf, den wir heute in
erster Lesung beraten, setzt die Änderungen der EU-Berufsanerkennungsrichtlinie um, die den Anwendungsbereich des BQFG und der Gewerbeordnung betreffen. Wir
müssen sie bis zum 18. Januar 2016 in deutsches Recht
übernehmen. Ich will hinzufügen, dass es sich um eher
geringe Änderungen im Gesetz handelt, die die reglementierten Berufe betreffen. Es geht zum Beispiel um
die Einführung einer Möglichkeit zur elektronischen
Übermittlung von Anträgen und Unterlagen innerhalb
der EU und des europäischen Wirtschaftsraumes und um
die Befassung des Einheitlichen Ansprechpartners, der
schon durch die Dienstleistungsrichtlinie in Deutschland
geschaffen wurde, mit der Entgegennahme und Weitergabe von Anträgen und Unterlagen in einem Anerkennungsverfahren.
Jedenfalls werden durch diese Änderungen zur Anerkennung auch raschere Verfahren ermöglicht. Dadurch
werden auch Hürden abgebaut. Wir versprechen uns davon des Weitern, dass die Mobilität zunimmt, die in Europa noch immer deutlich geringer ist als beispielsweise
in den Vereinigten Staaten.
Die Umsetzung dieser Richtlinie macht - das will ich
nur nachrichtlich hinzufügen - eine ganze Reihe von
Änderungen in anderen berufsrechtlichen Fachgesetzen
erforderlich. Die Bundesregierung wird die entsprechenden Änderungsgesetze zeitnah vorlegen.
Ich will abschließend hinzufügen, dass wir bei der Erarbeitung des vorliegenden Gesetzentwurfs sehr eng mit
den Ländern zusammengearbeitet haben und mit den
Ländern einen gemeinsamen Mustergesetzentwurf entwickelt haben, weil die Länder ihrerseits hier etwas umsetzen müssen. Wir haben das auch beim Anerkennungsgesetz gemacht. Der Mustergesetzentwurf entspricht im
Wesentlichen dem Ihnen vorliegenden Gesetzentwurf.
Als ein Ergebnis der guten Kooperation und Zusammenarbeit mit den Ländern hat der Bundesrat am 12. Juni
keine wesentlichen Einwände gegen diesen Gesetzentwurf erhoben.
In diesem Sinne hoffe ich auf eine wohlwollende und
zustimmende Beratung im weiteren parlamentarischen
Verfahren.
({8})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Sigrid Hupach für
die Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Bei
der Vorstellung des Berichts zum Anerkennungsgesetz
2015 feiert die Bundesregierung das Gesetz als großen
Erfolg. Warum eigentlich? Weil gerade 26 500 Menschen in Deutschland einen Antrag auf Anerkennung ihrer ausländischen Berufsabschlüsse gestellt haben? Doch
wohl eher nicht! Ich teile also nicht ganz das Lobeslied
von Staatssekretär Müller.
({0})
Die Bundesregierung versprach doch, dass damit etwa
300 000 Menschen geholfen werden kann. Das Ergebnis
ist also unbefriedigend, auch angesichts des großen Interesses, das 1 Million Zugriffe auf die Datenbanken zur
Anerkennung von Abschlüssen zeigt. Oder ist es etwa
ein Erfolg, dass dieses Gesetz weiterhin vorrangig ein
Ärzteanerkennungsgesetz ist? Immerhin entfallen
62,9 Prozent aller Verfahren auf die Referenzberufe Ärztin und Arzt sowie andere Gesundheitsberufe. Das hilft
zwar dem deutschen Gesundheitssystem, ist aber gleichzeitig Ausdruck der Konstruktionsfehler dieses Gesetzes
auf der einen Seite und der Ausbildungspolitik in
Deutschland auf der anderen Seite.
({1})
Die überwiegende Mehrheit der anerkannten Berufsabschlüsse entfällt auf bundesweit reglementierte Berufe. Doch schon bei der Altenpflege gestaltet sich die
Sache schwieriger oder bei den Hochschulabschlüssen,
die zu keinem reglementierten Beruf führen, wie zum
Beispiel bei den Ingenieurberufen. Einerseits hat die
Bundesregierung erst in diesen Tagen beim MINT-Gipfel die fehlenden Fachkräfte gerade auf naturwissenschaftlich-technischen Berufsfeldern beklagt. Das Handwerk sowie die klein- und mittelständische Wirtschaft
werden völlig zu Recht als Rückgrat der deutschen Wirtschaft bezeichnet. Andererseits wird die Chance leichtfertig vertan, dem großen Fachkräftemangel in diesen
Bereichen durch Anerkennung ausländischer Berufsabschlüsse zu begegnen. Beim Beruf Erzieherin/Erzieher
sind die Ausbildungswege und die pädagogischen Anforderungen in den Bundesländern sehr unterschiedlich
geregelt. Ausländische Fachkräfte haben es bei der Anerkennung besonders schwer.
({2})
- Darauf komme ich gleich zu sprechen.
Der Unsinn wird an folgendem Beispiel deutlich. In
Frankreich werden Lehrkräfte der frühkindlichen Bildung an Hochschulen als Lehrkräfte für die École Maternelle ausgebildet. In der frühkindlichen Bildung werden
sie aber in einigen Bundesländern nicht als Fachkräfte
zugelassen, weil sie in ihrer Ausbildung den „Landesbildungsplan elementar“ nicht kennengelernt haben. In den
gleichen Ländern werden aber im Land ausgebildete Sozialpädagogen als Fachkräfte anerkannt, obwohl sie
während ihres Studiums auch nichts von dem frühkindlichen Landesbildungsplan erfahren haben. Kindereinrichtungen mit bilingualem Konzept müssen daher entweder auf Muttersprachler verzichten oder sie als
Nichtfachkräfte prekär absichern. Auch bei bundesrechtlich geregelten Berufen kann die Anerkennung von Land
zu Land unterschiedlich sein. Das beweist einmal mehr
die Unsinnigkeit des Kooperationsverbotes. Das könnten
wir regeln.
({3})
Der sich entwickelnde Anerkennungstourismus zwischen den Bundesländern kann doch nicht wirklich Ziel
dieses Gesetzes sein. Wir brauchen hier dringend einheitliche Anerkennungsverfahren.
({4})
Auf noch einen Aspekt möchte ich hinweisen. Die
fehlende Anerkennung der Berufe des dualen Systems
hat auch deutliche Auswirkungen auf die tarifgerechte
Bezahlung. Es wäre ein klares Bekenntnis zu guten und
gerechten Löhnen für gute Arbeit - wie dies die Sozialpartner gemeinsam mit uns Linken fordern -,
({5})
wenn es gelänge, mit einem in diesem Punkt verbesserten Anerkennungsgesetz gerade die Anerkennung der
Berufe des dualen Systems zu erreichen.
Ob jemand seinen im Ausland erworbenen Abschluss
hier in Deutschland anerkannt bekommt, ist aber auch
eine Frage der Kosten. Diese variieren zwischen den
Bundesländern und den unterschiedlichen Berufsarten
teilweise sehr erheblich. Im Kammerbereich zum Beispiel schwanken sie zwischen 100 und 600 Euro. Diese
Unterschiede sind doch nicht durch einen unterschiedlichen Aufwand zu erklären. Darüber hinaus steht zu befürchten, dass die Kosten für eine individuelle Gleichwertigkeitsprüfung sowie für die Analyse von
Qualifikationen noch weitaus höher liegen. Das ist sicherlich kein Anreizsystem, es schreckt vielmehr ab.
Wir Linke kritisieren die Aussage im Gesetz und im
Bericht, mit der Anerkennung ausländischer Abschlüsse
zuerst den Fachkräftemangel in Deutschland beseitigen
zu wollen. Für uns stehen die Menschen im Mittelpunkt.
({6})
Das Gesetz setzt hier eindeutig die falschen Prämissen.
Eine wirkliche Willkommenskultur sieht anders aus.
Wenn, wie die frühere Bundesministerin Frau
Schavan sagte, die Anerkennung der Abschlüsse eine
Frage der Gerechtigkeit und des Respekts vor der Qualifikation von Menschen ist, dann muss an diesem Gesetz
und an der Anerkennungspraxis wohl noch heftig gearbeitet werden.
Vielen Dank.
({7})
Für die SPD spricht jetzt der Kollege Dr. Karamba
Diaby.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Die Tür steht dir offen, du bist willkommen, du
wirst gebraucht, und du kannst dich mit all deinen
Fähigkeiten hier entfalten.
({0})
Das ist die Botschaft, die von dem Anerkennungsgesetz
ausgeht.
({1})
Das ist eine gute Willkommensbotschaft in Deutschland.
Das stimmt.
Mit diesem Versprechen beendete ich meine Rede in
der Debatte im Herbst 2014. Nun sind wir einige Schritte
weiter. Wir beraten heute in erster Lesung die Novelle
des Anerkennungsgesetzes, und es liegt ein ganz aktueller Evaluierungsbericht vor.
Ich möchte auf zwei Gesichtspunkte eingehen. Zum
einen will ich die Erfolge benennen, und zum anderen
will ich die Haltung der SPD für die Weiterentwicklung
klarmachen. Wir sind mit dem Anerkennungsgesetz auf
einem guten Weg. Ich mache das an folgenden Facetten
fest: Es besteht ein Rechtsanspruch auf Antragstellung,
unabhängig von einem Aufenthaltstitel und von der
Staatsbürgerschaft. Die durchschnittliche Bearbeitungszeit liegt bei 59 Tagen. Ich meine, das ist eine hervorragende Voraussetzung, damit das Gesetz seine volle Wirkung entfalten kann.
({2})
Das Gesetz bietet die Möglichkeit, den Antrag vom
Ausland aus zu stellen oder zwecks Anerkennung nach
Deutschland einzureisen. Das ist neu im Gesetz. Auch
für Menschen ohne Zertifikate ist es möglich, beispielsweise mit dem Kompetenzfeststellungsverfahren ihre
Qualifikation anerkennen zu lassen. Als SPD-Fraktion
sagen wir aber deutlich, dass wir mehr Begleitmusik
zum Anerkennungsgesetz brauchen.
({3})
Das Anerkennungsgesetz ist im Jahr 2012 in Kraft getreten. Wir haben es also mit einem jungen Gesetz zu
tun. Damals ging die Bundesregierung davon aus, dass
bis zu 500 000 erwerbsfähige Personen in Deutschland
durch das Gesetz erreicht werden. Seither wissen wir
- die Zahl wurde schon genannt - von 26 000 Anträgen
im Bund. Das sind gerade einmal 5 Prozent des Gesamtpotenzials. Übrigens sind die seither neu Eingewanderten und hierher Geflüchteten dabei nicht eingerechnet.
Ich bin der Meinung: Trotz aller bereits laufenden und
guten Werbe- und Informationsportale brauchen wir
noch mehr Engagement, damit die Botschaft vom Anerkennungsgesetz dort ankommt, wo sie gehört werden
soll, nämlich bei den vielen Menschen mit ausländischen
Qualifikationen und bei den Arbeitgebern, die nach
Fachkräften suchen. Auch in meiner Region, in Halle an
der Saale, suchen die Arbeitgeber Fachkräfte. Darauf
werde ich immer wieder angesprochen, wenn ich auf Besuchen in Betrieben bin.
Unser Ziel muss sein, dass jeder Mensch entsprechend seiner Qualifikation arbeiten kann. Daher dürfen
wir uns mit diesen Zahlen nicht zufriedengeben.
({4})
Hier stellt sich meine Fraktion beispielsweise einen
Rechtsanspruch auf unabhängige Beratung vor, so wie er
bereits in einigen Landesanerkennungsgesetzen verankert ist. Zum Beispiel weiß ich aus Hamburg und aus
meinem Bundesland Sachsen-Anhalt, dass man dort mit
dem Rechtsanspruch auf unabhängige Beratung bereits
positive Erfahrungen macht.
Nun komme ich zum zweiten Bereich. Die Frage der
Finanzierungsangebote für Antragsteller treibt uns Sozialdemokraten um. Dies betrifft die Höhe der Verfahrenskosten und die Finanzierung von Anpassungsmaßnahmen sowie des Lebensunterhalts. Im aktuellen
Evaluationsbericht heißt es nämlich - ich bitte meinen
Koalitionspartner, genau zuzuhören; ich zitiere -:
Nicht selten können nach einer Kosten-Nutzen-Abwägung auch die Kosten für die Durchführung eines Anerkennungsverfahrens Interessierte davon
abhalten, eine Anerkennung zu beantragen. Dies
dürfte insbesondere für Personen … gelten, die mit
weniger eindeutigen Bildungsrenditen rechnen als
zum Beispiel Ärzte …
({5})
Das steht also im Bericht. Für meine Fraktion gilt: Keine
Person darf aus Angst vor den Kosten des Anerkennungsverfahrens zurückweichen.
({6})
Gleichzeitig wissen wir, dass vom neuen ESF-Förderprogramm der Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles
9 000 Personen profitieren können. Ich rufe noch einmal
die Zahlen in Erinnerung: Von bis zu 500 000 Infragekommenden haben bislang nur 26 000 ein Anerkennungsverfahren durchlaufen. Ich meine, das ist zu wenig. Daher
sehe ich das Bildungsministerium in Verantwortung.
Sehr geehrter Herr Staatssekretär, es reicht nicht, abzuwarten und sich die Frage zu stellen, ob es überhaupt Bedarf gibt. Ich denke, da müssen wir wirklich handeln.
({7})
Es gibt einen Bedarf. Da sprechen die Zahlen ihre eigene
Sprache.
Wir als SPD-Fraktion wollen ein bedarfsorientiertes
Einstiegsdarlehen zur Finanzierung des Lebensunterhalts und der Nachqualifizierungen. Dieses Darlehen
soll die Regelungslücke schließen für diejenigen, die
nicht vom ESF-Programm profitieren, und für diejenigen, die nicht im SGB-II- oder SGB-III-Bezug stehen.
Die Finanzierungsfrage berührt uns also. Das ist eine
Frage der sozialen Gerechtigkeit.
({8})
Das Anerkennungsverfahren darf nicht vom Geldbeutel
der Antragsteller abhängen. Zudem bin ich fest davon
überzeugt, dass es im Sinne der Bekämpfung des Fachkräftemangels volkswirtschaftlich vernünftig ist, hier ein
Darlehensprogramm aufzulegen.
Nun komme ich zum dritten und letzten Aspekt
- meine Zeit ist fast zu Ende -: Vorausgesagt ist ein Bedarf an Einwanderung aus Drittstaaten von 500 000 Personen jährlich; wir wissen aber, dass über die Bluecard
nur 25 000 seit dem Jahr 2012 zu uns gekommen sind.
Das ist viel zu wenig. Daher muss das Anerkennungsgesetz einen Beitrag zur Linderung des Fachkräftemangels
leisten. Bei insgesamt etwa 600 Anträgen aus Drittstaaten ist da, wie ich finde, noch sehr viel Luft nach oben.
({9})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind, wie ich
vorhin sagte, auf einem guten Weg. Das Anerkennungsgesetz ist gut. Aber wir wollen mehr.
Danke schön.
({10})
Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Diaby, auch was die
Einhaltung der Redezeit betrifft. Sie sind ja auch Schriftführer und wissen die Disziplin zu schätzen. Vielen
Dank.
({0})
Jetzt kommt der Kollege Özcan Mutlu für Bündnis 90/Die Grünen.
({1})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Bei Ihnen, Herr Kollege Diaby, habe ich zeitweise gedacht, hier redet ein Oppositionspolitiker und
nicht ein Vertreter der Regierungskoalition. Aber sei’s
drum. Wenn Sie auf dem richtigen Weg sind, freuen wir
uns sogar.
({0})
Gute Idee, mäßig umgesetzt - so kritisierte der Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und
Migration im Jahr 2011 den Gesetzentwurf zur Anerkennung im Ausland erworbener Berufsabschlüsse. Leider
hat sich daran bis heute nicht viel geändert, und das kritisieren wir.
({1})
Seit 2012 gilt endlich das Berufsqualifikationsfeststellungsgesetz - was für ein Wort! Wir sagen in der Tat:
Das ist ein wichtiger und überfälliger Schritt. Lieber
Kollege Müller, da sind wir bei Ihnen; das ist nicht das
Problem.
({2})
Aber Sie haben ein Bürokratiemonster mit erheblichen
Schwächen geschaffen,
({3})
und Sie haben auch heute hier die Chance verpasst, diese
Schwächen im Gesetz zu beseitigen.
({4})
Sie hatten genügend Zeit, um nachzubessern, aber Sie
haben diese Zeit leider nicht genutzt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Großen Koalition und der kleinen Taten, leider interessiert Sie nicht,
wo die wirklichen Probleme der Menschen bei der Anerkennung ihrer Berufsabschlüsse sind. Vielmehr wird das
Gesetz wieder mal nur an den Stellen geändert, wo dies
gemäß EU-Vorgaben zwingend erforderlich ist, nämlich
bei der Frage der elektronischen Datenübermittlung und
den Maßnahmen zur Evaluierung des Gesetzes - nicht
mehr und nicht weniger. Das haben Sie den Ländern
aber bereits 2011 versprochen.
