Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Nehmen Sie bitte Platz. Die Sitzung ist eröffnet.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich begrüße Sie
herzlich zu unserer 111. Plenarsitzung.
({0})
- Da ansonsten das Risiko bestanden hätte, dass das
ohne jede Bemerkung schlicht zu Protokoll gegangen
wäre, habe ich mir mit der erwartbaren spontanen Re-
aktion diesen dezenten Hinweis erlaubt.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 1 a und 1 b auf
- wir bleiben also streng bei der 1 -:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
Verbesserung der Hospiz- und Palliativversorgung in Deutschland ({1})
Drucksache 18/5170
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({2})
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Birgit
Wöllert, Pia Zimmermann, Sabine Zimmermann
({3}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Hochwertige Palliativ- und Hospizversorgung
als soziales Menschenrecht sichern
Drucksache 18/5202
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({4})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss
Die Fraktionen haben dazu eine Aussprachezeit von
60 Minuten vorgesehen. - Dazu sehe ich keinen Widerspruch. Dann können wir so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst der Parlamentarischen Staatssekretärin Annette
Widmann-Mauz.
({5})
Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen
und Kollegen! Am Ende eines Lebens, dann, wenn nicht
mehr die Frage, ob, sondern nur noch, wann und wie
man sterben wird, im Mittelpunkt steht, geht es in erster
Linie darum, den Menschen Ängste zu nehmen, Schmerzen zu lindern und Raum und Zeit für Begegnung, Zuwendung, Nähe, Geborgenheit und Mitmenschlichkeit
zu ermöglichen. Oft bleiben nur Monate, Wochen oder
Tage, in denen wir mehr Leben, mehr Lebensqualität geben können. Das ist das Ziel der Hospizbewegung und
der Palliativmedizin, und wir wollen sie darin unterstützen.
({0})
Heute beraten wir in erster Lesung den Gesetzentwurf
zur Verbesserung der Hospiz- und Palliativversorgung in
Deutschland - und nicht, wie man aufgrund der Berichterstattung im Fernsehen heute Morgen hätte vermuten
können, einen Gesetzentwurf zum assistierten Suizid.
Unser Ziel ist es, dass allen Menschen in Deutschland in
Zukunft ein möglichst flächendeckendes Angebot dieser
Hospiz- und Palliativleistungen zur Verfügung steht.
Dieses Gesetz betrifft einen Bereich unseres Lebens,
der uns allen nahegeht, weil wir ihn alle irgendwann vor
uns haben. Wir wissen oder ahnen, wie herausfordernd
es ist, einen schwerstkranken oder sterbenden Angehörigen zu versorgen und zu begleiten. Es ist eine innere
Zerreißprobe zwischen Hinwendung und Überforderung, Nähe und schmerzvollem Miteinander.
Viel ist in diesem Bereich in den vergangenen Jahren
geschehen, vor allem dank des Einsatzes der Hospizbewegung. Neben denjenigen, die in der Hospiz- und Palliativversorgung arbeiten, engagieren sich circa 80 000
Menschen ehrenamtlich in diesem Bereich.
({1})
Die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen
messen daher dem weiteren Auf- und Ausbau der Hospiz- und Palliativversorgung in Deutschland eine hohe
Bedeutung zu. Wir wollen erreichen, dass die Palliativmedizin und die Hospizkultur möglichst überall dort
zum Tragen kommen, wo Menschen sterben: zu Hause
oder im Hospiz, aber natürlich auch in Krankenhäusern
und in Pflegeheimen, in den Städten genauso wie auf
dem Land.
Konkret bedeutet dies: Die Palliativversorgung wird
ausdrücklicher Bestandteil der Regelversorgung in der
gesetzlichen Krankenversicherung. Zur Steigerung der
Qualität der Palliativversorgung, zur Zusatzqualifikation
der Ärzte und Pflegekräfte sowie zur besseren Vernetzung mit und Koordinierung von allen anderen an der
Versorgung beteiligten Berufsgruppen und Einrichtungen wird es mit diesem Gesetz zusätzlich vergütete Leistungen geben.
Ihre letzte Lebensphase wollen viele Menschen zu
Hause verbringen. Damit die weißen Flecken in der Palliativversorgung, die es noch gibt, von der Landkarte
verschwinden, ist die häusliche Krankenpflege in der
ambulanten Palliativversorgung von erheblicher Bedeutung. Dass palliative Leistungen auch zur häuslichen
Krankenpflege gehören und sie auch für einen längeren
Zeitraum als die üblichen vier Wochen verordnet werden
können, wird daher ausdrücklich in diesem Gesetz festgeschrieben. Der Gemeinsame Bundesausschuss wird
damit beauftragt, die Richtlinie über die Verordnung von
häuslicher Krankenpflege entsprechend zu überarbeiten.
Viele Menschen, liebe Kolleginnen und Kollegen,
wollen oder können allerdings nicht zu Hause gepflegt
werden. Für sie sind zum Beispiel stationäre Hospize ein
guter Ort, um die ihnen noch verbleibende Zeit zu verbringen. Die finanzielle Ausstattung stationärer Kinderund Erwachsenenhospize wird deshalb verbessert, zum
Beispiel durch die Erhöhung des Mindestzuschusses der
Krankenkassen, damit derzeit unterdurchschnittlich finanzierte Hospize einen höheren Tagessatz je betreuter
Person erhalten können. Zudem tragen die Krankenkassen künftig einheitlich 95 Prozent statt bisher 90 Prozent
der zuschussfähigen Kosten. Damit reduziert sich der
Kostenanteil, den Hospize durch Spenden aufbringen
müssen, ohne dass sie ihren Charakter, nämlich den des
bürgerschaftlichen Engagements und der engen Verankerung in der Zivilgesellschaft, verlieren oder er ihnen
genommen wird. Denn dieser Charakter prägt und trägt
die Hospizbewegung. Es ist uns wichtig, das auch bei
diesen Finanzfragen immer wieder zum Ausdruck zu
bringen.
({2})
Bei den Zuschüssen für ambulante Hospizdienste
können künftig neben den Personalkosten - ebenfalls
entgegen manchem Medienbericht - auch die Sachkosten berücksichtigt werden. Zudem wird ein angemessenes Verhältnis von haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeitern sichergestellt. Wir wollen, dass ambulante
Hospizdienste stärker in die Sterbebegleitung in Pflegeheimen einbezogen werden und Krankenhäuser künftig
Hospizdienste mit Sterbebegleitungen auch in ihren Einrichtungen beauftragen können.
Zur Stärkung der Hospizkultur und der Palliativversorgung in den Pflegeheimen wird die Sterbebegleitung
zukünftig ausdrücklicher Bestandteil des Versorgungsauftrags der sozialen Pflegeversicherung. Auch Kooperationsverträge mit Haus- und Fachärzten, die für die
medizinische Versorgung der Bewohnerinnen und Bewohner besonders wichtig sind, werden in Zukunft nicht
länger freiwillig sein. Ärzte, die diese Verantwortung
und diese Herausforderung annehmen und sich daran beteiligen, werden in Zukunft dafür flankierend zusätzliche
Vergütungen erhalten.
Für die Krankenhäuser haben wir vorgesehen, dass
anstelle der Fallpauschalenlogik in Zukunft auch krankenhausindividuelle Entgelte für Palliativstationen mit
den Krankenhausträgern vereinbart werden können dann, wenn die Krankenhäuser dies wünschen.
Schließlich, meine Damen, meine Herren, wollen wir
sicherstellen, dass Menschen am Ende ihres Lebens die
Unterstützung und Betreuung erhalten, die sie sich vorstellen. Wir alle wissen: Über Sorgen und Befürchtungen, Werte und Wünsche zu sprechen, ist in dieser Lebensphase oft ein schwieriger und auch angstbesetzter
Prozess, mit dem sich viele überfordert und manche
auch alleingelassen fühlen. Diese Klärung gibt aber all
den Betroffenen Sicherheit und stellt darüber hinaus für
alle an diesem Prozess Beteiligten - die Angehörigen,
die behandelnden Ärzte und die Pflegekräfte - eine ganz
wichtige Leitlinie für ihren Umgang mit den Patientinnen und Patienten und für ihre Arbeit dar. Deshalb sehen
wir im Gesetzentwurf - neben dem dringend notwendigen Anspruch auf Beratung zum Leistungsangebot in der
Palliativ- und Hospizversorgung durch die gesetzlichen
Krankenkassen - erstmals in Deutschland eine individuelle, ganzheitliche Beratung zu den Hilfen und Angeboten in den Bereichen der medizinisch-pflegerischen,
psychosozialen und seelsorgerlichen Betreuung und Versorgung in der letzten Lebensphase in den stationären
Pflegeeinrichtungen vor. Das ist ein neues Element, und
damit sind wir Vorreiter in Europa.
({3})
Wir können, meine sehr verehrten Damen und Herren, insgesamt auf den positiven Erfahrungen und den
Entwicklungen der letzten Jahre aufbauen. Vieles ist in
Bewegung. Dazu beigetragen hat nicht nur, dass wir
über alle Parteigrenzen hinweg gemeinsam einen breiten
politischen Konsens aufbauen konnten. Dazu beigetragen hat vor allem auch, dass die vielen Akteure in den
jeweiligen Verantwortungsbereichen in diesem besonderen Feld der Gesundheitspolitik mit großem Engagement
aktiv zusammengearbeitet haben, ob das nun im ChartaProzess oder im Nationalen Forum „Hospiz- und Palliativversorgung in Deutschland“ im Bundesgesundheitsministerium war. Ich möchte mich ausdrücklich dafür
bedanken
Frau Kollegin.
- ich komme zum letzten Satz -; denn ich habe die
Diskussionen als ausgesprochen konstruktiv und produktiv empfunden. Die Hospizkultur hat damit auch einen positiven Einfluss auf die politische Kultur gehabt.
Ich freue mich auf die Beratungen im Deutschen Bundestag.
Herzlichen Dank.
({0})
Für die Fraktion Die Linke hat nun die Kollegin Pia
Zimmermann das Wort.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren!
Herr Minister Gröhe, Frau Staatssekretärin WidmannMauz, Sie läuten Ihr Gesetz zur Hospiz- und Palliativversorgung mit großen Worten ein. Ich zitiere:
Schwerkranke und sterbende Menschen benötigen
in ihrer letzten Lebensphase die bestmögliche
menschliche Zuwendung, Versorgung, Pflege und
Betreuung.
Ich frage Sie aber allen Ernstes: Ist das, was Sie mit diesem Gesetzentwurf vorlegen, Ihrer Meinung nach wirklich das Bestmögliche? Meine Fraktion jedenfalls sowie
die überwiegende Mehrzahl der Sozial- und Betroffenenverbände werden Ihnen da widersprechen.
({0})
Ihre großen Ankündigungen sind erneut nur kleine
Verbesserungen. Auch durch meine langjährigen Erfahrungen im Gesundheitswesen kann ich Ihnen versichern:
Sie beenden damit weder die bestehenden Ungleichheiten im Hospiz- und Palliativsystem, noch verbessern Sie
die Qualität. Zudem sind die von Ihnen vorgeschlagenen
Verbesserungen leider auch nicht ausreichend finanziert.
({1})
Wir brauchen einen präzisen, in allen Sozialgesetzbüchern gleichlautenden Rechtsanspruch auf eine hochwertige Hospiz- und Palliativversorgung.
({2})
Dieser Anspruch muss für jede Bürgerin und jeden Bürger unabhängig von der Art der Erkrankung, der Art der
Behinderung, dem individuellen Lebensort und natürlich
auch unabhängig von der Versicherungsform gelten.
({3})
Dazu liegt heute ein Antrag meiner Fraktion vor. Ich
lade Sie herzlich ein: Schreiben Sie von uns ab. Haben
Sie Mut, und gehen Sie endlich die dringend notwendige
Reform im Bereich der Hospiz- und Palliativversorgung
an.
Meine Damen und Herren, ich möchte auf einige unserer Forderungen eingehen, die in Ihrem Gesetzentwurf
keine Rolle spielen, von denen wir aber meinen, sie sollten enthalten sein.
({4})
Erstens. Heben Sie die Ungleichbehandlung zwischen
Menschen in stationären Pflegeeinrichtungen und Hospizen auf, und beenden Sie so die Zweiklassenbetreuung.
Zweitens. Garantieren Sie im Rahmen der Umsetzung
des neuen Pflegebegriffs, dass hospizliche und palliativpflegerische Angebote in Pflegeeinrichtungen nicht weiter zu steigenden Eigenanteilen für die Betroffenen und
deren Angehörige führen; denn gute Versorgung darf
auch hier nicht vom Geldbeutel abhängig sein.
({5})
Drittens. Beseitigen Sie die strukturelle Ungleichbehandlung bei der palliativmedizinischen Versorgungssituation von Schmerzpatienten in Pflegeeinrichtungen.
Kein Mensch sollte Schmerzen haben, die verhindert
werden können.
({6})
Viertens. Hören Sie auf, die Menschen weiter mit Ihren unbestimmten Rechtsbegriffen zu verunsichern, und
präzisieren Sie Ihr Gesetz bei der Hospiz- und Palliativberatung sowie bei der Sterbebegleitung.
Fünftens. Schaffen Sie verbindliche Regelungen für
die Personalbemessung, und machen Sie sich auf den
Weg, die palliativmedizinische, palliativpflegerische und
hospizorientierte Ausbildung in den Gesundheits- und
Pflegeberufen bundeseinheitlich durch ein entsprechendes Berufsgesetz zu regeln.
({7})
Nur so können wir mehr Pflegekräfte gewinnen, und nur
so können wir der akuten Arbeitsverdichtung bei den
heutigen Pflegekräften entgegentreten. Mehr gut ausgebildetes Personal bedeutet natürlich auch bessere Pflege.
Sechstens. Auch eine Vollfinanzierung der Hospizleistungen muss drin sein, vor allen Dingen für die ambulanten Hospizleistungen, die Sachkosten inklusive.
({8})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, in diesem
Kontext will ich noch einmal erwähnen, dass ich das Engagement der Ehrenamtlichen in diesem Bereich außerordentlich schätze und dass ihnen hohe Anerkennung gebührt. Ich denke, ich spreche hier im Namen des ganzen
Hauses.
({9})
Aber bürgerschaftliches Engagement ist kein Ersatz für
fehlende Fachkräfte und darf auch nicht missbraucht
werden, um vorhandene Strukturdefizite zu verdecken.
({10})
Wir brauchen eine Hospiz- und Palliativpflege, die
die Würde des Menschen unter Beachtung seiner Selbstbestimmung am Lebensende in den Mittelpunkt stellt.
({11})
Dafür benötigen wir andere Personal- und Sachkostenschlüssel und endlich eine grundlegende Reform der
Pflegeversicherung, die nicht nur das Teilleistungsprinzip aufhebt, sondern auch eine Angleichung der Finanzierung der Sterbebegleitung in Pflegeheimen an das Niveau der Hospize gewährleistet.
Meine Damen und Herren von der Großen Koalition,
das alles können Sie in unserem Antrag noch einmal
nachlesen. Daher erneuere ich mein Angebot: Schreiben
Sie von der Linken ab. Sie werden sehen: Das würde die
Hospiz- und Palliativversorgung in unserem Land weit
nach vorne bringen.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({12})
Hilde Mattheis ist die nächste Rednerin für die SPDFraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
stelle eingangs fest: Manche Themen eignen sich nicht
für politische Attacken. Wir in diesem Haus sind doch
alle einer Meinung - davon gehe ich aus -, dass wir im
Bereich der Hospiz- und Palliativversorgung wichtige
Bausteine setzen müssen,
({0})
auch als Grundlage für weitere Verbesserungen in der
Versorgung. Es geht vor allen Dingen darum, Strukturunterschiede aufzuheben.
Wenn wir uns in diesem Punkt einig sind, dann lassen
Sie uns darüber beraten, wie wir das hinbekommen.
Denn wir wissen doch auch alle: Das Thema „Würde im
Alter“ ist für viele von uns mit der Vorstellung verbunden, dass wir auch in der letzten Lebensphase möglichst
selbstbestimmt und schmerzfrei am Leben, soweit es
möglich ist, teilhaben können. Wir wollen uns nicht vorstellen, bettlägerig auf die Hilfe anderer angewiesen zu
sein. Stattdessen wollen wir uns vorstellen, die letzten
Tage im Kreis unserer Angehörigen, unserer Liebsten
verbringen zu können - nicht nur satt und sauber, sondern auch schmerzfrei, angenommen und respektiert.
({1})
Wir wissen, dass die Realität heute noch viel zu oft
anders aussieht. Heute, 30 Jahre nach dem Start der Hospizbewegung, kümmern sich mehr als 1 500 ambulante
Dienste, 200 stationäre Hospize und 250 Palliativstationen sowie - das wurde schon gesagt - 80 000 hochengagierte Ehrenamtliche um die Betroffenen. Die Menschen,
die sich in diesem Bereich engagieren, müssen, vor allen
Dingen im Sinne derer, um die es uns heute geht, unterstützt werden. Daher bringen wir heute den vorliegenden
Gesetzentwurf in das parlamentarische Verfahren ein.
({2})
Nun geht es darum, Lücken zu schließen, was wir in
den letzten Jahren im Rahmen der Berichtspflichten des
Bundesministeriums immer wieder angemahnt haben.
Es geht nicht nur um Lücken in Bezug auf die spezialisierte ambulante Palliativversorgung, sondern vor allen
Dingen auch - was uns als SPD ein großes Anliegen
ist - um Lücken im Bereich der stationären Pflegeeinrichtungen.
({3})
Wir wissen: Das ist kein leichtes Thema. Wir wollen
es heute - der Medienbericht wurde schon angesprochen dezidiert nicht mit einer Sterbehilfedebatte verbinden.
Denn heute geht es um Hospiz- und Palliativversorgung.
Egal wo wir uns verorten, wir sind uns in diesem Haus
sicherlich einig, dass wir in dem Bereich Palliativ und
Hospiz Verbesserungen wollen. Es geht darum, dass gute
Versorgung nicht von dem Ort, an dem Menschen leben,
abhängig sein darf. Egal wo Menschen hier in Deutschland leben, sie müssen die Garantie einer guten Versorgung haben.
Die ambulante Palliativversorgung zu verbessern und
die Vernetzung der Regelversorgung anzugehen, ist ein
wichtiger Teil dieses Gesetzentwurfs. Die Leistungsansprüche der häuslichen Krankenpflege auch im Hinblick
auf ambulante Palliativversorgung gesetzlich klarzustellen und den Gemeinsamen Bundesausschuss zu beauftragen, für den Bereich Palliativpflege konkrete Festlegungen zu den Versorgungsanforderungen zu treffen, ist
Bestandteil dieses Gesetzentwurfs.
({4})
Die SAPV wird erleichtert. Stichworte hierfür sind:
Einführung des Schiedsverfahrens und Klarstellung in
Bezug auf selektivvertragliche Regelung. Es darf keine
SAPV light geben.
({5})
Deshalb wollen wir auch die stationäre und ambulante Hospizarbeit weiter stärken. Es wurde schon darauf
hingewiesen: Der Anteil der zuschussfähigen Kosten,
die getragen werden, wird von 90 auf 95 Prozent erhöht.
Denn die Hospizbewegung hat uns gesagt: Wir brauchen
Anreize, um aus dem Spendenbereich Mittel für die
Hospizarbeit zu schöpfen. Diese Erhöhung ist wichtig,
aber auch die Erhöhung des Mindestzuschusses von
7 Prozent auf 9 Prozent der monatlichen Bezugsgröße.
({6})
Neben den Personalkosten werden natürlich auch die
Sachkosten angemessen berücksichtigt. Die Sterbebegleitung und Palliativversorgung in stationären Pflegeeinrichtungen - auch das ist wichtig - werden ebenso
verbessert wie die ärztliche Versorgung. Wir wissen: Die
ärztliche Versorgung in stationären Pflegeeinrichtungen
ist nicht optimal. Auch bei diesem ganz wichtigen und
großen Bereich müssen wir leider von Unterversorgung
sprechen. Das alles sind Bausteine, auf die auch meine
Kolleginnen noch eingehen werden. Uns reicht ein guter
Wille für eine bessere Versorgung nicht aus.
({7})
Vielmehr wollen wir hier Fakten schaffen.
Ich sage zum Abschluss meiner Rede ganz deutlich:
Dieses Gesetz ist ein Baustein. Wir können in diesem einen Gesetz nicht quasi alle Bereiche regeln. Einen anderen Baustein haben wir letzte Woche mit dem Versorgungsstärkungsgesetz gesetzt. Schauen Sie sich an, was
alles in diesem Gesetz bei der sektorenübergreifenden
Versorgung verbessert wurde; dies wirkt sich auch auf
den Bereich, um den es heute geht, aus.
Wir werden mit dem Pflegestärkungsgesetz zwei weitere wichtige Dinge angehen. Wir werden auch mit dem
Präventionsgesetz - wir haben den Entwurf heute im
Ausschuss beraten und auch entsprechende Änderungsanträge besprochen - einen wichtigen Baustein setzen.
All das ergibt ein Gesamtkonzept, das für uns als SPD
die Überzeugung, dass Gesundheit und Pflege zur Daseinsvorsorge gehören, dokumentiert. Da darf es keine
zwei Klassen geben, sondern die Zugänge zum medizinischen und pflegerischen Fortschritt müssen für alle gegeben sein. Das ist unsere Überzeugung.
