Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Nehmen Sie bitte Platz. Die Sitzung ist eröffnet.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich begrüße Sie alle
herzlich zu unserer Plenarsitzung. Es gibt eine interfraktionelle Vereinbarung, die heutige Tagesordnung um
eine Vereinbarte Debatte zur Situation nach dem Auslaufen des Finanzhilfeprogramms für Griechenland zu
erweitern und diese gleich als Zusatzpunkt 1 unserer
Tagesordnung mit einer Debattendauer von 125 Minuten, also gut zwei Stunden, aufzurufen. Sind Sie mit dieser Vereinbarung einverstanden? - Das ist offensichtlich
der Fall; also können wir so verfahren.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir führen heute
aus gegebenem Anlass wieder einmal eine Europadebatte. Wir reden über Herausforderungen und Probleme,
die wir gemeinsam bewältigen müssen - im Bewusstsein
einer Verantwortung, die wir für diese Union miteinander haben, die nicht nur eine Wirtschaftsgemeinschaft
und eine Währungsunion ist. Bevor wir über Geld reden
und über Regeln und Verträge, will ich an ein tatsächlich
traumatisches Ereignis der jüngeren europäischen Geschichte erinnern.
Am 11. Juli 1995, also vor fast genau 20 Jahren, fielen serbische Einheiten in die bosnische Enklave
Srebrenica ein und töteten in den darauffolgenden Tagen rund 8 000 muslimische Bosnier, fast ausschließlich
Männer und Jungen zwischen 13 und 80 Jahren, die in
dieser UN-Schutzzone Zuflucht gesucht hatten. Bis zu
25 000 Frauen, Kinder und alte Menschen wurden
zwangsverschleppt.
Die von serbischen Nationalisten trotz Anwesenheit
von UN-Blauhelmsoldaten verübten Massaker waren der
Höhepunkt eines als „ethnische Säuberung“ bezeichneten Vernichtungsprogramms, das auf die Schaffung eines
ethnisch homogenen serbischen Staates zielte. Der
Massenmord an der bosnischen Zivilbevölkerung in
Srebrenica, der inzwischen vom Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien sowie dem Internationalen Gerichtshof als Völkermord beurteilt
worden ist, gilt als das schwerste Kriegsverbrechen in
Europa seit Ende des Zweiten Weltkrieges.
Die damaligen Verbrechen im Südosten unseres Kontinents, außerhalb der Europäischen Union, erinnern uns
auch daran, dass die europäische Idee wesentlich von
dem Bestreben getragen wird, das friedliche Zusammenleben der Völker in Europa zu befördern und zu erhalten.
Dessen sollten wir uns gerade vor dem Hintergrund der
aktuellen, aufreibenden, gelegentlich zermürbenden, sicher lästigen Debatten auf europäischer Ebene und der
wachsenden Kritik an der Europäischen Union bewusst
sein.
({0})
Europa ist auch und vor allem eine Rechtsgemeinschaft
und eine Friedensunion.
({1})
Ich rufe nun den soeben aufgesetzten Zusatzpunkt 1
auf:
Vereinbarte Debatte
zur Situation nach dem Auslaufen des
Finanzhilfeprogramms für Griechenland
Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion
Die Linke vor. Wir haben uns vorhin durch Beschluss
auf die Debattendauer verständigt.
Ich eröffne die Aussprache und erteile der Bundeskanzlerin, Frau Dr. Angela Merkel, das Wort.
({2})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Ohne Zweifel liegen turbulente Tage hinter uns; vor allem aber liegen schwere
Tage hinter den Bürgerinnen und Bürgern Griechenlands, und weitere solche schweren Tage liegen vor ihnen. Sie haben mit einer außergewöhnlich harten Situation zu kämpfen; denn bevor wir über alle weiteren, in
hohem Maße auch technischen Fragen von Programmen
und Zahlen sprechen, müssen wir an die Menschen in
Griechenland denken. Sie sind ein stolzes Volk und haben harte, sehr harte Tage zu bewältigen. Es ist gerade
auch deshalb nicht einfach nur so dahingesagt, wenn ich
wieder und wieder betone: Die Tür für Gespräche mit
der griechischen Regierung war immer offen und bleibt
immer offen. Das sind wir den Menschen schuldig, und
das sind wir auch Europa schuldig.
({0})
Zur Realität, liebe Kolleginnen und Kollegen, gehört
aber auch, zu sagen: Wir haben erlebt, dass Griechenland die Verhandlungen für den erfolgreichen Abschluss
des zweiten Hilfsprogramms einseitig beendet hat, nachdem es sein Referendum für den kommenden Sonntag
angekündigt hat. Wir haben erlebt, dass Griechenland
seiner Verpflichtung nicht nachgekommen ist, die Zahlungen an den IWF fristgerecht zu leisten. Wir haben erlebt, dass das zweite Hilfsprogramm gestern Abend um
24 Uhr ausgelaufen ist.
Mit dem Auslaufen des zweiten Hilfsprogramms ist
den Vorschlägen, die für die Sitzung der Euro-Gruppe
am letzten Samstag auf dem Verhandlungstisch lagen
und die sich auf das zweite Hilfsprogramm bezogen, die
Grundlage entzogen. Um es klar zu sagen: Die Abhaltung eines Referendums ist ein Akt demokratischer
Souveränität Griechenlands. Es ist das legitime Recht
Griechenlands, das zu tun, wann immer sie es wollen,
worüber auch immer sie es wollen und mit welcher
Wahlempfehlung der Regierung auch immer.
({1})
Aber um es genauso klar zu sagen: Es ist ein ebensolcher
Akt demokratischer Souveränität der anderen 18 Mitgliedstaaten der Euro-Gruppe, zu der griechischen Entscheidung ihrerseits eine angemessene Haltung zu entwickeln.
({2})
Es ist ein ebensolches legitimes Recht dieser 18 ebenfalls allesamt demokratisch legitimierten Parlamente und
Regierungen, ihre Haltung festzulegen, und das erst
recht in einer Währungsunion; denn es sind nicht einfach
nur 18 oder 19 Staaten, sondern es sind 19 Staaten mit
einer gemeinsamen Währung, die mit ihrer jeweiligen
Entscheidung immer auch das Wohl und Wehe der anderen, das Wohl und Wehe des Ganzen beeinflussen.
Gestern Abend ging ein Antrag des griechischen Ministerpräsidenten Alexis Tsipras beim Vorsitzenden der
Euro-Gruppe, Jeroen Dijsselbloem, ein mit der Bitte um
ein neues Hilfsprogramm. Die Finanzminister der EuroGruppe haben darüber beraten. Die Bundesregierung hat
sich dazu in folgender Weise verständigt: Wir warten
jetzt das Referendum ab. Vor dem Referendum kann
über kein neues Hilfsprogramm verhandelt werden. Das geht im Übrigen auch gar nicht ohne ein Mandat des
Deutschen Bundestages, weil wir uns jetzt im Rechtsraum des ESM bewegen.
({3})
Meine Damen und Herren, wir können das auch in
Ruhe abwarten; denn Europa ist stark, viel stärker als
vor fünf Jahren zu Beginn der europäischen Staatsschuldenkrise, die in Griechenland ihren Ausgang nahm. Wir
sind stärker dank der Reformpolitik der letzten Jahre, die
maßgeblich auch auf die Haltung Deutschlands zurückzuführen ist. Heute müssen die anderen 18 Mitgliedstaaten keine ökonomische Katastrophe mehr befürchten,
weil Griechenland in Turbulenzen geraten ist. Wir haben
Schutzvorkehrungen getroffen, an die im Februar 2010
noch nicht einmal im Ansatz zu denken war. Wir haben
eine EFSF, wir haben einen Europäischen Stabilitätsmechanismus, den ESM, wir haben einen Fiskalpakt, und
wir haben eine Bankenunion, die nicht nur eine gemeinsame Bankenaufsicht beinhaltet, sondern auch Mechanismen für eine Bankenabwicklung. Europa ist robuster
geworden, und deshalb ist die heutige Lage zwar ohne
Zweifel eine große Herausforderung für uns; aber eine
Qual ist sie vor allem für die Menschen in Griechenland.
Das führt uns zum Kern der aktuellen Herausforderungen. Es geht nicht um 400 Millionen Euro oder
1,5 oder 2 Milliarden Euro,
({4})
um die vielleicht noch zwischen Institutionen der EuroGruppe und Griechenland gerungen wurde; man hört unterschiedliche Summen. Alle diese Summen sind zwar
sehr große Beträge, aber sie alle stellten tatsächlich
keine unüberwindbare Hürde dar. Nein, darum geht es
nicht.
({5})
Es geht - vom ersten Tag der Griechenland-Krise bis
heute - immer um eine grundsätzliche Frage:
({6})
Europa ist eine Schicksalsgemeinschaft, und als solche
zeichnet sie sich als eine Rechtsgemeinschaft, als Verantwortungsgemeinschaft aus. Das Wesen dieser Rechtsund Verantwortungsgemeinschaft ist die Fähigkeit zum
Kompromiss. Jeder muss sie aufbringen, Griechenland
genauso wie Deutschland, wie Frankreich und wie alle
anderen. Eingegangen werden kann ein Kompromiss
dann, wenn die Vorteile die Nachteile überwiegen. Sonst
gehe ich, sonst geht die Bundesregierung jedenfalls einen Kompromiss nicht ein. Denn ein Kompromiss um
jeden Preis wäre nur ein Ergebnis um des Ergebnisses
willen, nur weil man mit einem Konflikt nicht leben
kann, weil man Angst vor der Austragung des Konflikts
hat, zum Beispiel dem eines Mitglieds der Euro-Zone
mit den 18 anderen.
Es kann kein Zweifel bestehen: Verlöre Europa die
Fähigkeit zum Kompromiss, bei dem die Vorteile die
Nachteile überwiegen, dann wäre Europa verloren. Aber
genauso sage ich klipp und klar: Ein guter Europäer ist
nicht der, der eine Einigung um jeden Preis sucht. Ein
guter Europäer ist vielmehr der, der die europäischen
Verträge und das jeweilige nationale Recht achtet und
auf diese Weise hilft, dass die Stabilität der Euro-Zone
keinen Schaden nimmt.
({7})
Gemäß diesem Verständnis Europas als Rechts- und Verantwortungsgemeinschaft verfolge ich und verfolgt die
Bundesregierung bei allen Entscheidungen und Programmen der Euro-Zone zur Bekämpfung der Schuldenkrise von Beginn an immer ein Ziel, und zwar, eine neue
Stabilitätskultur in Europa zu schaffen.
({8})
2010 standen wir an einer Weggabelung: Soll die
Wirtschafts- und Währungsunion eine Transferunion mit
Euro-Bonds und Ähnlichem werden oder eine Stabilitäts- und Wachstumsunion mit Solidarität und Eigenverantwortung, Leistung und Gegenleistung?
({9})
Wir haben uns für die Stabilitätsunion entschieden, weil
es immer um die einzelnen Länder geht, aber auch immer um die Wirtschafts- und Währungsunion als Ganzes.
({10})
Wir haben uns für eine Stabilitätsunion entschieden,
({11})
weil es immer auch um unseren Platz in der Welt geht:
ökonomisch und sozial, mit unseren Interessen und vor
allem mit unseren Werten.
({12})
Um es einfach zu sagen: Auch Deutschland geht es auf
Dauer nur dann gut, wenn es auch Europa gut geht,
meine Damen und Herren.
({13})
Natürlich gingen auch mit einer Transferunion in
Europa wahrlich nicht die Lichter aus. Es ließe sich vielleicht sogar eine Zeit lang ganz ordentlich leben. Aber
dauerhaft erfolgreich in der Zukunft, in 10, 20 oder
30 Jahren, wären wir nicht mehr. Wir wollen das aber
sein, und wir wollen für unsere Werte in einer globalen
Welt einstehen können.
({14})
Ich will nicht, dass wir irgendwie durch die Krise kommen, möglichst schnell Ruhe bekommen, und gut ist es.
Ich will, dass Europa stärker aus der Krise herauskommt, als es in diese Krise hineingegangen ist,
({15})
damit wir im Wettbewerb mit China, Indien, Südamerika
und anderen stark sind, damit wir unsere Interessen, unsere Art, zu wirtschaften, zu arbeiten, zu leben, und unsere Werte - Freiheit, Menschenwürde, Rechtsstaatlichkeit - überzeugend vertreten können.
({16})
Darum geht es und nicht darum, ob eine Differenz von
400 Millionen Euro, 1,5 oder 2 Milliarden Euro überwindbar wäre oder nicht. Darum geht es, wenn wir entscheiden müssen, ob wir Verhandlungen über ein neues
Hilfsprogramm für Griechenland auf der Grundlage von
Solidarität und Eigenverantwortung und unter Einbeziehung der drei Institutionen, also der Europäischen Kommission, der Europäischen Zentralbank und des Internationalen Währungsfonds - nach dem Referendum und
nicht vorher - in Erwägung ziehen. Ob es einen Kompromiss geben kann, bei dem die Vorteile die Nachteile
überwiegen, das müssen wir zu gegebener Zeit entscheiden. Darum geht es auch, wenn wir die wirtschaftspolitische Koordinierung der Mitgliedstaaten der Wirtschafts- und Währungsunion stärken müssen und die
Gründungsfehler der Wirtschafts- und Währungsunion
beheben wollen.
Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen, ja, es
sind turbulente Tage. Es geht auch tatsächlich um viel.
Die Welt schaut auch auf uns. Aber die Zukunft Europas,
die steht nicht auf dem Spiel. Die Zukunft Europas
stünde auf dem Spiel, wenn wir vergessen würden, wer
wir sind und was uns stark macht: eine Rechts- und Verantwortungsgemeinschaft.
({17})
Würden wir das vergessen, dann wäre der Euro gescheitert und mit ihm Europa.
Die Rechts- und Verantwortungsgemeinschaft Europa, die Wertegemeinschaft Europa, sie ist stark, und
sie ist robust. Und ich habe es wieder und wieder gesagt:
Die Überwindung der europäischen Staatsschuldenkrise
braucht Zeit und einen langen Atem. Aber hinterher wird
Europa stärker sein als zu Beginn. Dafür bitte ich weiterhin um Ihre Unterstützung.
({18})
Für die Fraktion Die Linke hat nun der Kollege
Gregor Gysi das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die europäische Einigung war eine Lehre, die aus dem Verhängnis des Zweiten Weltkrieges und der deutschen Nazi10958
diktatur gezogen wurde. Man wollte Europa einigen,
auch Deutschland einbinden, und das Ganze sollte zu
Frieden, Demokratie, sozialer Wohlfahrt, wirtschaftlicher Entwicklung und später auch ökologischer Nachhaltigkeit führen. Das sind die gemeinsamen Grundwerte, für die dieses Europa stehen sollte.
Aber Europa wurde zutiefst erschüttert - schon früher, aber erst recht durch die Finanz- und Bankenkrise
vor sieben Jahren - und hat sich bis heute nicht erholt.
Aus der Bankenkrise wurde eine Staatsschuldenkrise,
von Griechenland bis Deutschland, weil Privatbanken in
Europa mit Steuergeldern in Milliardenhöhe gestützt
wurden. Die Rettungspakete galten nie den Bürgerinnen
und Bürgern, sondern immer den Banken.
({0})
Auch bei uns wurden 480 Milliarden Euro binnen einer
Woche für die Rettung der Banken beschlossen. Wenn
man mal 1 Million Euro für einen kulturellen oder sozialen Zweck braucht, dann bekommt man ein Nein, aber
bei den Banken gibt es immer nur ein Ja.
({1})
Ich habe Ihnen zugehört, Frau Bundeskanzlerin. Ihre
Rede kann ich wie folgt zusammenfassen: Die griechische Regierung hat alles falsch gemacht, und Sie, Herr
Schäuble und die europäischen Institutionen, also der Internationale Währungsfonds, die Europäische Kommission und die Europäische Zentralbank, haben alles richtig gemacht.
({2})
Glauben Sie das wirklich?
({3})
Ich bin auch nicht unkritisch gegenüber der griechischen
Regierung, aber die Art, wie Sie sich beweihräuchern, ist
einseitig und völlig daneben.
({4})
Die drei von mir genannten Institutionen haben, wie
bereits gesagt, 90 Prozent der Hilfsgelder in Höhe von
über 240 Milliarden Euro in die Rettung der griechischen
Privatbanken gesteckt. Dieses Geld kam den Gläubigern
zugute. Gläubiger dieser Privatbanken waren übrigens
auch deutsche und vor allem französische Banken. Dort
ist das Geld hingeflossen. Warum konnte man die griechischen Banken nicht einfach pleitegehen lassen? Dann
hätten die Großgläubiger und Großaktionäre eben zahlen
müssen, weil sie sich einfach verzockt haben, und man
hätte den Bürgerinnen und Bürgern und den kleinen und
mittelständischen Unternehmen ihre Guthaben erstatten
können. Das hätte man machen können. Das wäre ein
vernünftiger Weg gewesen.
({5})
Aber Sie sind einen anderen Weg gegangen. Für diesen anderen Weg haben Sie Bedingungen festgelegt - für
Griechenland, für Spanien, für Portugal, für Irland und
für Zypern. Die Bevölkerungen dieser Länder mussten
das bezahlen. Der Preis war hoch, und zwar überall; aber
besonders dramatisch war es in Griechenland.
({6})
Ich sage es Ihnen noch einmal - seit sechs Jahren haben
wir die Krise in Griechenland -: Rückgang der Wirtschaftsleistung, die angeblich angekurbelt werden sollte,
um 25 Prozent; Anstieg der Arbeitslosigkeit auf 25 Prozent, Anstieg der Jugendarbeitslosigkeit auf über 50 Prozent; Zusammenbruch des Gesundheitssystems; Kürzungen der Renten um 40 Prozent, Senkungen der Löhne
um 30 Prozent; Suppenküchen über Suppenküchen. Und
das genügt Ihnen nicht? Es muss noch weiter runtergehen? Das ist Ihre Vorstellung von Europa? Frau Merkel,
Herr Gabriel und Herr Schäuble, ich finde, das ist ein
Skandal, und Sie tragen daran eine gewaltige Mitschuld.
({7})
Außerdem ist die Staatsschuldenquote von 127 Prozent vor Ausbruch der Krise auf jetzt knapp 180 Prozent
der Wirtschaftsleistung gestiegen. Jeder fragt sich: Wie
soll das eigentlich je zurückgezahlt werden? Der Kurs
der Kürzungspolitik von Troika und Bundesregierung ist
einfach gescheitert.
({8})
Die Ergebnisse, die Sie versprochen haben - mehr Wettbewerbsfähigkeit und was weiß ich -, sind nicht eingetreten.
({9})
- Ja, ja, wir haben hier eine Arbeitsteilung; das kann ich
Ihnen sagen. Ich frage Sie einmal, wann diese drei europäischen Institutionen endlich einmal die Verantwortung
für das übernehmen, was sie anrichten.
({10})
Wissen Sie, das Ganze ist so organisiert: Für die verfehlte Politik werden die nationalen Regierungen zur
Verantwortung gezogen, gegebenenfalls auch von den
Wählerinnen und Wählern abgestraft, während die eigentlich Verantwortlichen in der Europäischen Kommission, im Internationalen Währungsfonds und in der
Europäischen Zentralbank, die nicht demokratisch legitimiert sind, ungestraft davonkommen. Das kann so nicht
bleiben. Wenn man Europa will, muss man auch ein verantwortliches Europa wollen.
({11})
Nun hat sich die Situation dramatisch zugespitzt - das
stimmt -: Erstmals in der Geschichte ist eine Kreditrückzahlung an den IWF ausgesetzt worden. Die griechische
Regierung und das griechische Parlament haben für den
5. Juli 2015 ein Referendum über die Zustimmung oder
Ablehnung des jüngsten, ultimativen Spardiktats beschlossen und nicht, wie Sie, Herr Gabriel, es fälschlicherweise behaupten, über den Verbleib im Euro-Raum.
Niemand darf nach geltendem Recht ein Land aus dem
Euro werfen.
({12})
Es gibt allerdings die Gefahr des Staatsbankrotts und natürlich die Gefahr des Austritts Griechenlands aus dem
Euro-Raum. Diese Gefahr besteht.
Herr Gabriel, Sie haben ein kurzes Gedächtnis: Anfang September 2011 wollte die Regierung Ihrer Schwesterpartei, der Pasok, unter dem damaligen Chef
Papandreou wegen der Sparpolitik, die aus Europa kam,
ein Referendum durchführen, und zwar, weil die Konservativen nicht zustimmen wollten. In Berlin und beim
IWF war man fassungslos. Man drohte Griechenland mit
einer ungeordneten Insolvenz. Der IWF drohte sogar mit
einem Zahlungsstopp. Papandreou wurde gestürzt, das
Referendum durfte nicht stattfinden, und die Schwesterpartei der Union, die Nea Dimokratia, bot sich willfährig
an, die drastische Kürzungspolitik umzusetzen. Nachher
haben es Nea Dimokratia und Pasok zusammen gemacht. - Aber wie reagierte damals die SPD auf den
Entschluss Papandreous? Martin Schulz, heute Präsident
des Europäischen Parlaments, erklärte, dass er großes
Verständnis für das Referendum habe, der Regierung
bleibe gar nichts anderes übrig. Sie, Herr Gabriel, erklärten ebenfalls, dass Sie das Referendum befürworten.
Wissen Sie, was ich mich frage: Wieso gilt Ihrer Meinung nach etwas für Pasok, aber nicht für Syriza?
({13})
Oder ist Ihr neuer Sitzplatz der Grund für den Sinneswandel? Damals saßen Sie dort unten, im Plenum, und
jetzt sitzen Sie dort oben, auf der Regierungsbank. Wenn
es an dem anderen Sitzplatz liegt, ist Ihre Politik höchst
unglaubwürdig.
({14})
Es gibt jetzt Kritik an dem Zeitpunkt der Entscheidung für das Referendum. Zum Zeitpunkt muss ich aber
Folgendes sagen: Tsipras, die griechische Regierung und
das griechische Parlament können nicht irgendein Zwischenergebnis der Verhandlungen zur Abstimmung stellen, sondern nur ein Ultimatum. Da kann man sagen:
Sollen wir das annehmen oder nicht annehmen? Deshalb
ist der Zeitpunkt richtig gewählt. Aus der Sicht der griechischen Regierung ist er, wenn Sie so wollen, gar nicht
klug. Die Banken sind geschlossen. Die Leute stehen an.
Man weiß gar nicht, wie sich die Stimmung bis Sonntag
noch verändert. Aber es blieb ihnen erst einmal nichts
anderes übrig.
({15})
- Ich will Ihnen das erklären, damit Sie es verstehen;
versuchen Sie es doch einmal. - Sie dürfen eines nicht
vergessen: Wenn er zu dem Ultimatum Ja gesagt hätte,
dann hätte er seiner Bevölkerung sagen müssen: Ich breche alle Wahlversprechen. Das mag ja in Deutschland
Mode sein, aber in Griechenland nicht, um es einmal
ganz klar zu sagen.
({16})
Für die Beendigung der Austeritätspolitik hat doch
Syriza bei der Wahl so viele Stimmen bekommen. Wenn
Sie der griechischen Bevölkerung sagen: „Ihr könnt
wählen, was ihr wollt, wir sorgen dafür, dass immer die
gleiche Politik fortgesetzt wird“, dann ist das ein Angriff
auf die Demokratie und auf demokratische Wahlen.
({17})
Herr Gabriel, wenn Sie davon sprechen, dass die
deutschen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nicht
für die aus Ihrer Sicht falsche Politik der griechischen
Regierung bezahlen dürfen, ist das auch völlig daneben.
Wo bleibt eigentlich die Solidarität der SPD mit dem
griechischen Volk, aber auch mit unseren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern?
({18})
Ich sage Ihnen: Wenn der Euro scheitert, dann kostet uns
das sehr viel Geld. Wenn eine Staatspleite Griechenlands
kommt, haften wir dank Ihrer Unterschrift - wir waren ja
dagegen, aber Sie haben die Bürgschaften unterschrieben - mit 27 Prozent für die Schulden Griechenlands.
Das macht über 80 Milliarden Euro. Es kann ja sein,
Herr Schäuble, wie Sie richtig sagen, dass dies nicht sofort fällig wird, sondern nach und nach. Das ist ganz
egal. Bezahlen müssen wir es. Das müssen Sie den deutschen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern einmal sagen. Wir wollen sie davon nämlich befreien.
({19})
Aber Sie mussten sich ja von der Kanzlerin belehren lassen, dass solche Äußerungen völlig kontraproduktiv
seien. Die Tatsache, dass die Kanzlerin Sie korrigiert,
spricht ja nun auch für sich.
Die Kernfrage - da haben Sie recht, Frau Bundeskanzlerin - ist nicht die Frage der Schulden und auch
nicht die Frage des Geldes,
({20})
sondern es geht um Macht und Demokratie.
({21})
Das hat der amerikanische Wirtschaftsnobelpreisträger
Joseph Stiglitz auf den Punkt gebracht. Es geht um die
Souveränität eines Landes, das Mitglied der Euro-Zone,
Mitglied der Europäischen Union, Mitglied der NATO
und Mitglied der Organisation der Vereinten Nationen
ist.
Übrigens sollten auch die Verteidigungsausgaben gekürzt werden. Das war ja interessant. Es gab einen Vorschlag der griechischen Regierung. Dann hat die Troika
mehr vorgeschlagen. Was sagt jetzt Herr Stoltenberg,
Generalsekretär der NATO? Das käme überhaupt nicht
infrage. Alle NATO-Staaten müssten die Ausgaben erhöhen, auch Griechenland, und dürften sie nicht senken.
({22})
Mich würde interessieren, was denn nun gilt.
Die ganzen bisherigen Auflagendiktate haben schwer
in die Innenpolitik der betroffenen Länder eingegriffen.
In Portugal und jetzt in Griechenland haben die dortigen
Verfassungsgerichte Auflagen gestoppt, weil sie gegen
die dortigen Verfassungen verstießen. Selbst um Verfassungen also scheren sich die demokratisch durch niemanden legitimierten Vertreter der Troika nicht.
Frau Bundeskanzlerin, Sie haben gesagt, Europa basiere auf dem Recht, und das Recht müsse eingehalten
werden, und haben der griechischen Regierung vorgeworfen, das Recht zu verletzen. Darf ich daran erinnern,
dass die erste schwerwiegende Rechtsverletzung vor elf
Jahren unter Rot-Grün durch Deutschland begangen
wurde, als man gegen die Schuldenkriterien verstieß? Das war Europarecht. Der Maastrichter Vertrag ist verletzt worden. Damals wollte die EU-Kommission einen
blauen Brief schreiben und wegen der Verstöße bei der
Überschreitung der Schuldengrenze sogar Strafzahlungen festlegen. Das hat man sich dann aber letztlich bei
Deutschland und später auch bei Frankreich nicht getraut. Aber gegen Griechenland muss alles angewandt
werden. Das müssen Sie auch erst einmal erklären.
({23})
Vor fünf Monaten begannen die Verhandlungen der
drei Institutionen mit der neuen griechischen Regierung.
Die neue griechische Regierung wollte erklärtermaßen
die gescheiterte Kürzungspolitik beenden. Dagegen
stellten sich, wie Sie sagen, alle 18 Regierungen. Sie haben recht: Um die 400 Millionen Euro ging es nicht. Sie
wollen die linke Regierung in Griechenland beseitigen.
Das ist Ihr Ziel.
({24})
Ich werde es Ihnen beweisen. Die Frage ist, welche Mittel und Wege Ihnen dafür recht sind.
Außerdem ging es noch um eine andere Frage; bei
dieser können Sie zumindest zuhören. Es ging um die
Frage der Bedingungslosigkeit. Sowohl die Bundeskanzlerin als auch Herr Gabriel als auch Herr Schäuble haben
gesagt, die wollten einen Kredit bedingungsfrei, und
man zerstöre den Euro, wenn man das bedingungsfrei
mache.
Worum ging es aber wirklich? Es ging darum, dass
ein Betrag von 29 Milliarden Euro vom IWF zum Europäischen Stabilitätsmechanismus, ESM, umgeschichtet
werden sollte, weil man in dem einen Fall 4 Prozent und
in dem anderen Fall nur 1 Prozent Zinsen zahlen muss.
Herr Schäuble, alle Schwäbinnen und Schwaben und
alle Berlinerinnen und Berliner würden das auch so machen und statt 4 Prozent lieber nur 1 Prozent Zinsen zahlen. Das ist auch gar nicht weiter schlimm; damit ist man
sogar einverstanden. Aber für das Umswitchen braucht
man vorübergehend einen kleinen Umswitchungskredit.
Daran wollen Sie weitere Bedingungen zum Sozialabbau
knüpfen. Die griechische Regierung hat gesagt: Wenn
wir schon so viele Kompromisse eingehen müssen, dann
macht doch das bedingungsfrei. - Ich kann darin keine
Gefährdung des Euro sehen, ganz im Gegenteil. Darauf
hätten Sie meines Erachtens eingehen müssen.
({25})
Der Weg des Ultimatums war meines Erachtens
falsch.
({26})
Man hätte weiterverhandeln müssen. Ich sage nicht, dass
die griechische Regierung nicht auch Fehler begangen
hat.
({27})
Ich weiß, dass sie gerade neue Vorschläge unterbreitet.
Ich kann Ihnen sagen, was mich zum Beispiel stört:
dass es noch keinen Vorschlag gibt, eine Steuer für die
wirklich Reichen in Griechenland zu erheben. Es wird
höchste Zeit!
({28})
Aber auch Ihre geliebte Troika hat dazu keinen Vorschlag unterbreitet.
({29})
Ganz im Gegenteil - hören Sie zu -: Die griechische Regierung hat vorgeschlagen, dass Gewinne über 500 000
Euro ein einziges Mal mit einer Zusatzabgabe belastet
werden. Da sagte die Troika: Nein, das kommt überhaupt nicht infrage. - So sieht Ihre Troika aus, um auch
das einmal ganz klar zu sagen.
({30})
Die Regierung hatte 48 Stunden Zeit und hat dann
entsprechend reagiert. Ich habe es vorhin schon gesagt:
Ein Grexit, ein Austritt Griechenlands aus dem Euro,
wäre aus mehreren Gründen katastrophal.
({31})
- Nein, das hat auch Frau Wagenknecht nicht gefordert;
({32})
Sie müssen das richtig lesen. Der Journalist hat sich geirrt
({33})
und sich inzwischen entschuldigt.
({34})
- Hat sich bei Ihnen in den letzten 20 Jahren noch nie ein
Journalist geirrt? Erzählen Sie mir hier nicht einen solchen Blödsinn. Das kann ich ja gar nicht mehr nachvollziehen.
({35})
Noch einmal zum Grexit. Er kann eine Kettenreaktion
auslösen; das können wir alle gar nicht einschätzen. Wissen Sie genau, was danach passiert? Wir alle tun immer
so oberschlau, können das aber gar nicht einschätzen.
({36})
- Ja, auch ich. Aber bei mir stimmt es wenigstens ein
bisschen.
({37})
Aber davon einmal abgesehen - jetzt im Ernst -: Wir
können die Folgen gar nicht genau einschätzen. Wenn es
zu einer Kettenreaktion kommt und der Euro tot ist,
dann, sage ich Ihnen, sind wir die Leidtragenden. Ich
sage Ihnen auch, warum.
Die Situation ist nicht dieselbe, die wir vor der Einführung des Euro hatten; sie ist eine ganz andere. All die
anderen Währungen - Franc, Peseta, Drachme - wären
heute nichts wert. Die Deutsche Mark hätte einen sehr
hohen Wert. Die anderen Länder würden nicht auf uns
eingehen und sagen: Wir vereinbaren mit euch feste
Wechselkurse. - Warum? Sie würden die Billigkeit ihrer
Währungen nutzen, um mehr exportieren zu können.
({38})
Unser Export bricht dann zusammen; das ist das Problem. Massenarbeitslosigkeit etc. wären die Folgen.
Also geht das nicht.
Eine Frage interessiert mich wirklich sehr: Wie weit
können die Eingriffe in die Innenpolitik eigentlich gehen? Man kann sich über das Ziel verständigen. Wenn
man Finanzhilfen gewährt, welcher Art auch immer,
muss es Bedingungen geben, um die Rückzahlung zu gewährleisten.
({39})
Aber den Weg müssen alleine das Parlament und die Regierung des Landes bestimmen, nicht die Troika, wie es
die letzten Jahre der Fall war. Das ist Ihr großer Fehler
und Ihr großer Irrtum.
({40})
Stellen Sie sich einmal vor, Deutschland wäre in einer
solchen Krise, die Troika gäbe uns solche Bedingungen
vor und würde fordern: Rentenkürzung um 30 Prozent,
hier kürzen, dort kürzen. - Glauben Sie, das würden wir
uns bieten lassen? Aber anderen soll man das antun?
Man sollte anderen nie etwas antun, was man sich selber
nicht bieten lassen würde.
({41})
Deshalb sage ich Ihnen: Wir brauchen nicht weniger,
sondern sogar mehr Europa. Wir brauchen aber ein anderes Europa, eine gemeinsame Wirtschafts-, Finanz-, Sozial-, Steuer- und Ökologiepolitik.
({42})
- Wissen Sie, Ihr Hass auf die Linken ist gar nicht nachvollziehbar. Warum sind Sie eigentlich Mitglied der SPD
geworden? Ich kann nur sagen: Setzen Sie sich doch
gleich zur Union, Herr Kahrs.
({43})
Wir müssten festschreiben, dass es in Europa immer um
soziale Wohlfahrt und Steuergerechtigkeit gehen muss
und nicht das Gegenteil herbeigeführt werden darf, wie
es in den letzten Jahren geschehen ist.
Die Kommentare, die ich zurzeit lese, sind zum Teil
sehr von Hass und Feindseligkeit geprägt. Dagegen sollten wir in gemeinsamer Verantwortung etwas tun.
({44})
Das können wir - auch in Anbetracht unserer Geschichte überhaupt nicht gebrauchen.
Ich leugne nicht, dass die Griechinnen und Griechen
am nächsten Sonntag vor einer schweren Entscheidung
stehen. Sie können einerseits der Regierung das Vertrauen aussprechen, sie können sich auch für das Gegenteil entscheiden.
({45})
Beides hat für sie Vor- und Nachteile. Eines aber geht
nicht: Es gibt immer neue Angebote der griechischen
Regierung, Frau Bundeskanzlerin. Die französische und
die österreichische Regierung wollen gleich mit denen
sprechen - egal ob es um ein drittes Paket oder worum
auch immer geht. Sie aber sagen: Erst nach dem Sonntag. - Sehen Sie, das ist der Beweis; denn Sie hoffen,
dass am Sonntag die Regierung stürzt. Deshalb wollen
Sie vorher nicht mit ihr sprechen. Das geht nicht! Das ist
verantwortungslos! Ich muss es Ihnen so deutlich sagen.
({46})
Wissen Sie, Herr Schäuble, ich habe es Ihnen gesagt
und möchte es, um auch einmal Verständnis zu zeigen,
gerne wiederholen: Da wird also eine linke Regierung
gewählt, die Sie nicht mögen.
({47})
Das verstehe ich. Wenn ich in Ihrer Situation wäre und
irgendwo anders würde eine erzkonservative Regierung
gewählt werden, dann würde ich die ja auch nicht mögen. - Sie sollen der entgegenkommen. Dazu haben Sie
keine Lust. Ich hätte auch keine Lust, einer erzkonservativen Regierung entgegenzukommen.
({48})
- Hören Sie mir doch einmal einen Moment zu! - Sie sagen sich: Wenn wir Kompromisse mit Griechenland machen, müssen wir die auch mit Spanien und Portugal machen. - Ich würde ebenfalls sagen: Wenn ich mit einer
erzkonservativen Regierung Kompromisse mache, muss
ich das, was ja nicht angenehm ist, auch mit anderen
Ländern machen.
Dann sagen Sie sich: Wenn wir das alles machen,
werden auch die Linken in den anderen Ländern gewinnen, weil die in Griechenland erfolgreich waren. - Auch
ich würde das sagen: Wenn ich all das mache, werden in
den anderen Ländern die Erzkonservativen gewinnen,
weil die erfolgreich waren.
So weit kann ich das verstehen. Dann aber, Herr
Schäuble, muss Ihr politisches Verantwortungsbewusstsein beginnen. Das heißt: Wir können uns einen Crashkurs nicht leisten. Ich hätte dann gesagt: Ich komme der
erzkonservativen Regierung entgegen, auch wenn ich
mir Ärger in den eigenen Reihen einhandele. - Den Mut
hatten Sie nicht. Aber das verlange ich von Ihnen, weil
die Frage viel zu wichtig ist.
({49})
Als Letztes: Frau Merkel, Sie tragen in diesen Tagen
eine gewaltige historische Verantwortung. Finden Sie in
letzter Sekunde noch eine Lösung! Sie haben die
Chance, entweder als Retterin oder als Zerstörerin der
europäischen Idee in die Geschichte einzugehen.
({50})
- Ja, als Zerstörerin! - Ich wünsche Ihnen, mir und vor
allem unserer Bevölkerung, dass Sie sich doch noch endlich entschließen, zu einer Retterin zu werden.
Danke schön.
({51})
Das Wort erhält nun der Kollege Sigmar Gabriel.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zuerst, Herr Gysi,
will ich Ihnen beantworten, warum wir da sitzen: Weil
wir seit 1925 die Vereinigten Staaten von Europa verteidigen und für Demokratie und Freiheit in Europa eingetreten sind, als Nationalsozialisten und Kommunisten
uns dafür noch verfolgt haben. Deswegen sitzen wir da.
({0})
Das ist der Grund, warum ich heute als Vorsitzender der
SPD und für die SPD-Bundestagsfraktion spreche.
Noch ein paar Bemerkungen zu Ihnen, Herr Gysi.
Links, das ist für mich immer aufklärerisch und emanzipiert gewesen - und nicht rabulistisch. Jetzt erkläre ich
Ihnen einmal, warum ich bis heute der Meinung bin,
dass es gut gewesen wäre, das Referendum von Herrn
Papandreou damals anzunehmen, und wo der Unterschied zum heutigen ist. Papandreou hat dafür geworben, dass die durchaus harten Bedingungen der EuroZone als Voraussetzung für Hilfspakete in Griechenland
angenommen werden.
({1})
Er hat sich zu Europa verhalten und nicht dagegen. Das
ist der Unterschied.
({2})
Ich bin immer noch der Meinung, dass es das gute
Recht der Griechen ist, ein Referendum abzuhalten. Die
Frage ist nur - das frage ich mich, da es seit gestern einen Brief gibt mit dem Vorschlag, über das zu verhandeln, wogegen sich das Referendum nach Auffassung
der griechischen Regierung richtet -, was der Sinn des
Referendums ist. Das müssen Sie erklären.
({3})
Noch eine Bemerkung dazu, warum ich glaube, dass
es bei der Frage, wie wir mit der Krise umgehen, auch
um deutsche Arbeitnehmer, Rentner und Familien geht.
Seit Monaten fließen Milliarden Euro aus Griechenland
ins Ausland ab - wohl kaum von den armen Menschen
Griechenlands, wohl eher von den wohlhabenden.
({4})
Woher kommt das Geld? Dieses Geld kommt von der
Europäischen Zentralbank. Wer bürgt für dieses Geld?
Das sind unter anderem die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland und im Rest der Euro-Zone.
Ich sage Ihnen: Ich halte es für einen Skandal, dass eine
angeblich linke Regierung es zulässt, dass die Wohlhabenden des Landes das Geld außer Landes schaffen, aber
nicht einen Antrag in Europa gestellt hat, um die Reichen, die keine Steuern zahlen, zu belangen, indem man
ihre Konten in den Ländern, in die sie ihr Geld bringen,
einfriert. Nichts ist getan worden. Unsere Leute haften
für die Untätigkeit Ihrer politischen Freunde in Griechenland.
({5})
Eigentlich dachte ich: In der Tat - da hat der Herr
Gysi recht - macht es Sinn, ein bisschen nachdenklich
über die Frage zu sprechen, was da eigentlich los ist, was
mit Herrn Gysi im Raum schwierig ist.
({6})
- Meine Bemerkungen dazu mache ich unter der Überschrift „Wie man in die SPD hineinruft, so antwortet der
Vorsitzende“. Das ist das, was ich gemacht habe.
({7})
- Das müssen Sie ertragen. Frau Kollegin von den Grünen, wenn Sie sich mit den Argumenten der Linken einig
machen, dann ist das Ihre Angelegenheit. Bisher habe
ich Sie anders verstanden.
({8})
Was alle im Hause eint, ist doch, dass wir merken,
dass Europa vor der größten Herausforderung seit den
Römischen Verträgen steht, und zwar nicht wegen der
Finanzlage in Griechenland, sondern weil sich die Entwicklung in Europa nach 60 Jahren zum ersten Mal umkehrt. Nach 60 Jahren, in denen unsere Eltern und Großeltern überall in Europa die Integration vorangetrieben
haben, erleben wir derzeit, dass das Gegenteil passiert:
Europafeindliche, rechtspopulistische Parteien sind nicht
nur in den Parlamenten, sondern auch in den Regierungen. Europa versagt derzeit in einer Frage, die vielleicht
viel bedeutsamer als die ist, über die wir heute reden,
nämlich wie wir mit Flüchtlingen auf unserem Kontinent
umgehen.
({9})
Hier sind wir übrigens dabei, unsere humane Orientierung in Europa zu verlieren. Das ist schlimmer, als Geld
zu verlieren.
({10})
Ich glaube, dass Griechenland nur ein Teil dieser Entwicklung ist und dass wir in den nächsten Monaten und
Jahren viel dazu beitragen müssen, diese Schubumkehr
wieder rückgängig zu machen und wieder zu mehr und
besserer Zusammenarbeit zu kommen. Gerade wir Deutschen, die wir die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Gewinner der europäischen Einigung sind, haben
dabei natürlich eine besondere Aufgabe. Dafür braucht
es Verantwortungsbewusstsein und Mut.
Ich sage das am Anfang meiner Rede, weil die meisten hier wie auch ich angesichts der monatelangen Debatte und der Verwirrungen - auch der letzten Tage - in
unseren Wahlkreisen und überall da, wo wir mit Menschen reden - auch in den Medien -, eher mit dem konfrontiert werden, was die Leute zu uns sagen: Was soll
der Quatsch? Lieber ein Ende mit Schrecken! Hört doch
auf! Lasst euch nicht am Nasenring durch die Arena führen! - Trotz der Tatsache, dass viele Unverständnis darüber haben, was in Europa passiert, trotz allen Ärgers
und trotz aller Volten in der Politik der griechischen Regierung in den letzten Tagen dürfen wir uns von diesem
Verantwortungsbewusstsein und von dem Mut zur Zusammenarbeit in Europa nicht abbringen lassen.