({5})
Deshalb sagen wir: Es ist und bleibt unverantwortlich,
dass Sie notwendige Reformen, die dringend umgesetzt
werden müssten, nicht angehen.
({6})
Es gibt immer noch keine Initiative, flächendeckend
Stipendien für die Menschen anzubieten, die für die Anerkennung ihrer Qualifikation Nachqualifizierungen brauchen. Was sollen diese Menschen machen? Sie sind gut
ausgebildet, aber zu einer guten Beschäftigung, die ihrer
Qualifikation entspricht, fehlt oftmals nur eine kurze
Fort- oder Weiterbildung.
({7})
Diese bleibt aber unerreichbar; denn sie kostet Geld, was
die Menschen nicht haben.
({8})
Für den Einzelnen bedeutet das in der Regel Arbeitslosigkeit und Abhängigkeit und in gewisser Weise auch
Erniedrigung bzw. Benachteiligung.
({9})
Für unser Land bedeutet das - das muss ich hier in Richtung der CDU/CSU unterstreichen - einen großen Verlust. Wir brauchen diese Fachkräfte dringend.
({10})
Das ist eine Binsenwahrheit, der inzwischen nicht mal
mehr die CSU widersprechen möchte - und das ist auch
gut so.
Sie verkennen in diesem Zusammenhang nicht nur
eine wichtige Integrationsmaßnahme, sondern nehmen
auch ökonomischen Schaden in Kauf.
({11})
Denn eine schnelle und unbürokratische Anerkennung
bringt nicht nur finanzielle, sondern auch soziale Anerkennung. Allein schon aus wirtschaftlicher Sicht können
wir es uns nicht leisten, dass diese hochqualifizierten
Menschen, die Zuwanderinnen und Zuwanderer, die aus
den vielfältigsten Gründen zu uns kommen, als Hilfskräfte angestellt werden und zum Teil degradiert werden. Da muss viel mehr getan werden. Da ist in der Tat
viel Luft nach oben - zu viel Luft nach oben, lieber Kollege Diaby!
({12})
Das Land Hamburg beispielsweise hat mit einem Stipendienprogramm sehr gute Erfahrungen gemacht. Auch
das Land Baden-Württemberg will diesen Weg gehen.
({13})
Ich frage einfach: Warum nicht daraus lernen und es flächendeckend einführen? Nein, der Bund prüft und prüft
und prüft und lässt die Länder alleine.
({14})
Das ist genau wie bei dem folgenden Beispiel, das ich
jetzt vortragen möchte: Das Aufenthaltsgesetz sieht eine
Verordnungsermächtigung vor, nach der der für Hochschulabsolventen vorgesehene Aufenthaltstitel der Blauen
Karte EU auch Ausländerinnen und Ausländern erteilt
werden kann, die über keinen Hochschulabschluss verfügen, aber eine mindestens fünfjährige Berufserfahrung
nachweisen können. Mit dieser simplen Verordnung
können wir erreichen, dass qualifizierte Nichtakademikerinnen und Nichtakademiker mit Erfahrung bei uns
eingesetzt werden. Aber auch hier prüfen Sie nur - in
diesem Fall das Haus von Frau Ministerin Nahles -, und
das seit Monaten. Ich sage: Hier ist keine Zeit mehr zu
verlieren, nichts mehr zu prüfen. Schreiten Sie zur Tat,
und geben Sie diesen Menschen eine Chance!
({15})
Ich hoffe, dass die angekündigte unbürokratische Anerkennung durch Qualifikationsanalysen, wenn Doku11326
mente fehlen, auch wirklich unbürokratisch umgesetzt
wird und dass das Prozedere der Anerkennung in der Tat
vereinfacht wird. Ich bin gespannt auf die Ergebnisse Ihres Projekts „Prototyping Transfer“. Und vor allem bin
ich gespannt, wie schnell das alles tatsächlich geht.
Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss.
Sie haben zu wenig getan, um die Länder vom Mehrwert
einheitlicher Verfahren zu überzeugen.
({16})
Es gibt weiterhin keine einheitlichen Kostensätze; das
haben wir gerade sogar von einem Vertreter der Regierungskoalition gehört. Wir brauchen flächendeckende
und funktionierende Strukturen bei den Anerkennungsverfahren statt eines unsäglichen und unglaublichen Zuständigkeitsgerangels. Auch beim Ausbildungszugang
für Geflüchtete oder beim Arbeitsmarktzugang für Menschen, die schon Fertigkeiten und Qualifikationen mitbringen, sind bisher von Ihnen keine Heldentaten, geschweige denn Taten zu sehen.
Deshalb wiederhole ich mich: Es sind genug der
Worte gefallen, lieber Kollege Diaby, nun wollen wir
von Ihnen - vielleicht sagt ja gleich Frau De Ridder etwas dazu - endlich Taten sehen.
({17})
Danke sehr, auch Ihnen, Herr Präsident, für die Geduld.
({18})
Nächste Rednerin ist für die CDU/CSU-Fraktion die
Kollegin Cemile Giousouf.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Aus Brüssel können dieser Tage auch gute
Nachrichten kommen. Am 10. Juni, also an dem Tag, als
der vorliegende Bericht vom Bundeskabinett beschlossen wurde, hat der Brüsseler Thinktank Migration Policy
Group eine Studie vorgestellt, in der die Integrationspolitik von 38 Ländern verglichen wurde. Nach dieser
Studie ist Deutschland in die Top Ten der besten Integrationsländer aufgestiegen.
({0})
Mehr noch: Deutschland wird inzwischen von anderen
Ländern in der Integrationspolitik als Vorbild gesehen.
Besonders gut gefiel den internationalen Forschern,
dass Einwanderer in Deutschland leicht Zugang zum Arbeitsmarkt finden.
({1})
Demnach haben 78 Prozent von ihnen Arbeit. Nur in wenigen Ländern ist die Beschäftigungsquote höher.
({2})
Vor allem aber wird unser Anerkennungsgesetz gelobt.
Dieses Gesetz habe seit 2012 die Anerkennung ausländischer Berufsabschlüsse deutlich erleichtert. Hier sei
Deutschland europaweit führend. Das, liebe Kolleginnen
und Kollegen, ist für die Politik des BMBF eine glatte
Eins!
({3})
Der eingebrachte Gesetzentwurf der Bundesregierung
zur Änderung des Anerkennungsgesetzes, den wir diskutieren, dient dazu, Vorgaben der novellierten EU-Richtlinie zur Berufsanerkennung in deutsches Recht umzusetzen. Durch die vorgesehenen Änderungen werden ein
einfacherer Zugang zur Anerkennung und raschere Verfahren ermöglicht, wodurch die Hürden für den Wechsel
in einen anderen EU-Mitgliedstaat sinken. Dies betrifft
einerseits die Einführung der Option einer elektronischen Übermittlung von Unterlagen innerhalb der EU,
und andererseits gibt es nunmehr einen einheitlichen Ansprechpartner, der das Anerkennungsverfahren betreut.
({4})
Lieber Herr Kollege Karamba Diaby, Sie haben eben
in Ihrer Rede Punkte angesprochen, die wir in der Berichterstatterrunde eigentlich schon abgestimmt hatten.
Deswegen wundert es mich, dass Sie diese Punkte hier
noch einmal aufwerfen.
({5})
Aber ich glaube, wir sind uns alle darin einig, dass wir es
einerseits geschafft haben, ein historisches Gesetz, das
hochkomplex und hochkompliziert ist, auf den Weg zu
bringen,
({6})
und dass wir andererseits natürlich Dinge noch verbessern können. Aber man muss natürlich gut unterscheiden, wer die Dinge verbessern kann. Und da möchte ich
auf Punkte eingehen, die bereits Staatssekretär Müller
angesprochen hat.
Erstens. Eine große Herausforderung liegt natürlich in
der Vereinheitlichung des Gesetzesvollzugs durch die
Länder. Mittlerweile - das ist erfreulich - gibt es in jedem Bundesland ein Anerkennungsgesetz. Allerdings
liegt die Umsetzung auch der Bundesregelungen in Länderzuständigkeit. Es gilt, diese weiter zu vereinheitlichen, beispielsweise durch die dringend benötigte zentrale Gutachtenstelle für die Gesundheitsberufe. Wir sind
sehr froh, dass sich die Länder endlich bewegen konnten, diese bei der KMK einzurichten.
({7})
Denn es kann nicht sein, dass ein ausgebildeter Mediziner für jedes einzelne Bundesland gesonderte Anträge
stellen muss, die alle unterschiedlich beschieden werden
können. So ist jedenfalls die derzeitige Rechtslage.
({8})
Die Gutachtenstelle muss selbstverständlich auch zentrale Antragstelle für ganz Deutschland sein.
Das gilt auch für den Bereich Pflege. Hier stehen wir
einerseits vor einem gravierenden Fachkräftemangel. Im
Jahr 2030 werden uns wahrscheinlich 466 000 Pflegekräfte fehlen. Dabei sind die Altenpflegeeinrichtungen
nicht berücksichtigt. Auf der anderen Seite gibt es viele
Menschen, die sich gerade mit Qualifikationen im Gesundheitsbereich bei uns vorstellen. Aber es hapert eben
an der Umsetzung vor Ort.
Vor diesem Hintergrund ist die Praxis der einzelnen
Länderbehörden, was Pflegekräfte angeht, einfach unverständlich, zum Beispiel wenn das Landesamt für soziale Dienste in Schleswig-Holstein die philippinischen
Nursing Curricula abqualifiziert oder wenn vom Regierungspräsidium Darmstadt trotz sechsjähriger Berufserfahrung ein Katalog von Anpassungsmaßnahmen
gefordert wird. Der Kern des Problems ist: Die Bedingungen für die Anerkennung scheinen oft nicht klar ersichtlich. Behörden behelfen sich dann, indem sie bei der
nächsthöheren Dienststelle nachfragen oder den Fall restriktiv behandeln. Mit dem Anerkennungsgesetz wollen
wir gerade das verhindern: Mit dem Anerkennungsgesetz wollen wir klare Bedingungen schaffen, den Bürokratieabbau fördern und es gleichzeitig als Instrument
gegen den Fachkräftemangel nutzen und ein Zeichen der
Willkommenskultur in Deutschland setzen.
({9})
Noch etwas: Es gibt leider bei den Gesundheitsberufen unterschiedliche Sprachanforderungen in den einzelnen Bundesländern. Auch das führt eben zum Anerkennungstourismus.
Der zweite Punkt betrifft den Verwaltungsvollzug in
den Länderbehörden jenseits der Gesundheitsberufe,
etwa beim Lehramt. Es ist sehr bedauerlich, dass manche
Länder, darunter auch Nordrhein-Westfalen, den Beruf
des Lehrers erst gar nicht aufgenommen haben.
Drittens. Wir haben mit dem Beratungsnetzwerk „Integration durch Qualifizierung ({10})“ sehr gute Informations- und Beratungsstrukturen aufgebaut. Ich finde es
sehr gut, dass das IQ-Netzwerk jetzt auch in Richtung
kostenloser Nachqualifizierungsangebote weiterentwickelt wird. Zudem werden verstärkt Angebote für Anpassungsqualifizierungen bei festgestellten Defiziten bereitgestellt. Wir wollen ja nicht nur, dass die Menschen
sich bei uns beraten lassen, sondern wir wollen ihnen
auch helfen, die volle Anerkennung zu erreichen, indem
sie sich ihre Qualifikationen anerkennen lassen und sich
bei fehlenden Qualifikationen nachqualifizieren.
({11})
Viertens. Als notwendige Verbesserung nennt der Bericht auch eine Vereinheitlichung der Verfahrensgebühren. Im Bericht ist von einer Varianz von einem zweistelligen Betrag bis hin zu einer vierstelligen Summe die
Rede. Da geht es natürlich auch um die unterschiedlichen Kosten der Nachqualifizierung - keine Frage.
Keine Frage ist auch, dass der Bund nicht alles dirigistisch vorgeben kann. Aber im Bereich der Kammern
sollten schon verbindliche, einheitliche Sätze erhoben
werden. Darauf, liebe Kolleginnen und Kollegen, sollten
wir tatsächlich noch mehr insistieren.
Fünftens. Es wurde auch untersucht, welche Meinung
deutsche Arbeitgeber zur Rekrutierung von Zugewanderten mit ausländischen Berufsabschlüssen haben. Lediglich etwas über 40 Prozent der Befragten kennen inzwischen die noch relativ neuen Anerkennungsregeln.
Gerade für die KMUs ist das Anerkennungsgesetz eine
gute Möglichkeit, Fachkräfte zu gewinnen. Deswegen
appelliere ich auch an meine Bundestagskollegen, in ihren Wahlkreisen mit den Betriebsräten, mit den Kammern vor Ort mehr über das Anerkennungsgesetz zu
sprechen und es noch bekannter zu machen.
({12})
Wir sprechen viel über Zahlen, Fakten und Daten,
aber eines sollten wir dabei nicht vergessen: Für die
Menschen, die aus freien Stücken zu uns kommen, aber
auch für die, die aus den Krisengebieten dieser Welt zu
uns flüchten, bedeutet die Möglichkeit zur Anerkennung
ihres Berufsabschlusses in Deutschland eine ganz wichtige Hilfestellung. Eine wachsende Herausforderung in
den kommenden Jahren wird es sein, gut qualifizierten
Flüchtlingen, die häufig ohne Papiere einreisen, den Zugang zum Arbeitsmarkt zu eröffnen. Wo formale Nachweise fehlen, können praktische Prüfungen eine gute
Lösung sein. Diese Möglichkeit bietet das Anerkennungsgesetz. Darüber bin ich sehr froh. Dass wir damit
Menschen schneller eine Möglichkeit geben, sich in unserer Gesellschaft zu integrieren, hilft der Gesamtgesellschaft.
({13})
Unsere Aufgabe ist es nunmehr, bei den Menschen mit
einer hohen Bleibeperspektive frühzeitig die berufliche
Kompetenz abzufragen. Im Pilotprojekt „Early Intervention“, bei dem BA und BAMF kooperieren, geschieht
dies bereits. Das Anerkennungsgesetz ist hierfür - das
sieht man ganz eindeutig an dieser Stelle - eben genau
das richtige Instrument.
Jetzt ist es Aufgabe - damit komme ich zum Schluss aller Beteiligten, die Anwendung der Anerkennungsre11328
gelungen weiter zu vereinheitlichen und sie im Sinne einer gelebten Willkommenskultur auszugestalten. Das
wäre im Geiste dieses Gesetzes, oder, um die Worte aufzugreifen, die mir ein Unternehmer aus meinem Wahlkreis vor kurzem sagte: Wir suchen doch händeringend
Menschen, die bei uns arbeiten. Macht uns das Leben
nicht so schwer!
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({14})
Abschließende Rednerin in dieser Aussprache ist die
Kollegin Dr. Daniela De Ridder, SPD.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
„Wings University“ heißt das Projekt, von dem mir zwei
Studierende in dieser Woche berichteten. Sie wollen
flüchtenden Menschen die Chance geben, ein Studium
aufzunehmen und mit einem Abschluss zu beenden:
ohne Kosten, ohne Zugangsvoraussetzungen, ohne Ausweispflicht. Gerade in der ungewissen und unsicheren
Situation, in der sich viele geflüchtete Menschen befinden, gibt das diesen möglicherweise einen neuen Sinn.
Beim Start im Herbst sind zunächst alle Kurse online.
Schon jetzt haben sich über 3 000 Menschen angemeldet.
Ich erwähne dieses Projekt deshalb, weil es genau
beim richtigen Punkt ansetzt: Es gibt Menschen berufliche Chancen und die Hoffnung auf eine gesicherte Zukunft. Das tut im Übrigen auch das Anerkennungsgesetz.
Auch wenn, lieber Kollege Mutlu, noch nicht alles auf
der richtigen Bahn ist und noch ein Stück Arbeit vor uns
liegt: Wir von der SPD stricken nie mit der heißen Nadel. Ich weiß, wovon ich spreche.
({0})
Vor etwas mehr als drei Jahren haben wir das Anerkennungsgesetz in Deutschland verabschiedet. Die Ziele
waren damals die gleichen wie heute. Menschen aus aller Welt, die zu uns kommen wollen oder bereits hier
sind, sollen ihre Berufsabschlüsse anerkennen lassen
können und somit in ihrem erlernten Beruf arbeiten dürfen. Es wäre ja auch absurd, liebe Kolleginnen und Kollegen: Soll eine Ärztin aus Syrien etwa nicht in Deutschland in ihrem Beruf arbeiten können? Wie ist es mit dem
Ingenieur aus Polen oder der Architektin aus Libyen? Ich weiß aus meinem Wahlkreis, der Grafschaft
Bentheim und dem Emsland, wie viel Arbeit hinter jedem erfolgreichen Antrag steckt. Das Beratungsnetzwerk „Integration durch Qualifizierung“ leistet eine hervorragende Arbeit.
