Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 7/1/2015

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nehmen Sie bitte Platz. Die Sitzung ist eröffnet. Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich begrüße Sie alle herzlich zu unserer Plenarsitzung. Es gibt eine interfraktionelle Vereinbarung, die heutige Tagesordnung um eine Vereinbarte Debatte zur Situation nach dem Auslaufen des Finanzhilfeprogramms für Griechenland zu erweitern und diese gleich als Zusatzpunkt 1 unserer Tagesordnung mit einer Debattendauer von 125 Minuten, also gut zwei Stunden, aufzurufen. Sind Sie mit dieser Vereinbarung einverstanden? - Das ist offensichtlich der Fall; also können wir so verfahren. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir führen heute aus gegebenem Anlass wieder einmal eine Europadebatte. Wir reden über Herausforderungen und Probleme, die wir gemeinsam bewältigen müssen - im Bewusstsein einer Verantwortung, die wir für diese Union miteinander haben, die nicht nur eine Wirtschaftsgemeinschaft und eine Währungsunion ist. Bevor wir über Geld reden und über Regeln und Verträge, will ich an ein tatsächlich traumatisches Ereignis der jüngeren europäischen Geschichte erinnern. Am 11. Juli 1995, also vor fast genau 20 Jahren, fielen serbische Einheiten in die bosnische Enklave Srebrenica ein und töteten in den darauffolgenden Tagen rund 8 000 muslimische Bosnier, fast ausschließlich Männer und Jungen zwischen 13 und 80 Jahren, die in dieser UN-Schutzzone Zuflucht gesucht hatten. Bis zu 25 000 Frauen, Kinder und alte Menschen wurden zwangsverschleppt. Die von serbischen Nationalisten trotz Anwesenheit von UN-Blauhelmsoldaten verübten Massaker waren der Höhepunkt eines als „ethnische Säuberung“ bezeichneten Vernichtungsprogramms, das auf die Schaffung eines ethnisch homogenen serbischen Staates zielte. Der Massenmord an der bosnischen Zivilbevölkerung in Srebrenica, der inzwischen vom Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien sowie dem Internationalen Gerichtshof als Völkermord beurteilt worden ist, gilt als das schwerste Kriegsverbrechen in Europa seit Ende des Zweiten Weltkrieges. Die damaligen Verbrechen im Südosten unseres Kontinents, außerhalb der Europäischen Union, erinnern uns auch daran, dass die europäische Idee wesentlich von dem Bestreben getragen wird, das friedliche Zusammenleben der Völker in Europa zu befördern und zu erhalten. Dessen sollten wir uns gerade vor dem Hintergrund der aktuellen, aufreibenden, gelegentlich zermürbenden, sicher lästigen Debatten auf europäischer Ebene und der wachsenden Kritik an der Europäischen Union bewusst sein. ({0}) Europa ist auch und vor allem eine Rechtsgemeinschaft und eine Friedensunion. ({1}) Ich rufe nun den soeben aufgesetzten Zusatzpunkt 1 auf: Vereinbarte Debatte zur Situation nach dem Auslaufen des Finanzhilfeprogramms für Griechenland Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke vor. Wir haben uns vorhin durch Beschluss auf die Debattendauer verständigt. Ich eröffne die Aussprache und erteile der Bundeskanzlerin, Frau Dr. Angela Merkel, das Wort. ({2})

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Ohne Zweifel liegen turbulente Tage hinter uns; vor allem aber liegen schwere Tage hinter den Bürgerinnen und Bürgern Griechenlands, und weitere solche schweren Tage liegen vor ihnen. Sie haben mit einer außergewöhnlich harten Situation zu kämpfen; denn bevor wir über alle weiteren, in hohem Maße auch technischen Fragen von Programmen und Zahlen sprechen, müssen wir an die Menschen in Griechenland denken. Sie sind ein stolzes Volk und haben harte, sehr harte Tage zu bewältigen. Es ist gerade auch deshalb nicht einfach nur so dahingesagt, wenn ich wieder und wieder betone: Die Tür für Gespräche mit der griechischen Regierung war immer offen und bleibt immer offen. Das sind wir den Menschen schuldig, und das sind wir auch Europa schuldig. ({0}) Zur Realität, liebe Kolleginnen und Kollegen, gehört aber auch, zu sagen: Wir haben erlebt, dass Griechenland die Verhandlungen für den erfolgreichen Abschluss des zweiten Hilfsprogramms einseitig beendet hat, nachdem es sein Referendum für den kommenden Sonntag angekündigt hat. Wir haben erlebt, dass Griechenland seiner Verpflichtung nicht nachgekommen ist, die Zahlungen an den IWF fristgerecht zu leisten. Wir haben erlebt, dass das zweite Hilfsprogramm gestern Abend um 24 Uhr ausgelaufen ist. Mit dem Auslaufen des zweiten Hilfsprogramms ist den Vorschlägen, die für die Sitzung der Euro-Gruppe am letzten Samstag auf dem Verhandlungstisch lagen und die sich auf das zweite Hilfsprogramm bezogen, die Grundlage entzogen. Um es klar zu sagen: Die Abhaltung eines Referendums ist ein Akt demokratischer Souveränität Griechenlands. Es ist das legitime Recht Griechenlands, das zu tun, wann immer sie es wollen, worüber auch immer sie es wollen und mit welcher Wahlempfehlung der Regierung auch immer. ({1}) Aber um es genauso klar zu sagen: Es ist ein ebensolcher Akt demokratischer Souveränität der anderen 18 Mitgliedstaaten der Euro-Gruppe, zu der griechischen Entscheidung ihrerseits eine angemessene Haltung zu entwickeln. ({2}) Es ist ein ebensolches legitimes Recht dieser 18 ebenfalls allesamt demokratisch legitimierten Parlamente und Regierungen, ihre Haltung festzulegen, und das erst recht in einer Währungsunion; denn es sind nicht einfach nur 18 oder 19 Staaten, sondern es sind 19 Staaten mit einer gemeinsamen Währung, die mit ihrer jeweiligen Entscheidung immer auch das Wohl und Wehe der anderen, das Wohl und Wehe des Ganzen beeinflussen. Gestern Abend ging ein Antrag des griechischen Ministerpräsidenten Alexis Tsipras beim Vorsitzenden der Euro-Gruppe, Jeroen Dijsselbloem, ein mit der Bitte um ein neues Hilfsprogramm. Die Finanzminister der EuroGruppe haben darüber beraten. Die Bundesregierung hat sich dazu in folgender Weise verständigt: Wir warten jetzt das Referendum ab. Vor dem Referendum kann über kein neues Hilfsprogramm verhandelt werden. Das geht im Übrigen auch gar nicht ohne ein Mandat des Deutschen Bundestages, weil wir uns jetzt im Rechtsraum des ESM bewegen. ({3}) Meine Damen und Herren, wir können das auch in Ruhe abwarten; denn Europa ist stark, viel stärker als vor fünf Jahren zu Beginn der europäischen Staatsschuldenkrise, die in Griechenland ihren Ausgang nahm. Wir sind stärker dank der Reformpolitik der letzten Jahre, die maßgeblich auch auf die Haltung Deutschlands zurückzuführen ist. Heute müssen die anderen 18 Mitgliedstaaten keine ökonomische Katastrophe mehr befürchten, weil Griechenland in Turbulenzen geraten ist. Wir haben Schutzvorkehrungen getroffen, an die im Februar 2010 noch nicht einmal im Ansatz zu denken war. Wir haben eine EFSF, wir haben einen Europäischen Stabilitätsmechanismus, den ESM, wir haben einen Fiskalpakt, und wir haben eine Bankenunion, die nicht nur eine gemeinsame Bankenaufsicht beinhaltet, sondern auch Mechanismen für eine Bankenabwicklung. Europa ist robuster geworden, und deshalb ist die heutige Lage zwar ohne Zweifel eine große Herausforderung für uns; aber eine Qual ist sie vor allem für die Menschen in Griechenland. Das führt uns zum Kern der aktuellen Herausforderungen. Es geht nicht um 400 Millionen Euro oder 1,5 oder 2 Milliarden Euro, ({4}) um die vielleicht noch zwischen Institutionen der EuroGruppe und Griechenland gerungen wurde; man hört unterschiedliche Summen. Alle diese Summen sind zwar sehr große Beträge, aber sie alle stellten tatsächlich keine unüberwindbare Hürde dar. Nein, darum geht es nicht. ({5}) Es geht - vom ersten Tag der Griechenland-Krise bis heute - immer um eine grundsätzliche Frage: ({6}) Europa ist eine Schicksalsgemeinschaft, und als solche zeichnet sie sich als eine Rechtsgemeinschaft, als Verantwortungsgemeinschaft aus. Das Wesen dieser Rechtsund Verantwortungsgemeinschaft ist die Fähigkeit zum Kompromiss. Jeder muss sie aufbringen, Griechenland genauso wie Deutschland, wie Frankreich und wie alle anderen. Eingegangen werden kann ein Kompromiss dann, wenn die Vorteile die Nachteile überwiegen. Sonst gehe ich, sonst geht die Bundesregierung jedenfalls einen Kompromiss nicht ein. Denn ein Kompromiss um jeden Preis wäre nur ein Ergebnis um des Ergebnisses willen, nur weil man mit einem Konflikt nicht leben kann, weil man Angst vor der Austragung des Konflikts hat, zum Beispiel dem eines Mitglieds der Euro-Zone mit den 18 anderen. Es kann kein Zweifel bestehen: Verlöre Europa die Fähigkeit zum Kompromiss, bei dem die Vorteile die Nachteile überwiegen, dann wäre Europa verloren. Aber genauso sage ich klipp und klar: Ein guter Europäer ist nicht der, der eine Einigung um jeden Preis sucht. Ein guter Europäer ist vielmehr der, der die europäischen Verträge und das jeweilige nationale Recht achtet und auf diese Weise hilft, dass die Stabilität der Euro-Zone keinen Schaden nimmt. ({7}) Gemäß diesem Verständnis Europas als Rechts- und Verantwortungsgemeinschaft verfolge ich und verfolgt die Bundesregierung bei allen Entscheidungen und Programmen der Euro-Zone zur Bekämpfung der Schuldenkrise von Beginn an immer ein Ziel, und zwar, eine neue Stabilitätskultur in Europa zu schaffen. ({8}) 2010 standen wir an einer Weggabelung: Soll die Wirtschafts- und Währungsunion eine Transferunion mit Euro-Bonds und Ähnlichem werden oder eine Stabilitäts- und Wachstumsunion mit Solidarität und Eigenverantwortung, Leistung und Gegenleistung? ({9}) Wir haben uns für die Stabilitätsunion entschieden, weil es immer um die einzelnen Länder geht, aber auch immer um die Wirtschafts- und Währungsunion als Ganzes. ({10}) Wir haben uns für eine Stabilitätsunion entschieden, ({11}) weil es immer auch um unseren Platz in der Welt geht: ökonomisch und sozial, mit unseren Interessen und vor allem mit unseren Werten. ({12}) Um es einfach zu sagen: Auch Deutschland geht es auf Dauer nur dann gut, wenn es auch Europa gut geht, meine Damen und Herren. ({13}) Natürlich gingen auch mit einer Transferunion in Europa wahrlich nicht die Lichter aus. Es ließe sich vielleicht sogar eine Zeit lang ganz ordentlich leben. Aber dauerhaft erfolgreich in der Zukunft, in 10, 20 oder 30 Jahren, wären wir nicht mehr. Wir wollen das aber sein, und wir wollen für unsere Werte in einer globalen Welt einstehen können. ({14}) Ich will nicht, dass wir irgendwie durch die Krise kommen, möglichst schnell Ruhe bekommen, und gut ist es. Ich will, dass Europa stärker aus der Krise herauskommt, als es in diese Krise hineingegangen ist, ({15}) damit wir im Wettbewerb mit China, Indien, Südamerika und anderen stark sind, damit wir unsere Interessen, unsere Art, zu wirtschaften, zu arbeiten, zu leben, und unsere Werte - Freiheit, Menschenwürde, Rechtsstaatlichkeit - überzeugend vertreten können. ({16}) Darum geht es und nicht darum, ob eine Differenz von 400 Millionen Euro, 1,5 oder 2 Milliarden Euro überwindbar wäre oder nicht. Darum geht es, wenn wir entscheiden müssen, ob wir Verhandlungen über ein neues Hilfsprogramm für Griechenland auf der Grundlage von Solidarität und Eigenverantwortung und unter Einbeziehung der drei Institutionen, also der Europäischen Kommission, der Europäischen Zentralbank und des Internationalen Währungsfonds - nach dem Referendum und nicht vorher - in Erwägung ziehen. Ob es einen Kompromiss geben kann, bei dem die Vorteile die Nachteile überwiegen, das müssen wir zu gegebener Zeit entscheiden. Darum geht es auch, wenn wir die wirtschaftspolitische Koordinierung der Mitgliedstaaten der Wirtschafts- und Währungsunion stärken müssen und die Gründungsfehler der Wirtschafts- und Währungsunion beheben wollen. Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen, ja, es sind turbulente Tage. Es geht auch tatsächlich um viel. Die Welt schaut auch auf uns. Aber die Zukunft Europas, die steht nicht auf dem Spiel. Die Zukunft Europas stünde auf dem Spiel, wenn wir vergessen würden, wer wir sind und was uns stark macht: eine Rechts- und Verantwortungsgemeinschaft. ({17}) Würden wir das vergessen, dann wäre der Euro gescheitert und mit ihm Europa. Die Rechts- und Verantwortungsgemeinschaft Europa, die Wertegemeinschaft Europa, sie ist stark, und sie ist robust. Und ich habe es wieder und wieder gesagt: Die Überwindung der europäischen Staatsschuldenkrise braucht Zeit und einen langen Atem. Aber hinterher wird Europa stärker sein als zu Beginn. Dafür bitte ich weiterhin um Ihre Unterstützung. ({18})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Für die Fraktion Die Linke hat nun der Kollege Gregor Gysi das Wort. ({0})

Dr. Gregor Gysi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000756, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die europäische Einigung war eine Lehre, die aus dem Verhängnis des Zweiten Weltkrieges und der deutschen Nazi10958 diktatur gezogen wurde. Man wollte Europa einigen, auch Deutschland einbinden, und das Ganze sollte zu Frieden, Demokratie, sozialer Wohlfahrt, wirtschaftlicher Entwicklung und später auch ökologischer Nachhaltigkeit führen. Das sind die gemeinsamen Grundwerte, für die dieses Europa stehen sollte. Aber Europa wurde zutiefst erschüttert - schon früher, aber erst recht durch die Finanz- und Bankenkrise vor sieben Jahren - und hat sich bis heute nicht erholt. Aus der Bankenkrise wurde eine Staatsschuldenkrise, von Griechenland bis Deutschland, weil Privatbanken in Europa mit Steuergeldern in Milliardenhöhe gestützt wurden. Die Rettungspakete galten nie den Bürgerinnen und Bürgern, sondern immer den Banken. ({0}) Auch bei uns wurden 480 Milliarden Euro binnen einer Woche für die Rettung der Banken beschlossen. Wenn man mal 1 Million Euro für einen kulturellen oder sozialen Zweck braucht, dann bekommt man ein Nein, aber bei den Banken gibt es immer nur ein Ja. ({1}) Ich habe Ihnen zugehört, Frau Bundeskanzlerin. Ihre Rede kann ich wie folgt zusammenfassen: Die griechische Regierung hat alles falsch gemacht, und Sie, Herr Schäuble und die europäischen Institutionen, also der Internationale Währungsfonds, die Europäische Kommission und die Europäische Zentralbank, haben alles richtig gemacht. ({2}) Glauben Sie das wirklich? ({3}) Ich bin auch nicht unkritisch gegenüber der griechischen Regierung, aber die Art, wie Sie sich beweihräuchern, ist einseitig und völlig daneben. ({4}) Die drei von mir genannten Institutionen haben, wie bereits gesagt, 90 Prozent der Hilfsgelder in Höhe von über 240 Milliarden Euro in die Rettung der griechischen Privatbanken gesteckt. Dieses Geld kam den Gläubigern zugute. Gläubiger dieser Privatbanken waren übrigens auch deutsche und vor allem französische Banken. Dort ist das Geld hingeflossen. Warum konnte man die griechischen Banken nicht einfach pleitegehen lassen? Dann hätten die Großgläubiger und Großaktionäre eben zahlen müssen, weil sie sich einfach verzockt haben, und man hätte den Bürgerinnen und Bürgern und den kleinen und mittelständischen Unternehmen ihre Guthaben erstatten können. Das hätte man machen können. Das wäre ein vernünftiger Weg gewesen. ({5}) Aber Sie sind einen anderen Weg gegangen. Für diesen anderen Weg haben Sie Bedingungen festgelegt - für Griechenland, für Spanien, für Portugal, für Irland und für Zypern. Die Bevölkerungen dieser Länder mussten das bezahlen. Der Preis war hoch, und zwar überall; aber besonders dramatisch war es in Griechenland. ({6}) Ich sage es Ihnen noch einmal - seit sechs Jahren haben wir die Krise in Griechenland -: Rückgang der Wirtschaftsleistung, die angeblich angekurbelt werden sollte, um 25 Prozent; Anstieg der Arbeitslosigkeit auf 25 Prozent, Anstieg der Jugendarbeitslosigkeit auf über 50 Prozent; Zusammenbruch des Gesundheitssystems; Kürzungen der Renten um 40 Prozent, Senkungen der Löhne um 30 Prozent; Suppenküchen über Suppenküchen. Und das genügt Ihnen nicht? Es muss noch weiter runtergehen? Das ist Ihre Vorstellung von Europa? Frau Merkel, Herr Gabriel und Herr Schäuble, ich finde, das ist ein Skandal, und Sie tragen daran eine gewaltige Mitschuld. ({7}) Außerdem ist die Staatsschuldenquote von 127 Prozent vor Ausbruch der Krise auf jetzt knapp 180 Prozent der Wirtschaftsleistung gestiegen. Jeder fragt sich: Wie soll das eigentlich je zurückgezahlt werden? Der Kurs der Kürzungspolitik von Troika und Bundesregierung ist einfach gescheitert. ({8}) Die Ergebnisse, die Sie versprochen haben - mehr Wettbewerbsfähigkeit und was weiß ich -, sind nicht eingetreten. ({9}) - Ja, ja, wir haben hier eine Arbeitsteilung; das kann ich Ihnen sagen. Ich frage Sie einmal, wann diese drei europäischen Institutionen endlich einmal die Verantwortung für das übernehmen, was sie anrichten. ({10}) Wissen Sie, das Ganze ist so organisiert: Für die verfehlte Politik werden die nationalen Regierungen zur Verantwortung gezogen, gegebenenfalls auch von den Wählerinnen und Wählern abgestraft, während die eigentlich Verantwortlichen in der Europäischen Kommission, im Internationalen Währungsfonds und in der Europäischen Zentralbank, die nicht demokratisch legitimiert sind, ungestraft davonkommen. Das kann so nicht bleiben. Wenn man Europa will, muss man auch ein verantwortliches Europa wollen. ({11}) Nun hat sich die Situation dramatisch zugespitzt - das stimmt -: Erstmals in der Geschichte ist eine Kreditrückzahlung an den IWF ausgesetzt worden. Die griechische Regierung und das griechische Parlament haben für den 5. Juli 2015 ein Referendum über die Zustimmung oder Ablehnung des jüngsten, ultimativen Spardiktats beschlossen und nicht, wie Sie, Herr Gabriel, es fälschlicherweise behaupten, über den Verbleib im Euro-Raum. Niemand darf nach geltendem Recht ein Land aus dem Euro werfen. ({12}) Es gibt allerdings die Gefahr des Staatsbankrotts und natürlich die Gefahr des Austritts Griechenlands aus dem Euro-Raum. Diese Gefahr besteht. Herr Gabriel, Sie haben ein kurzes Gedächtnis: Anfang September 2011 wollte die Regierung Ihrer Schwesterpartei, der Pasok, unter dem damaligen Chef Papandreou wegen der Sparpolitik, die aus Europa kam, ein Referendum durchführen, und zwar, weil die Konservativen nicht zustimmen wollten. In Berlin und beim IWF war man fassungslos. Man drohte Griechenland mit einer ungeordneten Insolvenz. Der IWF drohte sogar mit einem Zahlungsstopp. Papandreou wurde gestürzt, das Referendum durfte nicht stattfinden, und die Schwesterpartei der Union, die Nea Dimokratia, bot sich willfährig an, die drastische Kürzungspolitik umzusetzen. Nachher haben es Nea Dimokratia und Pasok zusammen gemacht. - Aber wie reagierte damals die SPD auf den Entschluss Papandreous? Martin Schulz, heute Präsident des Europäischen Parlaments, erklärte, dass er großes Verständnis für das Referendum habe, der Regierung bleibe gar nichts anderes übrig. Sie, Herr Gabriel, erklärten ebenfalls, dass Sie das Referendum befürworten. Wissen Sie, was ich mich frage: Wieso gilt Ihrer Meinung nach etwas für Pasok, aber nicht für Syriza? ({13}) Oder ist Ihr neuer Sitzplatz der Grund für den Sinneswandel? Damals saßen Sie dort unten, im Plenum, und jetzt sitzen Sie dort oben, auf der Regierungsbank. Wenn es an dem anderen Sitzplatz liegt, ist Ihre Politik höchst unglaubwürdig. ({14}) Es gibt jetzt Kritik an dem Zeitpunkt der Entscheidung für das Referendum. Zum Zeitpunkt muss ich aber Folgendes sagen: Tsipras, die griechische Regierung und das griechische Parlament können nicht irgendein Zwischenergebnis der Verhandlungen zur Abstimmung stellen, sondern nur ein Ultimatum. Da kann man sagen: Sollen wir das annehmen oder nicht annehmen? Deshalb ist der Zeitpunkt richtig gewählt. Aus der Sicht der griechischen Regierung ist er, wenn Sie so wollen, gar nicht klug. Die Banken sind geschlossen. Die Leute stehen an. Man weiß gar nicht, wie sich die Stimmung bis Sonntag noch verändert. Aber es blieb ihnen erst einmal nichts anderes übrig. ({15}) - Ich will Ihnen das erklären, damit Sie es verstehen; versuchen Sie es doch einmal. - Sie dürfen eines nicht vergessen: Wenn er zu dem Ultimatum Ja gesagt hätte, dann hätte er seiner Bevölkerung sagen müssen: Ich breche alle Wahlversprechen. Das mag ja in Deutschland Mode sein, aber in Griechenland nicht, um es einmal ganz klar zu sagen. ({16}) Für die Beendigung der Austeritätspolitik hat doch Syriza bei der Wahl so viele Stimmen bekommen. Wenn Sie der griechischen Bevölkerung sagen: „Ihr könnt wählen, was ihr wollt, wir sorgen dafür, dass immer die gleiche Politik fortgesetzt wird“, dann ist das ein Angriff auf die Demokratie und auf demokratische Wahlen. ({17}) Herr Gabriel, wenn Sie davon sprechen, dass die deutschen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nicht für die aus Ihrer Sicht falsche Politik der griechischen Regierung bezahlen dürfen, ist das auch völlig daneben. Wo bleibt eigentlich die Solidarität der SPD mit dem griechischen Volk, aber auch mit unseren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern? ({18}) Ich sage Ihnen: Wenn der Euro scheitert, dann kostet uns das sehr viel Geld. Wenn eine Staatspleite Griechenlands kommt, haften wir dank Ihrer Unterschrift - wir waren ja dagegen, aber Sie haben die Bürgschaften unterschrieben - mit 27 Prozent für die Schulden Griechenlands. Das macht über 80 Milliarden Euro. Es kann ja sein, Herr Schäuble, wie Sie richtig sagen, dass dies nicht sofort fällig wird, sondern nach und nach. Das ist ganz egal. Bezahlen müssen wir es. Das müssen Sie den deutschen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern einmal sagen. Wir wollen sie davon nämlich befreien. ({19}) Aber Sie mussten sich ja von der Kanzlerin belehren lassen, dass solche Äußerungen völlig kontraproduktiv seien. Die Tatsache, dass die Kanzlerin Sie korrigiert, spricht ja nun auch für sich. Die Kernfrage - da haben Sie recht, Frau Bundeskanzlerin - ist nicht die Frage der Schulden und auch nicht die Frage des Geldes, ({20}) sondern es geht um Macht und Demokratie. ({21}) Das hat der amerikanische Wirtschaftsnobelpreisträger Joseph Stiglitz auf den Punkt gebracht. Es geht um die Souveränität eines Landes, das Mitglied der Euro-Zone, Mitglied der Europäischen Union, Mitglied der NATO und Mitglied der Organisation der Vereinten Nationen ist. Übrigens sollten auch die Verteidigungsausgaben gekürzt werden. Das war ja interessant. Es gab einen Vorschlag der griechischen Regierung. Dann hat die Troika mehr vorgeschlagen. Was sagt jetzt Herr Stoltenberg, Generalsekretär der NATO? Das käme überhaupt nicht infrage. Alle NATO-Staaten müssten die Ausgaben erhöhen, auch Griechenland, und dürften sie nicht senken. ({22}) Mich würde interessieren, was denn nun gilt. Die ganzen bisherigen Auflagendiktate haben schwer in die Innenpolitik der betroffenen Länder eingegriffen. In Portugal und jetzt in Griechenland haben die dortigen Verfassungsgerichte Auflagen gestoppt, weil sie gegen die dortigen Verfassungen verstießen. Selbst um Verfassungen also scheren sich die demokratisch durch niemanden legitimierten Vertreter der Troika nicht. Frau Bundeskanzlerin, Sie haben gesagt, Europa basiere auf dem Recht, und das Recht müsse eingehalten werden, und haben der griechischen Regierung vorgeworfen, das Recht zu verletzen. Darf ich daran erinnern, dass die erste schwerwiegende Rechtsverletzung vor elf Jahren unter Rot-Grün durch Deutschland begangen wurde, als man gegen die Schuldenkriterien verstieß? Das war Europarecht. Der Maastrichter Vertrag ist verletzt worden. Damals wollte die EU-Kommission einen blauen Brief schreiben und wegen der Verstöße bei der Überschreitung der Schuldengrenze sogar Strafzahlungen festlegen. Das hat man sich dann aber letztlich bei Deutschland und später auch bei Frankreich nicht getraut. Aber gegen Griechenland muss alles angewandt werden. Das müssen Sie auch erst einmal erklären. ({23}) Vor fünf Monaten begannen die Verhandlungen der drei Institutionen mit der neuen griechischen Regierung. Die neue griechische Regierung wollte erklärtermaßen die gescheiterte Kürzungspolitik beenden. Dagegen stellten sich, wie Sie sagen, alle 18 Regierungen. Sie haben recht: Um die 400 Millionen Euro ging es nicht. Sie wollen die linke Regierung in Griechenland beseitigen. Das ist Ihr Ziel. ({24}) Ich werde es Ihnen beweisen. Die Frage ist, welche Mittel und Wege Ihnen dafür recht sind. Außerdem ging es noch um eine andere Frage; bei dieser können Sie zumindest zuhören. Es ging um die Frage der Bedingungslosigkeit. Sowohl die Bundeskanzlerin als auch Herr Gabriel als auch Herr Schäuble haben gesagt, die wollten einen Kredit bedingungsfrei, und man zerstöre den Euro, wenn man das bedingungsfrei mache. Worum ging es aber wirklich? Es ging darum, dass ein Betrag von 29 Milliarden Euro vom IWF zum Europäischen Stabilitätsmechanismus, ESM, umgeschichtet werden sollte, weil man in dem einen Fall 4 Prozent und in dem anderen Fall nur 1 Prozent Zinsen zahlen muss. Herr Schäuble, alle Schwäbinnen und Schwaben und alle Berlinerinnen und Berliner würden das auch so machen und statt 4 Prozent lieber nur 1 Prozent Zinsen zahlen. Das ist auch gar nicht weiter schlimm; damit ist man sogar einverstanden. Aber für das Umswitchen braucht man vorübergehend einen kleinen Umswitchungskredit. Daran wollen Sie weitere Bedingungen zum Sozialabbau knüpfen. Die griechische Regierung hat gesagt: Wenn wir schon so viele Kompromisse eingehen müssen, dann macht doch das bedingungsfrei. - Ich kann darin keine Gefährdung des Euro sehen, ganz im Gegenteil. Darauf hätten Sie meines Erachtens eingehen müssen. ({25}) Der Weg des Ultimatums war meines Erachtens falsch. ({26}) Man hätte weiterverhandeln müssen. Ich sage nicht, dass die griechische Regierung nicht auch Fehler begangen hat. ({27}) Ich weiß, dass sie gerade neue Vorschläge unterbreitet. Ich kann Ihnen sagen, was mich zum Beispiel stört: dass es noch keinen Vorschlag gibt, eine Steuer für die wirklich Reichen in Griechenland zu erheben. Es wird höchste Zeit! ({28}) Aber auch Ihre geliebte Troika hat dazu keinen Vorschlag unterbreitet. ({29}) Ganz im Gegenteil - hören Sie zu -: Die griechische Regierung hat vorgeschlagen, dass Gewinne über 500 000 Euro ein einziges Mal mit einer Zusatzabgabe belastet werden. Da sagte die Troika: Nein, das kommt überhaupt nicht infrage. - So sieht Ihre Troika aus, um auch das einmal ganz klar zu sagen. ({30}) Die Regierung hatte 48 Stunden Zeit und hat dann entsprechend reagiert. Ich habe es vorhin schon gesagt: Ein Grexit, ein Austritt Griechenlands aus dem Euro, wäre aus mehreren Gründen katastrophal. ({31}) - Nein, das hat auch Frau Wagenknecht nicht gefordert; ({32}) Sie müssen das richtig lesen. Der Journalist hat sich geirrt ({33}) und sich inzwischen entschuldigt. ({34}) - Hat sich bei Ihnen in den letzten 20 Jahren noch nie ein Journalist geirrt? Erzählen Sie mir hier nicht einen solchen Blödsinn. Das kann ich ja gar nicht mehr nachvollziehen. ({35}) Noch einmal zum Grexit. Er kann eine Kettenreaktion auslösen; das können wir alle gar nicht einschätzen. Wissen Sie genau, was danach passiert? Wir alle tun immer so oberschlau, können das aber gar nicht einschätzen. ({36}) - Ja, auch ich. Aber bei mir stimmt es wenigstens ein bisschen. ({37}) Aber davon einmal abgesehen - jetzt im Ernst -: Wir können die Folgen gar nicht genau einschätzen. Wenn es zu einer Kettenreaktion kommt und der Euro tot ist, dann, sage ich Ihnen, sind wir die Leidtragenden. Ich sage Ihnen auch, warum. Die Situation ist nicht dieselbe, die wir vor der Einführung des Euro hatten; sie ist eine ganz andere. All die anderen Währungen - Franc, Peseta, Drachme - wären heute nichts wert. Die Deutsche Mark hätte einen sehr hohen Wert. Die anderen Länder würden nicht auf uns eingehen und sagen: Wir vereinbaren mit euch feste Wechselkurse. - Warum? Sie würden die Billigkeit ihrer Währungen nutzen, um mehr exportieren zu können. ({38}) Unser Export bricht dann zusammen; das ist das Problem. Massenarbeitslosigkeit etc. wären die Folgen. Also geht das nicht. Eine Frage interessiert mich wirklich sehr: Wie weit können die Eingriffe in die Innenpolitik eigentlich gehen? Man kann sich über das Ziel verständigen. Wenn man Finanzhilfen gewährt, welcher Art auch immer, muss es Bedingungen geben, um die Rückzahlung zu gewährleisten. ({39}) Aber den Weg müssen alleine das Parlament und die Regierung des Landes bestimmen, nicht die Troika, wie es die letzten Jahre der Fall war. Das ist Ihr großer Fehler und Ihr großer Irrtum. ({40}) Stellen Sie sich einmal vor, Deutschland wäre in einer solchen Krise, die Troika gäbe uns solche Bedingungen vor und würde fordern: Rentenkürzung um 30 Prozent, hier kürzen, dort kürzen. - Glauben Sie, das würden wir uns bieten lassen? Aber anderen soll man das antun? Man sollte anderen nie etwas antun, was man sich selber nicht bieten lassen würde. ({41}) Deshalb sage ich Ihnen: Wir brauchen nicht weniger, sondern sogar mehr Europa. Wir brauchen aber ein anderes Europa, eine gemeinsame Wirtschafts-, Finanz-, Sozial-, Steuer- und Ökologiepolitik. ({42}) - Wissen Sie, Ihr Hass auf die Linken ist gar nicht nachvollziehbar. Warum sind Sie eigentlich Mitglied der SPD geworden? Ich kann nur sagen: Setzen Sie sich doch gleich zur Union, Herr Kahrs. ({43}) Wir müssten festschreiben, dass es in Europa immer um soziale Wohlfahrt und Steuergerechtigkeit gehen muss und nicht das Gegenteil herbeigeführt werden darf, wie es in den letzten Jahren geschehen ist. Die Kommentare, die ich zurzeit lese, sind zum Teil sehr von Hass und Feindseligkeit geprägt. Dagegen sollten wir in gemeinsamer Verantwortung etwas tun. ({44}) Das können wir - auch in Anbetracht unserer Geschichte überhaupt nicht gebrauchen. Ich leugne nicht, dass die Griechinnen und Griechen am nächsten Sonntag vor einer schweren Entscheidung stehen. Sie können einerseits der Regierung das Vertrauen aussprechen, sie können sich auch für das Gegenteil entscheiden. ({45}) Beides hat für sie Vor- und Nachteile. Eines aber geht nicht: Es gibt immer neue Angebote der griechischen Regierung, Frau Bundeskanzlerin. Die französische und die österreichische Regierung wollen gleich mit denen sprechen - egal ob es um ein drittes Paket oder worum auch immer geht. Sie aber sagen: Erst nach dem Sonntag. - Sehen Sie, das ist der Beweis; denn Sie hoffen, dass am Sonntag die Regierung stürzt. Deshalb wollen Sie vorher nicht mit ihr sprechen. Das geht nicht! Das ist verantwortungslos! Ich muss es Ihnen so deutlich sagen. ({46}) Wissen Sie, Herr Schäuble, ich habe es Ihnen gesagt und möchte es, um auch einmal Verständnis zu zeigen, gerne wiederholen: Da wird also eine linke Regierung gewählt, die Sie nicht mögen. ({47}) Das verstehe ich. Wenn ich in Ihrer Situation wäre und irgendwo anders würde eine erzkonservative Regierung gewählt werden, dann würde ich die ja auch nicht mögen. - Sie sollen der entgegenkommen. Dazu haben Sie keine Lust. Ich hätte auch keine Lust, einer erzkonservativen Regierung entgegenzukommen. ({48}) - Hören Sie mir doch einmal einen Moment zu! - Sie sagen sich: Wenn wir Kompromisse mit Griechenland machen, müssen wir die auch mit Spanien und Portugal machen. - Ich würde ebenfalls sagen: Wenn ich mit einer erzkonservativen Regierung Kompromisse mache, muss ich das, was ja nicht angenehm ist, auch mit anderen Ländern machen. Dann sagen Sie sich: Wenn wir das alles machen, werden auch die Linken in den anderen Ländern gewinnen, weil die in Griechenland erfolgreich waren. - Auch ich würde das sagen: Wenn ich all das mache, werden in den anderen Ländern die Erzkonservativen gewinnen, weil die erfolgreich waren. So weit kann ich das verstehen. Dann aber, Herr Schäuble, muss Ihr politisches Verantwortungsbewusstsein beginnen. Das heißt: Wir können uns einen Crashkurs nicht leisten. Ich hätte dann gesagt: Ich komme der erzkonservativen Regierung entgegen, auch wenn ich mir Ärger in den eigenen Reihen einhandele. - Den Mut hatten Sie nicht. Aber das verlange ich von Ihnen, weil die Frage viel zu wichtig ist. ({49}) Als Letztes: Frau Merkel, Sie tragen in diesen Tagen eine gewaltige historische Verantwortung. Finden Sie in letzter Sekunde noch eine Lösung! Sie haben die Chance, entweder als Retterin oder als Zerstörerin der europäischen Idee in die Geschichte einzugehen. ({50}) - Ja, als Zerstörerin! - Ich wünsche Ihnen, mir und vor allem unserer Bevölkerung, dass Sie sich doch noch endlich entschließen, zu einer Retterin zu werden. Danke schön. ({51})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort erhält nun der Kollege Sigmar Gabriel. ({0})

Sigmar Gabriel (Minister:in)

