Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
begrüße Sie alle herzlich zu unserer Plenarsitzung.
Ich darf Sie auf einige Vereinbarungen zur Erweiterung bzw. Umstellung unserer Tagesordnung aufmerksam machen. Sie finden die Erweiterungsvorschläge in
der Zusatzpunkteliste:
ZP 1 Beratung des Antrags der Abgeordneten Harald
Petzold ({0}), Sigrid Hupach, Jan Korte,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Ehe für gleichgeschlechtliche Paare - Der
Entschließung des Bundesrates folgen
Drucksache 18/5205
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz ({1})
Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
ZP 2 Weitere Überweisung im vereinfachten Verfahren
({2})
Beratung des Antrags der Abgeordneten Tom
Koenigs, Claudia Roth ({3}), Uwe
Kekeritz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Menschenrechte in der neuen Nachhaltigkeits- und Entwicklungsagenda der Vereinten Nationen stärken
Drucksache 18/5208
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({4})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
ZP 3 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:
Äußerungen der EU-Kommission über die
Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens zur Pkw-Maut
ZP 4 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion
DIE LINKE:
Rolle des Bundes beim Tarifkonflikt bei der
Deutschen Post AG
Dabei soll von der Frist für den Beginn der Beratungen, soweit erforderlich, abgewichen werden.
Die Tagesordnungspunkte 6 b - hier geht es um die
Beschlussfassung über zwei Anträge zur Entlastung
bzw. Stärkung von Alleinerziehenden -, 22 - hier geht es
um die Änderung des Weingesetzes - und 35 - hier geht
es um die abschließende Beratung des Bürokratieentlastungsgesetzes sowie die Beschlussfassung über den Antrag mit dem Titel „Bürokratie gezielt abbauen statt Stillstand manifestieren“ - sollen abgesetzt werden.
Schließlich mache ich noch auf eine nachträgliche
Ausschussüberweisung im Anhang zur Zusatzpunkteliste aufmerksam:
Der am 21. Mai 2015 ({5}) überwiesene
nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Ausschuss für Wirtschaft und Energie ({6}) zur
Mitberatung überwiesen werden:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Protokollerklärung zum Gesetz zur
Anpassung der Abgabenordnung an den Zollkodex der Union und zur Änderung weiterer
steuerlicher Vorschriften
Drucksache 18/4902
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({7})
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 der GO
Präsident Dr. Norbert Lammert
Ich frage Sie, ob Sie mit diesen Veränderungen bzw.
Vereinbarungen einverstanden sind. - Das ist offensichtlich der Fall. Also können wir so verfahren.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 auf:
Abgabe einer Regierungserklärung durch die
Bundeskanzlerin
zum Europäischen Rat am 25./26. Juni 2015
in Brüssel
Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion
Die Linke vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklärung 96 Minuten vorgesehen. - Auch dazu höre und sehe
ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat
die Bundeskanzlerin, Frau Dr. Merkel.
({8})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Vor anderthalb Wochen haben wir beim G-7-Gipfel in Elmau über die globalen Herausforderungen unserer Zeit beraten. Wir haben wichtige Beschlüsse gefasst: Das gilt für den Klimaschutz.
Das gilt für die Stärkung der weltweiten Gesundheitssysteme, und das gilt für den Kampf gegen Hunger und
Mangelernährung, um nur einige wenige Beispiele zu
nennen.
Jetzt gilt es, an der Umsetzung dieser Beschlüsse weiterzuarbeiten:
({0})
im Kreise der G 7, aber auch im Rahmen der G 20, in
den Vereinten Nationen und in der Europäischen Union;
denn auch in der Europäischen Union stehen wir vor
enormen inneren wie äußeren Herausforderungen, die
alle mehr oder weniger gleichzeitig bewältigt werden
müssen.
Der Europäische Rat wird sich in der kommenden
Woche gleich mit mehreren dieser Herausforderungen
beschäftigen. Da ist zum einen die Migrations- und
Flüchtlingspolitik. Das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen geht davon aus, dass seit Jahresbeginn
mehr als Hunderttausend Menschen den Versuch unternommen haben, über das Mittelmeer nach Europa zu gelangen.
Die Tragödien, die sich dabei immer wieder abspielen, machen uns alle zutiefst betroffen. Deshalb waren
wir uns im April dieses Jahres beim Sondertreffen der
Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union einig, dass alles, aber auch wirklich alles getan werden
muss, um Menschenleben zu retten. Dazu haben wir uns
auf eine umfassende Gesamtstrategie verständigt, die an
vielen Stellen gleichzeitig ansetzt.
Die mit Abstand dringlichste Aufgabe ist die Verbesserung der Seenotrettung.
({1})
Die finanziellen Mittel für die von Frontex geführten
Mittelmeeroperationen Triton und Poseidon haben wir
verdreifacht. Frontex hat Ende Mai beschlossen, auch
das Einsatzgebiet von Triton zu erweitern. Wir haben
sehr kurzfristig zusätzliche Einsatzkräfte zur Verfügung
gestellt, um schneller mit Hilfe vor Ort zu sein. Auch
Deutschland hat hierzu einen wichtigen Beitrag geleistet. Mein ausdrücklicher Dank gilt den Besatzungen der
beiden deutschen Marineschiffe, die in wenigen Wochen
fast 4 000 Menschen aus akuter Seenot retten konnten.
({2})
Doch die gesamteuropäische Verantwortung endet
nicht bei der Seenotrettung. Auch bei der Aufnahme von
Flüchtlingen sollte Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten eine Selbstverständlichkeit sein. Es kann nicht
sein, dass drei Viertel aller Asylbewerber von nur fünf
Mitgliedstaaten der Europäischen Union aufgenommen
werden.
({3})
Alle Mitgliedstaaten stehen in der Verantwortung, sich
in angemessenem Umfang an der Aufnahme von Flüchtlingen zu beteiligen.
Solidarität und Verantwortung müssen Hand in Hand
gehen. Die Europäische Kommission hat hierzu Vorschläge vorgelegt. Wie die Beratungen der Innenminister
in dieser Woche gezeigt haben, wird es noch vertiefter
Diskussionen bedürfen, um im Kreis der Mitgliedstaaten
hierzu eine Einigung zu erzielen.
Deutschland ist weiterhin bereit, seinen Beitrag zu
leisten. Aber wir machen auch unmissverständlich klar,
dass alle Mitgliedstaaten das gemeinsame europäische
Asylsystem gleichwertig umsetzen und anwenden müssen. Wir brauchen gleichwertige EU-weite Standards bei
der Aufnahme und bei den Asylverfahren.
Gleichzeitig werden wir weiter daran arbeiten, effektiver gegen Schlepperbanden vorzugehen. Auch hierzu
haben wir im April Beschlüsse gefasst, die jetzt im Einklang mit dem Völkerrecht umgesetzt werden müssen.
Darüber hinaus müssen wir weiter die Ursachen von
Flucht und Vertreibung bekämpfen, auch wenn dies, wie
wir alle wissen, einen sehr langen Atem erfordert. Die
Bundesregierung wird in den nächsten Jahren 8,3 Milliarden Euro mehr für Entwicklungshilfe ausgeben. Das
ist ein Beitrag genau zur Bekämpfung von Fluchtursachen. Aber das reicht natürlich nicht aus. Die Zusammenarbeit mit den Herkunfts- und Transitstaaten ist entscheidend. Es geht darum, die dortigen Lebensumstände
zu verbessern. Aber es geht auch darum, die RückfühBundeskanzlerin Dr. Angela Merkel
rung von Migranten ohne Bleiberecht zu beschleunigen
und so die Anreize für irreguläre Migration zu reduzieren.
({4})
Wir wollen im Herbst unsere afrikanischen Partner
nach Malta zu einem Gipfeltreffen mit den Staats- und
Regierungschefs der Europäischen Union einladen, um
über gemeinsame Ansätze zu beraten. Mitverantwortlich
für Flucht und Vertreibung, Schleuserkriminalität und
Menschenhandel ist die instabile Lage in Libyen und
vielen anderen Herkunfts- und Transitstaaten. Sie wird
darüber hinaus von Terrorgruppen für ihre verbrecherischen Zwecke ausgenutzt. Der Terrorismus ist eine Geißel für die Millionen Menschen, die in den Konfliktgebieten Syrien und Irak leben, und er bedroht auch uns in
Europa. Die abscheulichen Anschläge von Paris und Kopenhagen haben uns das Anfang des Jahres einmal mehr
schrecklich vor Augen geführt.
Hinzu kommt, dass sich viele junge Europäer aufseiten terroristischer Gruppierungen an den Konflikten in
Syrien und Irak beteiligen. Sie tragen damit aktiv zur
Destabilisierung der Region bei, und sie bedrohen im
Falle ihrer Rückkehr unsere eigene innere Sicherheit.
Wir werden uns deshalb in der kommenden Woche im
Europäischen Rat mit der Umsetzung der Beschlüsse befassen, die wir im Februar als Reaktion auf die Anschläge in Paris getroffen haben. Dazu gehören der konkrete Schutz der Bürgerinnen und Bürger, Maßnahmen
gegen Radikalisierung und die Zusammenarbeit mit unseren internationalen Partnern. Wir müssen sicherstellen,
dass die innere und die äußere Dimension der europäischen Sicherheitspolitik sinnvoll ineinandergreifen. Deshalb wollen wir beim Europäischen Rat nicht nur eine
neue Strategie zur inneren Sicherheit beschließen. Wir
werden auch eine Bestandsaufnahme der Gemeinsamen
Sicherheits- und Verteidigungspolitik vornehmen. Sie
steht ausdrücklich nicht in Konkurrenz, sondern in bewusster und klarer Ergänzung zur NATO. Das zeigen
nicht zuletzt die mehr als 30 Einsätze, mit denen die Europäische Union seit 2003 erfolgreich zur Wahrung von
Sicherheit, Frieden und Stabilität beigetragen hat.
Gleichzeitig hat sich aber in dieser Zeit das sicherheitspolitische Umfeld, in dem wir uns als Europäische
Union bewegen, stark verändert. Unverändert große
Sorge bereitet uns die Lage in der Ukraine. Ebenso unverändert bin ich zutiefst davon überzeugt, dass dieser
Konflikt nur politisch gelöst werden kann. Das Minsker
Maßnahmenpaket setzt hierfür klare Wegmarken.
({5})
Beim Europäischen Rat im März haben wir vereinbart,
die Sanktionen gegen Russland zu verlängern und eng
mit der Umsetzung des Minsker Pakets zu verknüpfen.
Russland muss zeigen, dass es den darin enthaltenen
Verpflichtungen nachkommt.
Neben der Lage in der Ukraine zeigen uns aber auch
die Entwicklungen in Nordafrika sowie im Nahen und
Mittleren Osten, dass die außen- und sicherheitspolitischen Krisen näher an unsere, an die europäischen Grenzen heranrücken. Deshalb werden wir uns beim Europäischen Rat auch damit befassen, wie wir die Europäische
Sicherheitsstrategie, die seit 2003 die Grundlage für das
Außenhandeln der Europäischen Union bildet, an die
veränderten Gegebenheiten anpassen können.
Neben den vielen außen- und sicherheitspolitischen
Krisen hat Europa erhebliche innere Herausforderungen
zu bewältigen. So ist offensichtlich, dass in einer Währungsunion die Koordinierung der von den Mitgliedstaaten betriebenen Wirtschaftspolitik eine zentrale Rolle
spielt. Im Kern geht es darum, die besondere Konstruktion der Euro-Zone dauerhaft zum Erfolg zu führen: auf
der einen Seite eine gemeinsame Geldpolitik, aber auf
der anderen Seite Mitgliedstaaten, die für ihre Wirtschaftspolitik weitgehend selbst verantwortlich sind. Der
Europäische Rat hat daher im Dezember des letzten Jahres die Präsidenten der Europäischen Kommission, des
Euro-Gipfels, der Euro-Gruppe und der Europäischen
Zentralbank beauftragt, dem Europäischen Rat im Juni
über die Bedeutung der wirtschaftspolitischen Koordinierung für das reibungslose Funktionieren der Wirtschafts- und Währungsunion zu berichten.
Deutschland und Frankreich werden beim Europäischen Rat gemeinsam dafür werben, sich bei der Fortentwicklung der Wirtschafts- und Währungsunion zunächst
auf Maßnahmen zu konzentrieren, die im Rahmen der
bestehenden Verträge umgesetzt werden können. Dazu
gehört insbesondere eine weitere Stärkung der bereits
stattfindenden wirtschaftspolitischen Koordinierung im
Rahmen des Europäischen Semesters. Das ist ein erster
Schritt in die Richtung, dass die länderspezifischen
Empfehlungen in diesem Jahr konkreter formuliert sind
als in den Vorjahren. Ich finde es sehr gut, dass die Kommission das so gemacht hat. Weitere Schritte können und
müssen jedoch folgen. Davon sind Deutschland und
Frankreich überzeugt.
Wir wollen, dass sich die wirtschaftspolitische Koordinierung auf diejenigen Politikbereiche konzentriert,
die für das Funktionieren der Wirtschafts- und Währungsunion entscheidend sind. Wir wollen einen qualitativ neuen Prozess zwischen der europäischen Ebene und
den einzelnen Mitgliedstaaten, einen Prozess, der zu
konkreten und im jeweiligen Mitgliedstaat zu demokratisch legitimierten Umsetzungsmaßnahmen führt. Das
übergreifende gemeinsame Ziel von Deutschland und
Frankreich ist, Wettbewerbsfähigkeit, Wachstum und
Beschäftigung zum Wohle der Menschen in Europa
möglichst schnell weiter zur stärken.
({6})
Dazu müssen zum einen die Strukturreformen in den
Mitgliedstaaten fortgesetzt werden. Zum anderen müssen gleichzeitig nationale Anstrengungen bestmöglich
durch europäische Anstrengungen begleitet und unterstützt werden.
Ein Beispiel dafür ist die Digitale Agenda. Gerade für
Deutschland als Industrienation bietet die Digitalisierung enorme Chancen. Sie stellt uns aber auch vor zahlreiche Herausforderungen, die wir europäisch deutlich
besser lösen können als alleine. Dazu gehören der Netzausbau, die Netzneutralität, der Schutz des geistigen Eigentums und nicht zuletzt der Datenschutz. Ich begrüße
sehr, dass sich die Innenminister in dieser Woche auf
eine Datenschutz-Grundverordnung geeinigt haben. Damit werden ein europaweit hohes Schutzniveau für die
Bürgerinnen und Bürger und Rechtssicherheit für die
Unternehmen geschaffen. Jetzt wird es darum gehen, die
Verhandlungen mit dem Europäischen Parlament zügig
zum Abschluss zu bringen, damit dieses Ziel auch wirklich erreicht werden kann.
Genau dasselbe gilt auch für das sogenannte EU-Telekommunikationspaket. Auch hier brauchen wir rasche
Fortschritte; denn nur durch die Schaffung eines echten
digitalen Binnenmarkts wird es uns gelingen, auch in
Europa einen Heimatmarkt für starke digitale Player zu
schaffen, die sich mit ihren Innovationen weltweit dann
auch durchsetzen können. Wir müssen also die Vorteile
des europäischen Binnenmarkts auf den digitalen Markt
ausdehnen.
({7})
Ein zweites Vorhaben, von dem wir uns wichtige
wirtschaftliche Impulse versprechen, ist das Transatlantische Freihandelsabkommen zwischen Europa und den
USA. Unser Ziel ist und bleibt es, hierfür bis Ende 2015
den politischen Rahmen festzulegen. Wir haben deshalb
beim G-7-Gipfel mit Präsident Obama vereinbart, die
Arbeit an allen Themen umgehend zu beschleunigen, um
baldmöglichst Einvernehmen über die Grundzüge eines
solchen Abkommens zu erzielen.
Meine Damen und Herren, wann immer wir in der
Europäischen Union über mehr Wettbewerbsfähigkeit
sprechen, ist das Vereinigte Königreich ein natürlicher
Verbündeter. Das ist ein Grund, aber bei weitem nicht
der einzige, weshalb ich mir Großbritannien weiterhin
als aktiven Partner in einer starken Europäischen Union
wünsche.
({8})
Zunächst einmal ist es selbstverständlich die Entscheidung Großbritanniens selbst, sich darüber klar zu
werden, welche Rolle es in Europa spielen will. Damit
umzugehen, ist dann eine Angelegenheit, die alle EUPartner betrifft. Wir werden deshalb beim Europäischen
Rat Präsident Tusk beauftragen, diesen Prozess in die
Hand zu nehmen. Ich erwarte nicht, dass es schon beim
Europäischen Rat in der kommenden Woche eine vertiefte inhaltliche Auseinandersetzung mit konkreten britischen Anliegen geben wird. Ich werde aber dafür werben, dass, wenn der Zeitpunkt für diese vertiefte
Diskussion gekommen sein wird, wir uns ernsthaft und
gewissenhaft mit den Anliegen Großbritanniens auseinandersetzen. Das steht nicht im Widerspruch dazu,
dass dabei Grundprinzipien der europäischen Integration
wie das Prinzip der Freizügigkeit und das Prinzip der
Nichtdiskriminierung nicht zur Disposition stehen.
({9})
Es ist im Übrigen nicht das erste Mal, dass ein Mitgliedstaat Klärungsbedarf bezüglich seiner Rolle in der
Europäischen Union sieht. Ein Blick zurück in die Geschichte der europäischen Integration zeigt, dass es am
Ende noch jedes Mal gelungen ist, gute und einvernehmliche Lösungen zu finden. Das war 1992 für Dänemark
der Fall genauso wie 2008 für Irland. Ich bin zuversichtlich, dass uns das auch dieses Mal gelingen kann.
Nicht auf der Tagesordnung des Europäischen Rates,
zu dem ich heute diese Regierungserklärung abgebe,
steht Griechenland. Ich kann und ich will auch den Finanzministern, die heute Abend in der Euro-Gruppe zusammenkommen, nicht vorgreifen. Ich möchte deshalb
nur ein paar grundsätzliche Sätze dazu sagen.
Seit Beginn der europäischen Staatsschuldenkrise
verfolgt Deutschland ein klares Ziel: Europa soll stärker
aus der Krise hervorgehen, als es in sie hineingekommen
ist. Auf diesem Weg sind wir weit vorangekommen. Wie
weit, das lässt sich auch daran ablesen, dass Europa
heute ganz anders mit der gegenwärtigen Lage in Griechenland fertig wird, als das vor fünf Jahren, zu Beginn
unserer Reformmaßnahmen, der Fall gewesen wäre.
({10})
Das wird in diesen Tagen durchaus von vielen anerkannt.
Europa ist also - das ist unstrittig - robuster geworden, und das liegt auch daran, dass wir bei allem, was
wir für die jeweils von der Krise betroffenen Länder getan haben und weiter tun, immer auch das Ganze im
Blick hatten und haben, und das ist die Europäische
Wirtschafts- und Währungsunion. Es geht dabei immer
um zweierlei - beides bedingt einander -: zum einen darum, das zu beachten, was den Euro in den letzten fünf
Jahren stärker und robuster gegen Krisen gemacht hat
- das sind Reformen nach dem Prinzip „Leistung gegen
Gegenleistung, Solidarität gegen Eigenverantwortung“ -,
zum anderen darum, zu beachten, dass der Euro und die
Idee derer, die ihn erfunden haben, immer weit mehr war
als eine Währung.
({11})
Die Entscheidung für eine gemeinsame Währung in
Europa stand und steht symbolisch für die Idee der europäischen Einigung wie keine andere europäische Entscheidung.
({12})
Deshalb war und ist es richtig und unverzichtbar, dass
wir alle Schritte, auch die zur Lage in Griechenland,
stets sehr genau überlegt haben und weiter sehr genau
überlegen. Griechenland ist in den letzten fünf Jahren
ein beispielloses Maß an europäischer Solidarität zuteilgeworden.
({13})
Griechenland ist nicht das einzige Land in der EuroZone, das in den letzten Jahren auf europäische Unterstützung angewiesen war. Dabei galt immer der Grundsatz: Hilfe im Gegenzug für eigene Anstrengungen.
({14})
Anders als in Griechenland haben Irland, Spanien und
Portugal ihre Hilfsprogramme inzwischen erfolgreich
abgeschlossen und stehen wieder auf eigenen Beinen.
({15})
Auch Zypern ist auf einem guten Weg. Diese Länder haben ihre Chance genutzt. Sie haben durch schmerzhafte
Strukturreformen die Grundlage für neues Wachstum,
für neue Wettbewerbsfähigkeit und neue Arbeitsplätze
geschaffen, auch wenn der Weg dahin nicht einfach war
und die Länder auch heute noch mit den Folgen der erforderlichen Anpassungen zu kämpfen haben.
Ich füge hinzu: Auch Griechenland war bereits auf einem guten Weg;
({16})
aber abgeschlossen war dieser Weg noch lange nicht.
Immer wieder jedoch wurden leider einige notwendige
Strukturreformen verschleppt.
({17})
Diese Reformen sind aber nicht nur Voraussetzung dafür, dass das zweite Programm erfolgreich abgeschlossen werden kann, sondern sie sind auch Voraussetzung
dafür, dass die Hilfe zur Selbsthilfe nachhaltige Wirkung
zeigen kann.
({18})
In der Wirtschafts- und Währungsunion gehen Eigenverantwortung und Solidarität Hand in Hand.
({19})
In diesem Geiste haben sich die Finanzminister in der
Euro-Gruppe am 20. Februar 2015 mit der griechischen
Regierung auf eine Grundlage für die weiteren Arbeiten
geeinigt.
({20})
Diese Vereinbarung sollte es der griechischen Regierung
erlauben, im Rahmen des laufenden Programms und auf
der Grundlage der darin enthaltenen Bedingungen ihre
eigenen Schwerpunkte zu setzen.
Die griechische Regierung hat sich in dieser Vereinbarung zu umfassenden Strukturreformen verpflichtet.
Diese müssen jetzt entschlossen angegangen werden.
Die Europäische Kommission, die Europäische Zentralbank und der Internationale Währungsfonds müssen dies
bestätigen. Darüber hinaus bekräftigt die griechische Regierung in der Vereinbarung vom 20. Februar 2015 - ich
zitiere - „ihre eindeutige Zusage, ihre finanziellen Verpflichtungen gegenüber all ihren Gläubigern vollständig
und fristgerecht zu erfüllen“.
({21})
Meine Damen und Herren, es bleibt dabei, die Bemühungen Deutschlands sind darauf gerichtet, dass Griechenland in der Euro-Zone bleibt. Wir wollen, dass die
Menschen in Griechenland wie die Menschen in Irland,
Spanien, Portugal und Zypern die Perspektive auf eine
bessere Zukunft erhalten.
({22})
Ich bin unverändert überzeugt: Wo ein Wille ist, ist
auch ein Weg.
({23})
Wenn die politisch Verantwortlichen in Griechenland
diesen Willen aufbringen, dann ist eine Einigung mit den
drei Institutionen immer noch möglich.
({24})
Sie wäre die notwendige Grundlage für die anschließenden Entscheidungen in der Euro-Gruppe genauso wie
auch hier im Deutschen Bundestag.
Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen,
meine Damen und Herren, wir alle spüren es: Die Europäische Union steht vor einer Vielzahl zum Teil gravierender äußerer und innerer Herausforderungen.
Deutschland wird weiter hart dafür arbeiten, diese Herausforderungen zu meistern, und zwar im europäischen
Geist und in gewohnter enger Zusammenarbeit mit
Frankreich wie mit allen anderen europäischen Partnern.
Herzlichen Dank.
({25})
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält der Kollege Gregor Gysi für die Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Bundeskanzlerin, Sie haben zu Beginn über die Flüchtlinge
gesprochen. Wegen der Begrenztheit meiner Zeit will ich
dazu nur zwei, drei Sätze sagen. Erstens. Ich glaube, in
Anbetracht unserer Geschichte wissen wir alle, dass wir
verpflichtet sind, Flüchtlinge ausschließlich anständig zu
behandeln, in jeder Hinsicht.
({0})
Das Zweite. Was mich freut, ist, dass es aus Solidarität
mit den Flüchtlingen am 20. Juni eine große Demonstration in Berlin geben wird, um zu erreichen, dass wir endlich anders mit ihnen umgehen.
({1})
Ein dritter Hinweis. Wir dürfen nicht nur über Verteilung
und Bedingungen reden; wir müssen endlich auch einmal über die Fluchtursachen und darüber reden, wie man
Kriege, Not, Hunger und Elend auf der Welt beseitigen
kann; das wäre das Entscheidende.
({2})
Lassen Sie mich etwas zur Ukraine-Krise und zu den
Beziehungen der Europäischen Union zu Russland sagen. Minsk II war eine Hoffnung, ist aber akut gefährdet.
Die Kämpfe in der Ostukraine flammen wieder auf.
Aber es ist folgendes Interessante zu beobachten: Die
OSZE-Leute, die dort eingesetzt sind, insbesondere die
Schweizer Botschafterin Heidi Grau, sagen: Beide Seiten suchen eine militärische Lösung. Beide Seiten verletzen das Abkommen Minsk II.
({3})
Einen Augenblick, bitte, Herr Gysi.
Es wäre ganz schön, wenn diejenigen, die jetzt tatsächlich oder vermeintlich Dringenderes vorhaben, das
auch möglichst geräuschlos realisieren würden, sodass
die notwendige Aufmerksamkeit im Plenum erhalten
bleibt.
({0})
- Das steuern wir noch einmal nach; okay.
Bitte.
Sagen Sie im Ernst, Herr Präsident, ich sei bisher
nicht zu verstehen gewesen? Dann muss ich ja alles wiederholen.
({0})
- Nein, nein, ich weiß, Herr Kauder.
Mindestens unsere Protokollführer haben alles mitbekommen. Es bleibt erhalten.
Alles klar. Aber ob das reicht, Herr Präsident?
Noch zu diesem Konflikt. Die OSZE-Beobachter, insbesondere die Schweizer Botschafterin Grau, sagen also:
Beide Seiten verletzen das Abkommen. Beide Seiten
sind schuld. - Und was sagt meine Regierung? Was
sagen Sie, Frau Bundeskanzlerin? Immer nur: Die russische Seite ist schuld. - Ich habe noch nie Kritik an
der ukrainischen Regierung, an dem Präsidenten
Poroschenko gehört, sondern nur an Putin. Diese Einseitigkeit - das will ich ganz klar sagen - können wir uns
nicht leisten.
({0})
- Hören Sie zu! - Es gibt nur Sanktionen gegen Russland. Es gibt nur Einreiseverbote und Vermögenssperren
für Russen, niemals irgendwelche Maßnahmen gegen
die Ukraine.
({1})
Natürlich ärgere ich mich darüber, wenn deutsche Politiker jetzt nicht mehr nach Russland reisen können. Aber
vielleicht sollten wir als Erstes das Einreiseverbot für
den Präsidenten des russischen Parlaments aufheben, gerade für Deutschland.
({2})
Ich sage Ihnen noch etwas: Wenn Sie vermitteln wollen, Frau Bundeskanzlerin, dann müssen Sie beide Seiten verstehen und auch beide Seiten kritisieren. Die Einseitigkeit muss endlich überwunden werden.
({3})
Natürlich weiß ich, dass Russland die Krim völkerrechtswidrig vereinnahmt hat. Ich weiß, dass das nicht
die Ukraine war, sondern Russland. Ich sehe sehr wohl
diesen Unterschied. Aber ich muss Ihnen auch sagen:
Deutschland hat das Völkerrecht beim JugoslawienKrieg gebrochen, mit anderen Ländern zusammen. Die
USA und andere Länder haben das Völkerrecht beim
Irakkrieg gebrochen. Wir sind ja hier nur noch von Völkerrechtsverletzern umgeben; das ist das Problem. Wir
müssen wieder zurückkehren zum Völkerrecht.
({4})
Wir dürfen nicht vergessen: Für Russland ist die Europäische Union der wichtigste Handelspartner. 50 Prozent seines Handels betreibt Russland mit der EU. Jetzt
beginnt Russland, sich auf Asien und Lateinamerika zu
konzentrieren. Möglicherweise gibt es sogar einen positiven Nebeneffekt, weil die Russen anfangen, die Produktion zu entwickeln, um nicht ganz einseitig von Rohstoffen abhängig zu sein. Aber die NATO und vor allem
die USA wollen Osteuropa aufrüsten. All das eskaliert.
Nun regen sich Außenminister Kerry, Außenminister
Steinmeier und andere darüber auf, dass es Pläne Russlands für die Modernisierung der Atomwaffen gibt. Ich
verstehe die Aufregung, aber ich sage Ihnen klipp und
klar: Angesichts der Aufrüstung Osteuropas war doch
mit einer solchen Antwort zu rechnen. Wenn man russische Manöver nicht will, muss man die eigenen Manöver einstellen. Was soll eigentlich dieser gegenseitige
Aufrüstungswahnsinn?
({5})
Wir alle sollten eines nicht vergessen: die ungeheuren
Leistungen des russischen Volkes im Zweiten Weltkrieg
und im Kampf gegen die Nazidiktatur.
({6})
Wir sollten auch nicht vergessen, dass Russland das
größte und militärisch stärkste Land Europas ist, über
zahlreiche Atomwaffen verfügt, ständiges Mitglied des
UN-Sicherheitsrates mit Vetorecht ist. Bei einem solchen Land brauchen wir auf gar keinen Fall Eskalation,
sondern endlich Deeskalation; denn Frieden und Sicherheit in Europa gibt es nicht ohne, geschweige denn gegen Russland.
({7})
Lassen Sie mich etwas zu Griechenland sagen, um
hier endlich einmal mit bestimmten Verzerrungen und
Unwahrheiten aufzuräumen.
({8})
Erstens. Der größte Fehler bestand darin, die Banken
in Griechenland nicht pleitegehen zu lassen, ihnen über
eine Neuverschuldung des Landes Geld hinterherzuwerfen. Bei einer Bankenpleite hätte man den Bürgerinnen
und Bürgern Griechenlands und auch den kleinen und
mittleren Unternehmen ihre Guthaben erstatten können.
Die Großgläubiger hätten eben Pech gehabt. Sie haben
sich verzockt. „Na und?“, kann ich nur sagen. Zu den
Großgläubigern gehörten auch französische und deutsche Banken. Die sind alle befriedigt worden. Nicht die
Griechinnen und Griechen haben das Geld bekommen,
sondern nur die Banken. Ich muss einmal sagen: In
Deutschland können die Bürgerinnen und Bürger und
die kleinen und mittleren Unternehmen nur davon träumen, dass die Bundesregierung kommt und ihre Schulden bezahlt. Nur die Banken können sich darauf verlassen.
({9})
Es ist ja ganz egal, wie viel Schulden sie machen, immer
bezahlen wir alle dafür.
Zweitens. Das letzte Mal, dass an Griechenland Geld
geflossen ist - das muss man auch einmal sagen -, war
im August 2014. Da gab es die jetzige Regierung noch
gar nicht. Aber die jetzige Regierung hat schon über
7 Milliarden Euro an Schulden zurückgezahlt; das ist die
Wahrheit. Wer hat überhaupt das Ganze angerichtet? Das
waren die Schwester- und Bruderparteien von CDU,
CSU und SPD in Griechenland, nämlich die Konservativen und die Sozialdemokraten. Das muss man auch einmal klar sagen.
({10})
Drittens. Die Troika hat Auflagen erteilt und dramatische Kürzungen gefordert. Was war das Ergebnis? Die
Diktate führten Griechenland in eine tiefe soziale und
wirtschaftliche Krise, sie führten zu einem Zusammenbruch des Gesundheitssystems, zu einem Anstieg der
Arbeitslosigkeit auf 25 Prozent, der Jugendarbeitslosigkeit auf über 50 Prozent, zu Armut, zur Senkung der
Einkommen um ein Drittel, zur Kürzung der Renten, zur
Kürzung der Investitionen. Diese Krise war allerdings
kaum Resultat der griechischen Politik, sondern in erster
Linie Resultat der Politik der Troika, hinter der sich ja
auch die Bundesregierung versteckt; das ist doch die
Wahrheit.
({11})
Was ist das Ergebnis? Ein Anstieg der Schulden von
127 Prozent auf heute 176 Prozent der Wirtschaftsleistung, also alles gar nicht machbar. Frau Merkel, Herr
Gabriel und Herr Schäuble, auch Sie müssen doch endlich einmal eines begreifen: Die Mehrheit der Griechinnen und Griechen hat in einer demokratischen Wahl
diese Politik abgewählt.
({12})
Sie verlangen aber, dass die neue Regierung, die nicht
mehr von Ihren Schwester- und Bruderparteien gestellt
wird,
({13})
die den ganzen Schlamassel angerichtet haben, die Politik der Vorgängerregierung übernimmt.
({14})
Begreifen Sie denn nicht, dass Sie die Demokratie gefährden?
({15})
Ich werde Ihnen auch sagen, warum. Sie sagen den Leuten:
({16})
Ihr könnt wählen, wen Ihr wollt, es spielt überhaupt
keine Rolle; wir sorgen dafür, dass die bisherige Politik
fortgesetzt wird. Da fragen sich die Griechinnen und
Griechen, warum sie überhaupt anders gewählt haben.
({17})
Das geht nicht. Sie müssen den Wechsel akzeptieren.
({18})
Viertens. Viele fragen sich, warum die Regierung in
Griechenland nicht längst die reichen Griechinnen und
Griechen angemessen besteuert und das Hinaustragen
des Euro aus Griechenland wegen der Grexit-Diskussion
nicht unterbindet. Ich habe mich das auch gefragt. Aber
stimmt es denn, Herr Schäuble, dass die Troika, Sie und
andere Finanzminister für den Fall der Besteuerung der
Reichen und des Verbotes des Heraustragens des Euro
mit dem Abbruch der Gespräche gedroht haben,
({19})
und zwar mit der Begründung, dass das nur im Komplex
ginge
({20})
und nicht eine einzelne Maßnahme vorher getroffen werden darf?
({21})
Das wäre - das muss ich Ihnen sagen - unverantwortlich, weil es höchste Zeit wird, die reichen Griechinnen
und Griechen angemessen zu besteuern und das Heraustragen des Euro zu verhindern.
({22})
Fünftens. Die griechische Regierung ist zum Sparen
bereit, nur nicht dort, wo Sie es gerne hätten. Das ist das
Problem. Entgegen der Darstellung hat sie alle Rüstungsprogramme eingefroren. Übrigens hat unsere Rüstungsindustrie kräftig an den Programmen verdient.
10 Prozent aller Rüstungsexporte von 1974 bis 2009 gingen nach Griechenland, und zwar verbunden mit vielen
Bestechungsgeldern. Und plötzlich werfen wir der Regierung vor, dass sie sie aufgelegt hat. Das ist doch geradezu abenteuerlich.
({23})
Ich bin sehr dafür, die Rüstung abzubauen, aber dann
müssen Sie das auch unterstützen.
Sechstens. Jetzt zu den dreisten Behauptungen über
die angeblich so reichen griechischen Rentnerinnen und
Rentner. Hier die Fakten: Es gibt rund 2,6 Millionen
Rentnerinnen und Rentner in Griechenland. 60 Prozent
von ihnen bekommen eine Rente von weniger als
700 Euro. Die Berufsunfähigkeitsrenten liegen zwischen
250 und 540 Euro.
Herr Bosbach, Sie behaupten bei Herrn Jauch, dass
das durchschnittliche Renteneintrittsalter in Griechenland bei 56,3 Jahren und in Deutschland bei 64 Jahren
läge. Sie sagen aber nicht: Die 64 Jahre stimmen nur für
den öffentlichen Dienst, aber nicht für die gesamte Gesellschaft. Also nehmen wir die Berechnung der OECD.
Die ist sehr viel ehrlicher. Die OECD sagt für das Jahr
2012 Folgendes: Das durchschnittliche Renteneintrittsalter bei Männern in Griechenland lag bei 61,9 Jahren und
in Deutschland bei 61,2 Jahren. Bei Frauen lag das
durchschnittliche Renteneintrittsalter in Griechenland
bei 60,3 Jahren und in Deutschland bei 61 Jahren. Es
gibt kaum einen Unterschied. Tsipras hat darauf hingewiesen. Heute liegt das Renteneintrittsalter in Griechenland bei 64,4 Jahren bei Männern und bei 64,5 Jahren
bei Frauen. Das ist die Wahrheit. Deshalb sage ich Ihnen, Herr Bosbach: Wir brauchen dieses Bild-Zeitungsniveau nicht. Hören Sie auf, Griechenland und seine Bevölkerung so zu diskriminieren.
({24})
Das geht nicht.
Siebtens. Nun zum Ausstieg Griechenlands aus dem
Euro, also Grexit.
Herr Kollege Gysi, lassen Sie eine Zwischenfrage zu?
Ja, gerne.
Frau Kollegin Baehrens, bitte schön.
Herr Gysi, aus der Mitte Ihrer Fraktion gab es während der Regierungserklärung von Frau Bundeskanzlerin
Merkel einen Zwischenruf zu den Griechenland-Hilfen.
Es wurde gerufen: Das ist finanzpolitischer Massenmord! - Teilen Sie als Fraktionsvorsitzender diese Haltung aus der Mitte Ihrer Fraktion?
Ich weiß, dass Leute gelegentlich überspitzt formulieren. Das ist nicht mein Stil. Mein Stil wird sich auch
nicht ändern.
({0})
Aber eine finanzpolitische Katastrophe war es auf jeden
Fall.
({1})
Immer mehr von der Union und auch von der SPD
sprechen ernsthaft über Grexit. Sie vergessen immer, zu
sagen - warum sagen Sie das nicht, Frau Bundeskanzlerin? -, dass Sie Bürgschaften unterschrieben haben. Stellen Sie sich einmal vor, Griechenland geht wirklich aus
dem Euro heraus - ich sage gar nichts zu den weiteren
Folgen -, dann kann es die Schulden nicht mehr in Euro
zurückbezahlen. Dann haftet Deutschland mit 60 Milliarden Euro. Was bedeutet das eigentlich für italienische
und zyprische Banken? Die Französinnen und Franzosen
müssten 48 Milliarden Euro und die Italienerinnen und
Italiener 43 Milliarden Euro bezahlen. Das können wir
gar nicht. Glauben Sie wirklich, dass die Lösung darin
besteht, dass wir alle pleitegehen? Ich verstehe das überhaupt nicht. Wirklich, ich verstehe es nicht.
({2})
Wenn Griechenland aus dem Euro rausgeht, gibt es
eine Ansteckungsgefahr. Sie gefährden den Euro insgesamt und damit auch die europäische Integration. Wenn
Sie, Frau Bundeskanzlerin, offenkundig im Unterschied
zu Herrn Schäuble, und auch Herr Draghi, Herr Juncker,
Herr Gabriel, Herr Steinmeier, Herr Schulz und Präsident Hollande den Grexit nicht wollen, müssen Sie endlich den Mut haben, die bisherige kompromisslose Haltung aufzugeben und mit der Regierung Griechenlands
nach einer Lösung zu suchen, um Griechenland in der
Euro-Zone zu halten und den Menschen dort eine Perspektive zu geben.
({3})
Zu einer Lösung kommt man nur unter diesen Bedingungen.
Herr Gabriel, Sie bezeichnen die griechische Regierung als „Spieltheoretiker“ und behaupten, die griechische Regierung sei von Kommunisten durchsetzt.
({4})
Ich muss Ihnen zwei Dinge sagen. Erstens. Die Kommunisten stehen dort in der Opposition zur Regierung; sie
vertreten so in etwa Ihre Auffassung.
({5})
Zweitens. Es war gerade Ihre Schwesterpartei, die das
Ganze in Griechenland angerichtet hat. Sie war dafür
verantwortlich. Sie sollten nicht auf die neue Regierung
schimpfen.
({6})
Ich sage noch etwas. Die geplante Zahlung von über
7 Milliarden Euro Ende Juni - das ist doch nur ein
Durchlaufposten. Das Geld geht nach Griechenland und
dann gleich wieder an den Internationalen Währungsfonds zur Bezahlung der Schulden. Die Griechinnen und
Griechen haben gar nichts davon.
({7})
Ich verstehe das ganze Affentheater nicht, das in diesem
Zusammenhang aufgeführt wird.
Herr Kollege.
Herr Präsident, ich bin gleich fertig.
Herr Schäuble, ich bin zwar anderer Auffassung, aber
ich kann nachvollziehen, dass Sie keinen Erfolg einer
linksgerichteten Regierung wollen.
({0})
Ich kann nachvollziehen, dass Sie fürchten, dass im Falle
eines Erfolgs auch Spanien links wählt. Ich kann auch
nachvollziehen, dass Sie fürchten, dass dann ähnliche
Kompromisse mit Spanien, Portugal und anderen Ländern eingegangen werden müssten. Aber ich muss Ihnen
eines sagen: Ihre Idee von einem Kerneuropa wird nicht
aufgehen. Außerdem müssen Sie sich auch über die
weitgehenden, von niemandem beherrschbaren Folgen
eines Crashs klar sein.
({1})
So verantwortungslos dürfen Sie, darf die Regierung
nicht handeln.
({2})
Wir brauchen für Griechenland endlich eine Marshall-,
eine Aufbaupolitik, damit es in der Lage ist, Schulden
zurückzubezahlen, und damit es wieder aufwärts geht
mit Europa und dem Euro.
Lassen Sie mich als Letztes Folgendes sagen.
Das muss jetzt aber wirklich fix gehen.
Nach Umfragen des Eurobarometers sank die Zustimmung zu Europa in Deutschland, Portugal, Griechenland
und Spanien dramatisch. Wir können die wichtige europäische Integration, die Frieden zwischen den Mitgliedsländern garantiert, überhaupt nur fortsetzen, wenn endlich wieder eine Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger
Europas diese Zukunft will. Sie sind daran schuld, dass
das kaputtgemacht wird, und dazu haben Sie kein Recht.
({0})
Da Sie oft den gegenteiligen Eindruck haben, Herr
Gysi: Lassen Sie sich von Ihrer Geschäftsführerin bestätigen, dass ich die Redezeitverteilung wieder einmal sehr
zugunsten der Opposition ausgelegt habe.
({0})
Nächster Redner ist der Kollege Thomas Oppermann
für die SPD-Fraktion.
({1})
Herr Präsident, auch wenn Herr Gysi länger redet,
wird es nicht besser.
({0})
Lieber Herr Gysi, Sie haben sich eben zwar davon distanziert, dass die Hilfspakete der Euro-Zone für Griechenland ein „finanzpolitischer Massenmord“ sein sollen, aber Sie haben gesagt, das sei eine Katastrophe.
Jetzt frage ich Sie: Warum haben Sie eigentlich im Februar der Verlängerung des zweiten Hilfspakets für Griechenland zugestimmt?
({1})
Ihre Kritik ist doch inzwischen so maßlos, dass sie
sich auch gegen Sie selber richtet; ich weiß nicht, ob Ihnen das eben bewusst geworden ist. Sie können jedenfalls nicht mehr sagen, Sie hätten mit der ganzen Sache
nichts zu tun.
({2})
Nächste Woche trifft sich der Europäische Rat. Heute
trifft sich die Euro-Gruppe in Brüssel. Das Drama um
Griechenland geht in die nächste Runde; der Ausgang ist
offen.
({3})
Sicher ist nur eines: Die Zeit läuft ab.
Ich habe vor fünf Monaten gesagt, dass wir der neugewählten Regierung in Griechenland einen Vertrauensvorschuss und Zeit geben müssen. Heute muss ich
feststellen: Der Vertrauensvorschuss ist weitgehend aufgebraucht, und die Regierungsmitglieder haben die Zeit
weitgehend dafür genutzt, Interviews zu geben und Vorträge zu halten. Ich finde das unverantwortlich, meine
Damen und Herren.
({4})
Es drängt sich der Eindruck auf, dass diese Regierung
gar nicht ernsthaft verhandelt
({5})
mit dem Ziel, eine Einigung zu erreichen. Der IWF wird
als kriminelle Vereinigung beschimpft.
({6})
- Mein lieber Herr Kollege, man kann am Internationalen Währungsfonds durchaus Kritik üben, und auch ich
teile nicht jede Praxis des Internationalen Währungsfonds; aber wenn Sie mir jetzt explizit sagen, das sei eine
kriminelle Vereinigung,
({7})
dann schießen Sie unglaublich über das Ziel einer vernünftigen Meinungsäußerung hinaus.
({8})
Aus solchen Äußerungen spricht der blanke Fanatismus.
({9})
Die griechische Regierung tut übrigens auch noch so,
als verhandle sie immer noch mit der alten EU-Kommission. Dabei stehen mit Kommissionspräsident JeanClaude Juncker und mit Parlamentspräsident Martin
Schulz zwei Politiker an der Spitze der europäischen Institutionen, die der griechischen Regierung äußerst
wohlgesonnen sind.
({10})
Beide wollen, dass Griechenland durch Reformen, durch
Investitionen, durch Wachstum wirtschaftlich wieder auf
die Beine kommt.
({11})
Deshalb sage ich: Trotz des Chaos hoffe ich, dass wir am
Ende zu einem vernünftigen Ergebnis kommen. Wir
wollen, dass Griechenland in der Euro-Zone bleibt. Niemandem ist damit geholfen und nichts wird einfacher
und nichts wird leichter, wenn Griechenland durch einen
Austritt aus der Euro-Zone in ein europäisches Notstandsgebiet verwandelt wird, meine Damen und Herren.
({12})
Aber nicht nur das: Die Europäische Union wäre auch
nicht mehr dieselbe. Jean-Claude Juncker hat das sehr
treffend zum Ausdruck gebracht. Er hat gesagt, ein Austritt Griechenlands wäre der Beweis, „dass … einige
Integrationsfortschritte in der EU eben nicht irreversibel
sind“. Ich finde, Herr Juncker hat recht. Die Europäische
Union ist keine Übereinkunft auf Zeit, sondern sie ist auf
Dauer angelegt. Wer soll noch Vertrauen in die EU und
in die Euro-Zone haben, wenn wir in der ersten großen
Krise auseinanderbrechen?
({13})
Die Welt schaut jetzt auf Europa,
({14})
weil man substanzielle Beiträge von uns erwartet zur Lösung von großen internationalen Krisen: der Flüchtlingskrise, der Kriege im Nahen Osten, des Konflikts zwischen Russland und der Ukraine.
Darf der Kollege Dehm eine Zwischenfrage stellen?
Lieber am Ende meiner Rede.
({0})
Man erwartet von uns, dass wir substanzielle Beiträge
leisten. Gerade in diesen Zeiten darf von Europa kein
Zeichen der Schwäche ausgehen, meine Damen und
Herren!
({1})
Aber es gibt noch ein zweites denkbar schlechtes Ergebnis, nämlich dass die griechische Regierung der Europäischen Union diktieren will, unter welchen Bedingungen es ihr gefällt, in der Euro-Zone zu bleiben. Das
darf es nicht geben, meine Damen und Herren!
({2})
Das wäre ein einseitiges Abkommen zulasten der europäischen Steuerzahler. Keine Regierung in Europa hat
das Recht, Solidarität einzufordern, wenn sie nicht bereit
ist, das ihr selbst Mögliche und Zumutbare auch zu tun,
meine Damen und Herren.
({3})
Deshalb sage ich: Wir wollen den Kompromiss; aber
wir lassen uns nicht erpressen - das wäre nur ein Signal
an populistische Parteien in Europa, nach dem Motto:
Nationaler Egoismus ist umso erfolgreicher, je aggressiver er vorgetragen wird. - Diese Logik darf sich in Europa nicht durchsetzen!
({4})
Lieber Gregor Gysi - Sie haben ja in das gleiche Horn
getutet -, die griechische Regierung tut so, als ob sie allein demokratisch gewählt worden sei. Nein, auch der
Bundestag ist demokratisch gewählt worden, auch wir
sind unseren Wählerinnen und Wählern verpflichtet.
({5})
Inzwischen sind 70 Prozent der Deutschen der Meinung, dass man keine weitergehenden Zugeständnisse an
Griechenland machen sollte. Ich glaube trotzdem, dass
immer noch eine grundsätzliche Bereitschaft zur Solidarität mit Griechenland vorhanden ist. Es ist fünf vor
zwölf. Ich finde, ein Kompromiss ist immer noch möglich. Der Wille ist da, sagt die Kanzlerin. Auch der Weg
ist immer noch offen. Ich bin froh, dass die Bundeskanzlerin und der französische Präsident die Angelegenheit
zur Chefsache gemacht haben. Ich hoffe, dass wir am
Ende noch eine faire Einigung erreichen werden.
({6})
Meine Damen und Herren, das Thema Griechenland
ist leider nicht das einzige Problem in der Europäischen
Union; denn wir haben noch längst nicht alle notwendigen Schlussfolgerungen aus der Krise im Euro-Raum gezogen. Deshalb ist es gut, dass beim Gipfel jetzt auch
über die Weiterentwicklung der Wirtschafts- und Währungsunion gesprochen wird.
Für mich zeigt die Bankenunion, dass Europa schwierige Reformen anpacken kann. Denn wenn etwas die Demokratien in Europa Glaubwürdigkeit gekostet hat, dann
ist es die Tatsache, dass vor einigen Jahren - da gebe ich
Gregor Gysi sogar ein Stück weit recht - die Regierungen mit dem Geld der Steuerzahler die Banken retten
mussten. Jetzt aber haben wir mit der Bankenunion, mit
einer europäischen Bankenaufsicht und mit einer Bankenabgabe, die sicherstellt, dass nicht mehr auf das Geld
der Steuerzahler zugegriffen wird, einen Mechanismus
gefunden, der für mich einen der größten Integrationsschritte der letzten Jahre darstellt. Deshalb brauchen wir
jetzt, finde ich, weitere Schritte dieser Art.
Die EU hat in der Tat immer noch keine koordinierte
Wirtschafts- und Finanzpolitik, jedenfalls keine, die diesen Namen verdient. Diese brauchen wir aber, damit die
Währungsunion langfristig stabil funktioniert. Derzeit
profitieren wir hauptsächlich davon, dass uns die EZB
mit ihrer Ankündigung, im Notfall unbegrenzt Staatsanleihen zu kaufen, die Arbeit abgenommen hat. Damit hat
sie die Märkte beruhigt, und sie hat die Refinanzierung
der Staaten erleichtert. Man kann aber ökonomische Probleme auf Dauer nicht mit Geldpolitik lösen.
Es ist an der Zeit, dass die Politik die langfristige
Steuerung der Euro-Zone wieder selber in die Hand
nimmt.
({7})
Ich habe mich deshalb sehr gefreut, dass Sigmar Gabriel
und sein französischer Amtskollege Emmanuel Macron
konkrete Vorschläge vorgelegt haben.
Dazu gehört erstens eine Wirtschafts- und Sozialunion mit einem nicht über einen Leisten geschlagenen,
sondern an der Wirtschaftsleistung der einzelnen Mitgliedstaaten orientierten Mindestlohn. Dabei geht es um
einen Mindestlohnkorridor, mit dem wir in ganz Europa
Lohndumping verhindern können, meine Damen und
Herren.
Zweitens brauchen wir eine europaweit harmonisierte
Unternehmensbesteuerung.
({8})
Ich finde es unerträglich, dass sich die Mitgliedsländer
der Europäischen Union immer noch von den internationalen Konzernen gegeneinander ausspielen lassen. Wir
müssen jetzt den Grundsatz durchsetzen: Was in einem
Land erwirtschaftet bzw. erarbeitet wird, muss auch in
diesem Land versteuert werden, meine Damen und Herren!
({9})
Drittens finde ich, dass die Idee, ein eigenes Budget
für die Euro-Zone zu schaffen, zu einem wichtigen wirtschaftspolitischen Instrument werden könnte, um die
Schwankungen in der Euro-Zone auszugleichen. Wenn
wir dieses Budget mit Einnahmen aus der Transaktionsteuer ausstatten,
({10})
schaffen wir ein richtiges wirtschaftspolitisches Instrument, das wir sozial gerecht finanzieren. Damit könnten
wir einen Konstruktionsfehler der Euro-Zone beseitigen,
meine Damen und Herren.
({11})
Die Krise in Griechenland zeigt doch, dass wir die
Euro-Zone politisch weiter vertiefen müssen. Auf dem
Gipfel wird - auch darüber hat die Kanzlerin gesprochen über Großbritannien geredet werden. Premierminister
David Cameron hat eine Volksabstimmung bis spätestens 2017 angekündigt. Mit dieser Grundsatzentscheidung geht er ein hohes politisches Risiko ein; aber darin
liegt auch eine Chance. Die Briten können Ja oder Nein
sagen, und am Ende haben wir Klarheit. Ich wünsche
mir, dass die Briten sich für ein Ja zu Europa entscheiden; denn ich finde, Großbritannien ist eine große politische, kulturelle und wirtschaftliche Bereicherung für Europa.
({12})
Europa und insbesondere wir Deutsche haben Großbritannien ungeheuer viel zu verdanken. Das Vereinigte
Königreich war die erste parlamentarische Demokratie.
Die 800 Jahre alte Magna Charta war ein Meilenstein auf
dem Weg vom Absolutismus zum Rechtsstaat. Viele Briten haben beim Kampf gegen Hitler-Deutschland ihr Leben gelassen. Ich erinnere an den vehementen Einsatz
der Briten für die Osterweiterung der EU, die aus heutiger Sicht ein Glücksfall war. Dazu kommt: Ohne Großbritannien hätte die Europäische Union außenpolitisch
deutlich weniger Gewicht. Deshalb wünschen wir uns
alle, dass Großbritannien in der Union bleibt.
Vor der Abstimmung will Cameron die Beziehungen
mit der EU neu verhandeln. Das ist legitim; das ist sein
gutes Recht. Allerdings: Ich kann mir keine EU vorstellen, in der jedes einzelne Mitglied darauf bedacht ist, die
eigenen Vorteile zu maximieren und die Lasten den anderen aufzubürden. Das darf nicht sein, meine Damen
und Herren.
({13})
Europa kann nicht funktionieren wie ein Süßigkeitenautomat, bei dem sich jeder die besten Stücke herausgreift,
die ihm gerade schmecken.
({14})
Deshalb möchte ich zwei klare Grenzen für die Verhandlungen mit Großbritannien aufzeigen - wenn es sie geben sollte -:
Erstens. Wenn die Briten meinen, dass sich der Ausbau der Union allein auf den Binnenmarkt beziehen soll,
dann werden wir entschieden widersprechen. Das ist
nicht die EU, die wir wollen.
({15})
Zweitens. Wir werden nicht zulassen, dass das Prinzip
der Freizügigkeit infrage gestellt wird. Die Bürger in Europa, die vielleicht nicht genau den Unterschied zwischen einem Staatenbund und einem Bundesstaat kennen, wissen aber eines: dass Europa direkte, konkrete,
greifbare Vorteile für sie bringt.
({16})
Dazu gehören neben dem Euro die Reisefreiheit und die
Niederlassungsfreiheit. Das ist doch das, was die Menschen an Europa schätzen, was sie als eine große Bereicherung ihres eigenen, individuellen Lebens empfinden.
Das, meine Damen und Herren, werden wir mit aller
Entschiedenheit verteidigen und nicht in solche Verhandlungen einbringen.
({17})
Herr Oppermann, Sie achten auf die Zeit?
Großbritannien und Griechenland - diese Länder
könnten unterschiedlicher kaum sein. Doch beide Fälle
zeigen: Europa funktioniert nicht, wenn alle nur auf ihre
Sonderinteressen achten. Europa ist auf den Ausgleich
von Interessen zum Wohle aller und zum Wohle der Gemeinschaft angelegt. Diese Fähigkeit zum Ausgleich
wird auch bei einer Weiterentwicklung der Wirtschaftsund Währungsunion zentral sein. Diese Fähigkeit werden wir uns immer auch selbst abverlangen müssen,
meine Damen und Herren.
({0})
Ich bin sicher: Wenn es uns gelingt, vom Ich zum Wir zu
kommen, dann kann die Union gestärkt aus der Krise
hervorgehen. Lassen Sie uns gemeinsam daran arbeiten.
({1})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen erhält nun
Katrin Göring-Eckardt das Wort.
({0})
- Ach so, Entschuldigung. - Einen Augenblick! Ich habe
das jetzt übersehen. Ich hatte dem Kollegen Dehm zugesagt, dass er eine Kurzintervention vortragen darf. Dann
machen wir in der Rednerliste weiter. - Bitte schön.
Herr Kollege Oppermann,
({0})
Sie haben sich jetzt über einen Satz aufgeregt, der Ihnen
ja nicht so neu sein dürfte:
({1})
Wir werfen dem IWF eine kriminelle Politik vor. Ich will
Ihnen nur sagen: Vor 35 Jahren hat der Internationale
Währungsfonds afrikanischen Staaten Kredite nur unter
der Auflage zugestanden, dass sie ihre Felder zur Nahrungsmittelproduktion, also Hirse usw., in Schnittblumenplantagen umwandeln. Die Folge war, dass die
Schnittblumenpreise auf ein Drittel gesunken sind, die
Folge war Massenhunger. Das mit den Auflagen geht
weiter bis jetzt.
Von 183 griechischen Krankenhäusern sind 100 geschlossen worden. Es gab eine Steigerung der Suizidfälle um 40 Prozent. Es gab eine ähnlich massive Steigerung der Zahl der HIV-Infektionen.
Ich will Ihnen dazu nur Folgendes sagen: Es geht im
Moment in der Auseinandersetzung mit dem IWF - und
das ist kein Fanatismus; diese Zahlen können Sie gerne
unfanatisch widerlegen oder akzeptieren - um 1,3 Milliarden Euro, die nach dem Willen des IWF einzig und
allein aus Rentenkürzungen und Mehrwertsteuererhöhungen finanziert werden sollen. In dem Moment, als die
griechische Regierung letzte Woche sagte: „Wir wollen
den Verteidigungshaushalt kürzen“, ist der IWF abgefahren. Ich sage das, um hier einmal die Wahrheit zu sagen.
Jetzt sage ich Ihnen, was Papst Franziskus gesagt hat
({2})
und was im Übrigen auch UNO-Sonderbotschafter Professor Jean Ziegler gesagt hat: Diese Art von Wirtschaft
tötet. Dieser Politik sind auf den armen Kontinenten
Zehntausende von Kindern zum Opfer gefallen.
({3})
Lieber Herr Oppermann, es gab eine Zeit, in der Sie
für Aktionen gegen die Volkszählung geworben haben.
Damals hätten Sie das mit uns gemeinsam - da bin ich
ganz sicher; aber seitdem muss wohl einiges mit Ihnen
geschehen sein - auch als kriminelle Politik bezeichnet;
und nicht anderes ist sie. Deswegen werden wir am kommenden Samstag demonstrieren. Sie werden dort überall
sehen: Diese Wirtschaft tötet. - Wir müssen Europa also
anders machen.
({4})
Ich empfehle Ihnen dringend, diese Spruchbänder sofort wegzunehmen. Ich erinnere an die Vereinbarung, die
wir über die Ordnung im Hause haben.
({0})
Herr Oppermann, wollen Sie erwidern? - Nein, okay. Und Sie von der Linken nehmen jetzt bitte die Spruchbänder weg.
({1})
- Einen Augenblick mal. Wir werden uns heute Mittag
im Ältestenrat mit dem Vorgang beschäftigen. Ich erwarte dann nur von den Parlamentarischen Geschäftsführern nicht die Standarderklärung, es handele sich um
eine spontane Initiative, die selbstverständlich der Geschäftsführung vorher nicht bekannt gewesen sei.
({2})
Jetzt hat die Kollegin Katrin Göring-Eckardt das
Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und liebe Kollegen! Ich glaube, ehrlich gesagt, dass die Situation zu
ernst ist, um mit solchen Aktionen zu versuchen, Europa
weiter in Misskredit zu bringen.
({0})
Frau Merkel, Sie haben hier heute nur einen Satz zum
G-7-Gipfel gesagt. Sie haben sich damit einer Debatte
über die Ergebnisse des G-7-Gipfels in diesem Hause
verweigert - ich hoffe, man kann sagen: nur bisher verweigert. Wenn Sie sich aber hierhinstellen und sagen:
„Wir müssen im Rahmen von G 7 und G 20 sehr viel
umsetzen“, doch schon zwei Tage nach dem Gipfel im
eigenen Land die Kohleabgabe versenken, die notwendig wäre, um das umzusetzen, was Sie auf der großen
Bühne beschlossen haben, also auf weltpolitischer
Ebene groß vom Klimaschutz sprechen, in Deutschland
aber Denkmalschutz für die Braunkohle betreiben, ist
das alles andere als glaubwürdig.
({1})
Frau Merkel, Sie haben einen Satz, den Sie hier schon
sehr oft gesagt haben, heute nicht wiederholt, nämlich:
Wenn der Euro scheitert, dann scheitert Europa. - Es ist
ziemlich genau fünf Jahre her, dass Sie das zum ersten
Mal gesagt haben. Heute darf man nicht nur, sondern
muss man die Frage stellen: Haben Sie eigentlich noch
das gesamte Europa im Blick, oder geht es nur noch um
den nächsten Kredit, nur noch um den nächsten Showdown, nur noch um Haltungsnoten? Hat die Union
- nach den Äußerungen in dieser Woche und vor allen
Dingen nach Ihrer Rede, Herr Oppermann, muss man
das allerdings auch die SPD fragen -, hat die SPD das
gemeinsame Europa eigentlich noch als gemeinsame
Werte- und Solidargemeinschaft im Blick, oder geht es
nur noch um Gezerre, um Hin und Her?
({2})
Vielleicht ist es ja so, dass Sie das im Blick haben; aber
dann wird offenbar nicht öffentlich darüber geredet. Es
wird ausgewichen, es wird über zentrale Fragen gar
nicht gesprochen. Es wird so getan, als sei es wirklich
offen, ob es die 7 Milliarden Euro, über die wir in dieser
Woche reden, gibt.
Warum wird nicht darüber gesprochen, was tatsächlich los ist? Sie haben vorhin gesagt, das alles müsse
nachhaltig wirken können. Dann müssen Sie Ihren eigenen Leuten aber auch sagen: Natürlich wird es ein nächstes Hilfspaket für Griechenland geben. - Das wäre ehrlich, und das wäre auch konsequent in dieser Diskussion.
({3})
Aber was passiert, wenn wir so viel Schindluder mit Europa treiben, wenn wir so viel darüber reden, was alles
nicht geht? Wenn Sie heute Zwanzigjährige fragen, woran sie bei Europa denken, dann sagen diese nicht „Frieden“ oder „Freiheit“, dann denken sie noch nicht einmal
an Erasmus. Nein, dann sagen sie heute: Krise.
({4})
Soll das denn die Zukunft dieses Europas sein? Wir sind
dabei, sie zu verscherbeln, auch in der Emotionalität der
Europäerinnen und Europäer.
({5})
Deswegen: Reden Sie endlich darüber, was ist. Wenn
Griechenland aus dem Euro stürzt, dann wäre das eine
Bruchlandung für die gesamte Europäische Union. Wenn
Griechenland aus dem Euro stürzt, dann wären die Kosten für Deutschland immens, dann hätten wir eine humanitäre Katastrophe in Europa. Griechenland aus dem
Euro zu stürzen, würde aber auch bedeuten, dass man
70 Milliarden Euro sofort in den Wind schießt - das sind
die deutschen Kredite, die gegeben wurden -, statt
7 Milliarden Euro in die Hand zu nehmen. Ich glaube
nicht, dass das glaubwürdig ist. Wenn es um deutsche Interessen geht, dann muss man auch darüber reden, und
zwar ehrlich, meine Damen und Herren.
({6})
Europa - das ist nicht nur etwas für Sonntags- und
Schaufensterreden. Europa soll ja eine Solidar- und Wertegemeinschaft sein. Mit diesem Ziel ist es gegründet
worden. Europa stärkt man, indem man eine klare Haltung einnimmt, aber nicht mit Deals und nicht mit Muskelspielen. Das gilt übrigens für beide Seiten. Man muss
auch Herrn Varoufakis sagen: Man kann in Griechenland
keine Renten, keine Medikamente und keine Schulbücher damit bezahlen, dass man sich für schlauer hält als
der Rest.
({7})
Herr Bosbach - ich weiß gar nicht, ob er heute da ist -,
ich will das noch einmal wiederholen: Sie spielen ganz
bewusst mit dem Feuer. Sie bringen nämlich die Menschen gegen dieses gemeinsame Europa auf, wenn Sie so
über Europa, wenn Sie so über Griechenland reden, wie
Sie es in den letzten Tagen getan haben. Nein, das reale
Renteneintrittsalter in Griechenland liegt bei den Frauen
gerade einmal ein Jahr unter dem in Deutschland. Wenn
man da ein falsches Spiel spielt, dann wird man nur weiter dafür sorgen, dass die Verunsicherung in der Bevölkerung, auch in unserer, wächst. Wenn man dieses Spiel
spielt, Herr Oppermann, macht das keine Freude, sondern das wird dazu führen, dass sich demnächst noch
mehr als 70 Prozent fragen, ob wir eigentlich diese weiteren Hilfen brauchen. Wir brauchen Ehrlichkeit, und
wir müssen sagen: Es geht auch um uns. Deshalb müssen wir Griechenland nicht nur retten, sondern auch dafür sorgen, dass es eine echte Perspektive hat.
({8})
Wir brauchen eine Lösung für dieses Land, für die
Bevölkerung in diesem Land. Die griechische Regierung
muss zugleich mit Klientelsystemen und Günstlingswirtschaft aufräumen. Ja, sie muss gegen Steuerhinterziehung vorgehen, und die oberen 10 Prozent müssen ihren
gerechten Beitrag leisten. Sie muss auch Prioritäten setzen. Es kann nicht sein, dass man auf der einen Seite für
eine OP in einem Krankenhaus in Griechenland das Verbandszeug selber mitbringen muss und dass auf der anderen Seite Rüstungsgüter mit dem wahnsinnigen Wert
von 11 Milliarden Dollar nach Griechenland importiert
werden. Mich wundert übrigens, dass unsere Bundesregierung dies nicht auf den Prüfstand stellen will. Möglicherweise liegt es daran, dass die Rüstungsgüter auch
aus Deutschland kommen.
({9})
Das gilt natürlich auch andersherum. Auch die Gläubiger müssen realistische Vorschläge machen. Wenn die
Griechen schon diesen steinigen Weg gehen müssen, den
übrigens auch andere Länder in der Europäischen Union
gehen mussten, dann kann man ihnen nicht gleichzeitig
noch die Schnürsenkel zusammenbinden. Griechenland
muss nämlich beides können: auf der einen Seite den
Haushalt ohne noch größere soziale Verwerfungen konsolidieren und auf der anderen Seite in die Zukunft investieren. Deswegen wäre es doch sehr klug, zu sagen:
Wir machen ein Umschuldungsprogramm mit dem
ESM. Dann geht nämlich beides. Dann können die Reformen erst einmal greifen. Dann gibt es auch neues Vertrauen in der griechischen Bevölkerung. Dann kann man
auch weitere Reformen ansetzen, weil es wieder Sicherheit gibt, weil dann auch tatsächlich Investitionen gemacht werden können, meine Damen und Herren.
({10})
Ich bin fest überzeugt: Griechenland braucht eine realistische Chance. Investitionen - das kennen wir doch.
Wir können doch nicht so tun, als ob wir nicht wissen,
wie sich das damit verhält. Es ist sechs Jahre her, da hat
die Große Koalition hier unter der Führung von Angela
Merkel kein Problem damit gehabt, 10 Milliarden Euro
für die Abwrackprämie und für das Kurzarbeitergeld lockerzumachen, um der Wirtschaft auf die Sprünge zu
helfen. Wenn Sie jetzt so tun, als sei unsere gute Konjunktur nur mit dem Sparschwein in der Hand gemacht
worden, dann zeugt das von Arroganz und Geschichtsklitterung zugleich. Man muss eben beides machen.
({11})
Meine Damen und Herren, ja, es geht um das europäische Projekt als Ganzes. Wir haben in der Tat noch
andere große Herausforderungen. Wir haben die Flüchtlingsfrage. Es ist gut, dass Sie die Seenotrettung angesprochen haben. Das ist ein sehr wichtiger Teil. Ich hoffe
übrigens auch, dass das nicht wieder aufhört, wenn die
Scheinwerfer aus sind. Aber das wird natürlich nicht reichen. Wir haben hier die Helfer beklatscht, die Menschen gerettet haben. Aber gleichzeitig brauchen wir
endlich eine realistische Lösung. Wir brauchen endlich
sichere Wege nach Europa. Was wir bestimmt nicht
brauchen, sind Auffanglager, weil sie nämlich weder ein
rechtssicheres Verfahren gewährleisten noch dafür sorgen werden, dass weniger Flüchtlinge hierherkommen.
({12})
Das ist eine Chimäre und nichts anderes als eine Scheinlösung.
Ja, es ist und bleibt notwendig, dass Europa gegenüber Russland eine klare gemeinsame Haltung hat. Die
europäische Außenpolitik muss sich eben darauf konzentrieren, dass friedliche Mittel funktionieren; wir dürfen nicht die militärische Option in den Vordergrund
stellen.
Meine Damen und Herren, leider gibt es auch hierzulande nicht wenige, die bereit sind, europäische Werte
für eine populistische Schlagzeile in die weiß-blaue
Tonne zu treten. Die CSU muss endlich damit aufhören,
auf Kosten von Flüchtlingen am rechten Rand Stimmen
sammeln zu wollen.
({13})
Wenn Herr Söder das Grundrecht auf Asyl in Lehrerstellen umrechnet, dann hat er unser Grundgesetz nicht verstanden. Sagen Sie ihm das bitte, und zwar in aller Klarheit, meine Damen und Herren!
({14})
Wenn der Euro scheitert, dann scheitert Europa - ich
wiederhole diesen Satz. Zur Wahrheit gehört auch: Europa ist nicht irgendwo in Brüssel; wir sind es selbst.
Nach 50 Jahren wäre das zum ersten Mal weniger Europa statt mehr. Unabhängig von Mehrheiten und von
Regierungen war eines in diesem Europa immer klar: Es
war nie Verhandlungsmasse. Wir sollten es auch nicht
dazu machen.
Europa war und ist Grundlage für Frieden, für unsere
Freiheit und für unseren Wohlstand. Deswegen mein Appell am Schluss: Hören Sie auf mit dem Pokern! Hören
Sie auf mit der Showdown-Politik! Machen Sie klar: Europa ist so stark wie seine Mitglieder, und zwar wie alle
seine Mitglieder! Machen Sie das in Ihren eigenen Reihen klar! Machen Sie das in der CSU klar, machen Sie
das in der CDU klar, und machen Sie das auch in der
SPD klar! Europa funktioniert nicht, wenn man es in Gewinner und Verlierer spaltet.
({15})
Wir haben jetzt die große Chance, für dieses gemeinsame Europa zu stehen.
Vielen Dank.
({16})
Nächster Redner ist der Kollege Volker Kauder für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Diesen nächsten Gipfel in Europa, zu dem die Bundeskanzlerin gerade gesprochen hat, könnte man als einen
Routinegipfel betrachten und sagen: Es ist einer von denen, die regelmäßig stattfinden. - Aber er findet in einer
Zeit statt, in der es in Europa, wie wir alle spüren, nicht
nur darauf ankommt, einzelne Sachfragen zu klären,
sondern auch darum geht, deutlich zu machen, dass Europa nicht nur ein Projekt für einzelne Aufgaben ist, sondern dass Europa auch etwas ganz Neues geworden ist:
eine großartige Idee, die nun aber auch tragen muss. Da
sehen wir ein paar Herausforderungen, über die auch in
der Debatte nur am Rande gesprochen wurde. Europa
sollte die Nationalstaaten nicht total überwinden, aber es
sollte auch so sein, dass nicht schwerpunktmäßig die Interessen der Nationalstaaten Europa dominieren, liebe
Kolleginnen und Kollegen.
({0})
Es sollte mehr sein, es sollte um mehr gehen als nur um
einzelne Themen der Nationalstaaten.
Deshalb ist es richtig, dass wir sagen: Jawohl, wir
wollen, dass Großbritannien in diesem Europa bleibt und
dass Großbritannien einen Beitrag zu diesem Europa
leistet. - Aber dann müssen wir zur gleichen Zeit auch
sagen: Ihr könnt ja eure nationalen Eigenheiten haben;
aber es darf nicht so sein, dass das in Europa ausschließlich zum Thema wird. Die Summe von nationalen Ei10702
genheiten ergibt nicht das Europa, das wir uns vorstellen, meine sehr verehrten Damen und Herren.
({1})
Wir sind eine Werte- und eine Schicksalsgemeinschaft.
Deshalb muss man bereit sein, auch nationale Interessen
in den Dienst Europas zu stellen.
Damit komme ich jetzt auf ein wichtiges Thema, bei
dem das notwendig ist, nämlich zur Flüchtlingsproblematik. Die Flüchtlingsfrage ist eine der großen menschlichen Herausforderungen unserer Zeit. Herr Gysi, in
diesem Zusammenhang möchte ich nur auf Folgendes
hinweisen: Wenn man über die Flüchtlingsproblematik,
die Probleme im Mittelmeer und diese menschliche Katastrophe insgesamt spricht, dann muss man auch sagen,
dass das, was sich in der Ukraine abspielt, eine mindestens genauso große menschliche Katastrophe ist. Davon
reden Sie aber nicht.
({2})
Dazu, dass Frau Wagenknecht in diesen Tagen sinngemäß gesagt hat, dass es ausschließlich etwas mit den
Amerikanern zu tun habe, wenn Russland nun eine neue
Aufrüstungskampagne beginne, kann ich nur sagen: Einen solchen Quatsch habe ich selten gehört. Es geht um
etwas ganz anderes.
({3})
Ich kann nur sagen: Wer so unkritisch
({4})
über den Machthunger Russlands redet, wie Sie das in
der Linken tun, der wird Russland nur noch mehr dazu
anstacheln, etwas zu tun, und nicht dazu beitragen, dass
sich Russland in dieser Welt an Recht und Gesetz hält.
({5})
Reden wir aber über die Flüchtlingssituation. Es ist
schon notwendig, dass wir uns in Europa darauf verständigen, dass jeder seinen Beitrag leisten muss und dass es
eben nicht nur nach dem Motto „Solange Deutschland
die Flüchtlinge aufnimmt, ist das Problem gelöst“ laufen
kann. Nein, jeder muss seinen Beitrag leisten.
Wir müssen bei der Flüchtlingsproblematik aber auch
die Wirklichkeit sehen. Ich bin einigermaßen überrascht,
dass ich immer wieder höre, ein wichtiger Beitrag zur
Lösung der Flüchtlingsproblematik sei, dass wir Wege
der legalen Zuwanderung und der legalen Einreise nach
Europa schaffen müssen.
({6})
- Tja. - Ich will dazu nur sagen: Glauben Sie, dass die
Probleme gelöst sind, wenn wir 10 000 oder 20 000
Menschen aus Eritrea oder aus dem Libanon oder aus
Libyen auf legale Weise hierherkommen lassen? Ich
sage Ihnen: Wer davon spricht, wir müssten legale Wege
der Zuwanderung schaffen, der muss auch bereit sein,
unserer Bevölkerung zu sagen, dass mindestens 1 bis
2 Millionen Menschen, die jetzt in Libyen an der Küste
leben, nach Deutschland kommen wollen. Das kann dieses Land aber nicht verkraften, um das auch einmal klar
und deutlich zu sagen.
({7})
Das Gerede, legale Wege der Einwanderung lösten
das Problem, ist also völlig falsch. Richtig ist dagegen
natürlich, dass wir den Menschen in ihren Heimatländern Chancen verschaffen müssen. Die Menschen, die in
Libyen leben, überlegen sich doch, ob sie in diesem
Land eine Chance haben oder nicht. Aufgrund dessen,
wie es dort aussieht, kommen sie natürlich richtigerweise zu dem Ergebnis, dass sie dort keine Chance haben. Und da sie nur ein Leben haben, versuchen sie,
dorthin zu gehen, wo sie eine Chance haben.
Deswegen muss man sich doch um dieses Land
Libyen kümmern und kann man nicht sagen, dass man
das alles so laufen lässt. Man muss etwas dafür tun, dass
dort wieder einigermaßen ordentliche Strukturen entstehen,
({8})
und darf nicht nach dem Motto „Wir sorgen dafür, dass
auf legalem Wege alle aus Libyen nach Europa kommen“ verfahren. Das löst weder die Probleme in Libyen
noch bei uns in Europa.
({9})
Genau das ist das Thema. Grundsätzlich, aber auch in
der Flüchtlingsfrage gilt: Politik beginnt mit dem Betrachten der Wirklichkeit und darf nicht auf ideologischen Thesen und Positionen beruhen. Damit lösen wir
null Probleme.
Es muss vielmehr auch thematisiert werden, dass wir
die Schlepperbanden bekämpfen und die Wege, die von
diesen eingeschlagen werden, unterbrechen. Ich kann
keinen Sinn darin sehen, dass wir immer mehr Menschen einen Anreiz geben, aus dem Süden Afrikas durch
die Wüsten in den Norden Afrikas zu kommen. Ein Drittel der Menschen verliert auf diesen Flüchtlingsrouten
ihr Leben. Das ist doch keine Lösung des Problems,
liebe Kolleginnen und Kollegen.
({10})
Deswegen ist es richtig, wenn wir uns in Europa damit
beschäftigen.
Ein weiteres Thema ist - die Bundeskanzlerin hat es
angesprochen -, dass wir in Europa Bedingungen für
wirtschaftliche Entwicklung und Wachstum schaffen
müssen. Wir hatten die Lissabon-Strategie. Leider Gottes haben sich nur wenige daran gehalten: Deutschland
hat sich daran gehalten, Griechenland hat sich nie an die
Lissabon-Strategie gehalten. Da muss ich schon sagen:
Es scheint mir in Europa ein Problem zu sein, dass man
sich zwar immer auf gute Vorschläge einigt, aber wenn
es dann darum geht, sie umzusetzen, werden die Zielvorgaben nicht konsequent verfolgt.
({11})
Dazu kann ich nur sagen: Es muss in Europa der Satz
gelten: Das, was wir vereinbaren, das, was zu einem europäischen Gesetz gemacht wurde, muss auch eingehalten werden, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({12})
Nicht die ständige politische Beteuerung: „Wir werden
es schon irgendwie hinkriegen“, stärkt Europa, sondern
Europa wird nur gestärkt, wenn man sich darauf verlassen kann, dass das gilt, was man vereinbart hat.
Da kommt nun die Nagelprobe mit Griechenland. Sie
haben gerade mehrere während der Rede von Gregor
Gysi spontan angefertigte Plakate hochgehalten,
({13})
auf denen Sie Solidarität mit Griechenland gefordert haben. Ich sage Ihnen: Solidarität - das kann ich nur unterstützen.
({14})
Zugleich muss ich aber auf Folgendes hinweisen: Angesichts der Milliardensummen, die über Rettungsschirme
und über Darlehen an Griechenland gegeben wurden,
kann doch ein vernünftiger Mensch, der noch klar im
Kopf ist, nicht behaupten, dass wir keine Solidarität geübt hätten, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({15})
Ja, es ist richtig, dass jede Regierung zunächst einmal
ihrem eigenen Land und ihren eigenen Wählerinnen und
Wählern verpflichtet ist. Das haben Sie ja gesagt, Herr
Gysi.
({16})
- Da hat er recht. - Da das so ist - dem kann ich ja zustimmen -, würde ich einmal sagen: Was die jetzige
griechische Regierung macht, hat mit der Vertretung der
Interessen der eigenen Bevölkerung null und nichts zu
tun, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({17})
Diese griechische Regierung handelt gegen die Interessen der Bevölkerung.
Es gilt zunächst einmal, den Menschen zu sagen, was
wirklich ist, damit man etwas ändern kann.
({18})
Wir in Deutschland haben nicht die Regel gemacht, dass
die Reeder von der Steuerpflicht befreit werden. Das waren die Griechen. Bis jetzt hat Tsipras an diesem Punkt
nichts geändert. Null hat er an diesem Punkt geändert.
({19})
- Das waren natürlich auch Vertreter unserer Parteien;
das haben wir auch kritisiert. Dafür sind sie bei den
Wahlen ja auch abgestraft worden. Aber ich kann nicht
erkennen, dass Herr Tsipras bis jetzt ein einziges im
Ausland bestehendes Konto gepfändet und das Geld in
die griechischen Staatskassen hätte fließen lassen. Kein
einziges Beispiel gibt es dafür.
({20})
Deswegen sage ich: Zunächst einmal müssen die Griechen ihre eigenen Hausaufgaben machen.
Außerdem finde ich - Thomas Oppermann hat es angesprochen -, dass wir, wenn wir sagen: „Wir wollen
dieses Europa zusammenhalten, und wir wollen deshalb,
dass Griechenland im Euro-Raum bleibt“, dabei auch im
Interesse unseres eigenen Landes und unserer eigenen
Bevölkerung handeln. Aber es gehört viel dazu, dies immer wieder einer Bevölkerung zu sagen, die zu 70 Prozent der Meinung ist, jetzt sei endlich Schluss mit der
Hilfe für Griechenland. Wenn Herr Tsipras seiner Bevölkerung genauso die Wahrheit sagen würde, dann wäre
manches besser. Wir sagen den Menschen: Wir brauchen
eine Lösung mit Griechenland - das hat allerdings Griechenland zu entscheiden -, und wir können diesen EuroRaum nicht so ohne Weiteres auseinanderfallen lassen.
Es ist richtig, das so zu sagen, statt dem Populismus von
irgendwelchen griechischen Randalierern und Demonstranten nachzugeben. Das ist das Thema, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({21})
Davon höre ich relativ wenig.
({22})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich glaube,
dass wir den richtigen Weg gehen. Ich hoffe, dass auch
die Griechen noch zur Vernunft kommen. Der Mensch
ist schließlich vernunftbegabt. Ich hoffe, dass das jetzt
gelingt. Ich sage aber auch: Wir haben wirklich alles,
was möglich ist, angeboten und getan. Jetzt ist Griechenland am Zug, und jetzt muss Griechenland die Bedin10704
gungen einhalten. Europa zerbricht nicht daran, dass wir
verlangen, dass die Regeln eingehalten werden, sondern
Europa kommt in Probleme, wenn jeder glaubt, er könne
tun und lassen, was er will, und meint, den anderen erpressen zu können. Das ist nicht der Weg, der zum Erfolg führt.
({23})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich möchte
noch einen Punkt ansprechen, der auch zu Europa gehört, nämlich den Klimaschutz. Wir in Europa und vor
allem wir in Deutschland sind dabei in einer Vorreiterrolle; wir sind diejenigen, die ein gutes Beispiel geben.
Das ist auch für die Entwicklung in der übrigen Welt von
großer Bedeutung. Das Thema Klimaschutz hat auch etwas mit der wirtschaftlichen Entwicklung beispielsweise
in Entwicklungsländern zu tun. Dass es nicht immer
ganz einfach ist, wirtschaftliche Entwicklung und Klimaschutz zeitgleich voranzubringen, wissen wir. Aber,
Frau Kollegin Göring-Eckardt, ich will Ihnen in aller
Ruhe sagen
({24})
- man könnte sich zwar über einen Satz, den Sie gesagt
haben, aufregen, aber das mache ich jetzt nicht -: Es
geht nicht an, sich hierhinzustellen und die Bundesregierung dafür zu kritisieren, dass sie nicht konsequent an
der Kohleabgabe festhält, aber in einem Bundesland, in
dem man mitregiert, die Kohleförderung zum Maßstab
für wirtschaftliche Entwicklung zu machen. So geht es
beim besten Willen nicht.
({25})
Rot-grüne Regierungen bzw. grün-rote Regierungen
sind manchmal wahnsinnig schnell, wenn es darum geht,
auf Entwicklungen in anderen Ländern zu reagieren.
Dann werden gleich Anträge im Bundesrat eingebracht.
Deswegen gehe ich eigentlich davon aus, dass in der
nächsten Sitzung des Bundesrates ein Antrag aus Nordrhein-Westfalen mit der Forderung vorliegt, die Kohleverstromung sofort zu stoppen, um die Klimaschutzziele
zu erreichen. Ich erwarte einen solchen Antrag von den
Grünen in Nordrhein-Westfalen. Nur dann sind Sie
glaubwürdig. Ansonsten rate ich Ihnen, an diesem Pult
solche Sprüche nicht mehr zu machen.
({26})
Sie wissen doch: Die Wahrheit ist konkret, und wer hohe
moralische Ansprüche an andere stellt, muss sie erst einmal selber erfüllen. Das haben Sie bisher in dieser Frage
nicht getan, um das ganz klar zu sagen.
({27})
Ich will noch einen letzten Punkt ansprechen. Meine
sehr verehrten Damen und Herren, im Zusammenhang
mit unserem Vorhaben, die wirtschaftliche Entwicklung
in Europa zu fördern, macht mir ein Thema Sorge, von
dem ich weiß, Frau Bundeskanzlerin, dass es nicht allein
in Europa gelöst werden kann, von dem aber sehr viel
abhängt. Das ist die zunehmend angespanntere Situation
im Bereich Luftverkehr. Am Flughafen in Stuttgart beispielsweise, wo ich zweimal pro Woche ankomme oder
abfliege, gibt es große Plakate mit Aufschriften wie:
„Stuttgart wird zum Tor der Welt - von Stuttgart aus in
alle Welt!“ - „Fliegen Sie mit Turkish Airlines nach
Istanbul! Wir bringen Sie überallhin“. Wenn es in
Deutschland zum Modell werden sollte, dass wir erst
einmal nach Dubai oder Istanbul fliegen müssen, weil es
erst von dort aus in andere Länder der Welt weitergeht
- in anderen europäischen Ländern sieht es in der Luftverkehrsbranche nicht viel anders aus -, dann ist dies für
das Wachstum in einer Region, in der Außenkontakte
eine große Rolle spielen, ziemlich schlecht. Deswegen
mache ich mir erhebliche Sorgen.
Dazu muss ich sagen - hier haben einige ihren Beitrag zu leisten -: Es kann nicht sein, dass wir in Deutschland ausschließlich die Flughäfen in München und
Frankfurt als große Drehkreuze haben und sonst keinen
anderen Ort. Deswegen bitte ich, sehr darauf zu achten,
dass wir im Luftverkehr nicht genauso abgehängt werden wie in anderen Bereichen. Ich kenne das Wettbewerbsmodell. Wir müssen mit den Betreffenden reden;
denn es kann nicht sein, dass die einen ihre Carrier bis
zum Gehtnichtmehr subventionieren, während wir nicht
mithalten können. Dann muss man mit den Betreffenden
über bestimmte Punkte reden. Ich möchte nur darauf
hinweisen: Europa muss das Thema stabiler Luftverkehr
im Wettbewerb mit anderen ansprechen. Sonst sehe ich
große Probleme für unsere exportorientierte Nation.
Herzlichen Dank.
({28})
Zur direkten Erwiderung erhält jetzt die Kollegin
Wagenknecht nach § 30 unserer Geschäftsordnung das
Wort.
Herr Kauder, wenn Sie mich schon zitieren, muss ich
bitten, dass Sie mich korrekt zitieren, statt mich in billiger Polemik als Rechtfertigerin des russischen Atomprogramms hinzustellen.
Ich habe darauf hingewiesen, dass die russische Aufrüstung im atomaren Bereich auch eine Reaktion darauf
ist, dass die USA angekündigt haben, im Osten Europas
schweres Kriegsgerät zu stationieren. Ich habe zudem
darauf hingewiesen, dass das eine gefährliche Aufrüstungsspirale in Gang setzt.
({0})
Dazu hätte ich heute gerne etwas von Frau Merkel gehört; denn ich glaube, dass es verantwortungslos ist, dass
sich Europa auf diese Weise von den Vereinigten Staaten
in eine weitere sehr gefährliche Eskalation und Konfrontation hineinziehen lässt. Das ist eine unverantwortliche
Politik; denn das gefährdet den Frieden in ganz Europa.
Das war meine Aussage. Das wollte ich noch mal korrekt darstellen.
({1})
Es sind nur Erklärungen zu persönlichen Aussagen
möglich. Es darf kein Debattenbeitrag sein.
({0})
- Richtig, auch keine Plakate.
({1})
Bitte, Herr Kauder.
Herr Präsident, ich versuche es und bitte Sie, danach
zu beurteilen, ob es gelungen ist.
({0})
Nun zu Ihnen, Frau Wagenknecht. Darf ich Ihren Äußerungen entnehmen, dass Sie das neue Atomprogramm
Russlands ablehnen und dagegen sind? Wenn dem so ist,
bin ich schon zufrieden.
({1})
Das ist im Sinne der Geschäftsordnung nicht gelungen, Herr Kauder, dient aber möglicherweise der Klärung der Positionen.
({0})
- Nein, wir verfahren nun nach den Vorschriften unserer
Geschäftsordnung. Was noch an wechselseitigem Klärungsbedarf besteht, kann vielleicht auch bilateral geregelt werden. Wir sind im Übrigen schon weit aus dem
Zeitmaß der vereinbarten Debatte heraus.
({1})
Jetzt hat der Kollege Sarrazin für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Herr Präsident! Jetzt habe ich Pech. Ich wollte eigentlich Frau Merkel ansprechen. Aber Ihr Dialog, Herr
Kauder und Frau Wagenknecht, hat die Kanzlerin offenbar vertrieben.
({0})
Das scheint nicht ganz so spannend gewesen zu sein.
Der Kernsatz der Rede von Frau Merkel war neben
vielen Erwägungen und Erläuterungen: „Wo ein Wille
ist, ist auch ein Weg.“
({1})
Diesen Kernsatz finde ich gar nicht schlecht. Ich glaube
aber, dass man dabei eines nicht vergessen darf, liebe
Frau Merkel in absentia: Wenn man einen Willen hat,
dann muss man den auch glaubwürdig vertreten und
klarmachen, dass man diesen Willen hat. Aber das geht
der Bundesregierung in den letzten Tagen und Wochen
ab. Der Wille ist nicht mehr erkennbar.
({2})
Sie haben vor fünf Jahren bei der ersten großen Griechenland-Debatte hier gesagt: Ohne Deutschland geht es
nicht. - Deswegen kann sich Deutschland keine irrlichternde Regierung leisten, die behauptet, deutsche Familien würden für Griechenland blechen. Das ist einfach
nicht die Wahrheit und unlauter. Das muss aufhören,
Herr Gabriel!
({3})
Herr Kauder, da auch Sie zu dieser Koalition gehören:
Sie haben gesagt, dass die europäischen Gesetze, die wir
beschlossen haben, eingehalten werden müssen. Ich
denke in diesem Zusammenhang an Populismus, an europarechtsfeindliche Politik und daran, dass Deutschland
alle Nachbarn gegen sich aufbringt. Ich denke insbesondere an die Pkw-Maut Ihrer CSU; denn das ist europarechtsfeindliche Politik.
({4})
Tun Sie doch nicht so, als würden sich nur die Griechen
nicht an Regeln halten. Es ist bei allen so. Kehren Sie
vor dem eigenen Haus!
Wissen Sie, was nämlich das Entscheidende ist? Wir
haben ein Problem in Europa mit dem Stil von Politik.
Dieser Stil von Politik ist das Problem. Nicht, dass ich
Frau Merkel nicht zutraue, einen Weg gehen zu wollen,
sondern der Stil ist das Problem, der Stil einer Politik,
die entlang von nationalen Zuschreibungen argumentiert, in der sich eine Vorstellung von Europa manifestiert, dass es geradezu ein neodarwinistischer Kampf von
nationalen Interessen sei, bei dem Staats- und Regierungschefs einander treten und nur noch Nation gegen
Nation etwas durchsetzen muss. Sie versuchen hier, ein
Bild von Europa zu malen, um innenpolitisch fortzukommen. Das aber geht an die Grundlage von Europa,
nämlich verhandeln zu können und zu Kompromissen
fähig zu sein. Dealfähig zu sein, das geht Ihnen ab.
({5})
Wir können uns nicht noch mehr Gipfel leisten, bei
denen nichts herauskommt, weil am Ende das Vertrauen
fehlt. Dass niemand mehr glaubt, dass Angela Merkel
und Alexis Tsipras in der Lage sind, einen Kompromiss
zu finden, ist das Übelste, was der Europäischen Union
überhaupt passieren kann.
({6})
Dabei komme ich auf ein zentrales Versäumnis Ihrer
Politik. Sie versuchen mit diesem Stil, die Legitimationsprobleme zu kaschieren, die diese Politik hat. Der
wahre Grund für diese Legitimationsprobleme ist aber
das zentrale Versäumnis, nicht genügend Mut zu haben,
die Krisenpolitik und das Management von Anfang an
mit einer mutigen Agenda der demokratischen Integration Europas zu verbinden.
({7})
Auf der einen Seite Europa voranzutreiben, mehr europäisches Interesse zu brauchen, auf der anderen Seite
einfach seit fünf Jahren nichts zu liefern, wenn es um die
demokratische Integration geht, das ist das, was die Legitimationsprobleme in Deutschland hervorruft, und
nicht irgendwelche Machofinanzminister aus Athen oder
sonst wo.
({8})
Wir brauchen ein anderes Europa. Da haben wir
Grüne unglaubliche Differenzen zu Ihrem Bild von Europa. Wir wollen nämlich, dass die Europäische Wirtschafts- und Währungsunion durch europäisch handelnde Akteure im europäischen Interesse geleitet wird,
nicht durch ein deutsch-französisches Direktorium, das
allen anderen sagt, wo es langgeht, und immer nur den
besten Deal für sich herausholt.
({9})
Wir finden, man muss Europa zusammenhalten. Wir
wollen, dass die Briten drinbleiben, wir wollen aber
auch, dass die Zentraleuropäer weiterhin auf dem Weg
Richtung Euro gehen. Ihre Vorstellungen von Euro-Zone
und dem Rest setzen den Keil an ein geschlossenes Europa und drohen letztendlich Europa in eine Spaltung zu
treiben. Wir wollen, dass die Gemeinschaftsinstitutionen
innerhalb der Verträge handeln, und nicht irgendwelche
Gipfel im Rahmen von Merkels Unionsmethode, wir
wollen heraus aus den Hinterzimmern, und wir wollen
mehr soziales Europa, ein Thema, Herr Oppermann, das
bei Ihrer Agenda vollkommen untergegangen ist.
({10})
Deswegen möchte ich gerne jemanden zitieren, der
vor drei Jahren in der Bild-Zeitung geschrieben hat:
Aber auch das gehört zu Europa, und das wird sich
auch in Zukunft nicht grundsätzlich ändern: dass
man einander nicht überfordert, sondern miteinander das Machbare gestaltet und mit Ausdauer, Zielstrebigkeit … immer weiter vorangeht.
Diese Sätze schreibe ich Herrn Tsipras und der Linkspartei ins Stammbuch. Aber ich möchte auch, dass Sie, Frau
Merkel und Herr Gabriel, vor dem Maßstab dieser Sätze
von Helmut Kohl noch einmal Ihre aktuelle Politik und
Rhetorik in Deutschland überprüfen.
Vielen Dank.
({11})
Norbert Spinrath ist der nächste Redner für die SPDFraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr geehrte Damen und Herren! Das heutige Finanzministertreffen in Luxemburg, ein denkbarer Sondergipfel
der Staats- und Regierungschefs am Wochenende, der
reguläre Gipfel Ende der nächsten Woche und möglicherweise daraus resultierende Sondersitzungen auch
der Ausschüsse und des Plenums des Bundestages zeigen deutlich auf: Die kommenden Tage sind entscheidend nicht nur für Griechenland, die kommenden Tage
sind auch entscheidend für das Projekt Europa. Es geht
um dieses einzigartige Projekt von Frieden, Freiheit und
Solidarität, das uns seit mehr als 60 Jahren eint.
Da braucht eben nicht nur Griechenland Unterstützung; es braucht insgesamt eine tragfähige Lösung. Wir
unterstützen Sie, Frau Bundeskanzlerin, in Ihrem Ziel,
Griechenland in der Euro-Zone zu halten. Dazu muss es
aber auch nicht nur unsere Unterstützung geben, dazu
müssen wir nicht nur Brücken bauen, sondern dazu muss
sich eben auch die nicht mehr ganz so neue politische
Führung Griechenlands zu ihrer Verantwortung bekennen.
({0})
Völlig inakzeptabel sind verbale Attacken mit aggressiver Rhetorik und Verunglimpfungen der Akteure. Es
ist zu hoffen, dass das irgendwie gearteter starker Tobak
ist, der eigentlich für die Galerie, für den heimischen Gebrauch in Griechenland bestimmt ist. Es macht die Sache
natürlich auch nicht wirklich besser, dass auch in unserem eigenen Hause gelegentlich grobschlächtige Äußerungen, die auf Kosten anderer die eigene Klientel befriedigen sollen, getan werden. Gleiche politische
Mechanismen gibt es leider eben hier und auch anderenorts. Aber ich sage auch ganz eindeutig - man achte auf
meine Blickrichtung -: Wir brauchen jetzt keine Pöbeleien, wir brauchen jetzt keine geschäftsordnungswidrigen Aktionen, sondern wir brauchen Besonnenheit und
einen kühlen Kopf, um eine Lösung zu finden; denn zu
viel steht auf dem Spiel.
({1})
Es steht zu viel auf dem Spiel für Griechenland; denn
eine Zahlungsunfähigkeit würde kaum übersehbare Folgen haben. Mindestens kurz- und mittelfristig wären die
wirtschaftliche und die soziale Lage in Griechenland desolat. Es steht zu viel auf dem Spiel für die Geberländer
selbst; denn sie wären von Zahlungsausfall betroffen.
Das würde deutliche Einschläge in den Staatshaushalten
hinterlassen. Es steht zu viel auf dem Spiel für die Zukunft der Europäischen Union; denn wenn sich an diesem Beispiel zeigt, dass Integrationsschritte umkehrbar
sind, dann ist das ganze Projekt fundamental infrage gestellt.
Zugegeben: Die Krisenbewältigungsmechanismen
der EU der letzten Jahre waren nicht ohne Fehler. Zu
einseitig waren die austeritären Auflagen. Zu wenig
wurden die Folgen für die ganz normale Bevölkerung,
für Arbeitnehmer, für Arbeitslose und für Rentner, gesehen. Zu wenig wurden Programme für Wachstum und
Beschäftigung begünstigt. Doch man muss eben auch
zur Kenntnis nehmen, dass die neue Kommission unter
Präsident Juncker und das Europäische Parlament mit
seinem Präsidenten Martin Schulz in den letzten Monaten viele Brücken gebaut und viele Kompromisslösungen gesucht haben. Endlich sind Investitionen, sind
Wachstum und Arbeitsplätze wieder ein Thema in Europa und gelten nicht als ein fernes Versprechen, sondern
als Ergebnis einer ausgewogenen Wirtschaftspolitik, die
Angebot und Nachfrage im Blick hält.
