Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Nehmen Sie bitte Platz. Die Sitzung ist eröffnet.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
begrüße Sie alle herzlich.
Brauchen Sie noch länger für Ihre wechselseitige Begrüßung? Sonst würde ich den Versuch unternehmen, in
die vereinbarte Tagesordnung einzutreten.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 23 auf:
- Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Erhöhung der Sicherheit informationstechnischer Systeme ({0})
Drucksache 18/4096
Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({1})
Drucksache 18/5121
- Bericht des Haushaltsausschusses ({2})
gemäß § 96 der Geschäftsordnung
Drucksache 18/5122
Dazu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen vor.
Dass wir nicht über ein theoretisches Problem reden,
sondern über eine handfeste Herausforderung, ist auch
uns selber in den letzten Wochen hinreichend deutlich
vor Augen geführt worden. Deswegen nutze ich die Gelegenheit gerne, jedenfalls die anwesenden Kolleginnen
und Kollegen auf die Unterrichtung aufmerksam zu machen, die ich gestern nicht zum ersten Mal nach der intensiven Befassung im Ältestenrat auf der Basis der Unterrichtung durch unsere dafür zuständige Kommission
für Informations- und Kommunikationsdienste an alle
Kolleginnen und Kollegen verschickt habe.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
diese Aussprache 96 Minuten vorgesehen. - Das ist offensichtlich unstreitig und damit so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Bundesminister des Innern, Dr. Thomas de Maizière.
({3})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
IT-Sicherheit, Cyberwar, Cybercrime, Cyberdefence: An
markigen Schlagworten mangelt es nicht, wenn es darum geht, die Herausforderungen der Digitalisierung zu
beschreiben. Manche sprechen von gestohlenen Identitäten. Ich halte das für Unsinn. Die Identität wird nicht geklaut. Es geht um den Zugriff auf Passworte und auf
Geld, aber nicht um gestohlene Identitäten. Wir sollten
mit unserer Sprache aufpassen.
Gehackte Datenbanken, sabotierte Infrastrukturen, ausgespähte Unternehmen und ein ausgespähter Deutscher
Bundestag: Alle diese Szenarien prägen die öffentliche
Debatte. Es reicht aber nicht aus, solche Herausforderungen wortreich zu bestaunen oder Ängste zu schüren. Es
gibt auch keinen Königsweg zur IT-Sicherheit. Es gibt
keinen Big Bang oder eine einzelne Maßnahme, mit der
von heute auf morgen IT-Sicherheit hergestellt ist.
Es ist wie auch sonst in der Politik: Man muss die Herausforderungen analysieren und dann Schritt für Schritt
die Lösungen angehen. Mit dem Entwurf des IT-Sicherheitsgesetzes, der heute in zweiter und dritter Lesung beraten wird, gehen wir einen wichtigen Schritt in Richtung mehr IT-Sicherheit, und dafür bin ich dankbar.
({0})
Meine Damen und Herren, wie sich der Staat im Cyberraum strategisch aufstellt, was der einzelne Bürger tut
und was die Wirtschaft tut, das wird uns lange und intensiv beschäftigen, in vielen Jahren, die vor uns liegen. Im
Hinblick auf die Dynamik der Entwicklungen der Technik werden wir wohl auch unsere Lösungsansätze, die
wir jetzt haben oder die wir gestern hatten, neu hinterfragen müssen. Wir werden uns an schnellere Rhythmen
staatlicher Reaktion gewöhnen müssen.
Unter dem Schlagwort „Cybersicherheit“ geht es um
Folgendes: Es geht zunächst um IT-Sicherheit im Sinne
von Safety, das heißt um die Härtung und den Schutz unserer Systeme und Strukturen.
Daneben geht es um die Verhinderung und Verfolgung von Cyberkriminalität durch Polizei und Staatsanwaltschaften. Ich will hierzu nur noch einmal einen Satz
mit Blick auf die Opposition sagen: Ich finde, der demokratische Rechtsstaat hat im Internet nicht mehr, aber
auch nicht weniger Rechte als außerhalb des Internets,
und das sollte der Maßstab für gesetzgeberisches Handeln sein.
({1})
Wir müssen unsere Unternehmen vor Sabotage und
Ausspähung schützen. Der Wirtschaftsstandort Deutschland ist durch die Angriffe Privater, aber auch durch die
Angriffe anderer Staaten massiv gefährdet.
Schließlich geht es auch um die Erwartung, dass sich
der Staat mit seinen Einrichtungen selbst sicher und
wehrhaft aufstellt.
Cybersicherheit dient damit dem Schutz der Bürgerinnen und Bürger, dem Schutz unserer Wirtschaft und unserer Innovationsfähigkeit und dem Schutz der Funktionsfähigkeit des Staates. Sie ist ein zentraler Baustein
der inneren Sicherheit.
Dort, wo wir handeln können, sollten wir das planvoll, zügig und entschlossen tun, wie mit dem IT-Sicherheitsgesetz, über das wir heute debattieren. Ich fand die
Debatte darüber mit der Öffentlichkeit schon vor der ersten Lesung durch uns im Parlament und auch nach der
ersten Lesung bei der Sachverständigenanhörung sowie
danach konstruktiv und sachorientiert. Die Ziele und
Methoden des Gesetzentwurfs wurden nicht grundsätzlich infrage gestellt. Den einen ging es zu weit, den anderen nicht weit genug, aber im Prinzip stößt der Ansatz
auf große Zustimmung.
Wir müssen die kritischen Infrastrukturen schützen.
Kritische Infrastrukturen sind solche Infrastrukturen,
die, wenn sie ausfallen, dazu führen, dass es für uns kritisch wird - Stichworte: Energie, Wasser, Gesundheitswesen, Banken, Versicherungen.
Die Betreiber kritischer Infrastrukturen werden in Zukunft einen Mindeststandard an sicherer IT einrichten
und einhalten müssen und Vorfälle im Bereich der IT-Sicherheit von erheblichem Ausmaß an das Bundesamt für
Sicherheit in der Informationstechnik melden müssen.
Wir wissen, das ist peinlich. Wir wollen das so regeln,
dass nicht alles öffentlich gemeldet wird. Das soll geschehen, damit das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik andere Betreiber kritischer Infrastrukturen warnen kann.
Ein Schaden bei einem Betreiber kritischer Infrastruktur kann zu einem Schaden für die Allgemeinheit
werden. Das wollen wir verhindern; das sind die innere
Ratio und das Ziel dieses Gesetzentwurfs.
({2})
Auch die Sicherheit des Internets insgesamt wird
durch das IT-Sicherheitsgesetz spürbar erhöht werden.
Wir reden alle über die Grenzenlosigkeit des Internets.
Da ist auch viel dran. Es gibt aber immer noch ein physisches deutsches Netz und IT-Systeme, die in Deutschland betrieben werden. Bei ihnen setzt unser Entwurf des
IT-Sicherheitsgesetzes an.
Der Gesetzentwurf passt in die internationale Diskussion. Wir verhandeln in Europa über eine Richtlinie der
Europäischen Union, die europäische NIS-Richtlinie.
Sie ist unserem deutschen Gesetzentwurf praktisch nachgebildet. Das ist IT-Sicherheit made in Germany für die
Europäische Union. Was wir hier praktisch machen, ist
die Vorwegumsetzung einer Richtlinie, die bald kommt.
Natürlich haben wir das so verhandelt, dass beides kompatibel ist. Das hat es bisher nur selten gegeben, aber wir
haben keine Zeit zu verlieren.
({3})
Meine Damen und Herren, was wir hier schaffen, ist
auch wichtig für das, was wir „Internet der Dinge“ nennen, für Industrie 4.0, für automatisiertes Fahren, für Logistikketten und für vieles andere mehr. Ohne IT-Sicherheit wird das nicht funktionieren. Niemand wird sich in
ein Auto setzen, das automatisch fährt, wenn dieses Fahren von außen leicht manipuliert werden kann. Niemand
wird sich auf eine digitalisierte Logistikkette verlassen,
wenn die einzelnen Schritte dieser Logistikkette und die
Abläufe, die damit verbunden sind, von außen leicht angegriffen werden können. Ohne IT-Sicherheit wird es
eine Digitalisierung der Industrie und unseres Lebens
nicht geben können. Deswegen ist das ein zentraler
Punkt, damit die Digitalisierung überhaupt ein Erfolg
wird.
Dem Deutschen Bundestag liegt heute ein Gesetzentwurf vor, der durch die Koalitionsfraktionen verändert
und verbessert wurde, wofür ich dankbar bin. Es wird so
sein, dass Hard- und Softwarehersteller in die Abwehr
von Cyberangriffen auf kritische Infrastrukturen miteinbezogen werden. Es wird so sein, dass die Rolle des
Bundesamts für Sicherheit in der Informationstechnik
gestärkt wird, auch gegenüber den Bundesressorts. Es
wird Sanktionen und Bußgelder geben. Das war ein umstrittener Punkt. Aber wie auch immer man das sieht:
Wir werden durch die europäische Richtlinie sowieso
Bußgelder bekommen. Deswegen ist es nicht schädlich,
das bereits jetzt einzuführen. Ich bin dankbar für diese
Änderungen.
Eines ist mir wichtig: Auch mit diesen Änderungen
bleibt es grundsätzlich bei dem, wie wir es nennen, kooperativen Ansatz dieses IT-Sicherheitsgesetzes. Was
heißt das? Melden und Warnen, Standards und Sicherungsmaßnahmen - das kann der Staat gerade hier nicht
allein. Das IT-Sicherheitsgesetz will ein kooperatives
Verhältnis zwischen dem Staat und der Wirtschaft bei
der Entwicklung der Standards, bei der Zertifizierung
der Standards, bei der Weiterentwicklung der Standards
und beim Aufklären von Schadangriffen. Deswegen ist
dies auch methodisch ein interessantes, ein modernes
und vielleicht für andere Politikbereiche wegweisendes
Gesetz.
Ich möchte aus meiner Sicht ein Wort zum Thema
„Angriffe auf den Bundestag“ sagen. Viele wissen das
nicht: Die Bundesregierung, die Bundesverwaltung betreibt mit den Netzen des Bundes ein physisch getrenntes
Netz. Auch dort haben wir vor einiger Zeit die Entscheidung getroffen, dass wir uns von einem bestimmten ausländischen Betreiber lösen wollen. Mit nicht unerheblichen Geldmitteln sorgen wir dafür, dass das Netz künftig
nur durch deutsche Hersteller und Betreiber betrieben
wird. Wir sind, wie Sie wissen, auch dabei, beim Thema
IT-Konsolidierung, also bei dem Zusammenführen der
Fachverfahren, dafür zu sorgen, dass wir gemeinsamer
als bisher vorgehen. Der Schutzschild, den die Bundesregierung und die Bundesverwaltung um sich gezogen
haben, funktioniert, und er funktioniert ziemlich gut.
({4})
Ich würde nicht sagen, dass er absolut sicher ist, aber er
funktioniert ziemlich gut. Das BSI hilft uns dabei.
Natürlich respektiere ich er - ich halte das für voll
verständlich -, dass der Bundestag einen anderen Weg
gegangen ist. Wir als Bundesregierung sind bereit - wir
tun es auch -, durch das Bundesamt für Sicherheit in der
Informationstechnik zu helfen.
({5})
Ich bin auch dafür, da einiges dafür spricht, dass es sich
um einen Angriff eines ausländischen Nachrichtendienstes handelt, dass auch das gesetzlich dafür zuständige
Bundesamt für Verfassungsschutz seine Hilfe anbietet.
({6})
All das sind aber Angebote. Die Entscheidung darüber, wie von diesen Angeboten Gebrauch gemacht
wird und wie es mit dem Netz weitergehen soll, trifft allein der Deutsche Bundestag. Ich werde dazu weder intern noch öffentlich irgendwelche Ratschläge geben. Ich
wollte nur einmal erläutern, dass die Netze getrennt betrieben werden.
Mit dem Gesetz, das wir heute verabschieden, geht
Deutschland einen wichtigen Schritt in Richtung mehr
Sicherheit und Verlässlichkeit, aber auch einen wichtigen Schritt in Richtung Modernität und Technologieoffenheit. Aber: Das ist nur ein wichtiger Rechtsrahmen.
Ein nächster wird folgen. Es spricht viel dafür, dass wir
am kommenden Montag bei dem Treffen der europäischen Innenminister eine abschließende Stellungnahme
des Europäischen Rates für die Datenschutz-Grundverordnung bekommen mit der Folge, dass dann der sogenannte Trilog mit dem Parlament beginnt. Ich hoffe, dass
das Verfahren bis Ende des Jahres abgeschlossen sein
wird und wir dann in der Europäischen Union eine Datenschutz-Grundverordnung haben, die durch mehr Datenschutz auf europäischer Ebene für mehr Sicherheit im
Informationszeitalter sorgt.
Dazu muss aber auch noch etwas anderes kommen.
Digitale Verwundbarkeit hat auch mit digitaler Sorglosigkeit der Bürgerinnen und Bürger zu tun. Man kann
noch so gute Gesetze machen, man kann noch so gute
Rahmenbedingungen schaffen, ohne verantwortungsvolles und sicheres Fahren im Netz geht es nicht. Ich nenne
Ihnen ein Beispiel, das Sie alle kennen: Wir haben im
Kfz-Bereich Sicherheitsvorschriften. Wir verlangen, dass
man einen Sicherheitsgurt anlegt. Wir verlangen Airbags,
Knautschzonen und all das. Das ist der staatliche Bereich. All das nützt nichts, wenn man unsicher Auto
fährt. Dann gefährdet man sich, und das führt zu Unfällen. Deswegen gehört zu all dem, was der Staat macht,
was wir tun und tun wollen, ein verantwortliches eigenes
Verhalten der Bürgerinnen und Bürger. Da ist noch viel
zu tun. Das hat etwas mit Bildung und Aufklärung zu
tun, aber - wie gesagt - auch mit dem, woran wir von
diesem Pult aus immer gern appellieren, nämlich mit der
Eigenverantwortung der Bürger. Ohne diese gibt es auf
Dauer keine IT-Sicherheit in unserem Land.
({7})
- Absolut. Denjenigen, die sich ordentlich verhalten,
wird es besser gehen als denjenigen, die sich nicht ordentlich verhalten. Das ist im Internet so wie auch sonst
in der Welt, und das finde ich auch richtig so.
Wenn ich dies noch als vorletzten Gedanken sagen
darf: Ich halte viel davon, dass wir uns Versicherungslösungen nähern. Bei anderen Sachverhalten haben wir
auch Versicherungslösungen. Wenn ich ein Fahrrad nicht
abschließe, dann sagt die Diebstahlversicherung: Der
Schaden wird nicht ersetzt. Wenn ich es abschließe, wird
der Schaden ersetzt, wenn das Fahrrad trotzdem geklaut
wird. Auf Dauer müssen wir wohl dazu kommen, dass
derjenige, der sich sicherer verhält, einen Vorteil hat gegenüber dem, der sich unsicherer verhält. Dafür sind zivilrechtliche Versicherungslösungen oft besser als staatliche Eingriffslösungen. Ich finde, daran müssen wir
auch arbeiten.
({8})
Am heutigen Tag aber konzentrieren wir uns auf das
IT-Sicherheitsgesetz, das unsere kritischen Infrastrukturen schützt. Die Menschen in Deutschland vertrauen darauf, dass sie in einem sicheren Land leben. Sie wissen,
dass es keine absolute Sicherheit gibt. Sie verlangen und
erwarten, dass wir das uns Mögliche tun, sie zu schützen. Das gilt im normalen Leben genauso wie im Internet. Mit dem IT-Sicherheitsgesetz werden wir einen
wichtigen Schritt in diese Richtung machen. Ich hoffe
auf eine breite Zustimmung zu diesem Gesetz.
Herzlichen Dank.
({9})
Das Wort erhält nun die Kollegin Petra Pau für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wir beraten heute final über ein Gesetz zur
Erhöhung der Sicherheit informationstechnischer Systeme, kurz IT-Sicherheit. Ein solches Gesetz ist überfällig.
Immer mehr Prozesse und Abläufe sind computergestützt
und basieren auf Datennetzwerken. Die Digitalisierung
der Gesellschaft nimmt zu; rasant und umfassend.
IT-Pannen oder gar gezielte Angriffe könnten verheerende Folgen haben. Man stelle sich nur einmal den
Ausfall der Wasser- oder der Energieversorgung oder
wesentlicher Teile des Verkehrs vor. Die gesamte Gesellschaft käme zum Erliegen. Insofern unterstelle ich, dass
alle Parteien ein großes Interesse an einer höchstmöglichen IT-Sicherheit haben. Die Linke hat es jedenfalls.
({0})
Der Gesetzentwurf kommt von der Bundesregierung,
und über ihm schwebt ein finsterer Schatten; spätestens
seit den Enthüllungen von Edward Snowden über die
Machenschaften der NSA und weiterer Geheimdienste.
NSA und Co. beherrschen das Internet und nutzen es
weltweit als riesigen Datenstaubsauger in einem bisher
unvorstellbaren Ausmaß, und das ist ein Skandal.
({1})
Politisch und praktisch handelt es sich um den bislang
größten Angriff auf Bürgerrechte, auf die Demokratie
und auf den Rechtsstaat in der Geschichte der Bundesrepublik. Das heißt auch: Weniger IT-Sicherheit ist kaum
denkbar.
Und wie sehen die Reaktionen der Bundesregierung
darauf aus? - Durchaus digital. Vor die binäre Handlungsalternative von eins oder null gestellt, entschieden
Sie sich für null. Ich finde, das grenzt an Verfassungsbruch und ist nicht hinnehmbar.
({2})
Wer sich nun in den vorliegenden Gesetzentwurf vertieft, stößt schnell auf Seltsamkeiten. Vieles, was geregelt werden müsste, bleibt ungeregelt. Aber unterm
Strich bleiben zwei Gewinner: der BND und der Verfassungsschutz, also Geheimdienste. Die Linke bleibt dabei: Ein Wettlauf der Geheimdienste schafft nicht mehr
IT-Sicherheit, sondern weniger. Deshalb sagen wir Nein.
({3})
Herr Minister, gestatten Sie mir in diesem Zusammenhang eine Bemerkung zu Ihrem Einwurf zu unseren
eigenen Angelegenheiten, zu den Angriffen auf IT-Systeme des Bundestages. Es ist eine pure Selbstverständlichkeit, dass auch der Deutsche Bundestag die Informationen, die dem Bundesamt für Verfassungsschutz,
welches nach dem Gesetz für die Spionageabwehr zuständig ist, nach Recht und Gesetz übermittelt werden
müssen, diesem übermittelt. Genauso halte ich es auch
für eine pure Selbstverständlichkeit, dass das Bundesamt
für Verfassungsschutz dem Deutschen Bundestag und all
denen, die im Moment damit befasst sind, diesen tatsächlich ernsthaften Angriff abzuwehren und Vorkehrungen dafür zu treffen, dass wir besser geschützt sind,
seine Erkenntnisse übermittelt, gegebenenfalls auch über
schon erfolgreiche Abwehrstrategien in der Auseinandersetzung mit dem Angreifer. So weit, so gut. Aber ich
verstehe die Pappkameraden nicht, die in den letzten Tagen in diesem Zusammenhang aufgebaut wurden. Ich
verstehe auch nicht die Aufforderung, der Bundestag
solle doch bitte mit der genannten Behörde kooperieren.
({4})
Damit komme ich zurück zum Gesetzentwurf. IT-Sicherheit ist mehr als Innenpolitik. Deshalb haben für die
Linke zwei Strukturveränderungen Vorrang vor allem
anderen.
Erstens. Das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik, kurz BSI, sollte aus dem Bundesinnenministerium herausgelöst und zu einer ressortübergreifenden und zeitgemäßen Bundesbehörde entwickelt
werden.
({5})
Dazu gehörten ein umfassender Auftrag und klare Qualitätsansprüche und selbstverständlich auch entsprechende
finanzielle und personelle Ressourcen.
Zweitens. Das Amt der Beauftragten für den Datenschutz und die Informationsfreiheit ist noch weiter aufzuwerten, von seiner Ausstattung her, aber auch von den
Kompetenzen, bis hin - darüber sollten wir diskutieren zu einem Vetorecht.
({6})
Wir haben es in dieser Woche erlebt: Bei der Anhörung zu einem Gesetzentwurf, mit dem tiefgehend in den
Datenschutz eingegriffen wird, nämlich das geplante Gesetz zum Verfassungsschutz, wurde die Bundesbeauftragte schlicht ignoriert: ein Affront wider den Bundestag und die Demokratie.
({7})
Bündnis 90/Die Grünen haben einen Entschließungsantrag zum Regierungsentwurf vorgelegt. Er enthält eine
umfassende Mängelliste und einen Forderungskatalog.
Darauf werde ich aber nicht im Einzelnen eingehen.
Schließlich fordern Sie in Ihrem Antrag, den Regierungsentwurf abzulehnen und sich dem Komplex IT-Sicherheit kompetenter zu widmen. Dem schließe ich mich
an. Auch die Fraktion Die Linke wird das tun.
({8})
Ein schlechtes Gesetz schafft nun einmal nicht mehr Sicherheit im digitalen Zeitalter. Die aber ist für die Bürgerinnen und Bürger, für die Wirtschaft, für die Gesellschaft sowie für die Zukunft dringend geboten.
Ich danke Ihnen.
({9})
Gerold Reichenbach ist der nächste Redner für die
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Sehr geehrte Damen und Herren auf der Tribüne und an
den Bildschirmen! Ein Ende der Durchdringung unseres
Lebens durch Digitalisierung ist nicht absehbar - das ist
genannt worden -: automatisierte Fahrzeuge, Gesundheitsdienstleistungen, intelligente Fabriken oder gar intelligente Städte.
Sicherheitslücken und Cyberangriffe können dramatische Folgen haben. Nehmen wir das von Ihnen genannte
Beispiel der immer komplexer werdenden Logistikketten. Heute wissen nur noch die Computer, in welchem
Regal, auf welchem Schiff oder welchem Lkw sich Waren befinden. Eine Störung oder ein Ausfall von Rechnern und Netzwerken hätte zur Folge, dass niemand
mehr darauf zugreifen kann. Die Waren wären zwar
noch da, aber keiner weiß mehr, wo. Nicht auszudenken,
was das für unsere Versorgung bedeutet, etwa mit Nahrungsmitteln oder Arzneimitteln. Wie wir gerade im
Bundestag leidvoll erleben, können sich solche Störungen nicht nur über Stunden, sondern über Tage oder vielleicht sogar über Monate hinziehen. Um solche Situationen geht es beim IT-Sicherheitsgesetz, über dessen
Entwurf wir heute in zweiter und dritter Beratung beraten.
Es geht um den Schutz kritischer Infrastrukturen, also
die Bereiche, die für die Bevölkerung und für die Aufrechterhaltung unseres Staatswesens elementar sind.
Weil die Strukturen im modernen, digitalisierten und
vernetzten Zeitalter sehr verwundbar sind, wollen wir
mit dem IT-Sicherheitsgesetz verbindliche Mindeststandards setzen. In den in Rede stehenden Bereichen geht es
nicht nur um die Frage, ob sich Unternehmen selbst
schädigen, wenn sie aus Kostengründen auf Sicherheitsmaßnahmen verzichten, sondern auch darum, ob damit
auch eine Schädigung der Allgemeinheit einhergeht.
Aber das betrifft nur eine Säule des Gesetzes. Die Opposition erhebt den Vorwurf, hier handle es sich um ein
reines Meldegesetz oder hier gehe es nur, wie Sie, Frau
Kollegin Pau, behaupten, um eine Kompetenz- und Stellenerweiterung beim Verfassungsschutz. Zu einem solchen Vorwurf kann man eigentlich nur kommen, wenn
man relativ früh beim Lesen des Gesetzentwurfs aufgehört und seinen alten ideologischen Katalog herausgeholt hat.
({0})
Das Gesetz verstärkt die Pflichten der Telekommunikationsanbieter, die eine zentrale Rolle für die Sicherheit
im Netz spielen. Wir stärken das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik, BSI, in seiner Funktion,
die Bürgerinnen und Bürger, Behörden und Unternehmen bei der Herstellung von mehr Sicherheit für sich
selbst und im Netz zu beraten und zu unterstützen.
Durch mehr Aufklärung der Öffentlichkeit soll ein weiterer Beitrag zur Verbesserung der IT-Sicherheit geleistet
werden. Nicht zuletzt werden wir die Zuständigkeiten
des Bundeskriminalamtes zur Bekämpfung von Cyberkriminalität erweitern.
Das Parlament hat - auch hier gilt das Struck’sche
Gesetz, wonach kein Gesetz den Deutschen Bundestag
so verlässt, wie es hineingekommen ist - eine Expertenanhörung durchgeführt. Die Koalitionsfraktionen haben
wichtige Anregungen der Experten, die sich alle grundsätzlich über die Bedeutung und Wichtigkeit dieses Gesetzes einig waren, aufgenommen. Auch auf europäischer Ebene - das wurde bereits genannt - beraten wir
zurzeit über eine Richtlinie, die im europäischen Rahmen für mehr Sicherheit im Internet und in den informationstechnischen Systemen sorgen soll; das ist die sogenannte NIS-Richtlinie. Deswegen haben wir Vorgaben,
die diese Richtlinie absehbar enthalten wird, per Änderungsantrag der Koalition bereits in den Gesetzentwurf
aufgenommen. Das betrifft die Möglichkeit der bußgeldbewehrten Sanktionen, wenn Betreiber kritischer Infrastrukturen gegen die im Gesetz festgeschriebenen Pflichten wie etwa die Meldepflicht verstoßen.
Keinerlei Sanktionsbefugnisse vorzusehen, wie von
Teilen der Wirtschaft gefordert, stünde nicht nur im Widerspruch zur absehbaren europäischen Richtlinie, sondern würde auch zu Ungleichbehandlungen führen; denn
in der Telekommunikation und im Energiebereich gibt es
bereits Sanktionsmechanismen. Schließlich wäre es unsinnig, ein Gesetz zu beschließen, das für diejenigen, die
es nicht befolgen, keine Folgen hätte. Damit verhielte es
sich wie mit einem Parkverbot ohne Bußgeld.
({1})
Das alles widerspricht aber keineswegs dem grundsätzlich kooperativen Ansatz des Gesetzes, wie es der
Minister genannt hat. Für IT-Sicherheit kann Politik
nicht alleine sorgen. Wir sind auch wegen der Komplexität der Materie auf die Mitarbeit der Unternehmen und
ihr Know-how angewiesen. Deshalb binden wir die Unternehmen und die Verbände mit ihrem Sachverstand
ein. Das BSI wird die vorzugebenden Sicherheitsstandards gemeinsam mit der Wirtschaft erarbeiten.
Während der parlamentarischen Beratungen wurden
von vielen Stellen die fehlenden Mitwirkungspflichten
von sogenannten Komponentenherstellern, also den Zulieferern von Soft- und Hardware für die Betreiber kritischer Infrastrukturen, kritisiert; denn diese Betreiber
sind bei der Erfüllung der ihnen auferlegten Pflicht,
mehr Sicherheit herzustellen, unter Umständen auf die
Mitarbeit der Zulieferer angewiesen.
Das ist natürlich zuvörderst vertraglich zwischen den
Unternehmen und ihren Vertragspartnern zu regeln; aber
bei Monopolsituationen oder auch im Streitfall kann es
bei der Durchsetzung dieser Mitwirkung durchaus zu
Schwierigkeiten kommen. Gerade bei kritischen Infrastrukturen, wie der Stromversorgung, der Nahrungsmittelversorgung und, und, und, können wir nicht warten,
bis die Streitigkeiten auf zivilrechtlichem Wege geklärt
sind. Deswegen besteht in diesen Fällen - dies ist einer
der Änderungsvorschläge, den die Koalition in den Gesetzentwurf eingebracht hat - eine Anordnungsbefugnis
des BSI gegenüber den Herstellern, die in einem sogenannten kritischen Fall bei der Beseitigung einer Störung
mitwirken müssen.
Außerdem haben wir als Ergebnis der Anhörung die
Untersuchungsbefugnisse des BSI und die Zweckbindung klarer gefasst. Wir haben explizit klargestellt, dass
sie nur für die Erfüllung folgender Aufgaben des BSI genutzt werden dürfen: zur Abwehr von Gefahren für die
Sicherheit der Informationstechnik des Bundes, zur Beratung und Warnung, zur Erfüllung der Aufgaben des
BSI als zentrale Meldestelle für die Sicherheit in der Informationstechnik bei kritischen Infrastrukturen nach
§§ 8 a und 8 b des BSI-Gesetzes - für nichts mehr. Die
Opposition mutmaßt, es bestehe dennoch die Gefahr,
dass diese Daten auch für andere Interessen verwendet
werden könnten. Dem ist ein klarer gesetzlicher Riegel
vorgeschoben.
Wenn wir allerdings in einer allgemeinen Verschwörungstheorie davon ausgehen, dass diese Gesetze ohnehin nicht eingehalten werden, wie übrigens auch andere
Gesetze, dann brauchen wir als Gesetzgeber kein Gesetz
mehr zu machen.
({2})
Ich sage in diesem Zusammenhang noch etwas anderes. Wenn sich ein Mitarbeiter des BSI, etwa wenn er
jetzt im Bundestag tätig ist, nicht an das Gesetz hält und
es missbraucht, dann landet er vor dem Kadi und zuvor
vielleicht vor einem Untersuchungsausschuss. Wenn das
ein Mitarbeiter eines ausländischen Geheimdienstes
macht, bekommt er höchstens den Vaterländischen Verdienstorden. Auch diesen Unterschied sollten Sie in dieser Debatte berücksichtigen.
({3})
Die Vorfälle, mit denen wir selbst ja auch zu kämpfen
haben, machen deutlich, wie wichtig es ist, dass die
Standards, die wir der Wirtschaft vorgeben und die wir
von der Wirtschaft verlangen - auch das haben wir aufgrund unseres Änderungsantrages in den Gesetzentwurf
aufgenommen -, auch für die Behörden des Bundes - für
alle Behörden des Bundes - gelten. Dazu gehört übrigens
auch der nichtparlamentarische Teil der Bundestagsverwaltung. Das BSI muss die Informationen bekommen, die
es braucht, um entsprechende Sicherheitsstandards vorzugeben.
Last, but not least - ich glaube, auch das muss man in
einer Beratung zugestehen -: Auch die Veränderungen
im Gesetz sind Ergebnisse von Kompromissen in einer
Koalition. Man kann nicht alles durchsetzen. Aber ich
bin der festen Überzeugung: Es sind gute Kompromisse.
Natürlich hätten wir an der einen oder anderen Stelle
auch noch andere Veränderungen vorgenommen. Meine
Fraktion und ich sind der Auffassung, dass angesichts
der Aufgaben, die dem BSI, also dem Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik, zuwachsen, eine
stärkere Unabhängigkeit und Selbstständigkeit geboten
gewesen wären.
Aber ich gebe zu, dass all dies innerhalb dieses Gesetzgebungsverfahrens zu regeln, die Komplexität überstiegen hätte. Das ist übrigens auch das Problem des Entschließungsantrags der Grünen. Deswegen haben Sie
wohlweislich keine Gesetzesänderungsvorschläge gemacht.
({4})
In vielen Bereichen ist Ihr Entschließungsantrag nach
dem Motto gestrickt: Wir schreiben jetzt in das IT-Sicherheitsgesetz hinein, was wir alles im digitalen Bereich, von Datenschutz bis sonst wo, gerne mal gehabt
hätten. Ich halte das erstens für wenig praktikabel und
zweitens für wenig redlich.
({5})
Weil wir es aber gerade bei kritischen Infrastrukturen,
aber auch in der gesamten IT-Branche mit rasanten Entwicklungen und Neuerungen zu tun haben - dessen sind
wir uns bewusst -, haben wir als Koalition vorgeschlagen und in den Gesetzentwurf einfließen lassen, dass das
Gesetz nach vier Jahren wissenschaftlich evaluiert wird.
({6})
Ich glaube, das ist eine sehr vernünftige Position.
({7})
Es trägt übrigens auch dem Umstand Rechnung, dass
wir mit diesem Gesetz das Thema „IT-Sicherheit, Vertrauen in IT“ und die Fragen, die der Minister angesprochen hat, nicht abschließend werden regeln können; vielmehr ist dies ein erster Schritt. Wir werden uns mit
weiteren Themen in diesem Bereich beschäftigen müssen. Ich nenne nur ein Beispiel, Herr Minister: die von
Ihnen genannten Versicherungslösungen, die ich sehr
sympathisch finde. Aber das funktioniert natürlich nur
dann, wenn wir auch gegenüber der Wirtschaft, ähnlich
wie beim Beispiel mit dem Fahrrad, klare Haftungsregelungen haben. Wer sein Fahrrad nicht abschließt, wird
haftbar gemacht, wenn er Schäden gegenüber Dritten
verursacht.
({8})
Das heißt, auch in diesem Bereich brauchen wir klare
Haftungsregelungen. Die Debatte geht weiter.
({9})
Ich bin der festen Überzeugung, dass wir hier mit diesem IT-Sicherheitsgesetz und mit den von der Koalition
vorgelegten Änderungen einen richtigen und wichtigen
Schritt getan haben. Frau Pau, mit Ihrem Beispiel haben
Sie übrigens leider nur deutlich gemacht, dass die Linke
immer noch ein bisschen in der Vergangenheit ist.
({10})
Herr Kollege, Sie achten bitte auf die Uhr.
Ich komme zum Schluss, Herr Präsident. - Denn in
der digitalen Welt ist die Null nicht gleich null wie in der
analogen Welt, sondern von der Information gleichwertig gegenüber der Eins.
({0})
Auch in diesem Sinne bitte ich Sie, dem Gesetz zuzustimmen.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({1})
Das Wort erhält nun der Kollege Dieter Janecek für
die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrter Herr
Minister! Sehr geehrter Herr Reichenbach, danke für die
Einführung in die binäre Logik.
({0})
Das können wir dann später noch ausführen. Aber jetzt
einmal ernsthaft.
Das Computernetz des Deutschen Bundestages ist,
wie wir seit circa 36 Stunden wissen, wohl zumindest in
Teilen nicht mehr zu retten. Machen wir uns doch einmal
ehrlich: Wir als Parlament und auch Sie als Bundesregierung, als Koalition stehen ganz schön peinlich da, wenn
wir, wenn Sie heute über ein IT-Sicherheitsgesetz beraten, das den Anspruch hat, anderen - den Betreibern kritischer Infrastruktur - IT-Sicherheit zu gewährleisten,
wir das aber selber, Sie das aber selber nicht hinkriegen.
Das ist ein Widerspruch, den Sie nicht auflösen können.
({1})
Auch wir als Abgeordnete haben ein Informationsbedürfnis, das in den letzten Wochen und Monaten nicht
gerade erfüllt worden ist. Wir haben im Ausschuss Digitale Agenda des Deutschen Bundestages Forderungen
gestellt, ob wir einen Bericht bekommen können über
das, was seit Wochen passiert. Wenn jetzt in den Medien
geschrieben wird, dass die Verantwortung, wie ich heute
in der FAZ lesen darf, bei den Abgeordneten liegt, weil
die vielleicht USB-Sticks in den Bundestag eingeführt
haben, dann sage ich: Es ist richtig, dass 50 Prozent der
IT-Sicherheitslecks entstehen, weil Menschen nicht verantwortungsbewusst handeln. Es ist aber auch richtig,
dass die Bundesrepublik Deutschland in Sachen IT-Sicherheit ein Entwicklungsland ist. Auch das beweist die
heutige Debatte.
({2})
Ich komme zum Gesetzentwurf. Der Gesetzentwurf,
den wir heute in zweiter und dritter Lesung behandeln,
kommt mit marginalen Änderungen daher. Die vielen
Mängel am ersten Gesetzentwurf, die von vielen Seiten
benannt wurden, haben Sie kaum korrigiert. Sie kommen
Jahre zu spät, und in der Reichweite ist das Ganze kläglich. Es passt auch gut in den Kontext der Debatten, die
wir führen.
Vorratsdatenspeicherung. Der Bundesjustizminister
legt jetzt ein offensichtlich verfassungswidriges Gesetz
vor.
({3})
Das kann man ja nur begrüßen. Vielleicht ein geschickter Schachzug, mit dem verhindert werden soll, was
kaum noch aufzuhalten ist? Sie können beim IT-Sicherheitsgesetz nicht genauso vorgehen, in einem Bereich,
wo wir es mit einem dynamischen Prozess - Herr Minister, das Internet ist dynamisch; deswegen kann man darauf nicht rein bürokratisch reagieren - zu tun haben. Sie
können mit diesem Gesetz nicht einfach eine Hackermeldezentrale etablieren. Das ist das, was am Ende übrig
bleibt. Sie können auch nicht all das ignorieren, was Sie
nicht vorsehen: dass es zum Beispiel auch um den
Schutz der Bürgerinnen und Bürger geht,
({4})
dass es zum Beispiel auch darum geht, dass BITKOM
sagt, dass nicht einmal die Hälfte von gut tausend befragten Unternehmen Festplatten oder andere Datenträger verschlüsseln, dass Sie also Aufklärung betreiben
müssen, gerade bei den mittelständischen Unternehmen.
Sie halten im Wirtschaftsministerium eine Plakatserie
zur IT-Sicherheit bereit - ich glaube, sechs Plakate kann
man dort bestellen -: Das ist alles schön und gut, aber
der intensive Dialog mit der Wirtschaft, auch mit den
Behörden, hat über die Jahre nicht stattgefunden. Deswegen sind wir heute so anfällig. Das ist auch ein Versagen, das Sie zu verantworten haben.
({5})
Es ist ja auch ganz interessant, dass sich Teile der
Wirtschaft, wie der Bankenverband, mit einer Stellungnahme zu diesem Gesetzentwurf geäußert und die Empfehlung abgegeben haben, das Gesetz auf weitere systemrelevante Player zu erweitern. Es kommt auch nicht
alle Tage vor, dass Unternehmensverbände umfassende
Regulierung anmahnen.
Wieso schaffen Sie es nicht - das ist ein Vorschlag,
den auch wir machen -, zentrale IT-Anlaufstellen einzurichten, die speziell KMUs bei der Schaffung einer ho10570
hen und zeitgemäßen IT-Sicherheit unterstützen? Es
sollte so sein, dass die Unternehmen zu diesen Anlaufstellen kommen können und ihnen gesagt wird: Wir helfen konkret aus einer Hand. - Das ist ein Vorschlag, den
auch Professor Kagermann von der ACATEC jüngst bei
uns im Ausschuss Digitale Agenda erhoben hat.
Ich will auch ein paar lobende Dinge sagen. Mit dem
von der Großen Koalition vorgelegten Änderungsantrag
hat es durchaus Bewegung in die richtige Richtung gegeben. Sie sehen Bußgelder, das heißt das Instrument der
Sanktionen, vor. Das Problem ist aber: Wenn Sie ein
Bußgeld für Unternehmen verhängen - das kann bis zu
100 000 Euro gehen -, wird es nur dann fällig, wenn die
betreffende Störung tatsächlich zum Schaden führt. Welchen Anreiz bieten Sie damit? Sie geben nicht den Anreiz, dass entsprechende Fälle gemeldet werden. Also,
auch das passt nicht zusammen, auch das ist nicht zielführend.
({6})
Es fehlt bei Ihnen einfach die Anreizmotivation für die
Unternehmen. Und weil die eben fehlt, können Sie auch
nicht die entsprechenden Maßnahmen durchführen, die
wir brauchen.
Ich komme jetzt - Herr Reichenbach hatte darauf abgehoben - zur Rolle des BSI. Wir haben durchaus auf
die SPD gesetzt. Sie haben immer wieder die Unabhängigkeit des BSI proklamiert und gefordert, das BSI aus
der Verantwortung des BMI herauszunehmen. Das ist
jetzt liegen geblieben wie anderes auch. Es ist ein grundlegender Konstruktionsfehler des Gesetzes, wenn Sie einerseits dem BSI eine zentrale, gewichtige Rolle zuweisen, andererseits aus dem BSI aber kein unabhängig
gestelltes Bundesamt machen. Das ist unsere Forderung.
In die Richtung müssen Sie gehen. Solange Sie das nicht
tun, verfolgen Sie auch nicht den richtigen Ansatz.
({7})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, in Zeiten von NSA
und Snowden sorgt all das, was Sie vorlegen - auch das,
was wir gerade erleben -, nicht gerade für Vertrauen aufseiten der Bürger und auch nicht aufseiten der Unternehmen. Wir haben in unserem Entschließungsantrag Vorschläge gemacht, die in die richtige Richtung gehen.
Schaffen Sie positive Anreize für die Wirtschaft, ihre
IT-Sicherheitskonzepte stetig und proaktiv fortzuentwickeln und zu pflegen! Setzen Sie einen IT-Sicherheitsansatz um, der möglichst auf der unabhängigen Auditierung und Zertifizierung von Produkten und Verfahren,
also auf sogenannten Penetrationstests, basiert!
({8})
Denn es macht doch keinen Sinn, dass Sie nur auf Meldungen setzen und nicht dynamisch prüfen. Sie müssen
dynamisch prüfen. Das Internet ist dynamisch, die Bürokratie ist bürokratisch. Das muss zusammengehen; aber
das kommt in diesem Gesetz nicht zusammen.
Ich komme zum Schluss. Wir lehnen das von Ihnen
vorgelegte Gesetz ab, da es keinen Ansatz für präventive
Maßnahmen bietet. Sie schaffen damit keine Sicherheit
bei Wirtschaft, Verwaltung und Bevölkerung. Das Gesetz trägt einen Titel; es hält aber dieses Versprechen
nicht. Deswegen lehnen wir dieses Gesetz ab.
Vielen Dank.
({9})
Das Wort erhält nun der Kollege Stephan Mayer für
die CDU/CSU.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen! Sehr geehrte Kollegen! Ich glaube, man kann mit
Fug und Recht behaupten, dass die digitale Infrastruktur,
die Systeme der Information und der Telekommunikation mittlerweile das Rückgrat unserer modernen Gesellschaft sind. Unser Arbeits- und Wirtschaftsleben, die ehrenamtliche Tätigkeit, aber auch in vielen Bereichen
unser privates Leben wären ohne eine funktionierende
IT-Infrastruktur nicht mehr denkbar. Unser Leben wird
dadurch in vielerlei Hinsicht einfacher und bequemer.
Wir erleben es ja derzeit selbst als Parlamentarier: In
allen Lebensbereichen steigt in zunehmendem Maße
auch die Abhängigkeit von einer funktionierenden und
sicheren IT-Infrastruktur. Deshalb ist es richtig und
wichtig, dass wir dieses IT-Sicherheitsgesetz - dieses
Gesetz zum Schutz kritischer Infrastrukturen - so stringent vorangetrieben haben und heute in der zweiten und
dritten Lesung abschließend behandeln.
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, das
Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik
geht davon aus, dass bundesweit mehr als 1 Million Internetrechner Teil eines sogenannten Botnetzes sind. Das
heißt, die Inhaber eines Rechners wissen nichts davon,
dass ihr Rechner mittlerweile von einer hochkriminellen
Organisation gekapert wurde und jederzeit für deren perfide Zwecke ferngesteuert werden kann. Man geht mittlerweile davon aus, dass es über 250 Millionen verschiedene Varianten von Schadprogrammen gibt. Angeblich
kommen jeden Tag 300 000 neue Varianten hinzu.
Das zeigt, wie groß die Dimensionen sind und wie
brisant dieses Thema ist. Das betrifft alle Bereiche, aber
vor allem natürlich die Bereiche, die existenziell, zumindest essenziell für unser tagtägliches Leben sind. Das
sind die Bereiche der Daseinsvorsorge. Es geht um Energie, Telekommunikation, Ernährung, Transport, Banken
und Versicherungen, aber auch um die Wasserversorgung.