({8})
Ja, das alles muss finanziert werden. Wir können das
Vorhaben jetzt angehen. Hinsichtlich der Finanzierungsfragen werben wir weiterhin für unser Konzept, nämlich
für eine solidarische und paritätische Finanzierung.
({9})
Vielen Dank.
({10})
Elisabeth Scharfenberg ist die nächste Rednerin für
die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrter Herr
Minister! Herr Laumann! Sehr geehrte Kolleginnen und
Kollegen! Sehr geehrte Gäste, die heute dieser Debatte
zuhören können! Es ist ein schweres Thema, mit dem
wir uns heute befassen: Palliativ- und Hospizversorgung. Das ist nichts, was wir von uns wegdrücken können. Das betrifft uns alle, jede und jeden hier im Raum.
Es geht um die eigene Endlichkeit. Es geht auch um das
eigene Sterben. Wir alle haben Angst vor Abhängigkeit.
Wir haben Angst vor Hilflosigkeit und natürlich auch
Angst vor dem Verlust der Würde. Wir haben Angst
vor dem Verlust unserer Selbstbestimmung. Wir haben
Angst vor Schmerzen. Es geht aber auch um Loslassen
und Abschied für Angehörige. Es geht auch um die Akzeptanz von Grenzen, gerade für Ärzte und für Pflegepersonal. Das heißt, wir drücken dieses Thema weg, solange wir irgendwie können, bis wir uns eben nicht mehr
wegducken können, bis wir uns mit dem Thema auseinandersetzen müssen. Das tun wir heute hier.
Bei der Palliativ- und Hospizversorgung gibt es trotz
aller Fortschritte der letzten Jahre immer noch sehr, sehr
viel zu tun. Das ist - da gebe ich der Kollegin recht kein Thema für parteipolitisches Gezänk.
({0})
Der Bundestag muss sich intensiv mit diesen schweren
Fragen befassen. Es ist an uns, diese Debatte anzustoßen
bzw. auszulösen, die Debatte zu führen und das Thema
dadurch natürlich auch in die Gesellschaft zu tragen.
Diese Debatte hat eine ganz hohe symbolische Bedeutung. Deshalb dürfen wir daraus keine Symbolpolitik
machen.
({1})
Ihr Gesetzentwurf ist an vielen Stellen gut und richtig.
Aber ich denke, die Probleme werden nicht in der ganzen Breite grundsätzlich genug angepackt. Was meine
ich damit? Ich meine insbesondere die stationären Einrichtungen und Krankenhäuser. Sie wollen die Palliativversorgung in stationären Pflegeinrichtungen und Krankenhäusern stärken. Das ist absolut notwendig. Kliniken
und Pflegeheime sind die Orte, an denen 80 bis 90 Prozent der Menschen sterben. Um ein Gefühl dafür zu entwickeln: Ich rede hier von 700 000 bis 800 000 Menschen; das ist, um es noch deutlicher zu machen, die
Einwohnerzahl von Frankfurt am Main. Das zeigt uns,
wie drängend dieses Problem ist. Diese Realität erreicht
täglich die Menschen, die in stationären Einrichtungen
und Krankenhäusern leben, versorgt werden oder auch
arbeiten. Diese Einrichtungen sind nicht darauf eingerichtet. Dennoch müssen sie diese Situation managen.
Es fehlt an Personal. Es fehlt an Geld. Gute Palliativund Hospizversorgung in Kliniken und Pflegeheimen ist
aber von einem sehr, sehr gut ausgebildeten Personal abhängig. Das ist auch und vor allem eine Frage von genügend Personal. Dazu steht derzeit leider noch wenig in
Ihrem Gesetzentwurf. Wir alle wissen, dass es in Kliniken wie in Pflegeeinrichtungen doch wirklich an allen
Ecken und Enden an Personal fehlt. Wir haben einen zunehmenden Fachkräftemangel; das ist kein Geheimnis.
Das können wir täglich erleben. Das können wir lesen,
und das können wir spüren. Auch die Menschen in den
Einrichtungen berichten uns das sehr drastisch.
Ein Problem ist natürlich die unzureichende Finanzierung des Pflegepersonals. Ich denke, die Zusammenlegung der Pflegeberufe wird dieses Problem nicht lösen.
Aber was könnte eine Lösung sein? Ich denke, ein Schritt
in die richtige Richtung wäre ein verbindliches Personalbemessungsinstrument.
({2})
Damit würde der Personalbedarf in Krankenhäusern und
Pflegeeinrichtungen objektiv gemessen werden, das
heißt: Wie viel Personal brauche ich denn wirklich für
welche Tätigkeit? Damit könnte man auch punktgenau
landen.
Ein weiteres Problem ist, dass Bewohnerinnen und
Bewohner in stationären Einrichtungen quasi keinen Anspruch auf einen stationären Hospizplatz haben; das ist
ein Riesenproblem. Denn man geht davon aus, dass
diese Menschen in der stationären Einrichtung oder im
Altenpflegeheim versorgt sind. Aber auch da fehlt es an
Händen, und da fehlt es an Zeit. Ich denke, damit müssen wir uns ganz ehrlich auseinandersetzen.
({3})
Das alles - das weiß auch ich - geht nicht von heute
auf morgen. Das wird Geld kosten. Aber das muss uns
gute Pflege auch wert sein. Die Palliativ- und Hospizversorgung ist auf gute Pflege absolut angewiesen. Gute
Palliativ- und Hospizversorgung kostet Zeit und Geld.
Wenn wir ehrlich sind, weiß das jeder hier im Raum. Ich
denke, wir sollten uns dem stellen.
({4})
Was braucht es noch? Angehörige sterbender Menschen brauchen eine bessere Unterstützung. Trauerbegleitung ist besonders wichtig. Der Sterbeprozess, denke
ich, ist ein ganz besonderer Prozess; Kliniken berichten
uns das. Angehörige zu unterstützen, ist aktive Prävention und beugt Erkrankungen nach dem Todesfall vor.
Ich meine hiermit ganz klar Depressionen.
Auch das fehlt mir derzeit noch - ich sage: „derzeit
noch“ - in Ihrem Gesetzentwurf. Ich denke aber, das ist
leicht zu heilen und wird nicht allzu viel Geld kosten.
Die Wirkung ist enorm groß, und wir sollten auch hier
genau hinschauen.
({5})
Ich komme zum Schluss. Ich denke, die Gesetzesvorhaben, die wir im Moment angehen, nehmen beeindruckend schnell Gestalt an, aber ich glaube wirklich, wir
sollten auch noch mutige Weichenstellungen vornehmen. Wir haben zurzeit eine riesengroße Chance. Diese
Chance sollten wir nutzen, gerade im Bereich der Palliativ- und Hospizversorgung. Das sind wir den Menschen
im Land und auch uns schuldig.
Herr Minister, liebe Kolleginnen und Kollegen, wir
haben in diesem Haus einen interfraktionellen Arbeitskreis Palliativ- und Hospizversorgung, in dem sehr kollegial und gut miteinander gearbeitet wird. Ich bitte einfach wirklich noch einmal, zu erwägen, ob dies nicht ein
Thema für einen gemeinsamen interfraktionellen Gesetzentwurf ist. Wir alle haben gute Ideen. Lassen Sie sie
uns einspeisen und uns gemeinsam an einem Strang ziehen. Das wäre ein starkes Zeichen.
Vielen Dank.
({6})
Ich erteile dem Kollegen Jens Spahn für die CDU/
CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
66 Prozent der Deutschen sagen, sie würden gerne zu
Hause sterben können, aber nur 20 Prozent ist das tatsächlich vergönnt. Sie haben darauf hingewiesen: Es
geht um Hunderttausende Menschen, die jedes Jahr sterben. Nur 3 Prozent sagen in Umfragen, sie würden es
sich wünschen bzw. vorstellen können, im Krankenhaus
zu sterben; das wäre eine Option für sie. Tatsächlich
stirbt etwa die Hälfte - gute 50 Prozent - aller Menschen
in Deutschland in Krankenhäusern. Nur 1 Prozent sagt,
sie können es sich vorstellen bzw. würden es sich wünschen, in einem Pflegeheim zu sterben. Tatsächlich sterben etwa 23 Prozent in einer Pflegeeinrichtung.
Allein diese wenigen Zahlen machen deutlich, für wie
wenige Menschen der Wunsch, zu Hause zu sterben - sie
sagen für sich: das sind das Umfeld und die Situation, in
denen ich aus dieser Welt scheiden möchte; das möchte
ich durchleben und erleben -, tatsächlich wahr wird.
Deswegen ist es wichtig, dass wir das durch eine gute
ambulante Palliativversorgung und einen entsprechenden Ausbau möglich machen.
Wir haben 2007 mit einem ersten entsprechenden Gesetz begonnen, durch das diese Leistungen vor acht Jahren in die Regelversorgung der gesetzlichen Krankenversicherung aufgenommen wurden. Seitdem ist viel
passiert, aber noch nicht flächendeckend genug. Deswegen ist es gut und wichtig, dass wir mit diesem Gesetzentwurf weitere Schritte gehen, um diesem Wunsch gerecht zu werden und die ambulante Palliativversorgung
in Deutschland auszubauen.
({0})
Dazu müssen natürlich viele kleine Maßnahmen ergriffen werden, die auch schon angesprochen wurden,
zum Beispiel die Einführung von Schiedsstellen, das
Vergüten bestimmter Leistungen, das Anheben der ärztJens Spahn
lichen Vergütung und Kooperationen mit Pflegeeinrichtungen.
Frau Zimmermann, Sie haben hier einige Forderungen erhoben, denen am Ende auch niemand widersprechen mag. Das Problem ist nur: Diese sind so allgemeingültig, dass den Menschen damit nicht geholfen ist. Sie
müssen im Gesetzentwurf am Ende dann schon auch
konkrete Maßnahmen vorsehen, die zum Teil eben kleinteilig sind und deren Umsetzung zu einer besseren Versorgung führen kann.
Eines werden Sie uns nicht ausreden können, nämlich, dass wir viele gute Maßnahmen vorgeschlagen haben, die in die richtige Richtung gehen. Es wäre schön,
wenn Sie das im Interesse der Menschen auch einmal anerkennen würden.
({1})
Es ist gerade gesagt worden, man solle diese Debatte
hier nicht parteipolitisch ausschlachten.
({2})
Dass Sie daraus indirekt wieder eine Debatte über die
Bürgerversicherung und über die private und gesetzliche
Krankenversicherung machen, sieht mir sehr nach Ausschlachten aus.
({3})
- Sie haben von unterschiedlichen Klassen bei der
Palliativversorgung gesprochen.
({4})
- Ja, unabhängig von der Versicherung. Damit deuten
Sie das an.
Das eigentliche Problem ist übrigens ein anderes
- das muss hier auch einmal gesagt werden -: Die
Privatversicherten haben an dieser Stelle viel mehr Probleme als die gesetzlich Versicherten, weil sich die privaten Krankenversicherungen oft weigern, eine Palliativversorgung zu bezahlen. Wenn wir an dieser Stelle
gemeinsam mit Ihnen zu einer Verbesserung für die Privatversicherten kommen können, dann können wir gerne
darüber reden.
({5})
Ein weiterer Punkt, der vielen Menschen in dieser Debatte wichtig ist - dies beschäftigt und besorgt sie, weshalb man diese Debatte heute nicht ganz von der Debatte
über Sterbehilfe trennen kann, Frau Mattheis -, ist die
Angst vor einem qualvollen Tod. Sie haben Angst vor
Schmerzen, Atemnot und Leid. Aus dieser Angst und
dieser Sorge heraus wächst - das zeigen auch Umfragen der Wunsch nach Sterbehilfe bzw. nach der Möglichkeit,
diese Option zu haben, um dem Leid zu entgehen. Deswegen kann man diese beiden Debatten nicht völlig voneinander trennen.
Wenn es aber so ist, dass vor allem diese Angst vor
Leid und Qualen während des Sterbeprozesses dazu
führt, dass viele überhaupt erst über die Option der Sterbehilfe nachdenken, dann ist doch die erste und beste
Antwort auf diese Sorgen, dass wir sagen: Jeder in
Deutschland soll die Möglichkeit haben, soweit es eben
geht, ohne Schmerzen und Angst vor Atemnot mit einer
entsprechenden medizinischen und pflegerischen Begleitung sterben zu können. Wir wollen den Menschen
genau diese Angst nehmen, indem wir ihnen ein Angebot machen. Das ist die erste und beste Antwort auf die
Debatte zur Sterbehilfe.
({6})
Noch ein Punkt: Wir sind - wenn wir den Blick auf
die Diskussion über die Palliativmedizin insgesamt in
den letzten 15 bis 25 Jahren richten - doch weitergekommen. Auch hier ist ein enormer Fortschritt erkennbar.
Überhaupt hat sich die Frage bezüglich einer Palliativversorgung in diesem Umfang erst gestellt, nachdem
es ab den 60er- und 70er-Jahren moderne medizinische
Möglichkeiten wie eine Reanimation bzw. Wiederbelebung in der Folge der künstlichen Beatmung und künstlichen Ernährung gab. Erst dadurch sind an vielen Stellen
viel längere Sterbeprozesse - über viele Wochen, Monate und zum Teil sogar Jahre hinweg - und ganz andere
Situationen am Lebensende entstanden. Dadurch stellte
sich die Debatte über Fragen des Sterbens bzw. des Sterbeprozesses noch einmal ganz anders dar, als es in den
vielen Jahrzehnten, Jahrhunderten und Jahrtausenden
vorher der Fall war.
Wir haben in den letzten 40 bis 60 Jahren ganz
enorme Fortschritte erlebt, was die Möglichkeiten der
Medizin angeht. Das hat zunächst erst einmal dazu geführt, dass wir lange leben können. Außerdem kann im
Sterbeprozess noch vieles zusätzlich möglich gemacht
werden.
Ein Problem dabei war - das wird erst seit 10, 20 Jahren in der Medizin bzw. bei den Ärzten, in der Gesellschaft und der Politik richtig diskutiert -, dass der Fokus
viel zu lange und in zu starkem Maße auf folgende Fragen gerichtet war: Was geht technisch noch? Was können wir noch an Technik bzw. Gerät und Medizin einsetzen, um irgendetwas zusätzlich möglich zu machen?
Man hat dabei nicht die Debatte über die Fragen zugelassen: Was ist eine gute, sinnvolle und qualitätsvolle Sterbebegleitung? Wann sollte man es vielleicht auch einmal
gut sein lassen? Es ging darum, überhaupt erst einmal
anzuerkennen, dass es Situationen gibt, in denen ein Arzt
nicht mehr heilen bzw. behandeln und etwas besser machen kann, sondern dass nichts mehr geht und der Prozess des Sterbens einsetzt.
Aus dem Anerkennen der Tatsache, dass man am
Ende der Möglichkeiten ist, wurde in den 90er-Jahren
eine gute Sterbebegleitung, Palliativversorgung und
Hospizarbeit entwickelt. Das ist der Qualitätsschritt, der
in den letzten 10, 20 Jahren gelungen ist. Er findet in
dieser Debatte, die wir aktuell hier haben, eine gute und
sinnvolle Fortsetzung.
({7})
Abschließend richte ich einen Appell an uns alle. Dafür sind ja Debatten wie diese - sie finden auf vielen
Veranstaltungen, die wir auch vor Ort haben, statt - geeignet. Sie erfreuen sich übrigens - auch wenn es um Patientenverfügungen und ähnliche Themen geht - großen
Interesses. Man wundert sich, wie viele Menschen mit
ganz konkreten Fragen zu solchen Veranstaltungen kommen. So wird das Sterben ein Stück weit wieder ins Leben bzw. in den Alltag zurückgeholt.
Ich weiß noch - ich habe das hier, glaube ich, schon
einmal gesagt -, wie mir meine Eltern und meine Großeltern gesagt haben: Früher war das Sterben zu Hause
ganz normal. Es war auch selbstverständlich, dass man
als Kind die Großmutter oder den Großvater hat sterben
sehen. Ich war um die 30, als ich zum ersten Mal einen
Toten gesehen habe. Es gibt viele Menschen, die 50 oder
60 Jahre alt sind und noch nie in ihrem Leben einen Toten gesehen haben. Wir schieben das weg - außerhalb
dessen, was Familie, Zuhause bzw. Heim ist.
Ich glaube, es ist wichtig, dass wir mit dieser Debatte
das Sterben bzw. den Tod wieder als Teil des Lebens in
den Alltag zurückholen; denn damit enttabuisieren wir
den Tod. Dann ist es möglich, über all die Dinge zu diskutieren, über die auch wir hier reden. Und es ist weiterhin möglich, auch über das zu sprechen, was notwendig
für eine gute Sterbebegleitung ist.
({8})
Kathrin Vogler ist die nächste Rednerin für die Fraktion Die Linke.
({0})
Vielen Dank, Herr Präsident. - Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Vielleicht sollten wir uns noch einmal
vergegenwärtigen, worüber wir hier sprechen: Es geht
um die Angst, die viele Menschen begleitet, dass sie ihre
letzten Lebensstunden zwischen piepsenden Apparaten
verbringen müssen, versorgt von gestressten Pflegekräften, deren Gesichter hinter einem Mundschutz versteckt
sind, oder dass sie im Pflegeheim mit viel zu wenig Personal dahinvegetieren oder schwere und unerträgliche
Schmerzen und Ängste erleiden müssen. Aber das muss
nicht sein. Diese Ängste können und sollten wir den
Menschen nehmen.
Niemand, egal bei welcher Krankheit, muss unter unerträglichen Schmerzen leiden; denn wenn Heilung nicht
mehr möglich ist, kann heute die Palliativmedizin Linderung und Hilfe auch am Lebensende bieten. Dabei steht
am Lebensende die Lebensqualität, so absurd das vielleicht klingen mag, im Mittelpunkt. Darum kümmern
sich viele Menschen als Beschäftigte oder Ehrenamtliche auf Palliativstationen, in Hospizen oder in ambulanten Palliativteams. Dafür haben sie jeden Dank, auch den
dieses Hauses, verdient.
({0})
Aber leider ist es nicht so, dass wir schon eine flächendeckende Versorgung hätten und dass wirklich jeder
Mensch von diesen Angeboten erreicht werden kann.
Das müssen wir ändern.
({1})
Wer nicht mehr lange zu leben hat, der kann nicht wochenlang auf einen Platz im Hospiz oder auf die Unterstützung eines Palliativteams warten. Deswegen, Herr
Minister Gröhe, bedanke ich mich bei Ihnen und Ihrem
Team, dass Sie uns relativ zügig einen Gesetzentwurf
vorgelegt haben, um die Hospiz- und Palliativversorgung zu verbessern.
Manches, was Sie vorschlagen, geht durchaus in die
richtige Richtung; darin sind wir uns einig, dabei unterstützen wir Sie. Aber ich finde wirklich, lieber Jens
Spahn, dass es notwendig ist und möglich sein muss,
Punkte zu benennen, wo noch Lücken sind und wo noch
Nachbesserungsbedarf besteht.
({2})
Dafür haben wir einen Antrag eingebracht, den ich Sie
noch einmal bitte zu lesen.
Wir würden uns freuen, wenn einige unserer Vorschläge aufgegriffen würden. Ich nenne einige Beispiele.
Es ist nicht einzusehen, dass hochqualifizierte Leitungskräfte in Hospizen ihre wertvolle Arbeitszeit dafür aufwenden, um Spenden zu sammeln. Wir schlagen also
vor, die Arbeit in den Hospizen vollständig zu finanzieren und den Einrichtungen damit Sicherheit zu geben.
Unterschiedliche Standards in Hospizen und Pflegeheimen dürfen nicht sein. Jens Spahn hat darauf hingewiesen: Viel mehr Menschen sterben in Pflegeheimen als in
Hospizen. Auch in der Pflegeausbildung müssen die Bereiche Palliativmedizin, palliative Betreuung und Sterbebegleitung aufgewertet werden.
({3})
Was wir wollen, ist, dass jeder Mensch, auch auf dem
Land, egal welche Erkrankung er hat, einen verbindlichen Anspruch auf allgemeine und auch auf spezialisierte Palliativversorgung bekommt, und zwar sowohl
ambulant als auch stationär. Dafür müssen wir den Hospizausbau noch einmal forcieren, insbesondere auf dem
Land und für Kinder. Auch die Trauerbegleitung für
Kinder und verwaiste Eltern müssen wir noch einmal in
den Blick nehmen.
Im Übrigen fehlt noch ein wichtiger Wunsch, den ich
Ihnen in meinem letzten Satz gerne mitgeben möchte
- ihn höre ich bei jedem Hospizbesuch und bei jedem
Gespräch mit Medizinerinnen und Medizinern aus der
Palliativversorgung -: Wenn Sie Schwerkranken und
Schmerzpatienten wirksam helfen wollen, dann geben
Sie endlich auch Cannabis für Kranke frei.
({4})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Helga KühnMengel für die SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Liebe Besucherinnen und Besucher auf der
Tribüne! Dieses Thema - da haben Sie, die Sie das gesagt haben, völlig recht - eignet sich nicht für den politischen Schlagabtausch.
Korrigieren, Frau Zimmermann, möchte ich Sie an einer Stelle: Es gibt zwischen uns sehr viele Schnittstellen
und viele Dinge, die wir ähnlich sehen. Auch die Verbände stimmen diesem Gesetzentwurf in großer Zahl zu.
({0})
Es gibt viele Diskussionsgruppen, auch im interfraktionellen Arbeitskreis. An vielen Stellen wird die richtige
Weichenstellung betont, und das ist ganz wichtig.