({1})
Seit 2013 wurden allein bei uns 500 Beratungsgespräche
geführt. Vor so viel Engagement müssen wir uns verneigen. Ich danke jedenfalls dafür ganz ausdrücklich.
({2})
Bürgerinitiativen, Ausländerbehörden, Jobcenter und
die Kammern vor Ort haben in der Tat ein dichtes Netzwerk gebildet. Individuelle Beratung, Sprachtrainings,
Antragstellung und Jobvermittlung werden als Komplettservice angeboten. Mittlerweile, Frau Giousouf, gehen die Arbeitgeber bereits ganz gezielt auf die Beratungsstellen zu, um geeignetes Personal zu finden.
Bis Ende 2013 wurden mehr als 26 000 Anträge auf
Anerkennung gestellt. Ich finde, das ist viel zu wenig;
denn rund eine halbe Million Menschen leben in
Deutschland, deren Ausbildung nicht anerkannt ist. Das
ist eine vergebene Chance. Ja, liebe Oppositionspolitiker, daran werden wir in der Tat weiterarbeiten. Das ist
uns eine Pflicht.
({3})
Sie erinnern sich an die hervorragende Arbeit, die ich
aus meinem Wahlkreis berichtet habe? Sie wird - das
sollte uns in Staunen versetzen - von einer einzigen Frau
organisiert.
({4})
Dazu kann ich nur sagen: Chapeau!
Wenn wir mehr Menschen eine berufliche Perspektive
durch Anerkennung geben wollen, müssen wir sie über
ihre Chancen informieren. Das ist ein gewichtiger Punkt,
kostet aber Geld, und das, lieber Stefan Müller, müssen
wir auch zur Verfügung stellen: für eine bessere Ausstattung der Beratungsstellen, für mehr Personal, für mehr
Sprachkurse und vor allem für eine Absenkung der Verfahrenskosten.
({5})
Als Einwanderungsland - lassen Sie mich das als Zugewanderte sagen - müssen wir jetzt den begonnenen
Weg konsequent weitergehen. Das geht nicht allein
durch ehrenamtliches Engagement, wie etwa bei der
„Wings University“. Durch die Flüchtlingsströme wird
unsere Aufgabe nicht kleiner, aber das Potenzial wird erheblich größer.
({6})
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit und, lieber
Herr Präsident, gestatten Sie mir, den Kolleginnen und
Kollegen einen schönen, krisenarmen Sommer zu wünschen.
Vielen Dank.
({7})
Vielen Dank für diesen guten Wunsch. - Damit
schließe ich die Aussprache zu diesem Tagesordnungspunkt.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 18/5326 und 18/5200 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Weil sich keinerlei Widerspruch erhebt, gehe ich davon
aus, dass Sie alle damit einverstanden sind und die Überweisungen so beschlossen sind.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 35 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes für sichere
digitale Kommunikation und Anwendungen
im Gesundheitswesen
Drucksache 18/5293
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({0})
Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss Digitale Agenda
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
diese Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Weil sich
auch hier kein Widerspruch erhebt, gehe ich davon aus,
dass Sie alle damit einverstanden sind und dies so beschlossen ist.
Ich eröffne dann die Aussprache und erteile als erster
Rednerin der Parlamentarischen Staatssekretärin
Annette Widmann-Mauz das Wort.
({1})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Ich freue mich, dass wir als vorletzten Tagesordnungspunkt vor der Sommerpause über den Regierungsentwurf eines E-Health-Gesetzes sprechen. Es mag zwar
der vorletzte Tagesordnungspunkt sein, aber das ist eher
Understatement; denn in Wirklichkeit geht es um eines
der anspruchsvollsten IT-Projekte der Gegenwart. Manche sprechen sogar vom größten IT-Projekt weltweit,
und das, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, aus
gutem Grund; denn wir wollen in Deutschland eine umfassende Infrastruktur schaffen, die einen sicheren elektronischen Datenaustausch im Gesundheitswesen ermöglicht.
({0})
Eine solche Infrastruktur ist auch dringend nötig. Fast
alle Praxen und Krankenhäuser nutzen digitale Daten auf
hohem Niveau, und das bei rund 1,5 Milliarden Behandlungen pro Jahr. Aber wenn dann die rund 5 Milliarden
Behandlungsdokumente ausgetauscht werden müssen,
läuft das bei uns im Land meist noch per Fax oder gar
per Post. Wie schrieb die FAZ neulich so treffend über
diese analoge Insel im digitalen Zeitalter? „Gesundheit
1.0“. Das können wir uns nicht länger leisten, und das
wollen wir uns auch nicht länger leisten.
Klar ist: Wir haben kein Anwendungsproblem, aber
ein erhebliches Vernetzungsproblem, weil die Datenautobahn fehlt. Das ist so, als hätte man lauter Sportwagen,
aber nur Feldwege, auf denen man fahren kann.
({1})
Wir brauchen endlich die Autobahnen, damit die Wagen
auch zeigen können, was in ihnen steckt.
Daher stellen wir jetzt mit dem E-Health-Gesetz die
Weichen für den Aufbau einer Telematikinfrastruktur.
Wir schaffen damit Voraussetzungen für eine schnellere
und sicherere Kommunikation, für mehr Patientensicherheit und für mehr Wirtschaftlichkeit in unserem Gesundheitswesen. Es geht dabei nicht nur um Fragen besserer Kommunikation und höherer wirtschaftlicher
Effizienz. Nein, meine Damen und Herren, es geht um
bessere Medizin; denn digitale Vernetzung kann Leben
retten.
({2})
Wenn es zum Beispiel nach einem Unfall schnell gehen muss, dann soll der Arzt künftig wichtige Notfalldaten direkt von der elektronischen Gesundheitskarte abrufen können. Das geht nur mit der elektronischen
Speicherung grundlegender Daten zum Beispiel zu bestehenden Allergien oder Vorerkrankungen. Ab 2018
wird es möglich sein, wenn der Patient es wünscht, dass
diese Daten abgespeichert werden. Ärzte bekommen
dann eine Vergütung, wenn sie die entsprechenden Datensätze erstellen. Es geht also um elektronische Notfalldaten und ein modernes Versichertenstammdatenmanagement. Dafür setzt das E-Health-Gesetz Fristen fest,
setzt Anreize und legt Sanktionen fest.
In Deutschland sterben leider noch immer viel zu
viele Menschen an gefährlichen Wechselwirkungen von
Arzneimitteln. Auch hier kann und wird die digitale Vernetzung einen echten Fortschritt und einen echten Mehrwehrt bringen. Wir schaffen jetzt schnellstmöglich die
Grundlage dafür, dass ein Medikationsplan mit der elektronischen Gesundheitskarte gespeichert werden kann.
Ab Oktober 2016 soll er den Patientinnen und Patienten,
die drei oder mehr Medikamente nehmen, ausgehändigt
werden. Der Arzt kann dann direkt sehen, welche Medikamente gerade eingenommen werden, und so gefährliche Wechselwirkungen verhindern. Das hilft insbesondere älteren und allein lebenden Menschen. Uns ist
wichtig, dass ein solcher Medikationsplan mittelfristig
über die elektronische Gesundheitskarte abrufbar sein
wird.
Liebe Kollegen, digitale Vernetzung stärkt die Patienten. Wer seine eigenen Daten kennt und gelernt hat, verantwortlich damit umzugehen, der wird zum mündigen
Patienten. Die elektronische Gesundheitskarte ist der
erste Schritt zu einer elektronischen Patientenakte. Damit werden die Patienten über die Diagnose und über die
Therapie viel genauer und umfassender informiert, und
sie können auch besser in die Entscheidungsprozesse
eingebunden werden. Jeder von uns weiß: Was in gemeinsamer Entscheidung und Verantwortung gemacht
wird, ist in der Medizin am Ende erfolgreicher. Das
Stichwort „Compliance“ spielt hier eine ganz wichtige
Rolle. Außerdem werden die Zugriffsverfahren auf das
Patientenfach erleichtert, sodass Versicherte dort wichtige Dokumente, zum Beispiel einen elektronischen
Impfausweis, ablegen können. Auch das stärkt die Patientenautonomie.
({3})
Die Digitalisierung ist ein echter Fortschritt für mündige und selbstbestimmte Patienten, aber nur dann, wenn
der Datenschutz so umfassend wie möglich gewahrt ist.
Darum erfüllt die geplante Telematikinfrastruktur die
höchsten Sicherheitsstandards. Das ist der dritte große
Fortschritt dieses Gesetzes. Der Zugriff der Ärzte auf die
Daten wird protokolliert. Krankenkassen sind zur Information verpflichtet. Medizinische Daten werden verschlüsselt. Der Patient kann auch Daten löschen lassen.
Der Patient ist jederzeit Herr über seine Daten und bestimmt selbst, ob und welche medizinischen Daten gespeichert werden und wer sie lesen darf.
({4})
Das sind im Übrigen höhere Sicherheitsstandards als
bei der EC-Bankkarte, und wir werden sie noch einmal
verschärfen. Es drohen strafrechtliche Konsequenzen für
unberechtigte Zugriffe. Das ist echte Patientensouveränität. Und vor allem: Das Vertrauensverhältnis zwischen
Arzt und Patient bleibt unangetastet, und das ist das
Wichtigste. Das wollen wir auch bewahren.
({5})
Nicht umsonst hat der Präsident des BSI das EHealth-Gesetz als „Meilenstein für die IT-Sicherheit im
Gesundheitswesen“ bezeichnet. Das immer wieder zu
hörende Argument, es gebe zu wenig Datenschutz, ist
also nicht nur vorgeschoben, sondern es ist schlichtweg
falsch. Mit solchen Argumenten sind Fortschritte viel zu
lange blockiert worden. Das darf wirklich nicht mehr
sein.
({6})
Lassen Sie mich zum Schluss sagen: Mit dem EHealth-Gesetz muss jetzt der Durchbruch erreicht werden. Dazu muss auch die Selbstverwaltung ihren Beitrag
leisten. Ich habe kein Verständnis dafür, dass es zu Verzögerungen im Bewertungsausschuss kommt. Dieses interessenpolitische Klein-Klein können wir uns nicht
mehr leisten. Ich erwarte von allen Akteuren - und hier
beziehe ich die Industrie explizit mit ein -, dass sie ihren
Beitrag liefern. Ausreden, warum es immer wieder zu
Verzögerungen gekommen ist - wie wir sie in den letzten Jahren immer wieder gehört haben -, werden wir und
wollen wir nicht mehr hinnehmen. Wir werden die Sanktionen durchsetzen.
Uns ist es ernst. Wir wollen mit diesem E-Health-Gesetz einen Durchbruch erreichen. Ich werbe um Ihre Unterstützung für dieses einzigartige Projekt.
({7})
Vielen Dank, Frau Kollegin Widmann-Mauz. - Einen
schönen Nachmittag von meiner Seite, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({0})
Endspurt! Ich wünsche Ihnen noch eine schöne Stunde.
Wenn wir uns anstrengen und uns an die Zeiten halten,
dann kommen wir auch pünktlich zum Ende.
({1})
- Das hängt jetzt ganz von Ihnen ab.
Pia Zimmermann ist die nächste Rednerin für die
Fraktion Die Linke.
({2})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Mit Ihrem Gesetzentwurf verbessern Sie
nicht primär die gesundheitliche Versorgung der Patientinnen und Patienten, mit Ihrem Gesetz wollen Sie vielmehr das Gesundheitswesen stärker ökonomisieren. Das
lehnen wir als Linke grundsätzlich ab.
({0})
Welches Kernanliegen verfolgen Sie mit diesem Gesetzentwurf? Sie wollen die elektronische Gesundheitskarte und die Telematikinfrastruktur für weitere Nutzergruppen anwendbar machen. Wer diese Nutzergruppen
eigentlich sind, beschreiben Sie in Ihrem Gesetzentwurf
allerdings nur vage. Zum Beispiel sprechen Sie von
„Angehörigen der nicht-approbierten Gesundheitsberufe“ und von der „Nutzung … durch die Gesundheitsforschung“. Die Pharmaindustrie, die Arbeitgeberverbände und die Krankenversicherungskonzerne mit ihren
Gesundheitsüberwachungs-Apps reiben sich schon jetzt
die Hände.
Meine Damen und Herren, ich frage mich vor diesem
Hintergrund, wie Sie einen Gesetzentwurf „für sichere
digitale Kommunikation und Anwendung im Gesundheitswesen“ vorlegen können, bei dessen Umsetzung riskiert würde, dass hochsensible Gesundheitsdaten von
etwa 70 Millionen Menschen, die versichert sind, in die
falschen Hände gelangen. Das ist unverantwortlich!
({1})
Der euphemistische Titel Ihres Gesetzes zeigt doch, dass
Sie um diese Gefahren wissen.
Außerdem findet sich in Ihrem Gesetzentwurf kein
verlässlicher Hinweis darauf, wie und wo die Patientinnen und Patienten Zugriff auf ihre Daten haben. Sie
schreiben zwar etwas von Terminals in Arztpraxen, alPia Zimmermann
lerdings ohne Zeitplan und konkrete Vorstellungen. Ich
kann mir, ehrlich gesagt, nicht vorstellen, wie Ihr
Onlinecheckpoint beim Arztbesuch funktionieren soll;
aber Sie wissen das ja anscheinend auch nicht.
Meine Fraktion sagt deutlich: Personenbezogene Gesundheitsdaten gehören in Patientenhand und nicht in irgendwelche Daten-Clouds. Die Datenhoheit des Einzelnen muss geschützt werden.
({2})
Sie aber untergraben diesen Schutz mit Ihrer Politik;
denn Sie haben keinen Schimmer, wie die Versichertendaten, auf die von mehreren Hunderttausend Rechnern
aus zugegriffen werden kann - in Arztpraxen, Krankenhäusern und Krankenkassenverwaltungen -, dauerhaft
vor Cyberangriffen geschützt werden können. Wir erleben seit einigen Wochen, wie das Netz des Deutschen
Bundestages von Hackern angegriffen wird und es nicht
gelingt, Datenströme des Hohen Hauses zu schützen.
Und Sie sagen, dass Sie das in diesem Bereich hinbekommen? Das kann doch wirklich nicht wahr sein!
({3})
Das Fazit lautet: Solange dies nicht möglich ist, sollten wir nicht fahrlässig Patientendaten in digitale Netze
einspeisen. Datenschutz und Datensensibilität müssen
endlich zu einem politischen Gebot der Regierungspolitik werden.
({4})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, übrigens
hat diesbezüglich nicht nur die Linke akute Bedenken,
sondern auch Ihre eigene Datenschutzbeauftragte, Frau
Voßhoff. Nehmen Sie diese Kritik endlich ernst.
({5})
Sie versuchen hier, ein Gesetz auf den Weg zu bringen,
mit dem der elektronischen Gesundheitskarte irgendwie
noch ein Fundament gegeben werden soll. Das geht, wie
immer, auf Kosten der Versicherten. Ihre Gesundheitskarte hat die Versicherten bis heute über 1 Milliarde
Euro gekostet, und das ohne wirklichen Nutzen.
Ganz nebenbei führen Sie für die Versicherten, die
sich aus Sorge um ihre Daten noch nicht für die elektronische Gesundheitskarte entschieden haben - immerhin
sind das 2 Millionen Versicherte -, die Praxisgebühr
durch die Hintertür wieder ein: nicht pro Quartal, sondern pro Arztbesuch 5 Euro. Das kann doch wohl nicht
wahr sein! Ihre Repressionsmethoden sind unanständig.
({6})
Anstatt weiter mit Sanktionen Ihre Politik durchzusetzen, sollten Sie Ersatzverfahren für die Versicherten
schaffen, die für alle frei und unkompliziert zugänglich
sind.
Zusammengefasst lässt sich sagen: Die elektronische
Gesundheitskarte und die Telematikinfrastruktur verschwenden enorme Versicherungsbeiträge, ohne zu substanziellen Verbesserungen für die Beitragszahlerinnen
und Beitragszahler zu führen. Ihrem Gesetzentwurf entnehme ich nicht, wie Sie die Sicherheit hochsensibler
Gesundheitsdaten gewährleisten wollen. Sie entziehen
den Menschen das Recht, selbst frei über ihre Daten zu
entscheiden. Die Hauptnutznießer sind nicht die Patientinnen und Patienten, sondern eher die Versicherungswirtschaft und die Pharmaindustrie.