({2})
Die griechische Regierung darf diese Entwicklung
nicht ignorieren. Was heute scheinbar selbstverständliche Gemeinplätze sind, war vor einem halben Jahr noch
undenkbar. Es entsteht aber leider der Eindruck, dass es
in Griechenland nicht mehr um die Sache, sondern nur
noch ums Rechtbehalten geht. Ich aber glaube: Die Menschen in Griechenland, die Menschen, die betroffen sind,
die fühlen, die erleiden müssen, wollen nicht recht behalten, sondern sie brauchen endlich eine Lösung. Wir
müssen davon ausgehen, dass sie diese Aussicht auf
Normalität, diese Aussicht auf Stabilität und diese Aussicht auf Lebenschancen für sich wollen. Noch können
alle Beteiligten gestärkt aus der Herausforderung hervorgehen. Die kommenden Tage sind entscheidend für
Griechenland und für seine Menschen, aber eben auch
für das Projekt Europa.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ein weiteres zentrales Thema des kommenden EU-Gipfels ist die Flüchtlingsfrage. Die Lösungen und die Lasten dürfen nicht
nur wenigen Mitgliedstaaten überlassen bleiben. Wir
brauchen endlich einen umfassenden, einen ganzheitlichen Ansatz in der Flüchtlingsfrage. Die Mehrzahl der in
der nächsten Woche anwesenden Staats- und Regierungschefs muss endlich ihre Verweigerungshaltung und
ihre Ausflüchte aufgeben. Ich erhoffe mir von diesem
Gipfel ein wirklich deutliches, klares Signal des Europäischen Rates für eine gemeinsame und für eine solidarische EU-Flüchtlingspolitik.
Im Rahmen einer umfassenden EU-Migrationspolitik
müssen Krisenprävention, Konfliktbewältigung und
partnerschaftliche Zusammenarbeit mit den Herkunftsund Transitländern anerkannt, aber endlich auch praktiziert werden. Wir brauchen einen solidarischen Verteilungsschlüssel für Flüchtlinge. Ich erwarte, dass die am
23. April 2015 auf dem Sondergipfel beschlossenen
Maßnahmen nun auch endlich vorangetrieben werden.
Wir müssen uns alle in Europa unserer gemeinsamen
Verantwortung stellen. Deshalb begrüße ich die Vorschläge der Kommission, Griechenland und Italien kurzfristig durch die Umsiedlung von Asylbewerbern zu entlasten. Richtig bleibt es aber auch, dass die Kommission
eine grundsätzliche Diskussion über Alternativen zur
Dublin-Verordnung angestoßen hat. Italien, Spanien,
Malta und Griechenland werden mit ihrer Zuständigkeit
nach Dublin klar überfordert.
Die Seenotrettung ist weiterhin konsequent erforderlich. Ich denke, an dieser Stelle ist es angezeigt, den Besatzungen der Schiffe, die derzeit im Mittelmeer operieren, einmal hohe Anerkennung für ihre dort geleistete
Arbeit auszusprechen.
({3})
Ich habe eben von diesen vier Ländern mit ihren Seegrenzen gesprochen. Wir müssen feststellen: Die Flüchtlinge wollen gar nicht unbedingt dorthin, sie wollen auch
nicht unbedingt nach Deutschland, nach Österreich, nach
Schweden - das sind die Staaten, die die größten Zahlen
verzeichnen -; sie wollen nach Europa, und deshalb
müssen wir in Europa gemeinsam handeln.
Dazu gilt es, Fluchtursachen zu beseitigen, legale und
sichere Zugangswege zu schaffen und uns insgesamt in
Europa mit Blick auf humanitäre Hilfe, Übergangshilfe
vor Ort und gemeinsame Entwicklungszusammenarbeit
sehr viel mehr zu engagieren.
Herr Kollege.
Nur funktionierende, nur stabile Staaten und auskömmliche Lebenssituationen geben den Menschen sichere Lebensgrundlagen und können so die Entstehung
von Flüchtlingsströmen verhindern.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich glaube, der
kommende Gipfel ist entscheidend für eine Reihe von
grundsätzlichen Fragen. Ich wünsche Ihnen, Frau Bundeskanzlerin, und Ihren Kolleginnen und Kollegen gute
Herr Kollege.
- gute Entscheidungen für ein starkes, für ein solidarisches und für ein soziales Europa.
({0})
Gerda Hasselfeldt ist die nächste Rednerin für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor
zwei Wochen war die Welt zu Gast in Bayern. Der G-7Gipfel in Elmau war ein voller Erfolg, ein Erfolg für uns
alle: für Bayern, für Deutschland, ja, für die ganze Welt.
({0})
Die Signale, die von Elmau ausgingen, waren eindeutig
und klar: Erstens. Die führenden Industriestaaten halten
zusammen. Zweitens. Sie verständigen sich gemeinsam
auf ehrgeizige Klimaziele. Drittens. Sie kämpfen gemeinsam gegen Epidemien und Hunger. Viertens. Die
klare Botschaft an
Die Annexionspolitik, die Expansionspolitik Russlands ist völkerrechtswidrig. Die Sanktionen können nur dann beendet
werden, wenn Russland aufhört, die Ukraine zu destabilisieren, meine Damen und Herren.
({0})
Dieser Erfolg von Elmau ist ein persönlicher Erfolg
unserer Bundeskanzlerin. Ich möchte ihr dazu herzlich
gratulieren und ihr für diesen Einsatz danken.
({1})
Es ist in der Debatte zu Recht deutlich geworden, dass
ein wesentlicher Schwerpunkt des Gipfels in den nächsten Tagen die Migrations- und Flüchtlingspolitik sein
wird. Dieses Problem bewegt die Menschen. Wir haben
die größte Flüchtlingswelle der Nachkriegszeit. Die
Menschen fragen zu Recht: Was ist eure Antwort? Dabei
gilt sicher: Die Antwort kann nicht nur eine nationale
sein, sondern die Antwort muss eine europäische sein.
Es ist unser gemeinsames Anliegen, in Europa diese Herausforderung zu meistern.
Die Aufgaben sind so schwierig, dass sie nicht mit einer Maßnahme allein erledigt werden können. Es ist
Vielfältiges notwendig. Als Erstes gilt es, alles zu tun,
damit die Menschen in ihrer Heimat bleiben können, das
heißt die Fluchtursachen zu bekämpfen. Ich begrüße außerordentlich das große Engagement von Entwicklungshilfeminister Gerd Müller, der unermüdlich unterwegs
ist, um für die Flüchtlinge Perspektiven aufzubauen und
zu schaffen, damit sie in ihrer Heimat bleiben können.
({2})
Es ist auch der richtige Ansatz, dass sich die Europäische Union im Herbst dieses Jahres zu einem EUAfrika-Gipfel in Malta trifft. Denn nur dann, wenn gemeinsam besprochen wird, wo Hilfe möglich ist, kann es
gelingen, instabile Regionen zu stabilisieren. Das muss
dann auch gemacht werden.
Daneben ist es aber auch notwendig, bilateral alle Gelegenheiten zu nutzen, instabile Regionen zu stabilisieren: persönliche Kontakte oder Gespräche, die sich bei
Besuchen ergeben, sowohl in den betreffenden Ländern
als auch dann, wenn ausländische Gäste bei uns sind,
beispielsweise als der ägyptische Präsident hier war.
Auch das ist notwendig, um das Ziel zu erreichen, instabile Regionen zu stabilisieren. Wir wollen die Möglichkeit schaffen, dass Menschen in ihrer Heimat verbleiben
können; denn wir in Europa können nicht die Probleme
der ganzen Welt lösen.
({3})
Ein zweiter Ansatz, dem wir uns widmen müssen, ist
die Rettung der Menschen durch die Intensivierung der
Seenotrettung und die Bekämpfung der Schlepperbanden. Ich begrüße, dass die finanzielle Unterstützung der
Mittelmeeroperationen, die von Frontex durchgeführt
werden, erhöht wurde. Ich danke ausdrücklich den Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr, die in den letzten Wochen durch ihren Einsatz fast 4 000 Menschen gerettet haben.
({4})
Daneben müssen wir auch über so manche neue, vielleicht noch nicht erprobte, noch nicht ganz zu Ende diskutierte Lösungsmöglichkeit nachdenken, wie beispielsweise Asylzentren, entweder in Nordafrika oder in einer
anderen Region. Ich weiß auch, dass da noch viele Fragen offen, viele Fragen zu klären sind. Aber die Herausforderung ist so groß, dass wir nicht einfach Ideen und
Vorschläge, die sinnvoll erscheinen, auf die Seite wischen können, nur weil noch Probleme und Fragen zu
klären sind. Das ist etwas, womit wir uns meines Erachtens zu beschäftigen haben; denn wir in Europa können
nicht alle Probleme Afrikas lösen. Vielmehr müssen wir
alle Lösungsmöglichkeiten auch wirklich ausschöpfen.
({5})
Die dritte Aufgabe liegt darin, dass wir an einer fairen
und gerechten Lastenverteilung in Europa zu arbeiten
haben. Es ist eben nicht fair und nicht gerecht, wenn
etwa drei Viertel der Asylbewerber in Europa von nur
fünf Staaten aufgenommen werden. Das hat mit Solidarität in Europa nichts zu tun.
({6})
Nun habe ich schon Verständnis dafür, dass die Interessen aufgrund der unterschiedlichen Möglichkeiten in
den einzelnen Nationalstaaten verschieden sind. Deshalb
begrüße ich, dass der Bundesinnenminister gemeinsam
mit seinem französischen Kollegen nicht einfach nur
eine Forderung aufstellt, sondern die Bedenken anderer
Staaten auch ernst nimmt, Vorschläge macht und an konkreten Lösungen mitarbeitet. Ich hoffe sehr, dass diese
Lösungsansätze zu einem Ergebnis führen, das eine gewisse Differenzierung und systematische Erarbeitung
des Problems mit beinhaltet.
Nun weiß auch ich, dass all diese Probleme nicht nur
europäisch gelöst werden können, sondern dass wir dazu
auch national unsere Hausaufgaben machen müssen.
Dazu dient unter anderem auch das Gespräch der Bundeskanzlerin mit den Ministerpräsidenten auf der Ministerpräsidentenkonferenz am heutigen Nachmittag, die
gut vorbereitet ist. Da geht es nicht nur um das Geld,
sondern auch - das ist ganz wesentlich - um strukturelle
Änderungen. Es wird damit deutlich: Dieses Problem ist
so groß, dass eine Verantwortungsgemeinschaft von
Bund, Ländern und Gemeinden gefragt ist. Dieser Verantwortungsgemeinschaft, meine Damen und Herren,
sind wir uns im Bund auch bewusst und haben entspreGerda Hasselfeldt
chende Vorschläge sowohl im finanziellen als auch im
strukturellen Bereich unterbreitet.
({7})
Ich möchte bei dieser Gelegenheit all denen sehr
herzlich danken, die in unseren Städten und Gemeinden
ehrenamtlich arbeiten und die Arbeit der Behörden und
der Politik unterstützen. Das ist ein großes Engagement,
das gar nicht hoch genug gewürdigt werden kann.
({8})
Ein weiterer Schwerpunkt des Gipfels wird auch die
Zukunft und die weitere Gestaltung der Währungsunion
sein. Es ist richtig, was die Bundeskanzlerin in ihrer Regierungserklärung gesagt hat: dass wir auf der einen
Seite eine gemeinsame Währung und eine gemeinsame
Geldpolitik haben, dass wir auf der anderen Seite in der
Gestaltung der Wirtschaftspolitik aber eine weitgehende
Souveränität in breitem Umfang haben. Das führt dazu,
dass man immer wieder koordinieren muss, dass immer
wieder austariert werden muss, weil wir alle miteinander
durch eine nicht koordinierte Wirtschaftspolitik in Europa unter Umständen Nachteile haben oder Schaden
nehmen. Deshalb ist es auch richtig, dass man sich bei
diesem Gipfel über eine intensivere Koordinierung der
Wirtschaftspolitik in Europa Gedanken macht. Mindestens genauso wichtig aber ist, dass der Geist der Europäischen Währungsunion nicht verloren geht. Dieser
Geist heißt: Vereinbarungen werden getroffen, und die
Vereinbarungen müssen auch eingehalten werden. - Das
gilt es sich immer wieder bewusst zu machen und zu unterstreichen.
({9})
Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, zeigt sich insbesondere auch bei der aktuellen Situation in Griechenland. Das, was die derzeitige griechische Regierung veranstaltet, schadet den Menschen in Griechenland,
schadet dem Euro und schadet auch Europa. Dessen
muss sich diese Regierung bewusst sein.
({10})
Es wurde in der Debatte schon deutlich, dass die
Grundphilosophie, die in den letzten Jahren die Politik
der Währungsunion getragen hat - nämlich Solidarität
auf der einen Seite, verbunden mit Solidität auf der anderen Seite -, erfolgreich war, dass sie aber auch für
Griechenland in der Zukunft gelten muss. Nur dann wird
es auch eine Möglichkeit geben, dass sich die Situation
für die Menschen in Griechenland verbessert. Da kann
es nicht darum gehen, mit Frechheit und Erpressung zu
arbeiten, sondern da kann es nur darum gehen, miteinander verantwortungsvoll umzugehen, Solidarität nicht
überzustrapazieren und auch die entsprechende Solidität
unter Beweis zu stellen.
({11})
Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und
Kollegen, in Flüchtlingsfragen, in der Frage der Sicherheitspolitik oder auch der Wirtschaftspolitik wird uns
immer deutlicher bewusst - ich habe den Eindruck, auch
den Menschen im Land -, dass die großen Herausforderungen unserer Tage nicht nur mit nationalen Maßnahmen gelöst werden können, sondern dass sie zunehmend
einer globalen, mindestens aber europäischen Lösung
bedürfen. Dass dies bei den unterschiedlichen nationalen
Interessen, bei den unterschiedlichen nationalen Kompetenzen nicht immer ganz einfach ist, erleben wir seit Jahren - ich möchte fast sagen: seit Jahrzehnten. Die Bundeskanzlerin hat in all diesen Jahren bei schwierigsten
Diskussionen in Europa und darüber hinaus immer großes Geschick bewiesen. Ich wünsche ihr auch weiterhin
eine glückliche Hand.
({12})
Christian Petry ist der nächste Redner für die SPDFraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Europa als
Stabilitätsgarant, als Garant für Frieden, für Wohlstand,
für Sicherheit - das ist unser Ziel für Europa. Das Jahr
2014 und das erste Halbjahr 2015 sehen aber ganz anders aus. Die Krise in der Ukraine, der Krieg in der
Ukraine, der Krieg in Syrien und im Irak, das Flüchtlingsdrama, das uns täglich beschäftigt, sind gravierende
Ereignisse. Dann kommt noch die Debatte über Griechenland hinzu. Ich sage bewusst „hinzu“; denn im Verhältnis zu den zuerst genannten Ereignissen ist sie ungleich vernachlässigbar. Wenn es um Leben und Tod
geht, dann ist das wesentlich bedeutender und hat mehr
unsere Beachtung verdient; wobei das Thema Griechenland selbstverständlich auch stark gewichtet werden
muss.
({0})
Aktuell überlagert das Thema Griechenland viele andere Themen, auch in der heutigen Debatte. Ich möchte
daher nicht viel zu Griechenland sagen, sondern andere
Themen zum Schwerpunkt meiner Ausführungen machen. Für mich ist es allerdings selbstverständlich, dass
das griechische Volk zu unterstützen ist. Die Menschen
in Griechenland müssen im Zentrum unserer Betrachtung stehen, nicht wechselnde Regierungen oder Regierungen, die keine Verhandlungsbereitschaft zeigen oder
sie vermissen lassen.
Griechenland gehört eindeutig zu Europa und zur
Euro-Zone. Andere Szenarien, wie sie hier genannt wurden, sind zwar kein „Weltuntergang“, wie das manchmal
beschrieben wird - der sieht anders aus -, aber sie haben
dramatische Folgen insbesondere für das griechische
Volk. Deswegen lautet mein Appell: Es muss bis zum
Schluss verhandelt werden, um eine Lösung im Sinne
des griechischen Volkes zu finden, damit Griechenland
in der Euro-Zone bleiben kann.
({1})
Eben haben wir eine Aktion der Grünen, Entschuldigung, der Linken gesehen; die Grünen haben so etwas
auch schon öfter gemacht: Transparente hochzuhalten.
({2})
- Ja, die waren besser gemalt, Herr Sarrazin. - Ein kleiner Tipp: Wenn ihr Transparente hochhaltet, dann haltet
sie nicht vor das Gesicht, sonst werden die Bilder nicht
so schön. Ihr müsst sie neben das Gesicht halten.
({3})
Das muss noch etwas geübt werden.
Wie gesagt: Griechenland gehört zur Euro-Zone.
In Bezug auf die Kriege in der Ukraine, in Syrien und
im Irak setzen wir auf die diplomatische Stärke der Bundesregierung, insbesondere von Außenminister FrankWalter Steinmeier. Damit sind die Ideen der europäischen Sicherheitsarchitektur angesprochen.
Ich möchte zwei weitere Themen, Finanzthemen des
EU-Gipfels bzw. der Euro-Gruppe bzw. des Ecofin, hinzufügen. Thomas Oppermann hat es genannt: Es gibt einen Paradigmenwechsel in der Politik der EU. Martin
Schulz und Jean-Claude Juncker haben ihn eingeläutet.
Die Austerität steht nicht mehr im Vordergrund. Beschäftigung und Wachstum, das soziale Europa - das
sind die Ziele, die wir in Europa brauchen. Diese Politik
gilt es zu unterstützen. Auch auf den drei genannten Gipfeln, die jetzt stattfinden, sind sie ein zentrales Thema.
Das ist die Politik, die wir Sozialdemokraten uns für Europa, für ein soziales Europa vorstellen.
({4})
Die Investitionsoffensive wurde genannt, ebenso ein
einheitlicher Binnenmarkt für das Kapital. Frau Merkel,
Sie haben das Europäische Semester und die Bedeutung
der länderspezifischen Empfehlungen genannt. Das ist
natürlich sehr wichtig. Ich schließe daraus, dass die
Schwerpunkte, die in den Empfehlungen genannt werden, Bestandteil deutscher Politik sein werden.
Es geht um die Beseitigung des makroökonomischen
Ungleichgewichts. Die Instrumentarien hierfür sind:
mehr Investitionen, weitere Stärkung der Finanzkraft,
insbesondere der kommunalen Finanzkraft, höhere
Löhne, gleiche Bezahlung. Dies sind die Ziele, die aus
den länderspezifischen Empfehlungen hervorgehen.
Diese kann ich nur unterstützen. Ich freue mich, dass
dies im Sinne Ihrer Politik, so wie Sie sie heute vorgetragen haben, ist; so habe ich Sie zumindest interpretiert.
Das sind auch die Ziele der Sozialdemokratie. Diese
sollten wir auf den anstehenden Gipfeln vertreten und
unterstützen.
({5})
Geldpolitik und Geldmengenpolitik neu organisieren auch dies waren Schlagwörter der Regierungserklärung,
und dies hat auch Thomas Oppermann zu Recht hier genannt. Die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes, dass das OMT-Programm - der Aktien- und Anleihenankauf, insbesondere der Anleihenankauf - nicht
gegen europäisches Recht verstößt, war richtig. Schon
die bloße Ankündigung 2012 hat den Markt nachhaltig
beruhigt.
Genannt wurden auch: die weitere Entwicklung in der
Euro-Zone, das Gabriel-Macron-Papier, die Reform der
Wirtschafts- und Währungsunion, gleiche Ausgangsbedingungen in allen EU-Staaten, Steuerharmonisierung
bei der Unternehmensbesteuerung, ein eigenes Budget
im Euro-Raum. Dies ist eine Forderung, die wir unterstützen. Sie muss auch eine weitere Konsequenz haben
- darauf möchte ich zum Schluss eingehen -: Sie muss
in den europäischen Instrumentarien verankert werden.
Es ist eben gesagt worden, dass zunächst im Rahmen
der bestehenden Verträge - Frau Merkel, Sie haben dies
so ausgedrückt - die weiteren Schritte gegangen werden.
Das „Zunächst“ bedeutet: Die Verträge können auch
weiterentwickelt werden. Hier ist die politische Forderung, dass wir einen gemeinsamen Kapitalmarkt und
eine gemeinsame Geld- und Währungspolitik brauchen.
Es müssen die Europäische Zentralbank und die europäischen Einrichtungen in diesem Sinne gestärkt werden,
damit sie, was wir brauchen, zu einer echten Europäischen Zentralbank mit Lenkungswirkung für den EuroRaum werden.
Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.
Hierzu braucht es die Bereitschaft, die europäischen
Verträge weiterzuentwickeln.
Friede, Humanität für Flüchtlinge, Hilfe für Griechenland, neue Finanzarchitektur, das sind große Herausforderungen für die kommenden Gipfel und für die
kommende Zeit. Der Einsatz für die große Vision eines
sozialen Europas lohnt sich aber.
In diesem Sinne: Glückauf!
({0})
Vielen Dank. - Als nächster Redner hat Gunther
Krichbaum von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die heutige Debatte zum Europäischen Rat zeigt eines:
Wir beschäftigen uns schwerpunktmäßig mit einem
Thema, das so eigentlich gar nicht auf der Tagesordnung
steht, nämlich mit Griechenland. Das zeigt aber eben
auch, wie sehr die Krise in und um Griechenland unsere
Energien beansprucht, die wir dann auf andere Themen,
die tatsächlich auf der Tagesordnung stehen, gar nicht
mehr verwenden können, seien es die dramatischen Ereignisse in der Ukraine, sei es vor allem auch die dramatische Situation der Flüchtlinge.
Gleichermaßen: Die Lage ist, wie sie ist. Deswegen
möchte auch ich, zu Beginn jedenfalls, auf die Lage in
Griechenland eingehen. Wichtig scheint mir dabei, eines
zu unterstreichen: Die Politik zur Stabilisierung des Euro
und damit die Politik unserer Bundeskanzlerin Angela
Merkel war und ist erfolgreich.
({0})
Wir dürfen nicht vergessen, wo wir eigentlich herkamen:
Wir hatten 2009 und 2010 die seit dem Zweiten Weltkrieg schwerste Finanz- und Wirtschaftskrise in Europa,
ja weltweit. Etliche Länder gerieten in Schieflage. Im
Falle der Insolvenz eines dieser Länder hätte ein verheerender Dominoeffekt gedroht, den wir wahrscheinlich
kaum mehr hätten beherrschen können.
Seit dieser Zeit haben wir eine Stabilisierungsarchitektur in der Euro-Zone geschaffen, die sich sehen lassen
kann. Wir haben die EFSF begründet, die dann später
durch den ESM abgelöst wurde. Wir haben das Europäische Semester mit seinen länderspezifischen Empfehlungen aus der Taufe gehoben. Wir haben eine Bankenunion
geschaffen. Wir holten im Prinzip das im Zeitraffer nach,
was wir vernünftigerweise damals mit dem Vertrag von
Maastricht schon hätten machen müssen, sprich: mit der
Einführung des Euro.
Da gebührt mein persönlicher Dank ganz besonders
unserem Bundesfinanzminister Herrn Dr. Schäuble, der
sich in mitunter sehr zähen Verhandlungen erfolgreich
für diese Strategie eingesetzt hat.
({1})
Die damals drohenden Ansteckungsgefahren jedenfalls
sind heute weitestgehend gebannt.
Und nun zu Griechenland. Griechenland wird an diesem Erfolg nichts ändern - so oder so. Denn zu einer
Rettung gehören mindestens zwei: der eine, der rettet,
und der andere, der sich auch retten lassen muss. Bitter
ist, dass das Land grundsätzlich auf einem guten Weg
war, bis es die Neuwahl in Griechenland gab und damit
eine linksradikale und rechtspopulistische Regierung ans
Ruder kam. Das ist selten von Erfolg gekrönt.
In Griechenland gab es drei Quartale hintereinander
mit Wirtschaftswachstum, und es gab wieder einen sogenannten Primärüberschuss. Das heißt, dass die Einnahmen - unter Außerachtlassung der Zinsen - die Ausgaben überwogen. All das darf man nicht vergessen. Dieser
Weg wurde durch Vereinbarungen zwischen der griechischen Regierung und der damals bestehenden Troika
eingeleitet. Diese Vereinbarungen hatten Erfolg.
({2})
Das Aufkündigen dieser Vereinbarungen führte nicht nur
innerhalb der Euro-Zone zu einem Vertrauensverlust,
sondern auch dann, als es darum ging, ausländische Investoren zu bewegen, in das Land zu kommen. Gerade
das hat dazu geführt, dass die Arbeitslosigkeit durch das
Ausbleiben von Investitionen angestiegen ist.
Soll tatsächlich eine erfolgreiche Rettung erfolgen
- was wir uns hier alle, glaube ich, parteiübergreifend
wünschen -, dann muss die Regierung in Athen eine
180-Grad-Wende vollziehen. Wir sind hier weder im Kasino noch auf einem Basar. Deswegen muss auch die
linksradikale Regierung in Athen folgende zentrale Fragen beantworten: Ist Griechenland bereit, seine hohen
Staatsausgaben zu reduzieren? Ist das Land bereit, ein
funktionierendes Steuersystem - insbesondere auch, was
den Steuervollzug angeht - auf die Beine zu stellen?
Herr Kollege Poß und ich hatten schon im Europaausschuss dazu eine Diskussion. Die steuerlichen Außenstände Griechenlands belaufen sich auf eine Summe von
circa 68 bis 69 Milliarden Euro. Das Ganze wird noch
durch ein Gesetz der Regierung von Herrn Tsipras im
März befeuert, wonach eine Steuerstundung erfolgte aber unter Außerachtlassung einer Obergrenze; die
Grenze der in Rede stehenden 1 Million Euro wurde aufgegeben. Die Folge war, dass dieses Gesetz der linksradikalen Regierung die Oligarchen in Athen - genau
diejenigen, welche diese Regierung gemäß ihren Wahlversprechungen eigentlich zur Kasse bitten wollte - mit
begünstigte.
Deswegen gilt - das dürfen Sie zu meiner Linken ruhig einmal zur Kenntnis nehmen - eines: Wenn es schon
Steueraußenstände in einer solchen Dimension gibt,
dann gehört es zur Verantwortung der Regierung eines
Landes, zunächst die eigenen Staatsbürger zur Kasse zu
bitten bzw. sie für entsprechende Einnahmen des Staates
mit heranzuziehen. Das gehört zur Wahrheit dazu.
({3})
Ich könnte jetzt weitermachen und über die Rentenreform sprechen. Leider ist Herr Gysi jetzt nicht mehr zugegen. Ihm würde ein Artikel aus der gestrigen FAZ weiterhelfen, in dem alles minutiös beschrieben wird. Denn
es gibt in Griechenland nicht nur die staatliche Rente; es
gibt auch die Zusatzrenten. Deswegen liegt die Rente in
diesem Land kaufkraftbereinigt im Durchschnitt bei
11 240 Euro jährlich - und damit tatsächlich weit über
dem, was in osteuropäischen Ländern gezahlt wird. Genau das macht die Sache so schwierig.
Der griechische Finanzminister wurde bei einem
Euro-Gruppen-Treffen von seinem slowakischen Kollegen an die Seite genommen, und ihm wurde vom Slowaken gesagt: Bitte, komm doch mal wieder zurück in die
Spur. Bei mir sind die Durchschnittsrenten niedriger als
in deinem Land.
({4})
Daraufhin sagt ihm Herr Varoufakis ins Gesicht: Wenn
die Deinigen damit auskommen können, die Meinigen
tun es nicht. - Mit dieser Art von Arroganz, mit dieser
Attitüde gewinnen die Griechen die Sympathien in Europa mit Sicherheit nicht!
({5})
Bei all den notwendigen Strukturreformen - zum Beispiel bei der Privatisierung - hat Europa bzw. die Europäische Union viel Solidarität bewiesen. Wir hatten
bereits im Jahre 2012 die Entsendung von 120 Finanzbeamten angeboten. Jetzt, im Jahr 2015, haben wir noch
einmal weitere 500 angeboten, die beim Aufbau einer eigenen Steuerverwaltung in Griechenland mithelfen
könnten. Frankreich hat Hilfe angeboten. Die Niederlande haben im Bereich der Gesundheitsversorgung angeboten, ein funktionierendes Gesundheitssystem auf
die Beine zu stellen. All das geschah im Rahmen der
technischen Hilfe. Es ist schade, dass diese Hilfe bis zum
heutigen Tag nicht angenommen wird und tatsächlich
auch das Deutsch-Griechische Jugendwerk davon betroffen ist.
({6})
Ich möchte ein Letztes sagen: Die Zeit ist noch nicht
abgelaufen, aber wir werden auch Zeit - egal welche Ergebnisse seitens der Institutionen erzielt werden - für
unsere parlamentarischen Beratungen benötigen. Ich
darf nur in Erinnerung rufen, dass die nächsten regulären
Fraktionssitzungen erst am 30. Juni stattfinden. Jeder
weiß, was der 30. Juni, 24 Uhr, für ein Datum ist. Man
muss nur an den IWF denken.
Insofern: Wir wünschen uns, dass Griechenland Mitglied der Euro-Zone bleibt; denn keiner glaube, dass das
Gegenteil verheißungsvoller und besser wäre - weder
für Deutschland noch für Europa.
Herzlichen Dank.
({7})
Vielen Dank. - Als nächster Redner hat Rainer
Arnold von der SPD-Fraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Natürlich steht die zugespitzte Situation um Griechenland im Fokus der heutigen Debatte, die wir in Vorbereitung auf den Europäischen Rat abhalten. Aber es gibt
auch die anderen wichtigen Themen, die nicht untergehen dürfen. Ich bin froh, dass die Kanzlerin eines angesprochen hat, das uns auch auf den Nägeln brennt, nämlich die Vertiefung der Gemeinsamen Sicherheits- und
Verteidigungspolitik.
Nächste Woche wird eine neue Europäische Sicherheitsstrategie aufs Gleis gesetzt. Das ist überfällig. Die
letzte stammt aus dem Jahr 2003. Damals sprachen wir
noch nicht von hybrider Kriegführung, von Attacken in
Computersystemen und davon, dass Terroristen ganze
Staaten gründen wollen. Wir hätten uns alle nicht vorstellen können - vielleicht auch nicht wollen -, dass mitten in Europa mit Gewalt Grenzen verändert werden.
An der Stelle will ich den Linken sagen, die die russischen Atomraketen als Antwort auf amerikanische bezeichnet haben: Liebe Kolleginnen und Kollegen, bleiben Sie wenigstens bei der Wahrheit! Russland hat
angekündigt, die 40 neuen Atomraketen im Verlauf dieses Jahres zu installieren. Das heißt, Herr Putin hat den
Auftrag dafür schon lange vor der Ukraine-Krise gegeben.
({0})
Nehmen Sie bitte auch zur Kenntnis: Europa hat die Militärausgaben nach Ende des Kalten Krieges über viele
Jahre abgesenkt; Russland hat die Militärausgaben in
den letzten Jahren verdoppelt. Bitte verwechseln Sie
nicht Ursache und Wirkung!
({1})
Wir Sozialdemokraten verfolgen schon lange die Vision europäischer Streitkräfte. Wer Visionen hat, soll
nicht zum Arzt gehen, auch wenn der Altkanzler das einmal meinte. Vielmehr braucht Politik zukunftsweisende,
groß angelegte Pläne und Ideen. Natürlich wissen wir:
Die Umsetzung einer Vision ist weit entfernt - ich werde
es in diesem Fall nicht mehr erleben -, sie liegt vielleicht
auch im Nebel; aber wir brauchen eine Vision, damit unsere konkreten Schritte in den nächsten Jahren immer
auf dieses Ziel gerichtet sind und wir damit in die richtige Richtung gehen.
Wir merken, wenn wir mit europäischen Partnern reden, insbesondere nach der Rede von Herrn Juncker, in
der er das Ziel europäischer Streitkräfte formuliert hat,
dass wir aufpassen müssen, uns nicht aufs Glatteis zu begeben, indem wir nämlich die ganze Zeit über die große
Vision reden und damit alle Bedenkenträger der Welt
dazu einladen, uns zu erklären, dass diese Vision nicht
kommt; denn dadurch würden wir die Chance verspielen, in den nächsten Jahren die konkreten, machbaren
Schritte einzuleiten. Es geht um die kleinen, um die vielen Schritte, und am Ende kann eine europäische Armee
stehen.
Es ist ein guter und ein schlechter Zeitpunkt zugleich,
die Idee einer europäischen Armee zu diskutieren:
Es ist ein schlechter Zeitpunkt, weil die Krise in der
Ukraine natürlich dazu geführt hat, dass sich die Vereinigten Staaten wieder stärker in Europa engagieren. Das
könnte den einen oder anderen Partner, insbesondere in
Osteuropa, dazu verleiten, zu glauben: Wir brauchen
keine Vertiefung der europäischen Sicherheitspolitik.
Amerika steht ja bereit. - Damit springt man viel zu
kurz; denn Amerika bleibt bei der langfristigen Strategie, sich selbst mehr im asiatisch-pazifischen Raum zu
engagieren und von uns Europäern - wie ich meine, zu
Recht - zu erwarten, dass wir selbst für die Sicherheit in
Europa und an den Rändern Europas mehr leisten und
mit den Sicherheitsproblemen in der Region besser fertigwerden. Dies wird so bleiben.
Gut ist die Situation für die Diskussion der Idee einer
europäischen Armee deshalb, weil wir alle ein gemeinsames Problem haben: Die Kassen sind leer. Wenn wir
es nicht schaffen, eine vertiefte europäische Sicherheitspolitik zu etablieren, werden wir auch in Zukunft für
1,5 Millionen Soldaten - das ist eine ganze Menge - in
28 nationalen Armeen in Europa knapp 200 Milliarden
Euro Jahr für Jahr ausgeben. Und wir bekommen nicht
wirklich viel dafür. Auch wir als großes Land in Europa
haben - das ist uns in den letzten Monaten sehr deutlich
aufgezeigt worden - erhebliche Fähigkeitslücken. Das
hat nichts damit zu tun, das wir zu wenig Geld zur Verfügung haben, sondern das hat vor allen Dingen etwas damit zu tun, dass wir in Europa unser Geld nicht effizient
und zielführend ausgeben. Wir haben fünf Programme
für Kampfflugzeuge, 20 Programme für gepanzerte Fahrzeuge usw. Jedes Land trägt hohe Entwicklungskosten
und produziert am Ende angesichts der Veränderungen
in der Welt nur noch kleine Stückzahlen.
In der Politik gibt es immer Alternativen. Eine Alternative zu einer Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik lautet aber, Geld zum Fenster hinauszuwerfen, indem man Steuergelder nicht effizient einsetzt.
Eine andere Alternative ist, dass sich Nationalstaaten
von der Gestaltung der Welt international abmelden. Ein
Land allein wird kein Gehör finden. Dazu brauchen wir
Europa, und Europa muss über entsprechende Fähigkeiten verfügen.
Eine andere Alternative lautet übrigens auch: Wenn
Europa nicht leistungsfähiger wird, wird in Krisensituationen ganz schnell der Ruf nach der NATO laut. Damit
würden wir die eigentliche Chance und Stärke Europas
verspielen. Die NATO verfügt über viele militärische
Mittel. Sie kann Einsätze beschicken und führen. Aber
Europa verfügt über den ganzen Baukasten der Krisenbewältigung. Dieser Baukasten enthält viel mehr als militärische Macht: Präventionsmaßnahmen, Diplomatie,
faire wirtschaftliche Zusammenarbeit, Erfahrungen hinsichtlich der Entwicklung von Rechtsstaatlichkeit und
vieles andere mehr. Dieser gesamte Baukasten, dieser
vernetzte Ansatz ist bei großen Krisen in der Welt sehr
wichtig.
Alles in allem: Wir wünschen uns, dass Deutschland
Motor dieser europäischen Entwicklung bleibt bzw.
wird. Wir wünschen uns, dass wir in Europa als verlässlicher Partner angesehen werden und die Europäische
Union auch eine europäische Verteidigungsunion wird.
Recht herzlichen Dank.
({2})
Vielen Dank. - Als letzter Redner in dieser Debatte
spricht Eckhardt Rehberg von der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir haben am 27. Februar 2015 einem Antrag des Bundesministeriums der Finanzen zugestimmt, dessen Basis
die Erklärung der Euro-Gruppe vom 20. Februar 2015
war. Ich glaube, wir stehen in diesen Tagen vor einer
Richtungsentscheidung. Es stellt sich nämlich die Frage,
ob Regeln, die man in Europa miteinander vereinbart
hat, gelten oder nicht. Zugestimmt haben im Februar
über 500 Mitglieder des Deutschen Bundestages. Das
sage ich insbesondere in Richtung der Linken und der
Grünen, weil der Kollege Sarrazin gesagt hat: Wo ein
Wille ist, da ist auch ein Weg.
({0})
- Ja, auch sie hat das gesagt. - Um einen gemeinsamen
Weg zu finden, müssen wenigstens zwei diesen Willen
haben.
({1})
Ich möchte aus der Erklärung der Euro-Gruppe vom
20. Februar 2015 zitieren:
Die griechische Regierung hat sich ausdrücklich zu
einem breiteren und tieferen Reformprozess verpflichtet mit dem Ziel, dauerhaft bessere Wachstums- und Beschäftigungschancen zu schaffen, für
einen stabilen und krisenfesten Finanzsektor zu sorgen und die soziale Fairness zu verbessern.
Sie sagt weiter zu: keine „Zurücknahme von bisherigen
Maßnahmen sowie einseitige Änderungen an den Wirtschafts- und Strukturreformen“. - Liebe Kolleginnen
und Kollegen, das ist die Basis, über die wir reden. Die
Basis ist das laufende Programm aus dem Jahr 2012. Ich
finde, es ist dann die Frage - da hat Thomas Oppermann
hundertprozentig recht, und deswegen ist das für mich
auch eine Richtungsentscheidung -, ob sich Zocken und
Pokern durchsetzen, ob sich unseriöse Politik durchsetzt,
ob ein einziges Land die restliche Europäische Union bestimmt. Das ist die zentrale Frage, vor der wir in den
nächsten Tagen stehen.
({2})
Kollege Sarrazin, man muss diese Frage stellen: Was
hat die griechische Regierung aus Linksradikalen und
Rechtspopulisten selbst getan?
({3})
1,7 Milliarden Euro Steuern wurden in den ersten fünf
Monaten weniger eingenommen. Herr Varoufakis sagte
so locker in einem Interview mit einer deutschen Tageszeitung: Steuersünder kann ich nicht verfolgen, weil ich
keine funktionierende Justiz habe, und bei der Steuerver10714
waltung habe ich keine Leute, weil ich die nicht bezahlen kann. - Aber gleichzeitig einen öffentlichen Fernsehsender zu eröffnen und 2 000 linke Syriza-Anhänger zu
befriedigen, das ist keine seriöse Politik.
({4})
Ich kann in Griechenland auch keinen Weg erkennen,
wie man zu Wachstum und Beschäftigung kommen will.
Herr Kollege Rehberg, lassen Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Sarrazin zu?
Ja.
Herr Kollege Rehberg, wie Sie wissen, habe ich von
Anfang an mit meiner Fraktion allen Griechenland-Paketen hier im Bundestag zugestimmt, und zwar bewusst
und in dem Wissen, dass es auch mit Konditionalitäten
verbunden ist.
({0})
Ich habe auch von Anfang an diese griechische Regierung kritisiert. Beim Amtsantritt dieser Regierung habe
ich eine Pressemitteilung herausgegeben, die besagt hat,
dass es ein Tritt ins Gesicht aller Europäer ist, dass dort
mit Rechtspopulisten koaliert wird.
Aber nehmen Sie bitte zur Kenntnis, dass nicht alle,
die Kritik an der griechischen Regierung haben, automatisch richtig finden müssen, was die Bundesregierung
hier macht, und dass dieses Spiel von Zockerei und „Wir
gewinnen, die verlieren“ oder anders herum auch zum
Stil von Frau Merkel zu werden droht. Ich bin der Meinung, Frau Merkel, dass der Stil von manchen machistischen Finanzministern zu Ihnen gar nicht passt.
({1})
Ich sehe im Moment die Gefahr, dass dieses Spiel, egal
ob es aus Athen, aus Brüssel oder anderswo gespielt
wird, auch zu einer Leitlinie Ihrer Politik in Europa wird.
Ihre Redebeiträge, Herr Rehberg, in denen Sie das
hier so betonen, sehe ich genau in diesem Zusammenhang. Sie betonen Regeln und Selbstverständlichkeiten.
Ich habe keinen Zweifel daran, dass es am Ende einen
Deal mit Griechenland geben wird, der sich innerhalb
dieser Regeln bewegt. So doof sind die in Athen doch
auch nicht. Also tun Sie nicht so, als stände das noch infrage.
({2})
Herr Sarrazin, wenn Sie eine Antwort von mir erwarten, dann bleiben Sie bitte stehen. - Da Sie ja am 27. Februar zugestimmt haben
(Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Im Gegensatz zu manch anderen! - Gegenruf der Abg. Sabine Weiss [Wesel I] ({0})
und eben betont haben, dass Sie für Konditionierungen
eintreten: Die Basis ist das laufende Programm, das
Ende 2012 vereinbart worden ist. Im Dezember letzten
Jahres, noch unter der alten Regierung, hat man die Erwartung haben können, dass die Konditionen erfüllt werden, zum Beispiel beim Primärüberschuss, aber auch in
anderen Bereichen. Griechenland war kurz davor, an die
Kapitalmärkte zu gehen.
Wenn Sie uns jetzt vorwerfen, dass wir nicht kompromissbereit sind, dann möchte ich Sie darauf hinweisen,
dass auf Initiative des französischen Präsidenten und der
deutschen Bundeskanzlerin am 1. Juni die Troika ein
Angebot gemacht hat. Herr Juncker hat am 3. Juni auf
Basis dieses Angebots, das deutlich unterhalb des laufenden Programms war, verhandelt; ich will jetzt nicht
auf Details eingehen. Jean-Claude Juncker und Martin
Schulz sind hier schon oft genannt worden; Jean-Claude
Juncker ist wirklich ein Europäer, ein Mann, der viel
Verständnis für Griechenland hat. Er hat sich mit dem
griechischen Ministerpräsidenten am Mittwoch, dem
3. Juni, auf Basis dieses Aide-Mémoires zusammengesetzt. Nachdem sie auseinandergegangen sind, hat
Tsipras am Freitag im griechischen Parlament die EUKommission, die EZB, den IWF, letztlich ganz Europa
beschimpft. Das ist kein sauberer, kein fairer Umgang
miteinander, Herr Kollege Sarrazin.
({1})
Es ist keine einseitige, sondern eine beidseitige Geschichte. Ich bin der Meinung, dass Europa, dass
Deutschland, dass Frankreich Griechenland in den letzten Tagen und Wochen sehr, sehr weit entgegengekommen sind. Da gibt es keine Defizite, ganz im Gegenteil.
({2})
Wenn hier jemand wie die Linken Schilder hochhält,
auf denen „Solidarität mit Griechenland“ steht, dann
muss man sich vielleicht einmal in andere Parlamente hineinversetzen: in die der Slowakei, Sloweniens, Lettlands, Estlands, Litauens.
({3})
- Ja, es kommt deswegen, weil eine Arroganz der Griechen gegenüber diesen Ländern zum Tragen kommt;
Kollege Krichbaum ist darauf eingegangen. Das ist ja
belegt. Das heißt, die Griechen müssen auch einmal auf
Länder in Europa, die etwas geleistet haben, die aber
heute noch ein niedrigeres Wohlstandsniveau haben,
Rücksicht nehmen.
Man muss auch auf Länder wie Spanien, Portugal,
Irland und Zypern, die sich in einem mühsamen Prozess
aus den Reformprogrammen herausgearbeitet haben und
heute weitestgehend auf eigenen Beinen stehen können,
Rücksicht nehmen. Es ist doch ein Erfolg der Politik der
letzten Jahre, wenn Portugal über 14 Milliarden Euro
umschulden bzw. umschichten kann.
({4})
Deswegen widerspreche ich vielen Kolleginnen und
Kollegen auch in meiner Fraktion, die schon in der letzten Legislaturperiode gesagt haben: Wir fahren mit Europa einen falschen Kurs. - Nein, Spanien, Portugal,
Irland und Zypern haben gezeigt, dass der richtige Kurs
verfolgt wurde. Dieser Kurs konnte deswegen erfolgreich sein, weil diese Länder bereit waren, die Regeln
einzuhalten, und sich angestrengt haben. Spanien ist
heute in Erwartung eines Wachstums von über 3 Prozent.
({5})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich war mit dem
Kollegen Brinkhaus vor einigen Wochen in Griechenland. Wir haben dort mit Vertretern unserer Schwesterpartei und mit Vertretern von Syriza geredet. Was mich
persönlich tief betroffen gemacht hat: Thema waren ein
Schuldenschnitt und die Forderung „Gebt uns noch mehr
Geld!“ - Förderung des Mittelstands, Forschung, Entwicklung, Innovation, Wachstum und Beschäftigung waren nicht einmal Thema; diese Aspekte mussten erst der
Kollege Brinkhaus und ich ansprechen, auch bei Herrn
Dragasakis, dem Vizepremier. Es ging auch nie um die
Frage: Wie kommen wir an europäische Regionalmittel
heran? Im Rahmen des Europäischen Sozialfonds werden in den nächsten Jahren über 20 Milliarden Euro für
Griechenland bereitgestellt; das war aber überhaupt
nicht Thema.
Was mich im Gespräch bei Herrn Dragasakis am
meisten betroffen gemacht hat: Es waren zwar fünf,
sechs junge Leute dabei; sie waren gut ausgebildet,
zweisprachig, und einige von ihnen haben in Italien,
Deutschland oder Großbritannien studiert. Aber über die
Jugend in Griechenland hat sich niemand unserer Gesprächspartner, egal von welcher Partei, auch nur ansatzweise Gedanken gemacht. Deswegen sage ich: Es geht
um eine Richtungsentscheidung. All denen, die heute
Solidarität mit Griechenland gefordert haben, gerade den
Linken, sage ich: Wir haben als Europäer genug Solidarität mit Griechenland geübt. Jetzt haben die Griechen,
hat die griechische Regierung die Bringschuld.
Herzlichen Dank.
({6})
Vielen Dank. - Liebe Kolleginnen und Kollegen, damit schließe ich diese Debatte.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache
18/5229. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Niemand.
Damit ist der Entschließungsantrag mit den Stimmen der
Koalition und des Bündnisses 90/Die Grünen gegen die
Stimmen der Fraktion Die Linke abgelehnt worden.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 a auf:
- Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Anhebung des Grundfreibetrags, des
Kinderfreibetrags, des Kindergeldes und Kinderzuschlags
Drucksachen 18/4649, 18/5011
Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({0})
Drucksache 18/5244
- Bericht des Haushaltsausschusses ({1})
gemäß § 96 der Geschäftsordnung
Drucksache 18/5245
Hierzu liegen Änderungsantrage der Fraktion Die
Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor.
Über den Änderungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen werden wir später namentlich abstimmen.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 60 Minuten vorgesehen. - Ich höre dazu
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner in dieser Debatte spricht für die Bundesregierung der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Michael Meister. - Sie
haben das Wort.
({2})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Wir entscheiden heute im Deutschen Bundestag
über die Entlastung der Bürgerinnen und Bürger um
mehr als 5 Milliarden Euro pro Jahr. Das ist sehr wohl
ein riesiger Entlastungsbetrag, obgleich wir im Haushalt
den Ausgleich und die schwarze Null weiter aufrechterhalten wollen. Wir stellen dabei die Entlastung der Familien in Deutschland in den Mittelpunkt. Familien sind
die Keimzelle unserer Gesellschaft, und deshalb bedürfen sie der besonderen Unterstützung und Förderung.
({0})
Daneben bauen wir die Wirkung der kalten Progression
ab. Ich glaube, es ist richtig, dass wir die Inflationswirkungen auf den Steuertarif an die Bürger in unserem
Lande zurückgeben.
({1})
Was sieht der vorliegende Gesetzentwurf vor? Der
steuerliche Grundfreibetrag wird von 8 354 Euro auf am
Ende 8 652 Euro angehoben, und der Kinderfreibetrag
erhöht sich von 4 368 Euro auf 4 608 Euro. Das Kindergeld wird im gleichen Verhältnis wie der Kinderfreibetrag angehoben. Davon profitieren in Deutschland
16 Millionen Kinder. Ich glaube, das ist ein richtiger Ansatz, um die Kinder in unserem Lande zu fördern und
besserzustellen.
({2})
Wir wollen zudem dafür sorgen, dass möglichst viele
Kinder in diesem Land in einer Umgebung aufwachsen,
in der ihre Familien nicht auf soziale Transferleistungen
angewiesen sind. Uns geht es nicht darum, möglichst
viele Transferleistungen zu gewähren, sondern darum,
Kinder dadurch besserzustellen, dass sie aufwachsen
können, ohne auf soziale Transferleistungen angewiesen
zu sein.
({3})
Deshalb werden wir auch den Kinderzuschlag für Geringverdiener um 20 Euro monatlich auf 160 Euro anheben.
({4})
Die Familienleistungen waren bereits Gegenstand des
Regierungsentwurfs; sie haben an der gesamten Summe
von 5,4 Milliarden Euro pro Jahr einen Anteil von
3,7 Milliarden Euro. Dieses Geld kommt im Wesentlichen Familien mit kleinen und mittleren Einkommen zugute. Auch das ist aus meiner Sicht eine richtige Zielrichtung und Prioritätensetzung.
Eine weitere Besserstellung haben wir im Verfahren
für die Alleinerziehenden beschlossen. Der jährliche
Entlastungsbetrag für das erste Kind wird um 600 Euro
auf jetzt 1 908 Euro erhöht. Damit sind wir einem
Wunsch der Koalitionsfraktionen nachgekommen. Diese
Entlastung wird bereits für das laufende Jahr gewährt
werden. Für jedes weitere Kind kommt ein Zuschlag von
240 Euro hinzu.
Meine Damen und Herren, die Inflationsraten in 2014
und 2015 betragen insgesamt rund 1,5 Prozent. Wir haben uns entschlossen, die Tarifeckwerte im Einkommensteuertarif um diesen Inflationswert nach rechts zu
verschieben, um so dafür zu sorgen, dass die Inflationswirkung dieser beiden Jahre im Einkommensteuertarif
kompensiert wird. Das führt zu einer Entlastung von gut
1,4 Milliarden Euro. Ich will allerdings deutlich machen,
dass die Entlastung von der kalten Progression auch bei
niedrigen Inflationsraten eine Daueraufgabe ist. Deshalb
wird die Bundesregierung nach wie vor regelmäßig über
die Auswirkungen der Inflation auf den Einkommensteuertarif berichten und diese Auswirkungen darstellen.
Danach gilt es, aus diesem Steuerprogressionsbericht
den Handlungsbedarf diskretionär abzuleiten und die
sich daraus ergebenden notwendigen Entscheidungen zu
treffen.
({5})
Die Bundesregierung wird den Auftrag, den der Finanzausschuss nach den Beratungen im Bericht des Finanzausschusses formuliert hat, ernst nehmen und auch in
Zukunft gemäß diesem Auftrag handeln.
({6})
Analog zum Grundfreibetrag wird auch der Unterhaltshöchstbetrag erhöht. Hiermit wird sichergestellt,
dass die Zahlung von Unterhaltsleistungen steuerlich berücksichtigt werden kann.
Die rückwirkende Anhebung des Kindergeldes für
2015 wird nicht auf Sozialleistungen oder den zivilrechtlichen Kindesunterhalt angerechnet. Das ist zum einen
eine einmalige Besserstellung der Kinder, für die Sozialleistungen gewährt werden. Zum anderen ist das aber
auch ein wesentlicher Beitrag zur Vermeidung von Bürokratie in diesem Lande, weil so nicht alle bereits erstellten Bescheide und Anträge neu bearbeitet werden müssen. Ich glaube, es ist richtig, dass wir an dieser Stelle
auf unnötige Bürokratie verzichten.
({7})
Im Sinne der Bürokratievermeidung haben wir auch
entschieden, dass die Berücksichtigung des Grundfreibetrages bei der Lohnabrechnung für Dezember 2015 erfolgt. Damit vermeiden wir, dass in den Unternehmen
alle Lohnabrechnungen, die seit Januar erstellt worden
sind, korrigiert werden müssen und bei den Unternehmen ein riesiger Verwaltungsaufwand entsteht. Ich
glaube, mit dem Ansatz, den veränderten Grundfreibetrag in der Lohnabrechnung für Dezember zu berücksichtigen, haben wir eine Lösung gefunden, die der
Administration der Unternehmen entgegenkommt.
Ich hoffe, dass wir am Ende dieser Debatte in der namentlichen Abstimmung eine breite Unterstützung für
die Förderung der Familien und zur Bekämpfung der
kalten Progression bekommen und dass auch die Kollegen im Bundesrat die Idee dieses Gesetzentwurfs unterstützen und ihn gemeinschaftlich mit uns auf den Weg
bringen, sodass das Gesetz möglichst bald im Bundesgesetzblatt steht und den Menschen in diesem Land zugutekommen kann.
({8})
Vielen Dank. - Als nächster Redner spricht Richard
Pitterle von der Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Dr. Meister!
Lange habe ich überlegt, wie ich es Ihnen innerhalb von
vier Minuten sagen soll: Ich finde Ihr Sich-auf-die
Schulter-Klopfen und Ihr Selbstlob alles andere als angebracht.
({0})
Ich werde Ihnen anhand von drei Beispielen erklären,
warum.
Erstens. Sie wollen den Grundfreibetrag und den Kinderfreibetrag erhöhen. Das sind die Beträge, die jährlich
zur Sicherung des Existenzminimums von der Steuer
verschont bleiben. Der Grundfreibetrag soll dieses Jahr
auf 8 472 Euro und nächstes Jahr auf 8 652 Euro angehoben werden. Der Kinderfreibetrag soll dieses Jahr auf
7 152 Euro und nächstes Jahr auf 7 248 Euro steigen.
Meine Damen und Herren von der Bundesregierung,
Herr Dr. Meister, ich bitte Sie: Sie setzen gerade einmal
das um, was Ihnen durch unser Grundgesetz ohnehin
vorgeschrieben ist, indem Sie die Beträge auf das im
jüngsten Existenzminimumbericht geforderte Niveau anheben.
({1})
Das reicht jedoch längst nicht aus. Mehrere Sachverständige haben darauf hingewiesen, dass die Berechnung des
Existenzminimums Mängel aufweist und der tatsächliche Bedarf deutlich höher liegen dürfte.
({2})
Die Linke fordert daher eine deutlich stärkere Anhebung
des Grundfreibetrags auf mindestens 9 300 Euro.
Zweitens. Mit Ihrem Gesetz erhöhen Sie zwar neben
dem Kinderfreibetrag auch das Kindergeld und den Kinderzuschlag. Sie bleiben damit jedoch bei einer höchst
unterschiedlichen Förderung der Kinder in diesem Land.
Durch die Anhebung des Kinderfreibetrags wird ein
Kind aus einer wohlhabenden Familie mit bis zu
114 Euro pro Jahr bedacht. Für ein Kind aus einer Familie mit einem mittleren Einkommen gibt es nur noch
72 Euro mehr Kindergeld im Jahr. Familien mit ALG-IIBezug hingegen bekommen nichts. Meine Damen und
Herren von der Regierungskoalition, Sie müssen sich an
dieser Stelle fragen, warum Sie Kinder aus wohlhabenden Familien weiter bevorzugen, während die Ärmsten
leer ausgehen.
({3})
Mit Ihrer Politik wird die Kinderarmut nicht bekämpft,
sondern fortgeschrieben. Das finde ich erbärmlich.
({4})
Drittens. Auf den letzten Metern haben Sie noch
schnell den Ausgleich der in den Jahren 2014 und 2015
entstandenen sogenannten kalten Progression in Ihrem
Gesetzentwurf untergebracht. Aber was Sie hier als
große Entlastung der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler
inszenieren, hat für die Bezieher unterer und mittlerer
Einkommen nur einen Placeboeffekt, mehr nicht.
({5})
Im Schnitt können sich diese einen Kaffee mehr im Monat leisten. Je mehr man jedoch verdient, desto höher
fällt die Entlastung aus. Dabei sind es gerade die Bezieher unterer Einkommen, die die Belastungen der kalten
Progression zu spüren bekommen. Durch Ihre Politik für
die Wohlhabenden bleibt das Ganze dazu noch ohne Gegenfinanzierung. Ich frage mich: Wo bleibt da die
Stimme der SPD?
({6})
Die SPD hat doch immer verlangt, dass ein Ausgleich
der kalten Progression durch eine Erhöhung des Spitzensteuersatzes gegenfinanziert wird. Das ist nach wie vor
vernünftig. Daher haben wir einen Änderungsantrag eingereicht, mit dem diese Schieflage korrigiert werden
soll, indem die Großverdiener für die Entlastung der Bezieher kleinerer und mittlerer Einkommen stärker zur
Kasse gebeten werden, weil nur dies dem Leistungsprinzip entspricht und ein Stückchen Steuergerechtigkeit
schafft.
Meine Damen und Herren, wir werden nicht gegen
die Heraufsetzung der Freibeträge stimmen, auch wenn
wir uns deutlich mehr gewünscht hätten. Aber wegen Ihrer sozial unausgewogenen Vorschläge zur Vermeidung
der kalten Progression können wir auch nicht zustimmen. Mehr als eine Enthaltung von uns haben Sie für Ihren Gesetzentwurf nicht verdient.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({7})
Vielen Dank. - Als nächste Rednerin hat für die Bundesregierung die Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Manuela Schwesig, das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren Abgeordnete! Heute ist ein guter Tag für Familien; denn wir bringen ein milliardenschweres Entlastungspaket für Familien auf den Weg. Das ist eine gute
Nachricht für alle Familien in Deutschland.
({0})
Klar geht immer mehr. Aber am Ende steht heute die
Entscheidung über die Frage: Möchte man, dass Familien steuerlich entlastet werden, dass Familien, die wenig
Einkommen haben, Zuschläge bekommen, dass das Kindergeld steigt, dass Alleinerziehende besser unterstützt
werden und dass hart arbeitende Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer mit der Abschaffung der kalten Progression endlich leistungsgerechter entlohnt werden? Wenn
man all das will, dann kann man dazu Ja sagen, und
wenn man das nicht will, dann kann man Nein sagen.
Aber eine Enthaltung finde ich relativ feige.
({1})
Natürlich würde dieses Familienpaket alleine nicht
reichen; das ist klar. Aber die moderne Familienpolitik
dieser Bundesregierung besteht aus einem Dreiklang:
Wir bauen in Deutschland Kitas und Ganztagsschulen
aus, wir sorgen für mehr Zeit für Familien, und wir sor10718
gen für mehr Geld. Diese drei Punkte gehören zusammen. Wir haben bereits mit vielen Millionen Euro ein
neues Kitagesetz auf den Weg gebracht. Wir haben mit
100 Millionen Euro zum 1. Juli das neue Elterngeld Plus
auf den Weg gebracht. Jetzt kommen 5 Milliarden Euro
hinzu, von denen vor allem Familien profitieren. Das ist
die Gesamtoffensive dieser Regierung für Familien.
({2})
Die Besonderheit ist, dass wir das alles für die Familien stemmen und auch dafür sorgen, dass alle Familienformen davon profitieren, ohne neue Schulden zu machen, die die Kinder und Enkel belasten. Das ist der
vierte entscheidende Punkt für die Familien.
({3})
Unsere Kinder und Enkel sollen eine gute Perspektive
haben und aktuell Unterstützung bekommen.
({4})
Die Generationengerechtigkeit gehört zur Familienpolitik.
Mir ist wichtig, deutlich zu machen, dass das, was wir
heute vorhaben, bei allen Kindern und auch bei allen Familienformen ankommt.
({5})
Vor kurzem hat mich ein User auf Twitter gefragt, ob ich
mich eigentlich auch für die normale Familie einsetze.
Daraufhin habe ich ihn gefragt: „Was verstehen Sie unter
normaler Familie?“ Das musste alles unter 140 Zeichen
bleiben, aber es hat funktioniert. Er antwortete: „Wir, die
verheiratet sind und Kinder erziehen.“ - Weil das auch
eine aktuelle Debatte ist, möchte ich an dieser Stelle sagen: Ich bin Familienministerin für alle Familienmodelle
in diesem Land.
({6})
Ich persönlich habe mich für die Ehe entschieden und
bin damit glücklich. Aber das ist für mich nicht Maßstab
für alle Familien. Wichtig ist vielmehr, dass wir Familien mit Infrastruktur, mit Zeit füreinander, aber auch mit
Geldleistungen unterstützen. Das gilt für Paare mit Kindern mit oder ohne Trauschein, für Alleinerziehende und
Patchwork- und Regenbogenfamilien. Wir sollten allen
Familien unseren Respekt zugutekommen lassen, und
das geschieht durch unser Familienpaket.
({7})
Wir sorgen vor allem dafür, dass, wie es die Verfassung vorschreibt, der Freibetrag und das Kindergeld angehoben werden. Man kann immer mehr fordern. Je
mehr, desto besser für die Familien, gar keine Frage.
Aber ich wundere mich, dass manche unterschätzen, wie
wichtig 72 Euro im Jahr für eine Familie sind. Eine Verkäuferin hat mich letztens gefragt, wann die Kindergelderhöhung kommt. Ich habe sie gefragt, ob ihr die 6 Euro
im Monat bzw. die 72 Euro im Jahr perspektivisch etwas
bringen. Darauf sagte sie: Klar, damit bezahle ich den
Fahrschein für mein Kind zur Schule. - Ich bitte wirklich darum, dass jeder Euro für die Familien wertgeschätzt wird; denn es gibt viele Familien in unserem
Land, die auf jeden einzelnen Euro angewiesen sind.
({8})
Wir müssen vor allem die Familien unterstützen, in
denen Mutter und Vater jeden Tag aus dem Haus gehen
und hart arbeiten, aber der Kinderzuschlag nicht reicht,
um aus dem Bezug von Sozialleistungen herauszukommen. Es kann nicht sein, dass in unserem Land Eltern
fleißig arbeiten und am Ende von Hartz IV leben müssen. Deshalb haben wir den Mindestlohn eingeführt, und
deshalb heben wir auch den Kinderzuschlag an.
({9})
Ich sage ganz ehrlich und freimütig: Mir ist die Anhebung des Kinderzuschlages wichtiger als die Anhebung
des Kinderfreibetrages; denn das ist eine ganz konkrete
Maßnahme zur Bekämpfung der Kinderarmut.
({10})
Es ist schon komisch, dass die Linke für den Freibetrag
wirbt. Es geht nämlich nicht darum, zum Beispiel die
Familienministerin mit ihrem Sohn besser steuerlich zu
entlasten, sondern darum, dass diejenigen, die auch hart
arbeiten, aber wenig in der Tasche haben, besser finanziell unterstützt werden. Das machen wir mit dem Kinderzuschlag.
({11})
Ich freue mich, dass wir uns gemeinsam entschieden
haben, den Kinderzuschlag zu erhöhen. Wir lösen nicht
nur das Versprechen aus dem Koalitionsvertrag ein, den
Entlastungsbetrag für Alleinerziehende anzuheben, sondern gehen über unsere Versprechen hinaus und heben
zusätzlich den Kinderzuschlag an. Das ist ein starkes
und gutes Zeichen für die Bekämpfung der Kinderarmut
in unserem Land.
Letzter Punkt, die Steuerentlastung für Alleinerziehende. Ich möchte mich ganz herzlich bei den Koalitionsfraktionen dafür bedanken, dass sie meinen
Vorschlag aufgenommen haben, diesen Punkt im Familienpaket zu berücksichtigen. Alleinerziehende Mütter
und Väter stemmen viel. Ich habe mich am Wochenende
mit 40 alleinerziehenden Müttern und Vätern getroffen.
Diese haben mir durch die Bank gesagt: Wir wollen
nicht zu denjenigen gehören, über die immer gesagt
wird, dass sie zu Hause sitzen und arm sind und dass
sich der Staat um sie kümmern muss. Diese Mütter und
Väter wollen ihr Leben selbst in die Hand nehmen. Dafür brauchen sie gute Kitas und Ganztagsschulen. Aber
dann dürfen sie, wenn sie arbeiten, steuerlich nicht
schlechtergestellt werden als Ehepaare. Deshalb freue
ich mich, dass wir nach elf Jahren Stillstand endlich die
Steuerentlastung für Alleinerziehende verbessern. HerzBundesministerin Manuela Schwesig
lichen Dank an die Koalitionsfraktionen für die Unterstützung!
({12})
Ja, wir haben an dieser Stelle um die Finanzierung gerungen. Das gehört einfach zum Geschäft dazu. Man
kann sich mit dem Finanzminister durchaus einmal heftig streiten. Hauptsache, man kann am Schluss noch zusammen einen Kaffee trinken. Wichtig ist, dass das Geld
ankommt und dass die Finanzierung aus Steuermehreinnahmen und Mitteln erfolgt, die beim Familienministerium nicht abfließen. Die Schwarzmalerei, die die Grünen in der ersten Lesung betrieben haben, als sie
behauptet haben, wir würden dann bei den Familien an
anderen Stellen kürzen, trifft nicht zu. Das, was den Familien zugutekommt, gibt es on top.
({13})
Ich will das noch einmal betonen: Wichtig ist, dass
wir mit den Familienleistungen die Kinder erreichen sowie Familien, Müttern und Vätern, die Ja zu Kindern sagen, den Rücken stärken. Das ist das Ziel unseres Familienpakets. Es bettet sich ein in die Gesamtstrategie
unserer modernen Familienpolitik, die zum Ziel hat,
Zeit, Geld und Infrastruktur für Familien zur Verfügung
zu stellen. Ich bin froh, dass dieses Paket pünktlich zu
den Sommerferien kommt, sodass es in der einen oder
anderen Familie zu guter Laune führt.
Vielen Dank.
({14})
Vielen Dank. - Als nächste Rednerin spricht Lisa
Paus von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau
Ministerin Schwesig, wir haben heute den 18. Juni 2015.
Anderthalb Jahre hat diese Große Koalition, haben Sie
und Herr Schäuble uns warten lassen auf das sogenannte
Familienpaket. Immer wieder wurde es verschoben mit
dem Hinweis, es solle noch besser und gerechter werden; man verhandle, damit mehr als nur das Notwendigste herauskommt. Was werden Sie heute verabschieden? Es ist weniger als das Notwendigste. Das ist
Koalitionsmathematik, und diese geht so: Für 2015 und
2016 machen Sie tatsächlich das Notwendigste, also das,
was verfassungsrechtlich gemacht werden muss, um das
Existenzminimum von Kindern zu wahren. Dabei kommen 4 Euro mehr Kindergeld für 2015 und 2 Euro mehr
Kindergeld für 2016 sowie ein höherer Kinderfreibetrag
heraus, und das machen Sie noch mit sechs Monaten
Verspätung.
({0})
Was ist aber mit 2014? Wegen Ihrer anderthalbjährigen
Gespräche haben Sie das Jahr 2014 einfach ausgelassen.
Das bedeutet in der Summe: Sie machen nicht mehr,
sondern weniger als das verfassungsrechtlich Notwendige. Das lassen wir Ihnen nicht durchgehen.
({1})
Sie machen das sehenden Auges; denn bereits im
Existenzminimumbericht der Regierung von 2012 wird
festgestellt, dass der Kinderfreibetrag im Jahre 2014 angehoben werden muss. Die Merkel-Regierung hatte im
Jahre 2012 auch angekündigt, das termingerecht zu tun.
Das hat nicht ganz geklappt. Sie haben es nicht getan.
Sie haben es 2013 nicht getan, Sie haben es 2014 nicht
getan, und Sie tun es auch nicht im Jahr 2015. Sie setzen
ganz dreist darauf, dass schon keiner wegen entgangener
maximal 72 Euro pro Kind klagen wird. Das finde ich
schäbig.
({2})
Dabei haben sich die Experten durch die Bank bei der
Anhörung klar geäußert, vom Familienbund der Katholiken bis zum Neuen Verband der Lohnsteuerhilfevereine.
Um es mit den Worten des namhaften Verfassungsrechtlers Professor Dr. Joachim Wieland zu sagen: Ein Verzicht auf eine rückwirkende Erhöhung ab 2014 hat das
Merkmal eindeutiger Verfassungswidrigkeit. - Aber Sie
wollen das heute einfach unter den Tisch fallen lassen.
Das lassen wir Ihnen nicht durchgehen. Deswegen haben
wir heute einen Änderungsantrag eingebracht, über den
wir namentlich abstimmen lassen werden, der nicht
mehr, aber eben auch nicht weniger will, als dass die
Verfassung durchgängig in allen Jahren eingehalten
wird, eben auch im Jahr 2014.
({3})
Wir fordern Sie damit ein letztes Mal auf: Wenn Sie es
schon zeitlich nicht hinbekommen, dann gestehen Sie
den Familien in Deutschland zumindest rückwirkend ihr
Verfassungsrecht auf die steuerliche Freistellung des
sächlichen Existenzminimums und ein höheres Kindergeld zu.
Wenn ein Gesetzentwurf nicht einmal verfassungsrechtliche Normen einhält, dann verwundert es eigentlich kaum, dass er auch das politisch Notwendige nicht
macht. Aber auch das muss man trotzdem einmal aussprechen. Mit diesem Gesetz bleibt das Dreiklassensystem in Deutschland in Bezug auf Kinder bestehen. Das
heißt, der Großen Koalition, den beiden Volksparteien
sind Kinder aus wohlhabenden Familien immer noch
mehr wert als Kinder aus Mittelschichtsfamilien, und
Kinder aus Hartz-IV-Familien gehen komplett leer aus.
Das Ganze in Euro: Während 2015 die normale Mittelschichtsfamilie ganze 4 Euro Kindergeld pro Monat,
also 48 Euro pro Jahr, mehr bekommt, sind es 68 Euro
und damit 20 Euro mehr für eine Familie mit einem
Kind, die ein Jahreseinkommen von über 250 000 Euro
hat. In der Summe heißt das: Im Jahr 2015 wird es so
sein, dass dank der Großen Koalition aus CDU, CSU
und SPD eine Familie mit mehr als 250 000 Euro
1 139 Euro pro Kind mehr vom Staat bekommt als Fami10720
lien, die über weniger als 60 000 Euro im Jahr verfügen.
Und Sie nennen sich Volksparteien! Ich finde, Sie sollten
sich schämen.
({4})
Nur eines kann man Ihnen zugutehalten, nämlich dass
Sie die rückwirkende Kindergelderhöhung in diesem
Jahr von 4 Euro nicht vom Kinderregelsatz abziehen
werden. Das machen Sie allerdings nicht aus Gutmenschentum, sondern weil die Bürokratiekosten dafür über
100 Millionen Euro betragen würden. Das ist daher eine
gute Maßnahme.
Jetzt sagt die SPD: Okay, das ist in den anderthalb
Jahren nicht so gut gelaufen. - Frau Schwesig hat von
den ursprünglichen Plänen zur Angleichung von Kindergeld und Kinderfreibetrag leider nichts durchsetzen können. Auch die vollmundig geforderten 10 Euro Kindergelderhöhung wird es nicht geben. Aber schließlich
haben Sie etwas für die Alleinerziehenden erreicht. Der
Entlastungsbetrag wird erhöht. Das stimmt, und das finden wir ausdrücklich gut.
({5})
Aber es hat schon wirklich wehgetan, mit ansehen zu
müssen, mit welcher tumben Ignoranz die Alleinerziehenden von Herrn Schäuble und von breiten Kreisen der
CDU behandelt wurden, wie aus den 50er-Jahren des
vergangenen Jahrhunderts entstiegen, als sei Schäuble
ernsthaft der Meinung, dass Alleinerziehende mit Kindern auch heute noch keine Familien sind, zumindest
keine richtigen. Vielleicht war es dann nur folgerichtig,
dass ausgerechnet die Seniorenvertretung der Union da
weiter war als der Herr in der Wilhelmstraße, vielleicht
mit Blick auf ihre eigenen verlorenen Söhne und Töchter, und den Finanzminister öffentlich aufforderte, seinen
Widerstand gegen die überfällige Anhebung des Entlastungsbetrags aufzugeben.
Die geplante Anhebung bewirkt bei einem mittleren
Steuersatz, dass sie jetzt 45 Euro statt 30 Euro Entlastung pro Monat haben. Wie gesagt, das ist gut; aber es
bleibt immer noch so: Im Vergleich zu Ehepaaren, die
- mit und ohne Kinder - durch das Ehegattensplitting
um bis zu 15 000 Euro im Jahr entlastet werden, ist das
immer noch eine sehr geringe Summe. Diese Anhebung
machen Sie nach elf Jahren. Das war überfällig. Außerdem hat in der Anhörung der Verband alleinerziehender
Mütter und Väter deutlich gemacht: Eine reine Erhöhung
des Entlastungsbetrages geht leider an über 60 Prozent
der Alleinerziehenden vorbei, weil sie ihn in seiner bisherigen Form nicht in Anspruch nehmen können, zum
Beispiel weil ein Kind volljährig ist, aber noch im Haushalt wohnt, oder weil eben über 40 Prozent von ihnen zu
wenig verdienen und deshalb auf ergänzende Sozialleistungen angewiesen sind, oder, oder, oder.
Deutlich mehr Alleinerziehende würden profitieren,
wenn der Entlastungsbetrag, wie wir es vorschlagen,
umgewandelt würde zu einem Alleinerziehendenabsetzbetrag, also einem Betrag, der von der Steuerschuld abgezogen wird. Von einem solchen Absetzbetrag würden
alle steuerpflichtigen Alleinerziehenden profitieren.
Aber auch dazu hat es bei Ihnen nicht gereicht.
({6})
Wäre die dann errechnete Einkommensteuer so niedrig,
dass sich der Absetzbetrag nicht auswirken würde, dann
käme es zu einer Steuergutschrift in Höhe des Absetzbetrages, und somit würden insbesondere auch Alleinerziehende mit niedrigem Erwerbseinkommen von einer im
Steuerrecht verankerten Förderung profitieren. Weitere
zentrale Baustellen sind Sie gar nicht erst angegangen.
Ich fasse zusammen: Diese Koalition mit dieser CDU
schafft keinen substanziellen Abbau der Benachteiligung
von Alleinerziehenden.
({7})
Das zu sehen, schmerzt noch mehr, wenn man das
wochenlange unwürdige Gezänk um 200 Millionen Euro
mehr oder weniger für Alleinerziehende vergleicht mit
der plötzlich über Nacht entschiedenen und verkündeten
Steuerentlastung von 1,5 Milliarden Euro zur berühmtberüchtigten Bekämpfung der kalten Progression, die
dann einfach per Änderungsantrag in diesen Gesetzentwurf geschoben wurde.
({8})
Liebe Koalition, man kann den Einkommensteuertarif
auf Rädern gut oder schlecht finden; aber was man eben
- jedenfalls normalerweise - nicht machen kann, das ist,
eine inflationär begründete Verschiebung dieses Tarifs
vorzunehmen, wenn es gar keine Inflation gibt. Ihr eigenes Ministerium hat in seinem ersten Bericht zur kalten
Progression geschrieben, dass es aller Voraussicht nach
keine kalte Progression im Jahr 2016 geben wird wegen
der niedrigen Inflationsrate und weil die Anhebung des
Grundfreibetrages, die im Gesetz schon drinsteht, diese
niedrige Inflationsrate bereits über den Tarifverlauf
kompensiert. Ich frage Sie: Ist das jetzt Ihre neue Masche - Probleme zu lösen, die es überhaupt nicht gibt?
Erst die Ausländermaut, die ein Problem löst, das es
ohne sie gar nicht gegeben hätte, und jetzt die Bekämpfung der kalten Progression, die es qua Definition bei
null Inflation gar nicht gibt, also gar nicht geben kann?
Frau Kollegin, Sie müssen zum Schluss kommen.
Ich komme zum Schluss.
Wenn Ihre Politik nur noch zum Symbol verkommt
und Milliarden kostet, dann hat diese Regierung wirklich
abgewirtschaftet und jeden Respekt vor den Wählerinnen und Wählern verspielt.
({0})
Noch ein letzter Appell: Seien Sie zumindest verfassungskonform, und stimmen Sie deswegen unserem Änderungsantrag und damit der rückwirkenden Erhöhung
des Kindergeldes und des Kinderfreibetrages für 2014
zu!
Herzlichen Dank.
({1})
Vielen Dank. - Als nächster Redner hat Markus Koob
von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Heute stehen wir vor dem Beschluss über ein umfassendes Steuerentlastungspaket, das die Familien und Arbeitnehmer in unserem Land um 5 Milliarden Euro entlastet.
({0})
Herr Staatssekretär Dr. Meister hat auf die beachtliche
Vielfalt dieses Pakets hingewiesen. Selten zuvor dürfte
ein Gesetzespaket den Namen „Paket“ so verdient haben
wie der Beschluss, den wir heute fassen werden.
Ausgangslage für diese Maßnahme ist zunächst der
Existenzminimumbericht der Bundesregierung gewesen.
Der aktuelle Existenzminimumbericht hat uns für die
Jahre 2015 und 2016 Änderungsbedarfe offenbart, denen
wir mit dem Abschluss des Gesetzgebungsverfahrens
heute nachkommen. Die Anpassung bei den Freibeträgen und beim Kindergeld werden wir dabei in zwei
Etappen vornehmen.
Worum geht es? Wir erhöhen den Kinderfreibetrag ab
2015 in den nächsten zwei Jahren von derzeit 7 008 Euro
auf 7 248 Euro, also um insgesamt 240 Euro. Die für die
Jahre 2015 und 2016 vorzunehmende Erhöhung des Kinderfreibetrags würde bei einigen Familien allerdings
keine steuerliche Entlastungswirkung haben. Diese werden wir daher durch eine wirkungsgleiche Erhöhung des
Kindergeldes entlasten. Von der Opposition wird ja immer behauptet, wir täten nur das Mindeste und verfassungsrechtlich Notwendigste oder - wie eben von Kollegin Paus - noch nicht einmal das. Ich darf aber darauf
hinweisen, dass für eine Kindergelderhöhung kein verfassungsrechtliches Gebot besteht. Wir führen diese Erhöhung aber durch, weil wir uns für Familien in allen
Einkommenslagen verantwortlich fühlen und diese sich
auf uns verlassen können.
({1})
Den Arbeitnehmergrundfreibetrag werden wir bis
2016 von derzeit 8 354 Euro auf 8 652 Euro erhöhen,
also um 298 Euro. Damit werden Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer in unserem Land entlastet.
Wir erhöhen zudem den Kinderzuschlag zum 1. Juli
nächsten Jahres um 20 Euro auf 160 Euro. Das ist eine
sinnvolle Leistung; denn viele Familien, die sonst in den
SGB-II-Bezug hineinfallen würden, können durch diese
Erhöhung vor diesem Schicksal bewahrt werden. Sie
kommt den Eltern zugute, die zwar ihren eigenen Bedarf
durch Erwerbseinkommen grundsätzlich bestreiten können, nicht aber den Bedarf ihrer Kinder.
Das waren jetzt die Inhalte des ursprünglichen Gesetzentwurfs, und diese wurden im Zuge des parlamentarischen Verfahrens um weitere und wichtige Regelungen
ergänzt, die über die Anregungen des Existenzminimumberichts hinausgehen. Angesichts des Vorher/NachherVergleichs dieses Gesetzentwurfs kann ich mit Augenzwinkern an unsere SPD-Kollegen sagen: Peter Struck
wäre sicherlich stolz auf uns.
({2})
- Mehr geht immer; das haben wir schon gehört.
Es ist erfreulich, dass wir den Entlastungsbetrag für
Alleinerziehende von 1 308 Euro mit Wirkung ab dem
1. Januar 2015, also rückwirkend, auf 1 908 Euro erhöhen und ihn nach der Kinderanzahl staffeln. Mit der Staffelung kommen für jedes weitere Kind zusätzliche
240 Euro zu dem neuen Grundbetrag von 1 908 Euro
hinzu. Ich bin überzeugt, dass wir damit die Alleinerziehenden in unserem Land, die Einelternfamilien, die größeren Herausforderungen bei der Bewältigung ihres Alltags ausgesetzt sind, in gebührender Weise unterstützen.
Diese Erhöhung ist auch Teil unserer Anerkennung für
die Leistung von Alleinerziehenden.
Die Anerkennung von Leistung ist auch unser Antrieb
zur Lösung einer anderen Aufgabe. Der Abbau der kalten Progression wird von den Menschen in unserem
Land zu Recht als eine Frage von Gerechtigkeit angesehen und ist seit Jahren eine unserer Herzensangelegenheiten. Die soziologischen Gruppen unserer Fraktion
- von der Arbeitnehmergruppe bis hin zum Parlamentskreis Mittelstand - haben seit langem für dieses wichtige
Anliegen gekämpft. Der entscheidende Vorschlag hierfür
kam nun von Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble,
dem ich an dieser Stelle meine Hochachtung zolle: Er
verteidigt Tag für Tag die schwarze Null gegen Verschuldungsimpulse und steht für solide Finanzen, er rettet die Euro-Zone, er arbeitet an der Erbschaftsteuerreform und vielen anderen Projekten, und er verliert bei
alldem die Beschäftigten in unserem Land nicht aus dem
Blick. Unser Finanzminister hat mit seinem Vorstoß dafür Sorge getragen, dass der Aufschwung in Deutschland
bei den Beschäftigten ankommt.
Die Kompensation der kalten Progression wird auch
weiterhin ein wichtiges Ziel der Steuerpolitik bleiben.
Durch einen periodischen Steuerprogressionsbericht, der
in diesem Jahr erstmals vorgelegt worden ist, werden wir
auch künftig die Wirkung der kalten Progression in den
Blick nehmen.
({3})
Durch eine entsprechende Protokollerklärung zum Gesetz haben wir diese Absicht zur regelmäßigen Befas10722
sung fest flankiert. Ich bin dem Bundesfinanzministerium darüber hinaus dankbar, dass es uns auch weiterhin
bei der Suche nach Wegen zur Gegenfinanzierung möglicher Kompensationsmaßnahmen unterstützen wird.
({4})
Gestatten Sie mir noch eine kurze Anmerkung, was
den Kinderfreibetrag für das Jahr 2014 und das Anliegen
einer rückwirkenden Erhöhung betrifft. Wir teilen die
Rechtsauffassung des Bundesfinanzministeriums, dass
wir mit dem unveränderten Freibetrag im Jahr 2014 keinen verfassungswidrigen Zustand haben. Die rückwirkende Erhöhung hätten wir als CDU/CSU trotzdem
mitgetragen und hatten einen Formulierungsvorschlag
bereits vorgelegt. Aber Maßnahmen einer Koalition werden immer gemeinsam beschlossen. Wenn keine Einigung erzielt wird, dann kann eine solche Maßnahme keinen Eingang in das Gesetz finden.
Meine Damen und Herren, wir stehen heute vor dem
Abschluss eines Pakets mit unterschiedlichen Leistungsverbesserungen. Für mich als Berichterstatter und neuen
Parlamentarier war die Arbeit an diesem Steuerentlastungspaket eine ganz neue Erfahrung in Sachen Arbeitsintensität. Bis zuletzt haben wir über Inhalte im Detail
gerungen. Für die konstruktive Zusammenarbeit möchte
ich insbesondere dem Parlamentarischen Staatssekretär
Dr. Michael Meister wie auch meinem SPD-Kollegen
Frank Junge sehr herzlich danken.
({5})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, im vergangenen
Jahr hat die Bundesregierung 66 Milliarden Euro für Familien und Kinder ausgegeben, weil uns Familien als
Rückgrat der Gesellschaft wichtig sind. Genau in diesem
Sinne - mit Augenmaß, Zielbewusstsein und Verantwortung für Menschen in allen Lebenslagen - werden wir
auch weiterhin eine erfolgreiche Familienpolitik für die
Menschen in unserem Land gestalten.
Für mich als einzigem Abgeordneten in diesem
Hause, der ordentliches Mitglied sowohl im Finanz- als
auch im Familienausschuss ist, ist der besondere Spagat
zwischen soliden Finanzen und Familienförderung tägliche Herausforderung. Mit dem Beschluss von heute zeigen wir, dass solide Finanzen, steuerliche Entlastung
und Förderung von Familien keinen Widerspruch bilden,
sondern Hand in Hand gehen. Ich erbitte daher Ihre Zustimmung zu der Beschlussempfehlung des Finanzausschusses.
Herzlichen Dank.
({6})
Vielen Dank. - Als nächster Redner hat der Kollege
Frank Junge von der SPD-Fraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich will eines
voranstellen: Kluge Politik für Familien, für Mütter und
Väter in diesem Land sorgt für eine familienfreundliche
Infrastruktur, für eine bessere Vereinbarkeit von Beruf
und Familie und trägt zur finanziellen Förderung und
steuerlichen Entlastung bei. Ich sage das deshalb noch
einmal so ausdrücklich, weil Eltern in unserem Land nur
dann umfassend profitieren, wenn im Zusammenspiel
dieser drei Komponenten ordentliche Politik gemacht
wird. Wenn man sich jetzt noch einmal vor Augen führt,
was diese Bundesregierung an Projekten auf den Weg
gebracht hat, wenn man sich vor Augen führt, dass wir
beim bundesweiten Kitaausbau und dem Ausbau der
Ganztagsschulen vorangekommen sind, dass das Elterngeld Plus gekommen ist, der gesetzliche Mindestlohn
und die Familienpflege auf den Weg gebracht worden
sind, dann stellen wir alle fest, dass damit ja schon unglaublich viele Maßnahmen, die Familien dabei unterstützen, in den Arbeitsprozess einzusteigen und sich dort
zu entwickeln, vorgenommen worden sind.
({0})
Das, was wir heute hier beschließen können, ist ganz
einfach die dritte Säule in diesem Paket, nämlich dafür
zu sorgen, dass Eltern jetzt steuerlich entlastet und finanziell gefördert werden können. Dabei reden wir heute
über ein Leistungspaket - es wurde schon gesagt -, das
5,3 Milliarden Euro schwer ist. Das muss man bei allen
Wünschen für ein Mehr auch erst einmal zur Kenntnis
nehmen. Ich finde, das Paket enthält Maßnahmen, die
Familien und Eltern ausgewogen entlasten werden. Natürlich enthält das Paket auch Maßnahmen, die sich aus
dem 10. Existenzminimumbericht ableiten lassen, nach
dem wir den Grund- und den Kinderfreibetrag für 2015
und 2016 erhöhen müssen. Aber parallel - das kam ja
auch schon zur Sprache - erhöhen wir das Kindergeld;
denn das Kindergeld ist für die Familien wichtig, die von
dem erhöhten Kinderfreibetrag eben nicht profitieren.
Wir erhöhen im Jahr 2016 auch den Kinderzuschlag,
weil wir es als wichtige sozialpolitische Maßnahme ansehen, Familien im unteren Einkommensbereich zu entlasten.
({1})
Mein Hauptaugenmerk möchte ich heute aber auf die
Entlastung der Alleinerziehenden richten. Deren Freibetrag liegt seit 2004 unverändert bei 1 308 Euro. Seitdem
wurde dieser Freibetrag für diese immer größer werdende Gruppe unserer Gesellschaft in puncto steuerlicher Entlastung überhaupt nicht mehr angerührt, und
das, obwohl sie als Einzelkämpfer in einem Alltag bestehen müssen, für den klassische Familien zu zweit einstehen. Als ob das nicht schon schwer genug wäre, steht
80 Prozent der Alleinerziehenden auch noch weniger als
das mittlere Einkommen von Familien zur Verfügung.
Wenn sie denn schon einmal besser verdienen, dann ist
die Steuerlast für Alleinerziehende im Vergleich zu Paaren überproportional hoch, weil sie als Singles versteuert
werden. Somit verdient das, was Alleinerziehende hier
zu wuppen haben, was sie in unserer und für unsere GeFrank Junge
sellschaft unter diesen Bedingungen zu leisten haben,
aus meiner Sicht schon lange höchsten Respekt. Darum
war es für die SPD höchste Zeit und unverzichtbar, hier
endlich Maßnahmen zu entwickeln, die ausgesprochen
dieser Zielgruppe zugutekommen.
({2})
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf werden wir daher den steuerlichen Entlastungsbetrag um 600 Euro anheben. Wenn wir dazu noch in Betracht ziehen, dass wir
den Entlastungbetrag ab dem zweiten Kind um weitere
240 Euro erhöhen, dann wird klar, welches Paket wir
hier insbesondere für die Alleinerziehenden schnüren.
({3})
Damit wird der Alltag für Mütter und Väter an dieser
Stelle nicht einfacher, aber zwei Drittel aller Alleinerziehenden werden von diesen Maßnahmen profitieren. Alleine das, finde ich, ist es wert, dass wir hier diesen
Schritt gehen.
({4})
Im Ringen um einen Konsens ist es uns mit Blick auf
das Jahr 2014 nicht gelungen - Herr Koob, ich sage das
nicht mit einem Augenzwinkern, sondern mit einem
kleinen Stirnrunzeln -, Sie als Kolleginnen und Kollegen von der Union von der Notwendigkeit zu überzeugen, die rückwirkende Anhebung des Kinderfreibetrags
und des Kindergelds auf den Weg zu bringen. Ich bedaure das, weil ich glaube, dass wir uns damit angreifbar
machen.
({5})
Nichtsdestotrotz liegt uns hier heute mit dem aktuellen
Gesetzentwurf ein guter Kompromiss vor, den wir natürlich gerne mittragen. Er unterscheidet sich vom ursprünglichen Entwurf aus dem Finanzministerium dadurch, dass es der SPD gelungen ist, die weitreichende
Entlastung der Alleinerziehenden aufzugreifen. Dabei
war es uns ganz wichtig - das sage ich noch einmal -,
dass wir in Bezug auf die Refinanzierung keine Mittel
aus dem Familienministerium binden müssen,
({6})
die für Programme oder gesetzliche Leistungen festgeschrieben sind. So beinhaltet der aktuelle Gesetzentwurf,
wie ich finde, ein Leistungspaket, das in seiner Gesamtheit Millionen Familien entlasten wird und dem größten
Teil der Mütter und Väter wertvolle Dienste leisten wird.
({7})
Deshalb will ich am Ende meiner Rede an die drei
Säulen, die ich zu Beginn erwähnt habe, erinnern. Ich
finde, wir haben heute die Möglichkeit, den finanzpolitischen Teil dazu auf den Weg zu bringen und damit zu
untersetzen, dass diese Bundesregierung im Rahmen ihrer Familienpolitik auf einem guten Weg ist.
({8})
Vielen Dank. - Als nächster Redner hat Norbert
Müller von der Fraktion Die Linke das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen
und Kollegen! Liebe Gäste auf den Besuchertribünen!
Das Besondere an der Großen Koalition ist, dass wir
auch ein weiteres Mal beobachten können, wie tatsächliches Handeln und Selbstwahrnehmung in den Reden im
Parlament auseinanderfallen. Wir müssen nach dieser
Debatte, Frau Bundesministerin Schwesig, den Eindruck
haben, dass Kinderarmut, wenn nicht heute, spätestens
morgen oder Ende der Woche bereits der Geschichte angehört, dass es keine armen Kinder in Familien mehr geben wird und dass die Probleme dank der Tatkraft von
SPD, CDU und CSU im Wesentlichen gelöst sind.
({0})
- So einfach machen Sie es sich mit den Botschaften, die
Sie aussenden.
Was entspricht der Realität? Sie tun faktisch nichts für
Kinder in Familien, die Grundsicherung beziehen. Sie
tun aber sehr viel für Kinder von Spitzenverdienern. Um
das einmal ganz plastisch darzustellen: Wir sind im
Bundestag Spitzenverdiener. Ich habe zwei Kinder. Ich
profitiere überdurchschnittlich vom Kinderfreibetrag.
Ich profitiere überdurchschnittlich von der steuerlichen
Entlastung. Die beiden besten Freunde meines Kindes
- er ist viereinhalb Jahre alt und geht in die Kita - leben
bei Alleinerziehenden. Sie beziehen Grundsicherung
und profitieren überhaupt nicht. Es stellt sich die Frage:
Warum ist das eigentlich so?
({1})
Sie jammern und teilen auch die Sorge über Kinderarmut. Vor einigen Wochen gab es auf unseren Antrag eine
Aktuelle Stunde dazu. Aber was machen Sie für arme
Kinder? Zum Entlastungsbetrag für Alleinerziehende ist
einiges gesagt worden. Wir wissen auch, dass es gerade
im Bereich der Alleinerziehenden einen erheblichen Teil
gibt, der auch nicht profitieren wird, schlichtweg weil sie
gar keine Steuern zahlen, da ihr Einkommen viel zu gering ist. Auch die Erhöhung des Kinderzuschlages, den
Sie nach elf Jahren erstmalig im nächsten Jahr erhöhen
wollen, fällt viel zu gering aus. Wenn wir uns den Kinderzuschlag anschauen, dann müssen wir feststellen,
dass die Zahl der Bezieher in den letzten Jahren rückläufig war, dass immer weniger Menschen damit erreicht
werden, obwohl der Bedarf weiterhin groß ist.
Die Kinderregelsätze für Bezieher von Hartz IV fassen Sie im Wesentlichen nicht an; das habe ich gesagt.
Wozu führt das? Das ist bereits angesprochen worden;
Kollege Pitterle und Kollegin Paus haben es deutlich gemacht. Es führt dazu, dass Sie Kinder dreier Klassen
Norbert Müller ({2})
schaffen. Sie schaffen Kinder, bei denen von den familienpolitischen Leistungen überhaupt nichts ankommt, Sie
schaffen jene Kinder, bei denen in den nächsten zwei
Jahren 6 Euro zum Familieneinkommen dazukommen,
und Sie schaffen Kinder in Familien, die hohe und
höchste Einkommen haben und von der steuerlichen
Entlastung deutlich profitieren. Das finden wir Linke
falsch. Deshalb schlagen wir einen anderen Weg vor.
({3})
Um auf die Debatte gestern im Familienausschuss
einzugehen: Die Berichterstatter der Sozialdemokraten
haben ausgeführt, dass es bei uns Linken ein falscher
Ansatz sei, zu sagen, die familienpolitischen Leistungen
könnten Instrumente sein, um Kinder- und Jugendarmut
zu bekämpfen. Viel entscheidender sei doch, die Mittel
für den Ausbau von Kindertagesstätten und für eine gute
Qualität in Schulen einzusetzen. Das ist richtig. Auch
wir sind dafür, dass es einen qualitativ und quantitativ
guten Ausbau von Kindertagesplätzen gibt und dass es
gute Bildung in Schulen gibt. Aber wir sind nicht dafür,
weil es in irgendeiner Form eine Art karitativer Anspruch ist oder es um Sozialpolitik geht. Vielmehr geht
es hier um das Recht auf Bildung.
({4})
Das ist in Artikel 28 der UN-Kinderrechtskonvention
festgeschrieben worden. Es ist kein sozialpolitisches
Almosen, dass wir gute Bildung für alle Kinder wollen
- auch für die kleinsten, auch von Anfang an -, sondern
es hat etwas mit dem Rechtsanspruch auf Bildung zu
tun. Deswegen sind die familienpolitischen Leistungen
eine Möglichkeit, um Kinderarmut zu bekämpfen.
Wir Linke schlagen vor, das Kindergeld für das erste
und zweite Kind auf 200 Euro zu erhöhen. Wir fordern,
den Kinderzuschlag zu entbürokratisieren. Wir haben in
den letzten Haushaltsberatungen eine Vorlage eingebracht, in der wir gefordert haben, die Höchsteinkommensgrenze entfallen zu lassen und den Mehrbedarf bei
Alleinerziehenden sachgerecht abzudecken. Aber nichts
davon geschieht.
Langfristig stehen wir für eine bedarfsgerechte Kindergrundsicherung, damit kein Kind mehr arm ist. Die
von mir genannte Dreiklassengesellschaft bei Kindern
- aus Haushalten, die Grundsicherung beziehen, auf der
einen Seite und von Spitzenverdienern auf der anderen
Seite - muss ein Ende haben.
({5})
2,8 Millionen Kinder in der Bundesrepublik Deutschland sind arm. Der vorliegende Gesetzentwurf wird
nichts daran ändern. Liebe Große Koalition, fangen Sie
endlich an, etwas daran zu ändern, und hören Sie auf,
sich die Welt schönzureden!
({6})
Vielen Dank. - Als Nächster hat Philipp Graf
Lerchenfeld von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin, vielen Dank. - Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Hohes Haus! Von den geschätzten
Kollegen und Kolleginnen, die wir bisher haben sprechen hören, haben wir im Detail erfahren, wie der Gesetzentwurf den Vorgaben des Existenzminimumberichts
entspricht. Die Erhöhung des Grundfreibetrages, des
Kinderfreibetrages, des Kindergeldes, des Kinderzuschlags und die bessere Unterstützung von Alleinerziehenden sind wirklich ein löbliches Vorgehen.
({0})
Auch die Milderung der kalten Progression, die dem uns
im Januar neben dem Existenzminimumbericht vorgelegten Steuerprogressionsbericht entspricht, ist sehr zu
begrüßen.
Sicher wird der eine oder andere sagen: Das ist zu wenig, die Verbesserungen hätten großzügiger sein können,
sie sind zu spät gekommen. Es wird gesagt: Wir tun zu
wenig für die Familien; Sie haben das gerade noch einmal bestätigt. In gewissen Teilen habe ich für diese
Überlegungen durchaus Verständnis. Aber wir müssen
bei unseren Überlegungen auch den Grundsatz einer
sparsamen Haushaltsführung berücksichtigen.
({1})
Mit dem im letzten Jahr erreichten Ziel, einen ausgeglichenen Haushalt ohne neue Schulden vorzulegen, tun
wir etwas ganz Entscheidendes für kommende Generationen. Es wurde ein klares Zeichen mit einer nachhaltigen Wirkung gesetzt. Keine neuen Schulden, das bedeutet für die kommenden Generationen, dass wir ihnen
Spielräume eröffnen, auch in Zukunft unser Gemeinwesen politisch gestalten zu können.
({2})
Letztlich, liebe Kolleginnen und Kollegen, erfüllen
wir mit dem Gesetzentwurf, den wir heute verabschieden wollen, einen Verfassungsauftrag, den das Bundesverfassungsgericht in mehreren richtungsweisenden
Entscheidungen sehr deutlich formuliert hat. Aufgrund
dieser Entscheidungen wurde 1996 - man muss sich das
vorstellen - der Grundfreibetrag um mehr als das Doppelte erhöht. Seitdem wird er regelmäßig den Bedingungen entsprechend angepasst.