({11})
Deshalb gilt: Was immer diese Woche bringen mag,
welche Wendung die griechische Politik bereithalten und
was auch immer das Ergebnis des Referendums sein
mag, bin ich mir sicher: Wir werden Lösungen finden.
Weder Europa noch der Euro sind dadurch in Gefahr.
Der Euro ist und bleibt eine stabile Währung, jedenfalls
dann, wenn wir die Regeln und Prinzipien der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion einhalten. Genau darauf haben die 18 Mitgliedstaaten in den letzten
Monaten und in der letzten Woche geachtet, meine Damen und Herren. Dabei wird es auch bleiben. Deshalb
bleibt der Euro stabil. Deshalb wird auch Europa, jedenfalls was die Finanzen angeht, nicht in Instabilität geraten.
Wenn wir uns heute erneut mit der Entwicklung in
Griechenland beschäftigen, dann doch vor allen Dingen
wegen der Lage der Menschen in diesem Land. Auch da
gilt: Was immer geschieht, alle in diesem Haus und die
allermeisten Menschen in Deutschland - da bin ich sicher - werden diesem Land und seinen Menschen auch
in Zukunft helfen wollen. Das werden wir unter Beweis
stellen.
({12})
Natürlich sind die 18 Mitgliedstaaten, auch Deutschland, zu neuen Verhandlungen und Gesprächen bereit.
Aber der Konflikt um die staatlichen Finanzen Griechenlands und die Politik der Euro-Zone ist mehr als ein
Konflikt um Geld; darauf hat die Bundeskanzlerin eben
zu Recht hingewiesen. Es ist letztlich ein Konflikt über
die Frage, ob die gemeinsam erarbeiteten Prinzipien und
Regeln unserer Zusammenarbeit in Europa und in der
Euro-Zone auch in Zukunft Geltung haben sollen. Übrigens sind wir uns bei den demokratischen und sozialen
Regeln eigentlich einig: Meinungsfreiheit und Demokratie müssen überall in Europa gelten, auch in Ungarn.
({13})
Antidiskriminierung muss überall in Europa der Grundsatz sein, auch mit Blick auf Sinti und Roma. Da sind
wir uns schnell einig.
({14})
Aber es gibt in der Euro-Zone eben nicht nur demokratische und soziale Spielregeln. Aufgrund der Vertiefung der Europäischen Union dort gibt es auch
finanzielle und wirtschaftliche Spielregeln. Wer in die
Europäische Union eintritt, der muss sich an diese Regeln halten. Wenn gegen diese Regeln verstoßen wird,
dann muss man zumindest Wege suchen - wir haben das
getan, auch Frankreich -, wie man wieder zurückfindet.
Übrigens hat man mit dem Stabilitäts- und Wachstumspakt diese Regeln gefunden. Wir haben ihnen mit der
Änderung des Grundgesetzes entsprochen.
Ich sage das deshalb, weil wir diese Regeln und Prinzipien auch dann einhalten müssen, wenn man den Eindruck hat, man wolle ein Thema schnell loswerden. Zu
diesen Prinzipien gehört eben: Jeder hat Anspruch auf
Hilfe und Unterstützung. Aber jeder muss auch im eigenen Land so viel tun, wie er nur kann, um diese Hilfe
und Unterstützung nicht dauerhaft zu benötigen.
({15})
Solidarität ist ein alter Begriff der sozialistischen Arbeiterbewegung in Europa.
({16})
Aber er meinte nie Kumpanei. Er meinte immer verantwortungsbewusstes Handeln für sich selbst und für andere. Beides gehört zum Begriff der Solidarität.
({17})
Genau hier lag und liegt der Konflikt mit der jetzigen
griechischen Regierung. Es geht um die Einhaltung genau dieses Prinzips von Solidarität.
Warum bestehen wir auf diesen Regeln? Weil die Regeln, die wir in Europa und in der Euro-Zone haben, gerade nicht national gefärbt sind. Diese Regeln dienen
gerade nicht der Durchsetzung nationaler Interessen,
sondern sie sollen uns Europäer verbinden und verbünden. Diese gemeinsamen Regeln folgen eben den Zielen
und Werten, die wir uns gesetzt haben. Sie sollen uns
helfen, uns als Europäer zu definieren und nicht nur als
eine Addition von Einzelinteressen der Nationen. Die
Regeln sollen uns helfen, in der Praxis eine gemeinsame
europäische Identität unter Beweis zu stellen.
({18})
Das Gegenteil dieser Regeln und das Gegenteil des
europäischen Rechts ist am Ende die Rückkehr zum reinen Verfolgen nationaler Interessen, die Rückkehr zu einer rücksichtslosen Rechnung, bei der die Vorrechte einer Nation die Interessen aller anderen Nationen in den
Schatten stellen sollen. Würden wir dem Wunsch der
griechischen Regierung nachgeben und keinerlei Maßnahmen verlangen, die das Land mittelfristig von europäischen Hilfsprogrammen unabhängig machen würden,
dann wäre das der Einstieg in eine bedingungslose
Transferunion,
({19})
bei der dann viele andere Staaten das gleiche nationale
Recht für sich in Anspruch nehmen würden.
({20})
Denn wie wollte man den Spaniern, Italienern oder
wem auch immer das verweigern, was wir für Griechenland bedingungslos einführen? Am Ende wäre die EuroZone - und damit nicht nur Griechenland, sondern ganz
Europa - überfordert, und wir würden niemandem einen
Gefallen tun. Die wirtschaftliche und soziale Lage
würde schlechter statt besser.
Aber selbst wenn man das wirtschaftliche und finanzielle Risiko einer solchen Lösung eingehen wollte, darf
man nicht vergessen, dass es auch ein politisches Risiko
gibt. Wenn jemand Europa sozusagen erpressen kann,
indem er sagt: „Wenn du nicht mitmachst, dann wird das
alles teuer für dich“, und wir darauf antworten: „Okay,
du kannst deine nationalen Interessen gegen alle anderen
durchsetzen“, dann wäre das geradezu ein Signal für diejenigen, die eine ganz andere Politik wollen und Europa
zum Gegner erklärt haben. Das wäre das Fanal für die
Nationalisten ganz rechts außen. Die Gewinner wären
Le Pen, Wilders und andere und nicht die Bürger in
Europa.
({21})
Das ist der Grund, warum wir in den monatelangen
Verhandlungen beides wollten: sowohl Hilfe als auch
verantwortungsvolles Handeln zu Hause. Es gibt übrigens kein Ultimatum, Herr Gysi.
({22})
Die Verhandler sind vom Verhandlungstisch aufgestanden, weil sie nicht einmal wussten, über was zu Hause in
Griechenland gerade das Referendum ausgerufen wurde,
wohingegen sich der Rest für die nächste Woche verabreden wollte, um weiterzuverhandeln. Das kann man
doch nicht als Ultimatum bezeichnen.
Fünf Monate lang ist verhandelt worden. Uns ging es,
wie gesagt, um Hilfe, aber auch um verantwortungsvolles Handeln zu Hause. Das Bittere ist, dass dabei mit
Rücksicht auf die sozialen Bedingungen ein Angebot gemacht wurde, das keinem anderen Krisenstaat in Europa
zuvor jemals gemacht wurde: ohne Forderungen nach
Rentenkürzungen quer durch alle Renten.
({23})
- Hören Sie auf! Ich höre Ihnen doch auch zu. Ich weiß,
dass es manchmal wehtut, wenn jemand etwas anderes
sagt, als man selber gerne hören möchte. Aber so ist das
Leben eben.
({24})
Sie müssen doch akzeptieren: Ein 35-MilliardenEuro-Wachstumsprogramm ist keinem spanischen oder
portugiesischen Regierungschef angeboten worden. Das
ist erst möglich geworden, seit Jean-Claude Juncker in
Europa keine reine Austeritätspolitik mehr betreibt, sondern das Gegenteil davon in Europa herbeiführen will.
({25})
Wir begrüßen jedenfalls die Wachstumsinitiative von
Jean-Claude Juncker.
Dennoch - darin sind sich sicherlich alle im Deutschen Bundestag einig - wollen wir auch nach dem
Unterbrechen oder Abbrechen der Verhandlungen niemanden in Griechenland alleinlassen. Es geht nicht nur
darum, die Menschen dort nicht alleinzulassen; manchmal hat man den Eindruck, wir sollten sie vielleicht auch
nicht mit ihrer eigenen Regierung alleinlassen.
({26})
Meine Damen und Herren, wir haben, glaube ich, guten Grund, bei den Prinzipien der Euro-Zone zu bleiben.
Zur Ehrlichkeit gehört aber auch, dass wir uns die Frage
stellen müssen, warum zwei Rettungsprogramme für
Griechenland gescheitert sind und Finanzhilfen in einer
nie dagewesenen Größenordnung von über 200 Milliarden Euro keine Wende gebracht haben. Der Grund dafür
ist nicht, wie eine neue Legende besagt, dass das alles
den Banken gegeben wurde. Die Ursache liegt doch viel
weiter zurück. Warum ist die Lage in Griechenland anders als in Portugal und Spanien, die beim Eintritt in die
Euro-Zone ungefähr das gleiche wirtschaftliche Niveau
hatten? Warum hat Portugal Griechenland fast überholt,
und warum ist Spanien weit weg davon? Ich glaube, wir
haben unterschätzt, wie groß die institutionellen Probleme Athens sind und wie hartnäckig Klientelismus
und Korruption und ein blockiertes politisches System
die ökonomische Entwicklung behindert haben.
({27})
Weder Europa noch die Troika und übrigens auch
nicht die jetzige griechische Regierung sind an diesem
Desaster des Landes schuld. Die Bürgerinnen und Bürger dieses Landes sind vielmehr Opfer der jahrzehntelangen Handlungen ihrer politischen und wirtschaftlichen Eliten, auch der beiden Parteien, der konservativen
genauso wie der sozialdemokratischen. Sie haben dieses
Land nicht sich entwickeln lassen; stattdessen haben sie
sich bedient.
({28})
Griechenland hat es dringend nötig, dass die Reformen
endlich einmal auch denen zu Leibe rücken, die die Profiteure dieses jahrzehntelangen Auszehrens des Landes
gewesen sind.
({29})
Auch das gehört zur Wahrheit, wenn wir über die Entwicklung in Griechenland reden: Europa hat dieser Entwicklung jahrelang zugeschaut. Wir in Europa haben
- aus welchen Gründen auch immer - diesen korrupten
Staat, diesen Klientelismus und diesen Nepotismus nicht
öffentlich thematisiert, sondern ausschließlich Geld geschickt.
({30})
Ich glaube, dass wir gut beraten sind, zur Kenntnis zu
nehmen, was der IWF gerade über Griechenland veröffentlicht hat. In den Analysen wird gefolgert, dass Tiefe
und Dauer der Rezession sowie die Höhe der Arbeitslosigkeit unterschätzt worden seien, dass die Lasten der
Anpassung auf die sozialen Schichten besser verteilt
werden müssten und dass die Schuldentragfähigkeit
Griechenlands wohl zu optimistisch eingeschätzt worden
sei. Folgt man diesen Punkten, dann tun wir gut daran,
uns auf die Verhandlungen, die vermutlich - egal wie
das Referendum ausgeht - in irgendeiner Weise wieder
stattfinden werden, auf der Basis dieser ehrlichen Analysen des IWF vorzubereiten.
Erstens. Natürlich muss das vernünftige Reformpaket
verabschiedet werden, das die EU-Kommission am letzten Sonntag veröffentlicht hat. Zweitens. Darauf aufbauend brauchen wir Verhandlungen über neue Hilfsprogramme. Natürlich muss dabei über jede denkbare
Alternative offen beraten werden. Niemand kann erwarten, dass die Bedingungen für Reformen in Griechenland
dabei schwächer werden als diejenigen, über die wir in
der Vergangenheit debattiert haben.
Herr Minister, denken Sie auch ein bisschen an die
vereinbarten Zeiten.
Das mache ich, Herr Präsident.
Drittens. Wir brauchen ein technisches Hilfsprogramm vor allem in der Finanzverwaltung. Wir brauchen
viertens Investitionen. Fünftens. Wir müssen die langfristige Schuldentragfähigkeit Griechenlands erneut prüfen.
Ich glaube, dass wir diese Krise auch nutzen müssen,
um über unsere Fehler in der Vergangenheit zu sprechen,
aber auch über das, was in Zukunft kommen wird. Der
Weg, den wir nur verantwortungsbewusst und mutig in
vielen Fragen, nicht nur bei Griechenland, gehen müssen, wird am Ende nicht weniger Disziplin und nicht weniger gemeinsame Regeln erfordern, sondern mehr, auch
was die Finanz- und Wirtschaftspolitik angeht. Wenn wir
wollen, dass unser Kontinent seine politische, wirtschaftliche, soziale und kulturelle Bedeutung sowie sein
einzigartiges Wohlstandsmodell im 21. Jahrhundert behauptet, dann brauchen wir mehr Verbindlichkeit in
Europa und in der Euro-Zone und nicht weniger.
Vielen Dank.
({0})
Anton Hofreiter ist der nächste Redner für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Europäische Union ist in Gefahr. Vor unseren Augen
zerbricht so manche Gewissheit, die Gewissheit, dass in
der EU niemand zurückgelassen wird, die Gewissheit,
dass sich am Ende der kluge Kompromiss und nicht das
rein innenpolitische Kalkül durchsetzt. Dieser Gewissheit hat Herr Tsipras schweren Schaden zugefügt. Aber
dieser Gewissheit haben auch Sie, Frau Merkel, und Sie,
Herr Gabriel, schweren Schaden zugefügt.
({0})
Denn Sie alle stellen Ihr innenpolitisches Kalkül, Ihre innenpolitischen Interessen vor die gemeinsamen Interessen in Europa. Das ist das eigentliche Desaster, das wir
in diesen Tagen erleben.
({1})
Was wir heute erleben, was wir wieder in der Rede
von Frau Merkel erlebt haben und was wir bei Herrn
Tsipras in den ganzen Tagen erlebt haben, ist: Sie drücken sich einfach um die Wahrheit herum. Herr Tsipras
weiß doch selbst, dass Griechenland nicht ohne Strukturreformen aus seinen Schwierigkeiten herauskäme.
({2})
Selbst wenn im Moment in Griechenland Geld vom
Himmel fallen würde, wären die Probleme doch nicht
gelöst.
({3})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linken,
dann wären doch die Probleme der schwachen Steuerverwaltung, der dysfunktionalen Katasterämter, der ganzen Korruption nicht gelöst. Aber Tsipras scheut sich
einfach, diese Wahrheit auszusprechen, weil er sich wegen seiner Unerfahrenheit in seinen Wahlversprechen
und eben auch in Ideologie total verstrickt hat.
({4})
Wenn Sie, Frau Merkel, ehrlich zu den Bürgerinnen
und Bürgern in Deutschland wären,
({5})
dann würden Sie ihnen ganz offen sagen: Griechenland
wird nicht die Sparauflagen einhalten und gleichzeitig
die Schulden zurückzahlen können. Das wird nie klappen.
({6})
Das klappt sichtbar nicht. Genau deshalb brauchen
wir endlich eine Umschuldung; denn nur mit einer Umschuldung hat Griechenland wenigstens eine Chance,
wirtschaftlich wieder auf die Beine zu kommen.
({7})
Nur so haben wir die Chance, dass wir wenigstens einen
Teil unserer Kredite wiedersehen.
({8})
Frau Merkel, ziehen wir doch einmal eine Bilanz der
letzten fünf Jahre Rettungspolitik.
({9})
Sie haben davon gesprochen, dass wir eine Stabilitätsunion haben; Sie haben davon gesprochen, dass wir stärker aus der Krise herauskommen, als wir in die Krise hineingegangen sind. Wo ist denn das passiert? Seit 2008
ist Europa in der Krise. Wo ist denn Europa stärker geworden? Wo ist denn Stabilität vorhanden?
({10})
In Griechenland ist sicher keine Stabilität vorhanden.
Aber auch wenn wir in den Rest Europas schauen, sehen
wir: Rechtspopulismus nimmt zu, bei Flüchtlingen kann
man sich noch nicht einmal auf Minimalkompromisse
einigen. Wo ist denn Stabilität? Jahr für Jahr beobachten
wir, dass die Situation in Europa schlimmer und komplizierter wird. Deswegen: Reden Sie doch nicht immer nur
von Stabilität! In welcher Zukunft soll sie denn kommen? In einer ganz fernen Zukunft offensichtlich.
({11})
Die Auseinandersetzungen in Europa zwischen den
Nationen haben massiv zu der Situation beigetragen.
Das liegt an einer Ihrer Hauptstrategien, um die Krise zu
lösen. Eine Ihrer Hauptstrategien, um die Krise zu lösen,
war die Schwächung der europäischen Institutionen und
die Rückverlagerung der Macht in die Hauptstädte. Der
Effekt davon ist, dass wir inzwischen lauter nationale
Regierungen haben, die nur noch für ihre nationalen Interessen kämpfen, und die europäischen Interessen, die
gemeinsamen Interessen, kommen unter die Räder.
({12})
Aber wir wissen doch: Alle europäischen Staaten,
auch Deutschland, sind deutlich zu klein, um eine
Chance zu haben, die globalen Herausforderungen zu
bewältigen. Klimakrise, die Flüchtlingsfrage, auch die
Finanzkrise - Deutschland ist zu klein, um all das alleine
zu bewältigen. Deswegen bräuchten wir doch etwas anderes. Wir bräuchten stärkere europäische Institutionen,
mehr Rechte für das Europäische Parlament und eine
starke europäische Demokratie, aber nicht diese Hauptstadtdiplomatie und Gipfeldiplomatie, die einfach nur
nerven und scheitern.
({13})
Schauen wir uns diese gescheiterte Strategie an. Ich
hätte mir am heutigen Tag von Ihnen wirklich gewünscht, zu hören, welche Vorstellungen Sie entwickeln,
wie es in Europa weitergehen soll. Wie soll Europa weiterentwickelt werden? Ich habe davon in Ihrer Rede
nichts, aber auch gar nichts gehört.
({14})
Nur wenige Sätze zu Ihrem Beitrag, Herr Gabriel: Ich
frage mich manchmal wirklich, wie verzweifelt Sie oder
die SPD sind, dass Sie so einen Redebeitrag halten müssen.
({15})
Wie getroffen und empfindlich Sie auf einen harmlosen
Zwischenruf reagieren! Wissen Sie, ich kann es vielleicht verstehen. Sie haben nicht allen Rettungspaketen
zugestimmt. Sie haben sich am Anfang, beim ersten Rettungspaket, noch vom Acker gemacht. Wenn Sie dann
auf einen Zwischenruf von uns, die wir aus Solidarität
immer an der Seite Griechenlands gestanden haben, so
empfindlich reagieren, dann frage ich mich schon, was
da wirklich los ist.
({16})
Noch ein paar Bemerkungen zu dem einen oder anderen Hitzkopf in den Koalitionsfraktionen, insbesondere
in der Fraktion der CDU/CSU. Ich finde es, ehrlich gesagt, ziemlich atemberaubend, wie unbekümmert manche Leute von Ihnen über den Grexit reden, nämlich darüber, dass man Griechenland einfach aus der Euro-Zone
schmeißen kann. Sie tun so, als ob ein Land verschwinden würde, nachdem es bankrottgegangen ist, und als ob
die vorhandenen Probleme verschwinden würden.
({17})
Griechenland ist weiter ein europäisches Land, weiter
NATO-Mitglied.
Ich kann verstehen, wenn der eine oder andere Bürger
in unserem Land nach dem ganzen Rumgenerve sagt:
Lieber ein Ende mit Schrecken. - Aber ein Grexit würde
kein Ende mit Schrecken sein. Er wäre vielmehr ein
Auftakt zu neuem Schrecken.
({18})
Sie als verantwortliche Abgeordnete sollten es doch wissen.
Wenn Griechenland endgültig bankrott ist, wird man
diesem Land selbstverständlich weiterhelfen müssen.
Wenn Griechenland endgültig bankrott ist, werden die
80 Milliarden Euro langfristig komplett weg sein. Da
kann man doch nicht einfach sagen: Ja, mein Gott, dann
treten sie halt aus dem Euro-Raum aus. - Ich finde das
absolut unverantwortlich.
({19})
Was wir jetzt statt Anstrengungen, den Grexit zu verhindern, erleben, ist ein Schwarzer-Peter-Spiel, so nach
dem Motto: Ich bin es nicht gewesen, ganz allein die andere Seite war es. - Die andere Seite sagt: Nein, nein,
wir haben damit nichts zu tun. Die andere Seite war ganz
allein schuld. - Bei diesem armseligen Spiel gibt es doch
am Ende eigentlich nur noch Verlierer. Verlierer ist auf
jeden Fall die Politik, weil die Menschen das Spiel „Die
waren es - nein, die waren es“ zu Recht für unwürdig
halten.
Aber es gibt noch etwas anderes, was da unter die Räder kommt. Es kommt bei diesem Spiel zwischen nationalen Regierungen eigentlich die großartige Idee von
Europa unter die Räder.
({20})
Die Idee von Europa umfasst viele einzelne Punkte, etwa
Frieden, freies Reisen und vieles andere. Die Idee von
Europa ist im Kern, dass Europa mehr ist als die Summe
der einzelnen Nationalstaaten. Diese Idee droht mit diesen nationalen Schuldzuweisungen komplett unter die
Räder zu kommen.
({21})
Egal ob Schäuble, Gabriel oder Merkel: Hören Sie einfach auf mit diesem Spiel!
Was wir jetzt brauchen, ist ein faires Abkommen für
Griechenland, ein Abkommen, bei dem es um Verlässlichkeit geht, ein Abkommen, das dafür sorgt, dass die
Menschen und die Investoren in Griechenland wieder
Vertrauen und Mut schöpfen, dass langfristig Stabilität
in Griechenland einzieht.
Eines der Hauptprobleme des geplanten Abkommens
war doch seine Kurzfristigkeit. Was wäre selbst dann
passiert, wenn es jetzt doch noch geschlossen worden
wäre? Es hätte bis November dieses Jahres gegolten; das
sind gerade einmal vier Monate. Nach nur vier Monaten
hätten wir also denselben Zirkus, dieselbe Gipfeldiplomatie wieder erlebt. Herr Schäuble, Sie reden so gern
von Verlässlichkeit: Dann lassen Sie uns doch ein Abkommen mit Griechenland treffen, das dem Motto folgt:
Für die nächsten fünf Jahre ist Ruhe. Auf der anderen
Seite bekommen die Griechen keine neuen Kredite,
({22})
sondern sie müssen mit dem vorhandenen Geld auskommen. - Wie sie dieses Geld ausgeben, wie sie ihre Probleme lösen, soll das griechische Parlament entscheiden.
Wir sorgen dafür, dass die Kredite für Griechenland für
fünf Jahre vom ESM übernommen werden. Dann
herrscht Stabilität, und dann herrscht Verlässlichkeit.
Wir können es uns in Europa nicht leisten, alle paar Monate diesen Zirkus aufzuführen, den wir hier inzwischen
seit längerem erleben.
({23})
Für eine langfristige Lösung bräuchte es allerdings
den Mut von allen Seiten. Es bräuchte Mut bei der griechischen Regierung; aber es bräuchte auch Mut bei der
deutschen Regierung, nämlich den Mut, den Menschen
die Wahrheit zu sagen. Geben Sie sich einen Ruck, Herr
Gabriel, Frau Merkel, und sorgen Sie endlich für eine
Lösung; denn es steht für Europa und seine Menschen
viel zu viel auf dem Spiel, als dass man sich diese nationalen Spielchen weiter leisten könnte.
Vielen Dank.
({24})
Nächster Redner ist der Bundesfinanzminister
Wolfgang Schäuble.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Herr Kollege Hofreiter, teilweise haben Sie ja recht,
nämlich dass wir in einer so schwierigen Lage, in der
sich nicht nur Griechenland - Griechenland besonders und die Griechen, sondern auch Europa befinden, versuchen sollten, ernsthaft zu diskutieren und darüber nachzudenken: Wie können wir die Probleme langfristig lösen? Dass wir mehr Europa brauchen, das hat die
Bundeskanzlerin gesagt; das hat Herr Gabriel in seiner
Rede gesagt. Da stimmen wir überein. Es ist dann in dieser Situation ein bisschen schwierig, als Oppositionsführer seine Rede mit einer Beschimpfung der Regierung zu
verbinden; dadurch wird es nicht sehr kohärent. Aber im
Ernst müssen wir darüber reden.
({0})
- Langsam! Eigentlich sind wir ja alle einig, dass wir in
einer außergewöhnlich ernsten Situation sind. Ich würde
gern diejenigen, die schon 2010 dem Bundestag angehörten, daran erinnern, dass ich schon in der ersten Debatte über Griechenland im Frühjahr 2010 davon geredet
habe, dass wir alle in unserer Rhetorik - ich habe da
nicht nur den Bundestag gemeint, sondern auch die Öffentlichkeit - daran denken sollten: Am schwersten haben es die Menschen in Griechenland. - Das ist doch
überhaupt keine Frage.
({1})
Wenn wir das ein bisschen reflektieren und darüber
nachdenken, wie wir die Probleme lösen können, und
darüber nachdenken, worin die Probleme eigentlich begründet sind, dann können wir auch aus einer schwierigen Lage heraus nach vorn kommen und die richtigen
Schritte gehen. Aber man muss die Lage schon einigermaßen präzise analysieren.
Man muss auch zur Kenntnis nehmen, wie es war.
Herr Gysi, ich muss ein paar Dinge von Ihnen richtigstellen. Wenn Sie es jetzt einfach in aller Ruhe ertragen!
Es ist ja auch ganz hilfreich.
({2})
Wir hatten 2009 in Griechenland die Situation, dass
das Staatsdefizit und das Leistungsbilanzdefizit bei
15 Prozent gelegen haben. Das war die Situation 2009.
Daraus hat sich ergeben, dass Griechenland, das überschuldet war, an den Finanzmärkten immer stärker an
Vertrauen verloren hat und nicht mehr in der Lage war,
sich noch zu erträglichen Bedingungen zu finanzieren.
Daraus hat sich die Geschichte des ersten Griechenland-Programms entwickelt. Dann kam das zweite Programm. Ich will das nicht im Einzelnen nachzeichnen.
Ich will nur darauf hinweisen, dass wir mit beiden Programmen, erstes und zweites Programm zusammen,
Griechenland in den Jahren seitdem Finanzhilfen in der
Größenordnung von insgesamt 240 Milliarden Euro zur
Verfügung gestellt haben. Ich sage das, damit wir wissen, worüber wir reden, meine Damen und Herren. Es ist
einfach wichtig.
Dann haben wir einen Privatschuldenschnitt gemacht.
Das war ein heftiger Kampf. Viele waren damals übrigens sehr skeptisch. Am Ende haben wir einen Schnitt,
mehr oder minder freiwillig, von 53 Prozent gemacht.
Ich sage Ihnen: Der deutsche Bundeshaushalt hat im Ergebnis einen spürbaren Anteil davon selbst getragen. Es
gab Banken unter staatlichem Schutzschirm, die griechische Staatsanleihen hatten. Jedenfalls: Das war in einer
Größenordnung von weiteren 100 Milliarden Euro. - So
viel zum Sachverhalt.
Ja, dann will ich doch die Geschichte mit dem Referendum darstellen. Ich war dabei. Sie ist falsch. Das Gegenteil, Herr Kollege Gysi, ist die Wahrheit.
An einem Sonntag im Herbst 2011, wenn ich es richtig erinnere, am Sonntagabend, hat Herr Papandreou
überraschend angekündigt, er wolle ein Referendum abhalten. Das war in der Woche, in der der G-20-Gipfel in
Cannes stattfinden sollte und auch stattgefunden hat. Es
gab dann ein bisschen Überraschung. Das kommt bei
Ankündigungen griechischer Ministerpräsidenten vor.
Am Mittwoch, am Vortag des Gipfels von Cannes, haben
sich in Cannes eine Reihe der führenden Persönlichkeiten der Weltpolitik getroffen: die Bundeskanzlerin, der
französische Staatspräsident - das war damals noch Herr
Sarkozy -, der amerikanische Präsident Obama - der
stieß dazu -, der EU-Kommissionspräsident Barroso, der
Vorsitzende der Euro-Gruppe - das war damals JeanClaude Juncker.
({3})
- Ja, er war Vorsitzender der Euro-Gruppe. - Ich glaube,
Frau Lagarde war noch Finanzministerin Frankreichs,
wenn ich mich recht erinnere; Dominique Strauss-Kahn
war noch Präsident des IWF. Alle waren da. Der deutsche Finanzminister war auch da. Deswegen kann ich es
aus eigenem Wissen hier sagen.
In diesem Gespräch - Herr Sarkozy hatte seinen G20-Gipfel eigentlich ein bisschen anders inszenieren
wollen, nicht mit Griechenland - hat man Herrn
Papandreou, der begleitet war von seinem Finanzminister - das war damals Herr Venizelos -, überzeugt, dass
man dieses Referendum zum frühestmöglichen Zeitpunkt - der 6. Dezember ist dann ins Auge gefasst worden - abhalten solle. Die Fragestellung muss dann sein
- darüber hat man auch gesprochen -: Ist das griechische
Volk bereit, um im Euro zu bleiben, die notwendigen
Strukturmaßnahmen zu ertragen, oder möchte das griechische Volk lieber aus dem Euro ausscheiden?
Ich sage Ihnen noch ein Geheimnis - ich glaube, ich
darf es sagen -: Die Bundeskanzlerin hat die Fragestellung
zuerst notiert. Sie schreibt manchmal in solchen Gesprächen die Dinge gleich auf. So ist es vereinbart worden. Das
Ergebnis war: Gegen 22 Uhr war die Besprechung zu
Ende. Herr Papandreou ist mit Herrn Venizelos zurückgeflogen. Wir waren davon ausgegangen: So wird es gemacht. - Ich habe eine Wette verloren. Die damalige
spanische Finanzministerin - sie war Sozialistin und
kannte ihre Genossen - hat gesagt: Ja, ja, aber es wird
kein Referendum geben. - Daraufhin habe ich gesagt:
Entschuldigung, ich war dabei. Die haben das verabredet. - Dann sagte sie: Du wirst sehen, es wird nicht stattfinden. - Wir haben um eine Flasche Wein gewettet. Ich
habe sie bezahlt. Am nächsten Tag wurde nämlich Herr
Papandreou von seiner Partei Pasok gestürzt. Das ist die
historische Wahrheit. Sagen Sie in Zukunft bitte nicht
wider besseres Wissen, wir hätten damals verhindert,
dass Griechenland ein Referendum gemacht hat. Nein,
wir haben mit ihnen das Gegenteil verabredet. So ist die
Wahrheit. Alles andere ist die Unwahrheit.
({4})
Ich möchte eine weitere Bemerkung machen. Ihr Argument klingt gut; es dient polemischen Zwecken. Das
können Sie besser als die meisten, viel besser als ich.
Aber linke Polemik kann ich sowieso nicht so gut; das
ist klar.
Sie sagen, es ist alles nur für die Banken. Herr
Hofreiter, da sind wir beim Kern des Problems. Wir haben eine Währungsunion. Wenn Griechenland nicht Mitglied einer gemeinsamen Währungsunion wäre, hätten
wir mit Blick auf die Hilfsprogramme eine völlig andere
Situation. Bei einer gemeinsamen Währungsunion beruht jede moderne Volkswirtschaft auf der Voraussetzung eines funktionierenden Finanzsystems. Es geht
nicht ohne Banken. Das mag ärgerlich sein. Da kann
man demagogisch sagen: Sie wollen alles nur für die
Banken. - Aber in dem Moment, wo das Finanzsystem
nicht mehr leistungsfähig ist - Sie können es sich ja von
Herrn Steinbrück noch einmal erklären lassen; der war
Finanzminister, als auch uns die Finanzkrise getroffen
hat -, bricht jede arbeitsteilige Wirtschaft zusammen.
Hinterher kann man natürlich sagen, das Geld sei an die
Banken geflossen, aber das ist unter jedem Niveau einer
sachlichen Auseinandersetzung. Nein, man hat die Voraussetzung für eine funktionierende Wirtschaft in Griechenland aufrechterhalten. Das ist unter den Bedingungen einer Währungsunion kompliziert.
Deswegen war die Fragestellung im Referendum
schon eine sehr ernsthafte.
({5})
- Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bin schon lange
Mitglied des Deutschen Bundestages, und ich bin schon
lange Mitglied der Regierung.
({6})
- Bei dem Teil, der jetzt kommt, sind Sie am besten still.
Ich habe eine präzise Erinnerung an das Jahr 1990.
Am 1. Juli 1990, also heute vor 25 Jahren,
({7})
ist in Deutschland die Währungsunion eingeführt worden. Darüber konnte man ökonomisch sehr unterschiedlicher Meinung sein. Herr Lafontaine beispielsweise war
dagegen - und nicht alle Argumente waren ökonomisch
falsch -, und einige andere hatten auch Zweifel. Aber
politisch konnte man damals nur schwer dagegen sein.
Das wissen Sie alle; ich will die Geschichte nicht wiederholen. Aber dass unter den Bedingungen einer stabilen, frei austauschbaren Währung die wirtschaftlichen
Anforderungen an Wettbewerbsfähigkeit total andere
sind, das muss man doch den Deutschen, die das Jahr
1990 erlebt haben, nicht erklären. Natürlich wissen wir,
welchen Anpassungsbedarf es damals in der ehemaligen
DDR gab. - Das ist das ökonomische Problem, wenn es
darum geht, Griechenland unter den Bedingungen der
Währungsunion auf den richtigen Weg zu bringen.
({8})
Tut mir leid, das ist schon schwierig. Und dann sind alle
Polemik und alles, was Sie pflichtgemäß gegen Frau
Merkel oder gegen mich oder gegen Herrn Gabriel sagen
müssen, ohne jegliche Substanz in der Sache.
Deswegen ist die Frage von 2011 schon die entscheidende. Die bleibt es auch. Natürlich wissen die Griechen
sehr wohl, welche Vorteile die Mitgliedschaft im Euro
hat: die niedrigen Zinsen, die sie nie hatten, und alles andere. Das ist wahr, vorübergehend. Aber auf die Anforderung, irgendwann eine wettbewerbsfähige Wirtschaft
aus eigener Kraft zu haben, können wir nicht verzichten,
ob in zehn Jahren oder wann auch immer.
({9})
Das war die Grundlage des Programms.
Übrigens, Herr Gysi, Sie unterliegen einem weiteren
Irrtum. Ich sage das auch zur inhaltlichen Aufbesserung
Ihrer Polemik: Dieses Programm ist doch niemandem
aufgezwungen worden. Das ist zwischen der griechischen Regierung und den drei Institutionen ausgehandelt
worden. Die Aufgabe der Institutionen war es, die Erfüllung dessen, was vereinbart worden ist, zu überprüfen,
und nicht, etwas zu oktroyieren. Nein, darum geht es
überhaupt nicht. Es ist eine völlig wahrheitswidrige demagogische Polemik, wenn man sagt: Die zwingen den
Griechen irgendetwas auf.
({10})
Es geht nur darum, dass Griechenland einhalten muss,
was vereinbart wurde.
Wieder und wieder waren wir großzügig. Wer Mitglied des Haushaltsausschusses ist, weiß, dass wir
manchmal fast rote Ohren bekommen haben, wenn wir
über die Auszahlung der nächsten Tranche gesprochen
haben. Es hat uns jedenfalls nicht an Flexibilität gemangelt. Es bestand immer das grundlegende Problem.
2014 befand sich Griechenland dann doch auf einem
guten Weg. Sie waren nicht über den Berg, aber auf einem besseren Weg, als wir angenommen hatten, als das
Programm aufgelegt wurde. Dann hat Herr Tsipras einen
Wahlkampf geführt, in dem er den Griechen zwei Dinge
versprochen hat: Wir bleiben im Euro, aber ohne Konditionalität und ohne Programm. - Ich habe zu ihm gesagt
- ich habe im Gegensatz zu vielen anderen mit ihm gesprochen, als er in Berlin war -: Wenn Sie das im Wahlkampf versprechen, kann ich Ihnen persönlich nur wünschen, dass Sie nie die Wahl gewinnen. Denn dieses
Versprechen werden Sie niemals erfüllen können. Es ist
objektiv unmöglich. Sie können nicht in der Währungsunion sein, ohne massive Anstrengungen für strukturelle
Änderungen zu unternehmen.
({11})
Nun ist es so gekommen, und die Lage hat sich natürlich dramatisch verschlechtert. Seit diese Regierung im
Amt ist, hat sie nichts getan. Sie hat Veränderungen nur
rückwärts gemacht. Sie hat bereits getroffene Vereinbarungen zurückgenommen. Sie hat wieder und wieder
verhandelt. Wir wissen noch nicht einmal, ob die griechische Regierung ein Referendum abhält, und, wenn ja,
ob sie empfiehlt, dafür- oder dagegenzustimmen. Sie
können doch nicht allen Ernstes verlangen, dass man in
einer solchen Lage über irgendetwas redet. Wir müssen
erst einmal warten, was sie in Griechenland nun eigentlich machen.
({12})
Seit diese Regierung im Amt ist, hat sich die Lage
ständig verschlechtert, und sie verschlechtert sich jeden
Tag und jede Stunde weiter. Natürlich ist die wirtschaftliche Lage außergewöhnlich schwierig. Natürlich ist die
Situation die, dass das Bankensystem immer notleidender wird. Ich könnte Ihnen Einzelheiten des Bankensystems, der Bestände und der Bilanzen nennen. Die Bestände sind im Wesentlichen Forderungen an den
griechischen Staat. Ein erheblicher Teil sind zukünftige
Steuererstattungsansprüche auf die künftig fälligen sogenannten Tax Credits, die natürlich auch nicht wirklich
belastbar sind. So sieht also die aktuelle Situation aus. In
dieser Situation ein solches Hin und Her zu veranstalten,
ist ein Handeln ohne jeden Sinn und Verstand.
Aus diesem Grunde werden wir mit allem Ernst darüber reden müssen: Können wir in dieser schwierigen
Situation eine neue Lösung finden? Diese wird aber viel
grundlegender sein. Wir befinden uns im Bereich des
ESM. Das hat sich alles entwickelt. Für Griechenland
haben sich durch die dramatischen Entscheidungen seiner Regierung - ich will das gar nicht nachzeichnen; wir
wissen ja alle, wie es gewesen ist - eine Reihe von Dingen wesentlich verschlechtert. Es ist außergewöhnlich
schwierig, dafür eine Lösung zu finden. Aber wenn wir
Europa stärken wollen - darum geht es; das müssen wir
uns gegenseitig gar nicht absprechen; da kann man darüber streiten oder diskutieren, was die richtige Lösung
ist -, ist die entscheidende Voraussetzung ({13})
- Herr Kollege Hofreiter, glauben Sie mir: ich habe mich
wirklich in meinem Leben lange für Europa engagiert -:
Es muss ein Mindestmaß an Vertrauen geben.
({14})
Ich kenne die Diskussion darüber, ob es eine Währungsunion ohne politische Union geben kann. Wir haben gesagt: Wir fangen an. - Wir sind in Europa immer
schrittweise vorangegangen, um dann weitere Schritte
folgen zu lassen. Jetzt müssen wir weitere Schritte folgen lassen.
({15})
Aber eine Währungsunion, in der ein Partner sagt:
„Es interessiert mich alles nicht; ich mache nichts, und
ich halte mich an nichts, was vereinbart worden ist“,
kann nicht funktionieren. Vertrauen und Verlässlichkeit
sind eine Grundvoraussetzung, gerade was die Institutionen betrifft.
Ich will Ihnen von einer kleinen Episode aus der Beratung am Samstag erzählen.
({16})
- Nein, nicht „oje“. Hören Sie doch zu! - Am Samstag
musste Herr Varoufakis erläutern, was sie angesichts
dieser Situation jetzt gemacht haben. Dann haben wir
ihn gefragt: Was ist denn nun mit dem Referendum?
Sind Sie dafür oder dagegen? Dann hat ein Kollege zu
ihm gesagt: Also, Sie sagen uns jetzt, bei dem Referendum wird die griechische Regierung dem Volk empfehlen, es abzulehnen. Daraufhin hat der griechische Finanzminister gesagt: Wenn das Volk dann aber entgegen
der Empfehlung der griechischen Regierung zustimmt,
dann machen wir das als Regierung.
Dann hat der Kollege gefragt: Wie verträgt sich das
damit, dass wir immer gesagt haben: „Ein Programm beruht auf der Grundvoraussetzung, dass jede Regierung,
die es abschließt, sich auch dazu verpflichtet, es umzusetzen“? - In unserer internationalen Sprache nennen wir
das Ownership, und das bedeutet: Die Regierung engagiert sich dafür, dass ein Programm umgesetzt wird. Das
haben die Portugiesen getan, das haben die Spanier getan, das haben die Zyprioten getan - die haben es wirklich schwer gehabt - und alle anderen auch. Aber eine
Regierung, die ihrem Volk empfiehlt, es abzulehnen und
damit überstimmt wird, hat doch kein Vertrauen. Diese
Frage konnte Varoufakis nicht beantworten.
Deswegen, liebe Kolleginnen und Kollegen: Die Lage
ist für Griechenland schwierig. Aber die Europäische
Kommission hat gesagt: Die Euro-Gruppe steht bereit,
um, wo immer wir können, zu helfen. - Zunächst muss
aber in Griechenland die Entscheidung darüber getroffen
werden, was sie wollen. Dann müssen wir Lösungen finden, die seriös und tragfähig sind, sonst zerstören wir
mehr, sonst zerstören wir die Glaubwürdigkeit des europäischen Projekts. Das steht auf dem Spiel. Deswegen
verteidigen wir Europa, wenn wir sagen: Wir müssen die
Grundlage für neues Vertrauen schaffen, das wir von
niemandem einseitig zerstören lassen können.
Herzlichen Dank.
({17})
Nächster Redner für die SPD-Fraktion ist der Kollege
Carsten Schneider.