Das Thema steht zwar nicht direkt, aber indirekt in
Beziehung zur Sterbehilfe. Wir haben immer gesagt: Bevor wir darüber reden, müssen wir die hospizliche und
palliative Versorgung verbessern, und das tun wir mit
diesem Gesetzentwurf ganz deutlich.
({1})
Man muss auch sagen, dass sich viel getan hat. Was
die Entwicklung der Schmerztherapie angeht, ist in den
letzten zehn Jahren viel geschehen, was zur Stärkung der
Palliativversorgung und der ambulanten und hospizlichen Versorgung beigetragen hat. Sie ist zwar noch nicht
flächendeckend, aber deutlich verbessert worden. Bundesweit haben 8 000 Ärztinnen und Ärzte die Zusatzbezeichnung „Palliativmedizin“ erworben. Das bedeutet
eine deutliche Qualitätsverbesserung. Über 20 000 Pflegekräfte sowie Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen weiterer Berufsgruppen haben eine anerkannte Weiterbildung
in diesem Bereich absolviert.
Wir brauchen zwar noch mehr Kräfte, aber ich betone: Es ist viel geschehen. Trotzdem bleibt noch viel zu
tun. Wir brauchen eine flächendeckende Hospiz- und
Palliativversorgung auch da, wo es heute noch wenig
Angebote gibt. Wir müssen immer die Qualität im Blick
haben, bei der ambulanten Schmerztherapie wie auch bei
der spezialisierten Therapie.
Wir müssen auch auf die betroffenen Kinder achten
- sie werden mit ihren lebensbedrohenden und lebensverkürzenden Erkrankungen oft viele Jahre versorgt und im Blick behalten, welche Kooperationen, Netzwerke und Angebote es in diesem Bereich gibt.
Wichtig ist auch der Krankenhausbereich. 46 Prozent
der Menschen, die jährlich in Deutschland versterben,
sterben im Krankenhaus.
Wir brauchen auch mehr sektorenübergreifende Kooperationen. In diesem Zusammenhang verweise ich auf
das Versorgungsstärkungsgesetz mit dem Innovationsfonds, der zum Beispiel auch die Möglichkeit bietet,
Projekte zur sektorenübergreifenden Versorgung zu benennen und zu fördern.
Vor diesem Hintergrund geht der Gesetzentwurf eindeutig in die richtige Richtung: mehr Möglichkeiten zur
Vernetzung und zur Koordination sowie mehr Angebote
in der Region, gerade auch im ländlichen Bereich.
Gut ist bei der Weiterentwicklung der allgemeinen
ambulanten Palliativversorgung und der Finanzierung
der Hospize - Kollegin Mattheis hat es schon erwähnt -,
dass 95 Prozent der zuschussfähigen Kosten übernommen werden. Die Finanzierung wurde erweitert; es ist
aber keine Vollfinanzierung, weil - auch das will ich erwähnen - das Ehrenamt zur Palliativversorgung und zur
Hospizversorgung gehört.
({2})
Man muss den 80 000 Ehrenamtlichen in diesem Bereich immer wieder danken und ihnen Wertschätzung
entgegenbringen. Sie gehören seit dem Ursprung der
Hospizversorgung dazu.
({3})
Wir müssen auch die Hausärzte und das Pflegepersonal darauf hinweisen, dass sie beraten müssen und die
Menschen einen Rechtsanspruch darauf haben. Deswegen ist es richtig, dass dies mit dem Gesetzentwurf betont wird.
Richtig und wichtig ist, dass wir jedem Mann und jeder Frau einen Zugang zur palliativen und hospizlichen
Versorgung schaffen müssen. Das ist ganz wichtig. Gestatten Sie mir eine persönliche Bemerkung: Ich bin
auch dafür, dass wir im Krankenhaus einen Palliativbeauftragten oder eine -beauftragte implementieren und
dies zu einem Bestandteil der Qualitätssicherung machen.
Die palliative Versorgung kann vieles leisten. Menschen, die sterben müssen, machen häufig die Erfahrung,
dass durch Schmerz- und Symptomkontrolle - so paradox es klingt - wieder mehr Lebensqualität und Lebensmut entstehen.
Insofern kann ich sagen: Wir werden alle an diesem
Gesetzentwurf arbeiten und ihn weiterentwickeln. Er ist
ein sehr guter Schritt für die Patientinnen und Patienten.
({4})
Das Wort erhält nun der Kollege Harald Terpe für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
sage es gleich vorneweg: Jede einzelne Regelung, die
Sie im Gesetzentwurf vorschlagen, erweitert die Möglichkeiten der Palliativ- und Hospizversorgung. Es geht
dabei um eine Versorgung im Leben am Lebensende und
die Sicherung der Lebensqualität. Das muss man gerade
im Zusammenhang mit der Diskussion über Sterbehilfe
eindeutig betonen: Die Palliativversorgung ist eine Hilfe
zum Leben und zur Sicherung der Lebensqualität.
({0})
Ich greife einen der Vorschläge heraus. Die Stärkung
der allgemeinen ambulanten Palliativversorgung ist ein
wesentlicher Baustein des Gesetzes; denn hier holen wir
etwas nach, was wir vielleicht schon etwas früher hätten
machen müssen. Wir haben heute das Problem - das
muss man klar sagen -, dass der Gedanke der Palliativmedizin und der Hospizversorgung gar nicht flächendeckend verankert ist, weder bei den Patienten noch bei
den Angehörigen und auch nicht beim medizinischen
Personal. Bis die flächendeckende Beratung, die wir uns
alle wahrscheinlich gemeinsam vorstellen, erreicht ist,
wird es noch eine Weile dauern. In diesem Zusammenhang ist die Stärkung der allgemeinen ambulanten
Palliativversorgung eine wichtige Sache.
({1})
Ebenfalls wichtig ist die Koordination. Das Gesetz
berücksichtigt durch entsprechende Regelungen auch
den koordinativen Faktor. Es wird beispielsweise vorgeschlagen, im Krankenhaus einen Beauftragten für palliativmedizinische Angelegenheiten zu implementieren.
Wie auch immer man es letztendlich macht: Die Koordination der unterschiedlichen Ebenen der Palliativ- und
Hospizversorgung ist eine wichtige Aufgabe, die wir in
Angriff nehmen müssen; denn es gibt Zielkonflikte. Jeder wünscht sich, im Kreise seiner lieben Angehörigen
und mit aller erdenklichen Hilfe zu Hause zu sterben.
Aber stationäre Palliativmedizin und Hospize sind eine
Form der Zentralisierung, weil hier spezialisiertes Wissen angeboten wird. Dieser Zielkonflikt lässt sich nur
durch eine sehr enge Koordination der unterschiedlichen
Ebenen lösen.
Natürlich kann man noch mehr machen. Wir müssen
im parlamentarischen Verfahren wahrscheinlich auch darüber diskutieren, wie wir es schaffen, dass es mehr Hospize in der Fläche gibt. Die Deckung der Betriebskosten
zu 95 Prozent ist sicherlich richtig. Ich betone aber, dass
es wichtig ist, nicht 100 Prozent zu übernehmen; denn es
geht hier oft um das Ehrenamt. Die ehrenamtlich Tätigen
möchten gar nicht 100 Prozent haben, weil sie ansonsten
das Gefühl haben, eine stille Enteignung ihrer Idee hinnehmen zu müssen.
({2})
Wir müssten auch eine Lösung zugunsten von Investitionen in Hospize finden. Dafür haben wir bislang noch
keine Lösung. Wir müssen darüber diskutieren, wie wir
die Palliativ- und Hospizbewegung in vielen mittelgroßen Städten, wohin Hospize eigentlich gehören und in
denen oft keine vorhanden sind, befördern können. Ich
plädiere dafür, uns darüber im parlamentarischen Verfahren Gedanken zu machen.
Wir müssen uns zudem Gedanken über die Ausbildung im Bereich der Palliativ- und Hospizpflege machen. Diese Pflege ist partiell anders als die in Pflegeheimen. Es geht hier um das Selbstbestimmungsrecht der zu
Pflegenden, das es zu achten gilt, obwohl man weiß,
dass die zu Pflegenden ihre Autonomie zunehmend verlieren.
Herr Kollege.
Ich komme gleich zum Schluss. - Ich erlebe oft, dass
dann eine Übernahme durch die Pflegekräfte erfolgt, die
nichts mit dem Selbstbestimmungsrecht der zu Pflegenden zu tun hat. In dieser Hinsicht gibt es in der Ausbildung noch viel zu tun.
In diesem Sinne appelliere ich, interfraktionell zu diskutieren und möglicherweise zu einem interfraktionellen
Gesetzentwurf zu kommen.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({0})
Emmi Zeulner ist die nächste Rednerin für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Leben in Würde bis zuletzt - diesen Satz hören wir in der derzeitigen Debatte immer wieder. Doch
was Würde für den Einzelnen ausmacht und was ein Leben und Sterben in Würde bedeutet, können wir als Politiker nicht festlegen. Dies bleibt eine ganz individuelle
Entscheidung für jeden von uns. Doch was wir von politischer Seite definieren können, sind die bestmöglichen
Rahmenbedingungen für ein würdevolles Leben und, ja,
auch ein würdevolles Sterben.
Um diese Gestaltung der Rahmenbedingungen geht
es auch heute wieder im vorliegenden Gesetzentwurf.
Als zuständige Berichterstatterin der CDU/CSU-Bundestagsfraktion möchte ich gerne einige für mich wichtige Punkte ausführen. Es ist mir ein Herzensanliegen,
die Versorgung mit spezialisierter ambulanter Palliativversorgung, kurz SAPV, besonders im ländlichen Raum
zu stärken, weil es dort noch die meisten weißen Flecken
gibt.
Was macht SAPV aus? Die SAPV ist ein Team aus
hochspezialisierten Palliativmedizinern und Palliativpflegekräften, das rund um die Uhr für schwerstkranke
und sterbende Menschen und deren Angehörige zu
Hause oder im Pflegeheim erreichbar ist. Das Team hat
einen ganzheitlichen Therapieansatz, der die medizinische, pflegerische und psychosoziale Betreuung umfasst.
Der Patient und die betroffene Familie können sich also
in schwierigen Situationen, wenn zum Beispiel plötzlich
starke Schmerzen oder Atemnot beim Patienten auftreten, in ein sicheres Netz fallen lassen. Dieser vernetzte
Ansatz zieht sich wie ein roter Faden durch den ganzen
Gesetzentwurf.
Um dieses Netz weiterzuspinnen und die letzten Lücken endgültig zu schließen, ist es richtig, Schiedsstellen
einzurichten, wo eine Einigung in Bezug auf den Vertragsinhalt zwischen Krankenkassen und SAPV-Teams
erzielt werden kann; denn im Gegensatz zu Teams in
Ballungsräumen stehen die Teams im ländlichen Raum
vor ganz anderen Herausforderungen: Die Wege sind
länger, die betroffenen Patienten weniger, und die Kinder der Patienten sind häufig gar nicht mehr vor Ort,
sondern in Ballungsräumen, nämlich dort, wo die Arbeit
ist, und fallen als Unterstützung weg. Trotzdem muss es
möglich sein, auch dort SAPV-Teams entstehen zu lassen, die sich finanziell tragen. Die Schiedsstellen sind
ein Hebel dafür.
({0})
Aber nicht nur im ambulanten Bereich bessern wir
nach, sondern auch im stationären Bereich, im Bereich
der Palliativstationen. Das Fallpauschalensystem, wie es
in Krankenhäusern üblich ist - ich werde nicht müde, es
zu sagen -, belohnt ein Mehr an Leistungen mit mehr
Geld. Das passt einfach nicht für Palliativstationen. Tagesgleiche Pflegesätze hingegen machen es möglich,
ohne Einbußen bei der Vergütung den Patienten individuell zu betreuen. Wenn ein sterbenskranker Mensch
keine Musiktherapie mehr haben möchte, dann sollte das
ohne einen finanziellen Nachteil für die Stationen möglich sein.
Zukünftig wollen wir eine echte Wahlmöglichkeit
zwischen den Systemen schaffen. Es wird Krankenhäusern gesetzlich das Recht zugesprochen, gegenüber den
Kassen die Abkehr vom DRG-System auf Palliativstationen zu erklären, wenn sie das wollen. Die Qualität
darf darunter natürlich nicht leiden. Deswegen gibt es
zum Beispiel in Bayern im Sinne des Bayerischen Krankenhausgesetzes verbindliche Qualitätskriterien für Palliativstationen. Um im gesamten System Krankenhaus
den Palliativgedanken besser zu verwurzeln, werden wir
über zusätzliche Palliativbeauftragte, wie es die Kollegin
schon angesprochen hat, natürlich diskutieren müssen.
Auch die Einrichtung eines Konsiliardienstes sollte
besser berücksichtigt werden; denn wir unterstützen
zwar im neuen Krankenhausgesetz mit den Strukturfonds den Aufbau neuer Palliativstationen, was sehr
sinnvoll ist, aber natürlich wird nicht jedes Krankenhaus
eine solche schaffen können. Trotzdem sollten auch in
Krankenhäusern ohne Palliativstation die Menschen in
der letzten Phase fachgerecht betreut werden und die
Pflegekräfte und Ärzte einen Experten der Hospiz- und
Palliativversorgung hinzurufen können.
Auch die finanzielle Ausstattung ambulanter Hospizdienste und stationärer Hospize werden wir entsprechend verbessern. So können zukünftig beispielsweise
Kinderhospize eigene Rahmenvereinbarungen treffen.
Die unschätzbar wichtige Arbeit, die dort tagtäglich geleistet wird, verlangt eine entsprechende Unterstützung
und Honorierung. Das tun wir. An dem bürgerschaftlichen Gedanken, auf dem die Hospizbewegung fußt, halten wir dabei dennoch fest.
Die Grundvoraussetzung für eine bessere Versorgung
ist jedoch, die Menschen in unserem Land über die Möglichkeiten der Hospiz- und Palliativversorgung aufzuklären. Die gesetzlichen Krankenkassen werden hierbei beauftragt, als Lotsen zu fungieren und die Menschen über
ihre Möglichkeiten zu informieren.
Als Parlamentarierin ist es mir wichtig, dass klargestellt wird, dass im Rahmen einer ganzheitlichen Beratung zum Beispiel die Möglichkeit einer Patientenverfügung oder einer Vorsorgevollmacht angesprochen wird.
({1})
Auch eine öffentliche Kampagne könnte dieses Anliegen
unterstützen.
Der Entwurf des Hospiz- und Palliativgesetzes schafft
durchdachte und dynamische Rahmenbedingungen, die
die Versorgung in unserem Land nachhaltig positiv prägen werden; davon bin ich fest überzeugt. Nach dem
vorgelegten Eckpunktepapier der Koalition, aus dem
sich der Gesetzentwurf entwickelt hat, kommt nun unsere Stunde, die Stunde der Parlamentarier. Ich freue
mich, gemeinsam mit Ihnen parteiübergreifend diesem
guten Gesetzentwurf den letzten Schliff zu geben.
Liebe Kollegin Zimmermann, selbstverständlich kann
ich lesen, auch die Anträge der Linken. Die in den Gesetzentwurf eingeflochtenen Überprüfungen werden das
Parlament auch noch in der nächsten Legislatur beschäftigen. Ich bin geneigt, zu sagen: Wir haben hier eine historische Chance, die entscheidenden Weichen für einen
vernetzten, ganzheitlichen, patientenorientierten Ansatz
in der Versorgung sterbender und schwerstkranker Menschen zu stellen.
Vielen herzlichen Dank.
({2})
Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abgeordneten Bettina Müller, SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Heute verbringt die Mehrheit der Menschen
die letzte Lebensphase in stationären Einrichtungen, in
Pflegeheimen oder in Krankenhäusern. Wenn die
schwerkranken und sterbenden Menschen eine Wahl hätten, würden die meisten von ihnen lieber zu Hause im
Kreis ihrer Angehörigen sterben. Dafür brauchen wir einen umfassenden Ausbau der Palliativmedizin, der Palliativpflege und der hospizlichen Sterbebegleitung.
Insbesondere im ländlichen Raum fehlt es jedoch an
ausreichenden Angeboten auf diesem Gebiet. Deshalb
wollen wir mit dem vorgelegten Gesetzentwurf auch die
Hausärzte durch Programme und Netzwerke stärker an
der Versorgung von schwerkranken und sterbenden
Menschen beteiligen. Sie haben oft über Jahre hinweg
einen sehr intensiven und auch sehr vertrauensvollen
Kontakt zu ihren Patienten. Die meisten Kranken wünschen sich daher, dass der Arzt, der die Familie ein Leben lang begleitet und auch sie selbst behandelt hat, am
Ende des Lebens zur Stelle ist und sie ihm ihre Sorgen
und Nöte mitteilen können. Wir werden daher ein besonderes Augenmerk auf die Versorgungsverträge richten,
die die Selbstverwaltungspartner für diesen hausärztlichen Bereich aushandeln müssen.
({0})
Dabei muss natürlich auch darauf geachtet werden,
dass die Qualität stimmt. Entsprechende Zusatzqualifikationen oder eine enge Anbindung an SAPV-Teams
sind unabdingbare Voraussetzung für einen Einsatz in
diesem Bereich. Eine Palliativversorgung zweiter Klasse
wird es mit uns, liebe Kolleginnen und Kollegen, nicht
geben.
({1})
Hier gilt aber auch: Konkurrenzdenken ist völlig fehl
am Platz. Vielmehr werden wir in den nächsten Jahren
aus allen Berufsgruppen Spezialisten für diese wichtige
Aufgabe brauchen. Es wird zum einen aufgrund der demografischen Entwicklung eine höhere Anzahl schwerkranker und sterbender Menschen geben. Zum anderen
wird gerade mit diesem verbesserten Angebot für die
hospizliche und palliative Versorgung im häuslichen Bereich, die wir mit diesem Gesetz schaffen, auch die Zahl
derer steigen, die zu Hause bleiben und diese Form der
Versorgung in Anspruch nehmen wollen. Gerade in der
letzten Lebensphase verändert sich zudem der Hilfebedarf ständig, sodass eine vernetzte Versorgung - dieses
Stichwort ist heute wiederholt gefallen - besonders
wichtig ist. Hier wird es ein Zusammenwirken von Fachärzten, Hausärzten, SAPV-Teams und Hospizdiensten
geben müssen, um den Bedürfnissen der Schwerkranken
gerecht zu werden.
Wir brauchen nicht nur ein Mehr an Versorgung; wir
brauchen vor allen Dingen auch die Vielfalt an Versorgungsformen. Wir brauchen also alle, die für diese Versorgung geeignet sind. Ich appelliere an alle, sich eng zu
vernetzen und in den Regionen zum Wohl der Patienten
zusammenzuarbeiten.
({2})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die häusliche Krankenpflege hat hier eine besondere Bedeutung. Wir
werden daher die Voraussetzung dafür schaffen, dass
Menschen über die üblichen vier Wochen hinaus palliativpflegerisch betreut werden können, und das Leistungsspektrum entsprechend erweitern. Um den Ausbau
der SAPV im ländlichen Raum zu fördern, werden wir
- das ist schon angeklungen - die betreffenden Versorgungsverträge dadurch unterfüttern, dass wir Schiedsverfahren einführen, damit im Fall von Uneinigkeit
schnell Lösungen herbeigeführt werden können.
Auch die unersetzlichen - das will ich betonen - ambulanten Hospizdienste wollen wir mit diesem Gesetz
stärken. Wir werden neben den Personalkosten künftig
auch die Sachkosten berücksichtigen, und es soll in diesem Bereich ein angemessenes Verhältnis zwischen ehrenamtlichen und hauptamtlichen Mitarbeitern geben.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die besten
Strukturen nützen jedoch nichts, wenn die Betroffenen
nichts davon wissen. Daher haben Versicherte künftig einen Anspruch auf individuelle Beratung und Hilfestellung durch die Krankenkassen bei der Auswahl und
Inanspruchnahme von Leistungen im Hospiz- und Palliativbereich. Dazu gehören auch schriftliche Informationen über die lokal vorhandenen Angebote und Hilfestellungen bei der Kontaktaufnahme hierzu. Die Krankenkassen sollen hierbei mit der Pflegeberatung, mit den
kommunalen Servicestellen oder auch mit den schon
vorhandenen Versorgungsstrukturen zusammenarbeiten.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, jahrelang war die
Hospiz- und Palliativversorgung ein Stiefkind des Gesundheitswesens. Heute besteht aber Einigkeit darüber,
dass eine menschenwürdige Behandlung schwerkranker
und sterbender Menschen ein zentrales Anliegen von
Medizin und Pflege sein muss. Am Ende geht es nicht
mehr um invasive Apparatemedizin, sondern es geht darum, dass die Menschen nicht allein sind, dass sie keine
Schmerzen haben und dass sie selbst entscheiden können, wie sie ihre letzte Zeit verbringen. Dafür, denke ich,
schaffen wir mit diesem Gesetz gute Voraussetzungen.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({3})
Letzter Redner in der Aussprache ist der Abgeordnete
Erwin Rüddel, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren! Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf erfüllen wir ein Versprechen aus dem Koalitionsvertrag. Die
Menschen in Deutschland erhalten Zugang zu einer besseren Hospizarbeit und zu einer flächendeckenden Palliativversorgung. Wir wollen eine Kultur der Hilfe im Sterben anbieten, die es erlaubt, die letzte Lebensphase
selbstbestimmt und bestmöglich begleitet zu verbringen.