({7})
Sie setzen, wie in vielen Ihrer Gesetze, auf Sanktionen
statt auf Handlungsfreiheit und preisen das dann auch
noch als gut. Den Datenschutz nehmen Sie nicht so
ernst. Sie ignorieren die Hinweise der Interessengruppen
und - ich sage es noch einmal - Ihrer eigenen Datenschutzbeauftragten.
Die Linke empfiehlt Ihnen daher mit Nachdruck, den
Gesetzentwurf zurückzuziehen und das Projekt „elektronische Gesundheitskarte“ einzustampfen.
Vielen Dank.
({8})
Vielen Dank, Pia Zimmermann. - Nächster Redner in
der Debatte: Dirk Heidenblut für die SPD.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Eines möchte
ich gleich zu Beginn klarstellen: Wir werden natürlich
nichts zurückziehen, und wir werden auch nichts einmotten.
({0})
Ganz im Ernst: Wer angesichts einer Infrastruktur,
über die wir uns - ich bedaure das durchaus - seit über
zehn Jahren Gedanken machen - wir machen uns vor allem Gedanken über die Sicherheit -, mit dem Vorwurf
kommt, wir würden fahrlässig Gesundheits- und Patientendaten in irgendwelche Netze speisen, den kann man
nicht für voll nehmen. Das tut mir furchtbar leid, aber
das ist natürlich Kokolores. Insofern werden wir das
auch nicht tun.
({1})
Herr Kollege Heidenblut, erlauben Sie eine Zwischenfrage oder -bemerkung der Kollegin Vogler?
Bitte sehr.
Wir wollen rechtzeitig fertig werden, aber es ist Ihr
Recht, Frau Vogler.
Hätte ich Nein sagen sollen?
Nein, um Gottes Willen, ich mische mich nicht ein.
Herr Kollege Heidenblut, wir haben doch erst kürzlich im Fernsehen bewundern dürfen, wie einfach es ist,
sich mit öffentlich erhältlichen Daten aus dem Callcenter
einer Krankenkasse Zugang zu den Versichertendaten einer anderen Person zu beschaffen, sich eine falsche elektronische Gesundheitskarte ausstellen zu lassen und damit sogar auch noch Einsicht in die Rentenunterlagen zu
nehmen. Meinen Sie nicht auch, dass das zumindest ein
Anlass hätte sein können, in dieser Debatte ein bisschen
nachdenklicher aufzutreten und noch einmal zu überlegen, ob Sie da tatsächlich auf dem richtigen Weg sind?
Wenn Menschen durch betrügerische oder andere
Maßnahmen versuchen, sich Zugang wozu auch immer
zu verschaffen, dann ist das ein Anlass, darüber nachzu-
denken, wie man dafür sorgt, dass sie das a) nicht mehr
können und dass man b) ihrer entsprechend habhaft
wird, damit man sie dafür bestrafen kann.
({0})
Das ist der primäre Ansatz. Wir sagen außerdem: Wir
brauchen eine sichere, eine zuverlässige, eine geschützte
Infrastruktur. Wir erwarten natürlich von der Selbstverwaltung, und zwar von allen Beteiligten der Selbstverwaltung, dass sie das mit sicherstellen.
({1})
Genau das wird an dieser Stelle auch passieren.
({2})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, nutzen Sie eigentlich eine der Fitness- und Gesundheitsapps mit dem
Smartphone oder vielleicht mit einem dieser wunderschönen Armbänder, die man dazubekommen kann?
Speichern Sie Ihre Schritte und versuchen, Laufbewegung und Puls aufzuzeichnen, wahrscheinlich im Internet? Nein? Na gut, dann gehören Sie wahrscheinlich wie
ich zu der Spezies Mensch, die sagt: Es muss jetzt nicht
alles von mir elektronisch im Internet verfügbar sein.
Meine Pulsdaten gehen am Ende nur mich etwas an. Aber wenn Sie das nutzen wollen, dann können Sie das.
Vielleicht gehören Sie zu den Menschen, die leider
unendlich viele Medikamente nehmen müssen und gerne
sichergestellt haben würden, dass sie den Medikamentenplan in einer vernünftigen Struktur in der Hand haben
- nicht nur in der Hand, sondern nach Möglichkeit auch
auf elektronischen Medien -, dass die Daten aktuell sind
und dass, egal zu welchem Behandler Sie kommen,
Fehlmedikationen und Fehlbehandlungen - die Staatssekretärin hat das angesprochen - ausgeschlossen werden
können, weil der Arzt weiß, was Sie nehmen und Ihnen
das Richtige dazu verordnen kann. Wenn Sie sich dies
wünschen, muss ich Ihnen sagen: Das ist leider nicht
möglich.
Genau das will das Gesetz verändern. Wir wollen sicherstellen, dass Sie die Hoheit über Ihre Daten bekommen und dass solche Dinge in Zukunft für alle Beteiligten möglich werden.
({3})
Denn gerade für mehr Patientensicherheit, für mehr Hoheit über die eigenen Daten und für mehr Nutzung telemedizinischer Möglichkeiten - auch das gehört dazu;
das ist ja kein Frevel - ist es dringend nötig, dass die seit
Jahren angekündigte IT-Gesundheitsstruktur endlich in
Schwung kommt. Wir haben das übrigens schon im Koalitionsvertrag festgehalten, leider mit ein wenig dürren
Worten; aber der Minister hat daraus gleich ein recht
umfangreiches und, wie ich finde, zielführendes Gesetz
entwickelt.
({4})
Nun will ich hier keineswegs die Entwicklung von
Apps mit unserer komplexen Telematik auf die gleiche
Ebene stellen, nein, wegen der von uns zwingend zu sichernden geschützten und zuverlässigen Infrastruktur,
dem deutlich höheren Maß an Datenvolumen und am
Ende natürlich auch an echten Gesundheitsleistungen ist
das unmöglich. Aber die Apps machen deutlich: Es gibt
viele, die so etwas gerne nutzen würden, auch für die eigene Gesundheit, und es gibt eigentlich keinen Grund,
warum das eine im Monats-, Wochen- oder Tagesrhythmus problemlos aktualisiert und vorgelegt werden kann
und das andere - ich sage das einmal freundlich - nach
etwas mehr als einem Jahrzehnt noch nicht so ganz aus
den Puschen gekommen ist. Deswegen müssen wir dem
einen Schub verleihen. Das tun wir mit diesem Gesetzentwurf an mehreren Stellen. Ich will drei davon kurz
ansprechen.
Erstens: die elektronische Gesundheitskarte. Ich weiß,
dass man sie als Politiker nicht so gerne anspricht, weil
man dann häufig gesagt bekommt: Da habt ihr uns ja
eine schöne Karte mit Bild beschert. - Aber so ist es
eben nicht. Sie ist eine Karte, die den Schlüssel zu einem
sicheren Gesundheits-IT-System und die für den Patienten und die Patientin den Schlüssel zur Hoheit über die
eigenen Daten darstellt.
({5})
Natürlich bilden das Notfalldatenmanagement und der
Medikationsplan, die im Gesetzentwurf vorgesehen sind,
insgesamt ganz sicher noch keine elektronische Patientenakte; aber wir sind jetzt konsequenter auf dem Weg
dorthin.
Zweitens: die Telematikinfrastruktur; auch sie wurde
schon angesprochen. Auf diesem Wege werden Daten in
Zukunft sicher über ein Netz übertragen. Die Testphasen
laufen an. Ich bin sicher, sie werden nächstes Jahr erfolgreich abgeschlossen. Dann muss natürlich definiert
werden: Wer darf was wie tun? Im vorliegenden Gesetzentwurf wird dafür ein vernünftiges Reglement vorgegeben. Dazu gehört, dass wir über Interoperabilität, also
über vernünftige Standards, und über Zugangsmöglichkeiten reden müssen. All diese Punkte beinhaltet unser
Gesetzentwurf.
Drittens - last but not least - ein Wort zur Telemedizin. Ja, Telemedizin kann eine Menge bewirken. Darauf
setzen wir, auch im Hinblick auf die Versorgungsstärkung. Wir setzen auch darauf, wenn es um moderne und
aktuelle Behandlungsmöglichkeiten geht. Eines ist doch
völlig klar: Wenn das Ganze nicht geregelt ist - das gilt
für die Nutzenbewertung genauso wie für die finanziellen Konsequenzen, die daraus erwachsen -, dann werden
wir die möglichen Weiterentwicklungen an dieser Stelle
nicht hinbekommen. Auch hierzu enthält unser Gesetzentwurf Regelungen.
Ich gebe zu: Das ist ein Punkt, an dem man sagen
kann: Darüber, ob die Beschränkung auf den Röntgenbereich die richtige Zielsetzung ist, kann man ja noch einmal reden.
({6})
Dass im Gesetzentwurf eine Regelung getroffen wurde,
ist aber richtig. Außerdem werden viele Fragen zur
Kommunikation und zu anderen Aspekten angesprochen, die uns ganz sicher nach vorne bringen werden.
Im Gesetzentwurf geht es auch um Sanktionen. Aber
die Sanktionen - das haben Sie ein wenig unterschlagen - richten sich im Zweifel gegen die Partner, die das
Ganze nicht weiter voranbringen, also zum Beispiel gegen die Ärzteschaft, gegen die KVen, gegen die gesetzlichen Krankenversicherungen. Was aus Sicht der Linken
so fürchterlich daran ist - wir wollen einen Schub leisten, damit das Ganze im Interesse der Patienten endlich
vorankommt -, kann ich nicht ganz nachvollziehen.
({7})
Abschließend: Ich finde, unser Gesetzentwurf ist gut
und zielführend. Vielleicht geht er an einigen Punkten
nicht weit genug - daran kann man ja noch arbeiten -,
und einige Fristansätze - auch daran kann man noch arbeiten - sind vielleicht etwas zu weit gefasst. Ich freue
mich, dass wir weiter an diesem Thema arbeiten, und
hoffe, dass wir das alle zusammen konstruktiv tun.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({8})
Vielen Dank, Kollege Heidenblut. - Nächste Rednerin
in der Debatte: Maria Klein-Schmeink für Bündnis 90/Die
Grünen.
Liebe Präsidentin! Liebe Kollegen! Anders als die
Linke begrüßen wir die Vorlage dieses Gesetzentwurfs,
({0})
weil wir meinen: Zehn Jahre nachdem die Gesundheitskarte im SGB V verankert wurde, müssen wir endlich
entscheidende Schritte vorwärts machen, und zwar hin
zu einer sicheren digitalen Kommunikation im Gesundheitswesen.
Ich muss sagen: Ich habe relativ wenig Verständnis
für die Position der Linken. Denn normalerweise treten
wir gemeinsam dafür ein, dass es in den Bereichen, die
für die gesamte Gesellschaft grundlegend sind, so etwas
wie eine öffentliche Infrastruktur gibt. Genau das soll
hier auf den Weg gebracht und vorangetrieben werden.
Es geht um eine sichere öffentliche Telematikinfrastruktur für das Gesundheitswesen mit der eG-Karte als
Schlüssel bzw. Zugang dazu. Das, muss man sagen, ist in
unserer heutigen Gesellschaft, die durch IT geprägt ist,
ein öffentlicher Auftrag. Von daher kann ich Ihre grundsätzliche Verweigerung an dieser Stelle nicht verstehen.
({1})
Im Gegenteil: Wir müssten ungeduldiger sein. Wir
müssten fragen, wie es sein kann, dass wir zehn Jahre
gebraucht haben, um voranzukommen, und warum wir
die entscheidenden Schritte noch nicht gemacht haben.
Vielmehr stecken wir in einem Innovationsstau, der dazu
führt, dass es im gesamten Gesundheitswesen mittlerweile viele graue Nebenlösungen gibt, die nicht den hohen Standards entsprechen, die in den entsprechenden
Gremien erarbeitet wurden und immer wieder beschworen werden, die aber in der Gesellschaft bzw. bei der Anwendung im Grunde überhaupt noch nicht zum Tragen
kommen. Da müssen wir vorankommen. Darum muss es
gehen.
({2})
Ich glaube, dass das Bild von der Autobahn und den
Autos insofern verstaubt ist, als wir uns längst in einer
ganz anderen Dimension befinden. Diese wird am besten
durch die Fortschritte in der Telemedizin beschrieben.
Es geht einerseits darum, die Leistungserbringer besser
als heute miteinander zu vernetzen, und es geht andererseits darum, sicherzustellen, dass der Versicherte bzw.
der Patient tatsächlich seine Autonomie bei diesem Austausch von Daten wahren kann. Das sind die großen Herausforderungen, die wir zu stemmen haben. Wir sind
aber eigentlich zehn Jahre zu spät. Das sage ich an die
Linken gewandt.
({3})
Trotz der Tatsache, dass viele richtige Dinge im Gesetz stehen und in dem Sinne auch die Telematikinfrastruktur ein Stück weit vorangebracht wird, muss man
sagen: Es gibt eine große Lücke. Diese hat damit zu tun,
dass die Position der Patienten und der Versicherten, was
ihre Zugriffsrechte auf die eGK und den Austausch von
Informationen angeht, noch nicht entscheidend gestärkt
wird. Das wiederum hat damit zu tun, dass sie nach der
jetzigen Konstruktion eigentlich keinen wirklichen Anwalt haben. Auch die Gematik und die Bundesregierung
erfüllten diese Aufgabe nicht. Das muss man an dieser
Stelle einmal sagen. Da müssen wir nachlegen.
({4})
Ich meine, wir sollten auch gezielt darüber nachdenken, ob es nicht so etwas wie die Einbeziehung der Patientenorganisationen in dieses Setting geben muss, damit
die patienten- bzw. versichertenbezogenen Anwendungen berücksichtigt werden. Dabei geht es darum, dass
die Patienten selbst wirklich entscheiden kämen: Wer
hat Zugriff auf welche Daten? Welche macht man im
E-Kiosk öffentlich und welche nicht? Es sollte dafür gesorgt werden, dass das überhaupt vorangebracht wird.
Von daher wäre das, meine ich, ein wichtiger Punkt, der
im Gesetzgebungsverfahren eine Rolle spielen sollte.
({5})
Ich komme zu einer weiteren großen Lücke. Sie betrifft die Einbeziehung anderer Dienstleister, die im ITBereich überhaupt nicht zu vermeiden ist. Wie stellen
wir sicher, dass sich diese Dienstleister wirklich an die
hohen Anforderungen des Sozialdatenschutzes halten?
Wie stellen wir sicher, dass die Daten nicht in irgendeiner Weise woandershin abfließen? Wie stellen wir sicher, dass, wenn beispielsweise eine Firma pleitegeht,
die Daten nicht Gegenstand anderer Verfahren werden?
Wir brauchen also ein Nachsteuern beim Sozialdatenschutz, gerade auch was die von außen agierenden
Dienstleister anbelangt. Auch das ist aus meiner Sicht
bisher nicht im Gesetz enthalten. Da muss nachgeliefert
werden.
({6})
Die Gesundheits-Apps wurden schon angesprochen.
Auch da hat sich ein breiter Markt entwickelt. Die Techniker Krankenkasse hat jetzt gerade eine Studie vorgelegt. Danach gibt es fast 400 000 gesundheitsbezogene
Apps. Niemand aber weiß, ob sie wirklich sicher sind,
ob die Ergebnisse, die dort vielleicht nur vorgetäuscht
werden, tatsächlich haltbar sind. Und es ist die Frage, ob
sie in der Telemedizin Anwendung finden sollten. Auch
dazu fehlt bisher jegliche Regelung, die dazu führen
könnte, dass wir es schaffen, diese externen Angebote
bestimmten Sicherheits-, aber auch Produkt- und Qualitätsstandards zu unterwerfen. Auch das muss passieren.
Ich glaube, das sind die großen Herausforderungen,
die durch dieses Gesetz bisher noch nicht bewältigt werden. Von daher bin ich gespannt, wie die Debatte im
Herbst weitergehen wird.
Danke schön.
({7})
Vielen Dank, Maria Klein-Schmeink. - Nächste Rednerin ist Dr. Katja Leikert für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Liebe Gäste! Vor anderthalb Jahren hat der
Gesundheitsausschuss seine Arbeit aufgenommen. Da
war mit Blick auf die Digitalisierung im Gesundheitswesen noch keine größere Bewegung abzusehen. Wenn
Frau Zimmermann - wir haben ihr ja gerade zugehört hier regieren würde, würde sich auf diesem Gebiet auch
weiterhin gar nichts tun. Dann gäbe es - vor lauter Rückwärtsgewandtheit, die Sie hier an den Tag gelegt haben bestimmt auch keinen elektronischen Bankenverkehr.
({0})
Insofern ist es ein ganz großes Verdienst von Bundesminister Gröhe und Staatssekretärin Annette WidmannMauz, das Thema aufgenommen und hierzu schnell einen Gesetzesentwurf vorgelegt zu haben. Die Dynamik,
die hier ausgelöst wurde, ist wirklich phänomenal - an
Ihnen etwas vorbeigegangen -: E-Health ist in aller
Munde. Jeder, der die leider unrühmliche Historie der
eGK kennt, weiß, dass das ein ganz wichtiger Schritt
war, vor allem mit Blick auf die Versorgung der Menschen.