Präsident Dr. Norbert Lammert
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der
Fraktionsvorsitzende der Grünen hat zu Beginn seiner
Rede die Sozialdemokraten gescholten, dass wir dem
ersten Hilfspaket für Griechenland nicht zugestimmt haben. Es stimmt, dass wir uns damals enthalten haben,
und das aus gutem Grund. Der Bundesfinanzminister hat
es gerade deutlich gemacht: Griechenland hat in den fünf
Jahren niemals dauerhaft und glaubwürdig eine Schuldentragfähigkeit gehabt, sondern es wurden immer beide
Augen zugedrückt, wenn ein Kredit gegeben wurde.
Deswegen haben wir 2010 gesagt, als von der damaligen
Bundesregierung die Krise in Griechenland noch negiert
wurde: Wir geben kein Geld etc. - Ich kann mich daran
noch genau erinnern. Wir haben gesagt: Bevor es Kredite von europäischen Staaten gibt, muss es erst einmal
eine Beteiligung der Gläubiger, das heißt der Banken
und der privaten Investoren, geben. - Das ist nicht geschehen. Und das ist der Fehler, unter dem wir noch
heute leiden.
({0})
100 Milliarden Euro wurden von privaten Gläubigern
auf den Staat übertragen, auf die Europäische Union, die
Länder der Euro-Zone. Wir reden jetzt über eine Summe
von insgesamt 240 Milliarden Euro plus 100 Milliarden
Euro Schulden der griechischen Banken bei der Zentralbank über Notfallkreditlinien. Man kann sich die Frage
stellen: Gibt es überhaupt noch eine Lösung innerhalb
der Regelwerke, die wir uns mit dem ESM, der jetzt gilt,
gegeben haben? Man muss sagen: Es wird schwierig.
Man muss sich fragen: Was ist die beste Lösung für
Europa, und was ist die wirtschaftlich beste Lösung für
Griechenland und die Euro-Zone? Ich bin hier nicht so
leichtfertig wie viele andere Ökonomen und auch Politiker, die sagen: Lasst sie herausgehen, alles kein Problem. Wir sind sicher. Wir haben den ESM, die Bankenunion etc. - Das wird nicht so einfach sein. Niemand hat
vorher innerhalb der hochzivilisierten, hochökonomisierten Welt dieses Experiment des Ausschlusses aus der
Währungsunion gemacht. Das erste Mal fällt ein Land
aus der Euro-Zone - Griechenland - beim Internationalen Währungsfonds in den Status von Simbabwe. Sicherlich, kurzfristig wird es vielleicht keine Auswirkungen
geben, aber langfristig werden sie gravierend sein. Deswegen müssen wir sehr genau überlegen, was wir jetzt
tun.
Zunächst einmal stimmen wir darin überein, dass die
griechische Regierung extrem viel Zeit verloren hat und
Fehler gemacht hat. Die Besteuerung der Reichsten, die
Bekämpfung der Korruption, das Eingeständnis, dass die
Fehler auch in Griechenland gemacht wurden - all das
fehlt. All das muss, wenn es neue Hilfen gibt, Teil der
Programme sein. Wir müssen nicht zu sehr auf die Zahlen schauen, sondern viel mehr auf die Struktur und darauf, ob Griechenland sein Schicksal in die Hand nimmt
und die Fehler korrigiert, die im System liegen, um sich
selbst zu helfen und nicht immer nur auf andere zu gucken.
({1})
Wenn das griechische Volk am Sonntag die Entscheidung trifft, im Euro zu bleiben - um nichts anderes geht
es: ja oder nein; wenn es ablehnt, dann ist es mehr oder
weniger vorbei -, wenn die Griechen bereit sind, die
jetzt härter gewordenen Bedingungen zu akzeptieren
- die letzten Wochen sind nicht spurlos an Griechenland
vorbeigegangen, die Wirtschaft ist eingebrochen, das
Loch wird größer, die Banken sind pleite, obwohl sie im
November noch sehr gut aussahen -, dann, finde ich,
muss man mit ihnen reden. Die Tür muss offen bleiben;
denn ein Austritt Griechenlands aus der Währungsunion
hätte nicht nur Folgen für Griechenland, sondern für die
gesamte Euro-Zone - so stabil, wie einige glauben, ist
sie nicht. Ich möchte dieses Experiment nicht eingehen,
wenn es sich verhindern lässt.
({2})
Was ist die Gefahr? Eigentlich muss die Europäische
Zentralbank, der wir die komplette Aufsicht zumindest
über die systemrelevanten Banken, auch über die vier
großen griechischen Banken, übergeben haben und die
dabei ganz unabhängig ist, in dieser Woche feststellen,
dass alle vier Banken insolvent sind. Sie wird wahrscheinlich aber eine politische Lösung wählen und nicht
so genau hingucken. Das ist extrem schwierig. Denn es
ist der erste Anwendungsfall, um festzustellen, ob die
europäische Bankenaufsicht glaubwürdig ist. Wenn es
nicht einmal gelingt, bei vier relativ kleinen Banken tatsächlich die Konsequenzen zu ziehen, wenn sie insolvent sind, was passiert dann erst, wenn es eine richtige
Großbank in Deutschland oder in Europa erwischt? Ist
dann die Bankenaufsicht so stark, dass sie es durchzieht
und uns letztendlich vor den Verlusten schützt, die im
Bankensektor entstehen? Das ist die große Glaubwürdigkeitsfrage.
Die EZB ist die zentrale Institution, die die europäische Währung derzeit noch zusammenhält. Es ist nicht
der ESM, es ist nicht eine politische Aussage von uns es ist die Europäische Zentralbank mit ihrer Feuermacht
unter der Führung von Mario Draghi. Insofern sollten
wir an dieser Stelle dankbar sein, dass er uns die Zeit gegeben hat. Wir sollten die Zeit aber auch für einen klugen Vorschlag nutzen, wie wir - mit einer wie auch immer gearteten griechischen Regierung und einem Volk,
das sich seines Schicksals annehmen will - dann auch
helfen können. Bei diesen Hilfen geht es um mehr als
nur um Kredite; es wird auch um Wachstumsimpulse gehen. Über kurz oder lang werden wir auch über die Frage
der dauerhaften Tragfähigkeit der griechischen Schulden
zu sprechen haben. Der teuerste Weg für Deutschland ist
der Weg des Austritts Griechenlands aus der Euro-Zone.
({3})
Denn dass die Griechen mit einer abgewerteten Währung in der Lage sein sollten, in Euro lautende Staats10972
Carsten Schneider ({4})
schulden in Höhe von dann 340 Milliarden Euro zurückzuzahlen, halte ich für ausgeschlossen.
({5})
Vielen Dank. - Als nächster Redner hat SvenChristian Kindler von Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Carsten Schneider von der SPD-Fraktion hat
sich gerade gegen einen Grexit ausgesprochen. Ich hätte
mir gewünscht, dass wir, wenn wir darüber reden, dass
Europa eine Rechtsgemeinschaft ist - Frau Kanzlerin,
Sie haben das gesagt -, auch klarmachen, dass Griechenland im Euro bleibt; denn das gehört zur Rechtsgemeinschaft Europa dazu. Das haben weder Herr Gabriel noch
Frau Merkel noch Herr Schäuble gesagt: Griechenland
bleibt im Euro. - Das hätte hier von der Regierung klar
gesagt werden müssen.
({0})
Wir stehen jetzt vor dem Scherbenhaufen der Verhandlungen. Ich finde, die Linkspartei muss klar sehen,
dass man hier nicht einseitige Schuldzuweisungen vornehmen kann.
({1})
Ich war letzte Woche in Athen zu Gesprächen mit der
Opposition und der Regierung. Man muss festhalten:
Herr Tsipras hat bis zum Ende gezockt, er hat sich verzockt. Die griechische Regierung hat in den letzten Monaten einen sympathischen Einsatz im Kampf gegen die
Austerität gezeigt; aber für gerechte Strukturreformen
im Staatsaufbau, im Kampf gegen Steuerbetrug und
beim Aufbau der Steuerverwaltung hat sie viel zu wenig
gemacht. Das war bisher enttäuschend. Das muss man
aus linker Perspektive kritisieren können.
({2})
Man darf es sich jetzt aber nicht - das sage ich mit
Blick auf CDU/CSU und SPD - zu einfach machen.
Man muss sich fragen, wie Griechenland und Europa in
diese Lage gekommen sind. Man kann diese Krisenpolitik nicht einfach als Erfolgsstory beschreiben. Wir haben
doch gesehen, dass die Institutionen und auch die Bundesregierung mit ihrer Krisenpolitik keinen Erfolg gehabt haben. In Portugal, Spanien und Italien gibt es eine
hohe Jugendarbeitslosigkeit. Die Investitionen in Europa
sind gering. Es gibt Deflationsgefahren. In Griechenland
gibt es große Armut, hohe Schulden - und es kommen
immer mehr hinzu - und eine hohe Jugendarbeitslosigkeit. Frau Merkel, da kann man doch nicht sagen: Wir leben in einer Stabilitätsunion.
({3})
Es wird lediglich eine kurzfristige Krisenpolitik verfolgt.
Aber diese Kaputtsparpolitik in Europa ist gescheitert.
({4})
Jetzt hat die Kanzlerin gesagt, in den nächsten Tagen
gehe es nicht um die Zukunft Europas. Ich frage mich: In
welcher Welt lebt die Kanzlerin eigentlich? - Natürlich
geht es um die Zukunft Europas! Es geht nicht nur um
Griechenland, es geht nicht nur um den Euro. Es geht
darum, dass wir in Europa in vielen Fragen in einer historischen Krise stecken. Gerade das zentrale Projekt der
europäischen Integration, der Euro, steht auf der Kippe.
Deshalb muss man klarmachen, dass man gemeinsam
dafür kämpft, dass der Euro erhalten bleibt, dass Griechenland im Euro bleibt. Man darf das Problem nicht
kleinreden, Frau Merkel.
({5})
Ich frage mich, was man in dieser Situation machen
kann. Soll man weitere Gespräche führen? Soll man einfach das Referendum abwarten und gucken, was passiert? Sollte man nicht versuchen, alle Möglichkeiten,
die es gibt, zu nutzen? Österreich und Frankreich haben
gesagt, dass sie zu weiteren Gesprächen bereit seien. Die
griechische Regierung hat jetzt ein neues Angebot vorgelegt, und es ist bestimmt nicht das letzte Angebot. Das
Chaos in der griechischen Regierung ist manchmal
schwer zu verstehen, aber trotzdem kann man das Angebot nicht kühl abweisen und sagen, dass es bis Sonntag
keine Gespräche gibt. Vielmehr muss man jetzt jede
Chance nutzen. Deswegen fordern wir einen europäischen Sondergipfel. Der ist jetzt notwendig, Frau
Merkel.
({6})
Wir brauchen einen Kompromiss, auch wenn er für
alle Seiten nicht einfach ist. Wir als Grüne haben skizziert, was notwendig ist. Wir brauchen eine wirtschaftliche Perspektive für Griechenland; denn nur so können
Schulden zurückbezahlt werden, nur so können Menschen in Arbeit kommen, und nur so kann die soziale
Krise bekämpft werden. Dafür braucht Griechenland
Zeit, Ruhe, Stabilität und auch eine begrenzte Umschuldung.
Es ist aber notwendig, dass sich Griechenland auf die
notwendigen Konditionen einlässt. Eine gerechte Strukturreform in Griechenland ist essenziell und notwendig.
Auch mehr Investitionen sind notwendig. Ein solcher
Kompromiss ist für alle Seiten schwierig, für Griechenland, aber leider auch für die Union - er wäre auch für
Frau Merkel schwierig wegen der Umschuldung -, aber
ich finde, man muss sich jetzt bewegen und für einen
Kompromiss kämpfen, damit Griechenland im Euro
bleibt.
({7})
Natürlich geht es in diesen Tagen um die Zukunft
Europas. Ich als junger Mensch frage mich: Worum geht
es jetzt eigentlich in Europa? Welches Angebot macht
Europa den jungen Menschen? Wie soll es in Zukunft
mit Europa weitergehen? Wohin wir in Europa auch blicken: Es gibt Nationalismus, Rechtspopulismus, schwierige Krisen an den Außengrenzen und eine hohe Jugendarbeitslosigkeit. Welches materielle Angebot macht
Europa den jungen Menschen? Europa wird immer als
Friedensperspektive, als Friedensprojekt dargestellt, immer mit dem Versprechen, für Wohlstand zu sorgen, dafür zu sorgen, dass es den Menschen gut geht.
Der europäische Sozialstaat ist eine Errungenschaft
Europas. Ich finde, wir dürfen uns keine verlorene Generation leisten. Wir müssen gemeinsam für ein demokratisches Europa kämpfen. Darum geht es jetzt in den
nächsten Tagen.
({8})
Vielen Dank. - Als nächste Rednerin hat Gerda
Hasselfeldt für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Bevor ich auf Griechenland im Besonderen zu sprechen
komme, will ich eines klarstellen: Wir diskutieren seit
etwa fünf Jahren über die Staatsschuldenkrise in einigen
europäischen Ländern. Die Maßnahmen zur Bekämpfung dieser Krise, die wir in den letzten fünf Jahren in
diesem Haus beschlossen und in Europa auf den Weg gebracht haben, waren erfolgreich.
({0})
Die Länder Spanien, Portugal und Irland haben ihre
Programme erfolgreich abgeschlossen, und Zypern ist
auf einem guten Weg. Deshalb müssen wir uns bei solchen Diskussionen schon fragen: Warum ist das so? Es
ist nicht so, wie Herr Hofreiter gesagt hat, dass nichts
geschehen ist, dass alles nicht erfolgreich war. Gerade in
diesen Ländern ist zu spüren - das ist auch nachzulesen -,
dass die Programme erfolgreich waren.
({1})
Warum waren diese Länder erfolgreich? Sie waren es,
weil nicht nur die Solidarität in Europa gepflegt wurde,
weil nicht nur mit Programmen geholfen wurde, sondern
diese Länder auch eigene Anstrengungen unternommen
haben. Diese Länder haben sich an die Regeln, die wir
uns gemeinsam gegeben haben, gehalten,
({2})
sie haben sich an die Vereinbarungen und an die Vorgaben der Troika gehalten, und sie haben eigene Anstrengungen unternommen. Das war das Erfolgsrezept.
({3})
Die derzeitige Situation in Griechenland ist alles andere als einfach. Diese Situation hat sich niemand gewünscht, aber sie ist nun einmal so, wie sie ist. Die Europäische Kommission, die Europäische Zentralbank und
der Internationale Währungsfonds haben Griechenland
ein ausgesprochen großzügiges Angebot unterbreitet.
Griechenland hat dieses Angebot abgelehnt. Es hat die
Verhandlungen abgebrochen, sie einseitig aufgekündigt
mit der Ankündigung eines Referendums. Natürlich ist
es das legitime Recht eines jeden Landes, eines jeden
Staates, sein Volk zu befragen; aber monatelang zu verhandeln, keine eigenen Anstrengungen zu unternehmen
und immer wieder neue Forderungen an andere zu stellen, um drei Tage vor Auslaufen des Programms alles
wieder infrage zu stellen, ist, noch dazu angesichts der
Empfehlung, die Kompromissvorschläge, die im Referendum zur Abstimmung stehen, abzulehnen, ein einmaliger Vorgang und ein beispielloser Affront gegen die
europäischen Partner.
({4})
Überall in Europa Porzellan zu zerschlagen
({5})
und dann die Menschen im eigenen Land auch noch die
Scherben zusammenkehren zu lassen, das hat mit Demokratie nichts zu tun. Das ist in höchstem Maße verantwortungslos.
({6})
Deshalb war es richtig und gut, dass die Finanzminister der Euro-Gruppe einstimmig klargemacht haben:
Europas Regeln gelten für alle, und Solidarität kann nur
bei Gegenleistung in eigener Verantwortung gewährt
werden. Das war das richtige Signal für den Euro, und
das war das richtige Signal für ganz Europa. Daran werden wir uns auch künftig messen lassen müssen. Wir haben eine Verantwortung für Europa. In Europa werden
Regeln gesetzt und Vereinbarungen geschlossen, an die
man sich hält. So verstehen wir Europa.
({7})
Die griechische Regierung hat immer so getan, als
gingen sie die geschlossenen Vereinbarungen nichts an.
Sie hat immer gesagt: Wir haben einen eigenen Auftrag
der Wähler. Fakt ist: Die Vereinbarungen haben nicht
Parteien geschlossen, die Vereinbarungen haben auch
nicht Koalitionen geschlossen, sondern die Vereinbarungen wurden von den Staaten geschlossen.
({8})
Fakt ist auch, dass die griechische Regierung im Februar
2015 der Verlängerung des Programms und damit auch
den damals enthaltenen Bedingungen zugestimmt hat.
Sie hat aber nichts getan, um diese Bedingungen einzuhalten. Dass sie ein verbessertes Angebot nun nicht annehmen wollte, zeigt: Die griechische Regierung hatte
von Anfang an ganz andere Pläne. Ihr geht es nicht um
die Einhaltung der Vereinbarungen, nicht um die Einhaltung der Regeln. Vielmehr will sie die Grundregeln
Europas ändern. Sie will eine andere Euro-Zone. Sie will
eine Transferunion. Letztlich will sie Geld zur Erfüllung
unrealistischer Wahlversprechen, ohne die Auflagen zu
erfüllen. Das wird es, das kann es und das darf es mit uns
nicht geben.
({9})
Unser Kurs bleibt: Solidarität, Hilfe und Unterstützung ja, aber nur mit Eigenverantwortung, und zwar deshalb, damit dauerhaft die Grundlagen dafür gelegt werden können, dass sich Griechenland positiv entwickelt.
Das war und ist die Geschäftsgrundlage für jede unserer
Hilfen. Das gilt für die vergangenen und natürlich genauso für mögliche aktuelle Hilfen.
Der gestrige Brief aus Athen enthält wieder vor allem
Forderungen ohne konkrete Reformzusagen. Bisher hat
die Regierung ihre Reformzusagen nicht eingehalten.
Genau das ist das Problematische: Es wurde so viel an
Vertrauen zerstört. Dieses Vertrauen wieder aufzubauen,
ist jetzt auch Aufgabe der griechischen Regierung. Denn
ohne Vertrauen ist eine Zusammenarbeit in einer so
schwierigen Situation, wie wir sie jetzt haben, nicht
denkbar. Natürlich muss man sich bei jeder Entscheidung fragen: Welche Konsequenzen hat sie? Welche
Konsequenzen hat sie für die Menschen in Griechenland? Welche Konsequenzen hat die Entscheidung für
die Stabilität der gesamten Euro-Zone und dabei auch
für die Menschen in der Euro-Zone? Es ist ja nicht so,
dass es nur in einem Land Menschen gibt, auf die wir
schauen müssen. Wir haben auch Verantwortung für die
Menschen, die in unserem Land wohnen. Das will ich
bei dieser Gelegenheit in Erinnerung rufen.
({10})
Wir haben mit dem ESM, wir haben mit dem Fiskalpakt, wir haben mit der Bankenunion heute bessere Konditionen, eine bessere Grundlage, um schwierige Krisen
in Europa bewältigen zu können. Das zeigt übrigens
auch die Reaktion der Märkte in diesen Tagen. Viele
Länder haben Strukturreformen durchgeführt - ich habe
es vorhin erwähnt -, insbesondere die Programmländer
Spanien, Portugal, Irland und Zypern. Sie haben sich dabei gut entwickelt.
Nur zur Erinnerung: Auch Griechenland hatte sich
verbessert und war auf einem guten Weg. Im letzten
Jahr, im Jahr 2014, ist die griechische Wirtschaft nach
sechs Jahren Rezession erstmals wieder gewachsen. Die
Herbstprognose der Europäischen Union sah für dieses
Jahr sogar 3 Prozent Wachstum voraus. Die Arbeitslosigkeit ist leicht gesunken. Aber nach wenigen Monaten
hat die jetzige Regierung in Griechenland dieses wieder
verspielt und das Land wieder an den Abgrund geführt.
Das gehört zur Wahrheit. Griechenland ist jetzt wieder in
der Rezession.
Das Vertrauen ist verspielt. Das Vertrauen der europäischen Partner ist verspielt. Das Vertrauen der Investoren ist verspielt. Das Vertrauen der Geldgeber ist verspielt. Es muss wieder aufgebaut werden. Das hat nichts
mit dem aktuellen Kurs in Richtung Crash zu tun. Wenn
jemand diesen Kurs zu verantworten hat, dann ist das die
jetzige Regierung in Griechenland, die dazu den Boden
bereitet hat.
({11})
Wir alle spüren in diesen Tagen, dass die Wirtschaftsund Währungsunion vor einer ganz entscheidenden Herausforderung steht. Es ist gut, dass wir miteinander um
eine gute Lösung ringen. Ich will aber auch hinzufügen:
Wir sollten die positiven Signale, die gerade in diesen
Tagen spürbar sind, nicht unbeachtet lassen.
Das erste positive Signal ist, dass die Europäische
Union, insbesondere die Euro-Zone, bei ihrem Verhalten
Geschlossenheit und auch Stringenz gezeigt hat. Ich
möchte dem Bundesfinanzminister und unserer Bundeskanzlerin herzlich für den Einsatz danken, der nicht nur
in den letzten Tagen und Wochen, sondern auch schon in
den vergangenen Monaten und Jahren gezeigt wurde.
({12})
Positiv ist zweitens der Blick auf die Struktur dessen,
was in den letzten Jahren entschieden wurde. Ich meine
das, was ich anfangs gesagt habe, nämlich dass diese
Struktur erfolgreich war, dass der Kurs richtig ist - Solidarität und Eigenverantwortung gehören zusammen und dass auch richtig ist: Regeln müssen eingehalten
werden. Nur das macht Europa stark. Dass auch dieser
Kurs beibehalten wird, ist eine gute Botschaft.
Die dritte gute Botschaft ist: Wir haben in den vergangenen Jahren durch die vielen Maßnahmen im Rahmen
von ESM, Fiskalpakt und Bankenunion die Grundlagen
dafür gelegt, dass die Ansteckungsgefahren jedweder
Entscheidung minimiert wurden. Das ist eine ganz wichtige Grundlage dafür, dass wir zu guten Entscheidungen
mit guten Auswirkungen kommen.
Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, sollte uns Mut
machen, sodass wir mit Zuversicht sagen können: Wir
werden diese Krise nicht nur bewältigen, sondern aus
dieser Krise auch gestärkt hervorgehen.
({13})
Vielen Dank. - Als nächster Redner hat Johannes
Kahrs für die SPD-Fraktion das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Der Kollege Kindler hat eben bedauert, dass
sich Frau Merkel, Herr Gabriel und Herr Schäuble hier
nicht deutlich gegen einen Grexit ausgesprochen haben.
({0})
Ehrlich gesagt, Herr Kindler: Das müssen sie auch nicht
tun. Wir als CDU/CSU und SPD haben in den letzten
Monaten und Jahren nämlich gezeigt, dass wir gegen einen Grexit sind.
({1})
Wir haben gezeigt, und zwar durch Handeln und nicht
nur durch Worte, dass wir wollen, dass Griechenland im
Euro bleibt, dass Griechenland in Europa weiterhin unterstützt wird und dass Griechenland eine Chance hat,
nach vorne zu kommen. Deswegen haben wir in den
letzten Monaten und Jahren ein Programm nach dem anderen verabschiedet. Wir haben, wie Herr Schäuble
sagte, auch einmal ein Auge zugedrückt, wenn es an der
einen oder anderen Stelle nicht so war, wie es hätte sein
sollen. Weswegen haben wir das gemacht? Weil uns alle
der Wille eint, dass Griechenland im Euro bleibt.
({2})
Um das umzusetzen, braucht man auf der anderen
Seite aber einen Partner.
({3})
Sigmar Gabriel hat gesagt, dass die SPD seit 1925 an
dem europäischen Gedanken arbeitet und dass sie für
Europa und für die Vereinigten Staaten von Europa ist.
Natürlich muss man dann dafür sorgen, dass Griechenland in dieser Situation unterstützt, gefördert und geholfen wird. Aber - das hat Frau Hasselfeldt gerade gesagt man muss auf der anderen Seite einen Partner haben, mit
dem man das schaffen kann. Zum Helfen und Zusammenarbeiten gehören immer zwei.
({4})
Sigmar Gabriel hat auch gesagt, dass all die vorangegangenen Regierungen in Griechenland - egal von welcher Partei sie waren - nicht das getan haben, was man
tun muss, um einen funktionierenden Staat aufzubauen,
der irgendwann einmal ein vernünftiges Steuersystem,
ein Grundbuchamt und all die Dinge, die man braucht,
damit ein Staat funktioniert, hat. Die jetzige Regierung
hatte - auch das muss man sagen - nicht viel Zeit. Aber
sie hat in dieser Zeit rein gar nichts getan, um die Strukturen so zu verbessern, dass Griechenland als Staat vorwärtskommt.
({5})
Man hat sich nicht unbedingt als Partner gezeigt. Man
hätte sich bei Herrn Varoufakis gefreut, wenn er mehr
gearbeitet hätte und weniger in Hochglanzbroschüren
und Talkshows zu sehen gewesen wäre, was übrigens
auch für viele deutsche Politiker gilt.
({6})
Wenn man sich die Situation ansieht, stellt man fest:
Es ist nicht so, dass es in Europa am Willen fehlt; vielmehr fehlt es an einem Partner in Griechenland. Und das
betrifft nicht nur die jetzige Regierung, sondern auch die
vorherigen Regierungen.
Ich finde es allerdings schwierig, wenn sich Herr Gysi
hierhinstellt, die jetzige Regierung hoch lobt, sich faktisch mit ihr verheiratet und sagt: Europa will diese linke
Regierung stürzen. Ehrlich gesagt, Herr Gysi, diese Regierung ist erstens nicht links.
({7})
Links ist etwas ganz anderes, Links hat etwas mit Fortschritt und Zukunft zu tun. Zweitens ist diese Regierung
- wenn man sie einmal auf Deutschland überträgt - eine
Mischung aus Linkspartei und AfD. Das heißt, wir hätten als Regierungschefin vielleicht Frau Wagenknecht
und Herrn Lucke als Finanzminister. Dass das nicht
funktionieren kann, hat, ehrlich gesagt, jeder einzelne
Deutsche gemerkt. Man kann der Linken und der AfD
nichts anvertrauen!
({8})
Das kann man in Griechenland sehen, das kann man in
Griechenland jeden Tag bewundern!
Die Griechen haben das Pech, aus Frust - den kann
ich übrigens auch verstehen - solch eine Regierung gewählt zu haben. Und jetzt müssen wir alle gucken, wie
wir damit klarkommen. Die SPD und die CDU/CSU haben es gesagt - auch ich bin dafür -: Natürlich wollen
wir auch mit der jetzigen griechischen Regierung weiter
reden. Wir wollen mit ihr auch weiter verhandeln. Dann
muss man aber auch über Strukturreformen verhandeln,
die, wenn sie umgesetzt werden, das Land weiterbringen, es nach vorne bringen und in die Situation versetzen, am Ende sich selbst zu helfen. Darum geht es doch.
({9})
Hilfe zur Selbsthilfe ist gut; aber dann muss es auch
eine Regierung geben, die will. Wenn wir uns diese Regierung angucken, dann stellen wir fest, dass wir mit ihr
ein Problem haben. Herr Kindler, der ja immer gute
Stichworte gibt, hat sich hierhingestellt und gesagt, dass
wir nicht aufgeben sollen. Bestimmt sei dieses Angebot
nicht das letzte. Ehrlich gesagt, ich hätte auf die letzten
vier, fünf, sechs, sieben, acht Angebote allesamt verzichten können. Mir hätte ein Angebot gereicht, mit dem
man arbeiten und auf dessen Grundlage man gemeinschaftlich die Probleme angehen könnte.
({10})
Die übrigen 18 Staaten der Euro-Zone waren sich selten so einig wie jetzt. Das ist - man muss das sagen 10976
eine echte Leistung dieser Regierung. Die Linke schafft
es ja auch immer, das ganze Haus gegen sich aufzubringen. - Man muss doch einfach zur Kenntnis nehmen,
dass man einen Kompromiss nur dann hinbekommt,
wenn ihn die 18 mit dem einen gemeinsam erarbeiten
und umsetzen.
Wir alle wollen, dass Griechenland im Euro bleibt.
Wir alle wollen, dass es funktioniert. Wir hätten aber
auch gerne eine Regierung, die uns ein Angebot macht,
mit uns verhandelt und nachher das Verhandelte auch
umsetzt - und nicht nur das eine Verhandlungsergebnis
als Ausgangsgrundlage für die nächste Verhandlung
nimmt, um immer einen kleinen Schritt weiter nach
vorne zu kommen. Das ist nicht Verhandeln, das ist unverantwortlich! Denn hier wird nicht ein bisschen um
das letzte Bargeld gepokert, sondern man spielt mit dem
Schicksal von 11 Millionen Menschen in Griechenland
und mit der europäischen Idee. Das ist schändlich.
Herr Gysi, mit Ihrer rabulistischen Rede haben Sie
das Ganze auch nicht mit dem notwendigen Ernst behandelt. Sie haben hier bei dem Versuch versagt, Griechenland im Euro zu halten. Sie haben dabei versagt, die
deutsche Bevölkerung mitzunehmen. Sie haben hier mit
Ihrem billigen Populismus versagt; denn Sie haben dabei
alle Ressentiments bemüht. Das reicht für die 10 Prozent, die Sie haben wollen, aber in der Sache ist es billig
und falsch und wird ihr nicht gerecht.
Vielen Dank.
Herr Kollege Kahrs, es gibt noch eine Zwischenfrage
vom Kollegen Hans-Christian Ströbele. Ich möchte Sie
fragen, ob Sie die zulassen.
Wer meine Redezeit verlängern will, möge das tun.
({0})
Danke, Herr Kollege, dass Sie die Frage noch zulassen. Ich hatte mich schon vorhin gemeldet. Frau Präsidentin, auch bei Ihnen bedanke ich mich. - Ich sitze ja
hier und bekomme die Diskussion mit. Immer wieder
höre ich, dass die Griechen ihre Verpflichtungen einhalten sollen. Von Ihrem Kollegen Schneider habe ich vorhin gehört, dass die Griechen die 340 Milliarden Euro
sowieso nie bezahlen können. Ich glaube auch, dass es
die Auffassung dieser Bundesregierung ist, dass Griechenland diese Schuldenlast - die sich wie auch immer
ergeben hat - gar nicht zahlen kann.
Welchen Vorschlag haben Sie denn, wenn die Griechen das gar nicht können? Sie sagen immer: Die wollen
nicht. Vielleicht wollen sie, können aber gar nicht, weil
sie kein Geld haben, um die Schulden zurückzuzahlen.
Das heißt, Sie drücken sich um die zentrale Frage: Wenn
die gar nicht können, ist dann nicht eine Umschuldung
bzw. ein Schuldenerlass - jedenfalls bis zu dem Grad,
bei dem eine Rückzahlung möglich wird - oder vielleicht auch eine Verschiebung der Rückzahlung und der
Bedienung der Schulden dringend notwendig? Wo liegt
dieser Vorschlag auf dem Tisch?
Herr Kollege, erstens möchte ich mich für diese Frage
bedanken, weil sie meine Redezeit verlängert.
Zweitens glauben wir, dass wir in Europa, wenn wir
mit Griechenland, mit der griechischen Regierung eine
Absprache treffen und eine vernünftige Übereinkunft erreichen können - vielleicht gelingt es ja, dass sich die
griechischen Bürger am Sonntag für den Euro aussprechen, im Gegensatz zu ihrer Regierung -, auch ein vernünftiges Angebot hinbekommen werden, was dazu führen wird, den Griechen die Chance zu gegeben, ihr Land
so aufzubauen, dass sie sich selber helfen und selber aus
dieser Misere herauskommen. Dass es am Ende nicht
immer alleine gehen wird, das mag sein; es hat ja schon
einmal einen Schuldenschnitt gegeben. Wenn wir sehen,
dass wir dort einen Partner haben, werden wir bestimmt
auch zu vernünftigen Regelungen kommen.
Aber Sie können nicht einem Partner, der griechischen Regierung, immer wieder - ein ums andere Mal Zugeständnisse machen, die sie zwar ständig „einsackt“,
und dann weiterverhandeln. Wenn Griechenland seine
Strukturen nicht ändert, was notwendig wäre, um aus
Griechenland wieder einen funktionierenden Staat zu
machen, dann können Sie jetzt nicht im Vorgriff - wie
auch immer - Wohltaten ausschütten und alles Mögliche
versprechen: Wir streichen die Schulden, wir geben
mehr Geld.
Was wäre denn das, wenn das Vertrauen fehlt? Sie
machen einen Schuldenschnitt, die Schulden sind weg;
dann hätte der griechische Staat, die griechische Regierung jede Freiheit, neue Schulden zu machen. Wie wollen Sie das denn verhindern? Das ist beim letzten Mal
doch auch passiert. Billige, einfache Antworten werden
dem Problem leider nicht gerecht. Hier brauchen Sie einen Partner; hier brauchen Sie ein Gesamtkonzept.
Die von Ihnen angesprochenen Punkte können ein
Teil der Lösung sein. Das heißt aber auch: Wenn sich die
18 Staaten bewegen und Griechenland mehr zugestehen
als je einem anderen Staat, dann brauchen sie aber auch
einen Partner, der verlässlich ist und nicht immer wieder
ein letztes Angebot und noch ein letztes Angebot macht,
wie Herr Kindler sagt. Das ist nämlich das Gegenteil von
solide und zuverlässig; das ist so etwas wie Herr Gysi
und die Linkspartei.
Vielen Dank.
({0})
Vielen Dank. - Als nächster Redner hat Manuel
Sarrazin von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das
Wort.
Frau Präsidentin! Sehr verehrte Damen und Herren!
Frau Kanzlerin! Herr Vizekanzler! Herr Schäuble! Mich
macht diese Debatte ein bisschen ratlos. Sie ist ja auch
von großer Ratlosigkeit geprägt, was dazu führt, dass
man viel über die letzten fünf Jahre und nur wenig über
die nächsten fünf Tage redet.
Ich habe in diesem Haus immer erlebt, dass es bei diesem Punkt einen großen Trennungskeil zwischen den
Abgeordneten - quer zu den Fraktionen - gibt, und ich
habe mich an dieser Stelle immer mehr bei Angela
Merkel, bei Wolfgang Schäuble, bei Volker Kauder, bei
fast allen meiner Fraktion und bei fast allen in der SPD
als bei den Kollegen von der Linkspartei, dem Herrn
Gauweiler und anderen gefühlt. Es ging dabei um die
Frage, ob man Europa am Ende als ein Konzept sieht,
bei dem das Wir entscheidet, darum, dass „Wir“ die
europäischen Bürgerinnen und Bürger sind, und nicht,
dass „Wir“ wir und die anderen - im Sinne von „wir
Deutschen und die anderen“ - sind.
({0})
Herr Schäuble, ich habe Sie - Ihre Konzepte von
Kerneuropa und Ähnliches ausgenommen - immer sehr
geschätzt, und ich habe, ehrlich gesagt, Angst, dass Ihnen dieser gemeinsame Punkt, der uns zusammengehalten hat, in den letzten Wochen abhandengekommen ist.
Auch bei Frau Merkel habe ich diese Sorge, nachdem
ich in den Situationen, in denen es wirklich um alles
ging, immer das Gefühl hatte, dass Sie bei allen pragmatischen Überlegungen, bei aller Notwendigkeit, Ihre
Politik zu Hause zu verkaufen, die historische Bedeutung von gewissen Entscheidungen immer mit einpreisen.
Ich erkenne, dass wir hier inzwischen vielleicht ein
unterschiedliches Konzept von Europa haben. Sie glauben, Europa wäre gestärkt, wenn Griechenland durch
noch größere Probleme gehen würde - entweder durch
einen Grexit oder durch eine noch tiefere innenpolitische
Krise nach einem Nein. Ich kann mich zwar irren, aber
ich glaube, dass das falsch ist.
({1})
Diese Debatte wird live im griechischen Staatsfernsehen übertragen und übersetzt. Ich frage mich, wer - Herr
Gysi möchte ja ein Nein erreichen - mit seiner Rede
dazu beigetragen hat, die Menschen in Griechenland, die
noch nicht wissen, wie sie sich am Sonntag entscheiden
sollen, von unserem Wunsch zu überzeugen, dass Griechenland mit uns im Euro bleiben soll.
({2})
Ich bin nicht jemand, der sagt, das Bild vom unnachgiebigen Deutschen - in Anführungszeichen -, das von
gewissen politischen Kräften in Griechenland bedient
wird, wäre zutreffend. Aber ich glaube, wir müssen es
den Menschen unbedingt leichter machen, zu erkennen,
dass dieses Bild nicht zutreffend ist. Daher muss man
sich in einer solchen Debatte von den innenpolitischen
Problemen, die ich nachvollziehen kann, frei machen
und muss sich der Wirkung bewusst sein, die diese Debatte fünf Tage vor einem Referendum, das für die Zukunft Europas natürlich entscheidend ist, auf Griechenland hat.
({3})
Wir erleben seit Jahren, dass in dem von Toni
Hofreiter treffend dargestellten System von europäischem Regieren die Handlungsspielräume von deutscher
Politik, von griechischer Politik und von allen anderen
immer kleiner geworden sind - einem System, in dem
Regierungen entscheiden, die bis zu einem gewissen
Grad nationales Interesse vertreten müssen, in dem europäische Institutionen, die auch nach anderen Logiken
handeln können, außen vor bleiben. Ich hätte mir gewünscht, dass die heutigen Reden, vor allem von Vertretern der Bundesregierung, dazu beigetragen hätten, die
Handlungsspielräume der griechischen Politik und, um
es ganz ehrlich zu sagen, in diesem Falle vor allem des
griechischen Demos zu steigern. Ich vertraue auf die
Menschen in Griechenland, und ich bin davon überzeugt, dass die Menschen in Griechenland sich für
Europa entscheiden werden.
({4})
Vielleicht ist es vor diesem Hintergrund ein grundsätzlicher Fehler in der Verhandlungsstrategie von Herrn
Tsipras - von dem ich nicht viel halten muss -, aber auch
von Vertretern Europas gewesen, dass sie einer Regierung wie der von Syriza überhaupt die Möglichkeit gegeben haben, in einer Situation, in der alles auf der
Kante steht, eine solche Fehlentscheidung zu treffen,
weil man das Problem vorher nicht abgeräumt hat. Denn
verdammte Axt: Es geht gerade um ganz, ganz viel. Frau
Merkel hat gesagt: Die anderen 18 müssen keine Sorge
vor der Katastrophe haben. - Wir sind aber 19 gemeinsam in der Euro-Zone und 28 in der Europäischen
Union.
Danke sehr.
({5})
Vielen Dank. - Als nächster Redner hat Eckhardt
Rehberg für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich bin Bundesfinanzminister Schäuble ausdrücklich
dankbar für seinen Hinweis, dass wir am 1. Juli vor
25 Jahren die D-Mark eingeführt haben. Ich bin ja einer
derjenigen, die das im Ostteil unseres Vaterlandes miterleben durften. Die Menschen haben vorher bei den Demonstrationen gerufen: Kommt die D-Mark nicht zu
uns, dann gehen wir zu ihr. - Wir haben es getan. Ich
glaube, eines der wesentlichen Momente bei der Einführung der D-Mark war, neben dem Materiellen und Fiska10978
lischen, das Gefühl der Menschen in der ehemaligen
DDR: Wir gehören jetzt dazu. - Das war das Gemeinschaftsgefühl, das sich in der D-Mark ausgedrückt hat.
Ich kann den Menschen in Griechenland nur zurufen:
Stimmen Sie am Sonntag mit Ja, weil Sie zum Euro und
zu Europa gehören wollen! Ein Nein wäre an dieser
Stelle das Gegenteil davon. - Das ist meine Bitte an die
Menschen in Griechenland.
({0})
Herr Kollege Gysi, Sie sprachen von „Ultimatum“.
Machen Sie sich einmal folgende Mühe: Heute Mittag
ist allen Mitgliedern ein Dokument des Europareferates
des Deutschen Bundestages zugeleitet worden, in dem
eine Synopse zwischen dem laufenden Programm, zwischen dem Verhandlungsstand der Institutionen, der
Troika, und dem, was die griechische Regierung angeboten hatte, dargestellt wurde. Wenn jetzt Herr Tsipras, wenige Stunden vor dem Referendum, immer wieder neue
Angebote macht, aber gleichzeitig die Griechen auffordert, mit Nein zu stimmen - also: keine Konditionierung,
Geld ohne Konditionen -, dann ist das schizophren, Herr
Kollege Gysi.
Es ist wahr, dass die Angebote der Troika und der
griechischen Regierung ziemlich nahe beieinanderlagen.
Beim Primärüberschuss hätten wir - das sage ich für
meine Fraktion - in der Tat Probleme gehabt. Im alten
Programm waren 3,5 Prozent für dieses Jahr und
4,5 Prozent für nächstes Jahr vorgesehen. Das Angebot
der Troika und der griechischen Regierung lautete 1 Prozent für dieses Jahr und 2 Prozent für nächstes Jahr. Das
ist das wesentliche Moment. Aber wissen Sie, woran das
unter anderem gescheitert ist? Bei der Kürzung der Militärausgaben lagen die Vorschläge um 200 Millionen
Euro auseinander. Die Troika wollte 400 Millionen
Euro; die griechische Links-rechts-Regierung wollte nur
200 Millionen Euro.
({1})
Das sind die Probleme, über die wir reden müssen, Herr
Kollege Gysi.
({2})
Wir müssen präzise sein, Herr Kollege Gysi: Die Regierung in Athen ist keine Linksregierung. Sie ist eine
Regierung aus Linkspopulisten, Linksextremen, Linksradikalen und Rechtspopulisten, Rechtsextremen und
Nationalisten. Das ist die Wahrheit.
({3})
Allein um der Macht willen hat sich Herr Tsipras mit
Herrn Kammenos ins Bett gelegt, damit sie eine Regierung bilden konnten. Das ist die ganze Wahrheit an dieser Stelle. Deswegen konnte man bei den Militärausgaben nicht zusammenkommen, meine sehr verehrten
Damen und Herren von den Linken.