Mit dem Hospiz- und Palliativgesetz werden in der
gesetzlichen Krankenversicherung, in der sozialen Pflegeversicherung und in unseren Krankenhäusern spürbare
Verbesserungen bei der Versorgung in der letzten Lebensphase verwirklicht. Das gilt für die ambulante
Hospizversorgung ebenso wie für die Pflege in der häuslichen Umgebung und für die stationären Pflegeeinrichtungen.
Nicht zuletzt wird dieses Gesetz einen ganz wichtigen
Beitrag zu dem leisten, was ich mal die „Runderneuerung der Pflege in der laufenden Legislaturperiode“ nennen möchte. Damit meine ich die beiden Pflegestärkungsgesetze, den Bürokratieabbau in der Pflege, die
Neugestaltung des Pflege-TÜVs und die Reform der
Ausbildung in den Pflegeberufen.
Tatsächlich hat die Pflegepolitik seit Einführung der
staatlichen Pflegeversicherung noch nie so viel Aufmerksamkeit erhalten wie in dieser Legislaturperiode.
({0})
Ich erwähne in diesem Zusammenhang auch das Versorgungsstärkungsgesetz und das Präventionsgesetz.
({1})
Alle beinhalten wichtige Elemente zur Verbesserung der
Pflege in Deutschland.
Meine Damen und Herren, die Antwort auf die Nöte
Schwerstkranker und Sterbender besteht in einer umfassenden ärztlichen, pflegerischen und psychosozialen Begleitung. Dazu ist es erforderlich, überall ausreichende
Angebote der Palliativmedizin, der Palliativpflege und
der hospizlichen Sterbebegleitung zu schaffen sowie
umfassend über Versorgungsangebote in der letzten Lebensphase zu informieren.
Mir ist besonders wichtig, auch in ländlichen und
strukturschwachen Regionen das Leistungsangebot auszubauen, die palliative Pflege in Heimen und in der
häuslichen Umgebung zu stärken sowie insbesondere die
Vernetzung und Kooperation zwischen den Akteuren voranzubringen.
Wir werden mit diesem Gesetz auch die ärztliche Versorgung bei der Sterbebegleitung in Pflegeheimen entscheidend verbessern; denn die Sterbebegleitung wird
Bestandteil des Versorgungsauftrages der sozialen Pflegeversicherung. Über die Kooperation der Pflegeheime
mit Hospiz- und Palliativnetzen wird öffentlich informiert. Außerdem fördern wir diese möglichst enge Zusammenarbeit der Pflegeheime mit Haus- und Fachärzten zur medizinischen Versorgung der Bewohnerinnen
und Bewohner mit zusätzlichen Vergütungen.
Finanzielle Unterstützung gibt es auch für individuelle Beratungsangebote in Pflegeheimen zur medizinischen, pflegerischen und seelsorgerischen Betreuung in
der letzten Lebensphase. Die Kassen arbeiten dabei mit
der Pflegeberatung, mit kommunalen Servicestellen oder
mit vorhandenen Versorgungsnetzwerken zusammen.
Meine Damen und Herren, es geht darum, auf die
Ängste und Bedürfnisse schwerstkranker und sterbender
Menschen und ihrer Angehörigen bestmöglich einzugehen und sie nicht alleinzulassen. Deshalb möchte ich
zum Schluss unseren Dank und unsere Hochachtung für
die 80 000 Mitbürgerinnen und Mitbürger zum Ausdruck bringen, die in Deutschland ehrenamtlich in der
Hospizbewegung engagiert sind.
({2})
Dem Wunsch der Hospiz- und Palliativverbände,
diese unschätzbare Arbeit durch die Krankenkassen
künftig stärker zu fördern, werden wir gerne nachkommen.
({3})
Die Aussprache ist damit geschlossen.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 18/5170 und 18/5202 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Damit
sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 2 auf:
Befragung der Bundesregierung
Die Bundesregierung hat als Thema der heutigen Kabinettssitzung mitgeteilt: Beschluss zur Nichtinanspruchnahme der Übergangsregelungen der zweiten
Stufe des Beitrittsvertrags mit Kroatien in Bezug auf
die Arbeitnehmerfreizügigkeit und die Entsendung
von Arbeitnehmern bei der grenzüberschreitenden
Dienstleistungserbringung für den Zeitraum ab
1. Juli 2015.
Das Wort für einen einleitenden Bericht hat Frau Bundesministerin Andrea Nahles.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Arbeitnehmerfreizügigkeit ist eine zentrale Errungenschaft der europäischen Einigung. Die Möglichkeit,
überall in Europa leben und arbeiten zu können, ist für
die Mehrheit der Bürger tatsächlich das wichtigste EUBürgerrecht.
In den letzten zwei Jahren haben wir in Deutschland
dieses Recht für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
aus Kroatien eingeschränkt. Diese Einschränkung läuft
am 30. Juni 2015 aus. Das Gleiche gilt übrigens für Entsendungen in den Branchen Bau, Gebäudereinigung und
Innendekoration. Wir haben hier von einer Übergangsregelung Gebrauch gemacht, die uns der Beitrittsvertrag
mit Kroatien einräumt.
Gleichzeitig haben wir aber bereits für qualifizierte
Arbeitnehmer, für Auszubildende und auch für Saisonkräfte aus Kroatien den Zugang zum Arbeitsmarkt in den
letzten zwei Jahren erleichtert. Jetzt müssen wir der Europäischen Kommission förmlich mitteilen, ob wir weiter von dieser Übergangsregelung Gebrauch machen
wollen. Das Bundeskabinett hat heute beschlossen, die
bestehenden Übergangsregelungen nicht zu verlängern.
Damit hat die Bundesregierung entschieden, zum 1. Juli
2015 die volle Arbeitnehmerfreizügigkeit für kroatische
Staatsbürgerinnen und Staatsbürger herzustellen.
Was hat uns zu dieser Entscheidung bewogen? Wir
haben in der ersten Phase nach dem EU-Beitritt Kroatiens schlicht gute Erfahrungen mit kroatischen Zuwanderern gemacht. Die Zugangserleichterungen wurden
seit dem 1. Juli 2013 bereits von vielen Menschen genutzt, nämlich den von mir eben erwähnten gut Qualifizierten, Auszubildenden und anderen. Dabei konnten wir
feststellen, dass gerade bei kroatischen Zuwanderern die
Integration in sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse extrem gut ist. Das hat uns nun auch
dazu bewogen, diesen Schritt zu machen.
Insgesamt waren 2014 etwa 93 000 Kroatinnen und
Kroaten bei uns in Deutschland sozialversicherungspflichtig beschäftigt.
Auch die Europäische Kommission sieht laut einem
Bericht vom Mai dieses Jahres nur ein geringes Risiko,
dass die Zuwanderung kroatischer Arbeitskräfte in andere EU-Staaten dort zu Arbeitsmarktstörungen führt.
Das hat damit zu tun, dass kroatische Arbeitskräfte vorrangig nach Deutschland und Österreich einwandern,
also in zwei Länder, in denen die Arbeitsmarktlage recht
gut ist. Vor allem aber hat das damit zu tun, dass die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer aus Kroatien, die bei
uns Arbeit aufnehmen, meist jung und gut ausgebildet
sind, und vor allem damit, dass sie in Wirtschaftszweigen tätig werden, in denen Arbeitskräfte dringend gesucht werden, nicht zuletzt im gesamten Bereich der
Gastronomie, aber auch im verarbeitenden Gewerbe.
Um den deutschen Arbeitsmarkt ist es momentan insgesamt gut bestellt. Mit der Einführung des Mindestlohns stellen wir sicher, dass die Menschen, die jetzt
aus EU-Ländern zu uns kommen, ebenfalls den Mindestlohn bekommen. Von daher sehen wir die Gefahr
des Lohndumpings als sehr gering an.
Für Deutschland bietet Arbeitsmobilität innerhalb Europas eine große Chance zur Bewältigung des Fachkräftemangels. Aufgrund der demografischen Entwicklung
wird der Fachkräftemangel weiterhin ein Topthema der
Bundesregierung sein. Die heutige Entscheidung des
Bundeskabinetts, den Arbeitsmarkt für kroatische Staatsangehörige vollständig zu öffnen, trägt - so sehe ich
das - zur Bewältigung des Fachkräfteproblems bei. Europa wächst, und es wächst zusammen. Davon profitieren wir alle, auch durch einen gemeinsamen europäischen Arbeitsmarkt, dem wir heute wieder ein Stück
nähergekommen sind.
({0})
Herzlichen Dank. - Gibt es Fragen dazu? - Bitte,
Frau Kollegin Pothmer.
Frau Ministerin, herzlichen Dank für den Bericht. Sie
wissen vielleicht, dass Bündnis 90/Die Grünen immer
dafür plädiert hat, die Arbeitnehmerfreizügigkeit ohne
Einschränkung von Anfang an auch für Kroatinnen und
Kroaten zu gewährleisten. Wir sind froh, dass es nun
endlich dazu kommt.
Ich frage Sie: Haben Sie Hinweise dafür, dass in den
letzten zwei Jahren auch Kroatinnen und Kroaten nach
Deutschland gekommen sind, die keine Arbeitserlaubnis
hatten und hier als Scheinselbstständige tätig waren oder
schwarz gearbeitet haben? Gibt es dafür Hinweise? Das
war meine erste Frage.
Zweite Frage. Die Kroatinnen und Kroaten, die regulär hier gearbeitet haben, mussten einen Antrag stellen.
Können Sie uns sagen, wie viel Aufwand diese 93 000
Personen, von denen Sie vorhin gesprochen haben, die
nach Deutschland gekommen sind und eine Arbeitserlaubnis beantragt haben, verursacht haben?
Bitte, Frau Ministerin.
Frau Pothmer, mir liegen keine Informationen vor,
was illegale oder nicht angemeldete Beschäftigungen angeht. Speziell bezogen auf Kroatinnen und Kroaten, aber
auch insgesamt ist das natürlich schwer zu bemessen.
Allerdings gab es aufgrund weitgehender Öffnungen in
den letzten zwei Jahren eigentlich nur noch eine Gruppe,
die Schwierigkeiten hatte, einen Zugang zum Arbeitsmarkt zu finden, nämlich die niedrigqualifizierten
Nichtsaisonarbeiter. Alle anderen Gruppen - Saisonarbeitskräfte, gut Qualifizierte, Auszubildende und Menschen, die eine zweijährige Berufsausbildung nachweisen konnten - hatten auch bisher einen Zugang zum
Arbeitsmarkt. Da der legale, der reguläre Zugang zum
Arbeitsmarkt in den letzten zwei Jahren insofern also
sehr gut war, kann ich mir nicht vorstellen, dass eine
große Gruppe den illegalen, den nichtlegalen Weg gewählt hat. Das kann ich heute zwar nicht durch Zahlen
belegen, aber aufgrund unserer diesbezüglichen Einschätzung traue ich mir diese Aussage zu. Ich denke,
dass sie auf jeden Fall richtig ist.
Zur zweiten Frage. Ja, natürlich gibt es einen gewissen Aufwand. Wir haben die Prüfungen aber sehr oft
sehr schnell durchführen können. Der Aufwand ist im
konkreten Einzelfall aber sicherlich bürokratischer, als
man denkt. Deswegen bin ich froh, dass ich heute sagen
kann: Wir können darauf verzichten. Es ist nicht mehr
notwendig. Es ist ein Fortschritt, den wir heute hier erreichen. Natürlich ist es auch eine Maßnahme zur Entbürokratisierung. Deswegen bin ich froh, dass wir das
heute beschlossen haben.
Schönen Dank. - Die nächste Frage stellt jetzt der
Abgeordnete Markus Paschke, SPD-Fraktion, und danach Jutta Krellmann, die Linke.
Vielen Dank, Frau Ministerin. - Es gab ja bereits in
der ersten Stufe Ausnahmen von der Beschränkung der
Arbeitnehmerfreizügigkeit. Können Sie mir noch einmal
genau sagen, welche das waren und welche Erfahrungen
damit gemacht wurden?
Wir haben von Anfang an, seit dem ersten Tag des
Beitrittes im Juli 2013, gesagt: Akademikerinnen und
Akademiker, die einen entsprechenden Abschluss haben,
können hier unmittelbar eine Beschäftigung aufnehmen.
Dazu kamen Auszubildende in einer betrieblichen Ausbildung und Saisonkräfte. Man sollte nicht unterschätzen, dass insbesondere die Zahl der Saisonkräfte, die bis
zu sechs Monate hier tätig sein konnten und stark im
gastronomischen Bereich eingesetzt worden sind, sehr
hoch war.
Für Beschäftigte, die eine qualifizierte Berufsausbildung haben - das habe ich eben bereits gesagt -, war der
Zugang zu diesen Berufen dann doch mit einigen Prüfungen verbunden, aber möglich. Diese Zugangsmöglichkeit wurde auch in Anspruch genommen. Diese
Beschäftigten benötigen in Zukunft keine Arbeitsgenehmigung mehr. Das ist ein Fortschritt.
Signifikante Beschränkungen gab es in den letzten
zwei Jahren allerdings für Leute, die weniger gut qualifiziert waren oder über gar keine formalen Abschlüsse,
wie wir sie hier kennen, verfügten und die eben länger
als sechs Monate, also nicht als Saisonarbeitskräfte, hier
arbeiten wollten. Genau in dem Bereich haben wir die
Vorschriften jetzt gelockert.
Man darf auch nicht vergessen: Beschränkungen für
Entsendungen bestanden in den Bereichen Bau, Gebäudereinigung und Innendekoration. Auch dieser Faktor
wird mit der heutigen Entscheidung des Bundeskabinetts
aufgehoben.
Man kann dazu sagen: Das ist insgesamt, glaube ich,
eine gut vertretbare Entscheidung.
Die nächste Frage stellt die Abgeordnete Jutta
Krellmann, die Linke, und danach Dr. Astrid
Freudenstein, CDU/CSU-Fraktion. - Frau Krellmann,
bitte.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Frau Ministerin, vielen Dank für Ihren Bericht. Ich persönlich erinnere mich
an die Diskussionen, die wir zur Arbeitnehmerfreizügigkeit geführt haben; ich glaube, das war im Jahr 2008.
Wir sind dann nach Diskussionen, auch im Ausschuss,
zu dem Ergebnis gekommen, dass es vermutlich doch
nicht so gut ist, den Arbeitsmarkt hier in Deutschland
abzuschotten. Von daher finde ich es gut, dass die Entwicklung nun in diese Richtung geht.
Ich habe zwei Fragen. Nach einem Bericht der EUKommission profitiert besonders Deutschland von der
Abwanderung junger und qualifizierter Menschen aus
Kroatien. Es kann aus meiner Sicht natürlich ein Problem für Kroatien selbst darstellen, wenn qualifizierte
Leute dort abgezogen werden. Meine erste Frage ist daher: Welche Möglichkeiten sieht die Bundesregierung in
dem Zusammenhang bei der Stärkung wirtschaftlich
schwacher Regionen in Deutschland und bei der Stärkung wirtschaftlich schwacher Regionen in Kroatien und
in Europa insgesamt?
Ich komme zu meiner zweiten Frage. Das BMAS hat
im Februar eine Studie zur Bedeutung der Zuwanderung
für Beschäftigung und Wachstum veröffentlicht. Darin
machen die Autoren im Grunde darauf aufmerksam,
dass Menschen, die zuwandern, insbesondere im ersten
Jahr der Zuwanderung eher schlechter bezahlt werden.
Sie werden zwar nicht unterhalb irgendwelcher Regelungen bezahlt, aber schlecht und nicht entsprechend ihrer
Qualifikation. Die Frage, die sich daran anschließt, lautet: Macht sich die Bundesregierung Gedanken oder gibt
es Pläne, noch in dieser Regierungszeit eine Erleichterung der Anerkennung von Berufsqualifikationen auf
den Weg zu bringen, um den Menschen die Anerkennung ihrer erzielten Qualifikation zu ermöglichen?
Wenn ich Sie richtig verstehe, bezieht sich die Frage
auf den Braindrain, wie es in modernem Deutsch so
schön heißt. Tatsächlich muss man ihn ernst nehmen. In
dem EU-Kommissionsbericht, den Sie erwähnt haben,
findet sich dazu allerdings die klare Aussage, dass der
EU-Kommission zurzeit keine Erkenntnisse darüber vorliegen, dass er die Wirtschaft in Kroatien schwächt.
Es findet definitiv - das habe ich ja eben schon gesagt - eine Zuwanderung von gut ausgebildeten Leuten
statt. Gleichzeitig gibt es eine extrem angespannte Lage
auf dem Arbeitsmarkt in Kroatien. Mir liegen die Daten
vor: Es gibt dort eine extrem hohe Jugendarbeitslosigkeit
von 46 Prozent; das ist eine der höchsten in Europa. Sie
können sich vorstellen, dass viele junge Menschen, die
dort vor der Alternative stehen, gar keinen Job zu haben
oder für einige Zeit eine Arbeit im Ausland aufzunehmen, die Entscheidung treffen - ich kann sie gut nachvollziehen -, ihr Glück in Deutschland, in Österreich
und in anderen Ländern zu suchen.
Es gibt allerdings auch einen wirtschaftsstärkenden
Effekt; denn mobile Arbeitnehmer überweisen sehr viel
Geld in ihre Heimatländer. Das kennen wir schon aus der
Zeit der - so hieß es hier immer - Gastarbeiter. Die
Überweisungen führen tatsächlich in nicht unerheblichem Umfange zu einer teilweisen Stabilisierung der
Wirtschaft und machen einen guten Anteil des BIP in
Kroatien aus. Rückflüsse von Mitteln, die die Menschen
in anderen Ländern erarbeiten, führen zu einer Stabilisierung der Wirtschaft im Heimatland.
Wir können diesen Braindrain jedenfalls zurzeit nicht
als etwas ausmachen, was Kroatien insgesamt schadet.
Dafür gibt es nach meiner Erkenntnis keine Belege.
Trotzdem, würde ich sagen, muss man da wachsam sein
und es beobachten. Entsprechende Effekte beobachten
wir auch im Zusammenhang mit vielen osteuropäischen
Ländern.
Zweitens. Wir haben tatsächlich bereits etwas gemacht, nämlich ein Anerkennungsgesetz verabschiedet,
um das zweite von Ihnen beschriebene Problem hinsichtlich der Anerkennung von Qualifikationen anzugehen.
Das Gesetz gilt weltweit als vorbildlich. Wir sind dafür
- ich war letztes Jahr bei der OECD in Paris - ausdrücklich gelobt worden.
Jetzt stellen wir bei der Umsetzung fest, dass es vor
allem - das ist etwas, was ich in meinem Haus verantworte - einen Bedarf an Teilnachqualifizierungen gibt,
die nötig sind, um eine Anerkennung der gesamten Qualifikationen zu erhalten und damit Lohn und Gehalt an
das anzupassen, was die Qualifikation eigentlich nahelegt und aus meiner Sicht gerechtfertigt ist. Es geht also
tatsächlich um eine Verstärkung der Hilfen bei Teilnachqualifizierungen. Wir werden im Rahmen der Diskussionen über Zuwanderung im Allgemeinen darauf drängen,
die entsprechenden Mittel zu erhöhen.
Ich kann also Ihr Anliegen nur unterstützen. Es
braucht diese zusätzlichen Anerkennungsschritte. Wir
brauchen dafür aber meiner Meinung nach keine neue
gesetzliche Grundlage, sondern müssen die Begleitung
der Menschen intensivieren und früher als bisher Kompetenzen vermitteln und dem Bedarf an Teilqualifizierungen, den es gibt, gerecht werden. Genau das tun wir.
Darauf werden wir in den nächsten Monaten einen
Schwerpunkt legen.
Nächste Fragestellerin ist die Abgeordnete Astrid
Freudenstein, CDU/CSU-Fraktion. Danach folgt der Abgeordnete Josip Juratovic, SPD-Fraktion.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Frau Ministerin, Sie
hatten eben die hohe Jugendarbeitslosigkeit in Kroatien
angesprochen. Meine Frage wäre, ob Ihnen darüber hinaus Push-Faktoren bekannt sind, die eine Abwanderung
kroatischer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nach
Deutschland begünstigen könnten.
Eine Nachfrage bezüglich der Überweisungen: Ist Ihnen die genaue Höhe bekannt? In welcher Höhe sind
Überweisungen in Deutschland tätiger kroatischer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nach Kroatien getätigt worden?
Ja, sie ist mir bekannt. Zumindest gibt es eine Berechnung, die einen im Jahre 2013 überwiesenen Nettobetrag
von rund 700 Millionen Euro ausweist. Das entspricht
1,6 Prozent des kroatischen BIP. Das wird wirklich als
eine deutliche Unterstützung der kroatischen Wirtschaft
wahrgenommen. Es ist zu vermuten, dass der Umfang
2014 nicht geringer war. Das ist also schon ein relevanter Faktor, und man kann ihn auch beziffern.
Zur anderen Frage hinsichtlich der Push-Faktoren.
Wissen Sie, es ist relativ simpel: Der wichtigste PushFaktor, gerade bei jungen Menschen, ist die Hoffnung
auf eine Anstellung - damit man überhaupt Arbeit hat -,
auf ein besseres Gehalt und auf bessere Arbeitsbedingungen. Das sind die wichtigsten Motivationen; das ist
der Movens für viele Menschen, hierherzukommen.
Darüber hinaus muss man wissen, dass in Kroatien
das drittniedrigste Pro-Kopf-BIP in der EU vorzufinden
ist. Das ist ein Indikator dafür, dass die gesamtwirtschaftliche Situation sehr schlecht ist. Allerdings mehren
sich jetzt zum Glück die Zeichen, dass sich die Wirtschaft in Kroatien erholt. Deswegen hoffe ich auch, dass
wir eine Perspektive bieten können.