Das Bundesverfassungsgericht hat seinerzeit klargestellt, dass Steuerrecht und Sozialhilferecht aufgrund der
Bedeutung und Tragweite des Sozialstaatsprinzips sehr
eng miteinander verknüpft sind. Gemäß dieser Entscheidung muss dem Einkommensteuerpflichtigen nach Zahlung von Steuern von seinem erworbenen Einkommen
so viel bleiben, wie er zur Bestreitung seines notwendigen Lebensunterhalts und des Unterhalts seiner Familie
bedarf. Die Maßgröße dabei ist das Existenzminimum,
das nicht unterschritten werden darf.
Neben dem Sozialstaatsprinzip spielt bei unserem
Gesetzesvorhaben auch Artikel 6 Grundgesetz eine
entscheidende Rolle. Mit der Erhöhung des Kinderfreibetrags, des Kindergeldes und allen anderen Verbesserungen kommen wir dem Auftrag des Grundgesetzes
nach, dass Ehe und Familie unter dem besonderen
Schutz der staatlichen Ordnung stehen. Dabei sollten wir
auch bedenken, dass heute immer noch mehr als 70 Prozent aller Kinder in Familien leben, die dem Bild entsprechen, das die Väter und Mütter unseres Grundgesetzes damals gehabt haben.
({3})
Mit diesem Gesetz machen wir aber auch einen großen Schritt: Alleinerziehende werden endlich stärker
entlastet. Seit 2004 - es wurde schon gesagt - war dieser
Freibetrag unverändert. Er wird jetzt um fast 50 Prozent
erhöht und ergänzt dadurch, dass für jedes weitere Kind,
das zum Haushalt gehört, 240 Euro zusätzliche Entlastung gewährt werden.
({4})
Diese Entlastung ist dringend nötig. In der Debatte zur
Einbringung des Gesetzes hat die Kollegin Gudrun
Zollner richtigerweise darauf hingewiesen, dass seit
2004 das Kindergeld um 23 Prozent erhöht worden ist,
während dieser Betrag vollkommen unverändert geblieben ist.
Auch die Anpassung der steuerlichen Tarife an die
Ergebnisse des Ersten Steuerprogressionsberichts, der
uns im Januar zusammen mit dem Existenzminimumbericht vorgelegt wurde, ist eine notwendige Korrektur.
Alle Maßnahmen, die wir heute hier beschließen können und die zusammen über 5 Milliarden Euro kosten,
werden ohne Neuverschuldung durchgeführt werden
können. Dies ist das Ergebnis einer soliden Finanz- und
Haushaltspolitik der letzten Jahre. Dafür möchte ich dem
Finanzminister, aber natürlich auch den Haushaltspolitikern in diesem Hohen Hause ganz besonders herzlich
danken.
({5})
Wenn wir diese solide Haushaltspolitik in den kommenden Jahren fortsetzen, dann wird es uns auch weiterhin
möglich sein, viel zur Verbesserung der Situation von
Familien und Kindern zu tun. Der Bund trägt nicht nur
mit den heute zu beschließenden Maßnahmen viel dazu
bei, dass es Kindern und Familien besser gehen soll, sondern auch durch vielfältige andere Unterstützung. Es
wurde von der Ministerin auch deutlich gemacht, dass
wir ureigenste Aufgaben der Länder mit Bundesmitteln
finanzieren, die uns eigentlich selber guttun würden. Dadurch, dass wir den Ländern so starke Unterstützung geben, bleibt auch zu hoffen, dass dieses Gesetz mit allen
seinen Teilen auch die Zustimmung des Bundesrats erhält und nicht das gleiche Schicksal teilt wie der Versuch
in der letzten Legislaturperiode, die kalte Progression
abzubauen, der damals von den Ländern im Bundesrat
leider Gottes abgelehnt wurde.
({6})
Abschließend möchte ich mich noch einmal ganz
herzlich bedanken: Ich danke allen Kolleginnen und
Kollegen für die sachlichen Beratungen in den Ausschüssen, allen Mitarbeitern des Hohen Hauses, der
Ministerien, der Fraktionen für die gute Vorbereitung der
jeweiligen Sitzungen.
Mit diesem Gesetz verteilen wir keine Wohltaten oder
Wahlgeschenke an unsere Bürger, sondern wir erfüllen
die Aufträge, die uns unsere Verfassung stellt.
({7})
Vielen Dank. - Als nächster Redner spricht
Dr. Zimmermann von der SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte noch einmal auf
das Thema „kalte Progression“ eingehen. Dieses Thema
ist ja nun über einen langen Zeitraum intensivst debattiert worden. Was sind da nicht alles für Zahlen durch
die Welt gegeistert, wie riesig diese kalte Progression
sei! Ich finde, wir haben es genau richtig gemacht: Wir
haben uns anhand des Ersten Steuerprogressionsberichts,
den die Bundesregierung vorgelegt hat, angeschaut, wie
groß das Ausmaß der kalten Progression sein wird; es
gibt ein Simulationsmodell. Für 2014 ist festgestellt
worden: Es gab gar keine kalte Progression, aufgrund
der niedrigen Inflation. Jetzt wollen wir die Auswirkungen der kalten Progression 2015 zum 1. Januar 2016
kompensieren. Wir haben uns auf eine Entlastung von
1,4 Milliarden Euro geeinigt. Ich glaube, das ist doch
eine gute Nachricht. Worum geht es genau? Es geht darum, dass Lohnerhöhungen, die in Tarifverhandlungen
ausgehandelt werden, am Ende nicht durch Inflation plus
Progression aufgefressen werden, sondern bei den Menschen ankommen.
({0})
Ich will noch einmal eingehen auf das, was die Kollegin Paus vorhin gesagt hat: wie denn diese Bundesregierung und die Koalition wirtschaftet. Sie wirtschaftet gut.
Wir haben es nämlich geschafft, auf der einen Seite die
schwarze Null zu halten,
({1})
während wir auf der anderen Seite die Menschen im
Land entlasten. Darüber hinaus haben wir noch ein
kommunales Investitionspaket geschnürt, und wir haben
ein Breitbandpaket geschnürt. Das ist doch gutes Wirtschaften; das muss man an dieser Stelle auch einmal
festhalten.
({2})
Ich würde mir im Übrigen wünschen, dass dieses
Geld ab und zu bei mir in Hessen auch ankäme.
({3})
Das aber nur am Rande.
Bei der Diskussion über die kalte Progression - dieser
Begriff wird von vielen missbraucht - dürfen wir nicht
vergessen, dass wir hier über den Abbau derselben reden. Dabei spielt eben die Inflation eine sehr große
Rolle. Wir, die SPD, sagen ganz klar: Wir wollen nicht
die Progression an sich abbauen. Diejenigen in unserem
Land, die viel verdienen, sollen im Rahmen unseres
Steuertarifes auch entsprechend mehr zahlen müssen.
Das ist ein sehr großer Unterschied, meine Damen und
Herren.
({4})
Ich glaube, wir haben uns in der Koalition auf ein gutes Verfahren geeinigt. Es wird auch einen zweiten Steuerprogressionsbericht geben. Dieses Verfahren - so wie
wir es jetzt praktiziert haben - werden wir wiederholen.
Wir werden uns anschauen, wie groß die tatsächlichen
Folgen der kalten Progression sein werden. Dann werden wir schauen, wie im Rahmen des wirtschaftlichen
bzw. konjunkturellen und auch des politischen Umfeldes
darauf zu reagieren ist. Darauf freue ich mich schon. Ich
bin mir sicher, dass wir auch dann wieder eine gute Lösung finden werden.
Vielen Dank.
({5})
Vielen Dank. - Als letzte Rednerin in dieser Debatte
hat Nadine Schön von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Kinder bereichern uns. Sie bereichern ihre Familien bzw. ihre Eltern mit Glück, Kinderlachen, Liebe
und Zusammenhalt. Wir sind uns einig: Das ist unbezahlbar.
Kinder bereichern auch unsere Gesellschaft. Sie bereichern die Gesellschaft sogar materiell, denn sie sind
die Fachkräfte sowie die Steuer- und Beitragszahler von
morgen. Sie bereichern unsere Gesellschaft aber auch
immateriell dadurch, dass sie sich - je nach Interesse,
Fähigkeit und persönlichem Einsatz - engagieren bzw.
in die Gesellschaft einbringen.
Wir sind uns also einig, dass Kinder unsere Gesellschaft bereichern und dass das nicht bezahlbar ist. Einig
sind wir uns auch, dass es aber trotzdem wichtig ist, dass
wir als Staat Familien - auch finanziell - unterstützen,
die Kinder großziehen. Genau das machen wir heute.
Wir wollen ein Umfeld schaffen, in dem man gerne
Kinder bekommt und diese großzieht. Das geht nicht nur
mit finanziellen Mitteln. Dazu braucht es mehr. Die
Ministerin sprach eben von einem Dreiklang. Es braucht
dazu Zeit, Infrastruktur im Sinne von Betreuungsplätzen
sowie - dieser Punkt kommt mir immer ein bisschen zu
kurz - auch ein familienfreundliches Klima in unserer
Gesellschaft, vor allem in der Arbeitswelt. Dieser Vierklang von kinderfreundlicher Gesellschaft, Zeit für Familie, Infrastruktur und eben Familienleistung ist es, was
unsere christdemokratische Familienpolitik ausmacht.
({0})
Heute erhöhen wir die Familienleistungen. Das können wir nur, weil wir seit Jahren eine gute Wirtschaftspolitik machen. Denn nur wenn Geld eingenommen
wird, kann es der Staat auch ausgeben. Deshalb bin ich
dankbar, dass wir unter Führung der Union seit vielen
Jahren eine gute Wirtschaftspolitik machen, um das, was
wir erwirtschaftet haben, auch den Familien zugutekommen zu lassen.
Man muss sich einmal anschauen, wie die unterschiedlichen Familienleistungen ankommen und wie
wichtig sie sind. Insofern bin ich sehr froh, dass es 2012
eine Studie des Instituts für Demoskopie Allensbach
gab. Im Rahmen dieser Studie wurden die Familien gefragt, welche Leistungen ihnen besonders wichtig sind.
Wenn man die Ergebnisse dieser Studie kennt, kann man
ein für alle Mal mit der Aufrechnung von Infrastruktur
gegen finanzielle Leistungen Schluss machen. Die Debatte darüber haben wir in diesem Haus über Jahre
hinweg geführt. Es hieß vonseiten gewisser Teile des
Hauses immer: Wir brauchen keine Erhöhung der finanziellen Leistungen, alles Geld für die Familien muss in
die Infrastruktur gesteckt werden. Das ist aus unserer
Sicht falsch. Wir brauchen beides, sowohl die Infrastruktur als auch die familienpolitischen bzw. familiengerechten Leistungen. Das Allensbach-Institut hat genau das
bestätigt.
({1})
Es hat bestätigt, dass das Kindergeld - weit über 80 Prozent der Familien sagen das - die allerwichtigste Leistung für die Familien ist, dass es zum Familieneinkommen beiträgt und nicht wegzudenken ist. Deshalb
erhöhen wir heute auch das Kindergeld und den Kinderfreibetrag, die ja aneinander gekoppelt sind, und nehmen
dazu mehrere Milliarden Euro in die Hand.
Zum Zweiten erhöhen wir den Kinderzuschlag. Der
Kinderzuschlag ist für die Familien, die ein eigenes Einkommen haben und an der Grenze zum Transferleistungsbezug sind, und sorgt dafür, dass sie eben nicht
Hartz-IV-Empfänger werden. Das ist das klare Signal
unserer Politik: Leistung lohnt sich in unserem Land.
Wer arbeitet, muss mehr haben als derjenige, der nicht
arbeitet.
({2})
Nadine Schön ({3})
Deshalb erhöhen wir den Kinderzuschlag; denn er ist das
richtige Mittel. Damit senden wir ein Signal an diese Familien.
Schließlich erhöhen wir den Kinderfreibetrag für Alleinerziehende um 600 Euro jährlich. Das ist eine deutliche Entlastung. Lieber Kollege Junge, es war nicht der
Wunsch der SPD allein, den Freibetrag für Alleinerziehende zu erhöhen; es war auch der Wunsch der Union.
Schon in den Koalitionsverhandlungen hat die Union gesagt: Wir wollen in dieser Legislaturperiode den Entlastungsbetrag für Alleinerziehende erhöhen, und zwar
deutlich.
({4})
Worüber wir jetzt diskutiert haben, war die Frage: Wie
können wir das denn finanzieren? Wenn uns die schwarze
Null wichtig ist, wenn wir eine Politik für zukünftige
Generationen machen wollen, dann ist es eine total legitime Frage, wie das zu finanzieren ist. Aber dass wir den
Freibetrag erhöhen wollten, stand immer außer Frage.
Dass wir ihn heute rückwirkend zum Beginn dieses Jahres um 600 Euro erhöhen, ist der Beweis, dass es uns
ernst ist, wir die Alleinerziehenden in den Blick nehmen
und unsere Versprechen tatsächlich einlösen.
({5})
Gerade die Alleinerziehenden profitieren in besonderem Maße von diesem Paket. Sie profitieren nicht nur
vom Freibetrag für Alleinerziehende, sondern auch vom
Grundfreibetrag bzw. vom Kindergeld. Sie profitieren
natürlich auch von den anderen Leistungen, die wir im
Laufe dieser Legislaturperiode erhöht haben, vor allem
auch vom Elterngeld Plus. Das ist auch gerechtfertigt,
denn Alleinerziehende stehen vor besonderen Herausforderungen. Wenn ich mir vorstelle, ich müsste alles alleine stemmen, parallel noch arbeiten gehen und das
ganze Organisatorische alleine hinbekommen, dann
kann ich nur sagen: Hut ab vor denjenigen, die das alleine stemmen müssen! Das sucht man sich nicht aus,
das macht man nicht freiwillig. Angesichts der Mehrausgaben, die man hat, weil man die Kosten der Kita, die
Kosten der Wohnung, die Kosten von Wasser und Strom
usw. alleine tragen muss, gibt es diesen Freibetrag.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bin überzeugt,
dass wir heute ein gutes Paket aus den Komponenten
Kindergeld, Kinderfreibetrag, Alleinerziehendenfreibetrag und Kinderzuschlag haben, ein milliardenschweres
Paket für die Familien in unserem Land. Ich freue mich,
dass wir das heute verabschieden können.
Herzlichen Dank.
({6})
Vielen Dank. - Damit, liebe Kolleginnen und Kolle-
gen, schließe ich die Debatte.
Wir kommen zur Abstimmung, zunächst über den
Änderungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
auf Drucksache 18/5259. Wir stimmen über den Ände-
rungsantrag auf Verlangen der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen namentlich ab. Ich bitte die Schriftführerinnen
und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzuneh-
men.
Ich weise darauf hin, dass mehrere Erklärungen zur
Abstimmung nach § 31 der Geschäftsordnung vorlie-
gen.1)
Sind alle Urnen besetzt? - Rechts hinten fehlt noch
eine Schriftführerin oder ein Schriftführer, links oben
auch.
Die Abstimmung ist eröffnet.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich weise darauf
hin, dass wir nach dieser namentlichen Abstimmung
eine weitere Abstimmung über einen Änderungsantrag
der Fraktion Die Linke haben. Deshalb bitte ich Sie, zu
bleiben.
Ist ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine
Stimme noch nicht abgegeben hat? - Wenn ja, dann bitte
ich darum, dies jetzt zu tun.
Ich stelle noch einmal die Frage: Ist ein Mitglied des
Hauses anwesend, das seine Stimme noch nicht abgegeben hat? - Das ist nicht der Fall. Ich schließe die Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen.
Bis zum Vorliegen des Ergebnisses unterbrechen wir
die Sitzung. Wir fahren fort, sobald die Ergebnisse vorliegen.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich eröffne die Sit-
zung wieder.
Das Ergebnis der Abstimmung liegt vor. Ich werde
Ihnen zunächst das von den Schriftführerinnen und
Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen
Abstimmung über den Änderungsantrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen zu der zweiten Beratung des
Entwurfs der Bundesregierung eines Gesetzes zur Anhe-
bung des Grundfreibetrags, des Kinderfreibetrags, des
Kindergeldes und des Kinderzuschlags mitteilen: Abge-
geben wurden 591 Stimmen. Mit Ja haben gestimmt 116,
mit Nein haben gestimmt 473, enthalten haben sich
2 Kolleginnen oder Kollegen. Damit ist der Änderungs-
antrag abgelehnt worden.
1) Anlagen 2 bis 4
Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 591;
davon
ja: 116
nein: 473
enthalten: 2
Ja
CDU/CSU
Nina Warken
SPD
Marcus Held
DIE LINKE
Jan van Aken
Dr. Dietmar Bartsch
Karin Binder
Heidrun Bluhm
Christine Buchholz
Eva Bulling-Schröter
Roland Claus
Sevim Dağdelen
Klaus Ernst
Wolfgang Gehrcke
Nicole Gohlke
Dr. André Hahn
Dr. Rosemarie Hein
Inge Höger
Ulla Jelpke
Kerstin Kassner
Jan Korte
Sabine Leidig
Stefan Liebich
Dr. Gesine Lötzsch
Thomas Lutze
Birgit Menz
Cornelia Möhring
Norbert Müller ({0})
Thomas Nord
Harald Petzold ({1})
Martina Renner
Michael Schlecht
Dr. Petra Sitte
Kersten Steinke
Dr. Kirsten Tackmann
Azize Tank
Frank Tempel
Dr. Axel Troost
Alexander Ulrich
Kathrin Vogler
Halina Wawzyniak
Katrin Werner
Jörn Wunderlich
Hubertus Zdebel
Pia Zimmermann
Sabine Zimmermann
({2})
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Kerstin Andreae
Marieluise Beck ({3})
Volker Beck ({4})
Dr. Franziska Brantner
Agnieszka Brugger
Ekin Deligöz
Katja Dörner
Harald Ebner
Matthias Gastel
Katrin Göring-Eckardt
Anja Hajduk
Britta Haßelmann
Bärbel Höhn
Dieter Janecek
Katja Keul
Sven-Christian Kindler
Maria Klein-Schmeink
Sylvia Kotting-Uhl
Stephan Kühn ({5})
Christian Kühn ({6})
Renate Künast
Monika Lazar
Steffi Lemke
Dr. Tobias Lindner
Nicole Maisch
Irene Mihalic
Beate Müller-Gemmeke
Özcan Mutlu
Dr. Konstantin von Notz
Omid Nouripour
Friedrich Ostendorff
Cem Özdemir
Brigitte Pothmer
Tabea Rößner
Claudia Roth ({7})
Corinna Rüffer
Elisabeth Scharfenberg
Dr. Gerhard Schick
Dr. Frithjof Schmidt
Dr. Wolfgang StrengmannKuhn
Dr. Harald Terpe
Markus Tressel
Jürgen Trittin
Dr. Julia Verlinden
Doris Wagner
Beate Walter-Rosenheimer
Nein
CDU/CSU
Stephan Albani
Katrin Albsteiger
Artur Auernhammer
Thomas Bareiß
Norbert Barthle
Günter Baumann
Maik Beermann
Manfred Behrens ({8})
Veronika Bellmann
Sybille Benning
Dr. André Berghegger
Dr. Christoph Bergner
Ute Bertram
Peter Beyer
Clemens Binninger
Peter Bleser
Norbert Brackmann
Klaus Brähmig
Michael Brand
Dr. Reinhard Brandl
Helmut Brandt
Dr. Ralf Brauksiepe
Dr. Helge Braun
Heike Brehmer
Ralph Brinkhaus
Cajus Caesar
Michael Donth
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Hansjörg Durz
Iris Eberl
Jutta Eckenbach
Hermann Färber
Uwe Feiler
Dr. Thomas Feist
Enak Ferlemann
Dirk Fischer ({9})
Axel E. Fischer ({10})
Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Thorsten Frei
Dr. Hans-Peter Friedrich
({11})
Michael Frieser
Hans-Joachim Fuchtel
Alexander Funk
Ingo Gädechens
Dr. Thomas Gebhart
Alois Gerig
Eberhard Gienger
Josef Göppel
Reinhard Grindel
Ursula Groden-Kranich
Hermann Gröhe
Klaus-Dieter Gröhler
Michael Grosse-Brömer
Astrid Grotelüschen
Markus Grübel
Manfred Grund
Oliver Grundmann
Monika Grütters
Fritz Güntzler
Olav Gutting
Christian Haase
Florian Hahn
Dr. Stephan Harbarth
Jürgen Hardt
Matthias Hauer
Mark Hauptmann
Dr. Stefan Heck
Dr. Matthias Heider
Helmut Heiderich
Mechthild Heil
Frank Heinrich ({12})
Mark Helfrich
Uda Heller
Jörg Hellmuth
Michael Hennrich
Ansgar Heveling
Peter Hintze
Christian Hirte
Robert Hochbaum
Thorsten Hoffmann
({13})
Karl Holmeier
Franz-Josef Holzenkamp
Dr. Hendrik Hoppenstedt
Margaret Horb
Bettina Hornhues
Anette Hübinger
Hubert Hüppe
Thomas Jarzombek
Sylvia Jörrißen
Andreas Jung
Xaver Jung
Dr. Egon Jüttner
Bartholomäus Kalb
Hans-Werner Kammer
Steffen Kampeter
Steffen Kanitz
Alois Karl
Anja Karliczek
Bernhard Kaster
Dr. Stefan Kaufmann
Roderich Kiesewetter
Dr. Georg Kippels
Volkmar Klein
Jürgen Klimke
Axel Knoerig
Jens Koeppen
Carsten Körber
Hartmut Koschyk
Kordula Kovac
Michael Kretschmer
Dr. Günter Krings
Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn
Rüdiger Kruse
Bettina Kudla
Dr. Roy Kühne
Günter Lach
Uwe Lagosky
Andreas G. Lämmel
Katharina Landgraf
Barbara Lanzinger
Dr. Silke Launert
Paul Lehrieder
Dr. Katja Leikert
Dr. Andreas Lenz
Antje Lezius
Ingbert Liebing
Matthias Lietz
Andrea Lindholz
Dr. Carsten Linnemann
Patricia Lips
Wilfried Lorenz
Dr. Claudia Lücking-Michel
Dr. Jan-Marco Luczak
Daniela Ludwig
Karin Maag
Yvonne Magwas
Thomas Mahlberg
Dr. Thomas de Maizière
Gisela Manderla
Matern von Marschall
Hans-Georg von der Marwitz
Andreas Mattfeldt
Stephan Mayer ({14})
Reiner Meier
Jan Metzler
Maria Michalk
Dr. h. c. Hans Michelbach
Dr. Mathias Middelberg
Philipp Mißfelder
Dietrich Monstadt
Karsten Möring
Marlene Mortler
Elisabeth Motschmann
Carsten Müller
({15})
Stefan Müller ({16})
Dr. Philipp Murmann
Dr. Andreas Nick
Michaela Noll
Helmut Nowak
Dr. Georg Nüßlein
Julia Obermeier
Florian Oßner
Dr. Tim Ostermann
Henning Otte
Ingrid Pahlmann
Sylvia Pantel
Martin Patzelt
Dr. Martin Pätzold
Dr. Joachim Pfeiffer
Eckhard Pols
Thomas Rachel
Kerstin Radomski
Alexander Radwan
Alois Rainer
Katherina Reiche ({17})
Lothar Riebsamen
Josef Rief
Dr. Heinz Riesenhuber
Johannes Röring
Dr. Norbert Röttgen
Erwin Rüddel
Albert Rupprecht
Anita Schäfer ({18})
Dr. Wolfgang Schäuble
Karl Schiewerling
Jana Schimke
Norbert Schindler
Tankred Schipanski
Heiko Schmelzle
Christian Schmidt ({19})
Gabriele Schmidt ({20})
Ronja Schmitt ({21})
Patrick Schnieder
Nadine Schön ({22})
Dr. Ole Schröder
Dr. Kristina Schröder
({23})
Bernhard Schulte-Drüggelte
Dr. Klaus-Peter Schulze
Uwe Schummer
Armin Schuster ({24})
Christina Schwarzer
Detlef Seif
Johannes Selle
Reinhold Sendker
Dr. Patrick Sensburg
Bernd Siebert
Johannes Singhammer
Tino Sorge
Jens Spahn
Carola Stauche
Dr. Frank Steffel
Dr. Wolfgang Stefinger
Albert Stegemann
Peter Stein
Sebastian Steineke
Johannes Steiniger
Christian Freiherr von Stetten
Dieter Stier
Rita Stockhofe
Gero Storjohann
Stephan Stracke
Max Straubinger
Matthäus Strebl
Karin Strenz
Thomas Stritzl
Thomas Strobl ({25})
Lena Strothmann
Michael Stübgen
Dr. Peter Tauber
Antje Tillmann
Astrid Timmermann-Fechter
Dr. Hans-Peter Uhl
Arnold Vaatz
Oswin Veith
Thomas Viesehon
Michael Vietz
Volkmar Vogel ({26})
Sven Volmering
Christel Voßbeck-Kayser
Kees de Vries
Dr. Johann Wadephul
Marco Wanderwitz
Kai Wegner
Albert Weiler
Marcus Weinberg ({27})
Dr. Anja Weisgerber
Peter Weiß ({28})
Sabine Weiss ({29})
Ingo Wellenreuther
Karl-Georg Wellmann
Marian Wendt
Kai Whittaker
Peter Wichtel
Annette Widmann-Mauz
Heinz Wiese ({30})
Klaus-Peter Willsch
Elisabeth WinkelmeierBecker
Oliver Wittke
Dagmar G. Wöhrl
Barbara Woltmann
Tobias Zech
Heinrich Zertik
Emmi Zeulner
Gudrun Zollner
SPD
Niels Annen
Ingrid Arndt-Brauer
Heike Baehrens
Ulrike Bahr
Dr. Katarina Barley
Doris Barnett
Dr. Matthias Bartke
Sören Bartol
Bärbel Bas
Dirk Becker
Uwe Beckmeyer
Lothar Binding ({31})
Burkhard Blienert
Willi Brase
Edelgard Bulmahn
Marco Bülow
Dr. Lars Castellucci
Petra Crone
Bernhard Daldrup
Dr. Daniela De Ridder
Sabine Dittmar
Martin Dörmann
Elvira Drobinski-Weiß
Petra Ernstberger
Saskia Esken
Karin Evers-Meyer
Dr. Fritz Felgentreu
Elke Ferner
Dr. Ute Finckh-Krämer
Christian Flisek
Gabriele Fograscher
Dr. Edgar Franke
Ulrich Freese
Dagmar Freitag
Sigmar Gabriel
Michael Gerdes
Martin Gerster
Angelika Glöckner
Ulrike Gottschalck
Uli Grötsch
Bettina Hagedorn
Rita Hagl-Kehl
Ulrich Hampel
Dirk Heidenblut
Hubertus Heil ({32})
Gabriela Heinrich
Wolfgang Hellmich
Dr. Barbara Hendricks
Heidtrud Henn
Gustav Herzog
Gabriele Hiller-Ohm
Petra Hinz ({33})
Thomas Hitschler
Dr. Eva Högl
Christina Jantz
Josip Juratovic
Thomas Jurk
Johannes Kahrs
Christina Kampmann
Ralf Kapschack
Gabriele Katzmarek
Ulrich Kelber
Marina Kermer
Cansel Kiziltepe
Arno Klare
Lars Klingbeil
Daniela Kolbe
Birgit Kömpel
Dr. Hans-Ulrich Krüger
Christine Lambrecht
Christian Lange ({34})
Burkhard Lischka
Gabriele Lösekrug-Möller
Hiltrud Lotze
Kirsten Lühmann
Dr. Birgit Malecha-Nissen
Caren Marks
Katja Mast
Hilde Mattheis
Dr. Matthias Miersch
Klaus Mindrup
Susanne Mittag
Bettina Müller
Michelle Müntefering
Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn
Ulli Nissen
Mahmut Özdemir ({35})
Aydan Özoğuz
Christian Petry
Jeannine Pflugradt
Detlev Pilger
Sabine Poschmann
Joachim Poß
Florian Post
Achim Post ({36})
Dr. Wilhelm Priesmeier
Florian Pronold
Dr. Simone Raatz
Martin Rabanus
Mechthild Rawert
Stefan Rebmann
Gerold Reichenbach
Dr. Carola Reimann
Andreas Rimkus
Sönke Rix
Dennis Rohde
Dr. Martin Rosemann
René Röspel
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Michael Roth ({37})
Susann Rüthrich
Bernd Rützel
Johann Saathoff
Annette Sawade
Dr. Hans-Joachim
Schabedoth
Axel Schäfer ({38})
Dr. Nina Scheer
Marianne Schieder
Udo Schiefner
Dr. Dorothee Schlegel
Ulla Schmidt ({39})
Matthias Schmidt ({40})
Dagmar Schmidt ({41})
Carsten Schneider ({42})
Ursula Schulte
Swen Schulz ({43})
Ewald Schurer
Frank Schwabe
Stefan Schwartze
Rita Schwarzelühr-Sutter
Dr. Carsten Sieling
Rainer Spiering
Svenja Stadler
Martina Stamm-Fibich
Sonja Steffen
Christoph Strässer
Claudia Tausend
Michael Thews
Dr. Karin Thissen
Franz Thönnes
Carsten Träger
Rüdiger Veit
Ute Vogt
Dirk Vöpel
Bernd Westphal
Andrea Wicklein
Dirk Wiese
Waltraud Wolff
({44})
Gülistan Yüksel
Dagmar Ziegler
Stefan Zierke
Manfred Zöllmer
Brigitte Zypries
Enthalten
SPD
Steffen-Claudio Lemme
Peer Steinbrück
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich komme jetzt zur
Abstimmung über den Änderungsantrag der Fraktion
Die Linke auf Drucksache 18/5258. Wer stimmt für diesen Änderungsantrag der Fraktion Die Linke? - Das ist
die Fraktion Die Linke. Wer stimmt dagegen? - Das sind
alle anderen Fraktionen. Wer enthält sich? - Niemand.
Damit ist dieser Änderungsantrag gegen die Stimmen
der Linken und mit den gesamten Stimmen des übrigen
Hauses ebenfalls abgelehnt worden.
Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf auf
den Drucksachen 18/4649 und 18/5011 in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen.
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält
sich? - Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung
mit den Stimmen der Koalition bei Enthaltung der Opposition angenommen worden.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist der
Gesetzentwurf in der dritten Lesung mit den Stimmen
der Koalition bei Enthaltung der Opposition angenommen worden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe jetzt den
Tagesordnungspunkt 7 sowie den Zusatzpunkt 1 auf:
7 Erste Beratung des von den Abgeordneten
Volker Beck ({45}), Ulle Schauws, Katja Keul,
weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zur Abschaffung des Eheverbots für gleichgeschlechtliche Paare
Drucksache 18/5098
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz ({46})
Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
ZP 1 Beratung des Antrags der Abgeordneten Harald
Petzold ({47}), Sigrid Hupach, Jan Korte,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Ehe für gleichgeschlechtliche Paare - Der
Entschließung des Bundesrates folgen
Drucksache 18/5205
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz ({48})
Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 60 Minuten vorgesehen. - Dazu gibt es
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner in dieser Aussprache hat der Fraktionsvorsitzende vom Bündnis 90/Die Grünen, Dr. Anton Hofreiter, das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Seit 25 Jahren nun führen wir schon die Debatte über die Öffnung der Ehe für schwule und lesbische Paare. Das ist verdammt viel Zeit. Unzähligen Paaren hat der Staat in der Zeit das verweigert, was sie sich
wünschten: verbindlich Verantwortung füreinander zu
übernehmen, ihre Liebe fest zu besiegeln. Das war bereits viel zu viel Zeit. Lassen Sie uns nicht länger warten! Lassen wir die Menschen, die sich lieben, nicht länger warten, liebe Kolleginnen und Kollegen!
({0})
Die heutige Regelung - im Kern wissen wir es alle;
das wissen alle, die hier sitzen - ist Diskriminierung und
nichts anderes. Es gibt zwar immer wieder Leute, die das
nicht einsehen wollen, insbesondere in der Union; aber
sie ist Diskriminierung. Kommen Sie uns bitte nicht mit
Religion oder gar mit dem Grundgesetz.
Schauen wir uns die Entwicklung der letzten Jahrzehnte an, und schauen wir uns doch die Bilanz des Bundesverfassungsgerichts seit 2000 an. Das Bundesverfassungsgericht hat seit 2000 immer und immer wieder
bewiesen, dass Sie sich irren. In insgesamt acht - acht! Verfahren hat das Bundesverfassungsgericht Ihre diskriminierenden Vorhaben zurückgewiesen.
Sie haben behauptet, das Lebenspartnerschaftsgesetz
sei mit dem Grundgesetz nicht vereinbar. Was passierte?
Sie haben vor dem Bundesverfassungsgericht verloren.
Sie haben behauptet, man dürfe Beamte je nach sexueller Orientierung unterschiedlich behandeln. Was ist passiert? Sie haben verloren. Sie wollten, dass Lesben und
Schwule höhere Steuern zahlen. Was ist passiert? Sie haben erneut verloren.
({1})
Dadurch ließ sich Ihr Diskriminierungswille aber kein
bisschen bremsen. Sie waren sogar bereit, Regenbogenfamilien zu Zweite-Klasse-Familien zu degradieren. Sie
haben vor dem Bundesverfassungsgericht zweimal verloren und waren sich noch nicht einmal zu schade, das
Ganze vor die europäischen Gerichte zu tragen. Auch
dort haben Sie verloren.
Erzählen Sie uns heute deshalb nichts mehr über das
Grundgesetz und die Ehe für alle. Davon haben Sie nämlich einfach keine Ahnung. Das haben Sie Jahr für Jahr
bewiesen.
({2})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich glaube, seit die
Menschen in Irland in einem Referendum für die Öffnung der Ehe gestimmt haben, dürfte selbst dem Konservativsten klar geworden sein, dass er mit seiner Haltung,
die Ehe für homosexuelle Paare zu verbieten, in der Welt
inzwischen verdammt allein dasteht.
Schauen wir uns an, was passiert ist. Viele Länder haben uns überholt: Uruguay, Südafrika, Island, Spanien.
Es ließen sich noch Unmengen weiterer Länder aufzählen. Sie alle haben das Eheverbot für Lesben und
Schwule abgeschafft. Bei uns gibt es das Eheverbot aber
weiter, weil ein Teil der Union seine herzlose Haltung
nicht überwinden kann.
({3})
Das darf einfach nicht mehr so weitergehen.
({4})
Es ist heute ja nicht die erste Debatte, die wir dazu
führen. Ich finde, die Scheinargumente, die wir dazu hören, langweilen einfach nur noch und nerven, ehrlich gesagt, auch. Sie nerven die Betroffenen und auch die
Nichtbetroffenen, die sich mit dem Thema beschäftigen.
Das sind keine Argumente, sondern Scheinargumente. Sie haben Ängste und komische Vorstellungen.
Am Ende sind all diese komischen Vorstellungen homophob. Wenn Sie einmal in sich gehen und in einer stillen
Minute darüber nachdenken würden - das Schlimme ist,
dass Sie das nicht tun -, dann müssten Sie zugeben, dass
Sie im Kern selber wissen, dass das so nicht geht und
dass wir das dringend ändern müssen.
({5})
Sie klammern sich aber an einem völlig überholten
Bild der Ehe fest,
({6})
das es in aufgeklärten Kreisen vielleicht noch nie gab.
Dieses Bild der Ehe war schon im letzten Jahrtausend
anachronistisch, und es ist im jetzigen Jahrtausend mehr
als anachronistisch. Geben Sie sich deshalb einen Ruck,
und seien Sie endlich aufgeklärt! Kommen Sie endlich in
der Moderne an! Es würde Ihnen sicher guttun.
({7})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, schauen wir uns das
doch einmal genau an: Eigentlich geht es heute doch um
etwas wirklich Schönes und Wunderbares. Zwei Menschen, die sich lieben, wollen ein Leben lang Verantwortung füreinander übernehmen und die Ehe eingehen. Frau Merkel, Ihre Bundeskanzlerin und die Parteivorsitzende der CDU, hat selbst einmal gesagt: Familie ist da,
wo Menschen Verantwortung füreinander übernehmen. Dann ermöglichen wir ihnen das doch mit der Ehe für
alle - egal ob hetero- oder homosexuell!
({8})
Deutschland ist vielfältig und bunt; unser Gesetzentwurf erkennt das an. Wir leben längst in einer modernen
und vielfältigen Gemeinschaft. Dafür sollte die Politik
- das ist doch eine unserer zentralen Aufgaben - auch
den rechtlichen Rahmen gestalten. Lasst uns dies also
gemeinsam tun!
({9})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU,
erkennen Sie einfach die Realität an. Geben Sie sich einen Ruck. Springen Sie über Ihren inzwischen ein bisschen verstaubten Schatten. Wenn Sie nicht über Ihren
verstaubten Schatten springen wollen, dann haben Sie
doch einfach den Mut, die Abstimmung freizugeben.
Stehen Sie dem Fortschritt einfach nicht mehr weiter im
Weg. Lasst uns deshalb hier im Deutschen Bundestag
endlich das Eheverbot für Lesben und Schwule gemeinsam abschaffen; denn es gehört abgeschafft.
Vielen Dank.
({10})
Vielen Dank. - Als nächste Rednerin hat Dr. Sabine
Sütterlin-Waack von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Insbesondere an Sie, liebe Kollegen von
Bündnis 90/Die Grünen, eine Frage vorab: Wollen wir
diese Debatte über die Öffnung der Ehe jetzt eigentlich
in jeder Sitzungswoche führen?
({0})
Wollen Sie immer wieder versuchen, uns mit diesem
Thema vorzuführen, nur um damit die Schlagzeilen zu
beherrschen?
({1})
Ich schließe mich vollständig der Meinung meines Kollegen Stefan Kaufmann an, der in der letzten Woche zu
bedenken gab, dass Sie damit in der Sache überhaupt
nichts erreichen
({2})
und womöglich am Ende mehr Widerstand provozieren,
als Ihnen um der Sache willen lieb sein müsste.
({3})
Gesellschaftliche Änderungen, meine Damen und
Herren, benötigen Akzeptanz. Sie brauchen Zeit. Selten
konnte man einen rasanteren gesellschaftlichen Wandel
betrachten.
({4})
- Hören Sie doch einmal zu!
({5})
Woher kommen wir in der Bundesrepublik Deutschland
beim Thema Gleichstellung? Bis 1994 waren sexuelle
Handlungen unter Männern nach dem damaligen § 175
Strafgesetzbuch strafbar. Viele Männer sind deshalb verurteilt worden und haben Strafen in Haftanstalten verbüßt. Auch über dieses Thema müssen wir reden.
({6})
Der Deutsche Bundestag hat sich auf den Weg gemacht und hat im Jahr 2000 einstimmig eine Entschuldigung für diese Menschen, die nach 1945 verurteilt worden sind, ausgesprochen.
({7})
Eine Rehabilitation allerdings hat bis jetzt noch nicht
stattgefunden. Eine pauschale Aufhebung, eine Generalkassation der Urteile, die nicht im Unrechtsstaat, sondern in der Bundesrepublik Deutschland erlassen wurden, wurde lange Zeit als nicht vereinbar mit dem
Prinzip der Gewaltenteilung des Rechtsstaats angesehen.
({8})
Auch hier müssen wir diskutieren.
({9})
Es mehren sich die juristischen Expertisen, in denen es
heißt: Wir können die Fehlentscheidungen, allesamt Verstöße gegen die Menschenwürde, rechtssicher korrigieren - durch ein Gesetz des Deutschen Bundestages.
({10})
Sieben Jahre später, also seit 2001, können gleichgeschlechtliche Paare eine staatlich anerkannte und legalisierte Verbindung eingehen.
({11})
Andere gesetzliche Gleichstellungen wie zum Beispiel
im Einkommensteuerrecht - das haben wir eben gehört -,
im Erbrecht und im Adoptionsrecht folgten. Wir sind
noch nicht am Ende dieser Entwicklung angekommen.
Im Koalitionsvertrag aus dem Jahr 2013 haben wir
Folgendes festgelegt:
Wir werden darauf hinwirken, dass bestehende Diskriminierungen von gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaften und von Menschen auf Grund
ihrer sexuellen Identität in allen gesellschaftlichen
Bereichen beendet werden.
({12})
Genau das geschieht jetzt mit dem Gesetz zur Bereinigung des Rechts der Lebenspartner, in dem für alle noch
fehlenden Bereiche im Zivil- und Verfahrensrecht und
auch im sonstigen öffentlichen Recht die Lebenspartner
Eheleuten gleichgestellt werden. Nach der parlamentarischen Sommerpause werden wir es hier behandeln. Damit gibt es tatsächlich nur noch die beiden viel diskutierten Punkte der Begrifflichkeit und der Volladoption, die
zur vollkommenen Gleichstellung fehlen.
Wir als große Volkspartei, lieber Herr Beck, sind aber
nicht so gleichförmig aufgestellt wie Ihre Partei.
({13})
Bei uns gibt es nicht nur Zustimmung zu diesem Thema.
Wir können diese Punkte nicht einfach so abräumen.
Wenn Sie sich die Entwicklung, die ich gerade aufgezeigt habe und deren Ausgangspunkt vor Augen führen:
Ist es da verwerflich oder gar homophob, Herr Kollege
Hofreiter, dass es einige gibt, die sich damit schwertun,
die der Meinung sind, die Ehe sei ausschließlich die Verbindung von Mann und Frau?
({14})
Diese Menschen denken, dass das Institut für die dauerhafte Verbindung zwischen zwei Frauen oder zwei Männern, die Verantwortung füreinander übernehmen, das
der eingetragenen Lebenspartnerschaft sei.
({15})
Auch diese Ansichten müssen wir respektieren. Am
Rande bemerkt: Bis zum heutigen Tag befinden sie sich
mit dieser Meinung in guter Gesellschaft, nämlich in der
von Bundesverfassungsrichtern.
({16})
Aber, meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, es
gibt auch viele in unserer Partei, die anders denken,
({17})
die der Meinung sind, wir sollten die Debatte als ProEhe-Diskussion ansehen und die sich darüber freuen,
dass sich die früher von linker Seite als urkonservativ
beschimpfte Ehe plötzlich ungeahnter Beliebtheit erfreut.
({18})
Die Zahl der eingetragenen Lebenspartnerschaften
wächst rasant. Derzeit gibt es rund 35 000 eingetragene
Lebenspartnerschaften, 2007 waren das noch nicht einmal die Hälfte. Ich bin der Meinung, dass wir diese Wertedebatte mutig und selbstbewusst führen sollten. Einer
umfassenden Diskussion auf dem Bundesparteitag im
Dezember in Karlsruhe sollten wir uns nicht verschließen.
({19})
- Sogar Applaus von den Grünen; das ist ja wunderbar.
({20})
Einige von uns in der CDU und vereinzelt auch in der
CSU - meine lieben Kolleginnen und Kollegen, Sie können das heute in der Süddeutschen Zeitung nachlesen können sich vorstellen, Ehe und eingetragene Lebenspartnerschaft gleichwertig nebeneinanderzustellen.
Die CDU-Landtagsfraktion in meinem Heimatbundesland Schleswig-Holstein hat sich diese Woche für die
vollständige Gleichstellung ausgesprochen.
({21})
Ich freue mich, dass wir ein derart breites Meinungsspektrum in unserer Partei haben. Nach meinem Verständnis wäre eine Gleichstellung aber nur dann möglich, wenn gleiche Rechte und Pflichten gelten würden.
Wenn man die weitestgehend redaktionellen Änderungen des Gesetzes zur Bereinigung des Rechts der Lebenspartner außen vor lässt, dann fehlt, wie erwähnt, nur
noch die gemeinsame Volladoption zur vollständigen
Gleichstellung. Ich habe es schon so oft gesagt und bin
dafür von einigen Oppositionskollegen bitter beschimpft
worden - ich halte es aber aufrecht -: Wir müssen darauf
achten, dass es den Kindern gut geht.
({22})
Frau Kollegin Winkelmeier-Becker hat in ihrer Rede
in der Aktuellen Stunde letzte Woche entsprechende
Überlegungen angestellt. Ist es richtig, dass das Alter der
möglichen Adoptiveltern, ihre wirtschaftlichen Verhältnisse, ihre Wohnverhältnisse und die Stabilität ihrer Beziehung bei der Auswahl eine Rolle spielen, aber nicht,
ob das Kind künftig zwei Männer oder zwei Frauen als
wichtigste Bezugspersonen hat? Ist man schon deshalb
reaktionär, weil man darüber nachdenkt? Ist es nicht zulässig, darüber zu reden, ob es für Kinder wichtig ist, in
der entscheidenden Phase ihrer Prägung von Männern
und Frauen begleitet zu werden?
Wir müssen darüber reden. Denn Unverständnis und
Ablehnung liegen meist vor, wenn Menschen keine näheren Kenntnisse haben, wenn sie nicht wissen, wie in
homosexuellen Partnerschaften - auch mit Kindern - liebevoll und verantwortungsbewusst miteinander umgegangen wird.
Ich habe den Eindruck, dass wir in der Gesellschaft
eine noch nie dagewesene offene Diskussion zur Frage
der vollständigen Gleichstellung von homosexuellen
Menschen führen. Wir sollten diese fortführen und dann
entscheiden. Es kann gut sein, dass die vollständige
rechtliche Gleichstellung noch etwas Zeit braucht. Das
mögen viele als Ungerechtigkeit empfinden. Ein Drama
ist es angesichts der bereits erzielten fast vollständigen
Angleichung nicht. Drastische gesellschaftliche Veränderungen - und über nichts anderes sprechen wir - benötigen Akzeptanz, und Akzeptanz braucht Zeit.
Vielen Dank.
({23})
Vielen Dank, Frau Kollegin. - Nächster Redner ist
Harald Petzold, Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Verehrte Besucherinnen und Besucher! Ja,
Frau Kollegin Sütterlin-Waack, wir haben erst vor einer
Woche auf Antrag der Fraktion Die Linke in einer Aktuellen Stunde im Deutschen Bundestag über das Thema
„Ehe für alle“ gesprochen. Ich habe Ihnen schon in der
vorigen Woche versichert: Wir werden das Thema so oft
wieder aufrufen, bis es endlich geklärt ist.
({0})
Denn das ist auch unsere Aufgabe als Opposition.
Ich habe Ihnen in meiner ersten Rede dazu im Deutschen Bundestag gesagt, dass ich es satt habe, dass ständig Artikel wie der, den ich Ihnen heute mitgebracht
habe und in dem es um ein „ganz normales Paar“ geht,
veröffentlicht werden müssen, in denen ganz deutlich
dargelegt wird, wie die Diskriminierung trotz der Fortschritte nach wie vor in der Gesellschaft wirkt. Ich weiß,
dass ich Sie persönlich nicht mehr überzeugen muss
- wir beide stimmen in dieser Frage überein -, aber Ihre
Fraktionsführung und leider auch ein großer Teil Ihrer
Fraktion stehen noch nicht dahinter. Deswegen müssen
wir diese Debatte führen.
Sie könnten sich doch ganz schnell von dem Schmerz
befreien. Geben Sie die Abstimmung frei! Dann könnte
die rechnerische Mehrheit, die es in diesem Hause gibt,
endlich zum Zuge kommen, und wir könnten das Thema
abräumen. Damit wäre es erledigt.
({1})
Denn inzwischen hat sich die Erde weitergedreht. Es ist
nicht so, dass nur Bündnis 90/Die Grünen, wir, Teile der
SPD
({2})
und inzwischen auch Teile Ihrer Partei das inzwischen
auf die Tagesordnung setzen, sondern auch - das ist in
der vorigen Woche angesprochen worden - andere europäische Länder, Amerika und Südafrika. International
werden wir überholt. Der Bundesrat hat inzwischen wieder einen mehrheitlichen Beschluss gefasst und uns aufgefordert, die Ungleichbehandlung sofort zu überwinden. Und auch - Sie haben es selbst angesprochen - Ihre
eigene Landtagsfraktion in Schleswig-Holstein - ich
zitiere - „begrüßt ausdrücklich Gesetzesvorhaben und
Initiativen, welche die Gleichstellung eingetragener Lebenspartnerschaften mit der Ehe zum Ziel haben und bestehende Ungleichbehandlungen beenden“. Ich gehe davon aus, dass das nicht von irgendwelchen Hackern auf
die Internetseite Ihrer Landtagsfraktion in SchleswigHolstein gestellt wurde,
({3})
sondern tatsächlich die Meinung von Herrn Daniel
Günther, dem Fraktionsvorsitzenden, ist. Ich kann ihm
nur zustimmen, wenn es weiter heißt:
Deshalb können gerade wir als CDU-Fraktion den
Wunsch gleichgeschlechtlicher Paare, alle aus der
Ehe hervorgehenden Rechte und Pflichten in gegenseitiger Verantwortung einzugehen, nur begrüßen.
Dem Mann ist zuzustimmen. Das klingt zwar noch
immer verschwurbelt. Aber das ist zumindest ein Versuch, Ihre eigene Partei daran zu erinnern, was sie zusammen mit der SPD in der Koalitionsvereinbarung beschlossen hat. Also setzen Sie das endlich um!
({4})
2001 wurde das Rechtsinstitut der eingetragenen Lebenspartnerschaft geschaffen; darauf wurde schon Bezug genommen. Damals hatte es eine Vorbildfunktion in
Europa. Lesben und Schwule konnten eine staatlich anerkannte Partnerschaft endlich eingehen. Das gab es damals nur in wenigen europäischen Ländern. Die Lebenspartnerschaft bedeutete aber viele Pflichten und nur
wenige Rechte. Deswegen ist sie nicht so zum Zuge gekommen, wie wir uns das eigentlich wünschen. Hinzu
kommt, dass die Union auf der Bundesebene und im
Bundesrat weitere Rechte verhindert hat. Dieser Zustand
muss endlich beendet werden.
({5})
Dazu wird aber das Gesetz, dessen Entwurf Bundesminister Heiko Maas inzwischen im Internet veröffentlicht hat und das die eingetragene Lebenspartnerschaft
angeblich gleichstellen soll, nichts beitragen. Es ist eigentlich eine Ohrfeige für Lesben und Schwule in diesem Land; denn diese werden beispielsweise beim gemeinsamen Adoptionsrecht wieder nicht gleichgestellt.
Es hat keinen Sinn mehr, am Klein-Klein eines
Rechtsangleichungsgesetzes herumzudoktern und noch
mehr Zeit bei der Gleichstellung eingetragener Lebenspartnerschaften zu vertrödeln. Es muss vielmehr darum gehen - deswegen wird meine Fraktion den Gesetzentwurf von Bündnis 90/Die Grünen unterstützen, der
identisch mit dem ist, was wir bereits im Dezember 2013
eingebracht haben -, dass endlich eine Gleichstellung erfolgt. Alle Menschen sind gleich. Ihre Liebe ist ebenso
Harald Petzold ({6})
respektabel. Deswegen müssen wir den Zugang zum
Rechtsinstitut der Ehe für alle öffnen.
Vielen Dank.
({7})
Herzlichen Dank. - Für die SPD-Fraktion spricht jetzt
Dr. Johannes Fechner.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer! Liebe Mitglieder der
Fraktion der Grünen! Ja, die Fraktion der Grünen
möchte ich besonders anreden, weil sie uns mit dem vorliegenden Gesetzentwurf die Gelegenheit gibt, unsere
Position darzulegen und einmal mehr über dieses wichtige Thema zu diskutieren. Die SPD setzt sich seit vielen
Jahre für die Ehe für alle ein; denn für uns gibt es keine
Liebe erster und zweiter Klasse. Eine moderne Gesellschaft darf keinen Unterschied zwischen homosexuellen
und heterosexuellen Paaren machen. Deswegen setzen
wir uns dafür ein, jegliche Diskriminierung aufzuheben.
Wir wollen die Ehe für alle.
({0})
Wir werden in Kürze den Entwurf eines Gesetzes zur
Bereinigung des Rechts der Lebenspartner verabschieden, mit dem wir viele Regelungen beseitigen, bei denen
es Diskriminierung von gleichgeschlechtlichen Paaren
gibt. Wir machen dies, weil es für uns keine Gründe
mehr gibt, gleichgeschlechtliche Paare anders zu behandeln als heterosexuelle Paare. Wir ermöglichen es zum
Beispiel, dass ein Partner beim Tod seines Partners in
dessen Mietvertrag eintritt. Das war bisher nur Ehegatten möglich. Wir schaffen etwa im Zwangsversteigerungsrecht Schutzrechte, die bisher nur für Ehegatten
galten. Wie Sie sehen, stellt dieses Gesetz keine Ohrfeige für Schwule und Lesben dar, wie es der Vorredner
- zu Unrecht - behauptet hat. Vielmehr ändern wir über
23 Gesetze und Verordnungen, um gleichgeschlechtliche
Paare mit heterosexuellen Paaren gleichzustellen. Daran
sehen Sie, wie wichtig es uns ist, jegliche Diskriminierung zu beseitigen.
({1})
Wir von der SPD wollen aber auch weitergehen. Wir
wollen gleichgeschlechtlichen Paaren ermöglichen, sich
gemeinsam für die Adoption eines Kindes zu bewerben.
Es gibt weder medizinische noch entwicklungspsychologische Gründe, die begründen, warum Kindern Nachteile entstehen, wenn sie von gleichgeschlechtlichen
Paaren aufgezogen werden.
({2})
Gerade weil es keinen Grund gibt, warum homosexuelle
Paare per se schlechtere Eltern sind, müssen homosexuelle Paare die Möglichkeit haben, sich für die Adoption
eines Kindes zu bewerben; genau darum geht es uns.
({3})
Wir wollen keinen Rechtsanspruch auf Kindesadoption
schaffen; denn über die Adoption entscheidet letztendlich das Familiengericht.
({4})
Wir meinen: Ob ein Paar ein Kind adoptieren darf, muss
das Familiengericht entscheiden, und zwar ausschließlich danach, ob es dem Kindeswohl dient, und nicht danach, welches Geschlecht bzw. welche sexuelle Orientierung das Paar hat. Entscheidend muss immer das
Kindeswohl sein.
({5})
Auch ich bedauere, dass die Union hier nach wie vor
eine andere Position vertritt als die SPD. Viele in Ihren
Reihen wissen längst, dass in einer modernen Gesellschaft diese Ungleichbehandlungen nicht aufrechterhalten werden können. Da der Tag sowieso kommen wird,
an dem Sie diese Haltung aufgrund des gesellschaftlichen Drucks oder einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aufgeben müssen, sollten wir noch in
dieser Legislaturperiode diese Diskriminierung von homosexuellen Paaren aufheben.
({6})
Wir sind für die Ehe für alle. Wir möchten im BGB
definieren, dass eine Ehe zwischen zwei erwachsenen
Menschen geschlossen werden kann, unabhängig vom
Geschlecht. 21 europäische Staaten haben schon die Lebenspartnerschaft, und in Europa haben zehn Staaten die
Ehe für alle Menschen eingeführt. Es wird Zeit, dass
auch wir in Deutschland diesen Schritt gehen.
({7})
Nun gibt es die Ansicht, dass dafür eine Verfassungsänderung erforderlich sei. Diese Einschätzung teile ich
ausdrücklich nicht.
({8})
Nicht zuletzt ein Gutachten von Frau Dr. Wapler von der
Friedrich-Ebert-Stiftung hat präzise aufgezeigt, dass eine
Verfassungsänderung nicht erforderlich ist. Das Bundesverfassungsgericht versteht die Institute der Ehe und der
Lebenspartnerschaft als funktionell gleichartig und hat
schon 1993 ausdrücklich geurteilt, dass der Begriff der
Ehe einem gesellschaftlichen Wandel unterliegt. Nichts10736
destotrotz halte ich eine Verfassungsänderung für sinnvoll und wünschenswert; denn dann gäbe es keine
Diskussionen mehr zur verfassungsrechtlichen Zulässigkeit, vor allem aber stünde dann auch die gleichgeschlechtliche Ehe im Grundgesetz unter besonderem
Schutz. Deshalb sollte auch eine Ehe, die allen erwachsenen Menschen offensteht, im Grundgesetz als Ehe so
benannt sein.
({9})
Denn was schadet es denn Familien, in denen Ehepartner Mann und Frau sind, wenn die Ehe auch für
gleichgeschlechtliche Paare zugelassen würde? Nichts,
aber auch gar nichts. Es gibt hier keine Konkurrenzsituation. Deshalb sollten wir allen Menschen, gleich welcher
sexuellen Orientierung und gleich welchen Geschlechts,
die Eheschließung ermöglichen.
({10})
Unser Ziel ist damit klar: Wir wollen die vollständige
Gleichheit zwischen heterosexuellen und homosexuellen
Paaren. Wir wollen die Ehe für alle. Wir wollen nicht nur
die Sukzessivadoption, die Sie, liebe Kolleginnen und
Kollegen von der Union, mitgemacht haben, sondern wir
wollen das volle Adoptionsrecht für alle Paare unabhängig vom Geschlecht.
({11})
Ich sage es nochmals: Ich bedauere es sehr, dass wir
hier keine freie Abstimmung haben, also unser Koalitionspartner die Abstimmung nicht freigegeben hat;
denn nicht nur in der Bevölkerung, sondern vor allem
hier im Bundestag - da bin ich mir sicher - gibt es eine
große Mehrheit für die Ehe für alle.
Man hört nun - dies zum Schluss -, dass in der Union
im Dezember auf dem Bundesparteitag Beratungen über
die aktuelle Beschlusslage stattfinden sollen. Um diesen
Prozess in der Union hin zu der überfälligen Gleichstellung von heterosexuellen und homosexuellen Paaren zu
beschleunigen, möchte auch ich einen Beitrag leisten.
Ich wohne nicht weit weg von Karlsruhe. Ich biete ausdrücklich an, als Gastredner die vielen guten Argumente
vorzutragen, um bei euch den Prozess zu beschleunigen.
({12})
Wir brauchen die Ehe für alle, wir müssen alle Diskriminierungen abschaffen.
Vielen Dank. Ich freue mich auf die Einladung.
({13})
Vielen Dank. - Nächster Redner ist Volker Beck,
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zunächst vielen Dank, Frau Sütterlin-Waack, für Ihre eindrucksvolle Rede. Ich fand den Ton sehr angemessen,
und ich fand auch, dass Sie deutlich gemacht haben und
dass die ganze Debatte deutlich gemacht hat: Die Mehrheit für die Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche
Paare ist zum Greifen nahe.
({0})
Ich bin jetzt der fünfte Redner in der Debatte. Es gab
in der Debatte kein einziges substanzielles Argument,
das gegen die Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche
Paare spricht.
Schauen wir einmal zurück. Die Union hat sich bei
der Frage der Homosexualität traditionell immer schwergetan und hat dann doch dazugelernt. Jahrzehnte haben
Sie gegen jede Reform des § 175 StGB - bis 1969 - und
dann - bis 1994 - gegen die Streichung des § 175 StGB
gekämpft. Jetzt sind Sie mit uns zusammen froh, dass
Homosexuelle in Deutschland nicht mehr kriminalisiert
werden.
Jahrzehnte haben Sie gegen die rechtliche Anerkennung, und zwar in jeder Form, gleichgeschlechtlicher
Partnerschaften gekämpft. Jetzt ist Frau Merkel froh,
dass Rot-Grün das Lebenspartnerschaftsgesetz beschlossen hatte. Damals hat sie dagegen gestimmt; Bayern,
Sachsen und Thüringen, wo die Union allein regierte,
haben Normenkontrollklage vor dem Bundesverfassungsgericht erhoben und verloren.
Ich bin sicher: Wenn wir das Eheverbot für gleichgeschlechtliche Paare aufgehoben haben werden, werden
auch viele bei Ihnen froh sein, dass die Ehe gesellschaftlich kein Auslaufmodell ist und dass sogar viele Lesben
und Schwule heiraten. Und das finde ich auch gut so,
und das wäre versöhnlich für die Lesben und Schwulen
in diesem Land.
({1})
Frau Sütterlin-Waack, Sie haben reklamiert, es
bräuchte weiter Zeit und Respekt für diese Haltung und
Forderung der Union. Ich bitte Sie, ein Stück weit zu respektieren, dass wir ein bisschen ungeduldig sind.
({2})
Im Juli 1990, fast exakt vor 25 Jahren, hat sich der
Bundestag zum ersten Mal mit einem Antrag der Grünen
zur Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare
auseinandergesetzt.
({3})
25 Jahre sind wirklich genug Zeit an Debatte; genug ist
genug. Wir brauchen jetzt Entscheidungen. Lassen Sie
uns nicht noch eine Legislatur warten. Lassen Sie uns
das dieses Jahr beschließen.
Volker Beck ({4})
({5})
Sie haben ja gerade gefragt: Wollen wir das jede Woche hier debattieren?
({6})
Ich habe keinen Debattenbedarf mehr. Ich habe Entscheidungsbedarf. Aber interessant ist ja doch: Von Woche zu Woche, von Debatte zu Debatte wird die Liste der
Staaten, die inzwischen die Ehe für gleichgeschlechtliche Paare geöffnet haben, immer länger. Letzte Woche
haben wir debattiert, weil das irische Volk den gleichgeschlechtlichen Paaren das Eheschließungsrecht zugestanden hat. Diese Woche ist Mexiko dazugekommen.
Der Oberste Gerichtshof von Mexiko hat in einem Urteil
gesagt: Weil der Zweck der Eheschließung nicht die
Fortpflanzung ist, gibt es keinen angemessenen Grund,
dass die Partner bei einer Eheschließung heterosexuell
sein müssen. Die Ehe nur zwischen einem Mann und einer Frau zuzulassen, ist nichts als Diskriminierung von
Homosexuellen.
({7})
Ich finde, prägnanter kann man es nicht formulieren. Ich
bin sicher: Wenn wir uns nicht beeilen, werden uns das
eines Tages das Bundesverfassungsgericht oder der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte auch sagen.
({8})
Schauen Sie sich doch einmal die Länder an, die die
Ehe für gleichgeschlechtliche Paare geöffnet haben. Es
wird ja gesagt: Wer weiß, was dann alles passiert? Die
Anzahl der Eheschließungen geht zurück. Es werden
keine Kinder mehr geboren. - Frau Kramp-Karrenbauers
Assoziationen will ich hier gar nicht anführen.
({9})
Was ist in den Niederlanden in den letzten 14 Jahren
passiert? Was ist in den letzten 12 Jahren in Belgien
passiert? Was ist in den letzten 10 Jahren in Spanien
passiert? Nichts Schlimmes ist passiert, außer dass ein
paar schwule und lesbische Paare glücklicher sind, weil
sie geheiratet haben und weil die Gesellschaft, in der sie
leben, Ja zu ihnen gesagt hat. Da nachzuziehen, das sind
wir, finde ich, den Homosexuellen angesichts unserer
Geschichte schuldig.
({10})
In keinem Land in Europa wurden Homosexuelle so
intensiv verfolgt wie die Homosexuellen im 20. Jahrhundert in Deutschland. Ich finde, auch vor diesem Hintergrund haben wir allen Grund, zu sagen: Schwule und
Lesben sind Bürger wie alle anderen auch. Sie genießen
die gleichen Rechte, die gleiche Würde, und die Gesellschaft zollt ihnen den gleichen Respekt. Das bringen wir
zum Ausdruck, indem wir das Eheverbot bei Gleichgeschlechtlichkeit endlich aufheben.
({11})
Vielen Dank. - Als Nächster hat das Wort Alexander
Hoffmann, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Geschätzte Kolleginnen und Kollegen! Wenn wir dieses Thema jetzt jede
Woche debattieren, dann ist das parlamentarisch durchaus in Ordnung. Nur möchte ich anknüpfen an die
Diskussion in der letzten Woche, die mir insgesamt etwas zu emotional und unsachlich gewesen ist.
({0})
Von Herrn Hofreiter habe ich heute gehört, wir hätten
keine Ahnung, wir seien von einer herzlosen Haltung geprägt,
({1})
wir seien homophob oder nicht aufgeklärt. Ich sage Ihnen auch jetzt wieder, dass ich nicht glaube, dass Sie
dem Thema mit diesen persönlichen Angriffen einen Gefallen tun.
({2})
Ich bin froh über die heutige Debatte, weil sie mir die
Gelegenheit gibt, den einen oder anderen Aspekt zu
vertiefen, wozu ich letzte Woche aufgrund der FünfMinuten-Regel keine Gelegenheit hatte.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, zunächst einmal ein Blick auf die tatsächliche Ebene. Ich
kann nachvollziehen, wenn Sie sagen: Wir wollen die
Ehe für gleichgeschlechtliche Paare öffnen, um jeglicher
Diskriminierungsgefahr vorzubeugen. - Ich kann auch
nachvollziehen, wenn Sie sagen: Wenn in einem Lebenslauf oder in einer Bewerbung „verpartnert“ statt „verheiratet“ steht, dann könnte das bei einem intoleranten
Arbeitgeber, bei einem intoleranten Personalchef schon
der erste Ansatzpunkt für eine Diskriminierung sein. Wir sind - auch das will ich vorwegschicken - beieinander. Auch wir wollen in diesen Fällen keine Diskriminierung.
Wir unterscheiden uns allerdings grundlegend bei der
Frage, wie wir diese Herausforderung, dieses Problem
lösen wollen. Ich glaube nämlich, Gleichmacherei oder
Vereinheitlichung - ohne das werten zu wollen - ist der
falsche Ansatz.
({3})
- Dazu komme ich gleich. - Unser gemeinsames Ziel ist
doch, dass wir die Engstirnigkeit aus den Köpfen bekommen. Wir wollen Toleranz in den Köpfen.
({4})
Ihre Argumentation ist nichts anderes als ein Rückzug
oder eine Kapitulation vor Intoleranz. Wie sieht denn die
Situation tatsächlich aus? Wenn Sie die Bezeichnung ändern, sodass das nicht im Lebenslauf steht, dann enthalten Sie diese Information intoleranten oder engstirnigen
Personalchefs eigentlich nur vor. Wenn man dann im Betrieb ist und drei Wochen später mit dem Partner zum
Grillfest eingeladen ist oder auf dem Marktplatz Arbeitskollegen begegnet, dann bricht doch genau dieses
Thema wieder auf.
({5})
Das heißt, Sie ändern in den Köpfen gar nichts, sondern
Sie verschieben die Offenlegung nur nach hinten.
({6})
Herr Kollege Hoffmann, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Beck?
Ja natürlich, gern.
Bitte schön.
Bevor wir jetzt hier darüber reden, ob wir der Toleranz einen Gefallen tun, wenn man sich auf Personaldokumenten und Zeugnissen über die Lebenspartnerschaft
outet, möchte ich eine praktische Frage an Sie stellen. Es
geht um ein Problem, das mir bis vor kurzem auch nicht
bewusst war.
Was würden Sie einem deutschen verpartnerten Paar
raten, das in die USA oder nach Südafrika oder nach
Argentinien ausreist, in ein Land, das die Lebenspartnerschaft nicht kennt und auch nicht anerkennt, aber die
gleichgeschlechtliche Ehe hat? Die Rechtssituation ist
so: Wenn dort ein solches Paar als Paar anerkannt werden will, um etwa Familiennachzug zu ermöglichen,
wenn nur der eine einen Arbeitsplatz hat, dann muss es
heiraten. Das geht aber nicht, weil die beiden gar nicht
ledig sind; sie sind nämlich verpartnert. Das steht in den
deutschen Dokumenten. Dann müssen sie sich eigentlich
de lege lata erst einmal scheiden lassen, nach dem Trennungsjahr, und müssen in dem Land wieder heiraten.
Gut, dass wir nicht mehr das Zerrüttungsprinzip, sondern
nur noch das Trennungsjahr haben. Kein Familienrichter
würde sonst glauben, dass ein Paar sich scheiden lassen
will, um wieder zu heiraten.
Was ist Ihr praktischer Rat an dieses Paar? Wie
kommen die Menschen dazu, dass in dem Land, in dem
sie aus Arbeitsplatzgründen leben wollen oder leben
müssen, ihre Partnerschaft weiter anerkannt wird? Wie
vermeiden Sie, dass die Menschen, die zusammenbleiben wollen, für eine Trennung zum Familiengericht gehen müssen?
({0})
Danke für die Frage, Kollege Beck. - Die Antwort ist,
dass die einzige Lösung dieses Problems doch nicht die
Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare ist.
({0})
Man kann das heute in völkerrechtlichen Verträgen vereinbaren.
({1})
Ich muss ganz ehrlich sagen: Wenn Sie hypothetische
Fälle bilden - ({2})
- Das haben wir in anderen Rechtsbereichen genauso.
Das haben wir im Adoptionsrecht. Da gibt es ganze
Listen mit Ländern, mit denen eine Vereinbarung unterzeichnet ist.
({3})
Sie nehmen einen hypothetischen Fall, den ich genauso
gut umgekehrt formulieren kann.
({4})
Es gibt auch noch Länder, in denen Homosexualität
strafbar ist. Das sind hier keine tauglichen Beispiele.
({5})
- Doch, ich hatte eine; aber das ist vielleicht nicht die,
die Sie hören wollen, Herr Beck.
Wenn wir es jetzt an der Bezeichnung festmachen,
frage ich: Wo führt das letztendlich hin? Kommen wir
dann zu gleichen Bezeichnungen auch in anderen Bereichen? Kommen wir dann zu anonymen Bewerbungen?
Ich meine, auch die Argumentation ließe sich hören,
dass es ein Ansatzpunkt für die Diskriminierung sein
könnte, wenn jemand in einer Bewerbung liest, dass es
sich um eine Frau handelt oder der Name ausländisch
klingt. Ich glaube, dass das der falsche Weg zur Beseitigung von Engstirnigkeit ist. Das haben doch die letzten
zehn Jahre gezeigt. Wenn wir einmal zehn Jahre zurückgehen und vergleichen, wie damals über dieses Thema
diskutiert und auch gedacht wurde und wie es heute in
den Köpfen aussieht, dann können wir ermessen, wo wir
in zehn Jahren sein werden.
({6})
Ich will Ihnen auch sagen, dass meine Wahrnehmung
die ist, dass die Sternstunden der Homosexualität und
der Gleichstellung immer Szenarien gewesen sind, in
denen sich Menschen offen zu ihrer Homosexualität bekannt haben. Nehmen Sie Thomas Hitzlsperger. Nehmen
Sie Klaus Wowereit. Ich glaube, dass wir der Bevölkerung mehr zutrauen sollten. Das schreiben Sie ja auch
dankenswerterweise in Ihrem Antrag. Da kommt der
Satz vor: „In der Bevölkerung wird heute nicht mehr
zwischen Ehe und Lebenspartnerschaft unterschieden.“
Deswegen glaube ich, dass wir heute keine so weitreichende Regelung brauchen.
Nun noch ein Blick auf die juristische Ebene:
Die Ehe als allein der Verbindung zwischen Mann
und Frau vorbehaltenes Institut … erfährt durch
Art. 6 Abs. 1 GG einen eigenständigen verfassungsrechtlichen Schutz.
Dieser Satz stammt nicht von mir, sondern er stammt
vom Bundesverfassungsgericht. Er ist auch nicht von
1980, 1990 oder 2000, sondern er ist vom 7. Mai 2013.
Das Bundesverfassungsgericht hat ihn formuliert im
Zusammenhang mit der Grundsatzentscheidung zum
Ehegattensplitting. Interessant ist zudem, dass das
Bundesverfassungsgericht diesen Satz fast gebetsmühlenartig immer wieder bei Grundsatzentscheidungen zur
Gleichstellung wiederholt.
({7})
- Ich habe doch jetzt eine aus dem Jahr 2013 zitiert.
({8})
Kollege Fechner, ich war vorhin schon überrascht, als
Sie gesagt haben, Sie teilen nicht die Auffassung, dass
da eine Grundgesetzänderung erforderlich ist. Denn das
Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz, dem ja bekanntermaßen ein SPD-Minister vorsteht, kommt genau zu dieser Einschätzung.
({9})
Es ist nämlich selbst der Auffassung, dass für eine Öffnung der Ehe
({10})
für gleichgeschlechtliche Partnerschaften eine Grundgesetzänderung in Artikel 6 Absatz 1 des Grundgesetzes
erforderlich wäre. Auch das, Kollege Kahrs, sage ich,
weil Sie gerade so dazwischengeredet haben.
({11})
- Kollege Beck, ich wundere mich, dass Sie jetzt mit mir
darüber diskutieren. Das ist das Resultat einer Kleinen
Anfrage vom 16. April 2015.
({12})
Da steht das ausdrücklich drin. Die liegt Ihnen auch vor.
Deswegen lasse ich die Frage jetzt auch nicht zu; denn
wenn wir über eindeutige Schriftlichkeiten diskutieren,
dann wird es irgendwann anstrengend.
Insofern muss man sagen: Wenn die Einschätzung
klar ist, auch vom Justizministerium, dass wir hier das
Grundgesetz ändern müssen, dann wundere ich mich
natürlich schon, warum Sie heute den Versuch unternehmen, mit einer einfachgesetzlichen Regelung diese Veränderungen herbeizuführen.
Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Kolleginnen
und Kollegen, ich habe letzte Woche gesagt:
Ich bin der festen Überzeugung, dass eine offene
Gesellschaft sich nicht nur durch oberflächliche
Gleichmacherei auszeichnet,
({13})
sondern sie zeichnet sich dadurch aus, dass wir Verschiedenes auch verschieden bezeichnen:
- jetzt kommt es, Frau Roth, weil Sie von gleichen
Rechten sprechen Männer sind Männer, Frauen sind Frauen. Das ist in
der Anrede und das ist im Vornamen oftmals schon
erkennbar.
({14})
Dann haben Sie, Kollege Beck, dazwischengerufen:
„Und Artikel 3 gebietet, sie gleich zu behandeln! Gutes
Beispiel!“ Genau das ist der Punkt. Männer und Frauen
sind unterschiedlich. Sie sind unterschiedlich zu bezeichnen, aber sie sind gleich zu behandeln. Das gilt
letztendlich auch für die Ehe und für die gleichgeschlechtliche Partnerschaft.
({15})
Es gibt kein Geschlecht erster Ordnung und kein Geschlecht zweiter Ordnung,
({16})
und es gibt auch keine Liebe erster Klasse und keine
Liebe zweiter Klasse.
Vielen Dank.
({17})
Vielen Dank. - Nächster Redner für die SPD-Fraktion
ist Dr. Karl-Heinz Brunner.
({0})
Verehrte Frau Präsidentin! Meine Kolleginnen und
Kollegen! Verehrte Zuhörerinnen und Zuhörer! Kollege
Hoffmann, Sie haben bemängelt, dass die bisherigen
Diskussionen und Debatten zum Thema „Ehe für alle“,
zur Frage der Diskriminierung und der Gleichberechtigung in diesem Land zu emotional sind. Ich sage: Sie
sind Gott sei Dank emotional, weil die Menschen frühmorgens mit Emotionen erwachen und abends mit
Emotionen zu Bett gehen. Das macht uns Menschen aus.
Das unterscheidet uns von allen anderen Lebewesen.
Wir haben Emotionen und dürfen diese Emotionen auch
darstellen.
({0})
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, meine Damen
und Herren, gestern Nachmittag haben wir in einem sehr
würdigen Rahmen eine Debatte zum 17. Juni 1953 gehabt. Wir haben in der Debatte gehört, dass die Menschen für bessere Lebensbedingungen auf die Straße gegangen sind. Sie sind für die Freiheit auf die Straße
gegangen. Sie sind dafür auf die Straße gegangen, frei zu
leben, ohne Zwang zu leben und ohne Repressalien. Das
war gut so, und wir haben gestern dafür gedankt. Aber
dazu gehört auch ein Leben ohne Diskriminierung; denn
das sind auch Repressalien. Deshalb könnte man, wenn
man es nicht schwarz auf weiß lesen würde, kaum glauben, dass noch heute, im Jahr 2015, im Bundeszentralregister der Straftaten über 3 000 Datensätze mit dem
Eintrag „§ 175 StGB“ enthalten sind. Damit werden alte,
anständige Männer dieses Landes weiterhin stigmatisiert, diskriminiert und nach vielen Jahren noch immer
verhöhnt. Sie können nicht versöhnt mit ihrem Land
sterben, für das sie so viel getan haben,
({1})
und das nur deshalb, weil sie zu ihrer Liebe standen.
Ich bin sehr froh, Kolleginnen und Kollegen, dass
nach den Entscheidungen der Völker und der Parlamente
in Irland und Slowenien Bewegung auch in die Union
gekommen ist. Das ist schön. Ich wünsche Ihnen, Frau
Sütterlin-Waack, liebe Sabine, und Ihren Mitstreitern
viel Glück in der Union,
({2})
dass wir recht schnell und recht bald eine vernünftige
und gute Entscheidung in diesem Land bekommen. Wir
wollen ohne Krawall, vielmehr versöhnend das tun, was
notwendig ist. Wir wollen das Verständnis von Ehe,
nein, das Zusammenstehen von Menschen gleich welchen Geschlechts, gleich welcher Orientierung endlich
so regeln, dass es keine Diskriminierung, keine Repressalien gibt. Deshalb ist es gut, und ich sage Danke, dass
die Grünen einen Gesetzentwurf und die Linken den
Antrag, dem Beschluss des Bundesrates zu folgen, eingebracht haben; denn die Zeit läuft, nicht nur für die
alten Männer, von denen ich gesprochen habe - eine Legislatur ist nicht unendlich. Die Menschen erwarten Lösungen. Mit Verlaub, die zuvor Genannten leben auch
nicht ewig.
Warum spreche ich gerade über dieses Thema?
Erstens. Weil durch die vergangenen Reden mein
Standpunkt zur Ehe für alle bekannt ist. Man kann sich
wiederholen und es noch einmal sagen. Ich glaube, es
ändert am Inhalt nichts. Man weiß es.
Zweitens. Weil ich Diskriminierung und Intoleranz
furchtbar finde und sie immer noch erfolgt: offen, versteckt und subtil. Aufgrund mancher Bemerkung bezüglich Gleichbehandlung - oder Gleichem im Ungleichen,
wie ich es bei meinem Vorredner gehört habe - könnte
man dies fast meinen.
Drittens. Weil ich weiß, dass es noch immer einige
andere Baustellen gibt. Zum einen wurden die nach
§ 175 StGB zu Unrecht verurteilten Männer kriminalisiert, weil eine menschenverachtende Ideologie der Nazis ihre Liebe unter Strafe stellte, und zum anderen
machte das nicht minder - das müssen wir auch eingestehen - miefige, intolerante, spießige Nachkriegsdeutschland munter mit der Hatz weiter. Da müssen wir
aufräumen.
({3})
Die Ironie der Geschichte - deshalb ist der 17. Juni
passend - ist: Nicht freiwillig, nicht aus Einsicht, wurde
§ 175 StGB aufgehoben. Nein, ohne Wiedervereinigung
und Angleichung der Rechtsvorschriften des Unrechtsregimes der DDR gäbe es den § 175 StGB womöglich
heute noch; er ist erst aufgrund des Einigungsvertrages
1994 aufgehoben worden.
Deshalb appelliere ich an Sie, liebe Kolleginnen und
Kollegen: Räumen wir bei uns endlich ganz auf! Geben
wir den Verurteilten ihre Würde zurück! Schaffen wir in
unserem Land einen Aktionsplan gegen Homophobie!
Es gab viele Gipfel, vielleicht kann Frau Merkel einen
Gipfel gegen die Diskriminierung von Schwulen, Lesben, Bi- und Transsexuellen und allen anderen einberufen.
({4})
Er sollte dann aber auch Ergebnisse bringen. Beenden
wir endlich die Ungleichbehandlung von Lebenspartnerschaften und Ehen! Und nicht zuletzt: Bauen wir die
Diskriminierung in unserem Land ab, so wie wir es im
Koalitionsvertrag vereinbart haben! Liebe Union, machen wir es miteinander, machen wir es gemeinsam!
({5})
Bei der Regierungserklärung zum Europäischen Rat
hat die Kanzlerin zu Großbritannien und Griechenland
erklärt, was ich nur unterstreichen kann: Man kann über
alles reden. Das Prinzip der Nichtdiskriminierung jedoch
darf nicht zur Diskussion stehen. - Recht haben Sie,
Frau Merkel. Dieses Prinzip gilt,
({6})
und zwar nicht nur für Dienstleistungen, nicht nur für
den Waren- und Reiseverkehr, sondern auch für die
Menschen Europas, für die Bürgerinnen und Bürger.
({7})
Geben Sie Ihr Bauchgefühl auf. Machen Sie den Weg
frei für Ehe und Familie, und zwar für alle.
Vielen herzlichen Dank.
({8})
Vielen Dank. - Nächste Rednerin ist Caren Lay, Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Auch in diesen Wochen wird wieder in vielen
Städten demonstriert. Am Christopher Street Day gehen
Lesben, Schwule, Bi- und Transsexuelle, Intersexuelle
und sich als queer verstehende Menschen und ihre
Freundinnen und Freunde auf die Straße, um für gleiche
Rechte zu kämpfen. Ich finde, das ist eine tolle Sache,
und ich wünsche von dieser Stelle aus viel Erfolg und
vor allen Dingen auch viel Spaß.
({0})
Ich freue mich, dass es in der Union immer mehr Lesben und Schwule gibt, die sich outen, die aufstehen und
die gegen einen gewissen Dogmatismus in den eigenen
Reihen kämpfen. In dieser Debatte hat sich gezeigt, dass
es inzwischen moderatere Töne gibt. Aber es ist leider
auch wieder klar geworden, dass die Bremser für die Ehe
für alle in den Reihen der Union zu finden sind und nirgendwo sonst.
Ich möchte einiges zur SPD-Fraktion sagen. Ich habe
auf dem Facebook-Profil der SPD-Bundestagsfraktion
gelesen - und bei der Rede des Kollegen Fechner ein
Stück weit herausgehört -, dass sie, wenn sich die Union
bewegt, die Ehe für gleichgeschlechtliche Paare einführen wird. Die entscheidende Frage ist aber: Was passiert,
wenn sich die Union nicht bewegt?
({1})
Und das wird aus meiner Sicht aller Voraussicht nach der
Fall sein.
Ich denke: Warten auf die Union ist wie Warten auf
Godot.
({2})
Hören Sie auf, der CDU/CSU vorzuschlagen, die Ehe zu
öffnen. Nehmen Sie sich doch einfach Ihr Recht, und
stimmen Sie frei ab. Eine Mehrheit für die Ehe für alle
ist in diesem Hohen Hause längst vorhanden.
({3})
Wenn die Vorlage des Bundesrates, in der genau das
gefordert wird, im Bundestag beraten wird, dann wird es
noch komplizierter. Wollen Sie dann allen Ernstes dagegen stimmen oder sich mit einer Enthaltung wegducken?
Ich glaube, das entspricht nicht Ihrer Auffassung, und es
entspricht auch nicht dem, was Ihre Wählerinnen und
Wähler von Ihnen erwarten.
({4})
Ich freue mich, dass inzwischen so viele - fast alle,
außer der Union - für die Ehe für alle sind. Das war ja
nicht immer so.
({5})
Wir haben die Debatte in der Vergangenheit gern als Debatte über die Aufwertung der Lebenspartnerschaft geführt. Mir gefällt der Ansatz des neuen Gesetzentwurfs
der Grünen deutlich besser als der, den wir hier im Februar gemeinsam diskutiert haben. Sie erinnern sich: Es
ging um 58 Einzelgesetze, vom Bundesvertriebenengesetz bis zum Sprengstoffgesetz; wir haben uns damals
gefragt, warum Eheleute darin vorkommen. Der jetzige
Ansatz entspricht dem, was wir als Linke schon zu Beginn dieser Legislatur gefordert haben, nämlich eine einfache Lösung zu finden, um die Ehe endlich für alle zu
öffnen.
({6})
Wir finden es, hoffentlich gemeinsam, einfach unsinnig, bei der Ehe zwischen Heteros und Homos zu unterscheiden. Das macht aus meiner Sicht wirklich überhaupt keinen Sinn.
({7})
Mit Blick auf den vorletzten Redner, der immer wieder
das Grundgesetz zitiert hat,
({8})
kann ich nur sagen: Es steht dort nirgendwo geschrieben,
dass die Ehe, die geschützt werden muss, nur für Heteros
gilt. Es macht wirklich keinen Sinn, hier zwischen unterschiedlichen Formen zu unterscheiden.
({9})
Meine Damen und Herren, lassen Sie uns gemeinsam
gleiche Rechte durchsetzen und die Ehe zweiter Klasse
für Lesben und Schwule überwinden. Wenn die SPD es
sich gönnt, Ja zu sagen, können wir gemeinsam mit einer
rot-rot-grünen Mehrheit plus auch vielleicht einigen couragierten CDU-Abgeordneten eine Mehrheit dafür im
Bundestag herstellen.
({10})
Meine Damen und Herren, ich habe mich vor ein paar
Tagen sehr gefreut, als ich die Fotos sah, auf denen der
linke Ministerpräsident Bodo Ramelow die Rainbow
Flag vor der Thüringer Staatskanzlei gehisst hat.
({11})
Auch im Berliner Abgeordnetenhaus ist das gang und
gäbe. Wissen Sie, ich finde, auch dem Deutschen Bundestag würde ein bisschen mehr Farbe guttun. Ich würde
mich freuen - es wird höchste Zeit -, wenn die Rainbow
Flag auch über dem Deutschen Bundestag wehte.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({12})
Vielen Dank. - Als Nächster spricht Marcus
Weinberg, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Vielen Dank. - Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Frau Sütterlin-Waack und ich - wir haben
gerade noch einmal darüber gesprochen - sind sehr froh,
dass diese Debatte - da dankt man den Vorrednern, die
dafür gesorgt haben - von der Debattenkultur her einen
sehr guten Eindruck gemacht hat. Wir sind uns einig,
dass wir über dieses hochemotionale, die Menschen betreffende Thema auch als Deutscher Bundestag, ohne
Vorurteile zu bestätigen, ohne intolerant zu sein, debattieren müssen. Wir müssen fragen: Wo wollen wir eigentlich hin? Ich finde, die heutige Debatte ist sehr positiv zu bewerten.
Dieses Thema betrifft die Menschen in ihrer Emotionalität, in ihrer Intimsphäre, in ihrer sexuellen Orientierung. Die Menschen beziehen durchaus wertegebunden
ihre Position. Diese muss man nicht teilen; aber ich
finde, dass man respektvoll damit umgehen muss. Ich
glaube, das haben wir gut und richtig gemacht. Aus
schrill und laut muss, auch im Politischen, irgendwann
ruhig und respektvoll werden - ich glaube, das ist in dieser Debatte durchaus gelungen -; denn Intoleranz kann
man nicht mit Intoleranz bekämpfen oder gar besiegen.
({0})
Es war eine große Sorge der letzten Tage und Wochen,
dass wir hier eine verschärfte Debatte bekommen, in der
auch diejenigen, die immer gegen Intoleranz einstehen,
auf einmal merken müssen, wie intolerant auch die andere Position sein kann.
Dabei sollte man begrifflich klar sein. Ich finde es äußerst problematisch, Herr Hofreiter, wenn man sagt: Es
gibt Menschen, die halten den Fortschritt auf.
({1})
Wir sind hier nicht irgendwo bei der Eisenbahn oder
sonstigen Dingen, sondern es gibt Menschen, die wertegebundene Politik betreiben. Ein bisschen mehr Respekt
davor, dieses zu bewahren, sollte man schon haben!
({2}) [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Bis gerade eben war die Debatte noch
angemessen!)
Das hat nichts mit modern oder liberal zu tun; das hat etwas damit zu tun, dass wir Prozesse, die die Gesellschaft
verändern, politisch aufnehmen müssen, nicht schrill
und laut, sondern ruhig und respektvoll, aber auch immer sehen müssen - zum Beispiel auch mit Blick Richtung Grundgesetz -, was zu tun ist. Das Grundgesetz ist
jetzt 66 Jahre alt geworden. Wir haben immer sehr wohl
überlegt, welche Veränderungsprozesse es widerspiegeln
soll, deshalb hat es eine so hohe Akzeptanz.
({3})
Es geht darum, die kulturhistorisch gewachsene werteorientierte Politik mit den Veränderungsprozessen, die
wir erleben, in Einklang zu bringen.
Hier wurden Argentinien, Uruguay, Mexiko und andere Staaten angeführt, daher meine Bitte: Wir führen
hier eine deutsche Debatte. Wir sind historisch anders
mit dem Thema umgegangen als andere Staaten. Insofern finde ich Vergleiche mit Uruguay und Argentinien
äußerst problematisch und den Ansatz mit Irland ebenfalls, Herr Beck.
({4})
Was wäre denn gewesen, wenn man sich in Irland anders
entschieden hätte?
({5})
Welche Debatte hätten Sie dann hier geführt? Ich glaube,
wir sollten uns auf die deutsche Debatte konzentrieren;
denn die ist wichtig und richtig.
Nun zu den vier wesentlichen Punkten zum Stand der
Gleichstellung. Ich finde: Menschen in einer Lebenspartnerschaft wie in einer Ehe
Marcus Weinberg ({6})
({7})
haben sich entschieden, nicht nur freiwillig, sondern
rechtlich verbindlich füreinander einzustehen. Es geht
darum, füreinander Verantwortung zu übernehmen, in
guten wie in schlechten Zeiten. Unser Wertesystem in
Deutschland beruht genau auf dieser Verantwortungsübernahme: auf Fürsorge, auf Beistand von Menschen
füreinander. Hiervon profitiert die gesamte deutsche Gesellschaft. Es ist daher richtig, dass der Staat eine verbindliche Verantwortungsübernahme von Menschen fördert, unabhängig von der sexuellen Orientierung.
({8})
Es war auch immer das Ansinnen der Union, vieler in
der Union, dafür zu kämpfen. Es darf rechtlich keine
Diskriminierungstatbestände mehr geben. Eingetragene
Lebenspartnerschaften werden mittlerweile in allen oder
fast allen Bereichen - dort, wo es noch Lücken gibt,
müssen sie aufgearbeitet werden -, die die Partner untereinander betreffen, materiell-rechtlich gleichgestellt mit
der Ehe: im Erbrecht, im Steuerrecht, im Beamtenrecht.
Auch in der Union haben sich in den letzten Jahren und
Jahrzehnten immer wieder viele dafür eingesetzt. Deswegen will ich etwas - betreffend den Umgang mit der
deutschen Geschichte - aufgreifen, was schon gesagt
wurde. Dabei geht es - Herr Brunner sprach darüber um den § 175 StGB. Ich habe übrigens in der Bundeswehr in einem Bataillon mit der Nummer 177 gedient.
Eigentlich hätte es Nummer 175 sein müssen. Man hat
aber - mit Blick auf die §§ 175 und 176 - gesagt: Nein,
es muss Nummer 177 sein. Ich sage das, damit klar ist,
was für ein diskriminierender Paragraf der 175 war. Deswegen hat die Bundesrepublik Deutschland, was den
Umgang mit Homosexuellen angeht, in ihrer Geschichte
einen schwarzen Fleck.
Wir als Bundestag bzw. als Abgeordnete müssen uns
dafür einsetzen, dass Homosexuelle, die aufgrund des
erst 1994 vollständig abgeschafften § 175 StGB verurteilt wurden, heute endlich rehabilitiert werden.
({9})
Die bundesdeutsche Gesellschaft hat eine Verpflichtung
zur Aufarbeitung bzw. dazu, eine Rehabilitierung durchzusetzen.
Zwischen Ehen und eingetragenen Lebenspartnerschaften gibt es, rechtlich gesehen, allerdings zwei Unterschiede, über die wir auch heute diskutiert haben. Der
eine betrifft den expliziten Schutz der Ehe durch das
Grundgesetz, während es beim zweiten um das Recht
geht, nichtleibliche Kinder zu adoptieren.
Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes
sieht die Ehe als eine Verbindung zwischen Mann und
Frau. Dies gilt in Europa bzw. Deutschland seit Jahrhunderten und ist eine Selbstverständlichkeit. Es ist tatsächlich ein Alleinstellungsmerkmal. Nur aus einer Beziehung zwischen Mann und Frau können Kinder
erwachsen. Das muss man - auch in dieser Debatte - sagen dürfen. Die Verbindung von Mann und Frau wird
vom Grundgesetz geschützt, weil aus ihr Kinder entstehen können. Die Kinder profitieren von der Verbindlichkeit der Beziehung ihrer Eltern. Es ist grundsätzlich im
Interesse von Kindern, in einer stabilen Partnerschaft ihrer leiblichen Eltern beiderlei Geschlechts zu leben.
({10})
Lassen Sie mich etwas zum Thema Adoption sagen.
Auch Frau Sütterlin-Waack ist schon darauf eingegangen. Es gilt, dass der Staat bei der Bewerbung um eine
Adoption von Kindern, bei denen die Bewerber nicht die
leiblichen Eltern sind, gewisse Vorgaben machen kann.
Er kann verlangen - das ist ein Beispiel -, dass der finanzielle Status ein Aufwachsen sichern muss. Deshalb
kommen einige Bewerber nicht für eine Adoption infrage. Es gibt einen anderen Ablehnungsgrund: das Alter. Mit 48 Jahren gehöre ich nicht mehr zu denjenigen,
die adoptieren dürfen.
Ich finde, dass auch die Rollenkonstellation, was
Männer und Frauen angeht, ein Grund sein kann. Die
Fragestellung ist, ob man von vornherein die Bewerbung
ausschließt. Das ist ein Punkt, über den man sicherlich
diskutieren muss. Ich finde es aber schon gerechtfertigt,
Herr Beck, dass man sagt: Wir tun viel für eine gute Rollenkonstellation. In Kitas wollten wir mehr Männer. Wir
haben Änderungen im Umgangsrecht durchgesetzt. Ich
glaube, auch beim Adoptionsrecht sollte gelten: Es ist
gut und richtig für Kinder, wenn sie, was die Identifikationsfindung angeht, eine weibliche und eine männliche
Rolle kennenlernen.
({11})
- Keine Zwischenfrage mehr!
In der Union gibt es zu diesem Thema eine breite Diskussion. Ich habe bei der letzten Debatte gesagt, dass ich
ein wenig stolz darauf bin, dass wir uns - ich greife jetzt
das auf, was Johannes Fechner gesagt hat - Mühe geben.
Wir werden in den nächsten Wochen und Monaten
durchaus darüber diskutieren, was hier zu tun ist. Für
eine Volkspartei wie die CDU/CSU ist es aber, glaube
ich, gut, über dieses Thema offen, frei und breit zu diskutieren. Das mag man in anderen Fraktionen vielleicht
nicht so verstehen. Bei uns ist das so. Darauf sind wir
auch stolz. Wir wollen erst dann Veränderungen durchführen, wenn wir nach einer breiten Diskussion sicher
sind, wo wir stehen.
Vielen Dank.
({12})
Vielen Dank. - Jetzt hat sich der Kollege Volker Beck
zu einer Kurzintervention gemeldet.
Ich wollte das eigentlich mit einer Zwischenfrage klären. - Herr Kollege Weinberg, das, was Sie bezüglich
der Adoption geschildert haben, ist gar nicht mehr die zu
klärende Frage.
({0})
Homosexuelle Menschen waren individuell noch nie von
der Einzeladoption ausgeschlossen. Das gilt jetzt auch
für die Stiefkind- und Sukzessivadoption. Die gemeinschaftliche Elternschaft bei einem adoptierten Kind kann
auch im Rahmen einer Sukzessivadoption über zwei
Verwaltungsschritte - mit zwei Gutachten; dabei werden
zweimal Gebühren gezahlt - hergestellt werden. Deshalb
geht es nicht um die Frage: Sollen Kinder jetzt eher zu
heterosexuellen Paaren, zu homosexuellen Paaren oder
zu Einzelpersonen kommen? Die mit der Adoption betrauten Behörden sind ohnehin verpflichtet, bei jedem
Kind immer individuell zu schauen, welche Konstellation die beste ist und welches Bewerberpaar die beste
Umgebung für ein bestimmtes Kind bietet. Da darf
nichts anderes als das Kindeswohl ausschlaggebend
sein.
Die Frage, über die rechtlich noch zu entscheiden ist,
ist die Frage der gemeinschaftlichen Adoption. Man
sollte übrigens nicht von „Volladoption“ sprechen; das
ist so ein Begriff wie „Totaladoption“, also ein Wortmonstrum, mit dem man die Frage zu denunzieren versucht. - Da geht es nur darum, in einem Verwaltungsakt
gemeinschaftlich Eltern eines Kindes zu werden, das ohnehin in diese Lebenspartnerschaft hinein adoptiert wird.
({1})
Es gibt keinen guten Grund, das abzulehnen. Es ist sogar
gegen das Kindeswohl gerichtet, wenn man das nicht erlaubt, weil es für die soziale Absicherung eines Kindes
besser ist, dass von Anfang an zwei Elternteile gegenüber dem Kind sorgeberechtigt, sorgepflichtig und unterhaltspflichtig sind. Insofern schadet die jetzige Rechtssituation dem Kindeswohl.
Es geht nicht darum - Sie versuchen das in den Raum
zu stellen -: Vorsicht, die Homosexuellen schnappen den
Heteros jetzt alle Adoptivkinder weg! - Wenn das so
wäre, dann wäre es jetzt schon so; aber es ist nicht so.
Bei der konkreten Adoptionsentscheidung des Jugendamtes darf nur das Kindeswohl ausschlaggebend sein.
Die rechtliche Frage ist nur: Ist es möglich, von Anfang an gemeinsam Eltern zu sein, oder geht es nur nach
einem oder anderthalb Jahren, in zwei Verwaltungsakten? Für Letzteres gibt es einfach keinen guten Grund.
Deshalb reden Sie, wenn Sie über das Adoptionsrecht reden, immer über etwas ganz anderes als über die rechtliche Frage, die noch offen ist und über die zu entscheiden
ist. Daran sehen Sie schon: Sie haben kein Argument dagegen. Also geben Sie sich einen Ruck!
({2})
Vielen Dank. - Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat jetzt der Kollege Johannes Kahrs,
SPD-Fraktion, das Wort.
({0})
Geschätzte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wir haben eben vom Kollegen Weinberg, den
ich sehr schätze, weil er ein Hamburger Kollege ist, gehört, dass die Union eine wertegebundene Politik betreibt. Ich finde, wertegebundene Politik ist richtig. Wir
Sozialdemokraten betreiben sie,
({0})
die Grünen betreiben sie; wir alle haben Werte, für die
wir stehen. Die Frage ist: Für welche Werte steht denn
die Union?