Es ist richtig, dass wir mit dem Gesetzentwurf zum
Schutz kritischer Infrastrukturen Mindeststandards für
die Sicherheit der Betreiber kritischer Infrastrukturen
schaffen. Herausragend finde ich an diesem Gesetz den
kooperativen Ansatz. Es ist nicht so, dass den Betreibern
Stephan Mayer ({0})
kritischer Infrastrukturen von oben aufoktroyiert wird,
was sie zu tun und zu lassen haben; vielmehr werden die
Betreiber kritischer Infrastrukturen in die Erarbeitung
der Mindeststandards intensiv mit eingebunden. Sie werden einbezogen von dem Kompetenzzentrum, dem zukünftigen Meldezentrum, dem Bundesamt für Sicherheit
in der Informationstechnik.
Mir ist es auch wichtig, darauf hinzuweisen, dass
nicht jede Störung mit Klarnamen des Unternehmens genannt werden muss. In der Wirtschaft wurde die Befürchtung geäußert, dass sich eine Prangerwirkung dadurch ergibt, dass, wenn jede Störung genannt werden
muss, letzten Endes auch ein großer Schaden, vielleicht
eine gewisse Rufschädigung für das Unternehmen entstehen kann. Dem ist nicht so. Es müssen nur die erheblichen Störungen gemeldet werden, die zu einem Ausfall
bzw. einer Funktionsbeeinträchtigung führen. Ich glaube,
das ist ein sehr vernünftiger, ein sehr weiser Ansatz.
({1})
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, wir
verpflichten darüber hinaus Telekommunikationsunternehmen, dass sie in Zukunft ihre Kunden informieren,
wenn bekannt ist, dass die Infrastruktur eines Kunden
schadhaft ist. Das haben bisher schon viele Telekommunikationsunternehmen gemacht, aber mit diesem Gesetz
wird es verpflichtend für alle.
Wir erteilen darüber hinaus dem BSI die Erlaubnis,
dass es in Zukunft IT-Produkte auch auf Sicherheit überprüfen und diese Überprüfungen entsprechend kommunizieren kann. Auch dies ist ein wichtiger Mehrwert.
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, wir
haben es uns mit diesem Gesetz nicht einfach gemacht.
Wir haben eine intensive Sachverständigenanhörung
durchgeführt. Wir haben viele Gespräche mit betroffenen Unternehmen, mit Unternehmensverbänden, aber
auch mit vielen anderen Vertretern der Community geführt. Wir haben gemeinsam einen Änderungsantrag erarbeitet, der meines Erachtens wesentliche Verbesserungen enthält. Zum einen wird die Rolle des Bundesamtes
für Sicherheit in der Informationstechnik deutlich gestärkt. In Zukunft ist es möglich, dass das Bundesamt für
Sicherheit in der Informationstechnik nicht nur für den
Ressortbereich des BMI zuständig ist, sondern für die
gesamte Bundesregierung, also für alle anderen Ressorts, Mindeststandards für die IT-Sicherheit festlegen
darf.
({2})
Des Weiteren haben wir eine Mitwirkungspflicht vorgesehen für die Hersteller von IT-Produkten, vor allem
von Softwareprodukten. Es ist auch ein wichtiger Mehrwert, dass in Zukunft eine gesetzliche Verpflichtung besteht, dass also die Hersteller der Softwareprodukte vom
BSI verpflichtet werden können, zur Vermeidung von
Störungen oder zur Behebung von eingetretenen Störungen beizutragen.
Umstritten sind in der Wirtschaft die Sanktionsmöglichkeiten, die wir vorsehen. Es ist mir wichtig, darauf
hinzuweisen, dass es bei den Sanktionsvorschriften nicht
darum geht, die Wirtschaft zu gängeln; vielmehr geht es
darum, dafür zu sorgen - jeder muss Interesse daran haben -, dass dieses Gesetz kein zahnloser Tiger ist. Nur
mittels dieser Sanktionsvorschriften wird erreicht, dass
Störungen, die zu einem Schaden geführt haben, gemeldet werden. Das entspricht dem kooperativen Ansatz
dieses Gesetzes. Es geht nicht nur darum, dass wie in einer Einbahnstraße Störungen gemeldet werden müssen.
Die Betreiber kritischer Infrastrukturen erfahren im Gegenzug vom BSI, wie die Bedrohungssituation ist, dass
man sich gegen bestimmte mögliche Angriffe zur Wehr
setzen muss und dass man mehr tun muss. Es ist also
keine Einbahnstraße; vielmehr geht der Ansatz in beide
Richtungen. Das kann nur funktionieren, wenn die betroffenen Unternehmen, die einen konkreten Schaden
erfahren haben, verpflichtet werden - durchaus auch
bußgeldbewehrt verpflichtet werden -, diesen Schaden
zu melden. Darüber hinaus entspricht diese Sanktionsvorschrift auch den Regelungen, die schon heute im
Energiewirtschaftsgesetz für Energieversorgungsunternehmen oder auch im Telekommunikationsgesetz für
Telekommunikationsunternehmen enthalten sind. In der
parallel sich auf europäischer Ebene in Verhandlung befindlichen NIS-Richtlinie - das ist auch schon erwähnt
worden - werden nach dem aktuellen Stand der Verhandlungen verpflichtende Sanktionsvorschriften mit
vorgesehen. Deswegen ist es nur richtig, dass wir jetzt
auch schon mit diesem Gesetz Sanktionsvorschriften implementieren.
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, wir
sehen eine Evaluierung des Gesetzes vier Jahre nach Inkrafttreten der Verordnung vor. Ich glaube, dass dies
richtig ist; denn wir sehen selbst - man ist ja selbst fassungslos -, wie rasant die Entwicklung ist, wie komplex
die Angriffe mittlerweile sind, wie schwer sie teilweise
überhaupt zu detektieren sind. Insofern ist es richtig,
dass wir dieses Gesetz und die damit in Verbindung stehende Verordnung vier Jahre nach ihrem Inkrafttreten einer intensiven Evaluierung unterziehen.
Wichtig war es auch vielen Vertretern der Unternehmen, aber vor allem auch vielen Kollegen, dass wir, auch
was die Verordnungsermächtigung anbelangt, klare
Vorgaben machen, nach welchen Kriterien festgelegt
werden soll, welches Unternehmen jetzt zur kritischen
Infrastruktur gehört und welches nicht, also welches
Unternehmen vom Gesetz betroffen sein wird und welches nicht. Deswegen ist es richtig, dass wir in der Verordnung branchenspezifische Schwellenwerte festlegen
und dies auch im Gesetz entsprechend deutlich machen.
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, dieses Gesetz ist aus meiner Sicht ein wichtiger Schritt nach
vorne, was die Erhöhung der IT-Sicherheit anbelangt. Es
ist ein Etappenerfolg. Es ist mit Sicherheit nicht das
Ende unserer Bemühungen und der Gespräche zur Verbesserung der IT-Sicherheit. Aber ich glaube, wir können mit Fug und Recht behaupten: Wir sind als deutscher Gesetzgeber mit diesem Gesetz Schrittmacher auf
europäischer Ebene. Eines - das möchte ich zum Abschluss sagen - muss uns auch klar sein: IT-Sicherheit
kann nie an den nationalen Grenzen enden, sondern es
bedarf immer eines europäischen, vielleicht sogar eines
Stephan Mayer ({3})
weltweiten Ansatzes. Sehr geehrter Herr Kollege
Janecek, wir sind alles andere als ein „Entwicklungsland“. Ich glaube, mit diesem Gesetz sind wir durchaus
Schrittmacher, was die jetzt laufenden Verhandlungen
auf europäischer Ebene anbelangt. Deswegen bitte ich
herzlich um Zustimmung zu diesem zukunftsweisenden
Gesetz.
Herzlichen Dank.
({4})
Nächste Rednerin für die Fraktion Die Linke ist die
Kollegin Petra Sitte.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das IT-Sicherheitsgesetz soll den Schutz kritischer Infrastrukturen
vor Angriffen auf deren IT-Netze unterstützen. Komischerweise ist im Gesetz aber gar nicht definiert, was unter diesen kritischen Infrastrukturen zu verstehen ist.
({0})
Das soll künftig erst eine Verordnung regeln. Ich finde,
Gesetzentwürfe, bei denen unklar ist, worauf sie sich eigentlich konkret beziehen, bedürfen keiner Beratung
durch den Bundestag, sondern einer Überarbeitung
durch den Einreicher.
({1})
Unser Hohes Haus, der Bundestag selbst, hält im besten Wortsinne auch kritische Infrastrukturen vor - der
Opposition sei Dank. Nehmen wir doch mal an, das Gesetz gälte eben auch für uns als Parlament. Etwa
20 000 Accounts haben Zugriff auf Server und Netze des
Bundestages. Schon jetzt ist der Begriff „Drucksache“
eigentlich ein Anachronismus. Künftig werden wahrscheinlich nur noch Alterspräsidenten oder -präsidentinnen wissen, was man damit anfangen kann.
({2})
Ein Parlament ohne funktionierendes und sicheres
Datennetz ist heutzutage, wie wir erfahren haben, leider
ziemlich aufgeschmissen. Wir alle haben größtes Interesse daran, dass unsere Rechner funktionieren und dass
eben keine Daten abfließen. Trotz aller Bemühungen um
IT-Sicherheit im Bundestag hat es einen Angriff geben.
Technisch versiert ist man ziemlich tief in die Datennetze des Bundestages eingedrungen. Daten sind eben
abgeflossen, und das Netz ist kompromittiert.
Nach IT-Sicherheitsgesetz müsste nun gemeldet werden. Solche Vorfälle dürfen also nicht verschwiegen
werden, sie dürfen nicht als Interna behandelt werden,
schon gar nicht dürfen sie ausgesessen werden.
({3})
Vielmehr sollen sich die Betreiber kritischer Infrastrukturen an Prävention, an Aufklärung und natürlich erst
recht an der Beseitigung der Folgen von Angriffen beteiligen. Der Bundestag versucht das seinerseits. Er arbeitet
an der Aufklärung des Angriffes und an der Beseitigung
der Folgen. Die zuständige Kommission des Ältestenrates bemüht sich ebenfalls um Aufklärung und um Information. Für uns Abgeordnete geht es natürlich in erster
Linie um die Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit des
Bundestages.
Bekanntermaßen sind die Verwaltung des Bundestages, daneben aber auch beratend das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik, das Bundesamt für
Verfassungsschutz und - bezogen auf die gesamte strafrechtliche Relevanz - der Generalbundesanwalt, eventuell auch das BKA, die Instanzen der Aufklärung. Angriffe einiger Pressekommentatoren, wie in den letzten
Tagen erfolgt,
({4})
gegen die IuK-Kommission und vor allen Dingen gegen
die Vorsitzende dieser Kommission gehen daher vollkommen an der Sache vorbei.
({5})
Es gibt keinerlei Belege, nach denen an der Integrität der
Kommissionsvorsitzenden und Vizepräsidentin gezweifelt werden könnte. Das will ich hier ganz klar sagen.
({6})
Zu nachhaltiger Aufklärung gehört aus unserer Sicht
vor allem Transparenz, und zwar nicht erst am Ende,
wenn es um den Täter und dessen Ziele geht, sondern
bereits im Prozess der Aufklärung, der wohl noch Monate dauern wird. Aber wir alle sind doch mündige Nutzer und sollten wissen, was mit unseren Daten geschieht.
IT-Angelegenheiten dürfen keine Blackbox sein, erst
recht nicht in öffentlichen Bereichen. Diese Auffassung
widerspricht keinesfalls hohen Standards für die IT-Sicherheit, im Gegenteil: Offene Software, offene Prozesse und offene Kommunikation unterstützen die Beseitigung von Datenlecks und helfen nun einmal viel
besser bei der Aufklärung als jegliche Geheimniskrämerei.
({7})
Das IT-Sicherheitsgesetz sieht nun einen ordentlichen
Aufwuchs an Stellen nicht nur beim BSI und beim BKA,
sondern auch bei den Geheimdiensten, beim Bundesnachrichtendienst und beim Verfassungsschutz vor.
Meine Kollegin Petra Pau hat es vorhin erwähnt: Geheimdienste mischen, wie wir durch Edward Snowden
wissen, beim Datenklau kräftig mit. Sogenannte Sicherheitskreise, die derzeit in den Medien zitiert werden, vermuten auch hinter dem aktuellen Angriff auf den Bundestag einen sogenannten feindlichen Geheimdienst. So
gesehen sind Geheimdienste eher ein Sicherheitsrisiko.
({8})
Seitdem wir wissen, dass deutsche Dienste zusammen
mit NSA und Co. auch Daten der eigenen Bürgerinnen
und Bürger sowie der europäischen Partner sammelten,
({9})
stecken diese Dienste in einer tiefen Vertrauenskrise; das
kann doch überhaupt nicht verwundern. Warum bitte
sollte eine Firma, die Sicherheitslecks im eigenen Datennetz gefunden hat, diese Information ausgerechnet mit
den Geheimdiensten teilen wollen, denen Beihilfe zur
Wirtschaftsspionage vorgeworfen wird? Das klingt doch
alles ziemlich abstrus.
({10})
Ich komme zum Schluss. Wir sind uns einig: Wir
brauchen mehr IT-Sicherheit. Die im vorgelegten IT-Sicherheitsgesetz enthaltenen Maßnahmen gehen jedoch
an einer echten Problemlösung vorbei. Es ist vor allem
ein „Geheimdienstaufbaugesetz“. Außerdem führt es
- meine Damen und Herren, das ist nicht zu vergessen von hinten durch die kalte Küche die Vorratsdatenspeicherung ein. Besser als die Blogger von netzpolitik.org
kann man es nicht auf den Punkt bringen: Es wird hier
und heute ein „IT-Sicherheitssimulationsgesetz“ verabschiedet werden.
({11})
Der Kollege Metin Hakverdi ist der nächste Redner
für die SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Das IT-Sicherheitsgesetz ist ein überfälliger,
notwendiger Schritt zum Aufbau einer Sicherheitsarchitektur für das digitale Leben in unserem Land. Die Enthüllungen Edward Snowdens und millionenfacher Datendiebstahl haben das Vertrauen der Menschen in die
digitale Zukunft tiefgreifend gestört. Kriminelle, Hacker,
ausländische Geheimdienste - sie alle verlagern ihre Aktivitäten mit der wachsenden digitalen Durchdringung
aller gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebensbereiche eben in diese digitale Welt.
Heute kann man aus der Ferne von nahezu jedem Ort
der Welt zu jedem beliebigen Zeitpunkt einen Angriff
starten. Laut Lagebericht zur IT-Sicherheit in Deutschland übersteigt die Gesamtzahl der PC-basierten Schadprogrammvarianten inzwischen die 250-MillionenMarke, es gibt in Deutschland jeden Monat mindestens
1 Million Infektionen durch Schadprogramme, und die
Zahl der Schadprogrammvarianten steigt täglich um
300 000. Diese schier unglaublichen Zahlen zeigen: Mit
solchen Angriffen finanziert sich heute schon eine ganze
kriminelle Industrie. Diese kriminelle Industrie ist arbeitsteilig organisiert: von der Aufdeckung von Softwareschwachstellen über die Entwicklung von Produkten zur gezielten Ausnutzung dieser Schwachstellen und
der Vermarktung dieser Produkte bis hin zur wirtschaftlichen oder anderweitigen Verwertung.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben es nicht
mit jungen Hackern zu tun, wie sie in den 90er-Jahren in
Hollywood-Blockbustern vom FBI gejagt wurden; diese
Zeiten sind vorbei. Es handelt sich heute um professionell organisierte kriminelle Strukturen oder gar um Geheimdienste, die ohnehin mit ganz anderen Ressourcen
ausgestattet sind.
Das IT-Sicherheitsgesetz ist ein wichtiger Schritt für
die Sicherheit unserer industriellen Produktion. Systeme
zur Fertigungs- und Prozessautomatisierung werden im
Zeitalter von Industrie 4.0 mit dem Internet vernetzt.
Dieser Prozess schreitet voran. Das Risiko, dass unsere
industrielle Produktion durch Angriffe aus der digitalen
Welt existenzbedrohliche Auswirkungen erleidet, steigt.
Die Digitalisierung unserer Industrie darf nicht zur
Achillesferse unserer Wirtschaft werden!
({0})
Das ist die Bedrohungslage, mit der wir es zu tun haben.
Mit dem IT-Sicherheitsgesetz schreiben wir vor, dass
Unternehmen, die von großer Bedeutung für unser Gemeinwesen als Ganzes sind, ihre IT-Sicherheit auf dem
Stand der Technik halten müssen. Bereits heute wäre für
mehr Sicherheit gesorgt, wenn die vorhandene und installierte Sicherheitstechnik adäquat eingesetzt würde.
Ein großes Handicap hierbei ist, dass Sicherheitstechnik
als nicht anwenderfreundlich empfunden wird. Hier scheint
es Verbesserungsmöglichkeiten zu geben. Sicherheitstechnik muss anwenderfreundlich entwickelt werden. Wichtig
sind neben der Technik die Menschen, die diese Technik
anwenden. Der beste technische Standard hilft überhaupt
nicht, wenn er falsch eingesetzt wird. Die Unternehmen
trifft die wichtige Aufgabe, ihre Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter besonders zu schulen und zu sensibilisieren.
Für IT-Sicherheit sorgen gut ausgebildete Menschen und
nicht die Technik allein.
({1})
Auf einen Aspekt möchte ich besonders hinweisen:
Nach § 100 Telekommunikationsgesetz dürfen Unternehmen zur Störungserkennung und -beseitigung Daten
sammeln. Die Praxis zeichnet sich durch unterschiedliche Speicherdauern aus. Beim Thema Datensammeln
stehen Freiheit und Sicherheit in einem besonderen
Spannungsverhältnis. Die Balance zwischen Freiheit
und Sicherheit ist ein ständiger Abwägungsprozess. Bei
der Abwägung, wie viele Daten und für wie lange
diese Daten gespeichert werden, müssen die Unternehmen besonders sorgfältig sein. Ich frage mich, wie
die unterschiedliche Speicherdauer bei den verschiedenen Telekommunikationsdienstleistern gerechtfertigt
werden soll. Die Internetprovider oder Telekommunikationsdienstleister müssen zu einheitlichen Speicherdauern bei sensiblen Daten kommen. In der Kürze liegt die
Würze, dieser Grundsatz ist besonders bedeutsam, wenn
es um die Speicherung von sensiblen Daten der Bürgerinnen und Bürger geht.
Der Bundesgerichtshof hat in einem Urteil aus dem
letzten Jahr erklärt, dass § 100 Telekommunikationsgesetz mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Europäischen Gerichtshofs vereinbar ist.
Die genaue Lektüre des Urteils zeigt, dass der Bundesgerichtshof wegen der kurzen Speicherdauer keinen
Konflikt mit der höchstrichterlichen Rechtsprechung gesehen hat. Deshalb lege ich den Telekommunikationsunternehmen den Grundsatz der Datensparsamkeit besonders ans Herz.
({2})
Nachdenklich hat mich ein Punkt im Gesetzentwurf
gemacht, über den ich hier sprechen möchte: Der Kompetenzzuwachs beim Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik, insbesondere die Einbeziehung der
Bundesbehörde in den Anwendungsbereich des Gesetzes, ist - das muss man hier deutlich sagen - heikel. Ich
bin mir nicht sicher, ob die Anbindung des Bundesamtes
für Sicherheit in der Informationstechnik beim Bundesinnenministerium heute noch gerechtfertigt ist. Immerhin ist das BSI berechtigt, von anderen Bundesbehörden
Protokolldaten abzufragen.
({3})
Verträgt sich dies mit der Staatsorganisation unseres
Landes? Wie verträgt sich das mit dem Ressortprinzip?
Am Ende kommt es darauf an, lieber Herr Kollege, wie
die Anbindung vonseiten des Bundesinnenministeriums
tatsächlich, faktisch gelebt wird.
Ich kann mir vorstellen, dass das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik perspektivisch zu einer unabhängigen Behörde nach dem Vorbild der Bundesdatenschutzbeauftragten weiterentwickelt wird. Eine
solche unabhängige oberste Bundesbehörde hätte die
Aufgabe, die IT-Sicherheit bei allen Verfassungsorganen
sicherzustellen. Eine solche Behörde würde über die
IT-Sicherheit in unserem Land wachen. Eine solche unabhängige oberste Bundesbehörde wäre die Partnerin der
Bundesdatenschutzbeauftragten.
Insgesamt liegt uns ein Gesetzentwurf vor, der rund
und auch für die Opposition zustimmungsfähig ist. Die
Koalitionsfraktionen haben bei der Verbesserung dieses
Gesetzes gute Arbeit geleistet. Wir haben die wesentlichen Kritikpunkte aus der öffentlichen Anhörung aufgenommen. Das betrifft den Punkt der Sanktionsregime für
den Fall von Verstößen gegen IT-Sicherheitsstandards,
und das betrifft die Einbeziehung von Bundesbehörden
in den Anwendungsbereich des Gesetzes. Besonders
freut mich die obligatorische Evaluation, die aus diesem
Haus gefordert wurde und nun Gesetz wird. Dafür ein
großer Dank an die Kolleginnen und Kollegen!
IT-Sicherheit, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist
eine Daueraufgabe. Wir sollten uns nicht scheuen, auch
bei der Entwicklung des rechtlichen Rahmens auf der
Höhe der Zeit zu sein.
Vielen Dank.
({4})
Das Wort erhält nun Renate Künast, Bündnis 90/Die
Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Selten war
ja eine Debatte im Deutschen Bundestag so tagesaktuell
wie diese. Lassen Sie mich auf ein Zitat, das ich gestern
gelesen habe, zu sprechen kommen. Da wurde geschrieben, das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik sei zu dem Ergebnis gekommen, dass das Netz
des Bundestages nicht mehr gegen den Angriff verteidigt
werden könne und aufgegeben werden müsse.
({0})
Das hat mich eine Sekunde lang fasziniert.
({1})
- Ja, eine Sekunde lang hat mich das fasziniert, Herr
Binninger, weil mir gleich das Bild einer Schlacht durch
den Kopf ging.
({2})
Wir haben eine Schlacht verloren, meine Damen und
Herren - so kann man das sehen -,
({3})
eine Schlacht gegen eine Cyberattacke, einen Cyberangriff.
Aber sehen wir uns einmal an, wie wir darauf reagieren. Fakt ist doch: Wir wissen nicht einmal, gegen wen
wir die Schlacht verloren haben, oder?
({4})
- Na ja, Preußen wusste schon, gegen wen es die
Schlacht bei Jena und Auerstedt verloren hatte.
({5})
- Genau; nicht, warum. - Wir aber wissen nicht, gegen
wen wir sie verloren haben; das ist für die Analyse aber
nicht unwichtig. Wir wissen auch nicht genau, warum
wir sie verloren haben.
({6})
Wir haben aber eine Ahnung, liebe Kolleginnen und
Kollegen, dass der Bundestag mit seiner Software und
seinen Kontrollmöglichkeiten hier nicht wirklich ordentlich aufgestellt war. Jetzt höre ich in dieser Debatte, in
der es um tatsächliche Cyberangriffe geht, die also nicht
etwa in höheren Sphären stattfindet, plötzlich etwas von
Ressortprinzip und Meldepflicht. Das ist meine zweite
Verwunderung: Ich finde, das passt nicht zusammen und
ist dem Problem nicht angemessen, meine Damen und
Herren.
({7})
Ja, wir brauchen eine gesetzliche Regelung, und es ist
gut, dass wir eine Anhörung hatten. Aber ich muss Ihnen
sagen: So wie dieser Gesetzentwurf gemacht wurde
- selbst mit den Änderungen, die noch vorgenommen
wurden -, ist er nicht angemessen. Er geht schon von einem alten IT-Verständnis aus. Es geht, ganz bürokratisch, um Meldepflichten und Sanktionen. Als ob es uns
hilft, wenn jemand zum Beispiel 10 000 Euro zahlen
muss, weil er seiner Meldepflicht nicht nachgekommen
ist! Ich finde, der Gesetzentwurf ist handwerklich
schlecht gemacht. Es kommt zu einer Fokussierung auf
die Meldepflicht. Aber es fehlt eine Aktivierung der
Wirtschaft und der eigenen Interessen der Unternehmen,
für Sicherheit zu sorgen.
({8})
Ich finde, dieses alte IT-Verständnis ist ein bisschen
mittelalterlich - es erinnert an die Frühphase der Erfindung des Computers -, und aus den NSA-Vorkommnissen und den Snowden-Berichten wurde nichts gelernt,
meine Damen und Herren. Wir sind zum Teil nicht einmal in der Lage, die Selektoren, die uns die NSA
schickt, zu verstehen. Wir wissen ja gar nicht, was diese
Nullen und Einsen materiell eigentlich bedeuten, um
nachvollziehen zu können, ob wir selber ausgespäht
werden. Nein, das reicht nicht.
Die Frage muss doch lauten: Wie muss unsere Infrastruktur aussehen, und wo bzw. wie können wir uns konkret schützen? Herr Mayer hat in seinem Beitrag vorhin
von einem kooperativen Ansatz geredet. Ich sage Ihnen:
Ja, okay, Herr Mayer; ein kooperativer Ansatz ist gut.
Aber wenn Sie nicht auf der richtigen Ebene agieren,
sondern auf der Ebene von Meldepflichten und Ähnlichem, nützt Ihnen die Kooperation an dieser Stelle auch
nichts.
Wir müssen uns wirklich mit der Prozesshaftigkeit
des Themas auseinandersetzen. Die Gewährleistung von
Sicherheit ist nämlich kein Produkt, das von einem Bundesamt oder einer Bundessicherheitsbehörde zertifiziert
wird und an das dann ein Haken gemacht wird. Es reicht
auch nicht, den neuesten Stand der Technik zu berücksichtigen, vielleicht sogar noch unter finanziellen Gesichtspunkten. Nein, Sicherheit kann hier nur gewährleistet werden, wenn man jemanden zwingt, Standards
einzuhalten, regelmäßige Risikoanalysen durchzuführen,
Gefahrenlagen zu konkretisieren, Szenarien zu entwickeln, und zwar stündlich und täglich neu. Da passt Ihr
bürokratisches System gar nicht hinein.
({9})
Neulich habe ich auf einer Reise in die USA sehen
können, wie dort Sicherheit hergestellt wird. Dort lässt
man sich nicht von Sanktionen beeindrucken. Dort werden Teams aufgestellt. Es gibt ein red Team und ein blue
Team, also ein rotes Team und ein blaues Team. Die Roten müssen ständig angreifen, und die Blauen müssen
verteidigen, müssen diesen Angriff überhaupt erst einmal ausfindig machen.
({10})
Das hört sich vielleicht kurios an, aber dadurch wird
Kreativität freigesetzt. Ihr technokratischer Gesetzentwurf hingegen enthält null Angebote, um das Spiel der
Hacker mit uns zu simulieren.
({11})
Sie reden immer vom Schutz der kritischen Infrastruktur. Es ist ja richtig, dass dieser Schutz wichtig ist,
aber Sie erwähnen an keiner Stelle den Schutz des
Grundrechts auf Vertraulichkeit und Integrität der informationstechnischen Systeme. Dazu hat das Bundesverfassungsgericht schon 2008 eine Entscheidung gefällt.
Es hat festgestellt, dass der Staat Bürgerinnen und Bürger und Unternehmen schützen muss.
Angesichts der Aktualität dieses Themas muss ich Ihnen sagen, was mich besonders verwirrt: Uns liegt heute
ein Gesetzentwurf zur IT-Sicherheit vor, der angesichts
der rasanten Entwicklung im Bereich der Informationstechnologie regelrecht mittelalterlich erscheint. Aber
gleich, in der anschließenden Debatte zur Vorratsdatenspeicherung, wird gesagt werden, in welchen Bereichen
wir Massen an Daten speichern werden, obwohl wir an
dieser Stelle noch gar nichts gelöst haben. Legen Sie
diese beiden Gesetzentwürfe in ihrer ganzen Unzulänglichkeit einmal übereinander. Jetzt wollen Sie eine Meldepflicht normieren, und gleich werden Sie sagen, dass
die Telekommunikationskontaktdaten aller Bürgerinnen
und Bürger zentral, wenn auch offline, gespeichert werden sollen. Es gibt aber einen Zugang, und die Daten
werden zum Teil auch abgefragt werden. Ihr Gesetzentwurf bietet an dieser Stelle überhaupt keine Sicherheit.
({12})
Mein Vorschlag lautet: Legen Sie gleich beide Gesetzentwürfe weg. Organisieren Sie Sicherheit als Prozess. Sorgen Sie für einen ständigen Anreiz für die Wirtschaft und die Betreiber der kritischen Infrastruktur,
dranzubleiben. Setzen Sie Standards, und fangen Sie an,
auch die sonstigen Rechtsbereiche anders zu regeln.
Sicherheit stellen Sie übrigens nur her, wenn Sie
Open-Source-Produkte nutzen.
Frau Kollegin.
Letzter Gedanke. - Bei Open-Source-Produkten kann
man Sicherheitslücken nicht verstecken, sondern jeder
kann schauen, ob Sicherheitslücken bestehen und Abhilfe schaffen.
({0})
Sorgen Sie dafür, dass der Staat Sicherheitslücken nicht
geheim hält oder sogar anhäuft. Fangen Sie endlich an.
Sorgen Sie endlich für Sicherheit, nicht nur mittels moderner Technik, sondern auch durch kreative Analyseformen und das Durchspielen von Gefahrensituationen.
({1})
Clemens Binninger ist der nächste Redner für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Der Innenminister hat vorhin einen interessanten Satz
gesagt, den man etwas mit Fakten untermauern muss;
denn dann wird das Problem, glaube ich, deutlich. Er hat
gesagt: Über das Netz des Bundes, zu dem der Deutsche
Bundestag nicht gehört, hat das BSI einen stabilen
Schutzschild gelegt. Er verhindert Angriffe wie den, den
wir jetzt erleben müssen.
({0})
Wenn man wissen will, wie viele Angriffe jeden Tag verhindert werden, um die Dimension der Bedrohung wahrnehmen zu können, muss man sich die Zahlen anschauen: Dieser Schutzschild verhindert jeden Monat
90 000 Zugriffe von Rechnern der Bundesverwaltung
auf infizierte Server. 90 000 Mal wäre es sonst dazu
gekommen, dass ein Mitarbeiter durch einen versehentlichen Klick auf einem Server landet, der mit
Schadsoftware infiziert ist oder Teil eines Botnetzes ist.
In 90 000 Fällen ist das verhindert worden.
Dieser Schutzschild verhindert jede Woche 15 bis 20
oder gar mehr hochkomplexe Angriffe auf das Netz.
({1})
Darunter ist jeden Tag mindestens einer mit Nachrichtendiensthintergrund. Das ist die Dimension der Bedrohung. Hier wissen wir es. Bei uns selber, wo wir für die
IT-Sicherheit verantwortlich sind, wissen wir das nur
sehr begrenzt.
Frau Kollegin Pau, ich bin Ihnen dankbar für die
Klarstellung, dass Sie natürlich nichts dagegen haben,
dass auch der Deutsche Bundestag, wenn er so angegriffen wird, wie er jetzt angegriffen wurde, auf die
Expertise der Sicherheitsbehörden, des BSI und des
Bundesamts für Verfassungsschutz, zurückgreift, ja, zurückgreifen muss.
Frau Kollegin Künast, es war eben ein anderer Eindruck, den man in den letzten Tagen aus der Debatte haben musste. Man musste den Eindruck gewinnen, dass
die Opposition angesichts dieses Angriffs auf den Deutschen Bundestag, anstatt sich der Expertise der Sicherheitsbehörden zu bedienen, lieber alleine vor sich hingewurstelt hätte. Das ist so ähnlich, als ob bei einem
Hausbrand der Besitzer vor dem Haus steht und die Feuerwehr ablehnt, weil ihm die Farbe nicht gefällt, und
stattdessen eine Löscheimerkette machen würde. So
wurde Ihre Position wahrgenommen.
({2})
- Mit der Farbe hättet ihr kein Problem, Gerold, und mit
der Feuerwehr wahrscheinlich auch nicht. - Aber das beschreibt das Problem, vor dem wir stehen. Deshalb, weil
wir kein Lagebild haben, was die Bedrohung der Industrie angeht, das so konkret ist wie beim Netz des Bundes,
brauchen wir ein Gesetz, in dem wir festlegen, was eine
kritische Infrastruktur in den Bereichen Logistik, Verkehr, Energie, Wasser, Gesundheit oder Ernährung ist.
Wir müssen Mindeststandards vorgeben. Dagegen kann
man doch nichts sagen. Ich weiß nicht, ob ich Sie, Frau
Künast, falsch verstanden habe. Aber Sie sagen ernsthaft, das sei schlecht, und fordern dann gleichzeitig
Standards.
({3})
Wir geben sie jetzt vor. Aber zunächst einmal muss
man wissen, welche Bereiche zur kritischen Infrastruktur gehören. Was sind die Standards für die Sicherheit
des IT-Systems eines Energieversorgers? Wollen wir
große Stadtwerke so laufen lassen, wie sie sind? Vielleicht gibt es dann einen Blackout in einer großen Stadt.
Um das zu vermeiden, wollen wir Standards vorgeben.
Das machen wir jetzt. Wir geben sie auch für die Bundesregierung vor. Wir haben etwas gemacht, was das
Ressortprinzip gerade aufhebt.
In der Vergangenheit war es so, dass jedes Ministerium am besten wusste, was für die IT-Sicherheit das
Beste ist. Das haben wir jetzt geändert. Das BSI gibt die
Standards vor, und damit hat man einheitliche Sicherheitsmechanismen. Das ist der einzige Weg, der richtig
ist. Wir wollen keinen Flickenteppich mit Insellösungen,
wir wollen nicht, dass jeder etwas anderes macht. Wir
wollen einheitliche Standards. Die geben wir mit dem
Gesetz vor, und damit leisten wir einen wichtigen Beitrag zur IT-Sicherheit auch des Bundes.
({4})
Jetzt komme ich zum Thema Meldepflicht. Frau Kollegin Künast, ich weiß nicht, ob Sie die Bestrebungen
der letzten Jahre mitverfolgt haben. Es gab eine ganze
Reihe von kooperativen Ansätzen mit der Industrie. Es
gibt KRITIS, es gibt Austauschplattformen, aber diese
basierten immer auf freiwilliger Meldung. Jetzt machen
wir uns nichts vor: Es ist für ein Unternehmen überhaupt
nicht attraktiv, sagen zu müssen: Gestern wurde unser
Rechenzentrum angegriffen. - Wer will denn das in die
Öffentlichkeit tragen? Deshalb brauchen wir ein Verfahren, dass der Vorgang gemeldet wird, damit wir Lageerkenntnisse haben. Aber wir garantieren auch Anonymität oder Vertraulichkeit.
Aber ohne die Meldepflicht wissen wir nicht, wie umfangreich die Angriffe sind, wissen wir nicht, welche
neue Schadsoftware kommt, wissen wir nicht, wo es
vielleicht fast zu einem Ausfall der Energieversorgung
gekommen wäre. All die Informationen, die wir im Netz
des Bundes haben, brauchen wir auch bei kritischen Infrastrukturen. Das erreichen wir mit diesem Gesetz, das
erreichen wir mit der Meldepflicht.
Dass wir Verstöße mit Bußgeld bewehren müssen, ist
klar. Ich verstehe gar nicht, warum die Grünen jetzt ironisieren. Ich meine, mich zu erinnern, dass Sie das immer verlangt haben und Begriffe wie „zahnloser Tiger“
verwendet haben. Unser Gesetz ist kein zahnloser Tiger.
Wir haben die Meldepflicht, und wir haben auch eine
Bußgeldandrohung. Aber wir setzen darauf - das sind
auch die Signale, die wir aus der Industrie haben -, dass
kooperativ im Interesse der Sache mitgearbeitet wird.
Dann haben Sie sich immer im Innenausschuss beklagt, dass man eine Meldepflicht für die Unternehmen
einführe, aber die Bundesverwaltung selber mit Ausnahme der Standards im Gesetzentwurf gar nicht vorkomme. Dazu muss ich Ihnen sagen: Da hinken Sie der
aktuellen Rechtslage weit hinterher. Eine Meldepflicht
für die Bundesverwaltung gibt es seit 2010. Seit 2010
müssen Behörden der Bundesverwaltung jeden IT-kritischen Angriff unverzüglich oder, wenn er nicht ganz so
bedeutend war, innerhalb eines Monats melden. Das haben wir dort schon.
Im Bereich der Bundesverwaltung haben wir den
Schutzschild, wir haben die Meldepflicht, und das übertragen wir jetzt, wo es Sinn macht, auch auf die Betreiber kritischer Infrastrukturen. Das zu tun, ist mehr als
richtig und wichtig. Bitte, nehmen Sie diese Platzpatrone, die Ihnen als Argument dient, einfach aus Ihrem
Munitionsvorrat. Sie ist einfach falsch und wird nicht
besser, wenn man sie dauernd wieder herausholt.
({5})
Jetzt zum Verfahren bzw. zu dem, was wir dafür getan
haben, die Wirtschaft nicht zu überfordern. Ich denke
dabei an den Kollegen Pfeiffer, dessen Anliegen es ist,
dass die Unternehmen nicht überfordert werden. Wir lassen den Unternehmen zwei Jahre Zeit für die Umsetzung. Das, was der Gesetzgeber nicht konkretisieren
kann, weil es technische Fragen betrifft, regeln wir in einer Verordnung. Diese Verordnung wird nicht allein vom
BSI erarbeitet, sondern gemeinsam mit der Wirtschaft,
mit den Betreibern und den Verbänden. Wir haben zwei
Jahre Umsetzungszeit vorgesehen, bevor die Regelung
verpflichtend wird, und nach vier Jahren - Kollege
Reichenbach hat es angesprochen - folgt eine Evaluation.
Ich glaube, das ist ein sehr gutes, kluges und kooperatives Vorgehen. Wir leisten damit einen großen und
wichtigen Beitrag zur Sicherheit der IT in unserem
Land. Sicherlich könnte man noch viel mehr machen.
Wir beginnen mit den Bereichen, die besonders heikel
sind: Energieversorgung, Wasser, Finanzen und Telekommunikation. Weitere Schritte müssen folgen.
Ich habe mir erlaubt, den Entschließungsantrag der
Grünen zu lesen, den sie im Innenausschuss vorgelegt
haben.
({6})
- Beifall kann ich leider nicht spenden. Es war ein Sammelsurium an Wünschen, die das grüne Herz begehrt.
Die roten und blauen Teams kamen nicht vor, Frau
Künast, aber jede Menge grüne Wünsche. Man kann sagen: viele Wünsche, aber keine Lösungen. Insofern ist
der vorliegende Gesetzentwurf deutlich besser und konkreter. Er dient der Sicherheit der IT in diesem Land,
und deshalb hat er unser aller Zustimmung verdient.
Herzlichen Dank.
({7})
Christina Kampmann ist die nächste Rednerin für die
SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Sicherheit spielt in der politischen Rhetorik eine immens
große Rolle, egal ob wir über den G-7-Gipfel, den internationalen Terrorismus oder den Schutz vor Einbruch
und Diebstahl reden. Für einen Bereich aber wurde dieses Thema viel zu lange vernachlässigt, nämlich für die
gesamte Informationstechnologie. Bei aller Kritik an
dem Gesetzentwurf, bei allen berechtigten Forderungen,
noch weiterzugehen, und bei allen Zweifeln an den Details in der Umsetzung ist es gut, dass damit endlich
Schluss ist, liebe Kolleginnen und Kollegen. Gut, dass
wir dieses Thema endlich auf die politische Agenda gesetzt haben. Gut, dass die Große Koalition mit dem ITSicherheitsgesetz eines der ersten Vorhaben im Rahmen
der Digitalen Agenda umsetzen wird.
({0})
Um es vorwegzunehmen: Auch ich finde, das Gesetz
dürfte an der einen oder anderen Stelle noch weiter gehen. Ich bin aber davon überzeugt, dass es uns trotzdem
richtig gut gelungen ist und dass wir damit einen Anfang
gemacht haben, der sich sehen lassen kann. Das ist ein
guter Tag für die IT-Sicherheit in Deutschland. Es ist ein
gutes Beispiel für gesetzliche Rahmenbedingungen innerhalb der Europäischen Union.
Herrn Janecek sage ich: Wer uns als Entwicklungsland in Sachen IT-Sicherheit bezeichnet - darin bin ich
ganz bei Herrn Binninger -, von dem erwarte ich auch
ganz konkrete Vorschläge und Lösungen zur Verbesserung statt einer Aneinanderreihung von Forderungen,
wie sie Ihrem Antrag entsprechen, die bei wohlwollender Betrachtung gerade noch etwas mit dem Thema „Digital“ zu tun haben, aber mit Sicherheit nicht mit der ITSicherheit.
({1})
Aber lassen Sie mich das näher ausführen. IT-Sicherheit ist kein Selbstzweck. Für mich ist sie das Fundament der Digitalisierung. Industrie 4.0 ohne Sicherheit
ist komplett undenkbar. Autonomes Fahren - der Minister hat es eben angesprochen - ohne Sicherheit ist geradezu lebensgefährlich. Cloud-Technologie ohne Sicherheit ist überhaupt nicht möglich. Kein Unternehmen,
keine Verwaltung und kein privater Nutzer werden ihre
Daten in einer Cloud speichern, wenn sie nicht zutiefst
überzeugt sind, dass sie dort sicher sind.
Egal wohin man schaut: Die Digitalisierung unserer
Gesellschaft wird nicht funktionieren, wenn wir nicht
ein Maximum dessen gewährleisten, was an Sicherheit
möglich ist. Deshalb bin auch ich davon überzeugt, dass
es einen staatlichen Handlungsauftrag gibt. Es ist konsequent und folgerichtig, diesen im Bereich der kritischen
Infrastrukturen zu sehen. Denn hier ist die Gesellschaft
besonders verletzlich. Deshalb müssen wir ein Mindestmaß an IT-Sicherheit gesetzlich regeln und zur Pflicht
machen.
Wenn wir über die Meldepflichten reden, dann sehen
wir: Ohne diese haben wir heute eine komplett unklare
Gefährdungslage. Wenn wir nicht wissen, wie groß die
Gefahr ist: Wie sollen wir dieser Gefahr dann begegnen?
Deshalb brauchen wir die Meldepflichten. Was wir aber
nicht brauchen, sind Unternehmen, die sich an dieser
Stelle wegducken, weil sie den Wert eines umfassenden
Lagebildes und die sich daraus ergebenden Chancen für
ein gezieltes Vorgehen gegen Angreifer verkennen.
Stattdessen brauchen wir Unternehmen, die in die
Sicherheit ihrer IT investieren. Das gibt es nicht zum
Nulltarif; das ist klar. Investitionen kosten Geld und sind
teuer. Ich bin aber überzeugt davon, dass sich dort jeder
einzelne Cent lohnt; denn für den, der es versäumt,
rechtzeitig zu investieren und sich zu schützen, wird es
am Ende noch teurer werden. Deshalb muss dieses Gesetz auch mehr sein als nur eine Vorgabe für Betreiber
kritischer Infrastrukturen.
Ich wünsche mir, dass wir damit einen Anstoß für
eine gesamtgesellschaftliche Debatte über das Thema
IT-Sicherheit geben können. Die ist längst überfällig,
und deshalb ist es auch gut, dass wir das heute diskutieren.
({2})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, seit der letzten Lesung hat es einige Änderungen gegeben, über die wir
heute schon gesprochen haben. Es gibt aber auch Aspekte, die wir im Koalitionsvertrag vereinbart haben und
- davon bin ich überzeugt - die in diesem Gesetzentwurf
noch ihren Platz hätten finden können, dieses Mal aber
noch außen vor geblieben sind.