Unser Ziel ist es, durch einen zirkulären, einen freien
Arbeitsmarkt in Europa einen Push-Effekt für die Wirtschaft insgesamt in Europa zu erzielen. Für uns ist es auf
Dauer nicht gut, wenn es zwischen den Ländern zu
große Unterschiede gibt. Nach dem Knick aufgrund der
Bankenkrise 2008/2009 konnten wir feststellen, dass in
dem Maße, wie wir die Freizügigkeit mit anderen Ländern realisiert hatten, zum Beispiel mit Polen, die Löhne
dort angestiegen sind und sich die Wirtschaft stabilisiert
hat. Dieser Effekt wird sich auch in ganz Osteuropa einstellen, auch wenn es längere Zeit dauert, als wir erhofft
hatten.
Danke schön. - Nächster Fragesteller ist der Abgeordnete Josip Juratovic von der SPD-Fraktion; danach
Martin Pätzold, CDU/CSU-Fraktion.
Vielen Dank. - Frau Ministerin, zunächst einmal
denke ich, dass es ein sehr guter Beschluss ist. Er führt
meines Erachtens zu mehr Gleichberechtigung innerhalb
der Europäischen Union. Ich möchte mich bedanken und
Sie beglückwünschen. Meine Frage ist: Ist Ihnen bekannt, wie sich die anderen Mitgliedstaaten in der Europäischen Union zu dieser Frage verhalten werden?
Es sind in 13 Mitgliedstaaten in Europa diese Übergangsregelungen in Anspruch genommen worden. Mir
liegen zum jetzigen Zeitpunkt keine weiteren Erkenntnisse vor. Ich werde aber morgen in Luxemburg beim
EPSCO-Rat sein und mit den Kollegen darüber reden.
Es stehen noch Entscheidungen aus, die in diesen Tagen
in allen Ländern fallen. Aber einen Überblick habe ich
zum jetzigen Zeitpunkt leider noch nicht. Ich glaube,
dass viele darauf schauen, wie sich Deutschland verhält,
und dass die Entscheidung, die wir heute getroffen haben, durchaus einen Einfluss darauf haben wird, wie die
anderen Länder entscheiden.
Nächster Fragesteller ist der Abgeordnete Martin
Pätzold, CDU/CSU-Fraktion; danach Dr. Wolfgang
Strengmann-Kuhn, Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Ministerin, vielen Dank für die
Darstellung. - Sie haben deutlich gemacht, dass die
Übergangsregelungen auch dafür gedacht waren, zu
schauen, wie sich der deutsche Arbeitsmarkt entwickelt.
Es ist sichtbar, dass diejenigen, die bisher aus Kroatien
nach Deutschland gekommen sind, hier auch berufstätig
sind. Deswegen würde mich interessieren, welche Kosten, welche finanziellen Auswirkungen durch den Beschluss des Bundeskabinetts zu erwarten sind.
Im Saldo gehen wir von einer Finanzierungsneutralität aus. Wenn es uns gelingt, die Leute hier gut zu integrieren, zahlen sie Steuern, zahlen sie Sozialversicherungsbeiträge. Selbst wenn einige in die Arbeitslosigkeit
gehen, glauben wir, dass es insgesamt eine kostenneutrale Entwicklung ist. Wenn es gut läuft, kann es sogar
zusätzliche Einnahmen geben.
In jedem Fall bekommen wir Fachkräfte. Ich kann die
genaue Zahl nicht beziffern. Es werden Lücken geschlossen, gerade im Südwesten, wo der Fachkräftemangel in einigen Bereichen besonders extrem ist. Von daher
würde ich volkswirtschaftlich insgesamt von einem positiven Push reden. Weil wir den Faktor Fachkräfte nicht
wirklich beziffern können, gehen wir in unseren offiziellen Berechnungen davon aus, dass unser Beschluss kostenneutral ist.
Nächster Fragesteller ist Dr. Wolfang StrengmannKuhn; danach Frau Krellmann von den Linken. - Bitte.
Vielen Dank. - Frau Ministerin, ich habe eine Frage
zu den Kroaten, die hierherkommen und die Arbeit suchen, aber nicht gleich eine Beschäftigung finden. Die
meisten finden relativ schnell eine Arbeit.
Mich würde interessieren: Wie werden Arbeitsuchende aus Kroatien unterstützt? Gibt es bei den Arbeitsagenturen spezielle Programme und Angebote in ihrer
Muttersprache? Bei uns ist der Bezug aktiver Leistungen
für Menschen ausgeschlossen, die Arbeit suchen. Wäre
es nicht sinnvoll, um die Menschen sowohl in die Gesellschaft als auch in den Arbeitsmarkt gut integrieren zu
können, wenn es auch aktive Leistungen gäbe, zumindest nach den ersten drei Monaten, in denen es grundsätzlich ausgeschlossen ist?
Schauen wir uns die Gesamtzahl derjenigen an, die
aus Kroatien zuwandern. Das sind nach unseren Schätzungen etwa 10 000 im Jahr. Das halten wir für eine vertretbare Größenordnung, zumal die Menschen eine sehr
gute Ausbildung und eine hohe Motivation mitbringen.
Für die Arbeitsvermittlung ist das gut managebar.
Darüber hinaus haben wir Beratungsstellen eingerichtet. Es gibt mittlerweile in allen großen Städten in
Deutschland Büros von NGOs - sie werden auch von
meinem Haus finanziell unterstützt; das wird auch noch
weiter ausgebaut -, deren muttersprachliche Mitarbeiter
bei Vermittlungsbemühungen und Suchbemühungen unterstützend tätig sind. Das ist einer der Punkte, den ich
für wichtig halte. Wir müssen mit den Menschen, die zu
uns kommen, wirklich ins Gespräch kommen über das,
was sie wollen und können, und über das, was sie an
Kompetenzen mitbringen. Von daher ist das keine außerordentliche Aufgabe, für deren Bewältigung extra Strukturen geschaffen werden müssen. Nach unseren Erfahrungen kann man die Vermittlung der etwa 10 000
Menschen, die aus Kroatien zu uns kommen, im Regelgeschäft mit der zusätzlichen Beratung, wie sie bereits
existiert, gut managen.
Sie haben eine weitere Frage zu den aktiven Leistungen gestellt. Das ist eine grundsätzliche Frage - da noch
einige Gerichtsurteile anhängig sind, möchte ich mich
hier mit einer Stellungnahme zurückhalten -, die man in
der Bundesregierung bisher noch nicht abschließend erörtert hat. Man muss aber Überlegungen dazu anstellen
- bestimmte Aspekte haben sehr wohl ihre Berechtigung -,
und das wird auch gemacht. Aber vor dem Hintergrund
der ausstehenden Urteile und der Tatsache, dass sich die
Bundesregierung derzeit nicht konkret mit diesem
Thema befasst, kann ich hierzu nichts weiter ausführen.
Danke schön. - Nächste Fragestellerin ist die Abgeordnete Jutta Krellmann, die Linke.
Vielen Dank. - Frau Ministerin, ich habe zwei Nachfragen zu dem Thema „Anerkennung von Berufsabschlüssen“. Erstens. Wer stellt denn fest, dass Nachqualifikationen und Anschlussqualifikationen notwendig
sind? Zweitens. Wer finanziert diese anschließend?
Erstens. Das stellt teilweise die Bundesagentur für
Arbeit fest, wenn die Menschen um Beratung bitten.
Zweitens gibt es ein gesetzliches Anerkennungsverfahren. Das ist ein eigenständiges Verfahren, in dem mit
muttersprachlicher Unterstützung systematisch abgefragt wird, welche Qualifikationen vorliegen. Derzeit haben wir - schlagen Sie mich nicht, wenn es nicht ganz
stimmt - ungefähr 27 000 Anerkennungsverfahren erfolgreich abgeschlossen. Diese sind im Zuständigkeitsbereich von Frau Wanka angesiedelt. Wir sind also
schon auf einem guten Weg.
Wenn festgestellt wird, dass eine zusätzliche Teilqualifizierung notwendig ist, damit die Gesamtqualifikation
anerkannt werden kann, dann wird uns das gemeldet.
Mit Mitteln der Bundesagentur für Arbeit - es gibt auch
einige Projekte, die durch den ESF finanziert werden können Qualifikationen durchgeführt werden. Es gibt
hier also eine ganze Reihe von Möglichkeiten. Entsprechende Verfahren laufen bereits. Das ist also nichts
Neues. International sind wir dafür auch schon gelobt
worden.
Man kann allerdings noch eine Schippe obendrauf legen. Ich bin bestimmt nicht diejenige, die sagt: Das ist
der Umfang, den wir uns vorgestellt haben. - Es könnten
mit Sicherheit noch mehr als 27 000 Personen das Verfahren durchlaufen. Das wollen wir auch angehen. Frau
Wanka, ich und die Bundesregierung insgesamt sind uns
einig, dass wir das anpacken und weiter ausbauen wollen.
Vielen Dank. - Gibt es sonstige Fragen zur Kabinettssitzung? - Frau Haßelmann von Bündnis 90/Die Grünen.
Bitte.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Frau Ministerin, mich
würde interessieren, ob heute die Tatsache, dass die Bundesregierung und mit ihr die Große Koalition plant,
einen Ermittlungsbeauftragten zur Sichtung der NSASelektorenliste einzusetzen, Gegenstand der Kabinettssitzung war. Es gibt entsprechende Agenturmeldungen,
dass Sie sich in der Großen Koalition darauf geeinigt haben, dem Untersuchungsausschuss die Listen nicht zur
Verfügung zu stellen, sondern nur einen Ermittlungsbeauftragten einzusetzen.
Das hat heute keine Rolle gespielt.
Die Kollegin Glöckner von der SPD-Fraktion hat sich
noch gemeldet. - Bitte.
Herzlichen Dank. - Frau Ministerin, meine Frage
geht in die folgende Richtung: Es hieß, die Bundesregierung sei bei ihrer Entscheidung von den Sozialpartnern
unterstützt worden. Mich würde in diesem Zusammenhang interessieren, wie der Gewerkschaftsbund und die
Arbeitgeberverbände die Entscheidung beurteilen. Danke.
Es ist wichtig, dass wir an dieser Stelle die Sozialpartner mit einbinden. Gerade bei der Arbeitnehmerfreizügigkeit - Frau Krellmann hat das eben schon erwähnt gab es eine ganz lange Debatte, ob wir sie mit dem deutschen Arbeitsmarkt auf eine gute Weise verbinden können. Es gab auch immer Angst hinsichtlich Lohndumpings. Deswegen haben wir uns auch mit den
Sozialpartnern, speziell mit dem DGB, im Vorhinein unterhalten. Sie haben keine Bedenken geäußert, diesen
Schritt heute hier zu gehen.
Danke schön. - Noch einmal Frau Haßelmann, Bündnis 90/Die Grünen. Bitte.
Danke, Herr Präsident. - Frau Ministerin, Sie haben
mir ja gerade sehr knapp geantwortet in Bezug auf meine
Frage, ob sich das Kabinett damit befasst hat und heute
entschieden hat, dass die NSA-Selektorenliste nicht an
den Untersuchungsausschuss geht, sondern dass ein Ermittlungsbeauftragter eingesetzt werden soll. Das Kabinett hat ja die Aufgabe, sich mit wichtigen außen- und
innenpolitischen Entscheidungen zu befassen. Das ist
Auftrag des Kabinetts. Das können Sie Ihrer Kabinettsgeschäftsordnung entnehmen. Ich wundere mich daher
sehr über Ihre Antwort. Das ist der erste Punkt.
Der zweite Punkt ist: Wo werden Entscheidungen dieser Art getroffen, und wo ist speziell diese getroffen
worden, wenn nicht im Kabinett?
Es ist vollkommen richtig, dass wir uns im Kabinett
mit wichtigen Fragen befassen, aber alles zu seiner Zeit.
Demzufolge kann ich Ihnen auch nicht bestätigen, dass
diese Entscheidung gefallen ist. Ich kann Ihnen nur sagen, dass sie heute nicht Gegenstand der Kabinettssitzung gewesen ist.
({0})
- Ja.
({1})
- Ich bin heute im Kabinett gewesen, ich saß dort und
habe zugehört. Ich kann Ihnen nur berichten, was ich gehört habe. Möglicherweise vermuten Sie da Sachen, die
es nicht gegeben hat. Ich kann Ihnen nur davon berichten, was wirklich stattgefunden hat.
Gibt es weitere Fragen zu anderen Themen? - Das ist
nicht der Fall. Dann schließe ich die Befragung.
Wir rufen den Tagesordnungspunkt 3 auf:
Fragestunde
Drucksache 18/5160
Eine ganze Flut von Fragen wird schriftlich beantwortet.
Geschäftsbereich des Bundesministeriums des Innern.
Die Frage 1 der Kollegin Katrin Kunert und die Frage 2
des Kollegen Andrej Hunko werden schriftlich beantwortet.
Vizepräsident Peter Hintze
Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Finanzen. Die Fragen 3 und 4 des Abgeordneten Dr. Axel
Troost werden schriftlich beantwortet.
Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Arbeit
und Soziales. Die Frage 5 der Kollegin Bärbel Höhn, die
Fragen 6 und 7 der Kollegin Sabine Zimmermann sowie
die Fragen 8 und 9 des Kollegen Harald Weinberg werden schriftlich beantwortet.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft. Zur Beantwortung steht bereit die Parlamentarische Staatssekretärin Dr. Maria Flachsbarth.
Ich rufe Frage 10 des Abgeordneten Friedrich
Ostendorff, Bündnis 90/Die Grünen, auf:
Zu welchen Ergebnissen bezüglich der Kleingruppenhaltung ist der Staatssekretärsausschuss Tierschutz in seiner letzten Sitzung am 11. Juni 2015 gekommen, und wann wird
diese Kleingruppenhaltung auslaufen?
Frau Staatssekretärin, bitte.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Herr Kollege Abgeordneter, der Staatssekretärsausschuss hat die Thematik
des Auslaufens von Kleingruppenhaltung in seiner Sitzung am 11. Juni erörtert. Die Erörterungen sind aber
noch nicht abgeschlossen und sollen fortgesetzt werden.
Haben Sie eine Nachfrage?
Ja, ich habe eine Nachfrage.
Bitte schön.
Diese Antwort war sehr knapp. Da sich ja die Bundesländer mit dem Ministerium verständigt haben, diese Arbeitsgruppe einzurichten, und nun alle davon ausgingen,
dass es hier zu messbaren Ergebnissen kommt, ist es
doch sehr verwunderlich, dass hier auf so schroffe Weise
kein Kompromiss gesucht worden ist. Deshalb: Was hat
Sie bewogen, überhaupt der Einsetzung dieser Arbeitsgruppe zuzustimmen? Es war doch klar, dass die Länder
ein anderes Ausstiegsdatum präferieren als das Ministerium. Jeder normal denkende Mensch erwartet, dass es
hier Richtung Kompromiss läuft. Was hat Sie bewogen,
dieser Arbeitsgruppe praktisch die kalte Schulter zu zeigen?
Herr Kollege Ostendorff, ich kann Ihnen nur wahrheitsgemäß über das Ergebnis des Gespräches berichten.
Es ist so, wie ich es Ihnen mitgeteilt habe. Die unterschiedlichen Positionen von Bundesregierung und Bundesländern sind seit Jahren bekannt. Es ist immer gut,
dass man, wenn es unterschiedliche Positionen gibt, sich
miteinander an einen Tisch setzt und versucht, Kompromisse zu finden.
Haben Sie noch eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter?
Ja, gerne.
Bitte.
Gestatten Sie, dass ich noch einmal insistiere. - Die
Situation ist seit Jahren so, wie Sie sie beschreiben: Auf
der einen Seite stehen die Bundesländer, die 2025 aus
der Käfighaltung und der Kleingruppenhaltung aussteigen wollen, also ein Ende fünf Jahre eher präferieren,
und auf der anderen Seite steht das Bundeslandwirtschaftsministerium, das sich für ein Ende im Jahre 2030
ausspricht. Die Arbeitsgruppe ist eingerichtet worden,
um hier einen Kompromissweg, eine gemeinsame Linie
zu finden. Ihre Antwort kann also nicht befriedigen. Das
ist eine Antwort, die Sie schon vor Jahren hätten geben
können, bevor die Arbeitsgruppe eingerichtet wurde. Ich
frage daher noch einmal: Ist es der Wille des Ministeriums, hier zu einer Vereinbarung, zu einem Kompromiss zu kommen?
Herr Kollege Ostendorff, auch Sie kennen vermutlich
die Stellungnahme der Bundesregierung vom 14. Juni
2012 zu dem Beschluss des Bundesrates auf Drucksache
95/12, in der verfassungsrechtliche Bedenken bezüglich
der Vorschläge der Bundesländer geltend gemacht worden sind. Diese verfassungsrechtlichen Bedenken sind
nach wie vor nicht ausgeräumt. Von daher muss man tatsächlich auf dieser Grundlage versuchen, eine gemeinsame Lösung zu finden. Eine solche Lösung ist noch
nicht gefunden worden.
Schönen Dank. - Weitere Fragen dazu gibt es nicht.
Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Verteidigung. Die Frage 11 der Abgeordneten Katrin Kunert
und die Frage 12 des Kollegen Hans-Christian Ströbele
werden schriftlich beantwortet.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend.
Ich rufe die Frage 13 der Kollegin Schauws auf:
Mit welchen Argumenten hält die Bundesregierung im
EPSCO-Rat, europäischer Rat für Beschäftigung, Sozialpolitik, Gesundheit und Verbraucherschutz, einen Prüfvorbehalt
für eine EU-Richtlinie für eine Frauenquote in Aufsichtsräten
börsennotierter Unternehmen aufrecht?
Vizepräsident Peter Hintze
Zur Beantwortung steht die Parlamentarische Staatssekretärin Elke Ferner bereit. - Frau Staatssekretärin,
bitte.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Liebe Kollegin
Schauws, Ihre Fragen 13 und 14 beantworte ich zusammen, wenn Sie das gestatten.
Ja.
Dann rufe ich auch die Frage 14 der Kollegin
Schauws auf:
Wie und wann wird sich die Bundesregierung konstruktiv
an der EU-Richtlinie für eine Frauenquote beteiligen?
Wie Sie wissen, ist vor kurzem das deutsche Gesetz
für die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen und
Männern an Führungspositionen in Kraft getreten. Die
Bundesregierung prüft den Richtlinienentwurf derzeit.
Diese Prüfung ist noch nicht abgeschlossen. Während
der Beratungen unter lettischer Präsidentschaft zeigte
sich ein nach wie vor heterogenes Meinungsbild: von
voller Unterstützung über grundlegend positiv mit Änderungswünschen bis hin zur Ablehnung der Richtlinie.
Alle Mitgliedstaaten halten derzeit einen allgemeinen
Prüfvorbehalt aufrecht, da noch nicht absehbar ist, wie
sich der Text entwickeln wird. Das ist bei Verhandlungen auf EU-Ebene ein übliches Verfahren.
Sie haben jetzt vier Zusatzfragen, die Sie aber nicht
stellen müssen;
({0})
das ist nur das geschäftsordnungsmäßige Angebot. Wenn
zwei Fragen zusammen beantwortet werden, hat man die
Möglichkeit zu jeweils zwei Nachfragen, insgesamt also
zu vier Nachfragen. Sie dürfen sie nach Lust und Laune
ausschöpfen. - Bitte, Frau Kollegin Schauws.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Ich habe zwei Nachfragen.
Die erste Frage. Sie haben gesagt, dass Sie das Prüfverfahren beantragt haben, weil wir das Gesetzgebungsverfahren zu diesem Zeitpunkt noch nicht abgeschlossen
hatten. Meine Frage ist: Was gedenken Sie nach dem
Prüfverfahren zu tun? In welcher Art und Weise wollen
Sie dieses Thema, nachdem wir ja nun ein nationales
Gesetz haben, auf EU-Ebene konstruktiv nach vorne
bringen?
Die zweite Frage. Nach dem Prüfverfahren besteht
die Möglichkeit, dass Mitgliedstaaten, die bereits effektive Regelungen im Hinblick auf eine ausbalancierte
Repräsentation von Männern und Frauen getroffen haben - wir in Deutschland haben das mit unserem Gesetz
getan, jedenfalls zu einem Teil -, keine Anpassungen
vornehmen müssen. Deswegen noch einmal die Frage:
Wie wollen Sie als Regierung der Bundesrepublik
Deutschland diese Richtlinie konstruktiv und effizient
befördern, um auch an dieser Stelle Vorbild für andere
EU-Mitgliedstaaten zu sein? Ich glaube nämlich, hier
richtet sich der Blick mit großen Erwartungen zu Recht
auf die Bundesregierung.
Frau Kollegin, der Punkt ist: Wir sind im Moment
dabei, die Position der Bundesregierung intern abzustimmen. Wenn es eine abgestimmte Position der Bundesregierung gibt, dann können wir uns auch konstruktiv in
den Prozess auf der EU-Ebene einklinken.
Es ist richtig, was Sie gesagt haben: dass der ursprüngliche Richtlinienentwurf insbesondere unter der
italienischen, aber auch unter der lettischen Ratspräsidentschaft so verändert worden ist, dass die Möglichkeit
von Ausnahmen für Mitgliedstaaten, die selber nationale
Regelungen getroffen haben, vorgesehen wurde. Das
wird sicherlich auch bei den Abstimmungen, die innerhalb der Bundesregierung erfolgen, noch eine Rolle
spielen.