Mit Blick auf die Zukunft darf ich aus dem ESM-Vertrag zitieren. Manche meinen offenbar - man muss nur
Herrn Hofreiter und Herrn Gysi zuhören -, es wäre ganz
einfach, so mal ein paar Milliarden Euro rüberzuschieben. Die EFSF-Welt ist um Mitternacht abgelaufen;
IWF-Kreditrate: nicht gezahlt. Wir sind jetzt in der
ESM-Welt. Ich darf aus Artikel 3 des ESM-Vertrages,
den wir im Deutschen Bundestag ratifiziert haben, zitieren: Mitgliedstaaten der Euro-Zone, denen schwerwiegende Finanzprobleme drohen, werden unter strikten
Auflagen Stabilitätshilfen gewährt, „wenn dies zur Wahrung … des Euro-Währungsgebiets insgesamt und seiner
Mitgliedstaaten unabdingbar ist“.
Dazu ist ein Antrag der jeweiligen Regierung notwendig. Wenn jetzt Herr Tsipras zu seinen Bürgern sagt:
„Stimmt mit Nein! Wir wollen neues Geld ohne Konditionen“, dann kann er, jedenfalls nach meinem Verständnis, keinen Antrag nach dem ESM-Vertrag stellen. Das
ist keine saubere, seriöse und solide Politik; das ist
schlichtweg verantwortungslos gegenüber dem eigenen
Volk.
({4})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, man hat manchmal
Glück. Manchmal gibt es auch Zufälle. Ich habe mich
diese Woche mit einer jungen Rumänin unterhalten, die
mir gesagt hat: Herr Rehberg, wir verstehen überhaupt
nicht, dass Sie den Griechen so weit entgegenkommen
wollen. Es ist bei uns so, dass wir als Erntehelfer und
Gastarbeiter in Griechenland arbeiten, weil die Griechen
ihre Oliven und Pistazien nicht selber ernten wollen. Sie
lassen ernten. - Die junge Rumänin kam dann noch darauf zu sprechen: Die Griechen haben viel höhere Renten; sie haben viel mehr Beschäftigte im öffentlichen
Dienst.
Ich spreche das an dieser Stelle an; denn die Bundeskanzlerin hat hundertprozentig recht. Wir haben, Herr
Sarrazin - ja -, eine Verantwortung für alle 28 in der
Europäischen Union, ja, wir haben eine Verantwortung
für alle 19 in der Euro-Zone. Aber gerade wir als Deutsche, wir als 80-Millionen-Volk haben eine besondere
Verantwortung für die Slowakei, Slowenien, die baltischen Länder, die ein deutlich niedrigeres Sozial- und
Wohlstandsniveau haben als die Griechen, und das, was
wir ihnen zugemutet haben, müssen wir auch den Griechen zumuten. Anders geht es nicht.
({5})
Herr Kollege Rehberg, lassen Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Sarrazin zu?
Kein Problem. Bitte.
Herr Sarrazin.
Herr Kollege Rehberg, ich möchte dieses Argument
aufgreifen, weil ich glaube, dass es an dieser Stelle zum
besseren Verständnis des Sachverhalts und auch der Risiken beitragen kann, auf diesen Punkt einzugehen. Griechenland ist Teil einer Region, in der seit 2007 in fast
allen Ländern riesige wirtschaftliche Probleme vorkommen. Angefangen bei Slowenien über Kroatien, Bosnien-Herzegowina, Montenegro, Mazedonien und Albanien bis hin zu Serbien: In all diesen Regionen erleben
wir, dass mehr und mehr politische Kräfte ans Ruder
kommen und gerade auf junge Leute Einfluss haben, die
eigentlich wieder den Nationalismus predigen, der uns in
den 90er-Jahren in ganz schlimme Kriege geführt hat.
Für all diese Kräfte ist die wirtschaftliche Lage die Saat,
die sie säen können und die es ihnen ermöglicht, zu sagen: Europa verspricht keinen Wohlstand. Wir müssen
gegeneinander kämpfen.
Griechenland ist mit den eben erwähnten Ländern
extrem verwoben; das zeigen die Meldungen über die
serbische und die mazedonische Zentralbank. Die Billigarbeiter, die in Griechenland in der Agrarwirtschaft arbeiten, kommen zum Beispiel aus Albanien und Mazedonien. Wenn Griechenland den Bach runtergeht,
verlieren diese Menschen ihren Job und kehren in ihre
Länder zurück. Dann wird das, was dort so gefährlich
ist, noch gefährlicher. Es geht bei Griechenland also
nicht nur um die Rettung eines Staates in der Euro-Zone.
Vielmehr geht es um ein Land, das in einer hochgefährlichen Region liegt. Deswegen haben wir Deutsche die
Verantwortung, dafür zu sorgen, dass Griechenland stabil
bleibt - damit wir unserer Verantwortung in dieser Region gerecht werden.
Danke.
({0})
Herr Kollege Sarrazin, ich möchte Ihnen gerne erwidern. Wenn ich die Entwicklung in Griechenland in den
letzten zehn Jahren sehe, dann stelle ich fest, dass Griechenland seit Anfang 2000, bedingt durch den Beitritt
zur Euro-Zone, weit über seine Verhältnisse gelebt und
die Schulden in die Höhe gefahren hat, um die Sozialsysteme zu finanzieren. 2010 war Griechenland, regiert
von Sozialdemokraten und Konservativen, nicht mehr in
der Lage, sich auf dem Kapitalmarkt zu refinanzieren.
Dann haben wir das erste und das zweite Hilfsprogramm
aufgelegt. Wenn ich mich recht erinnere - darauf sind
schon einige Redner in der Debatte eingegangen -, war
Griechenland im Dezember letzten Jahres fast wieder
kapitalmarktfähig. Griechenland kam aus der Rezession
heraus und hatte Aussicht, die Arbeitslosigkeit abzubauen. Ich behaupte nicht, dass die Regierungen in
Griechenland zwischen 2010 und 2015 alles richtig gemacht haben, aber Griechenland war, wie es Kollegin
Hasselfeldt formuliert hat, auf einem guten Weg, genauso wie Spanien, Irland, Portugal und Zypern; wir haben gerade heute im Haushaltsausschuss eine Tranche
für Zypern freigegeben.
Deswegen, Herr Kollege Sarrazin, muss man schon
die Frage stellen: War das verantwortungsvoll, was die
griechische Regierung seit Ende Januar bis heute gemacht hat? Sie hat gezockt bis zum Letzten - das hat gerade die letzte Woche gezeigt -, immer in dem Wissen,
dass Solidarität heißt: Hilfe zur Selbsthilfe. Trotzdem
kannten sie nur zwei Themen in den letzten fünf Monaten: einen Schuldenschnitt, und: Gebt uns neues Geld
ohne Konditionen! - So kann Europa - auch im Hinblick
auf die Länder, die Sie gerade genannt haben - nicht
funktionieren, Herr Kollege Sarrazin.
({0})
Ständig werden zusätzliche Finanzpakete für Wachstum und Beschäftigung gefordert. Griechenland hat von
2007 bis heute aus europäischen Strukturfonds 35 Milliarden Euro erhalten. Griechenland hat bis heute von
der Europäischen Investitionsbank noch einmal 11 Milliarden Euro zu günstigsten Konditionen erhalten. Griechenland steht in den nächsten fünf Zeitjahren, in der
nächsten Förderperiode bis 2020, der gleiche Betrag wie
in der vorangegangenen Förderperiode zur Verfügung.
In 13 Jahren sind das über 70 Milliarden Euro aus europäischen Strukturfonds wie dem Europäischen Fonds für
regionale Entwicklung, dem Europäischen Sozialfonds
und ELER einschließlich Direktbeihilfen für die Landwirtschaft.
Was hat man daraus gemacht? Wie wurde das in Anspruch genommen? Ist das alles versickert, oder ist das
dort angekommen, wohin es sollte, nämlich beim Mittelstand, bei Forschung und Bildung, bei den jungen Leuten? Ich muss Ihnen ehrlich sagen: Ich habe große Zweifel - auch nach einem Besuch in Griechenland vor zwei
Monaten -, dass die Gelder für das verwendet wurden,
wozu sie gedacht waren. Die Syriza-Regierung wollte ja
alles besser machen. Aber ich konnte nicht erkennen,
dass sie auch nur an einer Stelle etwas besser gemacht
hat und dass das Geld, das Europa zur Verfügung stellt,
für die Förderung von Wachstum und Beschäftigung sowie zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit eingesetzt wird.
({1})
Herr Kollege Gysi, Sie haben beklagt, dass in den
„Prior Actions“ der Troika nicht die Sonderabgabe auf
Unternehmensgewinne steht. Was Sie aber nicht gesagt
haben, ist, dass die Links-rechts-Regierung in Athen
eine Steueramnestie für die Reichen gemacht hat.
({2})
Das ist für mich völlig unerklärlich. Wie kann man
grundsätzlich auf die Idee kommen, einmal Steuerausfälle von 70 Milliarden Euro in den Wind zu schlagen
und als Zweites einen Cut bei 1 Million Euro anzusetzen? Ich kann mich an einen Artikel im Spiegel erinnern,
in dem aufgezeigt wird, wie die Vetternwirtschaft unter
Syriza und Anel läuft. Das ist keine andere als die unter
der ND oder der Pasok, überhaupt keine andere. Syriza
ist aber mit dem Anspruch angetreten, alles besser zu
machen. Ich habe am 27. Februar hier gesagt: Ich gebe
dieser Regierung eine Chance. - Jetzt kann ich Ihnen
ganz ehrlich sagen: Allein die Steueramnestie für Reiche
ist reinste Klientelpolitik. Das, was Syriza und Anel gemacht haben, ist nicht akzeptabel. Das muss erst einmal
in Griechenland abgestellt werden, bevor wir über weitere Dinge reden.
({3})
Die Bundeskanzlerin hat gesagt: Wo ein Wille ist, da
ist auch ein Weg. - Zum Willen gehören immer zwei. Ich
kann nur noch einmal das sagen, was ich eingangs gesagt habe: Griechen, seid klug, wählt die gemeinsame
Währung, wählt damit Europa! Zwingt eure Regierung,
endlich eine solide, vertrauensvolle und seriöse Politik
mit den Partnern in Europa zu machen!
Herzlichen Dank.
({4})
Als letzter Redner in dieser Debatte hat Axel Schäfer
für die SPD-Fraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Als letzter Redner hat man die Chance, zusammenfassend das Positive herauszustellen. Ich glaube, das Wichtigste an dieser Debatte ist, dass alle in diesem Haus
- manche weniger, manche mehr - bekundet haben: Ja,
wir müssen alles Erdenkliche tun, damit Griechenland in
der EU und im Euro gehalten wird. Wir wollen dieses
Land und diese Menschen nicht herausdrängen.
({0})
Das ist, glaube ich, auch in Zukunft nur möglich - das
hat sich Gott sei Dank zumindest bei einigen hier, auf
verschiedenen Seiten des Hauses, gezeigt -, wenn zur
Kritik auch ein Stückchen Selbstkritik gehört. Jawohl,
wir müssen die Politik der griechischen Regierung und
die Versprechen, die sie nicht gehalten hat, hier deutlich
benennen und auch kritisieren, wie das die vielen Menschen in unserem Land, unsere eigenen Wählerinnen
und Wähler, tun und wie es auch ganz simpel den Fakten
entspricht. Darum kommen wir einfach nicht herum.
Auf etwas anderes hat dankenswerterweise Sigmar
Gabriel hingewiesen: Auch der IWF hat begonnen, zu
fragen, ob alle Maßnahmen richtig waren und alle Wirkungen, was die soziale Situation und anderes anbelangt,
gerecht waren. Sie waren nicht gerecht. Es gehört zur
Wahrheit, auch das an diesem Tag auszusprechen.
Es sollte uns dabei ein gemeinsames Verständnis verbinden. Wir können viel mit Syriza und Herrn Tsipras
diskutieren, aber wir können nicht darüber diskutieren,
dass ein Regierungschef eines Landes der Euro-Zone
oder der EU so tut, als müssten er oder sein Land den
Kampf gegen die EU führen. Griechenland ist Teil der
EU, wie auch wir Teil der EU sind. Es geht darum, eine
gemeinsame Lösung zu finden, nicht darum, andere innerhalb der EU zu bekämpfen. Das betrifft Herrn Tsipras
genauso wie auf der anderen Seite Herrn Orban.
({1})
Noch eines muss klar sein, bei allem Verständnis für
kritische Töne hier: Es geht nicht, dass man von „Diktat“
redet, wissend, dass hinter einer gemeinsamen Lösung in
der EU nicht nur irgendwelche Verhandler stehen. Vielmehr stehen politisch hinter einer gemeinsamen Lösung
in der EU Jean-Claude Juncker, Martin Schulz,
Dijsselbloem, auch Mario Draghi. Alle vier stehen für
Integrität, für ein gemeinsames Europa, nicht für Herausdrängen und auch nicht für Ausgrenzung. Das sollten wir hier im Deutschen Bundestag einmal deutlich unterstreichen.
({2})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sollten bei manchen Dingen nicht so tun, als wüssten wir alles oder als
wären wir uns immer ganz sicher. Der Erhalt Griechenlands im Euro beinhaltet viele Chancen.
({3})
- Ja, Kollege, „viele Milliarden“. - Wenn wir glauben,
jetzt schon zu wissen, in welchen Zeiträumen Griechenland in Europa und im Euro-Raum etwas nicht leisten
kann, dann verdrängen wir wohl, dass Deutschland
90 Jahre gebraucht hat, um bis zum Jahr 2010 seine
Schulden von 1920 zurückzuzahlen. Das hätte 1920 niemand geahnt; aber es hat funktioniert,
({4})
auch weil man Deutschland eine Umschuldung ermöglicht hat. Reden wir doch auch einmal über diese Wahrheiten und nicht nur darüber, was wir unseren Bürgerinnen und Bürgern hier heute schon glauben machen
wollen: dass alles scheitert. Wir selbst sind ein Beispiel
dafür, dass alles oder zumindest vieles gelingen kann.
({5})
Sagen wir noch eins: Jawohl, das, was Samstag/Sonntag seitens der Euro-Gruppe vorgeschlagen worden ist,
war eine wichtige und richtige Grundlage. Es gibt einen
Punkt, der nicht geklärt wurde, und über den müssen wir
reden, nämlich über die Frage der Rente: Was bedeutet
EKAS konkret? Es geht nicht darum, dass man insgesamt „oben“ etwas wegnimmt, sondern um diejenigen,
die unter dem Mindesteinkommen liegen. Darüber muss
man diskutieren. Das ist eine ganz sachliche Frage; das
braucht man gar nicht aufzuheizen. Auch das muss man
ernst nehmen.
Axel Schäfer ({6})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Bundesregierung hat hier eine besondere Verantwortung. Es ist gut,
dass unsere Kanzlerin und der Wirtschaftsminister, der
auch mein Parteivorsitzender ist, gesagt haben: Wir stehen jederzeit bereit, offen zu diskutieren und Dinge auch
wieder voranzubringen. - Denn eins ist auch klar - darauf brauchen wir keine Wette einzugehen -: Von jetzt,
Mittwoch, 1. Juli 2015, etwa 15.27 Uhr, bis nächsten
Sonntag wird sich noch eine ganze Menge tun, vielleicht
auch ein bisschen mehr, als wir bisher geglaubt haben.
Auch das müssen wir ein Stück weit aufgreifen, und
zwar mit einer gewissen Haltung, gerade gegenüber den
Menschen in Griechenland als auch gegenüber den hier
lebenden Griechen, die häufig ziemlich wohlklingende
Namen wie Leandros, Vassiliadis, Simitis usw. haben.
Lassen Sie uns dazu beitragen, dass es am nächsten
Sonntag ein „Ja“ gibt.
Auch ich persönlich will an Tsipras appellieren. Wenn
er am Freitag eine Fernsehansprache hält, soll er die
Möglichkeit nutzen, „Ja“ zu diesem Europa zu sagen.
Denn eins geht nicht, für niemanden in der Politik: dass
ein Regierungschef eines Landes der Europäischen
Union seinem Volk eine Frage zur Abstimmung vorlegt,
mit „Nein“ gegen die Europäische Union zu stimmen.
Das geht definitiv nicht.
Vielen Dank.
({7})
Vielen Dank. - Damit schließe ich die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 18/5371. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Fraktion Die Linke. Wer stimmt dagegen? - Alle
anderen Fraktionen. Gibt es Enthaltungen? - Das ist
nicht der Fall. Damit ist der Entschließungsantrag mit
den Stimmen der Koalition und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der Fraktion Die
Linke abgelehnt worden.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 1 auf:
Befragung der Bundesregierung
Die Bundesregierung hat als Thema der heutigen Kabinettssitzung mitgeteilt: Entwurf eines Gesetzes zur
Umsetzung der EU-Mobilitäts-Richtlinie.
Das Wort für den einleitenden fünfminütigen Vortrag
erhält die Bundesministerin für Arbeit und Soziales,
Andrea Nahles. Frau Ministerin, Sie haben das Wort.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Bundesregierung hat heute ein klares Signal
zur Stärkung der betrieblichen Altersversorgung gesetzt.
Dabei werden wir zweigleisig vorgehen. Wir haben einen Gesetzentwurf auf den Weg gebracht, um die EUMobilitäts-Richtlinie in deutsches Recht umzusetzen.
Gleichzeitig erörtern wir mit den Beteiligten weitere
mögliche Reformschritte. Dazu lassen wir parallel die
staatliche Förderung der Betriebsrenten wissenschaftlich
aufarbeiten. Das Erste - die Vorgaben der europäischen
Richtlinie, die wir in unser Betriebsrentengesetz umsetzen - möchte ich Ihnen heute kurz erläutern.
Ziel ist, dass Arbeitgeberwechsel, insbesondere auch
grenzüberschreitende, nicht mehr an nationalen Betriebsrentenregelungen scheitern. Wo Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern beim Wechsel innerhalb der EU
Probleme mit der betrieblichen Altersversorgung im
Weg stehen, wollen wir diese Hindernisse beseitigen.
Das betrifft durchaus wichtige Regelungsbereiche im
Betriebsrentengesetz, die neu gefasst oder an die Richtlinie angepasst werden müssen.
Arbeitgeberfinanzierte Anwartschaften auf Betriebsrenten sollen künftig bereits nach drei Jahren unverfallbar werden statt bislang nach einer Frist von fünf Jahren.
Außerdem wird das Lebensalter, zu dem man frühestens
den Arbeitgeber verlassen darf, ohne dass die Anwartschaft verfällt, vom 25. auf das 21. Lebensjahr abgesenkt. Durch Gleichbehandlung von Anwartschaften
ausgeschiedener Beschäftigter mit denen ihrer verbliebenen Kollegen wollen wir erreichen, dass ein Arbeitgeberwechsel der Betriebsrente nicht schadet. Wir wollen
auch die Rechte der Beschäftigten stärken, wo es um
Auskunft und Information geht, aber auch bei möglichen
Abfindungen.
In all diesen Punkten wollen wir die EU-Richtlinie
eins zu eins umsetzen. In einem Punkt tun wir allerdings
mehr. Die neuen Vorgaben sollen nicht nur bei grenzüberschreitendem Arbeitgeberwechsel gelten. Das würde
Beschäftigte innerhalb Deutschlands diskriminieren, und
es würde unnötige Bürokratie schaffen. Deshalb soll das
neue Recht für alle Beschäftigten gelten.
Deutschland war in Sachen Mobilitäts-Richtlinie über
Jahre sehr kritisch, weil wir negative Auswirkungen auf
die Verbreitung von Betriebsrenten in unserem Land
ausschließen wollten. Mit unserer möglichst schonenden
Umsetzung können wir das, so hoffe ich, erreichen. Wo
uns die Richtlinie Umsetzungsspielräume lässt, haben
wir sie im Sinne des deutschen Systems genutzt. Das bedeutet zum Beispiel, dass wir die häufig abstrakten Vorgaben der Richtlinie konkret ins Betriebsrentengesetz
eingepasst und dabei den Besonderheiten des deutschen
Systems, wo möglich, Rechnung getragen haben. Das
sollte es auch den Praktikern vor Ort erleichtern, das
neue europaweite Recht anzuwenden.
„Schonende Umsetzung“ heißt übrigens auch, dass
das neue Recht erst 2018 in Kraft treten soll und damit
nur für Beschäftigungszeiten nach diesem Zeitpunkt gilt.
Das schafft genügend Vorlauf für die Betriebsrentensysteme, und das gibt Rechts- und Planungssicherheit. Genau diese Sicherheit ist die Basis für den weiteren Aufund Ausbau der betrieblichen Altersversorgung, den wir
uns wünschen.
Ich bin nun zuversichtlich, dass das neue Recht nicht
nur die Mobilität innerhalb der EU fördert. Auch können
künftig mehr junge mobile Arbeitnehmerinnen und Ar10982
beitnehmer als bisher unverfallbare Betriebsrentenansprüche erwerben.
Vielen Dank.
({0})
Vielen Dank. - Ein kleiner Hinweis für Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen: Die Medienwände sind ausgefallen. Wir versuchen, die Störung zu beheben; das ist in
Arbeit. Die Uhren laufen aber. Deshalb erinnere ich Sie
noch einmal daran, dass wir eine Verständigung darüber
haben, dass Sie eine Minute für die Stellung der Frage
zur Verfügung haben und die Ministerin eine Minute für
die Antwort hat. Das ist eine ziemlich anspruchsvolle
Aufgabe; aber Sie werden sie meistern.
Mir liegen bereits zwei Wortmeldungen für Fragen
vor. Zuerst hat der Kollege Peter Weiß von der CDU/
CSU-Fraktion das Wort.
Frau Bundesministerin, Sie haben darauf hingewiesen, dass diese EU-Portabilitäts-Richtlinie, jetzt EU-Mobilitäts-Richtlinie, auch bei uns im Deutschen Bundestag
sehr umstritten war und kritisiert wurde, weil wir keine
negativen Auswirkungen auf das deutsche Betriebsrentensystem wollen. Wie ist die Positionierung der Arbeitgeber, also der Unternehmen, die die betriebliche Altersvorsorge anbieten, und der Gewerkschaften zu dem jetzt
vorliegenden Gesetzentwurf der Bundesregierung zur
Umsetzung der Richtlinie?
Alle Beteiligten, also beide Sozialpartner, begrüßen
durchweg, dass wir den Handlungsspielraum, den uns
die EU-Richtlinie gegeben hat, voll ausschöpfen, auch
was die Regelung angeht, dass wir damit erst 2018 an
den Start gehen.
Insgesamt werden die von Europa vorgesehenen Neuregelungen von vielen deutschen Arbeitgebern immer
noch so bewertet, dass sie nicht förderlich sind, um einen
weiteren Ausbau der Betriebsrenten zu vollziehen. Seitens der Gewerkschaften wird grundsätzlich begrüßt,
dass Beschäftigte künftig schneller und früher einen
Rechtsanspruch bekommen. Aber insgesamt wird es
eher als dämpfend empfunden. Es handelt sich jedoch
um eine Umsetzung, die wir vornehmen müssen.
Jetzt erhält der Kollege Matthäus Strebl das Wort für
eine Frage.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Frau Ministerin, derzeit wird das Umsetzungsgesetz zur PensionsfondsRichtlinie in der EU verhandelt. Meine Frage lautet: In
welchem Verhältnis steht dies zur EU-Mobilitäts-Richtlinie? Meine zweite Frage: Muss das Betriebsrentengesetz dadurch noch einmal angepasst werden?
Die EU-Pensionsfonds-Richtlinie beinhaltet finanzaufsichtsrechtliche Vorgaben. Das bedeutet, dass wir tatsächlich noch einmal eine rechtliche Änderung vornehmen müssen. Das wollen wir im Zusammenhang mit
dem Versicherungsaufsichtsgesetz angehen. Ich weiß
nicht genau, wann das der Fall sein wird; das müsste
eher das Finanzministerium wissen. Aber wir müssen
auch auf dieser Ebene noch eine Anpassung vollziehen.
Vielen Dank. - Als nächster Fragesteller hat der Kollege Kurth von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das
Wort.
Zunächst einmal sollte man den Zuschauerinnen und
Zuschauern auf der Tribüne erklären, dass bei dem Format der Regierungsbefragung nicht die Opposition die
Themen aussucht, sondern die Regierung sie festsetzt.
Die sogenannte Portabilität von Betriebsrenten und das
Zusammenwachsen innerhalb der EU auf diesem Gebiet
sind sicherlich sehr wichtig. Aber hier spielt eine Fülle
von technischen Details eine Rolle, die meines Erachtens in eine Ausschusssitzung gehören und nicht ins Plenum, wo uns die breite Öffentlichkeit zuschaut.
({0})
Hier sollten wir eher Fragen diskutieren, die eine breite
Öffentlichkeit nachvollziehen kann und die sie betreffen.
Beispielsweise haben Sie gestern zum Mindestlohn eine
Pressekonferenz gemacht. Es wäre sehr schön gewesen,
wenn wir das hier im Rahmen einer Regierungsbefragung hätten vertiefen können. Insofern ist meine Frage:
Hatten Sie in der Kabinettssitzung keine spannenderen
Themen als dieses zwar wichtige, aber doch eher technische Thema?
({1})
Herr Kurth, das fragen Sie mich als Arbeits- und Sozialministerin? Das sind Themen meines Hauses, und
die finde ich alle brennend spannend.
({0})
Wenn Sie das nicht interessiert,
({1})
dann müssen Sie den Ausschuss wechseln. Das steht Ihnen ja frei.
({2})
Im Übrigen weise ich darauf hin, dass die Frage, die
uns im Kabinett beschäftigt hat, eben in einer 125-minütigen Debatte ausführlich und für alle in der Öffentlichkeit nachvollziehbar diskutiert worden ist. Natürlich haben wir heute auch über Griechenland geredet; das ist
doch gar keine Frage. Aber dieses Land wird weiter gut
regiert. Vielleicht kann man das nicht von allen anderen
Ländern sagen. Auch wenn es Krisen gibt, machen wir
das hier so seriös weiter, wie wir das gewohnt sind. Darauf können sich alle in unserem Land verlassen. Wie
Sie wissen - Sie sind ja in dem Bereich Experte -, diskutieren wir seit Jahren diese Frage, die für das Zusammenwachsen Europas nicht unwichtig ist, um das es
heute auch ging. Denn das, was wir heute hier schaffen,
ist eine Grundlage für ein Mehr an Miteinander in Europa, nicht für ein Weniger.
({3})
Vielen Dank. - Als nächste Fragestellerin hat Kerstin
Tack von der SPD das Wort.
Schönen Dank. - Frau Ministerin, meine Frage bezieht sich auf die Regelung, die heute hier zur Debatte
steht, und nicht auf Themen, die eben nicht zur Debatte
stehen. Also: Wieso soll die neue Regelung, wonach die
Beschäftigten einer Abfindung zustimmen müssen, nicht
für innerstaatliche Arbeitgeberwechsel gelten?
Bei uns ist eine Abfindung nicht dasselbe wie ein Betriebsrentenanspruch. Deswegen stehen wir dem grundsätzlich kritisch gegenüber. In vielen Ländern ist es üblich, eine Abfindung zu zahlen. Was wir erreichen
wollen, ist ein Drei-Säulen-Modell, aus dem sich das gesamte Rentenniveau zusammensetzt. Das bedeutet eben,
dass ein Betriebsrentenanspruch ein wichtiger Teil der
Grundversorgung im Alter ist. An diesem Prinzip halten
wir fest, und das wollen wir auch in Zukunft nicht ändern.
Als nächste Fragestellerin hat Jana Schimke von der
CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Frau Ministerin, ich habe eine kurze Frage. Wir sind
uns darin einig, dass die betriebliche Altersvorsorge eine
ganz zentrale Bedeutung für die Altersvorsorge insgesamt hat. Wir wollen die zweite und dritte Säule auch
weiter stärken. Allerdings müssen wir dabei die Situation der Unternehmen berücksichtigen, ob sie also in der
Lage sind, das, was wir uns wünschen, umzusetzen.
Meine Frage an Sie ist: Wie hoch ist der Erfüllungsaufwand der Wirtschaft in Verbindung mit diesem Gesetz?
Wir haben bei der Umstellung einen einmaligen Erfüllungsaufwand für die Wirtschaft in Höhe von
155 Millionen Euro. Danach wird der Erfüllungsaufwand auf 135 000 Euro jährlich heruntergehen, also
deutlich geringer sein. Aber diesen einmaligen Umstellungsaufwand haben wir.
Als nächster Fragesteller hat Ralf Kapschak von der
SPD-Fraktion das Wort.
Eine Vorbemerkung: Ich fände es ausgesprochen
schade, wenn der Kollege Kurth den Ausschuss wechseln würde.
({0})
Aber das ist dann vielleicht mein persönliches Problem.
({1})
- Okay, machen wir.
Frau Ministerin, Sie haben es angesprochen: Wir haben uns den ganzen Vormittag über ein zusammenwachsendes Europa unterhalten. Deshalb ist meine Frage:
Wie gehen andere Länder der EU mit der Umsetzung der
Richtlinie um?
Im Moment setzen alle die Richtlinie um. Wir gehen
davon aus, dass das weitgehend problemlos verläuft. Die
Betriebsrentenstrukturen in den EU-Ländern sind sehr
unterschiedlich; aber bisher haben wir keine Kenntnis
davon, dass es Probleme gibt. Wir erleben aber auch in
Gesprächen mit den europäischen Kollegen, dass viele
die Richtlinie zum letztmöglichen Zeitpunkt umsetzen,
nämlich Mitte 2018. Wir liegen da sicherlich im guten
Mittelfeld.
Vielen Dank. - Als nächste Fragestellerin hat die Kollegin Brigitte Pothmer von der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen das Wort.
Frau Ministerin, Sie haben gerade gesagt, dass Sie die
EU-Richtlinie hier eins zu eins umsetzen wollen. Gilt
das eigentlich auch für die automatische Auskunftspflicht?
Ja, auch die Transparenzregeln sind verbessert worden.
Jetzt hat Albert Weiler von der CDU/CSU-Fraktion
das Wort für eine Frage.
Sehr geehrte Ministerin, vielen Dank, dass Sie sich
heute hier den Fragen stellen. - Herr Kurth, ob Sie den
Ausschuss aufgeben oder nicht, müssen Sie selber entscheiden. Aber es gibt andere, bei denen es sinnvoll
wäre, wenn sie den Ausschuss verließen. Dann hätten
wir dort viel sinnvolle Zeit gespart.
({0})
Aber jetzt zur Frage. Mich interessieren die Steuern.
Werden die Änderungen bei den Unverfallbarkeitsfristen
steuerlich begleitet, und, wenn ja, was wird das den
Steuerzahler kosten?
Ja, die Absenkung der Unverfallbarkeitsfristen erfordert im Einkommensteuergesetz Anpassungen bei den
Regelungen zur Bildung von Pensionsrückstellungen
und bei der Abzugsfähigkeit von Zuwendungen an Unterstützungskassen. Dies führt zu Steuermindereinnahmen in Höhe von 65 Millionen Euro in der vollen Jahreswirkung.
Jetzt hat Katja Mast von der SPD-Fraktion das Wort.
Frau Ministerin, inwiefern werden die Informationsrechte der Beschäftigten durch die Umsetzung dieser
Richtlinie verbessert?
Das hatte Frau Pothmer schon angesprochen. Künftig
haben neben den Beschäftigten auch ausgeschiedene Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie die Hinterbliebenen explizit einen Auskunftsanspruch im Betriebsrentengesetz. Der Informationsanspruch wird außerdem
präzisiert. So müssen Beschäftigte auf Verlangen zum
Beispiel auch darüber informiert werden, wie hoch die
Betriebsrente zum Rentenbeginn voraussichtlich sein
wird. Damit können die Beschäftigten einschätzen, ob
und in welchem Umfang sie gegebenenfalls noch weiter
vorsorgen müssen. Das ist eine deutliche Verbesserung
bei der Umsetzung der EU-Richtlinie.
Jetzt hat wiederum der Kollege Markus Kurth für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Mit Interesse nehme ich zur Kenntnis, wer mich gerne
weiter im Ausschuss arbeiten sieht und wer nicht. Es
muss sich aber jetzt nicht jede Kollegin und jeder Kollege bei einer Wortmeldung dazu äußern.
Frau Ministerin, die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände hat durchaus Befürchtungen,
dass mit der Umsetzung der Mobilitäts-Richtlinie durch
die neuen Pflichten und durch zusätzliche Kosten die
Attraktivität der Einrichtung einer Betriebsrente geschwächt werden könnte. Gleichzeitig plant Ihr Haus
noch einen Gesetzentwurf, um die Betriebsrente mit
Pensionsfonds obligatorisch zu gestalten. Hier sind es
sogar beide Sozialpartner - der DGB und die BDA -, die
befürchten, dass bewährte zuverlässige Betriebsrentenmodelle dadurch eher geschwächt als gestärkt werden.
Wie sehen Sie vor diesem Hintergrund Ihrer eigenen,
noch nicht vorliegenden Pläne plus der Umsetzung der
Mobilitäts-Richtlinie die Zukunft des Modells der Betriebsrente? Sehen Sie hier Risiken, die Sie womöglich
selbst auslösen?
Von der Planung, dass wir ein Obligatorium gesetzlich festschreiben wollen, habe ich keine Kenntnis. Das
ist eine überraschende Neuigkeit, Herr Kurth. Allerdings
wollen wir eine Optimierung der staatlichen Förderung
von Betriebsrenten in den Mittelpunkt stellen. Dazu wird
derzeit - das liegt in der Zuständigkeit des BMF - ein
wissenschaftliches Gutachten erstellt, das wir Ende des
Jahres erwarten. Sie wissen, dass wir beide, BMF und
BMAS, für dieses Thema zuständig sind, weil es uns
beide - einmal Steuern, einmal Sozialversicherungsbeiträge - berührt. Ich bin auf die Ergebnisse dieses Forschungsvorhabens gespannt.
Darüber hinaus haben wir vom BMAS einen Vorschlag gemacht, wie wir die Einbindung der Sozialpartner verbessern können, also auch der Arbeitgeberseite,
die Bedenken hat. Diesen Vorschlag - wir haben das
„Neues Sozialpartnermodell Betriebsrente“ genannt haben wir zur Diskussion gestellt. Es hat auch eine muntere Diskussion gegeben. Einiges aus dieser Diskussion
haben wir aufgenommen; insofern überarbeiten wir das
Modell gerade. Politische Festlegungen, in welche Richtung wir gehen, hat es noch nicht gegeben.
Vielen Dank. - Jetzt hat wiederum Brigitte Pothmer
von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen die Möglichkeit zur Frage.
Herr Kurth hat schon darauf hingewiesen, dass es bei
den Arbeitgebern Befürchtungen gibt, dass es zu einem
Mehraufwand kommt. Könnten Sie das hier ein bisschen
genauer darstellen? Zu welchem Mehraufwand bei den
Arbeitgebern kommt es durch das neue Vorhaben?
Das kann ich Ihnen nicht sagen, weil es noch kein verifiziertes, festes neues Vorhaben gibt. Wir sind noch
mitten in der Diskussion.
({0})
- Erstens. Ich kann Sie nicht verstehen. Zweitens. Ich
habe Sie mit meiner Antwort nicht zufriedengestellt; das
entnehme ich Ihrem Gesichtsausdruck.
({1})
Drittens. Sie können gerne noch einmal fragen. Lippen
lesen kann ich noch nicht.
Frau Pothmer, Sie haben natürlich die Möglichkeit,
sich noch einmal für eine Frage zu melden. - Zunächst
hat aber der Kollege Weiß das Wort.
Frau Bundesministerin, es ist zu Recht darauf hingewiesen worden, dass die betriebliche Altersvorsorge als
zweite Säule des Alterssicherungssystems in Deutschland stärker ausgebildet werden sollte. Da ist die Umsetzung der Mobilitäts-Richtlinie nur ein Aspekt. Nachdem
Kollege Kurth Sie nach dem einen Änderungsvorschlag,
den es seitens des BMAS gab, gefragt hat, ist meine
Frage: Was ist das Ziel der Gutachten zur betrieblichen
Altersvorsorge, die zum einen das BMAS - es ist bereits
auf der Homepage veröffentlicht - und zum anderen das
Bundesfinanzministerium in Auftrag gegeben haben?
Werden wir uns im kommenden Jahr mit nur einem Vorschlag oder eventuell mit einem ganzen Maßnahmenbündel zur Stärkung der betrieblichen Altersvorsorge beschäftigen?
Der Schwerpunkt des Forschungsvorhabens des BMF
ist die Beurteilung der finanziellen Förderung der Betriebsrenten auf längere Sicht. Fast alle Betriebsrentenmodelle werden gefördert, entweder durch steuerliche
Privilegierung oder durch direkte Hilfen. Wir wollen
wissen, was auf lange Sicht am besten wirkt, was vor allem für die Arbeitnehmer am besten ist, wo es den besten Kosten-Nutzen-Effekt gibt, den wir als Staat mit unseren unterstützenden Leistungen erzielen können. Das
ist es, was das BMF in einem Forschungsvorhaben zu ermitteln versucht, dessen Ergebnisse Ende des Jahres vorliegen werden. Das werden wir dann zum Anlass nehmen, gemeinsam einen Vorschlag zu machen. Es gibt mit
Sicherheit gemeinsame Vorschläge und nicht einen wilden Haufen von Vorschlägen. Der gemeinsame Vorschlag - da haben Sie vollkommen recht, Herr Weiß wird wahrscheinlich mehrere Aspekte umfassen.
Ich persönlich wünsche mir insbesondere eine Verbreitung der Betriebsrenten bei den kleinen und mittleren Unternehmen. Nahezu alle großen Unternehmen bieten eine gute Versorgung mit Betriebsrenten. 60 Prozent
der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in Deutschland haben eine Betriebsrente; das entspricht der sehr
großen Zahl - man glaubt es gar nicht - von 17 Millionen Menschen. Wenn man aber genauer hinschaut und
die Größe der Unternehmen berücksichtigt, stellt man
fest, dass die Lücke bei kleinen und mittleren Unternehmen noch sehr groß ist. Insofern ist Ziel unserer Überlegungen, herauszufinden, wie wir die Betriebsrente dort
verbreiten können. Darauf zielt auch der Vorschlag, den
wir öffentlich gemacht haben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, zu diesem Thema
liegen mir keine weiteren Fragen vor. Deshalb frage ich
Sie: Gibt es Fragen zu anderen Themen der heutigen Kabinettssitzung? - Ja. Herr Kollege.
Herzlichen Dank, Frau Präsidentin. - Frau Bundesministerin, wir diskutieren seit mehreren Monaten
- muss man jetzt schon sagen - die Klimaabgabe für
Kohlekraftwerke als Teil des Aktionsprogramms Klimaschutz 2020. Meine Frage: War dieses Thema, mit dem
weitere energiepolitische Maßnahmen verknüpft sind
- Weißbuch Strommarktdesign, Leitungsausbau -, Gegenstand der Kabinettssitzung, auch vor dem Hintergrund, dass sich heute Abend, wie ich Medien entnehme,
ein Koalitionsgipfel mit diesem Thema beschäftigt?
Erstens. Nein, wir hatten heute genug anderen Stoff,
von dem schon die Rede war, zu besprechen. Es ging
wirklich um andere Fragen. Zweitens. Es gibt heute
Abend keinen Gipfel; jedenfalls ist mir das nicht bekannt.
Gibt es weitere Fragen? - Bitte, Herr Kollege
Strengmann-Kuhn.
Ich möchte gerne eine Frage zum Thema „Griechenland und die Rolle der Sozialminister in Europa“ stellen;
denn es geht in diesem Zusammenhang ja auch sehr
stark um soziale Fragen, um Renten- und Arbeitsmarktpolitik. Mich würde interessieren, wie Sie sich persönlich oder die Gemeinschaft der Sozialminister in Europa
in die Debatte eingebracht haben, oder welche Möglichkeiten es gab, sich in die derzeitigen Gespräche und Verhandlungen einzubringen, um dafür zu sorgen, dass die
Programme sozial etwas ausgewogener gestaltet werden
als früher?
Seit Jahren, auch seitdem ich Ministerin bin, werden
intensive Gespräche dazu geführt. Wir haben gemeinsam
mit den Franzosen eine Initiative zur Bekämpfung der
Jugendarbeitslosigkeit gestartet und für einen schnelleren Mittelabfluss gesorgt. Auch das MobiPro-Programm
wurde aktiv beworben. Mithilfe meines Hauses wurden
die Mittel für dieses Programm aufgestockt. Allerdings
muss man dazusagen, dass die Nachfrage aus Portugal
und Spanien die Nachfrage aus Griechenland deutlich
übersteigt.
Im Übrigen bin ich weder bei Krisengipfeln noch bei
sonstigen Treffen. Ich berichte Ihnen, was ich aus meinem Fachbereich beisteuern kann. Im Hinblick auf mögliche Verwerfungen, die es in den nächsten Wochen und
Monaten geben kann, habe ich meinem Haus bereits den
Auftrag erteilt, zu prüfen, wo wir konkret Amtshilfe leisten können. Das haben wir, wenn es gewünscht wurde,
in der Vergangenheit bereits getan. Wir haben uns zum
Beispiel über ein Jahr darum bemüht, eine Sozialhilfe in
Griechenland aufzubauen - allerdings ohne Erfolg.
Vielen Dank. - Gibt es weitere Fragen zu der heutigen
Kabinettssitzung? - Das ist nicht der Fall. Gibt es darüber hinaus Fragen an die Bundesregierung? - Herr
Kurth.
In der Presse war zu lesen, dass die Koalitionsarbeitsgruppe, die sich mit dem flexiblen Rentenübergang
- kurz: Flexirente - beschäftigt, erneut zu keinen Ergebnissen kommen wird. Durch eine Wortmeldung im Ausschuss habe ich heute erfahren, das Bundesministerium
habe sich sogar aus der Begleitung dieser Arbeitsgruppe
vollständig zurückgezogen. Würden Sie der Einschätzung zustimmen, dass diese Koalitionsarbeitsgruppe
praktisch so gut wie gescheitert ist?
Das ist eine Fraktionsarbeitsgruppe, und ich bin Mitglied der Regierung. Ich habe aber großes Zutrauen in
meine Kollegen. Sie werden sicherlich ein gutes Ergebnis erzielen.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, damit beende ich
die Befragung der Bundesregierung.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 2 auf:
Fragestunde
Drucksache 18/5341
Ich möchte darauf hinweisen, dass für die heutige
Fragestunde 90 Minuten vorgesehen sind.
Gestatten Sie mir einen weiteren Hinweis. Zur Erinnerung: Für die Beantwortung der ersten Frage sind zwei
Minuten vorgesehen, für die folgenden Fragen und Antworten jeweils eine Minute. Den Ablauf der Zeit sehen
Sie, wie gehabt, anhand der Uhren.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministeriums des Innern auf.