Politiker ID: 11003755

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zuerst, Herr Gysi, will ich Ihnen beantworten, warum wir da sitzen: Weil wir seit 1925 die Vereinigten Staaten von Europa verteidigen und für Demokratie und Freiheit in Europa eingetreten sind, als Nationalsozialisten und Kommunisten uns dafür noch verfolgt haben. Deswegen sitzen wir da. ({0}) Das ist der Grund, warum ich heute als Vorsitzender der SPD und für die SPD-Bundestagsfraktion spreche. Noch ein paar Bemerkungen zu Ihnen, Herr Gysi. Links, das ist für mich immer aufklärerisch und emanzipiert gewesen - und nicht rabulistisch. Jetzt erkläre ich Ihnen einmal, warum ich bis heute der Meinung bin, dass es gut gewesen wäre, das Referendum von Herrn Papandreou damals anzunehmen, und wo der Unterschied zum heutigen ist. Papandreou hat dafür geworben, dass die durchaus harten Bedingungen der EuroZone als Voraussetzung für Hilfspakete in Griechenland angenommen werden. ({1}) Er hat sich zu Europa verhalten und nicht dagegen. Das ist der Unterschied. ({2}) Ich bin immer noch der Meinung, dass es das gute Recht der Griechen ist, ein Referendum abzuhalten. Die Frage ist nur - das frage ich mich, da es seit gestern einen Brief gibt mit dem Vorschlag, über das zu verhandeln, wogegen sich das Referendum nach Auffassung der griechischen Regierung richtet -, was der Sinn des Referendums ist. Das müssen Sie erklären. ({3}) Noch eine Bemerkung dazu, warum ich glaube, dass es bei der Frage, wie wir mit der Krise umgehen, auch um deutsche Arbeitnehmer, Rentner und Familien geht. Seit Monaten fließen Milliarden Euro aus Griechenland ins Ausland ab - wohl kaum von den armen Menschen Griechenlands, wohl eher von den wohlhabenden. ({4}) Woher kommt das Geld? Dieses Geld kommt von der Europäischen Zentralbank. Wer bürgt für dieses Geld? Das sind unter anderem die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland und im Rest der Euro-Zone. Ich sage Ihnen: Ich halte es für einen Skandal, dass eine angeblich linke Regierung es zulässt, dass die Wohlhabenden des Landes das Geld außer Landes schaffen, aber nicht einen Antrag in Europa gestellt hat, um die Reichen, die keine Steuern zahlen, zu belangen, indem man ihre Konten in den Ländern, in die sie ihr Geld bringen, einfriert. Nichts ist getan worden. Unsere Leute haften für die Untätigkeit Ihrer politischen Freunde in Griechenland. ({5}) Eigentlich dachte ich: In der Tat - da hat der Herr Gysi recht - macht es Sinn, ein bisschen nachdenklich über die Frage zu sprechen, was da eigentlich los ist, was mit Herrn Gysi im Raum schwierig ist. ({6}) - Meine Bemerkungen dazu mache ich unter der Überschrift „Wie man in die SPD hineinruft, so antwortet der Vorsitzende“. Das ist das, was ich gemacht habe. ({7}) - Das müssen Sie ertragen. Frau Kollegin von den Grünen, wenn Sie sich mit den Argumenten der Linken einig machen, dann ist das Ihre Angelegenheit. Bisher habe ich Sie anders verstanden. ({8}) Was alle im Hause eint, ist doch, dass wir merken, dass Europa vor der größten Herausforderung seit den Römischen Verträgen steht, und zwar nicht wegen der Finanzlage in Griechenland, sondern weil sich die Entwicklung in Europa nach 60 Jahren zum ersten Mal umkehrt. Nach 60 Jahren, in denen unsere Eltern und Großeltern überall in Europa die Integration vorangetrieben haben, erleben wir derzeit, dass das Gegenteil passiert: Europafeindliche, rechtspopulistische Parteien sind nicht nur in den Parlamenten, sondern auch in den Regierungen. Europa versagt derzeit in einer Frage, die vielleicht viel bedeutsamer als die ist, über die wir heute reden, nämlich wie wir mit Flüchtlingen auf unserem Kontinent umgehen. ({9}) Hier sind wir übrigens dabei, unsere humane Orientierung in Europa zu verlieren. Das ist schlimmer, als Geld zu verlieren. ({10}) Ich glaube, dass Griechenland nur ein Teil dieser Entwicklung ist und dass wir in den nächsten Monaten und Jahren viel dazu beitragen müssen, diese Schubumkehr wieder rückgängig zu machen und wieder zu mehr und besserer Zusammenarbeit zu kommen. Gerade wir Deutschen, die wir die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Gewinner der europäischen Einigung sind, haben dabei natürlich eine besondere Aufgabe. Dafür braucht es Verantwortungsbewusstsein und Mut. Ich sage das am Anfang meiner Rede, weil die meisten hier wie auch ich angesichts der monatelangen Debatte und der Verwirrungen - auch der letzten Tage - in unseren Wahlkreisen und überall da, wo wir mit Menschen reden - auch in den Medien -, eher mit dem konfrontiert werden, was die Leute zu uns sagen: Was soll der Quatsch? Lieber ein Ende mit Schrecken! Hört doch auf! Lasst euch nicht am Nasenring durch die Arena führen! - Trotz der Tatsache, dass viele Unverständnis darüber haben, was in Europa passiert, trotz allen Ärgers und trotz aller Volten in der Politik der griechischen Regierung in den letzten Tagen dürfen wir uns von diesem Verantwortungsbewusstsein und von dem Mut zur Zusammenarbeit in Europa nicht abbringen lassen. ({11}) Deshalb gilt: Was immer diese Woche bringen mag, welche Wendung die griechische Politik bereithalten und was auch immer das Ergebnis des Referendums sein mag, bin ich mir sicher: Wir werden Lösungen finden. Weder Europa noch der Euro sind dadurch in Gefahr. Der Euro ist und bleibt eine stabile Währung, jedenfalls dann, wenn wir die Regeln und Prinzipien der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion einhalten. Genau darauf haben die 18 Mitgliedstaaten in den letzten Monaten und in der letzten Woche geachtet, meine Damen und Herren. Dabei wird es auch bleiben. Deshalb bleibt der Euro stabil. Deshalb wird auch Europa, jedenfalls was die Finanzen angeht, nicht in Instabilität geraten. Wenn wir uns heute erneut mit der Entwicklung in Griechenland beschäftigen, dann doch vor allen Dingen wegen der Lage der Menschen in diesem Land. Auch da gilt: Was immer geschieht, alle in diesem Haus und die allermeisten Menschen in Deutschland - da bin ich sicher - werden diesem Land und seinen Menschen auch in Zukunft helfen wollen. Das werden wir unter Beweis stellen. ({12}) Natürlich sind die 18 Mitgliedstaaten, auch Deutschland, zu neuen Verhandlungen und Gesprächen bereit. Aber der Konflikt um die staatlichen Finanzen Griechenlands und die Politik der Euro-Zone ist mehr als ein Konflikt um Geld; darauf hat die Bundeskanzlerin eben zu Recht hingewiesen. Es ist letztlich ein Konflikt über die Frage, ob die gemeinsam erarbeiteten Prinzipien und Regeln unserer Zusammenarbeit in Europa und in der Euro-Zone auch in Zukunft Geltung haben sollen. Übrigens sind wir uns bei den demokratischen und sozialen Regeln eigentlich einig: Meinungsfreiheit und Demokratie müssen überall in Europa gelten, auch in Ungarn. ({13}) Antidiskriminierung muss überall in Europa der Grundsatz sein, auch mit Blick auf Sinti und Roma. Da sind wir uns schnell einig. ({14}) Aber es gibt in der Euro-Zone eben nicht nur demokratische und soziale Spielregeln. Aufgrund der Vertiefung der Europäischen Union dort gibt es auch finanzielle und wirtschaftliche Spielregeln. Wer in die Europäische Union eintritt, der muss sich an diese Regeln halten. Wenn gegen diese Regeln verstoßen wird, dann muss man zumindest Wege suchen - wir haben das getan, auch Frankreich -, wie man wieder zurückfindet. Übrigens hat man mit dem Stabilitäts- und Wachstumspakt diese Regeln gefunden. Wir haben ihnen mit der Änderung des Grundgesetzes entsprochen. Ich sage das deshalb, weil wir diese Regeln und Prinzipien auch dann einhalten müssen, wenn man den Eindruck hat, man wolle ein Thema schnell loswerden. Zu diesen Prinzipien gehört eben: Jeder hat Anspruch auf Hilfe und Unterstützung. Aber jeder muss auch im eigenen Land so viel tun, wie er nur kann, um diese Hilfe und Unterstützung nicht dauerhaft zu benötigen. ({15}) Solidarität ist ein alter Begriff der sozialistischen Arbeiterbewegung in Europa. ({16}) Aber er meinte nie Kumpanei. Er meinte immer verantwortungsbewusstes Handeln für sich selbst und für andere. Beides gehört zum Begriff der Solidarität. ({17}) Genau hier lag und liegt der Konflikt mit der jetzigen griechischen Regierung. Es geht um die Einhaltung genau dieses Prinzips von Solidarität. Warum bestehen wir auf diesen Regeln? Weil die Regeln, die wir in Europa und in der Euro-Zone haben, gerade nicht national gefärbt sind. Diese Regeln dienen gerade nicht der Durchsetzung nationaler Interessen, sondern sie sollen uns Europäer verbinden und verbünden. Diese gemeinsamen Regeln folgen eben den Zielen und Werten, die wir uns gesetzt haben. Sie sollen uns helfen, uns als Europäer zu definieren und nicht nur als eine Addition von Einzelinteressen der Nationen. Die Regeln sollen uns helfen, in der Praxis eine gemeinsame europäische Identität unter Beweis zu stellen. ({18}) Das Gegenteil dieser Regeln und das Gegenteil des europäischen Rechts ist am Ende die Rückkehr zum reinen Verfolgen nationaler Interessen, die Rückkehr zu einer rücksichtslosen Rechnung, bei der die Vorrechte einer Nation die Interessen aller anderen Nationen in den Schatten stellen sollen. Würden wir dem Wunsch der griechischen Regierung nachgeben und keinerlei Maßnahmen verlangen, die das Land mittelfristig von europäischen Hilfsprogrammen unabhängig machen würden, dann wäre das der Einstieg in eine bedingungslose Transferunion, ({19}) bei der dann viele andere Staaten das gleiche nationale Recht für sich in Anspruch nehmen würden. ({20}) Denn wie wollte man den Spaniern, Italienern oder wem auch immer das verweigern, was wir für Griechenland bedingungslos einführen? Am Ende wäre die EuroZone - und damit nicht nur Griechenland, sondern ganz Europa - überfordert, und wir würden niemandem einen Gefallen tun. Die wirtschaftliche und soziale Lage würde schlechter statt besser. Aber selbst wenn man das wirtschaftliche und finanzielle Risiko einer solchen Lösung eingehen wollte, darf man nicht vergessen, dass es auch ein politisches Risiko gibt. Wenn jemand Europa sozusagen erpressen kann, indem er sagt: „Wenn du nicht mitmachst, dann wird das alles teuer für dich“, und wir darauf antworten: „Okay, du kannst deine nationalen Interessen gegen alle anderen durchsetzen“, dann wäre das geradezu ein Signal für diejenigen, die eine ganz andere Politik wollen und Europa zum Gegner erklärt haben. Das wäre das Fanal für die Nationalisten ganz rechts außen. Die Gewinner wären Le Pen, Wilders und andere und nicht die Bürger in Europa. ({21}) Das ist der Grund, warum wir in den monatelangen Verhandlungen beides wollten: sowohl Hilfe als auch verantwortungsvolles Handeln zu Hause. Es gibt übrigens kein Ultimatum, Herr Gysi. ({22}) Die Verhandler sind vom Verhandlungstisch aufgestanden, weil sie nicht einmal wussten, über was zu Hause in Griechenland gerade das Referendum ausgerufen wurde, wohingegen sich der Rest für die nächste Woche verabreden wollte, um weiterzuverhandeln. Das kann man doch nicht als Ultimatum bezeichnen. Fünf Monate lang ist verhandelt worden. Uns ging es, wie gesagt, um Hilfe, aber auch um verantwortungsvolles Handeln zu Hause. Das Bittere ist, dass dabei mit Rücksicht auf die sozialen Bedingungen ein Angebot gemacht wurde, das keinem anderen Krisenstaat in Europa zuvor jemals gemacht wurde: ohne Forderungen nach Rentenkürzungen quer durch alle Renten. ({23}) - Hören Sie auf! Ich höre Ihnen doch auch zu. Ich weiß, dass es manchmal wehtut, wenn jemand etwas anderes sagt, als man selber gerne hören möchte. Aber so ist das Leben eben. ({24}) Sie müssen doch akzeptieren: Ein 35-MilliardenEuro-Wachstumsprogramm ist keinem spanischen oder portugiesischen Regierungschef angeboten worden. Das ist erst möglich geworden, seit Jean-Claude Juncker in Europa keine reine Austeritätspolitik mehr betreibt, sondern das Gegenteil davon in Europa herbeiführen will. ({25}) Wir begrüßen jedenfalls die Wachstumsinitiative von Jean-Claude Juncker. Dennoch - darin sind sich sicherlich alle im Deutschen Bundestag einig - wollen wir auch nach dem Unterbrechen oder Abbrechen der Verhandlungen niemanden in Griechenland alleinlassen. Es geht nicht nur darum, die Menschen dort nicht alleinzulassen; manchmal hat man den Eindruck, wir sollten sie vielleicht auch nicht mit ihrer eigenen Regierung alleinlassen. ({26}) Meine Damen und Herren, wir haben, glaube ich, guten Grund, bei den Prinzipien der Euro-Zone zu bleiben. Zur Ehrlichkeit gehört aber auch, dass wir uns die Frage stellen müssen, warum zwei Rettungsprogramme für Griechenland gescheitert sind und Finanzhilfen in einer nie dagewesenen Größenordnung von über 200 Milliarden Euro keine Wende gebracht haben. Der Grund dafür ist nicht, wie eine neue Legende besagt, dass das alles den Banken gegeben wurde. Die Ursache liegt doch viel weiter zurück. Warum ist die Lage in Griechenland anders als in Portugal und Spanien, die beim Eintritt in die Euro-Zone ungefähr das gleiche wirtschaftliche Niveau hatten? Warum hat Portugal Griechenland fast überholt, und warum ist Spanien weit weg davon? Ich glaube, wir haben unterschätzt, wie groß die institutionellen Probleme Athens sind und wie hartnäckig Klientelismus und Korruption und ein blockiertes politisches System die ökonomische Entwicklung behindert haben. ({27}) Weder Europa noch die Troika und übrigens auch nicht die jetzige griechische Regierung sind an diesem Desaster des Landes schuld. Die Bürgerinnen und Bürger dieses Landes sind vielmehr Opfer der jahrzehntelangen Handlungen ihrer politischen und wirtschaftlichen Eliten, auch der beiden Parteien, der konservativen genauso wie der sozialdemokratischen. Sie haben dieses Land nicht sich entwickeln lassen; stattdessen haben sie sich bedient. ({28}) Griechenland hat es dringend nötig, dass die Reformen endlich einmal auch denen zu Leibe rücken, die die Profiteure dieses jahrzehntelangen Auszehrens des Landes gewesen sind. ({29}) Auch das gehört zur Wahrheit, wenn wir über die Entwicklung in Griechenland reden: Europa hat dieser Entwicklung jahrelang zugeschaut. Wir in Europa haben - aus welchen Gründen auch immer - diesen korrupten Staat, diesen Klientelismus und diesen Nepotismus nicht öffentlich thematisiert, sondern ausschließlich Geld geschickt. ({30}) Ich glaube, dass wir gut beraten sind, zur Kenntnis zu nehmen, was der IWF gerade über Griechenland veröffentlicht hat. In den Analysen wird gefolgert, dass Tiefe und Dauer der Rezession sowie die Höhe der Arbeitslosigkeit unterschätzt worden seien, dass die Lasten der Anpassung auf die sozialen Schichten besser verteilt werden müssten und dass die Schuldentragfähigkeit Griechenlands wohl zu optimistisch eingeschätzt worden sei. Folgt man diesen Punkten, dann tun wir gut daran, uns auf die Verhandlungen, die vermutlich - egal wie das Referendum ausgeht - in irgendeiner Weise wieder stattfinden werden, auf der Basis dieser ehrlichen Analysen des IWF vorzubereiten. Erstens. Natürlich muss das vernünftige Reformpaket verabschiedet werden, das die EU-Kommission am letzten Sonntag veröffentlicht hat. Zweitens. Darauf aufbauend brauchen wir Verhandlungen über neue Hilfsprogramme. Natürlich muss dabei über jede denkbare Alternative offen beraten werden. Niemand kann erwarten, dass die Bedingungen für Reformen in Griechenland dabei schwächer werden als diejenigen, über die wir in der Vergangenheit debattiert haben.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Minister, denken Sie auch ein bisschen an die vereinbarten Zeiten.

Sigmar Gabriel (Minister:in)

Politiker ID: 11003755

Das mache ich, Herr Präsident. Drittens. Wir brauchen ein technisches Hilfsprogramm vor allem in der Finanzverwaltung. Wir brauchen viertens Investitionen. Fünftens. Wir müssen die langfristige Schuldentragfähigkeit Griechenlands erneut prüfen. Ich glaube, dass wir diese Krise auch nutzen müssen, um über unsere Fehler in der Vergangenheit zu sprechen, aber auch über das, was in Zukunft kommen wird. Der Weg, den wir nur verantwortungsbewusst und mutig in vielen Fragen, nicht nur bei Griechenland, gehen müssen, wird am Ende nicht weniger Disziplin und nicht weniger gemeinsame Regeln erfordern, sondern mehr, auch was die Finanz- und Wirtschaftspolitik angeht. Wenn wir wollen, dass unser Kontinent seine politische, wirtschaftliche, soziale und kulturelle Bedeutung sowie sein einzigartiges Wohlstandsmodell im 21. Jahrhundert behauptet, dann brauchen wir mehr Verbindlichkeit in Europa und in der Euro-Zone und nicht weniger. Vielen Dank. ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Anton Hofreiter ist der nächste Redner für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Dr. Anton Hofreiter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003772, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Europäische Union ist in Gefahr. Vor unseren Augen zerbricht so manche Gewissheit, die Gewissheit, dass in der EU niemand zurückgelassen wird, die Gewissheit, dass sich am Ende der kluge Kompromiss und nicht das rein innenpolitische Kalkül durchsetzt. Dieser Gewissheit hat Herr Tsipras schweren Schaden zugefügt. Aber dieser Gewissheit haben auch Sie, Frau Merkel, und Sie, Herr Gabriel, schweren Schaden zugefügt. ({0}) Denn Sie alle stellen Ihr innenpolitisches Kalkül, Ihre innenpolitischen Interessen vor die gemeinsamen Interessen in Europa. Das ist das eigentliche Desaster, das wir in diesen Tagen erleben. ({1}) Was wir heute erleben, was wir wieder in der Rede von Frau Merkel erlebt haben und was wir bei Herrn Tsipras in den ganzen Tagen erlebt haben, ist: Sie drücken sich einfach um die Wahrheit herum. Herr Tsipras weiß doch selbst, dass Griechenland nicht ohne Strukturreformen aus seinen Schwierigkeiten herauskäme. ({2}) Selbst wenn im Moment in Griechenland Geld vom Himmel fallen würde, wären die Probleme doch nicht gelöst. ({3}) Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linken, dann wären doch die Probleme der schwachen Steuerverwaltung, der dysfunktionalen Katasterämter, der ganzen Korruption nicht gelöst. Aber Tsipras scheut sich einfach, diese Wahrheit auszusprechen, weil er sich wegen seiner Unerfahrenheit in seinen Wahlversprechen und eben auch in Ideologie total verstrickt hat. ({4}) Wenn Sie, Frau Merkel, ehrlich zu den Bürgerinnen und Bürgern in Deutschland wären, ({5}) dann würden Sie ihnen ganz offen sagen: Griechenland wird nicht die Sparauflagen einhalten und gleichzeitig die Schulden zurückzahlen können. Das wird nie klappen. ({6}) Das klappt sichtbar nicht. Genau deshalb brauchen wir endlich eine Umschuldung; denn nur mit einer Umschuldung hat Griechenland wenigstens eine Chance, wirtschaftlich wieder auf die Beine zu kommen. ({7}) Nur so haben wir die Chance, dass wir wenigstens einen Teil unserer Kredite wiedersehen. ({8}) Frau Merkel, ziehen wir doch einmal eine Bilanz der letzten fünf Jahre Rettungspolitik. ({9}) Sie haben davon gesprochen, dass wir eine Stabilitätsunion haben; Sie haben davon gesprochen, dass wir stärker aus der Krise herauskommen, als wir in die Krise hineingegangen sind. Wo ist denn das passiert? Seit 2008 ist Europa in der Krise. Wo ist denn Europa stärker geworden? Wo ist denn Stabilität vorhanden? ({10}) In Griechenland ist sicher keine Stabilität vorhanden. Aber auch wenn wir in den Rest Europas schauen, sehen wir: Rechtspopulismus nimmt zu, bei Flüchtlingen kann man sich noch nicht einmal auf Minimalkompromisse einigen. Wo ist denn Stabilität? Jahr für Jahr beobachten wir, dass die Situation in Europa schlimmer und komplizierter wird. Deswegen: Reden Sie doch nicht immer nur von Stabilität! In welcher Zukunft soll sie denn kommen? In einer ganz fernen Zukunft offensichtlich. ({11}) Die Auseinandersetzungen in Europa zwischen den Nationen haben massiv zu der Situation beigetragen. Das liegt an einer Ihrer Hauptstrategien, um die Krise zu lösen. Eine Ihrer Hauptstrategien, um die Krise zu lösen, war die Schwächung der europäischen Institutionen und die Rückverlagerung der Macht in die Hauptstädte. Der Effekt davon ist, dass wir inzwischen lauter nationale Regierungen haben, die nur noch für ihre nationalen Interessen kämpfen, und die europäischen Interessen, die gemeinsamen Interessen, kommen unter die Räder. ({12}) Aber wir wissen doch: Alle europäischen Staaten, auch Deutschland, sind deutlich zu klein, um eine Chance zu haben, die globalen Herausforderungen zu bewältigen. Klimakrise, die Flüchtlingsfrage, auch die Finanzkrise - Deutschland ist zu klein, um all das alleine zu bewältigen. Deswegen bräuchten wir doch etwas anderes. Wir bräuchten stärkere europäische Institutionen, mehr Rechte für das Europäische Parlament und eine starke europäische Demokratie, aber nicht diese Hauptstadtdiplomatie und Gipfeldiplomatie, die einfach nur nerven und scheitern. ({13}) Schauen wir uns diese gescheiterte Strategie an. Ich hätte mir am heutigen Tag von Ihnen wirklich gewünscht, zu hören, welche Vorstellungen Sie entwickeln, wie es in Europa weitergehen soll. Wie soll Europa weiterentwickelt werden? Ich habe davon in Ihrer Rede nichts, aber auch gar nichts gehört. ({14}) Nur wenige Sätze zu Ihrem Beitrag, Herr Gabriel: Ich frage mich manchmal wirklich, wie verzweifelt Sie oder die SPD sind, dass Sie so einen Redebeitrag halten müssen. ({15}) Wie getroffen und empfindlich Sie auf einen harmlosen Zwischenruf reagieren! Wissen Sie, ich kann es vielleicht verstehen. Sie haben nicht allen Rettungspaketen zugestimmt. Sie haben sich am Anfang, beim ersten Rettungspaket, noch vom Acker gemacht. Wenn Sie dann auf einen Zwischenruf von uns, die wir aus Solidarität immer an der Seite Griechenlands gestanden haben, so empfindlich reagieren, dann frage ich mich schon, was da wirklich los ist. ({16}) Noch ein paar Bemerkungen zu dem einen oder anderen Hitzkopf in den Koalitionsfraktionen, insbesondere in der Fraktion der CDU/CSU. Ich finde es, ehrlich gesagt, ziemlich atemberaubend, wie unbekümmert manche Leute von Ihnen über den Grexit reden, nämlich darüber, dass man Griechenland einfach aus der Euro-Zone schmeißen kann. Sie tun so, als ob ein Land verschwinden würde, nachdem es bankrottgegangen ist, und als ob die vorhandenen Probleme verschwinden würden. ({17}) Griechenland ist weiter ein europäisches Land, weiter NATO-Mitglied. Ich kann verstehen, wenn der eine oder andere Bürger in unserem Land nach dem ganzen Rumgenerve sagt: Lieber ein Ende mit Schrecken. - Aber ein Grexit würde kein Ende mit Schrecken sein. Er wäre vielmehr ein Auftakt zu neuem Schrecken. ({18}) Sie als verantwortliche Abgeordnete sollten es doch wissen. Wenn Griechenland endgültig bankrott ist, wird man diesem Land selbstverständlich weiterhelfen müssen. Wenn Griechenland endgültig bankrott ist, werden die 80 Milliarden Euro langfristig komplett weg sein. Da kann man doch nicht einfach sagen: Ja, mein Gott, dann treten sie halt aus dem Euro-Raum aus. - Ich finde das absolut unverantwortlich. ({19}) Was wir jetzt statt Anstrengungen, den Grexit zu verhindern, erleben, ist ein Schwarzer-Peter-Spiel, so nach dem Motto: Ich bin es nicht gewesen, ganz allein die andere Seite war es. - Die andere Seite sagt: Nein, nein, wir haben damit nichts zu tun. Die andere Seite war ganz allein schuld. - Bei diesem armseligen Spiel gibt es doch am Ende eigentlich nur noch Verlierer. Verlierer ist auf jeden Fall die Politik, weil die Menschen das Spiel „Die waren es - nein, die waren es“ zu Recht für unwürdig halten. Aber es gibt noch etwas anderes, was da unter die Räder kommt. Es kommt bei diesem Spiel zwischen nationalen Regierungen eigentlich die großartige Idee von Europa unter die Räder. ({20}) Die Idee von Europa umfasst viele einzelne Punkte, etwa Frieden, freies Reisen und vieles andere. Die Idee von Europa ist im Kern, dass Europa mehr ist als die Summe der einzelnen Nationalstaaten. Diese Idee droht mit diesen nationalen Schuldzuweisungen komplett unter die Räder zu kommen. ({21}) Egal ob Schäuble, Gabriel oder Merkel: Hören Sie einfach auf mit diesem Spiel! Was wir jetzt brauchen, ist ein faires Abkommen für Griechenland, ein Abkommen, bei dem es um Verlässlichkeit geht, ein Abkommen, das dafür sorgt, dass die Menschen und die Investoren in Griechenland wieder Vertrauen und Mut schöpfen, dass langfristig Stabilität in Griechenland einzieht. Eines der Hauptprobleme des geplanten Abkommens war doch seine Kurzfristigkeit. Was wäre selbst dann passiert, wenn es jetzt doch noch geschlossen worden wäre? Es hätte bis November dieses Jahres gegolten; das sind gerade einmal vier Monate. Nach nur vier Monaten hätten wir also denselben Zirkus, dieselbe Gipfeldiplomatie wieder erlebt. Herr Schäuble, Sie reden so gern von Verlässlichkeit: Dann lassen Sie uns doch ein Abkommen mit Griechenland treffen, das dem Motto folgt: Für die nächsten fünf Jahre ist Ruhe. Auf der anderen Seite bekommen die Griechen keine neuen Kredite, ({22}) sondern sie müssen mit dem vorhandenen Geld auskommen. - Wie sie dieses Geld ausgeben, wie sie ihre Probleme lösen, soll das griechische Parlament entscheiden. Wir sorgen dafür, dass die Kredite für Griechenland für fünf Jahre vom ESM übernommen werden. Dann herrscht Stabilität, und dann herrscht Verlässlichkeit. Wir können es uns in Europa nicht leisten, alle paar Monate diesen Zirkus aufzuführen, den wir hier inzwischen seit längerem erleben. ({23}) Für eine langfristige Lösung bräuchte es allerdings den Mut von allen Seiten. Es bräuchte Mut bei der griechischen Regierung; aber es bräuchte auch Mut bei der deutschen Regierung, nämlich den Mut, den Menschen die Wahrheit zu sagen. Geben Sie sich einen Ruck, Herr Gabriel, Frau Merkel, und sorgen Sie endlich für eine Lösung; denn es steht für Europa und seine Menschen viel zu viel auf dem Spiel, als dass man sich diese nationalen Spielchen weiter leisten könnte. Vielen Dank. ({24})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nächster Redner ist der Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble. ({0})

Dr. Wolfgang Schäuble (Minister:in)

Politiker ID: 11001938

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Hofreiter, teilweise haben Sie ja recht, nämlich dass wir in einer so schwierigen Lage, in der sich nicht nur Griechenland - Griechenland besonders und die Griechen, sondern auch Europa befinden, versuchen sollten, ernsthaft zu diskutieren und darüber nachzudenken: Wie können wir die Probleme langfristig lösen? Dass wir mehr Europa brauchen, das hat die Bundeskanzlerin gesagt; das hat Herr Gabriel in seiner Rede gesagt. Da stimmen wir überein. Es ist dann in dieser Situation ein bisschen schwierig, als Oppositionsführer seine Rede mit einer Beschimpfung der Regierung zu verbinden; dadurch wird es nicht sehr kohärent. Aber im Ernst müssen wir darüber reden. ({0}) - Langsam! Eigentlich sind wir ja alle einig, dass wir in einer außergewöhnlich ernsten Situation sind. Ich würde gern diejenigen, die schon 2010 dem Bundestag angehörten, daran erinnern, dass ich schon in der ersten Debatte über Griechenland im Frühjahr 2010 davon geredet habe, dass wir alle in unserer Rhetorik - ich habe da nicht nur den Bundestag gemeint, sondern auch die Öffentlichkeit - daran denken sollten: Am schwersten haben es die Menschen in Griechenland. - Das ist doch überhaupt keine Frage. ({1}) Wenn wir das ein bisschen reflektieren und darüber nachdenken, wie wir die Probleme lösen können, und darüber nachdenken, worin die Probleme eigentlich begründet sind, dann können wir auch aus einer schwierigen Lage heraus nach vorn kommen und die richtigen Schritte gehen. Aber man muss die Lage schon einigermaßen präzise analysieren. Man muss auch zur Kenntnis nehmen, wie es war. Herr Gysi, ich muss ein paar Dinge von Ihnen richtigstellen. Wenn Sie es jetzt einfach in aller Ruhe ertragen! Es ist ja auch ganz hilfreich. ({2}) Wir hatten 2009 in Griechenland die Situation, dass das Staatsdefizit und das Leistungsbilanzdefizit bei 15 Prozent gelegen haben. Das war die Situation 2009. Daraus hat sich ergeben, dass Griechenland, das überschuldet war, an den Finanzmärkten immer stärker an Vertrauen verloren hat und nicht mehr in der Lage war, sich noch zu erträglichen Bedingungen zu finanzieren. Daraus hat sich die Geschichte des ersten Griechenland-Programms entwickelt. Dann kam das zweite Programm. Ich will das nicht im Einzelnen nachzeichnen. Ich will nur darauf hinweisen, dass wir mit beiden Programmen, erstes und zweites Programm zusammen, Griechenland in den Jahren seitdem Finanzhilfen in der Größenordnung von insgesamt 240 Milliarden Euro zur Verfügung gestellt haben. Ich sage das, damit wir wissen, worüber wir reden, meine Damen und Herren. Es ist einfach wichtig. Dann haben wir einen Privatschuldenschnitt gemacht. Das war ein heftiger Kampf. Viele waren damals übrigens sehr skeptisch. Am Ende haben wir einen Schnitt, mehr oder minder freiwillig, von 53 Prozent gemacht. Ich sage Ihnen: Der deutsche Bundeshaushalt hat im Ergebnis einen spürbaren Anteil davon selbst getragen. Es gab Banken unter staatlichem Schutzschirm, die griechische Staatsanleihen hatten. Jedenfalls: Das war in einer Größenordnung von weiteren 100 Milliarden Euro. - So viel zum Sachverhalt. Ja, dann will ich doch die Geschichte mit dem Referendum darstellen. Ich war dabei. Sie ist falsch. Das Gegenteil, Herr Kollege Gysi, ist die Wahrheit. An einem Sonntag im Herbst 2011, wenn ich es richtig erinnere, am Sonntagabend, hat Herr Papandreou überraschend angekündigt, er wolle ein Referendum abhalten. Das war in der Woche, in der der G-20-Gipfel in Cannes stattfinden sollte und auch stattgefunden hat. Es gab dann ein bisschen Überraschung. Das kommt bei Ankündigungen griechischer Ministerpräsidenten vor. Am Mittwoch, am Vortag des Gipfels von Cannes, haben sich in Cannes eine Reihe der führenden Persönlichkeiten der Weltpolitik getroffen: die Bundeskanzlerin, der französische Staatspräsident - das war damals noch Herr Sarkozy -, der amerikanische Präsident Obama - der stieß dazu -, der EU-Kommissionspräsident Barroso, der Vorsitzende der Euro-Gruppe - das war damals JeanClaude Juncker. ({3}) - Ja, er war Vorsitzender der Euro-Gruppe. - Ich glaube, Frau Lagarde war noch Finanzministerin Frankreichs, wenn ich mich recht erinnere; Dominique Strauss-Kahn war noch Präsident des IWF. Alle waren da. Der deutsche Finanzminister war auch da. Deswegen kann ich es aus eigenem Wissen hier sagen. In diesem Gespräch - Herr Sarkozy hatte seinen G20-Gipfel eigentlich ein bisschen anders inszenieren wollen, nicht mit Griechenland - hat man Herrn Papandreou, der begleitet war von seinem Finanzminister - das war damals Herr Venizelos -, überzeugt, dass man dieses Referendum zum frühestmöglichen Zeitpunkt - der 6. Dezember ist dann ins Auge gefasst worden - abhalten solle. Die Fragestellung muss dann sein - darüber hat man auch gesprochen -: Ist das griechische Volk bereit, um im Euro zu bleiben, die notwendigen Strukturmaßnahmen zu ertragen, oder möchte das griechische Volk lieber aus dem Euro ausscheiden? Ich sage Ihnen noch ein Geheimnis - ich glaube, ich darf es sagen -: Die Bundeskanzlerin hat die Fragestellung zuerst notiert. Sie schreibt manchmal in solchen Gesprächen die Dinge gleich auf. So ist es vereinbart worden. Das Ergebnis war: Gegen 22 Uhr war die Besprechung zu Ende. Herr Papandreou ist mit Herrn Venizelos zurückgeflogen. Wir waren davon ausgegangen: So wird es gemacht. - Ich habe eine Wette verloren. Die damalige spanische Finanzministerin - sie war Sozialistin und kannte ihre Genossen - hat gesagt: Ja, ja, aber es wird kein Referendum geben. - Daraufhin habe ich gesagt: Entschuldigung, ich war dabei. Die haben das verabredet. - Dann sagte sie: Du wirst sehen, es wird nicht stattfinden. - Wir haben um eine Flasche Wein gewettet. Ich habe sie bezahlt. Am nächsten Tag wurde nämlich Herr Papandreou von seiner Partei Pasok gestürzt. Das ist die historische Wahrheit. Sagen Sie in Zukunft bitte nicht wider besseres Wissen, wir hätten damals verhindert, dass Griechenland ein Referendum gemacht hat. Nein, wir haben mit ihnen das Gegenteil verabredet. So ist die Wahrheit. Alles andere ist die Unwahrheit. ({4}) Ich möchte eine weitere Bemerkung machen. Ihr Argument klingt gut; es dient polemischen Zwecken. Das können Sie besser als die meisten, viel besser als ich. Aber linke Polemik kann ich sowieso nicht so gut; das ist klar. Sie sagen, es ist alles nur für die Banken. Herr Hofreiter, da sind wir beim Kern des Problems. Wir haben eine Währungsunion. Wenn Griechenland nicht Mitglied einer gemeinsamen Währungsunion wäre, hätten wir mit Blick auf die Hilfsprogramme eine völlig andere Situation. Bei einer gemeinsamen Währungsunion beruht jede moderne Volkswirtschaft auf der Voraussetzung eines funktionierenden Finanzsystems. Es geht nicht ohne Banken. Das mag ärgerlich sein. Da kann man demagogisch sagen: Sie wollen alles nur für die Banken. - Aber in dem Moment, wo das Finanzsystem nicht mehr leistungsfähig ist - Sie können es sich ja von Herrn Steinbrück noch einmal erklären lassen; der war Finanzminister, als auch uns die Finanzkrise getroffen hat -, bricht jede arbeitsteilige Wirtschaft zusammen. Hinterher kann man natürlich sagen, das Geld sei an die Banken geflossen, aber das ist unter jedem Niveau einer sachlichen Auseinandersetzung. Nein, man hat die Voraussetzung für eine funktionierende Wirtschaft in Griechenland aufrechterhalten. Das ist unter den Bedingungen einer Währungsunion kompliziert. Deswegen war die Fragestellung im Referendum schon eine sehr ernsthafte. ({5}) - Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bin schon lange Mitglied des Deutschen Bundestages, und ich bin schon lange Mitglied der Regierung. ({6}) - Bei dem Teil, der jetzt kommt, sind Sie am besten still. Ich habe eine präzise Erinnerung an das Jahr 1990. Am 1. Juli 1990, also heute vor 25 Jahren, ({7}) ist in Deutschland die Währungsunion eingeführt worden. Darüber konnte man ökonomisch sehr unterschiedlicher Meinung sein. Herr Lafontaine beispielsweise war dagegen - und nicht alle Argumente waren ökonomisch falsch -, und einige andere hatten auch Zweifel. Aber politisch konnte man damals nur schwer dagegen sein. Das wissen Sie alle; ich will die Geschichte nicht wiederholen. Aber dass unter den Bedingungen einer stabilen, frei austauschbaren Währung die wirtschaftlichen Anforderungen an Wettbewerbsfähigkeit total andere sind, das muss man doch den Deutschen, die das Jahr 1990 erlebt haben, nicht erklären. Natürlich wissen wir, welchen Anpassungsbedarf es damals in der ehemaligen DDR gab. - Das ist das ökonomische Problem, wenn es darum geht, Griechenland unter den Bedingungen der Währungsunion auf den richtigen Weg zu bringen. ({8}) Tut mir leid, das ist schon schwierig. Und dann sind alle Polemik und alles, was Sie pflichtgemäß gegen Frau Merkel oder gegen mich oder gegen Herrn Gabriel sagen müssen, ohne jegliche Substanz in der Sache. Deswegen ist die Frage von 2011 schon die entscheidende. Die bleibt es auch. Natürlich wissen die Griechen sehr wohl, welche Vorteile die Mitgliedschaft im Euro hat: die niedrigen Zinsen, die sie nie hatten, und alles andere. Das ist wahr, vorübergehend. Aber auf die Anforderung, irgendwann eine wettbewerbsfähige Wirtschaft aus eigener Kraft zu haben, können wir nicht verzichten, ob in zehn Jahren oder wann auch immer. ({9}) Das war die Grundlage des Programms. Übrigens, Herr Gysi, Sie unterliegen einem weiteren Irrtum. Ich sage das auch zur inhaltlichen Aufbesserung Ihrer Polemik: Dieses Programm ist doch niemandem aufgezwungen worden. Das ist zwischen der griechischen Regierung und den drei Institutionen ausgehandelt worden. Die Aufgabe der Institutionen war es, die Erfüllung dessen, was vereinbart worden ist, zu überprüfen, und nicht, etwas zu oktroyieren. Nein, darum geht es überhaupt nicht. Es ist eine völlig wahrheitswidrige demagogische Polemik, wenn man sagt: Die zwingen den Griechen irgendetwas auf. ({10}) Es geht nur darum, dass Griechenland einhalten muss, was vereinbart wurde. Wieder und wieder waren wir großzügig. Wer Mitglied des Haushaltsausschusses ist, weiß, dass wir manchmal fast rote Ohren bekommen haben, wenn wir über die Auszahlung der nächsten Tranche gesprochen haben. Es hat uns jedenfalls nicht an Flexibilität gemangelt. Es bestand immer das grundlegende Problem. 2014 befand sich Griechenland dann doch auf einem guten Weg. Sie waren nicht über den Berg, aber auf einem besseren Weg, als wir angenommen hatten, als das Programm aufgelegt wurde. Dann hat Herr Tsipras einen Wahlkampf geführt, in dem er den Griechen zwei Dinge versprochen hat: Wir bleiben im Euro, aber ohne Konditionalität und ohne Programm. - Ich habe zu ihm gesagt - ich habe im Gegensatz zu vielen anderen mit ihm gesprochen, als er in Berlin war -: Wenn Sie das im Wahlkampf versprechen, kann ich Ihnen persönlich nur wünschen, dass Sie nie die Wahl gewinnen. Denn dieses Versprechen werden Sie niemals erfüllen können. Es ist objektiv unmöglich. Sie können nicht in der Währungsunion sein, ohne massive Anstrengungen für strukturelle Änderungen zu unternehmen. ({11}) Nun ist es so gekommen, und die Lage hat sich natürlich dramatisch verschlechtert. Seit diese Regierung im Amt ist, hat sie nichts getan. Sie hat Veränderungen nur rückwärts gemacht. Sie hat bereits getroffene Vereinbarungen zurückgenommen. Sie hat wieder und wieder verhandelt. Wir wissen noch nicht einmal, ob die griechische Regierung ein Referendum abhält, und, wenn ja, ob sie empfiehlt, dafür- oder dagegenzustimmen. Sie können doch nicht allen Ernstes verlangen, dass man in einer solchen Lage über irgendetwas redet. Wir müssen erst einmal warten, was sie in Griechenland nun eigentlich machen. ({12}) Seit diese Regierung im Amt ist, hat sich die Lage ständig verschlechtert, und sie verschlechtert sich jeden Tag und jede Stunde weiter. Natürlich ist die wirtschaftliche Lage außergewöhnlich schwierig. Natürlich ist die Situation die, dass das Bankensystem immer notleidender wird. Ich könnte Ihnen Einzelheiten des Bankensystems, der Bestände und der Bilanzen nennen. Die Bestände sind im Wesentlichen Forderungen an den griechischen Staat. Ein erheblicher Teil sind zukünftige Steuererstattungsansprüche auf die künftig fälligen sogenannten Tax Credits, die natürlich auch nicht wirklich belastbar sind. So sieht also die aktuelle Situation aus. In dieser Situation ein solches Hin und Her zu veranstalten, ist ein Handeln ohne jeden Sinn und Verstand. Aus diesem Grunde werden wir mit allem Ernst darüber reden müssen: Können wir in dieser schwierigen Situation eine neue Lösung finden? Diese wird aber viel grundlegender sein. Wir befinden uns im Bereich des ESM. Das hat sich alles entwickelt. Für Griechenland haben sich durch die dramatischen Entscheidungen seiner Regierung - ich will das gar nicht nachzeichnen; wir wissen ja alle, wie es gewesen ist - eine Reihe von Dingen wesentlich verschlechtert. Es ist außergewöhnlich schwierig, dafür eine Lösung zu finden. Aber wenn wir Europa stärken wollen - darum geht es; das müssen wir uns gegenseitig gar nicht absprechen; da kann man darüber streiten oder diskutieren, was die richtige Lösung ist -, ist die entscheidende Voraussetzung ({13}) - Herr Kollege Hofreiter, glauben Sie mir: ich habe mich wirklich in meinem Leben lange für Europa engagiert -: Es muss ein Mindestmaß an Vertrauen geben. ({14}) Ich kenne die Diskussion darüber, ob es eine Währungsunion ohne politische Union geben kann. Wir haben gesagt: Wir fangen an. - Wir sind in Europa immer schrittweise vorangegangen, um dann weitere Schritte folgen zu lassen. Jetzt müssen wir weitere Schritte folgen lassen. ({15}) Aber eine Währungsunion, in der ein Partner sagt: „Es interessiert mich alles nicht; ich mache nichts, und ich halte mich an nichts, was vereinbart worden ist“, kann nicht funktionieren. Vertrauen und Verlässlichkeit sind eine Grundvoraussetzung, gerade was die Institutionen betrifft. Ich will Ihnen von einer kleinen Episode aus der Beratung am Samstag erzählen. ({16}) - Nein, nicht „oje“. Hören Sie doch zu! - Am Samstag musste Herr Varoufakis erläutern, was sie angesichts dieser Situation jetzt gemacht haben. Dann haben wir ihn gefragt: Was ist denn nun mit dem Referendum? Sind Sie dafür oder dagegen? Dann hat ein Kollege zu ihm gesagt: Also, Sie sagen uns jetzt, bei dem Referendum wird die griechische Regierung dem Volk empfehlen, es abzulehnen. Daraufhin hat der griechische Finanzminister gesagt: Wenn das Volk dann aber entgegen der Empfehlung der griechischen Regierung zustimmt, dann machen wir das als Regierung. Dann hat der Kollege gefragt: Wie verträgt sich das damit, dass wir immer gesagt haben: „Ein Programm beruht auf der Grundvoraussetzung, dass jede Regierung, die es abschließt, sich auch dazu verpflichtet, es umzusetzen“? - In unserer internationalen Sprache nennen wir das Ownership, und das bedeutet: Die Regierung engagiert sich dafür, dass ein Programm umgesetzt wird. Das haben die Portugiesen getan, das haben die Spanier getan, das haben die Zyprioten getan - die haben es wirklich schwer gehabt - und alle anderen auch. Aber eine Regierung, die ihrem Volk empfiehlt, es abzulehnen und damit überstimmt wird, hat doch kein Vertrauen. Diese Frage konnte Varoufakis nicht beantworten. Deswegen, liebe Kolleginnen und Kollegen: Die Lage ist für Griechenland schwierig. Aber die Europäische Kommission hat gesagt: Die Euro-Gruppe steht bereit, um, wo immer wir können, zu helfen. - Zunächst muss aber in Griechenland die Entscheidung darüber getroffen werden, was sie wollen. Dann müssen wir Lösungen finden, die seriös und tragfähig sind, sonst zerstören wir mehr, sonst zerstören wir die Glaubwürdigkeit des europäischen Projekts. Das steht auf dem Spiel. Deswegen verteidigen wir Europa, wenn wir sagen: Wir müssen die Grundlage für neues Vertrauen schaffen, das wir von niemandem einseitig zerstören lassen können. Herzlichen Dank. ({17})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nächster Redner für die SPD-Fraktion ist der Kollege Carsten Schneider. Präsident Dr. Norbert Lammert ({0})

Carsten Schneider (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003218, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Fraktionsvorsitzende der Grünen hat zu Beginn seiner Rede die Sozialdemokraten gescholten, dass wir dem ersten Hilfspaket für Griechenland nicht zugestimmt haben. Es stimmt, dass wir uns damals enthalten haben, und das aus gutem Grund. Der Bundesfinanzminister hat es gerade deutlich gemacht: Griechenland hat in den fünf Jahren niemals dauerhaft und glaubwürdig eine Schuldentragfähigkeit gehabt, sondern es wurden immer beide Augen zugedrückt, wenn ein Kredit gegeben wurde. Deswegen haben wir 2010 gesagt, als von der damaligen Bundesregierung die Krise in Griechenland noch negiert wurde: Wir geben kein Geld etc. - Ich kann mich daran noch genau erinnern. Wir haben gesagt: Bevor es Kredite von europäischen Staaten gibt, muss es erst einmal eine Beteiligung der Gläubiger, das heißt der Banken und der privaten Investoren, geben. - Das ist nicht geschehen. Und das ist der Fehler, unter dem wir noch heute leiden. ({0}) 100 Milliarden Euro wurden von privaten Gläubigern auf den Staat übertragen, auf die Europäische Union, die Länder der Euro-Zone. Wir reden jetzt über eine Summe von insgesamt 240 Milliarden Euro plus 100 Milliarden Euro Schulden der griechischen Banken bei der Zentralbank über Notfallkreditlinien. Man kann sich die Frage stellen: Gibt es überhaupt noch eine Lösung innerhalb der Regelwerke, die wir uns mit dem ESM, der jetzt gilt, gegeben haben? Man muss sagen: Es wird schwierig. Man muss sich fragen: Was ist die beste Lösung für Europa, und was ist die wirtschaftlich beste Lösung für Griechenland und die Euro-Zone? Ich bin hier nicht so leichtfertig wie viele andere Ökonomen und auch Politiker, die sagen: Lasst sie herausgehen, alles kein Problem. Wir sind sicher. Wir haben den ESM, die Bankenunion etc. - Das wird nicht so einfach sein. Niemand hat vorher innerhalb der hochzivilisierten, hochökonomisierten Welt dieses Experiment des Ausschlusses aus der Währungsunion gemacht. Das erste Mal fällt ein Land aus der Euro-Zone - Griechenland - beim Internationalen Währungsfonds in den Status von Simbabwe. Sicherlich, kurzfristig wird es vielleicht keine Auswirkungen geben, aber langfristig werden sie gravierend sein. Deswegen müssen wir sehr genau überlegen, was wir jetzt tun. Zunächst einmal stimmen wir darin überein, dass die griechische Regierung extrem viel Zeit verloren hat und Fehler gemacht hat. Die Besteuerung der Reichsten, die Bekämpfung der Korruption, das Eingeständnis, dass die Fehler auch in Griechenland gemacht wurden - all das fehlt. All das muss, wenn es neue Hilfen gibt, Teil der Programme sein. Wir müssen nicht zu sehr auf die Zahlen schauen, sondern viel mehr auf die Struktur und darauf, ob Griechenland sein Schicksal in die Hand nimmt und die Fehler korrigiert, die im System liegen, um sich selbst zu helfen und nicht immer nur auf andere zu gucken. ({1}) Wenn das griechische Volk am Sonntag die Entscheidung trifft, im Euro zu bleiben - um nichts anderes geht es: ja oder nein; wenn es ablehnt, dann ist es mehr oder weniger vorbei -, wenn die Griechen bereit sind, die jetzt härter gewordenen Bedingungen zu akzeptieren - die letzten Wochen sind nicht spurlos an Griechenland vorbeigegangen, die Wirtschaft ist eingebrochen, das Loch wird größer, die Banken sind pleite, obwohl sie im November noch sehr gut aussahen -, dann, finde ich, muss man mit ihnen reden. Die Tür muss offen bleiben; denn ein Austritt Griechenlands aus der Währungsunion hätte nicht nur Folgen für Griechenland, sondern für die gesamte Euro-Zone - so stabil, wie einige glauben, ist sie nicht. Ich möchte dieses Experiment nicht eingehen, wenn es sich verhindern lässt. ({2}) Was ist die Gefahr? Eigentlich muss die Europäische Zentralbank, der wir die komplette Aufsicht zumindest über die systemrelevanten Banken, auch über die vier großen griechischen Banken, übergeben haben und die dabei ganz unabhängig ist, in dieser Woche feststellen, dass alle vier Banken insolvent sind. Sie wird wahrscheinlich aber eine politische Lösung wählen und nicht so genau hingucken. Das ist extrem schwierig. Denn es ist der erste Anwendungsfall, um festzustellen, ob die europäische Bankenaufsicht glaubwürdig ist. Wenn es nicht einmal gelingt, bei vier relativ kleinen Banken tatsächlich die Konsequenzen zu ziehen, wenn sie insolvent sind, was passiert dann erst, wenn es eine richtige Großbank in Deutschland oder in Europa erwischt? Ist dann die Bankenaufsicht so stark, dass sie es durchzieht und uns letztendlich vor den Verlusten schützt, die im Bankensektor entstehen? Das ist die große Glaubwürdigkeitsfrage. Die EZB ist die zentrale Institution, die die europäische Währung derzeit noch zusammenhält. Es ist nicht der ESM, es ist nicht eine politische Aussage von uns es ist die Europäische Zentralbank mit ihrer Feuermacht unter der Führung von Mario Draghi. Insofern sollten wir an dieser Stelle dankbar sein, dass er uns die Zeit gegeben hat. Wir sollten die Zeit aber auch für einen klugen Vorschlag nutzen, wie wir - mit einer wie auch immer gearteten griechischen Regierung und einem Volk, das sich seines Schicksals annehmen will - dann auch helfen können. Bei diesen Hilfen geht es um mehr als nur um Kredite; es wird auch um Wachstumsimpulse gehen. Über kurz oder lang werden wir auch über die Frage der dauerhaften Tragfähigkeit der griechischen Schulden zu sprechen haben. Der teuerste Weg für Deutschland ist der Weg des Austritts Griechenlands aus der Euro-Zone. ({3}) Denn dass die Griechen mit einer abgewerteten Währung in der Lage sein sollten, in Euro lautende Staats10972 Carsten Schneider ({4}) schulden in Höhe von dann 340 Milliarden Euro zurückzuzahlen, halte ich für ausgeschlossen. ({5})

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000305

Vielen Dank. - Als nächster Redner hat SvenChristian Kindler von Bündnis 90/Die Grünen das Wort.