Seitdem ich im Deutschen Bundestag bin, seit 1998,
kämpft die CDU/CSU immer gegen die Gleichstellung
von Lesben und Schwulen. Jeden Fortschritt, den es gegeben hat, hat es gegeben, weil sich Rot-Grün durchgesetzt hat oder weil das Bundesverfassungsgericht etwas
dazu gesagt hat. Aber es hat nie irgendeine Form von
Fortschritt gegeben, weil die CDU/CSU etwas wollte
oder gemacht hat. Sie sind immer genötigt worden oder
Sie mussten, aber freiwillig haben Sie nichts getan. Das
ist in meinen Augen Diskriminierung. Was Sie hier betreiben, wenn Sie sagen, dass Sie keine Öffnung der Ehe
wollen, ist Folgendes: Sie behandeln hier Menschen
nicht gleich. Das ist Diskriminierung. Wenn das die wertegebundene Politik ist, von der Sie hier reden, Kollege
Weinberg, dann ist das nach meiner Meinung kein Wert,
für den man hier kämpfen sollte,
({1})
kein Wert, der es wert ist, im Deutschen Bundestag propagiert zu werden. Sie sollten zusehen, dass Sie - vielleicht auf dem Parteitag in Karlsruhe - mal die Kurve
kriegen, damit Sie wieder Werte vertreten, die in dieser
Republik anerkannt sind und auch wir alle hier vertreten.
({2})
Ich glaube, dass wir diese Debatte natürlich jede Woche führen können. Seit 1998 haben wir das Gott sei
Dank nicht gemacht; da haben wir das alle zwei bis drei
Monate gemacht. Trotzdem hat es bei der Union in der
Sache relativ wenig bewirkt.
Die Kollegin Sabine Sütterlin-Waack, die ich sehr
schätze, hat darum gebeten, CDU und CSU mehr Zeit zu
geben, um das als Volksparteien diskutieren zu können
und die Gesellschaft mitnehmen zu können. Seit 1998
diskutieren wir diese Frage. Die Gesellschaft hat inzwischen die Union in jeder Kurve überholt. Die Gesellschaft ist weiter als die Union.
({3})
Mit wem wollen Sie denn diskutieren außer mit sich selber?
({4})
Da wäre es doch vielleicht ganz gut, wenn die Union
den Ratschlag annähme, den zum Beispiel der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche Deutschlands gegeben hat: Öffnen Sie die Ehe! - Begründet hat er das damit, dass die Öffnung der Ehe der traditionellen Form
der Ehe nichts nimmt, sondern sogar ihre Bedeutung unterstreicht.
({5})
Also hören Sie auf die evangelische Kirche! Als Protestant finde ich: Das ist immer eine gute Sache.
Schauen wir uns die Wirklichkeit doch einmal an
- wir haben ja gerade über Adoption geredet -: Inzwischen leben 22 Prozent der Kinder in Baden-Württemberg nicht in klassischen ehelichen Familienverhältnissen; in Hamburg sind es 37 Prozent und in Berlin
49 Prozent. Die Lebensrealität stellt sich anders dar. Gerade in den Großstädten dominieren Alleinerziehende
und alternative Familienkonzepte. Das muss man nicht
immer gut finden; aber das hat dazu geführt, dass Sie,
liebe Kolleginnen und Kollegen, meine sehr geschätzten
Koalitionspartner, in keiner einzigen deutschen Großstadt mehr regieren.
({6})
Seitdem Frau Merkel im Amt ist, hat die Union in keiner
einzigen deutschen Großstadt eine Wahl gewonnen.
({7})
Das sollten Sie sich einmal vor Augen führen und vielleicht Ihrer Parteivorsitzenden einmal einen klugen Tipp
geben.
In der Sache ist es so: Man kann einer gesellschaftlichen Entwicklung nicht dauerhaft hinterherlaufen. Ich
kann nicht wollen, dass das bei unserem Koalitionspartner dauerhaft so ist. Deshalb wollen wir Ihnen jetzt helfen. Nach 20, 25 Jahren sollten Sie Ihre Debatte vielleicht einmal abschließen, schauen, wofür die Mehrheit
der Bevölkerung in Deutschland ist und wie es sich in
der Mehrheit der Länder in Europa verhält, und sich einen Ruck geben. Im wahren Leben geht es doch darum,
sich selbst zu überwinden, und nicht darum, dass die
Familie sich überwindet. So kommt man vorwärts. Das
bekommen wir allerdings nur gemeinsam hin. Da wir
mit Ihnen eine Koalition bilden und viele gute Dinge mit
Ihnen gemeinsam auf den Weg bringen - wir haben zusammen mit der Union den Mindestlohn beschlossen,
die doppelte Staatsbürgerschaft beschlossen
({8})
und die Gleichstellung der Frauen vorangetrieben -,
könnten Sie auch an dieser Stelle einen Schritt weitergehen. Ich glaube, dass Frau Merkel keine Angst haben
muss, rechte oder ganz rechte Wähler zu verlieren. Ich
glaube, die hat sie eh schon verloren. Das haben Sie geschafft, als Sie die Wehrpflicht abgeschafft und andere
Dinge beschlossen haben. Hier geht es in der Sache einzig und allein darum, darauf zu achten, dass man als
Union die Entwicklung nicht komplett verpennt.
Eine letzte Bemerkung zu Frau Lay von der Linken
sei mir gestattet. Sie haben hier gesagt, wir sollten Koalitionsbruch begehen und hier mit den Linken und den
Grünen dafürstimmen. Ehrlich gesagt: Wären Sie in irgendeiner Form koalitionsfähig, könnte man darüber
nachdenken.
({9})
Die Kollegen aus den neuen Ländern sind, ehrlich gesagt, relativ pragmatisch. In vielen Ländern regieren wir
zusammen; das funktioniert auch ganz gut. Zu den
Kollegen aus den westlichen Bundesländern muss man
allerdings sagen: Mit so einem Haufen von politischen
Irrläufern kann und wird die SPD nicht koalieren.
({10})
Das werden auch die Grünen nicht tun. Das wird nicht
stattfinden. Deswegen war dieser Vorschlag vergiftet
und dümmlich.
Vielen Dank.
({11})
Vielen Dank. - Damit sind wir am Ende der Debatte
angekommen.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 18/5098 und 18/5205 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. -
Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 36 a bis 36 e sowie
Zusatzpunkt 2 auf:
36 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
Einführung einer Speicherpflicht und
Höchstspeicherfrist für Verkehrsdaten
Drucksache 18/5171
Vizepräsidentin Ulla Schmidt
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz ({0})
Innenausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss Digitale Agenda
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem
Protokoll vom 14. Oktober 2014 zur Änderung und Ergänzung des Abkommens vom
7. September 1999 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Usbekistan zur Vermeidung der Doppelbesteuerung
auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen
und vom Vermögen
Drucksache 18/5172
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({1})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Katharina Dröge, Kerstin Andreae, Katja Keul,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Bußgeldumgehung bei Kartellstrafen verhindern - Gesetzeslücke schließen
Drucksache 18/4817
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Energie ({2})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ralph
Lenkert, Caren Lay, Dr. Dietmar Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Kältemittel R1234yf aus dem Verkehr ziehen
Drucksache 18/4840
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit ({3})
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur
e) Beratung des Antrags des Präsidenten des Bundesrechnungshofes
Rechnung des Bundesrechnungshofes für das
Haushaltsjahr 2014
- Einzelplan 20 Drucksache 18/5020
Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss
ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Tom
Koenigs, Claudia Roth ({4}), Uwe
Kekeritz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Menschenrechte in der neuen Nachhaltigkeits- und Entwicklungsagenda der Vereinten Nationen stärken
Drucksache 18/5208
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({5})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 37 a bis 37 g auf.
Es handelt sich hierbei um Beschlussfassungen zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Tagesordnungspunkt 37 a:
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom
17. September 2012 zwischen der Regierung
der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Vereinigten Republik Tansania
über den Fluglinienverkehr
Drucksache 18/4896
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr und digitale Infrastruktur
({6})
Drucksache 18/5150
Der Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/5150, den Gesetzentwurf der Bundesregierung
auf Drucksache 18/4896 anzunehmen.
Zweite Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen
und von Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der
Fraktion Die Linke angenommen.
Tagesordnungspunkt 37 b:
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu der Vereinbarung vom
1. April 2015 über die Beteiligung Islands an
der gemeinsamen Erfüllung der Verpflichtungen der Europäischen Union, ihrer Mitgliedstaaten und Islands im zweiten Verpflichtungszeitraum des Protokolls von Kyoto zum
Rahmenübereinkommen der Vereinten Nationen über Klimaänderungen ({7})
Drucksache 18/4895
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit ({8})
Drucksache 18/5242
Vizepräsidentin Ulla Schmidt
Der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/5242, den Gesetzentwurf der
Bundesregierung auf Drucksache 18/4895 anzunehmen.
Zweite Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und
Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion Die
Linke angenommen.
Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses, Tagesordnungspunkte 37 c bis 37 g.
Tagesordnungspunkt 37 c:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({9})
Sammelübersicht 197 zu Petitionen
Drucksache 18/5114
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 197 ist mit den Stimmen aller Fraktionen angenommen.
Tagesordnungspunkt 37 d:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({10})
Sammelübersicht 198 zu Petitionen
Drucksache 18/5115
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 198 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der
Fraktion Die Linke bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Tagesordnungspunkt 37 e:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({11})
Sammelübersicht 199 zu Petitionen
Drucksache 18/5116
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 199 ist mit den Stimmen aller Fraktionen angenommen.
Tagesordnungspunkt 37 f:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({12})
Sammelübersicht 200 zu Petitionen
Drucksache 18/5117
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 200 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von
Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion Die
Linke angenommen.
Tagesordnungspunkt 37 g:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({13})
Sammelübersicht 201 zu Petitionen
Drucksache 18/5118
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 201 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der
Opposition angenommen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 3 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Äußerungen der EU-Kommission über die
Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens zur Pkw-Maut
Ich bitte die Kollegen, jetzt die Plätze einzunehmen;
denn dann kann Frau Dr. Valerie Wilms, Bündnis 90/Die
Grünen, die Debatte eröffnen.
Ich eröffne die Aussprache. - Bitte schön.
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Tja, es ist in den letzten Jahren Mode geworden, auf die EU zu schimpfen. Die EU
ist zur Projektionsfläche von Populisten geworden. Sie
wird verantwortlich gemacht für alles, was nicht gut
läuft. Wenn man keine Lösung mehr hat, Herr Dobrindt,
dann war es eben Europa. So einfach sind die Parolen
geworden. Man kann damit Wahlen in ganz Europa gewinnen. Und auf dieser Welle schwimmt die CSU, insbesondere Herr Scheuer. Das ist der eigentliche Grund,
warum wir heute hier einmal wieder über diese unsägliche Pkw-Maut reden müssen. Aber, werte Kolleginnen
und Kollegen, wir müssen es einfach deutlich sagen: Für
diese Maut ist nicht Europa verantwortlich, sondern einzig und allein die CSU mit ihren Stammtischparolen.
({0})
Ein Alexander Dobrindt scheitert eben doch.
({1})
Es ist ein Scheitern auf Raten. Wer mit dem Kopf gegen
die Wand rennt, Herr Dobrindt, tut sich weh. Wenn man
ein paarmal davorrennt, dann tut es eben noch mehr weh.
Auf diesem Wege sind Sie.
({2})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, in der Anti-BrüsselRhetorik des Verkehrsministeriums werden immer wieder Halbwahrheiten erzählt. Wir müssen uns deswegen
die Details einmal ganz genau ansehen. Da wird immer
wieder auf die Steuerhoheit der Nationalstaaten gepocht.
Das Credo des Ministers ist: Brüssel hat uns bei der KfzSteuer nicht hineinzureden.
({3})
- Stimmt. Ich sage auch: Das stimmt. - Aber der Punkt
ist: Sie geben damit eine Antwort auf eine Frage, die niemand gestellt hat.
({4})
Die Kommission betont sogar ausdrücklich die Kompetenz der Mitgliedstaaten bei Steuern. Aber Fakt ist: Es
ging nie allein um die Kfz-Steuer. Es geht nämlich um
die Eins-zu-eins-Verknüpfung mit Ihrer leidigen Infrastrukturabgabe. Das wollten Sie ja auf den Cent genau
erstatten, damit, wie es die Kanzlerin gesagt hat - auch
Ihr Koalitionspartner hat das ja mit unterschieben -, kein
Deutscher mehr belastet wird. Das, meine Damen und
Herren, ist eindeutig eine Diskriminierung der Ausländer.
({5})
Sie wollen uns und die Kommission wohl für dumm verkaufen. Sie bauen einen Popanz auf, der Ihre Maut aber
auch nicht mehr retten wird.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, je länger wir uns
dieses Trauerspiel anschauen, desto mehr benehmen Sie
sich in der CSU wie ein trotziges Kind. Da sagt man
halt: Wer nicht hören will, der muss fühlen. Den blauen
Brief haben Sie ja heute bekommen. Statt sich die eigenen Fehler kritisch anzusehen, zeigen Sie mit dem Finger auf die anderen und schimpfen auf die Österreicher
und auf Großbritannien. Aber auch hier zeigt sich das
bekannte CSU-Muster: Sie zeigen nur dorthin, wo es Ihnen passt. Sie erzählen die Geschichten nur so weit, wie
sie Ihnen gefallen. Deswegen ein kleiner Faktencheck:
Die europäische Rechtsprechung, Herr Minister
Dobrindt - oder muss ich sagen: Noch-Minister
Dobrindt? -,
({6})
ist sehr klar, wenn es um die Diskriminierung von Ausländern geht. Sie sollten wissen, wie der Europäische
Gerichtshof 1992 im Hinblick auf die Lkw-Maut entschieden hat. Ich habe mir einmal die Mühe gemacht
- das war ganz einfach -, herauszufinden, was in der
Entscheidung von 1992 steht. Da heißt es nämlich:
Eine nationale Regelung, mit der eine Gebühr für
die Benutzung von Straßen mit schweren Lastfahrzeugen eingeführt wird, die von allen Benutzern
unabhängig von deren Staatsangehörigkeit zu zahlen ist, und gleichzeitig eine nur den inländischen
Verkehrsteilnehmern zugute kommende Senkung
der Kraftfahrzeugsteuer vorgenommen wird …
verstößt … gegen Artikel 76
- damals galt dieser noch EWG-Vertrag …
Herr Dobrindt, das war eine Entscheidung des EuGH
von 1992, die gegen die Bundesrepublik Deutschland
gerichtet war. Sie versuchen jetzt, mit dem Kopf gegen
diese eindeutige Wand des Europäischen Gerichtshofes
zu laufen. Da hilft Ihnen auch die beste Rhetorik nichts.
Diskriminierung bleibt Diskriminierung.
({7})
Es ist wirklich erschreckend, womit wir uns in der
Verkehrspolitik aktuell beschäftigen müssen. Wir haben
so viele Probleme, die wir dringend lösen müssten. Das
ganze System der Verkehrsinfrastruktur ist in einer
Schieflage. Wir verwalten Schlaglöcher. Wir verwalten
defekte Brücken - Gott sei Dank ist bislang noch keine
in den Bach gefallen. Wir haben heute ein System der
organisierten Verantwortungslosigkeit, wie ich immer
wieder sage. Wir müssten uns auf ganz andere Dinge
konzentrieren, zum Beispiel auf den grundsätzlich sinnvollen Vorschlag zur Gründung einer staatlichen Autobahngesellschaft, mit der wir uns politisch auch selbst
binden würden. Österreich und die Schweiz haben uns
gezeigt, wie so etwas geht. So würden wir wirklich politische Verantwortung übernehmen.
Machen Sie ernsthafte Vorschläge, die etwas verbessern können! Aber stattdessen beschäftigen wir uns jahrelang - seitdem Sie im Amt sind, seit anderthalb Jahren mit dieser Schnapsidee der CSU, die im besten Fall ein
Nullsummenspiel wird. Hören Sie endlich auf mit den
Angriffen auf die Kommission! Die Maut hat diese
Koalition zu verantworten - leider mit der SPD zusammen - und nicht die Kommission.
({8})
Trotzdem müssen Sie jetzt zum Schluss kommen,
Frau Wilms.
Damit komme ich zum Schluss, werte Präsidentin. Politik muss ernsthaft Verantwortung übernehmen. Wir
müssen raus aus der Populistenfalle.
Herzlichen Dank.
({0})
Vielen Dank. - Als Nächster hat für die Bundesregierung Bundesminister Alexander Dobrindt das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Der Bundestag hat die von der Bundesregierung vorgelegten Mautgesetze beschlossen, die für keinen Autofahrer Mehrbelastungen bringen und die europarechtskonform sind. Das ist die Wahrheit.
({0})
Wenn die Europäische Kommission jetzt die Auseinandersetzung sucht, werden wir sie auch führen und nachweisen, dass wir hier europarechtskonforme Gesetze beschlossen haben. Wir verhalten uns in jeder Hinsicht
rechtsstaatskonform.
({1})
Das heißt natürlich auch, dass wir die Entscheidung der
Europäischen Union, ein Vertragsverletzungsverfahren
einzuleiten, ernst nehmen und das Ergebnis abwarten
werden. Klar ist aber, dass wir die Auseinandersetzung
hart führen werden, um unserem Recht auf einen Systemwechsel nachzukommen.
({2})
Wir diskriminieren niemanden. Der Systemwechsel
ist eindeutig und klar formuliert. Jeder Pkw-Halter zahlt
die Infrastrukturabgabe. Alle werden gleich behandelt,
({3})
vollkommen unabhängig von der Staatsangehörigkeit.
Mit der Infrastrukturabgabe erfüllen wir sogar die Zielsetzung bzw. die Vorgaben der Europäischen Kommission, die sie wiederholt Richtung Deutschland formuliert
hat. Europa fordert seit Jahren, dass wir das Verursacherprinzip stärken und die Nutzer stärker an der Finanzierung der Infrastruktur beteiligen.
({4})
Genau das tun wir. Wir vollziehen den echten Systemwechsel von einer Steuerfinanzierung hin zu einer Nutzerfinanzierung.
Die Europäische Kommission hat 2011 in ihrem
Weißbuch noch einmal sehr deutlich gerade auch in
Richtung Deutschland klargemacht,
({5})
dass man die umfassende Anwendung des Prinzips der
Kostentragung durch die Nutzer und Verursacher stärken
soll. Dabei hat sie - hören Sie einmal zu - genau formuliert, wie so etwas gehen kann. Sie hat nämlich geschrieben, dass Straßenbenutzungsgebühren als Alternative
zur Steuerfinanzierung ausgebaut werden sollen. „Als
Alternative“ bedeutet doch klar: keine Mehrbelastung
für diejenigen, die heute schon an der Finanzierung beteiligt sind.
({6})
Es ist geradezu logisch und selbstverständlich, dass es
bei einem echten Systemwechsel, wie wir ihn hier vollziehen, nicht zu Doppelbelastungen kommen darf. Deswegen nehmen wir mit der Infrastrukturabgabe auch
eine Änderung im Kraftfahrzeugsteuergesetz vor. Wir
nehmen Steuerentlastungsbeträge in das Kraftfahrzeugsteuergesetz auf und vermeiden damit eine Doppelbelastung derjenigen, die Kfz-steuerpflichtig sind.
({7})
Auch dieses Vorgehen ist übrigens in der Vergangenheit
von der Europäischen Kommission formuliert worden.
In einem Weißbuch von 1998 ist nachzulesen, dass bei
einem Systemwechsel verkehrsbezogene Steuern gesenkt werden können.
({8})
Damit hat sich die EU-Kommission in der Vergangenheit übrigens auch schon öfter beschäftigen müssen. Es
schadet hier nicht, einmal den Blick in die anderen Länder zu werfen.
Schauen wir uns doch einmal England an. England
hat im letzten Jahr die Lkw-Maut bei gleichzeitiger Absenkung der Lkw-/Kfz-Steuern eingeführt.
({9})
Das geschah ohne Beanstandungen aus Brüssel.
1997 hat Österreich die Maut eingeführt und zeitgleich die Pendlerpauschale für Österreicher massiv erhöht.
({10})
All das geschah ohne Beanstandungen aus Brüssel.
Meine Damen und Herren, das, was in anderen Ländern möglich ist, muss auch für Deutschland ohne Beanstandungen aus Brüssel möglich sein.
({11})
Übrigens: Wer eine echte Benachteiligung sehen will,
der kann sich ja gerne einmal die Regelung beim Felbertauerntunnel in Österreich anschauen. Ausländer zahlen
für die Nutzung eine Gebühr von 10 Euro, während österreichische Anrainer nur 4 Euro zahlen.
({12})
Das scheint mir doch ein deutlicher Unterschied zu sein.
Wir hingegen gehen mit der Infrastrukturabgabe einen anderen Weg. Unabhängig von der Staatsangehörigkeit ist die Infrastrukturabgabe für alle gleich. Das ist der
echte Systemwechsel von der Steuerfinanzierung zur
Nutzerfinanzierung. Niemand wird dabei doppelt belastet. Das ist der Sinn der Änderung des Kraftfahrzeugsteuergesetzes.
In der Frage der Festlegung der Höhe der Kfz-Steuer
hat die Europäische Kommission in der Tat überhaupt
keine Kompetenz. Überhaupt keine Kompetenz bei der
Höhe der Kfz-Steuer!
({13})
Man sollte einmal den Blick in den Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union werfen. Daraus geht
der Grundsatz der Finanz- und Steuerhoheit der Mitgliedstaaten ganz klar hervor. Die Kfz-Steuer gehört eindeutig und unstrittig in den Zugehörigkeitsbereich der
Mitgliedstaaten.
({14})
Über diese Steuer entscheiden wir alleine. Brüssel hat
kein Recht, über die Kfz-Steuer zu entscheiden, meine
Damen und Herren.
({15})
Wir schreiben eine schwarze Null. Wir haben einen
ausgeglichenen Haushalt. Daher kann der Deutsche
Bundestag gerade auch in Europa durchaus selbstbewusst sagen, dass er seine Bürger bei der Kfz-Steuer im
Rahmen eines Systemwechsels entlasten will. Das ist
unser gutes Recht. Dieses gute Recht werden wir auch
gegenüber Brüssel verteidigen.
Unsere ureigene Kompetenz, meine Damen und Herren, kann man uns auch nicht streitig machen, wenn man
ein Vertragsverletzungsverfahren einleitet. Übrigens hat
die Kommission in der Vergangenheit mit ihren Vertragsverletzungsverfahren schon öfter Schiffbruch erlitten. Ich
erinnere an drei Beispiele: die Klage der Kommission gegen Deutschland beim ersten Eisenbahnpaket - am
28. Februar 2013 vollumfänglich abgewiesen vom
EuGH; die Klage der Kommission gegen Deutschland
wegen der steuerlichen Behandlung von Dividenden und
Zinsen bei der Einkommensteuer - am 22. November
2012 vom EuGH abgewiesen; die Klage der Kommission gegen Deutschland wegen der Anwendung der
Wasserrahmenrichtlinie - am 11. September 2014 vom
EuGH abgewiesen. Brüssel irrt zum wiederholten Mal.
Es irrt auch bei der Infrastrukturabgabe in Deutschland.
({16})
Ich sage Ihnen in aller Deutlichkeit, dass wir uns in
den nächsten Monaten mit Brüssel sicher intensiv auseinandersetzen müssen. Wir haben zwei Monate Zeit,
auf das heutige Schreiben zu antworten. Wir werden dies
vollumfänglich tun und der Kommission unsere Argumente darlegen. Aber es ist auch klar, dass wir mit unserem europarechtskonformen Mautmodell
({17})
den Weg bis zum EuGH gehen werden, wenn Brüssel
seine Sichtweise nicht ändert.
({18})
Ich sage hier auch sehr deutlich: Mein Wunsch und
auch gerade der dieser Koalition ist es, die Infrastruktur
zu stärken. Das heißt für mich: Ich will mehr Gerechtigkeit auf unseren Straßen, mehr Investitionen für unsere
Straßen und mehr Fairness in Europa. Dafür lohnt es
sich zu streiten. Wir werden uns damit durchsetzen.
Danke schön.
({19})
Vielen Dank. - Herbert Behrens, Fraktion Die Linke,
ist jetzt der nächste Redner.
({0})
Sehr geehrter Herr Dobrindt! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Irgendwie fühlt man sich doch ein bisschen
wie in einer Parallelwelt, wenn der erste Satz des Verkehrsministers ist: Diese Maut ist europarechtskonform.
({0})
Wir haben einen Brief bekommen, Herr Dobrindt. In
dem steht, dass die EU-Kommission das Vorhaben untersuchen wird, um genau das zu überprüfen.
Die Hinweise darauf, dass die Kombination der beiden Gesetze nicht europarechtskonform ist, sind seit einem Jahr in der Welt. Jetzt einfach so zu tun, als ob sich
nichts verändert habe und als ob wir einfach weitergehen
könnten, ist daher schon hammerhart. Das erstaunt mich
wirklich.
({1})
Das Ganze wäre eigentlich zum Lachen, wenn es nicht
so traurig wäre. Wie gesagt, wir diskutieren ein Jahr lang
über die Frage, was europarechtskonform ist und was
nicht. Sie aber wollen das nicht akzeptieren und behaupten immer noch in den Medien - das war in einem Interview zu lesen, und auch heute werden Sie wieder entsprechend zitiert -:
Was wir mit der Kfz-Steuer machen, ist ausschließlich nationale Hoheit, Brüssel hat da keine Kompetenzen.
({2})
- Ja, dem hat niemand widersprochen. In der gesamten
Diskussion hat niemand dieser Behauptung widersprochen. Auch in Bezug auf die Infrastrukturabgabe hat niemand widersprochen. Selbst die Kommissarin und der
Kommissionspräsident sagen: Die Infrastrukturabgabe
ist so, wie sie in Deutschland eingeführt wird, europarechtskonform. Die Verkehrskommissarin findet es sogar gut, dass alle Fahrer unabhängig von ihrer Fahrleistung belastet werden und für die Verkehrsinfrastruktur
zahlen müssen, die auch eine soziale Infrastruktur des
Landes ist. Das wird von keinem bestritten. Es geht aber
doch um die Kombination dieser beiden Gesetze, um
nichts anderes.
Wir haben immer wieder gesagt: Die Belastung aller
Fahrer bei einer einseitigen Entlastung nur von inländischen Autofahrern ist das Problem, das das Gesetzesvorhaben stoppen wird. Spätestens jetzt, als Sie den Brief
bekommen haben, hätten Sie das mitbekommen müssen - es sei denn, Sie haben ihn nicht gelesen. Das haben
Sie ja auch schon einmal der Kommissarin vorgeworfen.
Sie sagten ihr damals, sie solle erst einmal richtig hingucken, bevor sie sich äußert. Auch Sie sollten erst einmal
richtig hingucken, bevor Sie solche Äußerungen machen
und davon sprechen, dass Ihre Kombinationen weiterhin
europarechtskonform sind.
({3})
Das können Sie heute nicht mehr behaupten.
Es geht - wir müssen Ihnen das vielleicht noch einmal erklären, damit Sie es begreifen - ausschließlich um
das Gesetz zur Einführung einer Infrastrukturabgabe,
das Gesetz zur Maut für alle; das wollten wir verhindern.
Sie haben immer behauptet, dieses Gesetz würde zum
1. Januar 2016 scharfgestellt. Es geht darum, 3,7 Milliarden Euro zu generieren, um dieses Geld in den Verkehrssektor und dort überwiegend in den Straßenverkehr zu
investieren.
Wie sieht es in der Praxis aus, wenn Sie jetzt sagen,
dass Sie aufgrund des Briefes noch einmal die Einwände
prüfen wollen? Sie haben gesagt, Sie setzten die Vorbereitungen zur Umsetzung des Gesetzes nicht fort. Trotzdem sind gerade diese weiterhin auf dem Weg.
({4})
Sie bereiten das weiter vor. Bis zur Ausschreibung werden Sie diesen Gesetzgebungsprozess weiter vorantreiben und die Umsetzung des Gesetzes so weit vorbereiten, dass es dann scharfgestellt werden kann, und zwar
ohne die Entlastung der Kfz-Steuerzahler. Das ist die
Maut für alle, die eigentlich hinter diesem Projekt steht
und die so nicht durchgehen sollte. Das war zumindest
die Auffassung der überwiegenden Mehrheit des Parlaments.
({5})
Es sei denn, Sie behalten Ihren treuen Koalitionspartner.
Und damit komme ich zu den SPD-Kollegen.
Heute lässt sich auch der Kollege Sebastian Hartmann
zitieren: „Wir vertrauen bisher auf das Urteil der Bundesregierung.“ Oh Gott, Herr Hartmann!
({6})
Für mich hat das allerdings nichts mehr mit Vertrauen zu
tun. Das ist Vasallentreue. Sie klammern sich an die
Große Koalition, koste sie, was es wolle. Der Kollege
Bartol hat bereits angekündigt: Wir brauchen eine
schnelle Entscheidung, um die Mindereinnahmen aus
der verschobenen Pkw-Maut so gering wie möglich zu
halten. Das heißt: Dampf machen.
Die SPD-Fraktion ist also weiter mit dabei: Zustimmung zur europarechtswidrigen Ausländermaut gestern,
Zustimmung zum Fracking-Ermöglichungsgesetz morgen, Zustimmung zur Vorratsdatenspeicherung übermorgen. In der Tat, eine solche Koalitionsfähigkeit, wie es
eben hieß, wie bei der SPD ist bei uns nicht gegeben; die
hat offenbar nur die SPD.
Ich jedenfalls bin froh, dass es uns mit der Hilfe der
EU-Kommission vielleicht gelingt, diese Art von Verkehrspolitik zu stoppen. Vielleicht behält die Kanzlerin
doch noch Recht mit ihrer Aussage: „Mit mir wird es
keine Pkw-Maut geben.“ Wir würden uns freuen, wenn
diese Aussage der Kanzlerin in Erfüllung geht. Wir
schließen uns ihr da gerne an. Ich würde mich sehr
freuen, wenn wir darauf anstoßen können.
Vielen Dank.
({7})
Vielen Dank. - Nächster Redner ist Sebastian
Hartmann, SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Zu Ihnen komme ich noch, Herr
Behrens; fangen wir zunächst einmal vorne an. Es ist ein
offenes Geheimnis: Die Pkw-Maut ist kein Herzensanliegen der SPD.
({0})
Sie wird es auch nicht werden. Darüber hinaus trägt auch
die Entscheidung der EU-Kommission sicherlich nicht
dazu bei, dass sich diese Situation für uns als SPD entscheidend verändern wird.
Aber einen Punkt muss man klarstellen: Mit der Entscheidung der EU-Kommission und der Einleitung eines
Vertragsverletzungsverfahrens ist tatsächlich eine neue
Situation eingetreten. Aber mit dieser neuen Situation
geht keine Änderung der Grundlagen unseres guten Koalitionsvertrages einher. Hier muss man differenzieren.
Für die SPD gilt der Koalitionsvertrag mit allen Punkten.
Dort sind drei klare Kriterien festgelegt, aus denen her10752
vorgeht, unter welchen Bedingungen es zu einer Infrastrukturabgabe kommen wird. Die Opposition könnte eigentlich sagen: Herzlichen Glückwunsch! Die SPD hat
einen sehr guten Koalitionsvertrag verhandelt.
({1})
Dieser Vertrag sieht nämlich einen echten Beitrag zur
Infrastrukturfinanzierung und keine Belastungen des
deutschen Autofahrers vor. Zudem muss das Ganze EUrechtskonform sein. Das sieht unser Koalitionsvertrag
vor.
({2})
Sie können sich nicht zum Trittbrettfahrer eines guten
Koalitionsvertrages machen, den die SPD verhandelt
hat.
Dieser Koalitionsvertrag gilt vor Beschluss eines Gesetzes, während der Beratungen über ein Gesetz und natürlich auch nach der Verabschiedung eines Gesetzes.
Wir nehmen das sehr ernst. Die Europarechtskonformität
ist eine unverhandelbare Bedingung dieses Gesetzes. Sie
ist zu beachten. Wir sind schließlich auch hier gute Europäerinnen und Europäer.
Natürlich verlassen wir uns auf das Wort des Ministers, dass diese Infrastrukturabgabe europarechtskonform ist.
({3})
Ich sage aber auch deutlich, dass davon der Weg, wie die
Europarechtskonformität hergestellt wird, zu unterscheiden ist. Jedem Vertragsverletzungsverfahren ist ein entsprechendes Pilotverfahren bzw. ein Konsultationsverfahren vorgeschaltet. Ich glaube, dass man zum jetzigen
Zeitpunkt darauf setzen muss, dass in den Verhandlungen des Ministers mit der Kommission klargemacht
wird, dass es sich um ein EU-rechtskonformes Gesetz
handelt. Wir haben die Aussagen des Verkehrsministers
vernommen, dass dies der Fall ist.
Mit Verlaub, dass es überhaupt zu einer solchen Situation kommt, liegt an den klaren Konditionen, die wir im
Koalitionsvertrag festgeschrieben haben. Es ist unlauter,
dass gerade die Opposition im vermeintlichen Bewusstsein, Glück zu haben, schon am Dienstag die heutige
Aktuelle Stunde beantragt und nun versucht, aus diesen
Kriterien einen Bumerang zu machen. Tatsächlich sind
Sie diejenigen, die die Maut für alle wollen, verbunden
mit der Speicherung enormer Datenmengen,
({4})
um minuten- und straßengenau abzurechnen; das ist
doch der entscheidende Punkt.
Wir werden in diesem Verfahren an jedem Punkt darauf achten, dass keines der Kriterien unseres Koalitionsvertrages abschließend aufgelöst, verändert oder
angepasst wird, um durch die Hintertür die vom Grünen
Winfried Hermann geforderte Maut für alle einzuführen,
und zwar ohne Entlastung des deutschen Autofahrers.
Das wird es mit der SPD nicht geben. Das werden wir
verhindern.
({5})
- Aber, Herr Hofreiter, es war der SPD-Kanzlerkandidat
Peer Steinbrück, der ganz klar herausgearbeitet hat, wer
die Pkw-Maut wollte. Als wir das zum Thema gemacht
haben, haben uns die Grünen in Baden-Württemberg
quasi überholt, indem sie die Maut für alle gefordert haben, im Gegensatz zu unserem EU-rechtskonformen
Modell, das eine Entlastung der deutschen Bürgerinnen
und Bürger vorsah. Das müssen Sie sich gefallen lassen.
Gehen Sie doch in die Zeitungsarchive, um das nachzulesen!
Wir befinden uns nun in einer neuen Situation. Die
Europäische Kommission hat ein Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet. Wir nehmen das sehr ernst; denn
wir wollen nur europarechtskonforme Gesetze beschließen. Wir haben uns nach den Beratungen darauf verlassen, dass es sich auch hier um ein EU-rechtskonformes
Gesetz handelt. Aber schon jetzt einen Entscheid vor
dem Europäischen Gerichtshof anzustreben, bedeutet,
dass das Verfahren sehr lange dauern wird. Damit stellt
sich die Frage, wann die Infrastrukturabgabe kommen
wird.
Man kann natürlich sagen, dass das keine neue Situation ist, weil es sich bereits um die dritte Verschiebung
handelt. Aber dieser dritten Verschiebung der Einführung der Pkw-Maut liegt ein ganz anderer Sachverhalt
zugrunde. Ich glaube auch nicht, dass derjenige, der die
härteste Schlagzeile gegen Brüssel produziert, mit Brüssel einig wird. Wir müssen nun vielmehr in Gesprächen
die EU-Rechtskonformität eindeutig darlegen. In aller
Klarheit: Wir werden nicht im Nachhinein den Koalitionsvertrag aufweichen, der mit seinen klaren Kriterien
erst zu dieser Situation geführt hat.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
({6})
Vielen Dank. - Für die CDU/CSU spricht jetzt
Steffen Bilger.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Vertreter der Opposition, ich kann durchaus verstehen, dass Sie am heutigen Tag eine gewisse Häme
und Freude empfinden. Das ist verständlich; denn es
mag ein parteipolitischer Erfolg für Sie sein, dass es nun
bei der Pkw-Maut ein paar Fragezeichen gibt. Aber was
bejubeln Sie da eigentlich?
({0})
Zunächst bejubeln Sie eine Positionierung der EU gegen
die Interessen der deutschen Bürger.
({1})
Sie bejubeln, dass es länger dauert, bis die Ungerechtigkeit beendet ist, dass wir fast überall in Europa Maut bezahlen, während andere bei uns gratis fahren dürfen.
({2})
Hätte der Zeitplan eingehalten werden können, dann
wäre es 2016 so gewesen: Wie bisher auch fährt ein
Deutscher durch Österreich und bezahlt Maut, genauso
wie der Österreicher in seinem Land Maut bezahlt. Neu
wäre: Ein Österreicher, der durch Deutschland fährt, bezahlt genauso wie der Deutsche, der in unserem Land die
Infrastrukturabgabe zu bezahlen hat. Also im Ergebnis
genau dasselbe.
Nur, die EU stört sich an der Entlastung der deutschen
Autofahrer über die Kfz-Steuer. Ich will noch einmal
deutlich betonen: Das geht die Europäische Union aber
nichts an; denn Steuerpolitik ist nationale Angelegenheit. Es wird auch nicht in anderen EU-Mitgliedstaaten,
die Mautsysteme haben, hinterfragt, ob die Kfz-Steuer
dort geringer ist als in Deutschland, weil der jeweilige
Staat über Einnahmen aus einer Maut verfügt.
Eines will ich aber auch offen sagen: Die Kritik aus
Österreich finde ich dann doch ziemlich dreist. Seit Jahren werden dort deutsche Autofahrer abkassiert, und was
haben die Österreicher 1997 bei der Mauteinführung
gemacht? Alexander Dobrindt hat bereits darauf hingewiesen: Sie haben erst einmal die Pendlerpauschale für
Österreicher erhöht. Kritik der EU damals? Nicht vorhanden.
Unser spezieller Blick auf die heutige Debatte ist aber
das Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland.
Ich hab es an den Reaktionen der vergangenen Tage gemerkt, als darüber diskutiert und spekuliert wurde, dass
viele gleich gedacht haben: Oje, Vertragsverletzungsverfahren. - Dabei wird gerne vergessen, dass es im Durchschnitt der letzten Jahre jeweils gut 70 solcher Verfahren
gegen Deutschland gab. Auch in diesem Jahr läuft bereits wieder eine ähnliche Anzahl von Verfahren gegen
Deutschland. Diese Verfahren sind nicht nur exklusiv
gegen Deutschland gerichtet, sondern im Jahr 2013 sind
insgesamt 761 Vertragsverletzungsverfahren in der Europäischen Union geführt worden.
Der Minister hat schon darauf hingewiesen: Was besonders bemerkenswert daran ist, ist - so war es in den
letzten Jahren -, dass diese Vertragsverletzungsverfahren in der Regel im Sande verlaufen. Wir gehen davon
aus, dass es auch dieses Mal so sein wird.
({3})
Ich will Ihnen ein weiteres Mal erläutern, weshalb wir
überzeugt sind, dass der Gesetzentwurf, den wir beschlossen haben, tatsächlich europarechtskonform ist.
Wir hatten im Verkehrsausschuss eine öffentliche Anhörung am 18. März, in der sich unter anderem Professor
Hillgruber positiv dazu geäußert hat.
({4})
Er hat eindeutig darauf hingewiesen, dass es aus seiner
Sicht keine unzulässige Diskriminierung von anderen
EU-Staaten und deren Bewohnern gibt. Jetzt könnte ich
Ihnen seitenweise die Unterlagen vorlesen; das will ich
uns aber ersparen. Ich will aber aus dem Protokoll der
Anhörung einen Absatz zitieren. Dort sagt Professor
Hillgruber:
Interessanterweise ist in Art. 7 k der Eurovignettenrichtlinie
- also bei der Lkw-Maut ausdrücklich vorgesehen, dass die Mitgliedstaaten
bei der Einführung eines Maut- oder eines Straßenbenutzungsgebührensystems Kompensationen vorsehen können. Bei solchen Kompensationen ist
- das zeigen auch die Materialien zu dieser Richtlinie - ausdrücklich auch an die Kfz-Steuer gedacht.
Das heißt, das gesamte Europarecht geht - wenn
man so will - von einem System kommunizierender
Röhren aus, somit von einer Infrastrukturfinanzierung, die auf zwei Säulen ruht, der Kfz-Steuer und
der Maut bzw. der Straßenbenutzungsgebühr.
So weit Professor Hillgruber in unserer Expertenanhörung.
Also, der Bundestagsverkehrsausschuss hat sich intensiv mit diesen Fragen beschäftigt, genauso die diversen beteiligten Bundesministerien und nach dem Bundesrat am Schluss auch noch der Bundespräsident. Alle
kamen zu dem Ergebnis: kein Verstoß gegen Europarecht.
({5})
Warum wird die Mauteinführung dann jetzt trotzdem
verschoben? Der Minister hat es heute schon erläutert:
Ein Restrisiko bleibt vor Gericht natürlich immer, und
die nötigen Ausschreibungen wären durch ein laufendes
Verfahren zu sehr belastet gewesen. Daher ist es im
Ergebnis wohl besser, die Entscheidung des EuGH abzuwarten.
Wenn die Entscheidung da ist, dann sollte es zügig an
die Umsetzung gehen; denn es bleibt dabei: Wir wollen
die Verkehrsinfrastruktur in Deutschland endlich ausreichend finanzieren. Da es immer wieder untergeht in
allen hitzigen Mautdebatten, will ich auch dieses Mal
darauf hinweisen: Uns geht es um mehrere Maßnahmen.
Zunächst einmal geht es uns um die massive Ausweitung
der Lkw-Maut, die wir bereits auf den Weg gebracht haben, es geht auch um die Pkw-Maut, und es geht um
mehr Haushaltsmittel. Mit diesem Paket - die Infrastrukturabgabe ist nur ein Teil dieses ganzen Pakets - wird es
uns gelingen, dass wir die Infrastruktur in Deutschland
endlich vernünftig finanzieren.
Vielen Dank.
({6})
Vielen Dank, Herr Kollege. - Als Nächste spricht
jetzt Sabine Leidig, Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Werte
Besucherinnen und Besucher! Ich will ganz zu Anfang
einmal drei Punkte festhalten, die mir sehr wichtig sind:
Erstens. Die Linke war die Partei - die Linksfraktion
hat einen entsprechenden Antrag in den Bundestag eingebracht, der dann an den Verkehrsausschuss überwiesen worden ist -, die gesagt hat: Wir wollen keine Maut
für Pkw-Fahrerinnen und -Fahrer.
({0})
Zweitens. Sie von CDU/CSU und SPD haben mit Ihrer überwältigenden Mehrheit beschlossen, dass alle
Pkw-Fahrerinnen und Pkw-Fahrer künftig eine Maut bezahlen müssen.
Drittens. Es wird, egal wie die EU-Kommission entscheidet, das passieren, was Herr Dobrindt hier mit Stolz
feststellt: Es wird einen Systemwechsel in der Straßenfinanzierung geben. Diesen Systemwechsel lehnen wir
aus verschiedenen Gründen ab.
Diejenigen, die Auto fahren, werden nicht an den
Kosten beteiligt je nach der Größe ihres Autos, je nach
Spritverbrauch oder je nach gefahrenen Kilometern, sondern sie werden bezahlen müssen, wenn sie bestimmte
Straßen benutzen, egal ob sie es tun müssen, weil sie beruflich unter Druck stehen, weil sie unbedingt eine familiäre Angelegenheit regeln müssen oder weil sie gern mit
dicken Autos durch die Gegend brettern; da wird überhaupt kein Unterschied gemacht. Das halte ich für eine
fatale Systemänderung.
({1})
Man könnte sich natürlich vorstellen, dass man das
Autofahren teurer macht, um vernünftige Veränderungen
zu bewirken. Dann müsste man zum Beispiel dafür sorgen, dass der Sprit ein paar Cent mehr kostet. Mit diesen
Einnahmen könnte man den öffentlichen Nahverkehr finanzieren, der hoffnungslos unterfinanziert ist. Man
könnte dafür sorgen, dass es endlich ausreichend Busse
und Bahnen in den Städten gibt, dass es vernünftige
Nahverkehrsangebote auf der Schiene gibt. Das alles
wäre eine vernünftige Systemänderung, aber genau entgegengesetzt zu der Richtung, die Sie wollen, Herr
Dobrindt.
({2})
Ein Systemwechsel, wie wir ihn uns ebenfalls wünschen würden, wäre zum Beispiel auch, dass man aufhören würde, den Diesel zu subventionieren. Die Lastkraftwagen sind das größte Problem auf den Straßen, mit dem
sich die Autofahrerinnen und Autofahrer permanent herumärgern. Die Lastkraftwagen verursachen riesige
Staus und große Umweltkosten. Der Sprit für die Lastkraftwagen wird mit 7 Milliarden Euro jährlich aus dem
Bundeshaushalt subventioniert. Warum nehmen wir
nicht dieses Geld, um dafür zu sorgen, dass die Verkehrsinfrastruktur vernünftig repariert, in Schuss gehalten und umgebaut wird?
({3})
Jetzt will ich noch etwas zu der Ungeheuerlichkeit sagen, dass Sie, Herr Dobrindt, von „Gerechtigkeit auf
Deutschlands Straßen“ sprechen. Das finde ich schon etwas skurril. Ich finde, wenn man über Gerechtigkeit auf
den Straßen spricht, dann muss man sich anschauen, wie
die Verkehrsteilnehmerinnen und Verkehrsteilnehmer eigentlich behandelt werden. Heute ist ein Artikel in der
Berliner Zeitung, in dem steht, dass die Hauptstädterinnen und Hauptstädter in Berlin inzwischen die Mehrzahl
der Wege zu Fuß zurücklegen. Jetzt schauen Sie sich einmal an, wie die Situation für Fußgängerinnen und Fußgänger in den meisten Städten und Gemeinden in diesem
Land aussieht. Hat sie sich verbessert in den letzten 30,
40 oder 50 Jahren? Nein, überhaupt nicht. Sie ist immer
schlechter geworden.
Noch katastrophaler sieht die Situation für Fahrradfahrerinnen und Fahrradfahrer aus. Stellen Sie sich einmal vor, für die Autofahrer hätte sich seit 1960 nichts an
den Straßen verändert, obwohl die Zahl der Autofahrerinnen und Autofahrer inzwischen mehr als dreimal so
hoch ist. Aber genau diese Situation haben wir bei den
Fahrradfahrenden: Mehr als dreimal so viele Menschen
fahren inzwischen Fahrrad; aber die Fahrradwege sind in
dem gleichen miserablen Zustand - sie sind vielerorts
klein und eng - wie 1960. Da müssten Sie Gerechtigkeit
herstellen: Gerechtigkeit für die Verkehrsteilnehmer, die
nicht motorisiert unterwegs sind und die mit ihrem
Verhalten dazu beitragen, dass eine sozialökologische
Verkehrswende und damit ein vernünftiger Systemwechsel möglich wird.
({4})
Vielen Dank. - Als Nächster spricht Heinz-Joachim
Barchmann, SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Ob nun „Pkw-Maut“ oder „Infrastrukturabgabe“ dass die Pläne von Verkehrsminister Dobrindt und seinem Parteivorsitzenden eines der umstrittenen Projekte
der Großen Koalition sind, wurde hier bereits ausführlich diskutiert. Und man muss es noch einmal in aller
Ehrlichkeit sagen: Dafür, dass wir von der SPD Vorhaben in den Koalitionsvertrag schreiben konnten, die
unser Land voranbringen und von denen wir absolut
überzeugt sind - wie zum Beispiel den Mindestlohn, der
bereits heute sehr vielen Menschen in Deutschland
hilft -, mussten wir auch Punkte akzeptieren, die uns
vielleicht nicht so gut passen.
Die CSU hat die Maut in den Koalitionsvertrag hineinverhandelt. Nein, sie ist weiß Gott nicht unser Herzensprojekt. Aber so funktioniert eben Demokratie. Dass
die Maut im Bundestag verabschiedet wurde, ist vor allen Dingen der Koalitionsdisziplin zu verdanken.
({0})
Die einen bringen ihr Projekt durch und die anderen ein
anderes, und am Ende sind alle einigermaßen zufrieden.
Was mich daran stört, ist allerdings etwas anderes,
und deshalb freue ich mich, heute als Europapolitiker
zur Maut sprechen zu können.
Als Sozialdemokraten haben wir der Maut unter drei
Bedingungen zugestimmt: Es muss ein substanzieller
Beitrag für die Investitionen in die Verkehrsinfrastruktur
erwirtschaftet werden. Es darf kein deutscher Autofahrer
zusätzlich belastet werden. Und: Die gesetzliche Regelung muss mit dem europäischen Recht vereinbar sein.
Ob die geplanten Überschüsse generiert werden können und die Maut damit ihren gesetzlichen Zweck erfüllen kann - nämlich den Erhalt der Infrastruktur -, darüber wird die Zukunft entscheiden. Auch die Fragen, ob
die Gesetzesvorhaben europarechtskonform sind und
wen die Maut schließlich finanziell belastet, stehen weiterhin im Raum.
Das Gesetzgebungsvorhaben besteht aus zwei Teilen:
Die Maut selbst soll durch ein Infrastrukturabgabengesetz eingeführt werden, das im Wesentlichen für Inländer
und Ausländer gleichermaßen gilt. Durch ein weiteres
Gesetz soll Fahrzeughaltern, die Kfz-Steuer zahlen, eine
Steuerentlastung in gleicher Höhe gewährt werden, um
eine Doppelbelastung durch die Kraftfahrzeugsteuer zu
vermeiden.
Im europäischen Recht - das gilt auch in Deutschland besteht der Grundsatz der Unionstreue. Danach unterstützen die Mitgliedstaaten die Union bei der Erfüllung
ihrer Aufgaben und unterlassen alle Maßnahmen, die die
Union gefährden könnten. Durch die Konstruktion des
Gesetzesvorhabens mit der Einführung der Maut bei
gleichzeitigem Ausgleich über die Kfz-Steuer ist aus
meiner Sicht ein europarechtswidriger Diskriminierungstatbestand gegenüber EU-Ausländern durchaus ersichtlich.
({1})
Aus dem Verkehrsministerium wird hingegen immer
wieder darauf verwiesen, dass die EU gar nicht zuständig sei. Es sei klar geregelt, dass die Steuern in der nationalen Hoheit eines jeden Landes selbst liegen. Ja, die
Steuern sind nationale Kompetenz; das wurde eben
schon gesagt.
Aber ganz egal, ob eine Kompetenz auf nationaler
oder auf europäischer Ebene liegt: Wichtig ist die
Gleichbehandlung in der ganzen EU. Eine Ungleichbehandlung kann auch von nationalen Gesetzen ausgehen.
In solchen Fällen muss die Europäische Kommission
eben zwangsläufig eingreifen, so wie sie das jetzt auch
tut.
Die Kombination aus der gleichzeitigen und in der
Höhe gleich bemessenen Entlastung deutscher Autofahrer wirft zumindest die Frage auf, ob hier eine unzulässige Benachteiligung von EU-Ausländern vorliegt.
Wenn schon so etwas für die Maut gebraucht wird, dann
muss sie gesetzlich auf einer einwandfreien und stabilen
Basis stehen. Über die rechtlichen Fragen hat aktuell der
Europäische Gerichtshof in Luxemburg zu entscheiden,
und man muss abwarten, wie diese Entscheidung letztlich ausfällt.
Wenn die Mautpläne aber tatsächlich vom EuGH beanstandet werden, dann werden die Richter sehr wahrscheinlich nicht beide Teile des Gesetzesvorhabens kippen. Das Mautgesetz selbst werden sie kaum infrage
stellen können, sehr wohl aber das Verrechnungssystem
mit der Kfz-Steuer, das deutsche Autofahrer bevorzugt.
({2})
Letztlich würde dann das Entlastungsgesetz durch den
EuGH „kassiert“, und die Maut selbst bliebe bestehen,
und zwar zulasten aller, auch und ganz besonders zulasten der deutschen Autofahrer.
Meine Befürchtung liegt darin, dass die Verantwortung für die Mehrbelastung deutscher Autofahrer anschließend in gewohnter Manier auf die Europäische
Union und ihre Institutionen geschoben wird. Das machen einige im Südosten Europas bereits heute, wenn sie
sich andauernd über die ständige Einmischung der EU in
nationale Gesetzgebungskompetenzen beschweren. Aber
genau in diese Richtung geht auch die aktuelle Argumentation: dass die EU aufgrund der nationalen Steuerhoheit gar nicht zuständig sei. Doch sie ist zuständig,
wenn es um Diskriminierungstatbestände geht. Wenn die
Maut für alle kommt, dann wird man auch dazu stehen
müssen, dass Bürgerinnen und Bürger Mehrbelastungen
spüren, und man muss sagen können, woher die Maut
kommt: in diesem Fall nämlich nicht aus Brüssel, sondern aus Bayern.
({3})
Sie müssen nun zum Schluss kommen, Herr Kollege
Barchmann.
({0})
Ja. - Die Kommission achtet nur darauf, dass andere
bei uns nicht diskriminiert werden, wie auch wir anderswo nicht diskriminiert werden wollen. Die Aufgaben der EU ständig infrage zu stellen, ist scheinheilig;
denn diese Kritik schadet Europa und damit letztlich
auch uns selbst.
Danke schön.
({0})
Vielen Dank. - Als Nächster hat Oliver Krischer,
Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Dobrindt, was Sie hier veranstalten, ist, ehrlich gesagt, unglaublich. Sie bekommen heute einen blauen
Brief. Ihr zentrales verkehrspolitisches Projekt wird von
der EU-Kommission in einem Punkt infrage gestellt,
über den wir schon seit einem Jahr diskutieren. Und was
machen Sie? Sie laufen hier wie ein aufgeblasenes
Michelin-Männchen herum und beschimpfen die EUKommission. Das ist doch unglaublich! Das ist doch unfassbar!
({0})
Ich sage Ihnen: Jeder Schüler und jede Schülerin in
dieser Republik ist weiter. Wenn sie einen blauen Brief
bekommen, dann wissen sie, dass die Versetzung gefährdet ist. Die mindeste Reaktion ist: ein bisschen Demut
zeigen, Besserung geloben und schauen, was man anders
machen könnte. Diesbezüglich höre ich nichts von Ihnen. Das Einzige, was Ihnen einfällt, ist die Beschimpfung der EU-Kommission. Etwas anderes ist an der
Stelle nicht zu hören. Das geht nicht für einen Verkehrsminister; das muss man einmal klipp und klar sagen.
({1})
Ich sage dazu - Sie wissen genau, was Sie da für ein
Problem am Hals haben -: Das ist Autosuggestion. Das
ist der kleine Alexander, der in Weilheim auf dem Schulhof steht, sich die Augen zuhält und sagt: Ich habe recht.
Es ist dunkel, ihr anderen liegt alle falsch. - Es ist Ihre
Art der Politik, sich etwas einzureden. Das wissen Sie
sehr genau.
({2})
Herr Bilger hat hier eben den einzigen Sachverständigen, den es in der ganzen Republik überhaupt gibt, der
Ihre Position unterstützt, zitiert. Wir haben im Ausschuss eine Anhörung gehabt,
({3})
wo reihum durch Gutachten des Wissenschaftlichen
Dienstes dargelegt worden ist, dass das nicht europarechtskonform ist und dass das ganze Projekt scheitern
muss. Lesen Sie das einfach noch einmal nach. Das, was
Sie hier jetzt machen, ist arrogant. Damit werden Sie
scheitern.
Ich möchte an dieser Stelle auch einmal eines sagen:
Ich danke ausdrücklich Herrn Juncker und der Verkehrskommissarin, Frau Bulc, dass wenigstens die Europäische Kommission, wenn schon die Koalition hier den
größtmöglichen Unsinn beschließt, an der Stelle versucht, das zu stoppen. Es geht ja nicht nur darum, dass
das Ganze nicht europarechtskonform ist. Sie können ja
froh sein, dass die EU-Kommission keine Kompetenz
hat, das verkehrspolitisch zu überprüfen, dass die EUKommission keine Kompetenz hat, Bürokratiefragen zu
überprüfen, dass die EU-Kommission keine Kompetenz
hat, Datenschutzfragen zu überprüfen. Wenn all das
überprüft würde, würden Sie doch auch in diesen Punkten mit diesem Unsinnsprojekt scheitern. Insofern ist es
gut, dass heute der blaue Brief gekommen ist. Ich wünsche der EU-Kommission viel Kraft dafür, dass sie es
schafft, dieses Projekt zu versenken.
({4})
Wenn Sie dann erzählen, es gäbe da keine Diskriminierung, dann ist das, ehrlich gesagt, eine intellektuelle
Beleidigung.
({5})
Sie laufen seit eineinhalb Jahren durch das Land, angefangen von der Bundeskanzlerin bis zum letzten Abgeordneten der CSU bzw. der Union - leider haben wir ja
auch bei der letzten Debatte einige Sozialdemokraten gehört, die erzählen, dass das eins zu eins kompensiert
wird -, und versichern: Das, was die deutschen Autofahrerinnen und Autofahrer bezahlen, wird exakt eins zu
eins zurückgegeben, nur die Ausländerinnen und Ausländer zahlen. - Herr Dobrindt, das ist Diskriminierung.
Denken Sie denn, die in Brüssel sind blöd und glauben
Ihren unsäglichen juristischen Windungen? Dass das
nicht in Ordnung ist, ist doch völlig klar. Das ist eine
Diskriminierung. Damit werden Sie spätestens vor dem
Europäischen Gerichtshof scheitern. Das geht so nicht,
meine Damen und Herren.
({6})
Ich kann nur eines sagen: Schlimmer noch als die
Maut selber ist das, was sie in Deutschland in der Verkehrspolitik bewirkt. Wir haben in der Verkehrspolitik
genug Baustellen, die zu erledigen wären. Ich will nur
eine nennen - Frau Wilms hat auf die Brücken und deren
Erhaltung hingewiesen -: Nehmen wir zum Beispiel den
Flughafen BER. Hier würde ich mir wünschen, dass sich
der Verkehrsminister um dieses Projekt kümmert und dafür sorgt, dass es vorangeht. Darüber höre ich nichts. Wir
werden erleben - das deutet sich schon an -, dass Sie
sich in den nächsten zwei Jahren nur noch mit der
Durchsetzung der Maut und der Beschimpfung der EUKommission beschäftigen werden und dass alle verkehrspolitischen Projekte liegen bleiben. Das ist eine
Bankrotterklärung der gesamten Großen Koalition in der
Verkehrspolitik. Das geht nicht.
({7})
Deshalb sage ich: Tun Sie Deutschland, tun Sie Europa einen Gefallen. Ziehen Sie dieser unsäglichen Ausländermaut den Stecker. Das wäre eine Maßnahme, die
Größe zeigt. Das würde uns in der Verkehrspolitik voranbringen. Dann könnten wir uns endlich um die wirklichen Probleme kümmern, die es in diesem Land zu lösen
gilt.
Ich danke Ihnen.
({8})
Vielen Dank. - Als Nächster redet jetzt Andreas
Scheuer, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Bei so manchen Wortbeiträgen der Opposition
({0})
könnte man meinen, dass Sie von steinzeitlicher Verkehrspolitik reden. Den Kollegen Krischer kann man bei
seinen cholerischen Anfällen vom Kollegen Hofreiter
nur noch haarschnitttechnisch unterscheiden. Ich möchte
mich auf die Fakten konzentrieren.
Bundesminister Dobrindt und die Große Koalition
hatten den Mut, den Systemumstieg umzusetzen
({1})
und in ein anderes, nämlich nutzerfinanziertes System zu
kommen. Dies alles schlägt die Europäische Kommission seit Jahren vor.
({2})
Dies ist auch das gerechteste System. Es schafft mehr
Mittel für die Verkehrsinfrastruktur. Genau diese Ziele
- ich bin Kollegen Hartmann dankbar, dass er das auch
noch einmal für die SPD dargestellt hat - verfolgen wir
in der Großen Koalition. Diesen Systemumstieg, den
viele Mitgliedstaaten in der Europäischen Union schon
gemacht haben, setzt Deutschland als Transitland um.
Meine Damen und Herren, Fakt eins ist, dass nach intensiver fachlicher Prüfung, nach demokratischer Entscheidung und nach juristischer Prüfung
({3})
die Bundesregierung, der Bundestag, der Bundesrat, der
Bundespräsident dieses Maßnahmenpaket und Gesetzespaket in nationaler Zuständigkeit beschlossen haben. Die
EU-Kommission muss sich auch daran orientieren, dass
es Alleinzuständigkeiten der nationalen Ebenen gibt. Zudem haben wir, verehrte Kolleginnen und Kollegen der
Opposition, alle parlamentarischen Möglichkeiten genutzt, um eine möglichst breite Diskussion über dieses
Projekt zu haben.
({4})
Fakt zwei ist: Die Infrastrukturabgabe ist europarechtskonform, weil die Regelungen In- und Ausländer
gleichermaßen betreffen. Die Gestaltung der Kfz-Steuer
liegt in nationaler Zuständigkeit. Diese Diskussion ist
wiederum ein Beispiel dafür, dass sich die EU-Kommission in Zuständigkeiten einmischt. Die Bürgerinnen und
Bürger sind von diesem „Überall-Einmisch-Europa“ genervt.
({5})
Wir werden den Bundesminister in seiner inhaltlich harten Auseinandersetzung mit der EU-Kommission in den
fachlichen Fragen unterstützen, weil es ein sinnvolles
Projekt ist.
Fakt drei ist: Die EU-Kommission empfiehlt seit Jahren die Nutzerfinanzierung. Unser System ist auch in der
Erarbeitung auf den vielen Wegstrecken mit der EUKommission abgestimmt. Die EU-Kommission war eingebunden.
Fakt ist auch, dass über 20 Staaten in der EU bereits
Mautsysteme haben. Das können die Bürgerinnen und
Bürger in Deutschland nicht verstehen, dass überall anders Mautsysteme möglich sind - nur in Deutschland
protestiert die EU-Kommission. Das ist nicht haltbar.
Das ist eine Einmischung in nationale Angelegenheiten.
({6})
An die Adresse der Opposition: Kollege Krischer, mit
Ihrem Verhalten torpedieren Sie demokratische Entscheidungen.
({7})
Sie verhalten sich schädlich gegenüber deutschen Interessen, wenn Sie überall ausrufen, dass Sie froh sind,
dass das Verfahren eingeleitet wird. Sie wollen also weiterhin Ungerechtigkeit in den Fragen der europäischen
Infrastruktur.
Die EU ist mit dieser Haltung jetzt schuld daran,
wenn die Gewährleistung von mehr Gerechtigkeit auf
europäischen Straßen verschoben werden muss.
({8})
Die EU-Kommission verhält sich in diesem Verfahren
dreist, wenn sie sich offen in nationale Zuständigkeiten
einmischt.
({9})
Die Einführung einer Pkw-Maut in Deutschland fällt in
die nationale Zuständigkeit. Die Entscheidung für die
Pkw-Maut ist demokratisch, europarechtskonform und
verkehrspolitisch richtig.
Viele Millionen Urlauber und Nutzer der Infrastrukturen in Europa werden jetzt in der Urlaubszeit erfahren,
dass in über 20 Staaten ohne Probleme Mautsysteme realisiert wurden, Fakt sind, dass die gesamte europäische
Infrastruktur von ihnen profitiert und dass die Infrastruktur durch Nutzerfinanzierungssysteme besser wird.
({10})
Und nichts anderes wollen wir in Deutschland: die Umsetzung einer europarechtskonformen Pkw-Maut. Aber
die Europäische Kommission verweigert sich, wenn es
darum geht, diese Gerechtigkeit umzusetzen. Deswegen
kritisieren wir sie aufs Schärfste und scheuen uns nicht
vor einer harten Auseinandersetzung.
Die Große Koalition und die Bundesregierung haben
die Pkw-Maut beschlossen. Ich bin mir sehr sicher, dass
wir unseren Einfluss auf europäischer Ebene geltend machen. Auch wenn die deutsche Opposition die Umsetzung dieses Projekts torpediert, sind wir nicht minder
hoffnungsvoll, dass wir schnell zu Entscheidungen kommen.
({11})
Das Kreischen von Herrn Krischer wird bald ein Ende
haben.
Herzlichen Dank.
({12})
Vielen Dank. - Es spricht jetzt Andreas Schwarz,
SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und
Herren auf den Zuschauerrängen! Liebe Fraktion Bündnis 90/Die Grünen! Ehrlich gesagt: Zuerst konnte ich
Ihre Begeisterung für Diskussionen über die Infrastrukturabgabe nicht nachvollziehen. Aber in Anbetracht der
heutigen Botschaften aus Brüssel darf man Ihnen zur
Terminwahl gratulieren.
({0})
Ich freue mich, dass ich hier heute reden darf. Aber
eine Empfehlung hätte ich: Vielleicht können Sie Aktuelle Stunden auch zu den schönen Dingen, die in diesem Land und in dieser Koalition passieren, beantragen.
({1})
Es gibt sehr viele große Erfolge: von der Frauenquote bis
zum Mindestlohn. Diese Themen wären auch mal eine
Aktuelle Stunde wert.
Aber jetzt zur heutigen Debatte, zur Pkw-Maut. Dass
sich die EU-Kommission das Gesetzespaket genau anschauen wird, das haben wir schon bei der Verabschiedung gewusst. Nun wird, wie wir heute erfahren haben,
ein Vertragsverletzungsverfahren eröffnet. Das heißt für
uns: Wir müssen darauf reagieren bzw. erst einmal abwarten.
Herr Minister Dobrindt, ich begrüße es sehr, dass Sie
die Einführung erst einmal verschieben. Sie haben das
Copyright an diesem Gesetz.
({2})
Es steht Ihnen natürlich zu, die Reißleine zu ziehen, um
Mehrkosten für den deutschen Steuerzahler zu verhindern.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir wissen alle
- das ist bereits deutlich geworden -, dass dieses Thema
keine Herzensangelegenheit der SPD-Fraktion war und
ist. Trotzdem haben wir im Verkehrs- und im Finanzausschuss zahlreiche Änderungen durchgesetzt, um zumindest das Versprechen der SPD umzusetzen, keinen deutschen Steuerzahler zusätzlich zu belasten. Aber nicht nur
das: Wir haben auch weitere sozialdemokratische Forderungen durchgesetzt, wenn auch nicht alle.
Erstens. Wir haben die Mautsätze für im Ausland zugelassene Kraftfahrzeuge angepasst.
({3})
Damit unsere europäischen Nachbarn bei den Zeitvignetten nicht diskriminiert werden, wird es jetzt auch
bei den Zeitvignetten Staffelungen nach Ökoklassen geben.
Das war eine wichtige Forderung der EU-Kommission.
Zweitens. Wir haben den Datenschutz im Gesetz
deutlich verbessert, indem wir die Speicherfristen von
drei Jahren auf ein Jahr verkürzt haben.
Drittens haben wir auch beim Thema Evaluation
deutliche Verbesserungen durchgesetzt: So wird zwei
Jahre nach dem technischen Start der Pkw-Maut das
Gesetz einem umfassenden Einnahmen- und Bürokratiecheck unterzogen werden. Bereits nach einem Jahr
werden wir überprüfen, ob die Annahmen über den Personalaufwand, vor allen Dingen beim Zoll, auch tatsächlich zutreffen.
Scheinbar sind aber diese Verbesserungen, die wir erreicht haben, nicht ausreichend, wie die Prüfung durch
die EU-Kommission im Moment zeigt. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir wussten, wie gesagt, dass es zu
einer Überprüfung dieser Infrastrukturabgabe kommen
wird.
({4})
Jetzt lassen wir die Kommission prüfen, ob das Gesetz
von Minister Dobrindt den europäischen Ansprüchen genügt, wie es hier versprochen wurde. Ich bin mir sicher:
Er wird die notwendigen Argumente zur Klärung nach
Brüssel liefern.
Zum Schluss noch eine kleine Exkursion in die Geschichte: Heute ist ja ein denkwürdiger Tag: 18. Juni nicht weil hier der blaue Brief aus Brüssel eingetroffen
ist.
({5})
- Nein, was ich sagen wollte: Heute vor 200 Jahren hat
Napoleon seine letzte Schlacht geschlagen in der Nähe
von Brüssel, bei Waterloo.
({6})
Das kleine Dorf hieß Waterloo. Ich wünsche unserem
Minister, dass er mehr Erfolg haben wird, was seine Bemühungen in Sachen Infrastrukturabgabe betrifft.
Danke schön.
({7})
Das Wort hat der Kollege Ulrich Lange für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ja, die Überschrift für heute heißt:
({0})
EU verzögert Gerechtigkeit. - Schade für Deutschland
und Europa! Unsere Antwort heißt: Die Infrastrukturabgabe kommt trotzdem, lieber Kollege Schwarz - jetzt
passen Sie auf! -, weil Gerechtigkeit sich am Ende
durchsetzt und es immer eine Herzensangelegenheit der
SPD war, für Gerechtigkeit in Deutschland und Europa
zu kämpfen.
({1})
Wir haben ein Gesetz beschlossen - davon sind wir
alle in der Großen Koalition überzeugt -, das EU-rechtskonform ist. Deswegen sind wir auch gut aufgestellt, lieber Kollege Kreischer, im Verfahren mit Brüssel; denn
eines machen wir nicht im Gegensatz zu Ihnen: Wenn
man uns einen Brief schreibt, dann gibt es bei uns keinen
blinden Gehorsam, dass wir nachlaufen, sondern wir
schauen uns das an, wir antworten, und wir haben Standpunkte, und die kommen nicht immer nur aus Brüssel.
({2})
Deshalb sehen wir dem Verfahren ganz ruhig entgegen.
Ich sehe eher kritisch, dass mit all dem, was hier von der
EU-Kommission wieder gemacht wurde, wir in der Bevölkerung eine Debatte haben, in der es irgendwann heißen wird: Was können wir vor Ort, was können wir national für uns entscheiden? Warum können wir nicht das
haben, was über 20 Staaten in der EU auch haben? - Die
Europafreundlichkeit hat heute stark gelitten.
({3})
Die Anzahl der Vertragsverletzungsverfahren ist angesprochen worden. Der Minister hat auch schon angesprochen, dass die Kommission durchaus auch irrt; Irren
ist menschlich.
({4})
Lieber Kollege Barchmann, beim Thema Mindestlohn
- da haben wir gemeinsam ein Gesetz gemacht - hat es
auch ein Vertragsverletzungsverfahren gegeben. Insofern sage ich: Wir sehen mit aller Ruhe Richtung Brüssel. Brüssel sollte allerdings eines tun: sich auf die Themen konzentrieren, die für Europa und den Fortbestand
der EU wirklich notwendig sind.
({5})
Da stehen wir vor größeren Herausforderungen, da haben wir größere Themen, da haben wir größere Schwierigkeiten.
({6})
Großbritannien ist angesprochen worden, Österreich
ist angesprochen worden. Die Verknüpfung von Einführung der Maut und Anhebung der Pendlerpauschale hat
die Kommission nicht gestört - war ja nur das kleine Österreich.
Großbritannien: Auch die Lkw-Maut in Großbritannien hat die Kommission nicht gestört - war ja nur eine
Insel, und mit Cameron legt man sich sowieso nicht
gerne an. Insofern dachte man: Wir können es mal mit
Deutschland versuchen. - Wir bleiben aber genauso stehen, liebe Kolleginnen und Kollegen!
({7})
Das Prinzip der Nutzerfinanzierung bzw. das Umstellen des Systems wurde mehrfach angesprochen. Es ist
klar, dass es sich hierbei um kommunizierende Röhren
bzw. Säulen handelt. Auch in der Eurovignetten-Richtlinie - das ist schon angesprochen worden; es gilt für die
Finanzer genauso - ist ausdrücklich von einem Ausgleich die Rede. Insofern sind wir auf dem richtigen
Weg.
Wir setzen das, was die Kommission von uns fordert
- Nutzerfinanzierung -, um, und heute hat sie nichts
Besseres zu tun, als ein Schreiben zu verfassen, das den
eigenen Vorgaben widerspricht. Da muss man sich schon
fragen, ob das der richtige Weg ist.
({8})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn man dann
auch noch über die Kurzzeitvignette redet, dann erlauben Sie mir folgendes Beispiel: In Österreich kostet die
billigste 8,90 Euro. In Deutschland, wo es zehnmal so
viele Straßen gibt, sind es 5 Euro. Liebe Kommission,
fange endlich mal an, richtig zu rechnen!
({9})
Die Kommission hat heute sicherlich für eine gewisse
Verzögerung gesorgt. Das Handeln des Ministers ist verantwortungsvoll und richtig.
({10})
Wer schließt denn während eines laufenden Verfahrens
einen Vertrag? Das führt natürlich dazu, dass wir am
Ende nicht die optimalen Verträge haben. Wir wissen
doch hinsichtlich der Einführung der letzten Maut in rotgrünen Zeiten: Falsche Mautverträge sind die schlechtesten. Deswegen: Es wurde verantwortungsvoll geprüft
und für richtig befunden. Diesen Weg gehen wir weiter.
Die Maut kommt!
Danke schön.
({11})
Das Wort hat der Kollege Arnold Vaatz für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am Morgen von
Waterloo war Napoleon der euphorisierteste und siegessicherste, so wie heute die Grünen.
({0})
Wir sind angesichts dessen, was wir heute erfahren haben, gelassen, aber nicht euphorisiert.
Kurz zur Rechtslage. Die Infrastrukturabgabe ist diskriminierungsfrei. Das heißt, sie wird von jedem gezahlt.
Wenn man eine Diskriminierung hineininterpretieren
will, dann ist es eine Diskriminierung der Einheimischen.
({1})
Denn die ausländischen Straßenbenutzer sind von einer
Infrastrukturabgabe für Bundesstraßen jenseits der Autobahnen ausgenommen.
Ein weiterer Punkt. Die Kfz-Steuer ist diskriminierungsfrei. Ein tschechischer Staatsbürger, der sein Auto
in Dresden zugelassen hat - er hat von der Ansiedlungsfreiheit Gebrauch gemacht -, profitiert von der Absenkung der Kfz-Steuer. Genauso hat ein Deutscher, der in
Prag wohnt und dort ein Auto angemeldet hat, die tschechische Kfz-Steuer zu akzeptieren. Das heißt, die Herkunft ist nicht das Kriterium der Inpflichtnahme. Im
Übrigen kann der deutsche Gesetzgeber nur dort diskriminieren, wo er die Jurisdiktionsgewalt hat - und
nicht außerhalb dieses Gebietes. Ich bitte, das zu beachten.
Sie sagen jetzt: Es mag sein, dass beide Fälle diskriminierungsfrei sind; aber die Verknüpfung - das ist eine
Diskriminierung von Ausländern.
({2})
- Darauf entgegne ich Folgendes: Ich glaube, dass die
Europäische Kommission durchaus das Recht hat, dies
so zu sehen. Sie hat auch das Recht, vor den Europäischen Gerichtshof zu treten und ihn darum zu bitten, das
zu klären. Aber, meine Damen und Herren, die Europäische Kommission ist in diesem Verfahren Partei und
nicht Richter.
({3})
Und auch Sie sind nicht Richter, sondern der Europäische Gerichtshof hat das zu entscheiden.
({4})
Jetzt sage ich Folgendes: Wer behauptet, dass hier
eine Diskriminierung vorliegt, muss unabhängig von der
Meinung der anderen Gutachter bei unserer Anhörung
erklären, wie denn dann Artikel 7 k der EurovignettenRichtlinie der Europäischen Union zu beurteilen ist. Das
interessiert mich sehr,
({5})
und um die Klärung dieser Frage wird auch der Europäische Gerichtshof nicht herumkommen.
Vor diesem Hintergrund erinnere ich mich an einen
Moment am 27. März, als wir hier in dieser Runde die
Debatte zur zweiten und dritten Lesung des Gesetzes
hatten. Damals ist mit großem bayerischem Temperament der Kollege Hofreiter ans Pult getreten und hat sich
in Rage geredet; es war ein regelrechter Wutanfall wegen des Gesetzes.
({6})
Er hat uns gesagt: Das Gesetz wird sowieso vor dem Europäischen Gerichtshof keinen Bestand haben.
({7})
Ich habe damals gedacht: Wenn sich Herr Hofreiter so
sicher ist - Sie, Herr Krischer, waren sich mit Ihrem
rheinischen Temperament heute auch so sicher -, weshalb regt er sich dann so auf?
({8})
Sehen Sie, das ist der Unterschied: Wir reagieren völlig
gelassen, weil wir wissen, dass wir das Recht auf unserer
Seite haben.
({9})
- Weil die EU-Kommission nicht der Richter, sondern in
diesem Fall die andere Partei ist.
({10})
Oder wissen Sie nicht, was Gewaltenteilung und Rechtsstaat bedeuten, können mit den Begriffen nichts anfangen?
({11})
Die EU-Kommission ist eine Partei, die einen anderen
Standpunkt vertritt, bei dem wir davon überzeugt sind,
dass man damit vor Gericht scheitern wird.
({12})
Demzufolge sind wir ganz gelassen. Und weil Sie im Inneren wissen, dass Sie scheitern werden, deshalb regen
Sie sich so auf. Das ist der Punkt.
({13})
Die Aktuelle Stunde ist damit beendet.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf:
Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU,
SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Bericht der Bundesregierung zur weltweiten
Lage der Religions- und Glaubensfreiheit
Drucksache 18/5206
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({0})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss für Kultur und Medien
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, die an dieser
Debatte nicht mehr teilnehmen können oder wollen, die
notwendigen Umgruppierungen jetzt zügig vorzunehmen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Volker Kauder für die CDU/CSU-Fraktion.
({1})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Wir diskutieren nicht zum ersten Mal hier im Deutschen Bundestag über Religionsfreiheit als Menschenrecht oder über die Situation von Religionsgruppen
- Christen, Muslimen und anderen - in der ganzen Welt.
Aber zum ersten Mal legen wir, CDU/CSU, SPD und
Grüne, einen Antrag vor, der eine Aufforderung an die
Bundesregierung beinhaltet, bis zum nächsten Jahr,
2016, einen Bericht über die Situation der Religionsfreiheit in der ganzen Welt vorzulegen. Dies ist nicht zuletzt
- vielleicht kann man sogar sagen: in erster Linie - ein
Verdienst des Kollegen Beck von den Grünen. Es passiert sehr selten, Herr Beck, dass ich Sie besonders zu loben habe;
({0})
aber es ist so, dass Sie diesen Antrag mit auf den Weg
gebracht und unterstützt haben. Das zeigt - von der ganz
linken Seite dieses Hauses einmal abgesehen -, dass dies
ein Thema ist, das alle im Deutschen Bundestag beschäftigt.
Die CDU/CSU-Fraktion hat immer wieder Anträge
zu diesem Thema gestellt, vor allem angeregt durch die
Kollegin Steinbach. Wir haben immer wieder versucht,
deutlich zu machen, dass Religionsfreiheit nicht ein
Thema des christlichen Abendlandes ist. Wir haben immer wieder deutlich gemacht, dass Religionsfreiheit ein
Menschenrecht ist. 1948 wurde die Menschenrechtscharta der UNO verabschiedet, in der das Recht auf Reli10762
gionsfreiheit festgelegt ist. Fast alle Staaten haben diese
Konvention angenommen. Umso mehr ist man überrascht, dass die Religionsfreiheit auch in Staaten verletzt
wird, die diese Konvention angenommen haben.
Warum jetzt dieser Antrag? Die Situation hat sich dramatisch verändert, um nicht zu sagen: dramatisch verschlechtert. Dies hat auch etwas mit der Entwicklung im
Nahen Osten zu tun, mit dem IS. Vor einem Jahr ist der
IS in Mossul eingefallen. Mossul ist eine Stadt mit
3 Millionen Einwohnern, darunter vielleicht 40 000 bis
50 000 Christen und einige Tausend Jesiden. Mossul war
so etwas wie ein religiöses Mosaik im Nahen Osten: Verschiedene Glaubensgruppierungen haben ohne Probleme
miteinander und nebeneinander gelebt. In Mossul lebten
Sunniten, Schiiten, Christen und Jesiden - das waren die
größten Religionsgruppen -; aber seit dem Eindringen
des IS ist die Situation eine ganz andere: Der IS hat die
Christen und die Jesiden vertrieben oder ermordet, sie
wurden vergewaltigt und auf dem Sklavenmarkt verkauft - und dies alles im Namen der Religion. Jetzt gibt
es überhaupt keine Religionsfreiheit mehr, auch nicht für
die Angehörigen der unterschiedlichen Richtungen im
Islam. Es gibt nur noch die eine Auffassung, und wer der
nicht folgt, wird vertrieben oder umgebracht.
Wir sagen - so steht es auch in unserem Antrag -: Wir
wollen nicht, dass eine Richtung, eine Glaubensgruppe
besonders begünstigt wird. Wir wollen, dass jeder nach
seinem Glauben frei und unabhängig in der ganzen Welt
leben darf. - Darum geht es.
({1})
Wir hier in Deutschland sagen: Glaubensfreiheit
heißt, dass jeder im Rahmen unserer Gesetze seinen
Glauben hier frei leben kann. Deswegen dürfen Muslime
hier natürlich ihre Moscheen bauen - das ist ja überhaupt
keine Frage -, und auch Christen und andere Religionsgruppen dürfen ihre Gottes- und Gebetshäuser bauen.
Religionsfreiheit heißt, dass dies für alle in aller Welt
gewährleistet sein muss. Ich will nur einen kleinen politischen Schlenker machen: Das, was bei uns erlaubt und
möglich ist, muss beispielsweise auch in der Türkei
möglich sein. Wie die Türken ihre Gotteshäuser und
Glaubenseinrichtungen hier bauen können, müssen - das
verlangen wir - in der Türkei auch die wenigen Christen,
die es dort noch gibt, ihre kleinen Kirchlein bauen dürfen.
({2})
Das ist der entscheidende Punkt. Um mehr geht es gar
nicht.
Wir sehen aber auch, dass es kleine Gruppen gibt, die
nicht in Frieden leben können, zum Beispiel die Bahai
und andere. Beispielsweise in Myanmar quälen die an
sich so friedlichen Buddhisten eine Gruppe von Menschen und vertreiben sie aus ihrer Heimat.
Da, glaube ich, muss die Botschaft sein: Wir wollen,
dass die Menschen ihren Glauben offen bekennen und
leben können oder auch das Recht haben, nichts zu glauben. Die Religionsfreiheit ist das zentralste Menschenrecht überhaupt, weil es nämlich über das eigene Leben
hier hinausweist, weil es die Menschen mit der Frage
konfrontiert: War es dies, oder gibt es noch etwas anderes? Deswegen ist es natürlich auch richtig, dass man in
einem gewissen Rahmen Religionsfreiheit und Religion
schützt.
Aber ich bin sehr vorsichtig, wenn es darum geht,
Blasphemiegesetze auszuweiten und Strafen neu einzuführen. Wir müssen sehen, dass ein Staat nicht alles verbieten kann, was seine Werteordnung nicht richtig findet. Deswegen sage ich: Es braucht auch mehr
Zivilcourage. Wir können nicht alles verbieten und immer genau feststellen, ob etwas eine Gotteslästerung ist
oder nicht.
Ich kann auch nur sagen: Ich selber habe den Satz
„Ich bin Charlie“ nie unterschrieben.
({3})
Aber ich werde mich immer dafür einsetzen, dass „Charlie“ möglich ist und dass dies auch gemacht werden
kann. Zur gleichen Zeit warne ich aber auch davor, mit
den religiösen Gefühlen und religiösen Symbolen anderer Gruppen zu spielen.
({4})
Darin liegt ein großes Problem. Dies kann man nicht
staatlich verbieten, aber wir müssen aufstehen und dies
klar und deutlich sagen. Auf der anderen Seite geht es
aber auch gar nicht, dass Gruppierungen, die sich gekränkt und beleidigt fühlen, selber zu Maßnahmen greifen und aus Rache andere Menschen umbringen. Dazu
gibt es in keiner Religion ein Recht.
({5})
Wir sehen auch, dass im Namen von Religionen
schweres Unrecht getan wird. Deswegen verlange ich
und verlangen viele von uns, dass die Religionsfreiheit
gewährleistet wird. Denn dort, wo Religionsfreiheit
nicht besteht, gibt es keine wirkliche Freiheit - ohne
Religionsfreiheit keine Freiheit. Dort, wo die Menschen
ihren Glauben nicht frei leben können, kommt es zu
Konflikten.
Wir fordern die Bundesregierung jetzt auf, uns einen
Bericht vorzulegen. Natürlich gibt es im Menschenrechtsbericht immer wieder Hinweise, aber es gibt noch
keine systematische Darstellung zum Thema Religionsfreiheit in der Welt. Die UNO hat sich gerade jetzt im
März wieder mit dem Thema befasst. In jedem Jahr gibt
es einen Bericht zur Religionsfreiheit und zur Situation
der Religionen. Aber wirklich getan hat sich noch nichts.
Deswegen verspreche ich mir von diesem Bericht neben
der Information darüber, was in der Welt los ist, auch einen neuen Impuls. Ich finde, es ist völlig klar, völlig
richtig und auch notwendig: Zu einer wertegeleiteten
Außenpolitik, die wir hier im Deutschen Bundestag machen und die auch in der Koalitionsvereinbarung festgeVolker Kauder
schrieben ist, gehört der Einsatz für das Recht auf Religionsfreiheit.
Herzlichen Dank.
({6})
Die Kollegin Annette Groth hat für die Fraktion Die
Linke das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren auf
der Tribüne! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Fraktion Die Linke begrüßt alle Bemühungen, sich für die
Einhaltung der Menschenrechte weltweit einzusetzen.
Es ist aber schon sehr bemerkenswert, dass zum Thema
Religions- und Glaubensfreiheit die Vorlage eines eigenständigen Berichts außerhalb des bestehenden Menschenrechtsberichts beantragt wird. Ich finde es schade,
dass zum Beispiel kein Bericht über die Menschenrechtsverletzungen durch transnationale Konzerne oder
über die Verletzung der sozialen und kulturellen Menschenrechte durch die Sparpolitik eingefordert wird. Das
kann ja aber noch kommen.
({0})
Die Fraktion Die Linke wird in den laufenden Beratungen anregen, dass die Bundesregierung einen Bericht
über die weltweiten Menschenrechtsverletzungen von
Gewerkschafterinnen und Gewerkschaftern und von
Menschenrechtsverteidigerinnen und Menschenrechtsverteidigern vorlegt. Ich hoffe, dass Sie unserem Vorschlag dann zustimmen werden.
({1})
Die Fraktion Die Linke wird den vorliegenden Antrag
unterstützen, weil es uns, wie gesagt, um die Menschenrechte geht. Und die Religions- und Glaubensfreiheit ist
ein Menschenrecht; da gebe ich Herrn Kauder recht.
Wir hoffen, dass der geforderte Bericht der Bundesregierung auch ein ausführliches Einleitungskapitel zur
Lage der Religions- und Glaubensfreiheit in Deutschland haben wird; denn, liebe Kolleginnen und Kollegen,
bei uns ist eine stetige Zunahme von Rassismus feststellbar. An vielen Orten wird teilweise heftig gegen den Bau
von Moscheen protestiert. Kommunale Verwaltungen
versuchen, durch Bauvorschriften oder vorgeschobene
verwaltungstechnische Hindernisse die Errichtung
muslimischer Gotteshäuser in den Innenstädten zu verhindern. Es ist nicht akzeptabel, dass Menschen muslimischen Glaubens ihre Moscheen in Industriegebieten
oder städtischen Randlagen bauen müssen, weil angeblich nicht genügend Parkplätze zur Verfügung stehen.
({2})
Negative Religionsfreiheit bedeutet für unsere Fraktion auch, dass eine konsequente Trennung von Staat
und Kirche auch bei uns umgesetzt werden muss.
({3})
Es ist nicht hinnehmbar, dass in einigen Bundesländern ich nenne hier stellvertretend Bayern - atheistisch orientierte Menschen vor Gericht darum kämpfen müssen,
dass religiöse Symbole aus öffentlichen Einrichtungen
wie Schulen, Gerichten oder kommunalen Gebäuden
entfernt werden. Wir erwarten von der deutschen Politik,
dass sie die Trennung von Staat und Kirche endlich konsequent umsetzt.
({4})
Bei uns gibt es - man höre und staune - mehr als
120 verschiedene Glaubens- und Philosophierichtungen. Der Staat muss allen Religionsgemeinschaften gegenüber die gleiche Distanz wahren und darf einzelne
Konfessionen nicht bevorzugen. Das schließt natürlich
nicht aus, dass wir gemeinsam gegen totalitäre, frauenfeindliche und das friedliche Zusammenleben zerstörende Tendenzen vorgehen müssen.
({5})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist skandalös,
dass Saudi-Arabien und Katar - „Stabilitätsanker der
Region“, wie es die Bundesregierung nennt - seit vielen
Jahren dschihadistische Gruppen wie den IS unter anderem mit Kriegsgerät unterstützen und gerade einen Krieg
mit bislang weit über 2 200 Toten gegen ihr Nachbarland
Jemen führen. Wenn an solche Länder trotzdem weiterhin Waffen aus unserem Land geliefert werden, macht
sich die Bundesregierung an der Verfolgung und Ermordung von Menschen unterschiedlicher Religionszugehörigkeit direkt mitschuldig.
({6})
Wir erwarten, dass alle Waffenexporte in die gesamte
Region sofort gestoppt werden.
({7})
Vor einigen Wochen habe ich die „Patenschaft“ für
den saudischen Blogger Raif Badawi übernommen, der
zu 1 000 Stockhieben, zehn Jahren Haft und einer hohen
Geldstrafe verurteilt worden ist. Die Verurteilung eines
Menschen zu einer barbarischen Strafe von 1 000 Stockschlägen wegen angeblicher Beleidigung des Islams
steht einer humanen und an Menschenrechten orientierten Justiz diametral entgegen.
({8})
Die Bundesregierung muss ihre Doppelstandards endlich
beenden und Saudi-Arabien mit klaren Worten zu einer
Änderung seines Justizsystems und einer deutlichen Verbesserung der Menschenrechtssituation drängen; sonst
machen wir uns unglaubwürdig.
({9})
Verehrte Damen und Herren, Menschenrechte müssen
für alle Menschen gelten. Das heißt, Diskriminierung
aufgrund von Hautfarbe oder Religion muss geahndet
werden, egal wo und gegen wen sie sich richtet. Doppelstandards in Bezug auf die Menschenrechtssituation lehnen wir auf das Schärfste ab.
Danke schön.
({10})
Die Kollegin Kerstin Griese hat für die SPD-Fraktion
das Wort.
({0})
Liebe Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir behandeln heute einen fraktionsübergreifenden Antrag, mit dem wir einen Bericht zur weltweiten
Lage der Religions- und Glaubensfreiheit fordern. Ich
bin froh, dass wir zwischen drei Fraktionen zu einer guten Einigung gekommen sind, und freue mich, dass auch
die Linksfraktion zustimmen will.
Auch ich will mich zuerst ganz herzlich bei Volker
Beck bedanken, dem religionspolitischen Sprecher der
Grünen, der diese Initiative ergriffen und die anderen
Fraktionen eingeladen hat. Ich bedanke mich auch herzlich bei meinem Kollegen Franz Josef Jung, dem Beauftragten für Kirchen und Religionsgemeinschaften der
CDU/CSU-Fraktion, bei den Menschenrechtspolitikerinnen und -politikern meiner Fraktion, bei Frank Schwabe,
Rolf Mützenich und vielen anderen für die konstruktive
Zusammenarbeit bei der Erstellung dieses sicherlich etwas ungewöhnlichen Antrags.
Wir bitten das Auswärtige Amt, einen Bericht vorzulegen, in dem die Lage und die Bemühungen der Bundesregierung um die Religions- und Glaubensfreiheit
weltweit dargestellt sind. Ich danke auch unserem Außenminister Frank-Walter Steinmeier herzlich dafür,
dass er eine große Sensibilität für dieses Thema beweist,
indem er auf seinen Reisen immer wieder auf die Einhaltung der Menschenrechte drängt, und möchte aus einer
Rede zitieren, die er zuletzt an der Universität in Tunis
bewusst als Christ in einem muslimischen Land gehalten
hat. Dort hat er gesagt - ich zitiere -:
Wer mit Religion Feindbilder schafft, liegt genauso
falsch wie, wer gegen Religion Feindbilder schafft!
Wer mit Religion aufhetzt, tut genauso übel wie,
wer gegen Religion aufhetzt!
Ich denke, damit hat er sehr klug das Problem beschrieben, das in vielen Ländern der Region besteht.
Dass dieser Antrag von mehreren Fraktionen gestellt
worden ist, zeigt die überparteiliche Bedeutung dieses
elementaren Menschenrechts, der Religions- und Glaubensfreiheit, das sich in allen internationalen Menschenrechtsvereinbarungen auf der Ebene der Europäischen
Union, des Europarats und der Vereinten Nationen findet. Mir ist wichtig, dass der Begriff der Religions- und
Glaubensfreiheit dabei in einem umfassenden Sinn zu
verstehen ist - so haben wir es auch im Antrag angelegt -:
Es geht zum Ersten um das Recht, einen Glauben zu bilden und Religion zu leben und auszuüben. Es geht zum
Zweiten darum - das ist aktuell in vielen Ländern ein lebensgefährliches Problem -, seine Religion wechseln zu
dürfen.
({0})
Zum Dritten geht es um die negative Religionsfreiheit.
Auch das Nichtglauben muss selbstverständlich geschützt und erlaubt sein. Gleichzeitig umfasst die Religions- und Glaubensfreiheit zwei Dimensionen: die individuelle, die des Einzelnen, der seinen Glauben lebt, und
die kollektive Ausübung, zum Beispiel den Bau von
Gotteshäusern. Dabei ist die Religionsfreiheit nicht
abhängig von der Größe der Gruppe, der diese Freiheit
gewährt wird; sie gilt immer.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Menschen, die ihren Glauben leben, und ihre Religionsgemeinschaften
sind leider weltweit einer Vielzahl von Bedrohungen
ausgesetzt. Sie werden schikaniert, bedrängt, unterdrückt, repressiv behandelt, verfolgt und angegriffen,
und es geht so weit, dass sie an Leib und Leben bedroht
werden. Deshalb sage ich ganz klar: Unsere Solidarität
gilt denjenigen, die von diesen Bedrohungen und Verfolgungen betroffen sind.
({1})
In unserem Antrag nehmen wir Menschenrechtsverletzungen wie in Afrika, in Asien oder im Nahen und
Mittleren Osten in den Blick. Wir wollen aber ausdrücklich nicht davon absehen, dass auch in Europa das Recht
auf Religionsfreiheit immer wieder eingefordert und geschützt werden muss. Deshalb soll es in diesem Bericht
ausdrücklich um die Religionsfreiheit generell gehen
und nicht ausschließlich um verfolgte und bedrängte
Christen, auch wenn sie eine sehr große Gruppe der aufgrund ihrer Religion Verfolgten sind. Wir wissen - das
ist schon angeführt worden -, dass zurzeit vor allem in
den Gebieten, in denen der IS herrscht und Menschen
bedroht, die Lage ganz besonders gefährlich ist. Der IS
bedroht gleichermaßen Schiiten, Jesiden und Christen alle, die in seinen Augen andersgläubig sind. Die Berichte über Verfolgung, Vertreibung, Zerstörung von
Gotteshäusern, Gefangenschaft und massenhafte Vergewaltigungen von Mädchen und Frauen erschüttern uns
zutiefst.
Wir erleben, dass die Zahl der gewalttätigen Übergriffe, für deren Begründung die Religion instrumentalisiert wird, zugenommen hat. Heiner Bielefeldt, der
Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen über Religions- und Weltanschauungsfreiheit, hat in seinem sehr
lesenswerten Bericht vor dem UN-Menschenrechtsrat
zum „Umgang mit kollektiven Erscheinungsformen religiösen Hasses“ darauf aufmerksam gemacht. Er hat
deutlich gemacht, dass Religion nie die alleinige Ursache für Konflikte ist, dass sie oft instrumentalisiert und
zur Begründung von Hass und Gewalt herangezogen
wird. Das führt zu massiven Menschenrechtsverletzungen. Wichtig ist hier, die Ursachen von Gewalt zu untersuchen, um Gewalt im Namen der Religion zu verhindern. Es geht auch darum, immer wieder zu betonen,
dass Gewalt im Namen der Religion nicht historisch in
einer Religion angelegt ist - leider haben das viele Religionen in ihrer Geschichte erlebt -, sondern sich Menschen dafür entscheiden und daher auch die Verantwortung für diese Gewalt tragen. Deshalb müssen wir, wenn
wir zu einer nachhaltigen Prävention und zu Lösungsansätzen gelangen wollen, die Faktoren untersuchen, die zu
dieser Gewalt führen.
({2})
Als typische Faktoren nennt Heiner Bielefeldt den Vertrauensverlust in den Rechtsstaat, aber auch eine engstirnige, oft patriarchalische und polarisierende Auslegung
religiöser Texte sowie die ökonomische und politische
Diskriminierung einer religiösen Gruppe.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Religionsfreiheit
heißt immer auch die Religionsfreiheit der anderen, um
ein Zitat zu bemühen. Es geht darum, ein Leben in Toleranz und Respekt voreinander zu führen. Ein gutes Miteinander der Religionen ist der Schlüssel zum Frieden.
Da hilft es auch nicht, wenn Angehörige einer Religion
zu Opfern und Angehörige einer anderen Religion zu
Tätern gemacht werden. Religionen dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden. Unser Ziel muss es sein, im
Sinne der Religionsfreiheit ein gutes und friedliches Miteinander zu fördern und es in einen menschenrechtlichen
Zusammenhang zu setzen.
({3})
Seit 2013 gibt es von den beiden großen Kirchen den
„Ökumenischen Bericht zur Religionsfreiheit von Christen weltweit“, der in Deutschland von der EKD und der
Bischofskonferenz herausgegeben wird und den ich ausdrücklich loben möchte. Er ist wichtig, weil es eine wissenschaftliche Ausarbeitung ist. In anderen Berichten
werden eher populistisch Indizes und Rankinglisten dargestellt. Der Bericht der Bundesregierung, den wir mit
unserem Antrag fordern, soll eine sinnvolle Ergänzung
dieses Ökumenischen Berichts sein. Durch die genauere
Untersuchung der Ursachen kann geholfen werden, die
Religions- und Glaubensfreiheit weltweit zu stärken.
Zum Abschluss mein herzlicher Dank an alle, die sich
in verschiedenen Regionen dieser Welt für die Durchsetzung von Menschenrechten und ganz besonders für die
Durchsetzung der Religionsfreiheit engagieren. Meine
Solidarität gilt allen, die wegen ihres Glaubens bedrängt
oder verfolgt werden. Auf ihr Schicksal wollen wir aufmerksam machen, damit so etwas nicht wieder passiert.
Vielen Dank.
({4})
Das Wort hat der Kollege Volker Beck für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Auch
ich möchte mit einem Dank beginnen. Ich bedanke mich
bei den Koalitionsabgeordneten, insbesondere bei
Kerstin Griese und Franz Josef Jung, dass sie meinen
Vorschlag aufgegriffen haben, die Initiative für einen
Bericht zur weltweiten Lage der Religions- und Glaubensfreiheit zu ergreifen.