Die elektronische Gesundheitskarte, die wahrscheinlich viele von Ihnen im Portemonnaie haben, kann - das
wissen Sie auch - nicht besonders viel bisher, die „weiß“
in der Regel, wo Sie wohnen und bei welcher Krankenkasse Sie versichert sind. Darüber hinaus beinhaltet sie
neuerdings auch ein Foto zur Identifizierung; aber sonst,
wie gesagt, hat sie keine weitere Anwendung.
Wenn wir uns weiter in unserem Gesundheitswesen
umschauen, dann stellen wir fest, dass auch viele andere
wichtige Dokumente noch in Papierform vorliegen.
Vielleicht kennen Sie die Kampagne der Bundeszentrale
für gesundheitliche Aufklärung „Deutschland sucht den
Impfpass“, wo jemand auf der Suche nach dem Impfpass
in den Umzugskarton klettert. Das ist das, was wir nicht
wollen. Wir wollen, dass die Menschen ihre Impfpässe
nicht mehr suchen müssen, sondern diese Daten langfristig vom Smartphone beispielsweise oder am Computer
daheim abrufen können. Das ist das, was wir - Frau
Klein-Schmeink hat es angesprochen - unter Patientensouveränität auch verstehen.
Frau Kollegin, entschuldigen Sie bitte: Erlauben Sie
eine Zwischenfrage oder -bemerkung von Frau Vogler?
Ja, gern.
Vielen Dank, Frau Kollegin, dass Sie meine Zwischenbemerkung zulassen. - Ich konnte jetzt nicht mehr
anders, weil ich finde, der Impfpass ist nun wirklich ein
ausgesprochen blödes Beispiel für eine mögliche nutzbringende Anwendung der elektronischen Gesundheitskarte. Den Impfpass benötigt nämlich nicht nur der, der
bei einer gesetzlichen Krankenkasse versichert ist, sondern auch, wer privat versichert ist. Man benötigt ihn
nicht nur in Deutschland, sondern vor allem auch, wenn
man ins Ausland reist. Da nützt es überhaupt nichts,
wenn die Daten in Deutschland in einer elektronischen
Telematikinfrastruktur gespeichert sind. Damit kann
man in anderen EU-Ländern und erst recht im ferneren
Ausland überhaupt nichts anfangen.
Es handelt sich aber um wichtige Dokumente, um Urkunden, in denen ein Arzt mir bescheinigt - das muss ich
in manchen Ländern bei der Einreise belegen -, dass ich
gegen bestimmte Krankheiten geimpft bin. Von daher ist
es wirklich ein untaugliches Beispiel.
({0})
Ich denke mal, die Frage spricht für sich selbst. Wenn
wir uns gerade die Masernepidemie vor kurzem hier in
Berlin vor Augen führen, bin ich mir nicht sicher, ob jeder über seinen Impfstatus auf dem Laufenden ist und ob
dieses Heftchen, das so aussieht, als ob es aus den 70erJahren stammt, wirklich noch ein aktuelles Medium ist,
um sich über den eigenen Impfstatus zu informieren. Insofern kann ich Ihre Argumentation nicht teilen.
({0})
Es geht dabei nicht nur darum, dass Dokumente in
elektronischer Form vorliegen sollen, sondern es geht
auch um telemedizinische Anwendungen. Sie wissen,
dass wir hier auch untermotorisiert sind. Wir haben aber
eine Verantwortung für chronisch kranke Menschen. In
Brandenburg gibt es in einigen Regionen Projekte zur
Überwachung von Menschen mit chronischer Herzinsuffizienz. In meiner Region, im Main-Kinzig-Kreis, gibt es
so etwas nicht. Viele dieser Telemedizinprojekte, wie im
Bereich Schlaganfall, zeigen einen echten Versorgungsnutzen für die Menschen. Die Menschen müssen weniger
oft ins Krankenhaus, es entstehen weniger Komplikationen und sogar weniger Todesfälle. Vielleicht stimmen
wir wenigstens in dem Punkt überein, dass Telemedizin
ein großer Segen sein kann und wir dafür die Telematikinfrastruktur und auch die elektronische Gesundheitskarte brauchen.
({1})
Das sind nur ganz wenige Beispiele dafür, warum die
Digitalisierung unseres Gesundheitswesens Sinn macht.
Annette Widmann-Mauz hat schon ausgeführt, was
der Gesetzentwurf im Detail vorsieht. Der schnelle Aufbau der Telematikinfrastruktur ist wichtig, damit es ein
sicheres Netz gibt. Die Anwendungen wurden schon
skizziert.
Dass wir uns natürlich noch ein paar andere Dinge
vorstellen können, haben wir an unterschiedlicher Stelle
schon debattiert. Ein ganz zentraler Punkt für uns ist das
Thema Interoperabilität. Wir finden, dass wir viel von
dem übernehmen können, was schon vorhanden ist. International etablierte Standards für das gesamte System
verbindlich festzulegen, macht aus unserer Sicht wirklich Sinn.
Daneben haben wir schon viele andere Anwendungen
besprochen, vom E-Rezept - das ich ganz praktisch
finde - über den E-Mutterpass bis hin zu den Heften für
die Untersuchungen der Kinder; das alles könnte in elektronischer Form vorliegen.
Ganz wichtig ist auch, dass auf der elektronischen
Gesundheitskarte - ich bin Berichterstatterin für das
Thema Organspende - auch die Organspendebereitschaft vermerkt werden kann. Dieses Thema liegt mir
sehr am Herzen, und ich setze mich gerne dafür ein.
({2})
Daneben sind weitere Abrechnungsziffern im Bereich
der telemedizinischen Anwendung wichtig. Herr
Heidenblut hat das ja schon auf den Punkt gebracht.
Das Herzstück dieses ganzen E-Health-Komplexes
und unserer Strategie sollte natürlich die elektronische
Patientenakte sein, damit die Menschen einen autonomen Zugriff auf ihre Daten haben. Das ist sehr zentral
und momentan noch nicht der Fall.
Ein weiterer wichtiger Punkt - ich möchte das EHealth-Gesetz aber nicht überfrachten; das ist wahrscheinlich eher etwas für E-Health II - ist die Versorgungsforschung. Auch wenn es um diesen Bereich geht,
müssen wir dringend - das sollten wir im nächsten Jahr
tun - über Big Data sprechen, und wir müssen uns darüber unterhalten, wie wir die Versorgungsforschung in
Deutschland verbessern können. Es nutzt ja nichts, die
ganzen Daten zu erfassen und dann keine langfristigen
Studien durchführen zu können. Es gibt Daten, die bei
den Krankenkassen lagern, und keiner kann sie verwenden. Das halte ich, ehrlich gesagt, für einen mittelgroßen
Skandal.
({3})
Abschließend - die Präsidentin hat mir ein Zeichen
gegeben - noch ein eindringlicher Appell an die Selbstverwaltung - ich habe mit vielen Akteuren gesprochen;
an manchen Stellen gibt es aber noch ein gewisses Beharrungsvermögen -: Ich wünsche mir, dass man sich
von höchster Stelle aus - alle, die in der Selbstverwaltung Verantwortung tragen - um das Change Management, das wir brauchen, kümmert. Es liegt auf der Hand,
welchen Nutzen die Digitalisierung in unserem Gesundheitswesen hat. Hier sind alle gefordert.
Herzlichen Dank.
({4})
Vielen Dank, Frau Kollegin Dr. Leikert. - Nächster
Redner: Dr. Edgar Franke für die SPD.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Die medizinische Kommunikation - wir haben
es eben mehrfach gehört - muss endlich in das digitale
Zeitalter überführt werden. Mancher Arzt zeigt mir zwar
immer noch stolz seinen Zettelkasten aus Holz und sagt,
das sei der beste Datenschutz, aber ich glaube, diese
Form der Datenaufbewahrung sollte endlich der Vergangenheit angehören.
({0})
Wir brauchen vielmehr eine zentrale Infrastruktur und
eine sichere und zuverlässige Kommunikation, und vor
allen Dingen brauchen wir keine Ärzte, die darüber meckern. Ich glaube, das ist auch ganz wichtig.
({1})
Frau Klein-Schmeink, auch wenn Ihnen das Bild der
Datenautobahn nicht gefällt,
({2})
glaube ich schon, dass dieses Bild klarmacht, dass wir
hier eine Autobahn brauchen und auch ein Stück weit,
um im Bild zu bleiben, aufs Gaspedal drücken müssen.
Wenn ich die Frau Staatssekretärin richtig verstanden
habe, dann hat sie gesagt, dass wir auf jeden Fall keine
Feldwege brauchen. Auch das ist sicherlich richtig. Das
werden wir mit dem E-Health-Gesetz erreichen.
({3})
Wir forcieren jetzt die Telematik und öffnen sie vor
allen Dingen für weitere Leistungserbringer. Alle Kostenträger müssen auf die Daten zugreifen können.
Wir reden ja immer davon, dass wir die sektorenübergreifende Versorgung stärken wollen. Liebe Linken,
wenn man sektorenübergreifend zusammenarbeitet,
kann man Daten erhalten, durch die die Qualität der Versorgung erhöht wird. Gerade dadurch verbessern wir
also die sektorenübergreifende Versorgung. Deswegen
verstehe ich eure Bedenken nicht.
({4})
Wir haben es schon mehrmals gehört: Wir sind seit
zehn Jahren dabei. Es ist also schon eine gewisse Zeit
vergangen. Ulla Schmidt hat das Projekt maßgeblich
eingeführt. Man darf das gar nicht so laut sagen, aber wir
haben, glaube ich, schon - Frau Leikert, Sie sind die Berichterstatterin - über 1 Milliarde Euro dafür ausgegeben.
({5})
Insofern muss es mit dem Gasgeben jetzt wirklich mal
losgehen.
Wir haben schon verschiedene Stichworte gehört. Einige will ich noch einmal nennen: Notfalldaten - dadurch wird die Versorgung verbessert -, Organspendebereitschaft und sichere Kommunikation zwischen den
Leistungserbringern.
Wir schaffen mit diesem Gesetzentwurf auch Klarheit: Wir setzen klare Fristen - das hat Herr Heidenblut
schon gesagt - und sehen klare Sanktionen vor. Wenn
man ein System implementieren und ihm zum Erfolg
verhelfen will, dann braucht man nämlich auch Sanktionen. Ansonsten macht jeder, was er will. Außerdem erhalten die Ärztinnen und Ärzte Geld für die IT-Dienstleistungen. Ich glaube, das ist in dem Gesetzentwurf
ordentlich und sachgerecht geregelt, Frau Staatssekretärin.
Davon werden alle profitieren. Davon werden nicht
nur die Patienten profitieren, sondern auch die Leistungsträger. Auch die Krankenkassen werden davon profitieren. Insofern kann ich die Bedenken nicht verstehen.
Wir dürfen eines nicht vergessen: Die Selbstverwaltung, vor allen Dingen auch die Kassenärzte, haben teilweise ganz bewusst Parallelstrukturen aufgebaut. Es
wurde lange gestritten. Es wurde blockiert; Herr
Heidenblut nickt. Es wurde die Einführung behindert.
Was mich auch immer geärgert hat - da habe ich manchmal wirklich einen Hals wie eine Kobra bekommen -,
war, dass der Datenschutz als ein Grund vorgeschoben
wurde. Um den Datenschutz ging es aber nicht. Um was
ging es? Es ging um handfeste wirtschaftliche Interessen
und um Egoismen. Diese haben die Einführung verhindert, nichts anderes, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({6})
Ich habe mich sehr gefreut - um auch einmal die organisierte Ärzteschaft zu loben -, dass Herr Dr. Gassen,
als er bei uns im Gesundheitsausschuss war, mehrfach
erklärt hat, dass zum Beispiel auch Schnittstellen zum
KV-SafeNet geschaffen werden sollen und dass wir statt
der Parallelstrukturen diese neue Infrastruktur in unser
System integrieren müssen.
({7})
Über die Zusage des KBV-Chefs Gassen habe ich mich
sehr gefreut. Ich hoffe, das wird klappen. Aber ich bin
sicher, dass er zu seinem Wort steht und dass wir es
schaffen, ein einheitliches System zu bekommen. Wir jedenfalls schaffen jetzt die Grundlagen dafür.
({8})
Ich möchte auch noch sagen: Wir sorgen dafür, dass
die Daten sicher sind. Herr Schaar, der Datenschutzbeauftragte der vorigen Bundesregierung, ein Mensch, der
wirklich ganz genau hinschaut, hat immer gesagt: Die
Daten sind sicher. Das ist eines der sichersten Systeme,
das es in der Gematik gibt. Da müssen wir keine Angst
haben.
({9})
Ich möchte zum Schluss einen weiteren Punkt ganz
kurz ansprechen; ganz kurz deshalb, weil Telemedizin
bei uns schon lange ein Thema ist. Telemedizin ist gerade bei der gesundheitlichen Versorgung auf dem Land
ein wichtiges Thema, das Innovationen mit sich bringt.
Es führt letztlich zu einer Verbesserung der Versorgung,
weil Patientinnen und Patienten mithilfe der Telemedizin
von der Praxis aus in ihrer häuslichen Umgebung betreut
werden können. Der persönliche Arzt-Patienten-Kontakt
ist zwar wichtig, aber manchmal geht das auf dem Land
nicht. Die Technik erleichtert hier die Betreuung.
Über Videokonsultationen und auch technische Assistenz für nichtärztliches Personal können wir im Rahmen
des Innovationsfonds sprechen.
Aber das machen wir nicht heute.
Ich komme zum Schluss. - Im Bereich Telemedizin
und auch im digitalen Bereich der Gesundheitswirtschaft
dürfen wir die Zukunft nicht verschlafen; die Gefahr besteht nämlich. Da gibt es riesige Potenziale für Innovationen in der Versorgung von Patienten. Der Einsatz
- Frau Präsidentin, mein letzter Satz - von digitaler Informationstechnologie verbessert nicht nur die Qualität
der Versorgung, sondern sichert auch den Wirtschaftsstandort Deutschland und ist von herausragender Bedeutung. Insofern ist das ein wirklich gutes Gesetz und
bringt Deutschland voran. Mit diesem Gesetz wird alles
gut.
Ich danke Ihnen.
({0})
Danke, Herr Kollege Franke. - Wir im Präsidium waren uns etwas unsicher. Sie haben gesagt, Sie bekämen
einen Hals wie wer? Wir haben nicht verstanden, was
danach kam.
({0})
- Wir haben gedacht, wie ein Truthahn. Aber okay.
({1})
Gut, da wir haben wieder etwas gelernt: 400 000 Apps
und die Sache mit dem Kobrahals. - Letzter Redner in
dieser Debatte: Maik Beermann für die CDU/CSU-Fraktion.
({2})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich bin sehr
froh, dass ich nicht nur in einer innovationsfreundlichen
Partei mitarbeiten darf, sondern bei diesem Thema auch
in einer innovationsfreundlichen Koalition.
({0})
- Stopp, Frau Klein-Schmeink, auch Sie möchte ich
noch loben. - Dass auch Sie von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen sich gemeinsam mit der Koalition bei
diesem entscheidend wichtigen Zukunftsthema auf den
Weg gemacht haben, macht Spaß. Da arbeiten wir alle
gemeinsam an einer guten Sache. Vielen Dank dafür!
({1})
Die Digitalisierung revolutioniert unser Leben. Die
Digitalisierung revolutioniert unsere Arbeit, die Industrie und die Landwirtschaft. Aber die Digitalisierung revolutioniert auch unser Gesundheitssystem. Lieber Kollege Heidenblut, ich bin einer von denen, die eine solche
App nutzen. Ich bin gestern - das habe ich mir extra aufgeschrieben - 6 583 Schritte gegangen.
({2})
- Mehr geht immer; da bin ich bei Ihnen. Aber ich war
schon darauf stolz. Woher ich das weiß, ist klar: Mein
Smartphone hat die Schritte mitgezählt und mir dann
diese Info gegeben.
Wahrscheinlich nutzen viele von Ihnen auch solche
Gesundheits-Apps oder andere Innovationen, die es
mittlerweile gibt, beim Joggen oder wie auch immer.
Fakt ist: Mehr als 40 Millionen Menschen in Deutschland nutzen das Internet und Apps, um sich über das
Thema Gesundheit zu informieren. Die Menschen warten förmlich jeden Tag auf digitale Anwendungen, die
ihnen das Leben erleichtern.
Der vorliegende Gesetzentwurf für sichere digitale
Kommunikation und Anwendungen im Gesundheitswesen gibt aus meiner Sicht genau den richtigen Impuls.