Sven Christian Kindler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004070, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Carsten Schneider von der SPD-Fraktion hat sich gerade gegen einen Grexit ausgesprochen. Ich hätte mir gewünscht, dass wir, wenn wir darüber reden, dass Europa eine Rechtsgemeinschaft ist - Frau Kanzlerin, Sie haben das gesagt -, auch klarmachen, dass Griechenland im Euro bleibt; denn das gehört zur Rechtsgemeinschaft Europa dazu. Das haben weder Herr Gabriel noch Frau Merkel noch Herr Schäuble gesagt: Griechenland bleibt im Euro. - Das hätte hier von der Regierung klar gesagt werden müssen. ({0}) Wir stehen jetzt vor dem Scherbenhaufen der Verhandlungen. Ich finde, die Linkspartei muss klar sehen, dass man hier nicht einseitige Schuldzuweisungen vornehmen kann. ({1}) Ich war letzte Woche in Athen zu Gesprächen mit der Opposition und der Regierung. Man muss festhalten: Herr Tsipras hat bis zum Ende gezockt, er hat sich verzockt. Die griechische Regierung hat in den letzten Monaten einen sympathischen Einsatz im Kampf gegen die Austerität gezeigt; aber für gerechte Strukturreformen im Staatsaufbau, im Kampf gegen Steuerbetrug und beim Aufbau der Steuerverwaltung hat sie viel zu wenig gemacht. Das war bisher enttäuschend. Das muss man aus linker Perspektive kritisieren können. ({2}) Man darf es sich jetzt aber nicht - das sage ich mit Blick auf CDU/CSU und SPD - zu einfach machen. Man muss sich fragen, wie Griechenland und Europa in diese Lage gekommen sind. Man kann diese Krisenpolitik nicht einfach als Erfolgsstory beschreiben. Wir haben doch gesehen, dass die Institutionen und auch die Bundesregierung mit ihrer Krisenpolitik keinen Erfolg gehabt haben. In Portugal, Spanien und Italien gibt es eine hohe Jugendarbeitslosigkeit. Die Investitionen in Europa sind gering. Es gibt Deflationsgefahren. In Griechenland gibt es große Armut, hohe Schulden - und es kommen immer mehr hinzu - und eine hohe Jugendarbeitslosigkeit. Frau Merkel, da kann man doch nicht sagen: Wir leben in einer Stabilitätsunion. ({3}) Es wird lediglich eine kurzfristige Krisenpolitik verfolgt. Aber diese Kaputtsparpolitik in Europa ist gescheitert. ({4}) Jetzt hat die Kanzlerin gesagt, in den nächsten Tagen gehe es nicht um die Zukunft Europas. Ich frage mich: In welcher Welt lebt die Kanzlerin eigentlich? - Natürlich geht es um die Zukunft Europas! Es geht nicht nur um Griechenland, es geht nicht nur um den Euro. Es geht darum, dass wir in Europa in vielen Fragen in einer historischen Krise stecken. Gerade das zentrale Projekt der europäischen Integration, der Euro, steht auf der Kippe. Deshalb muss man klarmachen, dass man gemeinsam dafür kämpft, dass der Euro erhalten bleibt, dass Griechenland im Euro bleibt. Man darf das Problem nicht kleinreden, Frau Merkel. ({5}) Ich frage mich, was man in dieser Situation machen kann. Soll man weitere Gespräche führen? Soll man einfach das Referendum abwarten und gucken, was passiert? Sollte man nicht versuchen, alle Möglichkeiten, die es gibt, zu nutzen? Österreich und Frankreich haben gesagt, dass sie zu weiteren Gesprächen bereit seien. Die griechische Regierung hat jetzt ein neues Angebot vorgelegt, und es ist bestimmt nicht das letzte Angebot. Das Chaos in der griechischen Regierung ist manchmal schwer zu verstehen, aber trotzdem kann man das Angebot nicht kühl abweisen und sagen, dass es bis Sonntag keine Gespräche gibt. Vielmehr muss man jetzt jede Chance nutzen. Deswegen fordern wir einen europäischen Sondergipfel. Der ist jetzt notwendig, Frau Merkel. ({6}) Wir brauchen einen Kompromiss, auch wenn er für alle Seiten nicht einfach ist. Wir als Grüne haben skizziert, was notwendig ist. Wir brauchen eine wirtschaftliche Perspektive für Griechenland; denn nur so können Schulden zurückbezahlt werden, nur so können Menschen in Arbeit kommen, und nur so kann die soziale Krise bekämpft werden. Dafür braucht Griechenland Zeit, Ruhe, Stabilität und auch eine begrenzte Umschuldung. Es ist aber notwendig, dass sich Griechenland auf die notwendigen Konditionen einlässt. Eine gerechte Strukturreform in Griechenland ist essenziell und notwendig. Auch mehr Investitionen sind notwendig. Ein solcher Kompromiss ist für alle Seiten schwierig, für Griechenland, aber leider auch für die Union - er wäre auch für Frau Merkel schwierig wegen der Umschuldung -, aber ich finde, man muss sich jetzt bewegen und für einen Kompromiss kämpfen, damit Griechenland im Euro bleibt. ({7}) Natürlich geht es in diesen Tagen um die Zukunft Europas. Ich als junger Mensch frage mich: Worum geht es jetzt eigentlich in Europa? Welches Angebot macht Europa den jungen Menschen? Wie soll es in Zukunft mit Europa weitergehen? Wohin wir in Europa auch blicken: Es gibt Nationalismus, Rechtspopulismus, schwierige Krisen an den Außengrenzen und eine hohe Jugendarbeitslosigkeit. Welches materielle Angebot macht Europa den jungen Menschen? Europa wird immer als Friedensperspektive, als Friedensprojekt dargestellt, immer mit dem Versprechen, für Wohlstand zu sorgen, dafür zu sorgen, dass es den Menschen gut geht. Der europäische Sozialstaat ist eine Errungenschaft Europas. Ich finde, wir dürfen uns keine verlorene Generation leisten. Wir müssen gemeinsam für ein demokratisches Europa kämpfen. Darum geht es jetzt in den nächsten Tagen. ({8})

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000305

Vielen Dank. - Als nächste Rednerin hat Gerda Hasselfeldt für die CDU/CSU-Fraktion das Wort. ({0})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000825, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bevor ich auf Griechenland im Besonderen zu sprechen komme, will ich eines klarstellen: Wir diskutieren seit etwa fünf Jahren über die Staatsschuldenkrise in einigen europäischen Ländern. Die Maßnahmen zur Bekämpfung dieser Krise, die wir in den letzten fünf Jahren in diesem Haus beschlossen und in Europa auf den Weg gebracht haben, waren erfolgreich. ({0}) Die Länder Spanien, Portugal und Irland haben ihre Programme erfolgreich abgeschlossen, und Zypern ist auf einem guten Weg. Deshalb müssen wir uns bei solchen Diskussionen schon fragen: Warum ist das so? Es ist nicht so, wie Herr Hofreiter gesagt hat, dass nichts geschehen ist, dass alles nicht erfolgreich war. Gerade in diesen Ländern ist zu spüren - das ist auch nachzulesen -, dass die Programme erfolgreich waren. ({1}) Warum waren diese Länder erfolgreich? Sie waren es, weil nicht nur die Solidarität in Europa gepflegt wurde, weil nicht nur mit Programmen geholfen wurde, sondern diese Länder auch eigene Anstrengungen unternommen haben. Diese Länder haben sich an die Regeln, die wir uns gemeinsam gegeben haben, gehalten, ({2}) sie haben sich an die Vereinbarungen und an die Vorgaben der Troika gehalten, und sie haben eigene Anstrengungen unternommen. Das war das Erfolgsrezept. ({3}) Die derzeitige Situation in Griechenland ist alles andere als einfach. Diese Situation hat sich niemand gewünscht, aber sie ist nun einmal so, wie sie ist. Die Europäische Kommission, die Europäische Zentralbank und der Internationale Währungsfonds haben Griechenland ein ausgesprochen großzügiges Angebot unterbreitet. Griechenland hat dieses Angebot abgelehnt. Es hat die Verhandlungen abgebrochen, sie einseitig aufgekündigt mit der Ankündigung eines Referendums. Natürlich ist es das legitime Recht eines jeden Landes, eines jeden Staates, sein Volk zu befragen; aber monatelang zu verhandeln, keine eigenen Anstrengungen zu unternehmen und immer wieder neue Forderungen an andere zu stellen, um drei Tage vor Auslaufen des Programms alles wieder infrage zu stellen, ist, noch dazu angesichts der Empfehlung, die Kompromissvorschläge, die im Referendum zur Abstimmung stehen, abzulehnen, ein einmaliger Vorgang und ein beispielloser Affront gegen die europäischen Partner. ({4}) Überall in Europa Porzellan zu zerschlagen ({5}) und dann die Menschen im eigenen Land auch noch die Scherben zusammenkehren zu lassen, das hat mit Demokratie nichts zu tun. Das ist in höchstem Maße verantwortungslos. ({6}) Deshalb war es richtig und gut, dass die Finanzminister der Euro-Gruppe einstimmig klargemacht haben: Europas Regeln gelten für alle, und Solidarität kann nur bei Gegenleistung in eigener Verantwortung gewährt werden. Das war das richtige Signal für den Euro, und das war das richtige Signal für ganz Europa. Daran werden wir uns auch künftig messen lassen müssen. Wir haben eine Verantwortung für Europa. In Europa werden Regeln gesetzt und Vereinbarungen geschlossen, an die man sich hält. So verstehen wir Europa. ({7}) Die griechische Regierung hat immer so getan, als gingen sie die geschlossenen Vereinbarungen nichts an. Sie hat immer gesagt: Wir haben einen eigenen Auftrag der Wähler. Fakt ist: Die Vereinbarungen haben nicht Parteien geschlossen, die Vereinbarungen haben auch nicht Koalitionen geschlossen, sondern die Vereinbarungen wurden von den Staaten geschlossen. ({8}) Fakt ist auch, dass die griechische Regierung im Februar 2015 der Verlängerung des Programms und damit auch den damals enthaltenen Bedingungen zugestimmt hat. Sie hat aber nichts getan, um diese Bedingungen einzuhalten. Dass sie ein verbessertes Angebot nun nicht annehmen wollte, zeigt: Die griechische Regierung hatte von Anfang an ganz andere Pläne. Ihr geht es nicht um die Einhaltung der Vereinbarungen, nicht um die Einhaltung der Regeln. Vielmehr will sie die Grundregeln Europas ändern. Sie will eine andere Euro-Zone. Sie will eine Transferunion. Letztlich will sie Geld zur Erfüllung unrealistischer Wahlversprechen, ohne die Auflagen zu erfüllen. Das wird es, das kann es und das darf es mit uns nicht geben. ({9}) Unser Kurs bleibt: Solidarität, Hilfe und Unterstützung ja, aber nur mit Eigenverantwortung, und zwar deshalb, damit dauerhaft die Grundlagen dafür gelegt werden können, dass sich Griechenland positiv entwickelt. Das war und ist die Geschäftsgrundlage für jede unserer Hilfen. Das gilt für die vergangenen und natürlich genauso für mögliche aktuelle Hilfen. Der gestrige Brief aus Athen enthält wieder vor allem Forderungen ohne konkrete Reformzusagen. Bisher hat die Regierung ihre Reformzusagen nicht eingehalten. Genau das ist das Problematische: Es wurde so viel an Vertrauen zerstört. Dieses Vertrauen wieder aufzubauen, ist jetzt auch Aufgabe der griechischen Regierung. Denn ohne Vertrauen ist eine Zusammenarbeit in einer so schwierigen Situation, wie wir sie jetzt haben, nicht denkbar. Natürlich muss man sich bei jeder Entscheidung fragen: Welche Konsequenzen hat sie? Welche Konsequenzen hat sie für die Menschen in Griechenland? Welche Konsequenzen hat die Entscheidung für die Stabilität der gesamten Euro-Zone und dabei auch für die Menschen in der Euro-Zone? Es ist ja nicht so, dass es nur in einem Land Menschen gibt, auf die wir schauen müssen. Wir haben auch Verantwortung für die Menschen, die in unserem Land wohnen. Das will ich bei dieser Gelegenheit in Erinnerung rufen. ({10}) Wir haben mit dem ESM, wir haben mit dem Fiskalpakt, wir haben mit der Bankenunion heute bessere Konditionen, eine bessere Grundlage, um schwierige Krisen in Europa bewältigen zu können. Das zeigt übrigens auch die Reaktion der Märkte in diesen Tagen. Viele Länder haben Strukturreformen durchgeführt - ich habe es vorhin erwähnt -, insbesondere die Programmländer Spanien, Portugal, Irland und Zypern. Sie haben sich dabei gut entwickelt. Nur zur Erinnerung: Auch Griechenland hatte sich verbessert und war auf einem guten Weg. Im letzten Jahr, im Jahr 2014, ist die griechische Wirtschaft nach sechs Jahren Rezession erstmals wieder gewachsen. Die Herbstprognose der Europäischen Union sah für dieses Jahr sogar 3 Prozent Wachstum voraus. Die Arbeitslosigkeit ist leicht gesunken. Aber nach wenigen Monaten hat die jetzige Regierung in Griechenland dieses wieder verspielt und das Land wieder an den Abgrund geführt. Das gehört zur Wahrheit. Griechenland ist jetzt wieder in der Rezession. Das Vertrauen ist verspielt. Das Vertrauen der europäischen Partner ist verspielt. Das Vertrauen der Investoren ist verspielt. Das Vertrauen der Geldgeber ist verspielt. Es muss wieder aufgebaut werden. Das hat nichts mit dem aktuellen Kurs in Richtung Crash zu tun. Wenn jemand diesen Kurs zu verantworten hat, dann ist das die jetzige Regierung in Griechenland, die dazu den Boden bereitet hat. ({11}) Wir alle spüren in diesen Tagen, dass die Wirtschaftsund Währungsunion vor einer ganz entscheidenden Herausforderung steht. Es ist gut, dass wir miteinander um eine gute Lösung ringen. Ich will aber auch hinzufügen: Wir sollten die positiven Signale, die gerade in diesen Tagen spürbar sind, nicht unbeachtet lassen. Das erste positive Signal ist, dass die Europäische Union, insbesondere die Euro-Zone, bei ihrem Verhalten Geschlossenheit und auch Stringenz gezeigt hat. Ich möchte dem Bundesfinanzminister und unserer Bundeskanzlerin herzlich für den Einsatz danken, der nicht nur in den letzten Tagen und Wochen, sondern auch schon in den vergangenen Monaten und Jahren gezeigt wurde. ({12}) Positiv ist zweitens der Blick auf die Struktur dessen, was in den letzten Jahren entschieden wurde. Ich meine das, was ich anfangs gesagt habe, nämlich dass diese Struktur erfolgreich war, dass der Kurs richtig ist - Solidarität und Eigenverantwortung gehören zusammen und dass auch richtig ist: Regeln müssen eingehalten werden. Nur das macht Europa stark. Dass auch dieser Kurs beibehalten wird, ist eine gute Botschaft. Die dritte gute Botschaft ist: Wir haben in den vergangenen Jahren durch die vielen Maßnahmen im Rahmen von ESM, Fiskalpakt und Bankenunion die Grundlagen dafür gelegt, dass die Ansteckungsgefahren jedweder Entscheidung minimiert wurden. Das ist eine ganz wichtige Grundlage dafür, dass wir zu guten Entscheidungen mit guten Auswirkungen kommen. Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, sollte uns Mut machen, sodass wir mit Zuversicht sagen können: Wir werden diese Krise nicht nur bewältigen, sondern aus dieser Krise auch gestärkt hervorgehen. ({13})

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000305

Vielen Dank. - Als nächster Redner hat Johannes Kahrs für die SPD-Fraktion das Wort. ({0})

Johannes Kahrs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003157, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Kollege Kindler hat eben bedauert, dass sich Frau Merkel, Herr Gabriel und Herr Schäuble hier nicht deutlich gegen einen Grexit ausgesprochen haben. ({0}) Ehrlich gesagt, Herr Kindler: Das müssen sie auch nicht tun. Wir als CDU/CSU und SPD haben in den letzten Monaten und Jahren nämlich gezeigt, dass wir gegen einen Grexit sind. ({1}) Wir haben gezeigt, und zwar durch Handeln und nicht nur durch Worte, dass wir wollen, dass Griechenland im Euro bleibt, dass Griechenland in Europa weiterhin unterstützt wird und dass Griechenland eine Chance hat, nach vorne zu kommen. Deswegen haben wir in den letzten Monaten und Jahren ein Programm nach dem anderen verabschiedet. Wir haben, wie Herr Schäuble sagte, auch einmal ein Auge zugedrückt, wenn es an der einen oder anderen Stelle nicht so war, wie es hätte sein sollen. Weswegen haben wir das gemacht? Weil uns alle der Wille eint, dass Griechenland im Euro bleibt. ({2}) Um das umzusetzen, braucht man auf der anderen Seite aber einen Partner. ({3}) Sigmar Gabriel hat gesagt, dass die SPD seit 1925 an dem europäischen Gedanken arbeitet und dass sie für Europa und für die Vereinigten Staaten von Europa ist. Natürlich muss man dann dafür sorgen, dass Griechenland in dieser Situation unterstützt, gefördert und geholfen wird. Aber - das hat Frau Hasselfeldt gerade gesagt man muss auf der anderen Seite einen Partner haben, mit dem man das schaffen kann. Zum Helfen und Zusammenarbeiten gehören immer zwei. ({4}) Sigmar Gabriel hat auch gesagt, dass all die vorangegangenen Regierungen in Griechenland - egal von welcher Partei sie waren - nicht das getan haben, was man tun muss, um einen funktionierenden Staat aufzubauen, der irgendwann einmal ein vernünftiges Steuersystem, ein Grundbuchamt und all die Dinge, die man braucht, damit ein Staat funktioniert, hat. Die jetzige Regierung hatte - auch das muss man sagen - nicht viel Zeit. Aber sie hat in dieser Zeit rein gar nichts getan, um die Strukturen so zu verbessern, dass Griechenland als Staat vorwärtskommt. ({5}) Man hat sich nicht unbedingt als Partner gezeigt. Man hätte sich bei Herrn Varoufakis gefreut, wenn er mehr gearbeitet hätte und weniger in Hochglanzbroschüren und Talkshows zu sehen gewesen wäre, was übrigens auch für viele deutsche Politiker gilt. ({6}) Wenn man sich die Situation ansieht, stellt man fest: Es ist nicht so, dass es in Europa am Willen fehlt; vielmehr fehlt es an einem Partner in Griechenland. Und das betrifft nicht nur die jetzige Regierung, sondern auch die vorherigen Regierungen. Ich finde es allerdings schwierig, wenn sich Herr Gysi hierhinstellt, die jetzige Regierung hoch lobt, sich faktisch mit ihr verheiratet und sagt: Europa will diese linke Regierung stürzen. Ehrlich gesagt, Herr Gysi, diese Regierung ist erstens nicht links. ({7}) Links ist etwas ganz anderes, Links hat etwas mit Fortschritt und Zukunft zu tun. Zweitens ist diese Regierung - wenn man sie einmal auf Deutschland überträgt - eine Mischung aus Linkspartei und AfD. Das heißt, wir hätten als Regierungschefin vielleicht Frau Wagenknecht und Herrn Lucke als Finanzminister. Dass das nicht funktionieren kann, hat, ehrlich gesagt, jeder einzelne Deutsche gemerkt. Man kann der Linken und der AfD nichts anvertrauen! ({8}) Das kann man in Griechenland sehen, das kann man in Griechenland jeden Tag bewundern! Die Griechen haben das Pech, aus Frust - den kann ich übrigens auch verstehen - solch eine Regierung gewählt zu haben. Und jetzt müssen wir alle gucken, wie wir damit klarkommen. Die SPD und die CDU/CSU haben es gesagt - auch ich bin dafür -: Natürlich wollen wir auch mit der jetzigen griechischen Regierung weiter reden. Wir wollen mit ihr auch weiter verhandeln. Dann muss man aber auch über Strukturreformen verhandeln, die, wenn sie umgesetzt werden, das Land weiterbringen, es nach vorne bringen und in die Situation versetzen, am Ende sich selbst zu helfen. Darum geht es doch. ({9}) Hilfe zur Selbsthilfe ist gut; aber dann muss es auch eine Regierung geben, die will. Wenn wir uns diese Regierung angucken, dann stellen wir fest, dass wir mit ihr ein Problem haben. Herr Kindler, der ja immer gute Stichworte gibt, hat sich hierhingestellt und gesagt, dass wir nicht aufgeben sollen. Bestimmt sei dieses Angebot nicht das letzte. Ehrlich gesagt, ich hätte auf die letzten vier, fünf, sechs, sieben, acht Angebote allesamt verzichten können. Mir hätte ein Angebot gereicht, mit dem man arbeiten und auf dessen Grundlage man gemeinschaftlich die Probleme angehen könnte. ({10}) Die übrigen 18 Staaten der Euro-Zone waren sich selten so einig wie jetzt. Das ist - man muss das sagen 10976 eine echte Leistung dieser Regierung. Die Linke schafft es ja auch immer, das ganze Haus gegen sich aufzubringen. - Man muss doch einfach zur Kenntnis nehmen, dass man einen Kompromiss nur dann hinbekommt, wenn ihn die 18 mit dem einen gemeinsam erarbeiten und umsetzen. Wir alle wollen, dass Griechenland im Euro bleibt. Wir alle wollen, dass es funktioniert. Wir hätten aber auch gerne eine Regierung, die uns ein Angebot macht, mit uns verhandelt und nachher das Verhandelte auch umsetzt - und nicht nur das eine Verhandlungsergebnis als Ausgangsgrundlage für die nächste Verhandlung nimmt, um immer einen kleinen Schritt weiter nach vorne zu kommen. Das ist nicht Verhandeln, das ist unverantwortlich! Denn hier wird nicht ein bisschen um das letzte Bargeld gepokert, sondern man spielt mit dem Schicksal von 11 Millionen Menschen in Griechenland und mit der europäischen Idee. Das ist schändlich. Herr Gysi, mit Ihrer rabulistischen Rede haben Sie das Ganze auch nicht mit dem notwendigen Ernst behandelt. Sie haben hier bei dem Versuch versagt, Griechenland im Euro zu halten. Sie haben dabei versagt, die deutsche Bevölkerung mitzunehmen. Sie haben hier mit Ihrem billigen Populismus versagt; denn Sie haben dabei alle Ressentiments bemüht. Das reicht für die 10 Prozent, die Sie haben wollen, aber in der Sache ist es billig und falsch und wird ihr nicht gerecht. Vielen Dank.

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000305

Herr Kollege Kahrs, es gibt noch eine Zwischenfrage vom Kollegen Hans-Christian Ströbele. Ich möchte Sie fragen, ob Sie die zulassen.

Johannes Kahrs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003157, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Wer meine Redezeit verlängern will, möge das tun. ({0})

Hans Christian Ströbele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002273, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Danke, Herr Kollege, dass Sie die Frage noch zulassen. Ich hatte mich schon vorhin gemeldet. Frau Präsidentin, auch bei Ihnen bedanke ich mich. - Ich sitze ja hier und bekomme die Diskussion mit. Immer wieder höre ich, dass die Griechen ihre Verpflichtungen einhalten sollen. Von Ihrem Kollegen Schneider habe ich vorhin gehört, dass die Griechen die 340 Milliarden Euro sowieso nie bezahlen können. Ich glaube auch, dass es die Auffassung dieser Bundesregierung ist, dass Griechenland diese Schuldenlast - die sich wie auch immer ergeben hat - gar nicht zahlen kann. Welchen Vorschlag haben Sie denn, wenn die Griechen das gar nicht können? Sie sagen immer: Die wollen nicht. Vielleicht wollen sie, können aber gar nicht, weil sie kein Geld haben, um die Schulden zurückzuzahlen. Das heißt, Sie drücken sich um die zentrale Frage: Wenn die gar nicht können, ist dann nicht eine Umschuldung bzw. ein Schuldenerlass - jedenfalls bis zu dem Grad, bei dem eine Rückzahlung möglich wird - oder vielleicht auch eine Verschiebung der Rückzahlung und der Bedienung der Schulden dringend notwendig? Wo liegt dieser Vorschlag auf dem Tisch?

Johannes Kahrs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003157, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege, erstens möchte ich mich für diese Frage bedanken, weil sie meine Redezeit verlängert. Zweitens glauben wir, dass wir in Europa, wenn wir mit Griechenland, mit der griechischen Regierung eine Absprache treffen und eine vernünftige Übereinkunft erreichen können - vielleicht gelingt es ja, dass sich die griechischen Bürger am Sonntag für den Euro aussprechen, im Gegensatz zu ihrer Regierung -, auch ein vernünftiges Angebot hinbekommen werden, was dazu führen wird, den Griechen die Chance zu gegeben, ihr Land so aufzubauen, dass sie sich selber helfen und selber aus dieser Misere herauskommen. Dass es am Ende nicht immer alleine gehen wird, das mag sein; es hat ja schon einmal einen Schuldenschnitt gegeben. Wenn wir sehen, dass wir dort einen Partner haben, werden wir bestimmt auch zu vernünftigen Regelungen kommen. Aber Sie können nicht einem Partner, der griechischen Regierung, immer wieder - ein ums andere Mal Zugeständnisse machen, die sie zwar ständig „einsackt“, und dann weiterverhandeln. Wenn Griechenland seine Strukturen nicht ändert, was notwendig wäre, um aus Griechenland wieder einen funktionierenden Staat zu machen, dann können Sie jetzt nicht im Vorgriff - wie auch immer - Wohltaten ausschütten und alles Mögliche versprechen: Wir streichen die Schulden, wir geben mehr Geld. Was wäre denn das, wenn das Vertrauen fehlt? Sie machen einen Schuldenschnitt, die Schulden sind weg; dann hätte der griechische Staat, die griechische Regierung jede Freiheit, neue Schulden zu machen. Wie wollen Sie das denn verhindern? Das ist beim letzten Mal doch auch passiert. Billige, einfache Antworten werden dem Problem leider nicht gerecht. Hier brauchen Sie einen Partner; hier brauchen Sie ein Gesamtkonzept. Die von Ihnen angesprochenen Punkte können ein Teil der Lösung sein. Das heißt aber auch: Wenn sich die 18 Staaten bewegen und Griechenland mehr zugestehen als je einem anderen Staat, dann brauchen sie aber auch einen Partner, der verlässlich ist und nicht immer wieder ein letztes Angebot und noch ein letztes Angebot macht, wie Herr Kindler sagt. Das ist nämlich das Gegenteil von solide und zuverlässig; das ist so etwas wie Herr Gysi und die Linkspartei. Vielen Dank. ({0})

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000305

Vielen Dank. - Als nächster Redner hat Manuel Sarrazin von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort.

Manuel Sarrazin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003889, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Sehr verehrte Damen und Herren! Frau Kanzlerin! Herr Vizekanzler! Herr Schäuble! Mich macht diese Debatte ein bisschen ratlos. Sie ist ja auch von großer Ratlosigkeit geprägt, was dazu führt, dass man viel über die letzten fünf Jahre und nur wenig über die nächsten fünf Tage redet. Ich habe in diesem Haus immer erlebt, dass es bei diesem Punkt einen großen Trennungskeil zwischen den Abgeordneten - quer zu den Fraktionen - gibt, und ich habe mich an dieser Stelle immer mehr bei Angela Merkel, bei Wolfgang Schäuble, bei Volker Kauder, bei fast allen meiner Fraktion und bei fast allen in der SPD als bei den Kollegen von der Linkspartei, dem Herrn Gauweiler und anderen gefühlt. Es ging dabei um die Frage, ob man Europa am Ende als ein Konzept sieht, bei dem das Wir entscheidet, darum, dass „Wir“ die europäischen Bürgerinnen und Bürger sind, und nicht, dass „Wir“ wir und die anderen - im Sinne von „wir Deutschen und die anderen“ - sind. ({0}) Herr Schäuble, ich habe Sie - Ihre Konzepte von Kerneuropa und Ähnliches ausgenommen - immer sehr geschätzt, und ich habe, ehrlich gesagt, Angst, dass Ihnen dieser gemeinsame Punkt, der uns zusammengehalten hat, in den letzten Wochen abhandengekommen ist. Auch bei Frau Merkel habe ich diese Sorge, nachdem ich in den Situationen, in denen es wirklich um alles ging, immer das Gefühl hatte, dass Sie bei allen pragmatischen Überlegungen, bei aller Notwendigkeit, Ihre Politik zu Hause zu verkaufen, die historische Bedeutung von gewissen Entscheidungen immer mit einpreisen. Ich erkenne, dass wir hier inzwischen vielleicht ein unterschiedliches Konzept von Europa haben. Sie glauben, Europa wäre gestärkt, wenn Griechenland durch noch größere Probleme gehen würde - entweder durch einen Grexit oder durch eine noch tiefere innenpolitische Krise nach einem Nein. Ich kann mich zwar irren, aber ich glaube, dass das falsch ist. ({1}) Diese Debatte wird live im griechischen Staatsfernsehen übertragen und übersetzt. Ich frage mich, wer - Herr Gysi möchte ja ein Nein erreichen - mit seiner Rede dazu beigetragen hat, die Menschen in Griechenland, die noch nicht wissen, wie sie sich am Sonntag entscheiden sollen, von unserem Wunsch zu überzeugen, dass Griechenland mit uns im Euro bleiben soll. ({2}) Ich bin nicht jemand, der sagt, das Bild vom unnachgiebigen Deutschen - in Anführungszeichen -, das von gewissen politischen Kräften in Griechenland bedient wird, wäre zutreffend. Aber ich glaube, wir müssen es den Menschen unbedingt leichter machen, zu erkennen, dass dieses Bild nicht zutreffend ist. Daher muss man sich in einer solchen Debatte von den innenpolitischen Problemen, die ich nachvollziehen kann, frei machen und muss sich der Wirkung bewusst sein, die diese Debatte fünf Tage vor einem Referendum, das für die Zukunft Europas natürlich entscheidend ist, auf Griechenland hat. ({3}) Wir erleben seit Jahren, dass in dem von Toni Hofreiter treffend dargestellten System von europäischem Regieren die Handlungsspielräume von deutscher Politik, von griechischer Politik und von allen anderen immer kleiner geworden sind - einem System, in dem Regierungen entscheiden, die bis zu einem gewissen Grad nationales Interesse vertreten müssen, in dem europäische Institutionen, die auch nach anderen Logiken handeln können, außen vor bleiben. Ich hätte mir gewünscht, dass die heutigen Reden, vor allem von Vertretern der Bundesregierung, dazu beigetragen hätten, die Handlungsspielräume der griechischen Politik und, um es ganz ehrlich zu sagen, in diesem Falle vor allem des griechischen Demos zu steigern. Ich vertraue auf die Menschen in Griechenland, und ich bin davon überzeugt, dass die Menschen in Griechenland sich für Europa entscheiden werden. ({4}) Vielleicht ist es vor diesem Hintergrund ein grundsätzlicher Fehler in der Verhandlungsstrategie von Herrn Tsipras - von dem ich nicht viel halten muss -, aber auch von Vertretern Europas gewesen, dass sie einer Regierung wie der von Syriza überhaupt die Möglichkeit gegeben haben, in einer Situation, in der alles auf der Kante steht, eine solche Fehlentscheidung zu treffen, weil man das Problem vorher nicht abgeräumt hat. Denn verdammte Axt: Es geht gerade um ganz, ganz viel. Frau Merkel hat gesagt: Die anderen 18 müssen keine Sorge vor der Katastrophe haben. - Wir sind aber 19 gemeinsam in der Euro-Zone und 28 in der Europäischen Union. Danke sehr. ({5})

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000305

Vielen Dank. - Als nächster Redner hat Eckhardt Rehberg für die CDU/CSU-Fraktion das Wort. ({0})

Eckhardt Rehberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003826, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin Bundesfinanzminister Schäuble ausdrücklich dankbar für seinen Hinweis, dass wir am 1. Juli vor 25 Jahren die D-Mark eingeführt haben. Ich bin ja einer derjenigen, die das im Ostteil unseres Vaterlandes miterleben durften. Die Menschen haben vorher bei den Demonstrationen gerufen: Kommt die D-Mark nicht zu uns, dann gehen wir zu ihr. - Wir haben es getan. Ich glaube, eines der wesentlichen Momente bei der Einführung der D-Mark war, neben dem Materiellen und Fiska10978 lischen, das Gefühl der Menschen in der ehemaligen DDR: Wir gehören jetzt dazu. - Das war das Gemeinschaftsgefühl, das sich in der D-Mark ausgedrückt hat. Ich kann den Menschen in Griechenland nur zurufen: Stimmen Sie am Sonntag mit Ja, weil Sie zum Euro und zu Europa gehören wollen! Ein Nein wäre an dieser Stelle das Gegenteil davon. - Das ist meine Bitte an die Menschen in Griechenland. ({0}) Herr Kollege Gysi, Sie sprachen von „Ultimatum“. Machen Sie sich einmal folgende Mühe: Heute Mittag ist allen Mitgliedern ein Dokument des Europareferates des Deutschen Bundestages zugeleitet worden, in dem eine Synopse zwischen dem laufenden Programm, zwischen dem Verhandlungsstand der Institutionen, der Troika, und dem, was die griechische Regierung angeboten hatte, dargestellt wurde. Wenn jetzt Herr Tsipras, wenige Stunden vor dem Referendum, immer wieder neue Angebote macht, aber gleichzeitig die Griechen auffordert, mit Nein zu stimmen - also: keine Konditionierung, Geld ohne Konditionen -, dann ist das schizophren, Herr Kollege Gysi. Es ist wahr, dass die Angebote der Troika und der griechischen Regierung ziemlich nahe beieinanderlagen. Beim Primärüberschuss hätten wir - das sage ich für meine Fraktion - in der Tat Probleme gehabt. Im alten Programm waren 3,5 Prozent für dieses Jahr und 4,5 Prozent für nächstes Jahr vorgesehen. Das Angebot der Troika und der griechischen Regierung lautete 1 Prozent für dieses Jahr und 2 Prozent für nächstes Jahr. Das ist das wesentliche Moment. Aber wissen Sie, woran das unter anderem gescheitert ist? Bei der Kürzung der Militärausgaben lagen die Vorschläge um 200 Millionen Euro auseinander. Die Troika wollte 400 Millionen Euro; die griechische Links-rechts-Regierung wollte nur 200 Millionen Euro. ({1}) Das sind die Probleme, über die wir reden müssen, Herr Kollege Gysi. ({2}) Wir müssen präzise sein, Herr Kollege Gysi: Die Regierung in Athen ist keine Linksregierung. Sie ist eine Regierung aus Linkspopulisten, Linksextremen, Linksradikalen und Rechtspopulisten, Rechtsextremen und Nationalisten. Das ist die Wahrheit. ({3}) Allein um der Macht willen hat sich Herr Tsipras mit Herrn Kammenos ins Bett gelegt, damit sie eine Regierung bilden konnten. Das ist die ganze Wahrheit an dieser Stelle. Deswegen konnte man bei den Militärausgaben nicht zusammenkommen, meine sehr verehrten Damen und Herren von den Linken. Mit Blick auf die Zukunft darf ich aus dem ESM-Vertrag zitieren. Manche meinen offenbar - man muss nur Herrn Hofreiter und Herrn Gysi zuhören -, es wäre ganz einfach, so mal ein paar Milliarden Euro rüberzuschieben. Die EFSF-Welt ist um Mitternacht abgelaufen; IWF-Kreditrate: nicht gezahlt. Wir sind jetzt in der ESM-Welt. Ich darf aus Artikel 3 des ESM-Vertrages, den wir im Deutschen Bundestag ratifiziert haben, zitieren: Mitgliedstaaten der Euro-Zone, denen schwerwiegende Finanzprobleme drohen, werden unter strikten Auflagen Stabilitätshilfen gewährt, „wenn dies zur Wahrung … des Euro-Währungsgebiets insgesamt und seiner Mitgliedstaaten unabdingbar ist“. Dazu ist ein Antrag der jeweiligen Regierung notwendig. Wenn jetzt Herr Tsipras zu seinen Bürgern sagt: „Stimmt mit Nein! Wir wollen neues Geld ohne Konditionen“, dann kann er, jedenfalls nach meinem Verständnis, keinen Antrag nach dem ESM-Vertrag stellen. Das ist keine saubere, seriöse und solide Politik; das ist schlichtweg verantwortungslos gegenüber dem eigenen Volk. ({4}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, man hat manchmal Glück. Manchmal gibt es auch Zufälle. Ich habe mich diese Woche mit einer jungen Rumänin unterhalten, die mir gesagt hat: Herr Rehberg, wir verstehen überhaupt nicht, dass Sie den Griechen so weit entgegenkommen wollen. Es ist bei uns so, dass wir als Erntehelfer und Gastarbeiter in Griechenland arbeiten, weil die Griechen ihre Oliven und Pistazien nicht selber ernten wollen. Sie lassen ernten. - Die junge Rumänin kam dann noch darauf zu sprechen: Die Griechen haben viel höhere Renten; sie haben viel mehr Beschäftigte im öffentlichen Dienst. Ich spreche das an dieser Stelle an; denn die Bundeskanzlerin hat hundertprozentig recht. Wir haben, Herr Sarrazin - ja -, eine Verantwortung für alle 28 in der Europäischen Union, ja, wir haben eine Verantwortung für alle 19 in der Euro-Zone. Aber gerade wir als Deutsche, wir als 80-Millionen-Volk haben eine besondere Verantwortung für die Slowakei, Slowenien, die baltischen Länder, die ein deutlich niedrigeres Sozial- und Wohlstandsniveau haben als die Griechen, und das, was wir ihnen zugemutet haben, müssen wir auch den Griechen zumuten. Anders geht es nicht. ({5})

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000305

Herr Kollege Rehberg, lassen Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Sarrazin zu?