Ich denke zum Beispiel - damit bin ich bei den Grünen - an das Grundrecht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme, das endlich mit Leben erfüllt werden muss. Die
Nutzung von Methoden zur Anonymisierung und Pseudonymisierung und all das, was wir unter den Stichworten „Privacy by Design“ und „Privacy by Default“, also
dem technikgestützten Datenschutz und dem Datenschutz durch Voreinstellung, diskutieren: Das haben wir
im Koalitionsvertrag vereinbart, und das dürfen wir
nicht aus den Augen verlieren, sondern sollten es entschieden weiterverfolgen.
({3})
Ich wünsche mir aber auch - hier bin ich auch auf der
Linie der Opposition -, dass wir zu einer größeren Unabhängigkeit des BSI kommen und dass wir uns endlich
Gedanken darüber machen, wie wir in dieser Richtung
die richtigen Weichen stellen können; denn das BSI wird
mit diesem Gesetz bezüglich der Abwehr von Gefahren
für die Sicherheit der Informationstechnik in Unternehmen, in den Verwaltungen und in Bezug auf die Bürgerinnen und Bürger deutlich gestärkt, und das ist auch gut
so.
Die Anbindung an das BMI in diesem Bereich bringt
aber eine Gefahr mit sich, die über die Probleme hinsichtlich der Zuständigkeit für die defensive Sicherheit
deutlich hinausgeht. Um diesen Konflikt gar nicht erst
entstehen zu lassen, werden wir uns auch weiterhin für
eine größere Unabhängigkeit einsetzen. Das ist meiner
Meinung nach nicht nur glaubwürdiger, sondern wird
der Rolle des BSI im Rahmen der gesamten Sicherheitsarchitektur des Bundes auch wesentlich besser gerecht.
({4})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, seit der
letzten Lesung hat sich einiges getan, und viele der
neuen Ansätze, die sich in dem aktuellen Entwurf finden, sind absolut zu begrüßen. So haben die jüngsten
Vorfälle gezeigt - das wurde heute schon vermehrt angesprochen -, dass sich die IT-Sicherheitslage im Bund stetig verschärft und dass Angriffe nicht nur immer zahlreicher, sondern auch immer komplexer werden. Deshalb
ist es folgerichtig, dass der veränderte Gesetzentwurf
auch den Bund in die Pflicht nimmt; denn auch hier
brauchen wir verbindliche Mindeststandards, um diesen
Herausforderungen begegnen zu können.
Genauso verhält es sich mit der nun vorgesehenen
Einbeziehung von Hard- und Softwareherstellern; denn
wenn Betreiber kritischer Infrastrukturen Sicherheitslücken nicht vollständig beheben können, dann dürfen die
Hersteller an dieser Stelle nicht untätig bleiben. Deshalb
ist es nur konsequent, dem BSI hier das Recht einzuräumen, von diesen auch die Mitwirkung an der Beseitigung einer Störung zu verlangen.
Es ist auch richtig, über den kooperativen Ansatz hinauszugehen und ein Bußgeld für diejenigen vorzusehen,
die im Rahmen dieses Gesetzes nicht dazu bereit sein
werden, ihren Beitrag zu leisten. Frau Künast, das betrifft nicht nur die Meldepflichten, sondern auch die
Mindeststandards. Das ist aus meiner Sicht auch kein
Mangel an Vertrauen, sondern unterstreicht nur die politische Bedeutung, die IT-Sicherheit im Rahmen kritischer Infrastrukturen hat und die wir ihr auch zugestehen.
({5})
Diese Veränderungen bringen erhebliche Verbesserungen an wichtigen Stellen und zeigen damit, dass wir
es mit der Umsetzung von mehr IT-Sicherheit in
Deutschland ernst meinen. Dafür haben wir heute einen
entscheidenden Schritt getan.
({6})
- „Wir von der Koalition“, genau.
({7})
Bei der ersten Lesung habe ich gesagt - ich zitiere
mich einmal selbst -, dass ich mir in diesem Gesetzentwurf eine Verpflichtung zur Transportverschlüsselung
für Telekommunikationsunternehmen gut hätte vorstellen können, weil so etwas wie eine marktgetriebene Verschlüsselung in etwa so häufig zu finden ist wie eine
Niederlage von Arminia Bielefeld im DFB-Pokal, nämlich quasi nie. Dieter Janecek von den Grünen meinte
daraufhin, dass dieser Entwurf fußballkategorisch doch
eher in der Kreisklasse statt in der Champions League zu
verorten sei. Inzwischen ist Arminia Bielefeld aufgestiegen, das Champions-League-Finale hat am vergangenen
Samstag stattgefunden, und ich bin nach den benannten
Änderungen geradezu zutiefst davon überzeugt, dass wir
mit diesem Entwurf in der sicherheitspolitischen Champions League angekommen sind. Vielleicht sind wir
noch nicht der FC Barcelona - da ist, glaube ich, noch
ein bisschen Luft nach oben -;
({8})
aber im Halbfinale ausscheiden wird dieser Gesetzentwurf mit Sicherheit nicht.
Herzlichen Dank.
({9})
Das Wort erhält nun der Kollege Hansjörg Durz für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Bei
der Einbringung und auch heute haben alle Redner betont: Die IT-Sicherheitslage in Deutschland ist angespannt. Der Hackerangriff auf unser Parlament - auch
das wurde in vielen Reden erwähnt - ist das jüngste Beispiel dafür, wie verwundbar informationstechnische Systeme sind. Für unsere Wirtschaft hat KPMG ermittelt,
dass 40 Prozent der deutschen Firmen in den vergangenen zwei Jahren Ziel von Computerkriminalität waren.
Die dabei entstandene Schadenssumme geht in die Milliarden. Gestern hat BITKOM kommuniziert, dass Unternehmen bei der IT-Sicherheit deutlich nachbessern
müssen. Die Schadsoftware wird immer komplexer und
bleibt nicht selten unerkannt. Auch der letzte Bericht des
BSI zur Lage der IT-Sicherheit in Deutschland stellte
klar heraus, dass durch die zunehmende digitale Durchdringung und Vernetzung aller Lebensbereiche und Arbeitsbereiche eine dynamische Gefährdungslage entsteht. Anders ausgedrückt: Die zunehmende Vernetzung
macht unsere Systeme insgesamt immer anfälliger.
Genau hier setzt das IT-Sicherheitsgesetz an. Im
Grundsatz klingt das Ziel des Gesetzes zunächst einfach:
Um die Chancen der Digitalisierung erfolgreich nutzen
zu können, ist es erforderlich, das IT-Sicherheitsniveau
zu erhöhen. Das klingt einleuchtend, man könnte fast sagen: banal. Dass es aber alles andere als selbstverständlich ist, entsprechende Vorkehrungen zu treffen, belegen
die eben zitierten Studien sehr eindeutig.
In Deutschland existieren eine Reihe freiwilliger Initiativen und Angebote zur Erhöhung der IT-Sicherheit,
die äußerst sinnvoll sind. Eine Vielzahl von Firmen handelt vorbildlich, allein schon aus eigenem Interesse.
Aber Freiwilligkeit allein reicht insbesondere bei kritischen Infrastrukturen eben nicht aus, um die IT-Systeme
gegen Angriffe zu schützen. Oftmals wird das Bewusstsein für Handlungs- und Investitionsbedarf bei der IT-Sicherheit erst geweckt, wenn tatsächlich ein Schaden eingetreten ist. Dann ist es meist zu spät. Das können und
dürfen wir uns als hochentwickelte Industrienation nicht
leisten. Das IT-Sicherheitsniveau verschiedener Infrastrukturen innerhalb der Sektoren, die für die Daseinsvorsorge in unserem Land als kritisch anzusehen sind, ist
sehr unterschiedlich. Es ist daher absolut dringlich,
durch dieses Gesetz die Widerstandsfähigkeit kritischer
Infrastrukturen zu erhöhen.
Deutschland nimmt damit eine Vorreiterrolle im Bereich der IT-Sicherheit ein. Beispielgebend ist dabei aber
nicht nur die Tatsache, dass wir dieses Gesetz auf den
Weg bringen, sondern vor allem auch die dahinterstehende kluge Philosophie des kooperativen Ansatzes.
Dieser besteht auf der einen Seite aus einer engen Beteiligung der Unternehmen, also der Betroffenen, über ihre
Verbände. Auf der anderen Seite stehen ein wirksamer
Sanktionsmechanismus sowie die Kontrolle der Einhaltung der zu definierenden Verpflichtungen durch das
BSI. Ich bin der Überzeugung, dass es mit diesem Ansatz gelingt, ein funktionierendes System zu etablieren
und passgenaue und branchenspezifische Standards zu
erreichen, die dem notwendigen Sicherheitsniveau einer
digitalen Gesellschaft entsprechen. Nur mit diesem Ansatz werden wir der dynamischen Entwicklung begegnen
können.
({0})
Von einem höheren Sicherheitsniveau wird unsere
gesamte Wirtschaft in Deutschland profitieren. Unsere
Wirtschaft ist auf das Funktionieren kritischer Infrastrukturen angewiesen, der eine mehr, der andere weniger. Kein Unternehmen in unserem Land kann es sich
leisten, dass es in für die Daseinsvorsorge elementaren
Bereichen über einen längeren Zeitraum beeinträchtigt
ist. Daher erreichen wir mit einem Mehr an Sicherheit
für die Betreiber kritischer Infrastrukturen automatisch
auch ein Mehr an Sicherheit für unsere Wirtschaft.
Welche weiteren Vorteile hat dieses Gesetz für die
Wirtschaft? Ein Punkt kommt mir in der Diskussion gelegentlich etwas zu kurz: Das durch das IT-Sicherheitsgesetz geschaffene Meldesystem ist - Stephan Mayer hat
es vorhin erwähnt - alles andere als eine Einbahnstraße.
Die Unternehmen, die an dem System mitarbeiten, bekommen Rückmeldungen vom BSI auch über andere
Vorfälle. Insofern sind die Unternehmen zu einem privilegierten Meldesystem zusammengeschlossen. Ich möchte
gar nicht in Abrede stellen, dass den Unternehmen natürlich auch ein Aufwand entsteht; aber durch die Meldepflicht, die im Übrigen in der Regel anonym erfolgt, und
durch den Austausch von Informationen über sicherheitsrelevante Aspekte profitieren die Unternehmen in
hohem Maße voneinander. Durch das System von Meldung und Rückmeldung können wichtige Informationen
zu einem Frühwarnmechanismus beitragen und zu einem
einheitlichen Lagebild führen.
Ein weiterer Mehrwert für die Unternehmen liegt in
der Erarbeitung von IT-Mindeststandards. Dies gilt in
zweierlei Hinsicht: Wir wissen, dass das Sicherheitsniveau bei den einzelnen Unternehmen sehr heterogen ist.
Auf der einen Seite bieten die Standards Orientierung,
da sie den Unternehmen aufzeigen, ob und in welchem
Bereich der IT-Sicherheit Handlungsbedarf besteht. Da
auch bei der Erarbeitung der Standards der kooperative
Ansatz verfolgt wird, haben die Firmen zudem die Gelegenheit, über ihre Verbände ihre Erfahrungen und
Kenntnisse in den Prozess einzubringen. Auf der anderen Seite bieten die Standards aber auch Rechtssicherheit
für die Unternehmen, da das BSI die Eignung der erarbeiteten Standards feststellt.
Im parlamentarischen Verfahren konnte eine weitere
Verbesserung erzielt werden. Die Einbindung der Softwarehersteller ist hier zu nennen.
Als letzten Punkt möchte ich einen zentralen Kritikpunkt aus der Wirtschaft aufnehmen und verdeutlichen,
weshalb es so schwer ist, bereits heute den Kreis der Betroffenen definitiv festzulegen. Angesichts der Dynamik
der Digitalisierung ist es sehr komplex, die kritischen Infrastrukturen zu identifizieren und dauerhaft festzuschreiben. Zunächst sind im Gesetz Sektoren und Branchen definiert. Es dürfte aber jedem klar sein, dass allein
die Zugehörigkeit zu einer Branche eine nicht hinreichende Bedingung darstellen kann. Ein Beispiel aus dem
Bereich der Energie: Es gibt in Deutschland aktuell circa
1,6 Millionen Erneuerbare-Energien-Anlagen. Die meisten davon sind klein und absolut unkritisch. Schließt
man hingegen viele EEG-Anlagen, beispielsweise viele
Windkraftanlagen, über eine gemeinsame Leitwarte zu
einem virtuellen Kraftwerk zusammen, so kann aus vielen kleinen Anlagen eine kritische Infrastruktur werden. - An diesem Beispiel wird deutlich, dass man sich
bei der Festlegung der Schwellenwerte an den Dienstleistungen und am Versorgungsgrad orientieren muss
und eben nicht nur an der Größe der Anlagen. Dieser
komplizierte Vorgang muss für alle Branchen entsprechend durchgearbeitet werden.
Das Gesetz verfolgt einen neuen und modernen Ansatz, einen kooperativen Ansatz. Angesichts der Komplexität, vor allem aber der Dynamik der Digitalisierung
ist das genau der richtige Weg. Dieser kooperative Ansatz muss allerdings auch gelebt werden. Deshalb wäre
es schön, wenn wir Parlamentarier in die Erarbeitung der
Verordnung mit einbezogen werden könnten.
({1})
Dabei muss uns allen aber bewusst sein, dass sowohl für
die Verordnung als auch für das Gesetz stetige Kontrolle
und Evaluierung erforderlich sein werden. Sicherheit ist
ein dynamischer Prozess.
Die Koalition macht heute auch im Sinne unserer
Wirtschaft einen klugen und großen Schritt Richtung
Stabilisierung unserer IT-Sicherheit.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({2})
Marian Wendt ist der letzte Redner zu diesem Tagesordnungspunkt für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Stirb langsam-Filmheld John McLane kommentierte seinen Sieg über das Böse immer mit den Worten „Yippie-ya-yeah“. Auch in der vierten Folge mit dem
finalen Sieg über den Cyberterroristen Thomas Gabriel
nutzte er diese Worte. Dieser Cyberterrorist hatte zuvor
die gesamte IT-Infrastruktur der Ostküste der Vereinigten Staaten lahmgelegt, um einen riesigen Raubzug
durchzuführen. Das wäre ihm auch fast gelungen, hätte
es nicht John McClane und seinen Mitstreiter gegeben. Alles nur Film? Alles nur ausgedacht? Davon hat man
2007, als der Film veröffentlicht wurde, vielleicht noch
überzeugt sein können. Jetzt und heute zu glauben, dass
diese Geschichte - abgesehen von einigen Details - an
den Haaren herbeigezogen ist, ist weltfremd.
Da ich nun Ihre volle Aufmerksamkeit habe, können
wir den vorliegenden Gesetzentwurf näher betrachten.
Das IT-Sicherheitsgesetz, dessen Entwurf uns hier vorliegt, ist sicherlich sachlicher und dröger als der Klassiker Stirb langsam. Es gibt keine bekannten Helden, außer vielleicht dem BSI-Präsidenten Hange, und nur recht
wenig Action.
({0})
Aber die Auswirkungen von IT-Angriffen sind genauso
gefährlich wie im Film dargestellt.
Wenn heutzutage Angriffe auf die digitalen Strukturen von Unternehmen oder Behörden durchgeführt werden, dann sind die Helden stille Fachleute in den IT-Abteilungen der Unternehmen, Männer und Frauen, die
versuchen, die Dinge wieder geradezurücken. Sie schätzen den Schaden ein und ergreifen Gegenmaßnahmen.
Sie sitzen dabei oft in Kellern, in hochgesicherten Anlagen oder Bunkern. Sie bieten eine Dienstleistung an, die
man eigentlich nur benötigt, wenn etwas schiefgeht. Hier
möchte ich einmal ein Lob und meine Anerkennung für
die Leistung dieser Menschen aussprechen.
Für erfolgreiche IT-Angriffe gibt es leider medienwirksame Beispiele: Regin, Stuxnet und andere Angriffe
aus dem asiatischen Raum oder aus Russland auf Industrieunternehmen, Unternehmen der öffentlichen Daseinsvorsorge und andere KRITIS-Betreiber. Ein aktuelles Beispiel gab es auch im Vorfeld der sächsischen
Kommunalwahl am letzten Sonntag, als der Ausfall des
KISA-Servers die Briefwahl um bis zu zwei Tage verzögerte.
Die Zahl der Angriffe und Angriffsversuche ist
schwer abschätzbar; den Meldungen nach gehen sie jeden Tag in die Abertausende. Ich möchte Ihnen ein kleines Beispiel nennen: Am 18. Mai dieses Jahres fanden
bis 14 Uhr weltweit über 100 000 Angriffe auf IT-Systeme statt. Davon kamen allein 24 000 Angriffe aus
China. Das alles geschah binnen 14 Stunden. - Deshalb
reden wir heute über die Angriffe auf unsere kritische Infrastruktur, diejenige Infrastruktur also, die für das geordnete Zusammenleben und den Fortbestand der freiheitlich-demokratischen Grundordnung in unserem Land
essenziell ist.
Dabei sind wir als Nutzer durch unser Verhalten maßgeblich mitverantwortlich für die IT-Sicherheit; denn die
größte Sicherheitslücke in der IT ist und bleibt der
Mensch. Haben Sie schon einmal einen gefundenen
USB-Stick ins Laufwerk gesteckt, einen Link auf einer
Schmuddelseite geklickt oder hat sich einmal ein entsprechendes Pop-up geöffnet? Ein Klassiker ist auch, die
PIN auf die Bankkarte zu schreiben oder - ein anderes
Beispiel - bei verschiedenen Onlinekonten - im Schnitt
besitzen wir 14 - die gleiche Passwortkombination zu
nehmen, bestehend beispielsweise aus dem Vornamen
der Mutter und der alten Postleitzahl oder dem eigenen
Geburtsdatum.
({1})
Schon steht man vor den Scherben jeder noch so ausgeklügelten IT-Sicherheitstechnologie. Da können wir noch
so lange über das IT-Sicherheitsgesetz und das hoheitliche Handeln des BSI reden.
Wenn sich die Sicherheitskultur in unserem Land
nicht ändert, dann können wir, wie schon gesagt, noch so
ausgeklügelte Maßnahmen, noch so hohe Standards oder
auch noch so strafbewehrte Mechanismen haben: Wir
werden den Kampf gegen Cybercrime verlieren, und
zwar auf allen Ebenen. Die digitale Verwaltung wird
sich nicht weiterentwickeln; denn ohne Vertrauen geht
das nicht. Gleiches gilt für das Onlinebanking, die Industrie 4.0 und im Grunde genommen für jede Dienstleistung im Netz.
Das große Problem ist, dass die Nachlässigkeit vieler
Einzelner andere massiv gefährdet. Wenn in der Frage
IT-Sicherheit Risiko und Haftung Hand in Hand gingen,
würde sich das Problem fast von selbst lösen: Jeder hätte
den Anreiz, darauf zu achten, dass die eigenen Systeme
ausreichend - wenigstens mit einem Mindeststandard abgesichert sind. Jedoch ist das bisher noch nicht der
Fall. Nachlässige Nutzer sichern ihre Systeme nicht. Wir
werden die heutige Verabschiedung des IT-Sicherheitsgesetzes zum Anlass nehmen, darüber nachzudenken,
wie wir unsere Gesellschaft für mehr Sicherheitskultur
gewinnen können.
Ungesicherte Systeme werden kompromittiert und
missbraucht, verbreiten Infektionen, bilden Botnetze und
befeuern die Cyberkriminalität. Sie können für alle möglichen kriminellen Zwecke missbraucht werden; man
kann sie sogar mieten. Dem einzelnen Nutzer geht im
Zweifel nur der Rechner kaputt. Der gesamtwirtschaftliche Schaden ist ungleich höher. Wer sich nicht impft,
gefährdet sich und andere. Diese Parallele kann man
auch in der IT-Sicherheit ziehen. Deswegen brauchen
wir eine weitere Debatte über die Sicherheitskultur. Die
Menschen müssen aufgeklärt werden. Die Initiative
„Deutschland sicher im Netz“ beispielsweise leistet gute
Arbeit bei der Aufklärung. Diese Initiative möchte ich
hier lobend erwähnen und herausstellen.
Das vorliegende IT-Sicherheitsgesetz ist ein entscheidender Schritt hin zur Absicherung unserer kritischen
Infrastruktur und zur allgemeinen IT-Sicherheit in
Deutschland. Die klarere Rolle des Bundesamtes für
Sicherheit in der Informationstechnik ist zum Beispiel
ein großer Erfolg. Dennoch ist das IT-Sicherheitsgesetz
nur ein Mosaiksteinchen im immer wichtigeren Gesamtbild bei der Bekämpfung von Cybercrime, das meine
Kollegen und ich im Rahmen der digitalen Agenda auf
dem Schirm haben. Ich sehe das Gesetz - auch im Vorfeld der europäischen NIS-Direktive - als wegweisenden
Schritt und freue mich daher heute über diesen Erfolg.
Ich möchte fast sagen: Yippie-ya-yeah!
({2})
Ich schließe die Aussprache.
Bevor wir zu den Abstimmungen über den von der
Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf und den
Entschließungsantrag kommen, will ich noch eine Bemerkung zu dem in der Debatte aus guten Gründen
mehrfach hergestellten Zusammenhang zwischen den
Gesetzesvorschlägen und den konkreten Angriffen auf
das Datennetz des Bundestages machen. Dazu hat es in
den letzten Tagen neben begründeten Nachfragen manche bemerkenswerten öffentlichen Erklärungen einiger
Kolleginnen und Kollegen gegeben, die für mich noch
plausibler gemacht haben, warum wir in diesem Gesetz10582
Präsident Dr. Norbert Lammert
entwurf betroffenen Unternehmen die Vertraulichkeit
zusagen, die wir für uns selbst offenkundig nicht gelten
lassen wollen im Umgang mit der Aufklärung solcher
sensibler Zusammenhänge.
Zweitens, nur zur Klarstellung. All das, was die Sicherheitsarchitektur des Bundestages betrifft, haben wir
selbst beschlossen. Mir ist auch kein Streit in Erinnerung. Mit der Aufklärung wie den zu ziehenden Schlussfolgerungen ist eine Kommission des Ältestenrates befasst, die sich aus Mitgliedern aller Fraktionen dieses
Hauses zusammensetzt. Ich habe keinen Grund, daran zu
zweifeln, dass die Fraktionen in diese Kommission Kolleginnen und Kollegen entsandt haben, die sie nicht nur
für an dem Thema interessiert, sondern auch für besonders sachkundig halten. Es hat im Übrigen gestern im
Ältestenrat keine einzige Fraktion Kritik an der Arbeit
dieser Kommission oder Kritik an der Bundestagsverwaltung geäußert. Warum dann in der Öffentlichkeit der
gegenteilige Eindruck erzeugt wird, erschließt sich mir
nicht so richtig.
({0})
Ich möchte mich jedenfalls ausdrücklich sowohl bei
den Mitgliedern der Kommission, insbesondere bei der
Vorsitzenden Frau Pau, als auch bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Bundestagsverwaltung bedanken, die nun seit Wochen einen außerordentlich ungemütlichen Job erledigen. Sie erledigen ihn mit einem
bemerkenswerten Einsatz und einer Unauffälligkeit, die
offenkundig nicht allen gefällt, von der ich aber den Eindruck habe, dass sie dem Thema angemessen ist.
({1})
Jetzt kommen wir zu den Abstimmungen. Der Innen-
ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 18/5121, den Gesetzentwurf der Bundes-
regierung auf Drucksache 18/4096 in der Ausschussfas-
sung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetz-
entwurf in dieser Fassung zustimmen wollen, um das
Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält
sich? Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung
mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der
Opposition angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung. Diejenigen, die dem Gesetz-
entwurf zustimmen wollen, bitte ich, sich von den Plät-
zen zu erheben. - Wer stimmt gegen diesen Gesetzent-
wurf? - Damit ist der Gesetzentwurf mit dem gerade
genannten Mehrheitsverhältnis vom Bundestag ange-
nommen.
Wir kommen nun zur Abstimmung über den Ent-
schließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
auf Drucksache 18/5127. Wer stimmt diesem Entschlie-
ßungsantrag zu? - Wer stimmt dagegen? - Gibt es Ent-
haltungen? - Das ist nicht der Fall. Damit ist der Ent-
schließungsantrag mehrheitlich abgelehnt.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 24 a und 24 b auf:
a) Erste Beratung des von den Fraktionen der
CDU/CSU und SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einführung einer Speicherpflicht und Höchstspeicherfrist für Verkehrsdaten
Drucksache 18/5088
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz ({2})
Innenausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss Digitale Agenda
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jan
Korte, Dr. André Hahn, Ulla Jelpke, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Auf Vorratsdatenspeicherung verzichten
Drucksache 18/4971
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz ({3})
Innenausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss Digitale Agenda
Auch für diese Debatte ist interfraktionell eine Debattenzeit von 96 Minuten vorgesehen. - Das findet offenkundig Zustimmung. Also können wir so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Bundesminister der Justiz, Heiko Maas.
({4})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Bei dem vorliegenden Gesetzentwurf stehen sich zwei große Werte gegenüber: Freiheit
und Sicherheit. Da ist auf der einen Seite das Recht der
Bürgerinnen und Bürger auf eine unkontrollierte, freie
Telekommunikation. Sie wird geschützt durch Artikel 10
des Grundgesetzes. Zu ihr gehört nicht nur der Inhalt
von Gesprächen, sondern auch die Information, wann
von welchem Telefonanschluss welche Nummer angewählt worden ist. Auf der anderen Seite steht der Anspruch der Menschen auf eine effektive Strafverfolgung,
auf eine rasche Aufklärung und Ahndung von Verbrechen und damit darauf, einen Beitrag zu leisten, dass
weitere Verbrechen erst gar nicht geschehen. Hierfür geben wir mit diesem Gesetz den Sicherheitsbehörden bei
schwersten Straftaten ein zusätzliches Instrument.
Um zu beurteilen, wie tief der Eingriff in diese Werte
und auch in die Rechte von Einzelpersonen ist, ist es
sinnvoll, sich mit der Rechtslage auseinanderzusetzen,
die wir jetzt haben. Nach § 100 g Absatz 1 der StPO ist
es bereits heute, das heißt ohne dieses Gesetz, erlaubt,
Verkehrsdaten zu erheben, und zwar ohne Wissen der
Betroffenen - es handelt sich also um eine heimliche ErBundesminister Heiko Maas
mittlungsmaßnahme -, um Straftaten von erheblicher
Bedeutung aufzuklären. Die Erhebung bezieht sich auf
Verkehrsdaten, das heißt auf alle Verbindungsdaten und
auch auf alle Standortdaten, die bei der Telekommunikation und ihren Unternehmen gespeichert werden.
Wir haben die Situation - dies ist insbesondere von
den Sicherheitsbehörden in den letzten Jahren immer
wieder moniert worden -, dass es bei den Telekommunikationsanbietern völlig unterschiedliche Speicherfristen
gibt. Deshalb führt bei der Verbrechensaufklärung sozusagen das Zufallsprinzip Regie. Dort, wo die Daten zum
Beispiel aus Kostengründen gar nicht gespeichert werden, ist eine Strafverfolgung oftmals nicht möglich.
Dort, wo sie sehr kurz gespeichert werden, trifft dieses
Problem ebenfalls oft zu.
Der Datenschutzbeauftragte des Landes SchleswigHolstein, Thilo Weichert, ist sicherlich einer, der in der
Datenschutzszene einen besonders guten Ruf genießt.
({0})
Er hat zu diesem Thema Folgendes gesagt:
Während heute TK-Provider teilweise Verkehrsdaten sofort oder - aus Gründen der IT-Sicherheit nach einer kurzen Frist von 7 Tagen löschen, gibt es
Anbieter, die Verkehrsdaten monatelang oder gar
unbefristet aufbewahren, und Sicherheitsbehörden,
die hierauf für ihre Zwecke
- auch nach bereits geltendem Recht zugreifen. Nur mit einer gesetzlichen Regelung
kann Rechtsicherheit für alle Beteiligten - Behörden, Provider und Betroffene - erreicht und so der
Weg zu einem effektiven Rechtsschutz eröffnet
werden.
Das, was die Bundesregierung mit diesem Gesetz vorgelegt hat, ist ein „valider Kompromiss“, ein Interessenausgleich zwischen unterschiedlichen Werten. Dem kann
ich nur zustimmen, meine sehr verehrten Damen und
Herren.
({1})
Wir haben uns, als wir dieses Gesetz erstellt haben,
insbesondere an zwei dazu vorliegenden Urteilen orientiert. Das sind zum einen ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts und zum anderen ein Urteil des Europäischen Gerichtshofes. In der Diskussion wird teilweise
ausgeführt, dass die anlasslose Speicherung von Verkehrsdaten schon per se dem Grundgesetz und den
Grundrechten widerspreche. Auch hier hilft ein Blick in
das Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 2010.
Dort wird ausgeführt:
Eine … anlasslose Speicherung von Telekommunikationsverkehrsdaten für qualifizierte Verwendungen im Rahmen der Strafverfolgung … ist mit
Art. 10 GG nicht schlechthin unvereinbar.
Diejenigen, die behaupten, dass dies schon grundsätzlich
ein Verstoß gegen Artikel 10 sei, werden durch das Bundesverfassungsgericht widerlegt.
Nun gibt es einige, die die Notwendigkeit oder die
Sinnhaftigkeit solcher Maßnahmen infrage stellen. Auch
hierzu macht das Bundesverfassungsgericht Ausführungen:
Es werden hierdurch
- nämlich durch die anlasslose Speicherung von Verkehrsdaten Aufklärungsmöglichkeiten geschaffen, die sonst
nicht bestünden und angesichts der zunehmenden
Bedeutung der Telekommunikation auch für die
Vorbereitung und Begehung von Straftaten in vielen
Fällen erfolgversprechend sind.
({2})
Damit ist, wenn man sich am Bundesverfassungsgericht
orientiert, klar: Der Eingriff in die Rechte durch eine anlasslose Speicherung von Verkehrsdaten wird vom Bundesverfassungsgericht nicht grundsätzlich abgelehnt. Er
muss verhältnismäßig sein. Das Bundesverfassungsgericht hat hierfür in seinem Urteil hohe Hürden gesetzt,
und wir haben diese Hürden alle in diesen Gesetzentwurf
integriert.
Wir haben erstens einen Gesetzentwurf vorgelegt, bei
dem wir Höchstspeicherfristen definieren. In der Vergangenheit ging es im Wesentlichen um Mindestspeicherfristen. Oftmals ist noch nicht einmal geklärt gewesen,
was mit den Daten nach Ablauf der Mindestspeicherfrist
geschieht. Vielfach sind sie einfach weiter verwaltet
worden. Mit den Höchstspeicherfristen führen wir auch
einen ganz grundsätzlichen Paradigmenwechsel ein: Die
Daten müssen nach Ablauf der Fristen gelöscht werden.
Unternehmen, die sich nicht daran halten, werden mit
hohen Geldstrafen von 500 000 Euro pro Fall belegt. Die
Definition von Höchstspeicherfristen ist also die erste
große Übernahme dessen, was das Bundesverfassungsgericht uns vorgegeben hat.
Zweitens speichern wir die Daten nicht, wie im alten
Gesetz vorgesehen, ein halbes Jahr und auch nicht, wie
in vielen anderen europäischen Staaten, ein Jahr oder
zwei Jahre. Wir speichern die Standortdaten vier Wochen, weil sie ganz besonders sensibel sind, und die Verkehrsdaten, die beim Telefonverkehr entstehen, und die
IP-Adressen, die im Webverkehr entstehen, zehn Wochen. Meine Damen und Herren, das sind die mit Abstand niedrigsten Speicherfristen in ganz Europa. Wir
haben damit auch dem Urteil des EuGH entsprochen, der
darauf hingewiesen hat, dass zwischen den Datenarten
zu differenzieren sei und dies auch Einfluss auf die Speicherfristen haben müsse. Deshalb ist die Festlegung von
so kurzen Speicherfristen nichts anderes als die Beachtung der höchstrichterlichen Rechtsprechung, sowohl
von Karlsruhe als auch von Luxemburg.
Wir haben auch, wie es uns diese Urteile vorgegeben
haben, einen Straftatenkatalog, in dem nur schwere
Straftaten aufgeführt sind. Das heißt, der Aufruf von
Verkehrsdaten, die im Rahmen dieses Gesetzes gespeichert werden, ist nicht bei Ordnungswidrigkeiten oder
bei kleineren Bagatelldelikten möglich, sondern nur bei
Mord, Totschlag, bei Straftaten gegen die sexuelle
Selbstbestimmung, bei Kinderpornografie und, und, und.
Auch damit haben wir einer wesentlichen Vorgabe der
Gerichte entsprochen.
Des Weiteren haben wir in diesem Gesetz ein Verwertungsverbot für Berufsgeheimnisträger vorgesehen, für
alle, die in § 53 StPO aufgezählt sind, also Journalisten,
Geistliche, Ärzte, Abgeordnete. Auch das ist uns von
den Gerichten vorgegeben worden. Nun gibt es einen
Streit darüber, ob insbesondere das Urteil des EuGH
nicht auch feststellt, dass die Berufsgeheimnisträger
schon auf der Speicherebene und nicht erst auf der Verwertungsebene durch ein Verwertungsverbot ausgeschlossen werden.
({3})
Natürlich haben wir auch das überprüft. Dazu muss
man darauf hinweisen, dass bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit durch die Gerichte natürlich auch geprüft
wird, ob Regelungen, die man schafft, technisch und
praktisch überhaupt anwendbar sind. Das Problem bei
der Ausnahme der Berufsgeheimnisträger auf der Speicherebene besteht ganz einfach darin, dass das Ziel, das
damit verfolgt wird, nicht erreicht wird. Denn man kann
den Festnetzanschluss, wenn er von einem Berufsgeheimnisträger genutzt wird, über eine Meldung beim Telekommunikationsanbieter sicherlich freistellen. Es ist
aber nun einmal so, dass etwa in der mobilen Kommunikation und über die Vergabe sogenannter dynamischer
IP-Adressen überhaupt nicht klar ist, wie viele IP-Adressen ein Berufsgeheimnisträger täglich hat. Deshalb
würde eine Regelung auf der Speicherungsebene völlig
ins Leere gehen. Deshalb glauben wir und sind davon
überzeugt, dass die Interessen und die Berufsausübungspflichten von Geheimnisträgern nur dann ausreichend
geschützt werden können, wenn es ein umfassendes Verwertungsverbot gibt. Auch das steht in diesem Gesetz. In
ihm steht auch, dass keine Zufallsfunde genutzt werden
können. Das heißt, es kann auch nicht über die Hintertür
an solche Daten herangekommen werden. Es ist ganz
wichtig, auch das einmal deutlich zu machen.
({4})
Wir haben die Sicherheitsanforderungen, die das Bundesverfassungsgericht in sein Urteil hineingeschrieben
hat, einfach übernommen: hohe Sicherheitsanforderungen an die Speicherung; Speicherung auf Servern, die in
Deutschland stehen; Vier-Augen-Prinzip beim Abruf,
was bedeutet, dass es zwei digitale Schlüssel - einen
beim Provider und einen bei den Behörden - gibt. Einer
allein kann gar nicht mehr an die Daten herankommen,
die beim Provider liegen. Das geht nur, wenn diese beiden digitalen Schlüssel zusammengelegt werden. Ich
würde mir wünschen, dass viele andere Daten auch so
gesichert werden wie die, die in diesem Gesetz aufgeführt sind.
({5})
Man kann überhaupt nur an die Daten kommen, wenn
es eine richterliche Entscheidung gibt, und zwar eine
ohne Eilkompetenz der Staatsanwaltschaft. Wir wissen,
dass die Staatsanwaltschaft - in Eilfällen, wenn Gefahr
im Verzug ist - heute oftmals die Entscheidung des
Richters ersetzt. Auch das schließen wir aus. Es können
keine Daten abgerufen werden, wenn nicht ein Richter
darüber entschieden hat.
Meine Damen und Herren, ein Punkt, der auch aus
den Urteilen der Gerichte übernommen wird, ist die Benachrichtigung an die Betroffenen. Ich will das noch
einmal ausführen, weil das auch aktuell aufgegriffen
worden ist. Die Maßnahme ist als eine offene Ermittlungsmaßnahme ausgestaltet. So steht es im Gesetz. Das
heißt, die Betroffenen sind grundsätzlich vor der Datenerhebung zu informieren. Die Zurückstellung der Benachrichtigung ist ausnahmsweise nur dann möglich,
wenn andernfalls der Ermittlungszweck bzw. der Ermittlungserfolg gefährdet wird. Ich halte es für eine Selbstverständlichkeit, eine solche Regelung in das Gesetz
aufzunehmen. Es gibt aber ein Ausnahme-Regel-Verhältnis. Der Regelfall ist, dass die Betroffenen über die
Datenerhebung informiert werden. Auch damit ist eine
wesentliche Vorgabe aus der Rechtsprechung übernommen worden.
Wenn man sich das alles zusammen anschaut, wird
man feststellen, dass wir das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes, das sich insbesondere mit dem Zugriff
auf die Daten beschäftigt, nicht anders als eins zu eins
übernommen haben. Ich kann nur jeden unterstützen, der
dieses Gesetz dem Bundesverfassungsgericht vorlegt.
Ich bin davon überzeugt, dass dieses Gesetz vor dem
Bundesverfassungsgericht Bestand haben wird, weil wir
das Urteil des Bundesverfassungsgerichts nicht anders
als eins zu eins übernommen haben.
Dies gilt auch für das Urteil des EuGH so. In ihm
wird ein Thema ganz besonders diskutiert. Im Urteil
wird nämlich an einer Stelle - zusammengefasst - ausgeführt, dass die anlasslose Speicherung aller Verkehrsdaten unzulässig sei. Das tun wir mit diesem Gesetz
auch nicht. Es hätte die Möglichkeit gegeben, einen Anlass - eine erhöhte Terrorwarnstufe; Großereignisse, die
ganz besonders anschlagsgefährdet sind - zu definieren.
Die räumliche und zeitliche Abgrenzung einer solchen
Maßnahme ist aber so schwierig, dass wir uns dafür entschieden haben, nicht bei den Ausführungen zur anlasslosen Speicherung im EuGH-Urteil anzusetzen, sondern
nicht alle Verkehrsdaten zu erfassen. Der komplette Bereich der Massenkommunikation über E-Mails und alle
IP-Adressen, die dazu gehören, werden von dem Gesetzestext und dem Wirkungskreis des Gesetzes überhaupt
nicht erfasst. Deshalb werden wir auch dem Urteil des
Europäischen Gerichtshofes gerecht. Auch da bin ich
sehr sicher, dass dieses Gesetz - sollte es zu einer Überprüfung kommen - vor dem EuGH und seiner Rechtsprechung Bestand haben wird.
Meine Damen und Herren, ich möchte etwas noch zur
Einführung des Tatbestands der Datenhehlerei sagen. Ich
finde, dass das auch notwendig ist; denn wir haben an
dieser Stelle eine Strafbarkeitslücke. Wir leben immer
mehr in einer digitalen Gesellschaft, in der Daten auch
eine Form von Währung werden. Ich bin der Auffassung, dass, wenn mit Daten gehehlt wird, das nichts anderes ist, als wenn mit Sachen gehehlt wird. Deshalb haben wir einen entsprechenden Tatbestand geschaffen.
Nun wird vielfach kritisiert, das würde die Arbeit der
Journalisten und der Medien beeinträchtigen.
({6})
- Man muss einmal den Gesetzestext lesen, dann ist es
manchmal ganz einfach, die Dinge geradezurücken.
({7})
Es mag sein, dass es nicht in die eigene politische Argumentation passt, aber im Gesetz steht: Journalisten
und ihre Recherchen sind besonders geschützt. Journalisten machen sich nicht strafbar, selbst wenn sie die illegal beschafften Daten eines Whistleblowers erwerben
und für ihre Berichterstattung verwenden. Sie machen
sich auch dann nicht strafbar, wenn sie diese Daten von
Dritten erwerben. Sie machen sich überhaupt nicht strafbar. Deshalb ist diese Diskussion, die an dieser Stelle geführt wird, eine, die völlig in die Irre führt. Das ist so
nicht richtig, das steht nicht im Gesetz. Wir beschneiden
mit dem neuen Tatbestand der Datenhehlerei überhaupt
nicht die Arbeit und die Möglichkeit von Journalisten
oder von Medien.
({8})
Meine Damen und Herren, ich bin weit davon entfernt, zu behaupten, dass die Vorratsdatenspeicherung
ein Allheilmittel ist, um alle Straftaten sicher aufklären
zu können.
({9})
Aber wir werden mit dem Instrument, das wir schaffen,
und der Art und Weise, wie wir den Eingriff in die persönliche Freiheit auf ein Minimum begrenzt haben, den
Ermittlungsbehörden zusätzliche Möglichkeiten geben,
schwerste Straftaten - Mord, Totschlag, Straftaten gegen
die sexuelle Selbstbestimmung, Kinderpornografie besser aufzuklären, als es bisher der Fall gewesen ist.
Dafür lohnt es sich, diesem Gesetzentwurf zuzustimmen.
Herzlichen Dank.
({10})
Das Wort hat der Kollege Jan Korte für die Fraktion
Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Egal was Sie erzählen, wie Sie es nennen: Eine Vorratsdatenspeicherung bleibt eine Vorratsdatenspeicherung
bleibt eine Vorratsdatenspeicherung. Deswegen lehnen
wir sie ab.
({0})
Wir wollen versuchen, dies bei diesem ganzen Geschwurbel, das hier erzählt wird, ein wenig zu übersetzen. Es geht heute ganz konkret um einen Gesetzentwurf
- es ist das zweite Mal, dass eine Große Koalition das
Ganze einführt -, es geht um die Totalerfassung des
Kommunikationsverhaltens fast aller Menschen in der
Bundesrepublik.
({1})
Jedes Telefongespräch, jede SMS, jeder Internetbesuch:
Die Dauer und die IP-Adresse werden zehn Wochen gespeichert, die Standortdaten vier Wochen.
({2})
Man muss einmal 30 Jahre zurückblicken, wie dort
eine Vorratsdatenspeicherung ausgesehen hätte, um es
für Sie ein wenig zu versinnbildlichen. Am Beispiel der
Bibliothek hätte es bedeutet, dass ein Bibliotheksmitarbeiter immer und ausnahmslos exakt mitgeschrieben
hätte, welche Seite ich mir in welchem Buch angesehen
hätte.
({3})
Man hätte kein Telefonbuch mehr durchblättern können,
ohne dass ein Mitarbeiter der Bundespost dabei zusieht.
Das muss man sich einmal überlegen. Deswegen geht es
hier um einen Generalverdacht gegen die gesamte Bevölkerung. Das ist mit dem demokratischen Rechtsstaat
schlicht nicht vereinbar, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({4})
Es gibt überhaupt gar keinen nachweisbaren Nutzen
für das, was Sie einführen. Das BMJ hat es selber mehrfach gesagt: Es gibt gar keinen Nutzen, wir können gar
keine Fälle benennen. - Es ist unverhältnismäßig, und
- das ist das eigentlich Schlimme - es verändert die Gesellschaft. Das schleichende Gift der Überwachung führt
zu Angst, zu einer Lähmung und schlussendlich zu einer
Anpassung des Kommunikationsverhaltens. Das wollen
wir auf keinen Fall.
({5})
- Herr Grosse-Brömer, das sollten Sie auch nicht wollen.
({6})
Nun wollen wir das Ganze mit weiteren sachlichen
Argumenten begleiten und auseinandernehmen.
({7})
Ich will deswegen - es tut mir leid - auf die SPD eingehen. Ich glaube, bei der CDU/CSU ist in dieser Frage
nichts mehr zu retten.
Kollege Korte, bevor Sie das tun: Der Kollege Wendt
wünscht, eine Frage zu stellen oder eine Bemerkung zu
machen.
Je mehr Zeit für die Opposition, desto besser.