({0})
In den Vereinigten Staaten von Amerika wird zu diesem
Thema regelmäßig ein Bericht erstellt, den ich für eine
gute Grundlage zur Versachlichung der Debatte halte.
Ich hoffe, dass der im nächsten Jahr vorliegende Bericht
der erste Schritt dahin ist, dass Deutschland diesem Beispiel folgt.
({1})
Religionsfreiheit ist ein zentrales Menschenrecht.
Kerstin, du hast es gesagt: Religionsfreiheit ist immer
die Freiheit der anderen, die respektiert werden muss.
Der Sinn von Religionspolitik ist Religionsfreiheit.
Gleichzeitig wissen wir, dass auf dieser Welt viele religiöse Minderheiten verfolgt werden und auch Minderheiten innerhalb der Mehrheitsreligionen - oftmals mit
anderen Auslegungen, anderen Praktiken, anderen Obedienzen - Gefahr laufen, verfolgt zu werden. Deshalb ist
es wichtig, dass wir uns dieses Themas intensiver annehmen.
Mir war es wichtig, im Antrag deutlich zu machen,
dass es um alle drei Dimensionen der Religionsfreiheit
geht: die individuelle Religionsfreiheit, seinem Glauben
gemäß zu leben, sich zu ihm zu bekennen, den Praktiken
seiner Religion nachzugehen, die kollektive Religionsfreiheit, als Glaubensgemeinschaft religiöse Gebäude zu
errichten, zu missionieren, sich in der Zivilgesellschaft
zu artikulieren, und die negative Glaubensfreiheit, also
die Freiheit, nicht von den Glaubensvorstellungen anderer in seinem Leben bedrängt, verfolgt oder schikaniert
zu werden.
Ich glaube, wenn wir es richtig angehen und diese Debatte nicht nur unter dem Rubrum der Verfolgung von
Christen führen, sondern ernsthaft auf das Recht auf
Glaubensfreiheit von Christen, Muslimen, Hindus,
Bahai und anderen Wert legen, dann könnte das außenpolitisch vielleicht zu einer Brücke zwischen den Kulturen im Dialog über Menschenrechte werden. Nicht jede
Religion ist irgendwo auf der Welt Mehrheitsreligion.
Aber jede Religion ist irgendwo auf der Welt in der
Minderheit und auf den Respekt der Mehrheit in der
Ausübung ihrer Religion angewiesen. Das könnte eine
Brücke zwischen den Kulturen sein, mit der man vielleicht Verständnis in Regionen und in Staaten weckt, die
die Religionsfreiheit der Minderheiten heute noch mit
Füßen treten.
({2})
Volker Beck ({3})
Verfolgung aufgrund der Religion ist leider bitterer
Alltag. Im Iran sitzt der gesamte Führungskreis der
Bahai-Religion im Gefängnis und wurde zu 20 Jahren
Haft verurteilt - für nichts anderes als dafür, Mitglied
der Bahai-Religion zu sein. Im Sudan sitzen gegenwärtig
zwei südsudanesische Pastoren, Michael Yat und Peter
Reith, ein und laufen Gefahr, dass an ihnen die Todesstrafe vollstreckt wird. Wofür? Michael Yat war bei einem Besuch im Sudan am 21. Dezember verhaftet worden, nachdem er am selben Tag in einer Kirche in
Khartoum gepredigt hatte.
Sie haben Saudi-Arabien angesprochen. In SaudiArabien ist es ein Straftatbestand, eine Bibel zu besitzen
oder an einem Gottesdienst christlicher Konfession teilzunehmen. Der Übertritt vom Islam zum Christentum
oder zu einer anderen Religion wird mit dem Tode bestraft. Insofern finde ich es richtig, Herr Kauder, dass wir
nicht nur die Panzerlieferung, die wir jetzt abgesagt haben, sondern jede Waffenlieferung an ein solches Verfolgerland einstellen. Ansonsten ist unsere Politik für verfolgte Christen und für Glaubensfreiheit leider nicht
ganz so glaubwürdig.
({4})
Aber es geht nicht nur um verfolgte Gläubige. Es geht
auch um Verfolgung im Namen des Glaubens. Dabei
geht es nicht nur um den IS oder islamistische Gruppierungen; das ist auch ein Problem innerhalb des Christentums. Wenn in Uganda unter Einfluss amerikanischer
Evangelikaler versucht wird, jedes Reden über Homosexualität zu bestrafen, nachdem dort für homosexuelle
Handlungen schon lebenslange Freiheitsstrafen im Strafrecht niedergelegt sind, dann ist das eine Verletzung der
negativen Glaubensfreiheit der betroffenen Menschen.
Wenn in Nigeria die katholische Bischofskonferenz einmütig den Staatspräsidenten dafür lobt, dass er ein Antihomosexuellengesetz unterzeichnet, dann ist das eine
Verletzung der Glaubensfreiheit.
Aber wir sollten nicht nur auf andere zeigen - das ist
wichtig für die Glaubwürdigkeit unserer Politik als Europäer für Glaubensfreiheit - und so tun, als ob das alles
nur außerhalb des europäischen Kontinents ein Problem
sei. Auch in unserem Land wird diskutiert, ob Muslime
Moscheen mit Minaretten bauen dürfen, und in der
Schweiz wurde mit einem Plakat das Tragen von Schleiern durch Frauen denunziert und damit antimuslimische
Hetze propagiert und die Religionsfreiheit der Muslime,
die auch den Bau von Moscheen mit Minaretten umfasst,
infrage gestellt.
Kollege Beck, achten Sie bitte auf die Zeit.
Ich komme zum Schluss. - Ich finde es gut, dass der
Deutsche Bundestag in der Begründung des Antrags
feststellt, dass es auch zur Glaubensfreiheit gehört, entsprechend den Sitten und Gebräuchen einer Religionsgemeinschaft Gotteshäuser zu errichten.
Ich glaube, es ist ein guter Tag für die Religionsfreiheit, dass wir dies in diesem Hohen Hause einmütig nach
außen tragen und damit vielleicht auch einen Beitrag zur
Befriedung der Debatte in unserem Land leisten.
Vielen Dank.
({0})
Für die CDU/CSU-Fraktion hat der Kollege Dr. Franz
Josef Jung das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zu Recht ist
darauf hingewiesen worden, dass die Religions- und
Glaubensfreiheit ein elementares Menschenrecht darstellt und in alle internationalen Menschenrechtsvereinbarungen aufgenommen wurde. Trotzdem wird die Religionsfreiheit im Nahen und Mittleren Osten, in Afrika,
Zentralasien, Nordkorea und China mit Füßen getreten.
Deshalb ist es notwendig und wichtig, dass wir uns dafür
einsetzen, der Religionsfreiheit weltweit eine größere
Akzeptanz zu verschaffen, auch durch den Bericht, den
wir von der Bundesregierung einfordern, und dass wir
uns inhaltlich stärker mit dem Thema auseinandersetzen
wollen. Dies dient den Menschen, der Freiheit und einer
friedlichen Entwicklung in dieser Welt.
({0})
Es ist darauf hingewiesen worden: In Nordkorea wird
der Besitz einer Bibel mit dem Tode bestraft. Der menschenverachtende Terror von ISIS gegen Jesiden, Christen und Schiiten ist in diesem Zusammenhang leider
Gottes festzustellen. Herr Beck, Sie haben recht: Die Religions- und Glaubensfreiheit gilt für alle Religionen.
Aber nach den Berichten, die wir zur Kenntnis nehmen,
sind immerhin 100 Millionen Christen auf dieser Welt
von Verfolgung betroffen. Der Global Peace Index stellt
fest: Wo die Freiheit der Religion bedroht ist, ist auch
die friedliche Entwicklung eines Landes bedroht. - Deswegen ist es notwendig, dass wir der Religionsfreiheit
auch im politischen Prozess eine Stimme geben, und
zwar weltweit.
Papst Franziskus hat bei der Heiligsprechung von
Joseph Vaz in Sri Lanka, der sich trotz Verfolgung für
das friedliche Zusammenleben der Religionen eingesetzt
hat, zu Recht formuliert: Religionsfreiheit ist ein fundamentales Menschenrecht. - Er hat das auch in der Liturgie zu Ostern deutlich angesprochen. Ich hätte mir
gewünscht, dass auch in der einen oder anderen katholischen Kirche in Deutschland das deutlicher artikuliert
worden wäre. Auch der evangelische Kirchentag in
Stuttgart hätte das Thema mehr in den Mittelpunkt rücken können.
({1})
Nach Artikel 4 unseres Grundgesetzes gehört das
Recht jedes Einzelnen, einen Glauben zu bilden, zu
haben, zu äußern und entsprechend zu handeln, aber
auch die Religion zu wechseln oder keinen Glauben auszuüben, zur Religionsfreiheit. Wir bekennen uns als
Christdemokraten eindeutig dazu, diesem Recht weltweit mehr Aufmerksamkeit und Akzeptanz zu verschaffen. Sinn und Zweck unseres Antrags ist, dass wir durch
einen Bericht der Bundesregierung zur Religions- und
Glaubensfreiheit die Möglichkeit haben, dies mehr in die
Öffentlichkeit zu tragen, hier darüber zu debattieren und
der Religionsfreiheit mehr Akzeptanz zu verschaffen.
Die Religionsfreiheit ist die tragende Säule für eine freiheitliche, für eine tolerante Gesellschaft. Deshalb ist es
wichtig, dass wir uns dieses Themas mehr annehmen.
Ich darf ein Zitat von Papst Benedikt, das dies unterstreicht, anführen:
Die Religionsfreiheit ist eine echte Waffe des Friedens mit einer geschichtlichen und prophetischen
Mission. Sie bringt in der Tat die tiefsten Eigenschaften und Möglichkeiten des Menschen, die die
Welt verändern und verbessern können, zur Geltung
und macht sie fruchtbar. Sie erlaubt, die Hoffnung
auf eine Zukunft der Gerechtigkeit und des Friedens zu nähren …
Der Artikel unseres Grundgesetzes zur Religionsfreiheit ist so formuliert, dass niemand befürchten muss,
dass seine Kinder nicht in die Schule gehen dürfen, nur
weil sie eine bestimmte Religion ausüben, mit Gefängnis, Folter oder sogar mit dem Tod bedroht zu werden,
weil er eine bestimmte Religion ausübt, oder dass seine
Familie aus religiösen Gründen bedroht wird. Die Botschaft unseres Grundgesetzes ist hier eindeutig. Ich füge
hinzu: Angesichts der Religionsfreiheit und der anderen
Werte unseres Grundgesetzes gilt es, deutlich zu
machen, dass die Scharia keinen Platz in unserer Werteordnung hat; denn sie hat aus meiner Sicht nichts mit
Religionsfreiheit zu tun.
({2})
Das menschenverachtende Vorgehen von ISIS bedarf
deshalb eines klaren Widerstandes durch eine wertegebundene Außen- und Sicherheitspolitik.
Lassen Sie mich noch Folgendes erwähnen: Unser
Fraktionsvorsitzender Volker Kauder hat zu Recht Lob
an andere Kollegen verteilt. Aber gerade er setzt sich
schon seit Jahren entscheidend für die Religionsfreiheit
ein und gibt ihr eine Stimme. Deshalb möchte ich von
diesem Pult aus Volker Kauder für sein Engagement zugunsten der Religionsfreiheit herzlich danken.
({3})
Wir haben in unserer Fraktion einen Stephanuskreis,
der sich beispielsweise mit der Verfolgung von Christen
in dieser Welt auseinandersetzt. Wir führen auch im internationalen Rahmen Gespräche, um der Religionsfreiheit mehr Geltung zu verschaffen. Wir haben vor, im
September einen internationalen Kongress in New York
durchzuführen, auf dem wir das Thema der Religionsfreiheit in den Mittelpunkt stellen, um noch mehr dafür
Sorge zu tragen, dass sowohl der Durchsetzung als auch
der Akzeptanz der Religionsfreiheit weltweit Geltung
verschafft wird. Das ist, glaube ich, der richtige Weg, um
letztlich zu einer friedlicheren Entwicklung in unserer
Welt beizutragen.
({4})
Ich glaube, dass wir Parlamentarier alle die Chance
nutzen sollten, gerade auch in den internationalen Gesprächen, uns für die Religionsfreiheit einzusetzen und
uns für sie zu engagieren. Mit dem Eintreten für das fundamentale Menschenrecht der Religionsfreiheit engagieren wir uns für eine friedlichere, für eine freiheitlichere
Welt. Dies sollte uns, denke ich, Auftrag und Verpflichtung zugleich sein. Deshalb bitte ich Sie, unserem Antrag zur weltweiten Durchsetzung der Religionsfreiheit
zuzustimmen.
Besten Dank.
({5})
Das Wort hat der Kollege Dietmar Nietan für die
SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen!
Wo die Religionsfreiheit verletzt wird, ist es in der
Regel auch um die generelle Wahrung der Menschenrechte nicht gut bestellt.
So lautet eine der Schlussfolgerungen des „Ökumenischen Berichts zur Religionsfreiheit von Christen weltweit“, den vor zwei Jahren die Deutsche Bischofskonferenz und der Rat der Evangelischen Kirche in
Deutschland gemeinsam vorgelegt haben. Dieses Zitat
macht deutlich, dass Religionsfreiheit nicht irgendein
schönes Menschenrecht, sondern ein elementares
Menschenrecht ist; denn für gläubige Menschen ist ihre
Religion, ihr Glaube konstitutiver Teil ihres Menschseins. Wenn man den einschränkt oder ihnen diesen Teil
nimmt, ist das ein Angriff auf das elementare Menschsein.
Weil das so ist, macht es auch Sinn - deshalb bin ich
dankbar für diesen Antrag -, dass die Bundesrepublik einen entsprechenden Bericht verfasst. Darin sehe ich eine
Chance; denn wenn die Bundesregierung als Organ eines
säkularen, weltanschaulich neutralen Staates einen solchen Bericht vorlegt, dann steht er nicht im Verdacht,
eine bestimmte Religion zu bevorzugen oder zu benachteiligen. Es muss dann aber auch deutlich werden, dass
es nicht darum geht, irgendeine Religion in den Vordergrund zu stellen. Wir machen uns nicht zum Anwalt einer Religion, sondern zum Anwalt von Menschen, denen
ein elementares Grundrecht genommen wird und die we10768
gen ihres Glaubens oft sogar verfolgt und umgebracht
werden.
({0})
Mindestens genauso wichtig für unsere Glaubwürdigkeit als Anwalt für Religionsfreiheit ist aber auch, wie
wir es mit der Religionsfreiheit im eigenen Lande halten.
Hier geht es nicht darum, dass es etwa in Deutschland
staatliche Verfolgung im Sinne, dass hier Religionsfreiheit eingeschränkt wird, geben würde, sondern es geht
mir viel mehr um die Frage der Haltung, des Umgangs
und der Toleranz gegenüber der Ausübung von Religion
im öffentlichen Raum. Religion ist eben keine Privatsache, die man aus dem öffentlichen Raum verbannen
kann. Religionsfreiheit ist in Deutschland aus meiner
Sicht schon dann tangiert, wenn zum Beispiel eine junge
Christin in der Mensa einer öffentlichen Universität als
rückschrittlich betrachtet wird und sich dumme Kommentare anhören muss, wenn sie sich vor dem Essen bekreuzigt. Hier müssen wir uns überlegen, ob wir in der
Gesellschaft unterhalb der Schwelle von Übergriffen
eine Tendenz zu wachsender Religionsfeindlichkeit sehen, die darin besteht, dass Menschen, die religiös sind,
als von vorgestern, als nicht modern abgestempelt werden, als Menschen, die mit dem Zeigen ihres Glaubens
in der Öffentlichkeit das allgemeine Wohlbefinden
stören. Ich finde, da müssen wir als Politik mit gutem
Beispiel vorangehen.
Was meine ich damit? Wir müssen zum Beispiel sicherstellen, dass sich jüdische Mitbürger in diesem Land
überhaupt nicht die Frage stellen, ob sie, wenn sie aus
dem Haus gehen, ihre Kippa aufsetzen oder aus Sicherheitsgründen nicht. Wir müssen sicherstellen, dass wir
auch nicht der Versuchung unterliegen, im politischen
Klein-Klein aus Ängsten Kapital zu schlagen, wenn irgendwo vor Ort die Frage eines Moscheebaus, der auch
städtebaulich prägend sichtbar ist, verunglimpft wird.
({1})
Wir müssen aber auch überlegen, wie wir bei allen
unterschiedlichen Meinungen, die es dazu geben muss,
zum Beispiel auch mit der Frage umgehen, dass Amtsträgerinnen und Amtsträger religiöse Symbole tragen.
Ich sage sehr deutlich: Wer meint, dass Lehrerinnen
muslimischen Glaubens kein Kopftuch in der Schule tragen dürfen, der muss dann auch kontrollieren, ob Lehrerinnen und Lehrer christlichen Glaubens mit einer Halskette, an der ein Kreuz hängt, in den Unterricht gehen.
({2})
An dieser Stelle warne ich davor, dass eine Debatte,
in der man glaubt, das Religiöse aus dem Raum des Öffentlichen verbannen zu können, am Ende dazu führt,
dass wir über ganz andere Formen von Religionsfeindlichkeit auch hier bei uns reden müssen. Ich glaube, deshalb ist es wichtig, dass auch wir als Politik für religiöse
Toleranz eintreten, allerdings gilt das auch für Kirchen
und Religionsgemeinschaften. Auch diese müssen in ihrem täglichen Reden, aber auch Tun zeigen, dass sie gegenüber Andersgläubigen Toleranz üben, dass sie aber
auch offen mit denen umgehen, die nicht glauben. Ich
bin mir nicht bei jeder Äußerung von Religionsgemeinschaftsvertretern sicher, dass das verinnerlicht worden
ist.
({3})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Bundespräsident
Johannes Rau hat im Jahre 2004 in einer großen Rede
zum 275. Geburtstag Gotthold Ephraim Lessings Folgendes gesagt:
Es geht um die Frage: Wie können Menschen miteinander leben, die ganz unterschiedliche Dinge für
wahr und für richtig halten und auch manches tun,
was die jeweils anderen für unbegreiflich finden?
Wenn wir im eigenen Land diese Frage nach der Toleranz und Wertschätzung des anderen in vorbildlicher
Weise angehen, werden wir auch in unserem Bemühen
um weltweite Religionsfreiheit glaubwürdig und damit
erfolgreich sein.
Herzlichen Dank.
({4})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/5206 an die in der Tagesordnung auf-
geführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit
einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überwei-
sung so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 9 a und 9 b auf:
a) - Zweite und dritte Beratung des von der
Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stärkung der Gesundheitsförderung und der Prävention ({0})
Drucksache 18/4282
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit ({1})
Drucksache 18/5261
- Bericht des Haushaltsausschusses ({2}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
Drucksache 18/5262
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts des Ausschusses für Gesundheit
({3})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Birgit
Wöllert, Sabine Zimmermann ({4}),
Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Vizepräsidentin Petra Pau
Gesundheitsförderung und Prävention
konsequent auf die Verminderung sozial
bedingter gesundheitlicher Ungleichheit
ausrichten
- zu dem Antrag der Abgeordneten Kordula
Schulz-Asche, Maria Klein-Schmeink,
Dr. Harald Terpe, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Gesundheit für alle ermöglichen - Gerechtigkeit und Teilhabe durch ein modernes
Gesundheitsförderungsgesetz
Drucksachen 18/4322, 18/4327, 18/5261
Zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung liegen
vier Änderungsanträge und ein Entschließungsantrag der
Fraktion Die Linke vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Parlamentarische Staatssekretärin Ingrid Fischbach.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen
und Kollegen! „Das Präventionsgesetz kommt.“ So
spontan habe ich vor zwölf Monaten auf eine Frage bei
einer großen Veranstaltung geantwortet. Sie können sich
vorstellen: Ich habe sehr viele ungläubige Blicke und
auch Lacher auf meiner Seite gehabt, weil alle wussten:
„Das ist eine Never-ending Story“, und ich wurde gefragt: Und Sie meinen, das bekommen Sie jetzt unter
Dach und Fach? - Mein Optimismus hat sich ausgezahlt.
Wir sind heute hier, um in zweiter und dritter Lesung ein
Gesetz zu beraten, das wirklich ein gutes Gesetz geworden ist.
({0})
Ich gebe zu: Es ist ein spät geborenes Kind, aber lieber spät geboren als gar nicht. Insofern freue ich mich,
dass wir jetzt zum dritten Mal in diesem Haus das Präventionsgesetz beraten. Aber die Vorlage, die wir haben,
ist so gut, dass ich sicher bin, dass diesmal alles klappen
wird und auch der Bundesrat seine Zustimmung gibt.
Alle Beteiligten haben unterschiedliche Interessen
verfolgt; gar keine Frage. Aber ich kann an dieser Stelle
nur sagen: Die Zusammenarbeit war sehr gut, weil alle
ein Ziel im Auge hatten, nämlich die Verabschiedung
dieses Gesetzes. Deshalb möchte ich an dieser Stelle
ganz herzlich den Berichterstattern Rudolf Henke, Erich
Irlstorfer und Helga Kühn-Mengel, aber auch Jens
Spahn, Hilde Mattheis, Georg Nüßlein und Karl
Lauterbach danken. Wir haben es in den Runden immer
wieder geschafft, trotz kritischer Auseinandersetzungen
in der Sache zu glätten. Deshalb ein ganz herzliches
Dankeschön!
Ein großes Dankeschön gilt aber auch den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in den Abgeordnetenbüros und
vor allen Dingen im Ministerium. Was das Ministerium
in kürzester Zeit, unter Zeitdruck, in dem Stress immer
wieder geleistet hat, was dort gearbeitet wurde, war
mehr als das normale Maß. Deswegen an dieser Stelle
ein ganz herzliches Dankeschön auch an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sowie an die Leitung des Ministeriums!
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, dieses Gesetz ist ein
überfälliger Schritt; denn es geht den Weg, den wir gehen wollen, nämlich Krankheiten vorzubeugen und endlich förderliche Bedingungen für die Gesundheit zu gestalten. Besonders hervorheben möchte ich die Stärkung
der Prävention in den Lebenswelten, die diesen Gesetzentwurf prägt. Wir wissen: Wir müssen dort ansetzen,
wo die Menschen sind, wo sie zu Hause sind, wo sie sich
aufhalten. Nur dann können wir sie mitnehmen. Sie
kommen nicht dorthin, wohin wir wollen. Die Menschen, die heute schon Prävention betreiben, werden dies
auch weiter tun, aber wir müssen auch die Menschen im
Blick haben, die ungünstigere Gesundheitschancen haben. Deshalb ist es wichtig, dass wir in die Lebenswelten
gehen, das heißt in die Kita, in den Kindergarten, in die
Schule, in die Quartiere, in die Städte, in die Betriebe,
aber auch in die Alten- und Pflegeheime. Gerade dort,
wo Menschen direkt erreicht werden müssen, müssen
- das ist ganz wichtig und auch ein Kennzeichen dieses
Gesetzentwurfs - verlässliche und nachhaltige Strukturen aufgebaut werden und vorhanden sein.
Es braucht eine kluge und klug abgestimmte Gesamtstrategie, um dieses gute Gesetz dann auch umsetzen zu können. Wir werden erstmals in Deutschland eine
nationale Präventionsstrategie haben, an der alle Akteure
in der Prävention und Gesundheitsförderung beteiligt
sind. Das ist wichtig; denn wir müssen die Ressourcen
bündeln, und wir müssen die Aktivitäten in den Lebenswelten steuern.
Die zielgerichtete und effektive Koordinierung und
Kooperation der Maßnahmen sind Voraussetzung für
den Erfolg. Es gibt vieles, aber es muss koordiniert
werden. Es muss zwischen den einzelnen Beteiligten
kooperiert werden, damit wir genau das erreichen, was
wir wollen, nämlich einen vernünftigen Weg in den Lebenswelten umsetzen zu können. Es ist wichtig, dass
bewährte Angebote und Strukturen erhalten bleiben,
weiterentwickelt werden, angepasst werden und dass
dort, wo es nötig ist, auch neue Wege gegangen werden.
Darauf kommt es an.
Die Verhaltensprävention, meine Damen und Herren,
findet sich in dem Gesetz an vielen Stellen. Ich möchte
zwei Bereiche nennen, einmal die Fortentwicklung der
Früherkennungsuntersuchungen und zum anderen die
Stärkung des Impfwesens.
Bei den Früherkennungsuntersuchungen soll jetzt ein
stärkeres Augenmerk auf individuelle Belastungen und
auch auf Risikofaktoren in den Familien gerichtet werden. Das heißt, man nimmt nicht nur das Kind als solches in den Blick, sondern auch das Umfeld und die
Strukturen, die es prägen werden. Das ist wichtig, um
Krankheiten, die es in der Familie gibt, früh genug vorbeugen zu können, dem Kind Schutz zu geben und ihm
zu helfen.
Bei den Impfungen gehen wir von der Erkenntnis aus,
dass der effektivste Schutz gerade bei übertragbaren
Krankheiten immer noch die Impfung ist. Das ist Primärprävention. Deshalb haben wir ein Konzept entwickelt, mit dessen Regelungen das Impfen weitreichend
gestärkt wird.
({2})
Statt einer Impfpflicht, meine lieben Kolleginnen und
Kollegen, setzen wir weiterhin auf Aufklärung, Information und natürlich auf mündige Bürgerinnen und Bürger.
Meine Damen und Herren, wenn man das umsetzen
will, dann braucht es dazu Geld. Es ist klar, dass die Mittel, die bisher für Prävention ausgegeben wurden, nicht
ausreichen. Deshalb werden die Mittel für die Prävention zukünftig auf mehr als eine halbe Milliarde Euro
aufgestockt. Das heißt, die Krankenkassen und die
Pflegekassen werden demnächst mehr als eine halbe
Milliarde Euro für Prävention bereitstellen - und das insbesondere in den Lebenswelten; denn das ist der Hauptansatz unseres Gesetzentwurfs. Allerdings sind es Richtwerte und Mindestbeträge. Wenn die Krankenkassen
bereit sind, mehr auszugeben, herzlich gern! Dann
würden wir uns freuen. Wie gesagt, es sind nur Richtwerte und Mindestbeträge. Wir werden auch die gesundheitsbezogene Selbsthilfe stärken. Das heißt, hier
werden wir den Selbsthilfeorganisationen, Selbsthilfegruppen und den Selbsthilfekontaktstellen künftig etwa
30 Millionen Euro mehr zur Verfügung stellen.
Meine Damen und Herren, wir können gute Gesetze
verabschieden. Wir können gute Bedingungen formulieren. Wenn es aber um die Umsetzung geht, dann kann
die Politik das nicht alleine. Das heißt, wir alle müssen
es tun. Und das werden wir tun müssen; denn der Prozess ist mit dem Gesetzentwurf nicht zu Ende, sondern
er fängt jetzt erst an. Ich lade Sie alle dazu ein, mitzumachen. Ich glaube, es geht nur dann, wenn wir alle zusammen bereit sind, den Neuanfang zu wagen, um dann auch
gemeinsam auf dem Erfolgskurs zu sein. In diesem
Sinne: Stimmen Sie diesem Gesetzentwurf zu! Er ist gut,
und er hilft den Menschen in unserem Land.
({3})
Die Kollegin Birgit Wöllert hat für die Fraktion Die
Linke das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Liebe Gäste auf der Zuschauertribüne! Das
Gesetz ist neu, aber nicht auf dem neuesten Stand. Deshalb ist es auch nicht gut. So kurz könnten wir das jetzt
fassen.
({0})
Es ist aus zwei Gründen nicht auf dem neuesten
Stand: Es ist erstens nicht auf dem neuesten Stand der
Wissenschaft; das hat uns die Anhörung bewiesen. Es ist
zweitens auch nicht auf dem neuesten Stand der internationalen politischen Anforderungen. Die sind so neu
nicht. Die gelten schon seit der Ottawa-Charta von 1986.
Ich möchte Ihnen das ganz gern erklären. 1986 hat auch
die Bundesrepublik Deutschland zugestimmt, dass die
Regierungen beauftragt werden, Voraussetzungen zu
schaffen, Menschen zu befähigen, ihr größtmöglichstes
Gesundheitspotenzial zu verwirklichen. In Jakarta wurde
1997 beschlossen und dann so formuliert, dass die Gesundheitsförderung als Prozess, in dem die Menschen
die bestimmenden Faktoren für ihre Gesundheit selbst
beeinflussen, gesehen wird. Das heißt also, sie sind
selbst die Akteure ihres Handelns. Als Ergebnis der
jüngsten Weltgesundheitskonferenz, die im Juni 2013 in
Helsinki stattgefunden hat, hat auch die Bundesrepublik
Deutschland dem Statement zugestimmt, in dem unterstrichen wird, dass Lebensbedingungen so verändert
werden müssen, dass sozial bedingter Ungleichheit von
Gesundheit entgegengewirkt werden kann. Keines dieser
Ziele wird in diesem Gesetz umgesetzt, und auch deshalb ist es kein gutes Gesetz.
({1})
Sie definieren in Ihrem Gesetzentwurf Gesundheitsförderung als selbstbestimmtes gesundheitliches Handeln der Versicherten. Sie meinen die gesetzlich Versicherten. Ich bin gemeint, viele von Ihnen vielleicht auch.
Etliche sind nicht gemeint. Denn längst nicht alle sind
gesetzlich versichert: nicht die Beamtinnen und Beamten, nicht die Selbstständigen, die in der privaten Krankenversicherung sind, aber auch nicht die Flüchtlinge,
die wir in unserem Land haben, die Wohnungslosen, die
nicht versichert sind. Sie alle sind mit diesem Gesetz
nicht gemeint. Was heißt bei Ihnen eigentlich gesundheitliches Handeln? Das heißt - das hat sich jetzt bei
Frau Staatssekretärin Fischbach wieder erwiesen -, eher
nicht krank zu werden. Gesundheit ist aber wesentlich
mehr, als nicht krank zu sein. Ich erinnere: Gesundheit
ist der höchstmögliche Zustand körperlichen, geistigen
und sozialen Wohlbefindens. Da Gesundheit eben nicht
nur Abwesenheit von Krankheit ist, erschließt sich auch
die im Gesetz vorgesehene Finanzierung nicht. Sie
lassen das Ganze nämlich nur durch die gesetzlichen
Krankenversicherungen finanzieren. Es ist aber eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, das heißt Sache der ganzen Gesellschaft, und muss auch so finanziert werden.
({2})
Dazu kommt noch - das ist eigentlich ein Unding -,
dass die Versicherten, die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sind, sämtliche Steigerungen selbst bezahlen
müssen. Die bezahlen dann auch noch den Bonus, den
Sie für die betriebliche Gesundheitsförderung festlegen
und den Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber bekommen
können. Das ist eigentlich der Gipfel der Unverschämtheit.
({3})
Ich nenne Ihnen ein Beispiel, wie es gehen kann. Wir
haben in Brandenburg seit 2006 das Netzwerk „Gesunde
Kinder“. Es ist die Initiative eines Chefarztes, der Kinderarzt ist, in Lauchhammer, im Kreis OberspreewaldLausitz. In diesem Netzwerk „Gesunde Kinder“ sind
ganz viele Berufsgruppen, die Jugendhilfe und Ämter integriert. Das Ziel ist die Förderung der Gesundheit und
der sozialen Entwicklung für bis zu dreijährige Kinder.
Dazu gehören die Verbesserung des somatischen Status,
die psychosoziale Gesundheit und günstige Familienbeziehungen. Das Zauberwort heißt Zusammenarbeit.
Ein bemerkenswertes Evaluationsergebnis: Sozialschichtspezifische Unterschiede im Gesundheitszustand
der teilnehmenden Kinder sind bei den Netzwerkkindern
nicht sichtbar. Das nenne ich beispielhaft. Das hätte
Grundlage Ihres Gesetzes sein müssen.
({4})
Schade. Aber viele Hinweise, das Gesetz besser zu
machen, sind leider nicht umgesetzt worden. Ich weiß,
liebe Kolleginnen und Kollegen der SPD, Sie werden
heute viele Punkte finden, die besser sind als vorher.
({5})
Dafür hätte es keines neuen Gesetzes bedurft. Ich glaube
jetzt schon, ohne dass ich es gehört habe, es ist eher wie
das berühmte Pfeifen im Wald, wenn man sich fürchtet.
({6})
Das Wort hat der Kollege Dr. Karl Lauterbach für die
SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Zunächst einmal: Es ist ohne Wenn und Aber
eine besonders wichtige Pflicht, dass wir in der Prävention mehr investieren, und zwar in Kinder wie in Erwachsene wie auch in ältere Menschen. Wir hatten nie so
wenige Kinder wie heute. Wir müssen daher in die Gesundheit eines jeden Kindes investieren. Wir dürfen kein
einziges Kind zurücklassen. Von daher darf ich mich im
Namen meiner Fraktion ganz herzlich dafür bedanken,
dass wir an dieser Stelle - ich will versuchen, das zu erläutern - einen wichtigen, einen großen Schritt vorangekommen sind.
({0})
So sehr ich die abstrakten Definitionen, die Sie, Frau
Wöllert, vorgetragen haben, richtig finde, aber für ein
Gesetz müssen die Ziele konkreter sein. Das ist ganz
klar. Die Verhinderung von Krankheit darf nicht gegen
das Verbessern des Wohlbefindens ausgespielt werden.
Ich glaube, es ist sehr wichtig, Krankheiten zu verhindern. Ich nenne einige Beispiele: Kinder werden nicht
zuckerkrank, weil sie nicht übergewichtig werden. Erwachsene sind nicht an Bluthochdruck erkrankt, weil sie
als Kinder mehr Sport gemacht haben. Schlaganfälle
können vermieden werden, weil Menschen den Blutdruck erkannt haben und den hohen Blutdruck behandelt
haben. Das alles ist nur der Kampf gegen Krankheit. Das
hat mit Wohlbefinden direkt nichts zu tun. Es ist aber
trotzdem ein wichtiges, ein nobles Ziel. Wenn wir hier
viel erreichen, sind wir einen sehr weiten Weg gegangen.
Das hätten Sie aus meiner Sicht auch anerkennen müssen.
({1})
Ich will ganz konkret sagen, weshalb ich glaube, dass
es ein gutes Gesetz ist. Wir haben derzeit die Situation,
dass uns schlicht und ergreifend bei der Prävention oft
gemeinsame Ziele fehlen. Hier wird etwas gemacht, da
wird etwas gemacht. Alle, die dort beteiligt sind, haben
guten Willen, aber oft führt es nicht zusammen, weil die
Ziele nicht gebündelt sind. Wir gehen hier hin und
benennen im Rahmen einer nationalen Präventionskonferenz Ziele, die auf kommunaler und Landesebene
umgesetzt werden. Dass wir dies gemeinsam mit der
gesetzlichen Krankenversicherung, mit der Pflegeversicherung, mit der Unfallversicherung, mit der Rentenversicherung und sogar mit der privaten Krankenversicherung machen,
({2})
ist aus meiner Sicht eine Bündelung der Kräfte und eine
Zielsetzung, wie wir sie bisher nicht gehabt haben. Wir
haben hier einen wichtigen Schritt nach vorne getan.
({3})
Auch die Regelung zum Impfschutz ist keine dumme
Regelung. Ein Impfzwang ist in Deutschland nicht
vermittelbar. Das wissen Sie genauso gut, wie wir das
wissen. Aber wir machen vieles, um die Impfung zu verbessern, beispielsweise für die Berufe, die mit Impfungen zu tun haben, für Berufe mit einem hohen Infektionsrisiko. In solch einem Fall kann der Arbeitgeber den
Impfstatus verlangen.
In einer Kindertagesstätte oder in einer Schule, in der
gerade die Masern ausgebrochen sind, kann ein Kind,
das nicht geimpft ist, vorübergehend von der Betreuung
bzw. von der Beschulung ausgeschlossen werden. Das
setzt die richtigen Anreize, und zwar mit Augenmaß.
Diese Anreize sind nicht zu stark - sie sind noch vermittelbar -, aber sie wirken, und auch das muss anerkannt
werden.
({4})
Lassen Sie mich auf einen weiteren Bereich zu sprechen kommen: die Früherkennungsuntersuchungen. Es
gibt eine Menge an Früherkennungsuntersuchungen, die
nicht schlecht sind, aber das Problem ist, dass das individuelle Risiko dabei eine zu geringe Rolle spielt. Das
individuelle Risiko kann von Versichertem zu Versichertem sehr unterschiedlich sein. Ich muss mir daher über10772
legen: Was untersuche ich bei wem? Ein Untersuchungsprotokoll passt nicht für alle.
Wir stellen die individuellen Belastungen bei Gesundheits- und Früherkennungsuntersuchungen in den Vordergrund. Das kostet nicht mehr Geld, es macht die
Früherkennungsuntersuchung aber flexibler. So kann
besser auf das Einzelrisiko eingegangen werden. Wenn
ein Kind beispielsweise übergewichtig ist, dann macht
es sehr viel mehr Sinn, zu untersuchen, ob bereits das
metabolische Syndrom, also der erste Schritt zur Zuckerkrankheit, vorliegt. Die gleiche Untersuchung macht bei
einem Kind, das sehr schlank ist, viel Sport macht und
keine genetische Vorbelastung hat, keinen Sinn. Es ist
also ein wichtiger Schritt, die Untersuchung zu flexibilisieren und auf den Einzelnen zuzuschneiden. Auch das
ist ein wichtiger Schritt nach vorn.
Frau Wöllert, Sie haben eben angedeutet, davon profitierten nur die gesetzlich Versicherten. Das stimmt
schlichtweg nicht.
({5})
In den Settings, also in den Kitas, in den Schulen und in
den Betrieben, werden 300 Millionen Euro für Präventionsmaßnahmen ausgegeben. Dieses Geld kommt auch,
um nur ein Beispiel zu nennen, den von Ihnen erwähnten
Flüchtlingen zugute; denn auch Flüchtlingskinder gehen
in die Schule und profitieren somit von den Maßnahmen.
Es ist richtig, dass man alle Mittel erhöhen könnte. Aber
300 Millionen Euro für die settingorientierte Prävention,
wie man das heute im Jargon der Vorbeugemedizin
nennt, das ist schon ein Wort. Das nützt denjenigen, die
von sich aus am wenigsten Ärzte aufsuchen und die angebotenen Vorsorgemaßnahmen in Anspruch nehmen.
Das sind aus meiner Sicht richtige Schritte nach vorn.
({6})
Ich komme zum Schluss. Ich glaube, dass dieses Gesetz ein gutes und rundes Gesetz ist. Wir haben auch
lange daran gearbeitet. Ich könnte noch weiter ausführen, dass wir zum Beispiel auch den Bereich Selbsthilfe
um mehr als 30 Millionen Euro pro Jahr stärken. Wir
haben die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung mit neuen Aufgaben versehen, und sie ist auch
wirtschaftlich gestärkt worden.
All das sind viele wichtige Schritte nach vorn. Ich
bitte alle, das zu würdigen. Ich hoffe auf breite Zustimmung im Hause und danke für die Aufmerksamkeit.
({7})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat die Kollegin Kordula Schulz-Asche das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich habe
vor kurzem eine alleinerziehende Mutter kennengelernt,
die sehr glücklich und dankbar war, weil sie gerade
einen Job bekommen und ihr fünfjähriger Sohn Jakob einen Kindergartenplatz erhalten hatte. Aber dann hörte
das Glück schon auf; denn sie arbeitete in einem Callcenter im Zweischichtdienst und ist nach der Arbeit oft
sehr erschöpft. Jakob bekommt zwar im Kindergarten
ein warmes Essen, das wird aber tiefgekühlt geliefert
und dann dort aufgewärmt. Die beiden wohnen in einem
Mehrfamilienhaus an einer stark befahrenen Ausfallstraße. Jakob leidet häufig unter Husten. Im Hof verkümmert ein Klettergerüst. - Jakob steht für mich exemplarisch für rund 2 Millionen Kinder in Deutschland, die
aufgrund ihrer Lebensbedingungen schlechte Gesundheitschancen haben, von Anfang an und ein Leben lang.
Soziale Benachteiligung bewirkt gesundheitliche
Risiken - und umgekehrt. Wer häufiger krank ist, hat
weniger Chancen in der Schule und im Beruf, hat weniger Chancen auf gesunde Lebensjahre und hat eine geringere Lebenserwartung. Herr Lauterbach, wir müssen
uns fragen, ob das Gesetz, das Sie hier vorlegen, tatsächlich keines dieser Kinder zurücklässt. Ich zweifle daran
sehr stark.
Gerade weil der Zusammenhang zwischen sozialer
Situation und Gesundheitsrisiken so evident und auch
wissenschaftlich belegt ist, helfen keine Appelle, sich
gesund zu ernähren, oder Sportkurse, wie es das
schwarz-rote Präventionsgesetz leider immer noch vorrangig vorsieht. Unsere Umwelt, unser Alltag ist unserer
Gesundheit Schmied; dies hat diese Bundesregierung
leider immer noch nicht ausreichend verstanden.
({0})
Aus grüner Sicht ist überfällig: Erstens. Der Schwerpunkt der Prävention muss auf gesundheitsfördernden
Alltagswelten liegen, und zwar faktisch und nicht nur
verbal, wie das hier von der SPD auch immer wieder
vertreten wird.
({1})
Schwarz-Rot verharrt in der Logik: Du bist Schuld, also
musst du etwas ändern. - Das ist eine Zeigefingerpolitik,
die wirklich ihresgleichen sucht. Da hilft es auch nicht,
wenn die Bundesregierung, was tatsächlich stimmt, viel
mehr Geld für Prävention ausgeben will, genau genommen Geld der Versicherten. Individuelle, zeitlich
begrenzte Kursangebote führen nicht zu besserer Gesundheit; das ist wissenschaftlich bewiesen. Sie dienen
den Krankenkassen oft nur zum Werben um neue Versicherte, vor allem um Versicherte aus der Mittelschicht,
aber nicht aus den betroffenen Gruppen, über die ich gerade geredet habe.
Deswegen ist das Leitbild von uns Grünen: Wir wollen, dass alle das Wissen und die Fähigkeiten erwerben,
um, wenn sie möchten, gesund zu leben. Sie sollten aber
vor allem auch die Möglichkeit und die Gelegenheit
haben, gesund zu leben. Das ist die Aufgabe eines Präventionsgesetzes.
({2})
Diese Gelegenheiten müssen in den Alltagswelten vorhanden sein. Das beginnt bei gesunder Ernährung, Bewegung und Spiel im Kindergarten. Es setzt sich fort in
Schulen, wo gesunde Kinder leichter lernen und gesunde
Lehrer leichter lehren. Von Betrieben mit Gesundheitsmanagement bis hin zu Stadtteilen mit Angeboten zur
Prävention von Pflegebedürftigkeit, das alles leistet einen großen Beitrag. Für die moderne Stadtplanung und
Stadtentwicklung ist es selbstverständlich, dass Umweltbelastungen reduziert werden müssen. Das gelingt überall dort, wo die Bewohner - gerade auch ältere Bewohner - einbezogen werden. Meine Damen und Herren, der
Stadtteil als Alltagswelt gerade vieler älterer Menschen
wird in diesem schwarz-roten Gesetz nicht einmal erwähnt.
({3})
Aus grüner Sicht ist überfällig: Zweitens. Die Kommunen sind der Dreh- und Angelpunkt gelingender Gesundheitsförderung vor Ort. Bei der ersten Lesung des
Gesetzentwurfs hat Frau Kühn-Mengel die Hoffnung geweckt, dass tatsächlich die Kommunen als bedeutende
Akteure vor Ort in diesem Gesetz eine wichtige Rolle
spielen werden. Leider zeigt sich - trotz der Anhörung -,
dass das nicht der Fall sein wird. Wir sind davon überzeugt: In den Kommunen laufen die Fäden zusammen,
dort findet die Vernetzung statt, dort werden Ideen und
Konzepte gemeinsam mit den Menschen, die dort leben,
entwickelt und auch umgesetzt. Keine Ärztin und kein
Arzt, keine Krankenkasse, keine Politikerin und kein
Politiker weiß, wie in einer Kita, einer Schule, einem
Betrieb, einem Stadtteil Gesundheitsförderung am besten gestaltet und gelebt werden kann - das wissen am
besten die Menschen vor Ort. Deshalb ist uns die Beteiligung aller so wichtig.
({4})
Man kann dabei an Vorhandenes anknüpfen, zum Beispiel an die Schulsozialarbeit oder an das Programm
„Soziale Stadt“ im Rahmen der Wohnungsbauförderung.
Das geht aber alles nicht ohne die Mitwirkung der Kommunen.
Stattdessen ist das schwarz-rote Präventionsgesetz ein
Flickenteppich verschiedenster Lobbyinteressen geworden. Hauptverantwortlich bleiben die gesetzlichen Kranken- und Pflegekassen und die Ärzteschaft. Meine
Damen und Herren, besonders dramatisch ist, dass Sie
ein weiteres Mal die gesetzlich Versicherten sowohl der
Kranken- als auch der Pflegekassen dazu heranziehen,
eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe zu finanzieren.
Private Kranken- und Pflegekassen bleiben außen vor.
Wir haben auch noch - das ist schon erwähnt worden die Finanzierung einer Bundesbehörde aus Mitteln der
gesetzlichen Krankenversicherung, und zwar der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung.
Kollegin Schulz-Asche, Sie müssen bitte zum Schluss
kommen.
Ich komme zum Schluss. - Rückblickend muss man
sagen, dass die WHO schon seit 30 Jahren die Forderung
nach besserer Prävention aufstellt.
Ich möchte mit den Worten schließen, die Professor
Rosenbrock in der Anhörung zu diesem Gesetz gesprochen hat. Er hat gesagt - dem schließe ich mich voll an -:
Ich vertraue auf einen neuen Anlauf, auf ein echtes Präventionsgesetz. - Dieses ist es nicht.
Danke schön.
({0})
Der Kollege Rudolf Henke hat für die CDU/CSUFraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Ingrid Fischbach, die Parlamentarische Staatssekretärin aus dem Bundesministerium für Gesundheit, hat in ihrer Rede an die mehr als
zehnjährige Schwangerschaft und die späte Geburt dieses Gesetzes erinnert. Man könnte jetzt natürlich noch
einmal darüber räsonieren, woran es eigentlich gelegen
hat, dass es so lange gedauert hat. Man könnte zum Beispiel ein paar vordergründige Erklärungen finden, die
mit Wahlterminen und Bundesratsbeschlüssen zu tun haben, gemäß denen zwei Tage vor einer Bundestagswahl
der Vermittlungsausschuss angerufen wurde. Auch
könnten in diesem Zusammenhang Ergebnisse nordrhein-westfälischer Wahlen genannt werden, die plötzlich Neuwahlen im Bund notwendig gemacht haben. Man könnte lauter derartige Gründe finden, weswegen
etwas der Diskontinuität anheimgefallen ist.
Ich glaube, ehrlich gesagt, dass es deswegen so lange
gedauert hat, weil wir zum Teil an falschen Fronten und
mit falschen Polarisierungen diskutiert haben. Jetzt endlich haben wir es geschafft, die verschiedenen Seiten, die
zur Prävention bzw. Gesundheitsförderung beitragen
müssen, zu einem Gemeinschaftswerk zu verbinden. Es
ist eine falsche Frontstellung, zu sagen: Bei Prävention
oder Gesundheitsförderung handelt es sich entweder um
Verhaltensprävention oder Verhältnisprävention.
Es ist falsch, bezüglich der Frage, ob man Krankheiten vermeiden oder Gesundheit fördern soll, eine Front
aufzumachen. Auch handelt es sich um eine falsche
Frontstellung, lange Debatten über die Fragen zu führen:
Ist das eine politische oder eine medizinische Aufgabe?
Oder ist es eine Aufgabe der Sozialkassen? Es ist eine
Aufgabe aller Bereiche. Weiterhin ist es falsch, die Frage
so zu stellen: Müssen wir die Gesellschaft, die Medizin
oder die Lebensentwürfe der einzelnen Menschen umbauen? Ja, natürlich, an jedem dieser Themen muss man
arbeiten.
({0})
Ich bin froh, dass es jetzt mit diesem Gesetz gelingt,
all diese verschiedenen Ansätze in ein konstruktives
Miteinander zu bringen. Deswegen glaube ich, dass mit
diesem Gesetz die falschen Frontstellungen überwunden
werden und dass es dazu beiträgt, in diesem Sinne wirklich modern zu sein. Denn es nimmt seine Begründungen aus der Zukunft und setzt nicht mehr kontinuierlich
vergangene Frontstellungen fort.
({1})
In dem Antrag der Grünen steht die richtige Feststellung:
Wir wissen, dass gesunde Ernährung, mehr Bewegung und eine gute Stressbewältigung dazu beitragen, lange gesund zu bleiben und bis ins hohe Alter
mobil zu sein.
Ja, natürlich setzt das auch Verhaltensveränderungen
voraus. Natürlich geht es nicht um die Frage, wer Schuld
hat. Man kann nicht sagen: Du bist schuld. Dabei geht es
doch nicht um eine Anklage; aber es geht um die Frage,
ob man eine Verantwortung für seine eigene Gesundheit
hat. Dazu muss man sagen: Wenn man die Verantwortung aller reklamiert, gehört die Aussage „Auch du bist
verantwortlich“ dazu.
({2})
Ich meine, es ist schwer zu verstehen, wenn in Ihrem
Text steht, dass sich die „Präventionsbemühungen …
hauptsächlich an verhaltensbedingten Krankheitsrisiken
wie Fehlernährung, Bewegungsmangel oder Suchtmittelmissbrauch orientieren“ würden. Das kann ich nicht
verstehen. Vorne sagen Sie: Das sind wichtige Ansatzpunkte. Und hinten kritisieren Sie, dass wir diese wichtigen Ansatzpunkte aufnehmen.
Noch schwieriger finde ich es, Frau Wöllert, wie Sie
die Ablehnung des Gesetzes begründen. Sie sagen, dass,
statt Kampagnen und Aufklärungsmaßnahmen zu individuellem Gesundheitsverhalten zu initiieren, gesunde
Lebensbedingungen in allen Settings geschaffen werden
müssen. Was soll diese Alternative? Sie sagen: Statt vorwiegend auf Verhinderung von Krankheiten abzustellen,
müssen vermehrt die Einflussfaktoren, die zu mehr Gesundheit führen, untersucht und gefördert werden. - Beides muss man machen.
({3})
Beides geschieht hier auch, denn wir ergänzen jetzt die
bisherige individuelle, am Verhalten orientierte Prävention in den Krankenkassenkursen stärker durch die Lebenswelten, und wir vervierfachen die Mittel, die in die
Lebenswelten - in diesen Setting-Ansatz, wie Karl
Lauterbach gesagt hat - fließen.
Natürlich kann man sagen: Das müsste noch mehr
sein. - Natürlich kann man sagen: In der Gesamtsumme
ist das im Jahr der Betrag, den wir an einem Tag für Therapien, Diagnostik und Behandlungsmaßnahmen ausgeben. ({4})
Aber das ändert doch nichts daran, dass dies eine gewaltige zusätzliche Leistung darstellt. Lassen Sie uns auf
Grundlage der Berichterstattung in Zukunft darüber diskutieren, ob man die Mittel aufstocken sollte; aber lassen
Sie uns jetzt nicht darauf verzichten, diesen Schritt zu
tun.
({5})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Prävention ist eine
Aufgabe, die die Gesellschaft als Ganzes betrifft. Ich bin
der Meinung, dass dieses Gesetz dieser Aufgabe gerecht
wird. Während des Gesetzgebungsprozesses wurde ein
Großteil der Polarisierungen entschärft. Das, was wir
zum Impfen vereinbart haben, ist angemessen und sinnvoll; denn die Regelung sollte so verbindlich wie möglich gestaltet sein. Sicherlich wird Erich Irlstorfer in seiner Rede etwas vertiefter darauf eingehen.
Ich möchte auf einen winzigen Punkt der Kritik an
dem Bericht des Haushaltsausschusses aufmerksam machen. In der Passage zu den Kostenfolgen der Verträge,
die die Krankenkassen in Zukunft mit Betriebsärzten
schließen können, geht der Haushaltsausschuss davon
aus, dass sich das alles saldiert. Mein Anspruch wäre
schon, die Zahl der Impfungen mithilfe der Verträge, die
nun ermöglicht werden, zu erhöhen. Ich möchte nicht,
dass auf der einen Seite weniger und auf der anderen
Seite mehr geimpft wird. Das ist mein einziger Kritikpunkt. Ansonsten bin ich dem Haushaltsausschuss sehr
dankbar, dass er sich so profund und tiefgehend mit all
den Fragen auseinandergesetzt hat.
({6})
Ich will kurz den Hinweis geben, dass wir uns in den
Debatten darauf verständigt haben, das Modellprojekt
„KV-Impfsurveillance“ des Robert-Koch-Instituts abzuschließen und, wenn es erfolgreich beendet wird, dauerhaft Mittel dafür zur Verfügung zu stellen. Das ist aber
eine Entscheidung, die bei der Aufstellung späterer
Haushalte zu treffen ist.
In den Berichterstattergesprächen hatten wir eine
kleine Kontroverse um die Frage: Wie bindet man die
deutsche Ärzteschaft und den Deutschen Pflegerat in den
Mitgliederkreis der Nationalen Präventionskonferenz
ein? Die Lösung, die hier jetzt gewählt wird, ist
folgende: Die Gesundheitsberufe sind über das Präventionsforum vertreten, das von der Bundesvereinigung
Prävention und Gesundheitsförderung ausgerichtet wird.
Zu deren Mitgliedern gehören wiederum zahlreiche ärztliche und pflegerische Organisationen, auch ich als Person.
Kollege Henke, Sie können selbstverständlich weiterreden. Ich muss Sie darauf aufmerksam machen, dass
Vizepräsidentin Petra Pau
Sie jetzt auf Kosten der Redezeit Ihres Kollegen
Irlstorfer reden.
Keineswegs.
Das ist lieb.
Der Schlusssatz besteht darin: Ich bitte Sie sehr herzlich, dieses moderne, zukunftsgewandte Gesetz mit einer
großen Mehrheit hier im Plenum zu verabschieden.
Ich bedanke mich sehr für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Das Wort hat die Kollegin Helga Kühn-Mengel für
die SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Liebe Besucherinnen und Besucher! In der
Tat ist Prävention eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe,
die ressortübergreifend wahrgenommen werden sollte.
Noch kein Präventionsgesetz - ich habe einige Prototypen erlebt - enthielt so viel Ressortübergreifendes wie
dieses. Das sollte man einmal würdigen. Es fängt an mit
der Verknüpfung mit Frühen Hilfen, mit dem Programm
„Soziale Stadt“ des Bau- und Umweltministeriums, mit
der Bundesagentur, die ganz ausdrücklich den Auftrag
hat, Angebote für Langzeitarbeitslose zu schaffen. Alles
kann man verbessern, aber vieles ist mit diesem Gesetz
möglich.
Wir haben es gemacht, weil die medizinische Seite
der Prävention nur eine Seite ist. Sie ist in Deutschland
- bei allen Defiziten, die man da sehen kann - recht gut
aufgestellt, auch was die Frage einer Über-, Unter- oder
Fehlversorgung anbelangt. Die Lücken, eine Unterversorgung, gibt es in der nichtmedizinischen Prävention;
Kollege Professor Lauterbach hat das vor Jahren schon
im Sachverständigenrat deutlich gemacht.
Am ständigen Anstieg der Lebenserwartung sind
viele Faktoren beteiligt, aber nur zu einem Drittel die
Medizin. Der Rest - ich zitiere den Sachverständigenrat,
Rosenbrock und Lauterbach, aber auch die WHO - geht
auf eine Mischung verschiedener Wirkfaktoren zurück:
Lebensverhältnisse, Wohnung, Arbeit, Erholungsverhalten, Bildung, Ernährung usw. Deswegen geht es uns bei
vielen unserer Gesetzentwürfe um eine Verbesserung der
Lebensumstände. Mit diesem Gesetzentwurf wollen wir
speziell die Menschen erreichen, die geringere Chancen
auf einen gleichberechtigten Zugang zu Gesundheitsangeboten haben. Eine Stärke dieses Gesetzentwurfs ist,
dass er das Setting, die Lebenswelt, in den Mittelpunkt
rückt. Wir haben schon im Jahr 2000 gesagt, dass wir
etwas zur Verbesserung der Chancen bzw. zur Verringerung der Ungleichheit der Chancen des Zugangs zu
Gesundheitsangeboten tun müssen. In der Folgezeit ist
vieles entstanden; aber mit diesem Gesetzentwurf greifen wir die Prinzipien der WHO explizit auf.
Ich will nicht sagen, dass mit diesem Gesetzentwurf
alles optimiert wird, aber doch feststellen, dass mit
diesem Gesetzentwurf wichtige Weichenstellungen vorgenommen werden:
Wir gehen auf die Menschen zu, weil wir nicht erwarten können, dass bestimmte Gruppen Kurse besuchen,
sich Vorträge anhören oder Flyer lesen. Wir gehen in die
Lebenswelt der Menschen hinein, in die Kindergärten,
die Schulen und die Betriebe. Zur Lebenswelt zählen
aber auch - das ist uns ganz wichtig - Einrichtungen der
Behindertenhilfe, Wohnheime für alte Menschen und
Pflegeheime. Auch der Bereich der Pflege - das muss
gewürdigt werden - wird in diesem Gesetzentwurf berücksichtigt. Das ist richtig,
({0})
- ich lasse keine Pause für Applaus -, weil wir wissen,
wie wichtig es ist, dass auch bei alten Menschen Ressourcen zu mobilisieren sind. Das ist ein ganz wichtiger
Punkt.
({1})
Sowohl im Bereich der stationären Pflege als auch im
Bereich der ambulanten Pflege können ganz wichtige
Ansätze entwickelt werden. Es können Präventionsempfehlungen formuliert werden. Als Beispiel nenne ich die
Sturzprophylaxe. Das ist ein ganz wichtiger Punkt.
In diesem Gesetzentwurf geht es nicht nur um die
Jüngsten - ihr Schutz nach der Geburt, Impfschutz, Gesundheitsförderung in Kindergarten und Schule, Früherkennung und Kariesprophylaxe sind schon genannt worden -, sondern auch um die Älteren.
Ein wichtiger Punkt ist auch, dass etliche Ministerien
einbezogen werden.
Die Kompetenz der Betriebsärztinnen und Betriebsärzte soll besser genutzt werden. Das ist ganz wichtig;
denn sie erreichen Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen aus fast allen Schichten.
Der Gesetzentwurf sieht auch eine Qualitätssicherung
vor, was nicht selbstverständlich ist. Qualitätssicherungsinstrumente müssen aufgebaut werden; denn Qualitätssicherung muss stattfinden. Diese Aufgabe wird der
Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung zugeschrieben, was sehr gut ist. Allerdings haben wir mehrmals gesagt, dass wir die Finanzierung an dieser Stelle
nicht für optimal halten.
Der Gesetzentwurf schafft Raum für nationale Präventionsstrategien, zum Beispiel bezogen auf Diabetes.
Er beinhaltet sogar die Möglichkeit zu einer Erhöhung
der Mittel auf Basis des Präventionsberichts, den die Nationale Präventionskonferenz abgeben muss.
Wir haben oft gesagt, dass die Strukturen nachhaltig
verbessert werden müssen.
Dass der Bereich der Selbsthilfe gestärkt wird - Frau
Präsidentin, ich komme zum Schluss -, ist ganz wichtig;
denn zu den gesundheitsfördernden Aspekten gehören
eben auch die Information und die Einbeziehung der Betroffenen. Dass die Betroffenen gestärkt werden müssen,
wird von vielen Studien belegt.
({2})
Also: Der Gesetzentwurf beinhaltet nicht alles, aber
vieles. Vor allem enthält er mehr, als wir anfangs gedacht
haben. Nach der Anhörung gab es über zwanzig Änderungsanträge. Sie sind gut aufgenommen und eingearbeitet worden.
Ich kann wie bei mir im Revier nur sagen: Glückauf!
({3})
Das Wort hat der Kollege Erich Irlstorfer für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ziel des vorliegenden Gesetzentwurfs der Bundesregierung ist es, Grundlagen dafür zu schaffen, dass Prävention und Gesundheitsförderung in jedem Lebensalter und
in allen Lebensbereichen als gemeinsame Aufgabe aller
relevanten Akteure in unserem Land gestaltet werden.
Neben vielen weiteren positiven Neuerungen liegen mir
besonders die im geplanten Präventionsgesetz enthaltenen Maßnahmen zur Steigerung der Impfraten am Herzen. Impfen ist und bleibt die wirksamste medizinische
Prävention.
({0})
Gemeinsam mit meinen Kollegen Heiko Schmelzle
und Reiner Meier habe ich bereits im November 2014 im
Rahmen eines Positionspapiers verschiedene Maßnahmen zur Anhebung der Impfraten empfohlen. Ich bin
dankbar und froh, dass viele dieser Empfehlungen Eingang in den Gesetzentwurf gefunden haben.
Zu den bedeutendsten Regelungen des Gesetzentwurfs gehören sicherlich die Überprüfung des Impfstatus
von Kindern bei der Aufnahme in eine Gemeinschaftseinrichtung sowie die Ausweitung der Möglichkeiten
von Behörden, Personen ohne Impfschutz bzw. Immunität gegen Masern im Falle eines Masernausbruchs von
einem Aufsuchen solcher Einrichtungen auszuschließen.
Diese Maßnahmen werden zu einer Anhebung der Impfraten führen, ohne dass man die Keule der Impfpflicht
auspackt.
({1})
Laut Berufsausbildungsbericht der Bundesregierung
hatten wir im Ausbildungsjahr 2013/2014 über 500 000
neue Auszubildende. Bedeutend sind daher die Überprüfungen des Impfstatus bei den Untersuchungen zum
Ausbildungsbeginn nach dem Jugendarbeitsschutzgesetz, um junge Menschen systematisch auf ihren Impfstatus hin zu überprüfen; auch Mathias Felber von der
AOF bestätigt dies.
Dazu bedarf es aber zukünftig auch der Möglichkeit
einer Erfassung des Impfstatus auf dem entsprechenden
Formblatt für untersuchende Ärzte. Regelungen zur
Ausgestaltung des Formblattes fallen in den Zuständigkeitsbereich des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales. Ich freue mich daher bereits auf einen weiteren
konstruktiven Austausch hierzu mit dem BMAS. Glauben Sie mir, wir lassen an dieser Stelle mit Sicherheit
nicht locker.
Es kann nicht sein, dass längst besiegt geglaubte
Krankheiten nach Deutschland zurückkehren, obwohl
ihre Verbreitung durch hohe Impfraten verhindert werden könnte. Ich möchte daher nun auf zwei Punkte eingehen, die nicht im Präventionsgesetz geregelt werden,
aber meines Erachtens sehr bedeutend sind: eine Impfdatenerhebung sowie Ausschreibungen.
Wichtig sind nicht nur niedrigschwellige Anreize,
sich impfen zu lassen, sondern auch eine umfassende
und zeitgerechte, aufgeschlüsselte und zugleich den Datenschutzstandards entsprechende Erhebung der Impfdaten. Hierzu existiert beim Robert-Koch-Institut das
Modellprojekt „KV-Impfsurveillance“, das von allen Experten als wirksame Maßnahme zur Analyse von Impfdaten betrachtet wird. Es ist vorerst aber leider nur bis
2017 finanziert. Daher bin ich sehr froh, dass das BMG
überprüfen wird, inwiefern eine Verstetigung des Modellprojekts „KV-Impfsurveillance“ beim RKI möglich
sein wird.
({2})
Wir sollten uns jetzt aber trotzdem nicht zurücklehnen. Die Masernausbrüche zu Beginn dieses Jahres sollten uns die Ernsthaftigkeit des Themas vor Augen führen. Daher müssen wir auch zukünftig bei anderer
Gelegenheit das Thema Ausschreibungen im Impfstoffbereich gerade mit Blick auf die Versorgungssicherheit
diskutieren.
Ich bin mir sicher, dass der vorliegende Gesetzentwurf der Bundesregierung einen wichtigen Schritt in die
Richtung einer qualitativ besseren Prävention darstellen
wird. Deshalb bitte ich Sie alle um Ihre Zustimmung.
Herzlichen Dank.
({3})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur
Stärkung der Gesundheitsförderung und der Prävention.
Vizepräsidentin Petra Pau
Der Ausschuss für Gesundheit empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache
18/5261, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf
Drucksache 18/4282 in der Ausschussfassung anzunehmen. Hierzu liegen vier Änderungsanträge der Fraktion
Die Linke vor, über die wir zuerst abstimmen.
Änderungsantrag auf Drucksache 18/5263. Wer
stimmt für diesen Änderungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Änderungsantrag ist mit
den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis
90/Die Grünen abgelehnt.
Änderungsantrag auf Drucksache 18/5264. Wer
stimmt für diesen Änderungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Änderungsantrag ist mit
den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen abgelehnt.
Änderungsantrag auf Drucksache 18/5265. Wer
stimmt für diesen Änderungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Änderungsantrag ist mit
den Stimmen der CDU/CSU-Fraktion und der SPDFraktion gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke und
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen abgelehnt.
Änderungsantrag auf Drucksache 18/5266. Wer
stimmt für diesen Änderungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Änderungsantrag ist mit
den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen abgelehnt.
Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in
der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen
der Oppositionsfraktionen angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen der CDU/CSU-Fraktion
und der SPD-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion
Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Wir kommen nun zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 18/5267. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der
Entschließungsantrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposition abgelehnt.
Wir setzen die Abstimmungen zu der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Gesundheit auf Drucksache
18/5261 fort.
Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner
Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der
Fraktion Die Linke auf Drucksache 18/4322 mit dem Titel „Gesundheitsförderung und Prävention konsequent
auf die Verminderung sozial bedingter gesundheitlicher
Ungleichheit ausrichten“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der
Fraktion Die Linke bei Enthaltung der Fraktion Bündnis
90/Die Grünen angenommen.
Unter Buchstabe c empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/4327 mit dem Titel „Gesundheit
für alle ermöglichen - Gerechtigkeit und Teilhabe durch
ein modernes Gesundheitsförderungsgesetz“. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen?
- Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit
den Stimmen der CDU/CSU-Fraktion, der SPD-Fraktion
und der Fraktion Die Linke gegen die Stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Katja
Kipping, Sabine Zimmermann ({0}),
Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion DIE LINKE
Armuts- und Reichtumsbericht qualifizieren
und Armut bekämpfen
Drucksache 18/5109
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({1})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich bitte wiederum, die notwendigen Umgruppierungen in den Fraktionen zügig vorzunehmen und die notwendige Aufmerksamkeit herzustellen. - Diese Bitte bezieht sich auch auf die unabweislich zu führenden
Gespräche; man kann sie ebenso außerhalb des Plenarrunds führen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Katja Kipping für die Fraktion Die Linke.
({2})
Frau Präsidentin! Werte Damen und Herren! Alle vier
Jahre erscheint der Armuts- und Reichtumsbericht der
Bundesregierung, und diese Berichte könnten eine gute
Grundlage sein, um etwas gegen die soziale Spaltung in
diesem Land zu tun. Wohlgemerkt: könnten. Oft ist die
politische Praxis eine andere.
Der Armuts- und Reichtumsbericht spiegelt die sozialen Verhältnisse in diesem Land wider und ist sozusagen
eine Art Check der sozialen Verhältnisse, eine Art Sozial-TÜV. Das Problem ist nur: Die Erstellung dieses
Sozial-TÜVs liegt komplett in den Händen der Bundesregierung. Sie erstellt ihren Sozial-TÜV also selber. Stellen Sie sich einmal vor, jedem von uns wäre es erlaubt,
den TÜV für das eigene Auto selber durchzuführen.
Dann würden sicherlich manche Verkehrsmittel trotz
nicht mehr gut funktionierender Bremsen zugelassen
werden. Das würde die Verkehrssicherheit nicht wirklich
erhöhen. Offensichtlich funktioniert das bei Fragen der
sozialen Sicherheit auch nicht.
({0})
Erinnern wir uns nur an den vorangegangenen Armuts- und Reichtumsbericht 2013. Damals war noch
Frau von der Leyen die Ministerin.
({1})
Auf Druck der FDP wurden besonders kritische Passagen einfach entfernt. Die SPD kritisierte das damals zu
Recht sehr stark, heute stellt die SPD die Ministerin, und
von einer unabhängigen Erarbeitung ist keine Rede
mehr. Wir Linke meinen: Diese Praxis muss ein Ende
haben, ganz unabhängig davon, welches Parteibuch die
zuständige Ministerin hat. Der Armuts- und Reichtumsbericht muss von einer unabhängigen Kommission erarbeitet werden.
({2})
Wir hören von einigen Fachleuten sehr wohl, dass die
Erarbeitung inzwischen etwas transparenter erfolgt. Das
ist natürlich sehr erfreulich. Ärgerlich ist jedoch die
Aussage von Andrea Nahles zum Armutsbegriff. So behauptet Andrea Nahles in der Süddeutschen Zeitung, der
Ansatz der Armutsrisikogrenze führe in die Irre. Angenommen, der Wohlstand würde explodieren, dann bliebe
nach dieser Definition das Ausmaß der Armut gleich.
({3})
- Dieses Zitat und übrigens auch Ihr Zwischenruf zeigen: Die Sozialministerin und Sie haben die Art und
Weise der Berechnung der Armutsrisikogrenze nicht
verstanden.
Die Armutsrisikogrenze beträgt 60 Prozent des Medians.
({4})
Da das etwas kompliziert ist, lassen Sie mich das noch
einmal erklären.
Mit dem Median ist nicht einfach nur der rechnerische Durchschnitt gemeint.
({5})
Bei der Ermittlung des Medians müssen Sie alle Einkommen vom kleinsten bis zum größten wie die Orgelpfeifen aufreihen. Der Median liegt dann genau in der
Mitte. Ich erkläre das an einem Beispiel: In der Zahlenfolge 1, 2, 3, 4, 5 liegt der Median in der Mitte: die
Zahl 3. In der Zahlenfolge 1, 2, 3, 4, 500 liegt der Median immer noch in der Mitte. Das heißt, diese Methode
ist robust gegen Abweichungen nach oben oder nach unten.
Ich habe Verständnis, wenn Nichtfachleute sagen, das
sei eine komplizierte Materie. Von einer Sozialministerin kann man aber erwarten, dass sie das weiß und nicht
gegen den Armutsbegriff polemisiert.
({6})
Alle bisher versuchte Schönfärberei konnte eine Tatsache aber nicht verschleiern: Fakt ist, dass es in diesem
Land eine extrem ungleiche Verteilung der Vermögen
gibt. Während die einen im Reichtum schwimmen, können sich die anderen im Sommer nicht einmal mehr den
Eintritt ins Schwimmbad für ihre Kinder leisten. In Zahlen ausgedrückt: Während die untere Hälfte der Bevölkerung faktisch null Vermögen hat, haben die reichsten
10 Prozent fast zwei Drittel des Vermögens.
Diese Zahlen rufen doch geradezu nach einer Wiedereinführung der Vermögensteuer. Es ist erschreckend, zu
beobachten, dass Sigmar Gabriel auch dieses Umverteilungsinstrument offensichtlich wieder zu Grabe trägt.
({7})
Doch nicht nur bei solchen Instrumenten zur Umverteilung von oben nach unten mangelt es der schwarz-roten Regierung offensichtlich am politischen Willen, dies
zu ändern. Auch wenn es darum geht, Schikanen für
arme Menschen zu beenden, sind Sie auffallend tatenlos.
Ich muss mich schon wundern, dass es auch in den Reihen der SPD sehr still geworden ist, wenn es darum geht,
die konkrete Hartz-IV-Sanktionspraxis zu kritisieren.
Als Sie noch in der Opposition waren, waren Sie da
deutlich kritischer.
Aber nicht nur die großen Baustellen wie die HartzIV-Sanktionen werden nicht angegangen. Auch bei vermeintlich kleineren sind Sie erstaunlich tatenlos. Ich will
nur ein Beispiel nennen: die Anrechnung von Verköstigung auf die Regelsätze. Was das heißt, hat mir neulich
ein junger Dresdner vor Augen geführt. Er hat eine Behinderung und engagiert sich trotzdem ehrenamtlich. Er
arbeitet in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderungen.
Da die Entlohnung dort gering ist, ist er auf aufstockende Sozialleistungen angewiesen. Das bisschen, was
ihm monatlich zusteht, wird auch noch um 34 Euro gekürzt. Der Grund ist folgender - jetzt zitiere ich aus dem
Bescheid -: „Sie erhalten in der Werkstatt ein kostenfreies Mittagessen. Die Regelbedarfsstufe wird daher um
den Betrag des kostenfreien Mittagessens in der Werkstatt in Höhe von 34 Euro monatlich gekürzt.“ Das muss
man sich einmal vergegenwärtigen: Von der ohnehin
niedrigen Sozialhilfe werden mit Verweis auf das kostenfreie Kantinenessen noch 34 Euro im Monat abgezogen. Da könnte man sich in Grund und Boden schämen.
({8})
Das Empörende dieser Regelung wird deutlich, wenn
wir diese Situation mit der von uns Abgeordneten vergleichen. Wir bekommen in jeder Sitzungswoche Einladungen zu parlamentarischen Abenden, bei denen in der
Regel recht gut für Essen und Trinken gesorgt wird. Niemand ist auf die Idee gekommen, uns deswegen für
Drinks und Schnittchen eine Pauschale von den Diäten
abzuziehen, obwohl wir das finanziell verkraften würKatja Kipping
den. Der junge Mann hingegen braucht die 34 Euro dringend, um über die Runden zu kommen.
({9})
Diese Regelung ist nur eine von vielen, die armen
Menschen das Leben in diesem Land schwer macht und
die abgeschafft gehört, so wie im Übrigen das gesamte
Hartz-IV-Sanktionssystem durch eine sanktionsfreie
Mindestsicherung ersetzt gehört.
({10})
Kurzum - ich komme zum Schluss -: Es braucht eine
unabhängige Berichterstattung. Es braucht den politischen Willen, auf die guten Erkenntnisse die richtigen
politischen Taten folgen zu lassen. Das Ziel muss sein,
alle Menschen in diesem Land sicher vor Armut zu
schützen. Das Ziel muss sein: Freiheit von Existenzangst
für alle!
Vielen Dank.
({11})
Vielen Dank. - Das Wort hat jetzt Professor
Dr. Matthias Zimmer, CDU/CSU-Fraktion. Bitte schön,
Herr Zimmer.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich will zunächst einmal auf zwei Dinge eingehen, die
Frau Kipping gesagt hat. Erster Punkt. Ich habe keinerlei
Anlass, gegenüber der Bundesregierung misstrauisch zu
sein, dass sie keinen vernünftigen und nach dem Stand
der Wissenschaft klaren und sauberen Armuts- und
Reichtumsbericht vorlegt.
({0})
Das hat sie im Übrigen auch beim letzten Mal getan.
({1})
Ich habe es bisher auch noch nicht erlebt, dass es einen
Bericht gegeben hätte, der in irgendeiner Weise geschönt
wäre, zumal, liebe Frau Kipping, wir als Große Koalition überhaupt keinen Anlass hätten, einen Bericht zu
schönen; denn unsere Zahlen können sich durchaus sehen lassen.
({2})
Zweiter Punkt: die Kritik an der Ministerin, was die
Armutsrisikogrenze angeht. Ich halte das, was die Ministerin an dieser Stelle gesagt hat, für richtig; denn in der
Tat ist die Diskussion um die Armutsrisikogrenze eine
schwierige. Die Armutsrisikogrenze stellt nämlich eine
Relation, keine absolute Zahl und keine absolute Armut
dar.
({3})
Vielmehr ist sie, wie Sie das richtig dargestellt haben,
Frau Kipping, eine Relation. Wer weniger als 60 Prozent
des Medianeinkommens zur Verfügung hat, gilt als armutsgefährdet.
Nun wurde im letzten Armuts- und Reichtumsbericht
festgestellt: Das Einkommen von 15 Prozent der Menschen in Deutschland liegt unter der Armutsrisikogrenze. Nun ist eines ziemlich verblüffend: Wenn man
jedem einzelnen Menschen in Deutschland pro Monat
5 000 Euro auf die Hand geben würde - bei gleichen
Preisen - wäre die Armutsrisikoquote immer noch gleich
hoch;
({4})
denn es hat sich ja in der Relation nichts geändert. Das
ist schon einigermaßen schwer zu erklären. Das begründet aus meiner Sicht, warum die Ministerin zu Recht
sagt, dass diese Armutsrisikoquote einigermaßen problematisch ist.
({5})
Ganz bunt wird es aber bei dieser Armutsrisikoquote,
Frau Kipping, wenn wir uns ein Szenario einer kompletten Umverteilung ausdenken. Alle Vermögenswerte werden enteignet; jeder bekommt nur 200 Euro monatlich
vom Staat als eine Art bedingungsloses Grundeinkommen unabhängig von Arbeit. In diesem Szenario wäre
keiner arm, weil keiner weniger als das Medianeinkommen erhält.
({6})
Das ist ebenfalls ein wenig verrückt: Man könnte aus
Mangel an Geld verhungern, aber arm ist man nicht.
Herr Kollege Zimmer, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Matthias W. Birkwald?
Weil das „W“ so schön ausgesprochen wird, natürlich
gerne.
Ja, er legt darauf besonderen Wert.
Ganz besonders herzlichen Dank an Frau Präsidentin
und auch an Sie, Herr Kollege Zimmer. - Herr Kollege
Zimmer, Sie haben sehr viel aufgezählt, was alles Armut
nicht ausmacht und schöne Rechenbeispiele dargelegt.
Ich habe zwei Bitten. Erstens. Sagen Sie uns doch bitte,
wer aus Ihrer Sicht in der Bundesrepublik Deutschland
als arm zu bezeichnen ist. Wo liegt aus Ihrer Sicht die
Armutsgrenze?
Zweitens. Ihr Beispiel der 5 000 Euro klingt wohlfeil.
Wenn man es zu Ende denkt, dass wir alle 5 000 Euro
monatlich bekämen, würden die Preise mit Sicherheit
- darüber würde ich Ihnen eine Wette anbieten - deutlich
steigen. Dann wäre zum einen der Effekt schnell verpufft. Zum anderen zielt der Begriff der relativen Armut,
der in Europa komplett anerkannt ist, darauf ab, dass alle
Menschen auch die Möglichkeit der gesellschaftlichen
Teilhabe haben sollen. Es handelt sich dabei um einen
europäischen Standard. Was Sie machen, führt dazu,
dass sich die Reichen große Autos und Flugzeuge leisten
können - das sind die Statussymbole des 21. Jahrhunderts -; aber für die Armen wollen Sie die Standards
des 18. Jahrhunderts festlegen. Das funktioniert nicht.
Schließlich fahren auch die Reichen heute nicht mehr in
Kutschen.
({0})
Es ist wesentlich schlimmer, in einem reichen Land
arm zu sein, als wenn alle ungefähr dasselbe haben. Ich
bitte Sie, etwas dazu zu sagen. Denn die skandinavischen Länder zeigen, dass es anders geht. Dort sind viele
Menschen nahe beieinander auf einem hohen Niveau,
und alle sind glücklich.
({1})
Lieber Herr Kollege Birkwald, das mache ich natürlich gerne. Der erste Punkt ist: Ich habe nur das aufgenommen, was die Kollegin Kipping an der Ministerin
kritisiert hat, und gesagt, ich kann das, was die Ministerin an dem Armutsquotienten kritisiert hat, gut nachvollziehen, weil der Armutsbegriff in der Tat zwei Facetten
hat. Er ist auf der einen Seite eine statistische Relation,
die durchaus Sinn macht. Auf der anderen Seite ist er
aber ein Kampfbegriff, und die Art und Weise, wie gerade Ihre Fraktion diesen Begriff verwendet, zeigt, dass
man eine genaue Abgrenzung treffen muss, damit man
das eine nicht mit dem anderen verwechselt.
Was den zweiten Punkt angeht, haben Sie Ihre Frage
ein wenig zu früh gestellt. Denn auf die Frage, was Armut eigentlich ist, wollte ich im Laufe der Rede noch
eingehen. Vielleicht ist die Frage mit Ihrem Einverständnis damit beantwortet, und ich fahre fort und stille im
weiteren Verlauf der Rede Ihren Wissensdurst.
({0})
Meine Damen und Herren, aus diesem Grund muss
man, denke ich, einen genauen Blick auf die Zahlen werfen. Gottfried Benn hat einmal gesagt: Wir müssen mit
unseren Beständen rechnen statt mit Parolen. Dazu hat
der Vierte Armuts- und Reichtumsbericht einige gute
Grundlagen gelegt. Er belegt beispielsweise, dass sich
die Schere bei den Einkommen seit 2007 langsam
schließt. Das ist vermutlich auch auf die Wirkungen der
Arbeitsmarktreformen zurückzuführen, aber ich will niemanden in Verlegenheit bringen.
Er belegt auch, dass die Vermögenskonzentration in
den letzten 20 Jahren leicht zugenommen hat. Der GiniKoeffizient, das Maß gesellschaftlicher Ungleichheit, ist
aber in etwa gleich geblieben. Übrigens vermute ich,
dass der nächste Bericht deutlich machen wird, dass die
Einführung des Mindestlohns einen positiven Einfluss
auf die Einkommensrelationen und den Gini-Koeffizienten hat. Gleichwohl ist der Mindestlohn, anders als Sie
in Ihrem Antrag annehmen, kein Instrument zur Armutsbekämpfung, sondern eine Maßnahme zur Ordnung des
Wettbewerbs auf dem Arbeitsmarkt.
Etwas anders sieht es aus, wenn man die Einkommens- und Vermögensentwicklungen langfristiger betrachtet. Hierzu greife ich die Ergebnisse der Studie von
Thomas Piketty über das Kapital im 21. Jahrhundert auf.
Demnach ist die Ungleichheit der Einkommen in den
letzten 120 Jahren bis zum Beginn der 80er-Jahre deutlich zurückgegangen und hat sich seither moderat erhöht. Ähnliches gilt für die Vermögensverteilung. Dabei
unterscheiden sich Europa und die USA deutlich, nicht
zuletzt auch deshalb, weil es unterschiedliche Auffassungen über das Verhältnis der Wirtschaft zum Sozialstaat gibt.
Wichtig ist mir aber eines: Die von Piketty als Tendenz herausgearbeitete Faustformel, dass die Kapitalrendite immer höher sei als das Wirtschaftswachstum, hat
offensichtlich nicht dazu geführt, dass es zu einer Konzentration der Vermögen gekommen ist. Überdies ist
auch der Hinweis wichtig und richtig, dass es immer
wieder wechselnde Personen sind, die Vermögen besitzen. Joseph Schumpeter hat das einmal mit dem Bild des
kapitalistischen Hotels beschrieben: Das Hotel ist zwar
immer voll, und auch die Suiten sind immer gut belegt,
aber die Gäste wechseln. Schumpeter hat das auf den
produktiven Neid zurückgeführt, der zu wirtschaftlicher
Aktivität führt und zu den Prozessen schöpferischer Zerstörung, der alte Strukturen - im Übrigen auch alte Vermögen - zerstört und neue schafft. Ich will Schumpeter
in einem folgen: Ich halte produktiven Neid für sinnvoller als den unproduktiven Neid, der nur zum Ziel hat,
den Reichen ihren Reichtum zu nehmen. So funktioniert
Wohlstand für alle nicht.
({1})
Ich halte ein bestimmtes Maß an gesellschaftlicher
Ungleichheit für durchaus vernünftig, wie Piketty im
Übrigen auch. In der sozialen Marktwirtschaft ist es
diese Ungleichheit, die auch Triebfeder für Innovation
und Fortschritt ist. Wir haben ein Eigeninteresse daran,
dass die Ungleichheit nicht zu groß wird, weder nach
oben noch nach unten. Deshalb brauchen wir die Armuts- und Reichtumsberichte, und deswegen ist es sinnvoll, zu formulieren, was wir von solchen Berichten erwarten. Da ist die Armutsrisikoquote eine interessante
Zahl. Aber spannender ist es, den Blick zu weiten, zum
Beispiel auf die Antworten, die wir in der letzten Legislaturperiode auf die Frage nach einem Wohlstandsindikator gegeben haben. Wohlstand findet seinen Ausdruck
eben nicht nur in der Einkommens- und Vermögensverteilung, sondern zum Beispiel auch in der Beschäftigungsquote, der Bildungsquote, dem Maß an individueller FreiDr. Matthias Zimmer
heit, der Schuldenstandsquote und der Gesundheit. Die
Liste der Beispiele ließe sich beliebig fortsetzen.
Wichtig ist mir, dass wir Chancen abbilden, um die
Armutsrisiken abbauen zu können. Ich würde mich freuen,
wenn sich davon einiges im nächsten Armuts- und Reichtumsbericht wiederfände; darauf deutet das eine oder andere hin. Dann können wir über Chancen und Befähigungen sprechen, Armut zu bekämpfen, und müssen
nicht lediglich über die Umverteilung von Vermögen
diskutieren. Armut wird nicht dadurch bekämpft, dass
man Menschen Geld in die Hand drückt. Armut bekämpfen wir nachhaltig am besten, indem wir Menschen befähigen, indem wir ihnen Möglichkeiten eröffnen und
Chancen bieten, sich selbst zu helfen.
({2})
Deutschland ist - anders als es die Linke glauben machen will - kein Land, das in sich gespalten ist. Die soziale Marktwirtschaft setzt einen Rahmen, der für Fairness und Ordnung sorgt und dem Schwachen hilft.
Hierum werden wir beneidet; denn wir verbinden wirtschaftlichen Erfolg und soziale Gerechtigkeit. Wir wollen eben gerade nicht den rücksichtslosen Liberalismus
des Stärkeren, den sozialdarwinistischen Kampf in der
Wirtschaft. Dazu habe ich ein interessantes Zitat im
Brief von Paulus an die Galater gefunden. Dort heißt es:
So ihr euch aber untereinander beißet und fresset,
so seht zu, dass ihr nicht untereinander verzehrt
werdet.
Bei diesem Zitat habe ich keine Sekunde an den Zustand
unserer sozialen Marktwirtschaft gedacht, ein wenig
aber schon an die inneren Turbulenzen bei den Linken,
denen ich diese Mahnung von Paulus gerne mit auf den
Weg gebe.
({3})
Vielen Dank. - Als Nächster spricht Dr. Wolfgang
Strengmann-Kuhn, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Es gab eine Zeit, in der noch keine Armuts- und Reichtumsberichte veröffentlicht wurden. Das war vor 1998.
Damals hat jede Regierung behauptet, dass es Armut in
unserem Land nicht gibt. Dabei hat es keine Rolle gespielt, ob die SPD oder die Union regiert hat. Alle haben
Armut negiert.
({0})
- Wir haben leider erst seit 1998 regiert. Damals war
auch noch die FDP in der Regierung. - Die Meinungen
über die Existenz von Armut schwankten natürlich.
Wenn man in der Opposition war, gab man die Existenz
von Armut doch zu.
Dann ist es unter Rot-Grün tatsächlich gelungen, eine
regelmäßige Armuts- und Reichtumsberichterstattung
einzurichten. Ich würde sagen, es war richtig, zu fordern,
dass der Bericht von der Bundesregierung kommt, weil
dann endlich die Bundesregierung selber darstellen
musste, wie groß die Armut in Deutschland ist.
({1})
Deswegen bin ich etwas skeptisch, was das Outsourcing in eine unabhängige Kommission angeht. Auch da
gab es unter Rot-Grün die eine oder andere Erfahrung,
die vielleicht nicht so positiv war.
({2})
Damals haben wir die Debatte über Themen ausgelagert, die eigentlich hier in den Bundestag gehört hätten.
An der Stelle kann man, wie ich glaube, durchaus die
Beteiligungsmöglichkeit verbessern.
Es ist tatsächlich einigermaßen transparent, was passiert. Es gibt die Internetadresse www.armuts-und-reich
tumsbericht.de, auf der man sehen kann, welche Gutachten vergeben worden sind und dass Symposien stattgefunden haben. Allerdings ging das alles am Parlament
vorbei. Es wäre, glaube ich, eine Überlegung wert, ob
man nicht am Anfang dieses Prozesses auch hier im
Bundestag eine Debatte führt, bei der der Bundestag die
Möglichkeit hat, der Bundesregierung mitzugeben, welche Themen und welche wichtigen Fragen in dem Armuts- und Reichtumsbericht behandelt werden sollen.
({3})
Die Fragen liegen auf der Hand. Ich will betonen: Das
ist ein Armuts- und Reichtumsbericht. Die Behauptung,
die Matthias Zimmer aufgestellt hat, könnte einmal geprüft werden.
({4})
Ich halte es für ziemlich absurd, zu behaupten, dass die
Reichen Vermögen zwischen den Personen ständig
wechseln. Mir ist nicht bekannt, dass Milliardäre oder
auch nur Millionäre dauernd ihr Vermögen verlieren
({5})
und andere dann so hohe Vermögen anhäufen. Es wäre
vielleicht im unteren Einkommensbereich wünschenswert, wenn es da Bewegung gäbe - darauf komme ich
gleich zurück -, aber bei den großen Vermögen ist es so,
dass die Reichen relativ stabil oben auf der Skala sind.
Das ist ein Problem, das unbedingt angegangen werden
muss.
({6})
Das ist auch etwas, was Piketty in seinem Buch beschreibt. Gestern hatte ich eine schöne Veranstaltung,
auf der ich über Piketty einen Vortrag gehalten habe. Er
beschreibt, dass die Vermögen in den letzten Jahren sehr
stark angestiegen sind. Was er bei der Vermögensverteilung vor allen Dingen beklagt, ist, dass wir in Deutschland dadurch ein Demokratieproblem haben. Er kommt
nicht mit dem erhobenen Zeigefinger und spricht nicht
von den bösen Reichen, die so viel Geld hätten, weswegen er auf sie neidisch sei, sondern er sagt: Es ist ein
Problem für die Demokratie, wenn das Vermögen so
stark konzentriert ist und so viel Macht in der Hand von
einigen wenigen liegt. - Das ist eine Debatte, die wir natürlich auch hier im Parlament führen müssen.
({7})
Was die andere Seite betrifft, die Armut, so gibt es gerade die Diskussion über die Armutsmessung. Darüber
können wir jetzt lange wissenschaftliche Diskussionen
führen und uns fragen, was das richtige Maß ist. Ich habe
dazu schon veröffentlicht. Auch an der Stelle muss man
vielleicht einmal in die Vergangenheit schauen. In den
90er-Jahren bestand ein heilloses Chaos bei der Frage,
welche Armutsmaße verwendet werden sollten. 2001
gab es einen Prozess auf europäischer Ebene, an dem
auch ich als Wissenschaftler beteiligt war. Damals gab es
eine Einigung auf ein Armutsmaß, das seitdem in der
Europäischen Union verwendet wird. Es ist sehr gut,
dass es damals eine Einigung gab.
Dadurch haben wir dieses Chaos nicht mehr. Es
wurde als Armutsgrenze der Wert von 60 Prozent des
Medianeinkommens festgelegt, die sogenannte modifizierte OECD-Skala. Das ist relativ kompliziert, aber das
ist die Messung des Bruttoinlandsprodukts auch. Bei der
hatten wir letztes Jahr eine Veränderung. Jetzt fließen
auf einmal Gewinne aus Drogenhandel und Schmuggel
ebenfalls in das Bruttoinlandsprodukt ein. Die Berechnung des BIP hingegen ist noch nicht von der Union kritisiert worden. Das habe ich zumindest noch nicht mitbekommen.
({8})
- Matthias Zimmer und die Enquete-Kommission nehme
ich da einmal aus, aber im Allgemeinen noch nicht.
Ich glaube, es ist gut, dass wir da ein einheitliches
Maß haben. Die Bundesregierung sollte sich daran halten. Das tut sie beim EU-2020-Prozess nicht. Sie hält
sich nicht an europäische Indikatoren, sondern sie hat
sich einen eigenen Indikator ausgedacht. Man stelle sich
einmal vor, Griechenland würde sagen: Wir berechnen
das BIP jetzt ganz anders. - Was gäbe es hier für einen
Aufstand! Die Bundesregierung nimmt sich das bei der
Armutsbekämpfung heraus. Das ist meines Erachtens
ein Skandal.
({9})
Da meine Zeit schon abgelaufen ist,
({10})
kann ich jetzt nicht mehr weiter auf die Armutssituation
eingehen. Ich empfehle, den aktuellen DIW-Wochenbericht zu lesen, in dem klar steht, dass die Einkommensverteilung in den letzten 15 Jahren stark auseinandergegangen ist und sich die Lücke nicht geschlossen hat. Es
steht darin, dass die Kinderarmut immer noch extrem
hoch ist, dass die Armut von Erwerbstätigen stark steigt
und dass die Altersarmut steigt. Auch das muss in dem
Armutsbericht klar und deutlich formuliert werden.
Dann kommt die politische Schlussfolgerung, und darüber debattieren wir dann hier im Plenum.
Vielen Dank.
({11})
Für die SPD-Fraktion spricht jetzt Daniela Kolbe.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Geschätzte Kolleginnen und Kollegen! Zunächst einmal zum Antrag der Linken. Insbesondere dem ersten Satz dieses Antrags
möchte ich vollumfänglich zustimmen. Er lautet:
Die Armuts- und Reichtumsberichterstattung ist im
Grundsatz ein wichtiges und geeignetes Instrument
zur Analyse der sozialen Wirklichkeit in Deutschland.
({0})
Dem möchte ich zustimmen. Es ist wirklich so: Wir
haben das unter Rot-Grün im Jahr 2000 miteinander beschlossen. Deutschland war bis dahin in diesem Zusammenhang ein absolutes Entwicklungsland. Niemand
wusste genau Bescheid. Alle haben reden können - Herr
Strengmann-Kuhn hat das ausgeführt -, was sie wollten.
Das ist seitdem nicht mehr so. Die Große Koalition hat
2005 ein regelmäßiges Erscheinen des Armuts- und
Reichtumsberichts beschlossen. Es war von Anfang an
so, dass der Bericht keine reine Sache des Ministeriums
war, sondern es waren immer Verbände und auch Sachverständige eingebunden. Das ist mal mehr, mal weniger
gut gelungen, in der Tat; aber sie waren eingebunden.
Ich persönlich finde, dass die Federführung beim
BMAS sachlogisch durchaus richtig ist, nicht nur, weil
dort die Expertise, das Know-how und die Kompetenz
für solch große Fragen angesiedelt sind, sondern auch,
weil dem Armuts- und Reichtumsbericht so die Bedeutung zukommt, die ihm gebührt. Alle Medien berichten
darüber, wenn der Armuts- und Reichtumsbericht veröffentlicht wird. Das hat auch mit dem Absender zu tun:
Ein Ministerium beschäftigt sich mit einer solch spannenden Frage und setzt sich damit auch kritisch auseinander. Insofern sagt die SPD ganz klar - das hat sie übrigens immer getan, Frau Kipping -: Das ist in Ordnung
so. Wir haben das so eingeführt, und so wollen wir das
auch beibehalten. Das ist eine Aufgabe des Ministeriums, und dem muss es auch nachkommen.
In der Enquete-Kommission „Wachstum, Wohlstand,
Lebensqualität“, der auch Herr Professor Zimmer angehört hat, haben wir uns mit der Frage „Was ist Wohlstand?“ auseinandergesetzt. Diese Frage hat sehr viel mit
dem Thema „Armut und Reichtum“ zu tun. Wir waren
uns alle miteinander ziemlich schnell einig, dass es natürlich nicht nur um die reine Größe des materiellen
Wohlstandes einer Gesellschaft geht, sondern dass ganz
entscheidend ist, wie dieser Wohlstand verteilt ist, insbesondere wie Einkommen und Vermögen in der Gesellschaft verteilt sind; denn daran entscheidet sich die
Frage, ob wir dem Ideal nahekommen, dass alle Menschen etwas aus ihrem Leben machen können, dass sie
ein Leben nach ihren Vorstellungen führen können und
aus den Ressourcen, die ihnen mitgegeben sind, wirklich
schöpfen können.
({1})
In der Tat verstecken sich dahinter auch einige ganz
spannende statistische Fragen. Wir wissen nach wie vor
trotz vier Armuts- und Reichtumsberichten relativ wenig
über extremen Reichtum in diesem Land, und wir wissen
auch relativ wenig über Armut, insbesondere über verdeckte Armut. Ich finde, es lohnt sich, da weiterhin nach
wie vor ganz genau hinzuschauen. Denn wenn wir die
Wirklichkeit verändern wollen, dann müssen wir auch
die Daten und Fakten kennen. Das ist nicht trivial. Ich
denke, es lohnt sich, da auch weiterhin intensiv hinzuschauen.
Eines wissen wir nämlich ganz genau: Die Schere
zwischen Arm und Reich klafft in Deutschland zu weit
auseinander. Wir können gerne eine akademische Debatte darüber führen, ob sich der Gini-Koeffizient in den
letzten Jahren noch ein bisschen verschlechtert hat, ob er
ein ganz klein wenig besser geworden ist oder ob er eigentlich gleich geblieben ist. Fakt ist: Die Schere
schließt sich nicht so, wie wir es uns wünschen würden.
({2})
Wir stehen im internationalen Vergleich vielleicht einigermaßen da; gut stehen wir jedenfalls nicht da. Große
Organisationen wie die OECD schreiben es uns und anderen Industrienationen ins Stammbuch: Nehmt die Verteilungsfrage wieder in den Blick, und zwar nicht nur
aus rein moralischen Gründen, sondern auch aus reinem
Eigennutz, aus ökonomischen Gründen; denn die ungleiche Verteilung behindert auch in einem gerüttelt Maß
Möglichkeiten der wirtschaftlichen Entwicklung. - Wenn
viele Menschen keinen Zugang zu Bildung haben, dann
beeinflusst das auch die wirtschaftliche Entwicklung einer Volkswirtschaft. Das hat zuletzt die OECD im letzten Jahr festgestellt. Ich denke, das wird sich auch im
neuen Armuts- und Reichtumsbericht wiederfinden.
Ich kann mir an dieser Stelle eine Bemerkung zum
Median und zur Armutsrisikoquote nicht verkneifen. Ich
widerspreche dir nur ungern, Matthias Zimmer, aber:
Wenn du jedem 5 000 Euro gibst, dann bedeutet das für
die Verteilung, dass die Spreizung nicht mehr so groß ist
wie vorher,
({3})
und dann - ich rechne es dir nachher gern vor - sinkt die
Armutsrisikoquote.
({4})
Das ist jetzt nicht der Anlass, zu sagen, dass wir allen
5 000 Euro geben sollten. Aber über eine Verteilung
nachzudenken, die mehr Gleichheit aufweist, macht in
jedem Fall Sinn.