Sind Sie zufrieden? - Das ist schon einmal etwas
wert.
Damit sind wir am Ende des Geschäftsbereichs des
Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und
Jugend. - Schönen Dank, Frau Staatssekretärin.
Wir kommen nun zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Verkehr und digitale Infrastruktur.
Zur Beantwortung steht der Parlamentarische Staatssekretär Enak Ferlemann bereit.
Ich rufe die Frage 15 des Abgeordneten Gastel, Bündnis 90/Die Grünen, auf:
Inwieweit trifft es nach Kenntnis der Bundesregierung zu,
dass der Grund für den Stopp der Bohrarbeiten für den Fildertunnel bei Stuttgart-Fasanenhof fehlende Unterfahrungsrechte
waren, und für wie viele von diesem Tunnel betroffene
Grundstücke fehlen derzeit nach Kenntnis der Bundesregierung noch die Unterfahrungsrechte ({0})?
Bitte schön, Herr Staatssekretär.
Sehr geschätzter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich beantworte die Frage des
Kollegen Gastel wie folgt: Bei Stuttgart 21 handelt es
sich nicht um ein Projekt des Bedarfsplans für die Schienenwege des Bundes, sondern um ein eigenwirtschaftliches Projekt der Deutschen Bahn AG. Nach Angaben der
Deutschen Bahn AG ist die in den Stuttgarter Nachrichten aufgestellte Behauptung, dass sich das Wiederanfahren der Tunnelbohrmaschine nach der Weihnachtspause
2014 wegen fehlender Unterfahrungsrechte verzögert
habe, unzutreffend. Alle erforderlichen Unterfahrungsrechte hätten im vollen Umfang vorgelegen.
Eine Nachfrage, Herr Kollege? - Bitte schön.
Vielen Dank. - Herr Ferlemann, für ein eigenwirtschaftliches Projekt steckt ganz schön viel öffentliches
Geld darin; das wollte ich schon noch erwidert haben.
Haben Sie hinsichtlich der Tunnelarbeiten in Stuttgart
denn Erkenntnisse über den Zeit- und Kostenplan? Liegen die im Plan, oder gibt es da Verzögerungen?
Das Projekt ist, wie gesagt, kein Projekt des Bedarfsplans. Deswegen erfolgt keine direkte Steuerung dieses
Projekts durch den Bund, sondern das macht die DB AG
alleine. Nach Auskunft der DB AG liegt das Projekt insgesamt im Zeit- und Kostenplan.
Gibt es zu dem Bereich noch eine Nachfrage, oder
sind Sie fertig? - Danke.
Ich rufe die Frage 16 des Kollegen Gastel auf:
Welche Konsequenzen zieht die Bundesregierung unter
Verweis auf die Verschiebung der geplanten Verlängerung der
Neckar-Schleusen vom Jahr 2025 auf das Jahr 2031 und auf
die Beschränkung der Ausbaupläne auf den Abschnitt von der
Mündung bis Heilbronn aus der Aussage im Staatsanzeiger
für Baden-Württemberg ({0}), wonach „der Bund, der für die großen Wasserstraßen zuständig
ist, den Neckarausbau scheibchenweise ad acta zu legen
scheint“, und welche Konsequenzen zieht die Bundesregierung aus der Tatsache, dass laut des genannten Artikels die
Bundesregierung „eine erhebliche Unterfinanzierung“ beim
Erhalt und zukunftsfähigen Ausbau der Wasserstraßen einräumt?
Ich gebe folgende Antwort: Das mit dem Ausbau des
Neckars betraute Amt für den Neckarausbau wird zur
Beschleunigung der Maßnahmen auch durch andere
Dienststellen der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung,
unter anderem durch das Neubauamt Hannover, unterstützt. Des Weiteren werden positive Effekte von der
künftig verstärkten Anwendung standardisierter Bauweisen erwartet.
Bei den Bundeswasserstraßen sind gegenwärtig für
laufende oder in Planung befindliche Projekte keine
Finanzierungsengpässe erkennbar. Als limitierender
Faktor wirkt hier gegenwärtig vielmehr die begrenzte
Planungsressource.
In dieser Situation ist eine strenge Priorisierung der
Infrastrukturmaßnahmen unausweichlich. Vor diesem
Hintergrund erfolgt auch die erneute Bewertung und
Priorisierung aller noch nicht begonnenen Aus- und
Neubauvorhaben im Rahmen der Aufstellung des Bundesverkehrswegeplanes.
Danke schön. - Haben Sie eine Zusatzfrage? - Bitte
schön, Herr Kollege Gastel.
Vermutlich habe ich nicht nur eine Zusatzfrage. - Zunächst war zu lesen, dass der bisherige Zeitplan das Jahr
2025 als Zieljahr für den Ausbau der Neckarschleusen
enthielt. Dann war vom Jahr 2031 zu lesen - ich glaube,
das war ein bestätigter Termin -, und in den letzten Tagen war in den Medien plötzlich vom Jahr 2044 und von
einem Ausbau nicht bis Plochingen - also kein Vollausbau -, sondern lediglich bis Heilbronn die Rede. Können
Sie diese Zahlen bestätigen? Welche Zahlen - einmal für
den Ausbau bis Heilbronn und einmal bis Plochingen stimmen aus heutiger Sicht?
Die Zahlen kann ich nicht bestätigen, Herr Kollege.
Sie wissen aus Ihrer Tätigkeit im Verkehrsausschuss des
Deutschen Bundestages, dass der Ausbau bis Heilbronn
Priorität hat, wobei die neuen Schleusenkammern eine
Länge von 135 Metern aufweisen sollen. Danach müssen wir die Schleusen bis Stuttgart bzw. bis Plochingen
erst einmal sanieren. Wir nutzen die Sanierung, um die
Schleusenkammern, wo es geht, auf eine Länge von
110 Metern zu vergrößern, um auch größere Schiffe
schleusen zu können.
Der Hintergrund ist, dass beim Neubau einer Schleusenkammer die jeweils bestehende Schleusenkammer
den Betrieb aufrechterhalten muss. Fällt sie aus, ist der
Neckar dicht. Das darf nicht passieren. Deswegen müssen erst alle bestehenden Schleusenkammern saniert
werden, bevor es an den Ausbau und die Errichtung zusätzlicher Schleusen geht. Das wird von Heidelberg aus
neckaraufwärts geschehen und dauert seine Zeit.
Wir brauchen in Teilen ein neues Planrecht. Der Baugrund hat sich als deutlich schlechter als ursprünglich
kalkuliert herausgestellt. Die Baumaßnahmen werden
einen größeren Zeitumfang in Anspruch nehmen. Von
daher ist der Zeitplan - das Jahr 2031 ist angegeben angespannt.
Schönen Dank. - Sie könnten noch eine Zusatzfrage
stellen, wenn Sie möchten. Sie müssen aber nicht.
Diese Möglichkeit werde ich auch gerne nutzen. Vielen Dank, Herr Präsident.
Das hatte ich vermutet. - Bitte schön.
Die Verkehrsminister der Länder Baden-Württemberg, Hessen, Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen
haben - ich glaube, in dieser oder in der letzten Woche moniert, dass sowohl für die Schleusen entlang des
Rheins als auch entlang des Neckars zu wenig Geld zur
Verfügung steht und dass es vor allem keine Planungssicherheit gibt. Das heißt, es werden keine Zahlen bzw.
Daten in Bezug darauf genannt, wann was konkret vorangeht. Das wird kritisiert. Die Bundesregierung wurde
aufgefordert, hier für Klarheit zu sorgen.
Sie sagten vorhin, es sei weniger ein finanzielles Problem als ein Planungsproblem. Was machen Sie jetzt
ganz konkret? Was sind die Konsequenzen, die die Bundesregierung aus der Kritik der genannten vier Bundesländer zieht?
Ich weise die Kritik der vier Bundesländer zurück. Es
ist nicht an dem. All diese Bundesländer sind über die
laufenden Vorhaben gut informiert und können die Zeiträume selber abschätzen. Über ein Planverfahren können
keine verlässlichen Aussagen getroffen werden, weil
man nie weiß, ob es Einsprüche, Einwendungen oder sogar Gerichtsverfahren gibt. Von daher gesehen können
nur grobe Abschätzungen vorgenommen werden.
Was die Frage der Kapazitätsausweitung bei den Planungen angeht, haben wir sowohl im Haushalt des Jahres 2014 als auch in dem des Jahres 2015 erstmalig seit
vielen Jahren wieder mehr Stellen für die Wasser- und
Schifffahrtsverwaltung bekommen. Dabei geht es insbesondere um Stellen im Planungsbereich. Wir sind derzeit
dabei, all diese Stellen komplett zu besetzen und den
Ämtern zuzuweisen, die besonders hohe Neubaukapazitäten benötigen.
Herzlichen Dank. - Die übrigen Fragen aus diesem
Geschäftsbereich und aus den weiteren Geschäftsbereichen werden schriftlich beantwortet.
Damit sind wir am Ende der Fragestunde.
Ich unterbreche die Sitzung des Deutschen Bundestages bis 16.40 Uhr. Dann wird der Tagesordnungspunkt 4 aufgerufen.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte Sie, Platz
zu nehmen. - Die unterbrochene Sitzung ist wieder eröffnet.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 auf:
Vereinbarte Debatte
17. Juni 1953 - Für Freiheit, Recht und Einheit
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 60 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Kai Wegner für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Wir wollen
freie Menschen sein!“ Dieser bewegende Appell der
Demonstranten des 17. Juni steht in verdichteter Form
für all das, wofür sich vor 62 Jahren Hunderttausende erhoben haben: für ein Leben in Würde, für Demokratie,
für Menschenrechte, für Selbstbestimmung, für das Streben nach Glück, für die Freiheit. „Wir wollen freie Menschen sein!“ Es gibt wohl keinen besseren Satz, um die
heutige Debatte hier im Deutschen Bundestag über den
Volksaufstand von 1953 zu eröffnen.
Wir erinnern heute an ein einschneidendes und folgenreiches Ereignis deutscher Geschichte, an ein Ereignis, das die Schicksale vieler Menschen prägte. Wir erinnern an Frauen und Männer, die vor 62 Jahren viel Mut
bewiesen, weil sie der Entwicklung ihres Landes und ihrem eigenen Leben eine andere Richtung geben wollten,
weil sie freie Menschen sein wollten.
Alles begann mit einer Auseinandersetzung um Arbeitsbedingungen und Löhne. Doch schnell weitete sich
die Ablehnung neuer Arbeitsnormen zu einem Protest
gegen das Zwangsregime der SED und ihr Unterdrückungssystem aus. Neben den ursprünglichen Forderungen nach einer Verbesserung der Arbeitsbedingungen
traten dezidiert politische Forderungen. Die Demonstranten verlangten freie Wahlen. Sie forderten den
Rücktritt der Regierung, und schließlich forderten sie die
Wiedervereinigung unseres Landes.
Schnell griffen die Proteste um sich. In der gesamten
DDR beteiligten sich rund 1 Million Bürger in mehr als
560 Städten und Gemeinden. Der breite Protest erschütterte die DDR in ihren Grundfesten. Letztlich wurde der
Versuch, die Ketten fremder Gewaltherrschaft abzuschütteln, vom Panzerring der Sowjetarmee und dem
SED-Regime blutig niedergedrückt. Mehr als 50 Todesopfer waren zu beklagen. Rund 1 600 Demonstranten
bezahlten ihre Teilnahme mit zum Teil langjährigen
Haftstrafen in Gefängnissen und Arbeitslagern.
Meine Damen und Herren, das Regime konnte zwar
die Menschen im Juni 1953 unterdrücken, aber niemals
deren Freiheitsliebe besiegen.
({0})
Die Ideen und Ideale der Demonstranten lebten fort. Und
in den Funktionärsvillen von Pankow und Wandlitz ging
seither die Angst um, die Angst vor dem eigenen Volk.
Der 17. Juni 1953 war die erste Massenerhebung im
Machtbereich des Kommunismus. Damit hat er eine
grundlegende weltpolitische Bedeutung. Ihm folgten der
Aufstand in Ungarn, der Prager Frühling, die Gründung
der Solidarnosc und schließlich - ja - der Fall der Berliner Mauer im November 1989.
Der Sieg der Freiheit über die Unterdrückung, der
Sieg der Demokratie über die Diktatur, der Sieg des
Rechts über die Willkür, die Wiedervereinigung unseres
Landes: all das ist auch das Verdienst der mutigen Männer und Frauen des 17. Juni 1953.
({1})
Meine Damen und Herren, der Volksaufstand jährt
sich in diesem Jahr zum 62. Male. 62 Jahre sind für die
Erinnerung eine lange Zeit. Die Männer und Frauen, die
sich damals gegen die SED-Diktatur erhoben, werden älter. Viele sind schon gestorben. Es gibt immer weniger
Zeitzeugen, die ihr Wissen an die nachfolgenden Generationen weitergeben können. Umso wichtiger ist eine
lebendige und authentische Gedenk- und Erinnerungskultur. Lassen Sie uns deshalb den 17. Juni als ein zentrales Symbol der Freiheitsgeschichte unseres Landes
weiter stärken.
({2})
Denn sich vor Augen zu führen, was einst geschah,
schützt davor, vergangenes Unrecht zu relativieren oder
zu beschönigen, wie es mittlerweile leider viel zu oft geschieht.
Ich bin dem Bundesminister Wolfgang Schäuble sehr
dankbar, dass es vor zwei Jahren gelungen ist, den Platz
vor dem Bundesministerium der Finanzen, wo der Aufstand begann, offiziell als „Platz des Volksaufstandes
von 1953“ zu benennen. Endlich hat dieser Platz einen
Namen.
({3})
Ich möchte in diesem Zusammenhang ganz besonders
den Opferverbänden danken. Die Opferverbände haben
sich über Jahre für die Benennung dieses Platzes starkgemacht, und hier haben sich Geduld und Beharrlichkeit
ausgezahlt. Denn dieser Platz hat jetzt seinen Namen.
Wir brauchen solche authentischen Erinnerungsorte,
um die Geschichte für die nachfolgenden Generationen
erfahrbar und erlebbar zu machen. Aber, meine Damen
und Herren, wir können, nein, wir müssen noch mehr
tun. Das ist ein Buch der Stiftung zur Aufarbeitung der
SED-Diktatur.
({4})
Hierin finden sich die Biografien der Toten des Volksaufstandes.
Ich würde es sehr begrüßen, wenn am Platz des
Volksaufstandes vor dem Finanzministerium eine Stele
zu Ehren der Todesopfer aufgestellt werden könnte. Ich
denke, es ist höchste Zeit, dass wir den mutigen Freiheitskämpfern nicht nur zwischen Buchdeckeln, sondern
auch und ganz konkret im Straßenbild ein Gesicht geben.
({5})
Ich rufe weiterhin alle öffentlichen Behörden dazu
auf, in den von ihnen herausgegebenen Kalendern den
17. Juni als einen Gedenktag auszuweisen. Der 17. Juni
hat einen Platz in unserer Geschichte, und deshalb verdient er auch einen Platz in sämtlichen Kalendern unseres Landes.
Auch die Länder können noch viel mehr tun, zum
Beispiel den 17. Juni in den Rahmenlehrplänen der
Schulen stärken oder Schülerwettbewerbe ausloben. Ich
möchte die Geschichtslehrer an unseren Schulen ausdrücklich ermutigen, mit ihren Klassen Erinnerungsund Gedenkorte aufzusuchen.
Meine Damen und Herren, auch und gerade in den
neuen Ländern könnten Plätze und Orte nach dem Volksaufstand benannt werden. Ich bin wahrlich kein Bilderstürmer. Aber ich glaube, unser Land würde sich nicht
zum Schlechteren verändern, wenn wir weniger ErnstThälmann- und Rosa-Luxemburg-Straßen hätten, dafür
aber mehr Straßen, die mit ihrem Namen die Toten des
17. Juni ehren würden.
({6})
Der 17. Juni ist nicht irgendein Tag im Jahreskalender, sondern ein herausragendes Datum der deutschen
Freiheits- und Einheitsgeschichte. Wir gedenken mit
Respekt und Dankbarkeit der Männer und Frauen des
17. Juni. Wir verneigen uns vor den Opfern. Eine Lehre
aus dem Volksaufstand ist, dass Freiheit und Demokratie
alles andere als selbstverständlich sind. Das sehen wir
derzeit in der Welt. In viel zu vielen Ländern müssen die
Menschen für Freiheit und Demokratie auf die Straße
gehen. Ich nenne zum Beispiel die Ukraine. Freiheit und
Demokratie müssen immer erst errungen und dann bewahrt werden.
Meine Damen und Herren, sollte unsere Demokratie
in Deutschland jemals in Gefahr geraten, wünsche ich
mir, dass die Menschen in unserem Land genauso mutig
für ihre Freiheit einstehen, wie das einst die Männer und
Frauen des 17. Juni getan haben. Sie sollten nicht nur
dann, sondern immer Vorbild für uns sein; denn sie sind
für Freiheit und Demokratie auf die Straßen gegangen.
Ich finde, wir können stolz auf den 17. Juni 1953 sein.
Herzlichen Dank.
({7})
Das Wort hat der Kollege Thomas Lutze für die Fraktion Die Linke.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Liebe Gäste! Sehr geehrter Herr Wegner, ich könnte sehr
gerne auf Hindenburg als Straßennamen verzichten. Bei
Rosa Luxemburg fällt mir das ein bisschen schwerer.
Nun zum eigentlichen Anlass. Gewalt gegen die Bevölkerung ist durch nichts und niemanden zu rechtfertigen. Das gilt für die gewaltsame Niederschlagung der
Proteste in der DDR im Jahr 1953 ebenso wie für den
Bau der Mauer in Berlin und die Schließung der Grenze
zur Bundesrepublik im Jahr 1961. Heute gedenken wir
vor allem der Opfer, und niemand wird vergessen.
Im Jahr 1953 war Deutschland gespalten. Diese Spaltung war ein Ergebnis des von Nazideutschland verschuldeten Zweiten Weltkrieges. Während sich 1953 in
der Bundesrepublik wirtschaftliche Aufbruchstimmung
verbreitete, waren die Voraussetzungen in der damaligen
DDR grundlegend anders. Im Osten gab es keinen
Marshallplan - zumindest hat man es nicht angenommen -,
mit dem man die zerstörte und daniederliegende Wirtschaft hätte aufbauen können. Ganz im Gegenteil: Die
DDR musste immense Reparationen an die Sowjetunion
zahlen. Dies und die politische Fehleinschätzung der regierenden SED führten dazu, dass sich die Arbeiter auflehnten, protestierten und letztendlich streikten. Den
Herrschenden in der DDR fiel - auch unter dem direkten
Einfluss Moskaus - nichts Besseres ein, als die eigenen
Leute zusammenschießen zu lassen. Auch wenn die militärische Gewalt maßgeblich durch die in der DDR stationierte Rote Armee ausgeführt wurde - die wesentliche
Verantwortung lag bei der damaligen DDR-Regierung.
({0})
Noch einmal: Gewalt ist, wenn man die historischen
Rahmenbedingungen einordnet, durch nichts zu rechtfertigen.
Fakt ist auch, dass sich die damalige DDR nicht im
luftleeren Raum entwickeln konnte. Deutschland, Europa und große Teile der Welt waren mitten im Kalten
Krieg. Das atomare Wettrüsten war auf beiden Seiten in
vollem Gange. In Korea zum Beispiel tobte ein Stellvertreterkrieg, der in seiner Brutalität dem Zweiten Weltkrieg in nichts nachstand. Beide Seiten der geteilten Welt
stritten um ihren Einflussbereich, und dies mit fast allen
Mitteln. Lediglich auf den Einsatz von Atomwaffen hat
man verzichtet, weil man wusste, dass dann die Menschheit vernichtet worden wäre.
Und auch innerhalb Deutschlands war das nicht anders. Provokationen, Manipulationen und gegenseitige
Einflussnahme zulasten des jeweils anderen bestimmten
den innerdeutschen Alltag. Auch hier trägt der Westen
eine gewisse Mitverantwortung dafür, dass die innenpolitische Situation in der DDR im Jahr 1953 eskalierte.
({1})
Erst die Entspannungspolitik Willy Brandts führte dazu,
dass sich die beiden deutschen Staaten gegenseitig nicht
wie kleine Kinder, sondern wie Erwachsene behandelten.
({2})
Ein zweiter Aspekt. Es war auch ein gravierender
Fehler in 40 Jahren DDR, dass es kein Streikrecht und
keine freien Gewerkschaften gab.
({3})
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer haben ein
Recht darauf, ihre Interessen über Gewerkschaften und
auch über Streiks zum Ausdruck zu bringen und durchsetzen zu können. Die Worte „Selbstbestimmung“ und
„Mündigkeit“ klingen so einfach, passen aber nicht in
gewisse Machtstrukturen, erst recht nicht in die der damaligen DDR. Gestatten Sie mir deshalb einen vorsichtigen Hinweis auch auf aktuelle Diskussionen. Wenn auch
die Rahmenbedingungen heute vollkommen anders sind:
Wenn heutzutage Arbeitgeber und Wirtschaftsverbände
davor warnen und sich darüber beschweren, dass zu viel
gestreikt wird, dann ist das historisch gesehen ein gewisser Widerspruch und eine fatale Fehleinschätzung.