In den Fragen 1 und 2 der Abgeordneten Renner geht
es um Informationen zu Quellenmeldungen eines neonazistischen V-Mannes und dessen Vernehmung durch das
BKA und den Generalbundesanwalt. Diese Fragen werden schriftlich beantwortet.
In Frage 3 der Abgeordneten Heike Hänsel geht es
um eine mögliche deutsche Beteiligung an Spionageangriffen auf die französische Regierung durch die USamerikanischen Nachrichtendienste. Diese Frage wird
ebenfalls schriftlich beantwortet.
Die Frage 4 des Abgeordneten Andrej Hunko, in der
es um Änderungen bei der Planung und Durchführung
von gemeinsamen Projekten des BND, des BKA und der
Bundespolizei mit ägyptischen Sicherheitsbehörden
geht, wird auch schriftlich beantwortet.
Das Gleiche gilt für die Frage 5 der Abgeordneten
Ulla Jelpke, die sich auf die Anwendung der Genfer
Flüchtlingskonvention bei einer Einreise von Flüchtlingen nach Deutschland über ein Drittland bezieht.
Ich rufe die Frage 6 des Kollegen Konstantin von
Notz auf:
Haben, auch vor dem Hintergrund, dass der Journalist
Ahmad Mansur nicht bereits bei seiner Einreise verhaftet
wurde, deutsche Geheimdienste und bzw. oder Polizeibehörden ihn während seines Aufenthaltes beobachtet, und welche
Erkenntnisse wurden hierbei gesammelt, die eine Verhaftung
bei seiner Ausreise gerechtfertigt erscheinen ließen?
Herr Staatssekretär Dr. Krings, Sie haben das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Lieber Kollege von Notz, wir hatten heute schon
im Ausschuss Gelegenheit, uns über diese Frage auszutauschen. Das, was ich Ihnen im Ausschuss gesagt habe,
sage ich Ihnen gerne auch noch einmal hier im Plenum
des Deutschen Bundestages: Eine Beobachtung von
Ahmad Mansur durch deutsche Nachrichtendienste und/
oder Polizeibehörden während seines Aufenthalts in
Deutschland fand nicht statt.
Ich vermute, dass Sie eine Nachfrage haben, Herr
Kollege.
So ist das, Herr Präsident. Herzlichen Dank. - Vielen
Dank, Herr Staatssekretär. Gab es denn während des Besuchs des ägyptischen Präsidenten irgendeinen Austausch über ägyptische Oppositionelle oder Ähnliches
zwischen deutschen Sicherheitsbehörden, deutschen
Stellen und dem ägyptischen Präsidenten und den Leuten, die mit ihm hier waren?
Das ist mir, lieber Herr Kollege, so nicht bekannt. Ich
habe dieses Thema aber auch nicht vorher aufbereitet,
weil es etwas entfernt ist vom Thema Mansur. Wenn Sie
mögen, können wir das gerne eruieren.
Haben Sie noch eine Zusatzfrage?
Nein, das wäre es erst einmal. Die nächste Runde geht
ja, glaube ich, an das Justizministerium.
Ja, aber so weit sind wir noch nicht. - Kollege
Ströbele, bitte.
Danke. - Im Anschluss an die Frage des Kollegen von
Notz habe ich eine weitere Frage dazu: Ich habe der
Presse entnommen, dass bei den Gesprächen der
Bundeskanzlerin mit dem Präsidenten Ägyptens, Herrn
el-Sisi, auch über die Rechtsprechung in Ägypten geredet worden ist, insbesondere über Urteile, auch über Todesurteile. Ist in diesem Zusammenhang auch erwähnt
worden, wie man es mit einer möglichen Hilfe deutscher
Behörden bei Strafverfahren oder der Vollstreckung von
Strafurteilen aus Ägypten hält?
Ich habe natürlich vernommen, Herr Kollege, dass
auch Menschenrechtsfragen Thema der Gespräche waren, dass die Kanzlerin dies angesprochen hat. Details
dazu kann ich Ihnen ad hoc nicht nennen. Das müssten
wir eruieren, weil ich bei diesen Gesprächen persönlich
nicht zugegen war.
Sie kennen die Rechtslage in Deutschland und wissen, dass eine Auslieferung beispielsweise dann nicht
möglich ist, wenn eine Todesstrafe droht. All diese
Dinge, die wir mit gutem Recht und aus gutem Grund in
unserem Recht verankert haben, sind Ihnen ja bekannt.
Danke schön. - Wir wechseln zum Geschäftsbereich
des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz, bleiben aber zunächst bei dem Thema „Umstände
der Festnahme des ägyptischen Journalisten Ahmad
Mansur“. Der Parlamentarische Staatssekretär Christian
Lange steht zur Beantwortung bereit.
Ich rufe die Frage 7 des Abgeordneten Dr. Konstantin
von Notz auf:
Bestätigt die Bundesregierung, dass dem zuständigen
Bundesamt für Justiz sowie dem Auswärtigen Amt zum Zeitpunkt ihrer Entscheidung im Fall Ahmad Mansur die über das
Bundeskriminalamt an sie weitergeleiteten, für diesen Fall
ausgesprochenen Warnungen von Interpol vorlagen, und,
wenn ja, von wem wurde gleichwohl von beiden Behörden offenkundig eine Festsetzung von Ahmad Mansur befürwortet
({0})?
Bitte.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Ich weise ebenso wie
mein Kollege aus dem Bundesinnenministerium darauf
hin, dass wir diese Frage bereits heute Vormittag im
Ausschuss ausführlich behandelt haben.
Gerne beantworte ich die Frage des Kollegen wie
folgt: Dem Bundesamt für Justiz, welches die Aufgaben
des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz nach § 74 Absatz 1 des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen aufgrund des Übertragungserlasses vom 2. Januar 2007 wahrnimmt, und dem
Auswärtigen Amt lag zum Zeitpunkt der Entscheidung
über das ägyptische Fahndungsersuchen gegen Herrn
Mansur eine E-Mail von Interpol vom 20. Oktober 2014
vor, in der Interpol mitteilte, das Fahndungsersuchen
verstoße gegen Artikel 3 der Interpol-Statuten und werde
deswegen nicht durch Interpol veröffentlicht.
Das Auswärtige Amt hat bei der Prüfung, ob das gegen den Verfolgten in Ägypten geführte Strafverfahren
politisch motiviert ist, keine entsprechenden Erkenntnisse gewinnen können, zumal sich weder aus dem
Fahndungsersuchen selbst noch aus der Interpol-Warnung klar ergab, dass es sich bei dem Verfolgten um
einen Journalisten handelt. Es lagen keinerlei Informationen darüber vor, dass der Verfolgte der Muslimbrüderschaft nahesteht. Auch der Tatvorwurf des nationalen
ägyptischen Haftbefehls, die rechtswidrige Gefangennahme und Folterung eines Rechtsanwalts, ließ für sich
genommen nicht den Schluss auf eine politische Verfolgung zu.
Auch dem Bundesamt für Justiz lagen keine derartigen Anhaltspunkte oder weitere Informationen vor, die
einen zulässigen Rückschluss auf eine politische Straftat
nach § 6 IRG und damit zur Unzulässigkeit der Auslieferung zugelassen hätten.
Zusatzfrage, Herr Dr. von Notz?
Die gibt es. - Herr Staatssekretär, vielen Dank für die
Antwort. Nun ist es so, dass die Problematik mit diesen
internationalen Haftbefehlen nicht gänzlich neu ist.
Schon vor Monaten war ein ganzes SZ-Magazin mit problematischen Fällen gefüllt. Deswegen frage ich: Wie ist
denn der aktuelle Stand der Diskussion im Bundesjustizministerium, wie man zukünftig ähnliche hochnotpeinliche Missverständnisse verhindern will?
Herr Präsident, ich würde meine Antwort gerne mit
der Antwort auf die Frage 12 der Kollegin Haßelmann
verbinden, die genau nach den Konsequenzen aus diesem Fall fragt. Wenn ich das damit verbinden darf, dann
hätten wir damit auch diese Frage gleich erledigt.
Das können wir nicht so machen, weil Frau
Haßelmann noch nicht da ist. Dadurch würde dann ihr
Nachfragerecht verwirkt. Sie müssen die Frage also netterweise zweimal beantworten. Das passiert im Plenum
schon einmal. Es trägt übrigens zur Erkenntnisbildung
bei, wenn man etwas zweimal hört. Insofern müssen Sie
es gleich bitte noch einmal beantworten.
({0})
Ich beantworte sie gerne auch zweimal. Jetzt zum ersten Mal: Der Bundesregierung liegen keine statistischen
Daten vor - Frau Haßelmann hat ja im Zusammenhang
mit der Sorge von Reporter ohne Grenzen danach gefragt -, dass Interpol-Rot- oder -Blauecken vermehrt gegen Dissidenten ausgestellt werden. Nach diesem politischen Zusammenhang hatten Sie gefragt. Die Mitteilung
von Interpol, dass ein Fahndungsersuchen aufgrund eines politischen Hintergrunds gegen Artikel 3 der Interpol-Statuten verstößt, enthält in der Regel keine weitere
Begründung. Darüber gab es - Sie weisen zu Recht darauf hin - schon mehrere Veröffentlichungen. Zudem
enthalten die Fahndungsersuchen nur einen rudimentären Sachverhalt, der nur eine summarische Prüfung zulässt.
Zur Frage, ob eine Verfolgung aus politischen Motiven erfolgt, wird dem Bundesamt für Justiz, welches die
Aufgaben des Bundesministeriums der Justiz und für
Verbraucherschutz nach § 74 Absatz 1 IRG aufgrund des
Übertragungserlasses wahrnimmt, vom Auswärtigen
Amt nach Beteiligung der Auslandsvertretung in dem jeweiligen Staat eine Einschätzung übermittelt.
Wenn sich insgesamt für das Bundesamt für Justiz
Anhaltspunkte dafür ergeben, dass eine exponierte Person verfolgt wird, erfolgt eine Recherche in öffentlich
zugänglichen Quellen, um diese zu verifizieren. Ferner
wird versucht, Informationen zu möglicher politischer
Verfolgung im ersuchenden Staat zusammenzutragen.
Diese können aus vorangegangenen Verfahren, Berichten von multilateralen Organisationen, wie den UN oder
dem Europarat, und Nichtregierungsorganisationen gewonnen werden.
Vor einer abschließenden Entscheidung wird das Bundesamt für Justiz zukünftig über die allgemeine Berichtspflicht in Angelegenheiten besonderer Bedeutung
hinaus in Fällen, in denen Interpol einen Warnhinweis
herausgegeben hat, unserem Haus, dem Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz, berichten.
Ferner wird das Bundesministerium der Justiz und für
Verbraucherschutz in Zusammenarbeit mit dem Bundesamt für Justiz Qualitätskriterien für die Überprüfung von
Fahndungsersuchen entwickeln und fortentwickeln und
entsprechende Fortbildungen für die Mitarbeiterinnen
und Mitarbeiter anbieten.
Im Auswärtigen Amt wird künftig mit diesen Fällen
zusätzlich eine höhere Ebene der Hierarchie in den beteiligten Referaten und in den Auslandsvertretungen befasst werden.
Haben Sie noch eine Zusatzfrage?
Eine habe ich noch.
Dürfen Sie. Bitte.
Was schätzen Sie, wie viele Fälle sind pro Jahr betroffen? Was für einen Aufwand bedeutet diese Überprüfung, die, wenn ich es richtig verstehe, ab jetzt stattfinden wird, im Hinblick auf die Vielzahl von Ländern, die
offenbar in dieses System einmelden? Ich denke auch
zum Beispiel an Russland.
Ich kann keine Schätzungen abgeben, aber ich kann
Ihnen sagen, wie es im vergangenen Jahr, im Jahr 2014,
war, damit man einen ungefähren Eindruck bekommt.
Im BfJ, also im Bundesamt für Justiz, sind im Jahr 2014
3 818 Fahndungsersuchen eingegangen, über die zu entscheiden war. In 70 Fällen hat Interpol den entsprechenden Hinweis gegeben, dass die weitere Nutzung der
Möglichkeiten von Interpol nach interner Prüfung nicht
zulässig sei - allerdings, wie wir wissen, ohne Begründung, ohne alles. In drei dieser Fälle ist die verfolgte
Person in Deutschland gleichwohl ausgeschrieben worden, und zwar in zwei Fällen zur Aufenthaltsermittlung
und in einem Fall, im Fall Mansur, zur Festnahme.
Herzlichen Dank.
Wir bleiben beim Thema, aber wechseln den Fragesteller.
Ich rufe die Frage 8 des Abgeordneten Hans-Christian
Ströbele zum gleichen Komplex auf:
Warum antworteten das Bundesministerium der Justiz und
für Verbraucherschutz sowie das Auswärtige Amt Anfang Januar 2015 auf die Anfrage des Bundeskriminalamtes zu dem
Journalisten Ahmad Mansur trotz der bekannten Menschenrechtslage in Ägypten, „dass gegen eine nationale Ausschreibung zur Festnahme keine Bedenken bestehen“, obwohl Interpol im Herbst 2014 nach dem ägyptischen Haftbefehl der
deutschen Seite auch seine Bedenken zugeleitet hatte, dieser
Haftbefehl missbrauche das Interpol-Instrumentarium und
verstoße gegen das Verbot politischer Verfolgung, § 6 des GeVizepräsident Peter Hintze
setzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen, IRG,
({0}), und weshalb hat die
Bundespolizei Ahmad Mansur erst am 20. Juni 2015 in Berlin
festgenommen, aber nicht schon bei seiner vorherigen Einreise nach Deutschland aus Sarajevo am 16. Juni 2015?
Bitte, Herr Staatssekretär.
Dem Kollegen Ströbele habe ich bereits heute Vormittag im Ausschuss ausführlichst geantwortet. Ich muss
das auch jetzt tun, Herr Präsident. Deswegen muss ich
die mir zugewiesene Zeit deutlich überschreiten. Ich
werde es trotzdem beschleunigt machen.
Das ist genehmigt, weil ja auch die Frage sehr, sehr
lang ist und der Fragesteller sicherlich eine interessante
und vollständige Auskunft erwartet.
Davon gehe auch ich aus; vielen Dank. - Herr Kollege, das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz war mit dem Vorgang zum ersten Mal nach
der Festnahme von Herrn Mansur befasst.
Eine Fahndung im Inland wird vom Bundesamt für
Justiz, welches die Aufgaben des Bundesministeriums
nach § 74 Absatz 1 des Gesetzes über die internationale
Rechtshilfe in Strafsachen aufgrund des Übertragungserlasses vom 2. Januar 2007 wahrnimmt, im Einvernehmen mit dem Auswärtigen Amt bewilligt, wenn aufgrund summarischer Prüfung - summarischer Prüfung! keine offensichtlichen Gründe für die Annahme vorliegen, dass eine Auslieferung nicht bewilligt werden kann,
was einer Festnahme entgegenstünde. Die Zuständigkeit
für die etwaige spätere Bewilligung einer Auslieferung
führt dazu, dass die genannten Behörden am Anfang des
Verfahrens gleichsam eine Filterfunktion im Wege einer
summarischen Prüfung wahrnehmen. Im Einzelnen setzt
eine Bewilligung einer Fahndungsausschreibung insbesondere voraus, dass die verfolgte Person, der Staat, an
den die Auslieferung in Betracht kommt, die zur Last gelegte Tat und der Haftgrund bekannt sind. Dem Bundesamt für Justiz obliegt in jedem Einzelfall die Prüfung, ob
die Voraussetzungen der Auslieferung vorliegen und ob
Anhaltspunkte vorhanden sind, die die Ablehnung der
Auslieferung begründen können. Zu den rechtlichen Voraussetzungen einer Auslieferung gehört zum Beispiel,
ob die Tat auch nach deutschem Recht strafbar wäre. Zu
den Ablehnungsgründen zählt insbesondere auch die
Frage, ob eine politische Verfolgung vorliegt; § 6 Absatz 1 des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in
Strafsachen.
Bei dieser Prüfung kommt einer Mitteilung von Interpol, dass das Fahndungsersuchen gegen die Interpol-Statuten verstößt, eine Indizwirkung zu. Bindend ist eine
solche Stellungnahme nicht, da die Definition der politischen Verfolgung im deutschen Recht nicht mit der in
den Interpol-Statuten identisch ist. Artikel 3 der Interpol-Statuten soll die Neutralität von Interpol wahren,
während § 6 Absatz 1 des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen dem Schutz der verfolgten Person vor ungerechtfertigter Verfolgung dient.
Das Auswärtige Amt hat bei der Prüfung, ob das gegen den Verfolgten in Ägypten geführte Strafverfahren
politisch motiviert ist, keine entsprechenden Erkenntnisse gewinnen können, zumal sich weder aus dem
Fahndungsersuchen selbst noch aus der Interpol-Warnung ein eindeutiger Hinweis ergab, dass es sich bei dem
Verfolgten um einen Journalisten handelt. Ferner lagen
keinerlei Informationen darüber vor, dass der Verfolgte
aktives Mitglied der Muslimbrüderschaft ist. Auch der
Tatvorwurf, die rechtswidrige Gefangennahme und Folterung eines Rechtsanwalts durch Herrn Mansur, ließ für
sich genommen nicht den Schluss auf eine politische
Verfolgung zu.
Herr Mansur besitzt sowohl die britische als auch die
ägyptische Staatsangehörigkeit. Ausweislich der der
Bundespolizei vorliegenden Informationen ist er als
Staatsangehöriger Ägyptens derzeit nicht im Besitz eines
gültigen Schengen-Visums. Insofern ist zu vermuten,
dass Herr Mansur bei seiner Einreisekontrolle am Flughafen München seinen britischen Reisepass vorlegte.
EU-Bürger dürfen nach Artikel 7 Absatz 2 der Verordnung ({0}) Nr. 562/2006 nicht systematisch in den Personenfahndungsdateien überprüft werden. Insofern ist zu
vermuten, dass diese Personenfahndungsabfrage bei der
Einreisekontrolle nicht erfolgte und deshalb die Fahndungsnotierung nicht festgestellt wurde.
Haben Sie eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter
Ströbele?
Ja. - In der Tat, Herr Staatssekretär, haben Sie weitgehend dasselbe, was Sie jetzt vorgetragen haben, auch
schon im Rechtsausschuss vorgetragen. Ich habe auch da
schon Fragen gestellt; sie wurden auch beantwortet.
Aber die Frage, die ich jetzt stelle, habe ich da noch
nicht gestellt. Deshalb: Machen Sie sich auf etwas Neues
gefasst.
({0})
Nach dem, was Sie im Rechtsausschuss mitgeteilt haben - ich glaube, Sie haben das auch jetzt angedeutet -,
lagen hier zwei Warnhinweise vor. Ein Warnhinweis war
vom 15. Januar, ein zweiter stammte aus dem Juni 2015.
Haben Sie dieses Insistieren und das besondere Engagement von Interpol - das ja in zwei Anfragen oder Hinweisen zum Ausdruck kam - nicht dazu bewogen, diese
Sache besonders gründlich zu überprüfen und intensiv
auch bei der deutschen Botschaft in Ägypten nachzufragen, ob dort nicht Erkenntnisse vorliegen? Denn Sie
haben ja eben bei der von Ihnen angeführten Statistik
gesagt, dass bei über 3 000 Anfragen alle 70 Beanstandungen außer der Sache Mansur letztlich Erfolg gehabt
hätten.
Herr Präsident, ich weise auch in diesem Fall darauf
hin, dass diese Frage identisch ist mit Frage 9 der Frau
Abgeordneten Dr. Brantner. Ich bitte darum, diese Frage
und damit ebenfalls Frage 9 zu beantworten. Wenn das
genehmigt wird, würde ich es gerne so machen.
Frau Brantner hat natürlich alle ihre Zusatzfragen.
Aber versuchen Sie es einmal. Ich rufe daher auch
Frage 9 auf:
Mit welchem Inhalt sprach Ägypten am 18. Mai 2015 ein
weiteres Fahndungsersuchen für Ahmad Mansur aus, und mit
welchem Inhalt haben das Auswärtige Amt und das Bundesamt für Justiz dazu Stellung bezogen ({0})?
Ich beantworte die Frage von Frau Dr. Brantner und
Ihre Frage hiermit wie folgt: Am 18. Mai 2015 wurde
kein weiteres Fahndungsersuchen gestellt, sondern lediglich das bereits bekannte Ersuchen wiederholt. Bis
zur Festnahme von Herrn Mansur haben Auswärtiges
Amt und Bundesamt für Justiz keine Stellung dazu genommen.
Jetzt darf Herr Ströbele noch eine Frage dazu stellen,
und Frau Dr. Brantner darf noch zwei Fragen dazu stellen.
Ich habe noch eine Frage.
Die dürfen Sie stellen.
Auch im Rechtsausschuss habe ich Sie bereits darauf
hingewiesen, dass unmittelbar am gleichen Tage, wenige
Stunden nachdem Herr Mansur in Deutschland festgenommen worden war, - aus Pressemeldungen - die
Presse wusste das also - bekannt wurde, dass Herr
Mansur in Ägypten in Abwesenheit zu 15 Jahren Freiheitsstrafe verurteilt worden war. Das muss ja jeden
rechtsstaatlich denkenden Menschen alarmieren. Wieso
war Ihnen das nicht bekannt? Und wieso haben Sie nicht
ganz gezielt bei der deutschen Botschaft nachgefragt, ob
dieses Faktum, dass ein Mansur - einer der bekanntesten
Journalisten in diesem Erdteil -, ohne dass er anwesend
war, zu 15 Jahre Freiheitsstrafe verurteilt worden war,
bekannt sei? Das muss doch auch in der deutschen Botschaft bekannt gewesen sein. Dann hätte eine entsprechende Rückantwort kommen müssen.
Herr Kollege Ströbele, Sie erinnern sich sicher auch
an die Antwort der Kollegin aus dem Auswärtigen Amt.
Dazu hat das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz nicht Stellung genommen, weil es nicht
in unsere Ressortzuständigkeit fällt. Ich will aber der
Tatsachen halber lieber sagen, dass Herr Mansur in Abwesenheit nicht zu 15 Jahren, sondern zu 5 Jahren verurteilt wurde. Im ägyptischen Haftbefehl war - das nur der
Richtigkeit halber - von 15 Jahren die Rede.
({0})
- Wir wollen ja über die Tatsachen sprechen. - Diese
Tatsache ist der ägyptischen Botschaft in Bezug auf das
Auslieferungsersuchen zu Mansur übermittelt worden.
Darin wird am 21. Juni genau das festgestellt. Das hat
Ihnen die Kollegin aus dem Auswärtigen Amt heute
Morgen auch exakt so gesagt.
Jetzt hat Frau Dr. Brantner noch zwei Nachfragen. Sie
müssen Sie nicht stellen, sondern Sie dürfen es.
Sie hatten gerade auch gesagt, dass die Vorwürfe gegen Herrn Mansur darin bestünden, dass er jemanden gewalttätig angegangen sei. In der Anklageschrift stand
aber auch schon, dass er Schriften verbreitet habe, welche die Staatssicherheit gefährdet hätten. In der Anklageschrift stand beides. Von daher noch einmal die Frage:
Aufgrund welcher Kriterien und Verfahren beurteilen
Sie solche Fälle, insbesondere wenn von Interpol noch
einmal eine Warnung kommt? Was sind die Kriterien,
die dem zugrunde liegen? Welche Regeln gibt es da?
Und welche Einschätzung der Rechtsstaatlichkeit in dem
betroffenen Staat nehmen Sie als Grundlage? Es kann ja,
wenn es darum geht, ob etwas für eine bestimmte Person
greift, nicht sein, dass dies davon abhängig ist, ob jemand bekannt ist oder nicht, sondern es muss um ein geregeltes Verfahren gehen, das nicht davon abhängig sein
kann, ob jemand den Herrn Mansur kennt oder nicht.
Was sind die Regeln, die Verfahren und die Kriterien?
Lassen Sie mich auch darauf etwas ausführlicher eingehen. Zunächst einmal ist festzustellen, dass der Bescheid von Interpol nicht so ist, wie Sie es gerade dargestellt haben. Ich darf - das habe ich heute Morgen auch
getan - zitieren. Dort heißt es:
Nach Abschluss der rechtlichen Überprüfung
- so Interpol wurde der vorliegende Fall dahin gehend bewertet,
dass er überwiegend politischen Charakter im Sinne
von Artikel 3 IKPO-Statuten hat, insbesondere hinsichtlich der Art des Verstoßes; denn Verstöße mit
Bezug auf die Presse
- das ist der, wie ich sagen würde, zarte Hinweis Parl. Staatssekretär Christian Lange
und Verstöße gegen die innere und äußere Sicherheit des Staates werden gemäß dem internationalen
Auslieferungsrecht und langjähriger Praxis von Interpol als rein politisch betrachtet. Darüber hinaus
stützt auch der Gesamtzusammenhang des Falls die
Annahme, dass der Fall vorwiegend politischen
Charakter im Sinne von Artikel 3 IKPO-Statuten
hat.
So weit im Original zitiert.
Sie sagen jetzt zu Recht: mehr Sensibilität. - Das sehen wir genauso. Deswegen ist eine der Konsequenzen,
die wir daraus gezogen haben, dass die entsprechenden
Ausbildungen und Fortbildungen der Mitarbeiterinnen
und Mitarbeiter - wir reden hier über die Sachbearbeiterebene - vorangetrieben werden - das wollen wir auch in
Form von Workshops tun; das alles hatte ich bereits ausgeführt -, um einheitliche Standards zu erreichen.
Wie sind die Standards bislang? Eine Fahndung im
Inland wird bewilligt, wenn aufgrund summarischer Prüfung - summarischer Prüfung! - die Voraussetzungen einer vorläufigen Festnahme nach § 19 des Gesetzes über
die internationale Rechtshilfe in Strafsachen vorliegen.
Im Einzelnen setzt das nach § 19 IRG in Verbindung mit
§ 17 IRG insbesondere voraus, dass die verfolgte Person, der Staat, an den die Auslieferung in Betracht
kommt, die zur Last gelegte Tat und der Haftgrund bekannt sind. - Das war im vorliegenden Fall übrigens
auch nicht der Fall. Zum Beruf stand bei Interpol zum
Beispiel „liegt nicht vor“. - Ferner dürfen keine Gründe
vorliegen, die an den Voraussetzungen der Auslieferung
nach §§ 2 bis 5 IRG oder anwendbaren bilateralen oder
multilateralen Verträgen zweifeln lassen oder deren Ablehnung begründen können. §§ 6 bis 9 und 73 IRG: Hieraus ergibt sich im Wesentlichen bereits das in diesen
Fällen anzuwendende Prüfungsschema. - So weit der
heutige Rechtsstand.
Jetzt kommt es darauf an - das ist unser Ziel als Konsequenz daraus -, die Sensibilität der Mitarbeiterinnen
und Mitarbeiter zu stärken. Dazu haben wir die dargestellten Maßnahmen - Workshops und Ausarbeitung gemeinsamer Kriterien - noch einmal in den Mittelpunkt
gerückt. Das werden wir in Zukunft tun, und das Auswärtige Amt wird zusätzlich dafür sorgen, dass die
nächsthöhere Ebene einbezogen wird. Außerdem gibt es
in den 70 Fällen, über die wir vorhin gesprochen haben,
eine Berichtspflicht gegenüber dem BMJV, was gleichzeitig zu einer nochmaligen Überprüfung der Fälle führt.
Wir glauben, dass wir dadurch die notwendige Sensibilisierung im Hinblick auf die kritischen Staaten erreichen, die Sie zu Recht ansprechen.
Noch eine Zusatzfrage, Frau Kollegin?
Sie haben die summarische Prüfung erwähnt. Meinen
Sie wirklich, dass sie bei einem schwerwiegenden Eingriff in die Grundrechte reicht? Man wird immerhin festgenommen. Haben Sie nicht den Eindruck, dass Ihr vorgeschlagenes Verfahren - es soll, wie gesagt, eine
summarische Prüfung durchgeführt werden - und die
Auswirkungen in einem nicht ausgewogenen Verhältnis
zueinander stehen?
Ich gehe davon aus, dass Sie die gemeinsamen Kriterien dem Deutschen Bundestag vorlegen werden, damit
man sie diskutieren kann. Können Sie das vielleicht
noch einmal bestätigen? In diesen Kriterien werden Sie
zum Beispiel bestimmt auch erwähnen, dass man es etwas ernster nehmen soll, wenn Interpol sagt, dass etwas
einen überwiegend politischen Charakter hat, und dass
man das nicht davon abhängig machen darf, ob jemand
bekannt ist oder nicht.
Welche Auswirkungen wird es in Zukunft haben,
wenn Interpol sagt, es handele sich um einen Fall des
Artikels 3 IKPO-Statuen, außer dass es auf einer höheren Arbeitsebene behandelt wird? Welchen inhaltlichen
Unterschied wird das in Zukunft machen?
Zunächst einmal sind in Deutschland nach Artikel 104 unseres Grundgesetzes Gerichte und nicht Behörden für die Inhaftierung von Menschen zuständig.
Artikel 104 des Grundgesetzes schreibt vor, dass eine inhaftierte Person spätestens nach zwei Tagen einem Haftrichter vorzuführen ist. Dem sind wir hier - ich will das
ausdrücklich sagen - zuvorgekommen. Es ist bedauerlich - die Bundesregierung hat das gegenüber Herrn
Mansur auch bedauert -, dass es so weit gekommen ist,
aber die Vorschriften unseres Grundgesetzes sind eingehalten worden. Noch bevor das Gericht seinem Auftrag
nachgekommen ist, hatten wir am 22. Juni 2015 das Ergebnis, dass Herr Mansur freizulassen ist, sodass es dann
nicht mehr zu einer entsprechenden Entscheidung des
zuständigen Gerichts kommen musste. Das heißt, der
Rechtsstaat - das will ich einmal sagen - hat an dieser
Stelle voll funktioniert. Trotzdem ist es richtig, dass Herr
Mansur zu Unrecht zwei Tage in Haft genommen worden ist.
Diese summarische Prüfung, die hier stattfindet, ersetzt keine richterliche Entscheidung. Das müssen wir
einfach wissen. Das ist auch nicht das Ziel. Vielmehr
müssen wir erreichen, dass die Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter stärker dafür sensibilisiert werden. Das wollen wir durch diese Maßnahmen bewirken.
Ich kann Ihnen noch nicht sagen, welche das über die
rechtlichen Rahmenbedingungen hinaus, die ich gerade
geschildert habe, konkret sind. Aber das ist die Konsequenz, die die Häuser daraus gezogen haben, und diese
wird unmittelbar umgesetzt. Unser Ziel ist, dass sich so
etwas nicht wiederholt.
Schönen Dank. - Herr Ströbele, Sie wollen noch eine
Frage stellen? Ich weiß nicht, ob das zulässig ist.
Das ist nicht mehr zulässig.
Sie haben ja schon zwei Fragen gestellt.
({0})
- Na gut, also schön. Bitte.
So ist das eben: Wenn eine Frage schon vorher beantwortet wurde, darf man noch einmal fragen.
Das ist alles richtig. Stellen Sie einfach Ihre Frage.
Ja. - Herr Staatssekretär, ist den Fahndungsbehörden
und den Bundespolizeibeamten, die die Festnahme
durchgeführt haben, zu Beginn des Wochenendes - er
war ja das Wochenende über in Haft - die zweimalige
Intervention von Interpol bekannt gewesen, und haben
sie dann diese Festnahme trotzdem durchgeführt?
Was den Polizeibeamten in der konkreten Situation
bekannt war oder nicht bekannt war, entzieht sich meiner
Kenntnis.
Gut. - Dann kommen wir jetzt zur Frage 10 der Abgeordneten Tabea Rößner, Bündnis 90/Die Grünen:
Welche Anstrengungen unternimmt die Bundesregierung
angesichts dessen, dass Ägypten auf der Rangliste der Pressefreiheit von Reporter ohne Grenzen auf Platz 158 von
180 Ländern ({0}) steht, zur Stärkung der Pressefreiheit und Verhinderung unrechtmäßiger Verfolgung und
Verurteilung von Journalisten, und welche Erkenntnisse hat
die Bundesregierung darüber, wie viele weitere ausländische
Journalistinnen und Journalisten in Deutschland aufgrund eines Auslieferungsersuchens festgenommen wurden?
Herr Staatssekretär.
Frau Kollegin Rößner, die Bundesregierung beobachtet mit Sorge, dass in einer Vielzahl von Verfahren kritische Journalisten und Blogger wegen angeblicher
Terrorverbrechen oder Stiftung öffentlicher Unruhe angeklagt werden. Die Bundesregierung thematisiert in
Gesprächen mit der ägyptischen Regierung regelmäßig
Defizite bei der Meinungs- und Pressefreiheit. Es wird
zum Ausdruck gebracht, dass freie Meinungsäußerung
essenziell für die Demokratisierung und Stabilisierung
Ägyptens ist.
Im Rahmen der Transformationspartnerschaft werden
seit 2012 diverse Projekte mit Partnern wie der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit
oder der Deutsche-Welle-Akademie zur Befähigung eines freien Journalismus in Ägypten durchgeführt. Diese
umfassen unter anderem Fortbildungen, Netzwerkveranstaltungen oder die Finanzierung von Sendereihen.
Kernthemen der Projekte sind die Förderung von Meinungsfreiheit, Medienethik und geschlechtlicher Gleichberechtigung.
Statistische Angaben zur Anzahl der Fahndungs- und
Auslieferungsersuchen gegen Journalistinnen und Journalisten liegen der Bundesregierung nicht vor.
Zusatzfrage? - Bitte.
Sie sagten, Zahlen dazu lägen Ihnen nicht vor. Sie
gingen vor anderen Hintergründen darauf ein, dass es
unterschiedliche Ersuchen gibt. Russland zum Beispiel
macht von diesem Instrument exzessiv Gebrauch, um
alle in Ungnade gefallenen Oppositionellen zu verfolgen, beispielsweise durch den Vorwurf von Hooliganismus oder Terrorismus; das haben Sie genannt. Gibt es
dafür nicht die Möglichkeit, eine Liste von Staaten zu erstellen, deren Haftbefehle oder Ersuchen besonders intensiv geprüft werden?
Die deutsche Justiz und auch die deutschen Behörden
sind trotz eines summarischen Überblicks im Zweifel zu
einer Einzelfallprüfung verpflichtet, sodass wir vom Namen eines Staates nicht zwingend Rückschlüsse auf einzelne Personen ziehen können. Auch in solchen Staaten
gibt es ganz klassische Kriminalität; auch das ist nicht
auszuschließen.
Aber wir wollen - damit sind wir wieder beim vorherigen Thema -, dass die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter die notwendige Sensibilität haben, wenn zum Beispiel entsprechende Staaten im Spiel sind. Aber eine
direkte Kausalität und damit eine entsprechende - ich
sage es einmal so - schwarze Liste zu erstellen, wäre mit
den Regeln, die wir uns in der Bundesrepublik gegeben
haben, nicht vereinbar.
Noch eine Zusatzfrage? - Bitte.
Es gibt Länder, die mit solchen Ersuchen von Interpol
anders umgehen. Als Beispiel ist hier die Schweiz zu
nennen, die an bestimmte Staaten generell nicht ausliefert. Wäre das nicht auch für die Bundesregierung eine
mögliche Haltung?
Bitte.
Ich sagte bereits: Die Bundesregierung und die Gerichte sind im Zweifel an Einzelfallprüfungen gebunden.
Dann kommen wir zur Frage 11, ebenfalls der Abgeordneten Tabea Rößner:
Was unternimmt die Bundesregierung dagegen, dass Journalistinnen und Journalisten in Zukunft nicht aus politischen
Motiven festgenommen und ausgeliefert werden?
Bitte, Herr Staatssekretär.
Die Frage beantworte ich wie folgt: Die Mitteilung
von Interpol, dass ein Fahndungsersuchen gegen Artikel 3 der Interpol-Statuten verstößt, da es einen politischen Hintergrund habe, enthält in der Regel keine nähere Begründung. Aus diesem Grund müssen das
Auswärtige Amt und das Bundesamt für Justiz allein auf
der Grundlage der in dem Fahndungsersuchen enthaltenen wenigen Informationen zum Sachverhalt eine eigene
summarische Prüfung vornehmen.
Zur Frage, ob eine Verfolgung aus politischen Motiven erfolgt, wird dem Bundesamt für Justiz, welches die
Aufgaben - ich sagte es bereits - des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz nach § 74
Absatz 1 des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen aufgrund des Übertragungserlasses
vom 2. Januar 2007 wahrnimmt, vom Auswärtigen Amt
nach Beteiligung der Auslandsvertretung in dem jeweiligen Staat eine Einschätzung übermittelt.
Wenn sich insgesamt für das Bundesamt für Justiz
Anhaltspunkte dafür ergeben, dass eine exponierte Person verfolgt wird, erfolgt eine Recherche in öffentlich
zugänglichen Quellen, um dies zu verifizieren. Ferner
wird versucht, Informationen zu möglicher politischer
Verfolgung im ersuchenden Staat zusammenzutragen.
Diese können aus vorangegangenen Verfahren, Berichten von multilateralen Organisationen wie der UN oder
dem Europarat und Nichtregierungsorganisationen gewonnen werden.
Vor einer abschließenden Entscheidung wird das Bundesamt für Justiz zukünftig - ich erwähnte es bereits über die allgemeine Berichtspflicht in Angelegenheiten
besonderer Bedeutung hinaus in Fällen, in denen Interpol einen Warnhinweis herausgegeben hat, dem Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz berichten.
Ferner wird das Bundesministerium in Zusammenarbeit mit dem Bundesamt für Justiz Qualitätskriterien für
die Überprüfung von Fahndungsersuchen fortentwickeln
und eine entsprechende Fortbildung anbieten. Auch das
erwähnte ich bereits.
Im Auswärtigen Amt wird künftig mit diesen Fällen
zusätzlich eine höhere Ebene der Hierarchie in den beteiligten Referaten und Auslandsvertretungen befasst.
Zusatzfrage, bitte schön.
Sie sprachen die Nachfrage bei Nichtregierungsorganisationen an. Dazu gehören auch Journalistenverbände.
Welche sollen insgesamt angefragt werden? Geht es dabei auch um internationale Nichtregierungsorganisationen? Darunter sind einige, die Listen führen und Patenschaftsprogramme für verfolgte Journalisten haben.
Ich kann Ihnen nicht sagen, welche Nichtregierungsorganisationen im Einzelfall herangezogen werden. Aber
ich gehe davon aus, dass alle relevanten herangezogen
werden.
Noch eine Zusatzfrage von Frau Dr. Brantner. Bitte.
Ich habe eine Nachfrage im Hinblick auf die Journalisten, was die Zukunft angeht. Es gibt den großen AlJazeera-Fall wie auch den Fall der vielen zivilgesellschaftlichen Organisationen, die verurteilt wurden. Haben Sie zumindest alle Verurteilten im Zusammenhang
mit diesen beiden Verfahren von der Liste genommen,
oder haben sie immer noch etwas zu befürchten, wenn
sie nach Deutschland kommen wollen? Viele von ihnen
sind auch von Interpol zur Fahndung ausgeschrieben. Zu
ihnen liegt aber keine entsprechende Mitteilung von Interpol zu Artikel 3 vor. Haben Sie sichergestellt, dass
alle, die zumindest in diesen beiden sehr bekannten öffentlichen Verfahren verurteilt wurden, nicht in Deutschland auf unseren Listen stehen?
Ich kann Ihnen nicht sagen, welche Entscheidung das
Bundesamt für Justiz in anderen Fällen außer dem, über
den wir heute sprechen, durchgeführt hat. Ich bitte um
Nachsicht.
Wir kommen zu Frage 12 der Abgeordneten Britta
Haßelmann:
Teilt die Bundesregierung die Sorge unter anderem der Organisation Reporter ohne Grenzen, wonach autoritäre Regime
zunehmend den internationalen Haftbefehl von Interpol missbrauchen, um politische Dissidenten weltweit aufzuspüren
({0}), und wie
will sie künftig vorgehen, um derlei Missbrauch vorzubeugen?
Vizepräsident Peter Hintze
Der Staatssekretär hat die Frage im Zusammenhang
mit der Frage von Dr. von Notz schon beantwortet. Ich
habe aber verfügt, dass er sie noch einmal beantwortet,
wenn Sie im Raum sind, damit Sie Ihre Nachfragemöglichkeit wahrnehmen können. Wir hören also noch einmal die Antwort. - Bitte.
({1})
Ich trage die Antwort noch einmal vor, liebe Kollegin
Haßelmann:
Der Bundesregierung liegen keine statistischen Daten
darüber vor, dass Interpol-Rot- oder Blauecken vermehrt
gegen Dissidenten ausgestellt werden. Die Mitteilung
von Interpol, dass ein Fahndungsersuchen aufgrund eines politischen Hintergrundes gegen Artikel 3 der Interpol-Statuten verstößt, enthält in der Regel keine weitere
Begründung. Zudem enthalten die Fahndungsersuchen
nur einen rudimentären Sachverhalt, der nur eine summarische Prüfung zulässt.
Zur Frage, ob eine Verfolgung aus politischen Motiven erfolgt, wird dem Bundesamt für Justiz, welches die
Aufgaben des Bundesministeriums der Justiz und für
Verbraucherschutz nach § 74 Absatz 1 des Gesetzes über
die internationale Rechtshilfe in Strafsachen aufgrund
des Übertragungserlasses vom 2. Januar 2007 wahrnimmt, vom Auswärtigen Amt nach Beteiligung der
Auslandsvertretung in dem jeweiligen Staat eine Einschätzung übermittelt.
Wenn sich insgesamt für das Bundesamt für Justiz
Anhaltspunkte dafür ergeben, dass eine exponierte Person verfolgt wird, erfolgt eine Recherche in öffentlich
zugänglichen Quellen, um dies zu verifizieren.
Ferner wird versucht, Informationen zu möglicher
politischer Verfolgung im ersuchenden Staat zusammenzutragen. Diese können aus vorangegangenen Verfahren,
Berichten aus multilateralen Organisationen, zum Beispiel UN oder Europarat, und Nichtregierungsorganisationen gewonnen werden. Vor einer abschließenden Entscheidung wird das Bundesamt für Justiz zukünftig über
die allgemeine Berichtspflicht in Angelegenheiten besonderer Bedeutung hinaus in Fällen, in denen Interpol
einen Warnhinweis herausgegeben hat, dem Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz berichten. Ferner wird das Bundesministerium der Justiz und
für Verbraucherschutz in Zusammenarbeit mit dem Bundesamt für Justiz Qualitätskriterien für die Überprüfung
von Fahndungsersuchen fortentwickeln und eine entsprechende Fortbildung anbieten.