Vielen Dank, Herr Kollege. - Bevor ich meine Frage
an Sie richte, gestatten Sie mir die Zwischenbemerkung,
dass ich es als kleinen Treppenwitz der Geschichte betrachte, dass sich gerade die Linkspartei als Nachfolgerin des SED-Staates zum Rechtsstaataufklärer und -verteidiger aufschwingt.
({0})
Sie sprachen davon, dass dieser Gesetzentwurf keinen
Nutzen bringt. Das Bundeskriminalamt hat erfasst, dass
ungefähr 85 bis 90 Prozent der Fälle von Kinder- und Jugendpornografie nicht ermittelt werden konnten, der Täter nicht dingfest gemacht werden konnte, weil heutzutage die Nutzer oder Konsumenten von diesem Material
diese Dinge nur noch streamen. Sie besitzen es zu Hause
nicht physisch als Videokassette, als CD-ROM, als
USB-Stick oder Datei auf der Festplatte, sondern sie
streamen es und sind im Nachhinein als Nutzer nur noch
über die IP-Adresse zu identifizieren.
({1})
Deswegen frage ich Sie: Was ist - ganz konkret - Ihr Instrument, um die Kinder- und Jugendpornografie einzudämmen? Welches Instrument wollen Sie dem BKA an
die Hand geben, damit es diese 90 Prozent der Straftaten
aufklären kann?
({2})
Vielen Dank.
Vielen Dank, Herr Kollege. - Zunächst: Bei der Vorratsdatenspeicherung geht es um anlasslose Speicherung, nicht um anlassbezogene.
({0})
Das ist der wesentliche Unterschied; das ist der Kern des
Ganzen. Es scheint noch nicht angekommen zu sein.
Zu Ihrer ersten Bemerkung will ich natürlich eine Gegenbemerkung machen. Gerade weil wir wissen, welche
Geschichte unsere Partei hat, haben wir uns damit auseinandergesetzt und gesagt: Nie wieder Sozialismus ohne
demokratischen Rechtsstaat! - Der demokratische
Rechtsstaat ist über alles zu stellen. Ich sage Ihnen: Wir
haben daraus eine Lehre gezogen.
({1})
Das könnten Sie mit Ihren Blockfreunden - es sind ja ein
paar unter uns - auch einmal machen.
({2})
Jetzt zu Ihren Fragen. Wir haben heute bei Straftaten
im Zusammenhang mit dem Besitz und der Beschaffung
von Kinderpornografie eine Aufklärungsquote von
85 Prozent. Insgesamt, bei allen Straftaten, liegt die Aufklärungsquote im Schnitt bei 54,9 Prozent. Also wird in
diesem Bereich schon sehr gut ermittelt.
Das eigentliche Problem in diesem Bereich ist doch
- wie wir in den letzten anderthalb Jahren erleben konnten - nicht eine fehlende Vorratsdatenspeicherung, sondern die Tatsache, dass es viel zu wenige Ermittler gibt,
die das Material sichten können.
({3})
Das ist doch das Problem in diesem Bereich. Was erzählen Sie denn für einen grotesken Unsinn? - Vielen Dank,
dass ich das noch unterbringen konnte.
Nun aber zu den Freunden der Sozialdemokraten.
Was sagen die Befürworter? Sie sagen: Keine Vorratsdatenspeicherung vorzunehmen, wäre fahrlässig im Kampf
gegen den Terror. Da Sie es mir nicht glauben, möchte
ich den Bundesjustizminister zitieren. Er hat auf eine
entsprechende Frage geantwortet:
Nein. Fahrlässig ist allenfalls, den Leuten weiszumachen, dass die Vorratsdatenspeicherung geeignet
wäre, solche Anschläge zu verhindern. In Frankreich gibt es eine Vorratsdatenspeicherung, sie hat
die Anschläge nicht verhindert.
Recht hat der Bundesjustizminister.
({4})
Was heißt Vorratsdatenspeicherung für den demokratischen Rechtsstaat? Der Bundesjustizminister in seiner
Antwort:
Das heißt, wir würden genau das machen, was die
Terroristen eigentlich wollen, nämlich unsere Freiheit und unseren Rechtsstaat einschränken, und
deshalb finde ich das auch aus diesem Grund völlig
kontraproduktiv.
Recht hat der Bundesjustizminister.
({5})
Zur Frage, ob die Vorratsdatenspeicherung mit der
Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs vereinbar
ist, sagt der Bundesjustizminister:
Wenn der Europäische Gerichtshof entscheidet,
dass etwas nichtig ist, weil es gegen die GrundJan Korte
rechte verstößt, dann kann die Politik nicht hingehen und sagen, interessiert uns nicht.
Recht hat der Bundesjustizminister.
({6})
Zur Frage, ob Vorratsdatenspeicherung sicherheitsmäßig einen Vorteil bringt, sagt der Bundesjustizminister im Deutschlandfunk:
… es ist im Übrigen auch so, dass es keinerlei Beweise dafür gibt, dass die Vorratsdatenspeicherung
zu all den Segnungen führt, die mit ihr verbunden
werden.
Recht haben Sie, Heiko Maas.
({7})
Aber dann stehen Sie auch dazu! Stellen Sie sich nicht
hin und machen das Gegenteil von dem, wofür Sie gut
argumentiert haben.
({8})
Man muss sich die Argumente, die in diesem Interview sehr sachlich vorgetragen sind, auf der Zunge zergehen lassen. Was ist Ihre Konsequenz, Herr Justizminister, was ist die Konsequenz der Sozialdemokraten?
Sie führen die Vorratsdatenspeicherung einfach ein. Das
ist wirklich schon sehr grotesk. Wie unglaubwürdig kann
man eigentlich in dieser Debatte sein?
Herr Justizminister, eine Ausrede kann im Übrigen
nicht zählen: Es kann doch nicht sein, dass Sie einfach
umfallen, nur weil die Spitzenkraft Sigmar Gabriel, der
Vorsitzende Ihrer Partei ist, gerade eine Laune hat und
auf einmal für die Vorratsdatenspeicherung ist. Kehren
Sie um, liebe Freunde der SPD! Sie veranstalten doch einen Konvent. Hören Sie auf Ihre Parteibasis, und stoppen Sie dieses Projekt!
({9})
Ich will ergänzen - das ist insbesondere zwischen uns
eine beliebte Debatte -: Wenn Sie von der SPD für die
Vorratsdatenspeicherung sind, dann sind Sie für die
Linke übrigens nicht regierungsfähig - um das auch mal
klar zu sagen und es zurückzugeben.
({10})
Dann kann man mit Ihnen eine fortschrittliche bürgerrechtsorientierte Politik nicht machen. Ich kann es ja
nicht ändern. Das ist Ihre Entscheidung.
Insgesamt: Juristen, Bürgerrechtler, zwei Gutachten
des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages, Journalistenverbände, Rechtsanwaltsverbände und im Übrigen auch die aus den Reihen der CDU/CSU stammende
Bundesbeauftragte für den Datenschutz haben es deutlich gesagt: Die Vorratsdatenspeicherung - so wie Sie sie
wollen und überhaupt - ist grundrechtswidrig, und sie ist
verfassungswidrig. Dass man das im Jahr zwei nach
Snowden hier immer noch betonen muss, das ist wirklich nicht zu fassen.
({11})
Noch eine Sache. Wir Linke müssen uns ja mittlerweile wirklich um alles kümmern.
({12})
Haben Sie einmal darüber nachgedacht, was für Kosten
für die Internetwirtschaft und für die Kommunikationsunternehmen anfallen? Damit meine ich nicht die großen
Player wie die Telekom, sondern die vielen kleinen Unternehmen, die ernsthafte Probleme haben, diese Speicherkapazitäten bereitzustellen.
({13})
Daran hätten Sie denken müssen, wenn Sie sich die Mittelstandsförderung groß auf die Fahne schreiben. Auch
hier sind Sie schlicht unglaubwürdig.
({14})
Fassen wir zusammen: Warten Sie nicht auf die
nächsten Gerichtsentscheidungen. Der Zweck heiligt
nicht die Mittel, auch nicht im Kampf gegen den internationalen Terrorismus. Unsere Antwort auf die Bedrohung durch den internationalen Terrorismus, die es in
der Tat gibt, kann nur lauten: mehr Freiheit, mehr
Rechtsstaat, mehr Demokratie. Das bedeutet vor allem
die Verteidigung und Rückeroberung der freien Kommunikation und damit des aufrechten Ganges. Das wäre das
richtige Signal von hier aus, meine Damen und Herren.
({15})
Da ich noch fünf Sekunden Redezeit habe: Der Kollege von Notz und ich haben heute 112 000 Unterschriften entgegengenommen, die in kürzester Zeit von Campact, AK Vorrat und der Digitalen Gesellschaft
gesammelt wurden.
({16})
Das ist eine gute Sache. Wir bedanken uns für die Initiative. Herr Maas, ich darf Ihnen die Unterschriften übergeben.
Vielen Dank.
({17})
Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär
Dr. Günter Krings.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Der letzte Redebeitrag hat gezeigt, dass zumindest der linke Teil der Opposition die verfassungsrechtliche Orientierung in Fragen der Speicherfristen für Verkehrsdaten ganz offensichtlich verloren hat. Ich möchte
Ihrem politischen Tunnelblick gerne die verfassungsrechtliche Orientierung entgegensetzen und Ihnen diese
Orientierung zurückgeben
({0})
und dazu schlicht und ergreifend mit einem Zitat des
Bundesverfassungsgerichts aus einer Entscheidung über
die Vorratsdaten beginnen:
Eine vorsorglich anlasslose Speicherung von Telekommunikationsverkehrsdaten zur späteren anlassbezogenen Übermittlung an die für die Strafverfolgung oder Gefahrenabwehr zuständigen Behörden
… darf der Gesetzgeber zur Erreichung seiner Ziele
als geeignet ansehen. Es werden hierdurch Aufklärungsmöglichkeiten geschaffen, die sonst nicht
bestünden und angesichts der zunehmenden Bedeutung der Telekommunikation auch für die Vorbereitung und Begehung von Straftaten in vielen
Fällen erfolgversprechend sind.
Treffender und prägnanter als der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts kann man den Entwurf eines Gesetzes zur Einführung einer Speicherpflicht und einer
Höchstspeicherfrist für Verkehrsdaten nicht zusammenfassen. Die Entscheidung des Gerichts war für uns
Richtschnur bei diesem Gesetzentwurf.
({1})
Meine Damen und Herren, Ziel des Entwurfs ist in
erster Linie, für die Strafverfolgungsbehörden im Bereich besonders schwerer Kriminalität brauchbare Ermittlungsansätze zu generieren, wo bislang alle Spuren
ins Leere führten. Der Austausch kinderpornografischen
Materials - Herr Wendt hat das eben schon angesprochen -, die Verabredung sowie die Begehung schwerer
Straftaten im Bereich der organisierten Kriminalität, der
Zusammenschluss zu terroristischen Vereinigungen, dies
alles geschieht heute überwiegend mittels Telekommunikation oder im virtuellen Raum des Internets. Nur dort
hinterlassen Täter und Beteiligte ihre Spuren. Diese Spuren sind die Daten, die bei der modernen Kommunikation anfallen: zum Beispiel angerufene Telefonnummern, die Funkzelle, aus der mit dem Handy telefoniert
wurde, oder die IP-Adresse, die dem Computer beim
Surfen im Internet vom Provider zugewiesen wurde.
Die Fälle, in denen Verkehrsdaten die Aufklärung von
Verbrechen künftig erleichtern werden, sind vielfältig:
Bei Tötungsdelikten lässt sich durch eine Funkzellenabfrage klären, welche Mobiltelefone zum Tatzeitpunkt in
die am Tatort gelegene Funkzelle eingebucht waren. Bei
Bandendiebstählen kann ermittelt werden, welche Mobiltelefone sich am Begehungsort befanden; ergeben
sich hier Übereinstimmungen mit anderen Tatorten,
kann dies die Aufklärung voranbringen. Wenn die Strafverfolgungsbehörden einen Verdächtigen überprüfen,
können durch die Auswertung seiner Kommunikationsbeziehungen auch seine Hintermänner und Netzwerke
identifiziert werden. Das ist ein Beispiel dafür, wo die
Vorratsdatenspeicherung auch bei der Terrorbekämpfung
wirksam ist. Ihre Bewährungsprobe hat sie manchmal
leider erst nach einem Anschlag: Dann muss das Netzwerk komplett ausgehoben werden, damit, meine Damen
und Herren, der nächste Anschlag wirksam verhindert
wird.
({2})
Die Beispiele zeigen: Mit der Wiedereinführung der
Vorratsdatenspeicherung bringen wir die Strafverfolgungsbehörden wieder ein wenig mehr „auf Augenhöhe“
mit den Tätern. Das haben die Mitarbeiter dieser Behörden auch verdient, damit sie wirksam ihre Arbeit machen können.
Natürlich liefern die Verbindungsdaten alleine noch
keine gerichtsfesten Beweise, um einen Täter auch zu
verurteilen; aber sie liefern den zuständigen Behörden
die entscheidenden Ermittlungsansätze, um die notwendigen Nachweise zu erlangen oder - auch das gehört ja
zur Aufgabe der Staatsanwaltschaft - einen unberechtigten Verdacht im Einzelfall zu widerlegen.
Dabei ist der Entwurf, meine Damen und Herren,
wirksam und maßvoll zugleich. Er bringt die dargestellten, dringend notwendigen Verbesserungen für die
Strafverfolgungsbehörden, wahrt dabei aber strikt den
Grundrechtsschutz und den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Ich will Letzteres an drei Beispielen - nur
eine Auswahl - als Prinzip deutlich machen.
Bei der Auswahl der Daten, die von den TK-Anbietern zu speichern sind, nimmt der Entwurf die Daten der
E-Mail-Kommunikation vollständig aus. Wer sich die in
seinen E-Mail-Postfächern lagernden E-Mails einmal
anschaut, weiß: Da gibt es große und interessante Datenmengen; aber wir haben uns entschieden, diese Datensätze herauszunehmen, obwohl hier ebenfalls Informationen, die für die Strafverfolgungsbehörden wertvoll
wären, enthalten sind.
Die Speicherfristen sind wohldosiert und sehr differenziert. Standortdaten der mobilen Kommunikation
dürfen nur vier Wochen gespeichert werden. So wird die
Erstellung umfassender Bewegungsmuster Verdächtiger
verhindert. Alle übrigen Kommunikationsdaten werden
für zehn Wochen und damit weniger als drei Monate gespeichert - weniger als in allen anderen Ländern, die das
in Europa eingeführt haben.
Der Katalog der Straftaten ist auf besonders schwere
Taten beschränkt. Der Entwurf erlaubt die Nutzung der
Daten also nicht für die Aufklärung jeder Form von Alltagskriminalität; er ist hier sogar strenger als die Regeln
bei der Telekommunikationsüberwachung.
Meine Damen und Herren, daneben treffen wir in
dem Entwurf zahlreiche weitere Vorkehrungen, um die
Rechte der Betroffenen zu wahren: Es gibt einen strengen Richtervorbehalt ohne Eilkompetenz der Staatsanwaltschaft. Das heißt, dass jeder einzelne Zugriff der Behörden auf die gespeicherten Daten sorgfältig von einem
unabhängigen Richter geprüft wird. Die Telekommunikationsunternehmen dürfen die Daten ausschließlich
zum Zwecke der Übermittlung an die Behörden speichern. Eine Nutzung dieser Daten zu geschäftlichen
Zwecken ist verboten. Verstöße gegen dieses Verbot
können mit Bußgeldern bis zu 500 000 Euro geahndet
werden.
Der Entwurf macht auch strenge Vorgaben für die Datensicherheit bei den TK-Unternehmen: Speicherung nur
in Deutschland, entkoppelt vom Internet, unter Einsatz
besonders sicherer Verschlüsselungsverfahren.
Meine Damen und Herren, wir haben hier nicht nur
die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts eingehalten, sondern - unabhängig von der juristisch spannenden
Frage, inwieweit bei nationalen Gesetzen die europäische Grundrechtecharta anwendbar ist - auch die Vorgaben des Europäischen Gerichtshofs. Auch dessen Entscheidung - das hat Minister Maas dargelegt - hat ja bei
aller Kritik an der damaligen Ausgestaltung ausdrücklich klargestellt, dass eine Vorratsdatenspeicherung zur
Verbrechensbekämpfung sinnvoll und grundsätzlich
auch zulässig ist nach europäischem Recht.
Der vorliegende Gesetzentwurf führt Deutschland
beim Thema Speicherfristen zurück in den Mainstream
der europäischen Staaten. Richtig ist: Regelungen zur
Vorratsdatenspeicherung gibt es in über 20 EU-Mitgliedstaaten, und dort, wo Gerichte konkrete Regelungen aufgehoben haben, erleben wir, dass die Parlamente verfassungskonforme Neuregelungen verabschieden. Es ist
also schlichtweg falsch, wenn aus der Opposition heraus
behauptet wird, es gebe in der Europäischen Union eine
allgemeine Abkehr von der Vorratsdatenspeicherung.
({3})
Für eine sachliche Debatte des Themas wäre es hilfreich,
wenn auch die Kritiker einer Vorratsdatenspeicherung
zumindest die Wirklichkeit in Europa zur Kenntnis nehmen würden. Ein Gerichtsurteil ist nicht das Ende der
Diskussion, sondern es führt in der Regel in Europa zu
einem angepassten neuen Gesetzentwurf, und das aus
guten Gründen.
Ich fände es ebenso peinlich wie gefährlich für unser
Land, wenn wir uns von den europäischen Standards in
der Frage der Vorratsdatenspeicherung abkoppeln würden und damit Deutschland zu einem sicheren Hafen für
Schwerverbrecher und Terroristen machen würden,
meine Damen und Herren.
({4})
Wenn ich die Wirksamkeit und Ausgewogenheit unseres Gesetzentwurfs lobe, dann will ich damit natürlich
auch ausdrücklich einen Dank an den Bundesminister
der Justiz für die gute und vertrauensvolle Zusammenarbeit im Rahmen der Erarbeitung des Gesetzentwurfs verbinden. Ich muss nur an einer kleinen Stelle einen Widerspruch zu den Ausführungen des Herrn Ministers
einlegen: Wir erfüllen die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts nicht nur, sondern wir übererfüllen sie.
Wir gehen - das war ja auch von Ihnen vorher schon so
angelegt - an einigen Stellen - ich habe die Fristen genannt; man könnte andere Beispiele nennen - sogar über
die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts hinaus.
Das beweist, wie ernst wir die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und die Grundrechte nehmen. Auch das haben wir gemeinsam mit diesem Gesetzentwurf geleistet.
Ich glaube, das ist ein ganz wichtiger und richtiger
Punkt.
Meine Damen und Herren, wir dürfen nach einer jahrelangen, zum Teil sehr hitzigen Debatte dem Deutschen
Bundestag heute einen Gesetzentwurf vorlegen, der die
Grundrechte schützt - zumal den Staat aus den Freiheitsrechten heraus ja auch eine Schutzpflicht trifft, die ihn
dazu anhält, Verbrechen zu verhindern und aufzuklären;
mit solchen Gesetzen schützen wir also auch die Freiheit
der Bürger -, und wir legen zugleich einen Gesetzentwurf vor, der gefährliche Sicherheitslücken in unserem
Land schließt, damit aus versuchten Terroranschlägen
möglichst keine vollendeten Anschläge werden und damit Netzwerke von Schwerverbrechern und Terroristen
besser ausfindig und unschädlich gemacht werden können. Wir brauchen dieses Gesetz für die Sicherheit und
die Freiheit unserer Bürger. Deshalb bitte ich Sie um
eine gründliche und zügige Beratung.
Vielen herzlichen Dank.
({5})
Die Kollegin Katrin Göring-Eckardt hat für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Lieber Herr Maas, das war wirklich eine schwere
Rede für Sie. So viel habe ich Sie hier im Plenum noch
nie ablesen sehen.
({0}): Das müssen Sie ge-
rade sagen!)
Ende 2007 stand schon einmal Brigitte Zypries hier. Sie
musste den ersten Anlauf für die Vorratsdatenspeicherung verteidigen.
({1})
Brigitte Zypries hat damals - ich habe mir ihre Rede
noch einmal durchgelesen - folgendermaßen argumentiert:
({2})
Sie sagte, sie hätte den Zwang, die EU-Richtlinie umzusetzen. Das klang wie: Sie müsse sich entscheiden zwischen dem Grundrechtsschutz auf der einen Seite und
den Richtlinien der EU auf der anderen Seite. Dieser
Konflikt, meine Damen und Herren, hat sich 2015 aufgelöst.
({3})
Den Grundrechtsschutz gibt es auf der europäischen
Ebene, und zwar keinen schlechten, und Sie führen hier
die Vorratsdatenspeicherung ein, Herr Maas, und zwar
freiwillig.
({4})
Herr Maas, Sie könnten anders.
({5})
Es gibt keine Richtlinie der EU mehr. Es gibt höchstens
noch eine Richtlinie von Sigmar Gabriel. Wenn das so
wichtig ist, dann haben Sie jedenfalls mit den Grundrechten nichts mehr zu tun.
({6})
Vor kurzem - wir können Ihnen das nicht ersparen;
Herr Korte hat das ja zu Recht schon erwähnt - sagten
Sie noch wörtlich: Die Vorratsdatenspeicherung lehne
ich entschieden ab. Sie verstößt gegen das Recht auf Privatheit und den Datenschutz. - Ja, so ist es. Besser hätten wir das auch nicht sagen können.
({7})
In der Tat: Sie bringt eben nicht mehr Sicherheit. Herr
Krings, Herr Maas, die Argumentation, mit der Sie hier
versucht haben darum herumzureden, trägt nicht; sie
führt nicht zu mehr Sicherheit. Im Gegenteil: Dort, wo
man Sicherheit bräuchte, dort, wo man dafür sorgen
müsste, dass man tatsächlich ermitteln kann, kann man
es nicht mehr tun, weil man nicht nur anlasslos, sondern
auch massenhaft Daten erfasst. Da, wo man Kapazität
bräuchte, da, wo man Leute bräuchte, die diese Daten
auswerten, können sie es nicht mehr machen. Deswegen:
Sie sorgen hier nicht für mehr Sicherheit, sondern es
geht darum, dass Sie eingeknickt sind, und es geht um
eine Ideologie, die Sie brauchen und die zu nichts weiter
führt.
({8})
Mir wäre es sehr viel lieber gewesen, Sie hätten nicht
ein paar Zitate bei Twitter und Facebook gepostet, sondern hätten an dieser Stelle tatsächlich gekämpft. Ich
verstehe nicht, wieso Sie sich auf europäischer Ebene
nicht dafür eingesetzt haben. Eine rechtspolitische Initiative im Europäischen Rat wäre möglich gewesen. Dann
hätten Sie hier keine Sprüche klopfen müssen und die
VDS-Ablehnung nicht als Attitüde titulieren müssen. Sie
hätten das machen können.
Bis zur Vorlage des Gesetzentwurfs hat es übrigens
80 Tage gedauert. In dieser Zeit kann man um die Welt
segeln - das hat uns Jules Verne beigebracht. Diese Zeit
reicht aber nicht, um einen anständigen Gesetzentwurf
vorzubereiten. Dafür bedarf es der Ressortabstimmungen.
Man muss dafür sorgen, dass das Bundeskabinett zusammenkommt usw. Sie haben das in 80 Tagen geschafft. Dafür kann es zwei Gründe geben: Entweder haben Sie die
Öffentlichkeit hinter die Fichte geführt, weil Sie das
Ding schon in der Schublade hatten, oder Sie haben
schlampig gearbeitet. Beides wäre gleich schlimm. Sie
haben noch nicht einmal die Verbände angehört. Dazu
kann ich nur sagen: Das ist absurd.
({9})
Deswegen sage ich Ihnen: Das Gesetz wird keinen
Bestand haben. Es ist genauso wenig verfassungsgemäß
wie das letzte. Das hat Ihnen Ihre Bundesdatenschutzbeauftragte gesagt. Das hat Ihnen der Wissenschaftliche
Dienst des Bundestages gesagt.
({10})
Das hat Ihnen die Bundesrechtsanwaltskammer gesagt.
Das werden Ihnen auch die Gerichte sagen. Ich kann Ihnen versichern: Wieder werden Leute klagen. Gestern
hat das Verfassungsgericht von Belgien Nein zur Vorratsdatenspeicherung gesagt.
({11})
So wird es auch in Deutschland kommen. Sie werden
wieder auf die Nase fallen, und das zu Recht.
({12})
Ihre neue Vorratsdatenspeicherung ist nichts anderes
als ein Verfahren nach dem Motto: Raider heißt jetzt
Twix. Vorratsdatenspeicherungen heißen nun Höchstspeicherfristen. Treffender wäre es gewesen, das Gesetz
„Eine anlasslose Vollprotokollierung unseres Telekommunikationsverhaltens“ zu nennen, weil es Ihnen genau
darum geht.
({13})
Das ist das, was Sie im Kern wollen. Das ist der Kern
dessen, was Sie jetzt hier vorgelegt haben.
Wenn es einen Anlass gibt, wenn es wirklich um die
Sicherheit geht, dann kann man in dem Moment auf die
Taste drücken, wo es diesen Anlass gibt. Dann kann man
aufnehmen, dann kann es Hausdurchsuchungen geben,
({14})
dann kann es Beschlagnahmungen geben. Dann kann es
all das geben. Aber wo mein Handy im Netz war, das
wollen Sie immer wissen. Das führt nicht zu mehr Sicherheit, sondern zu einem geringeren Schutz der
Grundrechte. Diese Aushöhlung von Grundrechten werden wir nicht mitmachen.
({15})
Wenn man ein bisschen zynisch wäre, Herr Maas,
würde man vielleicht fragen: Warum bleiben Sie auf halbem Wege stehen? Die Smartphones haben schließlich
auch Mikrofone und Kameras. Wann wird es den ersten
Fall geben, bei dem gefordert wird, diese Möglichkeiten
auch noch auszuschöpfen? Das ist die Öffnung der
Büchse der Pandora. Das sollten wir uns in diesem
Rechtsstaat nicht leisten.
({16})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, es
verwundert nicht, dass Sie dieses Gesetz wollen. Das sagen Sie schon lange; darüber muss man nicht weiter debattieren. Eine Frage will ich Ihnen aber schon stellen:
Wer soll das bezahlen? Ihre Antwort ist: „Die Wirtschaft
zahlt das“, was mich wundert. Es war ja die Union, die
vor nicht allzu langer Zeit, nachdem sie die Rente mit 63
und den Mindestlohn beschlossen hatte, gesagt hat, alles,
was zusätzliche Belastungen und neue Unsicherheiten
für die Wirtschaft schaffe, müsse vertagt werden.
({17})
Ich habe Gerda Hasselfeldt zitiert. Aber vielleicht sind
eine halbe Milliarde Euro, die dafür gezahlt werden soll,
nur Peanuts für Sie. Es wird aber nicht reichen, diesen
Betrag einmal auszugeben.
Ihr Gesetz wird dazu führen, dass bei den Unternehmen riesige Datenmengen angehäuft werden. Durch die
Cyberattacke auf den Deutschen Bundestag wird jetzt
auch der Letzte mitbekommen haben, wie sensibel Dateninfrastrukturen sind.
({18})
Ich bin wirklich gespannt, wann die ersten Meldungen
erscheinen, nach denen ein Mobilfunkunternehmen, bei
dem Sie Kunde sind, Opfer eines Angriffs geworden ist.
Fremde Geheimdienste oder Hacker werden sich nicht
darum scheren, welche Eingriffsschwellen Sie in der
Strafprozessordnung vorgesehen haben.
Meine Damen und Herren, Sascha Lobo hat leider
recht, wenn er sagt:
Deutschland ist ein „digitally failed state“.
Die Vorratsdatenspeicherung ist ein weiterer Schritt auf
dem Weg des Scheiterns. Dieser Schritt wird vorangetrieben von jemandem, der es eigentlich besser wissen
müsste, der es eigentlich besser weiß. Dieser Schritt wird
vorangetrieben von dem, der die Grundrechte und die
Bürgerrechte schützen müsste, vom Justizminister dieses
Landes.
Ich kann Ihnen nur sagen: Es ist ein Drama, und wir
werden alles tun, um zu verhindern, dass dieses Gesetz,
dass diese Art von Massenüberwachung Wirklichkeit
wird.
Vielen Dank.
({19})
Das Wort hat die Kollegin Dr. Eva Högl für die SPD
Fraktion.
({0})
Liebe Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Im Jahr
1987 habe ich gemeinsam mit vielen Bürgerinnen und
Bürgern in der Bundesrepublik Deutschland gegen die
geplante Volkszählung demonstriert. Vielleicht haben
das auch einige von Ihnen gemacht.
({0})
Wenige Jahre später polarisierte der große Lauschangriff
- der wurde auch hier im Deutschen Bundestag intensiv
diskutiert - die Debatte. Selbstverständlich waren der
Lauschangriff und auch die Volkszählung wesentliche
Eingriffe in unsere Grundrechte. Deswegen diskutieren
wir immer hier im Deutschen Bundestag und in der gesamten Gesellschaft sehr sorgfältig über das Sammeln,
Speichern, Erheben und Verwerten von privaten Daten.
Wir machen das auch emotional und leidenschaftlich;
denn es geht um unsere Grundrechte. Das ist nur richtig
und angemessen. Wir beschäftigen uns jetzt hier mittlerweile seit zehn Jahren mit der Einführung einer Speicherpflicht für persönliche Daten, die von Strafverfolgungsbehörden zur Verbrechensbekämpfung genutzt
werden sollen. Wir machen uns diese Entscheidung nicht
leicht.
Seit 1987, seit der Volkszählung - wenn man sich das
heute anschaut, kommt es einem fast lächerlich vor, gegen was wir damals mobilisiert haben -, hat sich unsere
Zeit verändert. Die Verbrecher und Verbrecherinnen nutzen digitale Daten und Telekommunikation zur Vorbereitung und Durchführung ihrer Verbrechen. Auf der an10592
deren Seite werden auch immer mehr persönliche Daten
gesammelt und gespeichert. Dadurch entsteht auch - das
gehört ebenfalls zur Wahrheit - ein Dickicht, ein Wust
von Daten, der bei vielen Bürgerinnen und Bürgern - so
formuliert es im Übrigen das Bundesverfassungsgericht
in seiner Entscheidung 2010 - ein diffuses Gefühl des
Beobachtetseins entstehen lässt.
Dieses Gefühl nehmen wir bei unserer Debatte sehr
ernst. Dieses Gefühl verstärkt sich - wie ich finde, merkwürdigerweise - bei den Bürgerinnen und Bürgern noch,
wenn der Staat, wenn Strafverfolgungsbehörden die Daten nutzen. Ich finde, man müsste viel sensibler sein,
wenn private Unternehmen die Daten nutzen. Ich wundere mich manchmal über diese Schieflage in der Diskussion.
({1})
Wenn wir staatliche Behörden ermächtigen, die Daten
für die Strafverfolgung zu nutzen, ist das natürlich ein
Eingriff in das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung. Dieser Eingriff muss selbstverständlich gerechtfertigt sein. Das hat das Bundesverfassungsgericht in
seinen Urteilen zur Volkszählung, zum großen Lauschangriff und auch zur sogenannten Vorratsdatenspeicherung 2010 klargestellt. Dasselbe gilt für das Urteil des
Europäischen Gerichtshofs 2014. Die Daten können genutzt werden, und es gibt eine Verhältnismäßigkeit bei
der Nutzung.
Es gibt also gute Gründe für die Vorratsdatenspeicherung. Ich möchte Ihnen dazu ein Beispiel nennen. Ich
nehme kein Beispiel aus dem Bereich des Terrorismus,
der Kinderpornografie und auch nicht der Vergewaltigung, sondern ich nehme ein sehr praktisches Beispiel.
Jahrelang hat ein Mann aus seinem Lkw auf Transporter,
Pkws und Gebäude geschossen - vielleicht erinnern Sie
sich daran -, deutschlandweit insgesamt über 760-mal.
Eine Pkw-Fahrerin wurde schwer verletzt. Es war pures
Glück, dass es nicht mehr Verletzte, geschweige denn
Tote gab.
Die Ermittlungsbehörden haben daraufhin die Mobilfunkdaten eines Tatverdächtigen mit den Funkzellen
mutmaßlicher Tatorte und Tatzeiten auf Hunderten von
Kilometern deutscher Autobahnen abgeglichen. Dieser
Abgleich der Daten verstärkte den Verdacht der Ermittler zum Beweis. Der Täter konnte letztlich überführt
werden.
({2})
- Ich komme darauf; ich kenne die Kritik. - Es war purer
Zufall - darum geht es mir -, dass die Ermittlungsbehörden überhaupt die Daten abgleichen konnten; denn es
bestand überhaupt keine gesetzliche Pflicht für die Mobilfunkunternehmen, die Daten zu erheben, zu speichern
und vorzuhalten. Hätte der Täter ein anderes Mobilfunkunternehmen gewählt, das die Standortdaten nicht gespeichert hätte, dann wäre der Täter nicht ermittelt worden.
Solche Beispiele gibt es viele. Deswegen diskutieren
wir heute über die Einführung einer Speicherpflicht. Wir
dürfen es nicht dem Zufall überlassen, ob die Strafverfolgungsbehörden Zugriff auf Daten haben, und wir dürfen es nicht dem Zufall und der Wahl des Telekommunikationsunternehmens überlassen, ob diese Straftaten
aufgeklärt werden können.
({3})
Ja, das geschieht anlasslos. Das geschieht notwendigerweise anlasslos; denn das Beispiel zeigt: Es hätte im
Vorhinein gar keinen Anlass gegeben, die Daten genau
dieses Täters zu speichern, weil man den Täter gar nicht
kannte. Deswegen kommt man an der Hürde „anlasslos“
nicht vorbei, weil man in vielen Fällen gar keinen konkreten Anlass für die Speicherung hat. Deswegen müssen wir die anlasslose Speicherung ermöglichen, und
deswegen ist es richtig, dass wir andere Wege gefunden
haben, der Einschränkung des Europäischen Gerichtshofs gerecht zu werden, dass nicht anlasslos alle Kommunikationsdaten gespeichert werden dürfen, weswegen
jetzt auch nach der Datenart und der Dauer der Speicherung differenziert wird.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich sage es ganz
deutlich: Das ist keine leichte Entscheidung; das habe
ich schon erwähnt. Die Hürde „anlasslos“ ist eine
schwierige. Aber ich finde, Bundesjustizminister Heiko
Maas und Bundesinnenminister Thomas de Maizière haben maximal gut verhandelt und einen exzellenten Gesetzentwurf erarbeitet, der im Übrigen die europaweit restriktivste Speicherfrist von Telekommunikationsdaten
vorsieht.
Es geht darum, dass Richterinnen und Richter die
Möglichkeit bekommen, nach sorgfältiger Abwägung aller Interessen den Zugriff auf Telekommunikationsdaten
zu erlauben, wenn es um schwerste Straftaten geht. Genau darum geht es. Die Betroffenen werden vorher informiert. Das ist eine ganz entscheidende Eingrenzung. Bisher - das war auch bei dem Beispiel der Lkw-Anschläge
der Fall - erfolgte der Zugriff ohne die vorherige Information.
Die jetzt vorgesehene Speicherung der Daten ist
- auch darauf möchte ich hinweisen - viel restriktiver
und eingeschränkter als die gegenwärtige Praxis vieler
Telekommunikationsunternehmen, die Daten vorzuhalten.
({4})
Das ist eine ganz entscheidende Einschränkung. Ich
glaube, das muss ein Weckruf sein, dass wir viel sensibler damit umgehen sollen, wem wir erlauben, unsere
Daten zu speichern und letztendlich auch zu nutzen.
({5})
Heiko Maas hat das Thema Berufsgeheimnisträger
bereits erwähnt. Ich will den Punkt noch einmal aufgreifen. Das ist selbstverständlich ein sensibles Thema, und
es ist für uns sehr wichtig, dass Berufsgeheimnisträger
ausgenommen werden. Wir können das nicht im Vorhinein machen, liebe Kolleginnen und Kollegen, weil wir
die Berufsgeheimnisträger und -trägerinnen schützen
wollen. Denn wir wollen sie nicht nur dann schützen,
wenn sie über ihre Festnetznummer, die sich dann vielleicht in einer Datei findet, telefonieren, sondern auch
dann, wenn sie unterwegs sind oder wechselnde Anbieter nutzen.
Deswegen kann man keine Datei der Berufsgeheimnisträger erstellen, sondern wir nehmen sie von der Verwertung ihrer Daten aus. Sie sind ausgenommen, wenn
die Daten genutzt werden sollen, und da sie vorher informiert werden, haben sie die Gelegenheit, gegenüber den
Strafermittlungsbehörden anzugeben, dass sie als Berufsgeheimnisträger ein Auskunftsverweigerungsrecht
haben und ihre Daten nicht genutzt werden können. Ich
finde, das ist eine sehr gute und richtige Regelung.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir wollen den Tätern die Möglichkeit nehmen, nur deshalb straflos davonzukommen, weil wir ihre Daten unangetastet lassen.
Ich halte das für unbedingt notwendig. Ich halte die vorgesehene Speicherpflicht für geeignet und nach dem,
was wir miteinander diskutiert haben, auch für verhältnismäßig und damit für verfassungsgemäß.
Wir machen uns trotzdem die Entscheidung nicht
leicht. Wir diskutieren hier und auch in der Gesellschaft
ausführlich über die gesamten Aspekte. Ich finde den
Vorschlag gut. Wir können ihn guten Gewissens annehmen. Ich freue mich auf die weiteren Beratungen.
Herzlichen Dank.
({6})
Das Wort hat die Kollegin Halina Wawzyniak für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen
und Kollegen! Bisher dürfen Telekommunikationsanbieter zu Abrechnungszwecken Daten speichern. Wenn die
Vorratsdatenspeicherung durchkommt, müssen sie es
machen.
Dass der Gesetzentwurf Grundrechte einschränkt, ist
unstreitig. Wenn wir grundrechtseinschränkende Gesetzesvorhaben beraten, dann prüfen wir, ob sie geeignet,
erforderlich und angemessen sind. Meistens diskutieren
wir über die Angemessenheit bzw. die Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne. Doch so weit kommen wir mit
der Vorratsdatenspeicherung gar nicht. Denn die Erforderlichkeit der Vorratsdatenspeicherung ist nicht belegbar.
({0})
Eine Einschränkung eines Grundrechtes ohne Erforderlichkeit ist nun einmal im Rechtsstaat nicht möglich. So
einfach ist es in diesem Fall.
Es wird immer gesagt, die Vorratsdatenspeicherung
sei für die Strafverfolgung und die Gefahrenabwehr notwendig. Das konnten Sie aber bisher an keiner einzigen
Stelle belegen.
({1})
Im Gesetzentwurf gibt es keinen einzigen Beleg.
In einer schriftlichen Nachfrage zur Äußerung von
Bundesminister Maas, er habe in der Vergangenheit
Gespräche geführt, und es habe viele Fälle gegeben, in
denen aufgrund nicht vorhandener Daten, weil sie nicht
gespeichert wurden, Straftaten nicht aufgeklärt werden
konnten, habe ich gefragt, um welche Straftaten es ging
und welche Fakten zu dieser Erkenntnis geführt haben.
Die Antwort: Es handelt sich um allgemeine Erkenntnisse, die in Gesprächen gewonnen wurden. Die Aussage bezieht sich nicht auf konkrete Einzelfälle. - Was
denn nun? Ist das, oder ist das nicht?
({2})
Sie stellen immer wieder dieselbe These in den Raum,
aber Sie können sie nicht beweisen. Man muss hier einfach einmal sagen: So geht man mit Grundrechten nicht
um. Weil Sie sie nicht beweisen können, sagen Sie den
Gegnerinnen und Gegnern der Vorratsdatenspeicherung,
sie sollten einmal erklären, warum das Grundrecht nicht
angetastet werden soll. Wo leben wir denn, dass die Verteidiger von Grundrechten erklären müssen, warum
Grundrechte nicht angetastet werden sollen? Wenn Sie
Grundrechte einschränken wollen, dann müssen Sie beweisen, warum das notwendig ist.
({3})
Sie können das aber einfach nicht. Immer wieder
- auch jetzt eben - hören wir zur Begründung Beispiele
anlassbezogener Telekommunikationsüberwachung. Es
ist aber ein Unterschied, ob sie anlasslos oder anlassbezogen ist. Zwischen den Wörtern gibt es nur einen kleinen Unterschied: Der zweite Teil des einen Wortes fängt
mit „l“ an, während der zweite Teil des anderen Wortes
mit „b“ anfängt. Diesen Unterschied müssten Sie eigentlich kennen.
({4})
Sie können die Erforderlichkeit der Vorratsdatenspeicherung nicht beweisen, weil alle vorliegenden belegbaren Fakten Ihrer These von der Lücke in der Strafverfolgung widersprechen. Ich zitiere jetzt einmal aus der
Studie des Max-Planck-Instituts für ausländisches und
internationales Strafrecht aus dem Jahre 2011. Zu der
aufgeworfenen Frage zur Schutzlücke durch den Wegfall
der Vorratsdatenspeicherung sagt die Studie, „dass die
Aufklärungsquote in Deutschland in keinem Fall unter
den für die Schweiz mitgeteilten Aufklärungsquoten
liegt“ - und das, obwohl es dort eine Vorratsdatenspeicherung gibt.
Die Untersuchung der deliktsspezifischen Aufklärungsquoten für den Zeitraum 1987 bis 2010 zeigt,
dass sich der Wegfall der Vorratsdatenspeicherung
- die es damals gab 10594
nicht als Ursache für Bewegungen in der Aufklärungsquote abbilden lässt. …
Betrachtet man insbesondere das Jahr 2008, in dem
Vorratsdaten grundsätzlich zur Verfügung standen,
so kann für keinen der hier untersuchten Deliktsbereiche eine mit der Abfrage zusammenhängende
Veränderung der Aufklärungsquote im Hinblick auf
das Vorjahr oder die Folgejahre 2009/2010 beobachtet werden. …
Im Zusammenhang mit der Untersuchung von Ermittlungen zu „Enkeltrickbetrügereien“ ist deutlich
geworden, dass der strafrechtliche Schutz … nicht
allein durch Rückgriff auf Vorratsdaten bedingt sein
kann.
Für Kapitaldelikte sind Veränderungen in den Aufklärungsraten wegen fehlender Vorratsdaten nicht
sichtbar geworden. Die gesonderte Überprüfung der
in der BKA-Fallsammlung enthaltenen Tötungsdelikte ergibt keinen Hinweis darauf, dass bei
schwerster Kriminalität durch die Entscheidung des
BVerfG die Aufklärung überhaupt behindert worden wäre.
Mit anderen Worten: Die einzige wissenschaftliche
Studie belegt: Die Vorratsdatenspeicherung ist nicht erforderlich.
({5})
Das sind fünf Fakten einer wissenschaftlichen Studie,
die gegen die Erforderlichkeit sprechen. Diese fünf Fakten können Sie nicht ignorieren, jedenfalls dann nicht,
wenn Sie eine seriöse Rechtspolitik machen wollen.
({6})
- Ich lasse die Frage zu.
Herr Kollege Wiese, Sie haben das Wort zu einer
Frage oder einer Bemerkung.
Vielen Dank, dass Sie die Frage zulassen. - Sie haben
gerade ausführlich aus dem Gutachten des Max-PlanckInstituts für ausländisches und internationales Strafrecht
vom Juli 2011 zitiert. Dieses Gutachten ist sehr umfangreich. Stimmen Sie mir zu, dass auf Seite 218 des Gutachtens steht, dass es sich um eine „Momentaufnahme“
handelt? Bestätigen Sie weiterhin, dass auf Seite 218 des
Gutachtens steht, dass es sich um eine „unsichere statistische Datengrundlage“ handelt?