Eckhardt Rehberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003826, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Kein Problem. Bitte.

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000305

Herr Sarrazin.

Manuel Sarrazin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003889, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege Rehberg, ich möchte dieses Argument aufgreifen, weil ich glaube, dass es an dieser Stelle zum besseren Verständnis des Sachverhalts und auch der Risiken beitragen kann, auf diesen Punkt einzugehen. Griechenland ist Teil einer Region, in der seit 2007 in fast allen Ländern riesige wirtschaftliche Probleme vorkommen. Angefangen bei Slowenien über Kroatien, Bosnien-Herzegowina, Montenegro, Mazedonien und Albanien bis hin zu Serbien: In all diesen Regionen erleben wir, dass mehr und mehr politische Kräfte ans Ruder kommen und gerade auf junge Leute Einfluss haben, die eigentlich wieder den Nationalismus predigen, der uns in den 90er-Jahren in ganz schlimme Kriege geführt hat. Für all diese Kräfte ist die wirtschaftliche Lage die Saat, die sie säen können und die es ihnen ermöglicht, zu sagen: Europa verspricht keinen Wohlstand. Wir müssen gegeneinander kämpfen. Griechenland ist mit den eben erwähnten Ländern extrem verwoben; das zeigen die Meldungen über die serbische und die mazedonische Zentralbank. Die Billigarbeiter, die in Griechenland in der Agrarwirtschaft arbeiten, kommen zum Beispiel aus Albanien und Mazedonien. Wenn Griechenland den Bach runtergeht, verlieren diese Menschen ihren Job und kehren in ihre Länder zurück. Dann wird das, was dort so gefährlich ist, noch gefährlicher. Es geht bei Griechenland also nicht nur um die Rettung eines Staates in der Euro-Zone. Vielmehr geht es um ein Land, das in einer hochgefährlichen Region liegt. Deswegen haben wir Deutsche die Verantwortung, dafür zu sorgen, dass Griechenland stabil bleibt - damit wir unserer Verantwortung in dieser Region gerecht werden. Danke. ({0})

Eckhardt Rehberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003826, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Sarrazin, ich möchte Ihnen gerne erwidern. Wenn ich die Entwicklung in Griechenland in den letzten zehn Jahren sehe, dann stelle ich fest, dass Griechenland seit Anfang 2000, bedingt durch den Beitritt zur Euro-Zone, weit über seine Verhältnisse gelebt und die Schulden in die Höhe gefahren hat, um die Sozialsysteme zu finanzieren. 2010 war Griechenland, regiert von Sozialdemokraten und Konservativen, nicht mehr in der Lage, sich auf dem Kapitalmarkt zu refinanzieren. Dann haben wir das erste und das zweite Hilfsprogramm aufgelegt. Wenn ich mich recht erinnere - darauf sind schon einige Redner in der Debatte eingegangen -, war Griechenland im Dezember letzten Jahres fast wieder kapitalmarktfähig. Griechenland kam aus der Rezession heraus und hatte Aussicht, die Arbeitslosigkeit abzubauen. Ich behaupte nicht, dass die Regierungen in Griechenland zwischen 2010 und 2015 alles richtig gemacht haben, aber Griechenland war, wie es Kollegin Hasselfeldt formuliert hat, auf einem guten Weg, genauso wie Spanien, Irland, Portugal und Zypern; wir haben gerade heute im Haushaltsausschuss eine Tranche für Zypern freigegeben. Deswegen, Herr Kollege Sarrazin, muss man schon die Frage stellen: War das verantwortungsvoll, was die griechische Regierung seit Ende Januar bis heute gemacht hat? Sie hat gezockt bis zum Letzten - das hat gerade die letzte Woche gezeigt -, immer in dem Wissen, dass Solidarität heißt: Hilfe zur Selbsthilfe. Trotzdem kannten sie nur zwei Themen in den letzten fünf Monaten: einen Schuldenschnitt, und: Gebt uns neues Geld ohne Konditionen! - So kann Europa - auch im Hinblick auf die Länder, die Sie gerade genannt haben - nicht funktionieren, Herr Kollege Sarrazin. ({0}) Ständig werden zusätzliche Finanzpakete für Wachstum und Beschäftigung gefordert. Griechenland hat von 2007 bis heute aus europäischen Strukturfonds 35 Milliarden Euro erhalten. Griechenland hat bis heute von der Europäischen Investitionsbank noch einmal 11 Milliarden Euro zu günstigsten Konditionen erhalten. Griechenland steht in den nächsten fünf Zeitjahren, in der nächsten Förderperiode bis 2020, der gleiche Betrag wie in der vorangegangenen Förderperiode zur Verfügung. In 13 Jahren sind das über 70 Milliarden Euro aus europäischen Strukturfonds wie dem Europäischen Fonds für regionale Entwicklung, dem Europäischen Sozialfonds und ELER einschließlich Direktbeihilfen für die Landwirtschaft. Was hat man daraus gemacht? Wie wurde das in Anspruch genommen? Ist das alles versickert, oder ist das dort angekommen, wohin es sollte, nämlich beim Mittelstand, bei Forschung und Bildung, bei den jungen Leuten? Ich muss Ihnen ehrlich sagen: Ich habe große Zweifel - auch nach einem Besuch in Griechenland vor zwei Monaten -, dass die Gelder für das verwendet wurden, wozu sie gedacht waren. Die Syriza-Regierung wollte ja alles besser machen. Aber ich konnte nicht erkennen, dass sie auch nur an einer Stelle etwas besser gemacht hat und dass das Geld, das Europa zur Verfügung stellt, für die Förderung von Wachstum und Beschäftigung sowie zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit eingesetzt wird. ({1}) Herr Kollege Gysi, Sie haben beklagt, dass in den „Prior Actions“ der Troika nicht die Sonderabgabe auf Unternehmensgewinne steht. Was Sie aber nicht gesagt haben, ist, dass die Links-rechts-Regierung in Athen eine Steueramnestie für die Reichen gemacht hat. ({2}) Das ist für mich völlig unerklärlich. Wie kann man grundsätzlich auf die Idee kommen, einmal Steuerausfälle von 70 Milliarden Euro in den Wind zu schlagen und als Zweites einen Cut bei 1 Million Euro anzusetzen? Ich kann mich an einen Artikel im Spiegel erinnern, in dem aufgezeigt wird, wie die Vetternwirtschaft unter Syriza und Anel läuft. Das ist keine andere als die unter der ND oder der Pasok, überhaupt keine andere. Syriza ist aber mit dem Anspruch angetreten, alles besser zu machen. Ich habe am 27. Februar hier gesagt: Ich gebe dieser Regierung eine Chance. - Jetzt kann ich Ihnen ganz ehrlich sagen: Allein die Steueramnestie für Reiche ist reinste Klientelpolitik. Das, was Syriza und Anel gemacht haben, ist nicht akzeptabel. Das muss erst einmal in Griechenland abgestellt werden, bevor wir über weitere Dinge reden. ({3}) Die Bundeskanzlerin hat gesagt: Wo ein Wille ist, da ist auch ein Weg. - Zum Willen gehören immer zwei. Ich kann nur noch einmal das sagen, was ich eingangs gesagt habe: Griechen, seid klug, wählt die gemeinsame Währung, wählt damit Europa! Zwingt eure Regierung, endlich eine solide, vertrauensvolle und seriöse Politik mit den Partnern in Europa zu machen! Herzlichen Dank. ({4})

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000305

Als letzter Redner in dieser Debatte hat Axel Schäfer für die SPD-Fraktion das Wort. ({0})

Axel Schäfer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003624, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als letzter Redner hat man die Chance, zusammenfassend das Positive herauszustellen. Ich glaube, das Wichtigste an dieser Debatte ist, dass alle in diesem Haus - manche weniger, manche mehr - bekundet haben: Ja, wir müssen alles Erdenkliche tun, damit Griechenland in der EU und im Euro gehalten wird. Wir wollen dieses Land und diese Menschen nicht herausdrängen. ({0}) Das ist, glaube ich, auch in Zukunft nur möglich - das hat sich Gott sei Dank zumindest bei einigen hier, auf verschiedenen Seiten des Hauses, gezeigt -, wenn zur Kritik auch ein Stückchen Selbstkritik gehört. Jawohl, wir müssen die Politik der griechischen Regierung und die Versprechen, die sie nicht gehalten hat, hier deutlich benennen und auch kritisieren, wie das die vielen Menschen in unserem Land, unsere eigenen Wählerinnen und Wähler, tun und wie es auch ganz simpel den Fakten entspricht. Darum kommen wir einfach nicht herum. Auf etwas anderes hat dankenswerterweise Sigmar Gabriel hingewiesen: Auch der IWF hat begonnen, zu fragen, ob alle Maßnahmen richtig waren und alle Wirkungen, was die soziale Situation und anderes anbelangt, gerecht waren. Sie waren nicht gerecht. Es gehört zur Wahrheit, auch das an diesem Tag auszusprechen. Es sollte uns dabei ein gemeinsames Verständnis verbinden. Wir können viel mit Syriza und Herrn Tsipras diskutieren, aber wir können nicht darüber diskutieren, dass ein Regierungschef eines Landes der Euro-Zone oder der EU so tut, als müssten er oder sein Land den Kampf gegen die EU führen. Griechenland ist Teil der EU, wie auch wir Teil der EU sind. Es geht darum, eine gemeinsame Lösung zu finden, nicht darum, andere innerhalb der EU zu bekämpfen. Das betrifft Herrn Tsipras genauso wie auf der anderen Seite Herrn Orban. ({1}) Noch eines muss klar sein, bei allem Verständnis für kritische Töne hier: Es geht nicht, dass man von „Diktat“ redet, wissend, dass hinter einer gemeinsamen Lösung in der EU nicht nur irgendwelche Verhandler stehen. Vielmehr stehen politisch hinter einer gemeinsamen Lösung in der EU Jean-Claude Juncker, Martin Schulz, Dijsselbloem, auch Mario Draghi. Alle vier stehen für Integrität, für ein gemeinsames Europa, nicht für Herausdrängen und auch nicht für Ausgrenzung. Das sollten wir hier im Deutschen Bundestag einmal deutlich unterstreichen. ({2}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sollten bei manchen Dingen nicht so tun, als wüssten wir alles oder als wären wir uns immer ganz sicher. Der Erhalt Griechenlands im Euro beinhaltet viele Chancen. ({3}) - Ja, Kollege, „viele Milliarden“. - Wenn wir glauben, jetzt schon zu wissen, in welchen Zeiträumen Griechenland in Europa und im Euro-Raum etwas nicht leisten kann, dann verdrängen wir wohl, dass Deutschland 90 Jahre gebraucht hat, um bis zum Jahr 2010 seine Schulden von 1920 zurückzuzahlen. Das hätte 1920 niemand geahnt; aber es hat funktioniert, ({4}) auch weil man Deutschland eine Umschuldung ermöglicht hat. Reden wir doch auch einmal über diese Wahrheiten und nicht nur darüber, was wir unseren Bürgerinnen und Bürgern hier heute schon glauben machen wollen: dass alles scheitert. Wir selbst sind ein Beispiel dafür, dass alles oder zumindest vieles gelingen kann. ({5}) Sagen wir noch eins: Jawohl, das, was Samstag/Sonntag seitens der Euro-Gruppe vorgeschlagen worden ist, war eine wichtige und richtige Grundlage. Es gibt einen Punkt, der nicht geklärt wurde, und über den müssen wir reden, nämlich über die Frage der Rente: Was bedeutet EKAS konkret? Es geht nicht darum, dass man insgesamt „oben“ etwas wegnimmt, sondern um diejenigen, die unter dem Mindesteinkommen liegen. Darüber muss man diskutieren. Das ist eine ganz sachliche Frage; das braucht man gar nicht aufzuheizen. Auch das muss man ernst nehmen. Axel Schäfer ({6}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Bundesregierung hat hier eine besondere Verantwortung. Es ist gut, dass unsere Kanzlerin und der Wirtschaftsminister, der auch mein Parteivorsitzender ist, gesagt haben: Wir stehen jederzeit bereit, offen zu diskutieren und Dinge auch wieder voranzubringen. - Denn eins ist auch klar - darauf brauchen wir keine Wette einzugehen -: Von jetzt, Mittwoch, 1. Juli 2015, etwa 15.27 Uhr, bis nächsten Sonntag wird sich noch eine ganze Menge tun, vielleicht auch ein bisschen mehr, als wir bisher geglaubt haben. Auch das müssen wir ein Stück weit aufgreifen, und zwar mit einer gewissen Haltung, gerade gegenüber den Menschen in Griechenland als auch gegenüber den hier lebenden Griechen, die häufig ziemlich wohlklingende Namen wie Leandros, Vassiliadis, Simitis usw. haben. Lassen Sie uns dazu beitragen, dass es am nächsten Sonntag ein „Ja“ gibt. Auch ich persönlich will an Tsipras appellieren. Wenn er am Freitag eine Fernsehansprache hält, soll er die Möglichkeit nutzen, „Ja“ zu diesem Europa zu sagen. Denn eins geht nicht, für niemanden in der Politik: dass ein Regierungschef eines Landes der Europäischen Union seinem Volk eine Frage zur Abstimmung vorlegt, mit „Nein“ gegen die Europäische Union zu stimmen. Das geht definitiv nicht. Vielen Dank. ({7})

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000305

Vielen Dank. - Damit schließe ich die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 18/5371. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Fraktion Die Linke. Wer stimmt dagegen? - Alle anderen Fraktionen. Gibt es Enthaltungen? - Das ist nicht der Fall. Damit ist der Entschließungsantrag mit den Stimmen der Koalition und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke abgelehnt worden. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 1 auf: Befragung der Bundesregierung Die Bundesregierung hat als Thema der heutigen Kabinettssitzung mitgeteilt: Entwurf eines Gesetzes zur Umsetzung der EU-Mobilitäts-Richtlinie. Das Wort für den einleitenden fünfminütigen Vortrag erhält die Bundesministerin für Arbeit und Soziales, Andrea Nahles. Frau Ministerin, Sie haben das Wort.

Andrea Nahles (Minister:in)

Politiker ID: 11003196

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Bundesregierung hat heute ein klares Signal zur Stärkung der betrieblichen Altersversorgung gesetzt. Dabei werden wir zweigleisig vorgehen. Wir haben einen Gesetzentwurf auf den Weg gebracht, um die EUMobilitäts-Richtlinie in deutsches Recht umzusetzen. Gleichzeitig erörtern wir mit den Beteiligten weitere mögliche Reformschritte. Dazu lassen wir parallel die staatliche Förderung der Betriebsrenten wissenschaftlich aufarbeiten. Das Erste - die Vorgaben der europäischen Richtlinie, die wir in unser Betriebsrentengesetz umsetzen - möchte ich Ihnen heute kurz erläutern. Ziel ist, dass Arbeitgeberwechsel, insbesondere auch grenzüberschreitende, nicht mehr an nationalen Betriebsrentenregelungen scheitern. Wo Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern beim Wechsel innerhalb der EU Probleme mit der betrieblichen Altersversorgung im Weg stehen, wollen wir diese Hindernisse beseitigen. Das betrifft durchaus wichtige Regelungsbereiche im Betriebsrentengesetz, die neu gefasst oder an die Richtlinie angepasst werden müssen. Arbeitgeberfinanzierte Anwartschaften auf Betriebsrenten sollen künftig bereits nach drei Jahren unverfallbar werden statt bislang nach einer Frist von fünf Jahren. Außerdem wird das Lebensalter, zu dem man frühestens den Arbeitgeber verlassen darf, ohne dass die Anwartschaft verfällt, vom 25. auf das 21. Lebensjahr abgesenkt. Durch Gleichbehandlung von Anwartschaften ausgeschiedener Beschäftigter mit denen ihrer verbliebenen Kollegen wollen wir erreichen, dass ein Arbeitgeberwechsel der Betriebsrente nicht schadet. Wir wollen auch die Rechte der Beschäftigten stärken, wo es um Auskunft und Information geht, aber auch bei möglichen Abfindungen. In all diesen Punkten wollen wir die EU-Richtlinie eins zu eins umsetzen. In einem Punkt tun wir allerdings mehr. Die neuen Vorgaben sollen nicht nur bei grenzüberschreitendem Arbeitgeberwechsel gelten. Das würde Beschäftigte innerhalb Deutschlands diskriminieren, und es würde unnötige Bürokratie schaffen. Deshalb soll das neue Recht für alle Beschäftigten gelten. Deutschland war in Sachen Mobilitäts-Richtlinie über Jahre sehr kritisch, weil wir negative Auswirkungen auf die Verbreitung von Betriebsrenten in unserem Land ausschließen wollten. Mit unserer möglichst schonenden Umsetzung können wir das, so hoffe ich, erreichen. Wo uns die Richtlinie Umsetzungsspielräume lässt, haben wir sie im Sinne des deutschen Systems genutzt. Das bedeutet zum Beispiel, dass wir die häufig abstrakten Vorgaben der Richtlinie konkret ins Betriebsrentengesetz eingepasst und dabei den Besonderheiten des deutschen Systems, wo möglich, Rechnung getragen haben. Das sollte es auch den Praktikern vor Ort erleichtern, das neue europaweite Recht anzuwenden. „Schonende Umsetzung“ heißt übrigens auch, dass das neue Recht erst 2018 in Kraft treten soll und damit nur für Beschäftigungszeiten nach diesem Zeitpunkt gilt. Das schafft genügend Vorlauf für die Betriebsrentensysteme, und das gibt Rechts- und Planungssicherheit. Genau diese Sicherheit ist die Basis für den weiteren Aufund Ausbau der betrieblichen Altersversorgung, den wir uns wünschen. Ich bin nun zuversichtlich, dass das neue Recht nicht nur die Mobilität innerhalb der EU fördert. Auch können künftig mehr junge mobile Arbeitnehmerinnen und Ar10982 beitnehmer als bisher unverfallbare Betriebsrentenansprüche erwerben. Vielen Dank. ({0})

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000305

Vielen Dank. - Ein kleiner Hinweis für Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen: Die Medienwände sind ausgefallen. Wir versuchen, die Störung zu beheben; das ist in Arbeit. Die Uhren laufen aber. Deshalb erinnere ich Sie noch einmal daran, dass wir eine Verständigung darüber haben, dass Sie eine Minute für die Stellung der Frage zur Verfügung haben und die Ministerin eine Minute für die Antwort hat. Das ist eine ziemlich anspruchsvolle Aufgabe; aber Sie werden sie meistern. Mir liegen bereits zwei Wortmeldungen für Fragen vor. Zuerst hat der Kollege Peter Weiß von der CDU/ CSU-Fraktion das Wort.

Peter Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003255, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Bundesministerin, Sie haben darauf hingewiesen, dass diese EU-Portabilitäts-Richtlinie, jetzt EU-Mobilitäts-Richtlinie, auch bei uns im Deutschen Bundestag sehr umstritten war und kritisiert wurde, weil wir keine negativen Auswirkungen auf das deutsche Betriebsrentensystem wollen. Wie ist die Positionierung der Arbeitgeber, also der Unternehmen, die die betriebliche Altersvorsorge anbieten, und der Gewerkschaften zu dem jetzt vorliegenden Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Umsetzung der Richtlinie?

Andrea Nahles (Minister:in)

Politiker ID: 11003196

Alle Beteiligten, also beide Sozialpartner, begrüßen durchweg, dass wir den Handlungsspielraum, den uns die EU-Richtlinie gegeben hat, voll ausschöpfen, auch was die Regelung angeht, dass wir damit erst 2018 an den Start gehen. Insgesamt werden die von Europa vorgesehenen Neuregelungen von vielen deutschen Arbeitgebern immer noch so bewertet, dass sie nicht förderlich sind, um einen weiteren Ausbau der Betriebsrenten zu vollziehen. Seitens der Gewerkschaften wird grundsätzlich begrüßt, dass Beschäftigte künftig schneller und früher einen Rechtsanspruch bekommen. Aber insgesamt wird es eher als dämpfend empfunden. Es handelt sich jedoch um eine Umsetzung, die wir vornehmen müssen.

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000305

Jetzt erhält der Kollege Matthäus Strebl das Wort für eine Frage.

Matthäus Strebl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002940, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Frau Ministerin, derzeit wird das Umsetzungsgesetz zur PensionsfondsRichtlinie in der EU verhandelt. Meine Frage lautet: In welchem Verhältnis steht dies zur EU-Mobilitäts-Richtlinie? Meine zweite Frage: Muss das Betriebsrentengesetz dadurch noch einmal angepasst werden?

Andrea Nahles (Minister:in)

Politiker ID: 11003196

Die EU-Pensionsfonds-Richtlinie beinhaltet finanzaufsichtsrechtliche Vorgaben. Das bedeutet, dass wir tatsächlich noch einmal eine rechtliche Änderung vornehmen müssen. Das wollen wir im Zusammenhang mit dem Versicherungsaufsichtsgesetz angehen. Ich weiß nicht genau, wann das der Fall sein wird; das müsste eher das Finanzministerium wissen. Aber wir müssen auch auf dieser Ebene noch eine Anpassung vollziehen.

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000305

Vielen Dank. - Als nächster Fragesteller hat der Kollege Kurth von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort.

Markus Kurth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003578, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Zunächst einmal sollte man den Zuschauerinnen und Zuschauern auf der Tribüne erklären, dass bei dem Format der Regierungsbefragung nicht die Opposition die Themen aussucht, sondern die Regierung sie festsetzt. Die sogenannte Portabilität von Betriebsrenten und das Zusammenwachsen innerhalb der EU auf diesem Gebiet sind sicherlich sehr wichtig. Aber hier spielt eine Fülle von technischen Details eine Rolle, die meines Erachtens in eine Ausschusssitzung gehören und nicht ins Plenum, wo uns die breite Öffentlichkeit zuschaut. ({0}) Hier sollten wir eher Fragen diskutieren, die eine breite Öffentlichkeit nachvollziehen kann und die sie betreffen. Beispielsweise haben Sie gestern zum Mindestlohn eine Pressekonferenz gemacht. Es wäre sehr schön gewesen, wenn wir das hier im Rahmen einer Regierungsbefragung hätten vertiefen können. Insofern ist meine Frage: Hatten Sie in der Kabinettssitzung keine spannenderen Themen als dieses zwar wichtige, aber doch eher technische Thema? ({1})

Andrea Nahles (Minister:in)

Politiker ID: 11003196

Herr Kurth, das fragen Sie mich als Arbeits- und Sozialministerin? Das sind Themen meines Hauses, und die finde ich alle brennend spannend. ({0}) Wenn Sie das nicht interessiert, ({1}) dann müssen Sie den Ausschuss wechseln. Das steht Ihnen ja frei. ({2}) Im Übrigen weise ich darauf hin, dass die Frage, die uns im Kabinett beschäftigt hat, eben in einer 125-minütigen Debatte ausführlich und für alle in der Öffentlichkeit nachvollziehbar diskutiert worden ist. Natürlich haben wir heute auch über Griechenland geredet; das ist doch gar keine Frage. Aber dieses Land wird weiter gut regiert. Vielleicht kann man das nicht von allen anderen Ländern sagen. Auch wenn es Krisen gibt, machen wir das hier so seriös weiter, wie wir das gewohnt sind. Darauf können sich alle in unserem Land verlassen. Wie Sie wissen - Sie sind ja in dem Bereich Experte -, diskutieren wir seit Jahren diese Frage, die für das Zusammenwachsen Europas nicht unwichtig ist, um das es heute auch ging. Denn das, was wir heute hier schaffen, ist eine Grundlage für ein Mehr an Miteinander in Europa, nicht für ein Weniger. ({3})

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000305

Vielen Dank. - Als nächste Fragestellerin hat Kerstin Tack von der SPD das Wort.

Kerstin Tack (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004173, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Schönen Dank. - Frau Ministerin, meine Frage bezieht sich auf die Regelung, die heute hier zur Debatte steht, und nicht auf Themen, die eben nicht zur Debatte stehen. Also: Wieso soll die neue Regelung, wonach die Beschäftigten einer Abfindung zustimmen müssen, nicht für innerstaatliche Arbeitgeberwechsel gelten?

Andrea Nahles (Minister:in)

Politiker ID: 11003196

Bei uns ist eine Abfindung nicht dasselbe wie ein Betriebsrentenanspruch. Deswegen stehen wir dem grundsätzlich kritisch gegenüber. In vielen Ländern ist es üblich, eine Abfindung zu zahlen. Was wir erreichen wollen, ist ein Drei-Säulen-Modell, aus dem sich das gesamte Rentenniveau zusammensetzt. Das bedeutet eben, dass ein Betriebsrentenanspruch ein wichtiger Teil der Grundversorgung im Alter ist. An diesem Prinzip halten wir fest, und das wollen wir auch in Zukunft nicht ändern.

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000305

Als nächste Fragestellerin hat Jana Schimke von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.

Jana Schimke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004398, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Ministerin, ich habe eine kurze Frage. Wir sind uns darin einig, dass die betriebliche Altersvorsorge eine ganz zentrale Bedeutung für die Altersvorsorge insgesamt hat. Wir wollen die zweite und dritte Säule auch weiter stärken. Allerdings müssen wir dabei die Situation der Unternehmen berücksichtigen, ob sie also in der Lage sind, das, was wir uns wünschen, umzusetzen. Meine Frage an Sie ist: Wie hoch ist der Erfüllungsaufwand der Wirtschaft in Verbindung mit diesem Gesetz?

Andrea Nahles (Minister:in)

Politiker ID: 11003196

Wir haben bei der Umstellung einen einmaligen Erfüllungsaufwand für die Wirtschaft in Höhe von 155 Millionen Euro. Danach wird der Erfüllungsaufwand auf 135 000 Euro jährlich heruntergehen, also deutlich geringer sein. Aber diesen einmaligen Umstellungsaufwand haben wir.

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000305

Als nächster Fragesteller hat Ralf Kapschak von der SPD-Fraktion das Wort.

Ralf Kapschack (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004321, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Eine Vorbemerkung: Ich fände es ausgesprochen schade, wenn der Kollege Kurth den Ausschuss wechseln würde. ({0}) Aber das ist dann vielleicht mein persönliches Problem. ({1}) - Okay, machen wir. Frau Ministerin, Sie haben es angesprochen: Wir haben uns den ganzen Vormittag über ein zusammenwachsendes Europa unterhalten. Deshalb ist meine Frage: Wie gehen andere Länder der EU mit der Umsetzung der Richtlinie um?

Andrea Nahles (Minister:in)

Politiker ID: 11003196

Im Moment setzen alle die Richtlinie um. Wir gehen davon aus, dass das weitgehend problemlos verläuft. Die Betriebsrentenstrukturen in den EU-Ländern sind sehr unterschiedlich; aber bisher haben wir keine Kenntnis davon, dass es Probleme gibt. Wir erleben aber auch in Gesprächen mit den europäischen Kollegen, dass viele die Richtlinie zum letztmöglichen Zeitpunkt umsetzen, nämlich Mitte 2018. Wir liegen da sicherlich im guten Mittelfeld.

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000305

Vielen Dank. - Als nächste Fragestellerin hat die Kollegin Brigitte Pothmer von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort.

Brigitte Pothmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003823, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Ministerin, Sie haben gerade gesagt, dass Sie die EU-Richtlinie hier eins zu eins umsetzen wollen. Gilt das eigentlich auch für die automatische Auskunftspflicht?

Andrea Nahles (Minister:in)

Politiker ID: 11003196

Ja, auch die Transparenzregeln sind verbessert worden.

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000305

Jetzt hat Albert Weiler von der CDU/CSU-Fraktion das Wort für eine Frage.

Albert Weiler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004439, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Ministerin, vielen Dank, dass Sie sich heute hier den Fragen stellen. - Herr Kurth, ob Sie den Ausschuss aufgeben oder nicht, müssen Sie selber entscheiden. Aber es gibt andere, bei denen es sinnvoll wäre, wenn sie den Ausschuss verließen. Dann hätten wir dort viel sinnvolle Zeit gespart. ({0}) Aber jetzt zur Frage. Mich interessieren die Steuern. Werden die Änderungen bei den Unverfallbarkeitsfristen steuerlich begleitet, und, wenn ja, was wird das den Steuerzahler kosten?

Andrea Nahles (Minister:in)

Politiker ID: 11003196

Ja, die Absenkung der Unverfallbarkeitsfristen erfordert im Einkommensteuergesetz Anpassungen bei den Regelungen zur Bildung von Pensionsrückstellungen und bei der Abzugsfähigkeit von Zuwendungen an Unterstützungskassen. Dies führt zu Steuermindereinnahmen in Höhe von 65 Millionen Euro in der vollen Jahreswirkung.

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000305

Jetzt hat Katja Mast von der SPD-Fraktion das Wort.

Katja Mast (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003804, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Ministerin, inwiefern werden die Informationsrechte der Beschäftigten durch die Umsetzung dieser Richtlinie verbessert?

Andrea Nahles (Minister:in)

Politiker ID: 11003196

Das hatte Frau Pothmer schon angesprochen. Künftig haben neben den Beschäftigten auch ausgeschiedene Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie die Hinterbliebenen explizit einen Auskunftsanspruch im Betriebsrentengesetz. Der Informationsanspruch wird außerdem präzisiert. So müssen Beschäftigte auf Verlangen zum Beispiel auch darüber informiert werden, wie hoch die Betriebsrente zum Rentenbeginn voraussichtlich sein wird. Damit können die Beschäftigten einschätzen, ob und in welchem Umfang sie gegebenenfalls noch weiter vorsorgen müssen. Das ist eine deutliche Verbesserung bei der Umsetzung der EU-Richtlinie.

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000305

Jetzt hat wiederum der Kollege Markus Kurth für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort.

Markus Kurth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003578, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Mit Interesse nehme ich zur Kenntnis, wer mich gerne weiter im Ausschuss arbeiten sieht und wer nicht. Es muss sich aber jetzt nicht jede Kollegin und jeder Kollege bei einer Wortmeldung dazu äußern. Frau Ministerin, die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände hat durchaus Befürchtungen, dass mit der Umsetzung der Mobilitäts-Richtlinie durch die neuen Pflichten und durch zusätzliche Kosten die Attraktivität der Einrichtung einer Betriebsrente geschwächt werden könnte. Gleichzeitig plant Ihr Haus noch einen Gesetzentwurf, um die Betriebsrente mit Pensionsfonds obligatorisch zu gestalten. Hier sind es sogar beide Sozialpartner - der DGB und die BDA -, die befürchten, dass bewährte zuverlässige Betriebsrentenmodelle dadurch eher geschwächt als gestärkt werden. Wie sehen Sie vor diesem Hintergrund Ihrer eigenen, noch nicht vorliegenden Pläne plus der Umsetzung der Mobilitäts-Richtlinie die Zukunft des Modells der Betriebsrente? Sehen Sie hier Risiken, die Sie womöglich selbst auslösen?

Andrea Nahles (Minister:in)

Politiker ID: 11003196

Von der Planung, dass wir ein Obligatorium gesetzlich festschreiben wollen, habe ich keine Kenntnis. Das ist eine überraschende Neuigkeit, Herr Kurth. Allerdings wollen wir eine Optimierung der staatlichen Förderung von Betriebsrenten in den Mittelpunkt stellen. Dazu wird derzeit - das liegt in der Zuständigkeit des BMF - ein wissenschaftliches Gutachten erstellt, das wir Ende des Jahres erwarten. Sie wissen, dass wir beide, BMF und BMAS, für dieses Thema zuständig sind, weil es uns beide - einmal Steuern, einmal Sozialversicherungsbeiträge - berührt. Ich bin auf die Ergebnisse dieses Forschungsvorhabens gespannt. Darüber hinaus haben wir vom BMAS einen Vorschlag gemacht, wie wir die Einbindung der Sozialpartner verbessern können, also auch der Arbeitgeberseite, die Bedenken hat. Diesen Vorschlag - wir haben das „Neues Sozialpartnermodell Betriebsrente“ genannt haben wir zur Diskussion gestellt. Es hat auch eine muntere Diskussion gegeben. Einiges aus dieser Diskussion haben wir aufgenommen; insofern überarbeiten wir das Modell gerade. Politische Festlegungen, in welche Richtung wir gehen, hat es noch nicht gegeben.

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000305

Vielen Dank. - Jetzt hat wiederum Brigitte Pothmer von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen die Möglichkeit zur Frage.

Brigitte Pothmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003823, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kurth hat schon darauf hingewiesen, dass es bei den Arbeitgebern Befürchtungen gibt, dass es zu einem Mehraufwand kommt. Könnten Sie das hier ein bisschen genauer darstellen? Zu welchem Mehraufwand bei den Arbeitgebern kommt es durch das neue Vorhaben?

Andrea Nahles (Minister:in)

Politiker ID: 11003196

Das kann ich Ihnen nicht sagen, weil es noch kein verifiziertes, festes neues Vorhaben gibt. Wir sind noch mitten in der Diskussion. ({0}) - Erstens. Ich kann Sie nicht verstehen. Zweitens. Ich habe Sie mit meiner Antwort nicht zufriedengestellt; das entnehme ich Ihrem Gesichtsausdruck. ({1}) Drittens. Sie können gerne noch einmal fragen. Lippen lesen kann ich noch nicht.

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000305

Frau Pothmer, Sie haben natürlich die Möglichkeit, sich noch einmal für eine Frage zu melden. - Zunächst hat aber der Kollege Weiß das Wort.

Peter Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003255, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Bundesministerin, es ist zu Recht darauf hingewiesen worden, dass die betriebliche Altersvorsorge als zweite Säule des Alterssicherungssystems in Deutschland stärker ausgebildet werden sollte. Da ist die Umsetzung der Mobilitäts-Richtlinie nur ein Aspekt. Nachdem Kollege Kurth Sie nach dem einen Änderungsvorschlag, den es seitens des BMAS gab, gefragt hat, ist meine Frage: Was ist das Ziel der Gutachten zur betrieblichen Altersvorsorge, die zum einen das BMAS - es ist bereits auf der Homepage veröffentlicht - und zum anderen das Bundesfinanzministerium in Auftrag gegeben haben? Werden wir uns im kommenden Jahr mit nur einem Vorschlag oder eventuell mit einem ganzen Maßnahmenbündel zur Stärkung der betrieblichen Altersvorsorge beschäftigen?

Andrea Nahles (Minister:in)

Politiker ID: 11003196

Der Schwerpunkt des Forschungsvorhabens des BMF ist die Beurteilung der finanziellen Förderung der Betriebsrenten auf längere Sicht. Fast alle Betriebsrentenmodelle werden gefördert, entweder durch steuerliche Privilegierung oder durch direkte Hilfen. Wir wollen wissen, was auf lange Sicht am besten wirkt, was vor allem für die Arbeitnehmer am besten ist, wo es den besten Kosten-Nutzen-Effekt gibt, den wir als Staat mit unseren unterstützenden Leistungen erzielen können. Das ist es, was das BMF in einem Forschungsvorhaben zu ermitteln versucht, dessen Ergebnisse Ende des Jahres vorliegen werden. Das werden wir dann zum Anlass nehmen, gemeinsam einen Vorschlag zu machen. Es gibt mit Sicherheit gemeinsame Vorschläge und nicht einen wilden Haufen von Vorschlägen. Der gemeinsame Vorschlag - da haben Sie vollkommen recht, Herr Weiß wird wahrscheinlich mehrere Aspekte umfassen. Ich persönlich wünsche mir insbesondere eine Verbreitung der Betriebsrenten bei den kleinen und mittleren Unternehmen. Nahezu alle großen Unternehmen bieten eine gute Versorgung mit Betriebsrenten. 60 Prozent der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in Deutschland haben eine Betriebsrente; das entspricht der sehr großen Zahl - man glaubt es gar nicht - von 17 Millionen Menschen. Wenn man aber genauer hinschaut und die Größe der Unternehmen berücksichtigt, stellt man fest, dass die Lücke bei kleinen und mittleren Unternehmen noch sehr groß ist. Insofern ist Ziel unserer Überlegungen, herauszufinden, wie wir die Betriebsrente dort verbreiten können. Darauf zielt auch der Vorschlag, den wir öffentlich gemacht haben.

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000305

Liebe Kolleginnen und Kollegen, zu diesem Thema liegen mir keine weiteren Fragen vor. Deshalb frage ich Sie: Gibt es Fragen zu anderen Themen der heutigen Kabinettssitzung? - Ja. Herr Kollege.

Oliver Krischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004081, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herzlichen Dank, Frau Präsidentin. - Frau Bundesministerin, wir diskutieren seit mehreren Monaten - muss man jetzt schon sagen - die Klimaabgabe für Kohlekraftwerke als Teil des Aktionsprogramms Klimaschutz 2020. Meine Frage: War dieses Thema, mit dem weitere energiepolitische Maßnahmen verknüpft sind - Weißbuch Strommarktdesign, Leitungsausbau -, Gegenstand der Kabinettssitzung, auch vor dem Hintergrund, dass sich heute Abend, wie ich Medien entnehme, ein Koalitionsgipfel mit diesem Thema beschäftigt?

Andrea Nahles (Minister:in)

Politiker ID: 11003196

Erstens. Nein, wir hatten heute genug anderen Stoff, von dem schon die Rede war, zu besprechen. Es ging wirklich um andere Fragen. Zweitens. Es gibt heute Abend keinen Gipfel; jedenfalls ist mir das nicht bekannt.

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000305

Gibt es weitere Fragen? - Bitte, Herr Kollege Strengmann-Kuhn.

Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003888, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich möchte gerne eine Frage zum Thema „Griechenland und die Rolle der Sozialminister in Europa“ stellen; denn es geht in diesem Zusammenhang ja auch sehr stark um soziale Fragen, um Renten- und Arbeitsmarktpolitik. Mich würde interessieren, wie Sie sich persönlich oder die Gemeinschaft der Sozialminister in Europa in die Debatte eingebracht haben, oder welche Möglichkeiten es gab, sich in die derzeitigen Gespräche und Verhandlungen einzubringen, um dafür zu sorgen, dass die Programme sozial etwas ausgewogener gestaltet werden als früher?

Andrea Nahles (Minister:in)

Politiker ID: 11003196

Seit Jahren, auch seitdem ich Ministerin bin, werden intensive Gespräche dazu geführt. Wir haben gemeinsam mit den Franzosen eine Initiative zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit gestartet und für einen schnelleren Mittelabfluss gesorgt. Auch das MobiPro-Programm wurde aktiv beworben. Mithilfe meines Hauses wurden die Mittel für dieses Programm aufgestockt. Allerdings muss man dazusagen, dass die Nachfrage aus Portugal und Spanien die Nachfrage aus Griechenland deutlich übersteigt. Im Übrigen bin ich weder bei Krisengipfeln noch bei sonstigen Treffen. Ich berichte Ihnen, was ich aus meinem Fachbereich beisteuern kann. Im Hinblick auf mögliche Verwerfungen, die es in den nächsten Wochen und Monaten geben kann, habe ich meinem Haus bereits den Auftrag erteilt, zu prüfen, wo wir konkret Amtshilfe leisten können. Das haben wir, wenn es gewünscht wurde, in der Vergangenheit bereits getan. Wir haben uns zum Beispiel über ein Jahr darum bemüht, eine Sozialhilfe in Griechenland aufzubauen - allerdings ohne Erfolg.

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000305

Vielen Dank. - Gibt es weitere Fragen zu der heutigen Kabinettssitzung? - Das ist nicht der Fall. Gibt es darüber hinaus Fragen an die Bundesregierung? - Herr Kurth.

Markus Kurth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003578, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

In der Presse war zu lesen, dass die Koalitionsarbeitsgruppe, die sich mit dem flexiblen Rentenübergang - kurz: Flexirente - beschäftigt, erneut zu keinen Ergebnissen kommen wird. Durch eine Wortmeldung im Ausschuss habe ich heute erfahren, das Bundesministerium habe sich sogar aus der Begleitung dieser Arbeitsgruppe vollständig zurückgezogen. Würden Sie der Einschätzung zustimmen, dass diese Koalitionsarbeitsgruppe praktisch so gut wie gescheitert ist?

Andrea Nahles (Minister:in)

Politiker ID: 11003196

Das ist eine Fraktionsarbeitsgruppe, und ich bin Mitglied der Regierung. Ich habe aber großes Zutrauen in meine Kollegen. Sie werden sicherlich ein gutes Ergebnis erzielen. ({0})

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000305

Liebe Kolleginnen und Kollegen, damit beende ich die Befragung der Bundesregierung. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 2 auf: Fragestunde Drucksache 18/5341 Ich möchte darauf hinweisen, dass für die heutige Fragestunde 90 Minuten vorgesehen sind. Gestatten Sie mir einen weiteren Hinweis. Zur Erinnerung: Für die Beantwortung der ersten Frage sind zwei Minuten vorgesehen, für die folgenden Fragen und Antworten jeweils eine Minute. Den Ablauf der Zeit sehen Sie, wie gehabt, anhand der Uhren. Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministeriums des Innern auf. In den Fragen 1 und 2 der Abgeordneten Renner geht es um Informationen zu Quellenmeldungen eines neonazistischen V-Mannes und dessen Vernehmung durch das BKA und den Generalbundesanwalt. Diese Fragen werden schriftlich beantwortet. In Frage 3 der Abgeordneten Heike Hänsel geht es um eine mögliche deutsche Beteiligung an Spionageangriffen auf die französische Regierung durch die USamerikanischen Nachrichtendienste. Diese Frage wird ebenfalls schriftlich beantwortet. Die Frage 4 des Abgeordneten Andrej Hunko, in der es um Änderungen bei der Planung und Durchführung von gemeinsamen Projekten des BND, des BKA und der Bundespolizei mit ägyptischen Sicherheitsbehörden geht, wird auch schriftlich beantwortet. Das Gleiche gilt für die Frage 5 der Abgeordneten Ulla Jelpke, die sich auf die Anwendung der Genfer Flüchtlingskonvention bei einer Einreise von Flüchtlingen nach Deutschland über ein Drittland bezieht. Ich rufe die Frage 6 des Kollegen Konstantin von Notz auf: Haben, auch vor dem Hintergrund, dass der Journalist Ahmad Mansur nicht bereits bei seiner Einreise verhaftet wurde, deutsche Geheimdienste und bzw. oder Polizeibehörden ihn während seines Aufenthaltes beobachtet, und welche Erkenntnisse wurden hierbei gesammelt, die eine Verhaftung bei seiner Ausreise gerechtfertigt erscheinen ließen? Herr Staatssekretär Dr. Krings, Sie haben das Wort.