({4})
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, ich bin Jahrgang 1969 und in Leipzig aufgewachsen. Ich habe als
Zwanzigjähriger die politische Wende in meiner damaligen Heimatstadt miterlebt und vielleicht ein ganz klein
wenig auch mitgestaltet. Es war für mich eine sehr spannende Zeit. Ich erinnere mich sehr gerne daran, manchmal auch etwas wehmütig. Auf den Montagsdemos im
Sommer und im Herbst 1989 sah ich Hunderte sogenannte Angehörige der bewaffneten Organe - so nannte
man damals Polizei, Armee und Staatssicherheit - in der
Leipziger Innenstadt. Viele von denen, die bewaffnet auf
Lkws saßen, waren im gleichen Alter wie ich. Ich ging
wenige Jahre zuvor mit ihnen zusammen zur Schule. Sie
hatten das Pech, gerade jetzt ihren meist unfreiwilligen
Wehrdienst ableisten zu müssen. Diesen Wehrdienst
konnte man in der DDR nicht verweigern,
({5})
vor allem dann nicht, wenn man studieren wollte. Erst
Jahre später habe ich für mich realisiert, wie gefährlich
die Situation damals war. Freunde berichteten, dass sie
wochenlang in ihren Kasernen saßen und diese Kasernen
nicht verlassen konnten. Sie hockten nun mit Waffen und
scharfer Munition auf den Lkws.
Im Gegensatz zu 1953 bekamen sie nicht den Befehl,
auf die eigenen Leute zu schießen. Der Ruf „Keine Gewalt!“ siegte. Er siegte, weil die, die demonstrierten, besonnen blieben. Er siegte auch, weil die, die die Möglichkeit hatten, einen Schießbefehl zu geben, diesen
Befehl nicht gaben. Trotz aller Vorbehalte muss man den
Verantwortlichen der damaligen DDR-Regierung des
Jahres 1989 dafür auch danken. Sie hätten die Macht
dazu gehabt. Sie hatten es sich mit Sicherheit moralisch
auch schon so zurechtgelegt, dass es passt. Trotzdem gab
es in Leipzig, in Dresden und in Plauen kein zweites Peking.
Ich bin dankbar dafür, dass ich die Möglichkeit hatte,
nach 1990 in einem geeinten Deutschland und in einem
zusammenwachsenden Europa leben zu können. Damit
hatte ich als Jugendlicher 1987 und 1988 im Leben nicht
gerechnet. Ich konnte in Saarbrücken studieren, später
dort arbeiten, und ich vertrete seit 2009 Wählerinnen
und Wähler aus dem Saarland im Deutschen Bundestag.
({6})
Gewalt - das sagte ich schon zweimal - ist durch
nichts zu rechtfertigen. Dieser Grundsatz ist für mich allgemeingültig. Das gilt gleichermaßen für die Opfer des
17. Juni wie auch für die Opfer an der innerdeutschen
Grenze. Es gilt für die zusammengeschossenen Menschen auf dem Pekinger Tiananmen-Platz. Es gilt für die
Kinder Vietnams, die von Napalmbomben verstümmelt
wurden, und es gilt auch für die Zivilisten in Afghanistan, die heute von US-Drohnen getötet werden, Drohnen, die man von Deutschland aus steuert. Diese Gewalt
ist zu verurteilen, ganz gleich, was vorgegeben wird, um
sie zu rechtfertigen.
({7})
Wenn wir uns heute, vollkommen zu Recht und dringend notwendig, an das erinnern, was in der früheren
DDR am 17. Juni 1953 geschah, so muss man auch daran erinnern - das tun wir von der Linksfraktion immer
wieder -, dass Menschen, die in der DDR aufgewachsen
sind, noch heute Nachteile im vereinten Deutschland haben, nur weil sie in der DDR aufgewachsen sind. Auch
da müssten wir konsequent handeln und dieses Unrecht
endlich beseitigen.
Vielen Dank.
({8})
Das Wort hat die Kollegin Iris Gleicke für die SPDFraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der
17. Juni 1953 steht in der demokratischen Tradition
Deutschlands auf gleicher Höhe mit der gescheiterten
Revolution von 1848 und der erfolgreichen Revolution
von 1989.
({0})
Die Bürgerinnen und Bürger der DDR haben zudem in
jenen Junitagen des Jahres 1953 als Erste im kommunistischen Machtbereich ein weithin sichtbares Signal für
den Beginn einer großen Freiheitsbewegung in Ost- und
Mitteleuropa gesetzt. Dieser Volksaufstand wurde durch
die sowjetische Armee brutal niedergeschlagen. Es gab
Tote und Verletzte. Ob später beim Ungarn-Aufstand
1956 oder beim Prager Frühling 1968: Es rollten die russischen Panzer. Die in Mittel- und Osteuropa herrschenden kommunistischen Regimes konnten ihre Macht nur
dank massiver sowjetischer Rückendeckung aufrechterhalten. Immer wieder zeigte sich, dass niemand den Aufständischen zu Hilfe kam, weil niemand bereit war
- weil Gott sei Dank niemand bereit war -, einen dritten
Weltkrieg zu riskieren. Es konnte niemand kommen, es
konnte niemand helfen, und deshalb endeten all diese
Aufstände fast zwangsläufig in einer Tragödie. Wenn
man sich das vor Augen führt, wird einem klar, was für
ein unglaubliches Glück wir 1989 hatten.
({1})
In Westdeutschland wurde der 17. Juni zum Tag der
Deutschen Einheit, mit dem der Gedanke an die Einheit
wachgehalten werden sollte. Aber je länger die Teilung
dauerte, desto ferner rückte die Hoffnung auf ihre Überwindung. In letzter Konsequenz war es der Mut der
Menschen in der DDR, die es trotz der traumatischen Erfahrungen des 17. Juni 1953 und trotz ihrer Angst vor einer „chinesischen Lösung“ wagten, die Diktatur herauszufordern und mit dem Ruf „Keine Gewalt!“ zu
entwaffnen. Die Diktatur wurde nicht mit Schwertern,
sondern mit Pflugscharen besiegt und hinweggefegt. Es
war eine sanfte Gewalt, mit der die Mauer niedergerissen wurde.
1989 fügte sich so vieles glücklich zusammen. In
ganz Osteuropa wurde der Ruf nach Freiheit immer lauter. Wir schauten nach Ungarn und nach Polen. Wir sahen, wie Michail Gorbatschow Glasnost und Perestroika
propagierte. Vor diesem Hintergrund wurde die Unfähigkeit der greisen Staats- und Parteiführung in der DDR
immer offensichtlicher. Es waren glückliche Umstände.
Es war der richtige Zeitpunkt. Es waren die richtigen
Menschen, die zum richtigen Zeitpunkt das Heft des
Handelns an sich rissen. Nur so konnte das Wunder der
friedlichen Revolution gelingen.
So viel Glück war den Aufständischen vom 17. Juni
1953 nicht beschieden. Die politischen Rahmenbedingungen jener Tage waren andere. Nur acht Jahre nach
dem gemeinsamen Sieg der Alliierten über HitlerDeutschland standen sich die einstigen Verbündeten in
Ost- und Westdeutschland unversöhnlich gegenüber. Ein
Eiserner Vorhang trennte Europa in seiner Mitte, zwischen dem kommunistischen Ostblock und dem Einflussbereich der Westmächte. Es herrschte ein Kalter
Krieg.
Die Staaten der sozialistischen Gemeinschaft wurden
unter der absolut beherrschenden Führung der Sowjetunion rigide zusammengehalten. Der innere Aufbau
dieser Staaten folgte durchgängig dem Typus einer totalitären Einparteiendiktatur. Sogenannte verbündete
Blockparteien änderten daran gar nichts. Um jegliche
Opposition entschlossen zu unterdrücken und ihre eigene Macht sowie die Geschlossenheit des Ostblocks zu
festigen und zu sichern, stützten sich diese Regimes auf
einen umfangreichen Sicherheits- und Unterdrückungsapparat.
Eine weitere Gemeinsamkeit dieser Staaten bestand
darin, dass die unter Führung der kommunistischen Parteien propagierten Ziele zum Aufbau des Sozialismus
sowjetischer Prägung bei breiten Teilen der Bevölkerung
auf klare Ablehnung stießen. Elementare demokratische
Rechte wie Pressefreiheit, Meinungsfreiheit oder Reisefreiheit waren nicht einmal im Ansatz zugelassen. Aber
für lange Zeit blieben die Sowjetunion, der Ostblock, der
Warschauer Pakt stabil. Der Eiserne Vorhang trug seinen
Namen zu Recht und fand an der innerdeutschen Grenze
mit Stacheldraht und Minenfeld, mit Selbstschussanlagen und Schießbefehl seine traurigste und irrsinnigste
Gestalt.
Nur langsam, mit einer Politik der kleinen Schritte,
mit der von Willy Brandt begonnenen Entspannungs10668
politik gelang es, diese schier unüberwindliche Grenze
ein wenig durchlässiger zu machen. „Wandel durch Annäherung“, so lautete damals ein später übel geschmähtes Wort. Und auch Brandts Nachfolger Helmut Schmidt
und Helmut Kohl suchten und fanden trotz aller Schmähungen das Gespräch mit der Staats- und Parteiführung
der DDR. Viele erinnern sich noch an die Bilder: Willy
Brandt 1970 in Erfurt, Helmut Schmidt 1981 auf dem
Weihnachtsmarkt in Güstrow, Helmut Kohl, der Erich
Honecker 1987 mit militärischen Ehren in Bonn empfing.
Diese Entspannungspolitik war richtig. Sie war schon
allein deshalb richtig, weil sie den Menschen in der
DDR Erleichterungen brachte.
({2})
Denken Sie an die Häftlingsfreikäufe, an die Familienzusammenführungen, an die Verwandtenbesuche! An
dieser Entspannungspolitik hielt man fest - trotz aller
Widrigkeiten und Widersprüche, trotz Afghanistan-Einmarsch und Olympiaboykott, trotz der Ausrufung des
Kriegsrechts in Polen, trotz der SS-20-Stationierung und
des NATO-Doppelbeschlusses. Es gab keine Alternative
zu dieser Entspannungspolitik; denn das war ja die Lehre
aus dem 17. Juni 1953, aus dem Ungarn-Aufstand, aus
dem Prager Frühling: Es würde niemand zu Hilfe kommen. Die Zeit musste reifen, auch wenn das für nicht wenige eine sehr bittere Erkenntnis gewesen sein muss und
sicherlich gewesen ist.
Meine Damen und Herren, die große Mehrheit unseres Volkes und auch die große Mehrheit der Mitglieder
dieses Hohen Hauses haben die Realität der DDR-Diktatur nie aus eigenem Erleben kennengelernt. Ich gönne es
ihnen allen, dass sie ihr ganzes Leben in Freiheit verbracht haben, und ich bin froh darüber, dass in Ost und
West unterdessen eine neue Generation herangewachsen
ist, die nie etwas anderes als die gesamtdeutsche Demokratie kennengelernt hat. Ich wünsche mir nur von allen
etwas mehr aufrichtiges Gedenken an diejenigen, die damals, 1953, mutig und tapfer waren und die trotzdem
scheitern mussten.
({3})
Ihr Mut, ihre Träume, ihre Ideale, all das dürfen wir niemals vergessen. Mir geht es nicht um ein pathetisches
und innerlich gelangweiltes Heldengedenken, das zur
Pose erstarrt und von dem aus man ganz schnell wieder
zur Tagesordnung übergeht. Mir geht es mehr um ein
stilles Gedenken, und sei es auch noch so kurz und nicht
nur am 17. Juni, ein stilles Nachdenken darüber, dass der
17. Juni 1953 zur Tragödie wurde, weil damals noch
nicht gelingen konnte, was 36 Jahre später gelungen ist. Ich danke Ihnen.
({4})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat die Kollegin Steffi Lemke das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Liebe Besucherinnen und Besucher auf den
Tribünen! Wir würdigen am 17. Juni die Menschen, die
sich 1953 in der DDR für Freiheit und für ein besseres
Leben einsetzten und dabei ihr Leben riskierten, und wir
gedenken derjenigen, die an diesem Tag und infolge dieses Tages ermordet wurden. Wir wissen nicht genau, wie
viele es waren.
Der 17. Juni war die Reaktion der Menschen in der
ehemaligen DDR auf die wirtschaftliche Notlage, die
sich dort wöchentlich verschärfte, auf staatliche Bevormundung, auf Repression, auf Verfolgung und auf das
Einsperren von Menschen anderen Glaubens und anderer politischer Überzeugung. Vor allem setzten sich die
Menschen in der DDR an diesem Tag auf den Straßen
- nicht nur in Berlin - gegen den Einfluss der Sowjetunion auf den Staatsapparat der DDR und letztendlich
auf die Lebensverhältnisse aller Bürgerinnen und Bürger
in der DDR zur Wehr. Der Aufstand wurde blutig niedergeschlagen und unterlag jahrzehntelang danach den
ideologischen Interpretationsschlachten des Kalten Krieges.
Ich glaube, dass der 17. Juni 1953 nicht verstanden
werden kann und von uns nicht diskutiert werden darf
ohne die historische und politische Einbettung in die
Vorgänge der Blockkonfrontation, der Vorgänge des Kalten Krieges. Ich erinnere nur an die Ausführungen von
Egon Bahr um die Rolle des Radiosenders Freies Berlin
an diesem Tag und die Diskussion darüber, wie RIAS an
diesem Tag über diesen Aufstand berichtete, was in der
Redaktion dieses Radiosenders nicht unumstritten gewesen ist.
Ich selber bin 1968 geboren, in dem Jahr, in dem sich
das Gedenken an den 17. Juni in der alten BRD gewandelt hatte. Zum ersten Mal fand keine herausgehobene
Gedenkveranstaltung statt, und es wurden Überlegungen
angestellt, den 17. Juni als Feiertag abzuschaffen. Ich
bin aufgewachsen in einem politischen und medialen
Diskurs, der den 17. Juni nicht reflektiert hat - nicht in
der verhassten Pflichtlektüre Neues Deutschland, aber
auch nicht in der zur Gewohnheit gewordenen abendlichen ARD-Sendung, der Tagesschau.
Als ich 1989 vor der Frage stand, ob ich auf die
Straße gehe und mich den friedlichen Revolutionären
des Herbstes 1989 anschließe, hat der 17. Juni für mich
keine Rolle gespielt, weil er in meinem Gedächtnis nicht
verankert gewesen ist. Wir sind vielmehr in der Furcht
vor dem Massaker an den friedlichen Demonstranten auf
dem Platz des Himmlischen Friedens am 3. und 4. Juni
1989 in Peking auf die Straße gegangen. Uns hat die
Angst im Nacken gesessen, ob das Regime in der DDR
zu diesem Zeitpunkt zu ähnlichem Handeln fähig sein
konnte. Ich wusste nicht, in welchem Ausmaß das 1953
der Fall gewesen ist - irgendeine dunkle Ahnung durch
viele Gespräche, aber keine Fakten. Da hatte die DDR
gründliche Arbeit geleistet. Wenn wir in diesem Haus
gemeinsam ein Vermächtnis aus 1953 und 1989 ziehen
können, dann ist das meines Erachtens - da stimme ich
den Ausführungen meiner Vorredner zu -, das Gedenken
an diesen Tag wachzuhalten und die Erinnerungskultur
zu pflegen, und zwar nicht nur in Berlin und nicht nur
vor dem Bundesfinanzministerium.
({0})
Dieser Aufstand war dezentral. Er fand in vielen Orten
und Dörfern in der DDR statt. Es war kein Berliner Aufstand. Auch das gehört zu den Mythen, die wir, wie ich
glaube, entzaubern müssen.
({1})
Wir können im Zusammenhang mit dem 17. Juni über
alle möglichen Dinge, auch über Stelen, diskutieren. Ich
glaube aber, dass dieses Haus in diesen Tagen eine andere Aufgabe hat, wenn wir das Vermächtnis der Demonstranten, vor allem derjenigen, die ihr Leben unter
dem Regime der DDR verloren haben, und wenn wir das
Vermächtnis von 1989 ernst nehmen wollen. Wenn wir
am Wochenende lesen, dass die USA erwägen, schweres
Militärgerät in Osteuropa zu stationieren, und der russische Präsident Putin verkündet, dass mehr als 40 neue
Interkontinentalraketen stationiert werden sollen, dann
ist es meines Erachtens Aufgabe dieses Hauses, als Vermächtnis von 1953 und 1989 einer drohenden neuen Eskalationsspirale in Form eines drohenden neuen Wettrüstens entgegenzutreten. Das ist mein Hauptanliegen. In
diesem Sinne habe ich auch nichts gegen Stelen.
Danke.
({2})
Der Kollege Max Straubinger hat für die CDU/CSUFraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Heute vor 62 Jahren haben Hunderttausende Frauen und
Männer den ersten Sargnagel tief in das Unrechtsregime
der DDR geschlagen.
({0})
Deshalb ist der 17. Juni 1953 ein ausgesprochen wichtiger Tag in der Geschichte unseres Landes.
In Westdeutschland war er lange unser Tag der Einheit. Heute ist das in Vergessenheit geraten. Das müssen
wir uns selbstkritisch vor Augen führen. Ich habe heute
viele Tageszeitungen durchgeblättert, um festzustellen,
ob es in irgendeiner Zeitung einen Beitrag zum 17. Juni
1953 gibt. Ich habe keinen gefunden. Daher ist es umso
wichtiger, dass wir heute diese Debatte in diesem Hohen
Haus führen, um der zu Tode Gekommenen, der Verletzten und derer, die eingesperrt worden sind, zu gedenken.
({1})
Der 17. Juni ist ein großer Tag. Es ist ein Tag der Zivilcourage, des Willens zur Einheit und des Willens zur
Freiheit. Deshalb ist der 17. Juni kein ost- und auch kein
westdeutscher Tag; es ist ein gesamtdeutscher Gedenktag.
({2})
Wir im Westen hatten nach der beispiellosen moralischen und zivilisatorischen Niederlage der Nazidiktatur
die einmalige Chance, unser Leben in Frieden und Freiheit selbst zu bestimmen; Kollegin Iris Gleicke hat darauf bereits hingewiesen. Auf unsere Landsleute im Osten dagegen wartete eine neue Diktatur. Herr Lutze, Sie
haben gesagt, dass der Marshallplan dem Westen geholfen hat. Das ist richtig. Richtig ist aber auch, dass die
DDR weder demokratisch noch republikanisch war und
zudem den Menschen keine Freiheiten ließ. Auch insofern ging es den Menschen im Westen besser.
Eine demokratische Republik fälscht nicht die Wahlen. Ein demokratischer Staat beugt nicht die Rechte der
Menschen. Ein demokratischer Staat bespitzelt nicht
massenhaft und systematisch seine Bürger.
({3})
Er fertigt keine Protokolle über das Leben der Menschen
an. Er sperrt auch keine Jugendlichen in Umerziehungsheime, wie es in der DDR der Fall war. Er inhaftiert
keine Andersdenkenden. Demokratische Staaten gehen
nicht mit Panzern gegen Demonstranten vor, und sie
bauen auch keine Mauern um die eigene Bevölkerung
herum auf, wie es in der DDR war, und sie erschießen
niemanden, der nur das Land verlassen will. - Ein Staat,
der all das tut, ist ein Unrechtsstaat,
({4})
nicht nur in der Konsequenz, sondern von Grund auf.
Die vielen Tausend Flüchtlinge und Ausreisewilligen,
die Unzähligen, die in die innere Emigration gingen, die
Gefangenen in Hohenschönhausen, in Bautzen, in
Schwedt und anderswo, die vielen Mauertoten und die
Toten des 17. Juni 1953 bezeugen das mit ihrem Schicksal. Auch ihrer gedenken wir heute.
({5})
Dass wir heute zu unserem Glück vereint sind, verdanken wir dem langen Atem und dem unbedingten
Freiheitswillen der Menschen in der DDR. Den mutigen
Volksaufstand hat das Stasiregime noch feige mit sowjetischen Panzern niederschlagen lassen; die Toten und
Verletzten wurden bereits erwähnt. Den Freiheitswillen
der Menschen freilich haben Ulbricht und seine Erben
nicht erdrücken können - nicht durch Panzer, nicht
durch die Mauer, nicht durch den Schießbefehl und auch
nicht durch die 600 000 Spitzel während der Zeit des Bestehens der DDR, die ihren Beitrag geleistet haben. Der
Wille nach Freiheit blieb wach in den Herzen der Menschen. Sie haben dann mit ihrem Mut die Mauer eingerissen, eine Diktatur friedlich niedergerungen und freie
Wahlen erzwungen.
Frau Kollegin Gleicke hat die Entspannungspolitik
angesprochen. Wir möchten ausdrücklich die Leistungen
von Brandt und Genscher anerkennen. Aber es lag auch
an Menschen wie Helmut Kohl, Theo Waigel, Wolfgang
Schäuble, Sabine Bergmann-Pohl und Lothar de
Maizière, dass es gelungen ist, die Einheit in Freiheit zu
vollenden und letztendlich dem Auftrag der Menschen
des 17. Juni gerecht zu werden.
({6})
Aber dass diese Stunde überhaupt kommen konnte,
verdanken wir nicht zuletzt unserem unvergessenen
bayerischen Ministerpräsidenten Dr. Franz Josef Strauß.
({7})
Strauß ist nie müde geworden, darauf zu drängen, den
Grundlagenvertrag auf seine Verfassungskonformität zu
überprüfen. Bayerns Klage in Karlsruhe erwies sich als
ein Glücksfall für die deutsch-deutsche Geschichte.