({0})
Da die von mir zitierten Passagen - die Einschätzung
des Max-Planck-Instituts - auf den Seiten 219 und 220
stehen, ist Ihre Erkenntnis überholt, da die Seiten 219
und 220 nach der Seite 218 kommen.
({0})
Es hilft also nichts, einzelne Änderungen an Ihrem
Gesetzentwurf anzuregen. Der Gesetzentwurf ist rechtspolitisch eine Katastrophe und rechtsstaatlich nicht akzeptabel, und es gibt nur einen Ort, wo er hingehört: in
den Reißwolf.
({1})
Der Kollege Thomas Strobl hat für die CDU/CSUFraktion das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Auch in der heutigen Debatte ist insbesondere
von der Linken davon gesprochen worden, dass es bei
uns Massenüberwachung, Massenspeicherung, Totalüberwachung geben soll.
({0})
Massenüberwachung, Massenspeicherung, Totalüberwachung - das gab es in totalitären Staaten, und das gibt es
in totalitären Staaten.
({1})
Bei uns im demokratischen Rechtsstaat der Bundesrepublik Deutschland werden aber die Freiheit und die Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger nicht durch den
Staat, nicht durch unsere Polizeibeamten bedroht, sondern die organisierte Kriminalität, diejenigen, die mit
Kinderpornografie handeln, und der islamistische Terrorismus, sie alle bedienen sich insbesondere der sozialen
Netzwerke und des Internets. Wir können doch nicht,
wenn sie unsere Freiheit und unsere Sicherheit mit der
Laserpistole bedrohen, unseren Ermittlungsbehörden
und Polizistinnen und Polizisten sagen: Ihr dürft nur mit
einer Gummischleuder und mit Pappknöllchen schießen.
({2})
Das Ermittlungsinstrument, das heute vorgestellt
wird, ist strafprozessrechtlich Schlüssellochchirurgie.
Das ist polizeilich minimalinvasiv. Das ist ein außerordentlich maßvoller Vorschlag. Das bleibt weit hinter
dem zurück, was der Europäische Gerichtshof und was
das Bundesverfassungsgericht zugelassen haben. Das,
was wir hier machen, ist sehr zurückhaltend - wir halten
die verfassungsrechtlichen Grenzen strikt ein -, aber es
Thomas Strobl ({3})
ist im Interesse der Sicherheit und der Freiheit der Bürgerinnen und Bürger zwingend notwendig.
({4})
Deswegen möchte ich ausdrücklich für diesen klugen,
guten und maßvollen Gesetzentwurf den beiden Verfassungsministern, dem Bundesminister des Innern,
Thomas de Maizière,
({5})
und dem Bundesminister der Justiz und für Verbraucherschutz, Heiko Maas, Dank sagen.
({6})
Um was geht es? Das kann man bei diesem Thema
nicht oft genug sagen. Massenüberwachung, Totalüberwachung - zunächst einmal speichert der Staat überhaupt keine Daten. Richtig ist, dass die Telekommunikationsunternehmen schon heute Daten speichern; sie
gehen aber völlig unterschiedlich vor. Das eine Unternehmen speichert sie gar nicht, ein anderes Unternehmen speichert sie eine Woche, ein weiteres Unternehmen
speichert sie was weiß ich wie lange.
({7})
Jetzt regeln wir das einheitlich. Alle Telekommunikationsunternehmen müssen die Daten nach vier Wochen
bzw. nach zehn Wochen definitiv löschen. Wir regeln,
dass die Daten nur in Deutschland gespeichert werden
dürfen. Das ist ein Beitrag zu mehr Datensicherheit.
({8})
Zum Zweiten: Was für Daten werden gespeichert? Es
werden keinerlei Inhalte gespeichert. Das ist im Übrigen
auch ein Unterschied zu totalitären Staaten. Diese interessieren sich vor allem auch für Gesprächsinhalte. Hier
geht es ausschließlich um Verbindungsdaten. Diese sollen gespeichert werden und werden im Übrigen bereits
heute gespeichert. Nur regeln wir jetzt, dass sie nach bestimmten Fristen zu löschen sind.
Wann darf der Staat Zugriff auf diese Daten nehmen?
Er darf das nur, wenn ein Staatsanwalt dies beantragt
und ein Richter es genehmigt. Insofern, Herr Bundesjustizminister, haben wir nicht nur zwei, sondern sogar drei
Schlüssel: Wir haben den Provider, den Staatsanwalt und
den Richter, der unabhängig seine Genehmigung geben
muss. Der Richter muss immer einverstanden sein. Es
gibt kein staatsanwaltschaftliches Eilverfahren. Es ist
auch nur möglich - das ist wichtig -, wenn es sich um
bestimmte Straftaten handelt: um Mord oder Totschlag,
um schwerste Straftaten aus dem Bereich der Sexualverbrechen, um organisierte Kriminalität. Weil es hier darum geht, die Freiheit und die Sicherheit unserer Bürgerinnen und Bürger zu schützen und weil genau in diesen
Kriminalitätsbereichen das Internet eine so große Rolle
spielt, brauchen wir dieses Ermittlungsinstrument. Und
deswegen ist dieser Gesetzentwurf auch so notwendig
und so richtig.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, diese Koalition aus CDU/CSU und SPD handelt im Bereich der
Innen- und Rechtspolitik. Wir haben gleich zu Beginn
der Legislaturperiode etwa im Bereich der Kinderpornografie das materielle Strafrecht verschärft. Wir haben auf
einen Gesetzentwurf des Bundesjustizministers hin die
Bekämpfung terroristischer Organisationen im materiellen Strafrecht verbessert.
Uns haben dann unsere Polizistinnen und Polizisten
und die Ermittlungsbehörden gesagt: Ja, es ist richtig,
dass ihr das materielle Strafrecht im Bereich der Kinderpornografie verschärft habt, aber ihr müsst uns jetzt
auch die Möglichkeiten geben, die Täter zu ermitteln.
Beispielsweise brauchen wir mehr Polizistinnen und
Polizisten. Insbesondere zur Ermittlung von Straftaten
im Bereich der Kinderpornografie brauchen wir, weil
dies oft der einzige Ermittlungsansatz ist, einen Zugriff
auf die Verbindungsdaten.
Die Koalition hat im laufenden Haushalt für das Jahr
2015 eine zusätzliche dreistellige Anzahl von Personalstellen bei der Bundespolizei beschlossen. Wir schaffen
mehr Personal für unsere Polizei, und wir statten sie mit
einem zweistelligen Millionenbetrag auch technisch besser aus. Dabei bleibt es aber nicht, sondern wir nehmen
das, was uns Polizistinnen und Polizisten und unsere Ermittler sagen, nämlich dass sie auch Ermittlungsinstrumente mit Blick auf die neuen Medien und das Internet
brauchen, ernst. Deswegen bringen wir heute Gott sei
Dank diesen Gesetzentwurf zur Verbindungsdatenspeicherung ein. Das ist richtig, das entspricht den sachlichen Erfordernissen, und das entspricht dem, was uns
Ermittlungsbehörden und Polizistinnen und Polizisten
seit Jahren sagen. Es ist verfassungsrechtlich ausgewogen, und es ist ein guter Vorschlag.
({9})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, in Artikel 6
der Europäischen Grundrechtecharta steht:
Jede Person hat das Recht auf Freiheit und Sicherheit.
Dem fühlen wir uns in dieser Großen Koalition von
CDU/CSU und SPD verpflichtet. Wir haben eine zunehmende Bedrohung der Freiheit und der Sicherheit unserer Bürgerinnen und Bürger im Bereich der organisierten
Kriminalität bis hin zur bandenmäßig organisierten Einbruchskriminalität, in deren Zusammenhang diese Koalition im Übrigen auch handelt: Wir legen beispielsweise jetzt im präventiven Bereich ein Programm auf,
um denen, die sich besser schützen wollen, zu helfen.
All dies ist eine Gesamtschau, weil wir sehen, dass es
diese Gefahrenlagen gibt: organisierte Kriminalität, die
Perversen und die Händler im Bereich der Kinderpornografie, die Bedrohung durch den islamistischen Terrorismus.
Wir sind der Auffassung, dass es darum geht, unsere
Bürgerinnen und Bürger davor zu schützen und ihnen
Freiheit und Sicherheit zu geben. Wir sehen nicht die
Bedrohung durch die Beamten in unseren Ermittlungsbehörden und durch unsere Polizistinnen und Polizisten,
Thomas Strobl ({10})
die ihre Arbeit machen, sondern es sind die Verbrecher
und die Kriminellen, die die Freiheit und Sicherheit in
diesem Land bedrohen, und denen sagen wir tatkräftig
den Kampf an.
Ein entscheidendes Instrument in diesem Kampf gegen das Verbrechen sind die Verbindungsdaten; denn das
Internet spielt eine immer größere Rolle für die Verbrecher und die Straftäter. Deswegen dürfen wir unsere Ermittler sowie unsere Polizistinnen und Polizisten nicht
länger dumm und blind sein lassen, sondern wir müssen
Möglichkeiten schaffen, dass sie auch in diesem Bereich
sehen können.
({11})
Im Sinne von Freiheit und Sicherheit in diesem Land
ist somit der heutige Tag, an dem wir diesen Gesetzentwurf einbringen, ein außerordentlich guter Tag.
({12})
Danke fürs Zuhören.
({13})
Die Kollegin Katja Keul hat für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Am 18. März dieses Jahres haben wir hier in
einer Aktuellen Stunde über die geplante Vorratsdatenspeicherung debattiert. Gestern habe ich mir noch einmal das Protokoll angesehen und darin interessante Zwischenrufe aus der SPD gefunden. Als ich sagte, die
Vorschläge der SPD-Führung ließen an deren Rechtsverständnis zweifeln, da riefen die Kollegen Flisek und
Klingbeil, die heute im Übrigen wohl aus gutem Grunde
gar nicht da sind: „Es gibt doch gar keine Vorschläge!“,
und: „Welche Vorschläge denn?“
({0})
- Gut, das mag sein. - Ich sage nur: Die Zwischenrufe
waren: „Es gibt doch gar keine Vorschläge!“, und: „Welche Vorschläge denn?“ Also aufwachen, liebe Sozialdemokraten!
Hier liegt er jetzt schwarz auf weiß: euer Vorschlag
zur Vorratsdatenspeicherung, vom Kabinett beschlossen
und in den Bundestag eingebracht.
({1})
Ihr habt zwar dem Gesetz einen anderen Titel gegeben,
aber das täuscht nicht darüber hinweg, dass es genau das
bleibt, was der EuGH für grundrechtswidrig erklärt hat:
eine anlasslose Speicherung der Daten unverdächtiger
Bürger.
({2})
Das Ganze vermittelt uns weder Sicherheit, nein,
noch nicht einmal die Illusion von Sicherheit. Das Gegenteil ist der Fall: Die Bürgerinnen und Bürger sind
verunsichert. Es werden noch mehr Daten gespeichert,
und niemand kann mehr genau sagen, wer alles in welchem Umfang auf diese Daten zugreift.
Schon das Verfassungsgericht hat 2010 klar erkannt,
dass die Gefahr eines illegalen Zugriffs auf eine solche
Datensammlung besonders hoch ist. Seitdem haben wir
reichlich an Erkenntnis dazugewonnen. Wir erleben gerade, wie durch einen in das Bundestagsnetzwerk eingeschleusten Trojaner selbst vermeintlich sichere Daten
absaugt werden. Die Sicherheitsdienste können nicht
einmal die Handydaten der Kanzlerin schützen. Das Verfahren ist heute, wie wir gerade erfahren haben, eingestellt worden. Wie wollen Sie uns dann glauben machen,
die Telekommunikationsunternehmen könnten die Sicherheit der Daten von 80 Millionen Bundesbürgern gewährleisten? So naiv kann doch heute keiner mehr sein!
({3})
Auch der im Gesetzentwurf beschworene Stand der
Technik und die angeblich sicheren Verschlüsselungsverfahren werden professionelle Hacker und Geheimdienste aus aller Welt nicht daran hindern, sich aus dem
dann gespeicherten Datenpool zu bedienen.
({4})
In diesem Pool befinden sich dann auch noch die Verbindungsdaten von Berufsgeheimnisträgern wie Ärzten,
Rechtsanwälten und Priestern. Diese Berufsgruppen unterliegen aber nicht ohne Grund der Verschwiegenheitspflicht.
In der Begründung Ihres Gesetzentwurfs schreiben
Sie - Zitat -:
Die Berufsgeheimnisträger in ihrer Gesamtheit
schon von der Speicherung ihrer Verkehrsdaten
auszunehmen, ist nicht möglich.
Das ist schon einmal eine weise Erkenntnis. Sie haben
nur leider keine Schlüsse daraus gezogen.
({5})
Wenn das unmöglich ist, dann muss man es eben lassen,
({6})
zumal sich die Aufklärungsquote mit Vorratsdatenspeicherung nach einer europäischen Studie - das haben wir
gerade ausführlich gehört - gerade einmal um 0,006 Prozentpunkte erhöht. Der Vorteil ist also, statistisch gesehen, kaum messbar und kann die Grundrechtseingriffe
nicht rechtfertigen.
Jetzt haben Sie sich aber noch etwas Neues ausgedacht, und zwar - was für eine Überraschung! - einen
neuen Straftatbestand: die Datenhehlerei. Vielleicht können wir uns einmal darauf einigen, dass wir für jeden
neuen Straftatbestand einen alten streichen.
({7})
Das StGB schwillt ansonsten langsam immer mehr an.
Jetzt soll also bestraft werden, wer sich rechtswidrig erlangte Daten verschafft oder verbreitet. Sie denken vielleicht an die armen Finanzminister, die sich die CDs mit
den Schweizer Bankdaten besorgen. Nein, Amtsträger,
die Daten in einem Besteuerungsverfahren verwenden
wollen, sind im Gesetz explizit ausgenommen. Wer also
sind die anderen Bösewichte? Richtig, Edward Snowden
zum Beispiel, also all diejenigen, die wir Grüne mit unserem Whistleblower-Schutzgesetz schützen wollen. Eigentlich wollte sich doch auch die Koalition mit deren
Schutz beschäftigen. Aber stattdessen werden sie jetzt
alle erst einmal unter Strafe gestellt. Das ist ja toll!
({8})
Was ist denn mit den Journalisten, die von Whistleblowern kontaktiert werden? Fallen die jetzt unter die
Ausnahme der beruflichen Pflichterfüllung?
({9})
Wer darf denn die Berufsbezeichnung „Journalist“ überhaupt führen und wer nicht? In der Begründung heißt es,
die Ausnahme umfasse „journalistische Tätigkeiten in
Vorbereitung einer konkreten Veröffentlichung“. Ja,
wann ist denn eine Veröffentlichung konkret? Was ist
denn mit der vorgeschalteten Hintergrundrecherche?
({10})
Liebe Mitglieder der schreibenden Zunft, mich würden diese Ausführungen im Kleingedruckten nicht wirklich beruhigen. Vom Tatbestand sind Sie und all Ihre
Quellen jedenfalls erst einmal erfasst. Im Hinblick auf
die Pressefreiheit finde ich das auch verfassungsrechtlich höchst bedenklich.
Fazit: Ihr neuer Straftatbestand ist genauso missglückt
wie die ganze Vorratsdatenspeicherung. Die große Herausforderung für den freiheitlichen Rechtsstaat wäre,
der allgemeinen Verunsicherung standzuhalten. Weicht
der Rechtsstaat angesichts der Angst vor dem Terror zurück, indem er die Freiheit beschneidet, haben die Terroristen bereits gewonnen, ohne einen Anschlag zu verüben. Insofern gebe ich dem Bundesjustizminister
ausdrücklich recht, der sich früher entsprechend geäußert hat. Mit dem Sammeln größerer Datenmengen und
dem Erlass neuer Strafvorschriften werden Sie jedenfalls
dieser Herausforderung nicht gerecht.
Vielen Dank.
({11})
Für die SPD-Fraktion hat der Kollege Dr. Johannes
Fechner das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer! Wenn wir
Verbindungsdaten anlasslos speichern, dann ist das ohne
Zweifel ein Grundrechtseingriff, den wir als Gesetzgeber
gut begründen und rechtfertigen müssen. Ich meine, dass
es vor allem zwei Aspekte sind, die es rechtfertigen, den
vorliegenden Gesetzentwurf zu beschließen, zwei Aspekte, weshalb dieser Gesetzentwurf sinnvoll und erforderlich ist.
Erstens. Wir haben uns in vielen Gesprächen mit
Praktikern, Richtern und Staatsanwälten - es waren
keine Scharfmacher, sondern erfahrene und besonnene
Richter und Staatsanwälte - davon überzeugt, dass es
Beispielsfälle gibt, in denen dieses Instrument notwendig ist, weil damit Verbrechen aufgeklärt werden können, weil dadurch Täter ermittelt werden können und
weil dadurch zukünftig Verbrechen verhindert werden
können.
({0})
Zweitens bringt dieses Gesetz schlicht mehr Rechtssicherheit und Klarheit. Es wird klar geregelt, dass die
Verkehrsdaten nur auf richterlichen Beschluss abgefragt
werden können. Es wird klar geregelt, welche Daten gespeichert werden dürfen und welche nicht. Ausdrücklich
wird es keine Verpflichtung geben, Kommunikationsinhalte, etwa Inhalte von E-Mails, zu speichern. Das ist absolut tabu - ein ganz wichtiger Punkt für uns. Und: Die
Abfrage von Verkehrsdaten ist nur noch bei schweren
Straftaten möglich, und das nur - ich erwähnte es - auf
richterlichen Beschluss, ohne Eilkompetenz für die
Staatsanwaltschaft oder gar für Polizeibehörden.
Wichtig ist auch, dass die Standortdaten von Funkzellen nur vier Wochen und alle anderen Verkehrsdaten nur
zehn Wochen gespeichert werden dürfen. In Frankreich
gibt es Überlegungen, auch die Inhalte der Daten zu
speichern, und das wesentlich länger. Ganz zu schweigen davon, dass es Internetdienstleister gibt, die E-Mails
auswerten und lesen. Und: Nach vier Wochen ist auf die
etwaig geschäftsmäßig gespeicherten Standortdaten kein
Zugriff der Sicherheitsbehörden mehr möglich; denn wir
als SPD wollen nicht, dass es möglich wird, Bewegungsprofile über Monate zu erstellen.
Wir haben es also im europäischen Vergleich mit einem äußerst restriktiv gestalteten Instrument zu tun.
Wir sorgen für bessere Datensicherheit. Wir regeln die
gesetzliche Verpflichtung, dass Betroffene, deren Daten
abgefragt werden, darüber informiert werden müssen,
dass Daten abgefragt wurden. Es gibt eine klare Verpflichtung, die Daten zu löschen. Wenn ein Unternehmen das
widerrechtlich nicht tut, erhält es ein Bußgeld in Höhe
von bis zu 500 000 Euro. Ein ganz wichtiger Punkt in
diesem Zusammenhang ist, dass die Speicherung in
Deutschland stattfindet, nicht etwa in den USA oder an
anderen Orten, wo wir keine Kontrolle über die Daten
haben.
Ganz neu ist der Straftatbestand der Datenhehlerei.
Wer also heimlich etwa Daten weiterverkauft, macht
sich strafbar. Wichtig ist dabei, dass wir, Frau Kollegin
Keul, das Gesetz extra so gestaltet haben, dass weder
Journalisten noch Whistleblower befürchten müssen,
sich strafbar zu machen.
({1})
Wenn gesagt wird, dass sich zahlreiche Verbände gegen die Vorratsdatenspeicherung ausgesprochen haben,
dann muss auch gesagt werden - auch das gehört zur
Wahrheit -, dass dieser Gesetzentwurf manchen Verbänden nicht weit genug geht,
({2})
etwa dem Richterbund. Ich möchte auch ausdrücklich
darauf verweisen, dass es Verbände gibt, die sich mit unserem Vorschlag einverstanden erklären. Stellvertretend
möchte ich den Deutschen Kinderschutzbund nennen,
der sich ausdrücklich für dieses Instrument ausspricht.
({3})
Da sehen Sie: Einigen Verbänden geht es nicht weit genug, andere sagen: „Macht das so!“ Also scheinen wir
doch einen sehr guten Kompromiss gefunden zu haben.
({4})
Noch ein Wort zu den Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestages, über die in
dieser Woche diskutiert wurde. Mit solchen Gutachten
muss man ja immer sehr sorgfältig umgehen.
({5})
Das eine Gutachten kommt zu dem Ergebnis, dass die
anlasslose Speicherung rechtlich nach dem Urteil des
EuGH nicht unmöglich ist;
({6})
das steht explizit so drin. Das andere Gutachten besagt
auch nicht, dass der Gesetzentwurf verfassungswidrig
ist; vielmehr wird eine Reihe von Vorschlägen gemacht,
wie bestimmte Regelungen noch klarer gefasst werden
können. Die Gutachten enthalten also interessante und
durchaus prüfenswerte Verbesserungsvorschläge, aber
keine K.-o.-Kriterien, die diesen Entwurf verfassungswidrig erscheinen ließen.
Es ist gut, dass wir durch das eingeleitete Notifizierungsverfahren bis September dieses Jahres Zeit haben,
alle Anregungen zu prüfen. Wenn es vernünftige Verbesserungsvorschläge gibt - ob vom Wissenschaftlichen
Dienst, von Parteikonventen oder aus der Netzcommunity -, dann sollten wir sie uns durchaus anschauen.
({7})
Mir ist wichtig, dass diese Diskussion sachlich verläuft. Es gibt gute Argumente auf beiden Seiten. Nicht
jeder Gegner der Vorratsdatenspeicherung ist gleich ein
Staatsfeind oder verharmlost Kinderpornografie. Andererseits sollte man den Befürwortern nicht gleich unterstellen, dass sie das Ende der modernen digitalen Gesellschaft einleiten wollen.
Zum Schluss will ich deshalb sagen, dass mit diesem
Gesetz in der öffentlichen Debatte für meinen Geschmack einerseits zu viele Befürchtungen, andererseits
aber auch zu viele Hoffnungen verbunden werden. Was
regelt dieses Gesetz denn tatsächlich neu? Was machen
wir denn in der Sache neu? Wir schaffen - in Anführungszeichen - „nur“ die Möglichkeit, dass alle Unternehmen verpflichtet werden, ihre zu Abrechnungszwecken heute sowieso schon gespeicherten Verkehrsdaten
einheitlich zehn Wochen bzw. bei Funkzellendaten vier
Wochen zur Verfügung zu halten, damit diese Daten, und
auch nur bei schweren Straftaten, abgefragt werden können. Nicht mehr und nicht weniger regeln wir.
Für mich ist dieser Gesetzentwurf deshalb ein Baustein für mehr Sicherheit, möglicherweise kein Allheilmittel. Damit verbunden ist zugegebenermaßen ein
Grundrechtseingriff, aber kein ungerechtfertigter. Und er
läutet bestimmt nicht das Ende der modernen digitalen
Gesellschaft ein. Dieser sehr restriktive Gesetzentwurf
ist ein gelungener Interessenausgleich zwischen der Sicherung der bürgerlichen Freiheiten einerseits und dem
berechtigten Anliegen der Bevölkerung auf eine effektive Kriminalitätsbekämpfung andererseits.
({8})
Die Kollegin Elisabeth Winkelmeier-Becker hat für
die CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Zuhörer! Sie haben es gemerkt: Wir freuen uns
sehr, dass wir heute mit diesem Gesetzentwurf endlich
ins parlamentarische Verfahren gehen können
({0})
und so dafür sorgen können, dass eine Mindestspeicherfrist für Kommunikationsdaten im Gesetzblatt verankert
wird. Wir halten das für erforderlich, um schwere Straftaten aufzuklären und Gefahren abzuwehren, und zwar
vor allem im Interesse der Opfer, die keine andere Hilfe
haben als unsere Polizei, unsere Staatsanwaltschaft, unsere Gerichte und die deshalb auf deren Handlungsfähigkeit angewiesen sind. Deshalb wollen wir § 100 g StPO-E
und § 113 b TKG-E sowie angrenzende Paragrafen neu
regeln. Gut, dass dafür jetzt endlich ein Vorschlag vorliegt.
Aus den Grundrechten ist zum einen abzuleiten, dass
sich der Staat nicht zu weit ins private Leben einmischen
darf; das ist ganz klar. Aber es sind dieselben Grundund Menschenrechte, die ebenfalls erfordern, dass sich
der Staat darum kümmert, Gefahren abzuwehren, dass er
also das materielle Strafrecht in der Praxis effektiv anElisabeth Winkelmeier-Becker
wenden kann. Das haben sowohl der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte als auch der EuGH ausdrücklich zugestanden. Unsere Behörden haben ja die
Pflicht, bei Straftaten tätig zu werden. Dem zugrunde
liegt das Legalitätsprinzip. Aber das Ganze nützt nichts
und geht ins Leere, wenn keine Instrumente zur Verfügung stehen, um das umzusetzen.
Oft sind Verbindungsdaten die einzige Ermittlungsgrundlage, wenn es darum geht, eine Sache aufzuklären.
Manchmal wirken diese Daten auch entlastend. Ein mir
bekannter Fall aus der Praxis betrifft einen leicht behinderten jungen Mann, der einen Mord an einem Bekannten zugegeben hatte. Darauf deuteten auch einige Spuren
am Tatort hin. Er hatte gestanden, wurde verurteilt, hat
dann sein Geständnis widerrufen. Es konnte nachgewiesen werden, dass sein Handy zum Tatzeitpunkt an einem
ganz anderen Ort war. Er wurde dadurch entlastet, und
hinterher wurde der wahre Täter gefunden. Auch so etwas ist möglich, wenn es Vorratsdatenspeicherung gibt.
({1})
Trotzdem handelt es sich nicht um ein populäres
Thema; der Koalitionspartner weiß das. Gleichwohl
muss ich sagen: Die Generalprobe hat hier doch bisher
ganz gut geklappt. Wenn da am Samstag der nächsten
Woche nicht mehr kommt, dann mache ich mir keine
Sorgen.
({2})
Wir haben schon fast alle diesbezüglichen Stichworte
gehört. Grob gesagt, handelt es sich um zwei Strategien:
Einmal wird gesagt, der Eingriff, der mit der vorläufigen
Speicherung von Verbindungsdaten verbunden ist - den
will ich keineswegs bagatellisieren; aber er wird über die
Maßen dramatisiert -, sei nicht mit der Verfassung im
Einklang. Zum anderen wird der Nutzen kleingeredet.
Beides haben wir hier heute Morgen schon gehört.
Bemerkenswert ist dabei, wem bereitwillig und kritiklos geglaubt wird. Deshalb will ich, auch auf die Gefahr
von Wiederholungen hin, noch einmal auf die Regelungen eingehen.
Erstens. Die Aussagekraft der gesammelten Daten ist
deutlich weniger gravierend, als viele befürchten. Es
geht nur um Verbindungen, nicht um Inhalte, nur um die
Standortdaten zu Beginn eines Gesprächs. Da fürchten ja
einige, dass auch nachvollzogen wird, wenn man mit
dem angeschalteten Handy unterwegs ist, wann sich ein
Handy in eine neue Funkzelle einloggt. Das ist nicht der
Fall. Es geht auch um das, was Sie gerade gesagt hatten,
Herr Korte: Mit der Speicherung der IP-Adresse wird
keineswegs die Kontrolle des Surfverhaltens ermöglicht.
Vielmehr regelt § 113 b Absatz 5 Telekommunikationsgesetz explizit:
Der Inhalt der Kommunikation, Daten über aufgerufene Internetseiten und Daten von Diensten der
elektronischen Post dürfen auf Grund dieser Vorschrift nicht gespeichert werden.
Es ist gerade nicht so, dass man, wenn man eine IPAdresse hat, kontrollieren kann: Was ist denn mit dieser
IP-Adresse alles aufgerufen worden? Es geht nur andersherum: Man hat eine inkriminierte Website und kann
herausfinden, von welchen IP-Adressen diese besucht
wurde. Dann kann man heraussuchen, welche Person zu
dieser IP-Adresse gehört, welcher Anschluss dazu gehört. Da dürfen Sie nicht immer das Falsche sagen. Bitte
lesen Sie doch einfach einmal den Gesetzentwurf an dieser Stelle.
({3})
Zweitens erfolgt eine dezentrale Speicherung der Daten bei den Providern, nicht beim Staat; auch das ist
schon gesagt worden. Wir haben ganz klare und sehr
hohe Zugangshürden für eine Nutzung. Wir haben den
Richtervorbehalt. Wir haben die Kennzeichnungspflicht
im weiteren Verfahren. Wir haben hohe technische
Anforderungen. Und das alles für Daten, für deren
Speicherung durch die Provider aus vertraglichen
oder technischen Gründen die Voraussetzungen des
Bundesdatenschutzgesetzes genügen. Für diesen Umgang mit diesen angeblich so hochsensiblen Daten genügt das Bundesdatenschutzgesetz. Nur weil sie jetzt
hier in einen anderen Zusammenhang gestellt werden,
ohne dass sie dadurch sensibler werden, greifen die genannten erhöhten Anforderungen. Wir genügen diesen
auch. Aber die Daten werden dadurch, wie gesagt, nicht
sensibler, und die Gefahr wird keinesfalls größer, sondern - es verhält sich also gerade umgekehrt - kleiner.
Aus den zwei Jahren, in denen die Vorratsdatenspeicherung zulässig war, ist auch im Nachhinein kein einziger Fall bekannt geworden, in dem es Missbrauch gegeben hätte. Die Daten werden schlicht und ergreifend
einfach gelöscht, wenn die kurze Frist um ist. Im Fall der
Abfrage wird transparent mitgeteilt, dass Daten erfasst
worden sind. Was folgt daraus? Man muss sich vielleicht
äußern. Man wird gefragt: „Haben Sie etwas gemerkt
von einer Straftat, die stattgefunden hat?“, weil offenbar
das eigene Handy am Ort der Straftat lokalisiert worden
ist. Dann ist es doch nichts anderes als eine ganz normale Bürger- und Zeugenpflicht, dass man das, was man
kann, dazu beiträgt, um einen Fall aufzuklären.
({4})
Allein aus der Tatsache, dass die eigenen Kommunikationsdaten in einer Abfrage ermittelt worden sind,
geht kein einziger Verdacht hervor. Vielmehr müssen
weitere Ermittlungen vorgenommen werden, um den Täter zu überführen.
({5})
Wer hier von Generalverdacht spricht, den möchte ich
einmal fragen, was denn die Alternative wäre. Wenn wir
nicht alle Daten einbeziehen würden, würden wir nicht
zu den relevanten Daten kommen. Wir müssten dann
Kriterien festlegen, die den Anlass ausmachen. Was ist
denn dann das Kriterium: Ist es die Gesinnung? Ist es
das Geschlecht? Ist es der Glaube? Ist es die Herkunft?
Was soll es denn dann sein? Alles andere ist diskriminierend. Deshalb müssen wir ebendiesen Ansatz so wählen.
({6})
Ich möchte auch auf die Studie des Max-Planck-Instituts eingehen, die schon genannt worden ist. Das Institut
hat ohne Zweifel einen sehr renommierten Namen. Es
lohnt sich aber bei dieser Studie wirklich, genauer hinzusehen. Diese Studie der kriminologischen Abteilung des
Max-Planck-Instituts beruht auf Interviews von einigen
Polizisten, Staatsanwälten und fünf Richtern. Sie ist insgesamt nicht wirklich repräsentativ. Die damals bei den
Ländern geplante Erhebung war in der vorgegebenen
Zeit gar nicht möglich. Das wird in der Studie auch zugegeben. In ihr wird davon gesprochen, dass sie auf keiner wirklich verlässlichen Datengrundlage beruht. Diese
Studie wurde von der damaligen Justizministerin - bekanntermaßen keine Freundin der Vorratsdatenspeicherung ({7})
in Auftrag gegeben.
Interessant ist, dass es zwei Versionen dieser Studie
gibt.
({8})
Die erste hat der Auftraggeberin offenbar nicht gefallen.
Die Studie wurde zurückgegeben und musste überarbeitet werden. Dabei ergaben sich interessante Differenzen.
Die Presse hat darüber berichtet, was in der einen und
was in der anderen Studie stand.
({9})
Die Wertungen sind ziemlich unterschiedlich. Über die
erste Studie heißt es in der Süddeutschen Zeitung:
Wörtlich: „Essentielle Bedeutung haben retrograde
Daten ({10}) nach der
Erfahrung der Polizeipraktiker“ besonders auch bei
„Raubdelikten, schweren Gewalt- und Tötungsdelikten“.
Über die zweite Version heißt es dann zu der Bedeutung
hierbei:
Eher nein - „für Kapitaldelikte sind Veränderungen
in den Aufklärungsraten wegen fehlender Vorratsdaten nicht sichtbar geworden.“
Oho! Was ist denn da passiert? Eigentlich war der Sachverhalt abgeschlossen, und es ist nicht erkennbar, woher
diese unterschiedliche Bewertung kommt.
({11})
Ich bin sicher: Wenn diese Studie im zweiten Versuch
nicht das gewünschte Ergebnis gebracht hätte, wäre sie
so zerpflückt worden, wie sie es verdient hätte. Selbst
der Direktor des Max-Planck-Instituts und Leiter der
strafrechtlichen Abteilung, Professor Dr. Ulrich Sieber,
schreibt in dem Band über die Verhandlungen des Deutschen Juristentages, den er mit herausgegeben hat:
Die bisherige Vorratsdatenspeicherung war in zahlreichen Fällen ein entscheidender und oft der einzige Aufklärungsansatz für die Verfolgung von
Straftaten. Sie hat auch eine große Bedeutung bei
der Ermittlung von organisierten Täterstrukturen.
Frau Kollegin.
Auch er hält das für wichtiger als die erkennbare Auswirkung auf die Statistik.
Fragen Sie den Deutschen Richterbund, fragen Sie
die Generalstaatsanwälte, fragen Sie den Sachverständigen Franosch, der als Sachverständiger vor kurzem im
Edathy-Untersuchungsausschuss ausgesagt hat. Wir werden ihn auch als Sachverständigen in unserer Sachverständigenanhörung hören.
Sehr geehrte Kollegin, ich muss Sie darauf aufmerksam machen, dass Sie jetzt auf Kosten Ihrer noch nachfolgenden Kollegen sprechen.
Entscheiden Sie, wem Sie mehr glauben und vertrauen. Ich vertraue auf die Praktiker, die uns das Richtige sagen.
Herzlichen Dank.
({0})
Das Wort hat der Kollege Dr. Volker Ullrich für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Folgende Frage liegt der heutigen Debatte zugrunde: Wie kann der Staat den Schutz der Bürger gewährleisten und ihre Freiheitsrechte sichern, ohne selbst
zu tief in Grundrechte einzugreifen? Dem Gesetzentwurf
zur Einführung einer Speicherpflicht für Verbindungsdaten gelingt diese Balance. Er ist eine geeignete und verhältnismäßige Antwort des wehrhaften und demokratischen Rechtsstaates.
({0})
Der Staat kann sich seiner Verantwortung nicht entziehen, wenn die Grundlagen und der Grundkonsens unseres Zusammenlebens erschüttert werden - erschüttert
durch schwerste Straftaten wie Mord und Totschlag,
Kinderpornografie, Terrorismus und organisierte Kriminalität -. Dem Staat obliegt es, diese Straftaten aufzuklären und Täter in einem rechtsstaatlichen Verfahren zur
Rechenschaft zu ziehen. Das ist ein wesentlicher Auftrag
an ein rechtsstaatliches Gemeinwesen.
({1})
Diese Debatte darf damit auch nicht auf einen vermeintlichen Gegensatz zwischen Freiheit und Sicherheit
verengt werden.
({2})
Freiheit und Sicherheit schließen sich nicht gegenseitig
aus. Sie bedingen sich.
({3})
Freiheit bleibt nur bestehen, wenn sie geschützt und verteidigt wird.
({4})
Ich bin daher dem Herrn Bundesjustizminister sehr
dankbar, dass er in enger Abstimmung mit dem Bundesminister des Innern einen von Verantwortung getragenen
und grundrechtssensiblen Vorschlag in den Bundestag
eingebracht hat. Das ist eine klare und begrüßenswerte
Haltung zum wehrhaften Rechtsstaat.
Die Forderung nach der Speicherung von Verbindungsdaten als Instrument der Aufklärung und Prävention ist stets von vielen besonnenen Experten und Praktikern im Bereich der inneren Sicherheit aus guten
Gründen empfohlen worden. Auch das Bundesverfassungsgericht hat dies nicht für verfassungswidrig erklärt.
Im Gegenteil: Es hat einen klaren Rahmen aufgezeigt, in
welchem ein solches Instrument der digitalen Spurensicherung rechtlich möglich ist. Dieser Rahmen wird
durch das vorliegende Gesetz eingehalten.
Der Staat, meine Damen und Herren, speichert nicht
selbst. Die Speicherpflicht bleibt bei den Anbietern. Im
Einzelfall können die Strafverfolgungsbehörden nach
richterlichem Beschluss innerhalb kürzester Fristen zur
Ermittlung schwerster Straftaten auf Verbindungsdaten
zurückgreifen - und auch nur dann. Der Gesetzentwurf
stellt den Schutz der Daten gegen unbefugten Zugriff
sicher. Daten von Berufsgeheimnisträgern unterliegen
einem Verwertungsgebot. Inhalte werden nicht gespeichert. Das ist doch eine gute Zusammenstellung.
Wir wissen aber auch: Mindestspeicherfristen sind
kein Allheilmittel. Dem Rechtsstaat sind bewusst und
auch zu Recht Grenzen gesetzt. Deswegen ist dieser Gesetzentwurf auch wohlüberlegt. Aber es bleibt auch festzuhalten: Zur Aufklärung schwerster Kriminalität sind
digitale Spuren oftmals der einzige erfolgversprechende
Ermittlungsansatz. Diesen müssen die Strafverfolgungsbehörden nachgehen dürfen. Es geht darum, dass wir
durch die Entdeckung krimineller Strukturen wissen,
was Straftäter und Terroristen vorhaben, wie sie sich bewegen. Dadurch verhindern wir neue Anschläge.
({5})
Es geht also nicht darum, die Befugnisse von Sicherheitsbehörden zu überdehnen. Es geht darum, dass wir
ihnen Chancengleichheit geben, dass wir ihnen die Möglichkeit geben, Sicherheitslücken zu schließen.
({6})
Meine Damen und Herren, bereits jetzt kann auf Daten zurückgegriffen werden, die bei den Anbietern gespeichert sind. Es hängt aber vom Zufall ab, ob diese
Daten noch vorhanden sind. Die Frage, die wir uns stellen müssen, ist folgende: Akzeptiert der Rechtsstaat in
diesem Bereich eine Zufälligkeit, oder brauchen wir eine
rechtsklare und rechtssichere Regelung? Es verwundert,
wenn in diesem Zusammenhang nicht Lösungen gesucht
werden oder eine verantwortungsvolle Debatte geführt
wird, meine Damen und Herren von der Linken und von
den Grünen, sondern wenn Sie von Überwachungsstaat,
Generalverdacht oder Massenüberwachung sprechen. Es
kann Sie niemand daran hindern, sachlich falsch zu liegen. Es kann Sie niemand daran hindern, zugespitzt oder
polemisch Ihre Meinung zu äußern.
({7})
Aber im Zusammenhang mit diesem Gesetzentwurf von
Massenüberwachung zu sprechen, verbietet sich nicht
nur aus Respekt vor historischen Gegebenheiten, sondern es ist schlichtweg alarmierend und unanständig, in
einem sensiblen Umfeld ein Klima der Angst zu schüren. So geht man nicht mit Verantwortung um.
({8})
Meine Damen und Herren, dieser Gesetzentwurf ist
von einer tiefen Sorge um unsere freiheitliche und demokratische Grundordnung geprägt. Wir haben in den vergangenen Monaten das Strafrecht zum Schutz unserer
Kinder und zur stärkeren Bestrafung terroristischer Vorbereitungshandlungen reformiert. Der Bund wird im
nächsten Haushaltsjahr viele Hundert neue Stellen bei
der Bundespolizei schaffen. In diesem Zusammenhang
sind die Bemühungen um Speicherungen von Verbindungsdaten die sachlich gebotene Ergänzung.
Natürlich könnte man sich auch zurücklehnen und bequem den einen oder anderen Applaus einfangen. Bequemlichkeit würde vielleicht auch Kritik ersparen.
Aber das wäre kein geeignetes Handeln. Es wäre Preisgabe von Verantwortung. Das ist mit uns nicht zu machen.
({9})
Was unterscheidet uns am Ende des Tages?
({10})
Es ist unsere tiefe Sorge um die freiheitlich-demokratische Grundordnung und unsere verantwortliche Haltung
zu Freiheit und Sicherheit. Die werden wir uns nicht
nehmen lassen. Deswegen werden wir diesen guten Gesetzentwurf in die weiteren Beratungen einbringen und
am Ende des Tages auch verabschieden.
Herzlichen Dank.
({11})
Der Kollege Thomas Jarzombek hat für die CDU/
CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren!
Wir wollen ein Internet der Freiheit. Dabei hat für
uns Freiheit ohne Verantwortung keinen Wert.
So schreibt es der cnetz e. V. in seiner Präambel. Das ist
nicht nur meine Leitlinie als internetpolitischer Sprecher
meiner Fraktion, sondern die Leitlinie vieler, die in der
Vergangenheit beim Thema Vorratsdatenspeicherung
durchaus eine sehr kritische Position hatten. Eines ist für
uns immer klar: Freie Wesen werden sich nur dann so
verhalten, dass andere ebenfalls frei sein können, wenn
sie damit konfrontiert werden können, Verantwortung
für ihre Taten zu übernehmen. Ein Internet oder Kommunikationsräume, in denen man vollkommen folgenlos
auch schwerste Straftaten verüben kann, kann niemals
das Ziel der Politik dieses Hauses sein.
Insofern haben wir sehr mit der Frage gerungen, wie
eine Vorratsdatenspeicherung, Speicherpflichten und
Höchstspeicherfristen tatsächlich ausgestaltet werden
können. Ich muss zugeben, dass ich selber zu den Kritikern gehörte, die sagten: Die im europäischen Rahmen
vorgesehene Speicherfrist von 24 Monaten, das ungeklärte Verfahren der Datensicherung und der Zugriff in
einer relativ großen Breite - das kann, wenn man alle
Länder der Europäischen Union betrachtet, keine kluge
Politik sein.
Ich glaube aber, dass wir bei dem, was hier heute vorgelegt worden ist, einen ganz anderen Weg gegangen
sind und dass wir auch aus dem gelernt haben, was uns
zwei Verfassungsgerichte vorgegeben haben. Was die
Verfassungsmäßigkeit betrifft, verweise ich an dieser
Stelle auf das, was Günter Krings gesagt hat. Ich glaube,
dem ist nicht viel hinzuzufügen.
Es geht mir insbesondere um die Frage der Verhältnismäßigkeit. In dem Entwurf, der uns heute vorliegt,
sind Speicherfristen von zehn Wochen für Telefonate
und SMS-Nachrichten und von vier Wochen für Standortdaten vorgesehen. Diese Unterscheidung im Gesetz
angesichts der höheren Sensibilität von Standortdaten ist
ein kluger Gedanke gewesen.
Ich glaube, dass die Nutzung dieses Instruments insbesondere vor dem Hintergrund gerechtfertigt ist, dass
es hier - anders, als es manchmal suggeriert wurde nicht um Abmahnungen im Zusammenhang mit dem
Download von Musikdateien geht, sondern nur um allerschwerste Straftaten, die im Gesetz auch ausdrücklich
definiert sind; das muss man ganz klar sagen.
({0})
Dass man im Falle eines Gewaltverbrechens - jemand
wurde in einem Waldstück vergewaltigt und umgebracht; solche schrecklichen Fälle - über eine Funkzellenabfrage nachvollziehen kann, welche Menschen sich
im Umfeld aufgehalten haben, wird die Straftat im Zweifelsfall nicht verhindern; aber es ist für die Aufklärung
von großem Wert.