Im Auswärtigen Amt wird künftig mit diesen Fällen
zusätzlich eine höhere Ebene der Hierarchie in den jeweiligen Referaten und Auslandsvertretungen befasst.
Eine Nachfrage, Frau Kollegin Haßelmann, bitte.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Zuerst einmal möchte
ich in Richtung der Regierungsbank sagen: Es steht Ihnen gar nicht zu, das als absurd zu bezeichnen; denn ich
bin zur Beantwortung meiner Frage 12 pünktlich anwesend. Ich habe genauso wie Sie noch andere Terminverpflichtungen gehabt und bin deshalb zum Fragenkomplex verspätet gekommen. Das geht Sie aber
überhaupt nichts an. Ich bin pünktlich hier und habe deshalb ein Recht auf die Beantwortung meiner Frage. Das
haben Sie nicht zu kommentieren - um das einmal ganz
deutlich zu sagen. Lassen wir die Kirche im Dorf!
({0})
Nun zum sachlichen Inhalt. Herr Staatssekretär,
meine Nachfrage schließt sich an die Frage meiner Kollegin Brantner an. Da wir die Informationen sowohl über
die Reporter ohne Grenzen als auch über die offenen
Punkte haben, die Frau Brantner gerade in Bezug auf andere Journalisten, deren Namen auf Interpol-Listen stehen, angesprochen hat, können Sie sicherlich nachvollziehen, dass ich mit der Antwort, die Sie meiner
Kollegin Brantner gegeben haben, in diesem Kontext
nicht einverstanden bzw. nicht zufrieden sein kann. Sie
haben gesagt, dass Sie nicht wissen, ob das Bundesamt
für Justiz diese Listen durchgeht und dahin gehend überprüft, ob es Warnungen von Dritten, die Tabea Rößner
und Franziska Brantner angesprochen haben, bezüglich
Personen gibt, die gefährdet sein könnten, weil sie im
gleichen Sachzusammenhang wie Mansur stehen. Deshalb lautet meine Frage: Welche konkrete Schritte sind
nun eingeleitet, mögliche Interpol-Listen daraufhin zu
überprüfen, ob andere gefährdete Journalistinnen und
Journalisten aus Krisenregionen und Krisenländern betroffen sein könnten? Wenn Sie nicht in der Lage sind,
das jetzt zu beantworten, dann bitte ich darum, dass der
Frage nachgegangen wird und dass das Bundesamt für
Justiz dazu eine Ausführung macht.
Bitte.
Letzteres kann ich Ihnen zusagen. Ansonsten sind wir
in dieser Fragestunde nur mit dem Fall Mansur befasst.
Aber ich kann gerne beim Bundesamt für Justiz nachfragen, ob es das macht.
({0})
Schönen Dank.
Die Frage 13 des Abgeordneten Tom Koenigs und die
Frage 14 des Abgeordneten Volker Beck werden schriftlich beantwortet.
Damit kommen wir wieder zum Geschäftsbereich des
Bundesministeriums für Finanzen. Die Fragen 15 und 16
Vizepräsident Peter Hintze
der Abgeordneten Sabine Zimmermann werden schriftlich beantwortet.
Dann kommen wir zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales. Zur Beantwortung steht die Parlamentarische Staatssekretärin Anette
Kramme zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 17 der Abgeordneten Corinna
Rüffer von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf:
Was unternimmt die Bundesregierung im Sinne von Artikel 8 der Behindertenrechtskonvention, um das Leben von
Menschen mit Downsyndrom in seinen positiven Aspekten
sichtbar zu machen, und in welchem Ausmaß kommen bei
diesen Maßnahmen bzw. in den entsprechenden Publikationen
Menschen mit Downsyndrom selbst zu Wort?
Frau Staatssekretärin, bitte.
Herzlichen Dank, Herr Präsident. - Frau Rüffer, ich
beantworte Ihre Frage wie folgt: Das Ganze betrifft natürlich die Thematik der UN-Behindertenrechtskonvention. Artikel 8 dieser Konvention macht insoweit vier
Vorgaben: Erstens. Es müssen Maßnahmen ergriffen
werden, um das Bewusstsein für Menschen mit Behinderung zu schärfen. Zweitens. Es geht auch darum, die
Achtung der Rechte und der Würde dieser Menschen zu
fördern. Drittens. Klischees und Vorurteile sind zu bekämpfen. Viertens. Das Wissen um die Fähigkeiten und
die Beiträge von Menschen mit Behinderung ist zu fördern.
Im Nationalen Aktionsplan der Bundesregierung zur
Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention vom
15. Juni 2011 wurde die Bewusstseinsbildung als wichtiges Thema gesetzt. Ich will einige Beispiele für Maßnahmen nennen, die die Bundesregierung diesbezüglich
ergriffen hat. Das erste Beispiel ist die Kampagne „Behindern ist heilbar“ mit drei Plakatmotiven und zwei Anzeigenmotiven sowie einem Kinospot. Das zweite Beispiel ist die Internetseite www.gemeinsam-einfachmachen.de. Das ist eine Internetseite des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales. Hier werden neben einem
vielfältigen Infoangebot gute Beispiele, aber auch die
Aktionspläne anderer Akteure - Länder, Kommunen und
Unternehmen - dargestellt. Eine nächste Maßnahme
wäre der Leitfaden für Unternehmen zur Erstellung von
Aktionsplänen. Dann haben wir weiter den Leitfaden für
Behörden zur Verwendung der leichten Sprache, überdies die jährlich stattfindenden Inklusionstage, zuletzt
vom 24. bis 26. November 2014.
Bei dem Thema Bewusstseinsbildung und den angesprochenen Maßnahmen der Bundesregierung werden
nicht bestimmte Arten der Behinderung oder Gruppen
von Betroffenen besonders herausgestellt; allerdings
sind Menschen mit Downsyndrom auf den Plakatmotiven der Kampagne „Behindern ist heilbar“ des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales zur Umsetzung der
UN-Behindertenrechtskonvention sowie in verschiedenen Publikationen des BMAS zu sehen bzw. kommen
diese auch selber zu Wort.
Wenn Sie mögen, können wir gerne eine Auswahl
dieser Broschüren zur Verfügung stellen.
Danke schön. - Haben Sie eine Nachfrage, Frau Kollegin? - Bitte.
Frau Kramme, erst einmal herzlichen Dank für die
Beantwortung der Frage. - Natürlich sind wir dankbar
dafür, wenn wir eine Zusammenstellung der vorhandenen Publikationen bekommen. Einzelne davon sind auch
mir bekannt. Ich schicke voraus: Da könnte man sicher
noch einiges hinterherschieben.
Sie können sich sicher vorstellen, dass diese Frage
zum heutigen Zeitpunkt nicht zufällig gekommen ist,
etwa weil sie uns gerade so eingefallen ist. Sie haben bestimmt mitbekommen, dass viele Kollegen hier eine gemeinsame, interfraktionelle Kleine Anfrage gestellt haben - 160 an der Zahl, immerhin 25 Prozent der
Abgeordneten im Deutschen Bundestag -, die sich mit
der Einführung eines Bluttests auf Downsyndrom beschäftigt. Es gibt bestimmte Bedenken, was diesen Bluttest anbelangt.
In der Beantwortung der Kleinen Anfrage schreiben
Sie, dass das Gendiagnostikgesetz bereits heute ausreichend Schutz vor einer Stigmatisierung und Diskriminierung von Menschen mit Trisomie 21, Downsyndrom,
bietet. Sie verweisen konkret auf den Arztvorbehalt einerseits, auf der anderen Seite auf die Pflicht zur humangenetischen Beratung.
Meine Frage lautet jetzt: Was kann ich konkret damit
anfangen, bzw. können Sie uns erläutern, inwieweit dies
in der Praxis Menschen mit Downsyndrom Schutz vor
Diskriminierung und Stigmatisierung bietet, insbesondere vor dem Hintergrund, dass bei entsprechender Prognose die allermeisten Kinder, die wahrscheinlich mit
Downsyndrom auf die Welt kommen würden, abgetrieben werden?
Bitte schön.
Vielen Dank, Frau Rüffer. - Sie wissen, dass unser
Haus nicht spezifisch mit dem Gendiagnostikgesetz befasst ist und dass ein Großteil der Fragen demgemäß an
das Bundesministerium für Gesundheit gegangen ist. Ich
kann an dieser Stelle nur wiederholen, dass wir keine
spezifischen Broschüren zu dem Thema haben. Sicherlich gibt es im Haus - das müssten wir recherchieren diesbezügliche Abwägungen, die getroffen werden.
Aber ein ganz spezifisches Befassen kann ich auf den
ersten Blick nicht erkennen. Da müssten wir, wie gesagt,
im Ministerium für Gesundheit nachfragen.
Mögen Sie noch eine Nachfrage stellen? - Bitte.
Vielen Dank, dass ich noch eine zweite Frage stellen
darf. - Wir stellen heute auch noch Fragen an das andere
Haus, aber was die Umsetzung der Behindertenrechtskonvention anbelangt, sind Sie federführend. Das ist
sicherlich eine zentrale Frage. Wenn wir über Inklusion
reden, dann müssen wir natürlich auch über die Frage
der Möglichkeit, überhaupt in das Leben zu gelangen,
reden.
Sie haben die Frage fast schon beantwortet, aber um
es noch einmal klarzustellen: Ist denn Ihr Ministerium
mit dem Bundesgesundheitsministerium im Gespräch,
um abzuklären und nach Möglichkeiten zu suchen, wie
die Aufklärung werdender Eltern und schwangerer
Frauen in Zukunft besser in dieser Hinsicht funktionieren könnte und welchen Beitrag Ihr Haus dazu leisten
kann?
Bitte, Frau Staatssekretärin.
Ich kann an dieser Stelle nur noch einmal anfügen,
dass wir spezifische Gruppen im Regelfall nicht herausgegriffen haben. Sie wissen, dass wir uns in den Vorarbeiten zum Nationalen Aktionsplan befinden. Demgemäß sind wir auch in Gesprächen mit den verschiedenen
Häusern. Es besteht also die Möglichkeit, dass dort ein
Kontext besteht. Das kann ich Ihnen aber aus dem Stegreif nicht sagen. Ich würde das allerdings abklären und
Ihnen dann eine schriftliche Antwort zukommen lassen.
({0})
Schönen Dank. - Wir haben jetzt noch den Wunsch
nach einer Nachfrage seitens der Abgeordneten
Scharfenberg, Bündnis 90/Die Grünen, Dr. Terpe, Bündnis 90/Die Grünen, Hüppe, CDU/CSU, und Gastel,
Bündnis 90/Die Grünen.
Erst einmal Frau Kollegin Scharfenberg. Bitte.
Vielen Dank. - Ich würde gern wissen, ob die Bundesregierung die Ansicht teilt, dass die Tatsache, dass
die Rede von einem Risiko, ein Kind mit dem Downsyndrom zu bekommen, bzw. das Ziel vorgeburtlicher Untersuchungen, dieses sogenannte Risiko auszuschließen,
nicht ein negatives Bild von Menschen mit Downsyndrom zeichnet. Wir alle wissen, dass der Begriff „Risiko“ im Sprachgebrauch etwas meint, was man vermeiden könnte, was also ein vermeidbares Unglück sein
könnte. Wenn Sie dies nicht teilen: Warum nicht?
Zunächst einmal ist der Begriff „Risiko“ etwas, was
neutral ist. Sie wissen, dass wir in diesem Zusammenhang immer wieder Debatten darüber hatten, ob solche
Untersuchungen überhaupt zulässig sein sollten, in welchem Umfang sie stattfinden, ob Beratung vorher stattfindet usw.
Vielleicht gestatten Sie mir ausnahmsweise, eine ganz
persönliche Antwort zu geben. Ich bin mit einem Bruder
aufgewachsen, der einen Geburtsschaden hatte, der unter
Sauerstoffmangel geboren ist. Mein Bruder ist 44 Jahre
alt geworden, und es hat keinen einzigen Tag in seinem
Leben gegeben, wo meine Eltern nicht anwesend waren,
ihn nicht den ganzen Tag gepflegt haben. Selbst beim
Essen mussten sie aufpassen, dass er nicht erstickt usw.
Ich gestehe jedem zu, selbst zu entscheiden, ob er damit umgehen kann, ob er es in seinem Leben schafft, so
etwas durchzuführen. Wie gesagt, es ist eine Gewissensentscheidung, und Gewissensentscheidungen sollten,
denke ich, von allen akzeptiert werden.
({0})
Als nächster Fragesteller hat der Abgeordnete
Dr. Terpe, Bündnis 90/Die Grünen, eine Nachfrage.
Bitte schön.
Herr Präsident! Frau Staatssekretärin Kramme, ich
habe schon gehört, dass Fragen, die sich spezifisch mit
Themenkreisen des Bundesgesundheitsministeriums befassen, auch gestellt werden können, wenn der Geschäftsbereich dieses Ministeriums an der Reihe ist.
Die Frage der Kollegin Rüffer zielte aber darauf, ob
Sie von Maßnahmen wissen, Menschen mit Downsyndrom selber in entsprechenden Publikationen zu Wort
kommen zu lassen. Wissen Sie, ob solche Publikationen
auch in der Ärzteschaft verbreitet werden, natürlich insbesondere unter den Geburtshelfern?
Da wir für die Ärzteschaft an sich nur wenig zuständig sind, da wir dorthin nur eingeschränkt Kontakte haben, kann ich Sie nur bitten, diese Frage an das Gesundheitsministerium zu richten. Ich biete Ihnen aber auch in
dieser Frage an, dass unser Haus gegebenenfalls bei den
Kollegen recherchiert und Ihnen eine schriftliche Antwort zukommen lässt.
({0})
Danke schön. - Nächster Fragesteller ist der Abgeordnete Hüppe, CDU/CSU-Fraktion. Bitte.
Frau Staatssekretärin, zunächst erstaunt es mich, dass
Sie jemanden, der nicht essen kann, der jeden Tag von
morgens bis abends gepflegt werden muss, mit einem
Menschen mit Downsyndrom vergleichen; das sind
nämlich zwei völlig verschiedene Dinge. Ihr Vergleich
erweckt bei mir den Eindruck, dass auch Ihnen nicht
richtig klar ist, dass Menschen mit Downsyndrom Fähigkeiten haben, die sich gar nicht einmal so viel von denen
anderer Menschen unterscheiden.
In Artikel 10 der UN-Behindertenrechtskonvention
heißt es in der deutschen Übersetzung, die vom Ministerium verteilt wird, dass Menschen mit Behinderung ein
angeborenes Recht auf Leben hätten. Man hat dort den
Begriff „inherent“ mit „angeboren“ übersetzt, obwohl er
in allen anderen Fällen mit „innewohnendem Recht“
übersetzt worden ist.
Weil Menschen mit Downsyndrom beim Stichwort
„pränatal“ die gefährdetste Gruppe beim Recht auf Leben sind, darf ich Sie fragen, ob Sie denn beabsichtigen,
das zu berücksichtigen, wenn der Aktionsplan jetzt fortgeschrieben wird.
Frau Staatssekretärin, bitte schön.
Ich denke, dass ich persönlich sehr wohl die Fähigkeit
besitze, das Leistungsvermögen von Menschen mit
Downsyndrom einzuschätzen. - Das sei an den Anfang
gestellt.
Wenn Sie danach fragen, wie der Sachstand zum Nationalen Aktionsplan ist, dann kann ich Ihnen sagen: Wir
befinden uns hier im Regierungshandeln und haben insoweit zum jetzigen Zeitpunkt noch keine Auskunft zu
erteilen. Wir sind in Zusammenarbeit mit den verschiedenen Häusern und bereiten die Fortschreibung des Nationalen Aktionsplans vor.
Danke schön. - Herr Kollege Gastel, noch eine Zusatzfrage hierzu? - Bitte schön.
Ich komme mit meiner Frage auf die Ausgangsfrage
meiner Fraktionskollegin Frau Rüffer zurück. Es ging
darum, in welchem Ausmaß bei diesen Maßnahmen
bzw. in den entsprechenden Publikationen Menschen mit
Downsyndrom selber zu Wort kommen. Die Frage, die
sich auf diese Ausgangsfrage bezieht, lautet: Welche der
genannten Maßnahmen thematisieren das Spektrum an
möglichen vorgeburtlichen Untersuchungen zur Feststellung des Downsyndroms und richten sich explizit an
Schwangere bzw. werdende Eltern?
Seitens unseres Hauses gibt es keine spezifischen Materialien. Es ist sehr wohl möglich, dass bei den Kollegen im Gesundheitsministerium spezifische Broschüren
existieren. Ich kann auch an dieser Stelle nur anregen,
dass Sie die Kollegen des anderen Hauses befragen, oder
anbieten, dass wir das für Sie recherchieren und Ihnen
das als Antwort zukommen lassen.
({0})
Es wird Ihnen dann schriftlich mitgeteilt. Das ist doch
schon ein Fortschritt.
Wir kommen zur Frage 18 des Abgeordneten
Matthias Gastel:
Wie viele Berufsausbildungen zum Busfahrer und Lokomotivführer wurden in den Jahren 2013 und 2014 sowie bislang im Jahr 2015 durch die Bundesagentur für Arbeit erfolgreich gefördert - gemeint sind hier die erworbenen Lizenzen
zum Steuern der Fahrzeuge -, und wie viele dieser neu ausgebildeten Fachkräfte arbeiten nach Kenntnis der Bundesregierung heute als Busfahrer bzw. Lokomotivführer?
Frau Staatssekretärin, bitte.
Ganz herzlichen Dank. - Nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit haben im Zeitraum von Januar 2013
bis Februar 2015 in der Berufsgattung Triebfahrzeugführer Eisenbahnverkehr, Fachkraft, insgesamt 106 geförderte Teilnehmer eine abschlussbezogene berufliche
Weiterbildung, das heißt Umschulung, beendet. Davon
waren 60 erfolgreich.
Für den Berufsbereich Busfahrer erfasst die Bundesagentur für Arbeit die Teilnehmer statistisch unter der Berufsgattung Bus-/Straßenbahnfahrer/-innen, Fachkraft. Im
Zeitraum Januar 2013 bis Februar 2015 haben insgesamt
222 geförderte Teilnehmer eine abschlussbezogene berufliche Weiterbildung im Berufsbereich Bus-/Straßenbahnfahrer/-innen, Fachkraft, beendet, davon 149 erfolgreich.
Informationen, wie viele der neu ausgebildeten Fachkräfte als Busfahrer oder als Triebfahrzeugführer arbeiten, konnten von der Bundesagentur für Arbeit innerhalb
der zur Beantwortung der mündlichen Frage verfügbaren
Zeit nicht bereitgestellt werden. Das gilt auch für die
Differenzierung zwischen Weiterbildung mit Abschluss
und sonstiger beruflicher Weiterbildung.
Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Gastel? - Bitte
schön.
Vielen Dank für die Zahlen. - Ich habe mit einigen
Unternehmen gesprochen, mit Eisenbahnverkehrsunternehmen und auch mit Busunternehmen. Ich gebe Ihnen
einfach mal zwei Aussagen wieder, die da getroffen wurden.
Die Aussage von einem Eisenbahnverkehrsunternehmen lautete: Ob die ausbildenden Institute ein großes
Interesse an einer intensiven Vorabinformation und Vorabauswahl haben, darf zumindest innerhalb des bestehenden Systems, wo offensichtlich pro Kopf gefördert
wird, angezweifelt werden.
Ich darf zitieren, was ein führendes Busunternehmen
gesagt hat: Die Bundesagentur steckt Arbeitsuchende in
Lehrgänge, ohne diese vorher ausreichend über das Berufsbild und den üblichen Verdienst und die üblichen Arbeitszeiten zu informieren. Dadurch kommt es zu hohen
Abbrecherquoten während der Qualifizierung und zu einem hohen Anteil von Leuten, die zwar den Busführerschein haben, aber danach nicht in diesem Beruf arbeiten
können oder wollen.
Daran schließt sich die Frage an: Inwieweit und inwiefern wird die Bundesregierung diese Lehrgänge, den
Zugang zu den Lehrgängen, die Auswahl und die Begleitung dieser Menschen so verändern, dass die Rückmeldungen aus der Branche, in der Fachkräfte händeringend gesucht werden, besser werden, das Ganze besser
funktioniert und die Menschen dann auch tatsächlich in
einen Beruf hineinkommen, in dem sie arbeiten möchten
und auch arbeiten können?
Frau Staatssekretärin, bitte.
Zunächst einmal ist es so, dass im Rechtskreis des
SGB III, aber auch im Rechtskreis des SGB II keine ProKopf-Förderung existiert, sondern es wird teilnehmerbezogen entschieden, bzw. es werden selbstverständlich
auch arbeitsmarktdienliche Aspekte berücksichtigt.
Wenn es hier Klagen über Einzelfälle gibt, dann können
wir das der Bundesagentur für Arbeit zuleiten und versuchen, diesbezüglich den Sachverhalt zu klären. Aber das
ist nicht Aufgabe der Bundesregierung als solcher, sondern das ist laufendes Geschäft der Bundesagentur für
Arbeit sowohl im Rechtskreis des SGB III als auch letztlich in den Jobcentern.
Herr Gastel hat noch eine Zusatzfrage. Bitte schön.
Frau Staatssekretärin, wenn Sie sich die Zahlen, die
Sie vorhin genannt haben, anschauen, dann sehen Sie,
dass es keine Einzelfälle sein können. Bei einem sehr
hohen Prozentsatz läuft irgendetwas schief, wurden offensichtlich notwendige Vorabinformationen nicht gegeben oder wurden diejenigen, die in diese Lehrgänge geschickt wurden, nicht sorgfältig genug ausgewählt und
darauf vorbereitet oder während der Lehrgänge nicht
ausreichend begleitet. Die Zahlen sagen also etwas anderes als das, was Sie gerade gesagt haben. Meine Frage
lautet: Inwieweit überprüft die Bundesagentur für Arbeit
die Erfolgsquote und den Mitteleinsatz dahin gehend, ob
der wirklich so optimal ist, dass die Menschen das bekommen, was sie tatsächlich brauchen, sodass in diesem
Fall die Busbranche und die Eisenbahnbranche tatsächlich die Fachkräfte bekommen, die sie benötigen?
Bitte schön, Frau Staatssekretärin.
Sowohl die Arbeit der Bundesagentur für Arbeit im
Rechtskreis des SGB III als auch die Arbeit der Jobcenter bezüglich Weiterbildungsmaßnahmen wird nicht unmittelbar durch das Bundesministerium für Arbeit und
Soziales überprüft. Allerdings wird selbstverständlich
die Arbeit in beiden Rechtskreisen durch Evaluierung
begleitet. Das ist der eine Bereich.
Wir haben aber auch eine sehr intensive Überprüfung
durch den Bundesrechnungshof, der ebenfalls Hinweise
gibt, die dann durch die Bundesagentur für Arbeit bearbeitet werden. Entsprechende Hinweise werden natürlich entgegengenommen.
({0})
Schönen Dank. - Wir kommen damit zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Ernährung und
Landwirtschaft. Zur Beantwortung steht der Parlamentarische Staatssekretär Peter Bleser bereit.
Ich rufe Frage 19 des Abgeordneten Harald Ebner,
Bündnis 90/Die Grünen, auf:
Welche Mitgliedstaaten der Europäischen Union haben
sich nach Kenntnis der Bundesregierung bislang bei Sitzungen des Ständigen Ausschusses für Pflanzen, Tiere, Lebensmittel und Futtermittel, SCPAFF, bzw. dem Vorgängergremium StALuT bzw. SCoFCAH zu den seit dem Jahr 2013
vorliegenden EFSA-Leitlinien - EFSA: Europäische Behörde
für Lebensmittelsicherheit - zur Risikobewertung von Pflanzenschutzmitteln in Bezug auf Bienen ({0}) kritisch
positioniert, und welche Position - mit welcher Begründung hat die Bundesregierung in diesem Zusammenhang bezüglich
der Verabschiedung bzw. Inkraftsetzung der genannten Leitlinien vertreten?
Bitte schön, Herr Staatssekretär.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Die Bundesregierung
hat sich im zuständigen EU-Ausschuss für einen effizienten Bienenschutz auf wissenschaftlicher Basis ausgesprochen. Sie hat die Kommission mehrfach aufgefordert, Rechtssicherheit zu schaffen und zu klären, wann
welche Anforderungen für die Genehmigung von Pflanzenschutzmittelwirkstoffen und Zulassung von Pflanzenschutzmitteln zu erfüllen sind.
Innerhalb der Bundesregierung ist die Meinungsbildung noch nicht abgeschlossen, was die EFSA-Leitlinien angeht. Nach Kenntnis der Bundesregierung haben
im Ausschuss Griechenland, Irland, das Vereinigte Königreich, die Niederlande, Frankreich, Spanien, Italien,
Portugal, die Slowakei und Ungarn sowie die KommisParl. Staatssekretär Peter Bleser
sion eine kritische Position zu dem Leitlinienpapier dargelegt.
Zusatzfrage, Herr Abgeordneter.
Danke, Herr Präsident. Danke, Herr Staatssekretär. Das hört sich jetzt nicht danach an, dass es unter den
Mitgliedstaaten eine Mehrheit für die Leitlinien der
EFSA gäbe. Ist die trotz der Staaten, die Sie gerade aufgezählt haben - ich habe jetzt nicht gegengerechnet -, in
Sicht? Wenn nein: Was sind die Haupthinderungsgründe
dafür aus Sicht der Bundesregierung?
Bitte schön, Herr Staatssekretär.
Aus der langen Liste werden Sie ablesen können, dass
es bisher keine Mehrheit für die zitierte Leitlinie der
EFSA zur Risikobewertung von Pflanzenschutzmitteln
in Bezug auf Bienen gibt. Die Kommission hat jetzt angekündigt, einen Kompromissvorschlag vorzulegen, in
dem bestimmte Teile dieser Leitlinie, insbesondere die
Tests, thematisiert werden. Auf diesem Wege soll ein Ergebnis erzielt werden, das im Sinne des Gewollten ist.
Noch eine Zusatzfrage dazu? - Bitte schön.
Gerne, danke. - Sie sprechen von einem Kompromissvorschlag, den die Kommission vorlegen möchte.
Was tut denn die Bundesregierung ganz konkret? Welche
Inputs, welche konkreten Aktivitäten bringen die Bundesregierung oder andere Bundesbehörden ein, um die
Verabschiedung dieser Leitlinien zu beschleunigen, sodass auch der Bienenschutz in Europa, was die Zulassung von Pestiziden angeht, endlich auf dem aktuellen
wissenschaftlichen Stand ist?
Ich glaube, ich habe das schon bei der Beantwortung
Ihrer Frage dargelegt. Wir legen Wert auf eine wissenschaftliche Bewertung. Dabei ist die Effizienz, also das,
was mit den Pflanzenschutzmitteln angestrebt wird, das
entscheidende Kriterium. Dazu gehört auch die Berücksichtigung entsprechender Vorgaben, die die Sicherheit
der Pflanzenschutzmittel betreffen.
Dann kommen wir zur Frage 20 des Abgeordneten
Harald Ebner, Bündnis 90/Die Grünen:
Durch welche Personen bzw. Mitglieder welcher Fachabteilung des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft, BMEL, wird Deutschland aktuell im SCPAFF, früher
SCoFCAH bzw. StALuT, im Regelfall bei Tagesordnungspunkten mit Bezug zu Fragen der Bienengesundheit im Zusammenhang mit Pflanzenschutzmitteln bzw. im Kontext zu
den EFSA-Leitlinien zur Risikobewertung von Pflanzenschutzmitteln in Bezug auf Bienen ({0}) vertreten, und
welche namentlichen Vertreter bzw. Abteilungen der Generaldirektion Gesundheit und Lebensmittelsicherheit, DG Santé,
sind nach Kenntnis der Bundesregierung aktuell im SCPAFF
für die genannten Bereiche zuständig?
Bitte schön, Herr Staatssekretär.
Im zuständigen Ausschuss für Pflanzenschutzgesetzgebung der Europäischen Union wird die Bundesregierung durch Vertreter des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft vertreten, die insbesondere aus
der Abteilung Biobasierte Wirtschaft, Nachhaltige Landund Forstwirtschaft und aus der Abteilung Pflanzenschutzmittel des Bundesamtes für Verbraucherschutz
und Lebensmittelsicherheit, BVL, kommen. In besonderen Fällen können weitere Experten hinzugezogen werden. Nach Kenntnis der Bundesregierung ist in der Generaldirektion Gesundheit und Lebensmittelsicherheit
die Abteilung Sicherheit in der Lebensmittelkette, Pflanzenschutzmittel und Biozide zuständig.
Zusatzfrage, Herr Abgeordneter?
Ich würde sehr gerne noch nachfragen. - Herr Staatssekretär, Sie sind da jetzt sehr vage geblieben, was die
Beteiligten der DG Santé angeht. Könnten Sie uns da
Kontaktdaten zukommen lassen? Wenn das möglich
wäre, wäre das sehr hilfreich für die weitere Arbeit.
Ich kann Ihnen hier nur sagen, dass die Bundesregierung durch eine entsprechend kompetente Vertretung in
den entsprechenden Ausschüssen präsent ist. Namensnennungen sind aus unserer Sicht nicht erforderlich. Die
Bundesregierung gibt Ihnen Auskunft.
Des Weiteren bemühen wir uns, was die DG Santé angeht, gerne um eine Kontaktvermittlung.
Noch eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter? - Sie
müssen nicht, Sie dürfen.
Danke schön, Herr Präsident. - Ich möchte den Herrn
Staatssekretär doch noch fragen, welche Erkenntnisse
die Bundesregierung darüber hat, wann die DG Santé
der EU-Kommission ihre Folgenabschätzung bezüglich
einer Annahme der EFSA-Leitlinien abgeschlossen haben wird. Bis wann dürfen wir also mit Ergebnissen
rechnen?
Das kann ich Ihnen nicht sagen, Herr Kollege.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Verteidigung.
Die Frage 21 der Abgeordneten Agnieszka Brugger
und die Frage 22 der Abgeordneten Heike Hänsel werden schriftlich beantwortet.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Gesundheit. Zur Beantwortung steht
die Parlamentarische Staatssekretärin Ingrid Fischbach
bereit.
Ich rufe die Frage 23 der Abgeordneten Kordula
Schulz-Asche, Bündnis 90/Die Grünen, auf:
Mit welcher Begründung hat Deutschland als einziges
Land der Europäischen Union im Rat für Beschäftigung, Sozialpolitik, Gesundheit und Verbraucherschutz, EPSCO, am
19. Mai 2015 der teilweisen allgemeinen Ausrichtung zur Medizinprodukte-Verordnung seine Zustimmung verweigert, und
welche Rolle spielten dabei von den anderen Ländern geforderte zusätzliche Prüfverfahren für Medizinprodukte der Risikoklasse III?
Frau Staatssekretärin, bitte.
Liebe Kollegin, ich antworte Ihnen gerne auf die
Frage - wir haben ja heute auch schon im Ausschuss intensiv darüber gesprochen -: Deutschland setzt sich dafür ein, dass nur sichere und medizinisch hochwertige
Medizinprodukte auf den europäischen Markt gelangen,
und wir haben den Anspruch, mit der Verordnung einen
stabilen, transparenten und nachhaltigen Rechtsrahmen
zu schaffen. Darauf aufbauend hat Deutschland der allgemeinen Ausrichtung auf der Grundlage des Kompromissvorschlags der lettischen Präsidentschaft nicht zugestimmt, weil der Text noch eine Reihe von Vorschriften
enthält, die wichtige Fragen hinsichtlich ihrer Auswirkungen auf die Patientensicherheit, Versorgungssicherheit, Praktikabilität und Finanzierbarkeit offenlassen.
Diese Fragen hätten nach Auffassung der Bundesregierung vor Aufnahme der Trilogverhandlungen mit dem
Europäischen Parlament und der Kommission geklärt
werden müssen.
An erster Stelle ist hier die fehlende Infrastruktur für
die Schaffung produktspezifischer Anforderungen an die
klinische Bewertung und Prüfung von Medizinprodukten zu nennen, die ein Kernanliegen der deutschen Position darstellen. Obwohl die Vorschläge im Grundsatz
den Gedanken, dass produktspezifische Anforderungen
geschaffen werden müssen, enthalten, sind die Verantwortlichkeit und der Zeitrahmen für deren Erarbeitung
nicht eindeutig festgelegt. Zudem wird uns die notwendige wissenschaftliche Expertise dafür fehlen, wenn
diese durch die Bewertungen im sogenannten ScrutinyVerfahren gebunden ist. Schließlich müssen Versorgungsengpässe aufgrund zu kurzer oder fehlender Übergangs- und Bestandsschutzregelungen befürchtet werden. Daneben enthalten die Texte sehr viele Mängel, die
nur scheinbar technischer Natur sind und die in der Praxis zum Teil zu abwegigen Ergebnissen führen können.
Auch wenn Deutschland den im EPSCO vorgelegten
Verordnungsentwürfen nicht zustimmen konnte, werden
wir uns natürlich aktiv in den jetzigen Prozess und in das
informelle Trilogverfahren einbringen, um die Texte im
Interesse der Patientensicherheit zu optimieren. In den
Sitzungen des Ausschusses für Gesundheit des Deutschen Bundestages am 10. Juni und am 1. Juli dieses
Jahres habe ich die Position der Bundesregierung ausführlich dargelegt.
Bitte schön, Frau Schulz-Asche.
Frau Staatssekretärin Fischbach, herzlichen Dank. Diese Antwort war ja praktisch identisch mit der, die Sie
heute Morgen im Gesundheitsausschuss gegeben haben.
Ich habe allerdings gefragt, warum Deutschland das einzige Land war, das der Einigung im Rat für Beschäftigung, Sozialpolitik, Gesundheit und Verbraucherschutz
nicht zugestimmt hat.
Sie erwecken immer den Eindruck, dass Deutschland
weitergehen wolle, dass die EU-Verordnung nach Ihrer
Meinung nicht weit genug gehe und Sie zusätzliche Forderungen hätten. In Wirklichkeit ist ja das Gegenteil der
Fall. Rufen wir uns einmal in Erinnerung, warum wir
überhaupt über eine Verschärfung bei der Zulassung von
Medizinprodukten diskutieren: wegen internationaler
Skandale im Zusammenhang mit Brustimplantaten usw.
usf. Von daher frage ich Sie ganz konkret, wie ich es
auch schon schriftlich gemacht habe, was die Haltung
Deutschlands zu den zusätzlichen Prüfverfahren ist, die
auch vom Europaparlament gefordert wurden, und was
es nach Ihrer Meinung mit Patientensicherheit zu tun
hat, wenn Deutschland lange Bestandsschutz- und Übergangsregelungen fordert. Ist das Patientenschutz, oder ist
das nicht eher ein Schutz der Produkte bestimmter Unternehmen in Deutschland? Das würde mich interessieren. Könnten Sie mir das bitte erläutern?
Frau Parlamentarische Staatssekretärin.
Frau Kollegin, das mache ich sehr gern. Ich habe es
heute Morgen im Ausschuss schon gesagt: Die von uns
geforderten Regelungen betreffen nicht die risikobehafteten Medizinprodukte. Wir reden jetzt auch über Medizinprodukte, die schon lange angewandt werden und
nicht risikobehaftet sind. Sie würden auch unter die Regelung der jetzigen Vorlage fallen; das war der Grund für
unseren Einwand.
Wenn es keine vernünftige Übergangsregelung gibt,
könnte es passieren, dass wir diese Medizinprodukte Patienten, die sie brauchen, in Zukunft nicht mehr zur VerParl. Staatssekretärin Ingrid Fischbach
fügung stellen können. Es könnte sein, dass es zu einem
Lieferengpass kommt bzw. dass die Medizinprodukte direkt vom Markt genommen werden. Das ist, wie ich
glaube, nicht im Sinne der Patienten.
Sie haben an dieser Stelle - das haben wir in den Beratungen deutlich gemacht - hinsichtlich der hoch risikobehafteten Medizinprodukte unsere volle Unterstützung. Die müssen sofort vom Markt; das ist gar keine
Frage. Aber hier geht es um eine generelle Bestimmung.
Frau Schulz-Asche.
Vielleicht reden wir aneinander vorbei. Sowohl in der
schriftlichen Version meiner Frage als auch in meiner
Nachfrage eben rede ich vor allem von Medizinprodukten der Risikoklasse III. Sie bergen ein hohes Risiko bei
der Anwendung. Das ist auch der Grund, warum wir
überhaupt über eine entsprechende Verschärfung diskutieren.
Ich würde gerne einen anderen Punkt aufgreifen. Das
Europäische Parlament hat sich ja aufgrund der Skandale
sehr ausführlich mit diesem Thema befasst und unter anderem eine verbindliche Produkthaftpflichtversicherung
in ausreichender Höhe gefordert. Beim Skandal um die
Brustimplantate war es so, dass die betroffenen Frauen
am Ende mit leeren Händen dastanden, weil der Unternehmer, der diese Produkte in verbrecherischer Weise in
Umlauf gebracht hatte, insolvent war und daher nicht
mehr zahlen konnte. Am Ende waren die betroffenen
Frauen die Opfer. Deswegen frage ich Sie: Warum hat
Deutschland die Initiative des Europäischen Parlaments,
nämlich die Produkthaftpflicht verbindlich zu regeln,
nicht unterstützt, und warum ist der Rat insgesamt nur
der Meinung, man könne die Unternehmen zwar auffordern, aber man müsse sie nicht verpflichten?
Frau Staatssekretärin.
Frau Kollegin, auch der Vorschlag der Präsidentschaft
sah keine konkrete und speziell für Medizinprodukte relevante Einführung einer Produkthaftpflichtversicherung
oder Deckungsvorsorge vor. Dem haben wir uns angeschlossen. Wir werden jetzt, da wir in die Trilogverhandlungen einsteigen, die Verhandlungen im Europäischen
Parlament abwarten.
Vielen Dank. - Jetzt hat Kollege Terpe eine Nachfrage. Bitte schön.
Frau Staatssekretärin Fischbach, Sie hatten in Ihrer
Antwort erwähnt, dass die Bundesregierung im EPSCORat auch deswegen Bedenken hatte und auf Übergangsregelungen gepocht hatte, weil die technischen Voraussetzungen für Sicherheitstests und die Infrastruktur für
klinische Studien fehlten. Meine erste Frage lautet: Was
unternimmt die Bundesregierung, um in Deutschland die
dafür notwendige Infrastruktur sicherzustellen? Meine
zweite Frage lautet: Was unternimmt die Bundesregierung, um auch in Europa die entsprechende Infrastruktur
sicherzustellen? Wir können ja nicht sagen: Das wird alles in Deutschland gemacht. Auch die anderen europäischen Partner sind ja beteiligt.
Bitte schön.
Wir werden unsere Vorschläge zuerst einmal auf nationaler Ebene diskutieren und voranbringen. Aber wir
werden nicht müde werden, unsere Forderungen und,
wie ich finde, berechtigten Ansprüche weiterhin auf europäischer Ebene zu thematisieren. Allerdings braucht
man auch auf europäischer Ebene Mehrheiten. Solange
wir die Möglichkeit haben, andere Mehrheiten zu beschaffen, werden wir uns entsprechend dafür einsetzen.
Vielen Dank. - Ich sehe, es gibt keine weiteren Nachfragen.
Ich rufe Frage 24 der Abgeordneten Kordula SchulzAsche auf:
Wieso hat sich die Bundesregierung im Rat dem Vorschlag
des Europaparlaments, dass Hochrisikomedizinprodukte und
Implantate von „besonderen Benannten Stellen“ bewertet
werden, die höhere Anforderungen zum Beispiel an die Qualifikation der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter erfüllen müssen, nicht angeschlossen, und wie will sie anderweitig sicherstellen, dass Medizinprodukte der Klasse III im Interesse der
Patientensicherheit ausschließlich von ausreichend qualifizierten „Benannten Stellen“ bewertet werden?
Bitte, Frau Kollegin Fischbach.
Frau Präsidentin, herzlichen Dank. - Frau Kollegin,
ich beantworte Ihre Frage wie folgt: Die Qualität der Benannten Stellen und die Zuverlässigkeit ihrer Prüfverfahren sind auch aus Sicht der Bundesregierung ein Kernstück künftiger Rechtsänderungen. Benannte Stellen
müssen europaweit einheitlich arbeiten und auf höchstem Niveau qualifiziert sein. Erforderlich sind strenge
Anforderungen an Benannte Stellen und deren Benennungsprozess, die Konkretisierung der Vorgaben, nach
denen die Benannten Stellen bei den Herstellern die
Konformitätsbewertungsverfahren durchführen, sowie
die Verbesserung der Kontrollen von Herstellern und deren Produkten nach dem Marktzugang einschließlich der
Vornahme unangekündigter Stichproben. Besondere Benannte Stellen sind dann nicht erforderlich.
Auch wenn nicht jede Detailforderung Deutschlands
erfüllt ist, sieht sich die Bundesregierung hier durch den
Kompromissvorschlag der Präsidentschaft zu Kapitel IV
auf einem sehr guten Weg. Die Schaffung einer zusätzlichen Benennungs- und Überwachungsinfrastruktur wäre
mit erheblichen Kosten verbunden, denen per se keine
weiteren Verbesserungen der Patientensicherheit im Vergleich zu den vorgesehenen Anforderungsverschärfungen im bestehenden Benennungssystem gegenüberstehen.
Die in Deutschland für die Benennung und Überwachung von Benannten Stellen zuständige Zentralstelle
der Länder für Gesundheitsschutz bei Arzneimitteln und
Medizinprodukten lehnt die Einführung eines Zweiklassensystems von Benannten Stellen und die Schaffung
von Parallelstrukturen ab.
Frau Kollegin Schulz-Asche, haben Sie eine Nachfrage?
Ich komme noch einmal auf den Skandal mit den
Brustimplantaten zurück. Da hat sich ja herausgestellt,
dass die Benannten Stellen leider nicht wie in anderen
Verfahren europaweit verlässlich sind. Wir haben außerdem feststellen müssen - ich glaube, da sind wir einer
Meinung -, dass eine Benannte Stelle, die normalerweise die Sicherheit von Toastern oder Kaffeemaschinen
bewertet, nicht gleichermaßen für die Bewertung von
Brustimplantaten oder Herzschrittmachern qualifiziert
ist. Es geht auch darum, dass es einen Unterschied gibt
zwischen der Bewertung von Pflastern und der Bewertung von Produkten, die in den Körper eingebracht werden und dort verbleiben. Wie gesagt, der Brustimplantateskandal hat ein deutliches Licht darauf geworfen.