Ich danke Gesundheitsminister Gröhe und Frau Staatssekretärin Widmann-Mauz, dass sie sich durchgesetzt und
gemeinsam auf den Weg gemacht haben, einen Gesetzentwurf zum Thema Digitalisierung vorzulegen. Das ist
der erste Gesetzentwurf dazu, den wir im Bundestag diskutieren. Frau Widmann-Mauz, nehmen Sie das Dankeschön gerne mit ins Ministerium. Ich bin auf jeden Fall
von dem Gesetzentwurf überzeugt. Vielen Dank dafür!
Als ich vor ein paar Wochen ein Seniorenheim in meinem Wahlkreis in Bückeburg im Landkreis Schaumburg
besucht und unter anderem über die elektronische Gesundheitskarte und ihre zukünftigen Funktionen sowie
die allgemeine Digitalisierung im Gesundheitswesen referiert habe - ein Thema war unter anderem das Speichern gesundheitsrelevanter Daten -, war die Frage
nicht, ob das Ganze auch sicher sei. Die erste Frage der
immerhin 70 bis 80 anwesenden Seniorinnen und Senioren war vielmehr: Wann wird es das denn endlich geben?
So spürt man, dass dieses Thema auch bei einer Generation, bei der man es nicht vermutet hätte, den Punkt erreicht hat, dass man einen Mehrwert erkennt. Man geht
nicht unbedingt davon aus, dass sich gerade unsere ältere
Generation dafür begeistert.
Zudem ermöglicht E-Health gerade im ländlichen
Raum, wo auch ich herkomme, eine bessere, sicherere,
optimierte und zugleich kosteneffizientere Versorgung,
indem zum Beispiel dort, wo Fachärzte fehlen, Kollegen
über Telemedizin zugeschaltet werden können.
Digitale Vernetzung bedeutet aber nicht nur schnellere Kommunikation, sondern es geht auch um einen
handfesten medizinischen Nutzen. Sie haben es angesprochen, Frau Widmann-Mauz: Mit jederzeit abrufbaren elektronischen Notfalldaten stehen dem Arzt in einem Notfall alle wichtigen Daten sofort zur Verfügung.
Das kann nicht nur, sondern - davon bin ich überzeugt wird auch Leben retten.
Meines Erachtens ist es unsinnig, sich der Digitalisierung im Gesundheitswesen entgegenzustemmen. Viel
besser wäre es, diesen Prozess konstruktiv und da, wo es
notwendig ist, auch kritisch zu begleiten und mitzugestalten.
Kritisch muss ich an dieser Stelle aber anmerken, dass
ich im Gesetzentwurf die elektronische Patientenakte
vermisse. Ich bin kein Gesundheitspolitiker, sondern
Netzpolitiker. Deswegen sei mir dieser Einwand gestattet.
({3})
Wir sollten die nächsten Wochen und Monate intensiv
nutzen, um zu prüfen, wie wir die elektronische Patientenakte noch im Gesetzentwurf implementieren können.
Aber ich finde es gut - Sie haben es gesagt, Frau
Widmann-Mauz -, dass wir uns auf den Weg machen
wollen.
({4})
Wenn wir uns auf den Weg machen, ist es aber entscheidend, dass die Patientinnen und Patienten ein Recht darauf bekommen, ihre Patientendaten in strukturierter und
aufbereiteter elektronischer Form zu erhalten.
Ebenso wichtig ist aber, dass im Zuge der Fertigstellung der Telematikinfrastruktur auch ein offizielles und
einheitliches Datenformat für die elektronische Patientenakte festgelegt wird. Sonst verlieren wir viel zu viel
Zeit. Das ist von entscheidender Bedeutung.
Eine solche Anpassung würde im Zusammenspiel mit
konkreten Regelungen für die Einführung einer elektronischen Patientenakte im System der gesetzlichen Krankenversicherung unser Gesundheitssystem in ein neues
digitales Zeitalter der Gesundheitsversorgung befördern.
Die Vorteile liegen auf der Hand: Steigerung der Effektivität und Qualität bei der Behandlung.
Vernetzung, Telemedizin, neue Therapien und Datenschutz: Das ist die digitale Revolution im Gesundheitswesen. Lassen Sie uns diesen Weg gemeinsam gehen.
Abschließend möchte ich feststellen, dass ich mir sicher bin, dass wir in diesem Bereich noch einiges erreichen werden. Als Mitglied des Ausschusses Digitale
Agenda freue ich mich aber besonders, dass ich heute als
letzter Redner dieser Debatte die Möglichkeit hatte, zu
dem Thema zu sprechen. Ich möchte Ihnen zurufen: Lassen Sie uns das Gesundheitswesen gemeinsam vernetzen: jetzt und sicher!
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. Ich wünsche
Ihnen allen eine erholsame und schöpferische parlamentarische Sommerpause.
({5})
Vielen Dank, Herr Kollege Beermann. Das wünschen
wir Ihnen auch, das Schöpferische und das Erholsame.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 18/5293 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
anderweitige Vorschläge dazu? - Das ist nicht der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 34 a und 34 b
auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Pia
Zimmermann, Harald Weinberg, Sabine
Zimmermann ({0}), weiterer Abgeordneter
und der Fraktion DIE LINKE
Bürgerinnen- und Bürgerversicherung in der
Pflege - Solidarische Pflegeversicherung einführen
Drucksache 18/5110
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({1})
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Gesundheit ({2}) zu dem Antrag der Abgeordneten Harald
Weinberg, Birgit Wöllert, Sabine Zimmermann
({3}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Private Krankenversicherung als Vollversicherung abschaffen - Hochwertige und effiziente Versorgung für alle
Drucksachen 18/4099, 18/5354
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Ich höre und
sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Dann hat die erste Rednerin das Wort, und das ist Pia
Zimmermann für die Linke.
({4})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Personalmangel, Arbeitsverdichtung, Burn-out, das sind
Schlagworte, die mit der Pflege in diesem Land assoPia Zimmermann
ziiert werden. Wundliegen, keine Zeit für Gespräche,
„im Minutentakt gepflegt werden“ prägen die Erfahrungen von Menschen mit Pflegebedarf. Überlastung, ein
permanentes Hin-und-her-gerissen-Sein zwischen dem eigenen Lebensentwurf sowie den Sorgen und Nöten geliebter Menschen, damit kämpfen pflegende Angehörige. Dass dies Begriffe und Bilder sind, die vielen beim
Thema Pflege einfallen, ist ein Armutszeugnis.
({0})
Das ist ein Armutszeugnis vor allen Dingen auch deshalb, weil es nicht sein muss, nicht angesichts der Wirtschaftskraft der Bundesrepublik.
Gleich werden Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen
von Union und SPD, sicherlich auf die Pläne des Gesundheitsministeriums für das Pflegestärkungsgesetz II
Bezug nehmen. Dass wir die Erwartungen nicht allzu
hoch stecken sollen, davor haben Sie uns schon mehrfach gewarnt. Ich möchte hier gar nicht im Einzelnen darauf eingehen, nur so viel: Solange die Finanzierung
nicht gesichert ist, bleibt zu befürchten, dass jede Verbesserung an der einen Stelle Verschlechterungen an einer anderen Stelle mit sich bringt; denn der Finanzbedarf
ist riesig. Gleichzeitig fehlt es aber an einem - ich betone das - langfristigen Finanzierungskonzept; denn
nach bisherigem Planungsstand reichen die Beitragserhöhungen nicht für die Finanzierung der Reformschritte
aus.
({1})
Statt nun aber den 2014 unsinnigerweise beschlossenen Pflegevorsorgefonds aufzulösen, greifen Sie in die
Trickkiste. Sie zapfen die Rücklagen der Pflegeversicherung an. Damit eröffnen Sie den Wahlkampf. Verbesserungen im Wahlkampfjahr 2017 finanzieren Sie aus den
dringend nötigen Reserven. Auf Dauer gesehen bedeutet
das Beitragserhöhungen oder Leistungskürzungen an anderer Stelle, weil Sie sich nicht trauen, grundsätzlich die
Finanzarchitektur der Pflegeversicherung zu verändern.
({2})
- Ich würde mich freuen, wenn Sie das tun würden. Sie
haben das in Ihrer Wahlpropaganda angekündigt, und
Sie werden das sicherlich wiederholen. Schauen wir einmal, was daraus wird.
Wenn unterschiedliche Gruppen nicht gegeneinander
ausgespielt werden sollen - seien es Beschäftigte gegen
Menschen mit Pflegebedarf oder Menschen mit unterschiedlichen Pflegebedarfen gegeneinander -, dann
müssen wir die Pflegeversicherung auf ein langfristig
stabiles finanzielles Fundament stellen.
({3})
Für uns als Fraktion Die Linke ist klar: Ein solches Fundament kann nur durch die solidarische Weiterentwicklung der Pflegeversicherung geschaffen werden. Klar ist
nämlich auch: Gute Pflege kostet Geld; sie gibt es nicht
zum Nulltarif. Gute Pflege ist ein Menschenrecht, und
der Zugang zu einer qualitativ hochwertigen und umfassenden pflegerischen Versorgung darf nicht Kostenkalkülen untergeordnet werden.
({4})
Der entscheidende Punkt ist, wer den finanziellen Aufwand trägt und wie die Lasten verteilt werden. Hier vertreten meine Fraktion und ich eine ganz klare Position.
Die Kosten müssen gerecht verteilt werden.
({5})
Das heißt, alle zahlen denselben Beitrag auf ihr gesamtes
Einkommen, unabhängig davon, ob es aus Löhnen, Unternehmensgewinnen oder Kapitalerträgen bezogen
wird.
({6})
- Mechthild, ich freue mich, wenn du da mitgehst.
Außerdem müssen die Arbeitgeber endlich auch in
der Pflege in die Pflicht genommen werden; denn von einer paritätischen Finanzierung kann hier wohl niemand
mehr reden. Niemand soll aus der Verantwortung entlassen werden, weder durch eine Beitragsbemessungsgrenze, die gerade die höchsten Einkommen entlastet,
noch durch eine Privatversicherung.
({7})
Langfristig gefährdet die Existenz der privaten Pflegeversicherung die Finanzierung der sozialen Pflegeversicherung; denn sie entzieht dem Solidarsystem dauerhaft die Beiträge von Gutverdienenden, gleichzeitig sind
ihre Ausgaben aber viel geringer. Die Ausgaben der sozialen Pflegeversicherung sind pro Versichertem jährlich
fast viermal so hoch wie die der privaten Pflegeversicherung.
({8})
Die Mitglieder der privaten Pflegeversicherung sind
im Schnitt deutlich jünger und verdienen besser als die
Mitglieder der sozialen Pflegeversicherung. Während
die private Pflegeversicherung mit ihren Rücklagen von
rund 25 Milliarden Euro - das muss man sich einmal
vorstellen - etwa 32 Jahre lang die Ausgaben für die
Pflege decken kann, reichen die Vermögensrücklagen
der sozialen Pflegeversicherung gerade einmal ein Quartal lang. Das ist gegenüber den fast 70 Millionen Versicherten in der sozialen Pflegeversicherung zutiefst ungerecht. Hier muss umverteilt werden, solidarisch und
gerecht.
({9})
Mit dem entsprechenden politischen Willen ist das alles relativ unkompliziert machbar. Dadurch, dass beide
Versicherungen identisch ausgestattet sind, haben wir
faktisch fast eine Versicherung für alle. Wir, die Linke,
wollen einen Schritt nach vorne gehen, hin zur solidarischen Pflegeversicherung. Ich fordere Sie auf: Gehen
Sie diesen Schritt mit uns.
({10})
Eine unabhängige Studie hat ergeben, dass der Beitragssatz der Pflegeversicherung trotz Ausgleich des
Realwertverlusts und einer sofortigen Erhöhung der
Sachleistungen um 25 Prozent langfristig deutlich unter
2 Prozent gehalten werden kann, also unterhalb des derzeitigen Niveaus. Das schafft die Voraussetzung dafür,
dass alle nach ihren individuellen Bedürfnissen versorgt
werden können.
Für die Beschäftigten ließen sich faire Arbeitsbedingungen und gute Löhne verwirklichen. Eine tarifgerechte
Vergütung der Pflegefachkräfte und die Refinanzierung
von Tariferhöhungen wären in einer Bürgerversicherung
möglich.
Meine Damen und Herren von der Koalition, mit unserem Antrag stellen wir Ihnen die Frage, was Ihnen
würdevolle Pflege wert ist.
({11})
Ich fordere Sie auf: Enttäuschen Sie die Menschen mit
Pflegebedarf, ihre Angehörigen und die Beschäftigten
nicht. Gehen Sie diesen Weg mit uns.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({12})
Vielen Dank, Kollegin Zimmermann. - Nächster
Redner in der Debatte: Thomas Stritzl für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren!
({0})
- Nein, ein Handy.
({1})
Frau Zimmermann, ich hätte eigentlich erwartet, dass
Sie auch etwas zu dem Thema Ihres Fraktionsantrags sagen, wonach Sie die private Krankenversicherung als
Vollversicherung abschaffen wollen. Das haben Sie in
Ihrem Beitrag leider nicht erwähnt. Trotzdem haben Sie
den Antrag gestellt. Es kann sein, dass das schlechte Gewissen einen gewissen Schatten vorauswirft.
({2})
- Doch; denn der Antrag auf Abschaffung der privaten
Krankenversicherung als Vollversicherung, den Sie eingereicht haben, ist im Grunde zunächst einmal ein Evergreen aus roter Feder.
({3})
- Genau. - Er macht deutlich, dass es die Linke trotz
jahrelanger Agitation gegen das Bestehen der PKV immer noch nicht hinbekommen hat, selbst einen eigenen
Gesetzentwurf vorzulegen. Ich muss sagen: Das finde
ich erstaunlich. Sie fordern die Bundesregierung auf,
Ihre Arbeit zu machen. Machen Sie die einmal selber.
({4})
Warum machen Sie das nicht? Ich werfe Ihnen keine
bewusste Untätigkeit vor, aber das ist Ausdruck dessen,
dass Sie selbst nicht wissen, wie Sie das rechtlich einwandfrei hinbekommen.
({5})
Das ist nämlich genau der Punkt. Es gibt seit Jahren
schwerste - Ihnen bekannte - verfassungsrechtliche Bedenken. Jetzt sollen andere Ihren Job machen, damit Sie
den Offenbarungseid nicht zu leisten brauchen. Das
kommt mit uns nicht infrage.
({6})
- Die Sonne scheint heute. Das hätten Sie hineinschreiben können. Dann wäre mehr Wahrheit in Ihrem Antrag
gewesen als jetzt.
({7})
- Den hätten wir nicht abgelehnt.
({8})
Es ist doch ganz einfach: Wenn die Sonne scheint und
lacht, dann hat’s die CDU gemacht.
({9})
Erlauben Sie Zwischenbemerkungen von den restlichen Fraktionen hier im Haus?
({0})
Jederzeit. Das tut ja der Wahrheit keinen Abbruch.
({0})
- Das muss nun gerade ein Nordhesse sagen.
Wie gesagt, einerseits scheuen Sie den Arbeitsaufwand, selber einen rechtlich einwandfreien Gesetzentwurf zu erarbeiten. Sie haben natürlich auch nicht vor,
zu sagen, welche Nebenwirkungen dieses rote Medikament wirklich hätte.
({1})
Schauen wir uns doch einmal gemeinsam an, was auf
den Beipackzetteln zur Patienteninformation stehen
müsste, sollte es tatsächlich zugelassen und verordnet
werden. Was wären das für Warnhinweise?
Erstens: Verlust von bis zu 100 000 Arbeitsplätzen.
({2})
- Frau Klein-Schmeink, Sie können doch die Gelegenheit nutzen und sich einmal die Stellungnahmen von
Verdi anschauen oder aber auch lesen, was die HansBöckler-Stiftung dazu schreibt; dann werden Sie diese
Zahlen wiederfinden.
({3})
Sie kommen ja nicht von mir. Dass Sie sich meinen Rat
nicht zumuten wollen - bitte! Aber den Rat von unabhängigen Experten sollten Sie vielleicht in Betracht ziehen.
({4})
Zweitens: Milliardenverluste bei den Ärztehonoraren.
Drittens: negative volkswirtschaftliche Effekte, und
zwar nur negative volkswirtschaftliche Effekte. Das sagt
das Rheinisch-Westfälische Institut für Wirtschaftsforschung. Wenn man ferner Herrn Montgomery, der ganz
bestimmt nicht jahrelang unserer Partei angehört hat,
glauben dürfte, dann ist es eine Mogelpackung mit Turbolader für eine Zweiklassenmedizin.
({5})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, auch der
Deutsche Facharztverband befürchtet eine überbordende
Zweiklassenmedizin, getrieben durch den Mix von Einheitsversicherung auf der einen Seite und teuren Zusatzversicherungen auf der anderen Seite. Genau so wollen
Sie es von der Linken ja auch; denn es heißt in Ihrem
Antrag - Zitat -:
Die PKV wird auf Zusatzversicherungen für medizinisch nicht notwendige Leistungen beschränkt.