Ich glaube, es ist ein wichtiges Instrument, das in vielerlei Hinsicht verhältnismäßig ist. Das wird deutlich,
wenn man sich mit der Frage beschäftigt: Wird eigentlich in die Kommunikation hineingeschaut? Mir persönlich ist wichtig, dass zwar aufgezeichnet werden soll,
wer wen angerufen hat und wer wem eine SMS geschickt hat, aber nicht, was gesprochen wurde oder was
in der SMS stand. Es werden eben keine WhatsApp-,
keine Threema- und keine sonstigen Messengernachrichten gespeichert.
Es gibt natürlich die Sorge: Wo wird uns das, was wir
heute machen, einmal hinführen? Deshalb ist es sehr
verhältnismäßig, wenn wir eben nicht in ein expansives
Gesetzgebungsverfahren einsteigen, das auf die Messengerdienste und auf Kommunikationsformen der Zukunft
setzt.
Zu den Internetseiten. Man muss vielleicht noch einmal genauer erklären, was hier tatsächlich gespeichert
wird. Das Wort „Verbindungsdaten“ bringt einen eigentlich auf eine falsche Spur; denn so entsteht der Eindruck,
dass die Daten jeder Verbindung im Internet abgespeichert werden. Das ist vielleicht bei Google der Fall, aber
das gilt nicht für dieses Gesetz. Das Einzige, was gespeichert wird, ist die Adresse, mit der Sie selbst im Internet
für 24 Stunden bekannt sind. Es handelt sich also um
eine Information in 24 Stunden, zumindest im Regelfall.
Um darauf zu schließen, auf welchen Servern man gewesen ist oder mit wem man kommuniziert hat, braucht
man das, was in der IT-Branche eine „Zwei-FaktorAuthentifizierung“ genannt wird: Sie brauchen eine Gegenseite. Nur so kann beispielsweise festgehalten werden, auf welchem Server Nachrichten ausgetauscht wurden bzw. wann welche IP-Adresse dort online gewesen
ist. Man kann also allein mit den Daten, die der Staat erhebt, nichts, aber auch gar nichts anfangen, sondern man
braucht die Daten der Gegenseite.
Ich glaube, uns liegt ein sehr ausgewogener Gesetzentwurf vor. Viele aus der CDU/CSU-Bundestagsfraktion - ich sehe, dass Frau Schwarzer hier sitzt, von der
ich weiß, dass sie durchaus einen kritischen Blick auf die
Dinge hat -, aber auch darüber hinaus im cnetz und in
anderen Organisationen, die sehr kritisch gewesen sind,
sagen nun: Damit können wir leben. Das ist ein vernünftiger Weg, der hier gegangen wird. - Ich persönlich sage
ausdrücklich: Das ist ein guter Gesetzentwurf, der viel
hilft und wenig schadet.
Schauen wir uns an, wie mit den Themen Anonymität
im Internet oder Datensicherheit im Internet umgegangen wird. Häufig werden wir mit dem Argument konfrontiert: Der Staat muss bei diesen Themen besondere
Sensibilität zeigen; denn es kann sich keiner sozusagen
aus den Fängen des Staates befreien, von dem Gesetz
sind nun einmal alle betroffen. - Aber ein Blick auf Unternehmen wie Facebook mit dem angeschlossenen
Dienst WhatsApp genügt, um festzustellen: Das ist nur
ein theoretischer Gedanke, dass die Menschen heute
noch eine Wahl haben, mitzumachen oder nicht. Reden
Sie doch einmal mit jungen Menschen, die in der Schule
oder im Studium sind und für die solche Dienste wie
Facebook und WhatsApp schlicht und ergreifend Teilhabe am gesellschaftlichen Leben bedeuten. Sie haben
de facto keine Möglichkeit, sich dessen zu entziehen, indem sie möglicherweise datenschutzsensiblere Plattformen wählen.
Wir sollten in der weiteren Debatte unser Augenmerk
ganz klar darauf richten, wie bei solchen Plattformen,
die eine so große Bedeutung haben, dass eine gesellschaftliche Teilhabe für bestimmte Bevölkerungsteile
ohne sie kaum noch denkbar ist, mit den viel sensibleren
Standort-, Kommunikations- und Inhaltedaten umgegangen wird.
Vielen Dank, meine Damen und Herren.
({1})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 18/5088 und 18/4971 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 25 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus
Ernst, Matthias W. Birkwald, Dr. Diether Dehm,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Keine Paralleljustiz für internationale Konzerne durch Freihandelsabkommen
Drucksache 18/5094
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Klaus Ernst für die Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Dank der Linken haben Sie wieder einmal die
Möglichkeit, tatsächlich die Interessen der Bürger aufzugreifen: Sie brauchen sich nur mit dem von uns vorgelegten Antrag gegen die privaten Schiedsgerichte auszusprechen.
({0})
Das ist dringend notwendig, weil Sie bisher jede Klarheit in dieser Frage vermissen lassen. Das gilt auch ausdrücklich - leider, sage ich - für die Sozialdemokratische Partei.
({1})
Meine Damen und Herren, was haben wir diese Woche für ein Drama erlebt in Brüssel: Da wurde ein
Antrag vorgelegt, der vorher im Wirtschaftsausschuss
ausgemauschelt worden war. In diesem Antrag war
plötzlich eine Befürwortung privater Schiedsgerichte
enthalten. Es zeichnete sich ab, dass eine Mehrheit dagegen stimmen würde, und, schwups, wurde das mit zwei
Stimmen Unterschied von der Tagesordnung gekegelt.
Meine Damen und Herren, was ist das für ein Demokratieverständnis? Sie hätten die Möglichkeit gehabt, im
Europäischen Parlament ein Zeichen zu setzen und die
Kritik der Bürger daran, dass künftig private Schiedsgerichte darüber entscheiden sollen, wie viel Staaten zahlen müssen, wenn sich ein Unternehmer seiner Gewinne
beraubt sieht, aufzunehmen. Sie hätten die Möglichkeit
gehabt, Klarheit zu schaffen. Sie haben sie nicht genutzt.
Das ist traurig, meine Damen und Herren, äußerst traurig.
({2})
Momentan - ich sage Ihnen das ganz deutlich - ist
das Hamburger Hafenwasser klarer als Ihre Position in
dieser Frage.
({3})
Es wird Zeit, dass Sie endlich Ihre Positionen bestimmen
und sagen, wo Sie hinwollen. Da sagt Herr Gabriel in
der Erklärung, die er gemeinsam mit dem DGB herausgegeben hat:
Investitionsschutzvorschriften sind in einem Abkommen zwischen den USA und der EU grundsätzlich nicht erforderlich und sollten nicht mit TTIP
eingeführt werden.
({4})
Jetzt legt er selbst einen Vorschlag vor für, ich sage
einmal, ein Abkommen über besondere Investitionsschutzvorschriften. Auch wenn Streitigkeiten zwischen
Investoren und Staaten jetzt vor einem internationalen
Handelsgerichtshof geklärt werden sollen, bleibt es dabei: Es sind Sonderrechte für die Unternehmen, die zwar
immer die Staaten verklagen können, wo aber nie ein
Bürger die Unternehmen verklagen kann, wenn sie Umweltschutzvorschriften nicht einhalten, wenn sie Arbeitsschutzvorschriften nicht einhalten. Es geht also nur
um Sonderrechte für die Unternehmen. Das gilt auch im
Falle eines internationalen Handelsgerichtshofs. Was Sie
hier machen, meine Damen und Herren, ist, dass Sie eine
Nebelkerze werfen, und nichts anderes.
({5})
Ich habe zur Kenntnis nehmen müssen, reich und hysterisch seien die Deutschen, weil sie sich gegen TTIP
aussprechen - das ist ja lustig! Und dann sagt Herr
Gabriel:
… wenn der Rest Europas dieses Abkommen will.
Ich sage Ihnen: Deutschland wird dem dann auch
zustimmen. Das geht gar nicht anders.
Wo ist Ihre Haltung? Mein Gott, da kennt sich doch keiner mehr aus, was die Sozialdemokratie eigentlich will.
Sie haben heute die Möglichkeit, Klarheit herzustellen.
Jetzt sage ich Ihnen noch eines, meine Damen und
Herren: Die Frage ist, ob wir in Europa wirklich ganz allein sind mit dieser Haltung. Wie sieht es in Europa aus?
2 Millionen Unterschriften hat eine selbstorganisierte
Bürgerinitiative gegen TTIP und CETA, die Handelsabkommen mit den USA bzw. Kanada, gesammelt. In
Deutschland ist fünfzehnmal so viel zusammengekommen, wie nach dem Quorum der Europäischen Union
notwendig gewesen wäre. Welche Länder haben sich inzwischen ebenfalls an dieser Abstimmung beteiligt und
das Quorum erfüllt? Österreich, Belgien, Bulgarien,
Tschechien, Dänemark, Spanien, Finnland, Frankreich,
Großbritannien, Irland, Italien, Luxemburg, Niederlande, Schweden. Es wäre an der Zeit, dass sich die Sozialdemokratie Deutschlands an die Spitze dieser Bewegung stellt und nicht außen vor bleibt
({6})
und herumeiert in dieser Frage; das wäre dringend notwendig.
({7})
Ich habe auch noch Slowenien vergessen, um das deutlich zu sagen. So, es sind 14 Länder. Offiziell nötig wären nur 7, um eine entsprechende Europäische Bürgerinitiative zum Erfolg zu bringen.
Meine Damen und Herren, Investor-Staat-Klagemöglichkeiten sind eine Gefahr für die demokratischen
Strukturen. Das wissen Sie; deshalb gibt es bei den Sozialdemokraten Gott sei Dank auch erheblichen Widerstand dagegen. Staaten können in Millionenhöhe, nein,
in Milliardenhöhe verklagt werden - wie die Bundesrepublik Deutschland derzeit von Vattenfall verklagt wird
vor einem internationalen Schiedsgericht. Meine Damen
und Herren, ausländische Investoren werden bessergestellt als einheimische. Das Klagerecht bekommen nur
internationale Konzerne, aber nie die Bürger.
Jetzt schlägt Herr Gabriel einen staatlich organisierten
internationalen Gerichtshof vor. Meine Damen und Herren, das ändert aber nichts an dem Punkt, und das wissen
Sie auch genau. Frau Malmström hat Ihnen gesagt, dass
es kurzfristig schlichtweg nicht möglich ist, einen solchen Gerichtshof zu installieren. In CETA, in dem Abkommen mit Kanada, ist es nun eindeutig so, dass diese
Schiedsgerichte vereinbart sind, und zwar die alten,
nicht die nach dem Vorschlag von Gabriel.
Wenn Sie also wenigstens den Vorschlag Ihres eigenen Parteivorsitzenden ernst nehmen würden, dann
müssten Sie aus diesem Grunde CETA ablehnen, weil
Sie diese Dinge sonst automatisch auch bei TTIP nicht
mehr loswerden.
({8})
Aber auch das tun Sie nicht, sondern Sie eiern herum.
Wer an einen solchen Gerichtshof glaubt, der glaubt
auch, dass der Storch die Kinder bringt. Ich glaube, dem
einen oder anderen ist aus der Realität etwas anderes bekannt.
({9})
Meine Damen und Herren, wenn Sie Ihren eigenen
Vorschlag ernst nehmen würden, müssten Sie handeln
und Klarheit herstellen. Es bleibt auch nach Ihrem Vorschlag bei einer Paralleljustiz, obwohl es keinerlei empirischen Nachweis für die Notwendigkeit von Investitionsschutzabkommen gibt. Es gäbe außerdem weiterhin
Privilegien für internationale Konzerne.
Wir brauchen tatsächlich einen internationalen Gerichtshof. Es muss gewährleistet sein, dass die Bürgerinnen und Bürger und die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer entlang der internationalen Handelskette die
Möglichkeit haben, vor Gerichten zu klagen, wenn in
den Ländern, in denen internationale Konzerne tätig
sind, Menschenrechte nicht beachtet werden. Wenn, wie
in Bangladesch, Frauen in Fabriken verbrennen, weil die
Läden zugesperrt wurden, aber keine juristischen Konsequenzen daraus gezogen werden, könnte es tatsächlich
sinnvoll sein, derartige internationale Gerichte zu schaffen. Das machen Sie aber nicht.
Deshalb bleibe ich dabei: Nutzen Sie Ihre Chance,
diese Schiedsgerichte heute durch Zustimmung zu unserem Antrag abzulehnen. Die Bürgerinnen und Bürger
Europas würden es Ihnen danken. 40 000 Menschen haben in München - allein in München - gegen die internationalen Schiedsgerichtshöfe und TTIP demonstriert.
Wenn Sie einmal etwas Vernünftiges machen wollen,
schließen Sie sich dem Widerstand der Bürger an.
Danke fürs Zuhören.
({10})
Der Kollege Andreas Lämmel hat für die CDU/CSUFraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Herr Ernst, Sie bescheren uns heute, am FreitagAndreas G. Lämmel
mittag, noch eine Debatte zu TTIP und Schiedsgerichten.
({0})
Das ist im Prinzip das Gleiche, was Sie im Abstand von
etwa drei Wochen immer wieder zelebrieren.
({1})
Es gibt nicht einen einzigen neuen Gesichtspunkt. Sie
könnten uns viel Zeit ersparen, wenn Sie ganz einfach
sagen würden: Wir wollen TTIP nicht.
({2})
Wir wollen über gar nichts reden. Wir wollen auch über
nichts verhandeln. Wir wollen das alles nicht. - Das
würde ausreichen. Damit wäre Ihre Position klar beschrieben. Dann müssen Sie auch nicht erst mit Nebelkerzen werfen, wie Sie es hier tun. Sie werfen ja alles in
einen großen Topf, rühren um und wollen das dann als
Leipziger Allerlei servieren.
({3})
Herr Ernst, der Unterschied zwischen Ihnen und den
Koalitionsparteien ist, dass wir uns der Kritik, die an
verschiedenen Punkten nicht ungerechtfertigt ist, stellen
und uns überlegen, wie man die Dinge besser machen
kann. Die Linken sehen aber überhaupt keine Veranlassung, darüber nachzudenken, weil sie sowieso alles ablehnen. Sie sind eine noch schlimmere Ablehnerpartei
als die Grünen. Die machen das üblicherweise auch. Bei
der letzten Wahl haben sie aber gemerkt, dass man damit
nicht durchkommt.
({4})
Ich habe noch nicht einen einzigen Vorschlag von Ihnen
gehört, wie man dieses Problem lösen könnte, außer dass
Sie sagen: „Wir wollen das alles nicht. Schluss, aus, ablehnen!“, und uns auffordern, Ihrem Antrag zuzustimmen, damit TTIP gestoppt wird.
({5})
Das ist doch keine Alternative; das ist eine Nullalternative.
({6})
Mit genau dieser Haltung disqualifizieren Sie sich. Wenn
man in Verhandlungsprozessen etwas erreichen will,
dann muss man ein bisschen Grips in der Birne haben,
Herr Ernst.
({7})
Man muss sich überlegen: Was könnte man im Interesse
Europas ändern? Aber da das Neue Deutschland offensichtlich nicht mehr so viel Stoff liefert, gehen auch Ihnen die Ideen aus.
({8})
Ich kann nur sagen: Das, was Sie hier zelebrieren,
bringt in der Sache überhaupt nichts. Wir hingegen überlegen uns in der Koalition: Welche Vorschläge können
wir machen? Frau Malmström hat die Kritik an den internationalen Schiedsgerichtsverfahren ja aufgenommen.
Man muss deutlich sagen: Schiedsgerichtsverfahren
gibt es auf der ganzen Welt, und zwar auf allen Ebenen.
Sie tun aber immer so, als seien sie eine neue Erfindung.
Wir sind zum Beispiel froh, dass es bei der WTO, der
Welthandelsorganisation, schon seit vielen Jahren ein
etabliertes Schiedsgerichtssystem gibt. Diese Schiedsgerichte funktionieren, wie beispielsweise auch China erkennen musste. Als China der Welt die Seltenen Erden
verweigern wollte, gab es ein Schiedsgerichtsverfahren,
und letztendlich musste sich China dem Spruch fügen.
Selbst wenn Sie Nachbarschaftsstreitigkeiten klären
wollen, die entstanden sind, weil Sie Ihren Knallbeerenbusch wieder nicht beschnitten haben, können Sie einen
Schiedsrichter einsetzen. Außergerichtlich, bevor sich
ein Gericht damit befasst, kann man versuchen, mit dem
Schiedsrichter eine außergerichtliche Lösung zu finden.
Genau das ist der Punkt.
({9})
- Es nützt nichts, wenn Sie nur rumschreien. Sie hatten
vorhin die Möglichkeit, ein paar kluge Gedanken zu äußern. Die Chance haben Sie vergehen lassen. Das ist
Pech für Sie.
({10})
Frau Malmström hat eindeutig vorgeschlagen, dass
man vorher wählen soll, ob man den gerichtlichen Weg
gehen oder ein Schiedsgerichtsverfahren anstreben will.
Wir sollten über diese Vorschläge diskutieren.
({11})
Sie fragen uns aber nicht nach unserer Haltung dazu, fragen nicht, ob das für uns ein mögliches Modell ist. Ich
weiß natürlich, dass auch unser Koalitionspartner Probleme mit den Schiedsgerichten hat. Es geht doch aber
darum, das Verfahren so zu modernisieren und so transparent zu gestalten, dass es funktionieren kann und dass
die Ängste, die Sie schüren - das ist das Einzige, was Sie
erreichen wollen,
({12})
obwohl damit der Sache nicht gedient ist -, nicht Wirklichkeit werden.
Herr Gabriel hat einen Vorschlag zum internationalen
Handelsgerichtshof unterbreitet.
({13})
Natürlich kann man den nicht über Nacht einrichten;
aber das ist doch eine Idee, über die man einmal nachdenken kann: Was sind die Voraussetzungen dafür? Was
muss man tun, auch gesetzlich, um einen solchen Handelsgerichtshof einzurichten? Das wäre doch sinnvoll.
Aber Sie verschwenden null Gedanken daran. Sie denken, Gabriel ist Ihr Gegner, und Sie müssen alles versuchen, den Wirtschaftsminister kaltzustellen.
Wenn man in der Bevölkerung wirklich Aufklärung
betreiben will, dann sollte man sachlich diskutieren.
Man sollte die Argumente aller Seiten berücksichtigen
und darüber diskutieren.
({14})
- Sie haben nicht ein einziges Argument vorgebracht.
Das ist ja das Problem.
Kollege Lämmel, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung des Kollegen Ernst?
Eine würde ich versuchen. - Herr Ernst, legen Sie los,
die Zeit läuft mir sonst davon.
Die Uhr ist angehalten.
Herr Lämmel, Ihren Ausführungen ist deutlich zu entnehmen, dass Sie ein Problem mit der Gerichtsbarkeit
der Bundesrepublik Deutschland haben.
({0})
Hätten Sie dieses Problem nicht, würden Sie nicht annehmen, dass ein ausländischer Investor vor deutschen
Gerichten unfair oder schlecht behandelt wird. Das ist
nämlich die Voraussetzung für die Forderung nach einem internationalen Schiedsgerichtshof. Sie brauchen
ihn, weil Sie annehmen - sonst machte das ja keinen
Sinn -, dass ein internationaler Investor dort sein Recht
bekommt, das ihm vor deutschen Gerichten verweigert
werden könnte. Das ist bezeichnend.
({1})
Ein zweiter Punkt, Herr Lämmel. Wir haben ja die
Möglichkeit, unterirdisch zu diesem Saal zu gelangen.
Ich würde Ihnen empfehlen, einmal wieder von vorne in
diesen schönen Reichstag zu gehen. Dort steht: „Dem
deutschen Volke“, und nicht: „Der deutschen Exportwirtschaft“.
({2})
Das war der gleiche Stil, den Sie schon in Ihrer Rede
gezeigt haben, Herr Ernst. Ich hatte gedacht, Sie hätten
mir zugehört. Ich habe gesagt: Schiedsgerichte gibt es
auf allen Ebenen in der Welt, und sie funktionieren.
({0})
Das bedeutet aber überhaupt nicht, dass ich der Meinung
bin, dass die deutsche Justiz, dass die deutschen Gerichte
nicht funktionieren.
({1})
- Natürlich brauchen wir sie.
Man kann ja versuchen, auf außergerichtlichem Wege
zu einer Einigung zu kommen. Zum einen kostet das viel
weniger Steuergeld; denn Gerichte werden im Prinzip
aus Steuergeldern finanziert. Zum anderen ist eine außergerichtliche Einigung nicht schlechter als eine Einigung vor Gericht. Was haben Sie denn für eine Auffassung?
({2})
- Das hat doch mit einem privaten Gericht nichts zu tun.
Herr Ernst, schauen Sie sich nur einmal die Schiedsgerichtsverfahren bei der WTO an. Dort können Sie sehen,
was Schiedsgerichte leisten. Dann werden Sie Ihre Meinung dazu wahrscheinlich ändern.
({3})
Meine Damen und Herren, um das noch einmal zusammenzufassen: Wir gehen davon aus, dass das Verfahren zu den internationalen Schiedsgerichten im Zusammenhang mit den TTIP-Verhandlungen im Moment
ausgesetzt ist und in den Verhandlungsteams in Brüssel
darüber diskutiert wird, wie man ein Schiedsgerichtsverfahren, ein Investorenschutzverfahren so modern ausgestalten kann, dass es in der Welt Maßstäbe setzt. TTIP
wird, wenn es zum Abschluss kommt, Maßstäbe setzen.
Dadurch werden natürlich gerade die Bedingungen für
Schiedsgerichte definiert. Diese Maßstäbe werden bei
anderen Abkommen nicht mehr unterschritten werden
können.
Wir lehnen es ab, über Ihren Antrag in der Sache zu
entscheiden, und werden eine Überweisung beantragen.
Ich kann nur dazu aufrufen: Wenn man dem deutschen
Volke dienen will, dann muss man eine sachliche Diskussion führen, und man darf keine Polemik betreiben,
wie es die Linke die ganze Zeit tut.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({4})
Das Wort hat der Kollege Dieter Janecek für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Das ist eine lebhafte
Diskussion. Aber ich muss Ihnen, Herr Lämmel, schon
sagen: In den ersten Minuten hatte ich den Eindruck,
dass Sie nicht über Schiedsgerichte im Rahmen der Freihandelsabkommen zwischen den zwei größten Handelszonen der Welt reden; es klang eher nach Nachbarschaftsstreit und Schiedsrichtern auf dem Fußballplatz.
Ein bisschen ernster sollten wir das schon formulieren;
({0})
denn hier geht es darum, ob wir wirklich eine Paralleljustiz für Konzerne etablieren wollen. Da muss ich
Herrn Ernst beispringen. Diese Gefahr ist virulent. Da
sind wir mit unserer Meinung nicht ganz alleine. Auch
der Präsident des Bundesverbands mittelständische
Wirtschaft sagt: Das wollen wir so nicht. - Ich glaube,
viele im Mittelstand wollen das nicht, weil das nicht
plausibel ist.
({1})
Ich sage einmal ganz grundsätzlich: Freihandel ist
dann eine gute Sache, wenn er Fairhandel ist. Wir wollen
fairen Handel.
({2})
Wenn wir es hinbekommen, gute ökonomische und soziale Standards festzulegen - wir sind im Moment noch
weit weg davon in den Verhandlungen -, dann sind wir
nicht dagegen, sondern dafür. Wir sind aber noch weit
weg.
Ein weiterer Punkt ist: Wenn wir es in den zwei entwickelten Rechtssystemen der EU und der USA noch
nicht einmal hinbekommen, dass wir Rechtsstreitigkeiten auf dem Rechtswege in diesen Staaten lösen können, dann verstehe ich die Welt nicht mehr. Auf allen
Podiumsdiskussionen, auf denen ich in den letzten zwei
Jahren war - das waren nicht wenige; es waren auch
Podiumsdiskussionen mit dem BDI und anderen Wirtschaftsorganisationen -, konnte mir keiner plausibel erklären, warum wir solche Schiedsgerichte brauchen. Sie
können es auch heute nicht erklären.
Sie haben bestenfalls das Argument, dass die anderen
oder einige unserer Unternehmen aus der Exportindustrie das vielleicht wollen. Aber es ist doch keine sinnvolle Argumentation, zu sagen: Andere wollen das, deswegen müssen auch wir das machen. - Wir müssen das
nicht machen. Im Gegenteil: Wenn die entsprechenden
Regelungen nicht aus dem Vertrag herausgenommen
werden, dann wird TTIP nicht kommen, und das ist gut
so. Das sage ich Ihnen.
({3})
Im Europäischen Parlament hat etwas stattgefunden,
wofür zwar nicht Sie, aber doch Ihre Kollegen verantwortlich sind. Darauf kann man schon einmal verweisen.
Ich nehme wahr, was in der SPD geschieht. Immerhin
macht Herr Gabriel etwas. Er versucht wenigstens, einen
Kurs zu finden,
({4})
während in der Union am Anfang gar nicht darüber geredet wurde. Jetzt sagen Sie so nonchalant: Ja, wir waren
schon immer für Schiedsgerichte, aber jetzt vielleicht
doch nicht so richtig.
({5})
- Sie sind dafür, aber andere sind nicht dafür. Es gibt
noch andere Stimmen bei Ihnen in der Union, die sehr
kritisch sind. Auch die habe ich schon gehört.
({6})
Wer, bitte, führt denn die Diskussion? Warum führen
wir sie? Weil die kritische Öffentlichkeit, die Grünen
und die Linken das Thema auf die Agenda gesetzt haben, weil 2 Millionen Menschen eine Petition unterschrieben haben. Deswegen gibt es in der EU-Kommission eine kritische Diskussion, und nicht deshalb, weil
Sie Ihre angebliche wirtschaftspolitische Kompetenz,
die Sie in dem Bereich gar nicht haben, eingesetzt hätten.
({7})
Das sind doch die Fakten. Wir können stolz darauf
sein, dass wir hier im Parlament immer wieder diese
Diskussion führen. Man kann von einer gewissen Regelmäßigkeit sprechen.
({8})
Solange Sie nicht endlich zu einer Lösung kommen und
wirklich den Druck machen, den wir brauchen, werden
diese Diskussionen weitergehen, und das ist auch gut so.
Es ist die Rolle der Opposition, das zu befördern.
({9})
Schauen wir uns einmal die öffentliche Diskussion
an. 150 000 Eingaben gab es im Rahmen der Konsultationen. 97 Prozent der Eingaben haben sich gegen die
ISDS-Regeln ausgesprochen. Es wächst der Widerstand.
Deutschland ist die Speerspitze der kritischen Bewegung, und diese Bewegung ist nicht amerikafeindlich
und nicht gegen Freihandel. Sie will einen guten Handel,
einen fairen Handel, deswegen sind die Leute auf der
Straße. Sie wollen erreichen, dass wir zu einem guten
Standard kommen. Sie haben es nicht gebracht. Weil Sie
es nicht gebracht haben, müssen Sie sich mit der vehementen Opposition auseinandersetzen. Das ist gut so.
({10})
Jetzt sage ich Ihnen noch etwas zu den Vorschlägen,
die im Raum stehen. Ich selber habe im Handelsblatt gefordert - ich glaube, es war im Februar -, einen anderen
Weg zu beschreiten und einen internationalen Handelsgerichtshof für Schiedsgerichtsfragen zu gründen. Das
kann man machen, das sollte man anstreben.
({11}): Guter Vorschlag!)
Warum hat man das nicht schon vor Jahren angestrebt?
Das ist die erste Frage.
Die Wahrheit ist - aus der Nummer kommt die SPD
auch nicht heraus -: Es ist zwar gut, das jetzt zu fordern,
aber das kommt nicht in das Abkommen. Wir alle wissen, dass das nicht hineinkommt. Vielleicht kommt es
2025, wenn man sich darauf verständigt. Sollen wir jetzt
einen bilateralen Handelsgerichtshof anstreben? Es kann
doch nicht Sinn der Sache sein, dass wir eine weitere Institution schaffen, wenn wir es nicht auf internationaler
Ebene hinbekommen.
Wenn die ISDS nicht herausgenommen werden, dann
ist das kein gutes Abkommen. Dabei bleibt es am Ende.
Denn Sie können nicht begründen, warum es für bestimmte zahlungskräftige und wirkungsmächtige Unternehmen Sonderrechte geben soll. Dass diese nichts dafür
tun werden, soziale und ökologische Standards auszuhebeln, können Sie vielleicht dem Weihnachtsmann oder
dem Osterhasen erzählen. Der Bevölkerung können Sie
das nicht weismachen.
In diesem Sinne fordern wir Sie weiter auf, das Vorhaben zurückzuziehen. Wir werden weiter darauf hinarbeiten, dass es nicht dazu kommt. Freihandel ist gut,
wenn es fairer Handel ist. Sonst ist er schlecht.
In diesem Sinne danke ich Ihnen.
({12})
Der Kollege Dirk Wiese hat für die SPD-Fraktion das
Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Es ist gut, dass endlich über das Für und Wider von Freihandelsabkommen diskutiert wird. Das ist
eine große Errungenschaft, die in den letzten Monaten
endlich erreicht wurde.
({0})
Aber seien Sie ehrlich, lieber Kollege Klaus Ernst.
Franz Müntefering hat einmal gesagt: „Opposition ist
Mist“. Seien Sie wenigstens so ehrlich, und schreiben
Sie im September 2017 auf Ihre Wahlplakate: „Regieren
ist Mist“. Dann geben Sie den Bürgerinnen und Bürgern
wenigstens eine ehrliche Antwort.
({1})
Sie haben jeglichen Gestaltungsspielraum aufgegeben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, im Gegensatz dazu
hat die deutsche Sozialdemokratie den Anspruch, zu gestalten, der Globalisierung Regeln zu geben, Leitplanken
zu setzen und sich für eine Stärkung des internationalen
Rechts einzusetzen. Willy Brandt hat einst gesagt: „Der
beste Weg, die Zukunft vorauszusagen, ist, sie zu gestalten“, und das macht die SPD.
({2})
Ich kann vor dem, was Bernd Lange in den letzten
Wochen und Monaten im Europaparlament geleistet hat,
nur den Hut ziehen. Er versucht, Handelspolitik zu gestalten. Er duckt sich nicht weg, und er wird auch weiterhin versuchen, etwas Gutes zu erreichen. Dafür gebührt
Bernd Lange ein großes Dankeschön von dieser Seite.
({3})
- Herr Ernst und Herr Kindler, Sie können noch mehr
Zwischenrufe machen. Aber die SPD-Bundestagsfraktion ist die einzige Fraktion im Deutschen Bundestag,
die sich seit Januar 2014 in einer Arbeitsgruppe mit den
Freihandelsabkommen auseinandersetzt. Wo machen Sie
das denn bitte schön?
({4})
Wir führen im Willy-Brandt-Haus eine Konferenz zu
Freihandelsabkommen durch, auf der wir Reformvorschläge diskutieren. Wir reden auch darüber, wie man
die ISDS reformieren kann. Das geht über TTIP und
CETA hinaus. Wir haben mit den Kolleginnen und Kollegen von CDU und CSU die Mauritius-Konvention auf
den Weg gebracht. Damit gelten für schon bestehende
Investitionsschutzverträge neue Transparenzregeln.
Ich freue mich über die Worte des Kollegen Lämmel
in der heutigen Debatte, als durchgeklungen ist, dass er
die Vorschläge von Sigmar Gabriel zu einem internationalen Handelsgerichtshof begrüßt.
({5})
Kollege Janecek, Sie haben gerade gesagt, dass Sie
nicht für TTIP sind. Aber Sie entscheiden letztlich nicht
darüber. Ich glaube, das machen Winfried Kretschmann
und die exportorientierte Automobilwirtschaft in BadenWürttemberg. Daran müssen Sie sich wahrscheinlich
noch gewöhnen.
({6})
Aber zurück zu Ihnen von der Linksfraktion. Herr
Ernst, Sie merken doch gar nicht, dass andere Regionen
in der Welt dabei sind, uns abzuhängen. Allein in Asien
sind 100 Freihandelsabkommen in Kraft, und während
ich spreche, werden gerade 75 weitere verhandelt. Sie
werden es nie verstehen: Wenn man in der internationalen Handelspolitik nichts macht, dann heißt das nicht,
dass nichts passiert.
({7})
Es heißt vielmehr, dass die anderen es machen und man
selber nur zuschaut. Europa ist keine Insel.
({8})
Deutschland ist in der internationalen Handelspolitik
kein abgeschotteter Raum.
({9})
Wir als Sozialdemokratie wollen für unser Land und
die Menschen vor Ort
({10})
soziale und wirtschaftliche Perspektiven erreichen, statt
den Stecker zu ziehen und zu hoffen, dass der Strom irgendwo anders herkommt.
({11})
Ihre Obstruktionspolitik, die sich auch in Ihrem Antrag zeigt, führt in der Konsequenz dazu, dass das alte
IS-System mit allen seinen Defiziten bestehen bleibt. Sie
wollen gar keine Reform des bestehenden Systems.
({12})
Mit Ihrer Dagegen-Haltung unterstützen Sie doch gerade
unregulierte Märkte. Sie wollen die Globalisierung gar
nicht gestalten. Die Großkonzerne werden Ihrer Fraktion
für diese Haltung danken. Herzlichen Glückwunsch dafür!
({13})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Bundesminister
Gabriel hat Vorschläge erarbeitet, die deutlich machen,
wie man Handelspolitik gestalten kann, nämlich indem
man sich auf den Weg zu einem internationalen Handelsgerichtshof macht. Diese Position der Sozialdemokratie
- das wissen wir - ist nicht einfach. Aber das bedeutet
es, Politik zu gestalten. Das ist Politikgestaltung: sich
auf den Weg zu machen, statt sich wegzuducken, wie Sie
es machen.
Sigmar Gabriel hat die Vorschläge des Professors
Krajewski aufgegriffen, die Ihnen bekannt sind. Für vergleichbare Rechtsstaaten soll es keine ISDS geben. Aber
wir müssen darüber hinaus die ISDS reformieren. Es
sind doch viel mehr Abkommen in der Pipeline als nur
diese beiden. Das wissen Sie auch.
({14})
Weitere Punkte sind: keine weiter gehenden Rechte
für Investoren als nach dem Grundgesetz möglich, Einschränkung von Investorenrechten und die Präzisierung
von Schutzstandards. Alle Richter sollen unabhängig und
kompetent sein, von den Vertragsparteien ernannt werden,
und zwar mit einem festen Geschäftsverteilungsplan und
einem verbindlichen Verhaltenskodex.
({15})
Es sollen die UNCITRAL-Transparenzregeln gelten:
transparent und öffentlich. Neben der Einrichtung einer
zweiten Instanz soll auch über die Einklagbarkeit von
Arbeits- und Sozialschutzstandards nachgedacht werden. An diesem Punkt bin ich doch bei Ihnen.
Seien Sie doch einmal froh, dass Sigmar Gabriel so
einen Vorschlag zu den Schiedsgerichten gemacht hat.
Ganz ehrlich: Bei Ihrer neuen Fraktionsdoppelspitze
brauchen Sie demnächst ein permanentes Schiedsgericht
im Deutschen Bundestag,
({16})
weil Sahra Wagenknecht und Dietmar Bartsch in Ihrer
Fraktion demnächst wahrscheinlich ständig Konflikte
austragen. Auf der Fraktionsebene könnten wir ein solches Dauerschiedsgericht einrichten.
({17})
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, wenn
Sie in Ihrem Antrag schon Zitate verwenden, dann zitieren Sie den Interviewtext bitte als Ganzes und nicht so,
dass es so aussieht, als ob die Sozialdemokratie in Europa zersplittert sei. Österreichs Bundeskanzler Werner
Faymann sieht die Punkte strittig, mit denen sich auch
die deutschen Sozialdemokraten im Bundestag kritisch
auseinandersetzen. Er sagt:
Freien Handel zu verbieten wäre sinnlos. Keine
Frage, wir wollen Freihandelsabkommen, aber
ohne ISDS.
({18})
Faymann erteilt TTIP keine grundsätzliche Absage, sondern will dieses Abkommen, wie die SPD, reformieren;
er will gestalten. Das ist etwas ganz anderes, als Sie wollen.
({19})
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Abgeordneten Hänsel?
Ja klar, selbstverständlich.
Bitte schön, Frau Hänsel.
Danke schön, Frau Präsidentin. - Lieber Kollege
Wiese, Sie machen hier jetzt den starken Max.
({0})
Das alles ist ja auch schön und gut. Sie sagen, wie
Gabriel sich hier einsetzt, was alles auf der Tagesordnung ist usw.
In dieser Woche erfolgte im Unterausschuss eine Unterrichtung. Es ging unter anderem darum, was beim
G-7-Gipfel diskutiert und behandelt wurde. Ich habe
nachgefragt, ob die alternativen Ideen zu einem internationalen Schiedsgericht zur Sprache gekommen sind und
ob die Diskussionen, die wir hier führen, beim G-7-Gipfel behandelt oder auch nur mit einem Wort einmal erwähnt wurden. Die Antwort war: Nein, es wurde auf
dem G-7-Gipfel überhaupt nicht darüber diskutiert, ob
die Schiedsgerichte vielleicht hinterfragt werden. Das
war kein Thema.
({1})
Ich frage mich, wie Sie sich eigentlich hierhinstellen
und uns so eine Nummer vorspielen können. Sie bauen
einen Popanz auf, hinter dem real überhaupt nichts steht.
Das ist nur heiße Luft.
({2})
Frau Kollegin Hänsel, ich danke Ihnen für die Frage
und dafür, dass ich das noch einmal klarstellen kann. Wir haben zusammen in dem Unterausschuss gesessen,
und die Verantwortliche aus dem Bundeskanzleramt, sozusagen die Sherpa, die den G-7-Gipfel vorbereitet hat,
hat auf Ihre Frage hin gesagt, dass das nicht konkret besprochen worden ist. Sie müssen ja wissen, wer am
Tisch gesessen hat.
In der Abschlusserklärung steht etwas zum Freihandelsabkommen mit Japan und zum transpazifischen Abkommen. Außerdem steht darin, dass der WTO-postBali-Prozess vorangebracht werden soll, und am Ende
steht der entscheidende Satz - diesen haben Sie gerade
auch bewusst unterschlagen -, dass wir bis zum Jahresende nicht zu einem Abschluss der TTIP-Verhandlungen
kommen werden. Sie sagen doch immer, das werde in
nächster Zeit abgestimmt und dass bis zum Jahresende
etwas vorliegen soll.
({0})
In der G-7-Erklärung steht, dass bis zum Jahresende
Grundzüge vorliegen sollen, worauf sich geeinigt werden könnte. Es sind viele Konjunktive an dieser Stelle.
Das heißt, wir Sozialdemokraten - und Sigmar Gabriel
im Besonderen - haben noch Spielraum dafür, Verbesserungen durchzusetzen. Lassen Sie uns das doch versuchen! Wieso sollen wir das denn nicht machen?
({1})
Wenn Sie mit Ihren Forderungen durchkommen, dann
bleibt das alte ISDS-System bestehen. Das kann doch
nicht richtig sein. Deshalb brauchen wir bessere Regeln
für den Welthandel. Darum machen wir das. Das ist der
Anspruch der Sozialdemokratie.
Das heißt aber auch - um darauf zum Schluss noch
einmal einzugehen -, dass wir auch stärker darauf drängen müssen, dass die Buy-American-Clause fällt. Hier
haben wir ein offensives Interesse - gerade auch für unsere mittelständischen Unternehmen, zum Beispiel bei
mir vor Ort im Sauerland.
Wir wissen doch, wie die Debatte läuft. Im nächsten
Jahr stehen in den USA die Präsidentschaftswahlen an.
Das wird den ganzen Prozess verzögern; das wird nicht
vorangehen. Darum ist es gut, dass wir über den Freihandel diskutieren und Verbesserungen erreichen wollen.
Wir dürfen aber nicht den Kopf in den Sand stecken und
alles permanent ablehnen.
Vielen Dank.
({2})
Vielen Dank. - Nächster Redner ist Professor
Dr. Heribert Hirte, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Es ist wie immer bei Anträgen von den Linken: sehr laut
und nicht lustig. Lustig war es bei der SPD; das muss
man eingangs wirklich einmal sagen.
({0})
Schauen wir uns den Antrag jetzt doch einmal genau
an. Sie schreiben darin, dass Sie keine Paralleljustiz wolDr. Heribert Hirte
len. - Sie haben es noch nicht verstanden. Es geht hier
um Abkommen zwischen Staaten, und zwischen Staaten
gibt es überhaupt kein staatliches Justizsystem.
({1})
Das wollen wir mit dem Handelsgerichtshof schaffen;
dies wurde unter anderem von Sigmar Gabriel vorgeschlagen. Im Augenblick ist von Paralleljustiz gar keine
Rede. Erster Fehler in Ihrem Antrag.
({2})
- Sie sollten ein bisschen Redezeit beantragen. Aber Sie
haben ja schon x-mal zu diesem Thema gesprochen. Wir
kennen das alles. Das ist wirklich langweilig.
({3})
Gehen wir es weiter durch. Zweiter Fehler: Sie reden
von internationalen Konzernen und davon, dass das alles
diesen Konzernen nutzen soll. Nein, die internationalen
Konzerne brauchen keine Freihandelsabkommen, die
können sich selber helfen.
({4})
Wir wollen den deutschen, den tschechischen, den niederländischen, den französischen
({5})
und umgekehrt auch den amerikanischen Unternehmen
helfen, damit sie auf der anderen Seite des Atlantiks Geschäfte machen können. Das ist unser Anliegen, und das
konterkarieren Sie. Damit handeln Sie gegen die Interessen der Arbeitnehmer.
({6})
Es geht nicht um Konzerne, sondern es geht um normale Unternehmen, ganz normale kleine und mittelständische Unternehmen,
({7})
die nach dem augenblicklichen Stand nicht nach Amerika exportieren können. Diesen Unternehmen wollen
wir die Chance geben, es den Großen gleichzutun. Sie
reden nur von den Großen. Wir reden von den kleinen
und den mittelständischen Unternehmen. Das ist die
Wahrheit. Das sollten Sie einmal begreifen.
({8})
Weiter heißt es hier, dass Sie gegen Sonderklagerechte sind, die Investoren ein exklusives Recht einräumen. Das ist doch auch falsch. Es geht um Abkommen
zwischen Staaten. Da klagen normalerweise die Staaten.
Der normale Weg wäre, dass ein Mensch aus dem einen
Staat sagt: Ich möchte von meinem Staat, dass er gegen
den anderen Staat vorgeht.
({9})
Wenn wir ihm das erleichtern, ist das gelebte Subsidiarität. Es geht darum, dass die Unternehmen des einen
Staates unmittelbar in dem anderen Staat klagen können.
Ich würde mir wünschen, wir hätten eine solche Regelung auch bei Doppelbesteuerungsabkommen, sodass
die Kläger ihre Rechte unmittelbar gegenüber den Begünstigten geltend machen können.
Herr Kollege Hirte, gestatten Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Ernst?
({0})
Schon wieder? Vielleicht in ein paar Minuten; es
könnte sein, dass sich die Frage dann schon erledigt hat.
In ein paar Minuten haben Sie keine Redezeit mehr.
Dann geht es nicht mehr. Sie sagen also Nein? - Bitte
schön.
({0})
Das bedeutet doch, dass es um eines geht: Irreführung, Fehlangaben, Fehldarstellungen. Das verbreiten
Sie hier. Dem sitzen leider viele Leute in unserem Land
auf. Das bedeutet: Wir müssen die Dinge richtigstellen.
Daran arbeiten wir. Ich finde es bedauerlich, dass sich
der Deutsche Gewerkschaftsbund jetzt auch in die Liste
der TTIP-Gegner eingereiht hat.