({5})
Was ist von dem neuen, dem Fünften Armuts- und
Reichtumsbericht zu erwarten? Ich finde schon, hier
herrscht eine ganz andere Stimmung. Insofern habe ich
mich über den Antrag ein Stück weit gewundert. Der
neue Bericht soll Ende 2016/Anfang 2017 erscheinen.
Eine der größten Veränderungen, die ich wahrnehme, ist
die Transparenz. Der Beratungsprozess wird öffentlich
stattfinden. Die Verbände werden eingebunden. Es steht
schon jetzt fest, wer die Sachverständigen sind, die einbezogen werden. Das wird offen gelebt. Das ist erkennbar unter anderem an der Website; sie ist auch schon zitiert worden. Da finden sich die Schwerpunkte, da finden
sich die Sachverständigen, und da finden sich alle Daten,
die dahinterliegen, zum Anschauen - ganz im Sinne von
Open Data. Insofern freue ich mich sehr auf die Debatte
um den Armuts- und Reichtumsbericht.
Es werden auch sehr interessante und wichtige
Schwerpunkte gesetzt. Ein Thema sind die Auswirkungen atypischer Beschäftigung. Das ist für uns Sozialdemokraten ein ganz wesentliches Thema.
Ein zweites Thema ist die Relevanz von sozialräumlicher Segregation. Das ist wichtig, gerade wenn wir über
Auswirkungen von Kinderarmut nachdenken. Wenn in
eine Schule oder in eine Kita viele arme Kinder gehen,
dann hat das natürlich dramatische Auswirkungen.
Ein Schwerpunkt liegt auf dem Thema Reichtum.
Wie viel Einfluss auf Gesellschaft und Politik geht eigentlich mit wirtschaftlichem Reichtum einher? Eine
ganz spannende Frage! Ich freue mich auf die gemeinsame Beantwortung dieser Frage und auf die weitere Debatte.
Vielen Dank.
({6})
Vielen Dank. - Nächste Rednerin ist Dr. Astrid
Freudenstein, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Vor vier Monaten hat der Paritätische Wohlfahrtsverband seinen Armutsbericht vorgestellt. „Armut in
Deutschland auf Höchststand“ stand darin als Fazit, und
der Hauptgeschäftsführer sprach von einem „armutspolitischen Erdrutsch“. Viele Medien berichteten darüber,
und viele haben dies quasi als Überschrift auch so übernommen.
Dieser Bericht vom Paritätischen Wohlfahrtsverband
ist ein Ritual. Er kommt immer wieder heraus. Ich lese
die Meldungen natürlich trotzdem, und sie schrecken
mich zunächst auch auf. Ich habe dann darüber nachgedacht, wo die darin beschriebenen Zustände, diese angeblich massenhafte Verarmung, in unserem Land zutage treten. Ich war auch wieder ein bisschen ratlos.
Aber ich war nicht die Einzige, der das so ging. Nach einigen Tagen setzte bei vielen ein Prozess des Nachdenkens ein. Immer mehr Journalisten, Wissenschaftler und
Politiker schauten sich den Bericht offenbar genauer an
und stellten dann tatsächlich auch kritische Fragen, ob
das denn wirklich so sein kann, ob es tatsächlich so viele
arme Menschen in Deutschland gibt. Was ist Armut
überhaupt? Ist dieser Bericht nicht vielleicht auch von
Interessen geleitet?
Ich möchte hier nicht über die Definition von Armut
sprechen,
({0})
die diesem Bericht des Paritätischen Wohlfahrtsverbands
zugrunde liegt. Ich möchte anhand dieses Beispiels nur
zeigen, dass Zahlen und Statistiken unterschiedlich interpretiert und bewertet werden können. Das gilt nicht
nur bei uns in der Politik; das gilt auch in der Wissenschaft. In den Sozialwissenschaften ist das sogar eine
Art Grundprinzip. Deshalb wird jeder Bericht, egal ob er
vom Paritätischen Wohlfahrtsverband oder von der Bundesregierung stammt, mit dem Vorwurf zu kämpfen haben, dass die Zahlen falsch interpretiert werden. Das
liegt nahezu in der Natur der Sache.
Bei dem jetzt anstehenden Fünften Armuts- und
Reichtumsbericht der Bundesregierung sind mit dem Beraterkreis und dem Gutachtergremium die wesentlichen
Akteure, die wissenschaftlichen und zivilgesellschaftlichen Akteure, beteiligt. Außerdem ist das zugrundeliegende Datenmaterial komplett offengelegt. Mehr Transparenz, meine Damen und Herren, meine ich, geht nicht.
Man kann der Bundesregierung also beim besten Willen
nicht vorwerfen, hier irgendetwas zu verschleiern. Eine
unabhängige Kommission, wie Sie sie nun fordern, die
mit „Interessenvertretungen der von Armut und sozialer
Ausgrenzung betroffenen Personen“ besetzt ist, wäre tatsächlich auch nicht wirklich völlig unabhängig. Was Sie
verlangen, ist de facto - ich drücke es einmal so aus
- ein sozialistisches Komitee zur Bekämpfung von Ungleichheit im kapitalistischen Deutschland ({1})
- Sie hätten es kaum schöner sagen können, Herr Kollege -,
({2})
an dessen Erkenntnissen am besten keine Kritik geäußert
werden darf, weil sie wohl eher die reine Wahrheit sind.
({3})
Die Handlungsempfehlungen dieser Kommission sollten
dann auch direkt von Regierung und Parlament übernommen werden, was im Übrigen nicht mit meinem Verständnis von demokratisch gewählten Parlamentariern
übereinstimmt. Wir sind ja schließlich keine Erfüllungsgehilfen einer Antiarmutskommission.
({4})
Meine Damen und Herren von der Linken, Sie bezeichnen soziale Ungleichheit als „Ausfluss des kapitalistischen Produktions- und Verteilungsprozesses“. Da
fiel mir schon glatt die Situation Ende der 80er-Jahre in
der DDR ein. Die dortigen, ja nun nicht so kapitalistischen Produktions- und Verteilungsprozesse hatten dazu
geführt, dass ein Fünftel der Bevölkerung vier Fünftel
des Vermögens besessen hat. Das mit der sozialen
Gleichheit war Ihrer Vorgängerpartei also trotz des fehlenden Kapitalismus offenbar auch nicht wirklich geglückt.
({5})
Wenn wir heute über die Situation in Deutschland
sprechen, meine ich, könnte man zumindest diese Antikapitalismusrhetorik einfach einmal weglassen.
({6})
Ungleichheit entsteht im Übrigen zwangsläufig immer und überall dort, wo Menschen etwas unternehmen,
vor allem wenn sie wirtschaftlich etwas unternehmen. Es
ist eben nicht so, dass Ungleichheit ausschließlich strukturell oder schicksalhaft eintritt. Ungleichheit ist tatsächlich auch die Konsequenz unterschiedlicher Bildungsund Ausbildungsbereitschaft. Sie ist auch die Folge von
unterschiedlichem Arbeitseinsatz und von unterschiedlichen Vorstellungen vom eigenen Leben. Unsere Aufgabe
in der Politik ist es, diese Ungleichheiten, wie auch immer sie entstehen, abzufedern. Der soziale Friede und
der gesellschaftliche Zusammenhalt, das sind die Ziele
unserer Sozialpolitik. Es sind eben nicht diese idealisierten Vorstellungen absoluter Gleichheit. Ich meine, dass
die soziale Marktwirtschaft in den vergangenen Jahrzehnten bewiesen hat, dass sie dafür der richtige Weg ist.
Was verhindert wirklich Armut in unserem Land? Es ist
Ausbildung, und es ist Arbeit, gute und ordentlich bezahlte Arbeit.
({7})
Hier in Deutschland arbeiten immer mehr Menschen.
Deshalb nimmt die Einkommensungleichheit auch nach
und nach ab.
({8})
Das ist grundsätzlich eine gute Entwicklung. Auch mit
Maßnahmen, die wir hier schon ergriffen haben, zum
Beispiel mit dem Rentenpaket oder der Mütterrente,
sinkt das Risiko für Frauen, im Alter arm zu sein. Sie sehen also: Wir nehmen Armut natürlich nicht einfach hin.
Das darf Politik auch nicht. Aber ich kann mit Ihrem Gerechtigkeitsbegriff, der allein auf Gleichmacherei und
Umverteilung setzt, wenig anfangen. Wir leben heute in
einem sozialen Rechtsstaat. Nicht nur die ganz große
Mehrheit der Menschen in unserem Land, sondern auch
viele Theoretiker sehen vor allem die Chancengerechtigkeit als ganz entscheidend für unsere Zukunft an. Genau
dafür müssen wir sorgen.
({9})
Es ist nämlich völlig unstrittig, dass jedes Kind in unserem Land ganz nach seiner Begabung bestmöglich
gefördert werden muss, ganz egal, aus welchem Elternhaus es kommt. Es ist auch völlig unstrittig, dass jeder
Jugendliche, der ausbildungsfähig und ausbildungswillig
ist, eine Ausbildung bekommen muss. Das ist mein
Verständnis von Gerechtigkeit. Mit Ihren Umverteilungsideen hat das wenig zu tun. Ich meine auch, dass
der Armuts- und Reichtumsbericht dafür nicht herhalten
muss.
Danke schön.
({10})
Vielen Dank. - Letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt ist die Kollegin Dagmar Schmidt, SPDFraktion.
({0})
Sehr geehrte Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuschauerinnen und Zuschauer! Was macht
Armut mit Menschen? Sie haben eine schlechtere Gesundheit und leben kürzer. Armut grenzt aus. Am
schlimmsten betrifft es die Kinder: Jedes fünfte Kind ist
arm. Arm sein, was heißt das? Laut WSI oder IAB ist es
so, dass jedes fünfte arme Kind in der Wohnung nicht
ausreichend Platz hat, jedes dritte bekommt keine Brille
und keine neue Kleidung bezahlt. Sieben von zehn armen Kindern können kein Kino, Konzert oder Theater
und acht von zehn kein Restaurant besuchen. Sie sind
also nicht dabei, wenn ihre Freundinnen und Freunde
ihre Freizeit gestalten. Sie können das normale soziale
Leben ihrer Klassenkameradinnen und -kameraden nicht
teilen. Das ist eines reichen Landes unwürdig.
({0})
Meine Vorrednerinnen und Vorredner haben die Lage
beschrieben, wie sie nicht einmal in dem auch von uns
scharf kritisierten Vierten Armuts- und Reichtumsbericht geleugnet wurde.
Deutschland ist ein starkes und reiches, aber in manchen Bereichen und für viele Menschen auch ein ungerechtes Land. Die Vermögensentwicklung ist zunehmend ungleicher, die Lohnentwicklung blieb hinter der
Produktivitätsentwicklung zurück. Der Druck auf die
Mittelschicht nahm zu und damit auch der Druck auf den
Sozialstaat insgesamt. Das Auseinanderdriften der Einkommen und Vermögen, der anwachsende Niedriglohnsektor gefährden den gesellschaftlichen sozialen Zusammenhalt und sind ökonomisch riskant. Deswegen haben
wir nicht lange darüber diskutiert, wie der alte Armutsund Reichtumsbericht aussah, sondern wir haben gehandelt. Wir haben zuallererst den Arbeitsmarkt ins Visier
genommen und mit dem Mindestlohn erstmals in
Deutschland eine untere Entlohnungsgrenze eingezogen,
eine der größten deutschen Sozialreformen, die 3,7 Millionen Menschen geholfen hat. Darauf sind wir stolz.
({1})
Aber damit allein ist es nicht getan. Wir brauchen
wieder starke Tarifpartner und gerechte Löhne. Deswegen haben wir mit der Erleichterung der Allgemeinverbindlichkeitserklärung, der Öffnung des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes Wichtiges getan. Aber auch mit
der Stärkung der Tariftreue im Vergabegesetz werden
wir für bessere Löhne sorgen. Und wie Sie sich vorstellen können, sind wir auch darauf sehr stolz.
Es gibt nicht den einen Hebel zur Armutsbekämpfung, aber wir nehmen die verschiedenen Armutsrisiken
ins Visier.
Das erste Armutsrisiko ist Arbeitslosigkeit, vor allem
Langzeitarbeitslosigkeit. Hier nehmen wir uns einiges
vor. Der Weg in Arbeit soll nachhaltig sein. Deswegen
gibt es jetzt mehr Beratung, Begleitung und Zielgenauigkeit. Wir legen einen Schwerpunkt auf Menschen mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen und Menschen, die
Kinder versorgen.
Das zweite große Armutsrisiko ist eine fehlende Berufsausbildung. Mit der Allianz für Aus- und Weiterbildung lassen wir der Wirtschaft das Argument, „die sind
alle nicht ausbildungstauglich“, nicht mehr durchgehen.
20 000 zusätzliche Ausbildungsplätze sind eine Hausnummer. Die assistierte Ausbildung ist für viele junge
Menschen eine wichtige Stütze auf dem Weg ins Berufsleben. Wir setzen die Einstiegsqualifizierung, die große
Erfolge gezeitigt hat, mit 20 000 Plätzen jährlich fort,
und wir stärken die Berufsorientierung, die Weiterbildung und die Nachqualifizierung.
({2})
Dagmar Schmidt ({3})
Wir wollen die zweite, manchmal auch die dritte oder
vierte Chance; denn das ist allemal mehr wert, als die
Transferleistung für den Einzelnen und für die Gesellschaft.
({4})
Krankheit ist ein weiteres Armutsrisiko. Deswegen
haben wir mit dem Rentenpaket auch für Verbesserungen in der Erwerbsminderungsrente gesorgt. Aber wir
stärken vor allem - und das nicht nur mit dem Präventionsgesetz - die Gesundheitsprävention insgesamt. Gesundheitsschutz ist Armutsprävention, auch daran arbeiten wir.
Ich komme zu einem besonders skandalösen Armutsrisiko: alleinerziehend zu sein oder viele Kinder zu haben. Drei Dinge brauchen Familien: Geld, Zeit und gute
Betreuung. Deswegen erhöhen wir zur finanziellen
Besserstellung von Familien den Kinderfreibetrag, das
Kindergeld und den Kinderzuschlag. Wir hätten uns das
alles schneller und auch mehr vorstellen können.
({5})
Es war uns aber besonders wichtig, endlich den Steuerfreibetrag für Alleinerziehende zu erhöhen. An dieser
Stelle ein Dankeschön an Manuela Schwesig, dass sie
nicht nachgelassen hat und die Erhöhung des Steuerfreibetrages für Alleinerziehende durchsetzen konnte.
({6})
Mehr Zeit, das heißt Zeit für Kinder und trotzdem ein
sicheres Auskommen. Den Weg beschreiten wir mit dem
Elterngeld Plus. Das heißt aber auch, zwischen Teilzeit
und Vollzeit frei wählen zu können. Deswegen werden
wir das Rückkehrrecht in Vollzeit gesetzlich verankern.
({7})
Um arbeiten zu gehen und die Familie ernähren zu
können, muss die Betreuung stimmen. Deswegen haben
wir in Betreuung investiert und das Sondervermögen
Kinderbetreuungsfinanzierung auf 1 Milliarde Euro angehoben.
Ja, Deutschland ist ein starkes und reiches Land, aber
eben auch in manchen Bereichen und für viele Menschen ein ungerechtes. Ich bin stolz darauf, dass wir es in
den ersten anderthalb Jahren der Großen Koalition geschafft haben, Deutschland gerechter zu machen.
Glück auf!
({8})
Vielen Dank. - Die Aussprache ist damit beendet.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/5109 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe, das ist der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf:
Vereinbarte Debatte
Entwicklungszusammenarbeit mit Afrika Perspektiven für unseren Nachbarkontinent
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Auch hier
höre ich keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Bundesminister Dr. Gerd Müller für die Bundesregierung.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich habe
gerade gesagt: Jetzt, wo es spannend wird, verlassen
viele den Saal. Aber es sind auch viele gekommen, liebe
Kolleginnen und Kollegen.
({0})
- Liebe Frau Roth, auch für Sie gilt: Die Geschichte der
Menschheit hat in Afrika begonnen.
({1})
Äthiopien gilt als die Wiege der Menschheit. Das war
vor 6 Millionen Jahren. Wir sind nur einen Flügelschlag
auf diesem Planeten. Denken Sie an Lucy, das bekannte,
3,2 Millionen Jahre alte Skelett in Addis Abeba; einige
von uns fahren demnächst dorthin. Von Äthiopien, von
Afrika aus haben sich unsere Vorfahren über den Planeten verbreitet. Wir sind also letztlich alle Afrikaner mit
Migrationshintergrund.
Warum erzähle ich das? Ich erzähle das, weil in unserem Reden über Afrika unser Nachbar immer sehr fern
erscheint und weil wir viel zu wenig darüber wissen, was
uns verbindet. Dabei hat gerade Europa Afrikas Geschichte entscheidend geprägt: der Sklavenhandel, der
Menschen zu Objekten gemacht hat und der heute noch
nachwirkt, und die willkürlichen Grenzen der Kolonialherren. Ein Grundstein hierfür wurde übrigens vor
130 Jahren durch die Berliner Konferenz von 1885 gelegt. Das ist hochspannend. Das liegt noch nicht so lange
zurück.
Wir reden von Afrika und vergessen: Der Kontinent
ist hundertmal so groß wie Deutschland. Er hat 54 Länder, mehr als 2 000 Sprachen, Tausende von Bevölkerungsgruppen, Ethnien, Stämme und Religionen, eine
vielfältige Kultur, interessante Kunst, verschiedene
Klimazonen - Wüste und Regenwald -, Pflanzenreichtum und Artenvielfalt von großartiger Bedeutung, Seen,
Flüsse und das Meer. Und die Größe: Allein Algerien
und Libyen sind zusammen, verehrte Gäste auf der Tribüne, so groß wie die gesamte Europäische Union.
In Nigeria werden in jedem Jahr 6 Millionen Menschen geboren, also mehr als in der gesamten Europäischen Union. Ich habe den neuen Präsidenten vor kurzem in München getroffen. Er ist eine große Hoffnung
für dieses Land, und wir wünschen ihm alles Gute für
seine Amtsführung.
({2})
Afrika ist jung, fast so jung wie die Schülerinnen und
Schüler auf den Tribünen. Es gibt viele Jüngere im
Parlament. Stellen Sie sich vor: In Uganda, Nigeria und
Mali ist jeder Zweite jünger als 15 Jahre. Das Durchschnittsalter in den afrikanischen Ländern liegt bei
25 Jahren.
Afrika ist erfolgreich; das sagt nur keiner. Wir sehen
immer nur die dunklen Seiten. Das Wirtschaftswachstum
in Afrika ist rasant. Afrika hat gerade die längste Wachstumsperiode seit den 60er-Jahren erlebt.
Afrika hat natürlich auch Probleme, selbstverständlich: Heute sind 60 Prozent der 15- bis 24-Jährigen arbeitslos. Das ist dramatisch. So werden junge Leute zur
Quelle von Konflikten statt zu einem Schatz für die Zukunft.
Mitte dieses Jahrhunderts werden in Afrika viermal
so viele Menschen leben wie Mitte des letzten Jahrhunderts, das heißt statt 500 Millionen Menschen 2 Milliarden, und 40 Prozent aller Kinder des Planeten. Am Ende
unseres Jahrhunderts wird jeder dritte Mensch in Afrika
leben.
Dieser Kontinent steht natürlich vor gewaltigen Herausforderungen, etwa bei der Energieversorgung. Noch
sind zwei Drittel Afrikas ohne verlässliche Stromversorgung. Vom schwarzen Afrika, das auf Kohle baut, zum
grünen Kontinent, der auf erneuerbare Energien baut,
das ist meine Vision. Wir tragen dazu bei durch Innovations- und Energiepartnerschaften. Beispielsweise werde
ich noch in diesem Jahr zusammen mit den marokkanischen Freunden das größte Solarkraftwerk der Welt in
Marokko eröffnen.
({3})
Afrika kennt natürlich auch extreme Not: Ich nenne
das Elend von Millionen von Flüchtlingen, ich nenne die
Ebolakrise und die Gewalt im Südsudan, in Teilen Nordafrikas und aktuell in Burundi.
Unsere neue Afrikapolitik setzt neue Schwerpunkte,
meine sehr verehrten Damen und Herren. Diese Schwerpunkte haben wir in den letzten 18 Monaten in über
50 konkrete Initiativen übersetzt. Wir haben hier versprochen - Frau Roth sagt immer: versprochen, jetzt
muss geliefert werden -,
({4})
jährlich 100 Millionen Euro zusätzlich für Afrika aufzuwenden. Das haben wir weit übertroffen.
({5})
In diesem Jahr bekommt das BMZ den stärksten und
größten Haushalt, den es jemals hatte. Hier setzen wir einen ganz besonderen Akzent in Afrika. 2014 flossen
rund 1,5 Milliarden Euro allein in bilaterale Projekte.
Hinzu kamen 311 Millionen Euro aus den Sonderinitiativen. Wir setzen darüber hinaus in der Sonderinitiative
„Fluchtursachen bekämpfen“ einen neuen Schwerpunkt,
und zwar in Krisenprävention, in Konfliktverhinderung,
in Friedensarbeit in Krisenregionen und in der Bekämpfung von Fluchtursachen in den Herkunftsländern der
Flüchtlinge. Ich glaube, das ist entscheidend, gerade in
der aktuellen Diskussion.
({6})
Die allermeisten afrikanischen Flüchtlinge - ich will
das hier heute nur kurz andeuten - kommen nicht nach
Europa. Wenn wir heute über die Flüchtlingskrise in Europa diskutieren, müssen wir sehen: Unter 10 Prozent
der Flüchtlinge, die in Europa ankommen, sind Afrikaner. Dennoch ist das natürlich ein großes Thema. Deshalb engagieren wir uns in Mali, im Südsudan, in der
Zentralafrikanischen Republik ganz neu und auch in
Nigeria. Ich werde deshalb mit Kolleginnen und Kollegen erstmals auch in das Krisenland Eritrea reisen.
Wir haben durchgesetzt, dass die Friedensmissionen
der Afrikanischen Union durch den Europäischen Entwicklungsfonds weiter gestärkt werden. Ich habe mit
Frau Zuma vor einer Woche vereinbart, dass wir Afrikas
Entwicklung auch durch die Zusammenarbeit an neuen
Ausbildungskonzepten voranbringen werden.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, jetzt müssen mehr Mittel in zivile Krisenprävention und Mediation fließen.
Ebola hat darüber hinaus gezeigt, dass schwache Gesundheitssysteme Entwicklungserfolge zunichtemachen. Deshalb haben wir vor wenigen Wochen ein neues
Sonderprogramm „Gesundheit in Afrika“ beschlossen,
mit den drei Schwerpunkten Ausbildung, Aufklärung
und Ausrüstung. In über zehn Ländern des afrikanischen
Kontinents und in Regionalorganisationen werden wir
2015 und 2016 205 Millionen Euro investieren. Wir haben neue Partnerschaften für Berufsbildung eingerichtet;
das werde ich als besonderen Schwerpunkt in den nächsten zwei Jahren ausbauen.
Wir haben einen Regionalfonds für Start-up-Unternehmen eingerichtet. Afrika - man höre und staune! - ist
der boomende IKT-Markt in der Welt, auf Platz zwei.
Mehr als jeder zweite Afrikaner besitzt heute ein Smartphone, und in der Erreichbarkeit sind die afrikanischen
Länder häufig weiter als manche Region, manche Provinz bei uns zu Hause in Deutschland.
({7})
Wir haben eine Deutsch-Afrikanische Jugendinitiative ins Leben gerufen, die ich eigens vorstellen werde,
aufgrund der Zeit nicht heute. Wir vergeben 1 000 neue
Stipendien an afrikanische Studierende. Noch in diesem
Jahr werde ich in Algerien die Panafrikanische Universität eröffnen. Afrika setzt - das möchte ich sehr deutlich
sagen - die Rahmenbedingungen der Entwicklung aber
in ganz erheblichem Maße selbst.
Bei der Entwicklungszusammenarbeit mit Afrika geht
es zum einen um die ODA-Quote bzw. die Investitionen
öffentlicher Mittel. Hiermit setzen wir den herausragenden Schwerpunkt. Privatinvestitionen und faire Handelsbeziehungen sind jedoch mindestens genauso wichtig,
meine sehr verehrten Damen und Herren.
({8})
Wir erwarten darüber hinaus von den afrikanischen
Regierungen - das lässt sich sehr deutlich am Ranking
bezüglich einer positiven Entwicklung bzw. der Entwicklung bei der Armut ablesen - Eigenanstrengungen
und Gegenleistungen, die ich nur kurz mit den Stichworten „Good Governance“, „Kampf gegen Korruption“,
„Transparenz“, „Eigenfinanzierung der Haushalte“ und
„Aufbau von Steuersystemen“ umschreiben möchte. Wir
tragen das Unsrige dazu bei. Was die Investitionen angeht, liegt noch vieles vor uns. Denn viel zu wenige Firmen in Deutschland haben bisher die Chancen dieser
Märkte erkannt. Wir hatten mehr Hermes für Afrika versprochen, und wir haben dieses Versprechen gehalten.
Seit diesem Jahr können Geschäfte mit Äthiopien,
Ghana, Mosambik, Nigeria, Tansania, Kenia, Senegal
und Uganda abgesichert werden.
({9})
Besondere Chancen liegen in der Digitalisierung
Afrikas. Ich habe dazu mit der GIZ, der ich ganz besonders für ihr großartiges Engagement in der Breite in vielen Ländern danke, ein eigenes Sektorvorhaben eingerichtet.
Unsere Sonderinitiative „Eine Welt ohne Hunger“
setzt viele neue Akzente. Ich nenne in diesem Zusammenhang das Stichwort „Grünes Innovationszentrum“.
Unsere Vision ist, dass „Eine Welt ohne Hunger“ auch
Lebensperspektiven auf dem Land schafft, dass Hunger
und Mangelernährung bekämpft werden. Dazu hat auch
die Kanzlerin einen ganz erheblichen Beitrag geleistet
und diese Themen auf dem G-7-Gipfel in Elmau ganz
nach oben auf die Tagesordnung gesetzt. Vielen herzlichen Dank!
Wir nehmen auch die Industrieländer gemeinsam in
die Pflicht für eine neue Partnerschaft mit Afrika.
({10})
Afrika ist unser Partnerkontinent. Afrika ist für uns Verpflichtung, Herausforderung und Chance.
Vielen herzlichen Dank.
({11})
Vielen Dank, Herr Minister. - Nächster Redner ist
Niema Movassat, Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Nach
mehr als 50 Jahren Entwicklungszusammenarbeit mit
Afrika ist es Zeit, Bilanz zu ziehen. Die fällt leider ernüchternd aus. 232 Millionen Menschen in Afrika hungern. Das sind 20 Prozent der Gesamtbevölkerung - so
viel wie sonst nirgendwo. Rund 30 Prozent der Kinder in
Afrika leiden an den Folgen von Mangelernährung. Zu
diesen Folgen gehört zum Beispiel eine geringere geistige Entwicklung. Die gesamte Zukunft dieser Kinder
wird zerstört. Fast 50 Prozent der Menschen in Subsahara-Afrika leben unterhalb der Armutsgrenze. Jahrzehntelange Entwicklungszusammenarbeit - und dann
solche Horrorzahlen! Lassen Sie uns endlich der Wahrheit ins Auge sehen. Etwas läuft gewaltig falsch. Wir
brauchen eine echte Wende in der Entwicklungspolitik!
({0})
Absolute Priorität muss dabei die Durchsetzung des
Menschenrechts auf Nahrung haben. Die heutige landwirtschaftliche Produktion würde ausreichen, fast doppelt so viele Menschen zu ernähren, wie derzeit auf der
Erde leben. Es ist eine Schande, dass trotz dieses Überflusses alle 6 Sekunden ein Kind an Hunger stirbt. Und
es ist pervers, dass Bauern den größten Anteil an den
Hungernden in Afrika haben.
Man hat jahrelang immer weniger in die Landwirtschaft Afrikas investiert. Weltbank und IWF haben über
Jahrzehnte bei Kreditvergaben in Afrika absurde Bedingungen gestellt, die zum Beispiel in Kenia darauf gerichtet waren, Rosen für uns hier anzubauen statt Nahrung
für die eigene Bevölkerung. Zudem werden Kleinbauern
bis heute nicht vor Landraub durch Konzerne und
fremde Staaten geschützt. Wir fördern diesen Landraub
sogar noch, indem wir Pflanzen für Tierfutter und
Biosprit aus afrikanischen Staaten importieren. Diese
Flächen fehlen, um Nahrung für die Menschen vor Ort
anzubauen.
Die Bundesregierung - insbesondere Sie, Herr Müller treibt mit ihren Initiativen wie den Grünen Zentren und
der German Food Partnership Kleinbauern in die Abhängigkeit der Agrarindustrie.
({1})
Kleinbauern wurden in die Projektentwicklung so gut
wie gar nicht einbezogen, dafür Unternehmen wie
Bayer, BASF und Solana. Am Ende sind die Bauern faktisch gezwungen, teures Saatgut dieser Konzerne zu kaufen. So stärkt man nicht Kleinbauern, so treibt man sie in
die falschen Arme. Machen Sie Schluss damit!
({2})
Es ist auch nicht sinnvoll, so, wie Sie es jetzt tun, vor
allem auf Produktivitätssteigerungen mithilfe des industriellen Modells zu setzen. Dieses Agrarmodell ist wegen seiner sozialen und ökologischen Folgen bei uns in
die Krise geraten. Es füllt vor allem die Taschen der
Agroindustrie, aber eben keinen Teller in Afrika. Deshalb dürfen wir unser Agrarmodell nicht auch noch nach
Afrika exportieren. Wir müssen stattdessen Kleinbauern
stärken.
({3})
Kleinbauern decken in Afrika bis zu 80 Prozent des
Nahrungsmittelbedarfs. Pro Hektar Land produzieren sie
mehr Nahrung als die industrielle Agrarwirtschaft. Ja,
Afrika kann sich selbst ernähren, aber dafür braucht es
Ernährungssouveränität.
Auch mit den neuen nachhaltigen Entwicklungszielen, den SDGs, muss dies primär verfolgt werden. Statt
aber die SDGs für eine echte Wende zu nutzen, tritt die
Bundesregierung auf die Bremse. Ausgerechnet bei einer der Hauptforderungen der Länder des Südens unterstützt die Bundesregierung diese nicht, nämlich bei dem
Ziel, die Ungleichheit in und zwischen den Staaten zu
verringern. Aber das ist angesichts der Tatsache, dass
1 Prozent der Menschheit so viel besitzt wie die übrigen
99 Prozent zusammen, der wichtigste Punkt. Wir brauchen endlich globale Umverteilung.
({4})
Kommen wir zum Kern des Problems. Über Jahre
hinweg haben die EU und die Bundesregierung die Daumenschrauben bei den Ländern Afrikas immer fester angezogen. Ihr Dogma lautet: Freihandel um jeden Preis.
Was uns mit TTIP droht, erleben die afrikanischen Länder schon seit langer Zeit, und das noch drastischer. Sie
werden und wurden mit aggressivsten Methoden dazu
gezwungen, Freihandelsverträge - aktuell die Wirtschaftspartnerschaftsabkommen, die EPAs - mit der EU
abzuschließen. Wer sich weigert, dem drohen harte Konsequenzen, zum Beispiel, dass er nicht mehr in die EU
exportieren darf.
Lokale Märkte in Afrika werden durch die Freihandelsverträge zerstört, eigene Wertschöpfungsketten verhindert. Afrika bleibt so Rohstofflieferant. Ich weiß, die
Bundesregierung hört leider nicht auf die Linke. Aber
hören Sie doch wenigstens auf den Afrika-Beauftragten
der Kanzlerin, Herrn Nooke, der sagte, man solle nicht ich zitiere … mit den Wirtschaftsverhandlungen kaputtmachen, was man auf der anderen Seite als Entwicklungsministerium versucht aufzubauen.
Recht hat er.
({5})
Die afrikanischen Länder können mit der hochsubventionierten europäischen Agrarwirtschaft nicht mithalten. Das Beispiel des Exports von Hähnchenteilen, die in
Ghana zu Ramschpreisen verschleudert werden und die
dortige Geflügelproduktion zerstört haben, ist bekannt.
Die Handelspolitik darf nicht zerstören, was die Entwicklungspolitik aufbaut. Herr Müller, wenn Sie faire
Handelsbedingungen erreichen wollen, dann stoppen Sie
die EPAs!
({6})
Machen Sie Schluss mit diesem Freihandelswahn! Das
wäre ein echter Schritt zu einer solidarischen Entwicklungszusammenarbeit.
Danke schön.
({7})
Vielen Dank. - Nächste Rednerin ist Michaela
Engelmeier, SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir behandeln heute in der Debatte das Thema der Entwicklungszusammenarbeit mit Afrika. Ich möchte die
Gelegenheit nutzen, einen kleinen Debattenbeitrag zu einem Thema zu leisten, über das wir überhaupt noch
nicht geredet haben. Auch bei mir geht es in erster Linie
um Flüchtlinge - man sagt, ungefähr 60 Millionen Menschen seien weltweit auf der Flucht -, und hier um eine
ganz spezielle, kleine Gruppe: die unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge. Dazu möchte ich Ihnen heute etwas
sagen.
Wir haben gerade in der Debatte viel über Fluchtursachen gehört. Wir haben zur Kenntnis genommen, dass
wir mit stabilen und langfristigen Hilfen für die Herkunftsländer der Flüchtlinge dazu beizutragen müssen,
ein tragfähiges Leben in den Heimatländern zu ermöglichen. Das findet sich in den Afrikapolitischen Leitlinien
der Bundesregierung wieder, die im letzten Jahr verabschiedet wurden. Sie verfolgen einen umfassenden Ansatz, der auch in den G-7-Gesprächen Gehör gefunden
hat.
Wenn wir Fluchtursachen langfristig bekämpfen wollen, werden Fragen der guten Regierungsführung und
des Aufbaus staatlicher Institutionen die Schlüsselherausforderungen der kommenden Jahre sein. Sicher, das
ist wichtig und auch richtig. Ich kann dazu aber nur bemerken: Man sollte das eine tun und das andere nicht
lassen!
({0})
Denn - das muss klar sein - solange es Bürgerkriege,
Gewalt gegen Minderheiten und Religionsgruppen,
Vergewaltigung, Zwangsehe, Genitalverstümmelung,
Ehrenmorde und Zwangsrekrutierung von Kindern als
Soldaten gibt, werden wir Flüchtlinge und auch unbegleitete minderjährige Flüchtlinge haben, die wir mitfühlsam aufnehmen und denen wir helfen müssen.
Viele Kinder, die nicht an den Grenzkontrollen scheitern, landen bei uns, als würden sie ausgesetzt. Im besten
Fall finden sie den Weg zur Erstaufnahmeeinrichtung.
Die Jugendlichen sprechen unsere Sprache nicht, haben
weder Geld noch etwas zu essen. Die meisten kommen
aus Angola, Äthiopien, Eritrea, Gambia, Irak, Iran,
Kamerun, Liberia, Mali, Nigeria, Somalia, Sudan und
Syrien. Sie kommen mit dem Flugzeug, mit der Bahn,
mit dem Bus, mit dem Pkw, mit dem Lkw, mit dem
Schiff und im Zweifel auch zu Fuß nach Deutschland.
Nach der Statistik der Jugendhilfe befinden sich derzeit 18 000 junge Menschen in Obhut. Alle miteinander
haben unterschiedliche, individuelle Schicksale und Erlebnisse der Flucht im Gepäck. Mehr als 80 Prozent sind
Jungen, und das, obwohl besonders Mädchen von speziellen Fluchtgründen betroffen sind. Dazu gehören massive sexualisierte Gewalt, systematische Vergewaltigung
als Kriegswaffe, Zwangsheirat, Arbeitsausbeutung oder
Zwangsprostitution. Daran wird abermals die schlechte
Stellung von Mädchen sichtbar.
Wie sich das Schicksal dieser Kinder bei uns in
Deutschland entwickelt, hängt davon ab, wo sie angekommen sind. In Deutschland müssten sie eigentlich direkt an das örtliche Jugendamt verwiesen werden. Das
ist jedoch nicht immer der Fall. Zu viele müssen immer
noch aufgrund von Personal- und Platzmangel bei der
Jugendhilfe in Flüchtlingsheimen ausharren.
Die Grundlage für eine gute Unterbringung haben
wir: Mit dem Inkrafttreten der UN-Kinderrechtskonvention in Deutschland 1992 sind die Rechte von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen im Artikel zum Kindeswohl verankert worden, und das Kindeswohl hat im
Vordergrund unseres staatlichen Handelns zu stehen.
Den Flüchtlingskindern steht ein ganzer Katalog von
Rechten zu. Da es aber keine eindeutige Rechtsformulierung gibt, hängt das Schicksal der Kinder zu häufig von
willkürlichen Behördenentscheidungen ab.
In unserem Jugendhilferecht gibt es allerdings den
Begriff „unbegleitete minderjährige Flüchtlinge“ nicht.
Vielmehr fallen sie generell unter den Begriff der Minderjährigen ohne Begleitung von Personensorge- oder
Erziehungsberechtigten, werden also nicht als Flüchtlinge gesehen. Nach derzeitigem Recht müssen sie dort
untergebracht werden, wo sie in Deutschland ankommen. Damit sind Großstädte und Verkehrsknotenpunkte
wie Berlin, Hamburg, München, Köln, Düsseldorf, Bremen oder Frankfurt besonders belastet und bezogen auf
ihre Kapazitäten überfordert. Meistens werden die Jugendlichen in Gemeinschaftsunterkünften ohne spezielle
Betreuung untergebracht.
Der Zugang zu Einrichtungen der Jugendhilfe wird
ihnen zum Teil verwehrt - zum einen aus Kostengründen
und zum anderen, weil es nicht ausreichend Plätze in der
Jugendhilfe gibt. Oft fehlen klare Anweisungen an die
Behörden. Nur wenige Mitarbeiter sind für den Umgang
mit Flüchtlingskindern ausgebildet.
Weiterhin fehlt es an verbindlichen und bundeseinheitlichen Standards für die Aufnahme und Unterbringung. Dieser Zustand korrespondiert mit einer angespannten Versorgungssituation in den Kommunen. Bei
der Mehrzahl der minderjährigen Flüchtlinge scheitert
die passende Unterbringung daran, dass es keine gezielt
organisierte Verteilung gibt.
Wenn die Kinder Glück haben, gibt es eine Einrichtung, die soziale, psychologische und rechtliche Beratung anbietet. Um Abhilfe zu schaffen, haben einzelne
Bundesländer im Rahmen der Inobhutnahme ein Clearingverfahren eingerichtet. In diesem Verfahren wird
eine umfassende Klärung vor dem individuellen Hintergrund des Kindes und der Jugendlichen vorgenommen
und anschließend ein Hilfeplan erstellt. Das Clearingverfahren ist somit ein Schlüssel zu passgenauen Hilfen und
zu einer passenden Unterbringung. Nicht jeder braucht
die gleiche Unterstützung. Abhängig vom Alter und den
Problemlagen braucht der eine psychiatrische Hilfe, zum
Beispiel wegen eines Kriegstraumas, der andere vielleicht nur ein Wohnangebot, einen Schul- oder Ausbildungsplatz. Das muss schneller geklärt werden. Je besser
wir diese Jugendlichen in unser Bildungssystem integrieren, desto eher wird es auch möglich, dass sie mit einer guten Perspektive eine Rückkehrmöglichkeit in ihr
Heimatland finden können.
Eine zügigere Klärung von Vormundschafts- und
Pflegschaftsfragen wäre ein weiterer Schritt, um den
Kindern eine gesicherte Zukunftsperspektive zu eröffnen. Um dieses Verfahren zu verstetigen, wurde von
unserer Familienministerin Manuela Schwesig ein
bundesweites Willkommensprogramm für unbegleitete
minderjährige Flüchtlinge auf den Weg gebracht.
({1})
Mit einer gesetzlichen Regelung will das Familienministerium erreichen, dass die unbegleiteten Minderjährigen
nach einem bestimmten Schlüssel über die ganze
Bundesrepublik verteilt werden, um damit eine Überforderung einzelner Kommunen zu verhindern und für die
Kinder eine optimale Unterbringung, Betreuung, Beschulung und Ausbildung in bestehenden Programmen
und Einrichtungen zu erreichen.
All das ist ganz wichtig, sowohl für Flüchtlingskinder
in Deutschland als auch für Kinder in Afrika.
({2})
Vielen Dank. - Als Nächstes spricht die Kollegin
Claudia Roth, Bündnis 90/Die Grünen.
Liebe Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Ich freue mich, Herr Minister Müller, über die
heutige Debatte und über den notwendigen Fokus auf,
wie Sie sagen, unsere Heimat Afrika. Aber ich sage
Ihnen ganz ehrlich: Ich würde mich noch sehr viel mehr
freuen, wenn Ihren Worten, die wir auch heute im Plenum hören durften, eine kohärente Politik der ganzen
Bundesregierung folgen würde.
({0})
Ein Jahr nach der Verabschiedung der Afrikapolitischen Leitlinien, ein Jahr nach Ihrem Afrika-Konzept
frage ich Sie heute: Wo bleibt denn der von Ihnen angekündigte grundlegende Kurswechsel in der Entwicklungspolitik, gerade gegenüber Afrika? Bei den unterschiedlichsten Gelegenheiten haben Sie darauf
hingewiesen. Ich zitiere Sie jetzt. Sie sagten, dass die
Claudia Roth ({1})
G-7-Staaten eine „herausgehobene Verantwortung“ gegenüber den Entwicklungsländern Afrikas haben, da unser Wohlstand auf deren Ressourcen beruht. Sie sagten
auch, dass „viel zu lange … Europa den afrikanischen
Kontinent mit ausgebeutet“ hat und sich deshalb nun
endlich die „Marktverhältnisse“ zwischen Europa und
den afrikanischen Staaten ändern und wir „neu teilen lernen“ müssen.
Lieber Gerd Müller, da kann ich Ihnen nur recht geben und Ihnen zustimmen. Aber wenn das so ist, wie Sie
sagen, dann frage ich mich: Warum passiert dann ganz
praktisch nichts, was genau in die Richtung geht, in die
Sie weisen? Denn würde die Kanzlerin, würde das Kabinett Ihre Worte tatsächlich ernst nehmen, dann müsste
Deutschland und dann müsste auch die Europäische
Union unverzüglich einen wirklichen Politikwechsel
einleiten.
({2})
Deutschland und die EU müssten zum Beispiel ihre
überzogene Marktliberalisierung in der Handelspolitik
gegenüber den afrikanischen Ländern sofort stoppen.
Dafür hätte es eine Chance gegeben. Es hätte die Gelegenheit beim G-7-Gipfel in Elmau gegeben. Auf diesem
Gipfel wäre es möglich gewesen, die Politik gegenüber
den afrikanischen Staaten tatsächlich neu auszurichten,
indem zum Beispiel die Vorfahrt für die Wirtschaft und
für die eigenen Handelsinteressen der G-7-Staaten beendet wird und stattdessen die Voraussetzungen für eine
wirklich nachhaltige Entwicklung, eine Entwicklung, die
für Wohlstand auf dem afrikanischen Kontinent sorgt,
geschaffen werden.
({3})
Aber jetzt einmal ganz im Ernst: Auch Sie müssen zugeben, dass diese Chance komplett vertan worden ist.
({4})
Wenn wir die Gipfelabschlusserklärung lesen - wir
haben sie sehr intensiv gelesen -, dann finden wir viel
Lyrik, aber keine richtungweisenden Entscheidungen der
G 7.
({5})
Gerade im Bereich der Entwicklungspolitik fehlen verbindliche finanziell unterlegte Zusagen. Ich sage: Das ist
überhaupt kein gutes Omen für Addis Abeba.
({6})
Wir alle wissen, dass solch warme Worte auf dem Papier
nichts anderes sind als schöne Rhetorik. Beispiel Hungerbekämpfung: In Elmau wurde die Absichtserklärung
abgegeben, 500 Millionen Menschen bis 2030 aus
Hunger und Mangelernährung zu befreien. Aber es
wurde keine einzige konkrete Verpflichtung oder Maßnahme beschlossen, mit der dieses Ziel auch erreicht
werden kann.
({7})
Stattdessen taucht das seit 45 Jahren unerfüllte Versprechen der Industriestaaten, das 0,7-Prozent-Ziel, nur abgeschwächt und im gleichen Atemzug mit der Förderung
privater Kapitalflüsse, auf.
Nehmen wir die Handelspolitik, die Landwirtschaftspolitik, die Fischereipolitik. Da drückt sich die Bundesregierung doch vor der großen Verantwortung eines
tatsächlichen Politikwechsels gegenüber Afrika.
({8})
Entwicklungszusammenarbeit wird hier immer nur ein
Tropfen auf den heißen Stein bleiben, solange Fischtrawler vor den Küsten Senegals die Meere leerfischen,
solange europäische Agrarsubventionen die lokalen
Märkte Afrikas zerstören, solange Ihr Kollege Christian
Schmidt die Agroindustrie promotet - da nützt es auch
nichts, wenn Sie von grünen Zentren reden - oder solange mit TTIP ein fairer Welthandel verhindert wird.
({9})
Auf TTIP hat sich ja Frau Merkel heute in der Regierungserklärung wieder sehr positiv bezogen. Sagen Sie
mir doch einmal im Ernst: Wie hilft ausgerechnet TTIP
Afrika? Das hilft doch nicht, sondern das schadet in der
Konsequenz.
({10})
Es ist deshalb ein wichtiges und notwendiges Vorhaben - das sage ich, weil ich weiß, dass Ihr Herz wirklich
dafür schlägt -, dass Sie, lieber Gerd Müller, verstärkt
die Fluchtursachen in den Staaten Afrikas angehen
wollen. Aber, mit Verlaub, was ist denn am Montagabend passiert? Sie werden doch sofort von der CSU, Ihrer eigenen Partei, zurückgepfiffen; denn da geht es
nicht um humanitäre Flüchtlingspolitik, sondern eher um
Flüchtlingsabwehr. Also auch hier steht zu befürchten,
dass es bei den hehren Worten bleibt.
Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, die Politik
muss sich ändern, und unsere Interessen hinsichtlich
Afrika müssen sich ändern. Solange der von mir geschätzte Entwicklungsminister in dieser Regierung aber
als Minister mit Zuständigkeit fürs gute Gewissen gesehen wird, während der Rest des Kabinetts etwas ganz anderes macht, wird leider viel zu wenig passieren. Kohärenz sieht zumindest anders aus.
({11})
Vielen Dank. - Nächste Rednerin ist Sibylle Pfeiffer,
CDU/CSU-Fraktion.
Vizepräsidentin Ulla Schmidt
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Für uns Entwicklungspolitiker ist Afrika definitiv der
Hauptarbeitsplatz, und zwar aus sehr vielen Gründen.
Ein Grund ist die geografische Nähe zum europäischen
Kontinent, die wir im Übrigen zurzeit ganz dramatisch
an der Flüchtlingsthematik sehen. Ein weiterer Grund ist
die große Armut, die in einigen Ländern Afrikas
herrscht. Es gibt ziemlich große Baustellen, denen wir
uns noch zuwenden müssen, wie die Einbindung in den
Welthandel, Frau Roth, die Bekämpfung der Korruption
oder auch das Thema „Governance vor Ort“. Das alles
führt dazu, dass wir den Schwerpunkt unserer Entwicklungspolitik natürlich und zu Recht auf Afrika gelegt
haben; das hat der Minister uns ja eben weiß Gott eindrücklich beschrieben.
Nun ist es aber leider so, dass in vielen Medien manchmal auch unter uns - der Eindruck vermittelt
wird, Afrika sei ein komplett verlorener Kontinent: zu
viele Bürgerkriege - jawohl; große Armut - stimmt. Es
findet aber keine Differenzierung statt. Afrika ist ein heterogener Kontinent, genau wie Europa, genau wie
Asien. Ich bin diese Schwarz-Weiß-Malerei, vor allen
Dingen aus der linken Ecke, lieber Niema Movassat, eigentlich leid. Ich verstehe nicht, was euch umtreibt.
({0})
In Deutschland ist alles furchtbar. In Afrika ist alles
furchtbar. Es ist alles furchtbar.
({1})
- Natürlich.
Ich gehe beispielhaft auf einige Punkte ein: das Menschenrecht auf Nahrung. Der Minister hat dazu gerade
sehr ordentlich und differenziert vorgetragen. Zum
Thema „Grüne Zentren“ muss ich sagen: Jawohl, alle
Vorgängerregierungen haben das Thema „Ländliche
Entwicklung“ vernachlässigt. Es gab Zeiten - da waren
wir nicht an der Regierung -, in denen überhaupt nicht
darüber geredet wurde. Aber was der Minister jetzt deutlich gemacht hat, ist: Wir müssen aufholen - natürlich
müssen wir aufholen -, und Ziel muss es sein - natürlich -,
die ländliche Entwicklung zu stärken, Exzellenzinitiativen auf den Weg zu bringen und durch Learning by Doing und durch Ausbildung eine Zukunft für die ländliche
Entwicklung zu schaffen. Wenn das keine gute Idee und
entwicklungsförderlich ist, dann weiß ich es nicht.
Heike Hänsel, wir waren zusammen in Guatemala.
Nirgends kann man besser als dort sehen, wie nachhaltiger Kaffeeanbau praktiziert wird: vom Setzling bis zum
Export nach Europa. Hallo, wenn das keine gute Arbeit
ist!
({2})
Sie ist natürlich noch nicht so nachhaltig, und sie ist
auch noch nicht so ausgebaut, wie es vielleicht notwendig wäre. Aber, liebe Freunde, wie wollen wir die Welt
denn von heute auf morgen ändern? Liebe Claudia Roth,
ihr habt vier Jahre Zeit gehabt, die Politik zu ändern. Ihr
habt gar nichts gemacht; ihr habt es schlechter gemacht.
({3})
Wir sind auf einem guten Weg. Wir machen es richtig.
Ich glaube, wir haben mit unserem Minister Müller jemanden, der die Arbeit genau richtig macht,
Frau Kollegin?
- mit viel Herzblut, viel Energie und ganz viel zusätzlichem Geld. Ich will nur einmal daran erinnern, wer
eine ODA-Quote von 0,7 versprochen hat und wer sie
wann, wo, wie und mit wessen Unterstützung erreicht
hat; das wollen wir doch einmal ganz klar festhalten.
({0})
Es sind nämlich wir, die das jetzt geschafft haben: zusammen mit der SPD
Frau Kollegin Pfeiffer?
- und mit einem Minister, der sich dafür einsetzt und
eine Unterstützung hat, die ihresgleichen sucht, nämlich
die Unterstützung der Frau Bundeskanzlerin.
Frau Kollegin Pfeiffer, ich möchte Ihnen die Gelegenheit geben, einmal Luft zu holen. Der Kollege Movassat
hat gefragt, ob er Ihnen eine Frage stellen kann.
Wenn ich sie jetzt nicht zulasse, dann will er sie hinterher stellen.
({0})
Sie sind damit einverstanden, okay.
Frau Kollegin Pfeiffer, Sie haben völlig recht: Die
Linke ist hartnäckig. - Sie haben gerade einzelne Projekte dargestellt und Maßnahmen vorgestellt, bei denen
es gut läuft und die sicherlich sinnvoll sind. Meine Frage
ist aber: Sehen Sie nicht auch, dass die derzeit betriebene
Freihandelspolitik, namentlich die Wirtschaftspartnerschaftsabkommen, die EPAs, solche Erfolge gefährdet?
Ich habe in meiner Rede ja Herrn Nooke zitiert, der
explizit auf die Gefahren hingewiesen und gesagt hat,
dass die Erfolge, die durch die Entwicklungspolitik erNiema Movassat
zielt wurden, durch die Handelspolitik zunichtegemacht
werden. Sehen Sie nicht auch, dass die Freihandelspolitik, die auch die Bundesregierung bisher unterstützt, entwicklungspolitische Erfolge gefährdet?
Erstens. Das kann ich so nicht sehen, weil wir das
Ganze noch nicht abgeschlossen haben.
Zweitens. Natürlich ist es richtig, ordentlich und gut,
dass es in der Bundesregierung jemanden gibt, der uns
zusätzlich darauf hinweist, wo wir bei der Erarbeitung
der Verträge noch besonders aufpassen müssen.
Sie tun hier aber schon wieder das, was Sie gerne machen; Sie sehen nämlich nur Schwarz oder Weiß.
Freunde, dazwischen gibt es eine ganze Palette von
Grautönen! Diesen Bereich müssen wir uns einmal angucken.
Ich nenne noch mehr Beispiele dafür, an denen deutlich wird, wie gut es in Afrika teilweise läuft:
In Subsahara-Afrika steigt das Pro-Kopf-Einkommen
inzwischen um 3 bis 4 Prozent. Hallo! Zum Vergleich
können wir ja einmal nach Europa gucken.
({0})
Die Müttersterblichkeit ist zwar immer noch zu hoch
und dramatisch, aber sie ist immerhin um 47 Prozent gesunken. Das Glas ist entweder halb voll oder halb leer.
Für mich ist es - ihr kennt mich alle - immer halb voll.
Und in 25 von 39 Ländern in Subsahara-Afrika ist
man mittlerweile so weit, dass bis zu 65 Prozent der Kinder in die Schule gehen. Hallo!
Das alles reicht natürlich nicht; das weiß ich. Es gibt
noch viel zu tun; das weiß ich. Man kann auch noch viel
mehr machen; das weiß ich auch. Man kann aber nicht
einfach nur sagen: Das ist alles Mist, das ist alles Käse,
und wir wollen das nicht.
({1})
Hinzu kommt nämlich, dass Afrika wesentlich besser ist
als sein Ruf. Es gibt viele positive Beispiele dafür, die
ich jetzt nicht alle nennen will.
({2})
Das Wirtschaftswachstum beträgt dort 6 Prozent.
Hallo! Wann haben wir denn in Europa das letzte Mal
von 6 Prozent geträumt?
({3})
- Das hätte ich im nächsten Satz gesagt. - Wir wissen,
dass es dort Korruption gibt - das habe ich am Anfang
meiner Rede schon angeprangert -, und wir wissen auch,
dass es dort Eliten gibt, die nicht funktionieren. Hier
müssen dicke Bretter gebohrt werden. Ich habe gestern
zwölf Kolleginnen aus afrikanischen Parlamenten getroffen. Sie wissen all das auch, und sie arbeiten genau
wie wir daran, das zu ändern - wir von der einen Seite,
sie von der anderen. Liebe Freunde, es ist doch nicht so,
dass wir das alles alleine machen können. Von uns geht
doch nicht die Glückseligkeit aus.
Frau Kollegin Pfeiffer, der Kollege Kekeritz von den
Grünen würde gerne eine Frage stellen.
Ja.
({0})
Immer wenn es um das Wachstum geht, fühle ich
mich angesprochen. - Es ist ja schön, dass das Wachstum dort enorm ist. Ich war von 1988 bis 1990 in Kamerun. Damals hat dort im Prinzip kein Mensch gehungert.
Seitdem hatte Kamerun im Schnitt ein Wachstum von
6 bis 8 Prozent jährlich, und heute müssen wir feststellen, dass in Kamerun 13 Prozent der Menschen hungern.
Es entwickelt sich dort ein kleiner Mittelstand, und es
gibt auch ganz wenige, die extrem reich sind. Wissen
Sie: Wenn ich 1 Million Euro und Sie 100 Euro verdienen, dann müssten Sie nach Ihrer Logik sagen: Euch
zweien geht es doch gut. - Das kann doch wohl nicht
wahr sein.
Was sagen Sie dazu, dass es dort seit Jahrzehnten
Wachstum gibt, während gleichzeitig sehr viele Menschen die katastrophalen Auswirkungen ihrer Armut
spüren? 13 Prozent der Menschen in Kamerun hungern.
Es gibt dort unten jetzt einen enormen Drogenhandel, einen enormen Menschenhandel und einen enormen Waffenhandel. Also, wie ist das zu verstehen?
Jetzt machen wir wieder genau dasselbe wie vorher:
Ich erzähle von den wunderbaren Dingen, die sich in
Afrika entwickeln, und andere erzählen von den Katastrophen.
({0})
Ich habe ja das, was Sie gesagt haben, nicht bestritten.
Schauen wir uns Simbabwe als bestes Beispiel dafür an:
Simbabwe hat lange Zeit aufgrund seiner hervorragenden Landwirtschaft den ganzen Süden von Afrika ernährt. Wie ist die Situation jetzt? Chaos! Warum gibt es
dieses Chaos? Genau aus den von Ihnen genannten
Gründen, vor allen Dingen wegen Korruption. Das ist
doch das Thema. Wir müssen gemeinsam daran arbeiten,
aber wir können die Länder nicht aus der eigenen Verantwortung entlassen. Wir müssen mit ihnen zusammenarbeiten. Wir können das nicht alleine machen. Das ist
doch das Thema.
({1})
- Nein, genau darum geht es.
Liebe Kollegin Roth, ich habe Ihnen ganz genau zugehört. All das, was Sie sagen, ist richtig.
({2})
Aber auch da fehlte mir ein bisschen, dass mehr als nur
Schwarz oder Weiß dargestellt wird. Aber was mir vor
allem fehlt, ist ein konkreter Vorschlag. All das, was Sie
angesprochen haben, kann man machen. Man kann sagen: „Die Situation ist beklagenswert“, „Eigentlich steht
dort etwas anderes“, und: „Der Minister hat dazu dies
gesagt, jemand anderes jenes“. Aber wo ist eine konkrete
Alternative? Wir wären gerne dabei und wären auch bereit, Ihre Vorschläge aufzugreifen.
({3})
Wir machen ja in der Entwicklungspolitik gerne all
das, was Afrika hilft und was dazu führt, dass es Afrika
gut geht. Wenn es Afrika gut geht, dann geht es auch uns
gut und umgekehrt. Machen wir uns doch nichts vor: All
das, was in der großen weiten Welt passiert, tangiert
auch uns, und die Probleme im Rest der Welt sind auch
ganz schnell unsere Probleme.
Wenn es uns gelingt, das, was in Afrika gut läuft, zu
verstärken, zu unterstützen und die Intensität dieser Entwicklung zu verdoppeln und zu verdreifachen, und zwar
mit Unterstützung der einzelnen Länder, dann sehe ich
für Afrika nicht schwarz. Wir werden in diesem Herbst
die MDGs gemeinsam mit den Entwicklungsländern
umsetzen. Dann schauen wir, was dabei herauskommt.
Ich jedenfalls glaube, dass das, was wir machen,
Afrika nach vorne bringen wird. Und da, wo wir unterstützend tätig werden können, wollen wir das gerne tun.
({4})
Vielen Dank. - Jetzt hat Gabi Weber, SPD-Fraktion,
das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Armut, Hunger, Krankheit, Kriege,
Krisen, Flüchtlinge: ein hoffnungsloser Fall - so hat es
sich in unseren Köpfen festgesetzt, das Afrikabild in
Deutschland. Minister Müller unterstrich in der Welt am
Sonntag am 26. April dieses Jahres mit seinem Satz:
„Viel zu lange hat Europa den afrikanischen Kontinent
mit ausgebeutet“, welche Mitverantwortung auch wir in
Europa für diese Verhältnisse tragen. Ist das jedoch
schon das ganze Bild Afrikas?
Stellt man eine Presseschau der letzten zehn Wochen
unter dem Stichwort „Afrika“ zusammen, so stellt man
überrascht fest, dass sich positive und negative Meldungen fast die Waage halten. Da sind die üblichen negativen Schlagzeilen: „Afrika und Terror“, „Verrat an
Afrika“, „Afrika leidet unter seiner Bildungsmisere“ und
- ja, auch das - „Afrika für Blatter“. Aber ich lese auch:
„Demokratie hat in Afrika eine Chance“, „Afrika eröffnet Unternehmern ungeahnte Chancen“. Ich finde, das
ist das Afrika-Bild, welches wir viel stärker betonen
müssen.
({0})
Zunächst aber muss ich in meiner Eigenschaft als
Mitglied der Parlamentariergruppe Östliches Afrika die
aktuelle Situation in Burundi ansprechen. Der Versuch
des amtierenden Präsidenten Nkurunziza, sich eine dritte
Amtszeit zu sichern und faire und freie Wahlen zu behindern, hat dieses Land auf dem Weg zur Demokratie weit
zurückgeworfen: Gewalt gegen Demonstranten, Außerkraftsetzung elementarer Grundrechte, Verfolgung und
das Verschwinden von Oppositionellen, ein Umsturzversuch, destabilisierende Flüchtlingsströme von rund
100 000 Menschen in die Nachbarländer Kongo, Ruanda
und Tansania.
Ich begrüße in diesem Zusammenhang ausdrücklich
die Entscheidung des Bundesentwicklungsministers, die
Zusammenarbeit mit Burundi auf Regierungsebene einzustellen. Schwere Menschenrechtsverletzungen dürfen
nicht unbeantwortet bleiben.
({1})
Zugleich ist es aber wichtig, dass Entwicklungsmaßnahmen auf lokaler Ebene zusammen mit NGOs fortgesetzt
werden. Auch die Signale eines stärkeren Engagements
der Afrikanischen Union in Burundi sind zu begrüßen.
Die Situation in Burundi darf nicht außer Kontrolle geraten. Ein Übergreifen auf die Nachbarländer birgt die
ernste Gefahr eines gewaltsamen Konfliktes mit all seinen unkalkulierbaren Folgen.
({2})
Das können und dürfen wir nicht verantworten.
({3})
Kolleginnen und Kollegen, ich möchte aber nicht mit
diesem Negativbeispiel enden. Wie eingangs erwähnt,
ist Afrika ein Kontinent der Chancen, und zwar nicht nur
für die westliche Wirtschaft. Nein, er ist es gerade auch
für die junge Generation des Kontinents. In Afrika leben
mehr als 1,1 Milliarden Menschen. Bis 2050 werden es
rund 2,4 Milliarden sein, die Hälfte davon - eigentlich
unvorstellbar - unter 25 Jahren. Die Menschen sind dort,
wo die Staaten funktionieren, durchaus gut ausgebildet,
haben einen starken Aufstiegswillen und vor allen Dingen auch einen demokratischen Gestaltungswillen.
Wie muss also eine Entwicklungszusammenarbeit
aussehen, die den rasanten demografischen und politischen Veränderungen Rechnung trägt? Bildung ist ein
großer Schlüssel, den wir dafür brauchen, und zwar vor
allem elementare Bildung, und dies ganz besonders für
Frauen und Mädchen.
({4})
Notwendig ist auch die rechtliche, soziale und ökonomische Stärkung von Frauen; denn sie sind der Entwicklungsmotor in Afrika und anderswo.
({5})
Wir brauchen fairen Handel, der Afrikas Wirtschaft einen gleichberechtigten Zugang zum Weltmarkt ermöglicht, gerade auch in Europa. Wir müssen afrikanische
Länder beim Aufbau effektiver Steuersysteme und bei
der Korruptionsbekämpfung unterstützen. Wir brauchen
den Aufbau guter öffentlicher Daseinsvorsorge, die Dezentralisierung von politischen Entscheidungen und
- auch das ist wichtig - Unterstützung bei der Anpassung an den Klimawandel. Denn er trifft die ärmsten
Weltregionen am stärksten.
({6})
Mit Geld allein ist es aber unsererseits nicht getan.
Wissenstransfer und zivilgesellschaftlicher Austausch
sind ebenso wichtig. Es geht aber auch nicht ohne Geld.
Im Übrigen bin ich daher der Meinung, dass die deutsche ODA-Quote zügig und mit klar messbaren Zwischenschritten in Richtung 0,7 Prozent steigen muss,
({7})
und zwar durch frisches Geld, nicht durch Umetikettierung von Klimamitteln oder das reine Hoffen auf private
Investitionen.
({8})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Afrika kann und
will seine Probleme selbst lösen. Wo es noch die alten
Kräfte gibt, die den Staat als Bereicherungsinstrument
für eine kleine Elite sehen, muss unsere Entwicklungszusammenarbeit jenen den Rücken stärken, die sich für
Demokratie, Pluralismus und eine gerechte Wirtschaft
einsetzen. Entwicklungszusammenarbeit ist nicht die
einfache und kurzfristige Antwort auf die aktuellen
Flüchtlingsströme. Aber sie ist das beste Mittel, den
Menschen vor Ort zu helfen, die ihr Können für den eigenen Wohlstand und den Aufbau ihrer Gesellschaften
nutzen wollen. Bei dieser Entwicklung wollen wir ihnen
helfen und sie unterstützen.
Danke.
({9})
Vielen Dank. - Mit diesem Beitrag ist die Aussprache
beendet.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Kai
Gehring, Ekin Deligöz, Christian Kühn ({0}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
In die Zukunft investieren - Ein Wissenschaftswunder initiieren
Drucksache 18/5207
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({1})
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Die Aussprache eröffnet Kai Gehring, Bündnis 90/
Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr geehrte Damen und Herren! Vor knapp einem Jahr
hat Ministerin Wanka ihr neues Domizil bezogen, den
Neubau des Bundesministeriums für Bildung und Forschung.
({0})
Darin ist alles vom Feinsten: Büros mit Tageslicht, barrierefrei, inklusiv, kreative Sitzecken. Ausgezeichnet
wurde das Gebäude mit dem Goldstandard für nachhaltiges Bauen. Es ist quasi CO2-neutral, durch und durch ein
grünes Haus. Chapeau dazu!
({1})
Ganz anders hingegen sieht es vielerorts an Universitäten und Fachhochschulen aus: Die Bauten bröckeln.
Die Ausstattung ist veraltet. Hörsäle sind überfüllt. Es
regnet hinein. - Jahrelange Unterfinanzierung hat zu
Substanzverlust geführt. Bröckelnde Unis sind ein Trauerspiel und bedeuten eine schleichende Verschuldung
zulasten künftiger Studierender und Forscher. Dazu
kommt: Die meisten Nachwuchswissenschaftlerinnen
und -wissenschaftler hangeln sich von Zeitvertrag zu
Zeitvertrag. Beides wollen wir ändern.
({2})
Wir legen heute ein grünes Investitionsprogramm für
den Wissenschaftsstandort Deutschland vor, für kreative
Köpfe und innovative Räume; denn sie sind zentrale
Quellen für künftigen Wohlstand. Höhere Investitionen
können ein Wissenschaftswunder initiieren, das unserem
Land mehr Fantasie, Vielfalt und Fortschritt bringt. Wir
laden Sie von der Koalition und Sie von den Linken ein,
mitzumachen.
Unser Investitionsprogramm ist umso wichtiger für
Sie von der Koalition, als Ihre Ministerin Wanka bisher
keine einzige eigene Idee entwickelt hat. Es reicht nicht,
bloß das Erbe der Wissenschaftspakte von Frau
Bulmahn und Frau Schavan zu verwalten, genauso wenig wie folgenlose halbherzige Verfassungsänderungen.
Wer sich auf Erreichtem ausruht, raubt Studierenden und
Wissenschaftlern Chancen und riskiert die Zukunftsfähigkeit unseres Wissenschaftssystems.
({3})
Wir helfen der Wissenschaft und einer ideenlosen Ministerin auf die Sprünge.
Vier Punkte sind besonders wichtig:
Erstens. Für Hochschulbau und Forschungsgeräte gibt
der Bund bis Ende 2019 jährlich 1 Milliarde Euro. Bröckelnde Bauten zeigen, dass dringend deutlich mehr investiert werden muss. Die Länder haben erkannt, dass
der Wegfall der Gemeinschaftsaufgabe „Hochschulbau“
durch die Föderalismusreform 2006 ein schwerer Fehler
war, gerade angesichts unterschiedlicher Haushaltslagen
in den Ländern und der Schuldenbremse. Wir fordern
daher kurzfristig ein Modernisierungsprogramm für die
Infrastruktur des Wissens.
({4})
Bis 2020 sollen Bauten und Ausstattung wieder auf
der Höhe der Zeit sein. Von den Hörsälen bis zu den Bibliotheken, von der digitalen Informationsinfrastruktur
über Forschungsgeräte bis hin zu den Wohnheimplätzen,
überall herrscht Mangel. Um diesen zu beseitigen, wollen wir jährlich mindestens 2 Milliarden Euro zusätzlich
in die Hand nehmen. Das brächte einen Schub.
({5})
Zweitens müssen wir eine dauerhafte Lösung für die
Infrastruktur des Wissens finden. Wir müssen weitere
Lücken schließen, zum Beispiel bei Forschungsinfrastrukturen, deren Bedarfe zwischen 5 Millionen und
50 Millionen Euro liegen. Trotz Bedarf gibt es hierfür
kein Programm. Darauf hat unter anderem die DFG
mehrfach hingewiesen.
An die Hochschulbauinfrastruktur stellen wir übrigens besondere qualitative Ansprüche. Es ist von einer
Lebensdauer von rund 50 Jahren auszugehen. Daher ist
der tagesaktuell billigste Bau nicht der beste.
({6})
Vielmehr müssen die Stätten der Wissenschaft Referenzbauten für Klimaneutralität, Ökologie und Nachhaltigkeit sein. Es bedarf herausragender Forschungs- und
Lehrgebäude. Solche Gebäude dürfen keine Energieverschwender sein.
Wir brauchen eine Diskussion über Bedarfe und Anforderungen an die Infrastruktur des Wissens dringend;
das fordert auch der Wissenschaftsrat. Der Bund darf
sich dieser Debatte nicht verweigern.
({7})
Drittens muss endlich etwas für den wissenschaftlichen Nachwuchs getan werden. Ein Schritt ist die überfällige Novelle zum Wissenschaftszeitvertragsgesetz.
Wir Grüne und die Linksfraktion haben die Nase voll
von Ihrer Verschleppungstaktik in der Koalition.
Deshalb haben wir gemeinsam für den 29. Juni eine Anhörung des Forschungsausschusses im Bundestag durchgesetzt. Die Debatte muss raus aus den Hinterzimmern
und hinein in Parlament und Öffentlichkeit.
({8})
Unsere grüne Novelle - auch Sie wissen das - liegt seit
einem Jahr vor und kann von Ihnen noch vor der Sommerpause beschlossen werden. Sie von der Koalition
müssen es nur wollen.
Das alleine aber reicht nicht. Deshalb schlagen wir
Grüne einen weiteren Schritt vor. Ab 2016 soll ein
Bund-Länder-Programm für 10 000 zusätzliche Nachwuchsstellen mit Langfristperspektive - vom Mittelbau
bis zur Tenure-Track-Professur - sorgen.
({9})
Denn wir wollen Perspektiven, verlässliche Verträge und
klare Karrierewege in der Wissenschaft schaffen. Alles
andere ist fahrlässig für den Wissenschaftsstandort.
({10})
Ein Wissenschaftswunder braucht auch privates
Engagement. Deshalb wollen wir viertens kleine und
mittlere Unternehmen bei Forschung und Entwicklung
unterstützen, und zwar durch eine steuerliche Forschungsförderung. Diese Unternehmen sollen eine
Steuergutschrift für all das bekommen, was sie für Forschung und Entwicklung ausgegeben haben.
({11})
Es ist höchste Zeit für eine solche steuerliche Forschungsförderung zugunsten von KMUs.
All diese Vorschläge bringen unser Innovationssystem und damit unsere Gesellschaft voran und machen
aus Universitäten, Fachhochschulen und Unternehmen
noch attraktivere Denk- und Kreativräume; denn nicht
nur Frau Wanka, sondern auch andere haben Goldstandard verdient.
Unsere Initialzündung für ein Wissenschaftswunder
kann der Koalition helfen, falsche Prioritätensetzungen
zu korrigieren, zum Beispiel das 10-Milliarden-EuroSchäuble-Investitionsprogramm. Es ist echt erschreckend, welch antiquiertes und verstaubtes Investitionsverständnis dem zugrunde liegt. Keinen einzigen müden
Cent gibt es darin für Bildung und Wissenschaft.
Falscher geht es nicht. Genau in diesen Bereichen wird
Zukunft vorbereitet und werden Chancen ermöglicht.
({12})
Herr Kollege, Sie denken doch an die Zeit?
Ein Wissenschaftswunder ist keine Hexerei, sondern
das kann erarbeitet werden. Machen Sie mit, es zu initiieren, für sichere Karrierewege in der Wissenschaft, für
moderne und ökologische Infrastrukturen des Wissens,
für mehr Forschung durch kleine und mittlere UnternehKai Gehring
men. Darum muss es jetzt gehen. Dazu haben wir einen
konzeptionellen Aufschlag gemacht. Jetzt sind Sie dran.
({0})
Vielen Dank. - Nächste Rednerin ist Cemile
Giousouf, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen,
insbesondere der Grünen-Opposition! Sie wollen mit Ihrem Antrag ein regelrechtes Wissenschaftswunder entfachen.
({0})
Nun tut sich die Wissenschaft mit Wundern im Allgemeinen schwer. Schon im Begriff „Wunder“ steckt der
Anspruch, Naturgesetze außer Kraft setzen zu wollen. Es
ist aber doch sehr bezeichnend, dass die Opposition sich
schon ins Irrationale flüchten muss, um die erfolgreichste Bildungspolitik der letzten zehn Jahre überhaupt
toppen zu können. Ein schöneres Kompliment hätten Sie
unserer Bildungspolitik gar nicht machen können.
({1})
Ich habe mich über den Antrag aber auch gefreut,
weil die in ihm enthaltenen Forderungen gar nicht so
schrecklich weit weg von denen der Union sind.
({2})
Mit Verlaub, lieber Herr Gehring: Fast bin ich geneigt, in
Ihrem Antrag einen etwas hölzernen, unbeholfenen,
dadurch aber umso liebenswerteren Flirtversuch der
Grünen mit der Union zu lesen.
({3})
Zumindest haben wir alle schon miesepetrigere Anträge
von den Grünen gesehen. Wir von der Union sind weiß
Gott auch keine schlechte Partie.
Über 60 Milliarden Euro hat der Bund seit 2010 für
Bildung und Forschung ausgegeben. Unsere Forschung
ist Weltspitze. Unsere Hochschulen sind attraktiv für nationale und internationale Studierende. Das kann sich
wirklich sehen lassen.
Im Übrigen können die Grünen ihren Wünsch-dirwas-Rundumschlag nur deswegen halbwegs seriös vorbringen, weil die finanzielle Ausgangslage des Bundes
so gut ist wie seit Ewigkeiten nicht mehr.
({4})
Als Sie noch regierten, war noch alles auf Kante genäht.
Das hat aber auch einen einfachen Grund. Bei der Union
wird eben nicht nur auf die Einnahmeseite geschaut,
sondern auch auf die Ausgabenseite. Dabei gilt der Satz:
Eine gute Bildungspolitik basiert auf einem soliden
Haushalt. Sparen ist fast immer vernünftig, wobei Zukunftsinvestitionen trotzdem oberste Priorität haben.
Seit 2005 investieren wir in die frühkindliche Bildung, in berufliche Bildung, in Stipendien und in die
Stärkung von Forschung und Lehre an den Hochschulen
sowie in die Hochtechnologie. Aber wir sparen nicht um
jeden Preis. Sparen ist für uns kein Selbstzweck. Wir
sparen für gute Ziele und Werte. Eine stabile Konjunktur
mit entsprechend guten Steuereinnahmen und niedriger
Arbeitslosigkeit bringt in der Tat neue finanzielle Spielräume. Diese werden wir auch nutzen.
In den kommenden vier Jahren werden wir weitere
9 Milliarden Euro zusätzlich in gute Bildung und Forschung investieren.
({5})
So fördern wir neue Ideen, ermöglichen attraktive Jobs
und sichern unseren Wohlstand. Das tun wir, ohne auf
diese Wunder zu hoffen, lieber Herr Gehring.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, nun stellen wir uns
einmal vor, die Opposition würde die Regierungsverantwortung tragen. Was würde sie mit dem Geld machen?
Der vorliegende Antrag beantwortet uns einige dieser
Fragen. Die Grünen möchten den Bildungs- und Forschungsetat um mindestens 2,5 Milliarden Euro erhöhen.
Das klingt erst einmal ziemlich gut. Aber schauen wir
uns doch einmal Ihre Regierungspraxis an.
({6})
In Ihrer Regierungszeit haben Sie den BMBF-Haushalt
um gerade einmal 1,2 Milliarden Euro erhöht - um
1,2 Milliarden Euro in sieben Jahren. An dieser Stelle
wird sehr deutlich, wie bei Ihnen Taten und Worte auseinanderklaffen.
({7})
Schauen wir uns die Punkte Ihres Antrags der Reihe
nach in Ruhe einmal an. Am Anfang fordern Sie ein
- ich zitiere - „Modernisierungsprogramm für moderne
Infrastrukturen des Wissens“. Ein Antrag ist nicht automatisch dadurch innovativ, dass der Begriff „modern“
häufig vorkommt.
({8})
Doch etwas anderes ist an dieser Stelle wichtig: Die Länder sind und bleiben auch nach Inkrafttreten der Änderungen von Artikel 91 b des Grundgesetzes für die
Grundfinanzierung ihrer Hochschulen zuständig. Bei
dieser Aufgabe werden sie vom Bund bereits in erheblichem Umfang unterstützt. Allein durch die vollständige
Übernahme der BAföG-Kosten durch den Bund werden
die Länder jedes Jahr um 1,2 Milliarden Euro entlastet,
({9})
die sie gemäß der politischen Vereinbarung insbesondere
für Hochschulen einsetzen sollen.
({10})
- Nein, diese Mittel sind eben für die Hochschulen vorgesehen gewesen, Herr Gehring.
({11})
Weitere neue Spielräume bei den Ländern entstehen,
weil der Bund von 2016 an im Rahmen des Paktes für
Forschung und Innovation III den jährlichen Aufwuchs
in den Haushalten der außeruniversitären Forschungseinrichtungen allein tragen wird. Die Länder bekommen
also langfristig Geld. Diese erheblichen zusätzlichen
Mittel müssen aber auch in die Hochschulen investiert
werden.
({12})
Investieren Sie doch bitte dort, wo Sie Regierungsverantwortung haben.
({13})
Die Modernisierung gönne ich Ihnen von Herzen, sofern
sie bei den Studierenden auch ankommt.
Gleiches gilt für die - Zitat - „energetisch-klimaneutralen Referenzbauten“, die Sie laut Ihrem Antrag errichten möchten. Diese sollen zudem den - ich zitiere - „ästhetischen Ansprüchen“ gerecht werden. Damit keine
Missverständnisse entstehen: Auch ich bin Fan von
schöner Architektur.
({14})
Bevor Sie sich aber in der Baukunst vollenden, Herr
Gehring, sollten Sie einmal einen kurzen Blick auf die
Schultoiletten des Landes Nordrhein-Westfalen werfen.
Da lernen Sie Demut.
({15})
Lassen Sie die Kommunen mit ihren Nothaushalten
nicht allein. Sie können bei dieser Gelegenheit die
Ministerpräsidentin gleich mitnehmen. Immerhin hat ja
selbst SPD-Chef Gabriel gesagt: Die Genossen sollten
dahin gehen, wo es brodelt, stinkt und riecht.
({16})
Sie sehen, liebe Kolleginnen und Kollegen, Politik
beginnt für uns mit der Betrachtung der Realität. Eine
von der Koalition bereits konkret geplante und im Koalitionsvertrag vereinbarte Novelle des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes soll Teil eines noch in Abstimmung befindlichen Gesamtpaketes werden. Da müssen Sie sich
noch etwas gedulden. Dafür wird dies - das kann ich Ihnen schon verraten - aber ein großer Wurf werden, ein
großer Wurf deshalb, weil wir die gesamte Situation des
wissenschaftlichen Nachwuchses im Blick haben. Wir
haben eben keine partielle Wahrnehmung. Zum Gesamtpaket gehört vor allem die von Bundesministerin
Johanna Wanka angekündigte gemeinsame Initiative von
Bund und Ländern, neue Karrierewege für den wissenschaftlichen Nachwuchs zu fördern, insbesondere durch
die Förderung von Tenure-Track-Stellen.
Wenn wir im internationalen Wettbewerb um die
besten Köpfe bestehen wollen, müssen wir jungen
Menschen in unserem Wissenschaftssystem verlässliche
Karriereperspektiven bieten. Auch die Länder müssen
dabei klare Zusagen für die Erhaltung und Schaffung
einer bestimmten Zahl von dauerhaften Professuren geben. Nur dann lässt sich eine systematische und nachhaltige Wirkung des Programms erzielen. Über den Bundesrat sind ja auch die Grünen in diese Verhandlungen
involviert.
Zum Schluss komme ich zu Ihrer Forderung nach
Einführung einer steuerlichen Forschungsförderung in
Form einer Steuergutschrift für KMUs. Diese wird zwar
schon diskutiert, steht aber zumindest in dieser Legislatur nicht auf der Tagesordnung. Es gibt auch keine entsprechende Vereinbarung hierzu im Koalitionsvertrag.
Ich finde diese Forderung aber sinnvoll und empfehle
meiner Fraktion, diese nicht ad acta zu legen, auch für
den Fall, dass aus dem zaghaften Flirt doch einmal ernst
werden sollte.
({17})
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({18})
Vielen Dank. - Als Nächster hat Ralph Lenkert, Fraktion Die Linke, das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Geehrte Kolleginnen
und Kollegen! Frau Giousouf, was ich hier alles dazu
höre, für was alles wir die BAföG-Milliarden verwenden
könnten: Kindergärten, Schulsozialarbeiter
({0})
- Ihre Ministerin sprach hier von „Schulsozialarbeitern“ -,
Hochschulen, feste Wissenschaftsstellen. Wenn ich die
Mittel für all das zusammenrechne, bleibt für keine einzelne Aufgabe irgendetwas Vernünftiges übrig. Investitionen in die Infrastruktur sind dringend notwendig.
Wenn Sie das nicht begreifen, dann sollten Sie einmal
die Grundrechenarten wiederholen.
({1})
Überfüllte Hörsäle, veraltete Technik, marode Gebäude und fehlende Ausstattungen, das ist Alltag an unseren Hochschulen. Die falsche Weichenstellung bei der
Föderalismusreform II, die das Kooperationsverbot festschrieb, ist eine Ursache dafür. Dafür bezahlen müssen
Studentinnen und Studenten, wissenschaftliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sowie Lehrkräfte, und zwar
mit unzureichenden Lern- und Arbeitsbedingungen. Das
ist und war kein zukunftsweisender Zustand.
({2})
Es fehlt an Geld, auch für dringende Reparaturen. Bei
untersuchten 71 Universitäten wurde ein Investitionsstau
von 3 Milliarden Euro allein im Zeitraum von 2008 bis
2012 festgestellt. Die Hochschulen leben von ihrer Substanz, auch die Friedrich-Schiller-Universität Jena.
({3})
Das können wir im Bundestag gemeinsam mit den Bundesländern ändern.
Der Grundgesetzartikel 91 b in der neuen Fassung erlaubt seit Januar die gemeinsame Hochschulfinanzierung
durch Bund und Länder. Warum treffen wir als Bundestag mit den Ländern nicht eine erste Vereinbarung?
({4})
Sie könnte vorsehen: Ihr Länder erhaltet zusätzliche Investitionsmittel für Gebäudesanierung an Hochschulen,
für neue Labore und bessere Technik, aber nur, wenn
dieses Geld zusätzlich zu den von Bund und Ländern
bisher geplanten Mitteln eingesetzt wird. - Unser linker
Ministerpräsident in Thüringen, Bodo Ramelow, und die
rot-rot-grüne Regierung würden dabei sein.
({5})
Die Hochschulpakte, Exzellenzinitiativen und Drittmittelvorgaben sollten über Wettbewerb Höchstleistungen bewirken. Verschiedene Studien und eigene Recherchen besagen: Wenn die Bezahlung zu mehr als
10 Prozent von der Einhaltung spezieller Kriterien abhängig gemacht wird, dann findet eine einseitige Optimierung auf diese Kriterien statt. Wird ein Professor nur
nach Drittmitteleinwerbung beurteilt, dann wirbt er ein,
auf Teufel komm raus; seine Lehrtätigkeit kommt zu
kurz; Studenten leiden.
({6})
Dabei sind circa 80 Prozent der Drittmittel Gelder von
Bund und Ländern. Geben wir den Universitäten mehr
Geld für die Lehre, und einigen wir uns mit den Ländern! Ersetzen wir Hochschulpakte und Exzellenzinitiativen durch eine höhere und ausreichende Grundfinanzierung für alle Hochschulen!
({7})
Wie viel wissenschaftliche Kreativität bleibt einer Wissenschaftlerin, die permanent Bewerbungen oder Projektanträge schreibt, damit ihr Vertrag wieder um sechs Monate verlängert wird? Wenig, liebe Kolleginnen und
Kollegen von Union und SPD! Ich habe null Verständnis
für Ihre Verzögerungstaktik bei der Verbesserung des
Wissenschaftszeitvertragsgesetzes.
({8})
80 Prozent des hauptamtlichen wissenschaftlichen
Personals an Hochschulen ist nur befristet eingestellt.
Davon wird die Hälfte kürzer als ein Jahr beschäftigt.
Eine Bekannte hat zwölf Arbeitsverträge in acht Jahren
im selben Institut, beim gleichen Professor. Dass Professoren begnadete Wissenschaftler sind, ist unbestritten,
aber zumindest diesem Professor fehlt es an Sozialkompetenz, und da braucht es Hilfe.
({9})
An etlichen außeruniversitären Forschungseinrichtungen ist es nicht viel besser. 2012 waren fast 60 Prozent
der wissenschaftlichen Beschäftigten befristet angestellt,
und fast die Hälfte hatte Arbeitsverträge mit einer Dauer
von unter einem Jahr.
Wir fordern: Schluss mit Ketten- und sachgrundlosen
Befristungen!
({10})
Projektbefristungen entsprechend der Projektdauer, aber
mindestens zwei Jahre Dauer!
({11})
Ausnahmen von der Mindestdauer nur bei Zustimmung
des Betriebsrates oder Personalrates und nur im Interesse
der Betroffenen!
({12})
Mindestens drei Jahre für die Qualifikationsphase für
Doktorandinnen und Doktoranden mit Option der Verlängerung auf sechs Jahre! Und: Die Qualifikation wird
garantierter Bestandteil der Arbeitszeit.
Machen wir einen dritten Deal mit Ländern und Forschungseinrichtungen für zusätzliche Dauerstellen an
Hochschulen in Forschung und Lehre und Pädagogenausbildung, für die Unterstützung durch den Bund bei
einem Tenure-Track-Programm - das sind persönliche
Wissenschaftskarrierewege - und zusätzliche Dauerstellen in wissenschaftlicher Forschung! Aber dafür muss
die Frauenquote deutlich steigen und die Lehre einen höheren Stellenwert erhalten.
({13})
Die Linke bietet Ihnen im Interesse von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, Studierenden und
Beschäftigten im Wissenschaftsbereich Zusammenarbeit
an. Machen Sie endlich auch mit!
({14})
Vielen Dank. - Für die SPD-Fraktion spricht jetzt
Dr. Simone Raatz.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Zunächst: Es ist gut, dass wir hier im Plenum innerhalb eines Jahres mehrfach zu dem wichtigen Thema „Gute Arbeit in der Wissenschaft“ sprechen, dank Ihrer Fraktion,
Herr Gehring, und auch dank Ihrer Fraktion, Herr
Lenkert.
Es ist, denke ich, gut, dass wir uns alle, wie wir hier
sitzen, einig sind, dass etwas in unserem Wissenschaftssystem aus dem Lot geraten ist und dass wir es korrigieren wollen. Darin sind wir uns hier einig, und das ist gut.
Aber - das muss ich auch sagen - es ist schade, liebe
Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, dass Sie
nicht deutlich mehr aus dem Thema Wissenschaftswunder gemacht haben; denn das Thema ist ja wirklich vielversprechend. Aber als ich dann in den Antrag geschaut
habe, habe ich gedacht: Oje, der ist doch mit heißer Nadel gestrickt, wenig kreativ, und außer dem Titel - da
muss ich sagen: ja, darüber denkt man noch einmal
nach - findet man eigentlich Althergebrachtes.
Sie haben hier jetzt noch einmal ausgeführt, dass es
bröckelnde Bauten gibt. Nun weiß ich nicht, wo Sie sich
überall hinbewegen und nachschauen. Ich denke, das ist
ein bisschen übertrieben. Da, wo ich war - in Hochschulen, Universitäten und außeruniversitären Forschungseinrichtungen -, kann man doch sehen, dass viel gebaut
wurde, viel getan wurde, auch wenn es vielleicht an
manchen Stellen noch ein bisschen bröckelt. Aber ich
denke, auch das kriegen wir noch hin.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, eins ist uns, denke
ich, klar - dabei sollte es auch bleiben; meine CDU-Kollegin, Frau Giousouf, ist auch schon ein wenig darauf
eingegangen -: Für Wunder ist der Vatikan zuständig,
({1})
für die Realpolitik sollten wir zuständig sein. So ist bereits vieles von dem, was Sie in Ihrem Antrag formuliert
haben, auf den Weg gebracht. Wir als Koalition haben
- das nur noch einmal zur Erinnerung - 2014 die Fortsetzung des Hochschulpakts beschlossen.
({2})
Wir haben die Verlängerung des Paktes für Forschung
und Innovation erreicht.
({3})
Wir haben als Koalitionsfraktionen - das möchte ich hier
auch noch einmal erwähnen; ich denke, man sollte das
immer wieder betonen - die hundertprozentige Übernahme der BAföG-Kosten durch den Bund ermöglicht.
({4})
Natürlich haben wir damit auch finanzielle Spielräume
in den Ländern geschaffen.
Ja, wir werden auch das Wissenschaftszeitvertragsgesetz zum 1. Januar 2016 novellieren, so wie wir es gesagt haben. Da sind wir uns in der Koalition einig. Auch
wenn es manchmal nicht so zu sein scheint: Wir kriegen
das gemeinsam hin. Wenn Sie hier von einer Verzögerungstaktik sprechen, muss ich sagen: Die praktizieren
wir nicht. Wir haben gesagt: Zum 1. Januar 2016 wird
dieses Gesetz novelliert. - Ich denke, da sind wir gemeinsam auf einem guten Weg.
({5})
Außerdem werden wir als Koalitionsfraktion ab 2017
1 Milliarde Euro zusätzlich für einen vierten Pakt bereitstellen. In einer der letzten Debatten haben wir uns
schon darauf verständigt. Die geschäftsführenden Fraktionsvorstände von SPD und CDU/CSU befürworten,
dass diese Mittel bereitgestellt werden. Jetzt geht es um
die inhaltliche Ausgestaltung des Paktes für den wissenschaftlichen Nachwuchs und akademischen Mittelbau.
Natürlich können Sie sich gerne mit Ihren Ideen und
Hinweisen in den Gestaltungsprozess einbringen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, insbesondere von
der Fraktion der Grünen, ich denke, ich habe deutlich
machen können, was Realpolitik bedeutet. Einige Projekte habe ich genannt. Was ich aber nicht unter Realpolitik verstehe, ist die willkürliche Forderung nach
10 000 zusätzlichen Nachwuchsstellen. Vorhin kam
schon einmal der Zwischenruf: Warum 10 000? - Wie
kommen Sie auf diese Zahl? Vielleicht bekommen wir
heute in der Debatte noch eine Antwort.
Auch wir sind der Meinung: Ja, wir brauchen mehr
Stellen im System.
({6})
Weil Sie gerade ein bisschen schimpfen: Im Endeffekt
müssen wir natürlich auch auf die Situation der Länder
schauen und auf das, was da passiert. Nicht, dass wir das
alles toll finden. Aber man muss natürlich auch sagen:
Wir haben eine reellere Zahl ins Gespräch gebracht,
({7})
nämlich 1 500 zusätzliche Juniorprofessuren mit TenureTrack-Option. Ihre Forderung nach 10 000 zusätzlichen
Stellen löst weder bestehende Probleme noch kann oder
will das irgendein Bundesland finanzieren. Da müssen
wir einmal genau hinschauen.
({8})
Alleine schon das, was wir auf den Weg gebracht haben,
führt nicht in jedem Falle bei allen Länderministern zu
Freude. Auch da müssen wir schauen, wen wir da mitnehmen. Ich bin auch gespannt, ob Ihre Wissenschaftsministerin, Frau Theresia Bauer, sagt: Toll, diese Mittel
stelle ich zur Verfügung.
({9})
Denn einen gewissen Anteil bei Bund-Länder-Programmen müssen eben auch die Länder leisten.
({10})
Deswegen: Statt dieser Wunderpolitik hätten Sie sich,
liebe Kolleginnen und Kollegen von Bündnis 90/Die
Grünen, besser Gedanken dazu machen sollen, was wir
ohne Mittel oder ohne viel Geld im System ändern können. Das ist einiges. Ich bin nämlich der Auffassung,
dass sich an erster Stelle etwas in den Köpfen der Präsidenten unserer außeruniversitären Forschungseinrichtungen sowie der Kanzlerinnen und Kanzler unserer
Hochschulen ändern muss.
({11})
Das muss sich ändern, ohne dass da gleich wieder Geld
fließt.
Sie - die Kanzler und auch die Präsidenten - sollten
ihre Einrichtungen nicht nur als Ort für Forschung und
Lehre begreifen, sondern sich eben endlich auch als gute
Arbeitgeber verstehen. Ich denke, darauf kommt es an:
Arbeitgeber, die ihren Mitarbeitern planbarere und verlässlichere Karriereperspektiven bieten.
Wir hatten den Nobelpreisträger für Chemie zu Gast
im Ausschuss. Das, was er dort deutlich machte, sehe ich
auch so. Zu kurze Vertragslaufzeiten reduzieren die Risikobereitschaft von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, Themen abseits vom Mainstream anzugehen.
Darunter leidet ganz erheblich die Qualität von wissenschaftlicher Arbeit, Innovationen bleiben aus - wir beklagen das zunehmend - und gut ausgebildete Fachkräfte verlassen unser Land. Ich denke, hier wollen wir
gemeinsam gegensteuern.
({12})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, an zweiter Stelle
stehen für uns Personalentwicklungskonzepte. Lassen
Sie uns uns gemeinsam dafür einsetzen, dass Personalentwicklungskonzepte zur Regel im deutschen Wissenschaftssystem werden. Eine wie von der Europäischen
Charta für Forscher vorgeschlagene Laufbahnentwicklungsstrategie sollte zukünftig auch an unseren Einrichtungen Standard sein. Dazu gehören unter anderem die
Formulierung von Lern- und Berufszielen, aber auch allgemeine Beratungsgespräche.
Personalentwicklung bedeutet aber auch, unseren
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern rechtzeitig
ein Signal zu geben, wenn man deren Zukunft nicht an
der Hochschule oder einem Forschungsinstitut sieht. Es
geht darum, die Forscherinnen und Forscher in ihrer persönlichen und beruflichen Entwicklung zu fördern und
planbare Karriereziele aufzuzeigen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, unser Wissenschaftssystem braucht kein Wunder, wie von den Grünen
gefordert, sondern eine realistische und vor allem verlässliche und längerfristig orientierte Wissenschaftspolitik. Die Große Koalition hat bereits viel für das Thema
„Gute Arbeit in der Wissenschaft“ getan - und das in
dieser Legislatur. Sie können sich sicher sein: Wir bleiben weiterhin dran.
Danke.
({13})
Vielen Dank. - Für die CDU/CSU-Fraktion spricht
jetzt Dr. Philipp Lengsfeld.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Bündnis 90/Die Grünen entdecken ihr Herz für Wissenschaft und Forschung. Das ist
für mich zunächst einmal eine sehr gute Nachricht. Dieses Land braucht exzellente Wissenschaft und Forschung. Aber eines kann ich Ihnen auch versichern: Wir,
die Union, sind die Forschungspartei in diesem Land.
({0})
Es braucht schon wesentlich mehr Anstrengung als diesen einen Antrag, damit sich daran etwas ändert. Aber
ich nehme den Ball gerne auf. Also lassen Sie uns zwei
wesentliche Aspekte vertiefen.
Zuerst greifen die Grünen eine altbekannte Forderung
der Union auf: steuerliche Forschungsförderung.
({1})
Sie fordern 15 Prozent Steuergutschrift für Forschung
und Entwicklung, aber nur für kleine und mittlere Unternehmen.
({2})
Zu einer steuerlichen Forschungsförderung für alle Unternehmen, unabhängig von ihrer Größe, wie es der BDI
fordert, können Sie sich dagegen nicht durchringen.
Aber es würde sich lohnen, über diese Position zu debattieren. Es wäre eine Position, die über das hinausgeht,
was wir als Koalition schon ausdiskutiert haben.
({3})
Denn wie in allen Fragen des Steuerrechts gibt es
auch bei der steuerlichen Forschungsförderung ernstzunehmende Bedenken. Wir haben Angst vor Fehlanreizen, vor zu viel Bürokratie, vor Ungerechtigkeiten, aber
auch vor Mitnahmeeffekten. Deshalb hat sich die Koalition im Kompromiss darauf geeinigt, dass die Priorität in
dieser Legislatur auf die direkte Forschungsförderung
gelegt wird, insbesondere des Mittelstands. Da steht
Deutschland sehr, sehr gut da.
({4})
Die Förderung von Bildung und Forschung hat für
diese Koalition höchste Priorität. Lassen Sie uns kurz
einmal von Geld reden. Der Haushalt unseres Ministeriums beträgt - Sie kennen die Zahlen; aber ich sage es
gerne noch einmal - stolze 15 Milliarden Euro und
wurde über die Jahre kontinuierlich gesteigert. In der
deutschen Wissenschaftslandschaft hat sich mit Impulsen des Bundes wie der Exzellenzinitiative oder dem
Pakt für Forschung und Innovation eine enorme Dynamik entfaltet.
({5})
Durch die Hightech-Strategie hat die Bundesregierung die Forschungsförderung für große Herausforderungen gebündelt, Zukunftsprojekte definiert und diese
auch massiv finanziell unterlegt. Sie hat in der letzten
Legislaturperiode zum Beispiel die Gesundheitsforschung strukturell weiterentwickelt und massiv gestärkt.
Exemplarisch möchte ich ein Leuchtturmprojekt nennen - natürlich kommt mein Beispiel aus Berlin; das
werden Sie mir verzeihen -: die Gründung des BIG, des
Berliner Instituts für Gesundheitsforschung. Das BIG
bringt Grundlagenforschung und klinische Anwendungen - eigentlich liegen Welten dazwischen - in einem
gemeinsamen Forschungsraum zusammen.
({6})
Das ist ein tolles Projekt und ein gutes Beispiel für konsequente Forschungsförderung unter Führung der Union.
({7})
Wir brauchen eine reibungslose Zusammenarbeit von
Wissenschaft und Wirtschaft. Über allem steht die Richtschnur - das ist heute auch noch nicht erwähnt worden -:
3 Prozent des Bruttoinlandsproduktes, also von Wirtschaft und Staat, für Forschung und Entwicklung - das
ist der Kern -, und dieses Ziel erreicht Deutschland. Hier
sind wir gerade im europäischen Maßstab vorbildlich.