({6})
Eine Aufforderung, ein Wollen der besonderen Art,
wenn ich es einmal so sagen darf. Einerseits würde die
Umsetzung dieses Vorschlags die Gefahr bergen, der
Treiber einer Zweiklassenmedizin zu werden. Andererseits ist die Forderung der Linken so gewählt, dass man
berechtigte Zweifel haben muss, was eigentlich wirklich
gewollt ist. Denn wird es überhaupt einen Versicherungsmarkt für medizinisch nicht notwendige Leistungen geben können? Wer bestimmt berechenbar und belastbar, was medizinisch nicht notwendig ist?
({7})
- Na ja, ich schaue mir das ja an bei den Linken. - Ja,
Frau Klein-Schmeink, gerne. Wissen Sie, dass die private Krankenversicherung im Wesentlichen die Heilpraktiker bezahlt, nicht die gesetzliche? Halten Sie das
nun für medizinisch notwendig oder nicht? Sagen Sie es.
Sie haben ja gleich die Chance dazu. Nur das Ausweichen ins Konkrete hilft da weiter.
({8})
Viertens: Auf welcher Rechtsgrundlage und auf welchem Gesellschafts- bzw. Menschenbild fußt eigentlich
die Anmutung, selbstbestimmt lebenden Bürgerinnen
und Bürgern vorzuschreiben, was sie an Risiko wo versichern wollen?
({9})
Was ist das für ein Menschenbild? Was wollen Sie als
Linke also wirklich? Nutzen Sie heute die Gelegenheit,
den Menschen in diesem Lande reinen Wein einzuschen-
ken, zumal Sie noch einen Fraktionsvorsitzenden haben,
der zumindest in seinen öffentlichen Reden immer von
der Wahrheit schwärmt.
Unter II. d) des Antrags der Linken steht ferner - Zitat -:
Den Beschäftigten der PKV ist ein Übergang in
neue notwendig werdende Stellen in der GKV zu
gewährleisten. Die Qualifikation ist sicherzustellen.
Dies ist eine Passage, welche man den betreffenden
Betriebsräten zunächst einmal zur Lektüre anempfehlen
sollte. Offensichtlich weiß auch die Linke, dass mit ihrer
Initiative für die Abschaffung des dualen Systems Arbeitsplätze in erheblichem Umfang und auf allen Ebenen
zerstört würden. Die bis zu 100 000 Arbeitsplätze
- diese Zahl beruht auf wissenschaftlich erhobenen Daten -, welche gemäß der Linken in die GKV-Obhut zu
überführen wären, würden für das System der gesetzlichen Krankenversicherung, welches sich bekanntlich um
Bürokratieabbau und sozialverträglichen Personalabbau
bemüht, eine milliardenschwere zusätzliche jährliche
Last bedeuten. Die Antragsteller dürften wissen, dass die
GKV dies nicht wird leisten können. Die Übernahmegarantie der Linken für die Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen der PKV ist also bestenfalls sogenannte weiße
Salbe, in jedem Fall jedoch, aus meiner Sicht, eine Verhöhnung der berechtigten Existenzsorgen der Beschäftigten und ihrer Familien.
({10})
- Wir müssen uns ja dafür einsetzen, weil Sie sie ja bedrohen.
Wozu das alles? Wenn es zutreffend ist, dass bei den
Kolleginnen und Kollegen der Linksfraktion das politische Interesse die Wahrnehmung steuert,
({11})
dann haben Sie selbst die Antwort auf die berechtigte
Frage „Wozu dies alles?“, in Ihrem Antrag gegeben:
Die PKV ist gesamtgesellschaftlich unzweckmäßig
und schädlich.
({12})
Das muss man sich einmal auf der Zunge zergehen lassen. Ich bin, ehrlich gesagt, etwas zusammengezuckt, als
ich dieses Wording las. Ich hatte gehofft, wir wären gemeinsam ein Stück weiter.
Auch wenn Sie uns die Sonne schenken: Kommen Sie
zum Schluss!
Frau Präsidentin, selbstverständlich folge ich Ihrem
Rat, muss meine Rede dann abkürzen.
({0})
Das ist mehr als ein Rat.
Lassen Sie mich im Ergebnis sagen: Ein System der
dualen Krankenversicherung, das sich national und international bewährt hat, das das leistungsfähigste im internationalen Vergleich ist, soweit wir es wissen - ({0})
- Gucken Sie mal in die skandinavischen Länder! Wenn
Sie gute Verbindungen zur Provinzialverwaltung in
Schweden haben, dann bekommen Sie dort vielleicht
eine Operation. Das ist die dortige Genehmigungssituation.
Die Versorgungsvielfalt, die Versorgungssicherheit,
die Versorgungsqualität sind im dualen System herausragend. Die überwiegende Mehrheit der Deutschen stützt
dieses System.
({1})
Sie können von uns nicht verlangen, dass wir diesen guten Weg verlassen.
Danke schön.
({2})
Danke, Herr Stritzl. - Nächste Rednerin: Elisabeth
Scharfenberg für Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Frau
Staatssekretärin! Herr Laumann! Sehr geehrte Damen
und Herren! Ich möchte gern ein Dankeschön an die
Kolleginnen und Kollegen der Linksfraktion sagen. Es
ist gut, dass wir vor der Sommerpause noch einmal die
Gelegenheit haben, über die Pflege zu reden. Es geht
nicht darum, bemüht Bilder über Beipackzettel im Bereich der Pflegeversicherung zu finden oder Slapstickeinlagen über den Einfluss der CDU aufs Wetter zu bringen. Das macht die CDU manchmal, aber ansonsten:
negativ im Bereich des Klimawandels, Herr Stritzl.
({0})
Über die Pflege haben wir in den letzten Monaten viel
öfter debattiert, als wir das sonst gewohnt sind, und doch
ist unter dem Strich noch viel zu wenig darüber gesagt
worden. Das Thema Pflege kann gar nicht genug Raum
einnehmen. Kaum ein anderes Thema geht so tief in jede
Familie hinein wie dieses Thema. Pflege betrifft jeden
und jede von uns, früher oder auch später.
Die schwarz-rote Koalition ist durchaus umtriebig in
der Pflegepolitik. Da ist einiges passiert. Aber es ist noch
kein Wert an sich, viel Papier vorzulegen. Viele kleine,
durchaus auch gute Maßnahmen sind am Ende des Tages
eben nicht der große Wurf.
Neben den vielen kleinen Schritten gab es natürlich
auch Unsinn, und zwar großen Unsinn.
({1})
Ich meine damit zum Beispiel den völlig nutzlosen und
immens teuren Pflegevorsorgefonds.
({2})
Alle hier, auch Sie, die Koalition, wissen ganz genau,
dass dieser Fonds nichts bringt. Der Fonds bindet viel
Geld. Sie horten 1,2 Milliarden Euro pro Jahr. Diese
1,2 Milliarden Euro pro Jahr bräuchten wir dringend bei
der Einführung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs.
Wir bräuchten sie für die Pflege jetzt.
({3})
Und er kommt, der Fonds. Liebe SPD, maximaler
kann man sich nicht von seinem Wahlversprechen einer
solidarischen und nachhaltigen Bürgerversicherung entfernen.
({4})
Sie wollen mehr Geld für eine bessere Pflege in die
Hand nehmen. Das ist gut. Das ist richtig. Herr
Laumann, einer Ihrer Lieblingssprüche ist: „Geld pflegt
nicht.“ - Damit haben Sie durchaus recht. Mehr Geld allein macht auch noch keine bessere Pflege. Wir werden
sehr genau hinschauen, was am Ende dabei herauskommt. Wir werden auch sehr genau hinschauen, ob das
Geld da ankommt, wo es hingehört.
Genau schauen wir auch bei den Pflegenoten hin. Ein
unsägliches Theater der Koalition!
({5})
Da frage ich mich, ob Sie wirklich eine bessere Pflege
wollen. Sie belohnen bessere Dokumentation, und Sie
mogeln sich immer wieder an den zentralen Fragen vorbei.
Damit komme ich wieder zum Antrag der Linksfraktion.
({6})
Wer so viel Geld für Pflege in die Hand nehmen will,
wie Sie das von der Koalition vorhaben, der sollte auch
erklären, wie er das auf Dauer finanzieren will. Dazu hören wir von Ihnen nichts. Der Pflegevorsorgefonds ist jedenfalls keine Lösung. Das wissen wir, und das wissen
auch Sie, insbesondere die SPD.
Der Antrag der Linksfraktion legt den Finger genau
zur richtigen Zeit in die Wunde. Ich sage ganz offen: Wir
teilen nicht alle Forderungen in diesem Antrag. Ich
finde, dass eine Vollkostenversicherung viele Fragen mit
sich bringt. Ganz so einfach ist es nicht.
Unsere Gesellschaft wird älter, wir werden älter. Die
Zahl der Pflegebedürftigen nimmt zu. Da liegt es doch
auf der Hand: Eine gute Pflege wird mehr Geld kosten.
Und das können wir nur als Gemeinschaft stemmen.
({7})
Deswegen ist es nicht die richtige Lösung, weiterhin
zwei Versicherungssysteme parallel laufen zu lassen.
Zurzeit haben sich gut 10 Prozent der Bevölkerung - die
Mitglieder der privaten Pflege- und Krankenversicherung - einfach so aus der Solidarität, aus der Solidarität
mit den Schwächsten verabschiedet. Das ist unfair und
ungerecht und kommt am Ende des Tages uns alle teuer
zu stehen. Deswegen ist die Forderung nach einer solidarischen Pflegebürgerversicherung völlig richtig.
({8})
Alle Bürgerinnen und Bürger müssen sich in einem System an der Finanzierung der Pflege beteiligen. Alle Einkunftsarten, natürlich auch Kapitalvermögen, müssen
mit einbezogen werden. Das ist gerecht und nachhaltig.
Dazu gibt es keine überzeugende Alternative.
({9})
Wie Sie derzeit Pflegepolitik machen, gerade in Bezug auf die Finanzierung, das ist und bleibt unverantwortlich. Alle hier wollen den neuen Pflegebegriff, und
alle hier wissen, dass man dafür viel Geld in die Hand
nehmen muss.
({10})
Sie aber geben das Geld heute aus und sagen nicht, wo
es morgen herkommen soll. Sie hinterlassen unbezahlte
Rechnungen. Nutzen Sie die Zeit für eine ordentliche,
nachhaltige und wirklich gerechte Finanzierung!
Vielen Dank.
({11})
Vielen Dank, liebe Elisabeth Scharfenberg, und auch
Danke für die Punktlandung, auf die Sekunde. Schauen
wir mal, wie es weitergeht. - Mechthild Rawert von der
SPD ist die nächste Rednerin.
({0})
Ich nehme zunächst Bezug auf die Rede von Frau
Zimmermann. Auch ich habe den Worten Taten folgen
lassen. Ich stehe an der Seite der Pflegenden. Ich war in
Straßburg die Nummer 29 299 und habe von dort aus für
die Interessen der Pflegenden in Krankenhäusern bei der
Protestaktion „162000 für 162000“ gestreikt.
({0})
Zum Thema Pflegeversicherung. Die Bürgerversicherung ist eine ursozialdemokratische Forderung. Sie war
es, sie ist es, und sie wird es bleiben, sowohl für die
Pflege- als auch für die Krankenversicherung.
({1})
Wir haben das in vielen Wahlkämpfen überzeugend dargestellt und werden dies auch in Zukunft tun.
({2})
Wir werden nicht müde, uns diesem Thema intensiv zuzuwenden; denn wir stehen für mehr soziale Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit in den sozialen Sicherungssystemen.
({3})
Zu Ihrem Antrag. Sie haben die Einbeziehung der Privaten in die soziale Bürgerversicherung gefordert. Ja,
auch wir wollen auf Dauer gesehen die private Pflegeversicherung in die Solidarität einbeziehen; denn es ist
ungerecht, wenn sich gerade die Gutverdienenden, die
Jüngeren aus der Solidarität verabschieden. Es heißt: Die
Pflegeversicherung folgt der Krankenversicherung. Daher gibt es in der Pflegeversicherung die Aufteilung.
Aber wir sind der Meinung, es muss wie im Bereich der
Krankenversicherung eine Bürgerversicherung Pflege
geben.
Sie haben in Ihrem Antrag den Pflegevorsorgefonds
angesprochen. Der Pflegevorsorgefonds ist ein Dorn im
Auge der SPD; das ist bekannt. Ich erhebe für uns auch
nicht den Anspruch auf das Urheberrecht. Er wird nicht
ausreichen, um zukünftige Beitragssatzsteigerungen abzufedern. Außerdem bin ich davon überzeugt, dass er demografisch nicht nachhaltig ist. Ja, schade, ich hätte dieses Geld gerne in andere Bereiche investiert, zum
Beispiel in die Bekämpfung des Fachkräftemangels.
Zum Thema „Pflege-Bahr“ - ich gehe jetzt einzelne
Punkte des Antrags durch -: Wir wollen eine Umlagefinanzierung. Wir halten herzlich wenig von einem kapitalgedeckten System à la „Pflege-Bahr“. Ich sage hier
nichts Neues; das haben wir auch in der Vergangenheit
immer deutlich gemacht. Aber die Bevölkerung hat
schon selbst entschieden. Aus den großen Konzeptionen
und Planungen der Vorgängerregierung ist nichts geworden; denn - das hat man ja schon bei der Haushaltsberatung für dieses Jahr gemerkt - letztendlich ist nur ein
Drittel der vorgesehenen Bezuschussungsmittel eingesetzt worden.
Thema „solidarische Finanzierung“. Ja, wir wollen
eine solidarische Finanzierung, bei der jede Bürgerin,
jeder Bürger nach individueller Leistungsfähigkeit
einzahlt. Wir wollen keine einseitige Belastung der
Erwerbseinkommen. Wir wollen auch weitere Einkommensarten einbeziehen.
Thema „paritätische Finanzierung“. Ja, wir sind für
eine paritätische Finanzierung. Als Berlinerin, die sowieso darunter leidet, dass wir so wenige Feiertage haben, hätte ich auch nichts gegen eine Ausweitung von
Feiertagen.
({4})
Thema Pflegebedürftigkeitsbegriff. An dieser Stelle
kommt natürlich der Antrag der Linken ein wenig spät;
denn mittlerweile liegt ja längst der Referentenentwurf
für das Pflegestärkungsgesetz II vor. Die Forderung in
diese Richtung ist also wirklich ein wenig überholt. In
dem Fall sage ich jetzt einmal: Nachlesen, wie viel Gutes schon im Referentenentwurf zum PSG II steht. Zum
Vorwurf, wir würden nichts für die Pflege tun, muss ich
sagen: Wir machen sehr viel im Interesse der Pflegebedürftigen, der pflegenden Angehörigen und auch der
Pflegefachkräfte; das hat die Große Koalition wirklich
gezeigt.
({5})
Liebe Kollegen, ich diskutiere immer gerne mit allen
über die Bürgerversicherung; denn wir stehen als Sozialdemokratie für eine gerechte und nachhaltige Entwicklung der sozialen Sicherungssysteme. Eines ist ja klar:
Es ist richtig, immer wieder auf die zu erwartende Ausgabenentwicklung im Sozialversicherungsbereich zu
schauen. Es ist richtig, die demografische und soziale
Entwicklung im Auge zu behalten, sowohl die wachsende Zahl der Pflegebedürftigen als auch die Entwicklung hinsichtlich der Schweregrade. Aber ich sage noch
eines: Das betrifft auch die Inanspruchnahme professioneller Dienste, die im Vergleich zu dem, was die Familien erhalten, die derzeit das Pflegegeld in Anspruch
nehmen, teurer sind. Das gewandelte Rollenverständnis
innerhalb der Familien wird dazu führen, dass es zu einer weiteren Verschiebung zugunsten der professionellen Dienste kommen wird. Auch das gilt es langfristig,
dauerhaft, nachhaltig und vor allen Dingen solidarisch
zu finanzieren. Die soziale Bürgerversicherung steht also
für eine nachhaltige Pflegepolitik. Wir fangen selbstverständlich aber jetzt, in dieser Koalition, schon einmal mit
den Taten an - insofern machen wir auch nicht zu wenig und sorgen selbstverständlich auch noch für die nachhaltige Finanzierung in der Zukunft. Eines ist klar: Die SPD
bleibt am Ball.
({6})
Vielen Dank, Mechthild Rawert. - Bezüglich Feiertagen empfehle ich Augsburg; denn wir haben die meisten.