Deswegen frage ich Sie noch einmal, warum Sie dem
Europaparlament, das sich sehr ausführlich mit dem
Thema befasst hat, nicht folgen und sagen: Die Klassen I
und II können von den Benannten Stellen durchaus bewertet werden - auch in der Qualifikationsstärke, die Sie
gerade beschrieben haben -; aber für besonders hoch risikobehaftete Produkte brauchen wir besondere Qualifikationen, höhere Qualifikationen als bisher.
Bevor die Frau Kollegin antwortet, möchte ich darum
bitten, dass die Zeitvorgaben eingehalten werden. Wir
haben jetzt noch 13 Minuten für die Beantwortung aller
noch anstehenden Fragen. Ich muss deshalb auf die Zeit
achten. - Bitte schön.
Frau Präsidentin, ich werde mich kurzfassen. - Ich
habe versucht, in meiner Antwort deutlich zu machen,
dass wir keine Parallelstrukturen wollen. Wir haben die
Struktur der Benannten Stellen. Wenn diese Stellen europaweit nach einheitlichen und vernünftigen Qualitätsstandards arbeiten, dann reicht das unseres Erachtens
aus. Das Problem im Moment ist, dass sehr unterschiedlich gearbeitet wird und die Standards nicht gleich sind.
Wir brauchen keine Parallelstrukturen, durch die Mitarbeiter mit wissenschaftlicher Expertise abgeschöpft werden und mit denen Kosten verbunden sind.
Bitte schön, eine weitere Nachfrage.
Ja, ganz kurz. - Das Europaparlament fordert auch für
Laien verständliche Veröffentlichungen der Prüfergebnisse von klinischen Studien. Werden Sie, wird Deutschland im Sinne des Verbraucherschutzes dieses Anliegen
des Europaparlaments unterstützen?
Wir werden unsere Position, die ich im Ausschuss
und auch jetzt gerade dargestellt habe, in den nächsten
Verhandlungen sehr deutlich machen und auch entsprechend einbringen.
Ich habe jetzt noch eine Nachfrage des Kollegen
Terpe. - Er verzichtet.
Somit rufe ich die Frage 25 der Abgeordneten Maria
Klein-Schmeink auf:
Wird der Monitor Patientenberatung der Unabhängigen
Patientenberatung Deutschland, UPD, wie jedes Jahr am
1. Juli veröffentlicht, und, wenn nein, warum nicht?
Bitte schön, Frau Kollegin Fischbach.
Frau Kollegin, gerne antworte ich auf Ihre Frage. In
der Gesetzesbegründung zum § 65 b SGB V, Bundestagsdrucksache 17/2413, Seite 25, ist festgehalten, dass
die Beratungseinrichtung regelmäßig an die oder den
Patientenbeauftragten über Problemlagen zu berichten
hat. Die Fördervereinbarung zwischen dem GKV-Spitzenverband und der Unabhängigen Patientenberatung
Deutschland sieht vor, dass hierfür jährlich ein schriftlicher Bericht vorgelegt werden soll. Ein bestimmter Zeitpunkt hierfür und selbst eine Veröffentlichung dieses Berichts sind nicht vorgeschrieben.
Die gemeinsame Pressekonferenz der Unabhängigen
Patientenberatung Deutschland und des Beauftragten der
Bundesregierung für die Belange der Patientinnen und
Patienten zur Veröffentlichung des Monitors Patientenberatung wird dieses Jahr nicht am 1. Juli stattfinden,
sondern zu einem späteren Zeitpunkt.
Haben Sie eine Nachfrage, Frau Kollegin?
Ja, natürlich. - Sie haben nicht dargelegt, warum
diese gemeinsame Veröffentlichung nicht, wie in den
beiden Jahren zuvor, zum 1. Juli vorgelegt wurde, und
Sie haben auch nicht ausgeführt, wann ein schriftlicher
Bericht veröffentlicht wird.
Frau Kollegin, ich habe gesagt, es gibt keine bestimmte Vorgabe, nach der dieser Bericht immer am
1. Juli vorgelegt werden muss. Es gibt nicht einmal eine
verpflichtende Vorgabe, nach der er überhaupt veröffentlicht werden muss. Deshalb bin ich glücklich und froh,
dass die Pressekonferenz stattfinden wird. Sie wird allerdings zu einem Zeitpunkt stattfinden, den der Beauftragte der Bundesregierung mit der Unabhängigen Patientenberatung Deutschland festlegen wird.
Haben Sie eine weitere Nachfrage?
Ja, meine weitere Frage lautet: Sehen Sie einen Zusammenhang mit den aktuellen Meldungen, nach denen
die UPD von einem anderen Trägerverbund abgelöst
wird? In den Medien war insbesondere die Rede davon,
dass ein privatwirtschaftliches Callcenter den Zuschlag
ab 2016 erhalten soll. Sehen Sie da einen Zusammenhang? Hat sich aus Ihrer Sicht eine öffentliche Pressekonferenz vielleicht aus dem Grunde nicht angeboten,
um Fragen der Presse nach diesem Zusammenhang aus
dem Weg zu gehen?
Das Vergabeverfahren ist im Gange. Wir werden zu
einem Verfahren, das noch nicht beendet ist, keine Stellung beziehen. Die Vermutung, die Sie anstellen, kann
ich weder bestätigen noch zurückweisen; denn sie käme
mir gar nicht in den Sinn. Insofern gebe ich diese Antwort.
Ich habe jetzt eine Frage der Kollegin Vogler. Bitte
schön.
Vielen Dank. - Frau Staatssekretärin, wenn Sie hier
verkünden, dass diese Pressekonferenz auf jeden Fall
stattfinden wird, frage ich mich schon ein bisschen, wie
die Planung in Ihrem Haus aussieht. Sie wissen also,
dass es diese Pressekonferenz geben wird, können aber
noch nicht einmal eine grobe Zeitangabe machen, wann
es denn dazu kommen wird. Ich denke, wenn das noch in
diesem Jahr stattfinden soll, müssten Sie schon einmal
eine grobe Idee haben, in welchem Monat die Pressekonferenz stattfinden wird.
Frau Kollegin, unser Haus, das Bundesministerium
für Gesundheit, legt den Termin nicht fest. Das obliegt
dem Beauftragten der Bundesregierung für die Belange
der Patientinnen und Patienten. Er wird zu gegebener
Zeit einen Zeitpunkt festlegen.
({0})
Vielen Dank. - Ich sehe keinen Wunsch nach weiteren Nachfragen.
Wir kommen zur Frage 26 der Abgeordneten
Elisabeth Scharfenberg:
Aus welchen Gründen will die Bundesregierung bis zur
Überarbeitung des Bewertungssystems für Pflegeeinrichtungen jetzt doch an der Veröffentlichung der Pflegenoten festhalten, obwohl die Pflegenoten selbst nach Meinung des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung nicht
aussagekräftig sind und „flächendeckend ,Sehr-gut‘-Gesamtnoten vergeben werden, selbst wenn wichtige Kernbereiche
der Pflege allenfalls ,ausreichend‘ sind“ ({0})?
Bitte schön, Frau Staatssekretärin.
Danke schön, Frau Präsidentin. - Liebe Frau Kollegin, ich antworte Ihnen gerne: Pflegebedürftige Menschen und ihre Angehörigen sollen sich ein möglichst
objektives Bild über die Qualität der Pflege in den Pflegeeinrichtungen verschaffen können. Insbesondere die
Gesamtnote der Transparenzberichte in ihrer derzeitigen
Form besitzt jedoch nur einen begrenzten Informationswert. Der jetzt vorgelegte Entwurf für ein zweites Pflegestärkungsgesetz sieht deshalb weitreichende neue Regelungen dazu vor, die jedoch bei gleichwohl zeitlich
eng gesetzten Fristen intensiver Vorarbeit bedürfen.
Konkret ist beabsichtigt, die Instrumente der Qualitätsprüfung und die Qualitätsberichterstattung auf neue
Grundlagen zu stellen. Dabei soll der Einbeziehung von
Erkenntnissen zur Ergebnisqualität eine besondere Bedeutung zukommen. Mit der Einführung des indikatorengestützten Qualitätsmanagements geht eine Umstrukturierung von Prüfinhalten und des Prüfgeschehens
einher; denn die Indikatoren und die Gewinnung von
bewertbaren Informationen hierzu sind in das gegenwärtige Verfahren der Qualitätsprüfungen und in die
Darstellung der Ergebnisse nach den Transparenzvereinbarungen - den sogenannten Pflege-TÜV - nicht ohne
Weiteres integrierbar.
Die Regelungen im vorliegenden Referentenentwurf
sollen daher die Vertragsparteien der Selbstverwaltung
in der Pflege dazu verpflichten, die neuen Instrumente
für die Prüfung von Pflegeeinrichtungen und für die
Qualitätsberichterstattung auf wissenschaftlicher Grundlage zu entwickeln. Ziel ist es, im Jahr 2018 ein neues
Prüf- und Transparenzsystem für den stationären Bereich einsetzen zu können. Im ambulanten Bereich, wo
es noch keine wissenschaftlichen Vorarbeiten gibt, soll
die Umstellung ein Jahr später erfolgen. Um dies zu erreichen, sollen auch die Entscheidungsstrukturen der
Selbstverwaltung gestrafft werden.
Frau Kollegin Scharfenberg.
Vielen Dank. - Frau Staatssekretärin, ich habe eine
erste Nachfrage dazu. Sie haben ja selbst gesagt, dass
Pflegenoten kein aussagekräftiger Gradmesser für Qualität sind. Nach dem, was wir mitbekommen, ist es derzeit
eher ein Selbstbefassungsinstrument. Pflegekräfte berichten uns, dass die Dokumentationen im Sinne der
Pflegenoten ein absoluter Zeitfresser sind. Diese Zeit
würde eigentlich dringend am Bett gebraucht. Ist das
nicht ein ernstzunehmendes Argument gegen dieses Instrument und für die sofortige Aussetzung?
Frau Kollegin, vielen Dank für die Nachfrage. - Wir
sehen die Probleme, aber wissen auch, dass es zurzeit
keine Alternative gibt. Ihre Frage suggeriert, es gäbe ein
anderes System, das schnell einsetzbar und besser wäre.
Das gibt es nicht. Deshalb werden wir uns die Zeit nehmen, das neue System wirklich wissenschaftlich fundiert
auf den Weg zu bringen. Wir haben ja bei der Einführung des Pflege-TÜV gemerkt, welche Probleme es gibt,
wenn so etwas rasch und ohne wissenschaftliche Grundlagen gemacht wird. Deswegen sind wir an der Stelle, an
der wir jetzt sind.
Frau Kollegin Scharfenberg, Sie haben noch eine
zweite Nachfrage.
Am Schluss meiner ersten Nachfrage stand ja auch
ein Argument für die sofortige Aussetzung. Darauf haben Sie leider noch nicht geantwortet; aber vielleicht
machen Sie das ja in Ihrer Antwort auf meine zweite
Frage. - Wie lassen sich denn die Systematik der Pflegenoten und der damit einhergehende überbordende
Schreibaufwand mit dem angekündigten Bürokratieabbau in der Pflege vereinbaren?
Bitte.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Wir haben auf
Grundlage der guten Vorbereitung des Arbeitskreises zur
Entbürokratisierung in der Pflege viele Vorschläge gemacht, wie gerade dem Problem der Bürokratisierung
entgegengewirkt werden kann. Wir sind jetzt dabei,
diese Ergebnisse umzusetzen. Wenn die Ergebnisse, die
auch der Pflegebeauftragte der Bundesregierung jetzt
sehr vehement in die Öffentlichkeit trägt, umgesetzt sein
werden, haben wir an dieser Stelle schon eine deutliche
Entlastung.
Ich sage noch einmal: Wir wollen jetzt keinen
Schnellschuss, auch wenn der Bürokratieaufwand gleich
bleibt oder es zu noch mehr Bürokratie kommt. Vielmehr wollen wir ein fundiertes System, das dann das alte
ablöst.
Ich sehe keine weiteren Nachfragen.
Wir kommen dann zur Frage 27 der Kollegin
Scharfenberg:
Wie will die Bundesregierung bis zur Überarbeitung des
Bewertungssystems für Pflegeeinrichtungen gewährleisten,
dass Pflegebedürftige und deren Angehörige sich ein aussagekräftiges Bild von einzelnen Pflegeeinrichtungen machen
können und nicht von einer guten Gesamtnote über Defizite in
der Pflege getäuscht werden?
Bitte schön, Frau Staatssekretärin.
Danke, Frau Präsidentin. - Liebe Frau Kollegin, die
von den Vereinbarungspartnern nach § 115 Absatz 1 a
Elftes Buch Sozialgesetzbuch getroffenen Pflege-Transparenzvereinbarungen für den ambulanten bzw. für den
stationären Bereich sehen bisher Noten für die einzelnen
Qualitätsbereiche und eine Gesamtnote vor. Im ambulanten Bereich werden zusätzlich Noten für die einzelnen Kriterien dargestellt. Die Bereichs- und Gesamtnoten ermöglichen derzeit keine differenzierten und
vergleichenden Aussagen hinsichtlich der Qualität von
Pflegeeinrichtungen. Regelungen zur Entwicklung eines
neuen, wissenschaftlich fundierten Verfahrens zur Qualitätsmessung und -darstellung und damit zur Überarbeitung des Bewertungssystems sind in dem vom
Bundesministerium für Gesundheit vorgelegten Referentenentwurf eines zweiten Pflegestärkungsgesetzes enthalten.
Die Fragestellung unterstellt, dass es einen fachlich
einfachen und zeitlich kurzen Weg zu einer Zwischenlösung gebe, die auch einen sinnvollen Übergang zur Entwicklung eines neuen Prüf- und Bewertungssystems darstellt. Aus Sicht der Bundesregierung gilt es aber,
sorgfältig abzuwägen, ob für einen begrenzten Übergangszeitraum zusätzliche Ressourcen der Selbstverwaltung und in den Einrichtungen in die kurzfristige Neuordnung des bestehenden Systems gesteckt werden
sollen und oder ob die wichtigen und herausfordernden
Arbeiten an einem grundlegend neuen Instrument sofort
im Vordergrund stehen müssen.
Frau Kollegin Scharfenberg.
Vielen Dank. - Dazu hätte ich eine Nachfrage. Defizite in der Pflege werden ja mit anderen Dingen wie einer guten Gesamtnote quasi wettgemacht. Uns geht es
darum, dieses System auszusetzen. Es soll jetzt nicht unbedingt schnell etwas anderes entwickelt werden, sondern wir wollen, dass dieses System erst einmal ausgesetzt wird, bis etwas Neues entwickelt ist. Darum frage
ich noch einmal: Wir erleben derzeit einen Pflegenotstand. Es gibt Personalmangel, Pfleger, die am Boden
sind, und Pflegekräfte, die ständig über ihre eigenen
Grenzen gehen bzw. gehen müssen. Am letzten Mittwoch gab es Demonstrationen von Verdi. Die Pflegekräfte haben aufbegehrt. In der Charité wurde gestreikt.
In Pflegeheimen und stationären Altenheimeinrichtungen ist der Zustand nicht anders. Sind denn in diesem
Zusammenhang Pflegenoten wie „sehr gut“ bzw. „eins
komma irgendwas“, die quasi paradiesische Zustände in
der Pflegelandschaft suggerieren, nicht wirklich kontraproduktiv?
Frau Kollegin, ich gebe Ihnen recht. Wir werden ja
ein neues System erarbeiten, weil die Pflegenoten, so
wie sie heute existieren, kaum Aussagekraft haben. Man
muss in die Einzelbenotung gehen. Deswegen werden
wir mit Vehemenz und Kraft dafür sorgen, dass wir zu
einer Benotung bzw. Bewertung kommen, die wirklich
transparent ist und vor allen Dingen denjenigen nützt,
die diese Informationen für ihre Entscheidung, welches
Heim sie aufsuchen sollen, wirklich benötigen.
Vielen Dank. - Vielen Dank auch Ihnen, Frau Kollegin Fischbach.
Alle weiteren Fragen aus diesem Geschäftsbereich
und aus den weiteren Geschäftsbereichen werden
schriftlich beantwortet.
Wir sind damit am Ende der heutigen Fragestunde angelangt.
Ich rufe dann den Zusatzpunkt 2 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion DIE LINKE
Rolle des Bundes beim Tarifkonflikt bei der
Deutschen Post AG
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Sabine
Zimmermann, Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Die Linke war in den letzten Wochen auf verschiedenen Streikkundgebungen der Kolleginnen und
Kollegen der Post. Ich finde, wir sollten hier heute zuallererst den Kolleginnen und Kollegen Respekt für ihren
Kampf zollen;
({0})
denn sie kämpfen nicht nur für sich, sondern auch für die
Beschäftigten der Posttochter DHL Delivery, welche
dieselbe Arbeit machen, aber mit deutlich schlechteren
Löhnen abgespeist werden.
Millionen Beschäftigte haben in den vergangenen
Jahren die Erfahrung gemacht, ausgegliedert zu werden,
für weniger Geld und natürlich zu schlechteren Bedingungen arbeiten zu müssen. Der Streik der Kolleginnen
und Kollegen ist auch ein Zeichen, dass dieses
Lohndumping endlich ein Ende haben muss.
({1})
Meine Damen und Herren, nun haben wir heute eine
Information bekommen, die eine bodenlose Frechheit
ist. Es gibt Hinweise darauf, dass die Arbeitsagentur für
die Post Streikbrecher sucht. Ich will Ihnen hier die
Anzeige - ich habe sie extra groß kopiert - für das Postfrachtzentrum Magdeburg zeigen und aus dem Stellenangebot der Arbeitsagentur zitieren: Wir suchen Postsortierer für einen befristeten Einsatz von zwei bis drei
Monaten. - Die Krönung ist, dass das Ganze für
8,20 Euro im Rahmen von Leiharbeit geschehen soll, für
die der Mindestlohn überhaupt nicht gilt. Wenn das hier
in Deutschland so passiert, ist das eine große Sauerei,
meine Damen und Herren. Ich fordere eine klare Stellungnahme der Bundesregierung, die leider nicht anwesend ist.
({2})
Die Streikenden werden unter Druck gesetzt, und es
wird mit weiteren Ausgründungen gedroht. Wissen Sie,
was die Beschäftigten von ihren Vorgesetzten gesagt bekommen: Wenn Du mein Sohn wärst, würde ich Dich
zur Arbeit prügeln. - Oder: Wenn Sie den Vertrag zu den
schlechteren Bedingungen nicht unterschreiben, dann
melden wir das dem Jobcenter, und dann kriegen Sie
noch eine Sperrfrist obendrauf. - Das, meine Damen und
Herren, ist Erpressung. Ich bin entsetzt, dass so etwas in
einem Unternehmen in Deutschland, bei dem die Regierung im Aufsichtsrat sitzt, möglich ist.
({3})
Es muss Schluss sein damit, dass sich das Management mit derart simplen Rezepten wie brutalem
Lohndumping eine goldene Nase verdient. Das Einkommen von Postchef Frank Appel hat sich in diesem Jahr
um über 50 Prozent erhöht. Wofür eigentlich? Wir reden
hier von 5,2 Millionen Euro Einkommen. Und diejenigen, die die Leistung für das Unternehmen erbringen,
sollen auf bis zu 20 Prozent des Lohnes verzichten. Das
darf doch wohl nicht wahr sein.
({4})
Weil die Kolleginnen und Kollegen so viel leisten,
zeigt dieser Streik auch Wirkung. Die Post kann noch so
viele Autos leer durch Hamburg fahren lassen oder Hallen für nicht ausgelieferte Pakete anmieten: Die Menschen merken, dass die Briefe und die Pakete nicht mehr
Sabine Zimmermann ({5})
so ankommen, wie sie es gewohnt waren. Dass sich die
Post aber jenseits legaler Möglichkeiten alles Mögliche
einfallen lässt, diesen Streik zu unterlaufen, ist unglaublich.
({6})
Ich kann es nicht anders sagen: Es regt mich auf, wenn
ich sehe, wie man hier mit Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern umgeht.
Ich will Ihnen hier zwei weitere Bilder zeigen, die ich
ebenfalls extra auf Großformat kopiert habe. Diese zeigen nicht etwa Baucontainer, sondern Container, welche
die Post für slowakische Streikbrecher beim Postverteilzentrum in Greven-Reckenfeld
Nehmen Sie jetzt bitte die Blätter wieder runter! Sie
haben sie gezeigt, aber nun nehmen Sie sie bitte wieder
runter. Es gelten für alle hier im Haus gleiche Bedingungen.
- angemietet und auf dem Gelände eines Gartenbaubetriebs in Hörstel aufgestellt hat. Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zahlen sogar noch Miete für diese
„Luxuswohnungen“. Das ist eine Frechheit. So etwas
kann man nicht verstehen.
({0})
Bei alldem schweigt die Bundesregierung - und duldet
es noch dazu.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union und
von der SPD, Sie haben vor etwa 20 Jahren die Privatisierung der Post auf den Weg gebracht. Nun müssen Sie
zugeben, dass dieser Konflikt ein Ergebnis dieser Entscheidung ist. Das Unternehmen arbeitet profitabel; aber
um die Gewinne zu erhöhen, ist jedes Mittel recht. In
den vergangenen zehn Jahren wurden 8 Milliarden Euro
an die Aktionäre ausgeschüttet - Geld, das bei den Löhnen und den Arbeitsbedingungen abgeknapst wurde und
bei der Modernisierung des Unternehmens fehlt.
Es ist ein Skandal, dass die Bundesregierung dem
Post-Vorstand für eine solche Unternehmenspolitik freie
Hand lässt.
({1})
Ich muss schon fragen - diese Frage müssen Sie sich gefallen lassen -: Wofür sind Sie eigentlich gewählt worden? Für die Millionen Beschäftigten, die unter anderem
auch bei der Post arbeiten, oder für einzelne Vorstandsmitglieder, die für Millioneneinkünfte stehen?
Für die Linke ist klar: Wir sagen Nein zum Lohndumping bei der Post und Ja zum Streik der Kolleginnen und
Kollegen. Wir unterstützen sie innerhalb und außerhalb
des Parlamentes.
Danke.
({2})
Vielen Dank. - Da einige Kolleginnen und Kollegen
der Fraktion Die Linke so verstört zu mir herübergeschaut haben, will ich sagen: Die Regeln, die wir hier
haben, haben wir alle gemeinsam beschlossen - einschließlich der Fraktion Die Linke.
Nächster Redner ist Tobias Zech, CDU/CSU-Fraktion. - Bitte.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir haben uns vor drei Monaten hier im Deutschen Bundestag
schon einmal mit diesem Thema, der Tarifauseinandersetzung bei der Deutschen Post, beschäftigt. Ich habe
schon damals für die Union gesprochen und gesagt, dass
ich die Diskussion hier nicht für angemessen halte.
Heute haben Sie das Thema wieder auf die Tagesordnung gesetzt. Meine Damen und Herren von den Linken,
ich muss Ihnen sagen: Aus meiner Sicht geschah das
wiederum grundlos.
Auch wenn ich diese Debatte hier ungeeignet finde,
gibt sie mir doch zumindest die Möglichkeit, ein paar
Dinge klarzustellen.
Es handelt sich beim Konflikt zwischen Verdi und der
Deutschen Post ganz klar um eine ganz klassische Auseinandersetzung zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgeber. Sie hat hier im Plenum des Deutschen Bundestages
nichts, aber auch gar nichts zu suchen.
({0})
Wir sprechen hier im Deutschen Bundestag immer
wieder gerne von der Tarifautonomie. Sie bedeutet, autonom und damit frei von staatlichen Eingriffen zu handeln. Das gilt übrigens für alle. Das heißt, auch wenn der
Bund Anteilseigner ist, gibt uns das bei weitem noch
nicht das Recht, uns in jede Verhandlung und in jeden
Konflikt von Unternehmen, an denen wir beteiligt sind,
einzumischen. Was Sie hier machen, ist nichts anderes
als ein politisches Schaulaufen ohne inhaltliche Substanz.
({1})
Welches Zeichen möchten Sie denn setzen? Wir haben über hundert Beteiligungen. Wollen Sie in Zukunft
bei jeder Streitigkeit zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern in den Unternehmen, an denen wir beteiligt
sind, den Deutschen Bundestag bemühen? Das kann
doch nicht Ihr Ernst sein.
({2})
Es ist klar, warum Sie das wollen. Sie können nämlich
überhaupt kein Fan von Tarifautonomie sein, weil für
Sie staatliches Handeln wohl immer noch die oberste aller Prämissen ist.
Ich möchte drei Punkte herausgreifen.
Erstens. Die Situation der Arbeitnehmer sehen wir
hier sehr wohl, und die nehmen wir hier auch ernst.
({3})
Man muss aber auch sehen, welche Folgen die Gründung der DHL Delivery GmbH langfristig hat. Die Post
baut unbefristete Arbeitsverhältnisse auf.
({4})
- Das ist so; das ist die Wahrheit. - Die Deutsche Post
zahlt die Tariflöhne auch bei der DHL Delivery GmbH
nicht im luftleeren Raum, sondern gemäß den zwischen
Verdi und der Speditions- und Logistikbranche ausgehandelten Flächentarifverträgen. Auch das ist die Wahrheit.
({5})
Dazu kommen noch Zahlungen zum Ausgleich und Zahlungen im Niedriglohnbereich. Auch das ist die Wahrheit. Ich hätte mir von Ihnen ganz gerne gewünscht, dass
Sie das hier auch so sagen.
Zweitens geht es auch um die Situation der Arbeitgeber. Wir möchten hier im Land Unternehmen haben, die
nachhaltig und wirtschaftlich langfristig denken. Das
heißt, dass wir die Deutsche Post so aufstellen müssen
und dass der Post-Vorstand alles dafür tut, dass das Unternehmen langfristig wirtschaftlich erfolgreich sein
wird. Das ist nicht nur den Kunden in Deutschland, sondern vor allem auch den Arbeitnehmern, die Sie hier zu
vertreten meinen, geschuldet, weil der Vorstand nur dann
langfristig gute Arbeitsplätze garantieren kann. Auch
hier muss man die Deutsche Post unterstützen.
Drittens. Da wir das Plenum schon bemühen, möchte
ich die untragbare Situation für die Bürgerinnen und
Bürger noch ansprechen. Nicht nur Briefe und Zeitungen
kommen nicht mehr an, sondern teilweise werden auch
Medikamente nicht zugestellt. Labor- und Arztberichte
kommen nicht an. Rechnungen werden nicht fristgerecht
zugestellt.
({6})
Ein kleiner Handwerksbetrieb wird unter Liquiditätseinbußen leiden, weil es keine Zahlungseingänge gibt. Das
ist die Politik, die Sie hier betreiben.
({7})
Es kann doch nicht Ihr Ernst sein, zu sagen, dass das
sinnvoll ist.
({8})
Inzwischen leiden auch Schwerbehinderte unter dem
Streik, weil sie ihre Wertmarken für eine freie Fahrt mit
Bus und Bahn nicht bekommen. Ihnen geht es um Ideologie, nicht um die Menschen in diesem Land. Auch das
muss man einmal deutlich sagen.
({9})
Ich sehe, ich muss zum Ende kommen. Deswegen nur
noch ganz kurz: Die Arbeitsplätze, die die Deutsche Post
aufbaut, gehören zu den bestbezahlten in der Branche;
auch das ist korrekt. Ich plädiere für Folgendes: Lassen
Sie Arbeitgeber und Arbeitnehmer in Ruhe verhandeln.
Wir als Politiker dürfen uns nicht einmischen.
({10})
Das ist Tarifautonomie. Die Tarifpartner sollen das regeln; dafür gibt es sie.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({11})
Vielen Dank. - Nächste Rednerin ist Beate MüllerGemmeke, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Deutsche Post AG ist Marktführer. Der Umsatz steigt. Im letzten Jahr ist die Dividende
der Aktionäre um 6 Prozent erhöht worden. Der Vorstandsvorsitzende erhielt satte 9,6 Millionen Euro. Das
ist ein Plus von 21,5 Prozent. Das Unternehmen ist also
kerngesund. Gleichzeitig hat die Post 49 Regionalgesellschaften gegründet. Die Paketzustellung mit 14 000 Stellen wird ausgelagert. Hier gilt nur der Logistiktarifvertrag. Herr Zech, das sind keine neuen Jobs. Das sind
ausgelagerte Jobs. Nehmen Sie das endlich einmal zur
Kenntnis. Das ist doch nicht so schwer zu verstehen.
({0})
Die ganze Sache ist mit externen Beratern von langer
Hand vorbereitet worden. Es wurden Tausende befristete
Jobs geschaffen. Die Beschäftigten werden jetzt in die
Regionalgesellschaften nach dem Motto gedrängt: Gehaltskürzung oder Kündigung. Die Beschäftigten der
Post streiken zu Recht; denn hier wird ein gesundes Unternehmen zulasten der Beschäftigten zerlegt. Die Post
hat jeglichen Anstand verloren. Das ist nicht akzeptabel.
({1})
Die Post begeht hier einen ganz klaren Fall von Tarifflucht: von einem guten in einen schlechten Tarifvertrag.
Die Post zerschlägt damit auch die Mitbestimmung. Das
alles zerstört Vertrauen.
Es geht noch weiter - das wurde schon angesprochen -:
Die Beschäftigten wurden systematisch unter Druck gesetzt, sich nicht an den Streiks zu beteiligen. Beamte
wurden als Streikbrecher eingesetzt, und der Post ist jedes Mittel recht, den Streik zu neutralisieren, etwa mit
Werkverträgen und Leiharbeitskräften. Jetzt gibt es auch
noch Sonntagsarbeit, und zwar rechtswidrig. Wenn dabei
jetzt die Bundesagentur für Arbeit mithilft, dann ist das
unglaublich. All das ist unanständig.
({2})
Das ist nicht demokratisch. So wird die Sozialpartnerschaft aufgekündigt. Das muss aufs Schärfste kritisiert
werden.
({3})
Normalerweise sage auch ich, dass sich die Politik bei
Tarifverhandlungen raushalten muss. Aber in diesem
Fall ist die Debatte richtig und auch wichtig; denn bei
der Post trägt nun einmal auch die Bundesregierung Verantwortung.
({4})
Herr Zech, nehmen Sie das endlich zur Kenntnis.
({5})
Die Bundesregierung ist immer noch größter Anteilseigner bei der Post. Der Bund hat zwei Sitze im Aufsichtsrat. Ich frage Sie: Wann hören wir endlich etwas von der
Arbeitsministerin?
({6})
Wann hören wir endlich einmal etwas von dem sozialdemokratischen Wirtschaftsminister?
({7})
Wann mischt sich die Bundesregierung endlich ein? Verantwortung sieht anders aus.
({8})
Diese Verantwortung vermisse ich nicht nur in dem
aktuellen Tarifvertrag, sondern auch in der Zeit davor.
Schon im März habe ich bei der Bundesregierung nachgefragt, wann die Bundesregierung über die Regionalgesellschaften informiert war und wie sich die zwei Vertreter im Aufsichtsrat dazu verhalten haben. Die Antwort
wurde mir verweigert. Die Bundesregierung versteckt
sich hinter Verschwiegenheitspflichten und fühlt sich
laut ihren Aussagen für die Beschäftigten nicht zuständig. Es bleibt also im Dunkeln, seit wann die Bundesregierung über die Regionalgesellschaften Bescheid weiß.
Vor allem sehen wir auch die Frage der Verschwiegenheitspflichten anders. Deshalb klagen wir auch wegen
anderer ähnlicher Fälle vor dem Bundesverfassungsgericht.
Natürlich muss die Bundesregierung uns Abgeordneten Fragen über Unternehmen beantworten, an denen der
Bund beteiligt ist. Natürlich hat die Öffentlichkeit das
Recht, zu erfahren, wie sich die Bundesregierung in Aufsichtsräten verhält, und natürlich können die Menschen
erwarten, dass sich die Bundesregierung für das Wohl
der Beschäftigten einsetzt. Denn Eigentum verpflichtet.
({9})
Bevor Sie noch Atemnot bekommen, Herr Zech: Der
Konflikt bei der Post ist kein normaler Tarifkonflikt,
sondern es geht um mehr. Es geht um Anstand, Fairness
und kollektive und individuelle Arbeitnehmer- und Arbeitnehmerinnenrechte. Es geht um Partnerschaft und
um Vertrauen in der Arbeitswelt. All dies interessiert die
Konzernleitung zurzeit wenig, und das in einem Unternehmen, an dem der Bund beteiligt ist.
({10})
Die Bundesregierung sollte also endlich gesellschaftliche Verantwortung übernehmen und Partei ergreifen.
Denn die Beschäftigten der Post haben Unterstützung
und Solidarität verdient.
({11})
Ich komme zum Schluss. Die Deutsche Post AG
sollte endlich auf eine nachhaltige Unternehmenspolitik
setzen. Wichtig sind nicht immer nur steigende Dividenden, sondern ein guter und verlässlicher Service und ein
gutes Image durch engagierte Beschäftigte. Die Post
muss also endlich zu einem fairen Umgang mit den Beschäftigten und den Gewerkschaften zurückfinden und
ihrer Vorbildfunktion gerecht werden. Alles andere ist
nicht akzeptabel.
Vielen Dank.
({12})
Vielen Dank. - Für die SPD-Fraktion hat jetzt Ewald
Schurer das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Angesichts der ökonomischen Daten des Unternehmens Deutsche Post DHL
könnte man durchaus sagen: Bei 3 Milliarden Euro Betriebsgewinn und einer hohen und guten Rendite von
8,3 Prozent in den letzten Jahren hätte das Management
der Post auch zu einer anderen Entscheidung kommen
können und müssen.
({0})
Ich halte es auch als Abgeordneter der Großen Koalition - das ist kein Widerspruch - für richtig, dass wir
politisch in der Lage sind, so einen Vorgang zu bewerten. Dabei spielen auch das Tarifrecht und - das kann
man nicht leugnen - die Beteiligung des Bundes eine
Rolle. Im Übrigen haben alle bisherigen Qualitätstests,
die evident waren, ergeben: Die Post und DHL sind im
Brief- und Paketbereich qualitativ die Nummer eins,
auch deswegen, weil man die Menschen vernünftig bezahlt bzw. bezahlt hat. Das muss man konstatieren dürfen. Insofern kann ich mich mit den Kolleginnen und
Kollegen solidarisieren, die seit 48 Tagen streiken, und
zwar nicht just for fun oder weil sie sozusagen wild geworden sind; es geht vielmehr um Existenzen.
({1})
Wir alle diskutieren immer wieder in vielen Zusammenhängen wie der Familienpolitik die Möglichkeiten
gerade auch junger Menschen der mittleren Generation,
zum Beispiel eine Familie zu gründen, soziale Sicherheiten zu bekommen und den Weg ins Leben zu finden. Genau dem widerspricht dieses strategische Handeln in voller Gänze. Das muss man zugeben, und das kann man
fraktionsübergreifend, aber auch als Mitglied der Regierungskoalition tun, ohne sich irgendetwas zu vergeben.
({2})
Deswegen bin ich der festen Meinung, dass die Post
mit der Ausgründung von 49 Regionalgesellschaften dezidiert die falsche Entscheidung getroffen hat.
({3})
Mit guter und auskömmlicher Bezahlung wäre das Unternehmen morgen und auch noch in fünf Jahren qualitativ und quantitativ der Spitzenreiter im Bereich Briefe
und Pakete und könnte das gut verkaufen.
Dass man jetzt auf das Lohngefüge der sonstigen Logistikleister im Wettbewerb setzt, die zum Teil nur im
Mindestlohnbereich agieren, ist strategisch vor allen
Dingen dann nicht zu verstehen, wenn - das ist angesprochen worden - ein Spitzenmanager wie Herr Appel
nach einer Erhöhung um über 20 Prozent nun 9,5 Millionen Euro verdient. Das kommt nicht gut an, und es zerstört Vertrauen bei der eigenen Belegschaft und, wie ich
weiß, auch bei Kolleginnen und Kollegen der CSU,
CDU und der SPD genauso wie bei der Opposition. Das,
was dort gemacht wird, ist ökonomisch widersinnig und
geht zulasten der Menschen.
({4})
Allen schlechten Beispielen aus der sogenannten
freien Wirtschaft, die manchmal unter Wettbewerbsdruck gar nicht so frei ist, muss man nicht folgen, vor allen Dingen dann, wenn man einen öffentlichen Anteil zu
verteidigen hat.
({5})
Als Haushälter der SPD-Bundestagsfraktion und Mitglied des Ausschusses für Arbeit und Soziales hätte ich
mir gewünscht - das ist keine Fundamentalkritik, wohl
aber eine bewusste Erwähnung -, dass das federführende
BMF dazu ein öffentliches Statement abgibt; das wäre
kein Fehler gewesen.
({6})
Ich darf der Opposition allerdings entgegenhalten:
Nicht alles - so sagte mir der Kollege Klaus Barthel -,
was nicht in den Zeitungen steht und nicht vertont wird,
ist nicht geschehen. Es gab politisches Insistieren vonseiten der Fachministerien. Allerdings hat sich dann das
Management von DHL und Deutscher Post eben anders
entschieden. Nun zu beklagen, dass Verdi als Verkörperung der Arbeitnehmerschaft versucht, dagegenzuhalten,
um die genannten Niedriglohntendenzen zu unterbinden,
ist ein bisschen verlogen;
({7})
denn man hätte zuvor gemeinsam mit der Gewerkschaft
und der Vertretung der Arbeitnehmer ein anderes Unternehmenskonzept erarbeiten und auf die 49 Ausgründungen verzichten können.
({8})
Ich bin darüber sehr unglücklich und sage deshalb:
Reformen - auch im ökonomischen Sinne - müssen
nicht immer in die Billigschiene münden. Diesen Beweis
erbringt oft der Mittelstand. Ich kenne viele Mittelständler, die im Qualitätsbereich, im Servicebereich oder in
der Produktion - auch in der Metallindustrie - tätig sind
und dezidiert sagen: Ich setze mich mit qualitativ höherwertigen Produkten, höherem Lohn und höheren Sozialleistungen von meinen Wettbewerbern ab. - Immer mehr
Unternehmen in der Marktwirtschaft machen das. Sie
tun das bewusst, weil sie wissen, dass das ein Qualitätsmerkmal ist.
({9})
Insofern hat die Deutsche Post bzw. DHL eine unternehmerische Fehlentscheidung getroffen, die man auch
im Parlament als solche bezeichnen darf.
Herzlichen Dank.
({10})
Vielen Dank. - Für die CDU/CSU-Fraktion spricht
jetzt Albert Weiler.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren auf
der Tribüne! Die heutige Aktuelle Stunde erinnert mich
sehr an den 25. März, als wir über das Gleiche debattiert
haben. Ich erinnere an den Film Und täglich grüßt das
Murmeltier. Damals waren sieben Abgeordnete der Linken anwesend, heute sind es immerhin zwölf. Es gibt
also eine gewisse Vermehrung. Sie werden besser. Aber
man muss sich das einmal vorstellen: Die Linken beantragen diese Aktuelle Stunde und sitzen dann mit zwölf
Hanseln da. Das ist schon sehr merkwürdig.
({0})
- In Bayern sagt man Hansel.
Da hier ein paar Behauptungen aufgestellt wurden,
die nicht so gut sind, möchte ich eine Anzeige der Deutschen Post zitieren, die an die Gewerkschaft gerichtet
ist:
Liebe ver.di, Deutschland fragt sich nach 48 Streiktagen, worum es Euch beim Post-Streik eigentlich
geht. Wir auch! Ihr habt den Tarifvertrag zur Wochenarbeitszeit gekündigt, um streikfähig zu sein,
aber über unser konkretes Angebot wolltet Ihr nicht
verhandeln? Ihr kämpft gegen die neuen Regionalgesellschaften, obwohl wir dort 6 500 Menschen
mit unbefristeten Arbeitsverträgen zu Euren eigenen Tarifkonditionen eine Zukunft geben? Ihr fordert 140 000 Postmitarbeiter zum Streik auf, die
von den Regionalgesellschaften nicht betroffen sind
und für die sich nichts ändert?
({1})
Im Interesse unserer Mitarbeiter und Kunden hoffen wir auf den Beginn konstruktiver Verhandlungen, damit wir gemeinsam die Zukunft unseres Unternehmens sichern können! Nur so bleiben wir:
Die Post für Deutschland.
Wir von der CDU/CSU wollen die Post für Deutschland
erhalten und sie nicht kaputtmachen.
Am 25. März hatte ich abschließend gesagt, dass
Verdi als Tarifverhandlungspartner gefragt ist, wenn es
darum geht, weiterhin positive Tarifverträge für alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Post- und der Paketbranche auszuhandeln, nicht der Deutsche Bundestag
und erst recht nicht die Bundesregierung.
({2})
- Danke schön.
({3})
Dass Gewerkschaften Streik als Druckmittel einsetzen, ist legitim. Wir garantieren das im Grundgesetz.
Auch das sollten Sie einmal lesen. Der Streik ist das Mittel der Gewerkschaften, um ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen. Allerdings darf eine Gewerkschaft
nicht mit überzogenen Forderungen und ziemlich kompromisslos den Arbeitskampf bis ins Unermessliche führen. Das haben wir zuletzt bei dem Streik bei der Bahn
gesehen.
Die erste Forderung von Verdi nach Senkung der Wochenarbeitszeit bei gleichzeitig vollem Lohnausgleich
und die zusätzliche Forderung nach einer Erhöhung der
Tarifgehälter gingen an der Wirklichkeit vorbei. Diese
hätten eine Lohnerhöhung von insgesamt 12,5 Prozent
und damit eine zusätzliche Personalkostensteigerung
von 600 Millionen Euro bedeutet. Auch die neue Forderung bedeutet eine zusätzliche Erhöhung der Personalkosten von 300 Millionen Euro. Damit wird die Post/
DHL kaputtgemacht. Das kann doch nicht das Ziel sein.
({4})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linksfraktion, ich bin mir gar nicht so sicher, ob Sie sich mit der
Aktuellen Stunde bei Verdi Freunde machen. Auf der
Webseite der Gewerkschaft Verdi können Sie ganz klar
nachlesen - das sollten Sie wirklich einmal tun -, was in
dem offiziellen Verdi-Lexikon unter dem Begriff Tarifautonomie steht. Ich zitiere:
Tarifautonomie bedeutet, dass in Deutschland Arbeitgeber und Arbeitnehmer/innen die Bestimmungen zu Urlaub, Gehalt, Arbeitszeiten und vielen
weiteren Arbeitsbedingungen selbstständig aushandeln.