({8})
Es war nicht nur für mich - als Junge im Westen aufgewachsen, der sich in keiner Weise so intensiv mit der
Geschichte befasste - bedeutsam, dass Franz Josef
Strauß bei den vielen Reden, die er hielt, immer auf die
deutsche Einheit hinwies. Als Junge hat man daran gar
nicht mehr geglaubt; das sage ich ganz offen. Es war
aber richtig, dass klargestellt wurde, dass das Wiedervereinigungsgebot für alle Verfassungsorgane bindend ist.
Damit ist es auch gelungen, auf der Grundlage des
Grundgesetzes die Wiedervereinigung zu erreichen.
Die Verweigerung der völkerrechtlichen Anerkennung war Bayerns Beitrag zum Fall des Unrechtsstaates;
denn so blieben wir Deutsche, was wir trotz Teilung immer waren: ein Volk - ein Volk, das stolz ist auf die Freiheitskämpfer des 17. Juni.
Herzlichen Dank.
({9})
Das Wort hat der Kollege Thomas Jurk für die SPDFraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Unter meinen Zuhörern wird es
wohl nur wenige geben, die die Gemeinde Krauschwitz
in der Oberlausitz kennen. Sie liegt nur etwa 2 Kilometer
von meinem Heimatort entfernt. Dort fuhren am 17. Juni
1953 vor den Toren der Keulahütte, einer Eisengießerei,
sowjetische Panzer auf, um gegen demonstrierende Arbeiter den Ausnahmezustand durchzusetzen. Das zeigt,
wie breit und umfassend der Aufstand und das Aufbegehren am 17. Juni 1953 tatsächlich waren. Es waren
eben nicht nur die großen Zentren wie Berlin, Leipzig
oder Dresden, in denen die Menschen ihrer Unzufriedenheit Ausdruck verliehen. Es gab eben auch Görlitz,
Niesky oder Krauschwitz.
In Görlitz und Niesky wird heute, beinahe zeitgleich,
traditionell der Ereignisse des 17. Juni 1953 gedacht. In
beiden Städten schien der Volksaufstand am aussichtsreichsten zu verlaufen. In Niesky wurde die Kreisdienststelle des Ministeriums für Staatssicherheit besetzt, und
in Görlitz hatten die Aufständischen gar komplett die
Macht übernommen. Sie bildeten für eine provisorische
Verwaltung ein Stadtkomitee, das umgehend die Amtsgeschäfte aufnahm, und der alte Sozialdemokrat Max
Latt verkündete die Einsetzung eines Initiativkomitees
zur Wiedergründung der SPD. Erst als Sowjetarmee und
kasernierte Volkspolizei von außerhalb in der Stadt eintrafen, wurde der wohl erfolgreichste Aufstand jenes
17. Juni niedergeschlagen.
Sie werden sich fragen, woher ich, der erst neun Jahre
später geboren wurde, so etwas wissen kann. Die Antwort ist ganz einfach: von meinem Vater. Über den
17. Juni wurde in meiner Familie vor 1990 häufig gesprochen. Dabei meinten meine Eltern manches Mal:
Wenn das am 17. Juni geklappt hätte! - Ja, die Menschen
wollten schon damals ein besseres Leben, Freiheit und
Demokratie. Dafür sind sie auf die Straße gegangen, befreiten politische Häftlinge und entmachteten die Funktionäre der verhassten Staatsmacht.
Den 17. Juni 1953 nicht selbst erlebt zu haben, ist ein
Schicksal, das ich mit immer mehr Menschen teile.
Umso wichtiger ist die Bewahrung der Geschichte des
17. Juni 1953, auch der Tage davor und der Tage danach.
({0})
Bewahrung setzt aber unverfälschte Geschichtsschreibung voraus. Deshalb will ich daran erinnern, dass der
17. Juni 1953 in der Geschichtsschreibung der DDR als
faschistischer Putsch, gesteuert aus dem Westen, diffamiert wurde. Die DDR-Führungskaste hätte unter keinen
Umständen zugegeben, dass es ausgerechnet die Arbeiter waren, die sich gegen den sogenannten Arbeiter- und
Bauernstaat erhoben hatten. So wurden besonders jene
Menschen verunglimpft, die Demonstrationszüge anführten oder auf Kundgebungen das Wort ergriffen.
Diese Menschen bezahlten einen hohen Preis. Wem
nicht rechtzeitig die Flucht in den Westen gelang, der
wurde zu drakonischen Strafen verurteilt oder büßte gar
mit dem Leben. Jene Schicksale, jene Ereignisse, jene
Konsequenzen müssen in unserer Erinnerung weiterleben. Dabei bleiben die Schilderungen von Zeitzeugen
unverzichtbar.
({1})
Heute können wir die ganze Geschichte neu ins
Blickfeld nehmen, zurück bis 1945 und vorwärts bis zur
friedlichen Revolution von 1989. Diese Geschichte ist
eine Geschichte des permanenten Wechselspiels von
Hoffnungen und Enttäuschungen. Das gilt insbesondere
für das Jahr 1953 selbst. Denn mit dem Tod Stalins am
5. März 1953 verbanden sich Hoffnungen, Hoffnungen
auf ein Nachlassen des innenpolitischen Terrors gegen
Andersdenkende und eine bessere Wirtschaftspolitik.
Tatsächlich wurden diese Hoffnungen dann enttäuscht.
Im April 1953 wurde beschlossen, ganzen Bevölkerungsgruppen keine Lebensmittelkarten mehr zu geben
und die ohnehin horrenden HO-Preise für Lebensmittel
zu erhöhen. Die schon vorher prekäre Versorgungslage
verschlechterte sich weiter. Auch die Ermäßigungen für
die Arbeiterfahrkarten wurden gestrichen. Gleichzeitig
wurden die Produktionsnormen erhöht, was zu deutlichen Lohneinbußen führte. Gerade deshalb ging der
Aufstand von den besonders stark betroffenen Arbeitern
aus.
Wenn ich eingangs von sowjetischen Panzern sprach,
so waren es letztendlich diese, die den Volksaufstand zunichtemachten. Die Führung der Sowjetunion hatte auch
nach dem Tode Stalins nicht die Absicht, die Einwohner
der DDR in die Freiheit oder gar in die Einheit zu entlassen. Dass der „große Bruder“ mit eiserner Faust 1956 in
Ungarn und 1968 in der Tschechoslowakei alle Demokratiebewegungen noch blutiger niederwalzte, macht
deutlich, wie wichtig für die friedliche Revolution des
Herbstes 1989 die politischen Veränderungen unter
Michail Gorbatschow in der ehemaligen Sowjetunion
waren.
({2})
Für die SPD war der 17. Juni immer ein besonderes
Datum; denn der Aufstand war für uns Sozialdemokraten zuallererst ein Arbeiteraufstand. So ist es kein Wunder, dass die Westdeutschen den Feiertag am 17. Juni einem Sozialdemokraten zu verdanken hatten: Herbert
Wehner, dem aus Sachsen stammenden damaligen Vorsitzenden des Bundestagsausschusses für gesamtdeutsche Fragen. Er war es, der den Namen „Tag der Deutschen Einheit“ vorschlug und mit der SPDBundestagsfraktion bei einer Abstimmung am 3. Juli
1953 im Bundestag durchsetzte, sodass der 17. Juni zum
Nationalfeiertag wurde.
Die damaligen Ereignisse sind für mich auch eine Ermutigung für eine Politik des langen Atems. In einer
Zeit, in der mitunter eine Politik der Kurzatmigkeit
herrscht, ist es wichtig, daran zu erinnern, dass Politik
mehr ist als eine Anhäufung von Projekten, Kampagnen
und Gesetzgebungsvorhaben. Das Erreichen der großen
Ziele und die Lösung von grundlegenden Menschheitsfragen brauchten manchmal Generationen. Rückschläge
wie der, den die Menschen 1953 erlebten, waren nicht
das letzte Wort der Geschichte. Wie glücklich dürfen wir
auch heute noch über die Wiedererlangung der Einheit
Deutschlands sein.
({3})
Der 17. Juni 1953 bleibt ein herausragendes Datum
der deutschen Geschichte, ein Tag zum Erinnern, ein Tag
zum Gedenken und ein Tag zum Nachdenken. Was für
mich in besonderer Weise bleiben wird, ist die Bewunderung für die Menschen jener Zeit. Sie haben damals den
Beweis erbracht, dass Zivilcourage auch in Zeiten größter Entbehrungen und Gefahren möglich ist.
({4})
Das Wort hat der Kollege Dr. Harald Terpe für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Erinnerung an den 17. Juni erfordert von uns und
auch von mir, dass wir uns zuallererst vor den Opfern
verneigen. Opfer sind diejenigen, die getötet worden
sind, aber es gibt auch viele Opfer, die in den Gefängnissen saßen, also Gerichtsprozesse bekommen hatten. Zu
den Opfern zählt auch eine große Gruppe, die aus den
Ereignissen des 17. Juni 1953 Angst mitgenommen hat.
Ich weiß aus persönlichem Erleben - auch ich bin ein
Nachgeborener; ich wurde ein Jahr nach 1953 geboren -,
dass die Angst vor den Repressalien, die Angst vor dem
Niederwalzen von Protesten in der DDR eine große
Rolle gespielt hat. Diese Angst hat fortgewirkt. Zu Recht
ist schon gesagt worden: Manchmal braucht es Generationen, bis solch eine Angst wieder überwunden wird.
Diese Generationen hat auch die ostdeutsche Bevölkerung letztlich bis 1989 gebraucht. Wir als Nachgeborene
konnten uns von dieser Angst mehr befreien als viele,
die den 17. Juni als eine Niederschlagung und Unterdrückung von Freiheit und Recht in der DDR erlebt hatten.
({0})
Aber wie das immer so ist: Jedes Negative hat in der
Erinnerung letztlich auch etwas Positives. Man darf
nicht vergessen, dass der 17. Juni 1953 am eindrucksvollsten bewiesen hat, auf welchem Lügengebäude die
DDR-Führung ihren Staat gegründet hatte. Es sind ja in
erster Linie die Arbeiter und Bauern gewesen - darauf
ist zu Recht hingewiesen worden -, die auf die Straße
gegangen sind. Diese Arbeiter und Bauern wurden nun
von denen niedergewalzt, deren angebliche Ziele es waren, alles für die Arbeiter und Bauern zu tun.
Mit anderen Worten: Das Lügengebäude war offensichtlich. Das hat für die DDR, also für die ostdeutsche
Bevölkerung, Langzeitwirkungen gehabt, weil man von
dem Augenblick an - so habe ich es zumindest erlebt diesem Regime überhaupt kein Vertrauen mehr entgegengebracht hat. Sie haben nie wieder irgendein Vertrauen in der Bevölkerung erreichen können. Sie haben
sich auch gar nicht bemüht. Wie wir wissen, sind ja auch
alle danach folgenden Wahlfälschungen und dergleichen
mehr niemals vertrauensbildende Maßnahmen für die
Bevölkerung der DDR gewesen. Ich verneige mich
heute auch vor denjenigen in Ostdeutschland, die gesagt
haben: Es muss auch Leute geben, die in Ostdeutschland
bleiben und den Freiheits- und Gerechtigkeitsgedanken
weitertragen.
({1})
Das hat dann 1989 zu der friedlichen Revolution geführt. „Keine Gewalt“, das war eine hochpolitische Losung. Ich kann mich noch gut erinnern, wie wir organisiert haben, dass wir mit dieser Losung auf jeden Fall
verhindern, dass es zu einem gewalttätigen Eingreifen
des Staates kommt. Das ist wirklich ein großes Glück.
Ich kann Iris Gleicke nur sagen: Wir haben da natürlich
erhebliches Glück gehabt, dass das nicht passiert ist. Wir
können alle nur dafür danken, dass es so gekommen ist.
({2})
Lassen Sie mich zum Abschluss an uns, aber auch an
die Zuhörer auf den Rängen appellieren, niemals zuzulassen, dass solche Geschichtsereignisse umgedeutet
werden; denn das ist etwas, was die DDR eindrucksvoll
gemacht hat. Sie hat es in mehreren Jahrzehnten geschafft, das nahezu in Vergessenheit zu bringen. Es ist
klar: Es war für sie ja auch brisant, Arbeiter und Bauern
niederzuschießen und dazu dann Stellung zu nehmen. In
der geschichtlichen Erinnerung gerade der nachwachsenden DDR hat der 17. Juni 1953 nur dort eine Rolle
gespielt, wo auch Familien betroffen waren. Ansonsten
war er aus den Geschichtsbüchern gestrichen oder wurde
als faschistischer Putsch usw. diffamiert. Wir können sagen, dass es heute wieder ähnliche Propagandaausdrücke
gibt, wenn es irgendwo darum geht, Freiheitsbewegungen niederzuschlagen.
({3})
Ich glaube, wir Deutschen haben aufgrund unserer Geschichte, auch aufgrund unserer glücklichen Geschichte
der letzten Jahrzehnte, eine große Verantwortung, uns
für die demokratischen und rechtsstaatlichen Freiheitsbewegungen in anderen Ländern zu engagieren und
diese zu unterstützen.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({4})
Das Wort hat der Kollege Dr. Thomas Feist für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kollegen!
Sehr verehrte Damen und Herren! Wir haben heute zum
Gedenken an den 17. Juni 1953 vieles gehört, auch vieles Richtige. Allerdings muss ich sagen, dass ich, wenn
ich mich an die Demonstrationen 1989 in Leipzig erinnere, schon ein Problem damit habe, dass wir dafür
dankbar sein sollen, dass die Staatsmacht in ihrer Ohnmacht nicht auf uns geschossen hat. Dafür fehlt mir jegliches Verständnis.
({0})
In unserem Haus der Geschichte in Leipzig ist ein
Warnhinweis zu lesen. Darauf steht: Warnung! Geschichte kann zu Einsichten führen und verursacht Bewusstsein. - Es ist wichtig, dass wir uns an geschichtliche Daten wie den 17. Juni 1953 erinnern. Denn ohne
den 17. Juni 1953 ist weder der 9. Oktober 1989 in Leipzig mit 70 000 Demonstranten zu denken noch der
9. November mit dem Fall der Berliner Mauer und erst
recht nicht der 3. Oktober 1990 auf dem Weg zur deutschen Einheit. Deswegen ist es wichtig, immer und immer wieder an den 17. Juni 1953 und an die mutigen
Männer und Frauen dieses Tages auch hier im Deutschen
Bundestag zu erinnern.
({1})
Herr Kollege Straubinger hat darauf hingewiesen,
dass er heute einmal eine Presseschau unternommen und
nachgeschaut hat, wer an den 17. Juni 1953 erinnert.
Dieser Tag ist in der öffentlichen Wahrnehmung in der
Tat unterbelichtet. Umso wichtiger ist es, dass wir hier
im Deutschen Bundestag Jahr für Jahr an den 17. Juni 1953 erinnern.
Ich möchte mich stellvertretend für eine Behörde
auch bei Roland Jahn bedanken, dem Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der
ehemaligen DDR, weil diese Behörde eine der wenigen
ist, die Jahr für Jahr mit sehr guten Veranstaltungen an
die Männer und Frauen von 1953 erinnert. Vielen herzlichen Dank dafür.
({2})
Wenn man über die Geschichte spricht, dann muss
man auch darüber reden, welche Lehren wir daraus ziehen. Ich habe vorhin schon gesagt, dass ich ein Problem
damit habe, dass wir über das Glück hinaus, das wir
1989 hatten, dankbar dafür sein sollen, dass wir damals
nicht erschossen worden sind. Ich muss sagen: Auch
heute ist hier noch vieles in einer Grauzone - auch in der
historischen Bewertung. Ich schaue jetzt keine Partei im
Speziellen an; in Thüringen sind mehrere an der Regierung. Walter Ulbrichts großartige Devise lautete:
Es muss demokratisch aussehen, aber wir müssen
alles in der Hand haben.
Damit zeigt der Hinweis auf die Dankbarkeit in Bezug auf die Truppen, die uns nicht erschossen haben, etwas vom - so könnte man sagen - totalitären Denken,
das in einem demokratischen Rechtsstaat zumindest befremdlich wirkt.
({3})
Es ist schon viel zu den Umständen gesagt worden,
die dazu geführt haben, dass Hunderttausende Menschen
- man spricht von bis zu 1,5 Millionen - in der gesamten
DDR - nicht nur in Berlin, nicht nur in Leipzig, sondern
überall - auf die Straße gegangen sind. Es war eine programmatische Sache, die dazu geführt hat, dass die Unzufriedenheit der Leute mit diesem Unrechtsregime der
DDR gewachsen ist.
Die Programme zum planmäßigen Aufbau des Sozialismus - so hießen sie - vernichteten im Zuge der
Zwangskollektivierung Tausende Existenzen von privaten Unternehmern, Bauern und Selbstständigen. Politische Mündigkeit bezahlten Tausende mit hohen Zuchthausstrafen. Einer, der davon betroffen war, der
Schriftsteller und Leipziger Ehrenbürger Erich Loest,
berichtete, dass sich die Aufständischen des 17. Juni,
wenn sie sich im Zuchthaus begegnet sind, mit der Formel „Beim nächsten Mal klappt’s“ grüßten. Darauf
mussten sie allerdings 36 Jahre warten. Deswegen ist es
umso wichtiger, dass wir in der Euphorie einer glücklich
verlaufenen, friedlichen Revolution und einer gelungenen Wiedervereinigung an die Menschen denken, die am
17. Juni 1953 ihr Leben riskierten, um gegen das Unrechtsregime in der damaligen DDR zu protestieren.
({4})
Vor zwei Jahren hat Werner Schulz in Leipzig eine
bemerkenswerte Rede zum 17. Juni 1953 gehalten. Er
hat darin auf einige Dinge hingewiesen, die auch die
Verfolgungsangst der Mächtigen in der DDR in späteren
Zeiten deutlich dokumentiert haben. So konnte zum Beispiel die Zahl der Interzonenzüge, die am 17. Juni verkehren durften, 16 oder 18 sein, aber niemals 17. Das
muss man sich einmal vorstellen! Erich Mielke hat seine
Untergebenen Ende August 1989, als die Lage in der
DDR für die Staatsmacht immer bedrohlicher wurde, gefragt: „Ist es so, dass morgen der 17. Juni ausbricht?“
Dieses Datum war natürlich in den Köpfen der Herrschenden, aber auch noch in den Köpfen der Eltern,
Großeltern und auch Kinder, die über diesen Tag gesprochen und sich im Geheimen in der DDR - auch das gab
es nämlich - dieser Menschen erinnert haben.
Da wir in Leipzig nicht nur glückliche Erfahrungen
mit dem Errichten von Denkmälern haben, möchte ich
einmal ein geglücktes herausheben, das den
17. Juni 1953 betrifft. 2003 wurde die Straße, in der am
17. Juni 1953 ein junger Mann erschossen worden ist, in
„Straße des 17. Juni“ umbenannt. Im selben Jahr haben
sich 20 junge Leute gesagt: Wir wollen an diesen Tag erinnern. - Junge Leute, wohlgemerkt. Sie haben Unterstützer - unter anderem auch den ehemaligen Bundestagsvizepräsidenten Thierse, der sich dieser Bewegung
angeschlossen hatte - bekommen. Sie haben Folgendes
gesagt: Wir warten jetzt nicht auf öffentliche Förderungen, sondern wir machen das einfach. - Sie haben das
Geld dafür zusammenbekommen. Seitdem erinnern im
Stadtzentrum von Leipzig - wenn Sie auf der linken
Seite vor dem Alten Rathaus stehen, können Sie es sehen ins Pflaster eingelassene bronzene Kettenabdrücke an
den 17. Juni 1953 und an die mutigen Männer dieses Tages.
({5})
Es ist schon angesprochen worden, dass der 17. Juni
1953 in einer ganzen Reihe anderer Daten steht. Der
Prager Frühling ist angesprochen worden. Auch Ungarn
wurde erwähnt. Natürlich wurde aber auch die friedliche
Revolution in der DDR angesprochen. Der wesentliche
Unterschied, der aus meiner Sicht zwischen 1953 und
1989 besteht, ist, dass 1989 nicht nur deshalb geglückt
ist, weil die Menschen mutiger waren, sondern weil in
der Sowjetunion ein Mann regiert hat, der Michail
Gorbatschow hieß. Der ist für Glasnost und Perestroika,
für Transparenz und Rechtsstaatlichkeit eingetreten.
Plötzlich waren die Machthaber in der alten DDR - die,
wie Kurt Hager es einmal formulierte, ihre Wohnungen
nicht neu tapezieren, wenn der Nachbar es macht - völlig verunsichert. Die Menschen, die 1989 auf die Straße
gegangen sind - ich war einer von ihnen -, haben gewusst, dass von dieser Seite keine Bedrohung kommt
und dass auf der anderen Seite - nämlich bei den „bewaffneten Organen“, wie es damals hieß - natürlich auch
Freunde und Bekannte waren, bei denen die Schwelle
wesentlich höher lag, auf die eigenen Leute, auf die eigene Familie zu schießen. Deswegen ist es an diesem
Tag - wenn wir an den 17. Juni 1953 erinnern - gerechtfertigt, an Michail Gorbatschow zu denken und uns auch
bei ihm zu bedanken, dass wir 1989 die Möglichkeit zur
Freiheit für alle und 1990 die Möglichkeit der Einheit für
alle hatten.
Vielen Dank.
({6})
Ich schließe die Aussprache und danke ausdrücklich
allen Beteiligten - nicht nur denen, die hier vorne am
Redepult standen, sondern allen hier im Saal - für ihr
Engagement und ihre Teilnahme an dieser Debatte.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen
Bundestages auf morgen, Donnerstag, den 18. Juni 2015,
9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.