Dr. Günter Krings (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003574

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lieber Kollege von Notz, wir hatten heute schon im Ausschuss Gelegenheit, uns über diese Frage auszutauschen. Das, was ich Ihnen im Ausschuss gesagt habe, sage ich Ihnen gerne auch noch einmal hier im Plenum des Deutschen Bundestages: Eine Beobachtung von Ahmad Mansur durch deutsche Nachrichtendienste und/ oder Polizeibehörden während seines Aufenthalts in Deutschland fand nicht statt.

Peter Hintze (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000907

Ich vermute, dass Sie eine Nachfrage haben, Herr Kollege.

Dr. Konstantin Notz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004123, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

So ist das, Herr Präsident. Herzlichen Dank. - Vielen Dank, Herr Staatssekretär. Gab es denn während des Besuchs des ägyptischen Präsidenten irgendeinen Austausch über ägyptische Oppositionelle oder Ähnliches zwischen deutschen Sicherheitsbehörden, deutschen Stellen und dem ägyptischen Präsidenten und den Leuten, die mit ihm hier waren?

Dr. Günter Krings (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003574

Das ist mir, lieber Herr Kollege, so nicht bekannt. Ich habe dieses Thema aber auch nicht vorher aufbereitet, weil es etwas entfernt ist vom Thema Mansur. Wenn Sie mögen, können wir das gerne eruieren.

Peter Hintze (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000907

Haben Sie noch eine Zusatzfrage?

Dr. Konstantin Notz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004123, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Nein, das wäre es erst einmal. Die nächste Runde geht ja, glaube ich, an das Justizministerium.

Peter Hintze (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000907

Ja, aber so weit sind wir noch nicht. - Kollege Ströbele, bitte.

Hans Christian Ströbele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002273, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Danke. - Im Anschluss an die Frage des Kollegen von Notz habe ich eine weitere Frage dazu: Ich habe der Presse entnommen, dass bei den Gesprächen der Bundeskanzlerin mit dem Präsidenten Ägyptens, Herrn el-Sisi, auch über die Rechtsprechung in Ägypten geredet worden ist, insbesondere über Urteile, auch über Todesurteile. Ist in diesem Zusammenhang auch erwähnt worden, wie man es mit einer möglichen Hilfe deutscher Behörden bei Strafverfahren oder der Vollstreckung von Strafurteilen aus Ägypten hält?

Dr. Günter Krings (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003574

Ich habe natürlich vernommen, Herr Kollege, dass auch Menschenrechtsfragen Thema der Gespräche waren, dass die Kanzlerin dies angesprochen hat. Details dazu kann ich Ihnen ad hoc nicht nennen. Das müssten wir eruieren, weil ich bei diesen Gesprächen persönlich nicht zugegen war. Sie kennen die Rechtslage in Deutschland und wissen, dass eine Auslieferung beispielsweise dann nicht möglich ist, wenn eine Todesstrafe droht. All diese Dinge, die wir mit gutem Recht und aus gutem Grund in unserem Recht verankert haben, sind Ihnen ja bekannt.

Peter Hintze (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000907

Danke schön. - Wir wechseln zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz, bleiben aber zunächst bei dem Thema „Umstände der Festnahme des ägyptischen Journalisten Ahmad Mansur“. Der Parlamentarische Staatssekretär Christian Lange steht zur Beantwortung bereit. Ich rufe die Frage 7 des Abgeordneten Dr. Konstantin von Notz auf: Bestätigt die Bundesregierung, dass dem zuständigen Bundesamt für Justiz sowie dem Auswärtigen Amt zum Zeitpunkt ihrer Entscheidung im Fall Ahmad Mansur die über das Bundeskriminalamt an sie weitergeleiteten, für diesen Fall ausgesprochenen Warnungen von Interpol vorlagen, und, wenn ja, von wem wurde gleichwohl von beiden Behörden offenkundig eine Festsetzung von Ahmad Mansur befürwortet ({0})? Bitte.

Christian Lange (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003168

Vielen Dank, Herr Präsident. - Ich weise ebenso wie mein Kollege aus dem Bundesinnenministerium darauf hin, dass wir diese Frage bereits heute Vormittag im Ausschuss ausführlich behandelt haben. Gerne beantworte ich die Frage des Kollegen wie folgt: Dem Bundesamt für Justiz, welches die Aufgaben des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz nach § 74 Absatz 1 des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen aufgrund des Übertragungserlasses vom 2. Januar 2007 wahrnimmt, und dem Auswärtigen Amt lag zum Zeitpunkt der Entscheidung über das ägyptische Fahndungsersuchen gegen Herrn Mansur eine E-Mail von Interpol vom 20. Oktober 2014 vor, in der Interpol mitteilte, das Fahndungsersuchen verstoße gegen Artikel 3 der Interpol-Statuten und werde deswegen nicht durch Interpol veröffentlicht. Das Auswärtige Amt hat bei der Prüfung, ob das gegen den Verfolgten in Ägypten geführte Strafverfahren politisch motiviert ist, keine entsprechenden Erkenntnisse gewinnen können, zumal sich weder aus dem Fahndungsersuchen selbst noch aus der Interpol-Warnung klar ergab, dass es sich bei dem Verfolgten um einen Journalisten handelt. Es lagen keinerlei Informationen darüber vor, dass der Verfolgte der Muslimbrüderschaft nahesteht. Auch der Tatvorwurf des nationalen ägyptischen Haftbefehls, die rechtswidrige Gefangennahme und Folterung eines Rechtsanwalts, ließ für sich genommen nicht den Schluss auf eine politische Verfolgung zu. Auch dem Bundesamt für Justiz lagen keine derartigen Anhaltspunkte oder weitere Informationen vor, die einen zulässigen Rückschluss auf eine politische Straftat nach § 6 IRG und damit zur Unzulässigkeit der Auslieferung zugelassen hätten.

Peter Hintze (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000907

Zusatzfrage, Herr Dr. von Notz?

Dr. Konstantin Notz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004123, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Die gibt es. - Herr Staatssekretär, vielen Dank für die Antwort. Nun ist es so, dass die Problematik mit diesen internationalen Haftbefehlen nicht gänzlich neu ist. Schon vor Monaten war ein ganzes SZ-Magazin mit problematischen Fällen gefüllt. Deswegen frage ich: Wie ist denn der aktuelle Stand der Diskussion im Bundesjustizministerium, wie man zukünftig ähnliche hochnotpeinliche Missverständnisse verhindern will?

Christian Lange (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003168

Herr Präsident, ich würde meine Antwort gerne mit der Antwort auf die Frage 12 der Kollegin Haßelmann verbinden, die genau nach den Konsequenzen aus diesem Fall fragt. Wenn ich das damit verbinden darf, dann hätten wir damit auch diese Frage gleich erledigt.

Peter Hintze (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000907

Das können wir nicht so machen, weil Frau Haßelmann noch nicht da ist. Dadurch würde dann ihr Nachfragerecht verwirkt. Sie müssen die Frage also netterweise zweimal beantworten. Das passiert im Plenum schon einmal. Es trägt übrigens zur Erkenntnisbildung bei, wenn man etwas zweimal hört. Insofern müssen Sie es gleich bitte noch einmal beantworten. ({0})

Christian Lange (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003168

Ich beantworte sie gerne auch zweimal. Jetzt zum ersten Mal: Der Bundesregierung liegen keine statistischen Daten vor - Frau Haßelmann hat ja im Zusammenhang mit der Sorge von Reporter ohne Grenzen danach gefragt -, dass Interpol-Rot- oder -Blauecken vermehrt gegen Dissidenten ausgestellt werden. Nach diesem politischen Zusammenhang hatten Sie gefragt. Die Mitteilung von Interpol, dass ein Fahndungsersuchen aufgrund eines politischen Hintergrunds gegen Artikel 3 der Interpol-Statuten verstößt, enthält in der Regel keine weitere Begründung. Darüber gab es - Sie weisen zu Recht darauf hin - schon mehrere Veröffentlichungen. Zudem enthalten die Fahndungsersuchen nur einen rudimentären Sachverhalt, der nur eine summarische Prüfung zulässt. Zur Frage, ob eine Verfolgung aus politischen Motiven erfolgt, wird dem Bundesamt für Justiz, welches die Aufgaben des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz nach § 74 Absatz 1 IRG aufgrund des Übertragungserlasses wahrnimmt, vom Auswärtigen Amt nach Beteiligung der Auslandsvertretung in dem jeweiligen Staat eine Einschätzung übermittelt. Wenn sich insgesamt für das Bundesamt für Justiz Anhaltspunkte dafür ergeben, dass eine exponierte Person verfolgt wird, erfolgt eine Recherche in öffentlich zugänglichen Quellen, um diese zu verifizieren. Ferner wird versucht, Informationen zu möglicher politischer Verfolgung im ersuchenden Staat zusammenzutragen. Diese können aus vorangegangenen Verfahren, Berichten von multilateralen Organisationen, wie den UN oder dem Europarat, und Nichtregierungsorganisationen gewonnen werden. Vor einer abschließenden Entscheidung wird das Bundesamt für Justiz zukünftig über die allgemeine Berichtspflicht in Angelegenheiten besonderer Bedeutung hinaus in Fällen, in denen Interpol einen Warnhinweis herausgegeben hat, unserem Haus, dem Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz, berichten. Ferner wird das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz in Zusammenarbeit mit dem Bundesamt für Justiz Qualitätskriterien für die Überprüfung von Fahndungsersuchen entwickeln und fortentwickeln und entsprechende Fortbildungen für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter anbieten. Im Auswärtigen Amt wird künftig mit diesen Fällen zusätzlich eine höhere Ebene der Hierarchie in den beteiligten Referaten und in den Auslandsvertretungen befasst werden.

Peter Hintze (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000907

Haben Sie noch eine Zusatzfrage?

Dr. Konstantin Notz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004123, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Eine habe ich noch.

Peter Hintze (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000907

Dürfen Sie. Bitte.

Dr. Konstantin Notz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004123, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Was schätzen Sie, wie viele Fälle sind pro Jahr betroffen? Was für einen Aufwand bedeutet diese Überprüfung, die, wenn ich es richtig verstehe, ab jetzt stattfinden wird, im Hinblick auf die Vielzahl von Ländern, die offenbar in dieses System einmelden? Ich denke auch zum Beispiel an Russland.

Christian Lange (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003168

Ich kann keine Schätzungen abgeben, aber ich kann Ihnen sagen, wie es im vergangenen Jahr, im Jahr 2014, war, damit man einen ungefähren Eindruck bekommt. Im BfJ, also im Bundesamt für Justiz, sind im Jahr 2014 3 818 Fahndungsersuchen eingegangen, über die zu entscheiden war. In 70 Fällen hat Interpol den entsprechenden Hinweis gegeben, dass die weitere Nutzung der Möglichkeiten von Interpol nach interner Prüfung nicht zulässig sei - allerdings, wie wir wissen, ohne Begründung, ohne alles. In drei dieser Fälle ist die verfolgte Person in Deutschland gleichwohl ausgeschrieben worden, und zwar in zwei Fällen zur Aufenthaltsermittlung und in einem Fall, im Fall Mansur, zur Festnahme.

Dr. Konstantin Notz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004123, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herzlichen Dank.

Peter Hintze (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000907

Wir bleiben beim Thema, aber wechseln den Fragesteller. Ich rufe die Frage 8 des Abgeordneten Hans-Christian Ströbele zum gleichen Komplex auf: Warum antworteten das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz sowie das Auswärtige Amt Anfang Januar 2015 auf die Anfrage des Bundeskriminalamtes zu dem Journalisten Ahmad Mansur trotz der bekannten Menschenrechtslage in Ägypten, „dass gegen eine nationale Ausschreibung zur Festnahme keine Bedenken bestehen“, obwohl Interpol im Herbst 2014 nach dem ägyptischen Haftbefehl der deutschen Seite auch seine Bedenken zugeleitet hatte, dieser Haftbefehl missbrauche das Interpol-Instrumentarium und verstoße gegen das Verbot politischer Verfolgung, § 6 des GeVizepräsident Peter Hintze setzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen, IRG, ({0}), und weshalb hat die Bundespolizei Ahmad Mansur erst am 20. Juni 2015 in Berlin festgenommen, aber nicht schon bei seiner vorherigen Einreise nach Deutschland aus Sarajevo am 16. Juni 2015? Bitte, Herr Staatssekretär.

Christian Lange (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003168

Dem Kollegen Ströbele habe ich bereits heute Vormittag im Ausschuss ausführlichst geantwortet. Ich muss das auch jetzt tun, Herr Präsident. Deswegen muss ich die mir zugewiesene Zeit deutlich überschreiten. Ich werde es trotzdem beschleunigt machen.

Peter Hintze (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000907

Das ist genehmigt, weil ja auch die Frage sehr, sehr lang ist und der Fragesteller sicherlich eine interessante und vollständige Auskunft erwartet.

Christian Lange (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003168

Davon gehe auch ich aus; vielen Dank. - Herr Kollege, das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz war mit dem Vorgang zum ersten Mal nach der Festnahme von Herrn Mansur befasst. Eine Fahndung im Inland wird vom Bundesamt für Justiz, welches die Aufgaben des Bundesministeriums nach § 74 Absatz 1 des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen aufgrund des Übertragungserlasses vom 2. Januar 2007 wahrnimmt, im Einvernehmen mit dem Auswärtigen Amt bewilligt, wenn aufgrund summarischer Prüfung - summarischer Prüfung! keine offensichtlichen Gründe für die Annahme vorliegen, dass eine Auslieferung nicht bewilligt werden kann, was einer Festnahme entgegenstünde. Die Zuständigkeit für die etwaige spätere Bewilligung einer Auslieferung führt dazu, dass die genannten Behörden am Anfang des Verfahrens gleichsam eine Filterfunktion im Wege einer summarischen Prüfung wahrnehmen. Im Einzelnen setzt eine Bewilligung einer Fahndungsausschreibung insbesondere voraus, dass die verfolgte Person, der Staat, an den die Auslieferung in Betracht kommt, die zur Last gelegte Tat und der Haftgrund bekannt sind. Dem Bundesamt für Justiz obliegt in jedem Einzelfall die Prüfung, ob die Voraussetzungen der Auslieferung vorliegen und ob Anhaltspunkte vorhanden sind, die die Ablehnung der Auslieferung begründen können. Zu den rechtlichen Voraussetzungen einer Auslieferung gehört zum Beispiel, ob die Tat auch nach deutschem Recht strafbar wäre. Zu den Ablehnungsgründen zählt insbesondere auch die Frage, ob eine politische Verfolgung vorliegt; § 6 Absatz 1 des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen. Bei dieser Prüfung kommt einer Mitteilung von Interpol, dass das Fahndungsersuchen gegen die Interpol-Statuten verstößt, eine Indizwirkung zu. Bindend ist eine solche Stellungnahme nicht, da die Definition der politischen Verfolgung im deutschen Recht nicht mit der in den Interpol-Statuten identisch ist. Artikel 3 der Interpol-Statuten soll die Neutralität von Interpol wahren, während § 6 Absatz 1 des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen dem Schutz der verfolgten Person vor ungerechtfertigter Verfolgung dient. Das Auswärtige Amt hat bei der Prüfung, ob das gegen den Verfolgten in Ägypten geführte Strafverfahren politisch motiviert ist, keine entsprechenden Erkenntnisse gewinnen können, zumal sich weder aus dem Fahndungsersuchen selbst noch aus der Interpol-Warnung ein eindeutiger Hinweis ergab, dass es sich bei dem Verfolgten um einen Journalisten handelt. Ferner lagen keinerlei Informationen darüber vor, dass der Verfolgte aktives Mitglied der Muslimbrüderschaft ist. Auch der Tatvorwurf, die rechtswidrige Gefangennahme und Folterung eines Rechtsanwalts durch Herrn Mansur, ließ für sich genommen nicht den Schluss auf eine politische Verfolgung zu. Herr Mansur besitzt sowohl die britische als auch die ägyptische Staatsangehörigkeit. Ausweislich der der Bundespolizei vorliegenden Informationen ist er als Staatsangehöriger Ägyptens derzeit nicht im Besitz eines gültigen Schengen-Visums. Insofern ist zu vermuten, dass Herr Mansur bei seiner Einreisekontrolle am Flughafen München seinen britischen Reisepass vorlegte. EU-Bürger dürfen nach Artikel 7 Absatz 2 der Verordnung ({0}) Nr. 562/2006 nicht systematisch in den Personenfahndungsdateien überprüft werden. Insofern ist zu vermuten, dass diese Personenfahndungsabfrage bei der Einreisekontrolle nicht erfolgte und deshalb die Fahndungsnotierung nicht festgestellt wurde.

Peter Hintze (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000907

Haben Sie eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Ströbele?

Hans Christian Ströbele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002273, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja. - In der Tat, Herr Staatssekretär, haben Sie weitgehend dasselbe, was Sie jetzt vorgetragen haben, auch schon im Rechtsausschuss vorgetragen. Ich habe auch da schon Fragen gestellt; sie wurden auch beantwortet. Aber die Frage, die ich jetzt stelle, habe ich da noch nicht gestellt. Deshalb: Machen Sie sich auf etwas Neues gefasst. ({0}) Nach dem, was Sie im Rechtsausschuss mitgeteilt haben - ich glaube, Sie haben das auch jetzt angedeutet -, lagen hier zwei Warnhinweise vor. Ein Warnhinweis war vom 15. Januar, ein zweiter stammte aus dem Juni 2015. Haben Sie dieses Insistieren und das besondere Engagement von Interpol - das ja in zwei Anfragen oder Hinweisen zum Ausdruck kam - nicht dazu bewogen, diese Sache besonders gründlich zu überprüfen und intensiv auch bei der deutschen Botschaft in Ägypten nachzufragen, ob dort nicht Erkenntnisse vorliegen? Denn Sie haben ja eben bei der von Ihnen angeführten Statistik gesagt, dass bei über 3 000 Anfragen alle 70 Beanstandungen außer der Sache Mansur letztlich Erfolg gehabt hätten.

Christian Lange (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003168

Herr Präsident, ich weise auch in diesem Fall darauf hin, dass diese Frage identisch ist mit Frage 9 der Frau Abgeordneten Dr. Brantner. Ich bitte darum, diese Frage und damit ebenfalls Frage 9 zu beantworten. Wenn das genehmigt wird, würde ich es gerne so machen.

Peter Hintze (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000907

Frau Brantner hat natürlich alle ihre Zusatzfragen. Aber versuchen Sie es einmal. Ich rufe daher auch Frage 9 auf: Mit welchem Inhalt sprach Ägypten am 18. Mai 2015 ein weiteres Fahndungsersuchen für Ahmad Mansur aus, und mit welchem Inhalt haben das Auswärtige Amt und das Bundesamt für Justiz dazu Stellung bezogen ({0})?

Christian Lange (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003168

Ich beantworte die Frage von Frau Dr. Brantner und Ihre Frage hiermit wie folgt: Am 18. Mai 2015 wurde kein weiteres Fahndungsersuchen gestellt, sondern lediglich das bereits bekannte Ersuchen wiederholt. Bis zur Festnahme von Herrn Mansur haben Auswärtiges Amt und Bundesamt für Justiz keine Stellung dazu genommen.

Peter Hintze (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000907

Jetzt darf Herr Ströbele noch eine Frage dazu stellen, und Frau Dr. Brantner darf noch zwei Fragen dazu stellen.

Hans Christian Ströbele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002273, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich habe noch eine Frage.

Peter Hintze (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000907

Die dürfen Sie stellen.

Hans Christian Ströbele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002273, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Auch im Rechtsausschuss habe ich Sie bereits darauf hingewiesen, dass unmittelbar am gleichen Tage, wenige Stunden nachdem Herr Mansur in Deutschland festgenommen worden war, - aus Pressemeldungen - die Presse wusste das also - bekannt wurde, dass Herr Mansur in Ägypten in Abwesenheit zu 15 Jahren Freiheitsstrafe verurteilt worden war. Das muss ja jeden rechtsstaatlich denkenden Menschen alarmieren. Wieso war Ihnen das nicht bekannt? Und wieso haben Sie nicht ganz gezielt bei der deutschen Botschaft nachgefragt, ob dieses Faktum, dass ein Mansur - einer der bekanntesten Journalisten in diesem Erdteil -, ohne dass er anwesend war, zu 15 Jahre Freiheitsstrafe verurteilt worden war, bekannt sei? Das muss doch auch in der deutschen Botschaft bekannt gewesen sein. Dann hätte eine entsprechende Rückantwort kommen müssen.

Christian Lange (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003168

Herr Kollege Ströbele, Sie erinnern sich sicher auch an die Antwort der Kollegin aus dem Auswärtigen Amt. Dazu hat das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz nicht Stellung genommen, weil es nicht in unsere Ressortzuständigkeit fällt. Ich will aber der Tatsachen halber lieber sagen, dass Herr Mansur in Abwesenheit nicht zu 15 Jahren, sondern zu 5 Jahren verurteilt wurde. Im ägyptischen Haftbefehl war - das nur der Richtigkeit halber - von 15 Jahren die Rede. ({0}) - Wir wollen ja über die Tatsachen sprechen. - Diese Tatsache ist der ägyptischen Botschaft in Bezug auf das Auslieferungsersuchen zu Mansur übermittelt worden. Darin wird am 21. Juni genau das festgestellt. Das hat Ihnen die Kollegin aus dem Auswärtigen Amt heute Morgen auch exakt so gesagt.

Peter Hintze (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000907

Jetzt hat Frau Dr. Brantner noch zwei Nachfragen. Sie müssen Sie nicht stellen, sondern Sie dürfen es.

Dr. Franziska Brantner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004255, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sie hatten gerade auch gesagt, dass die Vorwürfe gegen Herrn Mansur darin bestünden, dass er jemanden gewalttätig angegangen sei. In der Anklageschrift stand aber auch schon, dass er Schriften verbreitet habe, welche die Staatssicherheit gefährdet hätten. In der Anklageschrift stand beides. Von daher noch einmal die Frage: Aufgrund welcher Kriterien und Verfahren beurteilen Sie solche Fälle, insbesondere wenn von Interpol noch einmal eine Warnung kommt? Was sind die Kriterien, die dem zugrunde liegen? Welche Regeln gibt es da? Und welche Einschätzung der Rechtsstaatlichkeit in dem betroffenen Staat nehmen Sie als Grundlage? Es kann ja, wenn es darum geht, ob etwas für eine bestimmte Person greift, nicht sein, dass dies davon abhängig ist, ob jemand bekannt ist oder nicht, sondern es muss um ein geregeltes Verfahren gehen, das nicht davon abhängig sein kann, ob jemand den Herrn Mansur kennt oder nicht. Was sind die Regeln, die Verfahren und die Kriterien?

Christian Lange (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003168

Lassen Sie mich auch darauf etwas ausführlicher eingehen. Zunächst einmal ist festzustellen, dass der Bescheid von Interpol nicht so ist, wie Sie es gerade dargestellt haben. Ich darf - das habe ich heute Morgen auch getan - zitieren. Dort heißt es: Nach Abschluss der rechtlichen Überprüfung - so Interpol wurde der vorliegende Fall dahin gehend bewertet, dass er überwiegend politischen Charakter im Sinne von Artikel 3 IKPO-Statuten hat, insbesondere hinsichtlich der Art des Verstoßes; denn Verstöße mit Bezug auf die Presse - das ist der, wie ich sagen würde, zarte Hinweis Parl. Staatssekretär Christian Lange und Verstöße gegen die innere und äußere Sicherheit des Staates werden gemäß dem internationalen Auslieferungsrecht und langjähriger Praxis von Interpol als rein politisch betrachtet. Darüber hinaus stützt auch der Gesamtzusammenhang des Falls die Annahme, dass der Fall vorwiegend politischen Charakter im Sinne von Artikel 3 IKPO-Statuten hat. So weit im Original zitiert. Sie sagen jetzt zu Recht: mehr Sensibilität. - Das sehen wir genauso. Deswegen ist eine der Konsequenzen, die wir daraus gezogen haben, dass die entsprechenden Ausbildungen und Fortbildungen der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter - wir reden hier über die Sachbearbeiterebene - vorangetrieben werden - das wollen wir auch in Form von Workshops tun; das alles hatte ich bereits ausgeführt -, um einheitliche Standards zu erreichen. Wie sind die Standards bislang? Eine Fahndung im Inland wird bewilligt, wenn aufgrund summarischer Prüfung - summarischer Prüfung! - die Voraussetzungen einer vorläufigen Festnahme nach § 19 des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen vorliegen. Im Einzelnen setzt das nach § 19 IRG in Verbindung mit § 17 IRG insbesondere voraus, dass die verfolgte Person, der Staat, an den die Auslieferung in Betracht kommt, die zur Last gelegte Tat und der Haftgrund bekannt sind. - Das war im vorliegenden Fall übrigens auch nicht der Fall. Zum Beruf stand bei Interpol zum Beispiel „liegt nicht vor“. - Ferner dürfen keine Gründe vorliegen, die an den Voraussetzungen der Auslieferung nach §§ 2 bis 5 IRG oder anwendbaren bilateralen oder multilateralen Verträgen zweifeln lassen oder deren Ablehnung begründen können. §§ 6 bis 9 und 73 IRG: Hieraus ergibt sich im Wesentlichen bereits das in diesen Fällen anzuwendende Prüfungsschema. - So weit der heutige Rechtsstand. Jetzt kommt es darauf an - das ist unser Ziel als Konsequenz daraus -, die Sensibilität der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu stärken. Dazu haben wir die dargestellten Maßnahmen - Workshops und Ausarbeitung gemeinsamer Kriterien - noch einmal in den Mittelpunkt gerückt. Das werden wir in Zukunft tun, und das Auswärtige Amt wird zusätzlich dafür sorgen, dass die nächsthöhere Ebene einbezogen wird. Außerdem gibt es in den 70 Fällen, über die wir vorhin gesprochen haben, eine Berichtspflicht gegenüber dem BMJV, was gleichzeitig zu einer nochmaligen Überprüfung der Fälle führt. Wir glauben, dass wir dadurch die notwendige Sensibilisierung im Hinblick auf die kritischen Staaten erreichen, die Sie zu Recht ansprechen.

Peter Hintze (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000907

Noch eine Zusatzfrage, Frau Kollegin?

Dr. Franziska Brantner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004255, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sie haben die summarische Prüfung erwähnt. Meinen Sie wirklich, dass sie bei einem schwerwiegenden Eingriff in die Grundrechte reicht? Man wird immerhin festgenommen. Haben Sie nicht den Eindruck, dass Ihr vorgeschlagenes Verfahren - es soll, wie gesagt, eine summarische Prüfung durchgeführt werden - und die Auswirkungen in einem nicht ausgewogenen Verhältnis zueinander stehen? Ich gehe davon aus, dass Sie die gemeinsamen Kriterien dem Deutschen Bundestag vorlegen werden, damit man sie diskutieren kann. Können Sie das vielleicht noch einmal bestätigen? In diesen Kriterien werden Sie zum Beispiel bestimmt auch erwähnen, dass man es etwas ernster nehmen soll, wenn Interpol sagt, dass etwas einen überwiegend politischen Charakter hat, und dass man das nicht davon abhängig machen darf, ob jemand bekannt ist oder nicht. Welche Auswirkungen wird es in Zukunft haben, wenn Interpol sagt, es handele sich um einen Fall des Artikels 3 IKPO-Statuen, außer dass es auf einer höheren Arbeitsebene behandelt wird? Welchen inhaltlichen Unterschied wird das in Zukunft machen?

Christian Lange (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003168

Zunächst einmal sind in Deutschland nach Artikel 104 unseres Grundgesetzes Gerichte und nicht Behörden für die Inhaftierung von Menschen zuständig. Artikel 104 des Grundgesetzes schreibt vor, dass eine inhaftierte Person spätestens nach zwei Tagen einem Haftrichter vorzuführen ist. Dem sind wir hier - ich will das ausdrücklich sagen - zuvorgekommen. Es ist bedauerlich - die Bundesregierung hat das gegenüber Herrn Mansur auch bedauert -, dass es so weit gekommen ist, aber die Vorschriften unseres Grundgesetzes sind eingehalten worden. Noch bevor das Gericht seinem Auftrag nachgekommen ist, hatten wir am 22. Juni 2015 das Ergebnis, dass Herr Mansur freizulassen ist, sodass es dann nicht mehr zu einer entsprechenden Entscheidung des zuständigen Gerichts kommen musste. Das heißt, der Rechtsstaat - das will ich einmal sagen - hat an dieser Stelle voll funktioniert. Trotzdem ist es richtig, dass Herr Mansur zu Unrecht zwei Tage in Haft genommen worden ist. Diese summarische Prüfung, die hier stattfindet, ersetzt keine richterliche Entscheidung. Das müssen wir einfach wissen. Das ist auch nicht das Ziel. Vielmehr müssen wir erreichen, dass die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter stärker dafür sensibilisiert werden. Das wollen wir durch diese Maßnahmen bewirken. Ich kann Ihnen noch nicht sagen, welche das über die rechtlichen Rahmenbedingungen hinaus, die ich gerade geschildert habe, konkret sind. Aber das ist die Konsequenz, die die Häuser daraus gezogen haben, und diese wird unmittelbar umgesetzt. Unser Ziel ist, dass sich so etwas nicht wiederholt.

Peter Hintze (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000907

Schönen Dank. - Herr Ströbele, Sie wollen noch eine Frage stellen? Ich weiß nicht, ob das zulässig ist.

Christian Lange (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003168

Das ist nicht mehr zulässig.

Peter Hintze (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000907

Sie haben ja schon zwei Fragen gestellt. ({0}) - Na gut, also schön. Bitte.

Hans Christian Ströbele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002273, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

So ist das eben: Wenn eine Frage schon vorher beantwortet wurde, darf man noch einmal fragen.

Peter Hintze (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000907

Das ist alles richtig. Stellen Sie einfach Ihre Frage.

Hans Christian Ströbele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002273, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja. - Herr Staatssekretär, ist den Fahndungsbehörden und den Bundespolizeibeamten, die die Festnahme durchgeführt haben, zu Beginn des Wochenendes - er war ja das Wochenende über in Haft - die zweimalige Intervention von Interpol bekannt gewesen, und haben sie dann diese Festnahme trotzdem durchgeführt?

Christian Lange (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003168

Was den Polizeibeamten in der konkreten Situation bekannt war oder nicht bekannt war, entzieht sich meiner Kenntnis.

Peter Hintze (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000907

Gut. - Dann kommen wir jetzt zur Frage 10 der Abgeordneten Tabea Rößner, Bündnis 90/Die Grünen: Welche Anstrengungen unternimmt die Bundesregierung angesichts dessen, dass Ägypten auf der Rangliste der Pressefreiheit von Reporter ohne Grenzen auf Platz 158 von 180 Ländern ({0}) steht, zur Stärkung der Pressefreiheit und Verhinderung unrechtmäßiger Verfolgung und Verurteilung von Journalisten, und welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung darüber, wie viele weitere ausländische Journalistinnen und Journalisten in Deutschland aufgrund eines Auslieferungsersuchens festgenommen wurden? Herr Staatssekretär.

Christian Lange (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003168

Frau Kollegin Rößner, die Bundesregierung beobachtet mit Sorge, dass in einer Vielzahl von Verfahren kritische Journalisten und Blogger wegen angeblicher Terrorverbrechen oder Stiftung öffentlicher Unruhe angeklagt werden. Die Bundesregierung thematisiert in Gesprächen mit der ägyptischen Regierung regelmäßig Defizite bei der Meinungs- und Pressefreiheit. Es wird zum Ausdruck gebracht, dass freie Meinungsäußerung essenziell für die Demokratisierung und Stabilisierung Ägyptens ist. Im Rahmen der Transformationspartnerschaft werden seit 2012 diverse Projekte mit Partnern wie der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit oder der Deutsche-Welle-Akademie zur Befähigung eines freien Journalismus in Ägypten durchgeführt. Diese umfassen unter anderem Fortbildungen, Netzwerkveranstaltungen oder die Finanzierung von Sendereihen. Kernthemen der Projekte sind die Förderung von Meinungsfreiheit, Medienethik und geschlechtlicher Gleichberechtigung. Statistische Angaben zur Anzahl der Fahndungs- und Auslieferungsersuchen gegen Journalistinnen und Journalisten liegen der Bundesregierung nicht vor.

Peter Hintze (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000907

Zusatzfrage? - Bitte.

Tabea Rößner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004138, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sie sagten, Zahlen dazu lägen Ihnen nicht vor. Sie gingen vor anderen Hintergründen darauf ein, dass es unterschiedliche Ersuchen gibt. Russland zum Beispiel macht von diesem Instrument exzessiv Gebrauch, um alle in Ungnade gefallenen Oppositionellen zu verfolgen, beispielsweise durch den Vorwurf von Hooliganismus oder Terrorismus; das haben Sie genannt. Gibt es dafür nicht die Möglichkeit, eine Liste von Staaten zu erstellen, deren Haftbefehle oder Ersuchen besonders intensiv geprüft werden?

Christian Lange (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003168

Die deutsche Justiz und auch die deutschen Behörden sind trotz eines summarischen Überblicks im Zweifel zu einer Einzelfallprüfung verpflichtet, sodass wir vom Namen eines Staates nicht zwingend Rückschlüsse auf einzelne Personen ziehen können. Auch in solchen Staaten gibt es ganz klassische Kriminalität; auch das ist nicht auszuschließen. Aber wir wollen - damit sind wir wieder beim vorherigen Thema -, dass die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter die notwendige Sensibilität haben, wenn zum Beispiel entsprechende Staaten im Spiel sind. Aber eine direkte Kausalität und damit eine entsprechende - ich sage es einmal so - schwarze Liste zu erstellen, wäre mit den Regeln, die wir uns in der Bundesrepublik gegeben haben, nicht vereinbar.

Peter Hintze (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000907

Noch eine Zusatzfrage? - Bitte.

Tabea Rößner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004138, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Es gibt Länder, die mit solchen Ersuchen von Interpol anders umgehen. Als Beispiel ist hier die Schweiz zu nennen, die an bestimmte Staaten generell nicht ausliefert. Wäre das nicht auch für die Bundesregierung eine mögliche Haltung?

Peter Hintze (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000907

Bitte.

Christian Lange (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003168

Ich sagte bereits: Die Bundesregierung und die Gerichte sind im Zweifel an Einzelfallprüfungen gebunden.

Peter Hintze (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000907

Dann kommen wir zur Frage 11, ebenfalls der Abgeordneten Tabea Rößner: Was unternimmt die Bundesregierung dagegen, dass Journalistinnen und Journalisten in Zukunft nicht aus politischen Motiven festgenommen und ausgeliefert werden? Bitte, Herr Staatssekretär.

Christian Lange (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003168

Die Frage beantworte ich wie folgt: Die Mitteilung von Interpol, dass ein Fahndungsersuchen gegen Artikel 3 der Interpol-Statuten verstößt, da es einen politischen Hintergrund habe, enthält in der Regel keine nähere Begründung. Aus diesem Grund müssen das Auswärtige Amt und das Bundesamt für Justiz allein auf der Grundlage der in dem Fahndungsersuchen enthaltenen wenigen Informationen zum Sachverhalt eine eigene summarische Prüfung vornehmen. Zur Frage, ob eine Verfolgung aus politischen Motiven erfolgt, wird dem Bundesamt für Justiz, welches die Aufgaben - ich sagte es bereits - des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz nach § 74 Absatz 1 des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen aufgrund des Übertragungserlasses vom 2. Januar 2007 wahrnimmt, vom Auswärtigen Amt nach Beteiligung der Auslandsvertretung in dem jeweiligen Staat eine Einschätzung übermittelt. Wenn sich insgesamt für das Bundesamt für Justiz Anhaltspunkte dafür ergeben, dass eine exponierte Person verfolgt wird, erfolgt eine Recherche in öffentlich zugänglichen Quellen, um dies zu verifizieren. Ferner wird versucht, Informationen zu möglicher politischer Verfolgung im ersuchenden Staat zusammenzutragen. Diese können aus vorangegangenen Verfahren, Berichten von multilateralen Organisationen wie der UN oder dem Europarat und Nichtregierungsorganisationen gewonnen werden. Vor einer abschließenden Entscheidung wird das Bundesamt für Justiz zukünftig - ich erwähnte es bereits über die allgemeine Berichtspflicht in Angelegenheiten besonderer Bedeutung hinaus in Fällen, in denen Interpol einen Warnhinweis herausgegeben hat, dem Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz berichten. Ferner wird das Bundesministerium in Zusammenarbeit mit dem Bundesamt für Justiz Qualitätskriterien für die Überprüfung von Fahndungsersuchen fortentwickeln und eine entsprechende Fortbildung anbieten. Auch das erwähnte ich bereits. Im Auswärtigen Amt wird künftig mit diesen Fällen zusätzlich eine höhere Ebene der Hierarchie in den beteiligten Referaten und Auslandsvertretungen befasst.

Peter Hintze (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000907

Zusatzfrage, bitte schön.

Tabea Rößner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004138, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sie sprachen die Nachfrage bei Nichtregierungsorganisationen an. Dazu gehören auch Journalistenverbände. Welche sollen insgesamt angefragt werden? Geht es dabei auch um internationale Nichtregierungsorganisationen? Darunter sind einige, die Listen führen und Patenschaftsprogramme für verfolgte Journalisten haben.

Christian Lange (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003168

Ich kann Ihnen nicht sagen, welche Nichtregierungsorganisationen im Einzelfall herangezogen werden. Aber ich gehe davon aus, dass alle relevanten herangezogen werden.

Peter Hintze (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000907

Noch eine Zusatzfrage von Frau Dr. Brantner. Bitte.

Dr. Franziska Brantner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004255, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich habe eine Nachfrage im Hinblick auf die Journalisten, was die Zukunft angeht. Es gibt den großen AlJazeera-Fall wie auch den Fall der vielen zivilgesellschaftlichen Organisationen, die verurteilt wurden. Haben Sie zumindest alle Verurteilten im Zusammenhang mit diesen beiden Verfahren von der Liste genommen, oder haben sie immer noch etwas zu befürchten, wenn sie nach Deutschland kommen wollen? Viele von ihnen sind auch von Interpol zur Fahndung ausgeschrieben. Zu ihnen liegt aber keine entsprechende Mitteilung von Interpol zu Artikel 3 vor. Haben Sie sichergestellt, dass alle, die zumindest in diesen beiden sehr bekannten öffentlichen Verfahren verurteilt wurden, nicht in Deutschland auf unseren Listen stehen?

Christian Lange (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003168

Ich kann Ihnen nicht sagen, welche Entscheidung das Bundesamt für Justiz in anderen Fällen außer dem, über den wir heute sprechen, durchgeführt hat. Ich bitte um Nachsicht.

Peter Hintze (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000907

Wir kommen zu Frage 12 der Abgeordneten Britta Haßelmann: Teilt die Bundesregierung die Sorge unter anderem der Organisation Reporter ohne Grenzen, wonach autoritäre Regime zunehmend den internationalen Haftbefehl von Interpol missbrauchen, um politische Dissidenten weltweit aufzuspüren ({0}), und wie will sie künftig vorgehen, um derlei Missbrauch vorzubeugen? Vizepräsident Peter Hintze Der Staatssekretär hat die Frage im Zusammenhang mit der Frage von Dr. von Notz schon beantwortet. Ich habe aber verfügt, dass er sie noch einmal beantwortet, wenn Sie im Raum sind, damit Sie Ihre Nachfragemöglichkeit wahrnehmen können. Wir hören also noch einmal die Antwort. - Bitte. ({1})

Christian Lange (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003168

Ich trage die Antwort noch einmal vor, liebe Kollegin Haßelmann: Der Bundesregierung liegen keine statistischen Daten darüber vor, dass Interpol-Rot- oder Blauecken vermehrt gegen Dissidenten ausgestellt werden. Die Mitteilung von Interpol, dass ein Fahndungsersuchen aufgrund eines politischen Hintergrundes gegen Artikel 3 der Interpol-Statuten verstößt, enthält in der Regel keine weitere Begründung. Zudem enthalten die Fahndungsersuchen nur einen rudimentären Sachverhalt, der nur eine summarische Prüfung zulässt. Zur Frage, ob eine Verfolgung aus politischen Motiven erfolgt, wird dem Bundesamt für Justiz, welches die Aufgaben des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz nach § 74 Absatz 1 des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen aufgrund des Übertragungserlasses vom 2. Januar 2007 wahrnimmt, vom Auswärtigen Amt nach Beteiligung der Auslandsvertretung in dem jeweiligen Staat eine Einschätzung übermittelt. Wenn sich insgesamt für das Bundesamt für Justiz Anhaltspunkte dafür ergeben, dass eine exponierte Person verfolgt wird, erfolgt eine Recherche in öffentlich zugänglichen Quellen, um dies zu verifizieren. Ferner wird versucht, Informationen zu möglicher politischer Verfolgung im ersuchenden Staat zusammenzutragen. Diese können aus vorangegangenen Verfahren, Berichten aus multilateralen Organisationen, zum Beispiel UN oder Europarat, und Nichtregierungsorganisationen gewonnen werden. Vor einer abschließenden Entscheidung wird das Bundesamt für Justiz zukünftig über die allgemeine Berichtspflicht in Angelegenheiten besonderer Bedeutung hinaus in Fällen, in denen Interpol einen Warnhinweis herausgegeben hat, dem Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz berichten. Ferner wird das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz in Zusammenarbeit mit dem Bundesamt für Justiz Qualitätskriterien für die Überprüfung von Fahndungsersuchen fortentwickeln und eine entsprechende Fortbildung anbieten. Im Auswärtigen Amt wird künftig mit diesen Fällen zusätzlich eine höhere Ebene der Hierarchie in den jeweiligen Referaten und Auslandsvertretungen befasst.

Peter Hintze (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000907

Eine Nachfrage, Frau Kollegin Haßelmann, bitte.