Steuerliche Forschungsförderung hin oder her: Die
deutsche Forschungspolitik ist auf dem richtigen Weg.
Trotzdem - und damit schließe ich die Diskussion um
Geld ab - gibt sich die Union mit dem Erreichten nicht
zufrieden. Wir freuen uns, wenn wir mit Bündnis 90/Die
Grünen einen weiteren Partner für noch bessere Förderung von Wissenschaft und Forschung haben.
Ein „Wissenschaftswunder“, Herr Gehring, wie Sie es
nennen, hängt aber nicht nur vom Geld und der Infrastruktur ab - so wichtig die auch sein mögen -, sondern
auch vom gesellschaftlichen Klima. Und da geht es übrigens auch - das ist heute ebenfalls noch nicht erwähnt
worden - um ein klares Leistungsprinzip; das ist wichtig. Aber noch viel wichtiger für den Forschungs- und
Innovationsstandort Deutschland, geradezu ein Schlüssel, ist die Denk- und Forschungsfreiheit. Und hier, liebe
Kolleginnen und Kollegen von Bündnis 90/Die Grünen,
gehen unsere Ansichten momentan leider ziemlich
grundsätzlich auseinander.
Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass
Sie, statt Forschungsfreiheit zu befördern, lieber Forschungsplanwirtschaft mit klaren Vorgaben installieren
wollen:
({8})
Böse Forschung darf nicht gemacht werden, aber gute
Forschung wird gefördert bis zum Abwinken. Ich halte
dies im Kern für innovationsfeindlich; denn Innovation
ist ganz selten ein Produkt staatlich gelenkter Vorgaben.
Daran hat uns übrigens auch der Nobelpreisträger Stefan
Hell in dieser Woche im Ausschuss erinnert. Es geht
nicht um die Unterscheidung von guter und böser Forschung; vielmehr muss zwischen erfolgreicher und mittelmäßiger Forschung unterschieden werden.
Für den Forschungsstandort Deutschland ist es brandgefährlich, wenn wir zu viele Forschungsfelder pauschal
verdammen. Ich kann die Reizthemen gerne noch einmal
aufrufen:
Nehmen wir die Energieforschung. Hier wollen Sie
die Forschung zum Beispiel für die Felder Erdgas- und
Kohleförderung und -verwertung ganz verbieten, genauso wie die Fusionsforschung.
({9})
Dabei sind dies technologisch eminent wichtige Themen. Ein klassischer Portfolio-Leitspruch lautet: Never
place all eggs in one basket. Das gilt auch für die Energieforschung, meine Damen und Herren.
Oder das Thema optimierte Pflanzenzucht - hier gucke ich in Richtung der Linken -: Das Wort „Grüne Gentechnik“ ist in Deutschland inzwischen fast ein Unwort.
Hier reden wir nicht mehr von Forschungsfreiheit, sondern praktisch vom Gegenteil: von Gängelung und Stigmatisierung von Forschung.
({10})
Teilweise wurden Forscherinnen und Forscher bedroht,
ihre Arbeitsfelder zerstört, und als Krönung wurde erfolgreichen Lehrstuhlinhabern von grün beeinflussten
Landesregierungen de facto Berufsverbot erteilt. Das
schwächt unsere Hochschulen, meine Damen und Herren.
({11})
Oder das Reizthema Tiermodelle, das heißt präklinische Forschung. Auch hier wird im Land eine forDr. Philipp Lengsfeld
schungs- und entwicklungsfeindliche Stimmung geschürt, auch von Teilen von Bündnis 90/Die Grünen.
Aber forschungsfeindliche Angst- und Stimmungsmache
in diesem Land ist kein Weg für ein „Wissenschaftswunder“.
Dies betrifft im Übrigen auch das Reizthema Militärforschung.
({12})
Gerade für Hochschulen - Herr Gehring, Hochschulen
sind Ihnen ja so wichtig - gilt: Zivilklauseln und Diskussionen über Dual Use oder „böses“ Industriesponsoring
befördern kein Wissenschaftswunder, eher im Gegenteil.
({13})
Forschung und Innovation brauchen Forschungsfreiheit, ein klares Leistungsprinzip und gute Förder- und
Forschungsbedingungen. Für all dies steht die Union.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({14})
Das Wort hat der Kollege Oliver Kaczmarek für die
SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Was
macht man als letzter Redner in der Debatte mit dem
Antrag der Grünen? Er wirkt ja doch etwas verloren. Die
Forderungen passen nicht so richtig zusammen; aber irgendwie soll es wohl um Investitionen gehen. Da die
Grünen in ihrem Antrag den vorhergehenden Antrag zu
Investitionen erwähnt haben, möchte ich mich darauf
auch zunächst beziehen.
Unbestritten ist: Wir müssen natürlich in den Erhalt
unserer Infrastruktur und in Zukunftspotenziale investieren. Wir dürfen die Infrastruktur nicht länger auf Verschleiß fahren. Vor dem Hintergrund dieser Einsicht hat
die Koalition gehandelt: Im Bundeshaushalt stehen für
Investitionen bis 2018 10 Milliarden Euro zur Verfügung, 3,5 Milliarden Euro als Sondervermögen für kommunale Zukunftsinvestitionen.
({0})
- Es kommt noch mehr. - Kommunen, die den größten
Investitionsbedarf haben, werden weiter entlastet. Ich
nenne hier nur die Entlastung bei der Grundsicherung im
Alter, pauschale Entlastungen in Höhe von 2,5 Milliarden Euro ab 2017, Entlastung bei den Flüchtlingskosten
usw. Ich will das an dieser Stelle einfach einmal auflisten. Das reicht den Grünen vielleicht nicht; das könnte
ich verstehen: Das geschieht aus der Oppositionshaltung
heraus. Aber statt auf ein Wunder zu warten, hat die
Große Koalition eben gehandelt und Geld für Zukunftsinvestitionen mobilisiert.
({1})
Ein zweiter Punkt. Ich glaube - das wird in den beiden genannten Anträgen der Grünen deutlich und ist
auch in der Debatte vorhin schon deutlich geworden -,
die Opposition zeichnet doch ein leichtes Zerrbild vom
Zustand des Landes und vom Zustand des Bildungssystems. Da ist die Rede von: eine marode Infrastruktur, ein
unterfinanziertes Bildungssystem. Weiter heißt es:
Dem Wissenschaftssystem ist die Balance verloren
gegangen.
In dem Antrag, auf den verwiesen wird, heißt es:
Das durchschnittliche Parkhaus ist in einem besseren Zustand als so manche Schule …
({2})
Das ist sehr sprachverliebt - das kann man schreiben -;
aber es ist politisch leider völlig unangemessen.
({3})
Ich weiß nicht, wie es bei Ihnen aussieht; aber ich
möchte für meinen Wahlkreis einmal festhalten: In meinem Wahlkreis gibt es kein Parkhaus, das in einem besseren Zustand ist als die Schulen.
({4})
Das liegt nicht daran, dass wir schlechte Parkhäuser hätten, sondern an Investitionen, die verantwortliche Kommunalpolitiker getätigt haben, an Schwerpunkten, die sie
richtig gesetzt haben. Und wir dürfen nicht vergessen:
Das Konjunkturpaket II der ersten Großen Koalition
- eigentlich war es schon die zweite - hat einen entscheidenden Modernisierungsschub,
({5})
insbesondere mit Blick auf die energetische Gebäudesanierung, bei den Schulen ausgelöst. In genau dieser
Richtung wird das Sondervermögen, das wir jetzt angelegt haben - die 3,5 Milliarden Euro, die ich gerade erwähnt habe -, einen weiteren Schwerpunkt setzen; denn
nicht nur für Klimaschutz und Infrastruktur können die
Kommunen das Geld in die Hand nehmen, sondern auch
für Bildung. Das ist ein deutlicher Schritt. Deswegen,
meine ich, hätten die Schulträger hier für ihr Engagement einen Dank verdient und keine sprachliche
Schnoddrigkeit.
({6})
Die SPD ist nicht für Schönrednerei bekannt.
({7})
Wir müssen natürlich weiter investieren - das ist völlig
klar -; aber es geht vollkommen an der Leistungsfähigkeit des Bildungssystems vorbei, wenn hier ein solches
Zerrbild gezeichnet wird. Wenn Sie das machen, richtet
sich das nicht gegen mich oder gegen die Große Koalition, sondern trifft diejenigen, die unser Bildungssystem
unter teilweise schwierigen Rahmenbedingungen jeden
Tag mit Leben füllen. Hier wäre mehr Wertschätzung angebracht, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({8})
Intelligent investieren, das heißt aus meiner Sicht
auch: Strukturen weiterentwickeln und Köpfe fördern.
Ich glaube, dass die Göttinger Beschlüsse der geschäftsführenden Fraktionsvorstände der Koalition da eine
klare Zielrichtung vorgeben: Wir wollen exzellente Forschung und hochwertige Lehre miteinander verbinden.
Wir wollen planbare Steigerungen für Forschungsausgaben. Wir wollen Kooperationen von Hochschulen und
Forschungseinrichtungen und verlässliche Karrierewege
für junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler.
({9})
Dafür wird die Koalition verteilt auf zehn Jahre noch
einmal 5 Milliarden Euro zusätzliches Geld in die Hand
nehmen: 4 Milliarden Euro für die Ausfinanzierung der
Exzellenzinitiative und 1 Milliarde Euro für den Pakt für
den wissenschaftlichen Nachwuchs. Ich finde, das ist ein
starkes Zeichen, das wir hier inmitten der Wahlperiode
auch noch einmal gesetzt haben mit 5 Milliarden Euro.
({10})
Ich will noch einmal sagen - Frau Kollegin Raatz hat
gerade schon darauf hingewiesen -: Dazu kommt die
Ausfinanzierung der dritten Phase des Hochschulpaktes,
dazu kommen die 3 Milliarden Euro insgesamt, die wir
in dieser Wahlperiode zusätzlich für Forschung ausgeben werden. Und dazu kommt natürlich auch die
BAföG-Entlastung mit 1,2 Milliarden Euro und ab 2017,
wenn wir die Erhöhung noch dazurechnen, mit 2 Milliarden Euro im Bundeshaushalt.
({11})
Manche tun so, als wenn das Kleingeld wäre. Aber
ich glaube, das ist richtig viel Geld für Bildung und Forschung, das ist alles gut angelegtes Geld, das wir für Bildung und Forschung in die Hand nehmen.
({12})
Meine Damen und Herren, dieser Hinweis sei mir erlaubt: Wir bewegen uns hier im Rahmen geltender Haushaltsbeschlüsse. Das alles ist also sauber gegenfinanziert. Einen Hinweis auf eine Gegenfinanzierung habe
ich im Antrag der Grünen vergeblich gesucht.
Meine Damen und Herren, weder ein grünes Sammelsurium von Forderungen noch ein Wunder helfen. Wir
brauchen eine intelligent verknüpfte Strategie, die auch
Impulse für die Zukunftsentwicklung des gesamten Wissenschaftssystems liefert, die Strukturen weiterentwickelt und Köpfe fördert. Ich bin der Meinung, die Große
Koalition hat hier geliefert!
Vielen Dank.
({13})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/5207 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrich
Petzold, Michael Kretschmer, Marco
Wanderwitz, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten
Siegmund Ehrmann, Burkhard Blienert, Marco
Bülow, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD
UNESCO-Weltkulturerbe dauerhaft sichern
Drucksache 18/5216
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich bitte jetzt, die notwendigen Umgruppierungen zügig vorzunehmen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Staatsministerin Dr. Maria Böhmer.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Bamiyan, Timbuktu, Mossul, Nimrud, Ninive,
Hatra, Palmyra und Sanaa - einst stolze Orte der Kultur,
heute Orte des Schreckens. Wir halten immer wieder den
Atem an, weil dort Menschen getötet, jahrtausendealte
Kulturgüter für immer zerstört und wir mit menschenverachtender Barbarei und religiösem Extremismus konfrontiert werden.
Das Wüten von Terrororganisationen wie ISIS im Irak
übersteigt unser Vorstellungsvermögen. Die Spur der
Zerstörung schneidet tiefe Wunden in das Erbe von
Menschen, in die Geschichte einer Region, in die IdentiStaatsministerin Dr. Maria Böhmer
tät eines Volkes und in das kulturelle Gedächtnis der
Welt. Wir müssen für unsere Werte einstehen. Es geht
um die Würde der Menschen, um Toleranz, Achtung vor
der Vielfalt und Respekt für andere und ihre Kultur. Dafür müssen wir kämpfen.
({0})
Viele fragen mich, ob wir uns nicht als Erstes um die
Menschen kümmern müssten. Meine Antwort ist: Es
gibt kein Entweder-oder. Bundestagspräsident Norbert
Lammert hat es treffend auf den Punkt gebracht:
Wo Kunst und Kultur massakriert werden, werden
Menschen massakriert.
Terroristen sind sich der Kraft der Kultur sehr wohl bewusst. Gerade deshalb wollen sie die kulturellen Wurzeln auslöschen; denn Kultur ist die Basis für die Identität, für den Zusammenhalt und für die Existenz von
Menschen. Gerade deshalb müssen wir alles tun, um
Kulturgüter zu schützen und zu erhalten.
({1})
Deshalb hat Deutschland gemeinsam mit dem Irak eine
Resolution zum Schutz von Kulturgütern in die Generalversammlung der Vereinten Nationen eingebracht. Im
Mai wurde diese Resolution im Konsens angenommen mit großer Unterstützung auch der muslimischen Staaten. Das ist von außerordentlicher Bedeutung; denn es
hat gezeigt: Die von ISIS vorgebrachte religiöse Begründung wird von keinem Staat der Welt - auch von keinem
muslimischen Staat - akzeptiert.
Zwei Dinge sind mir persönlich wichtig: Die Resolution ächtet die terroristischen Angriffe auf Kulturgüter
als eine neue Strategie der Kriegsführung und als
Kriegsverbrechen, die jeder Staat strafrechtlich verfolgen muss. Weiter fordert die Resolution alle Staaten der
Welt auf, den Irak beim Schutz seiner Kulturgüter zu unterstützen. Wir erleben nicht nur Zerstörungen. Plünderungen, Raubgrabungen und illegaler Kulturgüterhandel
sind an der Tagesordnung. Jeder muss wissen, dass er
mit dem Kauf und dem Verkauf von illegal ausgeführten
Kulturgütern den Terrorismus finanziert. Das ist nicht
hinnehmbar.
({2})
Meine Kollegin, Kulturstaatsministerin Monika
Grütters, hat den Entwurf eines Gesetzes für einen besseren Kulturgüterschutz vorgelegt. Damit wird dem
illegalen Kulturgüterhandel endlich ein wirksamer Riegel vorgeschoben werden.
Unsere Experten helfen im Irak und an anderen Orten
der Welt ganz konkret. Ich möchte insbesondere dem
Deutschen Archäologischen Institut und der Stiftung
Preußischer Kulturbesitz sehr herzlich für diese hervorragende Arbeit danken.
({3})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Naturkatastrophen
wie jüngst in Nepal, Umweltbeeinträchtigungen, wirtschaftliche Interessen oder einfach nur Vernachlässigung
bedrohen ebenfalls Kulturgüter und Welterbestätten. Mit
dem Kulturerhalt-Programm des Auswärtigen Amts
konnten wir bereits sehr erfolgreich viele Projekte unterstützen. Die dramatische Entwicklung der letzten Jahre
zeigt uns jedoch, dass wir eine intensivere Koordinierung und ein zusätzliches Notprogramm für Kulturgüter
und Welterbestätten in Gefahr brauchen. Das ist ein zentraler Punkt dieses Antrags. Für diese wichtige Weichenstellung möchte ich Ihnen allen sehr herzlich danken.
({4})
Doch auch in Deutschland haben wir die Erfahrung
gemacht, dass unsere Welterbestätten auf nachhaltige
Unterstützung angewiesen sind. Ich freue mich, dass wir
alle hier im Bundestag uns gemeinsam dafür einsetzen,
auch in den Wahlkreisen. Die Notwendigkeit der besseren Unterstützung wird auch im Antrag aufgegriffen.
Zum Schluss, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, möchte ich den Blick auf die bevorstehende 39. Sitzung des UNESCO-Welterbekomitees in Bonn werfen.
Wir erwarten 1 500 Teilnehmer aus 191 Staaten. Das
gibt uns die einmalige Chance, der Welt unseren kulturellen Reichtum und unsere Naturschätze zu präsentieren, vom Aachener Dom, der ersten Welterbestätte, bis
hin zum Kloster Corvey, das letztes Jahr in die Welterbeliste aufgenommen worden ist.
Ich möchte Ihnen sagen: Es geht um Neueinschreibungen - wir alle sind sehr gespannt -, um den Erhalt
des Welterbes und um Reformen. Denn wir wollen eines
erreichen: Die Welterbekonvention, die eine einzigartige
Erfolgsgeschichte ist, gilt es zu erhalten und zu sichern.
Denn es geht um den außergewöhnlichen, universellen
Wert der Welterbestätten weit über eine einzelne Region,
weit über ein einzelnes Land hinaus. Es handelt sich um
das Erbe der Menschheit. Das lohnt jede Anstrengung.
Ich darf Ihnen sagen: Ich kann mir keine schönere Aufgabe vorstellen.
Herzlichen Dank.
({5})
Das Wort hat die Kollegin Sigrid Hupach für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Der Titel „Weltkulturerbe“ schmückt nicht nur unsere
Städte, Regionen und Länder, sondern hilft auch, das
Erbe der Menschheit zu bewahren. Seit heute treffen
sich in Deutschland junge Nachwuchskräfte aus 31 Ländern, um sich zwölf Tage lang in vielfältiger Form mit
dem UNESCO-Welterbe zu beschäftigen und am Ende
eine Deklaration zu verabschieden. Diese wird dann
während der Tagung des Welterbekomitees Ende Juni in
Bonn beraten. Ich bin sehr gespannt, welche Aspekte die
jungen Menschen beim Thema Welterbe hervorheben
werden.
Sie, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen von den
Koalitionsfraktionen, haben mit Ihrem Antrag einen
guten Problemaufriss vorgelegt und auch die aktuelle
Gefährdung des Weltkulturerbes durch Naturkatastrophen und Klimawandel, durch Krieg, Terror und illegalen Handel angesprochen. Die Nachrichten hierzu erschüttern uns alle, insbesondere die Zerstörung der
Welterbestätten im Irak und in Syrien durch den „Islamischen Staat“. Hierzu sind die Forderungen in Ihrem Antrag auch recht konkret formuliert. Frau Staatsministerin
Böhmer hat es gerade angesprochen.
Ganz anders sieht es aber aus, wenn es um den Schutz
des Weltkulturerbes in Deutschland geht. Deutschland
ist eines der Länder mit den meisten Welterbestätten und
das Land mit den meisten länderübergreifenden. Auch
das ist ein schönes Symbol. Aber Deutschland ist auch
das erste Land, in dem einer Welterbestätte der Titel
durch die UNESCO wieder aberkannt wurde, nämlich
dem Dresdener Elbtal im Jahr 2009. Dort wurde eine
Brücke durch ein zu schützendes Gebiet gebaut. Der
Welterbetitel wurde für eine schnellere Verkehrsanbindung geopfert. Gerade dieses Beispiel verdeutlicht, wie
wichtig es wäre, die rechtliche Lücke zu schließen und
die UNESCO-Welterbekonvention in nationales Recht
umzusetzen. Dazu sagen Sie in Ihrem Antrag aber
nichts.
Außerdem müssen Städte und Gemeinden finanziell
so ausgestattet werden, dass sie ihrer Verantwortung für
den Erhalt und die Pflege der Welterbestätten nachkommen können.
({0})
Das gilt in besonderer Weise für Welterbestädte, also für
Städte, deren Altstadt in Teilen oder als Ganzes unter
Schutz gestellt ist.
Wenn man sich Ihren Antrag anschaut, dann sieht
man, dass Sie den Schutz des Weltkulturerbes unter
Haushaltsvorbehalt stellen. Was ist aber das für ein
Signal an die Kommunen? Hier bedarf es einer gemeinsamen - auch finanziellen - Anstrengung; denn es geht
doch um das kulturelle Erbe von uns allen.
({1})
Das von Ihnen angesprochene nationale Kompetenzzentrum UNESCO-Weltkulturerbe könnte sicherlich viel
zur Lösung dieser Aufgaben beitragen. Wie sieht es aber
mit der Ausstattung aus - finanziell und personell?
Warum gibt es im Forderungsteil Ihres Antrags keine
einzige konkrete Aussage zu diesem Kompetenzzentrum?
Zunehmend engagieren sich auch zivilgesellschaftliche Gruppen für den Schutz ihrer Welterbestätten,
vernetzen sich untereinander und fordern ihre Anhörung
bei Parlamenten, Regierungen und internationalen Organisationen ein. Das ist, wie ich finde, eine wunderbare
Entwicklung; denn diese Initiativen tragen sehr stark zur
Bewusstseinsbildung bei, vor Ort und auch hinsichtlich
der internationalen Verantwortung. Ihr Engagement
nachhaltig zu stärken, auch das hätte in diesen Antrag
gehört.
Es ist bedauerlich, dass Sie bei diesem wichtigen
Thema die Opposition nicht eingebunden haben. Unsere
Kritikpunkte hätten wir dann vielleicht schon im Vorfeld
einfließen lassen können. Ein gemeinsamer Antrag wäre
der Verpflichtung den Welterbestätten gegenüber im Übrigen angemessen gewesen.
({2})
Alle ernsthaften Bestrebungen zum Schutz der Welterbestätten unterstützen wir aus voller Überzeugung. Bei
der Abstimmung über Ihren Antrag werden wir uns aus
den eben angeführten Gründen jedoch enthalten.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({3})
Der Kollege Siegmund Ehrmann hat für die SPDFraktion das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren!
Ende Juni, Anfang Juli findet in Bonn die UNESCOWelterbekonferenz unter Ihrem Vorsitz, Frau Staatsministerin Böhmer, statt. Auch meine Fraktion wünscht Ihnen bei dieser wichtigen Konferenz eine glückliche
Hand. Wir hoffen, dass Sie die Debatte zu einem guten
Ergebnis führen.
Rund 30 Kulturstätten bewerben sich um das Siegel
„UNESCO-Welterbe“, zum Beispiel die Speicherstadt in
Hamburg, aber auch der Jakobsweg nach Santiago de
Compostela in Spanien. Seit 1972 sind über 1 000 Weltkulturerbestätten als besondere Orte der Zivilisation unter besonderen Schutz gestellt worden.
Nicht allein die Konferenz in Bonn rechtfertigt es
- Frau Staatsministerin erwähnte es -, dass wir uns hier
und heute mit dem Thema Weltkulturerbe auseinandersetzen. Ebenso gewichtige Gründe sind die erschreckenden Bilder, die uns aus dem Nahen Osten und von der
Arabischen Halbinsel erreichen. Antike Welterbestätten
wie Nimrud und Hatra wurden dem Erdboden gleichgemacht. Unlängst wurde auch die assyrische Ruinenstadt
Palmyra durch Truppen des „Islamischen Staates“ eingenommen. Zu befürchten ist, dass auch dort alles niedergewalzt werden wird. Das sind Beispiele dafür, in
welchem Maße die besonderen Orte des kulturellen
Menschheitserbes bedroht sind. Dem, was dort passiert,
dürfen wir auf keinen Fall gleichgültig gegenüberstehen.
Außenminister Steinmeier verweist immer wieder mit
Nachdruck auf die Bedeutung des Weltkulturerbes. Gerade in Zeiten der Unruhe können solche Stätten Orte
sein, die, werden sie respektvoll betrachtet, wie Brücken
der Verständigung zwischen den Kulturen wirken könSiegmund Ehrmann
nen. Die völkerrechtliche Idee des Weltkulturerbes entspricht somit einem modernen Verständnis von Dialog,
Kooperation und Respekt in Konfliktsituationen.
Wir müssen uns gleichwohl fragen, ob wir genug tun
oder ob wir unsere Anstrengungen auf nationaler oder
internationaler Ebene verstärken müssen. Ich rufe in Erinnerung: Seit 1981 unterstützt das Auswärtige Amt im
Rahmen des Kulturerhalt-Programms die Bewahrung
des kulturellen Erbes in aller Welt. Ob es die islamischen
Handschriften in Timbuktu sind, die Fragmente der Buddhas in Bamiyan, die historischen Handelsbauten im Basar von Erbil oder der Aufbau eines digitalen Kulturgüterregisters in Syrien - überall engagieren wir uns, ist
unsere Expertise gefragt, hilfreich, aber auch notwendig
im wahrsten Sinne des Wortes.
({0})
Diese Beispiele stehen für mehr als 2 600 Projekte,
die in den letzten 30 Jahren in über 140 Ländern gefördert wurden. Aber der Bedarf an schneller Nothilfe für in
Gefahr geratenes kulturelles Erbe nimmt zu. Deshalb
wollen wir in dieser Koalition das KulturerhaltProgramm stärken, um noch effektivere Hilfen mobilisieren zu können. Werte Kollegin Hupach, das heißt
auch, dass wir Geld in die Hand nehmen müssen.
Darüber wird im Rahmen der Haushaltsberatung zu
sprechen sein.
({1})
Ein weiteres Problemfeld. Raubgrabungen vor allem
von antiken Kulturgütern weiten sich aus; auch darauf ist
verwiesen worden. Es gibt starke Hinweise, es gibt Belege, dass durch Plünderungen historischer Stätten und
Kunstschmuggel der internationale Terrorismus finanziert wird. Hier sind auch wir als Gesetzgeber gefordert;
es wurde darauf verwiesen. Das Kulturgüterschutzrecht
ist zu verfeinern, zu schärfen, damit Kontrollen, aber
auch Strafverfolgung wirksamer realisiert werden können, um diese Netze organisierter Kriminalität, die im
Auftrag des internationalen Terrorismus arbeiten, zu
sprengen.
({2})
Dabei gilt es, wenn wir jetzt in Kürze in die parlamentarischen Beratungen treten - das will ich eindeutig und
sehr klar hervorheben -, den redlichen Kunsthandel zu
schützen, zugleich aber den illegalen Handel zu bekämpfen und die Rückführung in die Herkunftsländer zu
erleichtern. Das sind die wesentlichen Ziele, um die es
geht.
Trotz der internationalen Herausforderung, das Weltkulturerbe zu schützen - wir dürfen den Blick auf das
eigene Land, auf die eigenen Welterbestätten nicht
vernachlässigen. Deutschland ist mit derzeit 39 Welterbestätten gut auf der Welterbeliste präsent. Aber
100 weitere Kommunen, Städte und Regionen - darauf
weist der Deutsche Städtetag hin - streben ebenso eine
Eintragung an. Vor dem Hintergrund langer Genehmigungsverfahren gibt es eine Fülle sehr praktischer, nicht
trivialer Fragen, die mit Bau und Planung zu tun haben,
die mit Genehmigungsanforderungen zu tun haben, die
mit der Aufstellung von Pflegeplänen und ihrer Finanzierung zu tun haben. Diese müssen qualifiziert begleitet
werden. In der Tat: Dort gibt es Engpässe. Ich verweise
auf die Debatte im Kulturausschuss des Deutschen Städtetages, aber auch auf die Deutsche UNESCO-Kommission.
Damit der Bund und die Länder, aber auch die Kommunen einen noch verlässlicheren Partner im Umgang
mit unseren gemeinsamen nationalen Weltkulturerbestätten haben, wollen wir bei der Deutschen UNESCOKommission ein Kompetenzzentrum „UNESCO-Kulturerbe“ ausbauen. Damit greifen wir nicht nur eine Vereinbarung aus unserem Koalitionsvertrag auf. Auch der
Deutsche Städtetag hat im Juni in Dresden entsprechend
appelliert. Wir werden diesen Appell aufnehmen und im
Rahmen der künftigen Beratungen diese Strukturen
schaffen, damit in diesem Zentrum Beratung, Erfahrungsaustausch und Fortbildung, also eine qualifizierte
Unterstützung, nicht nur der öffentlichen, sondern auch
der zivilgesellschaftlichen Partner, gestärkt werden können.
Wenn es mit diesem Koalitionsantrag gelingt, das
Kulturerhalt-Programm des Auswärtigen Amtes zu
stärken, die internationale Kooperation zum Erhalt des
bedrohten Kulturerbes auszubauen und die innerstaatlichen Beratungskompetenzen in einem Kompetenzzentrum „UNESCO-Weltkulturerbe“ bei der Deutschen
UNESCO-Kommission zu bündeln, kommen wir ein
sehr gutes Stück weiter.
Das Weltkulturerbe ist kein Schnickschnack. Seine
Orte sind Quellen der Identifikation, Orte, an denen sich
Menschheitsgeschichte ablesen lässt. Ich erhoffe mir
- ich wünsche es uns -, dass von der Bonner UNESCOWelterbekonferenz nachhaltige Impulse ausgehen. Diese
wollen wir mit diesem Antrag tatkräftig flankieren.
Vielen Dank.
({3})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat die Kollegin Ulle Schauws das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste! Zuallererst möchte ich
das Anliegen der UNESCO, das Natur- und Kulturerbe
der Welt zu bewahren und damit auch dem Frieden zu
dienen, ausdrücklich würdigen. Dieses Anliegen ist gerade in Zeiten, in denen in Krisengebieten wie im Irak
oder in Syrien durch den sogenannten IS und den Bürgerkrieg Weltkulturerbestätten zerstört werden, wichtiger denn je. Erst in den letzten Tagen haben wir miterleben müssen, wie das Weltkulturerbe der historischen
Altstadt von Sanaa im Jemen bei einem Luftangriff
der arabischen Koalition teilweise zerstört wurde. Die
UNESCO-Generaldirektorin Irina Bokowa hat den Luftangriff auf eines der ältesten Juwele der islamischen
Kultur zu Recht scharf kritisiert.
Diese schockierenden Beispiele zeigen uns eindrücklich, dass die Zerstörung von Kulturerbe oft mit Gewalt
gegen Menschenleben einhergeht. In erster Linie steht
für uns natürlich der Schutz von Menschenleben im
Vordergrund. Trotzdem ist auch der Schutz der Weltkulturstätten eine enorme Herausforderung; denn die Zerstörungen treffen die jeweiligen Identitäten und Gedächtnisse für nachkommende Generationen, die es
weltweit zu schützen gilt.
Hier, liebe Kolleginnen und Kollegen der Großen Koalition, reichen die Forderungen Ihres Antrags nicht aus.
Sie bedauern zwar die weltweite gezielte und irreversible Zerstörung unschätzbarer Kulturgüter, verharren
aber im reinen Aufzählen von aktuellen Regierungsmaßnahmen. Sie vermeiden es, der Bundesregierung ein
deutliches Bekenntnis zu einem stärkeren Engagement
in Krisengebieten wie zum Beispiel im Jemen abzuverlangen. Ich sage ganz ehrlich: Ich hätte mir hier wirklich
einen engagierteren Ansatz von Ihnen gewünscht.
({0})
Während bedeutende Weltkulturerbestätten auf der
ganzen Welt zerstört werden, hat sich Deutschland in
den letzten Jahren zu einem Umschlagplatz für geraubte
Kulturgüter und Antiquitäten entwickelt. Hier will
Staatsministerin Grütters mit ihrer angekündigten Novellierung des Kulturgüterschutzgesetzes nun endlich
nachjustieren. Ich sage: Das ist gut so. Welche katastrophalen Konsequenzen der Einfluss von Händlern und
Sammlern auf den Kulturgutschutz haben kann, hat uns
das unzureichende Gesetz von 2007 eindrücklich gezeigt. Da sollten auch Sie sich als Koalitionsfraktionen
mehr engagieren und sich entschieden gegen reine Lobbyinteressen stellen.
({1})
Ganz und gar unverständlich ist, dass Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, noch 2011 gemeinsam mit der FDP in dem Antrag „UNESCO-Welterbestätten in Deutschland stärken“ ausdrücklich das
breite bürgerschaftliche Engagement von NGOs für die
UNESCO-Welterbestätten begrüßt haben. Das kommt in
Ihrem Antrag jetzt leider nicht mehr vor. Das ist umso
bedauerlicher, weil genau diese Aktivitäten der NGOs
zum Beispiel bei der Tagung des UNESCO-Welterbekomitees Ende Juni in Bonn von der Bundesregierung nicht
unterstützt werden. Staatsministerin Böhmer hat eine finanzielle Unterstützung, zum Beispiel von Side Events,
abgelehnt. Hierzu vermisse ich in Ihrem Antrag ganz
konkrete Forderungen. Sie verharren da scheinbar lieber
in Allgemeinplätzen, und das ist leider zu wenig.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, was den Erhalt und
die Entwicklung der deutschen Weltkulturerbestätten betrifft, sieht es auch nicht besser aus. Das aktuelle Programm „Nationale Projekte des Städtebaus“ wird mit
einem Volumen von 50 Millionen Euro der hohen
Nachfrage bei weitem nicht gerecht. Allein 2014 wurden
hier Projektanträge mit einem Fördervolumen von
900 Millionen Euro eingereicht, darunter auch viele
UNESCO-Welterbestätten. Wir brauchen deshalb dringend die Wiederauflage eines Investitionsprogramms für
UNESCO-Welterbestätten, das ausreichend ausgestattet
ist. Auch hierzu finde ich nichts Konkretes in Ihrem Antrag.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir werden uns deswegen bei der Abstimmung über Ihren Antrag enthalten.
Aber ich kann sagen: Ich kann dem Eigenlob Ihres Antrags heute nicht zustimmen.
Vielen Dank.
({2})
Für die CDU/CSU-Fraktion hat der Kollege Ulrich
Petzold das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten
Damen und Herren Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Nach dem Weimarer Klassiker Herder
ist die Kultur eines Volkes die Blüte seines Daseins.
Wenn mich Menschen nach meinem Wahlkreis fragen,
sage ich immer: Ich habe den schönsten Wahlkreis
Deutschlands.
({0})
Auch wenn ich, wie ich schon höre, mit dieser Aussage
einer Reihe von Kollegen auf die Zehen trete, so frage
ich doch: Welcher Wahlkreis hat noch drei Welterbestätten in dieser Dichte, in fahrradmäßiger Entfernung zueinander? Die Lutherstätten, das Bauhaus, das DessauWörlitzer Gartenreich, aber auch alle anderen deutschen
Welterbestätten sind heute in einem Zustand, in dem sie
in der Historie zeitgleich niemals waren.
({1})
Dies muss man hier feststellen. Liebe Frau Hupach, Sie
haben angesprochen, was wir geleistet und was wir nicht
geleistet haben. Ich kann mich ganz genau daran erinnern, in welchem Zustand wir das Bauhaus und die
Meisterhäuser in Dessau übernommen haben.
({2})
Diese Leistung - ich sehe hier auch Frau Professor
Monika Grütters - haben wir dem Bundeskanzleramt mit
zu verdanken. Ganz herzlichen Dank auch an dieser
Stelle.
So ist es schon eine Auszeichnung für den Einsatz unseres Landes - von Bund, Ländern und Kommunen - für
den Erhalt dieser kulturellen Leuchttürme, dass wir ab
dem 28. Juni die 39. Sitzung des Welterbekomitees in
Bonn ausrichten dürfen. Dass dazu die Staatsministerin
im Auswärtigen Amt, Frau Professor Dr. Maria Böhmer,
die Präsidentschaft des Welterbekomitees übernommen
hat, ist hocherfreulich. Frau Professor Böhmer, ich darf
Ihnen dazu im Namen des ganzen Hauses gratulieren.
({3})
Wir wollen mit diesem Antrag aber nicht nur Erfreuliches würdigen, sondern auch unsere Gedanken einbringen und ein Zeichen setzen, wie wir uns eine Weiterentwicklung im Rahmen des UNESCO-Welterbekomitees
vorstellen. Uns allen sind die schrecklichen Bilder der
terroristischen Zerstörungen von Weltkulturerbestätten
im Vorderen Orient und in Nordafrika - sie sind ja mehrfach angesprochen worden - vor Augen. Wie hilflos waren wir bei der Zerstörung unwiederbringlicher Kulturgüter durch die Naturgewalten in Nepal! Eine Welle der
Hilfsbereitschaft ging gerade auch durch Deutschland,
weil wir aufgrund unserer Welterbestätten sehr wohl
wissen, dass diese Sehenswürdigkeiten wegen des Tourismus die Existenzgrundlage vieler Familien und
Kleinstunternehmen in den betroffenen Gebieten darstellen. Gerade im Katastrophenfall Nepal gab es eine große
Zahl an Hilfsangeboten von vielen Einrichtungen, Kommunen und Bundesländern; denn alle wussten, dass eine
schnelle Hilfe eine doppelte Hilfe ist und verhindert,
dass Kulturgüter weiter geschädigt oder gar gestohlen
werden.
In diesen Fällen gilt es, zu koordinieren. Das Auswärtige Amt hält natürlich Koordinierungsmöglichkeiten für
Hilfseinsätze vor, doch sind sie eher auf humanitäre Hilfen ausgerichtet. Jetzt gilt es, die fachliche Potenz und
Kompetenz im kulturellen Bereich zu bündeln, was in
unserem Wunsch nach einem durch finanzielle Ausstattung - darauf lege ich großen Wert - zur Hilfe befähigten Koordinierungs- und Steuerungszentrum für kulturelle Nothilfe zum Ausdruck kommt. Damit verstetigen
wir die von uns immer wieder übernommene Verantwortung und hinterlassen wir eine nachhaltige Präsidentschaft; denn wir wollen, dass die deutsche Präsidentschaft des UNESCO-Welterbekomitees morgen nicht
einfach vergessen ist.
Doch auch im Inland setzen wir uns übereinstimmend
mit dem Deutschen Städtetag für ein nationales UNESCOKompetenzzentrum ein, das die unter der Kulturhoheit
der Länder laufenden vielfältigen Aktivitäten bündelt
und aufeinander abstimmt, ein Ansprechpartner für die
Träger der Welterbestätten in Deutschland ist, aber auch
der Ansprechpartner eines Nothilfezentrums für internationale Hilfe.
Sehr geehrte, liebe Frau Professor Böhmer, wir wünschen Ihnen für Ihre verantwortungsvolle Arbeit in den
nächsten Wochen alles Gute und viel Erfolg beim Einsatz für unser Menschheitserbe. Bringen Sie die Blüten
der Weltkultur zum Blühen.
Danke.
({4})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen der CDU/CSU und SPD auf Drucksache 18/
5216 mit dem Titel „UNESCO-Weltkulturerbe dauerhaft
sichern“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt
dagegen? - Wer enthält sich? - Der Antrag ist mit den
Stimmen der CDU/CSU-Fraktion und der SPD-Fraktion
bei Enthaltung der Fraktion Die Linke und der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 14 a und 14 b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Niema
Movassat, Caren Lay, Wolfgang Gehrcke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
sowie der Abgeordneten Uwe Kekeritz, Claudia
Roth ({0}), Tom Koenigs, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Herkunft von Konfliktrohstoffen konsequent
offenlegen
Drucksache 18/5107
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Energie ({1})
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung ({2})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Federführung strittig
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Niema
Movassat, Caren Lay, Wolfgang Gehrcke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Unternehmen in die Verantwortung nehmen Menschenrechtsschutz gesetzlich regeln
Drucksache 18/5203
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Energie ({3})
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung ({4})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Federführung strittig
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Niema Movassat für die Fraktion Die Linke.
({5})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Seit
Jahren schon erleben wir im Ostkongo einen grausamen Krieg. Der kongolesische Menschenrechtsaktivist
Dr. Mukwege wurde vor kurzem mit dem SacharowMenschenrechtspreis ausgezeichnet. Er setzt sich für
Frauen und Kinder ein, die in seiner Heimat rund um den
Abbau von Rohstoffen vergewaltigt und verstümmelt
werden. Über die Ursachen des Konflikts in seiner Heimat sagte er - ich zitiere -:
… es ist eine … Auseinandersetzung um Bodenschätze. Die Region Kivu ist reich an Coltan, das
man für Mobiltelefone und Laptops braucht. Ohne
den politischen Willen wird sich die Situation niemals ändern.
Auch wir finanzieren mit dem Kauf von Handys und
Laptops die menschenverachtenden Kriege der Warlords
im Kongo. Lassen Sie uns gemeinsam endlich den politischen Willen aufbringen, daran etwas zu ändern.
({0})
Das EU-Parlament hat vor vier Wochen eine sehr gute
Richtung vorgegeben. Dort stand ein windelweicher
Vorschlag der EU-Kommission zum Thema Rohstoffe
aus Krisengebieten wie dem Kongo zur Debatte. Der
Vorschlag enthielt nur freiwillige Regeln für Unternehmen. Das EU-Parlament machte da nicht mit. Eine
Mehrheit aus Sozialdemokraten, Grünen und Linken hat
sich dafür eingesetzt, dass es verbindliche Regeln für
den Nachweis der Rohstoffherkunft geben soll, und zwar
für die gesamte Lieferkette, also vom Rohstoffabbau bis
zur Handyherstellung, damit verhindert wird, dass blutiges Coltan in unseren Handys ist. Eine sehr richtige Entscheidung des Europaparlaments!
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, hier im
Hause ist dieselbe Mehrheit möglich.
({2})
An die CDU/CSU gerichtet, sage ich:
({3})
Hören Sie einmal auf den Papst. Er hat in seiner Umwelt-Enzyklika Konfliktrohstoffe ganz klar angeprangert. Lassen Sie uns also gemeinsam dafür sorgen, dass
beim Rohstoffabbau keine Menschenrechte mehr verletzt werden.
({4})
Eine klare Entscheidung des Bundestages, wie es im
Antrag der Linken und Grünen vorgeschlagen wird,
würde den Europäischen Rat unter Druck setzen, dem
EU-Parlament zu folgen. Über 130 Bischöfe aus aller
Welt appellierten im Februar ebenfalls an die EU, verbindliche Regeln zu schaffen. Zu ihnen gehört auch Bischof Besungu aus dem Kongo. Im April war er bei uns
im Entwicklungsausschuss zu Gast. Er forderte ganz
klar, die Freiwilligkeit durch verbindliche Regeln zu
ersetzen und die gesamte Lieferkette einzubeziehen.
150 Nichtregierungsorganisationen haben sich ebenso
geäußert. Ich hoffe, die EU hört am Ende auf diese Stimmen statt auf die Brüsseler Wirtschaftslobby.
({5})
Fast ein Viertel des globalen Handels mit Konfliktrohstoffen läuft über EU-Staaten. 2013 wurden 240 Millionen Handys in die EU importiert, zumeist ohne jede
Kontrolle, unter welchen Umständen die Rohstoffe dafür
abgebaut wurden. Die EU, die sich sonst gerne als Vorbild sieht, liegt beim Thema Unternehmensverantwortung hinter Regelungen in anderen Teilen der Welt zurück. Innerhalb der EU wiederum gehört Deutschland zu
den Schlusslichtern. Das ist peinlich und darf nicht so
weitergehen.
({6})
Deshalb haben wir als Linke auch einen Antrag zum
Thema Unternehmensverantwortung vorgelegt.
Die Bundesregierung verfolgte letztes Jahr noch ein
ehrgeiziges Textilbündnis. Sie kündigte sogar gesetzliche Regelungen an. Ich hatte fast die Hoffnung, dass
endlich etwas passiert und aus den schrecklichen Ereignissen rund um den Einsturz von Rana Plaza, bei dem
über 1 000 Menschen starben, Konsequenzen gezogen
werden. Wo stehen wir heute? Die Bundesregierung hat
sich von der Textillobby den Schneid abkaufen lassen.
Sie setzt nur noch auf Freiwilligkeit. Mittlerweile ist
Herrn Müllers Textilbündnis nur noch ein unverbindlicher Aktionsplan. So dient das Ganze nur noch dem
Image der Unternehmen und der Bundesregierung. Den
Betroffenen hilft es nicht. Dabei müssen Menschenrechte vor Profiten stehen. Das ist Inhalt unseres Antrags.
Die von mir erwähnten Bischöfe haben im Hinblick
auf den Umgang mit Konfliktmineralien gesagt - ich
zitiere -, „dass nichts anderes als verpflichtende Regeln
das Handeln von Unternehmen … ändern kann“. Das
gilt auch für den Textilbereich. Hören Sie auf diese
Bischöfe, und stimmen Sie zu!
Danke schön.
({7})
Das Wort hat die Kollegin Dr. Herlind Gundelach für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! In unserem
Grundgesetz haben Menschenrechte einen ganz besonderen Stellenwert, der nicht zuletzt aus unserer Geschichte herrührt. Für die Bundesregierung, den Deutschen Bundestag und die ihn tragenden Fraktionen ist
der Schutz der Menschenrechte bei der Gestaltung von
Politik immanent und unverzichtbar. Daher setzen wir
uns auch international für die Beachtung der Menschenrechte ein, wo immer es geht. Wir treten für die Abschaffung von Folter und Todesstrafe und für die Sicherung
der Medien- und Meinungsfreiheit ein, und wir kämpfen
gegen Menschenhandel und Unterdrückung. Dennoch
müssen wir leider konstatieren, dass in weiten Teilen der
Welt noch immer Menschenrechtsstandards sehr stark
von unseren abweichen. Wir müssen leider auch konstatieren, dass Menschenrechte nicht überall auf der Welt
den gleichen Stellenwert einnehmen wie bei uns.
Vor diesem Hintergrund sind auch die Bemühungen
der Europäischen Kommission, des Europäischen Parlaments und des Europäischen Rats zu sehen, ein Zertifizierungssystem auf freiwilliger Basis für den Umgang
mit sogenannten Konfliktrohstoffen zu schaffen. Mit
dem Verordnungsentwurf reagiert die Kommission auf
den Dodd-Frank Wall Street Reform and Consumer Protection Act, welcher 2012 in den USA in Kraft getreten
ist. Danach müssen Unternehmen, die an der US-Börse
notiert sind, angeben, ob ihre Produkte Zinn, Tantal,
Wolfram oder Gold enthalten, welches aus der Konfliktregion der Demokratischen Republik Kongo oder
ihren Nachbarstaaten stammt. Für die Einfuhr muss
nachgewiesen werden, dass die Rohstoffe „konfliktfrei“
sind. Auch deutsche Unternehmen sind, sofern sie Zulieferer sind, indirekt von den Regulierungen des DFA
betroffen; denn die Anforderungen des Herkunftsnachweises werden innerhalb der Wertschöpfungskette weitergegeben.
Ziel des von der Kommission am 5. März 2014 vorgelegten Verordnungsentwurfs ist es, Querfinanzierungen
von Rebellengruppen und Konflikten bei der Rohstoffgewinnung zu unterbinden. Dieser Entwurf sieht ein
freiwilliges Selbstzertifizierungssystem für die europäischen Importeure von Zinn, Tantal, Wolfram und Gold
als „verantwortungsvolle Einführer“ vor. Diese Rohstoffe sind - das wurde schon gesagt - elementar für die
Produktion wichtiger Güter. Sie werden unter anderem
für die Herstellung von Autos, Handys, Uhren und sogar
Zahnpasta benötigt, um einmal die Bandbreite ihrer Bedeutung zu dokumentieren.
Im Gegensatz zum Dodd-Frank Act lehnt die EU eine
Länderliste kategorisch ab, da sie kein Land und keine
Region stigmatisieren will. Diese Vorgehensweise finde
ich richtig und der Schwierigkeit des Problems angemessen. Im Übrigen ist das, denke ich, auch eine Erkenntnis
aus den Erfahrungen mit der amerikanischen Regelung.
Allerdings ist die EU-Definition von Konflikt- und
Hochrisikogebieten noch sehr unbestimmt und verlagert
die Definition überwiegend auf die Rohstoffimporteure.
Hier könnte meines Erachtens eine Unternehmensliste
weiterhelfen, die die Firmen abbildet, die die entsprechenden Rohstoffe fördern und exportieren.
Der federführende Ausschuss für internationalen
Handel des Europäischen Parlaments hat im Zuge seiner
Beratung des Antrags vorgeschlagen, das System für die
Upstream-Industrie, das heißt vom Abbau des Erzes bis
zur Schmelze, verpflichtend gelten zu lassen und es für
die Downstream-Industrie beim Prinzip der Freiwilligkeit zu belassen. Für diese Lösung gibt es nach meiner
Kenntnis in der deutschen Wirtschaft durchaus Zuspruch.
Am 21. Mai nun hat das Europäische Parlament über
die Verordnung abgestimmt und sich mit deutlicher
Mehrheit darauf verständigt, die gesamte Lieferkette
verpflichtend zu machen. Die Anerkennung als gewissenhafter Importeur und die entsprechenden Dokumente
sollen von einem unabhängigen Dritten in einem Audit
geprüft werden. Die Namen der zertifizierten Importeure
sollen von der Kommission in einer Art Positivliste als
verantwortungsvolle Hütten und Raffinerien veröffentlicht werden. Die Zertifizierung wiederum soll auf Basis
der OECD-Due-Diligence-Guideline für das verantwortungsvolle Management von Lieferketten durchgeführt
werden. Was ich gut finde, ist, dass KMUs dabei finanziell unterstützt werden; denn ein solches System einzuführen, ist mit erheblichen Kosten verbunden.
Genauso wie die Kommission will das Europäische
Parlament die Sekundärrohstoffe aus dem Anwendungsbereich der Verordnung ausnehmen. Allerdings sollen
die Unternehmen nachvollziehbar nachweisen, dass die
Ressourcen ausschließlich aus recycelten Materialien
oder aus Schrott gewonnen werden. Dazu soll das Unternehmen beschreiben, wie es zu dem Nachweis gelangt
ist. Wie jedoch die Erfahrungen mit dem Dodd-Frank
Act gezeigt haben, sind Nachweispflichten vom Endprodukt zurück bis zur Mine aufgrund der Tiefe und
Komplexität vieler industrieller Wertschöpfungsketten
häufig nicht leistbar und bei Sekundärrohstoffen nahezu
nicht möglich. Mit einer solchen Regelung würde unseres Erachtens daher die Ausnahme von Schrott aus dem
Anwendungsbereich der Verordnung indirekt wieder
ausgehöhlt. Deshalb sollte hier ein möglichst unbürokratischer Nachweis geführt werden können, wie er sich
schon im Dodd-Frank Act bewährt hat.
Das ist in der Tat ein schwieriges Feld. Viele Unternehmen in Deutschland sind sich ihrer verantwortlichen
Position innerhalb der Wertschöpfungskette schon seit
langem bewusst und setzen bereits seit vielen Jahren auf
freiwillige Initiativen, welche sehr gut funktionieren und
die auf Basis der OECD-Leitlinie für das verantwortungsvolle Management von Lieferketten formuliert
wurden.
({0})
- Das können Sie im Internet genau nachlesen.
({1})
Insofern ist es nur folgerichtig, dass nach den Vorstellungen von Kommission und Parlament solche Unternehmensinitiativen oder andere entsprechende Systeme
als gleichwertig anerkannt werden sollen. Einen Durchbruch könnten wir vermutlich dann erzielen, wenn weltweit mehr Maßnahmen zur Förderung der Zertifizierung
von Schmelzen ergriffen würden, damit genügend Rohstoffe von zertifizierten Schmelzbetrieben auf dem europäischen Markt zur Verfügung stünden. Daher lautet
mein Appell an die Bundesregierung, sich neben einer
europäischen Regelung für einen internationalen Ansatz
zu engagieren.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linken sowie von Bündnis 90/Die Grünen, Sie fordern in Ihren
Anträgen, es solle keine Freiwilligkeit geben, sondern
eine Offenlegungspflicht für die gesamte Lieferkette, die
von einer Behörde der Mitgliedstaaten regelmäßig
kontrolliert werden soll. Ferner wollen Sie in die Sorgfaltspflicht die Wahrung der Menschenrechte ausdrück10812
lich mit einschließen. Wie das allerdings kontrolliert
werden soll, verraten Sie uns nicht.
Ich betone noch einmal: Ich halte den Vorschlag der
Kommission - gegebenenfalls in leicht veränderter
Form, wie vom Handelsausschuss vorgeschlagen - für
einen geeigneten und praktikablen Weg, und zwar sowohl für die Unternehmen als auch für die betroffenen
Länder. Eventuell könnte man daran denken, nach einem
Zeitraum von drei bis fünf Jahren eine Evaluierung vorzusehen und dann, falls erforderlich, nachzusteuern. Mit
dem Aufbau einer neuen Bürokratie dienen Sie aber weder der Sache noch den Menschen, die in den betroffenen Ländern in der Wertschöpfungskette arbeiten. Denn
eines müssen wir sehen: Schon heute sind immer weniger europäische Firmen in diesen Ländern tätig. Sie
werden zunehmend vor allem von asiatischen Firmen
verdrängt, die in der Regel die Empfehlungen der OECD
zu Sozialstandards beim Abbau von Rohstoffen nicht beachten. Deshalb sollten wir unsere europäischen Firmen
stärken, weiterhin vor Ort im Interesse der dort lebenden
Menschen zu arbeiten.
Herzlichen Dank.
({2})
Das Wort hat der Kollege Uwe Kekeritz für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Ich will auf einer ganz anderen Ebene argumentieren.
Rohstoffe aus Konfliktgebieten und brutale Bürgerkriege stehen oft in einem direkten Zusammenhang. Die
Menschen in den Gruben und Bergwerken werden ausgebeutet, und ihre Lebensgrundlage wird zerstört. Die
Verantwortung der Unternehmen spielt dabei eine zentrale Rolle. Aber die Konzerne brauchen keine Angst zu
haben. Es wird keine Maßnahmen geben. Die Regierung
Merkel kämpft seit Jahren gegen verbindliche Regelungen, und das ist so von der Industrie gewollt.
Wir begrüßen deshalb, dass auf EU-Ebene trotz
deutschen Gegenwinds endlich der Abbau von und der
Handel mit Konfliktrohstoffen geregelt werden soll.
({0})
Allerdings wurde selbst dieser Kommissionsantrag auf
Drängen der Industrie so lange weichgespült, bis sicher
war, dass Unternehmen auch in Zukunft praktisch keine
Maßnahmen zur Lieferkettenkontrolle befürchten müssen. Es ist gut, dass am 20. Mai - das wurde schon gesagt - das EU-Parlament eingegriffen und verbindliche
Standards gefordert hat, und zwar mit den Stimmen der
SPD.
({1})
Daher hoffe ich, dass unsere altehrwürdige SPD auch in
diesem Hause endlich Farbe bekennt.
({2})
Mit dem Festhalten an der Freiwilligkeit reitet diese Regierung tote Pferde. Verbindlichkeit wird an immer mehr
Stellen eingefordert und auch eingeführt, aber Deutschland bremst. Immer mehr Staaten haben ein Unternehmensstrafrecht, und auf UN-Ebene werfen der RuggieProzess und das Erarbeiten von bindenden Verträgen
ihre Schatten voraus.
Frankreich plant, sein Handelsrecht anzupassen. Zukünftig sollen ökologische und soziale Standards in Produktionsketten verbindlich eingehalten werden. Das
Prinzip der Freiwilligkeit - das haben die Franzosen verstanden - reicht eben nicht aus. Wir wissen: Solange das
Einhalten von Standards ein Wettbewerbsnachteil ist, so
lange werden die Unternehmer von sich aus nicht die
notwendigen Schritte einleiten.
Der Dodd-Frank Act hat bewiesen, dass eine gesetzliche Regulierung funktioniert. Wenn auch bei weitem
nicht perfekt, hat er aber in den vergangenen Jahren zu
klaren Verbesserungen in vielen Minen geführt.
Seit Jahren wird TTIP und Co. gegen den Willen der
Bevölkerung unter dem Vorwand verhandelt, dass man
gemeinsame Standards brauche. Wenn es aber plötzlich
um Konfliktrohstoffe geht, halten Sie nichts mehr davon.
Das, mit Verlaub, ist eine ziemlich unehrliche Politik.
({3})
Die KfW und die DEG finanzieren Projekte, die an
Menschenrechten und ökologischen Rechten schlicht
vorbeigehen. Dabei werden munter die hauseigenen
Standards ignoriert. Da kann ich nur dem Minister
Müller, der jetzt nicht da ist, zurufen - Herr Fuchtel, Sie
richten es ihm aus -: Fluchtursachen zu bekämpfen,
fängt auch hier an, bei der DEG und der KfW. Diese Organisationen müssen Vorbild sein, und sie müssen vor
allen Dingen in Zukunft Transparenz zeigen. Es kann ihnen nicht gestattet werden, dass sie sich wie Finanzhaie
aufführen.
({4})
Über Fluchtursachen reden, ist das eine; der Kampf
dagegen fängt aber bei uns hier an. Es wäre besser, diese
Regierung würde sich in Europa für verbindliche Standards einsetzen, anstatt von Auffanglagern in Libyen zu
schwadronieren. Verbindliche Umwelt- und Sozialstandards würden dazu beitragen, dass Millionen Menschen
einer besseren Beschäftigung nachgehen könnten. Sobald die heimische Wirtschaft gerade jungen Menschen
Zukunftsperspektiven bietet, würden sich Fluchtursachen, die zur Radikalisierung ganzer Gesellschaften, zur
Fragilität und auch zum Krieg führen können, stark reduzieren.
Da die Linke heute schon Papst Franziskus zitiert hat,
möchte ich ihn auch anführen. Wenn Papst Franziskus
sagt, dass dieses Wirtschaftssystem tötet, dann hat er
auch die Konfliktmineralien im Sinn. Ich appelliere deshalb an die SPD, das Thema der globalen Gerechtigkeit
nicht auf dem Altar des Koalitionsfriedens zu opfern.
({5})
Ich würde auch gerne die CDU/CSU an das C in ihrem
Parteinamen erinnern; aber ich glaube, das macht gar
keinen Sinn.
Danke schön.
({6})
Das Wort hat der Kollege Klaus Barthel für die SPDFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! In der Tat, weltweit gibt es
derzeit rund 400 gewaltsame Konflikte, sprich: Kriege
und Bürgerkriege. Davon sind etwa 20 Prozent in Verbindung mit Konflikten um Rohstoffe zu bringen. Das
heißt, es gibt weltweit rund 80 solcher Konflikte. Diese
Zahlen sind nicht von mir, sondern sie zitiert die Europäische Kommission selber als Ausgangspunkt für ihren,
wie es so schön heißt - ich zitiere -, „Vorschlag für eine
Verordnung … zur Schaffung eines Unionssystems zur
Selbstzertifizierung der Erfüllung der Sorgfaltspflicht in
der Lieferkette durch verantwortungsvolle Einführer von
Zinn, Tantal, Wolfram, deren Erzen und Gold aus
Konflikt- und Hochrisikogebieten“; so heißt das Ganze.
Dieser Vorschlag ist vom März 2014.
In der Tat hat die Kommission erkannt, dass es gilt
- ich darf noch einmal zitieren -, „den Zusammenhang
zwischen der Förderung von Bodenschätzen und Konflikten aufzubrechen“. Sie erkennt auch, dass wir dabei
verschiedene internationale Verpflichtungen einlösen
müssen. Sie anerkennt auch, dass das nicht nur eine
außenpolitische und entwicklungspolitische Frage ist,
sondern auch eine handels- und wirtschaftspolitische.
Mit dieser Aussage ist sie den Oppositionsfraktionen
allerdings eindeutig voraus; denn dort kommen alle
Anträge zu diesem Thema immer „nur“ - in Anführungszeichen - von den Entwicklungspolitikerinnen und
Entwicklungspolitikern. Ich glaube, hier wäre auch bei
Ihnen einmal eine Verbreiterung der Debatte notwendig.
({0})
Inhaltlich sind Ihre Initiativen ja aller Ehren wert; aber
wenn Sie die Probleme vom Kern her angehen wollen,
dann müssen Sie vor allen Dingen eben auch die wirtschafts- und handelspolitische Ebene erreichen und damit die Diskussion auf eine breitere Basis stellen.
({1})
Inhaltlich halten aber auch wir den Verordnungsvorschlag der Kommission für unzureichend. Die Kommission will zwar die Substanz von Zertifikaten gesetzlich
regeln, aber es eben den Unternehmen überlassen, ob sie
sich mit ihrer Wertschöpfungskette freiwillig zertifizieren lassen wollen. An dieser Stelle bewegen sich die
Kommission und die Freunde der Freiwilligkeit - das
muss man sagen - in einen fundamentalen Widerspruch
hinein: Einerseits wird zwar betont, dass man Initiativen
von Staaten und Unternehmen, etwa das EITI-Engagement der EU in der OECD, die Tin Supply Chain Initiative und viele andere, unterstützt; aber gleichzeitig stellt
die Kommission auch selber fest, dass nur 16 Prozent
der Hüttenwerke weltweit sich an solchen Initiativen beteiligen. Andererseits wird dann argumentiert, dass eine
verpflichtende Regelung, eine verpflichtende Teilnahme
von Unternehmen bürokratisch und kostenintensiv ist.
Dann ergibt sich aber doch die Frage: Welcher Anreiz
soll denn dann für irgendein Unternehmen entstehen,
sich freiwillig solch einer Zertifizierung zu unterwerfen;
denn es begibt sich doch, wenn Bürokratiekosten anfallen, in einen Wettbewerbsnachteil, zum Beispiel gegenüber den asiatischen Unternehmen, die hier zitiert worden sind. Das heißt, Verpflichtung stellt erst einmal
Fairness zwischen den Unternehmen im Wettbewerb und
Wettbewerbsgleichheit her.
({2})
Gerade wenn wir uns die aufgelistete Vielfalt an Initiativen anschauen, wird klar, wie unübersichtlich, wie
intransparent und wie bürokratisch das Ganze am Ende
ist. Deswegen geben wir zu: Es mag sinnvoll sein, am
Anfang ein verbindliches System einzuführen. Ein
solches System mag am Anfang Kosten und Aufwand
verursachen; aber am Ende bedeutet es doch wesentlich
weniger Bürokratie, es ist wesentlich transparenter, es ist
mit Verbindlichkeit und Kontrollierbarkeit von Vorteil
für alle und von Nachteil für alle schwarzen Schafe.
Deswegen ist es am Ende billiger als das Durcheinander,
das wir im Moment haben.
({3})
Insofern ist die Debatte, seitdem der Vorschlag der
Kommission auf dem Tisch liegt - seit einem Jahr -,
nicht nur zeitlich, sondern auch inhaltlich fortgeschritten. Richtig ist der weltweite Ansatz der Kommission.
Richtig ist, die Zertifizierung gesetzlich zu regeln. Aber
wir brauchen in der Tat eine Verbindlichkeit, und wir
brauchen die ganze Wertschöpfungskette. Dafür zu sorgen, das ist das Ziel des Trilogverfahrens, das jetzt auf
europäischer Ebene anläuft.
Wir stellen fest: In diesem Jahr haben wir die Zeit genutzt, einen Lernprozess in Bewegung zu setzen. Mit
„wir“ meine ich die SPD-Bundestagsfraktion. Darüber
gehen Sie jetzt locker hinweg, aber wenn Sie die Antworten auf Ihre Anfragen an die Bundesregierung lesen,
merken Sie: Da hat sich eine Positionsveränderung voll10814
zogen. Die Bundesregierung tritt jetzt auch für verbindliche Regelungen ein. Die SPD-Fraktion hat zum Beispiel
zur Umsetzung der SDGs einen Beschluss gefasst. Wir
haben hier vor ungefähr vier Wochen anlässlich des G-7Gipfels eine Debatte gehabt, in der ich genau dies alles
ausgeführt habe und Bundesentwicklungsminister
Müller sich in Zwischenrufen eindeutig zu dieser Position bekannt hat. Das heißt, es gibt in dieser Koalition einen Lernprozess, und es gibt einen wachsenden Konsens
in der Koalition, sich in dieser Frage zu bewegen.
({4})
- Man kann das alles nachlesen. Schauen Sie sich die
Protokolle und die Anfragen an!
Wir sollten dieses breite gesellschaftliche Bündnis
von NGOs, Kirchen und Gewerkschaften, von dem
schon die Rede war, nutzen und unsere Perspektive deutlich machen, übrigens nicht nur irgendwann einmal bei
den Konfliktmineralien, sondern auch bei Hemden, Holz
und was es da alles gibt, und fairen Handel statt freien
Handel durchsetzen. Wenn wir uns ein Gerät, ein Kleidungsstück, ein Nahrungsmittel oder was auch immer
kaufen, soll daran kein Blut kleben, sondern wir alle
wollen bezahlen für gute Arbeit, für ökologische Standards und nicht für Waffen, Krieg und Bürgerkrieg.
({5})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 18/5107 und 18/5203 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Die Federführungen sind jedoch strittig. Die Fraktionen
der CDU/CSU und SPD wünschen Federführung jeweils
beim Ausschuss für Wirtschaft und Energie. Die Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen wünschen
Federführung jeweils beim Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung.
Ich lasse zuerst über die Überweisungsvorschläge der
Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen
abstimmen: Federführung jeweils beim Ausschuss für
wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. Wer
stimmt für diese Überweisungsvorschläge? - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Überweisungsvorschläge sind mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen
abgelehnt.
Ich lasse nun über die Überweisungsvorschläge der
Fraktionen der CDU/CSU und SPD abstimmen: Federführung jeweils beim Ausschuss für Wirtschaft und
Energie. Wer stimmt für diese Überweisungsvorschläge?
- Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Überweisungsvorschläge sind mit den Stimmen der CDU/
CSU-Fraktion und SPD-Fraktion gegen die Stimmen der
Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie 2013/34/EU
des Europäischen Parlaments und des Rates
vom 26. Juni 2013 über den Jahresabschluss,
den konsolidierten Abschluss und damit verbundene Berichte von Unternehmen bestimmter Rechtsformen und zur Änderung
der Richtlinie 2006/43/EG des Europäischen
Parlaments und des Rates und zur Aufhebung der Richtlinien 78/660/EWG und 83/
349/EWG des Rates ({0})
Drucksachen 18/4050, 18/4351
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz
({1})
Drucksache 18/5256
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Metin Hakverdi für die SPD-Fraktion.
({2})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Nach guten Verhandlungen bringen wir heute
das Bilanzrichtlinie-Umsetzungsgesetz rechtzeitig vor
Ablauf der Umsetzungsfrist zum Abschluss. Ich danke
dem Kollegen Professor Hirte für die gute Zusammenarbeit. Ebenso möchte ich den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in den Fraktionen und im Bundesministerium
der Justiz und für Verbraucherschutz danken sowie zuletzt dem zuständigen Parlamentarischen Staatssekretär
Christian Lange.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ein redaktioneller
Hinweis. Ich möchte Ihnen an dieser Stelle zunächst eine
kleine Berichtigung in Artikel 7 des Gesetzentwurfs
vorschlagen. Dafür gibt es einen einfachen Grund. Wir
haben gestern im Rechtsausschuss beraten und unter anderem eine Übergangsvorschrift im Einführungsgesetz
zum GmbH-Gesetz vorgesehen. Darin ist jedoch eine
falsche Paragrafenbezeichnung enthalten. Anstatt, wie
aufgeführt, als „§ 5“ müsste diese Übergangsvorschrift
als „§ 6“ bezeichnet werden. Dies ist entsprechend im
Artikel 7 zu korrigieren. Ich bitte Sie deshalb, gleich mit
mir darüber zu entscheiden und den erforderlichen Fristverzicht zu erklären.
Mit dem Bilanzrichtlinie-Umsetzungsgesetz setzen
wir Vorgaben der EU eins zu eins um. Dadurch werden
die Rechnungslegungsvorschriften für Unternehmen, die
im europäischen Binnenmarkt agieren, weiter harmonisiert. Mit dem Bilanzrichtlinie-Umsetzungsgesetz verfolgen wir zwei Ziele.
Erstens. Wir wollen die Bürokratielast der kleinen
und mittelständischen Unternehmen bei Rechnungslegungsvorgaben reduzieren. Dafür haben wir die
Schwelle für die Einstufung als mittelgroßes Unternehmen um über 20 Prozent angehoben. Der Mittelstand ist
insbesondere in unserem Land der Motor unserer innovativen und wirtschaftlichen Kraft. Deshalb ist heute ein
guter Tag für den Mittelstand in Deutschland.
({1})
Der Kreis der Unternehmen, die von dieser Privilegierung profitieren, wird jetzt größer.
Zweitens. Wir wollen mehr Transparenz bei den
Unternehmen, die sich in der Rohstoffförderungsindustrie engagieren. Sie haben künftig in ihren Bilanzen
offenzulegen, welche Mittel sie zu welchem Zweck
staatlichen Stellen zuwenden. Das ist ein Beitrag zur Bekämpfung der weltweiten Korruption bei der Rohstoffförderung. Korruption ist die Geißel wirtschaftlicher
Prosperität: Nicht diejenigen, die besonders gut sind,
bekommen den Zuschlag, sondern diejenigen, die besonders gut bestechen. Mit der heute verabschiedeten
Pflicht zur Veröffentlichung dieser Zahlungen wirken
wir dieser Korruption entgegen.
({2})
Wir haben eine kritische europäische Öffentlichkeit, die
auf einen Korruptionsverdacht sehr sensibel reagiert.
Die Unternehmen werden es sich in Zukunft zweimal
überlegen, ob sie unseriöse Geschäftspraktiken zum eigenen Gewinn nutzen.
In der öffentlichen Anhörung wurde kritisiert, dass
das Bußgeld bei Verstößen gegen die Offenlegungspflicht zu gering sei. Das hat die Fraktion Die Linke veranlasst, einen Änderungsantrag zu stellen, nach dem der
im Gesetzentwurf vorgesehene Bußgeldbetrag von
50 000 Euro auf dann 500 000 Euro angehoben werden
soll. Warum 500 000 und nicht 1 Million Euro? Wo liegt
denn nun die Schmerzgrenze für die Unternehmen in der
Rohstoffindustrie? Mit welchem Betrag schrecken wir
sie effektiv ab? Ich bin der Meinung, dass der Betrag
von 50 000 Euro ausreicht.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linken, ich
sage Ihnen auch, warum der Betrag ausreichend ist: Bei
unterlassenen oder unvollständigen Berichten gibt es im
HGB bereits jetzt ein Erzwingungsverfahren mit einem
Ordnungsgeld von bis zu 25 000 Euro. Dieses Ordnungsgeld kann wiederholt festgesetzt werden, und zwar
so lange, bis ein ordnungsgemäßer Bericht vorliegt.
Insofern, glaube ich, ist der Tatbestand heute schon ausreichend geregelt. Ganz große Konzerne, um die es hier
geht, werden in Zukunft über das TransparenzrichtlinieUmsetzungsgesetz erfasst mit paralleler Regelung und
Sanktionen. Diese Richtlinie werden wir zum 27. November dieses Jahres umsetzen. Wenn es kapitalmarktorientierte Unternehmen dann unterlassen, ihre Zahlungsberichte offenzulegen, oder ihre Offenlegung
fehlerhaft ist, dann kann künftig die Höhe der Sanktionen bis zu 10 Millionen Euro betragen. Das sollte sicher
genug abschrecken.
Zum Abschluss eine Bemerkung zu den Pensionsrückstellungen und dem Abzinsungssatz - das geht insbesondere an die Kolleginnen und Kollegen der Union -:
Wir haben im Rechtsausschuss beim Justizministerium
Prüfung beauftragt. Wir sehen dieser Prüfung sehr gern
entgegen und werden dann gegebenenfalls noch einmal
handeln.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. Vielen
Dank.
({3})
Das Wort hat der Kollege Richard Pitterle für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Das Bilanzrecht - und unsere parlamentarische Beschäftigung damit - ist auf den ersten
Blick kein Thema, das bei vielen Bürgerinnen und Bürgern, ja nicht einmal bei vielen Abgeordneten großes
Interesse weckt, wie man auch heute Abend sehen kann.
Es betrifft vom Einzelkaufmann bis hin zum global agierenden Konzern nicht nur jeden, sondern es geht vor
allem um mehr Transparenz bei Unternehmen. Es ist allgemein bekannt, dass die westlichen Industrienationen
weltweit in großem Umfang Bodenschätze und Ressourcen ausbeuten. Öl, Gas, Kohle, Erz und Seltene Erden
sind Rohstoffe, die die Industrienationen dringend benötigen. Dabei locken gigantische Gewinne. Doch es ist
Blutgeld, das durch sklavenartige Arbeitsbedingungen
und die Zerstörung der Umwelt erzielt wird. Ermöglicht
wird es durch korrupte Machthaber, die sich von den
Konzernen schmieren lassen. Bisher konnten die Rohstoffkonzerne diese Zahlungen in den Bilanzen verbergen. Mit dem heute zu beschließenden BilanzrichtlinieUmsetzungsgesetz ist damit Schluss. Ich spreche von
den Zahlungsberichten. Mit Zahlungsberichten müssen
Unternehmen der Rohstoffindustrie in Zukunft erklären,
welche Gelder sie staatlichen Stellen gezahlt haben, um
ihren Geschäften nachgehen zu können. Damit wird für
alle aufgedeckt, was bisher nicht sichtbar war: Wer hat
an wen warum wie viel gezahlt?
Diese Zahlungsberichte verhindern natürlich nicht,
dass Rohstoffe und Ressourcen ausgebeutet werden.
Zahlungsberichte erzwingen auch keine nachhaltige Entwicklungspolitik. Diese Aufgaben lassen sich mit dem
Bilanzrecht leider nicht lösen. Mit den Zahlungsberichten schaffen wir aber Transparenz und legen einen
Grundstein für den Wandel.
Mehr Transparenz und einen fairen Wettbewerb mit
internationalen Konzernen wünscht sich auch das kleine
und mittelständische Unternehmen in Deutschland. Was
verbindet das örtliche alteingesessene Möbelhaus, den
regionalen Autovermieter oder den familiengeführten
Elektronikfachmarkt? Sie müssen ihre Geschäftszahlen
detailliert und mit Erläuterungen über den Geschäftsverlauf von einem unabhängigen Buchprüfer kontrollieren
lassen, und sie müssen ihre Bücher dann für alle einsehbar veröffentlichen. Dafür interessieren sich selbstverständlich nicht nur die Geschäftspartner dieser Unternehmen, sondern jeder Mitbewerber kann sich so einen
guten Überblick über die geschäftliche Entwicklung seiner Konkurrenz verschaffen.
Fair wäre es, wenn das für alle Unternehmen gelten
würde. Schlüpfen aber das Möbelhaus, der Autovermieter oder der Elektronikfachmarkt unter das Dach eines
Konzernes, können sie zwar weiter ihren Konkurrenten
in die Karten gucken, ihr Geschäft wird aber vor interessierten Blicken geschützt; denn Konzernunternehmen
genießen Sonderrechte. Sie müssen ihre Geschäftszahlen
nicht mehr prüfen lassen. Sie müssen ihre Bücher nicht
mehr veröffentlichen. Es gibt nur noch den allgemeinen
Bericht des gesamten Konzerns. Dort erfährt der deutsche Mittelstand vielleicht Spannendes über die Globalisierung, aber nichts über seinen direkten Nachbarn und
Konkurrenten. Wir wollen, dass alle Unternehmen
gleich behandelt werden.
({0})
Das, meine Damen und Herren von der Großen Koalition, ist doch auch in Ihrem Interesse. Schließlich betonen Sie doch stets die Bedeutung des deutschen Mittelstandes für Wachstum, Wohlstand und Arbeitsplätze.
Überdenken Sie daher noch einmal Ihre Ablehnung unseres Antrages, mit dem wir diese Ungerechtigkeit beseitigen wollten. Schaffen Sie mit uns Transparenz für
alle! Stärken Sie mit uns kleine und mittelständische Unternehmen in Deutschland!
Vielen Dank.
({1})
Der Kollege Dr. Heribert Hirte hat für die CDU/CSUFraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Es ist gut, dass Sie, Frau Präsidentin, den vollen Titel des
Gesetzentwurfs nicht vorgelesen haben. Die Vorsitzende
des Rechtsausschusses hatte gestern auch schon Schwierigkeiten; denn er ist so lang und sperrig, dass das jetzt
eine Minute der Redezeit kosten würde. Aber warum ist
das so?
Es ist ein Gesetz, das der Umsetzung einer neuen EGRichtlinie dient. Das bedeutet, es geht um die Umsetzung von Europarecht. Dieser Punkt hat uns - das
möchte ich an dieser Stelle ausdrücklich erwähnen - in
den Beratungen sehr lange beschäftigt. Wir haben eine
ganze Reihe von Punkten, eine ganze Reihe von Anregungen, die aus der Anhörung hervorgegangen sind und
bei denen wir vor der Frage gestanden haben: Können
wir das machen? Wir wären vielleicht in dem einen oder
anderen Punkt denjenigen, die die Anregungen gegeben
haben, gerne entgegengekommen. Aber es wurde uns
immer wieder gesagt - das haben wir zum Teil auch
selbst gesehen -, dass die eigentliche Schwierigkeit in
der zugrunde liegenden Richtlinie lag.
Wir sind deshalb im Einvernehmen mit dem Justizministerium zu dem, wie ich finde, guten Vorschlag gekommen, dass wir sagen: Das basiert auf europäischem
Recht. Manche der Zweifel des europäischen Rechts,
etwa weil der Europäische Gerichtshof noch nicht entschieden hat oder weil wir gar nicht wissen, was England, Frankreich und Spanien zu den entsprechenden
Regelungen machen, können wir nicht lösen. Deshalb
haben wir gesagt: Wir verstehen das Gesetz der Sache
nach als eine gleitende Verweisung auf europäisches
Recht.
({0})
Das bedeutet: Wenn sich bei der Auslegung europäischen Rechts etwas in der einen oder anderen Richtung
ändert, können wir - das Justizministerium hat uns das
zugesagt - in Zusammenarbeit der Koalitionsfraktionen
gemeinsam mit dem federführenden Ministerium die
entsprechenden Punkte anpassen. Ich glaube, das hat
durchaus Vorbildcharakter, weil wir immer wieder vor
der Frage stehen, wie wir mit den zugrundeliegenden
Richtlinien umgehen sollen.
Wir haben einige weitere Punkte, die in der Diskussion waren, im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens klargestellt. Ich möchte drei Punkte herausheben.
Der erste Punkt ist: Wir haben die Definition des
Konsolidierungskreises - das ist der Kreis der von einem
konzernbilanzerstellenden Unternehmen einzubeziehenden Unternehmen - präziser gefasst. Hier gab es Kritik;
denn es war nicht klar, ob die bisher erfassten Unternehmen, die eine Verlustausgleichspflicht nach § 302 Aktiengesetz haben, vielleicht nicht mehr erfasst sein könnten. Wir haben das im Gesetz klargestellt und in der
Begründung auch erläutert. Das bedeutet für die deutschen bilanzierenden Unternehmen keine Schlechterstellung gegenüber dem derzeit noch geltenden Recht.
Wir haben in einem zweiten Punkt, der sogenannten
phasengleichen Gewinnrealisierung, vor allen Dingen in
der Begründung und ein kleines bisschen auch im Gesetzestext nachgesteuert. Nämlich: Darf ein Konzernmutterunternehmen den Gewinn, der in der Tochtergesellschaft gemacht wurde, gleichzeitig dann ausweisen,
wenn er in der Tochtergesellschaft entstanden ist? Eigentlich dürfte es das nicht, da es Jahre dauert, bis der
Gewinn oben ankommt. Weil das etwas schwieriger ist,
hatte das Ministerium eine Rücklage vorgeschlagen. Wir
sagen jetzt: Die Rücklage kann auch wieder aufgelöst
werden, wenn hinreichend sicher ist, dass der Gewinn
nach oben transferiert werden kann. Auch in diesem
Punkt können wir also bei der augenblicklichen Rechtsund Gesetzeslage bleiben.
Ein dritter Punkt: die sogenannte Erklärung zur Unternehmensführung. Wir haben im Bericht klargestellt
und sind uns auch einig: Sie ist als generalisierende Aussage über das gesamte Unternehmen zu verstehen. Eine
deutsche Muttergesellschaft muss bei Angaben, die sich
im italienischen oder im tschechischen Recht ergeben,
also nicht überlegen: Was wäre das Äquivalent nach
deutschem Recht? Das bringt eine deutliche Vereinfachung bei den entsprechenden Angaben.
Ich glaube, in allen diesen Punkten haben wir in den
Beratungen einen guten Schritt gemacht.
({1})
Ein Punkt ist offen geblieben, und das hat, jedenfalls
am Ende, die Verhandlungen und die Beratungen etwas
verzögert. In der Anhörung wurde uns gesagt, dass der
Diskontierungszinssatz für Rückstellungen, insbesondere für Pensionsrückstellungen, angesichts der niedrigen Zinsen, die wir im Augenblick haben, sowie der Berechnungszeitraum angepasst werden müssten, weil
sonst die Rückstellungslast, die auf dem Unternehmen
ruht, zu hoch ist. Das ist etwas komplizierter, und weil es
etwas komplizierter ist, haben wir gesagt, über diesen
Punkt müssen wir ein bisschen länger nachdenken. Im
Grundsatz sind wir uns hier einig. Deshalb wollen wir
gleich eine entsprechende Entschließung annehmen.
Über die Einzelheiten werden wir aber erst im Herbst
dieses Jahres beschließen. Ich hoffe in diesem Punkt auf
gute Beratungen. Im Übrigen hoffe ich natürlich auf Zustimmung zu diesem Gesetzentwurf von Ihnen allen.
Vielen Dank.
({2})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat der Kollege Dr. Thomas Gambke das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich möchte ganz besonders die Zuhörer begrüßen, die
diesem Thema zu so später Stunde lauschen. - Die Umsetzung der Richtlinie in nationales Recht - auch ich verkürze die Überschrift - ist ein gutes Zeichen dafür, dass
Europa funktioniert. Ich finde, das sollte man einmal
deutlich sagen. Wichtige Änderungen werden von Europa vorbereitet. Als Beispiel nenne ich die Rohstofftransparenz. Aber auch der Bürokratieabbau für kleine
und mittlere Unternehmen wird von Europa angeregt.
Ich finde, das sollte betont und unterstrichen werden.
({0})
Wenn gerade kleine und mittlere Unternehmen in vielen Bereichen entlastet werden, dann sage ich als Mittelstandsbeauftragter meiner Fraktion: Sehr gut! Das unterstützen wir.
({1})
Ich muss allerdings etwas zum parlamentarischen Rahmen sagen: Seit zwei Jahren liegt der Änderungsvorschlag zur Richtlinie auf dem Tisch. Am 20. Februar gab
es dann - ich muss sagen: endlich - den Entwurf. Das
führt uns, muss uns zu einer Enthaltung bei diesem Gesetz führen. Am Montag bringen Sie mehr als 100 Seiten
Änderungen. Es ist von einer Opposition in der Kürze
der Zeit nicht zu schaffen, das seriös durchzugehen, zu
bewerten. Deshalb bedaure ich ausdrücklich, dass wir
uns bei einem Gesetz, das wichtige Dinge enthält, enthalten müssen. Ich bitte sehr darum, dass dieses parlamentarische Verfahren so geändert wird, dass wir wirklich in eine Bewertung von solchen Vorlagen kommen
können.
({2})
Rohstofftransparenz ist ein wichtiges Thema. Auch
da hat Europa uns in der Bundesrepublik dazu gebracht,
endlich einen Schritt in Richtung Offenlegung zu gehen;
das ist hier betont worden. Wir haben uns in der Anhörung ein bisschen mit dem Thema der 50 000 Euro befasst, mit denen eine Nichtoffenlegung strafbewehrt ist.
Wir hätten uns vorgestellt - ich will hier noch einmal
wiederholen: ich finde es eigentlich bedauerlich, dass
wir mit dem Thema so wenig umgehen konnten -, dass
da erstens ein Eskalationsmechanismus enthalten sein
muss. Und es ist ja erwähnt worden: Es geht manchmal
um wirklich sehr hohe Beträge, wo 50 000 Euro, mit denen man sich freikaufen kann, Peanuts sind. Insofern
hätten wir erwartet, dass man darüber noch einmal intensiver nachdenkt und einen Eskalationsmechanismus beschließt. Wir bedauern sehr, dass das nicht passiert ist.
Es gibt übrigens auch einen Hinweis darauf, was man
noch hätte machen können. Sie beschränken die Bilanzierungsrichtlinie ja auf das Thema Rohstoffe. Man hätte
dort natürlich noch mehr Berichtspflichten verlangen
können; wir haben vorhin darüber geredet. Ich bedaure
ausdrücklich, dass die Bundesregierung gerade in diesem Punkt Europa eher bremst denn fördert, und ich
hoffe sehr, dass die Europäer uns dazu bringen - ob das
in Steuersachen ist, ob das in ökologischer Hinsicht ist -,
in der Bilanzierung weitere Schritte zu gehen, damit die
Unternehmen da transparenter werden, als sie es heute
sind.
Ein kurzer letzter Punkt zu den Pensionsrückstellungen. Ich unterstreiche ausdrücklich die Notwendigkeit,
da etwas zu tun, bitte aber darum, dass wir in der Prüfung nicht nur auf die Pensionsrückstellungen schauen.
Es geht hier um strukturelle Änderungen. Wobei ich da
noch einmal frage, ob das allein mit Fristigkeit gelöst
werden kann, dass also aus den 7 Jahren jetzt 12 oder
14 Jahre gemacht werden. Wir müssen dort jedes Detail
betrachten; denn es ist nicht richtig, wenn wir uns in einer Niedrigzinsphase nur die Pensionsrückstellungen angucken. Es ist richtig, dass wir darauf gucken; aber es
wäre sehr wichtig, dass wir das Thema weiter fassen, um
eine Regelung zu finden, die eben auch auf andere Sachverhalte entsprechend anzuwenden ist.
Vielen Dank.
({3})
Das Wort hat der Kollege Dr. Sascha Raabe für die
SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Heute ist ein guter Tag für Afrika, für viele Entwicklungsländer. Bisher ist es so gewesen, dass diese
Länder, gerade auf dem afrikanischen Kontinent, vor
Rohstoffreichtum eigentlich nur so strotzen und trotzdem zu den ärmsten Ländern und Regionen dieser Welt
gehören. Das liegt natürlich daran, dass der Rohstoffreichtum leider oft in korrupten Kanälen versickert, sowohl auf der Geber- als auch auf der Nehmerseite. Damit das klar ist: Zur Korruption gehören immer zwei:
Die, die bestechen, und die, die es annehmen. Mit diesem Gesetz wollen wir beiden Seiten das Handwerk legen. Jetzt muss offengelegt werden, wer schmiert. Nun
kann das verhindert werden. In diesem Sinne ist das
heute ein großer Schritt nach vorne für die Menschen in
Afrika. Herzlichen Dank dafür!
({0})
Erstmals werden große Unternehmen, die Erdöl, Erdgas, Kohle, Salze oder Erze fördern, Stein oder Erden
abbauen oder auch Holzeinschlag in Primärwäldern betreiben, verpflichtet, über ihre Zahlungen an staatliche
Stellen zu berichten, diese zu veröffentlichen. Es ist nun
einmal so, dass Transparenz der erste Schritt ist, um
Korruption zu verhindern. Ich zitiere hier einmal Tobias
Kahler, den Deutschlanddirektor einer NGO, ONE, die
sich da auch sehr eingesetzt hat. Der hat gesagt, dass das
Abkommen, das auf EU-Ebene verabschiedet wurde und
das wir heute umsetzen, ein großer Schritt nach vorne im
Kampf gegen Korruption ist. Das Gesetz wird Licht in
die oft dunkle Welt der Geschäfte mit Öl, Gas und wertvollen Rohstoffen bringen. Es wird den Bürgern zeigen,
wohin das Geld, das für ihre natürlichen Ressourcen gezahlt wird, wirklich fließt. Dieses Gesetz wird möglicherweise Millionen Menschen aus extremer Armut befreien.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, auch wir,
die SPD-Bundestagsfraktion, haben uns viele Jahre lang
dafür eingesetzt, dass dieses Gesetz in der jetzigen
scharfen Form auf EU-Ebene heute in Kraft tritt. Hierzu
lag schon im Dezember 2012 ein Antrag vor. Ich bin
froh, dass unser Hauptpunkt, nämlich die projektbezogene Offenlegung, berücksichtigt wurde. Durch die
Offenlegungspflicht wird verhindert, dass nationale Gesetzgebungen, die dagegen stehen, wirksam werden,
dass das sogenannte Tyrannenveto - so wurde es genannt; es findet hier aber keinen Eingang - unwirksam
wird.
Wir finden es gut, dass wir - über den Dodd-Frank
Act der USA hinausgehend - nicht nur die börsennotierten Unternehmen in diese Offenlegungspflicht hineingeführt haben. Heute reden wir ja über die nicht börsennotierten Unternehmen. Über die anderen werden wir hier
noch im September sprechen. Wir werden sie dazu auffordern bzw. gesetzlich verpflichten, die Transparenzpflicht zu erfüllen und Offenlegungen vorzunehmen.
Es ist schön, wenn man sieht, dass nach vielen Jahren
harter parlamentarischer Arbeit heute endlich ein Erfolg
zu vermelden ist, dessen Effekte vielleicht heute in diesem Rahmen noch gar nicht abschätzbar sind. Es könnte
uns aber gelingen, auch NGOs bzw. die Zivilgesellschaft
in den Herkunftsländern durch die entsprechenden
Berichte in die Lage zu versetzen, damit auch etwas anzufangen. Damit könnten wir die Zivilgesellschaft unterstützen. Die Menschen könnten dann auch gegebenenfalls zu ihren Gouverneuren bzw. Ministern gehen und
diese fragen: Warum ist hier eigentlich ein ausländisches
Unternehmen tätig? Sie könnten außerdem sagen: Alle
Gewinne gehen außer Landes; die stehen doch uns zu. Im Prinzip wird mehr als das Sieben- oder Achtfache der
Entwicklungshilfe für Afrika durch Exporte von Rohstoffen erzielt. Diese Einnahmen gehören endlich dahin,
wo sie erwirtschaftet werden. Sie müssen den lokalen
Gemeinschaften - den indigenen Völkern, den Kleinbauern und den sonstigen Menschen vor Ort - direkt zukommen. Die Menschen, die in diesen Ländern leben,
haben endlich den Reichtum und den Gewinn verdient aber nicht die großen Konzerne oder korrupte Politiker.
Deswegen hoffe ich, dass wir alle diesem Gesetz zustimmen werden, damit wir wirklich Menschen aus Armut
befreien können.
Vielen Dank.
({1})
Für die CDU/CSU-Fraktion hat der Kollege
Dr. Volker Ullrich das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Mit dem heutigen Gesetz zur Umsetzung der
Richtlinie über den Jahresabschluss treffen wir eine Entscheidung, die für viele Unternehmen in diesem Lande
praktische Relevanz hat. Es geht um die Frage, wie Unternehmen ihren Jahresabschluss aufzustellen und zu
veröffentlichen haben.
Ein Jahresabschluss hat zweierlei Funktionen. Zum
einen hat er die Funktion, die wirtschaftliche Lage des
Unternehmens für Anteilseigner und Gläubiger darzustellen. Auf der anderen Seite dient er als Bemessungsgrundlage für die Gewinnverteilung an die Anteilseigner. Deswegen steht ein Jahresabschluss auch im
Spannungsverhältnis zwischen Transparenz einerseits
und dem Aufwand für die Unternehmen andererseits.
Wir lösen mit diesem Gesetzentwurf das Problem zugunsten der Unternehmer, indem wir nämlich Bürokratie
abbauen und Schwellenwerte anheben, wodurch wir zu
einer deutlichen Bürokratieentlastung beitragen.
Es geht um Schwellenwerte für kleine Kapitalgesellschaften, ab denen sie beispielsweise einen Lagebericht,
der mit erheblichem Aufwand verbunden ist, aufstellen
müssen. Wenn wir diese Schwellenwerte von 4,8 Millionen Euro auf 6 Millionen Euro und von 9,7 Millionen
Euro auf 12 Millionen Euro anheben, ist das eine Entlastung, von der Experten meinen, dass sie der deutschen
Wirtschaft bis zu 100 Millionen Euro bringt. Ich glaube,
das kann sich sehen lassen.
({0})
Aber die Umsetzung schützt auch den Verbraucher;
denn in den Bereichen, in denen besondere Anforderungen an die Transparenz notwendig sind, weil es um Kundengelder, um Einlagen, um Finanzanlagen geht, also
gerade im Bereich der Finanzwirtschaft, werden die
Größenbefreiungen nicht wahrgenommen. Damit hat
dieser Gesetzentwurf auch einen Aspekt des gelebten
Verbraucherschutzes.
Ich möchte Sie, meine Damen und Herren, bitten, Ihr
Augenmerk auf den Entschließungsantrag zu richten,
den wir heute vorlegen. Wir haben uns hinsichtlich der
Diskontierungszinssätze nicht nur auf diesem Gebiet,
sondern in verschiedenen Bereichen des Rechts, in denen es Bewertungsanlässe gibt, die Frage zu stellen, wie
wir mit der langanhaltenden Niedrigzinsphase umgehen.
Wir können die Unternehmen, Steuerberater und Wirtschaftsprüfer nicht mit ihrer Sorge alleinlassen, wie sie
mit den niedrigen Zinssätzen umgehen sollen.
Niedrige Zinsen haben tatsächlich ganz praktische
Auswirkungen auf die Rechnungslegung. Für eine Pensionszusage in Höhe von 100 000 Euro, die in 15 Jahren
fällig wird, musste man im Jahr 2009 eine Rückstellung
von etwa 46 000 Euro bilden, heute bereits eine solche
von 52 000 Euro. Damit wird erkennbar, dass der Unterschied beim Zinsniveau ganz erhebliche Auswirkungen
auf die Gewinnsituation der Unternehmen hat.
Auch wenn der Grundsatz der Bilanzwahrheit und
Bilanzklarheit an keiner Stelle und in keiner Minute infrage gestellt werden darf, so brauchen wir trotzdem im
Bilanzrecht und im Bewertungsrecht eine geeignete Antwort auf die Frage, wie wir auf eine anhaltende Niedrigzinsperiode reagieren können. Deswegen ist es richtig,
dass wir uns besonnen und klug der Frage stellen: Wie
können wir auf diesen Umstand reagieren? Brauchen wir
möglicherweise größere Beurteilungsspielräume oder
andere Methoden, um den Wert von Rückstellungen bilanzsicher festzustellen? Eines ist für uns klar und deutlich: Die Frage einer privaten Altersvorsorge und deren
Abbildung in der Bilanz ist zu kostbar, als dass man sie
bilanziell vernachlässigen dürfte.
({1})
Abschließend möchte ich den Kollegen von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zurufen: Stimmen Sie diesem guten Gesetzentwurf zu. Alle 100 Änderungsanträge, die Sie, Herr Kollege, eben dargestellt haben, sind
bereits in der Anhörung besprochen worden. Der einzige
Unterschied zur Anhörung ist unsere Entschließung, mit
der wir auf die Zinslage reagieren.
({2})
In diesem Sinne: Lassen Sie uns ein gemeinsames Zeichen für ein gutes Bilanzrecht schaffen! Ich bitte Sie um
Zustimmung zur Entschließung und zum Gesetzentwurf.
({3})
Weitere Wortmeldungen liegen mir nicht vor. Ich
schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Entwurf eines Bilanzrichtli-
nie-Umsetzungsgesetzes. Der Ausschuss für Recht und
Verbraucherschutz empfiehlt unter Buchstabe a seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/5256, den Ge-
setzentwurf der Bundesregierung auf den Drucksachen
18/4050 und 18/4351 in der Ausschussfassung anzuneh-
men. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der
Ausschussfassung mit der Maßgabe der soeben von dem
Berichterstatter mündlich vorgetragenen und zu Proto-
koll gegebenen Berichtigung zustimmen wollen, um das
Handzeichen.1)
({0})
- Hier gibt es Verwirrung. Nicht „der Berichtigung“; es
geht um die Beschlussempfehlung, in die jetzt aber die
Berichtigung schon aufgenommen ist
({1})
und die auch im Protokoll exakt vermerkt ist. - Ich wie-
derhole die Abstimmung: Wer möchte hier zustimmen? -
Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetz-
entwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen
der CDU/CSU-Fraktion und der SPD-Fraktion bei Ent-
haltung der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. -
Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetz-
entwurf ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen
bei Enthaltung der Oppositionsfraktionen angenommen.
Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 18/5256 empfiehlt der Ausschuss, eine Ent-
schließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? - Wer enthält sich? - Gibt es ir-
gendjemanden im Raum, der dagegen stimmen möchte? -
Das ist nicht der Fall. Die Beschlussempfehlung ist mit
den Stimmen der CDU/CSU-Fraktion und der SPD-
Fraktion bei Enthaltung der Fraktion Die Linke und der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 16 a und 16 b auf:
a) Zweite und dritte Beratung des von den Abge-
ordneten Hans-Christian Ströbele, Luise
1) Anlage 5
Vizepräsidentin Petra Pau
Amtsberg, Volker Beck ({2}), weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Förderung von Transparenz und zum
Diskriminierungsschutz von Hinweisgeberinnen und Hinweisgebern ({3})
Drucksache 18/3039
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales ({4})
Drucksache 18/5148
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
({5}) zu dem Antrag der Abgeordneten Karin Binder, Andrej Hunko, Caren Lay,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Gesellschaftliche Bedeutung von Whistleblowing anerkennen - Hinweisgeberinnen
und Hinweisgeber schützen
Drucksachen 18/3043, 18/5148
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. - Ich gehe
davon aus, dass die Debatten auf der rechten Seite dieses
Hauses keinen Widerspruch zu den gerade getroffenen
Regelungen darstellen.
({6})
- Es freut mich, dass die Unionsfraktion ihr Einverständnis erklärt.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Markus Paschke für die SPD-Fraktion.
({7})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Worum geht es bei diesem Thema? Es geht um Korruption,
Steuerhinterziehung und auch um Gammelfleisch - um
nur einige Beispiele zu nennen.
Dienst an der Gesellschaft - das ist das, was sogenannte Hinweisgeber oder Whistleblower leisten. Hinweisgeber und Hinweisgeberinnen petzen und denunzieren nicht. Ich finde, sie klären über Unregelmäßigkeiten
und illegales Verhalten auf.
({0})
Im schlimmsten Fall machen sie sogar auf Gefahren für
Mensch und Umwelt aufmerksam. Ich finde, damit leisten sie einen großen Dienst für die Allgemeinheit und
unsere Gesellschaft.
All diese Menschen - das gilt insbesondere für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer - stehen in Abhängigkeit zu dem Verursacher. Einerseits werden sie für ihren Mut und ihre Zivilcourage ausgezeichnet und
belobigt; andererseits haben sie oft persönliche Nachteile, zum Beispiel Kündigungen, zu erleiden.