Jetzt kommt der entscheidende Satz:
Die Politik hält sich heraus.
So schreibt Verdi.
({5})
Ich wundere mich jedoch sehr. Schaue ich in die Reihen der Linken, sehe ich zahlreiche Gewerkschafter und
Gewerkschaftslobbyisten, die es eigentlich besser wissen müssten: Herrn Ernst - er ist heute nicht da -, jahrelang als Gewerkschaftssekretär und später als gewählter
Erster Bevollmächtigter der IG Metall tätig, Frau
Zimmermann, bezahlte Gewerkschafterin, und Frau
Krellmann, bezahlte Gewerkschafterin der IG Metall,
Frankfurt am Main.
({6})
1 000 Euro im Monat nebenbei sind auch nicht schlecht,
sage ich einmal.
({7})
Sie fallen mit Ihrem Antrag auf diese Aktuelle Stunde
Verdi ganz offen in den Rücken und untergraben damit
das offizielle Verdi-Konzept, das sich auf Tarifautonomie stützt. Wir haben circa 70 000 bestehende Tarifverträge in unserem Land. Der wirtschaftliche Erfolg der
deutschen Unternehmen beweist, dass unser System im
Grundsatz gut funktioniert. Diese Form der Lohnfindung
- ich werbe ausdrücklich dafür - ist ein Grundpfeiler unserer sozialen Markwirtschaft.
Ich komme zum Ende. Tarifverträge gehören in die
Hand der Gewerkschaften und der Arbeitgeber. Ich bitte
Sie, das nun endlich zu verstehen und auch zu akzeptieren, damit wir nicht noch ein drittes Mal zu dem gleichen Thema debattieren.
({8})
Vielen Dank.
({9})
Vielen Dank, Herr Kollege Weiler. - Wir alle lieben
die lebendigen parlamentarischen Debatten. Aber vielleicht können wir uns für die Zukunft darauf verständigen, dass hier unten im Saal Frauen und Männer, Abgeordnete bzw. Menschen sitzen. Das wäre ganz schön.
({0})
Nächste Rednerin ist Jutta Krellmann, Fraktion Die
Linke.
({1})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Herr Weiler, wir haben am 25. März über
diese Frage geredet. Ich persönlich komme aus Niedersachsen, nicht aus Frankfurt. Frankfurt liegt in Hessen.
Meine IG-Metall-Verwaltungsstelle ist Alfeld-HamelnHildesheim. Darauf bin ich sehr stolz.
({0})
Als Gewerkschafterin, Herr Weiler, muss ich sagen,
dass mir die Galle überläuft, wenn ich sehe, wie das legitime Recht der Postbeschäftigten mit Füßen getreten
wird, nämlich das Recht auf Streik. Es ist überhaupt
nicht in Ordnung, was da passiert.
({1})
Während die Bundesregierung beharrlich schweigt,
kommen bei dem Arbeitgeber Post alle möglichen neuen
Sauereien und Schweinereien zum Vorschein. Meine
Kollegin hat eben schon Beispiele genannt. Ich kann das
noch weiter ausführen. Es sind viele Dinge passiert. Es
gab Ausschreibungen für befristete Stellen, für Leiharbeiter, Studierende werden mit extra Streikbrecherprämien geködert, Pakete werden von betriebsfremden Taxifahrern ausgeliefert, der Arbeitgeber Post missachtet
wiederholt das Arbeitsverbot an Sonntagen.
({2})
Was ist hier eigentlich los in Deutschland? Sagen Sie
mir das doch einmal. Ich finde, es ist eine ziemliche Katastrophe, was da passiert. Deutschlandweit werden gewerkschaftsfeindliche Anzeigen in der Springer-Presse
mit der Überschrift „Leere Briefkästen hat Deutschland
nicht verdient“
({3})
geschaltet. Mit solchen Geschichten wird gegen die
Streikenden Stimmung gemacht. Es ist richtig schäbig,
was da passiert.
({4})
Aus meiner Sicht ist der Bund absolut gefragt, hier
einzugreifen. Er ist der größte Einzelaktionär - das ist
auch schon von anderen gesagt worden - bei der Post
und damit für die Unternehmenspolitik verantwortlich.
Natürlich hat der Bund da etwas zu sagen. Wenn man
schweigt, macht man sich bei Gesetzesverstößen doch
mit strafbar.
({5})
Wenn Arbeitgeber frech das Verbot der Sonntagsarbeit unterlaufen, dann muss auch die Bundesebene handeln. Wer denn sonst?
({6})
Geht nicht, gibt’s nicht.
Auf Länderebene allein kommen wir bei der Lösung
dieser Probleme offenbar nicht weiter. Während man in
Bayern mit Sonntagsarbeit anscheinend keine Probleme
hat, drohen die zuständigen Ämter in Niedersachsen,
Thüringen oder Brandenburg mit Bußgeldern. In Bayern
ist Streikbruch am Sonntag also erlaubt? Woanders
nicht, und trotzdem wird es von der Post gemacht. Das
ist eine weitere Sauerei. Die Länder drohen mit Bußgeldern; aber im Grunde sind die Bußgelder am Ende viel
zu niedrig in so einer Situation für so ein Unternehmen.
({7})
Weil der Arbeitgeber Post keine spürbaren Folgen für
sein strafbares Handeln fürchten muss, kann sich Produktionschef Brinks hinstellen und im Grunde frech sagen: Auch unsere zweite Sonntagszustellung war ein
großer Erfolg. - Na toll, kann ich da nur sagen. Genau an
dieser Stelle kommt mir als Parlamentarierin die Galle
hoch: Das Verbot der Sonntagsarbeit auf Länderebene
durchzusetzen, funktioniert offensichtlich überhaupt
nicht. Der Sonntag muss frei sein, hier und heute.
({8})
Dafür mit klaren Regelungen, konsequenter Umsetzung
und regelmäßiger Überprüfung zu sorgen, das ist eine
Aufgabe des Bundes. Genau das haben die Beschäftigten
verdient.
Was bedeutet es für die Zukunft, wenn Arbeitgeber
glauben, dass Tarifverhandlungen ihnen das Recht geben, Gesetze zu brechen? Was ist, wenn Arbeitgeber
dann merken, dass solch ein Verhalten keine unmittelbaren juristischen oder politischen Folgen hat? Wenn es
sein muss, rede ich noch zehnmal hier im Bundestag
über diese Situation, und zwar immer dann, wenn es notwendig ist.
({9})
Das Tarifeinheitsgesetz konnten Sie hier vor sechs
Wochen gar nicht schnell genug durchwinken. Durch
dieses Gesetz sollten vermeintlich ausufernde Tarifverhandlungen wieder in geordnete Bahnen gelenkt werden.
Aber Pustekuchen! Das Gegenteil ist der Fall: Es waren
nicht die Streikenden bei der Bahn, die die Tarifautonomie geschwächt haben, sondern es sind Arbeitgeber wie
die Post, die systematisch dafür sorgen, dass Tarifverträge angegriffen, geschwächt und unterlaufen werden.
({10})
Mir läuft die Zeit davon.
Die ist schon davongelaufen.
Die Bundesregierung hat die Einschränkung des
Streikrechts sehr schnell auf den Weg gebracht. Dafür
Sorge zu tragen, dass Streiks garantiert sind, hat sie bis
heute nicht zustande gebracht. Auch ich fordere Frau
Nahles auf: Machen Sie den Mund auf. Sagen Sie, was
Sie von dieser Geschichte halten. Denn es ist nicht in
Ordnung, sich als Arbeitsministerin an dieser Stelle vornehm zurückzuhalten und als jemand, dem das Unternehmen im Grunde gehört, nicht zu sagen, dass man
diese Politik nicht in Ordnung findet.
Ich wünsche den Kolleginnen und Kollegen, die im
Streik sind, die unsere Diskussion hier möglicherweise
verfolgen, ansonsten viel Erfolg in ihrem Kampf.
({0})
Ich hoffe, dass sie an dieser Stelle ein gutes Ergebnis erzielen.
Vielen Dank an Sie alle, dass Sie mir zugehört haben.
({1})
Vielen Dank. - Nächster Redner ist der Kollege Klaus
Barthel, SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das ist
sehr wohl ein politisches Thema. Kollege Weiler, seien
Sie mir nicht böse: Sie haben unfreiwillig den Unterschied zwischen einer Einheitsgewerkschaft und einer
anderen Gewerkschaft klargemacht. In der Tat ist es so:
Bei der Post streiken momentan über 30 000 Kolleginnen und Kollegen und bald noch ein paar Tausend mehr,
damit 6 000 Personen nicht aus einem Tarifvertrag ausgegrenzt werden und den damit verbundenen Schutz
nicht verlieren.
({0})
Bei anderen Gewerkschaften wie bei der Gewerkschaft
der Lokführer geht es explizit darum: Wir wollen etwas
haben, und alle anderen dürfen es nicht haben. - Das ist
der Unterschied zwischen einer Einheitsgewerkschaft
und diesem Streik und dem, was wir an anderer Stelle
diskutiert haben.
({1})
Die Führung dieses Unternehmens, von dem wir
heute reden, verstößt gegen zentrale Ziele unseres Koalitionsvertrags; auch deswegen ist es ein Thema für uns
hier. Im Koalitionsvertrag steht nämlich: gute Arbeit für
alle, faire Bezahlung, starke Sozialpartnerschaft, allgemeinverbindliche Tarifverträge, Tarifeinheit und Mitbestimmung. Liebe Kolleginnen und Kollegen aus der Koalition, daran sollten wir uns selber halten, auch in dieser
Auseinandersetzung.
Gegen diese Ziele verstößt der Vorstand dieses Unternehmens fundamental und auf perfide Weise.
({2})
Anstatt gleichen Lohn für gleiche Arbeit am gleichen
Ort zu bezahlen, werden in den Sortierzentren - das
muss man sich einmal bildlich vorstellen - entweder dicke Linien gezogen oder sogar Zäune errichtet, um die
einen, die dieselbe Arbeit machen wie die anderen, von
den anderen zu trennen, um dann zu rechtfertigen, dass
die einen mehr Geld kriegen als die anderen. Das ist
doch ein Aberwitz!
({3})
Es geht natürlich auch um die Flucht aus der Mitbestimmung, und es geht um Konfrontation statt um Partnerschaft. Im Arbeitskampf werden nicht nur Werkverträge und die Leiharbeit missbraucht, sondern es wird
sogar gegen unsere Verfassung verstoßen, meiner Meinung nach in zwei Punkten auf jeden Fall, einmal wenn
es um die Einhaltung des Postgeheimnisses geht. Ich
kann mir kaum vorstellen, wie das Postgeheimnis eingehalten werden soll, wenn jede Menge Kräfte von außen
kurzfristig hereingeholt werden und dort nicht nur irgendwelche Unternehmenskataloge sortieren, sondern
den ganzen Postverkehr.
Es wird zum anderen verstoßen gegen das Verbot der
Sonntagsarbeit. Das muss man einmal nachlesen. In unserer Verfassung - Artikel 139 der Weimarer Verfassung,
übernommen durch Grundgesetzartikel 140; Sie alle haben das in Ihren Schubladen; darum brauche ich es nicht
hochzuhalten - heißt es - ich zitiere wörtlich -:
Der Sonntag und die staatlich anerkannten Feiertage bleiben als Tage der Arbeitsruhe und der seelischen Erhebung gesetzlich geschützt.
({4})
So etwas steht auch in vielen Landesverfassungen.
Deswegen ist es gut, dass viele sozialdemokratische
Landesminister und Landesregierungen gegen die Sonntagsarbeit jetzt vorgehen. Ich verstehe nicht, dass das
nicht alle tun; denn weder hat Streikbrecherarbeit am
Sonntag etwas mit seelischer Erhebung zu tun, noch gibt
es irgendein öffentliches Interesse, dass Streikbrecher
am Sonntag arbeiten. Das muss hier zum Thema Politik
ganz klar gesagt werden.
({5})
Ja, es ist richtig: Der Wettbewerb auf dem Brief- und
Postmarkt ist hart und nicht immer fair. Die Erhebungen
der Bundesnetzagentur, die wir immer wieder durchführen lassen, haben deutlich gemacht, dass die Löhne im
Briefsektor außerhalb der Deutschen Post AG noch vor
zwei Jahren weit unter dem Mindestlohn lagen. Neue Erhebungen, jetzt gerade fertiggestellt, zeigen: Bei den
Stichproben, die sowohl bei den Subunternehmen der
Post wie auch bei den Wettbewerbern erhoben worden
sind, haben nur gut die Hälfte der befragten Unternehmen überhaupt geantwortet, obwohl sie gesetzlich dazu
verpflichtet sind.
({6})
Da ist doch die Frage, ob sie nicht etwas zu verbergen
haben. Es ist deutlich geworden, dass noch 2013 bei diesen Subunternehmen die durchschnittlichen Löhne deutlich unter dem Mindestlohn von 8,50 Euro gelegen haben und dass es einen starken Verdacht auf massenhafte
Scheinselbstständigkeit gibt.
Umgekehrt ist aber auch wahr, dass wir mit dem Mindestlohn die Löhne bei den Wettbewerbern erhöht haben
und damit die Schere langsam schließen. Wahr ist weiter,
dass sich die Schere auch dadurch schließt, dass die Gewerkschaften zu neuen Einstiegslöhnen bereit waren. Sie
liegen jetzt nicht mehr bei 17 Euro, mit denen die Post
AG überall winkt - das sind die alten Tarifverträge -,
sondern nur noch bei 14 Euro. Auch dadurch wird die
Schere geschlossen.
Wahr ist ferner, dass die Koalition jetzt darangehen
wird, den Missbrauch von Leiharbeit und Werkverträgen
zu bekämpfen.
({7})
Wahr ist auch - da sind wir jetzt dran -, dass wir im Vergaberecht soziale Standards einführen wollen, die es
zum Beispiel ermöglichen und, wie wir meinen, sogar
verbindlich vorschreiben,
({8})
dass bei der öffentlichen Vergabe zum Beispiel durch
Landesjustizverwaltungen oder durch Kommunen eben
nicht mehr der billigste Briefdienst zum Zuge kommt,
sondern der, der sich an Tarifverträge hält.
({9})
Auch darauf könnte die Deutsche Post AG setzen,
Herr Kollege Barthel.
- wenn sie mehr Wettbewerb will.
Da wir als Abgeordnete hier öffentlich etwas sagen
können, was Ministerinnen und Minister nicht sagen
können: Wir fordern den Vorstand der Post AG auf, seinen Amoklauf gegen die Beschäftigten und die Gewerkschaft umgehend zu stoppen und dafür zu sorgen, dass
wir uns für dieses bundeseigene Unternehmen nicht
mehr schämen müssen.
({0})
Vielen Dank. - Nächster Redner ist der Kollege
Dieter Janecek, Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Lieber Herr Zech, lieber Herr Weiler, ich bin kein Mitglied von Verdi, aber
trotzdem ist mir als Mitglied des Wirtschaftsausschusses
der Grundsatz „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ nicht
fremd. Ich bin aber sehr befremdet darüber, dass Sie hier
die Legitimität dieser Debatte infrage stellen; denn Fakt
ist: Der Bund ist hier mit 21 Prozent mit im Boot. Wir
haben Verantwortung, Sie haben Verantwortung, also
stellen Sie sich auch dieser Verantwortung!
({0})
Ich lese Ihnen nun etwas von PricewaterhouseCoopers vor. Die stehen uns Grünen ja nicht zwangsläufig nahe. Die haben 2010 etwas aufgeschrieben, was Sie
als wirtschaftsnah Geltende ja sicher auch lesen, nämlich
zur Frage von unternehmerischer Verantwortung, Corporate Responsibility, insbesondere zu sozialen und ökologischen Kriterien. Dort steht:
Aufgabe des Aufsichtsrats ist es, die Führung der
Geschäfte durch den Vorstand zu überwachen. …
Sobald ein CR-Thema wesentlich für das Unternehmen ist, gehört es zur originären Aufgabe des Aufsichtsrats, sich damit zu beschäftigen …
({1})
Das war rein aus wirtschaftspolitischer Sicht argumentiert. Die Deutsche Post hat eine Entsprechungserklärung zum Corporate-Governancekodex abgegeben.
Auch dort steht, dass Vorstand und Aufsichtsrat zum
Wohle des Unternehmens eng zusammenarbeiten. Genau
das erwarten wir heute durch diese Debatte, dass zum
Wohle des Unternehmens, zum Wohle der Beschäftigten
eng zusammengearbeitet wird. Also geben Sie uns bitte
auch Auskunft dazu und tun Sie nicht so, als wäre das
eine Debatte, die wir hier nicht führen dürfen.
({2})
Was ist nun der Sachstand? Warum sind wir heute
hier? Weil der Vorwurf im Raum steht - da danke ich
den Linken und auch Beate Müller-Gemmeke für die unermüdliche Aufklärungsarbeit der letzten Monate -, dass
die Post AG mit unlauteren Praktiken arbeitet. Das ist
doch kein Vorwurf, den wir einfach ignorieren können.
Deswegen ist es völlig richtig - und von mir aus gerne in
einem halben Jahr, in einem Jahr und in eineinhalb Jahren wieder, wenn das nicht eingestellt wird -, dass wir
heute darüber reden.
Wir, zum Beispiel meine Kollegin, haben immer wieder Nachfragen an das BMF, an Staatssekretär Kampeter
gestellt. Die Antworten sind, ehrlich gesagt, eine Frechheit, weil es keine Antworten auf die Fragen nach seiner
Rolle, nach der Rolle des BMF im Aufsichtsrat sind.
({3})
Und die ist vorhanden. Von daher können Sie nicht einfach sagen: Wir haben dazu keine Auskunft zu geben. Sie haben sie gegenüber dem Parlament zu geben. Welches parlamentarische Verständnis haben Sie denn?
({4})
Es gibt aber noch einen weiteren Aspekt, mit dem wir
uns beschäftigen müssen. Natürlich ist die Deutsche Post
AG in einem internationalen Konkurrenzkampf und im
internationalen Wandel. Sie in der SPD und auch Ministerin Nahles reden ja vom Grünbuch 4.0 bei der digitalen
Arbeit. Also: Wie wollen wir im Zeitalter der Digitalisierung Arbeit gestalten? Und das erste Signal, das wir jetzt
von der Deutschen Post AG mitbekommen, ist, dass
Löhne unter Druck geraten, dass entsprechende Standards unter Druck geraten. Es ist nicht die Vorstellung,
die wir von der digitalen Arbeit der Zukunft haben, dass
sie eine Arbeit der Entrechtung wird.
({5})
Was wir also brauchen, sind aktive Aufsichtsräte, ein
aktives Beteiligungsmanagement bei den Bundesbeteiligungen. Deswegen bitte ich Sie: Gestalten Sie, und hören Sie auf mit dem kläglichen „Uns sind doch die
Hände gebunden“. Wir wollen erst einmal Informationen
über Ihren Anteil in der Bundesregierung: Was haben
Sie getan? Was ist Ihre Haltung im Aufsichtsrat gewesen, auch in der Frage der künftigen Strukturierung der
49 Ausgründungen? Diesbezüglich haben wir doch einen Informationsanspruch. Bitte nehmen Sie das wahr.
Nehmen Sie Ihre Position insgesamt wahr. Tragen Sie
dafür Verantwortung, und sichern Sie bitte zukunftsfähige Arbeitsplätze mit guten Standards und nicht das Gegenteil.
Vielen Dank.
({6})
Vielen Dank. - Für die CDU/CSU-Fraktion hat jetzt
Antje Lezius das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Liebe Kollegen! Der aktuelle Streik bei der
Post fügt sich nahtlos ein in zahlreiche Arbeitsniederlegungen der letzten Zeit: der Lokführer, der Piloten und
der Erzieher. Ich glaube, den Bürgern reicht es mittlerweile.
({0})
Aus diesem Grunde ist es wichtig, dass wir über das
Spannungsverhältnis zwischen Streikrecht und Daseinsvorsorge reden. Ich bin den Linken deswegen dankbar,
dass wir diesen Punkt auf der Tagesordnung haben.
({1})
Ohne Frage, das Streikrecht ist ein wichtiges Mittel
zur Durchsetzung von Arbeitnehmerinteressen. Allerdings nutzt sich dieses Mittel sehr schnell ab, weil seine
Wirkung im Wesentlichen auf der Außenwahrnehmung
beruht.
({2})
Streikende sind zur Durchsetzung ihrer Interessen auch
darauf angewiesen, dass die übrige Bevölkerung Verständnis für ihre Position hat und diesen Streik als legitim empfindet. Dies ist aber nicht mehr der Fall, wenn
dieses letzte Mittel in der tarifpolitischen Auseinandersetzung zu oft oder unverhältnismäßig angewendet wird.
({3})
Wenn Verdi hier einen unbefristeten Streik ankündigt,
dann sollten wir hinterfragen, ob hier eine Gewerkschaft
nicht womöglich im eigenen Interesse handelt und nicht
im Interesse der Arbeitnehmer, die sie zu vertreten hat.
({4})
Dieser Streik wird auf dem Rücken von Millionen Menschen ausgetragen, die auf die Dienstleistungen der Post
wie auch die der Lokführer oder der Erzieher angewiesen sind.
({5})
Hunderttausende Arbeitnehmer konnten ihre Kinder
nicht mehr zur Kita bringen, ebenso konnten Hunderttausende wegen des Lokführerstreiks ihre Familien nicht
sehen oder versäumten wichtige Geschäftstermine.
({6})
Ich finde es problematisch, wenn Einkommen nicht
mehr erwirtschaftet werden können und Existenzen in
Gefahr sind, weil manche Dienstleistungen nicht mehr
erbracht werden.
({7})
Diejenigen, die zum Streik aufrufen, müssen sich fragen lassen:
({8})
Ist der Streik wirklich das letzte Mittel der Wahl? Hätte
nicht noch mehr verhandelt werden können? Denn es
kostet viel, viel Geld. Streiks bedeuten immer auch einen
immensen wirtschaftlichen Schaden. Und der wirkt sich
im Endeffekt natürlich auch wieder auf die Beschäftigten aus.
({9})
Nehmen wir zum Beispiel den Hamburger Hafen. Sie
haben gesehen, wie der Hamburger Hafen durch den
nicht mehr erfolgten Containertransport während des
Lokführerstreiks regelrecht lahmgelegt war.
({10})
Und somit kommen wir direkt zur Deutschen Post.
Die Deutsche Post hatte in diesem Sinne angeboten, den
Beschäftigten in der Paketzustellung zwar weniger Entgelt zu zahlen - übrigens nach dem von Verdi verhandelten Logistiktarifvertrag -, sie dafür aber aus den befristeten Beschäftigungsverhältnissen in unbefristete zu
überführen.
({11})
Dieses Mehr an Sicherheit für die Beschäftigten ist zu
begrüßen. Ich hätte nicht gedacht, dass sich die Linke
einmal gegen unbefristete Arbeitsverhältnisse wendet,
meine sehr geehrten Damen und Herren.
({12})
Unternehmen sind einerseits in der Fürsorgepflicht für
ihre Arbeitnehmer, aber andererseits müssen sie im Hinblick auf die Konkurrenz am Markt auch dafür sorgen,
dass sie wettbewerbsfähig bleiben. Hierzu sind selbstverständlich auch Umstrukturierungen nötig. Das sind
unternehmensinterne Entscheidungen im Rahmen unserer Wirtschaftsordnung, bei denen sich der Staat nicht
einmischen darf. Wir von der Unionsfraktion sind dagegen der Meinung, dass sichere Arbeitsplätze den Menschen helfen, ihren Lebensunterhalt zu verdienen, und
dass dies auf jeden Fall besser ist als betriebsbedingte
Kündigungen.
Sprechen wir zum Schluss doch einmal über die Arbeitsverhältnisse der Zukunft. Wie sehen diese aus? Was
können wir tun, um geeignete Rahmenbedingungen für
gute Arbeit zu schaffen? In Zukunft werden sich die Arbeitsverhältnisse grundlegend wandeln - das belegen die
Fakten -, und zwar aus technischen, demografischen und
gesellschaftlichen Gründen.
({13})
Arbeit wird sich zukünftig auch stärker an diese Gegebenheiten und an die geänderten Bedürfnisse der Menschen anpassen müssen. So muss beispielsweise Teilzeitarbeit kein Indiz für prekäre Beschäftigung sein. Sie
kann eine Möglichkeit sein, eine individuelle Work-LifeBalance herzustellen.
Die Zukunft der Arbeit ist etwas, das die Tarifpartner
originär betrifft. Sie sollten sie aktiv gestalten. Bei den
Gewerkschaften vermisse ich diesen in die Zukunft gerichteten Gestaltungswillen. Stattdessen verkämpft sich
Verdi gerade in Gefechten von vorgestern, um die eigene
Existenz zu rechtfertigen.
Ich wünsche mir, dass die Gewerkschaften den Strukturwandel in der Arbeitswelt begreifen und den Menschen hier Hilfestellung geben; denn damit würden sie
ihre Bedeutung für die Zukunft unterstreichen, anstatt
sie infrage zu stellen.
Danke schön.
({14})
Vielen Dank. - Nächster Redner ist Markus Paschke,
SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich
möchte eines vorwegschicken, damit hier gar kein falscher Eindruck aufkommt: Mit den Sozialdemokraten
wird das Streikrecht nicht angefasst.
({0})
Für diejenigen, die nicht so viel Erfahrung damit haben: Ein Streik richtet sich nicht nach außen - es geht
nicht um die Außenwirkung -, sondern nach innen; denn
nur, wenn er sich nach innen richtet, kann man in dem
Unternehmen oder in der Branche etwas verändern.
({1})
Ich kann ganz deutlich sagen: Die SPD-Fraktion und
ich unterstützen den Arbeitskampf der streikenden Männer und Frauen bei der Deutschen Post AG.
({2})
Tarifflucht geht gar nicht, und nichts anderes tut die Post
in dieser Frage. Mit der Auslagerung von Tausenden Arbeitsplätzen unterläuft sie einen gültigen Tarifvertrag.
Sie versucht, tarifliche Vereinbarungen und die Mitbestimmung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu
umgehen, und sie tut das mit zunehmend fragwürdigen
Methoden. Statt sich mit Verdi an einen Tisch zu setzen
und vernünftig zu verhandeln, beweist die Deutsche Post
Kreativität nur beim Einsatz von Streikbrechern.
({3})
Den Hinweis auf noch schlechtere Arbeitsbedingungen bei Mitbewerbern finde ich, gelinde gesagt, zynisch.
({4})
Lohndumping und Scheinselbstständigkeit sollten wir
gemeinsam bekämpfen und nicht als Argument für die
Absenkung von Standards nutzen.
({5})
Es geht hier um den Wert der Arbeit. Gute Arbeit
braucht auch gute Löhne. Die befristet bei der Post beschäftigten Zustellerinnen und Zusteller werden vor die
Wahl gestellt: entweder weniger Geld oder Arbeitsamt.
Das ist die klassische Wahl zwischen Pest und Cholera.
Apropos Arbeitsamt: Die Agenturen für Arbeit dürfen
bei Streiks nur sehr eingeschränkt vermitteln.
({6})
Die Arbeitnehmer müssen in den Vermittlungsangeboten
darauf hingewiesen werden, dass der Betrieb bestreikt
wird - das nur für diejenigen, die dies nicht wissen -,
und können die Annahme der Arbeit verweigern.
({7})
Trotzdem - das ärgert mich - finden sich auf der Seite
der BA Dutzende Angebote von Leiharbeitsfirmen für
Postzusteller ohne solche Hinweise.
({8})
In diesem Zusammenhang kann ich nur sagen: Es wird
Zeit, dass wir das, was wir im Koalitionsvertrag vereinbart haben, nämlich das Verbot, Leiharbeiter für Streikbrecherarbeiten einzusetzen, jetzt zügig umsetzen.
({9})
Die Agenturen, auf deren Seiten diese Stellenangebote
zu finden sind, fordere ich auf, sie aus dem Netz zu nehmen und die Neutralität zu wahren.
({10})
Mit der Ausgründung von 49 Zustellgesellschaften
versucht die Post ganz klar, den gültigen Tarifvertrag zu
umgehen und gleiche Arbeit ungleich zu bezahlen. Sie
versucht, eine Zweiklassengesellschaft einzurichten.
Dass die betroffenen Beschäftigten dagegen protestieren
und streiken, kann ich gut verstehen. Mehr noch: Ich unterstütze und ermutige sie ausdrücklich,
({11})
und ich wünsche den Streikenden viel Kraft für ihren
Kampf um gute Arbeit.
({12})
Ich finde, es wird Zeit, ernsthaft eine Lösung zu suchen, statt die Mitarbeiter am Sonntag arbeiten zu lassen.
Damit wurde eine rote Linie überschritten. Ich sage dem
Vorstand der Deutschen Post ganz klar: So etwas geht
gar nicht.
({13})
Die zuständigen Länder haben sich da klar positioniert.
„NRW hält Sonntags-Zustellung für illegal“, „Berliner
Senat droht Post mit Zwangsgeld“, „Niedersachsen verbietet Sonntagszustellung“ - so titelten verschiedene
Zeitungen, und ich sage: Das ist richtig so.
({14})
Der Streik der Postangestellten ist rechtmäßig, und
rechtmäßiger Streik darf nicht durch rechtswidrige Maßnahmen unterlaufen werden.
({15})
Das hat auch ein Unternehmen wie die Deutsche Post zu
begreifen.
Die Deutsche Post ist nicht nur ein Dienstleister unter
vielen, sondern sie steht in der Tradition eines Unternehmens der öffentlichen Daseinsvorsorge mit jahrzehntelanger, vor allem bewährter Mitbestimmungskultur. Das
hat sie bisher von anderen Unternehmen unterschieden,
und das sollte sie auch zukünftig von anderen Unternehmen unterscheiden.
Vorstand und Aufsichtsrat haben nicht nur die Interessen der Aktionäre zu vertreten, sondern auch die der Arbeitnehmer und der gesamten Gesellschaft; denn EigenMarkus Paschke
tum verpflichtet. Das ist ein wesentlicher Artikel unseres
Grundgesetzes.
({16})
Keiner von uns will, dass sich eine Bundesregierung
in einen Arbeitskampf einmischt. Aber ich erwarte, dass
die Vertreter des Bundes im Aufsichtsrat im Sinne unseres Grundgesetzes agieren.
Vielen Dank.
({17})
Vielen Dank. - Als Nächster hat jetzt Dr. André
Berghegger das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Die Diskussion über den Poststreik, das spüren wir gerade, ist
sehr emotional. Die Diskussion über Streiks in unserem
Land wird fortgesetzt. In den letzten Wochen und Monaten waren verschiedene Bereiche betroffen, einige wurden eben angesprochen. Das Unverständnis in der Bevölkerung wächst,
({0})
aber dafür gibt es ganz unterschiedliche Argumente.
Die Arbeitnehmerseite argumentiert, dass es fraglich
ist, ob die getroffenen Maßnahmen angesichts des Konzernergebnisses der Deutschen Post rechtmäßig und zulässig sind. Es gibt aber auch die Seite der Kunden, die
immer wieder anführen - die Probleme wurden vorhin
schon geschildert -, dass Postsendungen nicht rechtzeitig ankommen, dass Fristen ablaufen etc.
Ich bin sehr gegen pauschale Vorverurteilung oder gegen pauschale Vorwürfe. Ich würde sagen, ein differenzierter Blick auf die Situation lohnt sich immer. Welche
Rolle spielt eigentlich der Bund in dieser Situation? Ich
würde sagen, es gibt verschiedene Dimensionen dieses
Themas. Einige Aspekte möchte ich an dieser Stelle anreißen.
Die flächendeckende Versorgung mit Dienstleistungen im Postwesen gewährt der Bund durch verschiedene
Gesetze. Der Bund hält an der Post AG - das haben wir
gehört - über die KfW-Bank seit 2013 rund 21 Prozent.
Die Post ist jedoch ein börsennotiertes Unternehmen,
und das wiederum hat zur Folge, dass die Entscheidungen im Rahmen der Gesetze unternehmerisch getroffen
werden.
({1})
In § 76 Absatz 1 des Aktiengesetzes heißt es, dass der
Vorstand die Gesellschaft unter eigener Verantwortung
zu leiten hat. Der Vorstand vertritt nämlich die Post AG
bei den Tarifverhandlungen, und diese werden im Rahmen der Tarifautonomie nach dem Grundgesetz geführt.
Der aktienrechtliche Gleichbehandlungsgrundsatz hat
zur Folge, dass es keine Einflussnahme durch Anteilseigner und keine Sonderrechte zulasten anderer Anteilseigner geben soll; denn bei den Anteilseignern können
verschiedene Interessen vorliegen. Die Bundesregierung hat im Gegenteil sogar die Pflicht zur Neutralität,
auch bei Unternehmen mit Bundesbeteiligung.
Der Aufsichtsrat - auch das haben wir mehrfach gehört - besteht aus 20 Vertretern, 10 von der Arbeitnehmerseite und 10 Anteilseigner, davon 2 vom Bund. Man
hat also keine rechtliche Mehrheit im Aufsichtsrat.
({2})
Deshalb bewerte ich die rechtliche Dimension so, dass
es keine rechtlich zulässige Einflussmöglichkeit, keine
Beeinflussung durch den Bund gibt.
Aber worum geht es inhaltlich? Inhaltlich reden wir
von der zukunftsfähigen Ausrichtung des Post- und Paketbereiches bei stark wachsendem Paketgeschäft, insbesondere im Geschäftskundenbereich. Hier geht es
auch um die langfristige Schaffung und Sicherung von
Arbeitsplätzen in einem starken Wettbewerb in der Branche.
({3})
In den nächsten Jahren sollen bis zu 10 000 neue unbefristete und sozialversicherungspflichtige Stellen im
Paketgeschäft geschaffen werden.
({4})
Jedes Privatunternehmen würde in dieser Gemengelage
versuchen - in Anführungszeichen -, „schlank zu werden“, das heißt, einen Blick auf die Kosten zu werfen.
Deswegen habe ich im Grundsatz Verständnis für einige
Verhaltensweisen der Post. Man muss nämlich auch beachten, dass die Deutsche Post AG in dieser Branche das
einzige Unternehmen ist, das staatlich reguliert ist. Die
Preisgestaltung ist also eingeschränkt. Wettbewerbsfähige Löhne spielen sicherlich eine Rolle. Die Personalkosten bei der Deutschen Post, von der Arbeitnehmerseite bisher unbestritten, liegen im Durchschnitt deutlich
über denen der Wettbewerber.
Aber hier geht es um Ausgliederungen, um Tochterunternehmen, für die andere Tarifverträge gelten.
({5})
Auch diese Tarifverträge wurden mit Verdi ausgehandelt, und auch hier sind die Löhne höher als bei den
Wettbewerbern. Der Durchschnittslohn in den Regionalgesellschaften liegt bei knapp 13 Euro pro Stunde. Deswegen kann bei dieser Konstellation in rechtlicher Hinsicht sicherlich nicht von einer Tarifflucht gesprochen
werden.
({6})
Bestehende Arbeitsverträge bleiben unberührt; insoweit kommt es nicht zu finanziellen Einbußen. Es kommt
in dieser Zeit nicht zu betriebsbedingten Kündigungen.
Arbeitnehmer, deren befristete Arbeitsverträge auslaufen, werden angesprochen, und ihnen wird eine unbefristete Anstellung angeboten.
({7})
6 500 neue Mitarbeiter sind bis jetzt geworben worden. Da es viele Bewerbungen aus dem freien Arbeitsmarkt gibt - ({8})
- Lassen Sie mich doch einmal ausreden.
({9})
- Dann reden Sie nicht dazwischen. - Angesichts dieser
vielen Bewerbungen muss diese Konstruktion also eine
gewisse Attraktivität haben.
({10})
Die Mitbestimmung wird aus meiner Sicht nicht ausgehöhlt; denn rechtlich - ich bin immer nur bei der
rechtlichen Ebene - fällt es in die Organisationshoheit
eines Unternehmens, Tochterfirmen zu gründen. Wenn
diese nicht mitbestimmungspflichtig sind, wie das hier
der Fall ist, dann ist das sehr bedauerlich - das sehe ich
auch so -, aber es ist rechtlich nicht zu beanstanden.
Ich komme immer wieder darauf zurück: Der Bund
hat hier keinen Einfluss. Die Tarifverhandlungen sind
Sache der Sozialpartner. Ich sage es aber ausdrücklich:
Man muss nicht alles, was man tarifvertraglich machen
kann, auch machen. Meine Bitte an alle Beteiligten lautet deshalb, mit den gegenseitigen Vorwürfen aufzuhören, sich an einen Tisch zu setzen und nach einer Lösung
zu suchen, die sowohl für die Arbeitnehmer als auch für
die Unternehmen sinnvoll ist.
({11})
Wir sind als Bund nicht die Arbeitgebervertretung der
Deutschen Post. Wir sind aber genauso wenig die Arbeitnehmervertretung der Deutschen Post.
({12})
Ich hoffe, dass es zeitnah eine gute Lösung gibt.
Vielen Dank fürs freundliche Zuhören.
({13})
Vielen Dank. - Nächster Redner ist der Kollege Axel
Knoerig, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Werte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und
Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das
ist nun schon das dritte Mal, dass die Linke eine Aktuelle Stunde zum Tarifkonflikt bei der Post beantragt.
({0})
Letzte Woche haben Sie eine andere Priorisierung vorgezogen und Ihren Antrag dazu zurückgezogen.
({1})
Auch heute geht es nur um einen Schaufensterantrag,
({2})
der mich an dem politischen Grundwissen der Linken
zweifeln lässt.
({3})
Wir müssen immer wieder fragen, inwiefern der Bund
hier eine tragende Rolle spielt. Ich wiederhole es gerne
und fasse es noch einmal zusammen:
({4})
Erstens. Der Bund ist zwar über die Kreditanstalt für
Wiederaufbau mit 21 Prozent an der Post beteiligt, doch
er hat keinerlei Einfluss auf das Geschäftsgebaren und
die Betriebsorganisation des Unternehmens.
({5})
Zweitens. Dieser Konflikt ist ausschließlich Sache der
Tarifpartner. Tarifpartner sind die Deutsche DHL Group
und die Gewerkschaft Verdi.
({6})
Drittens. In einer sozialen Marktwirtschaft mischen
sich Staat und Politik nicht in Tarifangelegenheiten ein,
und das ist auch gut so.
Auf Ihr Verlangen hin wollen wir das heute trotz alledem tun. Dabei muss man das Thema genau reflektieren:
Die Post hat unter dem Namen DHL Delivery 49 regionale Tochtergesellschaften gegründet. Verdi sieht darin
einen Verstoß gegen den laufenden Beschäftigungspakt,
der jegliche Fremdvergabe, auch konzernintern, ausschließt.
({7})
Verdi hat daraufhin Tarifverhandlungen abgelehnt. Die
Post hat deshalb den Tarifvertrag des Arbeitgeberverbandes SPEDLOG für die Tochterfirmen übernommen.
Die Gewerkschaft wertet dies als Flucht aus dem Haustarifvertrag und ist daher nach gescheiterten Verhandlungen in den unbefristeten Streik getreten.
({8})
Fremdvergabe und Tarifflucht - das sind also die
Streitpunkte in diesem Konflikt. Dabei sind folgende
Fakten zu berücksichtigen:
Erstens. Die Paketbranche ist hart umkämpft und zugleich streng reguliert durch die Bundesnetzagentur. Dadurch besteht nur geringer Spielraum in der Preisgestaltung. Da die Post die höchsten Paketpreise hat, muss sie
ihre Personalkosten senken, um gegen die billigere Konkurrenz bestehen zu können.
({9})
Zweitens. Traditionell werden bei der Post die höchsten Löhne gezahlt. Im Durchschnitt sind es 17,72 Euro
pro Stunde.
({10})
Bei Hermes, GLS und DPD gilt hingegen nur der Mindestlohn.
Drittens. Die Mitbewerber - auch das ist entscheidend
- erledigen die gesamte Paketzustellung über Fremdvergabe, während die Deutsche Post 95 Prozent ihres Paketgeschäfts selbst verwirklicht.
Viertens. Im Vergleich zur Konkurrenz ist die Post
auch der attraktivere Arbeitgeber, weil sie unbefristete
Arbeitsverträge statt Zeitverträge anbietet.
Genauso ist aber auch die Post gefordert, ihre Mitarbeiter am guten Geschäft der letzten Jahre, vor allem bedingt durch den Internetboom, teilhaben zu lassen.
Schließlich wurde im Bereich „Post - eCommerce - Parcel“ eine überdurchschnittliche Rendite von 8,3 Prozent
erzielt. Von daher kann es nicht sein, dass die DHL-Beschäftigten je nach Region jährliche Verluste von 2 000
bis 5 700 Euro hinnehmen müssen.
({11})
Meine Botschaft an die Deutsche Post lautet deshalb:
Wer Marktanteile und Gewinne erhöht, muss auch die
Mitarbeiter fair entlohnen und darf keine Zweiklassenbelegschaft schaffen.
({12})
Meine Botschaft an Verdi lautet: Wer erst eine
36-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich fordert
und dann wieder zu 38,5 Stunden zurückkehrt, verschenkt mit überzogenen Forderungen gute Argumente.
Noch etwas wird in diesem Konflikt deutlich: Tarifverhandlungen mit ehemaligen Staatsbetrieben wie Post,
Bahn und Lufthansa sind immer mehr durch härtere
Fronten geprägt. In diesem Fall sind bereits sechs Verhandlungsrunden gescheitert. Die langen Auseinandersetzungen schaden nicht nur den betroffenen Branchen,
sondern unserer gesamten Wirtschaft. In meinem Wahlkreis haben mittelständische Unternehmen seit Wochen
keine Post mehr erhalten.
({13})
Am Freitag werden nun endlich die Gespräche wieder
aufgenommen. Das ist sehr gut. Dafür gilt einmal mehr
der altbewährte Ratschlag von Ludwig Erhard: Haltet
Maß!
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({14})
Vielen Dank. - Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir
sind damit nicht nur am Schluss der Aktuellen Stunde
angekommen, sondern auch am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Donnerstag, den 2. Juli 2015,
9 Uhr, ein. Ich wünsche Ihnen allen noch einen schönen
Abend.
Die Sitzung ist geschlossen.