Britta Haßelmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003764, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank, Herr Präsident. - Zuerst einmal möchte ich in Richtung der Regierungsbank sagen: Es steht Ihnen gar nicht zu, das als absurd zu bezeichnen; denn ich bin zur Beantwortung meiner Frage 12 pünktlich anwesend. Ich habe genauso wie Sie noch andere Terminverpflichtungen gehabt und bin deshalb zum Fragenkomplex verspätet gekommen. Das geht Sie aber überhaupt nichts an. Ich bin pünktlich hier und habe deshalb ein Recht auf die Beantwortung meiner Frage. Das haben Sie nicht zu kommentieren - um das einmal ganz deutlich zu sagen. Lassen wir die Kirche im Dorf! ({0}) Nun zum sachlichen Inhalt. Herr Staatssekretär, meine Nachfrage schließt sich an die Frage meiner Kollegin Brantner an. Da wir die Informationen sowohl über die Reporter ohne Grenzen als auch über die offenen Punkte haben, die Frau Brantner gerade in Bezug auf andere Journalisten, deren Namen auf Interpol-Listen stehen, angesprochen hat, können Sie sicherlich nachvollziehen, dass ich mit der Antwort, die Sie meiner Kollegin Brantner gegeben haben, in diesem Kontext nicht einverstanden bzw. nicht zufrieden sein kann. Sie haben gesagt, dass Sie nicht wissen, ob das Bundesamt für Justiz diese Listen durchgeht und dahin gehend überprüft, ob es Warnungen von Dritten, die Tabea Rößner und Franziska Brantner angesprochen haben, bezüglich Personen gibt, die gefährdet sein könnten, weil sie im gleichen Sachzusammenhang wie Mansur stehen. Deshalb lautet meine Frage: Welche konkrete Schritte sind nun eingeleitet, mögliche Interpol-Listen daraufhin zu überprüfen, ob andere gefährdete Journalistinnen und Journalisten aus Krisenregionen und Krisenländern betroffen sein könnten? Wenn Sie nicht in der Lage sind, das jetzt zu beantworten, dann bitte ich darum, dass der Frage nachgegangen wird und dass das Bundesamt für Justiz dazu eine Ausführung macht.

Peter Hintze (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000907

Bitte.

Christian Lange (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003168

Letzteres kann ich Ihnen zusagen. Ansonsten sind wir in dieser Fragestunde nur mit dem Fall Mansur befasst. Aber ich kann gerne beim Bundesamt für Justiz nachfragen, ob es das macht. ({0})

Peter Hintze (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000907

Schönen Dank. Die Frage 13 des Abgeordneten Tom Koenigs und die Frage 14 des Abgeordneten Volker Beck werden schriftlich beantwortet. Damit kommen wir wieder zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Finanzen. Die Fragen 15 und 16 Vizepräsident Peter Hintze der Abgeordneten Sabine Zimmermann werden schriftlich beantwortet. Dann kommen wir zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales. Zur Beantwortung steht die Parlamentarische Staatssekretärin Anette Kramme zur Verfügung. Ich rufe die Frage 17 der Abgeordneten Corinna Rüffer von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf: Was unternimmt die Bundesregierung im Sinne von Artikel 8 der Behindertenrechtskonvention, um das Leben von Menschen mit Downsyndrom in seinen positiven Aspekten sichtbar zu machen, und in welchem Ausmaß kommen bei diesen Maßnahmen bzw. in den entsprechenden Publikationen Menschen mit Downsyndrom selbst zu Wort? Frau Staatssekretärin, bitte.

Anette Kramme (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003162

Herzlichen Dank, Herr Präsident. - Frau Rüffer, ich beantworte Ihre Frage wie folgt: Das Ganze betrifft natürlich die Thematik der UN-Behindertenrechtskonvention. Artikel 8 dieser Konvention macht insoweit vier Vorgaben: Erstens. Es müssen Maßnahmen ergriffen werden, um das Bewusstsein für Menschen mit Behinderung zu schärfen. Zweitens. Es geht auch darum, die Achtung der Rechte und der Würde dieser Menschen zu fördern. Drittens. Klischees und Vorurteile sind zu bekämpfen. Viertens. Das Wissen um die Fähigkeiten und die Beiträge von Menschen mit Behinderung ist zu fördern. Im Nationalen Aktionsplan der Bundesregierung zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention vom 15. Juni 2011 wurde die Bewusstseinsbildung als wichtiges Thema gesetzt. Ich will einige Beispiele für Maßnahmen nennen, die die Bundesregierung diesbezüglich ergriffen hat. Das erste Beispiel ist die Kampagne „Behindern ist heilbar“ mit drei Plakatmotiven und zwei Anzeigenmotiven sowie einem Kinospot. Das zweite Beispiel ist die Internetseite www.gemeinsam-einfachmachen.de. Das ist eine Internetseite des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales. Hier werden neben einem vielfältigen Infoangebot gute Beispiele, aber auch die Aktionspläne anderer Akteure - Länder, Kommunen und Unternehmen - dargestellt. Eine nächste Maßnahme wäre der Leitfaden für Unternehmen zur Erstellung von Aktionsplänen. Dann haben wir weiter den Leitfaden für Behörden zur Verwendung der leichten Sprache, überdies die jährlich stattfindenden Inklusionstage, zuletzt vom 24. bis 26. November 2014. Bei dem Thema Bewusstseinsbildung und den angesprochenen Maßnahmen der Bundesregierung werden nicht bestimmte Arten der Behinderung oder Gruppen von Betroffenen besonders herausgestellt; allerdings sind Menschen mit Downsyndrom auf den Plakatmotiven der Kampagne „Behindern ist heilbar“ des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention sowie in verschiedenen Publikationen des BMAS zu sehen bzw. kommen diese auch selber zu Wort. Wenn Sie mögen, können wir gerne eine Auswahl dieser Broschüren zur Verfügung stellen.

Peter Hintze (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000907

Danke schön. - Haben Sie eine Nachfrage, Frau Kollegin? - Bitte.

Corinna Rüffer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004390, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Kramme, erst einmal herzlichen Dank für die Beantwortung der Frage. - Natürlich sind wir dankbar dafür, wenn wir eine Zusammenstellung der vorhandenen Publikationen bekommen. Einzelne davon sind auch mir bekannt. Ich schicke voraus: Da könnte man sicher noch einiges hinterherschieben. Sie können sich sicher vorstellen, dass diese Frage zum heutigen Zeitpunkt nicht zufällig gekommen ist, etwa weil sie uns gerade so eingefallen ist. Sie haben bestimmt mitbekommen, dass viele Kollegen hier eine gemeinsame, interfraktionelle Kleine Anfrage gestellt haben - 160 an der Zahl, immerhin 25 Prozent der Abgeordneten im Deutschen Bundestag -, die sich mit der Einführung eines Bluttests auf Downsyndrom beschäftigt. Es gibt bestimmte Bedenken, was diesen Bluttest anbelangt. In der Beantwortung der Kleinen Anfrage schreiben Sie, dass das Gendiagnostikgesetz bereits heute ausreichend Schutz vor einer Stigmatisierung und Diskriminierung von Menschen mit Trisomie 21, Downsyndrom, bietet. Sie verweisen konkret auf den Arztvorbehalt einerseits, auf der anderen Seite auf die Pflicht zur humangenetischen Beratung. Meine Frage lautet jetzt: Was kann ich konkret damit anfangen, bzw. können Sie uns erläutern, inwieweit dies in der Praxis Menschen mit Downsyndrom Schutz vor Diskriminierung und Stigmatisierung bietet, insbesondere vor dem Hintergrund, dass bei entsprechender Prognose die allermeisten Kinder, die wahrscheinlich mit Downsyndrom auf die Welt kommen würden, abgetrieben werden?

Peter Hintze (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000907

Bitte schön.

Anette Kramme (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003162

Vielen Dank, Frau Rüffer. - Sie wissen, dass unser Haus nicht spezifisch mit dem Gendiagnostikgesetz befasst ist und dass ein Großteil der Fragen demgemäß an das Bundesministerium für Gesundheit gegangen ist. Ich kann an dieser Stelle nur wiederholen, dass wir keine spezifischen Broschüren zu dem Thema haben. Sicherlich gibt es im Haus - das müssten wir recherchieren diesbezügliche Abwägungen, die getroffen werden. Aber ein ganz spezifisches Befassen kann ich auf den ersten Blick nicht erkennen. Da müssten wir, wie gesagt, im Ministerium für Gesundheit nachfragen.

Peter Hintze (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000907

Mögen Sie noch eine Nachfrage stellen? - Bitte.

Corinna Rüffer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004390, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank, dass ich noch eine zweite Frage stellen darf. - Wir stellen heute auch noch Fragen an das andere Haus, aber was die Umsetzung der Behindertenrechtskonvention anbelangt, sind Sie federführend. Das ist sicherlich eine zentrale Frage. Wenn wir über Inklusion reden, dann müssen wir natürlich auch über die Frage der Möglichkeit, überhaupt in das Leben zu gelangen, reden. Sie haben die Frage fast schon beantwortet, aber um es noch einmal klarzustellen: Ist denn Ihr Ministerium mit dem Bundesgesundheitsministerium im Gespräch, um abzuklären und nach Möglichkeiten zu suchen, wie die Aufklärung werdender Eltern und schwangerer Frauen in Zukunft besser in dieser Hinsicht funktionieren könnte und welchen Beitrag Ihr Haus dazu leisten kann?

Peter Hintze (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000907

Bitte, Frau Staatssekretärin.

Anette Kramme (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003162

Ich kann an dieser Stelle nur noch einmal anfügen, dass wir spezifische Gruppen im Regelfall nicht herausgegriffen haben. Sie wissen, dass wir uns in den Vorarbeiten zum Nationalen Aktionsplan befinden. Demgemäß sind wir auch in Gesprächen mit den verschiedenen Häusern. Es besteht also die Möglichkeit, dass dort ein Kontext besteht. Das kann ich Ihnen aber aus dem Stegreif nicht sagen. Ich würde das allerdings abklären und Ihnen dann eine schriftliche Antwort zukommen lassen. ({0})

Peter Hintze (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000907

Schönen Dank. - Wir haben jetzt noch den Wunsch nach einer Nachfrage seitens der Abgeordneten Scharfenberg, Bündnis 90/Die Grünen, Dr. Terpe, Bündnis 90/Die Grünen, Hüppe, CDU/CSU, und Gastel, Bündnis 90/Die Grünen. Erst einmal Frau Kollegin Scharfenberg. Bitte.

Elisabeth Scharfenberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003835, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank. - Ich würde gern wissen, ob die Bundesregierung die Ansicht teilt, dass die Tatsache, dass die Rede von einem Risiko, ein Kind mit dem Downsyndrom zu bekommen, bzw. das Ziel vorgeburtlicher Untersuchungen, dieses sogenannte Risiko auszuschließen, nicht ein negatives Bild von Menschen mit Downsyndrom zeichnet. Wir alle wissen, dass der Begriff „Risiko“ im Sprachgebrauch etwas meint, was man vermeiden könnte, was also ein vermeidbares Unglück sein könnte. Wenn Sie dies nicht teilen: Warum nicht?

Peter Hintze (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000907

Anette Kramme (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003162

Zunächst einmal ist der Begriff „Risiko“ etwas, was neutral ist. Sie wissen, dass wir in diesem Zusammenhang immer wieder Debatten darüber hatten, ob solche Untersuchungen überhaupt zulässig sein sollten, in welchem Umfang sie stattfinden, ob Beratung vorher stattfindet usw. Vielleicht gestatten Sie mir ausnahmsweise, eine ganz persönliche Antwort zu geben. Ich bin mit einem Bruder aufgewachsen, der einen Geburtsschaden hatte, der unter Sauerstoffmangel geboren ist. Mein Bruder ist 44 Jahre alt geworden, und es hat keinen einzigen Tag in seinem Leben gegeben, wo meine Eltern nicht anwesend waren, ihn nicht den ganzen Tag gepflegt haben. Selbst beim Essen mussten sie aufpassen, dass er nicht erstickt usw. Ich gestehe jedem zu, selbst zu entscheiden, ob er damit umgehen kann, ob er es in seinem Leben schafft, so etwas durchzuführen. Wie gesagt, es ist eine Gewissensentscheidung, und Gewissensentscheidungen sollten, denke ich, von allen akzeptiert werden. ({0})

Peter Hintze (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000907

Als nächster Fragesteller hat der Abgeordnete Dr. Terpe, Bündnis 90/Die Grünen, eine Nachfrage. Bitte schön.

Dr. Harald Terpe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003854, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Frau Staatssekretärin Kramme, ich habe schon gehört, dass Fragen, die sich spezifisch mit Themenkreisen des Bundesgesundheitsministeriums befassen, auch gestellt werden können, wenn der Geschäftsbereich dieses Ministeriums an der Reihe ist. Die Frage der Kollegin Rüffer zielte aber darauf, ob Sie von Maßnahmen wissen, Menschen mit Downsyndrom selber in entsprechenden Publikationen zu Wort kommen zu lassen. Wissen Sie, ob solche Publikationen auch in der Ärzteschaft verbreitet werden, natürlich insbesondere unter den Geburtshelfern?

Anette Kramme (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003162

Da wir für die Ärzteschaft an sich nur wenig zuständig sind, da wir dorthin nur eingeschränkt Kontakte haben, kann ich Sie nur bitten, diese Frage an das Gesundheitsministerium zu richten. Ich biete Ihnen aber auch in dieser Frage an, dass unser Haus gegebenenfalls bei den Kollegen recherchiert und Ihnen eine schriftliche Antwort zukommen lässt. ({0})

Peter Hintze (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000907

Danke schön. - Nächster Fragesteller ist der Abgeordnete Hüppe, CDU/CSU-Fraktion. Bitte.

Hubert Hüppe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000975, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Staatssekretärin, zunächst erstaunt es mich, dass Sie jemanden, der nicht essen kann, der jeden Tag von morgens bis abends gepflegt werden muss, mit einem Menschen mit Downsyndrom vergleichen; das sind nämlich zwei völlig verschiedene Dinge. Ihr Vergleich erweckt bei mir den Eindruck, dass auch Ihnen nicht richtig klar ist, dass Menschen mit Downsyndrom Fähigkeiten haben, die sich gar nicht einmal so viel von denen anderer Menschen unterscheiden. In Artikel 10 der UN-Behindertenrechtskonvention heißt es in der deutschen Übersetzung, die vom Ministerium verteilt wird, dass Menschen mit Behinderung ein angeborenes Recht auf Leben hätten. Man hat dort den Begriff „inherent“ mit „angeboren“ übersetzt, obwohl er in allen anderen Fällen mit „innewohnendem Recht“ übersetzt worden ist. Weil Menschen mit Downsyndrom beim Stichwort „pränatal“ die gefährdetste Gruppe beim Recht auf Leben sind, darf ich Sie fragen, ob Sie denn beabsichtigen, das zu berücksichtigen, wenn der Aktionsplan jetzt fortgeschrieben wird.

Peter Hintze (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000907

Frau Staatssekretärin, bitte schön.

Anette Kramme (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003162

Ich denke, dass ich persönlich sehr wohl die Fähigkeit besitze, das Leistungsvermögen von Menschen mit Downsyndrom einzuschätzen. - Das sei an den Anfang gestellt. Wenn Sie danach fragen, wie der Sachstand zum Nationalen Aktionsplan ist, dann kann ich Ihnen sagen: Wir befinden uns hier im Regierungshandeln und haben insoweit zum jetzigen Zeitpunkt noch keine Auskunft zu erteilen. Wir sind in Zusammenarbeit mit den verschiedenen Häusern und bereiten die Fortschreibung des Nationalen Aktionsplans vor.

Peter Hintze (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000907

Danke schön. - Herr Kollege Gastel, noch eine Zusatzfrage hierzu? - Bitte schön.

Matthias Gastel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004278, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich komme mit meiner Frage auf die Ausgangsfrage meiner Fraktionskollegin Frau Rüffer zurück. Es ging darum, in welchem Ausmaß bei diesen Maßnahmen bzw. in den entsprechenden Publikationen Menschen mit Downsyndrom selber zu Wort kommen. Die Frage, die sich auf diese Ausgangsfrage bezieht, lautet: Welche der genannten Maßnahmen thematisieren das Spektrum an möglichen vorgeburtlichen Untersuchungen zur Feststellung des Downsyndroms und richten sich explizit an Schwangere bzw. werdende Eltern?

Anette Kramme (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003162

Seitens unseres Hauses gibt es keine spezifischen Materialien. Es ist sehr wohl möglich, dass bei den Kollegen im Gesundheitsministerium spezifische Broschüren existieren. Ich kann auch an dieser Stelle nur anregen, dass Sie die Kollegen des anderen Hauses befragen, oder anbieten, dass wir das für Sie recherchieren und Ihnen das als Antwort zukommen lassen. ({0})

Peter Hintze (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000907

Es wird Ihnen dann schriftlich mitgeteilt. Das ist doch schon ein Fortschritt. Wir kommen zur Frage 18 des Abgeordneten Matthias Gastel: Wie viele Berufsausbildungen zum Busfahrer und Lokomotivführer wurden in den Jahren 2013 und 2014 sowie bislang im Jahr 2015 durch die Bundesagentur für Arbeit erfolgreich gefördert - gemeint sind hier die erworbenen Lizenzen zum Steuern der Fahrzeuge -, und wie viele dieser neu ausgebildeten Fachkräfte arbeiten nach Kenntnis der Bundesregierung heute als Busfahrer bzw. Lokomotivführer? Frau Staatssekretärin, bitte.

Anette Kramme (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003162

Ganz herzlichen Dank. - Nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit haben im Zeitraum von Januar 2013 bis Februar 2015 in der Berufsgattung Triebfahrzeugführer Eisenbahnverkehr, Fachkraft, insgesamt 106 geförderte Teilnehmer eine abschlussbezogene berufliche Weiterbildung, das heißt Umschulung, beendet. Davon waren 60 erfolgreich. Für den Berufsbereich Busfahrer erfasst die Bundesagentur für Arbeit die Teilnehmer statistisch unter der Berufsgattung Bus-/Straßenbahnfahrer/-innen, Fachkraft. Im Zeitraum Januar 2013 bis Februar 2015 haben insgesamt 222 geförderte Teilnehmer eine abschlussbezogene berufliche Weiterbildung im Berufsbereich Bus-/Straßenbahnfahrer/-innen, Fachkraft, beendet, davon 149 erfolgreich. Informationen, wie viele der neu ausgebildeten Fachkräfte als Busfahrer oder als Triebfahrzeugführer arbeiten, konnten von der Bundesagentur für Arbeit innerhalb der zur Beantwortung der mündlichen Frage verfügbaren Zeit nicht bereitgestellt werden. Das gilt auch für die Differenzierung zwischen Weiterbildung mit Abschluss und sonstiger beruflicher Weiterbildung.

Peter Hintze (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000907

Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Gastel? - Bitte schön.

Matthias Gastel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004278, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank für die Zahlen. - Ich habe mit einigen Unternehmen gesprochen, mit Eisenbahnverkehrsunternehmen und auch mit Busunternehmen. Ich gebe Ihnen einfach mal zwei Aussagen wieder, die da getroffen wurden. Die Aussage von einem Eisenbahnverkehrsunternehmen lautete: Ob die ausbildenden Institute ein großes Interesse an einer intensiven Vorabinformation und Vorabauswahl haben, darf zumindest innerhalb des bestehenden Systems, wo offensichtlich pro Kopf gefördert wird, angezweifelt werden. Ich darf zitieren, was ein führendes Busunternehmen gesagt hat: Die Bundesagentur steckt Arbeitsuchende in Lehrgänge, ohne diese vorher ausreichend über das Berufsbild und den üblichen Verdienst und die üblichen Arbeitszeiten zu informieren. Dadurch kommt es zu hohen Abbrecherquoten während der Qualifizierung und zu einem hohen Anteil von Leuten, die zwar den Busführerschein haben, aber danach nicht in diesem Beruf arbeiten können oder wollen. Daran schließt sich die Frage an: Inwieweit und inwiefern wird die Bundesregierung diese Lehrgänge, den Zugang zu den Lehrgängen, die Auswahl und die Begleitung dieser Menschen so verändern, dass die Rückmeldungen aus der Branche, in der Fachkräfte händeringend gesucht werden, besser werden, das Ganze besser funktioniert und die Menschen dann auch tatsächlich in einen Beruf hineinkommen, in dem sie arbeiten möchten und auch arbeiten können?

Peter Hintze (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000907

Frau Staatssekretärin, bitte.

Anette Kramme (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003162

Zunächst einmal ist es so, dass im Rechtskreis des SGB III, aber auch im Rechtskreis des SGB II keine ProKopf-Förderung existiert, sondern es wird teilnehmerbezogen entschieden, bzw. es werden selbstverständlich auch arbeitsmarktdienliche Aspekte berücksichtigt. Wenn es hier Klagen über Einzelfälle gibt, dann können wir das der Bundesagentur für Arbeit zuleiten und versuchen, diesbezüglich den Sachverhalt zu klären. Aber das ist nicht Aufgabe der Bundesregierung als solcher, sondern das ist laufendes Geschäft der Bundesagentur für Arbeit sowohl im Rechtskreis des SGB III als auch letztlich in den Jobcentern.

Peter Hintze (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000907

Herr Gastel hat noch eine Zusatzfrage. Bitte schön.

Matthias Gastel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004278, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Staatssekretärin, wenn Sie sich die Zahlen, die Sie vorhin genannt haben, anschauen, dann sehen Sie, dass es keine Einzelfälle sein können. Bei einem sehr hohen Prozentsatz läuft irgendetwas schief, wurden offensichtlich notwendige Vorabinformationen nicht gegeben oder wurden diejenigen, die in diese Lehrgänge geschickt wurden, nicht sorgfältig genug ausgewählt und darauf vorbereitet oder während der Lehrgänge nicht ausreichend begleitet. Die Zahlen sagen also etwas anderes als das, was Sie gerade gesagt haben. Meine Frage lautet: Inwieweit überprüft die Bundesagentur für Arbeit die Erfolgsquote und den Mitteleinsatz dahin gehend, ob der wirklich so optimal ist, dass die Menschen das bekommen, was sie tatsächlich brauchen, sodass in diesem Fall die Busbranche und die Eisenbahnbranche tatsächlich die Fachkräfte bekommen, die sie benötigen?

Peter Hintze (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000907

Bitte schön, Frau Staatssekretärin.

Anette Kramme (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003162

Sowohl die Arbeit der Bundesagentur für Arbeit im Rechtskreis des SGB III als auch die Arbeit der Jobcenter bezüglich Weiterbildungsmaßnahmen wird nicht unmittelbar durch das Bundesministerium für Arbeit und Soziales überprüft. Allerdings wird selbstverständlich die Arbeit in beiden Rechtskreisen durch Evaluierung begleitet. Das ist der eine Bereich. Wir haben aber auch eine sehr intensive Überprüfung durch den Bundesrechnungshof, der ebenfalls Hinweise gibt, die dann durch die Bundesagentur für Arbeit bearbeitet werden. Entsprechende Hinweise werden natürlich entgegengenommen. ({0})

Peter Hintze (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000907

Schönen Dank. - Wir kommen damit zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft. Zur Beantwortung steht der Parlamentarische Staatssekretär Peter Bleser bereit. Ich rufe Frage 19 des Abgeordneten Harald Ebner, Bündnis 90/Die Grünen, auf: Welche Mitgliedstaaten der Europäischen Union haben sich nach Kenntnis der Bundesregierung bislang bei Sitzungen des Ständigen Ausschusses für Pflanzen, Tiere, Lebensmittel und Futtermittel, SCPAFF, bzw. dem Vorgängergremium StALuT bzw. SCoFCAH zu den seit dem Jahr 2013 vorliegenden EFSA-Leitlinien - EFSA: Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit - zur Risikobewertung von Pflanzenschutzmitteln in Bezug auf Bienen ({0}) kritisch positioniert, und welche Position - mit welcher Begründung hat die Bundesregierung in diesem Zusammenhang bezüglich der Verabschiedung bzw. Inkraftsetzung der genannten Leitlinien vertreten? Bitte schön, Herr Staatssekretär.

Peter Bleser (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000198

Vielen Dank, Herr Präsident. - Die Bundesregierung hat sich im zuständigen EU-Ausschuss für einen effizienten Bienenschutz auf wissenschaftlicher Basis ausgesprochen. Sie hat die Kommission mehrfach aufgefordert, Rechtssicherheit zu schaffen und zu klären, wann welche Anforderungen für die Genehmigung von Pflanzenschutzmittelwirkstoffen und Zulassung von Pflanzenschutzmitteln zu erfüllen sind. Innerhalb der Bundesregierung ist die Meinungsbildung noch nicht abgeschlossen, was die EFSA-Leitlinien angeht. Nach Kenntnis der Bundesregierung haben im Ausschuss Griechenland, Irland, das Vereinigte Königreich, die Niederlande, Frankreich, Spanien, Italien, Portugal, die Slowakei und Ungarn sowie die KommisParl. Staatssekretär Peter Bleser sion eine kritische Position zu dem Leitlinienpapier dargelegt.

Peter Hintze (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000907

Zusatzfrage, Herr Abgeordneter.

Harald Ebner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004215, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Danke, Herr Präsident. Danke, Herr Staatssekretär. Das hört sich jetzt nicht danach an, dass es unter den Mitgliedstaaten eine Mehrheit für die Leitlinien der EFSA gäbe. Ist die trotz der Staaten, die Sie gerade aufgezählt haben - ich habe jetzt nicht gegengerechnet -, in Sicht? Wenn nein: Was sind die Haupthinderungsgründe dafür aus Sicht der Bundesregierung?

Peter Hintze (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000907

Bitte schön, Herr Staatssekretär.

Peter Bleser (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000198

Aus der langen Liste werden Sie ablesen können, dass es bisher keine Mehrheit für die zitierte Leitlinie der EFSA zur Risikobewertung von Pflanzenschutzmitteln in Bezug auf Bienen gibt. Die Kommission hat jetzt angekündigt, einen Kompromissvorschlag vorzulegen, in dem bestimmte Teile dieser Leitlinie, insbesondere die Tests, thematisiert werden. Auf diesem Wege soll ein Ergebnis erzielt werden, das im Sinne des Gewollten ist.

Peter Hintze (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000907

Noch eine Zusatzfrage dazu? - Bitte schön.

Harald Ebner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004215, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Gerne, danke. - Sie sprechen von einem Kompromissvorschlag, den die Kommission vorlegen möchte. Was tut denn die Bundesregierung ganz konkret? Welche Inputs, welche konkreten Aktivitäten bringen die Bundesregierung oder andere Bundesbehörden ein, um die Verabschiedung dieser Leitlinien zu beschleunigen, sodass auch der Bienenschutz in Europa, was die Zulassung von Pestiziden angeht, endlich auf dem aktuellen wissenschaftlichen Stand ist?

Peter Bleser (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000198

Ich glaube, ich habe das schon bei der Beantwortung Ihrer Frage dargelegt. Wir legen Wert auf eine wissenschaftliche Bewertung. Dabei ist die Effizienz, also das, was mit den Pflanzenschutzmitteln angestrebt wird, das entscheidende Kriterium. Dazu gehört auch die Berücksichtigung entsprechender Vorgaben, die die Sicherheit der Pflanzenschutzmittel betreffen.

Peter Hintze (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000907

Dann kommen wir zur Frage 20 des Abgeordneten Harald Ebner, Bündnis 90/Die Grünen: Durch welche Personen bzw. Mitglieder welcher Fachabteilung des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft, BMEL, wird Deutschland aktuell im SCPAFF, früher SCoFCAH bzw. StALuT, im Regelfall bei Tagesordnungspunkten mit Bezug zu Fragen der Bienengesundheit im Zusammenhang mit Pflanzenschutzmitteln bzw. im Kontext zu den EFSA-Leitlinien zur Risikobewertung von Pflanzenschutzmitteln in Bezug auf Bienen ({0}) vertreten, und welche namentlichen Vertreter bzw. Abteilungen der Generaldirektion Gesundheit und Lebensmittelsicherheit, DG Santé, sind nach Kenntnis der Bundesregierung aktuell im SCPAFF für die genannten Bereiche zuständig? Bitte schön, Herr Staatssekretär.

Peter Bleser (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000198

Im zuständigen Ausschuss für Pflanzenschutzgesetzgebung der Europäischen Union wird die Bundesregierung durch Vertreter des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft vertreten, die insbesondere aus der Abteilung Biobasierte Wirtschaft, Nachhaltige Landund Forstwirtschaft und aus der Abteilung Pflanzenschutzmittel des Bundesamtes für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit, BVL, kommen. In besonderen Fällen können weitere Experten hinzugezogen werden. Nach Kenntnis der Bundesregierung ist in der Generaldirektion Gesundheit und Lebensmittelsicherheit die Abteilung Sicherheit in der Lebensmittelkette, Pflanzenschutzmittel und Biozide zuständig.

Peter Hintze (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000907

Zusatzfrage, Herr Abgeordneter?

Harald Ebner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004215, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich würde sehr gerne noch nachfragen. - Herr Staatssekretär, Sie sind da jetzt sehr vage geblieben, was die Beteiligten der DG Santé angeht. Könnten Sie uns da Kontaktdaten zukommen lassen? Wenn das möglich wäre, wäre das sehr hilfreich für die weitere Arbeit.

Peter Bleser (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000198

Ich kann Ihnen hier nur sagen, dass die Bundesregierung durch eine entsprechend kompetente Vertretung in den entsprechenden Ausschüssen präsent ist. Namensnennungen sind aus unserer Sicht nicht erforderlich. Die Bundesregierung gibt Ihnen Auskunft. Des Weiteren bemühen wir uns, was die DG Santé angeht, gerne um eine Kontaktvermittlung.

Peter Hintze (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000907

Noch eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter? - Sie müssen nicht, Sie dürfen.

Harald Ebner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004215, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Danke schön, Herr Präsident. - Ich möchte den Herrn Staatssekretär doch noch fragen, welche Erkenntnisse die Bundesregierung darüber hat, wann die DG Santé der EU-Kommission ihre Folgenabschätzung bezüglich einer Annahme der EFSA-Leitlinien abgeschlossen haben wird. Bis wann dürfen wir also mit Ergebnissen rechnen?

Peter Bleser (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000198

Das kann ich Ihnen nicht sagen, Herr Kollege.

Peter Hintze (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000907

Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Verteidigung. Die Frage 21 der Abgeordneten Agnieszka Brugger und die Frage 22 der Abgeordneten Heike Hänsel werden schriftlich beantwortet. Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Gesundheit. Zur Beantwortung steht die Parlamentarische Staatssekretärin Ingrid Fischbach bereit. Ich rufe die Frage 23 der Abgeordneten Kordula Schulz-Asche, Bündnis 90/Die Grünen, auf: Mit welcher Begründung hat Deutschland als einziges Land der Europäischen Union im Rat für Beschäftigung, Sozialpolitik, Gesundheit und Verbraucherschutz, EPSCO, am 19. Mai 2015 der teilweisen allgemeinen Ausrichtung zur Medizinprodukte-Verordnung seine Zustimmung verweigert, und welche Rolle spielten dabei von den anderen Ländern geforderte zusätzliche Prüfverfahren für Medizinprodukte der Risikoklasse III? Frau Staatssekretärin, bitte.

Ingrid Fischbach (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003117

Liebe Kollegin, ich antworte Ihnen gerne auf die Frage - wir haben ja heute auch schon im Ausschuss intensiv darüber gesprochen -: Deutschland setzt sich dafür ein, dass nur sichere und medizinisch hochwertige Medizinprodukte auf den europäischen Markt gelangen, und wir haben den Anspruch, mit der Verordnung einen stabilen, transparenten und nachhaltigen Rechtsrahmen zu schaffen. Darauf aufbauend hat Deutschland der allgemeinen Ausrichtung auf der Grundlage des Kompromissvorschlags der lettischen Präsidentschaft nicht zugestimmt, weil der Text noch eine Reihe von Vorschriften enthält, die wichtige Fragen hinsichtlich ihrer Auswirkungen auf die Patientensicherheit, Versorgungssicherheit, Praktikabilität und Finanzierbarkeit offenlassen. Diese Fragen hätten nach Auffassung der Bundesregierung vor Aufnahme der Trilogverhandlungen mit dem Europäischen Parlament und der Kommission geklärt werden müssen. An erster Stelle ist hier die fehlende Infrastruktur für die Schaffung produktspezifischer Anforderungen an die klinische Bewertung und Prüfung von Medizinprodukten zu nennen, die ein Kernanliegen der deutschen Position darstellen. Obwohl die Vorschläge im Grundsatz den Gedanken, dass produktspezifische Anforderungen geschaffen werden müssen, enthalten, sind die Verantwortlichkeit und der Zeitrahmen für deren Erarbeitung nicht eindeutig festgelegt. Zudem wird uns die notwendige wissenschaftliche Expertise dafür fehlen, wenn diese durch die Bewertungen im sogenannten ScrutinyVerfahren gebunden ist. Schließlich müssen Versorgungsengpässe aufgrund zu kurzer oder fehlender Übergangs- und Bestandsschutzregelungen befürchtet werden. Daneben enthalten die Texte sehr viele Mängel, die nur scheinbar technischer Natur sind und die in der Praxis zum Teil zu abwegigen Ergebnissen führen können. Auch wenn Deutschland den im EPSCO vorgelegten Verordnungsentwürfen nicht zustimmen konnte, werden wir uns natürlich aktiv in den jetzigen Prozess und in das informelle Trilogverfahren einbringen, um die Texte im Interesse der Patientensicherheit zu optimieren. In den Sitzungen des Ausschusses für Gesundheit des Deutschen Bundestages am 10. Juni und am 1. Juli dieses Jahres habe ich die Position der Bundesregierung ausführlich dargelegt.

Ulla Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002019

Bitte schön, Frau Schulz-Asche.

Kordula Schulz-Asche (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004405, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Staatssekretärin Fischbach, herzlichen Dank. Diese Antwort war ja praktisch identisch mit der, die Sie heute Morgen im Gesundheitsausschuss gegeben haben. Ich habe allerdings gefragt, warum Deutschland das einzige Land war, das der Einigung im Rat für Beschäftigung, Sozialpolitik, Gesundheit und Verbraucherschutz nicht zugestimmt hat. Sie erwecken immer den Eindruck, dass Deutschland weitergehen wolle, dass die EU-Verordnung nach Ihrer Meinung nicht weit genug gehe und Sie zusätzliche Forderungen hätten. In Wirklichkeit ist ja das Gegenteil der Fall. Rufen wir uns einmal in Erinnerung, warum wir überhaupt über eine Verschärfung bei der Zulassung von Medizinprodukten diskutieren: wegen internationaler Skandale im Zusammenhang mit Brustimplantaten usw. usf. Von daher frage ich Sie ganz konkret, wie ich es auch schon schriftlich gemacht habe, was die Haltung Deutschlands zu den zusätzlichen Prüfverfahren ist, die auch vom Europaparlament gefordert wurden, und was es nach Ihrer Meinung mit Patientensicherheit zu tun hat, wenn Deutschland lange Bestandsschutz- und Übergangsregelungen fordert. Ist das Patientenschutz, oder ist das nicht eher ein Schutz der Produkte bestimmter Unternehmen in Deutschland? Das würde mich interessieren. Könnten Sie mir das bitte erläutern?

Ulla Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002019

Frau Parlamentarische Staatssekretärin.

Ingrid Fischbach (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003117

Frau Kollegin, das mache ich sehr gern. Ich habe es heute Morgen im Ausschuss schon gesagt: Die von uns geforderten Regelungen betreffen nicht die risikobehafteten Medizinprodukte. Wir reden jetzt auch über Medizinprodukte, die schon lange angewandt werden und nicht risikobehaftet sind. Sie würden auch unter die Regelung der jetzigen Vorlage fallen; das war der Grund für unseren Einwand. Wenn es keine vernünftige Übergangsregelung gibt, könnte es passieren, dass wir diese Medizinprodukte Patienten, die sie brauchen, in Zukunft nicht mehr zur VerParl. Staatssekretärin Ingrid Fischbach fügung stellen können. Es könnte sein, dass es zu einem Lieferengpass kommt bzw. dass die Medizinprodukte direkt vom Markt genommen werden. Das ist, wie ich glaube, nicht im Sinne der Patienten. Sie haben an dieser Stelle - das haben wir in den Beratungen deutlich gemacht - hinsichtlich der hoch risikobehafteten Medizinprodukte unsere volle Unterstützung. Die müssen sofort vom Markt; das ist gar keine Frage. Aber hier geht es um eine generelle Bestimmung.

Ulla Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002019

Frau Schulz-Asche.

Kordula Schulz-Asche (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004405, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielleicht reden wir aneinander vorbei. Sowohl in der schriftlichen Version meiner Frage als auch in meiner Nachfrage eben rede ich vor allem von Medizinprodukten der Risikoklasse III. Sie bergen ein hohes Risiko bei der Anwendung. Das ist auch der Grund, warum wir überhaupt über eine entsprechende Verschärfung diskutieren. Ich würde gerne einen anderen Punkt aufgreifen. Das Europäische Parlament hat sich ja aufgrund der Skandale sehr ausführlich mit diesem Thema befasst und unter anderem eine verbindliche Produkthaftpflichtversicherung in ausreichender Höhe gefordert. Beim Skandal um die Brustimplantate war es so, dass die betroffenen Frauen am Ende mit leeren Händen dastanden, weil der Unternehmer, der diese Produkte in verbrecherischer Weise in Umlauf gebracht hatte, insolvent war und daher nicht mehr zahlen konnte. Am Ende waren die betroffenen Frauen die Opfer. Deswegen frage ich Sie: Warum hat Deutschland die Initiative des Europäischen Parlaments, nämlich die Produkthaftpflicht verbindlich zu regeln, nicht unterstützt, und warum ist der Rat insgesamt nur der Meinung, man könne die Unternehmen zwar auffordern, aber man müsse sie nicht verpflichten?

Ulla Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002019

Frau Staatssekretärin.

Ingrid Fischbach (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003117

Frau Kollegin, auch der Vorschlag der Präsidentschaft sah keine konkrete und speziell für Medizinprodukte relevante Einführung einer Produkthaftpflichtversicherung oder Deckungsvorsorge vor. Dem haben wir uns angeschlossen. Wir werden jetzt, da wir in die Trilogverhandlungen einsteigen, die Verhandlungen im Europäischen Parlament abwarten.

Ulla Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002019

Vielen Dank. - Jetzt hat Kollege Terpe eine Nachfrage. Bitte schön.

Dr. Harald Terpe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003854, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Staatssekretärin Fischbach, Sie hatten in Ihrer Antwort erwähnt, dass die Bundesregierung im EPSCORat auch deswegen Bedenken hatte und auf Übergangsregelungen gepocht hatte, weil die technischen Voraussetzungen für Sicherheitstests und die Infrastruktur für klinische Studien fehlten. Meine erste Frage lautet: Was unternimmt die Bundesregierung, um in Deutschland die dafür notwendige Infrastruktur sicherzustellen? Meine zweite Frage lautet: Was unternimmt die Bundesregierung, um auch in Europa die entsprechende Infrastruktur sicherzustellen? Wir können ja nicht sagen: Das wird alles in Deutschland gemacht. Auch die anderen europäischen Partner sind ja beteiligt.

Ulla Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002019

Bitte schön.

Ingrid Fischbach (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003117

Wir werden unsere Vorschläge zuerst einmal auf nationaler Ebene diskutieren und voranbringen. Aber wir werden nicht müde werden, unsere Forderungen und, wie ich finde, berechtigten Ansprüche weiterhin auf europäischer Ebene zu thematisieren. Allerdings braucht man auch auf europäischer Ebene Mehrheiten. Solange wir die Möglichkeit haben, andere Mehrheiten zu beschaffen, werden wir uns entsprechend dafür einsetzen.

Ulla Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002019

Vielen Dank. - Ich sehe, es gibt keine weiteren Nachfragen. Ich rufe Frage 24 der Abgeordneten Kordula SchulzAsche auf: Wieso hat sich die Bundesregierung im Rat dem Vorschlag des Europaparlaments, dass Hochrisikomedizinprodukte und Implantate von „besonderen Benannten Stellen“ bewertet werden, die höhere Anforderungen zum Beispiel an die Qualifikation der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter erfüllen müssen, nicht angeschlossen, und wie will sie anderweitig sicherstellen, dass Medizinprodukte der Klasse III im Interesse der Patientensicherheit ausschließlich von ausreichend qualifizierten „Benannten Stellen“ bewertet werden? Bitte, Frau Kollegin Fischbach.

Ingrid Fischbach (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003117

Frau Präsidentin, herzlichen Dank. - Frau Kollegin, ich beantworte Ihre Frage wie folgt: Die Qualität der Benannten Stellen und die Zuverlässigkeit ihrer Prüfverfahren sind auch aus Sicht der Bundesregierung ein Kernstück künftiger Rechtsänderungen. Benannte Stellen müssen europaweit einheitlich arbeiten und auf höchstem Niveau qualifiziert sein. Erforderlich sind strenge Anforderungen an Benannte Stellen und deren Benennungsprozess, die Konkretisierung der Vorgaben, nach denen die Benannten Stellen bei den Herstellern die Konformitätsbewertungsverfahren durchführen, sowie die Verbesserung der Kontrollen von Herstellern und deren Produkten nach dem Marktzugang einschließlich der Vornahme unangekündigter Stichproben. Besondere Benannte Stellen sind dann nicht erforderlich. Auch wenn nicht jede Detailforderung Deutschlands erfüllt ist, sieht sich die Bundesregierung hier durch den Kompromissvorschlag der Präsidentschaft zu Kapitel IV auf einem sehr guten Weg. Die Schaffung einer zusätzlichen Benennungs- und Überwachungsinfrastruktur wäre mit erheblichen Kosten verbunden, denen per se keine weiteren Verbesserungen der Patientensicherheit im Vergleich zu den vorgesehenen Anforderungsverschärfungen im bestehenden Benennungssystem gegenüberstehen. Die in Deutschland für die Benennung und Überwachung von Benannten Stellen zuständige Zentralstelle der Länder für Gesundheitsschutz bei Arzneimitteln und Medizinprodukten lehnt die Einführung eines Zweiklassensystems von Benannten Stellen und die Schaffung von Parallelstrukturen ab.

Ulla Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002019

Frau Kollegin Schulz-Asche, haben Sie eine Nachfrage?