Nun gibt es in unserem Land bereits einzelne gesetzliche Regelungen, die vor genau solchen Negativfolgen
schützen sollen. Aber - das ist in der öffentlichen Anhörung zu dem Thema deutlich geworden - dieser Schutz
reicht nicht aus.
({1})
Vor allem herrscht eine große Rechtsunsicherheit:
({2})
Was ist erlaubt und was nicht? Wohin kann ich mich
wenden? Welche Verfahrenswege muss ich einhalten? All diese Fragen gilt es zu klären.
Die heute zur Abstimmung stehenden Vorlagen enthalten wichtige und richtige Anregungen.
({3})
Das Problem der Rechtsunsicherheit lösen sie aber nicht;
auch das wurde in der Anhörung deutlich. Die unbestimmten Rechtsbegriffe in dem Gesetzentwurf der Grünen werden, so die Expertenmeinung, viele Arbeitnehmer in der Praxis überfordern.
({4})
Auch der Schutz der Hinweisgeberinnern und Hinweisgeber vor Sanktionen wie zum Beispiel einer Kündigung
wurde in beiden Vorlagen für noch ausbaufähig befunden.
({5})
Es bedarf also weiterer Überlegungen. Aber, ich denke,
wir sind uns fraktionsübergreifend in einem einig: Diese
Menschen verdienen unseren Schutz.
({6})
Noch nicht einig sind wir uns über die konkrete Ausgestaltung.
({7})
Ich verrate auch kein Geheimnis, wenn ich feststelle,
dass unser Koalitionspartner hier noch Beratungsbedarf
hat.
({8})
Ich finde, unser Anspruch sollte sein, möglichst große
Rechtssicherheit zu schaffen.
({9})
Der Gesetzgeber hat prinzipiell zwei Möglichkeiten:
Entweder er entscheidet sich für eine verschärfte Überwachung - in der logischen Konsequenz bedeutet das
auch mehr Bürokratie -, oder er entscheidet sich für einen effektiven und nachhaltigen Schutz von Insidern, die
gravierende Missstände offenlegen. Das Zweite ist der
Weg, den wir favorisieren, den wir wollen.
({10})
Das will aber auch gründlich vorbereitet sein. Es bedarf auch noch ein wenig Überzeugungsarbeit. Bei einer
verlässlichen Regelung wird es darum gehen müssen,
die von mir genannten Punkte Rechtssicherheit und
Schutz vor Sanktionen angemessen umzusetzen.
({11})
Einfache Gesetze, für jeden verständliche Regeln und
Rechtssicherheit für diejenigen, die große Missstände
oder sogar Verbrechen an der Allgemeinheit aufdecken
oder verhindern, das ist mein Anspruch.
({12})
Das sehe ich in dem vorliegenden Gesetzentwurf und
auch in dem Antrag nicht ausreichend umgesetzt. Deswegen werden wir beide Vorlagen heute ablehnen.
Danke schön.
({13})
Das Wort hat die Kollegin Karin Binder für die Fraktion Die Linke.
({0})
Liebe Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Worüber reden wir eigentlich? Was ist Whistleblowing?
({0})
Das sollten wir zu Beginn der Debatte klären. Ich sage
Ihnen auch, warum. In der Sitzung des Ernährungsausschusses am 20. Mai sprach Herr Staatssekretär Bleser
von der CDU in der Diskussion über die vorliegenden
Vorlagen zum Whistleblower-Schutz von Denunziantenschutz. Ich glaube, es besteht ganz dringender Klärungsbedarf in den Reihen der CDU/CSU, worum es hier geht.
({1})
Ich finde, es ist ein Hammer, wenn ein Regierungsmitglied solche Worte benutzt, um das wichtige Problem, das wir hier haben, zu behandeln. Ein Denunziant
ist laut Duden jemand, der „aus persönlichen, niedrigen
Beweggründen“ andere anschwärzt. Wir reden hier
heute über Zivilcourage von Hinweisgebern, von sogenannten Whistleblowern. Das bedeutet, ungeachtet der
eigenen persönlichen Nachteile, die man dadurch möglicherweise erleidet, für andere einzutreten.
Für Whistleblowing und für Zivilcourage gibt es viele
Beispiele: Der Lkw-Fahrer, der öffentlich machte, dass
verdorbene Schlachtabfälle zu Lebensmitteln umdeklariert wurden, deckte damit den bundesweit größten
Gammelfleischskandal auf. Aber nach Ansicht von
Herrn Bleser im Ernährungsministerium ist dieser Mann
ein Denunziant. Nein, Herr Bleser, dieser Mann hat Zivilcourage, er ist ein Hinweisgeber und verdient unseren
Schutz und Respekt. Denn auch dieser Mann hat inzwischen seinen Job verloren.
({2})
Durch das Einschreiten einer Tierärztin wurden damals die ersten BSE-Fälle öffentlich. Eine Denunziantin? Nein, Herr Bleser, eine Frau mit Zivilcourage, eine
Whistleblowerin.
({3})
Edward Snowden, der größte Denunziant von allen?
Nein, Herr Bleser, ein Mann, dem unsere Gesellschaft
höchsten Respekt entgegenbringen müsste, weil er den
größten Skandal von Abhören und Ausspionieren öffentlich gemacht hat.
Viele Menschen, die sich so ohne Rücksicht auf die
eigene Person im Sinne der Gesellschaft für die Belange
anderer eingesetzt haben, müssen heutzutage nach derzeitiger Rechtsprechung ernsthafte Benachteiligungen in
Kauf nehmen, vom Mobbing bis hin zur Vernichtung ihrer Existenzgrundlage, nämlich den Verlust des Arbeitsplatzes.
Elf Altenpflegerinnen im Münsterland machten gemeinsam die Leitung ihres Altenheims auf unhaltbare
Zustände aufmerksam, hielten den Dienstweg ein. Die
Pflegerinnen wollten die menschenunwürdigen Wohnbedingungen und die Missstände bei der Pflege vieler alter
und demenzkranker Menschen beheben und natürlich
auch die ständige Arbeitsbelastung, die damit verbunden
war, beenden und nicht mehr hinnehmen. Die Heimaufsicht blieb leider untätig. Daraufhin gingen die Frauen
an die Öffentlichkeit und wurden fristlos entlassen;
({4})
das habe ich hier schon einmal erzählt.
Das Schlimme ist nur: Das Arbeitsgericht, das dann
über die Kündigungsschutzklagen zu befinden hatte,
fand, dass das alles ja gar nicht so schlimm ist, aber dem
Altenheim erheblicher Schaden zugefügt wurde.
({5})
Die menschenunwürdige Behandlung der alten Menschen spielte bei der Urteilsfindung keine Rolle. Die
Frauen haben also Zivilcourage bewiesen und ihren Arbeitsplatz verloren. Diese Urteile belegen für mich, dass
wir hier eine große Lücke in unserem Rechtssystem haben,
({6})
dass wir Gesetze haben, die dem Anspruch, Whistleblower zu schützen, nicht gerecht werden. Deshalb ist der
Bundestag gefordert, diese Lücken zu schließen, und
zwar durch ein Gesetz, das die Menschen verstehen können, statt sich durch ein Dutzend Gesetze kämpfen zu
müssen. Wir brauchen ein Gesetz, wir brauchen eine Anlaufstelle für die Menschen, und wir brauchen definitiv
einen Whistleblower-Schutz.
Ich kann nur sagen: Vielen Dank an diese Altenpflegerinnen! Vielen Dank an all die Menschen, die sich unbeschadet ihrer eigenen Person für andere eingesetzt haben! Wir hoffen, dass wir in Zukunft auch durch den
Bundestag einen besseren Schutz und mehr Unterstützung für diese Menschen auf den Weg bringen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({7})
Der Kollege Wilfried Oellers hat für die CDU/CSUFraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Um die
Diskussion wieder etwas zu beruhigen und sie vielleicht
auf sachlichere Füße zu stellen,
({0})
will ich zunächst einmal einiges klarstellen.
({1})
- Vielleicht hören Sie zunächst einmal zu; ich bin gespannt, ob Sie dann noch widersprechen. - Selbstverständlich ist es so, dass Missstände und illegales Handeln, insbesondere auch Gefahren, häufig gerade durch
Informationen von Hinweisgeberinnen und Hinweisgebern aufgedeckt werden. Sie sind letztlich auch diejenigen, die skandalöses Verhalten nicht stillschweigend
hinnehmen, sondern beherzt tätig werden und es aufdecken.
Ich kann nicht bestätigen, was der Kollege Bleser gesagt hat; ich werde da gerne einmal nachfragen.
({2})
Trotzdem darf ich für meine Fraktion sagen, dass diese
Hinweisgeberinnen und Hinweisgeber schon eine sehr
große Zivilcourage an den Tag legen, die wir sicherlich
anzuerkennen haben und die auch nicht genug gelobt
werden kann,
({3})
weil diese Personen natürlich ein hohes Risiko in Kauf
nehmen und damit auch ihre Existenz aufs Spiel setzen.
Diesen Personen spreche ich persönlich, aber auch im
Namen meiner Fraktion großen Respekt aus.
({4})
- Sie müssen zunächst einmal weiter zuhören; dann hätten Sie sich diesen Zwischenruf vielleicht sparen können.
Auch wir sehen es so, dass diese Menschen natürlich
zu schützen sind. Aber bevor man gesetzgeberisch tätig
wird, ist es erforderlich, auch einmal zu schauen: Wie ist
denn die derzeitige Rechtslage?
({5})
Die öffentliche Anhörung hat in meinen Augen sehr
deutlich ergeben, dass die derzeitige Rechtslage durchaus ausreichend ist. Insbesondere hat das auch der Bund
der Richterinnen und Richter der Arbeitsgerichtsbarkeit
deutlich gemacht.
Wir haben - lassen Sie es mich aufzählen - entsprechende gesetzliche Regelungen in Form des § 612 a
BGB, der Ihnen sicherlich bekannt ist, mit einem entsprechenden Maßregelungsverbot; darauf gehe ich
gleich noch etwas näher ein. Wir haben weitere Regelungen im Kündigungsschutzrecht, im Betriebsverfassungsrecht, im Arbeitsschutzgesetz, im Bundes-Immissionsschutzgesetz - ich habe mir das alles einmal
aufgeschrieben -, im Bundesbeamtengesetz, im Bundesstatusgesetz, und wir haben eine umfangreiche Rechtsprechung des BAG, des Bundesverfassungsgerichts und
natürlich auch des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte.
Darüber hinaus darf auch nicht verkannt werden, dass
es mittlerweile eine Reihe von betrieblichen Regelungen
gibt. Das war auch ein deutliches Ergebnis der öffentlichen Anhörung mit den anwesenden Betrieben.
Ich will insbesondere noch einmal auf § 612 a BGB
eingehen. Man muss schon einmal deutlich hervorheben,
dass es sich hierbei um eine allgemeingesetzliche Norm
handelt, die auf alle Arbeitsverhältnisse Anwendung findet. Für den Schutz durch dieses Maßregelungsverbot
gibt es natürlich bestimmte Voraussetzungen durch das
entwickelte Anzeigerecht. Dies ist auch richtig so, weil
in solchen Fällen natürlich beide Interessenseiten - sowohl diejenige der Arbeitnehmer als auch diejenige der
Arbeitgeber - berücksichtigt werden müssen. Das kann
man eben nur in Einzelfallentscheidungen. Hier helfen
die vorliegenden Gesetzentwürfe nicht weiter, weil in
diesem Bereich auch mit allgemeinen Rechtsbegriffen
gearbeitet wird, die auslegungsbedürftig sind, und eine
Auslegung kann eben nur im Einzelfall erfolgen.
Weil Sie die Entscheidung im Fall der Frau Heinisch
angesprochen haben, will ich Ihnen ganz deutlich sagen:
Sie müssen dabei schon einmal zur Kenntnis nehmen,
dass gerade die erste Instanz, das Arbeitsgericht, der
Frau Heinisch recht gegeben hatte. Das Landesarbeitsgericht hat das dann anders entschieden, und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte ist schließlich zu
dem Ergebnis gekommen,
({6})
dass eine falsche Abwägung stattgefunden hat. Im Ergebnis hat er aber genau die gleichen Voraussetzungen
und Ansätze wie die Vorinstanzen gewählt. Dabei dürfen
Sie auch nicht verkennen, dass Frau Heinisch aufgrund
dieser Entscheidung eine recht hohe Abfindung bekommen hat,
({7})
was natürlich ein deutliches Zeichen dafür ist, dass sie in
weiten Teilen recht hatte.
Von daher: Es ist im Ergebnis eine Entscheidung im
Einzelfall. Hierfür reichen die bisherigen gesetzlichen
Regelungen aus. Wir haben gesehen, dass das im Fall
Heinisch im Ergebnis auch funktioniert hat.
Lassen Sie mich abschließend sagen, dass die Schutzwürdigkeit der Hinweisgeber und der Respekt vor ihnen
es natürlich erfordern, dass wir diese Entwicklung in der
Rechtsprechung weiter aufmerksam verfolgen und entsprechend tätig werden, sobald hier Handlungsbedarf
besteht. Zurzeit ist dies allerdings nicht der Fall.
Herzlichen Dank.
({8})
Das Wort hat der Kollege Hans-Christian Ströbele für
die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Diese Diskussion leidet unter einem grundlegenden Mangel: Sie ziehen sich immer auf die Rechtsprechung zurück. Sie haben kein Wort dazu gesagt, wie
lange es braucht, bis man recht bekommt. Bei dem Beispiel, das Sie genannt haben, hat die Frau jahrelang gewartet und gelitten. Ihre Existenz wurde völlig kaputtgemacht, bis sie vor dem Europäischen Gerichtshof
letztendlich recht bekommen hat.
Wir sind der Gesetzgeber und dürfen uns nicht hinter
der Rechtsprechung verstecken.
({0})
Es ist Aufgabe des Gesetzgebers, solche Fälle zu regeln.
Sie drücken sich, weil Sie sich nicht trauen und sich mit
bestimmten Teilen der Industrie und der Unternehmen
nicht anlegen wollen.
({1})
Deshalb verweigern Sie sich. Diese Verweigerung ist
nicht in Ordnung. Sie sollten Ihren Standpunkt ändern.
({2})
Der SPD sage ich: Man muss offenbar warten, bis Sie
wieder in der Opposition sind. In der letzten Legislaturperiode waren Sie nämlich durchaus auch für eine solche
Gesetzgebung.
({3})
Jetzt können Sie nicht. Sie trauen sich nicht oder wollen
nicht. Wenn Sie sagen, dass Ihnen das, was wir vorgelegt
haben, nicht reicht: Wir sind zu jedem Gespräch bereit.
Es hat aber keinen einzigen Ansatz eines Änderungsantrages oder Ähnliches gegeben, sondern Sie verweigern
sich aus Koalitionsräson und kommen Ihren eigenen
Vorstellungen, die Sie hier vorhin ja auch angesprochen
haben, nicht nach, sondern verraten diese damit. So kann
man mit dem Problem nicht umgehen.
({4})
Ich will jetzt gar nicht über die Paragrafen reden, die
im Bürgerlichen Gesetzbuch und im Bundesbeamtengesetz geändert werden sollten - darüber ist immer wieder
einmal, auch in der Anhörung, gesprochen worden -,
sondern ich rede jetzt über einen Teil, zu dem Sie jede
Diskussion verweigern. Ich habe versucht, im Rechtsausschuss darüber zu diskutieren. Ich habe die Kolleginnen und Kollegen der Koalition gebeten, sich doch wenigstens kurz dazu zu äußern, was sie dagegen haben.
({5})
Da kam leider null und nichts. Sie verweigern die Debatte über ein Gesetzesvorhaben zu einem Thema, das in
der Öffentlichkeit breit diskutiert wird.
({6})
Nicht nur Transparency International, sondern auch
die Mitglieder des Rechtsausschusses und des Menschenrechtsausschusses des Europarates fordern von den
Mitgliedsländern, eine gesetzliche Regelung zu schaffen; Sie aber hören überhaupt nicht zu. Sie sitzen hier im
Bundestag, in dem Sie alles Mögliche regeln. Aber über
das, was auch die Netz-Community immer wieder anmahnt: „Wann kommt ein Whistleblower-Schutzgesetz?“, reden Sie nicht einmal, geschweige denn, dass
Sie etwas vorlegen oder uns helfen, einen vernünftigen
Entwurf vorzulegen.
({7})
Deshalb haben wir jetzt einen Gesetzentwurf zu einem Whistleblower-Schutzgesetz vorgelegt. Dieses Gesetz ist dringend erforderlich, und zwar auch in Bezug
auf das Strafrecht. Auf der Grundlage des Strafrechts
wird auch Edward Snowden wegen des Verrats von
Staats- und Dienstgeheimnissen verfolgt. Es muss eine
Möglichkeit geben, bei der Abwägung höhere Interessen
zu berücksichtigen, nämlich die Schutzgüter des Grundgesetzes, die Interessen der Gesamtgesellschaft, schwere
Verbrechen und Straftaten zu verhindern, sodass sich
Menschen, die aus solchen Gründen handeln und denen
das zugerechnet werden muss, nicht strafbar machen.
({8})
Wir schlagen vor, dass in diesen Fällen ein Rechtfertigungsgrund vorliegt bzw. dass sie befugt handeln.
Wir können über jede Einzelheit reden. Aber dringend erforderlich ist die Diskussion in Deutschland und
im Bundestag dazu. Der Gesetzgeber muss hier handeln.
Als kleines Aperçu am Rande weise ich Sie auf den
§ 97 d StGB hin.
({9})
Der Inhalt dieses Paragrafen stand nach Verabschiedung
durch den Deutschen Bundestag im Jahr 1951 schon einmal im Gesetz, also unmittelbar nach dem Erlass des
Grundgesetzes. Dieser Paragraf im Strafgesetzbuch erlaubte es Abgeordneten, im Plenum oder in Ausschüssen
Geheimnisse, die die freiheitliche demokratische Ordnung
infrage stellten, benennen zu dürfen. Dieser Paragraf
wurde 1968 wieder aus dem Strafgesetzbuch gestrichen.
Wir sind dafür, dass dieser Paragraf wieder eingeführt
wird. Er könnte gerade in den Zeiten der NSA-Affäre
und des Whistleblowers Edward Snowden heilsam sein.
({10})
Vielen Dank, Kollege Hans-Christian Ströbele. Schönen guten Abend von hier. - Melden Sie sich zu einer Kurzintervention? Habe ich das richtig interpretiert?
({0})
- Ja, dann sind wir gnädig. Dann dürfen Sie das.
({1})
- Na ja, das war nicht ganz klar. Es hätte ja auch etwas
anderes sein können. Es hätte ja sein können, dass er
„Guten Abend, Claudia“ oder so etwas sagen will.
({2})
Guten Abend, Frau Präsidentin! Ich möchte kurz eines klarstellen, Herr Ströbele, weil Sie gerade gesagt haben, wir würden über Argumente hinweggehen und einer Diskussion aus dem Weg gehen.
({0})
Das ist nicht richtig. Diesen Vorwurf weise ich deutlich
zurück, sowohl für mich persönlich als auch für die
ganze Fraktion. Ich kann das auch belegen.
Bei der öffentlichen Anhörung war ein Sachverständiger zugegen - ich habe den Namen nicht mehr im
Kopf -, der sich sehr deutlich für das WhistleblowerSchutzgesetz ausgesprochen hat. Mit ihm habe ich sogar
ein Vieraugengespräch geführt. Ich habe mich dabei auch
mit seinen Argumenten auseinandergesetzt. Ich brauche
mir von Ihnen nicht vorhalten zu lassen, ich würde mich
mit der Thematik nicht auseinandersetzen. Ich denke,
das hat auch mein Vortrag gezeigt.
Danke schön.
({1})
Danke, Herr Oellers. - Herr Ströbele, bitte.
Lieber Kollege, warum reden Sie hier nicht darüber
- Sie haben vorhin eine Rede gehalten und es mit keinem Wort erwähnt -, warum verweigern Sie die Diskussion darüber in den Ausschüssen? Warum nur in einem
Vieraugengespräch?
({0})
Was steckt eigentlich dahinter?
Wir werden von der Gesellschaft aufgefordert, zu
handeln, und Sie beraten nicht einmal. Ich bin Mitglied
im Rechtsausschuss. Ich weiß nicht, ob darüber in anderen Ausschüssen geredet worden ist.
({1})
Aber gerade zu diesen entscheidenden Bestimmungen
im Strafgesetzbuch muss doch wenigstens eine Diskussion stattfinden. Sie können doch sagen, warum Sie dagegen sind und wo Sie Handlungsbedarf sehen oder auch
nicht. Aber überhaupt nichts zu sagen, mit der Folge,
dass in der Gesellschaft der Eindruck entsteht, wir würden die Probleme gar nicht wahrnehmen, das werfe ich
Ihnen vor.
({2})
Vielen Dank, Hans-Christian Ströbele. - Die nächste
Rednerin in der lebendigen Debatte ist Kerstin Tack für
die SPD.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter
Herr Ströbele, wenn Sie von Verrat oder von der Verweigerung einer Debatte reden, dann müssen Sie dafür auch
hinreichende Belege vorbringen. Sich hier hinzustellen
und zu meinen, das Ganze ließe sich polemisch lösen,
geht leider genauso an der Sache vorbei wie Ihre Unterstellung anderen gegenüber, sie würden sich der Sache
entziehen.
({0})
Was den öffentlichen Raum betrifft, wollen wir sehr
wohl, dass Menschen hingucken, engagiert sind und aktiv werden, wenn sie einen Missstand wahrnehmen. Wir
machen Aufklärungskampagnen, vergeben sogar Preise
und nennen das Zivilcourage.
Wenn aber jemand im Arbeitsleben genau dieses Hingucken praktiziert, dann meinen wir, dies wäre weniger
wert. Menschen, die das tun, zahlen sogar einen sehr hohen Preis für dieses couragierte Hingucken. Sie bezahlen
nämlich viel zu häufig mit dem Verlust ihres Arbeitsplatzes.
Hinweisgeber sind erwünscht. Europa hat es den Mitgliedstaaten hinreichend häufig auferlegt, zu prüfen, ob
die Gesetze in den jeweiligen Mitgliedstaaten dem
Schutz der Hinweisgeber hinreichend Genüge tun. Auch
wir haben uns im Koalitionsvertrag zu genau einer solchen Prüfung verpflichtet. Ich gehe davon aus, dass eine
solche Prüfung den Handlungsbedarf deutlich machen
wird.
Denn es ist kein Geheimnis, dass die SPD-Fraktion in
der letzten Wahlperiode den Entwurf eines Hinweisgeberschutzgesetzes vorgelegt hat, womit sich auch die
Frage beantwortet, ob wir Handlungsbedarf sehen. Ja,
wir sehen einen Handlungsbedarf, und zwar mehr als die
Grünen in dem von ihnen vorgelegten Gesetzentwurf.
Wir meinen nicht, dass es ausreicht, im BGB festzuschreiben, die Dinge erst einmal im eigenen Betrieb zu
klären, bevor jemand andere Wege gehen kann. Ich halte
es sogar für falsch, das so zu machen.
({1})
Wir sagen auch, dass klar sein muss, wann ein Missstand vorliegt. Wir meinen, dass geklärt sein muss, wann
eine anonyme Hinweisgebung relevant ist. Wir wollen
auch die Frage der Betriebs- und Personalräte klären. Sie
kommen bei Ihnen nicht vor. Bei Ihnen im Übrigen auch
nicht, Frau Kollegin.
({2})
Wir glauben aber, dass es wichtig ist, in den Unternehmen genau solche Prozesse zu begleiten. Dafür haben wir entsprechende Gremien vorgesehen, die aber bei
Ihnen nicht vorkommen.
({3})
Wir glauben auch, dass es wichtig und richtig ist, dass
es Möglichkeiten der Begleitung und der Rechtsberatung
gibt. Deshalb muss die Frage beantwortet werden, wie
Hinweisgeber nicht nur vor Kündigungen, sondern auch
vor Einbrüchen in der Karriere oder auch in den Entwicklungschancen in den Betrieben geschützt werden.
All das muss man berücksichtigen. Denn wir wollen
nicht, dass jemand, weil er wichtige Hinweise an Aufsichtsbehörden bis hin in die Öffentlichkeit gibt, damit
rechnen muss, dass dieses Vorgehen für ihn persönliche
Nachteile hat.
Deshalb ist es richtig, dass wir in unserem Koalitionsvertrag eine Prüfung genau dieser Umstände vereinbart
haben. Diese Prüfung steht aus. Wir mahnen sie an, weil
wir der Meinung sind, dass wir im Gespräch über genau
diese Schutzvorkehrungen zu dem Ergebnis kommen
werden, dass wir uns durchaus an der einen oder anderen
Stelle gemeinsam intensiver um den Schutz derer bemühen müssen, die ihn verdienen. Denn was sie ganz sicher
nicht verdienen, sind der Verlust des Arbeitsplatzes und
die damit verbundenen Folgen.
Herzlichen Dank.
({4})
Vielen Dank, Kollegin Tack. - Der letzte Redner in
der Aussprache ist Alexander Hoffmann für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Geschätzte Kolleginnen und Kollegen! Wir sprechen heute über ein wichtiges Thema. Dennoch möchte ich zur Vorsicht mahnen
und davor warnen, dieses Thema zu überhöhen. Mancher
Redner erweckt den Eindruck, dass die infrage stehenden
Fälle in Deutschland tausendfach vorkommen und dass
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland
schutzlos gestellt sind.
({0})
Es gibt - da haben Sie recht - populäre Fälle. Diese sind
uns allen bekannt und wurden heute erneut eindrucksvoll
geschildert. Aber am Ende steht die Frage: Was müssen
wir tatsächlich regeln?
Werfen wir zunächst einmal einen Blick auf das Zivilrecht. Da steht im Mittelpunkt die Entscheidung des Eu10826
ropäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, betreffend
eine Pflegerin, die Missstände in Pflegeheimen bekannt
gemacht hat. Wir sollten uns mit den wichtigsten Erkenntnissen dieser Entscheidung befassen. Die erste Erkenntnis ist: Es geht um den Grundrechtsschutz. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat eine
Abwägungsentscheidung betreffend die Meinungsfreiheit und das Informationsinteresse der Öffentlichkeit auf
der einen Seite und dem Vertraulichkeitsinteresse des
Unternehmens auf der anderen Seite getroffen.
Die zweite Erkenntnis ist, dass der Europäische Gerichtshof mit dieser Abwägungsentscheidung zeigt: Es
gibt keinen Hinweisgeberschutz um jeden Preis. Er hat
bestätigt, dass die innerbetriebliche Klärung Vorrang hat.
Deswegen hätte Ihr Vorschlag, Frau Kollegin Tack, viel
zu weit gegriffen. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte sagt: Es muss zuvor der Versuch der innerbetrieblichen Klärung unternommen werden.
Die dritte und für mich wichtigste Erkenntnis ist das,
was der Kollege Oellers schon angesprochen hat. Die
Vorinstanzen haben in dem besagten Fall eigentlich die
richtigen Maßstäbe angelegt. In der ersten Instanz hat
das Arbeitsgericht die Rechtswidrigkeit der Kündigung
der Pflegerin bestätigt. Aber die Gewichtung war anders.
Hier stellt sich die spannende Frage, wie das mit einem
Gesetz verändert werden soll.
Wir haben - das ist ein Zwischenfazit - eine gefestigte Rechtsprechung und einen etablierten Abwägungsprozess. Das werden wir mit einem Gesetz auch nicht
verändern. Herr Ströbele, Sie werden nun sicherlich sagen, dass das Zeit kostet. Aber wer sich mit Jura befasst
- ich weiß, dass Sie das tun -, dem ist bekannt, wie lang
die Wege durch die Instanzen sind, und das mit Gesetz
genauso wie ohne Gesetz.
({1})
Eine weitere Erkenntnis treibt mich viel mehr um.
Wir werden die tatsächlichen Gegebenheiten durch ein
Gesetz nicht verändern können. Wie sieht denn die Realität aus? Das Tischtuch zwischen Arbeitnehmern und
Arbeitgebern sowie innerhalb der Kollegenschaft ist in
solchen Fällen zerschnitten. Es gibt für den Betreffenden
keine Zukunft mehr in seinem Betrieb. Deswegen enden
solche Fälle zumeist mit einvernehmlichen Kündigungen und Abfindungen. Auch das werden wir durch ein
Gesetz nicht verändern können.
({2})
Vor diesem Hintergrund muss man feststellen, dass
die von Ihnen formulierten Regelungen zu weitreichend
sind. Der Vorrang der innerbetrieblichen Klärung ist
nicht beachtet. Das Kriterium der Beweislastumkehr
geht bei Ihnen viel zu weit. Zu diesem Schluss kommt
man, wenn man sich vergegenwärtigt, welche Schäden
entstehen können, wenn jemand aus Versehen eine falsche Behauptung aufstellt. Es darf nicht nur auf die subjektive Sicht des Hinweisgebers ankommen.
({3})
Eine formale Verschiebung des Irrtumsrisikos auf die
Unternehmensseite ist nicht hinnehmbar, weil es um gravierende Schäden geht.
Nun haben Sie, Kollege Ströbele, in der letzten
Rechtsausschusssitzung gesagt: Im Zivilrecht mag das
so sein. Aber was ist mit dem Strafrecht? - Darüber haben wir ausführlich diskutiert. Deswegen verstehe ich
Ihren Vorhalt nicht, dass niemand mit Ihnen diskutieren
würde.
({4})
Als wir darüber das letzte Mal im Plenum gesprochen
haben, habe ich gesagt: Grundrechte haben Ausstrahlungswirkung auch auf das Strafrecht. Eine Entscheidung wie die des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte wirkt auch auf das Strafrecht. Wir müssen
uns jedoch vor Augen führen, dass alle populären Fälle
wie der Fall der Pflegerin oder der des Gammelfleischfahrers keine strafrechtliche Dimension haben.
Im Strafrecht sind zum Beispiel Staatsgeheimnisse,
Dienstgeheimnisse und Informationen geschützt, die einer besonderen Geheimhaltungspflicht unterliegen; das
heißt, schon der Gesetzgeber differenziert. Bei Letzteren
stellt die bloße Preisgabe keinen Rechtsverstoß dar. Vielmehr ist eine zusätzliche Gefährdung öffentlicher Interessen erforderlich. Das heißt, auch hier beherrscht der
Gesetzgeber das Zwischenspiel und will noch eine Differenzierung. Der Schutzzweck geht bei Staatsgeheimnissen sogar noch weiter. Es muss nämlich zu einer Abwendung von schweren Nachteilen für die äußere
Sicherheit der BRD erforderlich sein. Und - das ist das
Interessante, das man feststellt, wenn man das Gesetz
liest - bei Staatsgeheimnissen nimmt der Gesetzgeber
sehr wohl eine Differenzierung vor. Er unterscheidet
nämlich zwischen echten Staatsgeheimnissen nach § 93
Absatz 1 und illegalen.
({5})
- Ja, aber nur in ganz bestimmten Fällen. - Das heißt,
der Gesetzgeber sieht hier sehr wohl eine Differenzierung vor. Diese Differenzierung ist gelungen, und sie ist
ausgewogen.
({6})
Wir müssen uns vor Augen führen: Es geht um die äußere Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland. Da ist
es vollkommen deplatziert, wenn Sie mit Ihrem Gesetzentwurf das ganze System auf den Kopf stellen wollen.
Das können wir nicht zur Disposition des Einzelnen stellen.
Vielen Dank.
({7})
Vielen Dank, Herr Kollege Hoffmann. - Ich schließe
die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entwurf
eines Whistleblower-Schutzgesetzes der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen. Der Ausschuss für Arbeit und
Soziales empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/5148, den Gesetzentwurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/3039 abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung abgelehnt. Zugestimmt
hat Bündnis 90/Die Grünen, dagegen gestimmt haben
CDU/CSU und SPD, enthalten hat sich die Linke. Damit
entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung.
Wir setzen die Abstimmung zu der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Soziales auf
Drucksache 18/5148 fort. Der Ausschuss empfiehlt
unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung die
Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf
Drucksache 18/3043 mit dem Titel „Gesellschaftliche
Bedeutung von Whistleblowing anerkennen - Hinweisgeberinnen und Hinweisgeber schützen“. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen. Zugestimmt haben CDU/CSU und SPD, dagegen gestimmt hat die Linke, eine Enthaltung gab es vom
Bündnis 90/Die Grünen.
Wir kommen dann zum nächsten Tagesordnungspunkt. Herr Oellers, Herr Bleser ist da. Dann können Sie
ihn gleich einmal befragen. Das hatten Sie angekündigt;
nur, falls Sie es vergessen würden.
Ich lade alle recht herzlich ein, anlässlich der Debatte
zu einem spannenden Thema hierzubleiben. Ich warte,
bis die einen draußen sind und die anderen hereinkommen. Noch ein schönes Fest!
({0})
Ich bitte, jetzt Platz zu nehmen. Wir kommen wirklich
zu einem sehr wichtigen Punkt.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 17 a und 17 b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Sibylle Pfeiffer, Sabine Weiss ({1}),
Frank Heinrich ({2}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
sowie der Abgeordneten Dr. Bärbel Kofler,
Axel Schäfer ({3}), Heinz-Joachim
Barchmann, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD
Entwicklungsfinanzierung vor dem Hin-
tergrund universeller Nachhaltigkeitsziele
Drucksache 18/5093
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Uwe
Kekeritz, Claudia Roth ({4}), Anja
Hajduk, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Addis Abeba zum Erfolg führen - Einsatz
für eine gerechte internationale Entwicklungs- und Klimafinanzierung
Drucksache 18/5151
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. - Dazu gibt es
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Hans-Joachim Fuchtel für die
Bundesregierung.
({5})
Hans-Joachim Fuchtel, Parl. Staatssekretär beim
Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung:
Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! 2015 ist mit vier Konferenzen das Entwicklungsjahr. Der Start in Elmau war eindeutig ein großer
Erfolg in entwicklungspolitischer Hinsicht. Dass die
Koalition daraufhin die Hände nicht in den Schoß legt,
merken Sie an dem Antrag, der hier gestellt wurde. Jetzt
geht es nämlich um die Finanzarchitektur, die als Nächstes aufgebaut werden muss. Dazu ist es notwendig, dass
die Diskussion jetzt aus den Expertenkreisen heraus- und
in das Plenum hineinkommt
({6})
und hier Bewusstsein für die großen Aufgaben wie Klimaschutz, Armutsbeseitigung und wirksame Bekämpfung von Fluchtursachen geschaffen wird. Hierfür stellt
dieser Antrag die richtigen Weichen, und deswegen begrüßen wir vom BMZ diesen Antrag natürlich auf das
Nachhaltigste.
({7})
Haushaltspolitisch hatten wir am Anfang der Legislaturperiode die Konkretisierung durch die Koalitionsvereinbarung in einer Größe von 2 Milliarden Euro.
Heute zeichnet sich ab, dass für den Haushalt 2016 ein
Aufwuchs von circa 830 Millionen Euro zu erwarten ist.
Das sind nicht weniger als 13,2 Prozent. Meine Damen
und Herren, das heißt, es wird für das Jahr 2016 im
Bereich der Entwicklungspolitik einen Rekordzuwachs
geben.
({8})
Das ist ein Bekenntnis dieser Koalition zu einer offensiven Entwicklungspolitik.
({9})
Das ist ein klares Zeichen für die Konferenz in Addis
Abeba. Wir gehen in diese Verhandlungen in der
Hoffnung, dass von dieser Konferenz sehr viele positive
Parl. Staatssekretär Hans-Joachim Fuchtel
Signale in Richtung New York und Paris ausgehen, wo
die Nachfolgekonferenzen stattfinden.
Für uns als Bundesregierung geht es bei diesen Gesprächen in Addis Abeba nicht nur darum, dass man
über Geld verhandelt, sondern auch darum, dass man
insgesamt über das Wie spricht, über die Prinzipien, wie
wir auf dieser Welt künftig zusammenarbeiten. Die Antwort ist für uns klar: Wir brauchen eine gemeinsame
Verantwortung für das globale Gemeinwohl. Deswegen
liegt der Fokus in Zukunft auf der Übernahme von Verantwortung durch globale Partnerschaft.
Diese neuen Partnerschaften müssen zum einen die
Industrieländer, die Schwellenländer und die armen Länder umfassen. Sie müssen zum anderen auch die Staaten,
die Wirtschaft und die Zivilgesellschaft umfassen. Ich
sage das nicht ganz ohne Grund unter Hinweis auf die
Verhandlungen, die jetzt angelaufen sind. Partnerschaft
bedeutet aber nicht, dass sich manche Regierungen einen
schlanken Fuß machen und denken, dass die anderen das
regeln sollen. Partnerschaft heißt Gemeinsamkeit. Darüber werden wir in Addis Abeba sehr viel zu sprechen
haben.
({10})
Natürlich spielt auch ODA weiterhin eine wichtige
Rolle, gerade für die am wenigsten entwickelten Staaten
und für fragile Staaten. Für sie ist ODA nach wie vor
eine ungeheuer wichtige Finanzquelle, um einen nachhaltigen Entwicklungspfad einzuschlagen. Das hat auch
einen sehr starken Symbolwert. Deswegen haben wir
uns im Rahmen der EU-Rats-Schlussfolgerungen und
gerade erst in Elmau erneut verpflichtet, 0,7 Prozent des
Bruttonationaleinkommens für ODA bereitzustellen.
Ein großes Ziel für nachhaltige Entwicklung muss
aber sein, dass wir nicht allein mit ODA hantieren. Wir
wissen, dass die Erreichung dieser großen Ziele allein
mit ODA bereits jetzt nicht vorangebracht werden
konnte. 85 Prozent der Mittel kommen aus dem Privatsektor, 15 Prozent kommen aus dem öffentlichen Sektor.
Das wird sich im Großen und Ganzen auch nicht ganz so
einfach ändern lassen.
Was wir natürlich sicherstellen müssen, ist, dass die
ODA-Gelder vor allem dort eingesetzt werden, wo sie
am dringendsten gebraucht werden. Sie müssen dorthin
fließen, wo sie eine Hebelwirkung auslösen können.
({11})
Wir hoffen, dass wir durch das Mixen der ODAGelder mit privaten Mitteln nachhaltig weitaus mehr bewegen können, als es in der Vergangenheit der Fall war.
({12})
Es geht nämlich nicht nur ums Geld, sondern auch um
die Weitergabe von Know-how, um Technologietransfer
und um fairen globalen Handel. Dass man da etwas bewirken kann, hat sich gerade durch unser Textilbündnis
gezeigt. Ich möchte noch ein Wort zur Eigenverantwortung sagen. Es muss klargemacht werden, dass alle Staaten für ihre Entwicklung erst einmal selbst verantwortlich sind. Meine Damen und Herren, ordnungspolitisch
geht es hier auch um das Subsidiaritätsprinzip. Das muss
gesehen werden, und das spielt in der Diskussion mit
eine Rolle.
({13})
Das dürfen wir bei der Finanzierungsdiskussion nicht
vergessen.
Ich darf daran erinnern: Die Steuerrate beispielsweise
erreicht in vielen Entwicklungsländern kaum 15 Prozent.
Das kann man sich in Deutschland gar nicht vorstellen.
Das ist natürlich viel zu wenig, um eine vernünftige
Infrastruktur oder Sozialsysteme aufzubauen.
Die OECD hat vor kurzem darauf hingewiesen, dass
es einer Verdopplung des weltweiten ODA-Betrags entspräche, wenn alle Entwicklungsländer ihre Steuern nur
um etwas mehr als 1 Prozentpunkt erhöhen würden.
Auch diese Frage muss insgesamt sehr intensiv besprochen werden.
Da geht es darum, dass von jedermann mehr Verantwortung eingefordert wird, dass die nationalen Ressourcen entsprechend mobilisiert werden und dass gleichzeitig von den Ländern, die dazu in der Lage sind, mehr
Unterstützung beim Aufbau effizienter und fairer Steuersysteme gegeben wird. Es geht auch um Veränderungen
der internationalen Rahmenbedingungen, um Steuerflucht zu vermeiden und so den Entwicklungsländern
überhaupt eine Chance zu geben, Steuern zu erheben.
Beim G-7-Gipfel sind auch in dieser Hinsicht die Weichen hervorragend gestellt worden.
Noch ein Wort zu Entwicklungsbanken. Das ist eine
Fragestellung, die viel zu wenig beachtet wird. Hier
kann erheblich mehr entstehen. Das habe ich als deutscher Gouverneur bei der Asiatischen, der Inter-Amerikanischen und der Karibischen Entwicklungsbank schon
an verschiedenen Stellen gemerkt und mitbetrieben. Wir
haben beispielsweise durch eine weitreichende Reform
des Asiatischen Entwicklungsfonds erreichen können,
dass die vorhandenen Kapitalressourcen effizienter genutzt werden, was dazu führt, dass das jährliche Ausleihvolumen von aktuell 14 Milliarden US-Dollar auf immerhin 18 bis 20 Milliarden US-Dollar steigt. Das ist
doch eine beachtliche Summe.
({14})
Auf dem Weg zu einer verbesserten Finanzierung der
Entwicklungszusammenarbeit, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, und bei der Struktur unserer künftigen Finanzen auf diesem Gebiet liegen noch viele
Steine. Ich habe einmal gelernt - das hat mir immer wieder Hoffnung gegeben -: Wenn irgendwo Steine auf dem
Weg liegen, kann man mit diesen Steinen noch sehr viel
Schönes bauen.
({15})
Parl. Staatssekretär Hans-Joachim Fuchtel
In diesem Sinne, meine Damen und Herren: Gehen wir
mit Optimismus in die nächste Runde, und hoffen wir,
dass wir hervorragende Ergebnisse präsentieren können!
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({16})
Vielen Dank, Hans-Joachim Fuchtel.
Ich möchte gern die Besuchergruppe meines Kollegen
Auernhammer aus Weißenburg-Gunzenhausen recht
herzlich begrüßen.
({0})
Nächste Rednerin in der Debatte: Heike Hänsel für
die Linke.
({1})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Gäste! Zu später Stunde diskutieren wir jetzt noch
ein Entwicklungsthema. Wir haben heute schon mehrfach Entwicklungsfragen diskutiert. Jetzt geht es um die
Finanzierung, die ja nicht ganz unwichtig ist.
({0})
Wir haben es ausdrücklich begrüßt, dass es für die
nächsten Jahre mehr Geld für Entwicklung geben soll.
({1})
Aber wenn wir uns die Zahlen genau anschauen, stellen
wir fest: Die Bundesregierung wird weiterhin stagnieren
bei ungefähr 0,4 oder 0,41 Prozent, trotz der Zusagen,
die gemacht wurden, nämlich dass jeder Staat mindestens 0,7 Prozent seines Bruttonationaleinkommens für
Entwicklung ausgeben soll. Die Bundesregierung wird
also in den nächsten Jahren diese international gemachten Zusagen nicht einhalten können und sie wieder einmal brechen. Das finde ich dann im Zusammenhang mit
der aktuellen Diskussion, die wir zum Beispiel um Griechenland führen und in der tagtäglich gesagt wird: „Ihr
müsst eure internationalen Zusagen einhalten“, doch
sehr interessant. Ich finde, die Bundesregierung hat kein
Recht, Griechenland hier in irgendeiner Weise zurechtzuweisen.
({2})
Herr Fuchtel, Sie haben das ja so toll gesagt: Elmau
war ein Riesenerfolg. - In Elmau waren Sie vor
allem sehr erfolgreich im Geldausgeben. Dieser zweitägige G-7-Gipfel, dieser Klub der Reichen, der sich da
getroffen hat, hat die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler
nämlich 360 Millionen Euro gekostet.
({3})
Wenn man sich anschaut, dass der Entwicklungsetat von
diesem Jahr zum nächsten um 830 Millionen Euro aufwächst und die Bundesregierung mit ihrer G-7-Wertegemeinschaft in zwei Tagen fast die Hälfte davon verprasst
hat, dann erkennt man, dass Ihre Prioritäten vorne und
hinten nicht stimmen. G-7-Gipfel können wir uns sparen.
({4})
Wenn ich mir dann auch noch anschaue, dass zeitgleich mit der Erhöhung der Entwicklungsgelder auch
die Rüstungsausgaben in den nächsten Jahren um ungefähr 8 Milliarden Euro steigen sollen, zusätzliche Milliarden für teure Rüstungsprojekte wie zum Beispiel das
Raketenabwehrsystem MEADS ausgegeben werden sollen, eventuell neue europäische Drohnen angeschafft
werden sollen und wir auch noch das NATO-Ziel haben,
dass wir zukünftig 2 Prozent unseres Bruttonationaleinkommens für Rüstung ausgeben sollen, dann kann ich
nur sagen: Sie bewegen sich hier in die völlig falsche
Richtung. Wir brauchen keine neue Rüstungsspirale,
sondern eine Entwicklungsdividende.
({5})
Diese ist auch bitter nötig; denn wir haben - das
wurde ja schon formuliert - viele hehre Ziele. Dieses
Jahr werden die Nachhaltigkeitsziele in New York verabschiedet. Wir wollen weltweit die soziale Ungleichheit
bekämpfen. Herr Fuchtel, ich hoffe, Sie hören zu; denn
der Minister Müller macht sehr viele Ankündigungen. Er
will bis 2030 eine Welt ohne Hunger haben. All diese
Ankündigungen sind nicht ohne eine Finanzierung umzusetzen. Gleichzeitig brauchen wir mehr Geld für die
Klimaanpassungsmaßnahmen usw. Hier reicht Ihr Haushalt vorne und hinten nicht. Wir lehnen es auch ab, dass
Sie nicht sagen, wie viel Geld es für die Klimaanpassungsmaßnahmen und wie viel Geld es für Entwicklung
gibt. Das kann nicht gegeneinander ausgespielt werden.
({6})
Zum Schluss möchte ich noch auf eines hinweisen.
Interessant finde ich, dass im Antrag der Koalitionsfraktionen steht, dass Sie den Ländern des Südens empfehlen, funktionierende Steuersysteme aufzubauen, um die
soziale Ungleichheit in ihren Ländern bekämpfen zu
können. Da frage ich mich: Wieso macht das eigentlich
die Bundesregierung nicht auch? Wo sind denn Ihre Reichensteuer, Ihre Vermögensteuer und Ihre gerechte Erbschaftsteuer, die endlich einmal dazu beitragen könnten,
dass soziale Ungleichheit bei uns bekämpft wird und wir
gleichzeitig mehr Geld haben, um die weltweite soziale
Ungleichheit zu bekämpfen?
({7})
Noch eine Zahl, dann bin ich auch schon am Ende:
Laut FAZ von vor zwei Tagen liegt Deutschland mittlerweile weltweit auf dem dritten Rang, was die Anzahl an
wohlhabenden Menschen, an Millionären angeht, die wir
im Land haben.
({8})
Vor uns liegen nur noch die USA und Japan.
({9})
Deswegen müssen Sie endlich handeln, wenn Sie wirklich genügend Geld für Entwicklung und Klimaschutz
haben wollen.
({10})
Vielen Dank, Frau Kollegin Hänsel. - Die nächste
Rednerin in der Debatte ist Dr. Bärbel Kofler für die
SPD.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen
und Kollegen! Liebe Besucher auf den Tribünen! Liebe
Heike Hänsel, wir sind uns ja einig, dass man gerade im
Zusammenhang mit sozialen Fragen Steuersysteme aufbauen und nutzen soll. Aber so zu tun, als hätten wir
kein Steuersystem in Deutschland,
({0})
ist - in vielen Ländern des Südens ist das leider der Fall,
dort sind viele Haushalte ausschließlich auf Zolleinnahmen angewiesen, weil es keine Steuersysteme gibt schon komisch, um es einmal vorsichtig zu sagen.
({1})
Wir diskutieren jetzt im Vorfeld der Konferenz von
Addis Abeba, die Mitte Juli dieses Jahres stattfinden
wird. Es ist die dritte Entwicklungskonferenz innerhalb
der letzten 15 Jahre. Die erste war in Mexiko, die zweite
in Katar. Aber diese Konferenz unterscheidet sich massiv von den vorangegangenen Konferenzen. Hier geht es
um weit mehr als die wichtigen MDGs, die Millenniumsentwicklungsziele. Hier geht es um eine nachhaltige Agenda für alle Länder dieser Erde: für die Länder
des Südens genauso wie für uns. Es geht um den Handlungsbedarf in unseren Gesellschaften und bei den Ungerechtigkeiten innerhalb unserer Gesellschaften. Deshalb ist der Erwartungsdruck auf die Konferenz in Addis
Abeba hoch - zu Recht hoch.
Es geht darum, 17 Nachhaltigkeitsziele inhaltlich umfassender als alles das, was wir bisher diskutiert haben,
auf den Weg zu bringen und Gestaltungsmöglichkeiten
für eine andere Welt zu eröffnen. Es geht um Themen
wie inner- und zwischenstaatliche Ungleichheit. Es geht
um menschenwürdige Arbeit weltweit, um nachhaltige
Produktionsmuster, um Klima, Frieden und Sicherheit.
Wenn wir all diese positiven Ziele erfüllen wollen, dann
brauchen wir eines: eine ausreichende Finanzierung.
({2})
Das heißt aber auch, Addis Abeba muss gelingen, wenn
die nachfolgenden Konferenzen - sei es die SDG-Konferenz, also die Konferenz um die Nachhaltigkeitsziele in
New York, oder die Klimakonferenz im Dezember in Paris - erfolgreiche Konferenzen werden sollen und wir zu
Fortschritten kommen wollen. Deshalb die Konzentration auf einige finanztechnische bzw. technische Fragen:
Ja, es geht um die sogenannte ODA-Quote. Sie ist eine
erste und wichtige Säule. Das sind also die Mittel der
staatlichen Finanzierung. Das ist angesprochen worden.
Darauf sind besonders die Länder im Süden angewiesen,
die unter Fragilität, unter schwachen Strukturen, schwacher Staatlichkeit leiden. Sie sind auf diese Unterstützung besonders angewiesen. Wenn wir dort etwas dazu
beitragen wollen, dass zum Beispiel die viel zitierten
Fluchtursachen bekämpft werden, dann müssen wir
langfristig - ich betone: langfristig - in den Staatsaufbau
investieren. Dafür brauchen wir die sogenannten ODAMittel.
({3})
Herr Fuchtel, ich muss Ihnen leider widersprechen;
ich tue es sehr ungern, aber ich muss es an dieser Stelle
tun. Der EU-Ministerrat der Entwicklungsminister vom
26. Mai hat beschlossen, die Frist zur Erreichung des
0,7-Prozent-Ziels zu verlängern bzw. sich für das Erreichen des 0,7-Prozent-Ziels einzusetzen. Aber man muss
den Satz zu Ende lesen. Dort steht: „innerhalb des zeitlichen Rahmens der Post-2015-Agenda“. Ich muss ehrlich
sagen: Mir als Entwicklungspolitikerin, aber auch vielen
anderen Kolleginnen und Kollegen im Haus - fraktionsübergreifend - ist und kann das nicht genug sein.
({4})
Wir befinden uns im Jahr 2015. Für das Jahr 2015
haben wir als Völkergemeinschaft versprochen, das
0,7-Prozent-Ziel zu erreichen. Wenn wir im selben Jahr
versprechen, dass wir es ganz sicher im Jahr 2030 erreichen, dann ist das kein glaubwürdiges Signal an die Länder des Südens.
({5})
Ich betone: Auch ich freue mich über den Mittelaufwuchs in Höhe von 8,3 Milliarden Euro bis zum Haushalt 2018. Das ist ein wichtiger Schritt, sei es im Bereich
der Entwicklungszusammenarbeit, in der humanitären
Hilfe, bei den Mitteln des Auswärtigen Amtes wie auch
in Fragen des Klimaschutzes. Die Zahl, die von den Kolleginnen und Kollegen genannt wurde, ist richtig. Wir
haben unsere Quote damit aber nicht erfüllt. Wir bewegen uns ungefähr auf einem 0,4-Prozent-Pfad. Das ist zu
wenig. Wir sind gefordert, den Aufwuchspfad vorzustellen, mit dem wir in den nächsten Jahren das 0,7-ProzentZiel erreichen wollen.
({6})
Ich betone: Es geht nicht um das Sammeln von Geld
um des Sammelns oder der Erfüllung irgendwelcher
Quoten willen, die man irgendwann versprochen hat,
sondern es geht darum - gerade das hat Elmau auch
deutlich gemacht -, dass die Weltgemeinschaft, dass
viele Staaten, auch die Industriestaaten, erkannt haben,
vor welchen Problemen wir stehen. Wenn es um die
Frage und das Versprechen geht, 500 Millionen Menschen in den Entwicklungsländern von Hunger und
Mangelernährung zu befreien, dann brauchen wir dafür
Mittel. Wenn es um den versprochenen Präventionsfonds
geht, mit dem Arbeitnehmer, die unter unwürdigen Produktionsbedingungen leiden, geschützt werden sollen,
oder wenn es um eine praktische Unfallversicherung
geht, dann werden wir dafür Mittel brauchen.
({7})
Auch für die Gesundheitssysteme in den Ländern des
Südens - ihre Einführung wird im Ministerium oft angemahnt - werden wir Mittel benötigen, wenn wir Epidemien wie Ebola in Zukunft verhindern wollen.
({8})
Wir werden diese Mittel auch im Hinblick auf die in
Elmau gemachten Zusagen für den Klimaschutz brauchen. Denn selbstverständlich kann es nicht sein, dass
wir die Mittel für den Klimaschutz eins zu eins auf die
Mittel für die Entwicklungszusammenarbeit übertragen.
({9})
- Herr Kekeritz, das planen wir nicht. Es gibt Mittel, die
man für beide Zwecke gut verwenden kann. Es gibt aber
auch eindeutige zusätzliche Aufgaben, die aufgrund der
veränderten Weltlage entstanden sind,
({10})
und dafür brauchen wir zusätzliche Mittel.
({11})
Die zweite Säule - sie ist angesprochen worden finde ich ebenso wichtig. Ich würde sie auch nicht mit
einem Nebensatz wegdiskutieren. Es muss selbstverständlich - gemäß dem Prinzip der Universalität der
SDGs - um die Erhöhung von Steuereinnahmen in den
Ländern des Südens gehen. Es geht um die Frage, wie
man vernünftige Finanzverwaltungen und Steuerverwaltungen aufbauen kann, um auch die Reichen dieser Länder, die es sehr wohl gibt, ordentlich an der Finanzierung
ihrer Gemeinschaft zu beteiligen und die so gewonnenen
Mittel für die Armutsbekämpfung zu verwenden.
({12})
Hierzu können und müssen wir einen Beitrag leisten. Es
geht um Kapazitätsaufbau, um Personal, aber auch um
die entsprechenden finanziellen Ressourcen, um Finanzverwaltungen, Rechnungshöfe und darum, Parlamente
stark zu machen, Transparenz zu schaffen. Es geht aber
auch - da weisen die Finger natürlich auf uns und unsere
Gesellschaft zurück - um das Schließen von Steuerschlupflöchern und um das Thema Steuervermeidung.
Wir haben gestern im Ausschuss eine Zahl gehört; das
ist nur eine Schätzung, aber wenn diese Schätzung nur
ungefähr der Wahrheit entspricht - ich habe mehrfach
nachgefragt -, dann ist das unglaublich und nicht mehr
zu tolerieren. Die UN gehen davon aus, dass den Entwicklungsländern jährlich durch Steuervermeidung und
Steuerhinterziehung 500 Milliarden US-Dollar verloren
gehen. Was könnten wir mit diesem Geld bei der Armutsbekämpfung alles erreichen?
({13})
Genauso wichtig ist es, in den nationalen Systemen
der Entwicklungsländer Steuereinnahmen zu generieren.
Erik Solheim, der Vorsitzende des Entwicklungsausschusses der OECD sagte: Wenn es allen Entwicklungsländern gelänge, ihre Steuereinnahmen um 1 Prozent zu
erhöhen, entspräche das einer Verdoppelung der weltweiten öffentlichen Entwicklungsfinanzierung. - Das ist
richtig. Dafür müssen wir uns gemeinsam einsetzen.
({14})
Wir haben als Koalitionsfraktionen einen sehr guten
Antrag zur Entwicklungshilfefinanzierung vorgelegt. Einen kleinen Wermutstropfen gibt es allerdings; die Entwicklungspolitiker der Unionsfraktion werden mir sicher
verzeihen, dass ich ihn anspreche. Ursprünglich standen
in unserem Antrag folgende Sätze: Die Bundesregierung
wirkt auf europäischer Ebene auf die Einführung einer
Finanztransaktionsteuer hin.
({15})
Dies begrüßen wir. Die Einführung ist auch für die weitere Zukunft der Entwicklungsfinanzierung von Bedeutung. - Leider haben die Finanzpolitiker der Union diese
wichtigen Sätze aus dem Antrag gestrichen.
Herzlichen Dank.
({16})
Vielen Dank, Dr. Bärbel Kofler. - Der letzte Redner
in der Debatte ist Uwe Kekeritz für Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
- Zwischenrufe sind erlaubt; mal schauen.
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Wir sind uns, glaube ich, alle einig darüber, dass die
Konferenz in Addis Abeba enormes Potenzial in sich
birgt, die Nachhaltigkeitsagenda auf ein neues Level zu
bringen. Wir sind uns aber auch einig, dass Addis Abeba
auch das Risiko birgt, ein Fehlschlag zu werden. Wir
wissen, was für eine negative Botschaft das an die Konferenz in New York, aber auch in Paris aussenden würde.
Deshalb ist es enorm wichtig, dass sich die Bundesregierung in Addis Abeba als kraftvoller und glaubwürdiger
Vorreiter zeigt. Die Fraktionen sollten diese Position
durch klare Anträge untermauern.
Dann kam der Antrag von CDU/CSU und SPD, den
ich ganz anders einschätze als Bärbel Kofler. In diesem
Antrag lassen Sie sich stark vom Bericht des Expertenausschusses zur Finanzierung nachhaltiger Entwicklung
leiten. Dort haben Sie genau das gefunden, was Sie gesucht haben. Der Bericht - so Ihr Credo - würde keine
einseitige Verantwortlichkeit definieren. Genau das
wirkt sich auf den gesamten Duktus Ihres Antrages aus.
Anstatt klar zu sagen, was diese Bundesregierung anbieten müsste, um in Addis Abeba Erfolg zu haben, schieben Sie das Thema „eigene Verantwortung“ weg und
führen in mehreren Punkten auf, was die Entwicklungsländer zu tun haben. So riskiert man von vornherein einen Misserfolg in Addis Abeba. Natürlich gibt es eine
gemeinsame Verantwortung; um aber erfolgreich verhandeln zu können, muss man selbst auch bereit sein,
klar zu sagen, was man liefern will.
Diesbezüglich ist der Antrag der Koalitionsfraktionen
leider eine Nullnummer. Sie sagen, die Konferenz in Addis Abeba sollte auf den Ergebnissen der Konferenz von
Monterrey aufbauen. Sie betonen zu Recht die Eigenverantwortung der Staaten und führen auch an, dass die internationale Gemeinschaft den Rahmen setzen muss;
aber konkreter werden Sie leider nicht. Das ist viel zu
dünn - wenn auch nicht falsch. Wo sind Ihre Forderungen, die in Monterrey so herrlich und klar formuliert
wurden? Wie kann das internationale Finanzsystem im
Sinne einer gerechten Entwicklung verändert werden?
Was ist zur FTT zu sagen? Frau Bärbel Kofler hat ja
viele Punkte angesprochen, die völlig richtig sind; bloß,
es wäre hervorragend gewesen, wenn sie auch in dem
Antrag stünden.
({0})
Wie sind die Handelsbeziehungen zu ändern? Wie
wird mit extremen Handelsüberschüssen umgegangen?
Wie kann eine eigenständige Entwicklung erreicht werden? Wo erklären Sie denn in Ihrem Antrag, wie Sie mit
Überschuldung umgehen? Welche Verantwortung müssen Konzerne haben? Wie lösen Sie das Lieferkettenthema?
({1})
Welche innovativen Finanzierungsformen nennen Sie?
Herr Kollege, Sie hätten Ihren Antrag mal lesen sollen.
Das steht alles nicht drin. Wo weisen Sie darauf hin, dass
Entwicklung, also FfD, mit den Nachhaltigkeits- und
Klimazielen zusammengedacht werden muss, aber trotzdem jeder Bereich eigenständig ist?
({2})
Wo nennen Sie einen konkreten Beitrag, und wo definieren Sie einen vernünftigen Zeitraum? Ich sagte schon:
Der Antrag bringt das alles nicht.
In Ihrem Antrag nennen Sie an drei Stellen die mystische Zahl von 0,7 Prozent - aber nur, um ihr auszuweichen. Sie erklären, was die Expertentruppe von
0,7 Prozent hält. Dann stellen Sie fest, dass sich die Entwicklungsländer in Addis Abeba vermutlich sehr stark
auf die 0,7 Prozent beziehen werden. Im Punkt zwei Ihrer Forderungen arbeiten Sie mit einem semantischen
Trick, sodass der Punkt zwei einfach inhaltsleer und
sinnlos ist. 0,7 Prozent wollen Sie erreichen, Herr
Fuchtel - das ist schön -; so lautete auch die Antwort,
die ich von der Frau Staatssekretärin SchwarzelührSutter erhalten habe. Sie hat in der letzten Fragestunde
ausgeführt, dass 0,7 Prozent erreichbar sind, aber nur dadurch, dass die Klimaschutzmittel - du hast es schön kritisiert, Bärbel - mit den FfD-Mitteln zusammengelegt
werden; die Probleme hat sie hervorragend dargestellt.
Diese Methode führt aber dazu, dass die ODA-Mittel
in Zukunft nur noch begrenzt ausgegeben werden können für Armutsbekämpfung, Gemeinwohlökonomie, inklusives Wachstum, soziale Gerechtigkeit, Strukturaufbau, Gesundheitsentwicklung, Good Governance, Hilfe
für die Ärmsten und noch mehr und noch mehr. Letztlich
wird dafür weniger zur Verfügung stehen; denn Sie planen ja, auch die Public-private-Partnerships massiv mit
ODA-Mitteln zu fördern. Es bleibt im Prinzip nur noch
zu hoffen, dass die deutsche Regierung in Addis Abeba
bei den Verhandlungen wesentlich sensibler vorgeht, als
es Ihr Antrag vermuten lässt.
Herr Fuchtel, Sie haben mich mit Ihrem Beitrag jetzt
nicht ganz überzeugt; aber Sie haben ja noch drei Wochen Zeit.
Danke schön.
({3})
Vielen Dank, Herr Kollege Kekeritz. - Ich schließe
die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen der CDU/CSU und SPD auf Drucksache
18/5093 mit dem Titel „Entwicklungsfinanzierung vor
dem Hintergrund universeller Nachhaltigkeitsziele“.
Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? Wer enthält sich? - Der Antrag ist angenommen bei Zustimmung von CDU/CSU und SPD und Gegenstimmen
von Bündnis 90/Die Grünen und den Linken.
Abstimmung über den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/5151 mit dem
Titel „Addis Abeba zum Erfolg führen - Einsatz für eine
gerechte internationale Entwicklungs- und Klimafinanzierung“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt
Vizepräsidentin Claudia Roth
dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist abgelehnt bei
Zustimmung von Bündnis 90/Die Grünen und Linken,
Gegenstimmen von CDU/CSU und SPD.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Axel
Troost, Klaus Ernst, Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Solidaritätszuschlag für gleichwertige Lebensverhältnisse in ganz Deutschland verwenden
Drucksache 18/5221
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({0})
Haushaltsausschuss
Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden.1) - Sie
sind damit einverstanden. Dann ist das so beschlossen.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/5221 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. - Sie sind einver-
standen. Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so
beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 19 a und 19 b auf:
a) - Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Arnold Vaatz, Erika Steinbach,
Elisabeth Winkelmeier-Becker, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der CDU/CSU
sowie den Abgeordneten Dr. Rolf Mützenich,
Frank Schwabe, Dr. Johannes Fechner, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der
SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
über die Rechtsstellung und Aufgaben des
Deutschen Instituts für Menschenrechte
({1})
Drucksache 18/4421
- Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes über die Rechtsstellung und Aufgaben des Deutschen Instituts für Menschenrechte ({2})
Drucksache 18/4893
- Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Annette Groth, Inge Höger,
Wolfgang Gehrcke, weiteren Abgeordneten
und der Fraktion DIE LINKE sowie den Abgeordneten Tom Koenigs, Annalena Baerbock,
Marieluise Beck ({3}), weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes über die Rechtsstellung und Aufgaben des Deutschen Instituts für Menschenrechte ({4})
Drucksache 18/4798
- Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Tom Koenigs, Annalena Baerbock,
Marieluise Beck ({5}), weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes über die Rechtsstellung und Aufgaben des Deutschen Instituts für Menschenrechte ({6})
Drucksache 18/4089
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({7})
Drucksache 18/5198
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Menschenrechte und
Humanitäre Hilfe ({8}) zu dem Antrag der Abgeordneten Tom Koenigs, Annalena
Baerbock, Marieluise Beck ({9}), weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Menschenrechtsförderung stärken - Gesetzliche Grundlage für Deutsches Institut für
Menschenrechte schaffen
Drucksachen 18/2618, 18/5198
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. - Auch dazu
höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache mit Dr. Karamba Diaby
für die SPD.
({10})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Endlich bringen wir das Gesetz über das Deutsche Institut für Menschenrechte auf den Weg. Ich danke Bundesjustizminister Heiko Maas für sein Engagement in dieser Frage.
Bereits im Oktober 2014 hatte er einen Gesetzentwurf
vorgelegt. Aus SPD-Sicht hätte das Institut damit wie
bisher weiterarbeiten können; aber die Union bescherte
uns eine Zitterpartie. Erst nach zähen Verhandlungen ist
es uns endlich gelungen, ganz im Sinne der Pariser Prinzipien das Deutsche Institut für Menschenrechte auf gesetzlicher Grundlage abzusichern.
({0})
Damit erhalten wir die Unabhängigkeit des Instituts und
seinen A-Status.
({1})
Das ist gut für Deutschland, meine Damen und Herren.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Deutsche Institut für Menschenrechte ist ein Glücksfall für unsere Demokratie.
({2})1) Anlage 6
Es leistet unabhängige Arbeit, die sich vor allem kritisch
mit der Lage der Menschenrechte in unserem Land auseinandersetzt. Hierfür möchte ich zwei Beispiele aufgreifen. Das erste Beispiel betrifft den Begriff „Rasse“ in
deutschen Gesetzestexten. Im Jahr 2010 hat das Deutsche Institut für Menschenrechte ein Gutachten veröffentlicht. Darin wird der Gesetzgeber aufgefordert, in
deutschen Rechtstexten auf den Begriff „Rasse“ zugunsten einer Formulierung zu verzichten, die das Verbot rassistischer Benachteiligung abdeckt.
Erlauben Sie mir, aus diesem Gutachten zu zitieren:
Der Gebrauch des Begriffs „Rasse“ im Diskriminierungsverbot des Grundgesetzes kann rassistisches Denken fördern, da er suggeriert, dass es unterschiedliche menschliche „Rassen“ gebe. Solange
er in Bezug auf Menschen verwendet wird, löst er
Irritation und Sprachlosigkeit aus, bis hin zu persönlichen Verletzungen. Dabei ist seine Verwendung keinesfalls notwendig.
Daher empfiehlt das Institut - ich zitiere weiter eine Abkehr von diesem Begriff zu vollziehen und
stattdessen ein Verbot rassistischer Benachteiligung
oder Bevorzugung aufzunehmen. Damit würde dem
Schutzzweck der Norm, dem Schutz vor rassistischen Diskriminierungen und der Bekämpfung von
Rassismus, zu voller Wirkung verholfen.
({3})
Wem das nicht einleuchtet, der soll mir bitte die Frage
beantworten, welcher Rasse er denn angehört. Diese
Frage muss beantwortet werden.
An diesem Beispiel können wir die Aufgabe des Instituts ablesen, nämlich wissenschaftliche Forschung,
Politikberatung, Bildungsarbeit und Information der Öffentlichkeit über die Lage der Menschenrechte in unserem Land.
Erlauben Sie mir, zum zweiten Beispiel zu kommen,
dem Thema Racial Profiling. Im Jahre 2013 veröffentlichte das Institut eine Studie mit dem Titel „‚Racial Profiling‘ - Menschenrechtswidrige Personenkontrollen
nach § 22 Abs. 1 a Bundespolizeigesetz“. Die Studie
enthält Empfehlungen an den Gesetzgeber, Gerichte und
Polizei.
Meine persönliche Erfahrung mit Racial Profiling ist,
von der Arbeit nach Hause zu fahren und als Einziger
kontrolliert zu werden. Am 12. März 2014 um 19 Uhr
fuhr ich nach der Arbeit von Magdeburg nach Halle und
wurde als Einziger von mehreren Hundert Pendlerinnen
und Pendlern beim Verlassen des Bahnhofs kontrolliert.
Dem Beamten reichte weder mein biometrischer deutscher Personalausweis noch mein Stadtratsausweis. Nur
weil ich das Glück hatte, einen Dienstausweis des Sozialministeriums des Landes Sachsen-Anhalt zu haben,
durfte ich weiterlaufen.
Das ist meine Erfahrung mit Racial Profiling. Meine
dunkle Hautfarbe und meine Augenfarbe, kurzum mein
nicht weißes Aussehen, wurden als Kriterium für eine
anlasslose Personenkontrolle herangezogen. In einem
vielfältigen Land wie Deutschland mit einer solch langen Einwanderungsgeschichte soll man am Aussehen
die deutsche Staatsbürgerschaft ablesen können? Wer
das kann, sollte unter die Hellseher gehen.
({4})
Ich habe mich in der Bundespolizei umgehört: Es gibt
Beamte, die sagen, es gebe kein Racial Profiling, und es
gibt jene, die argumentieren, dass das Aussehen gemäß
§ 22 Absatz 1 a Bundespolizeigesetz als Verdachtsmoment herangezogen werden darf. Hört man sich bei der
Union zu diesem Thema um, erfährt man, dass allein die
Thematisierung angeblich ein Generalverdacht gegen
Polizeibeamtinnen und Polizeibeamte ist. Das ist absurd,
meine Damen und Herren.
({5})
Umso bedeutender ist das Gutachten des Deutschen
Instituts für Menschenrechte, das uns, den Gesetzgeber,
auffordert, zu handeln. Der Wissenschaftliche Dienst des
Bundestages geht in einer Ausarbeitung davon aus, dass
Racial Profiling durch geltendes Recht verboten ist; Racial Profiling ist ein Ermessensfehler. Zu diesem Ergebnis kommt der Wissenschaftliche Dienst in diesem
Hause.
({6})
Das unabhängige Gutachten des Deutschen Instituts
für Menschenrechte geht weiter und empfiehlt unter anderem, § 22 Absatz 1 a Bundespolizeigesetz zu streichen, denn:
Die Regelung ist grund- und menschenrechtlich
nicht haltbar. Sie verstößt gegen Art. 3 Abs. 3 GG
und das Recht auf informationelle Selbstbestimmung …
({7})
Ich komme langsam zum Ende. Frau Präsidentin hat
schon angezeigt, dass ich aufhören soll. - Kein Zweifel:
Racial Profiling ist illegal und diskriminierend. Daher
kann niemand die Position einnehmen, es wäre derzeit
zulässig.
({8})
Meine Damen und Herren, ich sagte es zu Beginn:
Das Deutsche Institut für Menschenrechte ist ein
Glücksfall für unsere Demokratie. Ich freue mich also
weiterhin über seine unabhängigen und kritischen Analysen und Empfehlungen und darüber, dass wir mit ihm
zusammenarbeiten können.
Herzlichen Dank.
({9})
Vielen herzlichen Dank, Herr Kollege. - Nächste
Rednerin in der Debatte: Annette Groth für die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren auf
der Tribüne! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben es gerade gehört: Es hat ein Jahr intensivster Diskussion gebraucht, und jetzt endlich stellen wir das
Deutsche Institut für Menschenrechte auf gesetzliche
Grundlage.
Es ist schon kurios und Außenstehenden schon gar
nicht zu vermitteln, dass sich alle Fraktionen einig sind,
es aber trotzdem vier gleichlautende Gesetzentwürfe
gibt. Wenn ich mich recht erinnere, war es die CDU/
CSU-Fraktion, die die Linke absolut nicht auf dem Gesetzentwurf haben wollte. Das ist sehr schwer verständlich und in meinen Augen auch absurd. Na ja!
({0})
Das Menschenrechtsinstitut ist wichtig - das haben
wir schon von Karamba Diaby gehört -, weil es immer
wieder auf Menschenrechtsverletzungen in Deutschland
und in Europa hinweist.
({1})
Beispiel eins. Das DIMR, das Deutsche Institut für
Menschenrechte, kritisiert deutlich die Speicherung von
Telekommunikationsverkehrsdaten. Es bezeichnete sie
als besonders schweren Eingriff in das Menschenrecht
auf Privatsphäre - Zitat -:
Selbst eine begrenzte Speicherdauer von nur vier
Wochen ermöglicht im digitalen Zeitalter die Erstellung aussagekräftiger individueller Persönlichkeits- und Bewegungsprofile und die Aufdeckung
gruppenbezogener Einflussstrukturen und Entscheidungsabläufe.
Die Bundesregierung sollte hier auf den menschenrechtlichen Sachverstand hören und die Pläne zur Vorratsdatenspeicherung endlich in die Tonne treten.
({2})
Beispiel zwei. Zu den Vorwürfen der Misshandlung von
Flüchtlingen durch die Bundespolizei in Hannover spricht
das DIMR ebenso eine klare Sprache und - Zitat -:
empfiehlt, eine unabhängige Kommission oder einen Untersuchungsausschuss des Bundestages zur
Aufklärung der Misshandlungen oder sogar Folterungen einzusetzen. Dieses Gremium sollte vor
allem die strukturellen Ursachen analysieren, die
dazu geführt haben, dass es offensichtlich über
einen längeren Zeitraum wiederholt zu schwerwiegenden, rassistisch motivierten Misshandlungen
kommen konnte, die zudem folgenlos geblieben
sind.
Beispiel drei. Wiederholt hat sich das DIMR mit der
menschenrechtlichen Situation bei der Pflege älterer
Menschen befasst und hier einen „großen Verbesserungsbedarf“ festgestellt. Dass DIMR weist darauf hin,
dass „UN-Menschenrechtsgremien … wiederholt strukturelle Mängel in der Pflege angemahnt“ haben. Das ist
doch eine richtige Ohrfeige für die Verantwortlichen bei
uns; immerhin sind wir eines der reichsten Länder der
Welt. Wir können froh sein, ein Institut zu haben, das
solche Wahrheiten ausspricht.
({3})
Es ist höchste Zeit für eine absolute Verbesserung in den
Pflege- und Seniorenheimen. Dies sollte im Übrigen
auch in unserem eigenen Interesse sein; denn auch Sie,
verehrte Kolleginnen und Kollegen, könnten eines Tages
in einem solchen Heim leben.
({4})
Mein letztes Beispiel hat mein Vorredner schon erwähnt. Es geht um das Racial Profiling. In der Tat sind
wir diesbezüglich wiederholt vom UN-Menschenrechtsrat kritisiert worden. Er hat immer auf Abschaffung
gedrängt. Bislang ist da nur wenig passiert. Das DIMR
fordert, dass die Bekämpfung von Rassismus zu einem
wichtigen Politikfeld in Deutschland wird. In diesem
Zusammenhang nennt das Institut die „rassistische
Diskriminierung“ in der „Praxis der Bundespolizei, bei
Kontrollen in Zügen Personen nach äußerlichen Merkmalen wie Hautfarbe auszuwählen“. Das haben wir gerade gehört.
Wir alle müssen jetzt dafür sorgen, dass das Institut
für Menschenrechte seine Arbeit in Zukunft ebenso
gründlich und unabhängig fortsetzen kann wie bisher.
Regierung und Parlament - und damit wir alle - sollten
die Empfehlungen unseres Menschenrechtsinstituts viel
stärker als bisher aufgreifen und umsetzen.
Danke schön.
({5})
Vielen Dank, Frau Kollegin Groth. - Nächste Rednerin in der Debatte: Erika Steinbach für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Was lange währt, wird doch endlich gut.
({0})
Das war keine leichte Geburt, aber sie ist gelungen. Wir
haben auch die Bundesregierung davon überzeugt, dass
es gut ist, ein bisschen auf das Parlament zu hören. Die
Bundesregierung hat einen guten Gesetzentwurf vorge10836
legt. Er ist identisch mit dem Gesetzentwurf der Koalitionsfraktionen. Das ist eine gute Sache.
Mit diesem Gesetzentwurf erhält das Deutsche Institut für Menschenrechte eine stabile Grundlage für seine
zukünftige Arbeit. Diese Grundlage entspricht voll und
ganz den Pariser Prinzipien. Diese Prinzipien dienten
uns bei der Erarbeitung des Gesetzentwurfs als Orientierung für das Mandat, für die Regelung von Zuständigkeit
und Aufgaben sowie für die Zusammensetzung der Gremien. Das war bei dem Institut bisher so nicht geregelt.
In all diesen Punkten ist der Gesetzentwurf so gestaltet, dass der Erhalt des A-Status absolut gesichert ist.
Das ist eine gute Sache für das Institut.
Wir schreiben ausdrücklich fest, dass das Deutsche
Institut für Menschenrechte die unabhängige nationale
Institution der Bundesrepublik Deutschland zur Information der Öffentlichkeit über die Lage der Menschenrechte im In- und im Ausland ist, solange es die ihm
gestellten Aufgaben auch gemäß den Pariser Prinzipien
erfüllt.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, wir haben
einen so guten Gesetzentwurf gemacht, dass die Fraktion
der Grünen und die Fraktion der Linken gemeinschaftlich einen eigenen Gesetzentwurf gemacht haben, der
Wort für Wort, Satz für Satz, Komma für Komma, Punkt
für Punkt von unserem Gesetzentwurf abgeschrieben
worden ist.
({1})
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen aus den Oppositionsfraktionen, da schon in der Schule Abschreiben niemals belohnt wurde, müssen Sie unserem Gesetzentwurf
zustimmen und Ihren eigenen Gesetzentwurf doch wieder zur Seite legen. Ich freue mich, wenn Sie zustimmen.
({2})
Damit tun Sie dem DIMR einen guten Dienst. Sie dürfen
gerne mit uns stimmen, aber Ihren Gesetzentwurf übernehmen wir nicht.
Einen schönen Abend noch.
({3})
Danke, Frau Steinbach. - Nächster Redner in der Debatte: Tom Koenigs für Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wir haben eine gesetzliche Grundlage des Deutschen Instituts für Menschenrechte als unabhängiges
Institut, das den A-Status behält und verdient. Alhamdulillah!
({0})
Woran hat es eigentlich gefehlt? Wer hat eigentlich etwas dagegen gehabt? Wir beantragen das seit vielen Jahren. In den Einzelheiten sind wir uns immer völlig einig
gewesen,
({1})
aber es ging nicht. Ein steiniger Weg, hätte Herr Fuchtel
gesagt;
({2})
leider ist er nicht mehr da.
Wir alle sind dafür, dass dieses Institut so weiterarbeitet, wie es bisher gearbeitet hat: segensreich, initiativ,
unbequem, mal für die einen, mal für die anderen. So
wird es auch bleiben. Das ist gut. Das Institut hatte sich
auf einen gemeinsamen Gesetzentwurf und einen einstimmigen Beschluss gestützt. Wir hätten es zusammen
mit der Linken sehr viel besser gefunden, einen gemeinsamen Gesetzentwurf einstimmig zu verabschieden. Das
wollte die CDU/CSU nicht, unter keinen Umständen
- keinen einstimmigen Beschluss, keinen gemeinsamen
Gesetzentwurf -, obwohl das die Garantie für gemeinsame aktive Zusammenarbeit an der Unabhängigkeit
dieses Institutes und mit dem unabhängigen Institut gewesen wäre.
({3})
Das ist nicht nur passiv: „Ja, ja, wir sagen, die haben
recht“, sondern aktiv: Wir machen mit. Das ist der Unterschied zwischen einem gemeinsamen Gesetzentwurf
und einem Antrag von irgendjemanden, dem andere zustimmen.
({4})
Das wollten Sie ganz explizit nicht. Wir haben das immer wieder angeboten.
Wir haben jetzt natürlich mit Verfahrensmitteln versucht, Gemeinsamkeit bei der Antragstellung herzustellen. Das gelingt leider nach der Geschäftsordnung nicht,
sodass jetzt ein Gesetzentwurf vorliegt, den die CDU/
CSU von der Regierung abgeschrieben hat und dem wir
alle zustimmen werden.
Prima, dass wir alle zustimmen. Aber was hindert Sie
eigentlich? Sie werden die Linken nicht mehr los.
({5})
Was hindert Sie, einmal einen Antrag oder Gesetzentwurf gemeinsam mit den Linken zu machen?
({6})
Ist das eigentlich der demokratische Umgang? Es würde
dieses Haus zieren, wenn wir mehr gemeinsame Resolutionen und Anträge hätten.
({7})
Es würde den Menschenrechtsausschuss zieren, wenn
wir mehr gemeinsame Anträge und Resolutionen hätten.
Dass das nicht geschieht, liegt an Ihnen, weil Sie am
Schluss sagen wollen: Wir haben keinen Antrag mit den
Linken gemacht. - Das ist Unfug. Das ist auch kein demokratisches Vorgehen.
Sie werden sich daran gewöhnen müssen, dass die
Linke im Parlament ist. In Brandenburg haben Sie ja
schon gelernt, ich hoffe, dass Sie irgendwann auch in
diesem Hause lernen, dass Demokratie die Gemeinsamkeit in der Aktivität, im Finden von Kompromissen und
letzten Endes auch im Einbringen von gemeinsamen Resolutionen und Anträgen ist.
Noch ein Letztes. Wir alle wollen auch weiterhin an
diesem Institut und mit diesem Institut arbeiten, und
zwar in den Gremien. Bitte sorgen Sie mit Ihrer 80-prozentigen Mehrheit dafür, dass in den Gremien alle politischen Strömungen so vertreten sind - einschließlich der
Linken, mit der Sie ja nie etwas zusammen machen wollen, Frau Steinbach; oder telefonieren Sie gerade mit
Herrn Gysi? -,
({8})
dass wir gemeinsam dieses Institut tragen und mit dem
Institut aktiv für die Menschenrechte eintreten.
Vielen Dank.
({9})
Vielen Dank, Tom Koenigs. - Und der letzte Redner
in dieser Debatte: Dr. Bernd Fabritius für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Liebe Gäste, besonders aus der Landeshauptstadt München! Bereits Ende Februar dieses Jahres habe
ich an dieser Stelle deutlich gemacht, dass wir das Deutsche Institut für Menschenrechte genau den Pariser Prinzipien entsprechend aufstellen und mit einer stabilen
Grundlage versehen wollen. So hatten wir es bereits im
Koalitionsvertrag vereinbart, und unter genau diesen
Vorzeichen verliefen auch die Gespräche innerhalb der
Koalition. Ich habe damals auch darauf hingewiesen,
dass bei einem solchen Vorhaben selbstverständlich
Gründlichkeit vor Schnelligkeit gehen muss. Es freut
mich, dass wir heute einen Gesetzentwurf zur Abstimmung stellen können, der genau das erfüllt. Unser Gesetz
stärkt die Arbeit des Deutschen Instituts für Menschenrechte entsprechend den Pariser Prinzipien und schreibt
seine Unabhängigkeit fest.
Lieber Herr Kollege Diaby, die Art und Weise, wie
Sie heute Abend in Ihrer Rede Racial Profiling derart dezidiert angesprochen haben, halte ich für eine ungerechte
Unterstellung gegenüber der Polizei in der Bundesrepublik Deutschland.
({0})
Das ist ein Kollektivverdacht, den Sie heute formuliert
haben.
({1})
Ich weiß aus meiner eigenen Tätigkeit als Strafverteidiger, dass die Polizei mit anlassbezogenen Fahndungsrastern arbeitet. Können Sie ausschließen, dass bei dem
Vorfall, den Sie geschildert haben, ein solcher konkreter
Fahndungsverdacht bestand?
({2})
Die von Ihnen, Herr Kollege Koenigs, im Verfahren
unermüdlich vorgetragene Zeitnot hat sich ja zum Glück
auch in Luft aufgelöst, nachdem unser Institut uns unmittelbar nach der Einigung über den Gesetzentwurf
postwendend mitgeteilt hat, Eile bestehe gerade nicht,
weil das ICC seine Entscheidung zur Re-Akkreditierung
des Instituts erwartungsgemäß erst im Herbst dieses Jahres, also nach der Sommerpause, treffen wird. Ich finde
das bedauerlich.
Ungeachtet seiner aus menschenrechtlicher Sicht
doch eher begrenzten Aussagekraft war es uns selbstverständlich ein Anliegen, den A-Status des Institutes zu
erhalten. Wenn auch entsprechende Einrichtungen beispielsweise in Aserbaidschan, in Russland, in Uganda
den A-Status zugesprochen bekommen, kann dessen
ideeller Mehrwert zwar nicht so groß sein, wie teilweise
mit viel emotionaler Entrüstung ob der behaupteten Gefährdung vorgetragen wurde.
Es war uns allerdings wichtig, dass unser Institut
seine Arbeit weiterhin im Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen zur Geltung bringen kann und den vollen
Entscheidungsspielraum behält. Dafür fordern die Pariser Prinzipien nicht nur eine stabile gesetzliche Grundlage, sondern auch die Garantie einer pluralistischen
Vertretung relevanter gesellschaftlicher Kräfte in den
Gremien des Menschenrechtsinstituts. Dies war lange
Zeit in der Opposition umstritten und ein Schwachpunkt,
der vom Unterausschuss für Akkreditierung des ICC in
seinem Bericht vom Herbst 2008 deutlich gerügt worden
ist. Unser Gesetzentwurf trägt dem nun Rechnung und
stellt sicher, dass sich die gesamte Bandbreite der Gesellschaft in den Gremien des Instituts widerspiegeln
kann.
Neben der Sicherstellung der Unabhängigkeit des
Deutschen Instituts für Menschenrechte haben wir eine
einheitliche Finanzierung der Einrichtung aus dem
Haushalt des Deutschen Bundestages geschaffen. Die
zuvor unübersichtliche Ausstattung des Instituts aus den
Haushalten vier verschiedener Ministerien wurde zusammengeführt und transparent gestaltet.
Lassen Sie mich einen weiteren Punkt ansprechen,
der uns bei diesem Vorhaben besonders wichtig war. Es
ist die Multiperspektivität, der Blick auf die Menschenrechtssituation anderer Länder. Die nationalen
Menschenrechtsinstitute sind vornehmlich geschaffen
worden, um die Lage im eigenen Land eingehend zu beleuchten. Das ist auch richtig so. Aber selbstverständlich
darf dabei der Blick in andere Länder nicht vollständig
ausgeblendet werden. Ich möchte nur drei Beispiele nennen:
Man stelle sich vor, wir diskutieren über die Etablierung von nicht nur ökologisch, sondern auch ethisch einwandfreien Lieferketten quer über den Globus - ohne
dabei die Menschenrechtssituation in den jeweiligen
Ländern zu berücksichtigen.
Und wie sollen wir bei so relevanten Aufgaben wie
der Bekämpfung des Asylmissbrauchs Entscheidungen
etwa darüber treffen, ob die Rückführung abgelehnter
Bewerber in bestimmte Staaten möglich ist, wenn wir
gegenüber der dortigen Menschenrechtssituation blind
bleiben?
Wie sollen wir Entwicklungspolitik in fernen Regionen menschenrechtsfördernd gestalten, ohne uns auf die
Expertise unseres Institutes verlassen zu können?
Dafür, meine Damen und Herren, wollen wir ein
Menschenrechtsinstitut mit einem weiten Blick auch
über den eigenen Tellerrand hinaus, und genau das verwirklichen wir mit dem Gesetz.
({3})
Ich freue mich sehr, dass wir all das erreicht haben
und das Deutsche Institut für Menschenrechte mit unserer heutigen Entscheidung gemäß den Pariser Prinzipien
auf eine stabile gesetzliche Grundlage stellen. Ich gehe
daher auch fest davon aus, dass der Unterausschuss für
Akkreditierung des ICC auf seiner Sitzung im kommenden Herbst das Institut mit dem A-Status reakkreditieren
wird.
Ich wünsche unserem Institut alles Gute und bin auf
den Output, den wir mit diesem Gesetz nun ermöglichen,
richtig gespannt.
Danke.
({4})
Das Wort zu einer Kurzintervention hat Herr
Dr. Diaby.
Herr Fabritius, Sie haben mich falsch zitiert und gesagt, ich hätte den deutschen Beamtinnen und Beamten
unterstellt, sie seien rassistisch. Dem möchte ich hier widersprechen.
Ich habe als Trainer für interkulturelle Kompetenz in
Sachsen-Anhalt und bundesweit sehr viele Erfahrungen
mit Beamtinnen und Beamten gemacht und weiß ganz
genau, dass sich die Beamtinnen und Beamten bemühen,
diese Kompetenz durch viele entsprechende Elemente in
der Aus- und Fortbildung zu erreichen.
Die Erfahrung, die ich bei dem, was ich erlebt habe,
gemacht habe, betrachte ich als rassistisch; dabei bleibe
ich. Ich wiederhole aber noch einmal: Ich bedanke mich
bei den deutschen Beamtinnen und Beamten für ihre Tätigkeit, weil sie eine hervorragende Arbeit leisten.
Eine Gesetzesänderung ist unsere Aufgabe hier im
Hause. Wir können Gesetze ändern. Mein Aufruf geht
deshalb an uns und nicht an die deutschen Beamtinnen
und Beamten.
Es war mir wichtig, diese Erklärung abzugeben.
({0})
Lieber Herr Kollege Diaby, ich habe Ihnen - weil ich
Sie kenne und schätze - nicht unterstellt, dass Sie den
Polizisten unterstellt hätten, sie wären rassistisch, sondern ich habe festgestellt, dass Sie durch den Vorwurf eines Racial Profiling den Spezialisten, die das machen
sollen, unterstellen, sie würden unprofessionell arbeiten,
und habe nur betont, dass meiner beruflichen Kenntnis
nach diese Spezialisten nach wissenschaftlich ausgearbeiteten Fahndungskriterien arbeiten.
({0})
Ich habe Sie wörtlich gefragt, ob Sie ausschließen
können - das können Sie auch im Protokoll nachlesen -,
dass in dem ganzen konkreten Fall bei der Kontrolle ein
entsprechender Fahndungsanlass vorgelegen hat selbstverständlich nicht in Bezug auf Sie, sondern vielleicht in einem anderen Fall.
Danke.
Ich schließe diese Aussprache.
Weil ich ihn gerade sehe und bei runden Geburtstagen
immer gratuliert wird, gratuliere ich Omid Nouripour zu
seinem
({0})
- er wäre gerne 50.; er ist gerade mal 40 geworden 40. Geburtstag.
({1})
Wir kommen zur Abstimmung über die von den Fraktionen der CDU/CSU und SPD sowie der Bundesregierung eingebrachten Entwürfe eines Gesetzes über die
Vizepräsidentin Claudia Roth
Rechtsstellung und Aufgaben des Deutschen Instituts für
Menschenrechte.
Der Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre
Hilfe empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/5198, die Gesetzentwürfe
der Fraktionen der CDU/CSU und SPD auf Drucksache 18/4421 sowie von der Bundesregierung auf Drucksache 18/4893 zusammenzuführen und in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen
wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung bei Zustimmung von allen Fraktionen angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen.
({2})
Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktionen
Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen über die Rechtsstellung und Aufgaben des Deutschen Instituts für Menschenrechte.
Der Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre
Hilfe empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/5198, den Gesetzentwurf der
Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 18/4798 abzulehnen. Ich bitte diejenigen,
die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das
Handzeichen. ({3})
Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? ({4})
Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung abgelehnt bei
Zustimmung zu der Empfehlung von CDU/CSU und
SPD und bei Ablehnung der Empfehlung durch Bündnis 90/Die Grünen und die Linken. Damit entfällt nach
unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung.
Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe zu
dem Gesetzentwurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
über die Rechtsstellung und Aufgaben des Deutschen Instituts für Menschenrechte.
Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe c seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/5198, den Gesetzentwurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 18/4089 für erledigt zu erklären. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? ({5})
Die Beschlussempfehlung ist bei Zustimmung aller
Fraktionen im Hause angenommen.
Tagesordnungspunkt 19 b. Wir setzen die Abstimmung zu den Beschlussempfehlungen des Ausschusses
für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe auf Drucksache 18/5198 fort.
Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe d seiner
Beschlussempfehlung, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/2618 mit dem Titel „Menschenrechtsförderung stärken - Gesetzliche
Grundlage für Deutsches Institut für Menschenrechte
schaffen“ für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig
angenommen.
Vielen Dank, liebe Kolleginnen und Kollegen. Es
geht aber noch weiter.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
({6}) zu dem Antrag der Abgeordneten Jutta Krellmann, Norbert Müller ({7}),
Klaus Ernst, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion DIE LINKE
Aufwertung der Sozial- und Erziehungs-
dienste jetzt
Drucksachen 18/4418, 18/5149
Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden.1) -
Ich sehe, Sie sind einverstanden.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für
Arbeit und Soziales empfiehlt in seiner Beschlussemp-
fehlung auf Drucksache 18/5149, den Antrag der Frak-
tion Die Linke auf Drucksache 18/4418 abzulehnen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt
dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfeh-
lung ist bei Zustimmung von CDU/CSU und SPD gegen
die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen und der Lin-
ken angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 auf:
Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
CSU und SPD
Internationalen Jugend- und Schüleraus-
tausch als Fundament in der Auswärtigen
Kultur- und Bildungspolitik verankern
Drucksache 18/5215
Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden.2) -
Auch damit sind Sie einverstanden.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen der CDU/CSU und SPD auf Drucksache
18/5215. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt
dagegen? - Wer enthält sich? - Der Antrag ist bei Zu-
1) Anlage 7
2) Anlage 8
Vizepräsidentin Claudia Roth
stimmung von CDU/CSU, SPD und Linken und Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 23 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen
Drucksache 18/4894
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz
({8})
Drucksache 18/5257
Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden.1) Ich sehe und höre nichts anderes, als dass Sie einverstanden sind.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für
Recht und Verbraucherschutz empfiehlt in seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/5257, den
Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache
18/4894 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, jetzt um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der
Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen. Zugestimmt haben CDU/CSU, SPD und Bündnis 90/Die Grünen, Enthaltungen bei der Linken, keine
Gegenstimmen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist angenommen. CDU/CSU, SPD, Bündnis 90/Die Grünen haben zugestimmt; enthalten hat sich die Linke.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 24 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stärkung des Rechts des Angeklagten
auf Vertretung in der Berufungsverhandlung
und über die Anerkennung von Abwesenheitsentscheidungen in der Rechtshilfe
Drucksache 18/3562
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz
({9})
Drucksache 18/5254
Die Reden sollen auch bei diesem Punkt zu Proto-
koll gegeben werden.2) - Ich sehe, Sie sind einverstanden.
Dann kommen wir jetzt zur Abstimmung. Der Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz empfiehlt in
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/5254,
den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 18/3562 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich
bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen: Zustimmung von CDU/CSU und SPD, keine Gegenstimmen, Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen und von
der Linken.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich jetzt zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist angenommen: Zustimmung von CDU/CSU
und SPD, Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen und
von der Linken.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 25 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung der internationalen
Rechtshilfe bei der Vollstreckung von freiheitsentziehenden Sanktionen und bei der
Überwachung von Bewährungsmaßnahmen
Drucksache 18/4347
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz
({10})
Drucksache 18/5255
Der Gesetzentwurf beinhaltet in der Ausschussfas-
sung des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz
neben der Umsetzung verschiedener EU-Rahmenbe-
schlüsse Änderungen des Jugoslawien-Strafgerichtshof-
Gesetzes und des Ruanda-Strafgerichtshof-Gesetzes.
Auch da sollen die Reden zu Protokoll gegeben wer-
den.3)
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für
Recht und Verbraucherschutz empfiehlt in seiner Be-
schlussempfehlung auf Drucksache 18/5255, den Gesetz-
entwurf der Bundesregierung auf Drucksache 18/4347 in
der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen,
die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustim-
men wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dage-
gen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist damit
in zweiter Beratung angenommen. Zugestimmt haben
CDU/CSU und SPD; dagegen war die Linke; enthalten
haben sich Bündnis 90/Die Grünen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. -
Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetz-
entwurf ist angenommen. CDU/CSU und SPD waren da-
für; dagegen waren die Linken, und enthalten hat sich
Bündnis 90/Die Grünen.
1) Anlage 9
2) Anlage 10 3) Anlage 11
Vizepräsidentin Claudia Roth
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 26 a und 26 b auf:
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({11})
zu dem Antrag der Abgeordneten Sibylle
Pfeiffer, Sabine Weiss ({12}), Frank Heinrich
({13}), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten
Gabriela Heinrich, Dr. Bärbel Kofler, Axel
Schäfer ({14}), weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der SPD
Entwicklungspolitische Chancen der Urbani-
sierung nutzen
Drucksachen 18/4425, 18/5130
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Heike
Hänsel, Wolfgang Gehrcke, Caren Lay, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Urbanisierung in den Ländern des Südens -
Staatliche und kommunale Funktionen stär-
ken, Privatisierung verhindern
Drucksache 18/5204
Die Reden werden zu Protokoll gegeben.1) Sind Sie
damit einverstanden? - Das ist der Fall.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung zum Antrag der Fraktionen
der CDU/CSU und der SPD mit dem Titel „Entwicklungspolitische Chancen der Urbanisierung nutzen“. Der
Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 18/5130, den Antrag der Fraktionen von
CDU/CSU und SPD auf Drucksache 18/4425 anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen bei vollständiger Zustimmung vonseiten der Großen Koalition gegen Stimmen
der Linken und Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen.
Tagesordnungspunkt 26 b: Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktion Die Linke auf
Drucksache 18/5204 mit dem Titel „Urbanisierung in
den Ländern des Südens - Staatliche und kommunale
Funktionen stärken, Privatisierung verhindern“. Wer
stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich? - Der Antrag ist abgelehnt bei Zustimmung
durch die Linke gegen Stimmen von CDU/CSU und
SPD und bei Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 27 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem
Übereinkommen vom 25. Januar 1988 über
die gegenseitige Amtshilfe in Steuersachen
und zu dem Protokoll vom 27. Mai 2010 zur
Änderung des Übereinkommens über die gegenseitige Amtshilfe in Steuersachen
Drucksachen 18/5173, 18/5220
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({15})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Auch hier werden die Reden zu Protokoll gegeben.2)
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf den Drucksachen 18/5173 und 18/5220 an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung angekommen.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 19. Juni 2015, 9 Uhr,
ein.
Die Sitzung ist geschlossen.
Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Restabend in
der Nachbarschaft.