({0})
Wissen Sie, der DGB hatte vorher Zeit; denn bei der Europäischen Kommission gab es eine Anhörung. Dort hat
sich der DGB nicht geäußert. Der Vertreter des DGB,
mit dem ich ein paar Mal auf dem Podium zusammensaß, hat gesagt: Wir fanden es nicht wichtig. - Interessant, jetzt, wo Sie laut schreien, findet er das wichtig.
({1})
Das ist kein sachliches Argument. Aber sachliche Argumente liegen Ihnen ja sowieso nicht besonders.
({2})
Sie schreiben weiter in Ihrem Antrag: Wir wollen hohe
Schadenersatzforderungen ausschließen. Haben Sie eigentlich einmal darüber nachgedacht, was die Alternative im staatlichen Rechtssystem ist? Gerade im Fall Vattenfall wird ja auch vorm Bundesverfassungsgericht
geklagt. Das Bundesverfassungsgericht kann die Gesetze für unwirksam erklären. Das geht also viel weiter
als das, was Sie hier für schrecklich halten. Auch das
müssen Sie den Bürgern sagen. Auch hier Irreführung
und Nebelkerzen, und zwar genau die Nebelkerzen, von
denen Sie eben gesprochen haben.
Zu Schadenersatzforderungen - ich zitiere weiter aus
Ihrem Antrag -:
Zudem darf sich ein souveräner Staat nicht einem
Klagerisiko und dem mit diesem Risiko verbundenen Einschüchterungseffekt aussetzen.
Ehrlich gesagt, wenn es stimmt, dass ein Staat nicht verklagt werden darf, dann darf staatliches Unrecht nicht
überprüft werden. Das scheint aber Ihre eigentliche
Denke zu sein.
({3})
Da muss ich sagen: Sie haben mit dem Rechtsstaatsverständnis Probleme. Deshalb werden wir Ihren Antrag ablehnen. Das wundert Sie wahrscheinlich sowieso nicht.
({4})
Jetzt sollten wir über die Frage nachdenken: Was sind
die Alternativen? Ich bin den Grünen ausdrücklich dankbar, die gesagt haben, dass wir natürlich über diese Frage
nachdenken können. Wir haben das getan, und wir haben
hier bisher nicht nur einen Antrag zu diesem Thema beraten. Wir wissen, dass es bei Schiedsverfahren manche
Dinge gibt, die nicht so laufen, wie man es sich wünscht.
Das hängt nicht damit zusammen, dass es irgendwelche
anonymen großen Industrien gibt, die das so durchgesetzt haben, sondern es hängt schlicht damit zusammen,
dass wir Hunderte von Schiedsverfahren in der Welt haben, bei denen man über diese Frage nicht nachgedacht
hat. Ich bin Ihnen dankbar, dass wir das jetzt diskutieren
können. Das ist schon eine gute Sache. Aber die Frage
ist: In welche Richtung diskutieren wir? Ich möchte das
wiederholen, was ich zu diesem Punkt schon mehrfach
gesagt habe: Ich halte es für richtig, über ein stehendes
internationales Gericht nachzudenken, in dem Profis in
dieser Sache entscheiden. Das sind die Vorschläge, die
jetzt von Gabriel und Malmström ins Gespräch gebracht
wurden.
Ich habe hier gesagt: Wir können als Deutscher Bundestag bei vorhandenen Freihandelsabkommen autonom
daran arbeiten, die Auswahlentscheidung in unsere
Hände zu nehmen. Wir haben die Entscheidungsbefugnis über die Auswahl der Richter am Europäischen Gerichtshof auch vom Wirtschaftsministerium auf uns
übertragen. Das könnten wir bei Schiedsgerichtsinstitutionen genauso machen, und auf europäischer Ebene
könnte dies das Europäische Parlament machen. Lassen
Sie uns doch über solche Vorschläge reden. Sie sind seit
längerem in der Welt. Das war wohl auch einer der
Gründe dafür, warum das Wirtschaftsministerium und
die Europäische Kommission über Alternativen nachdenken.
Lassen Sie uns über die Frage reden, wie sich nationaler und internationaler Rechtsweg - jedoch nicht zwingend Schiedsrechtsweg - zueinander verhalten, dass
man sich die Wege nicht aussuchen kann, sondern die
sogenannte „fork in the road“ hat, nämlich dass man nur
eine Klage erheben und nicht zwischen den Rechtswegen hin und her wechseln kann.
Wir können gern über eine Berufungsinstanz reden,
aber ich sage auch: Das Bundesverfassungsgericht fordert keine Berufungsinstanz. Wir sind an anderer Stelle
durchaus auf der Linie, dass wir sagen: Verfahren sollen
nicht unnötig verlängert werden. Es gilt, das gegeneinander abzuwägen.
Schließlich: Es ist richtig, Schiedsverfahren erfolgen
sozusagen auf der Basis von Stundenhonoraren. Das
heißt, sie sind für große Unternehmen relativ billig und
für kleine Unternehmen relativ teuer. Da haben Sie den
Vorsitzenden des Bundesverbands mittelständische Wirtschaft in der Tat richtig zitiert. Aber deshalb wollen wir
daran arbeiten, solche Verfahren auch für die Unternehmen zugänglich zu machen, die nach dem bisherigen
System keinen Zugang dazu haben. Das bedeutet: Wir
wollen TTIP auch für die kleinen und mittelständischen
Unternehmen; denn transatlantischer Handel ist gut für
die Bürger in Europa und auch für die Bürger auf der anderen Seite des Atlantiks.
Vielen Dank.
({5})
Vielen Dank. - Das Wort zu einer Kurzintervention
hat jetzt der Kollege Klaus Ernst.
Herr Hirte, Sie haben uns vorgeworfen - ich darf
zitieren -: Irreführung, Falschdarstellungen.
({0})
Jetzt haben Sie gesagt, es gehe Ihnen in dem Zusammenhang gar nicht um die großen Konzerne, sondern um
Kleinbetriebe. Vorher hat Ihr Kollege Lämmel richtigerweise gesagt - manchmal findet auch ein blindes Huhn
ein Korn -, dass es schon eine ganze Reihe von Schiedsverfahren gibt, die in Abkommen vereinbart sind. Da hat
er recht.
Erstens. Können Sie ein Unternehmen mit unter
100 Beschäftigten nennen, das vor einem bestehenden
internationalen Gerichtshof geklagt hat? Sie werden keines finden. Alle Unternehmen, die bisher vor internationalen Schiedsgerichten geklagt haben, waren große
Konzerne: Vattenfall, Lone Pine, Philip Morris. Sie behaupten aber hier, es gehe bei diesen Fragen mehr um
die Kleinen, und Sie werfen uns Fehldarstellungen vor.
Es ist eine eklatante Fehldarstellung, zu sagen, es gehe
bei diesen Fragen um die kleinen Unternehmen. Es geht
in der Praxis schlichtweg um die großen Konzerne.
Zweitens. Sie haben gesagt, es gehe nun darum, diese
Vorschläge ernst zu nehmen und zu implementieren.
Glauben Sie wirklich, und das ist eine Frage, die Sie
gern beantworten können, dass im CETA, dem Freihandelsabkommen mit Kanada, das fertig verhandelt wurde,
die Vorschläge eines internationalen Handelsgerichtshofes noch eine Rolle spielen? Und wie würden Sie sich
verhalten, wenn diese Vorschläge im CETA nicht berücksichtigt werden? Stimmen Sie dann zu, oder stimmen Sie dagegen? Und genau das müssen sich auch die
Sozialdemokraten überlegen.
Jetzt hat der Kollege Hirte die Gelegenheit, zu antworten. - Bitte schön.
Sie haben es richtig gesagt: Sie reden über die Vergangenheit.
({0})
Wir wollen die Verfahren und auch die Abkommen so
erweitern, dass auch kleine und mittelständische Unternehmen vom transatlantischen Handel profitieren können.
({1})
Das ist die zukunftsorientierte Sichtweise unserer Fraktion, und im Übrigen ist es auch die der SPD.
Wenn Sie nach CETA fragen: Über CETA reden wir
gesondert, wenn die Abstimmung darüber ansteht. Dann
werden wir gucken, wie weit wir bei dem Thema
Schiedsverfahren sind, und dann werden wir da auch
eine Entscheidung treffen.
({2})
Danke schön. - Für die SPD-Fraktion erhält jetzt
Dr. Nina Scheer das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ich denke, wir alle hier in diesem
Haus sollten uns vergegenwärtigen, warum wir diese
Diskussionen führen. Der Grund ist, dass wir eine Prozessverantwortung zu übernehmen haben. Es geht darum, dass sich die Parlamentarier, auch wenn sie nicht
unmittelbar am Verhandlungstisch sitzen, damit befassen
sollten, was zwischen der Erteilung eines Verhandlungsmandats und dem späteren Abschluss eines Handelsabkommens steht.
Zwischen dem formaljuristischen Auftrag an die
Kommission, doch bitte etwas auszuhandeln, und der
späteren Aufforderung zur Ratifizierung kann sich einiges verändert haben. Diese Änderungen liegen in der
Natur der Sache von solchen über Jahre auszuhandelnden Abkommen. Deswegen sollten wir uns hier nicht gegenseitig das Leben schwer machen, wenn es darum
geht, genau diese Prozessverantwortung zu übernehmen
und diese Dinge, die sich in den letzten Jahren und vor
allem in den letzten Monaten im Laufe dieses Prozesses,
also auch während der Verhandlungen, als Änderungsbedarfe gezeigt haben, fortzuentwickeln.
({0})
Die SPD hat in dem Bereich der Fortentwicklung von
Handelsabkommen mit ihrem Konventbeschluss schon
entscheidende Fortschritte erzielt. Sie hat aufgezeigt, wo
der Nutzen liegen könnte, hat aber auch ganz klar aufgezeigt, wo die roten Linien sind. Ich sehe überhaupt nicht,
dass wir zurzeit dabei wären, diese roten Linien zu überschreiten. Ganz im Gegenteil: Der Vorschlag, zu einer
ordentlichen Gerichtsbarkeit bzw. weg von den Schiedsgerichten zu kommen, ist ein erster wichtiger Schritt. Es
geht in den weiteren Schritten darum, zu überprüfen, inwieweit regulatorische Kooperationen möglicherweise
eine Aushebelung bedeuten können oder inwieweit der
zurzeit noch verfolgte Negativlistenansatz tatsächlich innerhalb der roten Linien, die man definiert hat, umzusetzen ist.
Wenn wir jetzt - wir sehen ja, wie schwierig es ist, zu
den einzelnen Punkten vorzudringen - einfach sagen:
„Das Europaparlament hat eine Schlappe erlitten“, dann
finde ich das den Kollegen gegenüber nicht fair.
({1})
Es gab eine intensive Auseinandersetzung. Es gab einen
Beschluss vom Handelsausschuss. Es gab auch noch zusätzliche Änderungen. All das zeigt: Die Debatte lebt.
Gleichzeitig gilt aber die Verfahrensvorschrift: Wenn es
zu viele Änderungen gibt, dann muss die Debatte vertagt
werden.
({2})
Was ist bitte schön daran das Problem? Insofern möchte
ich an Sie appellieren, diesen Prozess wertzuschätzen.
Wir sind zurzeit dabei, die Gerichtsbarkeit zu ändern,
obwohl das Verhandlungsmandat ebendiese Schiedsgerichtsbarkeit vorsieht. Das ist eigentlich ein historischer
Schritt. Es ist die Arbeit der Parlamentarier, nicht die der
Kommission, zu sagen: Es gibt diese Gestaltungsspielräume. Wir brauchen sie, und wir haben ein Recht darauf.
({3})
Wenn Sie jetzt einfach behaupten, lieber Herr Ernst,
dass mit der Schaffung der Gerichtsbarkeit der Investitionsschutz zementiert würde - so ähnlich haben Sie sich
gerade ausgedrückt, auf den Wortlaut möchte ich mich
hier nicht festlegen -, dann ist das einfach falsch. Die
Verhandlungen zur Gerichtsbarkeit sind, wie gesagt, ein
erster wichtiger Schritt, von der Schiedsgerichtsbarkeit
wegzukommen. Aber was nun tatsächlich Rechtsmaterie
ist, ob die Bürger außen vor bleiben sollen, wie Sie das
unterstellt haben, ist überhaupt nicht geregelt.
({4})
Das Konzept, das zurzeit verhandelt wird, erhebt überhaupt nicht den Anspruch, materiell-rechtliche Vorgaben
zu machen oder die Situation der Kläger zu beschreiben.
Es geht einfach um das Format des Gerichtes an sich.
In der Frage, was als Verhandlungsmaterie vor solchen Gerichten überhaupt rechtsfähig wird, ist es unsere
Aufgabe, das zu definieren und eben dafür Sorge zu tragen, dass die Gestaltungshoheit in den einzelnen Mitgliedstaaten und auch aufseiten der Verhandlungspartner
nicht ausgehebelt wird. Das müssen wir noch weiter gestalten.
({5})
Insofern sollten wir erkennen - diese kleine Kritik
muss sich die Europäische Kommission gefallen lassen -,
dass wir in der Europäischen Union möglicherweise ein
Demokratiedefizit in der Form vorfinden, dass die Erteilung von Verhandlungsmandaten an die Kommission zu
weitgehend ist, um diese Mandate, wenn sich Änderungsbedarfe ergeben, noch zu ändern. Daher sollten wir
uns aufgrund dieser Prozesse grundsätzlich fragen, ob es
nicht sinnvoll ist, schon im Prozess selbst Konsultationsverfahren und auch die Einbeziehung der Parlamentarier
des Europäischen Parlaments vorzusehen. Nur so kann
man auch die rechtlichen bzw. die politischen Ansprüche, die sich entwickeln, konform mit dem machen, was
formaljuristisch für diese Prozesse vorgesehen ist. Zurzeit darf die Kommission alles geheim halten und sich
ins stille Kämmerlein zurückziehen. Wir müssen dann
alles wieder mühselig hervorholen. Wir haben nun herausgearbeitet, dass es so nicht geht. Unsere Aufgabe
muss sein, an der Wurzel anzusetzen und zu fordern: Für
die heutigen und alle zukünftigen Verhandlungen gilt,
dass der Parlamentarismus eine bessere Wertschätzung
erfährt und dass er eingreifen können muss, wenn etwas
schiefläuft.
({6})
Da sind wir mit dem, was auf Initiative von Sigmar
Gabriel vorgeschlagen wurde, auf einem guten Weg. Ich
bitte euch alle, daran anzuknüpfen.
Vielen Dank.
({7})
Danke schön. - Damit ist die Aussprache beendet.
Wir kommen nun zum Antrag der Fraktion Die Linke
auf Drucksache 18/5094. Die Fraktion Die Linke
wünscht Abstimmung in der Sache. Die Fraktionen der
CDU/CSU und der SPD wünschen Überweisung, und
zwar federführend an den Ausschuss für Wirtschaft und
Energie und mitberatend an den Ausschuss für Recht
und Verbraucherschutz sowie an den Ausschuss für die
Angelegenheiten der Europäischen Union.
Wir stimmen nach ständiger Übung zuerst über den
Antrag auf Ausschussüberweisung ab. Ich frage deshalb:
Wer stimmt für die beantragte Überweisung? - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist der Antrag angenommen, und zwar mit der Mehrheit der Stimmen von CDU/CSU- und SPD-Fraktion. Dann ist die
Überweisung so beschlossen. Damit stimmen wir heute
nicht über den Antrag auf Drucksache 18/5094 in der Sache ab.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 26 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Anpassung des nationalen Bankenabwicklungsrechts
an den Einheitlichen Abwicklungsmechanismus und die europäischen Vorgaben zur Bankenabgabe ({0})
Drucksache 18/5009
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({1})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 der GO
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Ich sehe, dass
Sie damit einverstanden sind. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort für die Bundesregierung hat der Parlamentarische Staatssekretär
Dr. Michael Meister. - Bitte schön.
({2})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wir haben im vergangenen Jahr die Bankenabwicklungsrichtlinie für das Jahr 2015 umgesetzt und damit die notwendigen Regelungen zur Bankenabwicklung
geschaffen. Nun beabsichtigen wir, mit dem Gesetz, dessen Entwurf vorliegt, das nationale Recht so anzupassen,
dass der einheitliche europäische Abwicklungsmechanismus ab 2016 seine volle Wirkung entfalten kann. Mit
diesem Gesetz sind wir Vorreiter in Europa. Viele andere
Mitgliedstaaten haben die neuen Abwicklungsregeln der
Bankenabwicklungsrichtlinie noch nicht umgesetzt und
müssen auch die intergouvernementale Vereinbarung zur
Bankenabgabe ratifizieren.
Sinn und Zweck ist, dass wir zu geordneten Verfahren
in Krisensituationen von Banken und Bankinstituten
kommen, insbesondere dann, wenn es sich um grenzüberschreitende Konstellationen handelt. Wir wollen
nicht im Bail-out verbleiben, sondern zum Bail-in kommen. Das heißt, nicht die Steuerzahler, sondern Eigentümer und Gläubiger der Banken tragen die Last von Fehlentwicklungen.
({0})
Der volle Start des Einheitlichen Abwicklungsmechanismus wird das institutionelle Gefüge der Bankenabwicklung künftig noch einmal verändern. Hierauf reagieren wir mit dem Abwicklungsmechanismusgesetz.
Der Gesetzentwurf stellt klar, inwieweit die nationalen
Bankenabwicklungsvorschriften neben der SRM-Verordnung in der Praxis anwendbar sind.
Die nationale Abwicklungsbehörde, die Bundesanstalt für Finanzmarktstabilisierung, wird ermächtigt, BeParl. Staatssekretär Dr. Michael Meister
schlüsse des Ausschusses, des handelnden europäischen
Organs des Einheitlichen Abwicklungsmechanismus,
umzusetzen. Über diese Anpassung hinaus wird durch
das Abwicklungsmechanismusgesetz - das ist uns ein
besonderes Anliegen - auch das neue Abwicklungsregime praxistauglich gestärkt werden. Das geschieht in
dreierlei Hinsicht:
Erstens. Ich habe es eben erwähnt: Wir ziehen die
Gläubiger heran. Diese Heranziehung der Gläubiger soll
erleichtert werden. Dafür synchronisieren wir als Erstes
das Insolvenzrecht für Banken mit den Bedürfnissen eines Bail-in-Mechanismus. Wir schaffen insolvenzrechtlich Nachrang für Schuldtitel, deren Bail-in in besonders
rascher und rechtssicherer Weise möglich ist und die relativ geringe Ansteckungsgefahren bergen. Aus Abwicklungssicht ist dies ein wichtiger Schritt für die praktische
Anwendung der Abwicklung und damit der Glaubwürdigkeit des Bail-in insgesamt.
Durch diese Rangabstufung wird es der Abwicklungsbehörde erleichtert, eine Übersicht über den Umfang und den Wert des Bail-in-fähigen Materials in
einem Institut zu gewinnen. Diese Regel begrenzt Ansteckungsgefahren beim Bail-in und schützt dadurch auch
die Finanzstabilität. Ferner minimiert sie Rechtsrisiken
bei der Anwendung des Bail-in-Instruments. Damit werden - das habe ich vorhin angesprochen - öffentliche
Mittel und damit der Steuerzahler geschont.
Je beherrschbarer die mit einem Bail-in einhergehenden Risiken sind, desto sicherer kann das Instrument im
Krisenfall eingesetzt werden. Je sicherer das Bail-in-Instrument praktisch zur Verfügung steht, desto glaubwürdiger ist es. Die Glaubwürdigkeit des Bail-in-Instruments aber ist von zentraler Bedeutung. Nur wenn die
Märkte das Haftungsprinzip verinnerlichen, verhindern
wir im Vorfeld Fehlanreize und beugen damit schon dem
Entstehen der Krisen vor.
Der zweite Aspekt betrifft die grenzüberschreitende
Abwicklung. Ob wir in der Lage sind, auch komplexe
grenzüberschreitende Sachverhalte in der Krise zu beherrschen, gilt als Praxistest für die Bankenabwicklung
überhaupt. Das betrifft fast alle denkbaren Abwicklungssituationen; denn die allermeisten größeren Banken sind
eben nicht nur national tätig, sondern grenzüberschreitend im Geschäft. Kernfrage ist hier, was passiert, wenn
wir im Rahmen des Krisenmanagements eine Maßnahme treffen und Rechtsordnungen anderer Länder
diese schlicht nicht anerkennen. Exemplarisch dafür ist
folgendes mögliche Problem bei der Abwicklung von
Derivateverträgen: Hier könnten über Kündigungsklauseln Kettenreaktionen drohen, die ein Abwicklungsszenario außer Kontrolle geraten lassen. Ausländische
Rechtsordnungen liegen aber selbstverständlich außerhalb unserer Einflusssphäre.
Damit aber solche schwierigen Situationen gar nicht
erst eintreten können, gehen wir nun den Weg einer Absicherung über die Vertragsgestaltung. Künftig müssen
in Deutschland agierende Banken in den Finanzkontrakten, die außereuropäischem Recht unterliegen, die Anerkennung von Aussetzungsmaßnahmen der deutschen
Abwicklungsbehörde zum Vertragsinhalt machen. Dies
verhindert, dass im Abwicklungsfall grenzüberschreitende Derivateverträge gekündigt werden und dadurch
die Krise des Instituts vertieft wird.
Drittens sorgen wir dafür, dass auch in der Zeit, in der
der europäische Abwicklungsfonds noch aufgebaut
wird, die Handlungsfähigkeit erhalten bleibt. Die Mittel,
die 2011 bis 2014 von deutschen Banken in den nationalen Restrukturierungsfonds eingezahlt wurden, sollen
aus diesem Grund zunächst weiter vorgehalten werden.
Diese Mittel stehen während der Aufbauphase als Darlehen an den europäischen Fonds zur Verfügung, um gegebenenfalls dort auftretende Finanzierungslücken, weil
dieser noch nicht voll befüllt ist, schließen zu können.
Ein weiteres Element des Gesetzentwurfs hängt inhaltlich nicht mit dem Thema Abwicklung zusammen;
zum Thema „praktische Durchsetzung von Regeln“
passt es aber sehr gut. Wie im Koalitionsvertrag angekündigt, wird der Informationsfluss zwischen der BaFin
und den Finanzbehörden verbessert, um Steuerhinterziehung wirksamer bekämpfen zu können. Die BaFin muss
künftig bei allen Straftaten Informationen an die Steuerbehörden liefern.
Um Probleme anzugehen, sind Regeln unverzichtbar.
Zur wirklichen Problemlösung ist allerdings die Existenz
von Regeln nur der halbe Weg. Um wirken zu können,
müssen die Regeln in ihren Auswirkungen vorhersehbar
und die praktische Anwendung glaubwürdig sein.
Hierzu leistet aus Sicht der Bundesregierung das Abwicklungsmechanismusgesetz für den Bereich der Bankenabwicklung einen wichtigen Beitrag. Es macht besser vorhersehbar, womit Investoren im Falle einer
Bankenkrise zu rechnen haben, und erleichtert es den
Märkten, sich darauf einzustellen. Insbesondere aber erhöht es die Glaubwürdigkeit der Kriseninstrumente. Nur
mit glaubwürdigen Instrumenten sind wir gerüstet, künftigen Krisen begegnen zu können.
({1})
Deshalb werbe ich für dieses Gesetz und bitte Sie um die
entsprechende Unterstützung.
Danke schön.
({2})
Vielen Dank. - Für die Fraktion Die Linke spricht
jetzt Axel Troost.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich möchte kurz auf den Beginn der Finanzkrise im September 2008 zurückblicken. Nach der Pleite der USBank Lehman Brothers versuchte der damalige Finanzminister Steinbrück uns noch weiszumachen, die Finanzkrise sei vor allen Dingen ein amerikanisches Problem. Wenige Tage später standen überall in Europa die
Menschen vor den Banken.
({0})
Während dieser Phase schlug der niederländische Finanzminister Jan Pieter Balkenende einen europäischen
Rettungsfonds vor. Demnach sollten alle Mitgliedstaaten
einen Beitrag von circa 3 Prozent des Sozialproduktes
bereitstellen. Für Deutschland wären das damals 75 Milliarden Euro gewesen. Der Fonds sollte aus 27 separaten
Fonds bestehen, die nur dem jeweiligen Mitgliedstaat
zur Verfügung standen, aber nach gleichen Richtlinien
eingesetzt werden sollten. Dieser Vorschlag kommt uns
heute bekannt vor. Auch der damalige französische Präsident Sarkozy hatte ähnliche Überlegungen in die Diskussion gebracht. Die Bundesregierung hat darauf aber
eben nicht reagiert, sondern auf eigene Faust gehandelt.
Wir haben dafür erst rund 500 Milliarden Euro als Rettungsmaßnahme ins Schaufenster gestellt und am
Schluss letztlich auf nationaler Ebene einen Restrukturierungsfonds für den Bankenbereich gegründet. Jetzt
wird dieser Fonds in einen europäischen Fonds überführt.
Der Unterschied zum damaligen Vorschlag ist aber:
Nach dem Vorschlag von Balkenende hätte der EU-weite
Fonds ein Volumen von 375 Milliarden Euro gehabt.
Auf die Euro-Zone, also die Staaten der jetzigen Bankenunion, heruntergerechnet, wären das rund 280 Milliarden Euro gewesen. Der nun eingerichtete Einheitliche Abwicklungsfonds der Euro-Zone hat aber nur ein
Zielvolumen von circa 55 Milliarden Euro, und das soll
erst in zehn Jahren erreicht werden. Selbst der jetzt abgelöste deutsche Rettungsfonds hatte ein Zielvolumen von
70 Milliarden Euro, also ein deutlich höheres Volumen
als der gesamte europäische Fonds. Allerdings - das
muss man auch konkret sagen -: Obwohl wir ihn seit
drei Jahren haben, sind überhaupt erst 2,3 Milliarden
Euro in diesen Fonds eingezahlt worden.
Warum ist das aus unserer Sicht viel zu wenig? Nehmen wir an, der Fonds wäre wirklich in zehn Jahren mit
55 Milliarden Euro befüllt. Was passiert, wenn eine
große Bank wirklich gerettet werden muss? Der Ökonom Martin Hellwig hat in einer unserer zahlreichen Anhörungen gesagt: Um die Liquidität einer Bank mit einem Bilanzvolumen von 500 Milliarden Euro zu sichern,
ist eine Garantie in Höhe eines dreistelligen Milliardenbetrages erforderlich. - Das klingt plausibel. Schon die
Abwicklung einer einzigen großen Bank, von denen wir
in Europa mehr als ein Dutzend haben, würde daher
nicht nur diesen Abwicklungsfonds sprengen, sondern
auch die Einlagensicherung und den ESM. Ich will gar
nicht darauf eingehen, wie viele Probleme mit den Abwicklungsmechanismen ansonsten noch verbunden sind,
und auf die Frage, ob sie sich wirklich bewähren werden
oder nicht. Deswegen ist und bleibt aus unserer Sicht die
zentrale Frage, wie wir die zu rettenden Einheiten wesentlich kleiner machen können. Es ist nach wie vor so,
dass „too big to fail“ genauso gilt wie vorher. Die Einheiten sind zum Teil sogar noch größer geworden.
Daher ist es aus unserer Sicht wirklich zentral, die
Frage zu stellen, wie abgehobene Kapitalmarktgeschäfte
eingegrenzt und eingedampft werden können, damit die
Banken ihre zentrale Aufgabe, Dienstleister für die Realwirtschaft zu sein, wirklich erfüllen können. Wenn wir
das nicht machen, sondern nur immer wieder Schirme
aufspannen, sind diese im Zweifelsfall zu klein und führen in der Tat dazu, dass wir am Schluss, wenn Rettung
wirklich erforderlich wird, wieder erleben werden, dass
die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler in Anspruch genommen werden.
Das ist in der Bundesrepublik Deutschland weniger
wahrscheinlich, aber es gilt für andere Länder in der
Euro-Zone nach wie vor. Deswegen halten wir das, was
auf dem hier eingeschlagenen Weg gemacht werden soll,
für zu kurz gesprungen und glauben, dass dieser europäische Rettungsfonds in der vorgesehenen Größenordnung
nicht ausreichen wird.
Danke schön.
({1})
Vielen Dank. - Das Wort hat Manfred Zöllmer, SPDFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Keine Steuergelder für Pleitebanken - das ist unser politisches Credo, das wir seit der Finanzmarktkrise wie ein
Mantra vor uns hertragen und immer wiederholen. Deswegen müssen wir uns in diesem Jahr fragen: Wie sieht
eigentlich der Weg vom Mantra zur Realität aus? Wo
stehen wir auf diesem Weg?
Der vorliegende Gesetzentwurf ist aus unserer Sicht
ein weiterer wichtiger Baustein, die politische Forderung, die ich eben formuliert habe, Realität werden zu
lassen. Mit ihm werden wir eine Vielzahl von gesetzlichen Regelungen in Deutschland an eine Reihe von europarechtlichen Vorgaben anpassen.
Das ist, wie immer, wenn es um Bankenrecht geht,
hochkomplex und kompliziert. In den letzten Jahren haben wir in Europa als Konsequenz aus der Bankenkrise
eine Bankenunion geschaffen. Sie sieht eine einheitliche
Aufsicht der großen Banken durch die EZB vor. Seit
dem 4. November 2014 ist dies in Kraft. Das stellt eine
völlige Umgestaltung und Vereinheitlichung der Bankenaufsicht für 1 200 Kreditinstitute in Europa dar.
Zusätzlich wurde ein europäischer Bankenfonds beschlossen, der zukünftig im Falle der Zahlungsunfähigkeit einer Bank verhindern soll, dass wieder Steuerzahlerinnen und Steuerzahler für die Zockereien von Banken
bluten müssen.
({0})
Auch systemrelevante Banken können damit zukünftig
in einem geordneten Verfahren abgewickelt werden. Risiko und Haftung gehören in Zukunft auch bei Banken
wieder zusammen. Im Insolvenzfall sollen Eigentümer
und Gläubiger - und nicht der Steuerzahler - haften. Der
Einheitliche Abwicklungsmechanismus wird ab dem
1. Januar 2016 einsatzbereit sein.
Ich komme nun zur Kritik von Axel Troost, die er hier
eben formuliert hat - wie immer bei den Linken nach
dem Motto: Zu wenig. Sie besagt: Es ist zu wenig Geld
im Topf.
({1})
- Genau! Oder zu spät oder zu früh! Das kann man sich
dann aussuchen.
({2})
Der Vergleich, den du hier gezogen hast, trägt nicht. Warum trägt er nicht? Weil wir seit Beginn der Finanzmarktkrise die Rahmenbedingungen, unter denen Banken heute arbeiten, vollkommen geändert haben.
({3})
Das ist das Entscheidende. Man muss das einfach mit
berücksichtigen, wenn man über diese Situation spricht.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit dem vorliegenden Gesetzentwurf werden wir erstens eine Anpassung
des Sanierungs- und Abwicklungsgesetzes vornehmen,
zweitens das Restrukturierungsfondsgesetz an die europäischen Vorgaben zur Bankenabgabe anpassen und die
Verwendung der bisher erhobenen deutschen Bankenabgabe regeln und drittens verschiedene Änderungen im
Kreditwesengesetz, im Pfandbriefgesetz, im Finanzmarktstabilisierungsfondsgesetz sowie in weiteren Gesetzen, die ich hier aus Zeitgründen nicht nennen werde,
vornehmen. Dies ist nicht sehr sexy, das ist sehr technokratisch, aber es ist sehr notwendig.
({4})
Wie immer bei einem solchen Gesetz gibt es natürlich
auch ein paar vereinzelte Kritikpunkte, mit denen wir
uns in dem parlamentarischen Verfahren intensiv beschäftigen werden. Ein wichtiger Teil ist der Aufbau eines einheitlichen europäischen Abwicklungsfonds; davon haben wir gehört. Der Gesetzentwurf sieht vor, dass
die Mittel aus der deutschen Bankenabgabe, die bisher
erhoben wurden - die 2,2 Milliarden Euro, von denen
gerade die Rede war -, weiterhin für eine eventuell notwendige Abwicklung eines deutschen Kreditinstituts zur
Verfügung stehen sollen. Dies ist aus unserer Sicht im
Hinblick auf die Prämisse der Entlastung der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler nachvollziehbar. Aber hier
gibt es Wünsche und Diskussionsbeiträge, die darauf abzielen, die Altmittel gegebenenfalls zu einer Beitragsentlastung einzusetzen. Wir werden uns das in Ruhe anschauen und diesen Wunsch prüfen.
Ferner hat uns der Bundesrat gebeten, den vorgesehenen gesetzlichen Nachrang von Gläubigern bestimmter
unbesicherter Schuldtitel intensiv zu prüfen. Davon hat
auch der Staatssekretär gesprochen. Der Bundesrat befürchtet negative Auswirkungen und einen Verstoß gegen die Gläubigergleichbehandlung, die das Insolvenzrecht vorsieht. Auch die Versicherungsunternehmen
haben hier ein Problem. Auch das wird bei den Beratungen eine wichtige Rolle spielen.
Wir werden eine sorgfältige rechtliche und ökonomische Prüfung der Vorschläge der Bundesregierung vornehmen, und wir werden auch darauf achten, dass die
Kontrollrechte des Parlaments nicht beschnitten werden.
Dies gilt für die parlamentarische Kontrolle des Restrukturierungsfonds durch das Finanzmarktgremium.
({5})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit der Bankenregulierung sind wir insgesamt auf einem guten Weg. Unser Mantra beginnt Realität zu werden. Der Steuerzahler
- und die Steuerzahlerin natürlich auch - kann sich
freuen. Das zeigt das Verhalten der Ratingagenturen. Sie
haben realisiert, dass der Gesetzgeber es ernst meint mit
der Haftung von Eigentümern und Gläubigern. Die Ratingagenturen gehen nicht mehr von einer Staatsgarantie
für große systemrelevante Banken aus; Axel, ganz wichtig. Die Ratings der Banken werden seit einiger Zeit immer schlechter. Das ist nicht so schön für die betroffenen
Banken - das muss man wirklich sagen -, aber es zeigt
uns, dass wir das Richtige getan haben. Die Anstrengungen haben sich gelohnt. Gesetzgeberisch haben wir unser Ziel fast erreicht.
Vielen Dank.
({6})
Vielen Dank. - Das Wort hat Dr. Gerhard Schick,
Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wenn man die Opposition kritisiert, lieber Herr Zöllmer,
dann sollte man sich daran erinnern, was man noch vor
wenigen Jahren selber gesagt hat.
({0})
Es war Position der SPD, dass dieser Fonds zu klein ist.
Sie sollten uns vielleicht einmal erzählen, warum das,
was Sie vor drei Jahren selber gesagt haben, heute plötzlich falsch sein soll.
({1})
Es geht heute um einen weiteren Baustein der Bankenunion. Wir haben schon einiges, insbesondere die
Bankenabwicklungsrichtlinie, in Deutschland umgesetzt. Die europäische Bankenunion ist grundsätzlich ein
sehr gutes Projekt. Die Kritik, dass gerade die deutsche
Bundesregierung dafür gesorgt hat, dass diese europäischen Mechanismen viel zu spät eingesetzt worden sind,
muss man, wenn man sie damals so vertreten hat, auch
aushalten. Sie bleibt richtig. Inzwischen ist Richtiges auf
dem Weg.
Die Grünen haben es immer unterstützt. Wir haben allerdings an einigen Punkten gesagt, wo Fehler gemacht
worden sind. Zum Beispiel gab es zu viele Ausnahmen
bei dem Bail-in. Eine Frage zur Größe des Fonds: Gibt
es eine Möglichkeit, den Fonds zu refinanzieren? Unserer Ansicht nach hätte ein wirksamer Backstop eingerichtet werden müssen. Wir finden auch, dass es zu spät
ist, dass der Restrukturierungsfonds erst 2024 voll funktionstüchtig ist.
({2})
Heute haben wir es mit einer Verordnung zu tun, die
direkt geltendes europäisches Recht ist. Damit kann der
deutsche Gesetzgeber gar nicht viel falsch machen. Das
ist vielleicht auch gut so, da die Bundesregierung bei
diesen Fragen manchmal zu spät war. Das Gesetz, das
jetzt vorliegt, passt sozusagen das deutsche Recht an das
an, was die Verordnung uns vorgibt, damit die europäischen Regeln und die deutschen Regeln zusammenpassen.
Ich finde es gut, wenn wir uns die Sonderregel hinsichtlich der Insolvenz von Banken, die in § 46 f KWG
eingeführt werden soll, noch einmal im Ausschuss anschauen. Gut finden wir, dass die bisher in Deutschland
gezahlte Bankenabgabe erst einmal im nationalen Topf
verbleibt. Das unterstützen wir ausdrücklich; denn es ist
ja nicht ausgeschlossen, dass ein nicht von der Europäischen Zentralbank beaufsichtigtes Institut Maßnahmen
in Anspruch nehmen muss. Es wäre falsch, hier dem
Drängen der Institute nach Anrechnung der Beiträge
nachzugeben.
({3})
Man stelle sich vor, die Banken sparten beim Aufbau des
europäischen Topfes. Dann müsste im Zweifelsfall noch
einmal der deutsche Steuerzahler einspringen. Gut, dass
diese Regelung jetzt auf dem Weg ist!
Zwei Klopse leistet sich die Bundesregierung allerdings in dem Gesetzentwurf. Das eine betrifft die Tatsache, dass jetzt hier eine Verordnungsermächtigung zur
Kodifizierung der bisherigen Mindestanforderungen an
das Risikomanagement, MaRisk, geschaffen wird. Das
ist ein sehr seltsames Signal. Es spricht zwar einiges dafür, dass man die Verwaltungsvorschriften in Deutschland konkretisiert und sie in Verordnungen überführt;
aber eigentlich ist dafür jetzt die Europäische Zentralbank als Aufsicht zuständig. Es ist ein merkwürdiges
Signal, das die Bundesregierung hier sendet.
Das Zweite - Herr Kollege Zöllmer hat es schon angesprochen; ich habe entnommen, dass wir uns da einig
sind -: Die Bundesregierung schlägt vor, die parlamentarische Kontrolle über den Restrukturierungsfonds ersatzlos zu streichen, die bisher durch das Finanzmarktgremium geleistet wird. Das ist ein interessantes Vorgehen:
Die Bundesregierung schlägt uns vor, dass wir sie nicht
mehr so gut kontrollieren sollen. Ich hoffe, wir sind uns
einig, dass das nicht geht, sondern da weiter eine parlamentarische Kontrolle nötig ist.
({4})
Ich finde es wichtig, an diesem Tag auch zu sagen,
was die wichtigen Bausteine sind, und auf die Kritik, die
Axel Troost zu Recht geäußert hat, einzugehen. Selbst
wenn jetzt einige Mechanismen auf den Weg gebracht
und aufgebaut werden - bei sehr großen Instituten wie
der Deutschen Bank oder Barclays und anderen werden
diese Strukturen nicht ausreichen und die Mechanismen
nicht funktionieren, weil die Abwickelbarkeit dieser Institute nicht gewährleistet ist. Deswegen bleibt das
Thema „too big to fail“ auf der Tagesordnung. Die sehr
großen Banken müssen kleiner werden.
({5})
Ein zweites Thema bleibt auf der Tagesordnung: Wir
wollen, dass die Mechanismen gar nicht erst zum Tragen
kommen. Es muss das absolute Notfallszenario sein,
solch einen Fonds der öffentlichen Hand und die Abwicklungsregelungen zu nutzen. Der Normalfall sollte
sein, dass die Aktionäre, dass das Eigenkapital Verluste
so absorbieren kann, dass die Bank erst gar nicht ins Wackeln kommt. Insofern bleibt eine zweite wichtige Hausaufgabe - da ist die Bundesregierung leider nicht richtig
aufgestellt -: Es muss mehr echtes Eigenkapital im Verhältnis zur Bilanzsumme aufgebaut werden; es muss
mittelfristig 10 Prozent der Bilanzsumme betragen. Da
muss die Bundesregierung noch nachlegen und nicht auf
die angeblich wohlmeinenden Stimmen aus der Finanzbranche hören, die meinen, es sei doch schon alles stabil.
Die Finanzmärkte sind heute nicht stabiler als 2007.
({6})
Deswegen bleibt es richtig: Wir brauchen mehr Eigenkapital.
Danke schön.
({7})
Vielen Dank. - Nächster Redner ist Klaus-Peter
Flosbach, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Das Jahr 2014 war geprägt von der Diskussion auch in
diesem Hause über das Thema Bankenunion. Hier ging
es immer um zwei Themen. Auf der einen Seite ging es
um die Aufsicht insbesondere über die großen, systemrelevanten internationalen Banken. Auf der anderen
Seite ging es um das Thema: Was passiert, wenn eine
Bank in eine Schieflage gerät? Wie kann sie abgewickelt
oder gegebenenfalls saniert werden?
Wir haben im Jahr 2008 - es ist sieben Jahre her - die
große Banken- und Finanzkrise erlebt. Ein Jahr später
hatten wir eine Wirtschaftskrise, ein weiteres Jahr darauf
eine Staatsschuldenkrise. In diesen Krisenjahren bestand
in der Tat immer die Gefahr, dass der Steuerzahler für
Fehler herangezogen wird, die im Bankensystem passieren. Unser ganzes Bestreben in diesen sieben Jahren war,
diese Gefahr zu überwinden und zu erreichen, dass,
wenn Fehler in der Wirtschaft, im Bankenbereich gemacht werden, jeweils diejenigen, die den Fehler gemacht haben, dafür geradestehen und haften. Das war
unser Bestreben, und das haben wir in all den Jahren
auch umgesetzt, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({0})
Wir sind in all den Jahren oft kritisiert worden, wir
wären zu langsam, wir hätten zu wenig gemacht. Dabei
waren wir die Ersten in Europa, die ein Restrukturierungsfondsgesetz und ein Sanierungs- und Abwicklungsgesetz auf den Weg gebracht haben. Was wir hier
geleistet haben, war eine Blaupause. Wir haben damit
eine Vorreiterrolle in ganz Europa eingenommen; denn
unsere Maßnahmen sind in Europa zum Teil übernommen worden. Wir haben auf eine gemeinsame europäische Aufsicht, auf eine europäische Abwicklung gedrängt. Das war unser Erfolg in diesen Jahren.
({1})
Wir haben uns auch immer für eine gemeinsame Bankenunion ausgesprochen. Aber auch wenn wir in diesen
sieben Jahren 40 Regulierungsmaßnahmen umgesetzt
haben - das betraf mehr Eigenkapital, Liquiditätspuffer;
wir haben Derivate, Ratings, Verbriefungen und Vergütungen geregelt; wir haben ein Trennbankensystem eingeführt -, kann sich dennoch die Situation ergeben, dass
eine Bank in eine Schieflage gerät. Dann brauchen wir
eine wirksame Sanierungs- oder Abwicklungsmöglichkeit. Das haben wir mit der Bankenunion geschaffen;
das ist hier auch eben diskutiert worden.
Wir haben dafür gesorgt, dass erstens die Eigentümer
mit bis zu 8 Prozent der Bilanzsumme haften, dass zweitens Gläubiger herangezogen werden - Klaus Regling,
der Chef unserer Rettungsschirme, sagt: wenn wir diese
beiden Mechanismen damals gehabt hätten, dann wäre
es nicht zu der Bankenkrise gekommen - und dass drittens erst dann, lieber Kollege Axel Troost, ein gemeinsamer europäischer Rettungsfonds, von den Banken finanziert, greift. Erst danach könnten Staaten herangezogen
werden oder gegebenenfalls auch die Rettungsschirme.
Ich denke, es ist entscheidend, dass wir diesen Weg beschritten haben.