Kordula Schulz-Asche (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004405, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich komme noch einmal auf den Skandal mit den Brustimplantaten zurück. Da hat sich ja herausgestellt, dass die Benannten Stellen leider nicht wie in anderen Verfahren europaweit verlässlich sind. Wir haben außerdem feststellen müssen - ich glaube, da sind wir einer Meinung -, dass eine Benannte Stelle, die normalerweise die Sicherheit von Toastern oder Kaffeemaschinen bewertet, nicht gleichermaßen für die Bewertung von Brustimplantaten oder Herzschrittmachern qualifiziert ist. Es geht auch darum, dass es einen Unterschied gibt zwischen der Bewertung von Pflastern und der Bewertung von Produkten, die in den Körper eingebracht werden und dort verbleiben. Wie gesagt, der Brustimplantateskandal hat ein deutliches Licht darauf geworfen. Deswegen frage ich Sie noch einmal, warum Sie dem Europaparlament, das sich sehr ausführlich mit dem Thema befasst hat, nicht folgen und sagen: Die Klassen I und II können von den Benannten Stellen durchaus bewertet werden - auch in der Qualifikationsstärke, die Sie gerade beschrieben haben -; aber für besonders hoch risikobehaftete Produkte brauchen wir besondere Qualifikationen, höhere Qualifikationen als bisher.

Ulla Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002019

Bevor die Frau Kollegin antwortet, möchte ich darum bitten, dass die Zeitvorgaben eingehalten werden. Wir haben jetzt noch 13 Minuten für die Beantwortung aller noch anstehenden Fragen. Ich muss deshalb auf die Zeit achten. - Bitte schön.

Ingrid Fischbach (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003117

Frau Präsidentin, ich werde mich kurzfassen. - Ich habe versucht, in meiner Antwort deutlich zu machen, dass wir keine Parallelstrukturen wollen. Wir haben die Struktur der Benannten Stellen. Wenn diese Stellen europaweit nach einheitlichen und vernünftigen Qualitätsstandards arbeiten, dann reicht das unseres Erachtens aus. Das Problem im Moment ist, dass sehr unterschiedlich gearbeitet wird und die Standards nicht gleich sind. Wir brauchen keine Parallelstrukturen, durch die Mitarbeiter mit wissenschaftlicher Expertise abgeschöpft werden und mit denen Kosten verbunden sind.

Ulla Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002019

Bitte schön, eine weitere Nachfrage.

Kordula Schulz-Asche (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004405, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja, ganz kurz. - Das Europaparlament fordert auch für Laien verständliche Veröffentlichungen der Prüfergebnisse von klinischen Studien. Werden Sie, wird Deutschland im Sinne des Verbraucherschutzes dieses Anliegen des Europaparlaments unterstützen?

Ingrid Fischbach (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003117

Wir werden unsere Position, die ich im Ausschuss und auch jetzt gerade dargestellt habe, in den nächsten Verhandlungen sehr deutlich machen und auch entsprechend einbringen.

Ulla Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002019

Ich habe jetzt noch eine Nachfrage des Kollegen Terpe. - Er verzichtet. Somit rufe ich die Frage 25 der Abgeordneten Maria Klein-Schmeink auf: Wird der Monitor Patientenberatung der Unabhängigen Patientenberatung Deutschland, UPD, wie jedes Jahr am 1. Juli veröffentlicht, und, wenn nein, warum nicht? Bitte schön, Frau Kollegin Fischbach.

Ingrid Fischbach (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003117

Frau Kollegin, gerne antworte ich auf Ihre Frage. In der Gesetzesbegründung zum § 65 b SGB V, Bundestagsdrucksache 17/2413, Seite 25, ist festgehalten, dass die Beratungseinrichtung regelmäßig an die oder den Patientenbeauftragten über Problemlagen zu berichten hat. Die Fördervereinbarung zwischen dem GKV-Spitzenverband und der Unabhängigen Patientenberatung Deutschland sieht vor, dass hierfür jährlich ein schriftlicher Bericht vorgelegt werden soll. Ein bestimmter Zeitpunkt hierfür und selbst eine Veröffentlichung dieses Berichts sind nicht vorgeschrieben. Die gemeinsame Pressekonferenz der Unabhängigen Patientenberatung Deutschland und des Beauftragten der Bundesregierung für die Belange der Patientinnen und Patienten zur Veröffentlichung des Monitors Patientenberatung wird dieses Jahr nicht am 1. Juli stattfinden, sondern zu einem späteren Zeitpunkt.

Ulla Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002019

Haben Sie eine Nachfrage, Frau Kollegin?

Maria Klein-Schmeink (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004072, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja, natürlich. - Sie haben nicht dargelegt, warum diese gemeinsame Veröffentlichung nicht, wie in den beiden Jahren zuvor, zum 1. Juli vorgelegt wurde, und Sie haben auch nicht ausgeführt, wann ein schriftlicher Bericht veröffentlicht wird.

Ingrid Fischbach (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003117

Frau Kollegin, ich habe gesagt, es gibt keine bestimmte Vorgabe, nach der dieser Bericht immer am 1. Juli vorgelegt werden muss. Es gibt nicht einmal eine verpflichtende Vorgabe, nach der er überhaupt veröffentlicht werden muss. Deshalb bin ich glücklich und froh, dass die Pressekonferenz stattfinden wird. Sie wird allerdings zu einem Zeitpunkt stattfinden, den der Beauftragte der Bundesregierung mit der Unabhängigen Patientenberatung Deutschland festlegen wird.

Ulla Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002019

Haben Sie eine weitere Nachfrage?

Maria Klein-Schmeink (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004072, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja, meine weitere Frage lautet: Sehen Sie einen Zusammenhang mit den aktuellen Meldungen, nach denen die UPD von einem anderen Trägerverbund abgelöst wird? In den Medien war insbesondere die Rede davon, dass ein privatwirtschaftliches Callcenter den Zuschlag ab 2016 erhalten soll. Sehen Sie da einen Zusammenhang? Hat sich aus Ihrer Sicht eine öffentliche Pressekonferenz vielleicht aus dem Grunde nicht angeboten, um Fragen der Presse nach diesem Zusammenhang aus dem Weg zu gehen?

Ingrid Fischbach (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003117

Das Vergabeverfahren ist im Gange. Wir werden zu einem Verfahren, das noch nicht beendet ist, keine Stellung beziehen. Die Vermutung, die Sie anstellen, kann ich weder bestätigen noch zurückweisen; denn sie käme mir gar nicht in den Sinn. Insofern gebe ich diese Antwort.

Ulla Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002019

Ich habe jetzt eine Frage der Kollegin Vogler. Bitte schön.

Kathrin Vogler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004181, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank. - Frau Staatssekretärin, wenn Sie hier verkünden, dass diese Pressekonferenz auf jeden Fall stattfinden wird, frage ich mich schon ein bisschen, wie die Planung in Ihrem Haus aussieht. Sie wissen also, dass es diese Pressekonferenz geben wird, können aber noch nicht einmal eine grobe Zeitangabe machen, wann es denn dazu kommen wird. Ich denke, wenn das noch in diesem Jahr stattfinden soll, müssten Sie schon einmal eine grobe Idee haben, in welchem Monat die Pressekonferenz stattfinden wird.

Ingrid Fischbach (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003117

Frau Kollegin, unser Haus, das Bundesministerium für Gesundheit, legt den Termin nicht fest. Das obliegt dem Beauftragten der Bundesregierung für die Belange der Patientinnen und Patienten. Er wird zu gegebener Zeit einen Zeitpunkt festlegen. ({0})

Ulla Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002019

Vielen Dank. - Ich sehe keinen Wunsch nach weiteren Nachfragen. Wir kommen zur Frage 26 der Abgeordneten Elisabeth Scharfenberg: Aus welchen Gründen will die Bundesregierung bis zur Überarbeitung des Bewertungssystems für Pflegeeinrichtungen jetzt doch an der Veröffentlichung der Pflegenoten festhalten, obwohl die Pflegenoten selbst nach Meinung des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung nicht aussagekräftig sind und „flächendeckend ,Sehr-gut‘-Gesamtnoten vergeben werden, selbst wenn wichtige Kernbereiche der Pflege allenfalls ,ausreichend‘ sind“ ({0})? Bitte schön, Frau Staatssekretärin.

Ingrid Fischbach (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003117

Danke schön, Frau Präsidentin. - Liebe Frau Kollegin, ich antworte Ihnen gerne: Pflegebedürftige Menschen und ihre Angehörigen sollen sich ein möglichst objektives Bild über die Qualität der Pflege in den Pflegeeinrichtungen verschaffen können. Insbesondere die Gesamtnote der Transparenzberichte in ihrer derzeitigen Form besitzt jedoch nur einen begrenzten Informationswert. Der jetzt vorgelegte Entwurf für ein zweites Pflegestärkungsgesetz sieht deshalb weitreichende neue Regelungen dazu vor, die jedoch bei gleichwohl zeitlich eng gesetzten Fristen intensiver Vorarbeit bedürfen. Konkret ist beabsichtigt, die Instrumente der Qualitätsprüfung und die Qualitätsberichterstattung auf neue Grundlagen zu stellen. Dabei soll der Einbeziehung von Erkenntnissen zur Ergebnisqualität eine besondere Bedeutung zukommen. Mit der Einführung des indikatorengestützten Qualitätsmanagements geht eine Umstrukturierung von Prüfinhalten und des Prüfgeschehens einher; denn die Indikatoren und die Gewinnung von bewertbaren Informationen hierzu sind in das gegenwärtige Verfahren der Qualitätsprüfungen und in die Darstellung der Ergebnisse nach den Transparenzvereinbarungen - den sogenannten Pflege-TÜV - nicht ohne Weiteres integrierbar. Die Regelungen im vorliegenden Referentenentwurf sollen daher die Vertragsparteien der Selbstverwaltung in der Pflege dazu verpflichten, die neuen Instrumente für die Prüfung von Pflegeeinrichtungen und für die Qualitätsberichterstattung auf wissenschaftlicher Grundlage zu entwickeln. Ziel ist es, im Jahr 2018 ein neues Prüf- und Transparenzsystem für den stationären Bereich einsetzen zu können. Im ambulanten Bereich, wo es noch keine wissenschaftlichen Vorarbeiten gibt, soll die Umstellung ein Jahr später erfolgen. Um dies zu erreichen, sollen auch die Entscheidungsstrukturen der Selbstverwaltung gestrafft werden.

Ulla Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002019

Frau Kollegin Scharfenberg.

Elisabeth Scharfenberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003835, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank. - Frau Staatssekretärin, ich habe eine erste Nachfrage dazu. Sie haben ja selbst gesagt, dass Pflegenoten kein aussagekräftiger Gradmesser für Qualität sind. Nach dem, was wir mitbekommen, ist es derzeit eher ein Selbstbefassungsinstrument. Pflegekräfte berichten uns, dass die Dokumentationen im Sinne der Pflegenoten ein absoluter Zeitfresser sind. Diese Zeit würde eigentlich dringend am Bett gebraucht. Ist das nicht ein ernstzunehmendes Argument gegen dieses Instrument und für die sofortige Aussetzung?

Ingrid Fischbach (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003117

Frau Kollegin, vielen Dank für die Nachfrage. - Wir sehen die Probleme, aber wissen auch, dass es zurzeit keine Alternative gibt. Ihre Frage suggeriert, es gäbe ein anderes System, das schnell einsetzbar und besser wäre. Das gibt es nicht. Deshalb werden wir uns die Zeit nehmen, das neue System wirklich wissenschaftlich fundiert auf den Weg zu bringen. Wir haben ja bei der Einführung des Pflege-TÜV gemerkt, welche Probleme es gibt, wenn so etwas rasch und ohne wissenschaftliche Grundlagen gemacht wird. Deswegen sind wir an der Stelle, an der wir jetzt sind.

Ulla Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002019

Frau Kollegin Scharfenberg, Sie haben noch eine zweite Nachfrage.

Elisabeth Scharfenberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003835, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Am Schluss meiner ersten Nachfrage stand ja auch ein Argument für die sofortige Aussetzung. Darauf haben Sie leider noch nicht geantwortet; aber vielleicht machen Sie das ja in Ihrer Antwort auf meine zweite Frage. - Wie lassen sich denn die Systematik der Pflegenoten und der damit einhergehende überbordende Schreibaufwand mit dem angekündigten Bürokratieabbau in der Pflege vereinbaren?

Ulla Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002019

Bitte.

Ingrid Fischbach (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003117

Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Wir haben auf Grundlage der guten Vorbereitung des Arbeitskreises zur Entbürokratisierung in der Pflege viele Vorschläge gemacht, wie gerade dem Problem der Bürokratisierung entgegengewirkt werden kann. Wir sind jetzt dabei, diese Ergebnisse umzusetzen. Wenn die Ergebnisse, die auch der Pflegebeauftragte der Bundesregierung jetzt sehr vehement in die Öffentlichkeit trägt, umgesetzt sein werden, haben wir an dieser Stelle schon eine deutliche Entlastung. Ich sage noch einmal: Wir wollen jetzt keinen Schnellschuss, auch wenn der Bürokratieaufwand gleich bleibt oder es zu noch mehr Bürokratie kommt. Vielmehr wollen wir ein fundiertes System, das dann das alte ablöst.

Ulla Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002019

Ich sehe keine weiteren Nachfragen. Wir kommen dann zur Frage 27 der Kollegin Scharfenberg: Wie will die Bundesregierung bis zur Überarbeitung des Bewertungssystems für Pflegeeinrichtungen gewährleisten, dass Pflegebedürftige und deren Angehörige sich ein aussagekräftiges Bild von einzelnen Pflegeeinrichtungen machen können und nicht von einer guten Gesamtnote über Defizite in der Pflege getäuscht werden? Bitte schön, Frau Staatssekretärin.

Ingrid Fischbach (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003117

Danke, Frau Präsidentin. - Liebe Frau Kollegin, die von den Vereinbarungspartnern nach § 115 Absatz 1 a Elftes Buch Sozialgesetzbuch getroffenen Pflege-Transparenzvereinbarungen für den ambulanten bzw. für den stationären Bereich sehen bisher Noten für die einzelnen Qualitätsbereiche und eine Gesamtnote vor. Im ambulanten Bereich werden zusätzlich Noten für die einzelnen Kriterien dargestellt. Die Bereichs- und Gesamtnoten ermöglichen derzeit keine differenzierten und vergleichenden Aussagen hinsichtlich der Qualität von Pflegeeinrichtungen. Regelungen zur Entwicklung eines neuen, wissenschaftlich fundierten Verfahrens zur Qualitätsmessung und -darstellung und damit zur Überarbeitung des Bewertungssystems sind in dem vom Bundesministerium für Gesundheit vorgelegten Referentenentwurf eines zweiten Pflegestärkungsgesetzes enthalten. Die Fragestellung unterstellt, dass es einen fachlich einfachen und zeitlich kurzen Weg zu einer Zwischenlösung gebe, die auch einen sinnvollen Übergang zur Entwicklung eines neuen Prüf- und Bewertungssystems darstellt. Aus Sicht der Bundesregierung gilt es aber, sorgfältig abzuwägen, ob für einen begrenzten Übergangszeitraum zusätzliche Ressourcen der Selbstverwaltung und in den Einrichtungen in die kurzfristige Neuordnung des bestehenden Systems gesteckt werden sollen und oder ob die wichtigen und herausfordernden Arbeiten an einem grundlegend neuen Instrument sofort im Vordergrund stehen müssen.

Ulla Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002019

Frau Kollegin Scharfenberg.

Elisabeth Scharfenberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003835, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank. - Dazu hätte ich eine Nachfrage. Defizite in der Pflege werden ja mit anderen Dingen wie einer guten Gesamtnote quasi wettgemacht. Uns geht es darum, dieses System auszusetzen. Es soll jetzt nicht unbedingt schnell etwas anderes entwickelt werden, sondern wir wollen, dass dieses System erst einmal ausgesetzt wird, bis etwas Neues entwickelt ist. Darum frage ich noch einmal: Wir erleben derzeit einen Pflegenotstand. Es gibt Personalmangel, Pfleger, die am Boden sind, und Pflegekräfte, die ständig über ihre eigenen Grenzen gehen bzw. gehen müssen. Am letzten Mittwoch gab es Demonstrationen von Verdi. Die Pflegekräfte haben aufbegehrt. In der Charité wurde gestreikt. In Pflegeheimen und stationären Altenheimeinrichtungen ist der Zustand nicht anders. Sind denn in diesem Zusammenhang Pflegenoten wie „sehr gut“ bzw. „eins komma irgendwas“, die quasi paradiesische Zustände in der Pflegelandschaft suggerieren, nicht wirklich kontraproduktiv?

Ingrid Fischbach (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003117

Frau Kollegin, ich gebe Ihnen recht. Wir werden ja ein neues System erarbeiten, weil die Pflegenoten, so wie sie heute existieren, kaum Aussagekraft haben. Man muss in die Einzelbenotung gehen. Deswegen werden wir mit Vehemenz und Kraft dafür sorgen, dass wir zu einer Benotung bzw. Bewertung kommen, die wirklich transparent ist und vor allen Dingen denjenigen nützt, die diese Informationen für ihre Entscheidung, welches Heim sie aufsuchen sollen, wirklich benötigen.

Ulla Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002019

Vielen Dank. - Vielen Dank auch Ihnen, Frau Kollegin Fischbach. Alle weiteren Fragen aus diesem Geschäftsbereich und aus den weiteren Geschäftsbereichen werden schriftlich beantwortet. Wir sind damit am Ende der heutigen Fragestunde angelangt. Ich rufe dann den Zusatzpunkt 2 auf: Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion DIE LINKE Rolle des Bundes beim Tarifkonflikt bei der Deutschen Post AG Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Sabine Zimmermann, Fraktion Die Linke. ({0})

Sabine Zimmermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003869, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Linke war in den letzten Wochen auf verschiedenen Streikkundgebungen der Kolleginnen und Kollegen der Post. Ich finde, wir sollten hier heute zuallererst den Kolleginnen und Kollegen Respekt für ihren Kampf zollen; ({0}) denn sie kämpfen nicht nur für sich, sondern auch für die Beschäftigten der Posttochter DHL Delivery, welche dieselbe Arbeit machen, aber mit deutlich schlechteren Löhnen abgespeist werden. Millionen Beschäftigte haben in den vergangenen Jahren die Erfahrung gemacht, ausgegliedert zu werden, für weniger Geld und natürlich zu schlechteren Bedingungen arbeiten zu müssen. Der Streik der Kolleginnen und Kollegen ist auch ein Zeichen, dass dieses Lohndumping endlich ein Ende haben muss. ({1}) Meine Damen und Herren, nun haben wir heute eine Information bekommen, die eine bodenlose Frechheit ist. Es gibt Hinweise darauf, dass die Arbeitsagentur für die Post Streikbrecher sucht. Ich will Ihnen hier die Anzeige - ich habe sie extra groß kopiert - für das Postfrachtzentrum Magdeburg zeigen und aus dem Stellenangebot der Arbeitsagentur zitieren: Wir suchen Postsortierer für einen befristeten Einsatz von zwei bis drei Monaten. - Die Krönung ist, dass das Ganze für 8,20 Euro im Rahmen von Leiharbeit geschehen soll, für die der Mindestlohn überhaupt nicht gilt. Wenn das hier in Deutschland so passiert, ist das eine große Sauerei, meine Damen und Herren. Ich fordere eine klare Stellungnahme der Bundesregierung, die leider nicht anwesend ist. ({2}) Die Streikenden werden unter Druck gesetzt, und es wird mit weiteren Ausgründungen gedroht. Wissen Sie, was die Beschäftigten von ihren Vorgesetzten gesagt bekommen: Wenn Du mein Sohn wärst, würde ich Dich zur Arbeit prügeln. - Oder: Wenn Sie den Vertrag zu den schlechteren Bedingungen nicht unterschreiben, dann melden wir das dem Jobcenter, und dann kriegen Sie noch eine Sperrfrist obendrauf. - Das, meine Damen und Herren, ist Erpressung. Ich bin entsetzt, dass so etwas in einem Unternehmen in Deutschland, bei dem die Regierung im Aufsichtsrat sitzt, möglich ist. ({3}) Es muss Schluss sein damit, dass sich das Management mit derart simplen Rezepten wie brutalem Lohndumping eine goldene Nase verdient. Das Einkommen von Postchef Frank Appel hat sich in diesem Jahr um über 50 Prozent erhöht. Wofür eigentlich? Wir reden hier von 5,2 Millionen Euro Einkommen. Und diejenigen, die die Leistung für das Unternehmen erbringen, sollen auf bis zu 20 Prozent des Lohnes verzichten. Das darf doch wohl nicht wahr sein. ({4}) Weil die Kolleginnen und Kollegen so viel leisten, zeigt dieser Streik auch Wirkung. Die Post kann noch so viele Autos leer durch Hamburg fahren lassen oder Hallen für nicht ausgelieferte Pakete anmieten: Die Menschen merken, dass die Briefe und die Pakete nicht mehr Sabine Zimmermann ({5}) so ankommen, wie sie es gewohnt waren. Dass sich die Post aber jenseits legaler Möglichkeiten alles Mögliche einfallen lässt, diesen Streik zu unterlaufen, ist unglaublich. ({6}) Ich kann es nicht anders sagen: Es regt mich auf, wenn ich sehe, wie man hier mit Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern umgeht. Ich will Ihnen hier zwei weitere Bilder zeigen, die ich ebenfalls extra auf Großformat kopiert habe. Diese zeigen nicht etwa Baucontainer, sondern Container, welche die Post für slowakische Streikbrecher beim Postverteilzentrum in Greven-Reckenfeld

Ulla Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002019

Nehmen Sie jetzt bitte die Blätter wieder runter! Sie haben sie gezeigt, aber nun nehmen Sie sie bitte wieder runter. Es gelten für alle hier im Haus gleiche Bedingungen.

Sabine Zimmermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003869, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

- angemietet und auf dem Gelände eines Gartenbaubetriebs in Hörstel aufgestellt hat. Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zahlen sogar noch Miete für diese „Luxuswohnungen“. Das ist eine Frechheit. So etwas kann man nicht verstehen. ({0}) Bei alldem schweigt die Bundesregierung - und duldet es noch dazu. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union und von der SPD, Sie haben vor etwa 20 Jahren die Privatisierung der Post auf den Weg gebracht. Nun müssen Sie zugeben, dass dieser Konflikt ein Ergebnis dieser Entscheidung ist. Das Unternehmen arbeitet profitabel; aber um die Gewinne zu erhöhen, ist jedes Mittel recht. In den vergangenen zehn Jahren wurden 8 Milliarden Euro an die Aktionäre ausgeschüttet - Geld, das bei den Löhnen und den Arbeitsbedingungen abgeknapst wurde und bei der Modernisierung des Unternehmens fehlt. Es ist ein Skandal, dass die Bundesregierung dem Post-Vorstand für eine solche Unternehmenspolitik freie Hand lässt. ({1}) Ich muss schon fragen - diese Frage müssen Sie sich gefallen lassen -: Wofür sind Sie eigentlich gewählt worden? Für die Millionen Beschäftigten, die unter anderem auch bei der Post arbeiten, oder für einzelne Vorstandsmitglieder, die für Millioneneinkünfte stehen? Für die Linke ist klar: Wir sagen Nein zum Lohndumping bei der Post und Ja zum Streik der Kolleginnen und Kollegen. Wir unterstützen sie innerhalb und außerhalb des Parlamentes. Danke. ({2})

Ulla Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002019

Vielen Dank. - Da einige Kolleginnen und Kollegen der Fraktion Die Linke so verstört zu mir herübergeschaut haben, will ich sagen: Die Regeln, die wir hier haben, haben wir alle gemeinsam beschlossen - einschließlich der Fraktion Die Linke. Nächster Redner ist Tobias Zech, CDU/CSU-Fraktion. - Bitte. ({0})

Tobias Zech (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004450, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir haben uns vor drei Monaten hier im Deutschen Bundestag schon einmal mit diesem Thema, der Tarifauseinandersetzung bei der Deutschen Post, beschäftigt. Ich habe schon damals für die Union gesprochen und gesagt, dass ich die Diskussion hier nicht für angemessen halte. Heute haben Sie das Thema wieder auf die Tagesordnung gesetzt. Meine Damen und Herren von den Linken, ich muss Ihnen sagen: Aus meiner Sicht geschah das wiederum grundlos. Auch wenn ich diese Debatte hier ungeeignet finde, gibt sie mir doch zumindest die Möglichkeit, ein paar Dinge klarzustellen. Es handelt sich beim Konflikt zwischen Verdi und der Deutschen Post ganz klar um eine ganz klassische Auseinandersetzung zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgeber. Sie hat hier im Plenum des Deutschen Bundestages nichts, aber auch gar nichts zu suchen. ({0}) Wir sprechen hier im Deutschen Bundestag immer wieder gerne von der Tarifautonomie. Sie bedeutet, autonom und damit frei von staatlichen Eingriffen zu handeln. Das gilt übrigens für alle. Das heißt, auch wenn der Bund Anteilseigner ist, gibt uns das bei weitem noch nicht das Recht, uns in jede Verhandlung und in jeden Konflikt von Unternehmen, an denen wir beteiligt sind, einzumischen. Was Sie hier machen, ist nichts anderes als ein politisches Schaulaufen ohne inhaltliche Substanz. ({1}) Welches Zeichen möchten Sie denn setzen? Wir haben über hundert Beteiligungen. Wollen Sie in Zukunft bei jeder Streitigkeit zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern in den Unternehmen, an denen wir beteiligt sind, den Deutschen Bundestag bemühen? Das kann doch nicht Ihr Ernst sein. ({2}) Es ist klar, warum Sie das wollen. Sie können nämlich überhaupt kein Fan von Tarifautonomie sein, weil für Sie staatliches Handeln wohl immer noch die oberste aller Prämissen ist. Ich möchte drei Punkte herausgreifen. Erstens. Die Situation der Arbeitnehmer sehen wir hier sehr wohl, und die nehmen wir hier auch ernst. ({3}) Man muss aber auch sehen, welche Folgen die Gründung der DHL Delivery GmbH langfristig hat. Die Post baut unbefristete Arbeitsverhältnisse auf. ({4}) - Das ist so; das ist die Wahrheit. - Die Deutsche Post zahlt die Tariflöhne auch bei der DHL Delivery GmbH nicht im luftleeren Raum, sondern gemäß den zwischen Verdi und der Speditions- und Logistikbranche ausgehandelten Flächentarifverträgen. Auch das ist die Wahrheit. ({5}) Dazu kommen noch Zahlungen zum Ausgleich und Zahlungen im Niedriglohnbereich. Auch das ist die Wahrheit. Ich hätte mir von Ihnen ganz gerne gewünscht, dass Sie das hier auch so sagen. Zweitens geht es auch um die Situation der Arbeitgeber. Wir möchten hier im Land Unternehmen haben, die nachhaltig und wirtschaftlich langfristig denken. Das heißt, dass wir die Deutsche Post so aufstellen müssen und dass der Post-Vorstand alles dafür tut, dass das Unternehmen langfristig wirtschaftlich erfolgreich sein wird. Das ist nicht nur den Kunden in Deutschland, sondern vor allem auch den Arbeitnehmern, die Sie hier zu vertreten meinen, geschuldet, weil der Vorstand nur dann langfristig gute Arbeitsplätze garantieren kann. Auch hier muss man die Deutsche Post unterstützen. Drittens. Da wir das Plenum schon bemühen, möchte ich die untragbare Situation für die Bürgerinnen und Bürger noch ansprechen. Nicht nur Briefe und Zeitungen kommen nicht mehr an, sondern teilweise werden auch Medikamente nicht zugestellt. Labor- und Arztberichte kommen nicht an. Rechnungen werden nicht fristgerecht zugestellt. ({6}) Ein kleiner Handwerksbetrieb wird unter Liquiditätseinbußen leiden, weil es keine Zahlungseingänge gibt. Das ist die Politik, die Sie hier betreiben. ({7}) Es kann doch nicht Ihr Ernst sein, zu sagen, dass das sinnvoll ist. ({8}) Inzwischen leiden auch Schwerbehinderte unter dem Streik, weil sie ihre Wertmarken für eine freie Fahrt mit Bus und Bahn nicht bekommen. Ihnen geht es um Ideologie, nicht um die Menschen in diesem Land. Auch das muss man einmal deutlich sagen. ({9}) Ich sehe, ich muss zum Ende kommen. Deswegen nur noch ganz kurz: Die Arbeitsplätze, die die Deutsche Post aufbaut, gehören zu den bestbezahlten in der Branche; auch das ist korrekt. Ich plädiere für Folgendes: Lassen Sie Arbeitgeber und Arbeitnehmer in Ruhe verhandeln. Wir als Politiker dürfen uns nicht einmischen. ({10}) Das ist Tarifautonomie. Die Tarifpartner sollen das regeln; dafür gibt es sie. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({11})

Ulla Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002019

Vielen Dank. - Nächste Rednerin ist Beate MüllerGemmeke, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Beate Müller-Gemmeke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004117, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Deutsche Post AG ist Marktführer. Der Umsatz steigt. Im letzten Jahr ist die Dividende der Aktionäre um 6 Prozent erhöht worden. Der Vorstandsvorsitzende erhielt satte 9,6 Millionen Euro. Das ist ein Plus von 21,5 Prozent. Das Unternehmen ist also kerngesund. Gleichzeitig hat die Post 49 Regionalgesellschaften gegründet. Die Paketzustellung mit 14 000 Stellen wird ausgelagert. Hier gilt nur der Logistiktarifvertrag. Herr Zech, das sind keine neuen Jobs. Das sind ausgelagerte Jobs. Nehmen Sie das endlich einmal zur Kenntnis. Das ist doch nicht so schwer zu verstehen. ({0}) Die ganze Sache ist mit externen Beratern von langer Hand vorbereitet worden. Es wurden Tausende befristete Jobs geschaffen. Die Beschäftigten werden jetzt in die Regionalgesellschaften nach dem Motto gedrängt: Gehaltskürzung oder Kündigung. Die Beschäftigten der Post streiken zu Recht; denn hier wird ein gesundes Unternehmen zulasten der Beschäftigten zerlegt. Die Post hat jeglichen Anstand verloren. Das ist nicht akzeptabel. ({1}) Die Post begeht hier einen ganz klaren Fall von Tarifflucht: von einem guten in einen schlechten Tarifvertrag. Die Post zerschlägt damit auch die Mitbestimmung. Das alles zerstört Vertrauen. Es geht noch weiter - das wurde schon angesprochen -: Die Beschäftigten wurden systematisch unter Druck gesetzt, sich nicht an den Streiks zu beteiligen. Beamte wurden als Streikbrecher eingesetzt, und der Post ist jedes Mittel recht, den Streik zu neutralisieren, etwa mit Werkverträgen und Leiharbeitskräften. Jetzt gibt es auch noch Sonntagsarbeit, und zwar rechtswidrig. Wenn dabei jetzt die Bundesagentur für Arbeit mithilft, dann ist das unglaublich. All das ist unanständig. ({2}) Das ist nicht demokratisch. So wird die Sozialpartnerschaft aufgekündigt. Das muss aufs Schärfste kritisiert werden. ({3}) Normalerweise sage auch ich, dass sich die Politik bei Tarifverhandlungen raushalten muss. Aber in diesem Fall ist die Debatte richtig und auch wichtig; denn bei der Post trägt nun einmal auch die Bundesregierung Verantwortung. ({4}) Herr Zech, nehmen Sie das endlich zur Kenntnis. ({5}) Die Bundesregierung ist immer noch größter Anteilseigner bei der Post. Der Bund hat zwei Sitze im Aufsichtsrat. Ich frage Sie: Wann hören wir endlich etwas von der Arbeitsministerin? ({6}) Wann hören wir endlich einmal etwas von dem sozialdemokratischen Wirtschaftsminister? ({7}) Wann mischt sich die Bundesregierung endlich ein? Verantwortung sieht anders aus. ({8}) Diese Verantwortung vermisse ich nicht nur in dem aktuellen Tarifvertrag, sondern auch in der Zeit davor. Schon im März habe ich bei der Bundesregierung nachgefragt, wann die Bundesregierung über die Regionalgesellschaften informiert war und wie sich die zwei Vertreter im Aufsichtsrat dazu verhalten haben. Die Antwort wurde mir verweigert. Die Bundesregierung versteckt sich hinter Verschwiegenheitspflichten und fühlt sich laut ihren Aussagen für die Beschäftigten nicht zuständig. Es bleibt also im Dunkeln, seit wann die Bundesregierung über die Regionalgesellschaften Bescheid weiß. Vor allem sehen wir auch die Frage der Verschwiegenheitspflichten anders. Deshalb klagen wir auch wegen anderer ähnlicher Fälle vor dem Bundesverfassungsgericht. Natürlich muss die Bundesregierung uns Abgeordneten Fragen über Unternehmen beantworten, an denen der Bund beteiligt ist. Natürlich hat die Öffentlichkeit das Recht, zu erfahren, wie sich die Bundesregierung in Aufsichtsräten verhält, und natürlich können die Menschen erwarten, dass sich die Bundesregierung für das Wohl der Beschäftigten einsetzt. Denn Eigentum verpflichtet. ({9}) Bevor Sie noch Atemnot bekommen, Herr Zech: Der Konflikt bei der Post ist kein normaler Tarifkonflikt, sondern es geht um mehr. Es geht um Anstand, Fairness und kollektive und individuelle Arbeitnehmer- und Arbeitnehmerinnenrechte. Es geht um Partnerschaft und um Vertrauen in der Arbeitswelt. All dies interessiert die Konzernleitung zurzeit wenig, und das in einem Unternehmen, an dem der Bund beteiligt ist. ({10}) Die Bundesregierung sollte also endlich gesellschaftliche Verantwortung übernehmen und Partei ergreifen. Denn die Beschäftigten der Post haben Unterstützung und Solidarität verdient. ({11}) Ich komme zum Schluss. Die Deutsche Post AG sollte endlich auf eine nachhaltige Unternehmenspolitik setzen. Wichtig sind nicht immer nur steigende Dividenden, sondern ein guter und verlässlicher Service und ein gutes Image durch engagierte Beschäftigte. Die Post muss also endlich zu einem fairen Umgang mit den Beschäftigten und den Gewerkschaften zurückfinden und ihrer Vorbildfunktion gerecht werden. Alles andere ist nicht akzeptabel. Vielen Dank. ({12})

Ulla Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002019

Vielen Dank. - Für die SPD-Fraktion hat jetzt Ewald Schurer das Wort. ({0})

Ewald Schurer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003234, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Angesichts der ökonomischen Daten des Unternehmens Deutsche Post DHL könnte man durchaus sagen: Bei 3 Milliarden Euro Betriebsgewinn und einer hohen und guten Rendite von 8,3 Prozent in den letzten Jahren hätte das Management der Post auch zu einer anderen Entscheidung kommen können und müssen. ({0}) Ich halte es auch als Abgeordneter der Großen Koalition - das ist kein Widerspruch - für richtig, dass wir politisch in der Lage sind, so einen Vorgang zu bewerten. Dabei spielen auch das Tarifrecht und - das kann man nicht leugnen - die Beteiligung des Bundes eine Rolle. Im Übrigen haben alle bisherigen Qualitätstests, die evident waren, ergeben: Die Post und DHL sind im Brief- und Paketbereich qualitativ die Nummer eins, auch deswegen, weil man die Menschen vernünftig bezahlt bzw. bezahlt hat. Das muss man konstatieren dürfen. Insofern kann ich mich mit den Kolleginnen und Kollegen solidarisieren, die seit 48 Tagen streiken, und zwar nicht just for fun oder weil sie sozusagen wild geworden sind; es geht vielmehr um Existenzen. ({1}) Wir alle diskutieren immer wieder in vielen Zusammenhängen wie der Familienpolitik die Möglichkeiten gerade auch junger Menschen der mittleren Generation, zum Beispiel eine Familie zu gründen, soziale Sicherheiten zu bekommen und den Weg ins Leben zu finden. Genau dem widerspricht dieses strategische Handeln in voller Gänze. Das muss man zugeben, und das kann man fraktionsübergreifend, aber auch als Mitglied der Regierungskoalition tun, ohne sich irgendetwas zu vergeben. ({2}) Deswegen bin ich der festen Meinung, dass die Post mit der Ausgründung von 49 Regionalgesellschaften dezidiert die falsche Entscheidung getroffen hat. ({3}) Mit guter und auskömmlicher Bezahlung wäre das Unternehmen morgen und auch noch in fünf Jahren qualitativ und quantitativ der Spitzenreiter im Bereich Briefe und Pakete und könnte das gut verkaufen. Dass man jetzt auf das Lohngefüge der sonstigen Logistikleister im Wettbewerb setzt, die zum Teil nur im Mindestlohnbereich agieren, ist strategisch vor allen Dingen dann nicht zu verstehen, wenn - das ist angesprochen worden - ein Spitzenmanager wie Herr Appel nach einer Erhöhung um über 20 Prozent nun 9,5 Millionen Euro verdient. Das kommt nicht gut an, und es zerstört Vertrauen bei der eigenen Belegschaft und, wie ich weiß, auch bei Kolleginnen und Kollegen der CSU, CDU und der SPD genauso wie bei der Opposition. Das, was dort gemacht wird, ist ökonomisch widersinnig und geht zulasten der Menschen. ({4}) Allen schlechten Beispielen aus der sogenannten freien Wirtschaft, die manchmal unter Wettbewerbsdruck gar nicht so frei ist, muss man nicht folgen, vor allen Dingen dann, wenn man einen öffentlichen Anteil zu verteidigen hat. ({5}) Als Haushälter der SPD-Bundestagsfraktion und Mitglied des Ausschusses für Arbeit und Soziales hätte ich mir gewünscht - das ist keine Fundamentalkritik, wohl aber eine bewusste Erwähnung -, dass das federführende BMF dazu ein öffentliches Statement abgibt; das wäre kein Fehler gewesen. ({6}) Ich darf der Opposition allerdings entgegenhalten: Nicht alles - so sagte mir der Kollege Klaus Barthel -, was nicht in den Zeitungen steht und nicht vertont wird, ist nicht geschehen. Es gab politisches Insistieren vonseiten der Fachministerien. Allerdings hat sich dann das Management von DHL und Deutscher Post eben anders entschieden. Nun zu beklagen, dass Verdi als Verkörperung der Arbeitnehmerschaft versucht, dagegenzuhalten, um die genannten Niedriglohntendenzen zu unterbinden, ist ein bisschen verlogen; ({7}) denn man hätte zuvor gemeinsam mit der Gewerkschaft und der Vertretung der Arbeitnehmer ein anderes Unternehmenskonzept erarbeiten und auf die 49 Ausgründungen verzichten können. ({8}) Ich bin darüber sehr unglücklich und sage deshalb: Reformen - auch im ökonomischen Sinne - müssen nicht immer in die Billigschiene münden. Diesen Beweis erbringt oft der Mittelstand. Ich kenne viele Mittelständler, die im Qualitätsbereich, im Servicebereich oder in der Produktion - auch in der Metallindustrie - tätig sind und dezidiert sagen: Ich setze mich mit qualitativ höherwertigen Produkten, höherem Lohn und höheren Sozialleistungen von meinen Wettbewerbern ab. - Immer mehr Unternehmen in der Marktwirtschaft machen das. Sie tun das bewusst, weil sie wissen, dass das ein Qualitätsmerkmal ist. ({9}) Insofern hat die Deutsche Post bzw. DHL eine unternehmerische Fehlentscheidung getroffen, die man auch im Parlament als solche bezeichnen darf. Herzlichen Dank. ({10})

Ulla Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002019

Vielen Dank. - Für die CDU/CSU-Fraktion spricht jetzt Albert Weiler. ({0})

Albert Weiler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004439, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren auf der Tribüne! Die heutige Aktuelle Stunde erinnert mich sehr an den 25. März, als wir über das Gleiche debattiert haben. Ich erinnere an den Film Und täglich grüßt das Murmeltier. Damals waren sieben Abgeordnete der Linken anwesend, heute sind es immerhin zwölf. Es gibt also eine gewisse Vermehrung. Sie werden besser. Aber man muss sich das einmal vorstellen: Die Linken beantragen diese Aktuelle Stunde und sitzen dann mit zwölf Hanseln da. Das ist schon sehr merkwürdig. ({0}) - In Bayern sagt man Hansel. Da hier ein paar Behauptungen aufgestellt wurden, die nicht so gut sind, möchte ich eine Anzeige der Deutschen Post zitieren, die an die Gewerkschaft gerichtet ist: Liebe ver.di, Deutschland fragt sich nach 48 Streiktagen, worum es Euch beim Post-Streik eigentlich geht. Wir auch! Ihr habt den Tarifvertrag zur Wochenarbeitszeit gekündigt, um streikfähig zu sein, aber über unser konkretes Angebot wolltet Ihr nicht verhandeln? Ihr kämpft gegen die neuen Regionalgesellschaften, obwohl wir dort 6 500 Menschen mit unbefristeten Arbeitsverträgen zu Euren eigenen Tarifkonditionen eine Zukunft geben? Ihr fordert 140 000 Postmitarbeiter zum Streik auf, die von den Regionalgesellschaften nicht betroffen sind und für die sich nichts ändert? ({1}) Im Interesse unserer Mitarbeiter und Kunden hoffen wir auf den Beginn konstruktiver Verhandlungen, damit wir gemeinsam die Zukunft unseres Unternehmens sichern können! Nur so bleiben wir: Die Post für Deutschland. Wir von der CDU/CSU wollen die Post für Deutschland erhalten und sie nicht kaputtmachen. Am 25. März hatte ich abschließend gesagt, dass Verdi als Tarifverhandlungspartner gefragt ist, wenn es darum geht, weiterhin positive Tarifverträge für alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Post- und der Paketbranche auszuhandeln, nicht der Deutsche Bundestag und erst recht nicht die Bundesregierung. ({2}) - Danke schön. ({3}) Dass Gewerkschaften Streik als Druckmittel einsetzen, ist legitim. Wir garantieren das im Grundgesetz. Auch das sollten Sie einmal lesen. Der Streik ist das Mittel der Gewerkschaften, um ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen. Allerdings darf eine Gewerkschaft nicht mit überzogenen Forderungen und ziemlich kompromisslos den Arbeitskampf bis ins Unermessliche führen. Das haben wir zuletzt bei dem Streik bei der Bahn gesehen. Die erste Forderung von Verdi nach Senkung der Wochenarbeitszeit bei gleichzeitig vollem Lohnausgleich und die zusätzliche Forderung nach einer Erhöhung der Tarifgehälter gingen an der Wirklichkeit vorbei. Diese hätten eine Lohnerhöhung von insgesamt 12,5 Prozent und damit eine zusätzliche Personalkostensteigerung von 600 Millionen Euro bedeutet. Auch die neue Forderung bedeutet eine zusätzliche Erhöhung der Personalkosten von 300 Millionen Euro. Damit wird die Post/ DHL kaputtgemacht. Das kann doch nicht das Ziel sein. ({4}) Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linksfraktion, ich bin mir gar nicht so sicher, ob Sie sich mit der Aktuellen Stunde bei Verdi Freunde machen. Auf der Webseite der Gewerkschaft Verdi können Sie ganz klar nachlesen - das sollten Sie wirklich einmal tun -, was in dem offiziellen Verdi-Lexikon unter dem Begriff Tarifautonomie steht. Ich zitiere: Tarifautonomie bedeutet, dass in Deutschland Arbeitgeber und Arbeitnehmer/innen die Bestimmungen zu Urlaub, Gehalt, Arbeitszeiten und vielen weiteren Arbeitsbedingungen selbstständig aushandeln. Jetzt kommt der entscheidende Satz: Die Politik hält sich heraus. So schreibt Verdi. ({5}) Ich wundere mich jedoch sehr. Schaue ich in die Reihen der Linken, sehe ich zahlreiche Gewerkschafter und Gewerkschaftslobbyisten, die es eigentlich besser wissen müssten: Herrn Ernst - er ist heute nicht da -, jahrelang als Gewerkschaftssekretär und später als gewählter Erster Bevollmächtigter der IG Metall tätig, Frau Zimmermann, bezahlte Gewerkschafterin, und Frau Krellmann, bezahlte Gewerkschafterin der IG Metall, Frankfurt am Main. ({6}) 1 000 Euro im Monat nebenbei sind auch nicht schlecht, sage ich einmal. ({7}) Sie fallen mit Ihrem Antrag auf diese Aktuelle Stunde Verdi ganz offen in den Rücken und untergraben damit das offizielle Verdi-Konzept, das sich auf Tarifautonomie stützt. Wir haben circa 70 000 bestehende Tarifverträge in unserem Land. Der wirtschaftliche Erfolg der deutschen Unternehmen beweist, dass unser System im Grundsatz gut funktioniert. Diese Form der Lohnfindung - ich werbe ausdrücklich dafür - ist ein Grundpfeiler unserer sozialen Markwirtschaft. Ich komme zum Ende. Tarifverträge gehören in die Hand der Gewerkschaften und der Arbeitgeber. Ich bitte Sie, das nun endlich zu verstehen und auch zu akzeptieren, damit wir nicht noch ein drittes Mal zu dem gleichen Thema debattieren. ({8}) Vielen Dank. ({9})