Nächster Redner - auch aus einem sonnenreichen
Land, wo nicht nur die CSU für die Sonne zuständig ist -:
Erich Irlstorfer für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Bei einer so sonnigen Präsidentin macht es einfach
eine Freude, hier zu reden; das muss man einmal ganz
klar sagen.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir besprechen
heute die beiden Anträge der Fraktion Die Linke „Bürgerinnen- und Bürgerversicherung in der Pflege - Solidarische Pflegeversicherung einführen“ sowie „Private
Krankenversicherung als Vollversicherung abschaffen Hochwertige und effiziente Versorgung für alle“. Das
sind schöne Titel; das muss ich zugeben.
({1})
Aber das war es dann auch schon.
Frau Rawert, Sie haben mich geradezu förmlich herausgefordert,
({2})
Ihnen hier einen Satz zu sagen: Sie haben viele richtige
Dinge gesagt, aber Ihren Standpunkt zur Bürgerversicherung kann ich nicht teilen.
({3})
Ich kann nur eins sagen: Etwas, was in meinen Augen
völlig falsch ist, wird nicht dadurch besser, dass man es
immer wieder vorschlägt. Seien Sie der Union dankbar,
dass wir in diesem Punkt so standhaft sind.
({4})
Die Aufgabe der Kranken- und Pflegeversicherung ist
es, die bestmögliche medizinische und pflegerische Versorgung für die Menschen in unserem Land zu gewährleisten und zugleich die Kosten unseres Gesundheitswesens in irgendeiner Form zu bewältigen. Wir dürfen
nicht vergessen: Unter dem Gesichtspunkt des demografischen Wandels und des stetigen Fortschritts in der Medizin und Forschung ist das mit Sicherheit keine leichte
Aufgabe. Die Bürgerversicherung bietet für diese Herausforderungen einer Krankenversicherung in meinen
Augen keine befriedigenden Lösungsansätze. Der bestehende Mix aus PKV und GKV hat sich bestens bewährt
und ist als System der Vollversicherung auch tauglich.
Man muss sich vor Augen führen, was sich hinter
dem Begriff der Bürgerversicherung verbirgt. Es handelt
sich um eine ausnahmslose und umfassende Zwangsmitgliedschaft,
({5})
die mit der Einschränkung der persönlichen Wahlfreiheit
verbunden ist, die uns immer wichtig ist. Eine solche
Bürgerversicherung würde in der Konsequenz zu weniger Selbstbestimmung für den einzelnen Bürger führen,
sie hätte eingeschränkte Leistungen, weniger Wettbewerb im Krankenkassensystem - den wollen wir auch und damit letztlich auch keine Nachhaltigkeit zur Folge.
Gerne können wir über Parteigrenzen hinweg über
notwendige Reformen der gesetzlichen Krankenversicherung diskutieren. Es ist in meinen Augen nicht nur legitim, sondern es ist auch notwendig, dass wir darüber
diskutieren. In diesem Zusammenhang jedoch nur auf
das Modell einer Bürgerversicherung als Alternative zu
verweisen, liebe Linke, zeugt in meinen Augen nicht von
einem konstruktiven Beitrag zu einem System, das sich
in seinen Grundfesten bewährt hat. Ähnliches gilt auch
für die Pflegeversicherung.
Die Bürgerversicherung ist auch aus gesamtvolkswirtschaftlicher Sicht nicht unbedenklich und führt nicht
zu mehr sozialer Gerechtigkeit; denn in der Bürgerversicherung fände keine Gleichbehandlung der verschiedenen Einkommensarten statt. Die Einnahmen von Selbstständigen würden um bestimmte Ausgaben verringert.
Vollständig erfasst und mit Beiträgen belegt würden in
der Bürgerversicherung also weiterhin nur Löhne, Gehälter und Renten. Die Bürgerversicherung würde die
Beiträge für Arbeitnehmer und Rentner nicht in nennenswertem Umfang senken. Die Bürgerversicherung
würde also vor allem die Bezieher mittlerer Einkommen
belasten.
({6})
Verbesserungen in der sozialen Pflegeversicherung
wiederum werden nicht durch eine Zusammenführung
mit der privaten Pflegeversicherung erfolgen, sondern
nur durch konsequente Reformen, wie sie von der derzeitigen Koalition aus CDU, CSU und SPD angegangen
werden.
Durch das Erste Pflegestärkungsgesetz hat die
schwarz-rote Koalition bereits zum 1. Januar 2015 die
Leistungen für Pflegebedürftige und ihre Angehörigen
spürbar ausgeweitet. Mit dem Zweiten Pflegestärkungsgesetz sollen noch in dieser Wahlperiode der
neue Bedürftigkeitsbegriff und ein neues Begutachtungsverfahren eingeführt werden. Dadurch werden vor
allem Menschen mit psychischen Erkrankungen und
Menschen mit der Volkskrankheit Demenz bessergestellt. Weiterhin geht die aktuelle Bundesregierung die
längst überfällige Neuordnung des Pflege-TÜV sowie
eine Reform der Pflegeberufe an.
Meine verehrten Damen und Herren, ich würde mir
von der Opposition einen konstruktiven Beitrag zu dieser größten Reform der sozialen Pflegeversicherung seit
ihrer Einführung vor 20 Jahren wünschen statt ideologisch geführter Debatten.
({7})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, zum
Schluss ein Hinweis: Ideologie hilft uns hier nicht weiter,
({8})
wenn es darum geht, Verbesserungen für pflegebedürftige Menschen, deren Angehörige und auch für das Pflegepersonal herbeizuführen und die soziale Pflegeversicherung - das ist sehr wichtig - demografiefest zu
machen und somit auch zukunftsfähig.
Ich kann nur sagen: Die Anträge der Fraktion Die
Linke sind daher nicht zielführend und aus unserer Sicht
abzulehnen.
Ihnen allen wünsche ich einen schönen Sommer, frei
nach dem Motto von Karl Valentin: „Gar nicht krank ist
auch nicht gesund.“
In diesem Sinne: danke schön.
({9})
Vergelts Gott, Erich Irlstorfer. - Nächste Rednerin:
Heike Baehrens für die SPD.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr geehrte Damen und Herren! Was erwarten die Bürgerinnen und Bürger von unserem Gesundheitssystem?
Sie wollen die Gewissheit haben, dass sie, wenn sie
krank werden, an ihrem Wohnort die bestmögliche medizinische und pflegerische Versorgung bekommen.
({0})
Sie wollen vor allem auch, dass es dabei gerecht zugeht.
Diese Intentionen, die auch in Ihren Anträgen zum Ausdruck kommen, teilen wir. Politik, die diese Intentionen
in die Tat umsetzt, gestalten wir. Darum haben wir mit
den großen Gesetzesvorhaben in dieser Legislaturperiode wichtige Schritte gemacht, die für mehr Patientenorientierung und für eine gute Versorgung vor Ort sorgen.
({1})
Ich nenne hier nur das Pflegestärkungsgesetz I oder die
gerade erst in den letzten beiden Sitzungswochen verab11346
schiedeten Gesetze, das Gesetz zur Stärkung der Versorgung in der gesetzlichen Krankenversicherung und vor
allem auch das Präventionsgesetz.
Einiges, was unser bestehendes System gerechter
macht, ist also schon auf dem Weg. Die Terminservicestellen werden kommen. Sie bieten die Chance, dass jede
und jeder zeitnah einen Termin beim Facharzt erhält,
und zwar unabhängig davon, ob er oder sie privat oder
gesetzlich krankenversichert ist.
({2})
Für mehr Gerechtigkeit soll auch sorgen, dass die
ärztliche Bedarfsplanung auf aktuellen Stand gebracht
wird. Die neuen Regelungen für die Zu- und Niederlassung von Ärztinnen und Ärzten sollen dazu beitragen,
dass ländliche Regionen nicht abgehängt werden.
({3})
Darum ist es sachgerecht, Arztsitze in überversorgten
Regionen zukünftig unter bestimmten, eng gefassten Voraussetzungen nicht nachzubesetzen. Und wir setzen bewusst positive Anreize, indem wir die Möglichkeit
schaffen, beispielsweise medizinische Versorgungszentren zu gründen, in denen nicht nur Facharztgruppen,
sondern auch Hausärzte in modernen, flexiblen Arbeitsmodellen zusammenarbeiten können.
Eines ist klar: Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten wollen eine gesundheitliche Versorgung, die
gerecht ist, die allen Bürgern einen gleichen Zugang zu
medizinischen Leistungen und zur Pflege ermöglicht.
Wir wollen keine Zweiklassenmedizin und keine Zweiklassenpflege.
({4})
Wir wollen gleiche Gesundheitschancen für alle Bürgerinnen und Bürger und gleiche Teilhabe aller am medizinischen Fortschritt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, Sie wollen uns mit Ihren Anträgen immer wieder einmal aus der
Koalitionssolidarität herauslocken. Wenn das aber einmal Erfolg haben soll, dann müssen Ihre Anträge etwas
mehr Substanz bekommen.
({5})
Sie wollen alle Privatversicherten in Deutschland ab einem Stichtag X in der GKV versichern. Dabei wissen
Sie genauso gut wie wir, dass es erhebliche verfassungsrechtliche Bedenken gibt, die private Krankenversicherung als Vollversicherung gänzlich abzuschaffen
({6})
und nur noch auf die Funktion einer Zusatzversicherung
zu reduzieren.
({7})
Mit solch weitreichenden Forderungen werden wir Sozialdemokraten jedenfalls die heute privat versicherten
Bürgerinnen und Bürger nicht verschrecken.
Vielmehr wissen wir: Die Bürgerversicherung als
überzeugendes Konzept zur Weiterentwicklung der gesetzlichen Krankenversicherung wird der privaten Krankenversicherung langfristig überlegen sein. Darum setzen wir an dieser Stelle auf Wettbewerb und nicht auf
Zwangsmitgliedschaft, wie Sie, Herr Irlstorfer, es gerade
dargestellt haben. Wir sehen ja heute schon, dass die private Krankenversicherung alter Prägung an Attraktivität
verliert. Viele Versicherte sind angesichts steigender
Beiträge überfordert. Viele Privatversicherte, insbesondere chronisch kranke Menschen, müssen mit Leistungsbegrenzungen zurechtkommen.
({8})
Nicht zuletzt sind gerade ältere Privatversicherte und
noch viel mehr Privatversicherte mit Beihilfeberechtigung mit den aufwändigen Antrags- und Abrechnungsverfahren völlig überfordert.
Die Bürgerversicherung wird kommen, liebe Kolleginnen und Kollegen. Sie wird kommen, sobald eine
Mehrheit der Wählerinnen und Wähler die Schwachpunkte der PKV erkennt.
({9})
Wir werden die entsprechende Überzeugungsarbeit bis
zur nächsten Bundestagswahl fortsetzen.
Wir als SPD werden den Weg für eine solidarische
Lastenverteilung in unserem Gesundheitssystem und für
eine gerechte Bürgerversicherung in unserem Land bereiten.
Vielen Dank.
({10})
Vielen Dank, Heike Baehrens. - Der letzte Redner in
dieser Debatte und am heutigen Tag - schauen wir einmal, für wie lange - ist Erwin Rüddel für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Der Begriff „Bürgerversicherung“ ist mehrfach
gefallen. Ich glaube, es gibt sehr unterschiedliche Fantasien darüber, wie die Bürgerversicherung ausgestaltet
werden soll. Ein schlüssiges Konzept ist mir noch nicht
vorgelegt worden,
({0})
zumindest keines, das uns überzeugt hat. Deshalb hat die
Bürgerversicherung mit keinem Wort Eingang in den
Koalitionsvertrag gefunden, und trotzdem machen gerade wir sehr erfolgreiche Gesundheitspolitik.
({1})
Meine Vorredner, Thomas Stritzl und Erich Irlstorfer, haben sehr eindrucksvoll dargestellt, dass gerade die Dualität in unserem System die Stärke unseres Systems ist.
({2})
Wir haben es bei dem Antrag der Linken mit dem
Aufguss eines Antrages zu tun, über den wir schon letztes Jahr im April diskutiert haben.
({3})
Damals ging es um die Abschaffung der privaten Zusatzversicherung.
({4})
Jetzt geht es um die Abschaffung der gesamten privaten
Pflegeversicherung. Beide Male war die Botschaft:
Leute, macht euch keine Gedanken über die Zukunft.
Der Staat wird alles richten.
({5})
Jedweder Eigenverantwortung, jedweder Eigeninitiative
und jedweder Eigenvorsorge wird eine Absage erteilt.
Die Fraktion Die Linke schüttet ihr Füllhorn über uns
aus, verkündet die Abschaffung der Teilkaskodeckung
und verspricht nichts Geringeres als die Vollfinanzierung
der Pflegekosten. Die Frage bleibt: Wer soll das bezahlen? Wie hoch werden die Belastungen durch Abgaben
und Steuern für die arbeitende Mittelschicht und die Unternehmen in unserem Lande sein?
({6})
Der vorliegende Antrag ist ein geradezu klassisches
Beispiel für politischen Populismus.
({7})
Was mich am meisten geärgert hat: Während die Koalition in dieser Legislaturperiode sehr ernsthaft und unter
Einsatz zusätzlicher milliardenschwerer Mittel erfolgreich an einer umfassenden Runderneuerung der Pflegeversicherung arbeitet, fällt der Linksfraktion nichts Besseres ein, als den Menschen Wunderdinge vorzugaukeln
und Wolkenkuckucksheime im pflegepolitischen Schlaraffenland zu propagieren.
({8})
Empören kann man sich über die Behauptung in dem
Antrag - ich zitiere -: Durch die Große Koalition werden die Umsetzung des neuen Pflegebegriffs und die damit einhergehenden Leistungserweiterungen weiter verzögert. - Man könnte über diese Formulierung schon ein
bisschen böse sein.
({9})
Das Gegenteil ist nämlich der Fall: Es ist diese Koalition, die den neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff in die
Agenda aufgenommen und stringent umgesetzt hat.
({10})
Es ist diese Koalition, die zusätzlich 5 Milliarden Euro
jährlich für eine bessere Versorgung von Demenzkranken mobilisiert. Es ist diese Koalition, die Menschen mit
kognitiven und somatischen Einschränkungen erstmals
gleichstellt und damit eine große Gerechtigkeitslücke
schließt. Und es ist diese Koalition, die die umfassendste
Leistungsverbesserung in der Pflegeversicherung seit
20 Jahren realisiert - für die Pflegebedürftigen, ihre Angehörigen und die Mitarbeiter in der Pflege.
({11})
Wir halten unser Versprechen: Die Pflege wird nachhaltig gestärkt. Zusammen mit dem Ersten Pflegestärkungsgesetz ergibt sich mit dem Zweiten Pflegestärkungsgesetz eine wirklich runde Sache. In Zukunft wird
es passgenaue Einstufungen geben. Die Minutenpflege
wird entfallen. Für bereits pflegebedürftige Menschen
gibt es Bestandsschutz. Kein Pflegebedürftiger muss
sich Sorgen machen, künftig schlechter eingestuft zu
werden. Wir senken den Schlüssel für Betreuungskräfte.
Wir bauen die Kurzzeit- und Verhinderungspflege, die
Tages- und Nachtpflege aus. Wir reduzieren überflüssige
Bürokratie; denn Pflege muss am Bett ankommen.
({12})
Wir wollen ein neues Pflegeberufegesetz. Wir brauchen Anreize, um deutlich mehr Menschen für die Pflegeberufe zu mobilisieren. Daran konstruktiv mitzuwirken, dazu laden wir auch die Fraktion der Linken ein.
Mit allen unseren Maßnahmen schaffen wir eine grundlegende Erweiterung und Verbesserung der gesetzlichen
Pflegeleistungen, und das kommt bei den Menschen an.
Ich wünsche allen einen sonnigen Sommer.
({13})
Vielen Dank, Kollege Rüddel. - Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/5110 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Sie sind damit einverstanden. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Gesundheit zum Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Private Krankenversicherung als Vollversicherung abschaffen Hochwertige und effiziente Versorgung für alle“. Der
Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Vizepräsidentin Claudia Roth
Drucksache 18/5354, den Antrag der Fraktion Die Linke
auf Drucksache 18/4099 abzulehnen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen. Zugestimmt haben CDU/CSU und SPD, dagegen gestimmt hat die Linke, und enthalten hat sich
Bündnis 90/Die Grünen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung angekommen.
Ich wünsche Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen,
ich wünsche all unseren Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen, ohne die das, was wir tun, überhaupt nicht möglich
wäre,
({0})
ich wünsche der Regierung, mit der wir ein mehr oder
weniger gutes Verhältnis pflegen, ich wünsche unseren
Gästen auf der Tribüne verdiente Sommertage, Ruhe,
Entspannung. Ich wünsche uns friedliche Tage. Ich wünsche uns Sonne, auch wenn es regnet.
Das ist jetzt schwierig - ich muss die nächste Sitzung
einberufen -: Ich berufe die nächste reguläre Sitzung des
Deutschen Bundestages auf Dienstag, den 8. September
2015, 10 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen. Vielleicht sehen wir uns
ja schon früher. Alles, alles Gute und einen guten
Sommer!