Ulla Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002019

Vielen Dank, Herr Kollege Weiler. - Wir alle lieben die lebendigen parlamentarischen Debatten. Aber vielleicht können wir uns für die Zukunft darauf verständigen, dass hier unten im Saal Frauen und Männer, Abgeordnete bzw. Menschen sitzen. Das wäre ganz schön. ({0}) Nächste Rednerin ist Jutta Krellmann, Fraktion Die Linke. ({1})

Jutta Krellmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004080, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Weiler, wir haben am 25. März über diese Frage geredet. Ich persönlich komme aus Niedersachsen, nicht aus Frankfurt. Frankfurt liegt in Hessen. Meine IG-Metall-Verwaltungsstelle ist Alfeld-HamelnHildesheim. Darauf bin ich sehr stolz. ({0}) Als Gewerkschafterin, Herr Weiler, muss ich sagen, dass mir die Galle überläuft, wenn ich sehe, wie das legitime Recht der Postbeschäftigten mit Füßen getreten wird, nämlich das Recht auf Streik. Es ist überhaupt nicht in Ordnung, was da passiert. ({1}) Während die Bundesregierung beharrlich schweigt, kommen bei dem Arbeitgeber Post alle möglichen neuen Sauereien und Schweinereien zum Vorschein. Meine Kollegin hat eben schon Beispiele genannt. Ich kann das noch weiter ausführen. Es sind viele Dinge passiert. Es gab Ausschreibungen für befristete Stellen, für Leiharbeiter, Studierende werden mit extra Streikbrecherprämien geködert, Pakete werden von betriebsfremden Taxifahrern ausgeliefert, der Arbeitgeber Post missachtet wiederholt das Arbeitsverbot an Sonntagen. ({2}) Was ist hier eigentlich los in Deutschland? Sagen Sie mir das doch einmal. Ich finde, es ist eine ziemliche Katastrophe, was da passiert. Deutschlandweit werden gewerkschaftsfeindliche Anzeigen in der Springer-Presse mit der Überschrift „Leere Briefkästen hat Deutschland nicht verdient“ ({3}) geschaltet. Mit solchen Geschichten wird gegen die Streikenden Stimmung gemacht. Es ist richtig schäbig, was da passiert. ({4}) Aus meiner Sicht ist der Bund absolut gefragt, hier einzugreifen. Er ist der größte Einzelaktionär - das ist auch schon von anderen gesagt worden - bei der Post und damit für die Unternehmenspolitik verantwortlich. Natürlich hat der Bund da etwas zu sagen. Wenn man schweigt, macht man sich bei Gesetzesverstößen doch mit strafbar. ({5}) Wenn Arbeitgeber frech das Verbot der Sonntagsarbeit unterlaufen, dann muss auch die Bundesebene handeln. Wer denn sonst? ({6}) Geht nicht, gibt’s nicht. Auf Länderebene allein kommen wir bei der Lösung dieser Probleme offenbar nicht weiter. Während man in Bayern mit Sonntagsarbeit anscheinend keine Probleme hat, drohen die zuständigen Ämter in Niedersachsen, Thüringen oder Brandenburg mit Bußgeldern. In Bayern ist Streikbruch am Sonntag also erlaubt? Woanders nicht, und trotzdem wird es von der Post gemacht. Das ist eine weitere Sauerei. Die Länder drohen mit Bußgeldern; aber im Grunde sind die Bußgelder am Ende viel zu niedrig in so einer Situation für so ein Unternehmen. ({7}) Weil der Arbeitgeber Post keine spürbaren Folgen für sein strafbares Handeln fürchten muss, kann sich Produktionschef Brinks hinstellen und im Grunde frech sagen: Auch unsere zweite Sonntagszustellung war ein großer Erfolg. - Na toll, kann ich da nur sagen. Genau an dieser Stelle kommt mir als Parlamentarierin die Galle hoch: Das Verbot der Sonntagsarbeit auf Länderebene durchzusetzen, funktioniert offensichtlich überhaupt nicht. Der Sonntag muss frei sein, hier und heute. ({8}) Dafür mit klaren Regelungen, konsequenter Umsetzung und regelmäßiger Überprüfung zu sorgen, das ist eine Aufgabe des Bundes. Genau das haben die Beschäftigten verdient. Was bedeutet es für die Zukunft, wenn Arbeitgeber glauben, dass Tarifverhandlungen ihnen das Recht geben, Gesetze zu brechen? Was ist, wenn Arbeitgeber dann merken, dass solch ein Verhalten keine unmittelbaren juristischen oder politischen Folgen hat? Wenn es sein muss, rede ich noch zehnmal hier im Bundestag über diese Situation, und zwar immer dann, wenn es notwendig ist. ({9}) Das Tarifeinheitsgesetz konnten Sie hier vor sechs Wochen gar nicht schnell genug durchwinken. Durch dieses Gesetz sollten vermeintlich ausufernde Tarifverhandlungen wieder in geordnete Bahnen gelenkt werden. Aber Pustekuchen! Das Gegenteil ist der Fall: Es waren nicht die Streikenden bei der Bahn, die die Tarifautonomie geschwächt haben, sondern es sind Arbeitgeber wie die Post, die systematisch dafür sorgen, dass Tarifverträge angegriffen, geschwächt und unterlaufen werden. ({10}) Mir läuft die Zeit davon.

Ulla Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002019

Die ist schon davongelaufen.

Jutta Krellmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004080, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Die Bundesregierung hat die Einschränkung des Streikrechts sehr schnell auf den Weg gebracht. Dafür Sorge zu tragen, dass Streiks garantiert sind, hat sie bis heute nicht zustande gebracht. Auch ich fordere Frau Nahles auf: Machen Sie den Mund auf. Sagen Sie, was Sie von dieser Geschichte halten. Denn es ist nicht in Ordnung, sich als Arbeitsministerin an dieser Stelle vornehm zurückzuhalten und als jemand, dem das Unternehmen im Grunde gehört, nicht zu sagen, dass man diese Politik nicht in Ordnung findet. Ich wünsche den Kolleginnen und Kollegen, die im Streik sind, die unsere Diskussion hier möglicherweise verfolgen, ansonsten viel Erfolg in ihrem Kampf. ({0}) Ich hoffe, dass sie an dieser Stelle ein gutes Ergebnis erzielen. Vielen Dank an Sie alle, dass Sie mir zugehört haben. ({1})

Ulla Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002019

Vielen Dank. - Nächster Redner ist der Kollege Klaus Barthel, SPD-Fraktion. ({0})

Klaus Barthel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002622, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das ist sehr wohl ein politisches Thema. Kollege Weiler, seien Sie mir nicht böse: Sie haben unfreiwillig den Unterschied zwischen einer Einheitsgewerkschaft und einer anderen Gewerkschaft klargemacht. In der Tat ist es so: Bei der Post streiken momentan über 30 000 Kolleginnen und Kollegen und bald noch ein paar Tausend mehr, damit 6 000 Personen nicht aus einem Tarifvertrag ausgegrenzt werden und den damit verbundenen Schutz nicht verlieren. ({0}) Bei anderen Gewerkschaften wie bei der Gewerkschaft der Lokführer geht es explizit darum: Wir wollen etwas haben, und alle anderen dürfen es nicht haben. - Das ist der Unterschied zwischen einer Einheitsgewerkschaft und diesem Streik und dem, was wir an anderer Stelle diskutiert haben. ({1}) Die Führung dieses Unternehmens, von dem wir heute reden, verstößt gegen zentrale Ziele unseres Koalitionsvertrags; auch deswegen ist es ein Thema für uns hier. Im Koalitionsvertrag steht nämlich: gute Arbeit für alle, faire Bezahlung, starke Sozialpartnerschaft, allgemeinverbindliche Tarifverträge, Tarifeinheit und Mitbestimmung. Liebe Kolleginnen und Kollegen aus der Koalition, daran sollten wir uns selber halten, auch in dieser Auseinandersetzung. Gegen diese Ziele verstößt der Vorstand dieses Unternehmens fundamental und auf perfide Weise. ({2}) Anstatt gleichen Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort zu bezahlen, werden in den Sortierzentren - das muss man sich einmal bildlich vorstellen - entweder dicke Linien gezogen oder sogar Zäune errichtet, um die einen, die dieselbe Arbeit machen wie die anderen, von den anderen zu trennen, um dann zu rechtfertigen, dass die einen mehr Geld kriegen als die anderen. Das ist doch ein Aberwitz! ({3}) Es geht natürlich auch um die Flucht aus der Mitbestimmung, und es geht um Konfrontation statt um Partnerschaft. Im Arbeitskampf werden nicht nur Werkverträge und die Leiharbeit missbraucht, sondern es wird sogar gegen unsere Verfassung verstoßen, meiner Meinung nach in zwei Punkten auf jeden Fall, einmal wenn es um die Einhaltung des Postgeheimnisses geht. Ich kann mir kaum vorstellen, wie das Postgeheimnis eingehalten werden soll, wenn jede Menge Kräfte von außen kurzfristig hereingeholt werden und dort nicht nur irgendwelche Unternehmenskataloge sortieren, sondern den ganzen Postverkehr. Es wird zum anderen verstoßen gegen das Verbot der Sonntagsarbeit. Das muss man einmal nachlesen. In unserer Verfassung - Artikel 139 der Weimarer Verfassung, übernommen durch Grundgesetzartikel 140; Sie alle haben das in Ihren Schubladen; darum brauche ich es nicht hochzuhalten - heißt es - ich zitiere wörtlich -: Der Sonntag und die staatlich anerkannten Feiertage bleiben als Tage der Arbeitsruhe und der seelischen Erhebung gesetzlich geschützt. ({4}) So etwas steht auch in vielen Landesverfassungen. Deswegen ist es gut, dass viele sozialdemokratische Landesminister und Landesregierungen gegen die Sonntagsarbeit jetzt vorgehen. Ich verstehe nicht, dass das nicht alle tun; denn weder hat Streikbrecherarbeit am Sonntag etwas mit seelischer Erhebung zu tun, noch gibt es irgendein öffentliches Interesse, dass Streikbrecher am Sonntag arbeiten. Das muss hier zum Thema Politik ganz klar gesagt werden. ({5}) Ja, es ist richtig: Der Wettbewerb auf dem Brief- und Postmarkt ist hart und nicht immer fair. Die Erhebungen der Bundesnetzagentur, die wir immer wieder durchführen lassen, haben deutlich gemacht, dass die Löhne im Briefsektor außerhalb der Deutschen Post AG noch vor zwei Jahren weit unter dem Mindestlohn lagen. Neue Erhebungen, jetzt gerade fertiggestellt, zeigen: Bei den Stichproben, die sowohl bei den Subunternehmen der Post wie auch bei den Wettbewerbern erhoben worden sind, haben nur gut die Hälfte der befragten Unternehmen überhaupt geantwortet, obwohl sie gesetzlich dazu verpflichtet sind. ({6}) Da ist doch die Frage, ob sie nicht etwas zu verbergen haben. Es ist deutlich geworden, dass noch 2013 bei diesen Subunternehmen die durchschnittlichen Löhne deutlich unter dem Mindestlohn von 8,50 Euro gelegen haben und dass es einen starken Verdacht auf massenhafte Scheinselbstständigkeit gibt. Umgekehrt ist aber auch wahr, dass wir mit dem Mindestlohn die Löhne bei den Wettbewerbern erhöht haben und damit die Schere langsam schließen. Wahr ist weiter, dass sich die Schere auch dadurch schließt, dass die Gewerkschaften zu neuen Einstiegslöhnen bereit waren. Sie liegen jetzt nicht mehr bei 17 Euro, mit denen die Post AG überall winkt - das sind die alten Tarifverträge -, sondern nur noch bei 14 Euro. Auch dadurch wird die Schere geschlossen. Wahr ist ferner, dass die Koalition jetzt darangehen wird, den Missbrauch von Leiharbeit und Werkverträgen zu bekämpfen. ({7}) Wahr ist auch - da sind wir jetzt dran -, dass wir im Vergaberecht soziale Standards einführen wollen, die es zum Beispiel ermöglichen und, wie wir meinen, sogar verbindlich vorschreiben, ({8}) dass bei der öffentlichen Vergabe zum Beispiel durch Landesjustizverwaltungen oder durch Kommunen eben nicht mehr der billigste Briefdienst zum Zuge kommt, sondern der, der sich an Tarifverträge hält. ({9}) Auch darauf könnte die Deutsche Post AG setzen,

Ulla Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002019

Herr Kollege Barthel.

Klaus Barthel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002622, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

- wenn sie mehr Wettbewerb will. Da wir als Abgeordnete hier öffentlich etwas sagen können, was Ministerinnen und Minister nicht sagen können: Wir fordern den Vorstand der Post AG auf, seinen Amoklauf gegen die Beschäftigten und die Gewerkschaft umgehend zu stoppen und dafür zu sorgen, dass wir uns für dieses bundeseigene Unternehmen nicht mehr schämen müssen. ({0})

Ulla Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002019

Vielen Dank. - Nächster Redner ist der Kollege Dieter Janecek, Bündnis 90/Die Grünen.

Dieter Janecek (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004312, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Lieber Herr Zech, lieber Herr Weiler, ich bin kein Mitglied von Verdi, aber trotzdem ist mir als Mitglied des Wirtschaftsausschusses der Grundsatz „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ nicht fremd. Ich bin aber sehr befremdet darüber, dass Sie hier die Legitimität dieser Debatte infrage stellen; denn Fakt ist: Der Bund ist hier mit 21 Prozent mit im Boot. Wir haben Verantwortung, Sie haben Verantwortung, also stellen Sie sich auch dieser Verantwortung! ({0}) Ich lese Ihnen nun etwas von PricewaterhouseCoopers vor. Die stehen uns Grünen ja nicht zwangsläufig nahe. Die haben 2010 etwas aufgeschrieben, was Sie als wirtschaftsnah Geltende ja sicher auch lesen, nämlich zur Frage von unternehmerischer Verantwortung, Corporate Responsibility, insbesondere zu sozialen und ökologischen Kriterien. Dort steht: Aufgabe des Aufsichtsrats ist es, die Führung der Geschäfte durch den Vorstand zu überwachen. … Sobald ein CR-Thema wesentlich für das Unternehmen ist, gehört es zur originären Aufgabe des Aufsichtsrats, sich damit zu beschäftigen … ({1}) Das war rein aus wirtschaftspolitischer Sicht argumentiert. Die Deutsche Post hat eine Entsprechungserklärung zum Corporate-Governancekodex abgegeben. Auch dort steht, dass Vorstand und Aufsichtsrat zum Wohle des Unternehmens eng zusammenarbeiten. Genau das erwarten wir heute durch diese Debatte, dass zum Wohle des Unternehmens, zum Wohle der Beschäftigten eng zusammengearbeitet wird. Also geben Sie uns bitte auch Auskunft dazu und tun Sie nicht so, als wäre das eine Debatte, die wir hier nicht führen dürfen. ({2}) Was ist nun der Sachstand? Warum sind wir heute hier? Weil der Vorwurf im Raum steht - da danke ich den Linken und auch Beate Müller-Gemmeke für die unermüdliche Aufklärungsarbeit der letzten Monate -, dass die Post AG mit unlauteren Praktiken arbeitet. Das ist doch kein Vorwurf, den wir einfach ignorieren können. Deswegen ist es völlig richtig - und von mir aus gerne in einem halben Jahr, in einem Jahr und in eineinhalb Jahren wieder, wenn das nicht eingestellt wird -, dass wir heute darüber reden. Wir, zum Beispiel meine Kollegin, haben immer wieder Nachfragen an das BMF, an Staatssekretär Kampeter gestellt. Die Antworten sind, ehrlich gesagt, eine Frechheit, weil es keine Antworten auf die Fragen nach seiner Rolle, nach der Rolle des BMF im Aufsichtsrat sind. ({3}) Und die ist vorhanden. Von daher können Sie nicht einfach sagen: Wir haben dazu keine Auskunft zu geben. Sie haben sie gegenüber dem Parlament zu geben. Welches parlamentarische Verständnis haben Sie denn? ({4}) Es gibt aber noch einen weiteren Aspekt, mit dem wir uns beschäftigen müssen. Natürlich ist die Deutsche Post AG in einem internationalen Konkurrenzkampf und im internationalen Wandel. Sie in der SPD und auch Ministerin Nahles reden ja vom Grünbuch 4.0 bei der digitalen Arbeit. Also: Wie wollen wir im Zeitalter der Digitalisierung Arbeit gestalten? Und das erste Signal, das wir jetzt von der Deutschen Post AG mitbekommen, ist, dass Löhne unter Druck geraten, dass entsprechende Standards unter Druck geraten. Es ist nicht die Vorstellung, die wir von der digitalen Arbeit der Zukunft haben, dass sie eine Arbeit der Entrechtung wird. ({5}) Was wir also brauchen, sind aktive Aufsichtsräte, ein aktives Beteiligungsmanagement bei den Bundesbeteiligungen. Deswegen bitte ich Sie: Gestalten Sie, und hören Sie auf mit dem kläglichen „Uns sind doch die Hände gebunden“. Wir wollen erst einmal Informationen über Ihren Anteil in der Bundesregierung: Was haben Sie getan? Was ist Ihre Haltung im Aufsichtsrat gewesen, auch in der Frage der künftigen Strukturierung der 49 Ausgründungen? Diesbezüglich haben wir doch einen Informationsanspruch. Bitte nehmen Sie das wahr. Nehmen Sie Ihre Position insgesamt wahr. Tragen Sie dafür Verantwortung, und sichern Sie bitte zukunftsfähige Arbeitsplätze mit guten Standards und nicht das Gegenteil. Vielen Dank. ({6})

Ulla Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002019

Vielen Dank. - Für die CDU/CSU-Fraktion hat jetzt Antje Lezius das Wort. ({0})

Antje Lezius (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004341, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kollegen! Der aktuelle Streik bei der Post fügt sich nahtlos ein in zahlreiche Arbeitsniederlegungen der letzten Zeit: der Lokführer, der Piloten und der Erzieher. Ich glaube, den Bürgern reicht es mittlerweile. ({0}) Aus diesem Grunde ist es wichtig, dass wir über das Spannungsverhältnis zwischen Streikrecht und Daseinsvorsorge reden. Ich bin den Linken deswegen dankbar, dass wir diesen Punkt auf der Tagesordnung haben. ({1}) Ohne Frage, das Streikrecht ist ein wichtiges Mittel zur Durchsetzung von Arbeitnehmerinteressen. Allerdings nutzt sich dieses Mittel sehr schnell ab, weil seine Wirkung im Wesentlichen auf der Außenwahrnehmung beruht. ({2}) Streikende sind zur Durchsetzung ihrer Interessen auch darauf angewiesen, dass die übrige Bevölkerung Verständnis für ihre Position hat und diesen Streik als legitim empfindet. Dies ist aber nicht mehr der Fall, wenn dieses letzte Mittel in der tarifpolitischen Auseinandersetzung zu oft oder unverhältnismäßig angewendet wird. ({3}) Wenn Verdi hier einen unbefristeten Streik ankündigt, dann sollten wir hinterfragen, ob hier eine Gewerkschaft nicht womöglich im eigenen Interesse handelt und nicht im Interesse der Arbeitnehmer, die sie zu vertreten hat. ({4}) Dieser Streik wird auf dem Rücken von Millionen Menschen ausgetragen, die auf die Dienstleistungen der Post wie auch die der Lokführer oder der Erzieher angewiesen sind. ({5}) Hunderttausende Arbeitnehmer konnten ihre Kinder nicht mehr zur Kita bringen, ebenso konnten Hunderttausende wegen des Lokführerstreiks ihre Familien nicht sehen oder versäumten wichtige Geschäftstermine. ({6}) Ich finde es problematisch, wenn Einkommen nicht mehr erwirtschaftet werden können und Existenzen in Gefahr sind, weil manche Dienstleistungen nicht mehr erbracht werden. ({7}) Diejenigen, die zum Streik aufrufen, müssen sich fragen lassen: ({8}) Ist der Streik wirklich das letzte Mittel der Wahl? Hätte nicht noch mehr verhandelt werden können? Denn es kostet viel, viel Geld. Streiks bedeuten immer auch einen immensen wirtschaftlichen Schaden. Und der wirkt sich im Endeffekt natürlich auch wieder auf die Beschäftigten aus. ({9}) Nehmen wir zum Beispiel den Hamburger Hafen. Sie haben gesehen, wie der Hamburger Hafen durch den nicht mehr erfolgten Containertransport während des Lokführerstreiks regelrecht lahmgelegt war. ({10}) Und somit kommen wir direkt zur Deutschen Post. Die Deutsche Post hatte in diesem Sinne angeboten, den Beschäftigten in der Paketzustellung zwar weniger Entgelt zu zahlen - übrigens nach dem von Verdi verhandelten Logistiktarifvertrag -, sie dafür aber aus den befristeten Beschäftigungsverhältnissen in unbefristete zu überführen. ({11}) Dieses Mehr an Sicherheit für die Beschäftigten ist zu begrüßen. Ich hätte nicht gedacht, dass sich die Linke einmal gegen unbefristete Arbeitsverhältnisse wendet, meine sehr geehrten Damen und Herren. ({12}) Unternehmen sind einerseits in der Fürsorgepflicht für ihre Arbeitnehmer, aber andererseits müssen sie im Hinblick auf die Konkurrenz am Markt auch dafür sorgen, dass sie wettbewerbsfähig bleiben. Hierzu sind selbstverständlich auch Umstrukturierungen nötig. Das sind unternehmensinterne Entscheidungen im Rahmen unserer Wirtschaftsordnung, bei denen sich der Staat nicht einmischen darf. Wir von der Unionsfraktion sind dagegen der Meinung, dass sichere Arbeitsplätze den Menschen helfen, ihren Lebensunterhalt zu verdienen, und dass dies auf jeden Fall besser ist als betriebsbedingte Kündigungen. Sprechen wir zum Schluss doch einmal über die Arbeitsverhältnisse der Zukunft. Wie sehen diese aus? Was können wir tun, um geeignete Rahmenbedingungen für gute Arbeit zu schaffen? In Zukunft werden sich die Arbeitsverhältnisse grundlegend wandeln - das belegen die Fakten -, und zwar aus technischen, demografischen und gesellschaftlichen Gründen. ({13}) Arbeit wird sich zukünftig auch stärker an diese Gegebenheiten und an die geänderten Bedürfnisse der Menschen anpassen müssen. So muss beispielsweise Teilzeitarbeit kein Indiz für prekäre Beschäftigung sein. Sie kann eine Möglichkeit sein, eine individuelle Work-LifeBalance herzustellen. Die Zukunft der Arbeit ist etwas, das die Tarifpartner originär betrifft. Sie sollten sie aktiv gestalten. Bei den Gewerkschaften vermisse ich diesen in die Zukunft gerichteten Gestaltungswillen. Stattdessen verkämpft sich Verdi gerade in Gefechten von vorgestern, um die eigene Existenz zu rechtfertigen. Ich wünsche mir, dass die Gewerkschaften den Strukturwandel in der Arbeitswelt begreifen und den Menschen hier Hilfestellung geben; denn damit würden sie ihre Bedeutung für die Zukunft unterstreichen, anstatt sie infrage zu stellen. Danke schön. ({14})

Ulla Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002019

Vielen Dank. - Nächster Redner ist Markus Paschke, SPD-Fraktion. ({0})

Markus Paschke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004371, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich möchte eines vorwegschicken, damit hier gar kein falscher Eindruck aufkommt: Mit den Sozialdemokraten wird das Streikrecht nicht angefasst. ({0}) Für diejenigen, die nicht so viel Erfahrung damit haben: Ein Streik richtet sich nicht nach außen - es geht nicht um die Außenwirkung -, sondern nach innen; denn nur, wenn er sich nach innen richtet, kann man in dem Unternehmen oder in der Branche etwas verändern. ({1}) Ich kann ganz deutlich sagen: Die SPD-Fraktion und ich unterstützen den Arbeitskampf der streikenden Männer und Frauen bei der Deutschen Post AG. ({2}) Tarifflucht geht gar nicht, und nichts anderes tut die Post in dieser Frage. Mit der Auslagerung von Tausenden Arbeitsplätzen unterläuft sie einen gültigen Tarifvertrag. Sie versucht, tarifliche Vereinbarungen und die Mitbestimmung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu umgehen, und sie tut das mit zunehmend fragwürdigen Methoden. Statt sich mit Verdi an einen Tisch zu setzen und vernünftig zu verhandeln, beweist die Deutsche Post Kreativität nur beim Einsatz von Streikbrechern. ({3}) Den Hinweis auf noch schlechtere Arbeitsbedingungen bei Mitbewerbern finde ich, gelinde gesagt, zynisch. ({4}) Lohndumping und Scheinselbstständigkeit sollten wir gemeinsam bekämpfen und nicht als Argument für die Absenkung von Standards nutzen. ({5}) Es geht hier um den Wert der Arbeit. Gute Arbeit braucht auch gute Löhne. Die befristet bei der Post beschäftigten Zustellerinnen und Zusteller werden vor die Wahl gestellt: entweder weniger Geld oder Arbeitsamt. Das ist die klassische Wahl zwischen Pest und Cholera. Apropos Arbeitsamt: Die Agenturen für Arbeit dürfen bei Streiks nur sehr eingeschränkt vermitteln. ({6}) Die Arbeitnehmer müssen in den Vermittlungsangeboten darauf hingewiesen werden, dass der Betrieb bestreikt wird - das nur für diejenigen, die dies nicht wissen -, und können die Annahme der Arbeit verweigern. ({7}) Trotzdem - das ärgert mich - finden sich auf der Seite der BA Dutzende Angebote von Leiharbeitsfirmen für Postzusteller ohne solche Hinweise. ({8}) In diesem Zusammenhang kann ich nur sagen: Es wird Zeit, dass wir das, was wir im Koalitionsvertrag vereinbart haben, nämlich das Verbot, Leiharbeiter für Streikbrecherarbeiten einzusetzen, jetzt zügig umsetzen. ({9}) Die Agenturen, auf deren Seiten diese Stellenangebote zu finden sind, fordere ich auf, sie aus dem Netz zu nehmen und die Neutralität zu wahren. ({10}) Mit der Ausgründung von 49 Zustellgesellschaften versucht die Post ganz klar, den gültigen Tarifvertrag zu umgehen und gleiche Arbeit ungleich zu bezahlen. Sie versucht, eine Zweiklassengesellschaft einzurichten. Dass die betroffenen Beschäftigten dagegen protestieren und streiken, kann ich gut verstehen. Mehr noch: Ich unterstütze und ermutige sie ausdrücklich, ({11}) und ich wünsche den Streikenden viel Kraft für ihren Kampf um gute Arbeit. ({12}) Ich finde, es wird Zeit, ernsthaft eine Lösung zu suchen, statt die Mitarbeiter am Sonntag arbeiten zu lassen. Damit wurde eine rote Linie überschritten. Ich sage dem Vorstand der Deutschen Post ganz klar: So etwas geht gar nicht. ({13}) Die zuständigen Länder haben sich da klar positioniert. „NRW hält Sonntags-Zustellung für illegal“, „Berliner Senat droht Post mit Zwangsgeld“, „Niedersachsen verbietet Sonntagszustellung“ - so titelten verschiedene Zeitungen, und ich sage: Das ist richtig so. ({14}) Der Streik der Postangestellten ist rechtmäßig, und rechtmäßiger Streik darf nicht durch rechtswidrige Maßnahmen unterlaufen werden. ({15}) Das hat auch ein Unternehmen wie die Deutsche Post zu begreifen. Die Deutsche Post ist nicht nur ein Dienstleister unter vielen, sondern sie steht in der Tradition eines Unternehmens der öffentlichen Daseinsvorsorge mit jahrzehntelanger, vor allem bewährter Mitbestimmungskultur. Das hat sie bisher von anderen Unternehmen unterschieden, und das sollte sie auch zukünftig von anderen Unternehmen unterscheiden. Vorstand und Aufsichtsrat haben nicht nur die Interessen der Aktionäre zu vertreten, sondern auch die der Arbeitnehmer und der gesamten Gesellschaft; denn EigenMarkus Paschke tum verpflichtet. Das ist ein wesentlicher Artikel unseres Grundgesetzes. ({16}) Keiner von uns will, dass sich eine Bundesregierung in einen Arbeitskampf einmischt. Aber ich erwarte, dass die Vertreter des Bundes im Aufsichtsrat im Sinne unseres Grundgesetzes agieren. Vielen Dank. ({17})

Ulla Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002019

Vielen Dank. - Als Nächster hat jetzt Dr. André Berghegger das Wort. ({0})

Dr. André Berghegger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004252, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Die Diskussion über den Poststreik, das spüren wir gerade, ist sehr emotional. Die Diskussion über Streiks in unserem Land wird fortgesetzt. In den letzten Wochen und Monaten waren verschiedene Bereiche betroffen, einige wurden eben angesprochen. Das Unverständnis in der Bevölkerung wächst, ({0}) aber dafür gibt es ganz unterschiedliche Argumente. Die Arbeitnehmerseite argumentiert, dass es fraglich ist, ob die getroffenen Maßnahmen angesichts des Konzernergebnisses der Deutschen Post rechtmäßig und zulässig sind. Es gibt aber auch die Seite der Kunden, die immer wieder anführen - die Probleme wurden vorhin schon geschildert -, dass Postsendungen nicht rechtzeitig ankommen, dass Fristen ablaufen etc. Ich bin sehr gegen pauschale Vorverurteilung oder gegen pauschale Vorwürfe. Ich würde sagen, ein differenzierter Blick auf die Situation lohnt sich immer. Welche Rolle spielt eigentlich der Bund in dieser Situation? Ich würde sagen, es gibt verschiedene Dimensionen dieses Themas. Einige Aspekte möchte ich an dieser Stelle anreißen. Die flächendeckende Versorgung mit Dienstleistungen im Postwesen gewährt der Bund durch verschiedene Gesetze. Der Bund hält an der Post AG - das haben wir gehört - über die KfW-Bank seit 2013 rund 21 Prozent. Die Post ist jedoch ein börsennotiertes Unternehmen, und das wiederum hat zur Folge, dass die Entscheidungen im Rahmen der Gesetze unternehmerisch getroffen werden. ({1}) In § 76 Absatz 1 des Aktiengesetzes heißt es, dass der Vorstand die Gesellschaft unter eigener Verantwortung zu leiten hat. Der Vorstand vertritt nämlich die Post AG bei den Tarifverhandlungen, und diese werden im Rahmen der Tarifautonomie nach dem Grundgesetz geführt. Der aktienrechtliche Gleichbehandlungsgrundsatz hat zur Folge, dass es keine Einflussnahme durch Anteilseigner und keine Sonderrechte zulasten anderer Anteilseigner geben soll; denn bei den Anteilseignern können verschiedene Interessen vorliegen. Die Bundesregierung hat im Gegenteil sogar die Pflicht zur Neutralität, auch bei Unternehmen mit Bundesbeteiligung. Der Aufsichtsrat - auch das haben wir mehrfach gehört - besteht aus 20 Vertretern, 10 von der Arbeitnehmerseite und 10 Anteilseigner, davon 2 vom Bund. Man hat also keine rechtliche Mehrheit im Aufsichtsrat. ({2}) Deshalb bewerte ich die rechtliche Dimension so, dass es keine rechtlich zulässige Einflussmöglichkeit, keine Beeinflussung durch den Bund gibt. Aber worum geht es inhaltlich? Inhaltlich reden wir von der zukunftsfähigen Ausrichtung des Post- und Paketbereiches bei stark wachsendem Paketgeschäft, insbesondere im Geschäftskundenbereich. Hier geht es auch um die langfristige Schaffung und Sicherung von Arbeitsplätzen in einem starken Wettbewerb in der Branche. ({3}) In den nächsten Jahren sollen bis zu 10 000 neue unbefristete und sozialversicherungspflichtige Stellen im Paketgeschäft geschaffen werden. ({4}) Jedes Privatunternehmen würde in dieser Gemengelage versuchen - in Anführungszeichen -, „schlank zu werden“, das heißt, einen Blick auf die Kosten zu werfen. Deswegen habe ich im Grundsatz Verständnis für einige Verhaltensweisen der Post. Man muss nämlich auch beachten, dass die Deutsche Post AG in dieser Branche das einzige Unternehmen ist, das staatlich reguliert ist. Die Preisgestaltung ist also eingeschränkt. Wettbewerbsfähige Löhne spielen sicherlich eine Rolle. Die Personalkosten bei der Deutschen Post, von der Arbeitnehmerseite bisher unbestritten, liegen im Durchschnitt deutlich über denen der Wettbewerber. Aber hier geht es um Ausgliederungen, um Tochterunternehmen, für die andere Tarifverträge gelten. ({5}) Auch diese Tarifverträge wurden mit Verdi ausgehandelt, und auch hier sind die Löhne höher als bei den Wettbewerbern. Der Durchschnittslohn in den Regionalgesellschaften liegt bei knapp 13 Euro pro Stunde. Deswegen kann bei dieser Konstellation in rechtlicher Hinsicht sicherlich nicht von einer Tarifflucht gesprochen werden. ({6}) Bestehende Arbeitsverträge bleiben unberührt; insoweit kommt es nicht zu finanziellen Einbußen. Es kommt in dieser Zeit nicht zu betriebsbedingten Kündigungen. Arbeitnehmer, deren befristete Arbeitsverträge auslaufen, werden angesprochen, und ihnen wird eine unbefristete Anstellung angeboten. ({7}) 6 500 neue Mitarbeiter sind bis jetzt geworben worden. Da es viele Bewerbungen aus dem freien Arbeitsmarkt gibt - ({8}) - Lassen Sie mich doch einmal ausreden. ({9}) - Dann reden Sie nicht dazwischen. - Angesichts dieser vielen Bewerbungen muss diese Konstruktion also eine gewisse Attraktivität haben. ({10}) Die Mitbestimmung wird aus meiner Sicht nicht ausgehöhlt; denn rechtlich - ich bin immer nur bei der rechtlichen Ebene - fällt es in die Organisationshoheit eines Unternehmens, Tochterfirmen zu gründen. Wenn diese nicht mitbestimmungspflichtig sind, wie das hier der Fall ist, dann ist das sehr bedauerlich - das sehe ich auch so -, aber es ist rechtlich nicht zu beanstanden. Ich komme immer wieder darauf zurück: Der Bund hat hier keinen Einfluss. Die Tarifverhandlungen sind Sache der Sozialpartner. Ich sage es aber ausdrücklich: Man muss nicht alles, was man tarifvertraglich machen kann, auch machen. Meine Bitte an alle Beteiligten lautet deshalb, mit den gegenseitigen Vorwürfen aufzuhören, sich an einen Tisch zu setzen und nach einer Lösung zu suchen, die sowohl für die Arbeitnehmer als auch für die Unternehmen sinnvoll ist. ({11}) Wir sind als Bund nicht die Arbeitgebervertretung der Deutschen Post. Wir sind aber genauso wenig die Arbeitnehmervertretung der Deutschen Post. ({12}) Ich hoffe, dass es zeitnah eine gute Lösung gibt. Vielen Dank fürs freundliche Zuhören. ({13})

Ulla Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002019

Vielen Dank. - Nächster Redner ist der Kollege Axel Knoerig, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Axel Knoerig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004073, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Werte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das ist nun schon das dritte Mal, dass die Linke eine Aktuelle Stunde zum Tarifkonflikt bei der Post beantragt. ({0}) Letzte Woche haben Sie eine andere Priorisierung vorgezogen und Ihren Antrag dazu zurückgezogen. ({1}) Auch heute geht es nur um einen Schaufensterantrag, ({2}) der mich an dem politischen Grundwissen der Linken zweifeln lässt. ({3}) Wir müssen immer wieder fragen, inwiefern der Bund hier eine tragende Rolle spielt. Ich wiederhole es gerne und fasse es noch einmal zusammen: ({4}) Erstens. Der Bund ist zwar über die Kreditanstalt für Wiederaufbau mit 21 Prozent an der Post beteiligt, doch er hat keinerlei Einfluss auf das Geschäftsgebaren und die Betriebsorganisation des Unternehmens. ({5}) Zweitens. Dieser Konflikt ist ausschließlich Sache der Tarifpartner. Tarifpartner sind die Deutsche DHL Group und die Gewerkschaft Verdi. ({6}) Drittens. In einer sozialen Marktwirtschaft mischen sich Staat und Politik nicht in Tarifangelegenheiten ein, und das ist auch gut so. Auf Ihr Verlangen hin wollen wir das heute trotz alledem tun. Dabei muss man das Thema genau reflektieren: Die Post hat unter dem Namen DHL Delivery 49 regionale Tochtergesellschaften gegründet. Verdi sieht darin einen Verstoß gegen den laufenden Beschäftigungspakt, der jegliche Fremdvergabe, auch konzernintern, ausschließt. ({7}) Verdi hat daraufhin Tarifverhandlungen abgelehnt. Die Post hat deshalb den Tarifvertrag des Arbeitgeberverbandes SPEDLOG für die Tochterfirmen übernommen. Die Gewerkschaft wertet dies als Flucht aus dem Haustarifvertrag und ist daher nach gescheiterten Verhandlungen in den unbefristeten Streik getreten. ({8}) Fremdvergabe und Tarifflucht - das sind also die Streitpunkte in diesem Konflikt. Dabei sind folgende Fakten zu berücksichtigen: Erstens. Die Paketbranche ist hart umkämpft und zugleich streng reguliert durch die Bundesnetzagentur. Dadurch besteht nur geringer Spielraum in der Preisgestaltung. Da die Post die höchsten Paketpreise hat, muss sie ihre Personalkosten senken, um gegen die billigere Konkurrenz bestehen zu können. ({9}) Zweitens. Traditionell werden bei der Post die höchsten Löhne gezahlt. Im Durchschnitt sind es 17,72 Euro pro Stunde. ({10}) Bei Hermes, GLS und DPD gilt hingegen nur der Mindestlohn. Drittens. Die Mitbewerber - auch das ist entscheidend - erledigen die gesamte Paketzustellung über Fremdvergabe, während die Deutsche Post 95 Prozent ihres Paketgeschäfts selbst verwirklicht. Viertens. Im Vergleich zur Konkurrenz ist die Post auch der attraktivere Arbeitgeber, weil sie unbefristete Arbeitsverträge statt Zeitverträge anbietet. Genauso ist aber auch die Post gefordert, ihre Mitarbeiter am guten Geschäft der letzten Jahre, vor allem bedingt durch den Internetboom, teilhaben zu lassen. Schließlich wurde im Bereich „Post - eCommerce - Parcel“ eine überdurchschnittliche Rendite von 8,3 Prozent erzielt. Von daher kann es nicht sein, dass die DHL-Beschäftigten je nach Region jährliche Verluste von 2 000 bis 5 700 Euro hinnehmen müssen. ({11}) Meine Botschaft an die Deutsche Post lautet deshalb: Wer Marktanteile und Gewinne erhöht, muss auch die Mitarbeiter fair entlohnen und darf keine Zweiklassenbelegschaft schaffen. ({12}) Meine Botschaft an Verdi lautet: Wer erst eine 36-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich fordert und dann wieder zu 38,5 Stunden zurückkehrt, verschenkt mit überzogenen Forderungen gute Argumente. Noch etwas wird in diesem Konflikt deutlich: Tarifverhandlungen mit ehemaligen Staatsbetrieben wie Post, Bahn und Lufthansa sind immer mehr durch härtere Fronten geprägt. In diesem Fall sind bereits sechs Verhandlungsrunden gescheitert. Die langen Auseinandersetzungen schaden nicht nur den betroffenen Branchen, sondern unserer gesamten Wirtschaft. In meinem Wahlkreis haben mittelständische Unternehmen seit Wochen keine Post mehr erhalten. ({13}) Am Freitag werden nun endlich die Gespräche wieder aufgenommen. Das ist sehr gut. Dafür gilt einmal mehr der altbewährte Ratschlag von Ludwig Erhard: Haltet Maß! Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({14})

Ulla Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002019

Vielen Dank. - Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind damit nicht nur am Schluss der Aktuellen Stunde angekommen, sondern auch am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Donnerstag, den 2. Juli 2015, 9 Uhr, ein. Ich wünsche Ihnen allen noch einen schönen Abend. Die Sitzung ist geschlossen.