In dieser Phase ist mir wichtig - das haben auch einige Kollegen angesprochen -, wie die Gläubigerbeteiligung geregelt wird. Das wird entscheidend sein. Auch
die europäische Bankenaufsicht beschäftigt sich mit diesem Thema, insbesondere mit der Frage: Welche Papiere
können für das sogenannte Bail-in herangezogen werden, das heißt, welche Kredite an Banken, welche Papiere, welche langfristigen Verbindlichkeiten der Banken können in haftendes Eigenkapital umgewandelt
werden? Hier brauchen wir eine saubere Regelung. Die
europäische Bankenaufsicht ist gerade dabei, eine Auswirkungsstudie zu erstellen und entsprechende Leitlinien
vorzugeben.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, es gibt eine
Haftungsreihenfolge: erst das Eigenkapital und dann die
Gläubigerbeteiligung. Wichtig für uns ist, dass dies
rechtssicher ist und dass dies rasch geschehen kann. Vor
allen Dingen die Ansteckungsgefahr muss gering sein.
Die Ansteckungsgefahr war immer wieder das Problem
in der Bankenkrise. Wenn wir es schaffen, dass Gläubiger herangezogen werden können, dann können wir die
Situation besser im Griff behalten.
Für uns ist natürlich auch wichtig, dass wir damals
den deutschen Restrukturierungsfonds aufgelegt haben.
Sicherlich war eine Planungsperiode von vielen Jahren
vorgesehen. Lieber Kollege Axel Troost, das Problem
der Bankenkrise war eine Liquiditätskrise. Das kann
man nicht mit einem Rettungsfonds in den Griff bekommen. Jetzt soll ein von den Banken finanzierter europäischer Rettungsfonds mit einer Summe von 55 Milliarden
Euro aufgebaut werden, der nach der Eigentümerhaftung
und nach der Gläubigerhaftung greifen soll.
({2})
Wir haben in Deutschland bereits seit 2010 einen eigenen Fonds aufgebaut. Ich halte es für richtig, dass das
Guthaben in diesem Fonds von über 2 Milliarden Euro
zunächst zurückgehalten wird für eventuell notwendige
Maßnahmen im nationalen Bereich, als Risikopuffer, als
sogenannte nationale Reserve. Dann kann natürlich darüber diskutiert werden, wie das übertragen wird.
Zusammengefasst: Wir sind mit der geplanten Regulierungsmaßnahme auf dem richtigen Weg. Wir werden
mit diesem Gesetz deutsches Recht an die europäischen
Vorgaben, die wir gemeinsam in diesem Hause beschlossen haben, anpassen. Wir sind auf dem richtigen Weg;
denn unser Ziel ist und bleibt, nicht den Steuerzahler heranzuziehen, wenn andere, beispielsweise im Bankenbereich, Fehler machen.
Vielen Dank.
({3})
Vielen Dank. - Nächster Redner ist Lothar Binding,
SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr verehrte Damen und Herren! Wir sprechen immer
davon, dass unsere Politik den Weg beschreitet vom
Bail-out zum Bail-in. Ich will kurz erklären, was das eigentlich heißt. Bail-out heißt, dass, wenn eine Bank
Schulden hat und Probleme bekommt, die Schulden und
die Tilgung der Verpflichtungen der Bank oder die Haftung von jemand übernommen wird. Bei uns steht dann
Lothar Binding ({0})
immer vornehm: Das wird von Dritten übernommen. Die Dritten, die sitzen hier oben auf den Zuschauerrängen: Das sind die Steuerzahler. Sie treten ein, wenn eine
Bank ein Problem hat. Das hat uns immer geärgert. Wir
sagen: Wenn eine Bank ein Problem hat, dann soll sich
die Bank um die Problemlösung kümmern und nicht der
Steuerzahler.
({1})
Deshalb sagen wir: Wir brauchen ein Bail-in: dass die
Banken sich nicht von außen freikaufen lassen, sondern
zunächst von innen versuchen, das Problem zu lösen.
Die Gläubiger der Bank, die Anleger, sollen sich in
Form von Schuldtiteln der Bank an den Verlusten bei
Sanierung oder Abwicklung bei drohender Zahlungsunfähigkeit beteiligen müssen. Insofern werden bei Insolvenzverfahren von Banken die Steuerzahler zunächst
geschützt sein, wenn das funktioniert.
Da gibt es ein zusätzliches Problem: Die Eigenkapitalgeber der Bank, die Aktionäre, und die Fremdkapitalgeber, die Gläubiger, und die Banken selber haben eine
ganz unterschiedliche Interessenlage. Ich glaube, darüber werden wir in der Anhörung noch reden müssen.
Diese Interessen gegeneinander auszugleichen, wird
keine ganz leichte Sache.
Jedenfalls sagen wir: Es ist in Ordnung, wenn ein guter Manager, der Gewinne macht und gut Steuern zahlt,
viel Geld verdient. Es muss aber Schluss sein damit,
dass ein schlechter Manager, der Verluste macht und
keine Steuern bezahlt, immer noch sehr viel verdient,
aber den Steuerzahler für seine Verluste zur Kasse bittet.
Deshalb ist dieses Gesetz eine sehr gute Idee.
({2})
Zu der Frage, ob der Topf, der jetzt von den Banken
gebildet werden muss - diese 55 Milliarden Euro -,
reicht. Wenn wir ganz ehrlich sind, müssen wir zugeben:
Das kann keiner wissen. - Vor einigen Jahren wussten
wir, dass das mit Garantie nicht reicht, weil da die Idee
des Bail-outs galt: Andere kümmern sich. Jetzt haben
wir die Idee des Bail-ins. Das bedeutet, bevor dieser
Topf überhaupt in Anspruch genommen werden kann,
greifen sieben Stufen: Zunächst wird auf das harte Eigenkapital zurückgegriffen, dann auf das zusätzliche Eigenkapital, dann auf das Ergänzungskapital, dann auf
nachrangige Schuldtitel von Fremdkapitalgebern, dann
auf vorrangige Schuldtitel und dann auf die nicht gesicherten Einlagen privater Geldgeber und der Unternehmen. Erst dann kommt dieser Topf ins Spiel. Erst wenn
all die genannten Eigenkapitalformen und die innere
Finanzkraft der Unternehmen bereits gebündelt sind,
kommen ergänzend die 55 Milliarden Euro hinzu. Dann
sind wir schon nahe einer Größenordnung, von der wir
glauben, dass sie sehr wohl ausreichen kann, das System
stabil zu machen.
Aber keiner kann in die Zukunft schauen und wissen,
ob das letztendlich genügt. Vielleicht sagt einer in zehn
Jahren: Ich habe euch damals schon gesagt, es hätten
200 Milliarden Euro sein müssen. - Das müssen wir aushalten. Aber 55 Milliarden Euro sind viel mehr als
nichts. Deshalb wird das sehr gut funktionieren.
Was folgt durch den Bail-in eigentlich für die Sparer
und für die kleinen Kreditnehmer? Wer ist eigentlich
eine Bank? Da zahlt jemand Geld auf ein Sparbuch ein
oder da nimmt jemand einen Kredit auf, weil er ein kleines Unternehmen gründen will. Jetzt muss man schauen:
Was passiert eigentlich denen in der Insolvenz? Sind die
dann auch plötzlich alle pleite? Kriegen irgendwelche
anderen Leute ihr Geld raus, aber die Sparer verlieren
es? Hier greift die Idee, die ich für besonders gut gelungen halte: Die Einlagen von natürlichen Personen und
kleinen und mittleren Unternehmen sowie der Einlagensicherung unterliegende Einlagen bleiben vom Bail-in
ausgenommen.
({3})
Ich schaue in alle Richtungen und sehe: Das wollen alle
Fraktionen. Das ist auch klug, weil ja die, die der Bank
im Vertrauen auf ihre Expertise ihr Geld anvertraut haben, hinterher nicht die Dummen sein dürfen.
({4})
Ich möchte noch eine Spezialität vortragen. Ich
glaube, wir müssen uns um die Regelung des § 46 kümmern. Da gibt es eine Empfehlung in diesem Referentenentwurf, die möglicherweise das Investmentbanking fördert. Aber das ist nicht unser erstes Ziel: Wir wollen
kleinere, mittlere Unternehmen und Banken und insbesondere Bürgerinnen und Bürger der unteren und mittleren Einkommensgruppen fördern. § 46 benachteiligt im
Moment Schuldtitel mit festen Konditionen, also
Schuldtitel genau der Leute, die wir eigentlich schützen
wollen. Er bevorzugt zwar Schuldtitel - das ist das Gute -,
die der Absicherung von Währungsgeschäften dienen;
aber - das ist das Schlechte - er sichert auch Wetten auf
zum Beispiel Lebensalter, er sichert Wetten auf die
Preisentwicklung von Nahrungsmitteln. Diese Möglichkeiten, die das Gesetz jetzt erlaubt, sollten wir ausschließen. Da haben wir noch ein bisschen Arbeit; aber es gilt
immer das Struck’sche Gesetz, dass kein Gesetz den
Bundestag so verlässt, wie es eingebracht wird. Ich
glaube, da sind wir auf einem sehr guten Weg.
({5})
Vielen Dank, Herr Kollege Binding. - Nur damit
keine Missverständnisse entstehen, möchte ich darauf
hinweisen, dass nicht nur die Damen und Herren auf den
Tribünen, sondern auch die Damen und Herren hier unten im Saal Steuerzahler und Steuerzahlerinnen sind.
({0})
Nächster Redner ist Alexander Radwan, CDU/CSUFraktion.
({1})
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Heute debattieren wir den Entwurf eines Gesetzes zur Anpassung
des nationalen Rechts an den Einheitlichen Abwicklungsmechanismus. Es ist ja schon mehrfach gesagt worden: Es ist ein wichtiger Baustein der Bankenunion, dass
keine Steuergelder mehr verwendet werden, sondern die
Banken selber haften sollen. Wir haben die nationale
Umsetzung im Rahmen des Gesetzes schon hinter uns.
Derzeit befindet sich die Behörde im Aufbau. Bereits
jetzt hat sie mit Frau König eine Präsidentin, die hart daran arbeitet, qualifizierte Mitarbeiter zu bekommen.
150 sollen es dieses Jahr werden, bis 2017 sollen es
300 sein. Wir werden uns noch intensiv damit beschäftigen, wie die Behörde zukünftig zu finanzieren ist. Natürlich beschäftigen wir uns aber auch damit, wie das, was
in der Theorie gut klingt - grenzüberschreitende Abwicklung -, hinhaut. Dazu nehmen wir jetzt eine Anpassung vor, um gesetzliche Hürden, die vorhanden sind,
abzubauen.
Das Bail-in ist schon angesprochen worden. Der Kollege Binding hat uns gerade plastisch beschrieben, was
der Unterschied zwischen Bail-in und Bail-out ist. Dem
stehen konkrete Fragen gegenüber. Dabei geht es zum
Beispiel um das Insolvenzrecht und die Nachrangigkeit
der Papiere. Die Diskussion über die Nachrangigkeit der
Papiere beeinflusst schon jetzt die Frage, wie die Papiere
bepreist werden. Dies ist ein Thema, mit dem wir uns im
Gesetzgebungsverfahren - Herr Kollege Binding nickt beschäftigen müssen.
Es geht um die Fragen: Was bedeutet es, wenn wir
den Weg einer gesetzlichen oder den Weg einer vertraglichen Lösung gehen, und was bedeutet es für die Finanzierung der entsprechenden Häuser, wenn wir gesetzgeberisch bereits heute - wenn auch nicht gewollt, aber wir
tun es - auf den Preis Einfluss nehmen? Wir müssen
auch grenzüberschreitende Sachverhalte erfassen, wenn
der Abwicklungsmechanismus mit den nationalen Gesetzen Probleme bekommt. Wir werden uns die Frage
stellen müssen - auch das wurde schon angesprochen -,
wie wir mit nationalen Mitteln umgehen, die in den
europäischen Fonds zu überführen sind.
Wir haben Prioritäten zu setzen. Wichtig ist sicherlich
die Frage, wie Abwicklungsorganisationen und die entsprechenden Einrichtungen parlamentarisch kontrolliert
werden. Es ist ganz wichtig, zu begutachten, wie die
Umsetzung in den anderen Mitgliedstaaten erfolgt.
Wenn es nicht eine gewisse Anzahl von Mitgliedstaaten
gibt, die dies schon umgesetzt haben, dann werden wir
zukünftig gar nicht damit starten können. Darum ist es
dringend notwendig, dass wir auch mit den Kollegen in
anderen Parlamenten darüber debattieren, wie dies erfolgen soll.
Ich hoffe, dass wir demnächst die konkreten Vorgaben
erfahren. Dann wissen wir, wie hoch die Abgaben für die
einzelnen Häuser sind. Auch die Zusammenarbeit zwischen EBA, EZB und der Abwicklungsorganisation ist
wichtig, damit den Häusern die notwendigen Informationen zur Verfügung stehen.
Herr Kollege Schick, Sie haben die Anpassung der
MaRisk - ich habe es so verstanden - kritisiert. Ich bin
der Meinung, europäische Vorgaben und europäische
Anwendungen sind notwendig. Aber wir müssen uns
schon genau anschauen, ob es nicht auch notwendig ist,
dafür zu sorgen, dass sich europäische Einrichtungen,
wie es jetzt bei der Aufsicht der Fall ist, dann, wenn es
vonseiten des Gesetzgebers in Deutschland möglich ist,
an nationales Recht halten müssen. Dazu dient eine Verordnung. Nur dann, wenn eine solche Verordnung vorhanden ist, werden sich die entsprechenden Einrichtungen auch zukünftig daran halten müssen. Da gerade wir
die Subsidiarität und die Regionalbanken hochhalten
und sie immer wieder verteidigen, sollten wir diese auch
bei den Möglichkeiten, die wir haben, berücksichtigen.
Ich möchte einen weiteren Punkt aufgreifen, der in
der Debatte über die Einrichtung dieser Organisation
heftig diskutiert wurde: Sollen wir für den Fonds eine intergouvernementale Vereinbarung treffen, oder reicht
das europäische Vertragsrecht dafür aus? Ich bin der
Bundesregierung und Wolfgang Schäuble zutiefst dankbar, dass durchgesetzt wurde, dass eine intergouvernementale Vereinbarung als Rechtsgrundlage für den
Fonds gilt. Momentan erleben wir in Brüssel eine Diskussion darüber, ob auch die Einlagensicherung, die wir
schon umgesetzt haben - manche in diesem Haus waren
ja schon früher der Meinung, dass die Einlagensicherung
europäisiert gehört -, in einen europäischen Fonds münden soll. Hätten wir damals, als es um die Abwicklungsmechanismen ging, akzeptiert, dass europäisches Vertragsrecht als Rechtsgrundlage ausreichend ist, dann
wäre damit bereits entschieden worden, ob allein das
Europäische Parlament und der Europäische Rat darüber
entscheiden, ob der Einlagensicherungsfonds zukünftig
europäisiert wird, oder ob die Abgeordneten des Deutschen Bundestages mitentscheiden. Ich bin Wolfgang
Schäuble dankbar dafür, dass der Deutsche Bundestag
bei den weiteren Schritten in Sachen europäischer Fonds
mitentscheiden kann. Ich denke, das sollten wir berücksichtigen.
Ich wünsche uns für den weiteren Verlauf gute Beratungen.
Besten Dank für die Aufmerksamkeit.
({0})
Vielen Dank. - Damit sind wir am Ende der Ausspra-
che angelangt.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/5009 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. - Ich sehe, Sie sind
damit einverstanden. Dann ist die Überweisung so be-
schlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 27 a und 27 b auf:
a) Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
CSU und SPD
Einhaltung der Menschenrechte in Aserbaid-
schan einfordern
Drucksache 18/5092
Vizepräsidentin Ulla Schmidt
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Özcan
Mutlu, Monika Lazar, Marieluise Beck ({0}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte in Aserbaidschan auch bei den
Europaspielen 2015 einfordern
Drucksache 18/5097 ({1})
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich bitte Sie, die Plätze einzunehmen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Frank
Heinrich, CDU/CSU.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Liebe Damen und Herren! Vielleicht erinnert
sich der eine oder andere an das Gewinnerlied des Eurovision Song Contest von Baku, der Stadt, um die es
heute auch geht.
({0})
- Das Lied zu singen, würde mir wahrscheinlich nicht
gelingen, Frau Künast. Entschuldigen Sie. - Es heißt
Euphoria. Vielleicht klingt das bei dem einen oder anderen noch im Ohr. Euphorie mit der Menschenrechtssituation in Aserbaidschan oder Baku zu verbinden, wäre allerdings, gerade heutzutage, vermessen. Mit dem Beitritt
Aserbaidschans zum Europarat im Jahr 2001 und der Ratifizierung der Europäischen Menschenrechtskonvention
am Ende des Jahres 2001 waren viele Hoffnungen verbunden.
Tatsächlich hat sich seit der Präsidentschaftswahl im
Jahr 2013 - Präsident Alijew ist damals wiedergewählt
worden ({1})
die Lage der Menschenrechte in Aserbaidschan drastisch
verschlechtert. Das wird von verschiedensten Seiten bestätigt. Viele Regimekritiker verlassen das Land oder sind
inhaftiert. Nach unterschiedlichen Quellen sind mindestens 50, wahrscheinlich mehr als 100 Gefangene aus politischen Gründen in Haft. Die staatliche Repression richtet
sich gegen Menschenrechtsverteidiger, Rechtsanwälte,
Journalisten, Blogger, politisch aktive Personen, die eine
unabhängige Meinung vertreten, auch gegen Personen,
die mit internationalen Institutionen wie dem Europarat,
dessen Mitglied Aserbaidschan selbst ist, zusammenarbeiten. Oft werden sie unter konstruierten Beschuldigungen zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt.
Ich ahne, dass in diesem Moment andere sagen: Was
heißt hier „konstruiert“? Ich war wenige Wochen vor
dem Eurovision Song Contest im Land. Ich habe mir ein
Bild von der Lage gemacht, und man hat mir erlaubt, einem Gerichtsverfahren gegen einen dieser - ich würde
das positiv werten - Überzeugungstäter beizuwohnen.
Der Mann, der noch nicht verurteilt war, saß in einem
Käfig im Gerichtssaal. Nach einer Dreiviertelstunde, von
der mir etwa zwei Drittel übersetzt wurden, hat sich die
Richterin mit ihrem Gremium zur Beratung zurückgezogen; so wurde es angekündigt. Drei Minuten später kam
das Gremium wieder heraus und verlas ein 13-seitiges
Urteil.
({2})
- Die sind schnell, allerdings.
Berichten zufolge sollen die politischen Gefangenen
unter sehr schlechten Haftbedingungen, Misshandlungen
und einer unzureichenden medizinischen Versorgung leiden. Die Arbeit von NGOs, von Nichtregierungsorganisationen, wird eingeschränkt. Der Länderbericht unseres
Auswärtigen Amtes bestätigt dies.
Bei meinem Aufenthalt habe ich unter anderem auch
Rasul Jafarov besucht. Er hat mir verschiedene Organisationen vorgestellt, auch die Veranstaltung „Sing for
Democracy“, wegen der ich da war. Diese Veranstaltung
sollte die Chance bieten, ein anderes Licht auf die Situation zu werfen, eine andere Stimmung zu erzeugen und
ein farbiges Fest in dieser Stadt zu feiern, allerdings mit
anderen Tönen. Diese Veranstaltung wurde abgesagt.
Ich konnte mit Kollegen aus dem Parlament reden.
Die Pressefreiheit kam zur Sprache. Ich wurde darauf
angesprochen, warum denn die Bundesregierung in
Deutschland so schlecht über Aserbaidschan spreche.
Ich habe mich verwundert geäußert und gefragt, warum
sie denn so darüber denken würden. Das stehe dort in der
Zeitung, sagte man mir. Als ich erklärte, dass bei uns die
Zeitungen unabhängig seien, habe ich Unverständnis geerntet, nicht Widerspruch. Meine Gesprächspartner verstanden nicht, was das ist. Eine unabhängige, freie Presse
lag außerhalb der Denkfähigkeit meiner Gesprächspartner. Das ist ein subjektives Beispiel. Das ist mir bewusst.
Aber es wird von Fakten unterstützt.
Die Organisation Reporter ohne Grenzen erstellt
jährlich eine Rangliste, in der aufgeführt wird, in
welchem Maße die Länder die Pressefreiheit achten. In
dieser Rangliste liegt Aserbaidschan auf Platz 162 von
180 Plätzen. Wenn man das auf den Sport übertragen
würde - es sind ja die Europaspiele, die heute dort beginnen -, dann müsste man sagen: Das ist ziemlich weit
hinten in der Fairplay-Rangliste. Wenn man sich so oft
wegen Fouls Rote Karten eingehandelt hat, dann braucht
man sich nicht zu wundern, wenn man hinterher das
Spiel von draußen beobachten muss.
({3})
Kritische Journalisten und Onlineaktivisten werden
drangsaliert, bedroht und inhaftiert. Human Rights
Watch berichtet von 33 Fällen, in denen Aktivistinnen
und Aktivisten der Zivilgesellschaft inzwischen verhaftet wurden, darunter auch mein guter Bekannter Rasul
Jafarov. Er hat vor wenigen Wochen sechseinhalb Jahre
Gefängnis für Bloggen, Posten auf Facebook und dafür,
dass er eine andere Meinung hat, bekommen. Es gab
eine Zeit, da haben sich die Regierungsmaßnahmen nur
Frank Heinrich ({4})
gegen einheimische Journalisten gerichtet. Inzwischen
werden auch ausländische Journalisten bei der Arbeit behindert.
Heute steht ein europäisches Großereignis auf dem
Programm. Die Hauptstadt Baku wird von heute an bis
zum 28. Juni die Europaspiele, European Games, veranstalten. Das ist ein neuer Wettbewerb der europäischen
olympischen Bewegung mit 20 Sportarten - 16 olympische, 4 nicht olympische -, 31 Disziplinen, 6 000 Athleten und 253 Goldmedaillen, wenn nicht in irgendeiner
Disziplin zwei Athleten gleichzeitig als Sieger durch das
Ziel gehen. Elf Sportarten werden dabei direkte oder indirekte Qualifikationsmöglichkeiten für Rio bieten.
Unter den Athleten sind auch mehrere Sportler aus meiner Stadt Chemnitz. Ich selbst bin dort aktiv im Schwimmclub. Zwei meiner Sportfreunde, Paul Hentschel und
Paulus Schön, haben sich letzte Woche in Berlin qualifiziert. Die sind natürlich heiß drauf. Facebook lässt grüßen. Ich habe schon einiges davon sehen können. Die
Wasserballerinnen von uns werden dort mitspielen.
Jetzt steht Aserbaidschan wie damals wieder im Fokus der Öffentlichkeit. Jetzt die Frage: Ist das eine
Chance für die Öffentlichkeit? Ist das eine Gefahr für die
Menschenrechte? Deshalb haben wir diesen Antrag gestellt. Ich bin froh, dass auch ihr von den Grünen einen
gestellt habt. Nach Ansicht des Menschenrechtsbeauftragten Christoph Strässer werden die Spiele zu Propagandazwecken missbraucht. Er hat in der FAZ vor
wenigen Wochen den Auftritt des Botschafters von
Aserbaidschan im Sportausschuss sehr deutlich kritisiert. Das war ein einziger Werbeauftritt. Strässer nannte
die Zustände in dem Land schockierend und sprach von
systematischer Repression.
Die Nachrichten aus Aserbaidschan stützen die Ansicht des Menschenrechtsbeauftragten. Ich zitiere aus
dem Newsticker von Zeit Online von vorgestern:
Einer Delegation der Organisation Amnesty International ist die Einreise nach Aserbaidschan verwehrt worden, wo am Freitag die Europaspiele beginnen. Wie die Menschenrechtsorganisation am
Mittwoch erklärte, wollte sie im Vorfeld der Spiele
in der Hauptstadt Baku bei einer Pressekonferenz
einen Bericht zu Menschenrechtsverletzungen präsentieren. Die aserbaidschanischen Behörden hätten
Amnesty mitgeteilt, dass sie derzeit „eine Mission
Amnesty Internationals nicht empfangen“ könnten.
Ich finde, noch schlimmer ist die Nachricht über die
völlig überraschende Forderung der aserbaidschanischen
Regierung, das Büro des OSZE-Projektkoordinators, das
bislang außerordentlich gute Arbeit geleistet hat, bis
Ende des Monats zu schließen. Das wirft ein ziemlich
schlechtes Licht auf die Situation und die politische
Lage in dem Land. Beides spricht eine deutliche Sprache. Kritische Beobachter dieser Spiele sind nicht erwünscht.
Zugleich haben wir, wie bei dem European Song
Contest vor drei Jahren, noch einmal die Chance, Verbesserungen der Menschenrechtslage zu fordern. Das hat
der UN-Sonderberichterstatter Michel Frost getan. Er
forderte die Freilassung aller politischen Gefangenen.
Als das seinerzeit der Menschenrechtsbeauftragte der
Bundesregierung, unser Abgeordnetenkollege Strässer,
tat, hat er die Rote Karte bekommen. Seitdem darf er
nicht mehr einreisen.
Meinen Respekt haben die deutschen Athleten, die
sich Frosts Forderungen ungewohnt scharf angeschlossen haben. Christian Schreiber, der Sprecher der Athletenkommission, schreibt ebenfalls in der FAZ:
Die Einhaltung von grundlegenden Menschenrechten und das Recht, deren Nichteinhaltung zu kritisieren, steht außer Frage. Unabhängig vom Sport,
der Situation in Baku und den ersten European
Games schließen wir uns der Forderung des UNBeauftragten an und weisen darauf hin, dass diese
Forderung für alle Länder gelten muss, in denen
Menschen inhaftiert sind, die für die Einhaltung der
Menschenrechte einstehen.
So sind auch wir als Fraktionen und als Bundesregierung
gefragt, deutliche Worte zu finden, was wir heute tun.
Aserbaidschan ist - deswegen wollen wir es beim
Wort nehmen - Mitglied des Europarates. Aserbaidschan
hat alle wesentlichen internationalen Menschenrechtsabkommen unterzeichnet und ist Teil der Europäischen
Menschenrechtskonvention. Die EU führt im Rahmen
der Östlichen Partnerschaft regelmäßige Dialoge mit der
Regierung. Darüber hinaus - das muss man wissen gibt es im Zusammenhang mit Wirtschaftsverträgen
viele Gelegenheiten, diese Themen anzusprechen, weil
umfangreiche Gas- und Ölvorkommen Aserbaidschan zu
einem gefragten Gesprächspartner machen.
Es geht darum, alle Möglichkeiten zu nutzen und alle
Hebel in Bewegung zu setzen, um die Umsetzung der
Absichtserklärung von Präsident Alijew einzufordern.
Die CDU/CSU-Fraktion hat daher Forderungen an die
Bundesregierung formuliert. Sie fordert sie unter anderem auf, in bilateralen Gesprächen jeder Art, wie gerade
beispielhaft von mir genannt, die aserbaidschanische Regierung auf die systematische Verletzung der Menschenrechte anzusprechen und auf die Einhaltung der unterzeichneten Konventionen zu drängen, sich fortgesetzt
für die sofortige und bedingungslose Freilassung von
politischen Gefangenen einzusetzen, die Arbeit zivilgesellschaftlicher Kräfte weiter zu fördern und im Europarat und in der EU weiterhin im Sinne der Menschenrechte auf Aserbaidschan einzuwirken.
Ich komme zum Schluss. Den Sportlerinnen und
Sportlern - in meinem Fall besonders Paul und Paulus wünsche ich viel Erfolg bei dem, was sie dort sportlich
tun. Vielleicht gelingt es dem einen oder anderen Sportler oder Funktionär, die Botschaft der Unteilbarkeit der
Menschenrechte in Baku auf die eine oder andere Weise
deutlich zu machen.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
({5})
Vielen Dank. - Es spricht jetzt Dr. André Hahn, Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Die Linke teilt die Einschätzung, dass es in
Aserbaidschan beträchtliche Defizite bei bestimmten
Menschenrechten gibt. Hier darf nichts beschönigt werden. Es sollte aber auch nichts pauschalisiert werden.
Defizite bei der Einhaltung von Menschenrechten und
der Umsetzung von internationalen Konventionen gibt
es leider auch in vielen anderen Staaten dieser Welt.
Selbst Deutschland ist davon nicht ausgenommen. So ist
beispielsweise die UN-Behindertenrechtskonvention bereits seit 2009 in Kraft, die gesetzliche Umsetzung in
Bund und Ländern jedoch bis heute nur mangelhaft erfolgt.
({0})
Doch darüber reden wir heute nicht. Es geht ausschließlich um Aserbaidschan, weil heute in diesem
Land die European Games, die ersten europäischen
Spiele eröffnet werden, an denen rund 6 000 Sportlerinnen und Sportler aus allen 50 Staaten, die dem EOC,
dem Europäischen Olympischen Komitee, angehören,
teilnehmen werden, darunter auch eine Delegation des
Deutschen Olympischen Sportbundes mit 265 Sportlerinnen und Sportlern.
Europa war bis dato der einzige Erdteil ohne Kontinentalspiele im Sportbereich. Deshalb wurden vom EOC
im Dezember 2012 die European Games ins Leben gerufen und an die aserbaidschanische Hauptstadt Baku, dem
einzigen Bewerber, vergeben. Auch der DOSB hat zugestimmt.
Über die beiden vorliegenden Anträge soll heute nach
knapp halbstündiger Debatte ohne Ausschussberatung
sofort abgestimmt werden. Das war zuletzt bei den
Olympischen Sommerspielen 2008 in Peking und bei
den Olympischen Winterspielen in Sotschi im vergangenen Jahr der Fall. Ich bin sehr gespannt darauf, ob das
auch so sein wird, wenn das nächste Sportgroßereignis
zum Beispiel in den Vereinigten Staaten von Amerika
stattfindet, und ob dann Union und SPD oder vielleicht
auch die Grünen einen Antrag vorlegen, der auf die Abschaffung der unmenschlichen Todesstrafe drängt, die es
noch in einigen Bundesstaaten der USA gibt.
({1})
Ich finde, dass es völlig legitim ist, im Zusammenhang mit Sportgroßereignissen auch über Menschenrechtsfragen im Austragungsland zu reden. Ich halte es
aber für problematisch, wenn dabei dort mit zweierlei
Maß gemessen wird.
({2})
Richtig ist, dass die Presse- und Versammlungsfreiheit in Aserbaidschan eingeschränkt, die Unabhängigkeit der Justiz nicht hinreichend gewährleistet und Korruption weit verbreitet ist.
({3})
Zu einer ehrlichen Bilanz gehören aber auch die erzielten Erfolge. Ist es nicht vielleicht auch Ausdruck von
Religionsfreiheit, wenn die Angehörigen der drei monotheistischen Weltreligionen dort friedlich zusammenleben? Vielleicht sollten Sie auch das zur Kenntnis nehmen: Aserbaidschan ist eines der wenigen traditionell
muslimischen Länder, in denen der Neubau von Kirchen
und Synagogen ermöglicht wird und stattfindet.
({4})
Und was ist mit der Senkung der Armutsquote in der
Bevölkerung von rund 50 Prozent auf aktuell 5 Prozent
innerhalb der letzten zehn Jahre? Davon findet sich
nichts in den Anträgen. Ich bedauere, dass hochgradig
selektiv auf das Land geblickt wird und dass man sich
ausschließlich auf die Defizite beschränkt. Wir leugnen
diese Defizite nicht, wir sprechen sie klar an.
({5})
- Ich habe sie doch genannt. Sie sollten zuhören, oder lesen Sie das im Protokoll nach. - Diese Dinge sind für
uns auch nicht akzeptabel.
({6})
Die Menschenrechte sind unteilbar und bedingen einander - hier stimme ich Ihnen zu -; da geht es auch um
soziale Fragen. Diese Dinge haben Sie zum Beispiel
nicht angesprochen.
Ich füge hinzu: Sportliche Großereignisse sind kein
geeignetes Mittel, um alle politischen Probleme zu klären. Das kann der Sport nicht leisten. Solche Veranstaltungen sollten vielmehr den Gedanken der Völkerverständigung und des friedlichen Miteinanders befördern,
und die Politik muss in die Pflicht genommen werden,
den Dialog fortzuführen.
({7})
Wir müssen den Menschenrechtsdialog dauerhaft auch
mit schwierigen Partnern führen.
({8})
Diese Aufgabe darf nicht bei den Sportlerinnen und
Sportlern abgeladen werden. Deshalb werde ich am
21. Juni 2015 nach Baku reisen und mir, wie andere Kollegen aus dem Sportausschuss auch, als kritischer Beobachter selbst ein Bild vor Ort machen.
Ich denke, wir sollten mit anderen Ländern einen
Menschenrechtsdialog auf Augenhöhe und ohne Überheblichkeit führen. Nur dann sind wir glaubwürdig und
können wir Erfolge erzielen.
Ich wünsche mir ganz zum Schluss - hier schließe ich
mich dem Kollegen Frank Heinrich von der CDU an -,
dass wir den Sportlerinnen und Sportlern, die dort an den
Wettbewerben teilnehmen werden, gemeinsam die Daumen drücken und ihnen beste Erfolge wünschen.
Denken Sie bitte an die Zeit, Herr Kollege. Sie sind
jetzt schon eine Minute über Ihrer Redezeit.
Sehr wohl, Frau Präsidentin, ich komme zum Schluss.
- Ich wünsche mir, dass wir den Menschenrechtsdialog
mit Aserbaidschan auch nach den Spielen weiterführen;
denn gerade wenn die Lichter aus sind und die Öffentlichkeit nicht mehr so präsent ist, ist er notwendig und
wichtig.
Herzlichen Dank.
({0})
Das Wort zu einer Kurzintervention hat jetzt der Kollege Frank Schwabe.
Herr Dr. Hahn, der Kollege Movassat hat in seiner
Rede zu Eritrea am Mittwoch Teilen des Hauses vorgeworfen, bei Menschenrechtsfragen mit zweierlei Maß zu
messen. Mein Eindruck ist - das tut mir ganz schrecklich
leid -, dass genau Sie gerade zweierlei Maß angelegt
haben. Wie kann man hier fünf Minuten reden und die
Menschenrechtsverletzungen in Aserbaidschan nicht
beim Namen nennen?
Sie werden mir ja vielleicht noch antworten. Würden
Sie bitte einmal benennen, dass es politische Gefangene
in Aserbaidschan gibt? Oder sehen Sie nicht, dass es solche politischen Gefangenen gibt und dass es deshalb
auch notwendig ist, das hier im Deutschen Bundestag zu
benennen, um den Menschen vor Ort jedenfalls ein bisschen zu helfen?
({0})
Herr Kollege Hahn.
Frau Präsidentin, ich will gerne darauf reagieren. Herr Schwabe, ich bitte Sie einfach, zur Kenntnis zu
nehmen, dass ich in meinem ersten Satz davon gesprochen habe, dass es beträchtliche Menschenrechtsverletzungen in Aserbaidschan gibt. Ich habe dann auch konkret welche genannt, nämlich die Einschränkung von
Presse- und Versammlungsfreiheit, die nicht vorhandene
Unabhängigkeit der Justiz und die weitverbreiteten korruptiven Strukturen. Das habe ich aufgezählt.
Ich bestreite nicht, dass es politische Gefangene gibt.
Es gibt auch keinen Grund, das zu bestreiten. Ich habe
nur versucht, deutlich zu machen, dass Sie hier vor
sportlichen Großereignissen bei bestimmten Ländern
Anträge stellen, während Sie das bei anderen Ländern, in
denen es auch Menschenrechtsverletzungen gibt - dafür
habe ich als Beispiel die Todesstrafe in den Vereinigten
Staaten genannt -, nicht tun.
Ich glaube, dass es wichtig ist, mit den Verantwortlichen in Aserbaidschan einen politischen Dialog zu führen. Es hilft nicht, die Menschenrechtsverletzungen, die
es gibt, zu leugnen oder zu verharmlosen. Das will ich
auch nicht tun. Aber wir möchten uns dann bitte schön
alle ernst nehmen und andere Defizite, die es gibt,
ebenso deutlich ansprechen.
({0})
Vielen Dank. - Nächste Rednerin ist Dr. Ute FinckhKrämer, SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer auf den
Tribünen! Vor gut vier Wochen hat die Arbeitsgruppe
Menschenrechte der SPD-Fraktion die Initiative zu dem
Koalitionsantrag ergriffen, der heute zur Abstimmung
vorliegt. Wir wollten die heutige Eröffnung der Europaspiele in Baku zum Anlass nehmen, die Menschenrechtssituation in Aserbaidschan zu reflektieren, die sich
nach der Einschätzung von internationalen Menschenrechtsorganisationen in den letzten Jahren deutlich verschlechtert hat.
Insbesondere sind wir um das Schicksal der politischen Gefangenen im Land besorgt. Unter menschenunwürdigen Bedingungen sitzen immer mehr Menschenrechtsverteidiger, Rechtsanwälte, Journalisten, Blogger
und politisch aktive Personen, die eine unabhängige
Meinung vertreten, im Gefängnis. Denken wir stellvertretend für alle unrechtmäßig Inhaftierten an Intigam
Aliyev, Khadija Ismayilova, Rasul Jafarov, Ilgar
Mammadov, Tofig Yagublu, Anar Mammadli, Seymur
Haziyev, Rauf Mirgadirov, Ilkin Rustemzadeh und an
Leyla und Arif Yunus.
({0})
Ihnen gilt unsere Solidarität.
In den vergangenen Tagen erreichten uns weitere beunruhigende Nachrichten aus Aserbaidschan. Das Ein10626
reiseverbot für die Delegation von Amnesty International hat der Kollege Frank Heinrich eben erwähnt. Die
britische Zeitung Guardian teilte zudem gestern mit,
dass ihrem Sportkorrespondenten Owen Gibson die Akkreditierung und damit die Einreise verweigert wurde,
vermutlich aufgrund eines kritischen Berichtes im Vorfeld der Europaspiele.
Noch gravierender ist die ebenfalls schon erwähnte
Tatsache, dass die Regierung Aserbaidschans Anfang
des Monats die OSZE aufgefordert hat, innerhalb eines
Monats das Büro des OSZE-Projektkoordinators in Baku
zu schließen und ihre Programme im Land zu beenden;
dies wurde in dieser Woche öffentlich bekannt. Die völlig überraschende ultimative Forderung der aserbaidschanischen Regierung, das Büro, das bisher außerordentlich gute Arbeit geleistet hat, bis Ende dieses
Monats zu schließen, wirft ein weiteres äußerst negatives Bild auf die politische Lage in dem Land. Die Regierung Aserbaidschans ist dringend aufgefordert, diese
Entscheidung zurückzunehmen und ihren OSZE-Verpflichtungen vollumfänglich nachzukommen.
({1})
Deutschland übernimmt nächstes Jahr den OSZE-Vorsitz. Daher bitten wir die Bundesregierung um ein deutliches Zeichen der Missbilligung, das zum Beispiel darin
bestehen könnte, den aserbaidschanischen Botschafter
einzubestellen und ihm die Forderung nach Rücknahme
dieser Entscheidung zu übermitteln.
({2})
Wir müssen sorgfältig darauf achten, welche Auswirkungen die Schließung des Büros auf die Beobachtung
der Parlamentswahlen im November durch die OSZE
haben wird. Die Berichte über die Durchführung der
Parlamentswahlen 2010 und der Präsidentenwahl am
9. Oktober 2013 haben zahlreiche Mängel offenbart; in
ihnen werden auch Empfehlungen für zukünftige Wahlen abgegeben.
Herr Dr. Hahn, wenn Sie Aserbaidschan und die USA
vergleichen, dann würde ich Sie bitten, auch einmal die
Berichte zu vergleichen.
({3})
- Sie haben jedenfalls den Eindruck erweckt, dass Sie
das tun. - Es wäre gut, wenn Sie auch einmal in die Beobachtungsberichte über die Wahlen in den USA und
über die in Aserbaidschan schauen. Dann sehen Sie vielleicht, dass es um die Demokratie zumindest in Bezug
auf das Thema Wahlen in beiden Ländern sehr unterschiedlich bestellt ist.
({4})
Das gemeinsame Haus Europa wird nicht in erster Linie durch sportliche Großereignisse definiert, sondern
durch gemeinsame Regeln für Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und den Schutz der Menschenrechte. Darauf
können und müssen wir heute hinweisen.
({5})
Ich bitte daher um Zustimmung zu unserem Antrag.
Danke schön.
({6})
Danke schön. - Für Bündnis 90/Die Grünen hat jetzt
Özcan Mutlu das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist
interessant, dass sich bei einer Redezeit von insgesamt
zehn Minuten kein einziger Sportpolitiker der CDU/
CSU-Fraktion die Mühe gemacht hat, zu den European
Games Position zu beziehen. Wir haben als Fraktion vor
mehreren Wochen einen Antrag in den Bundestag eingebracht mit dem Titel „Für verbindliche politische Regeln
im internationalen Sport - Menschenrechte achten, Umwelt schützen, Korruption bekämpfen“. Die jüngsten
Skandale der FIFA und auch die aktuelle Debatte über
die European Games in Baku sind der beste Beweis dafür, wie richtig wir mit unserem Antrag liegen und wie
wichtig es ist, dass wir uns an dieser Stelle endlich einmal bewegen. Ich empfehle Ihnen, vor allem der Großen
Koalition, unseren Antrag vor der zweiten Beratung hier
im Bundestag noch einmal, dann aber bitte ohne
schwarz-rote Scheuklappen, genau durchzulesen. Vielleicht können Sie dann über Ihren Schatten springen.
Unser Antrag bietet konkrete Lösungsansätze und formuliert klare Kriterien, um Ausrichter von Sportgroßveranstaltungen in der ganzen Welt insbesondere in der
Frage der Einhaltung der Menschenrechte beim Wort
und an die Kandare zu nehmen.
Heute diskutieren wir über die Menschenrechtslage in
Aserbaidschan. Ehrlich gesagt: Ich hätte nicht gedacht,
dass wir diese Diskussion führen; ich hätte Ihnen das
nicht zugetraut. Nach Tagen der Unklarheit darüber, ob
diese Debatte überhaupt stattfinden wird, war ich wirklich überrascht, doch so klare Worte in Ihrem Antrag zu
finden. Anscheinend haben sich bei Ihnen in den Reihen
der Großen Koalition die Freunde der aserbaidschanischen Führung nicht durchsetzen können, und ich sage
an dieser Stelle: Das ist auch gut so.
Wir müssen in der Tat feststellen, dass sich der autoritäre Kurs des Landes trotz vielerlei Bemühungen in den
letzten Jahren deutlich verschärft hat. Dies gipfelt ganz
aktuell - wir haben es von einigen Vorrednern gehört in der Forderung an die OSZE, das örtliche Büro zu
schließen, und in dem Einreiseverbot für Amnesty International und zahlreiche internationale Medienvertreter;
The Guardian wurde hier genannt. Dabei wollten alle
nur zu den European Games und darüber berichten.
Kurz gesagt: Auch wenn Ihr Antrag bewusst manche
Dinge außer Acht lässt, begrüßen wir im Grundsatz Ihre
Forderungen an die Bundesregierung. Aber hier sind Taten gefordert statt wohlgemeinter Worte. Ihre Politik
spricht eine andere Sprache.
Wir werden die European Games mit unserem Antrag
zum Anlass nehmen, dieses Thema anzusprechen. Heute
werden die ersten European Games in Baku eröffnet, die
den europäischen Kontinent bis zum 28. Juni mit Sport
unterhalten sollen. Mir will einfach nicht in den Kopf,
warum Sie dieses herausragende internationale Sportereignis des Jahres zwar in Ihren Reden, aber in Ihrem Antrag mit keinem einzigen Wort ansprechen. Ich frage
auch deswegen, weil viele der inhaftierten Menschenrechtler und Journalisten unter anderem auch wegen ihrer Kritik an den European Games inhaftiert und verurteilt wurden.
Ich habe aber auch an weiteren Punkten Kritik. Sie
beschönigen zum Beispiel den bisherigen Einfluss der
Bundesregierung bzw. ihre Absicht, überhaupt auf die
Menschenrechtssituation einzugehen. Die Bundesregierung selbst hat letzten Mittwoch im Ausschuss für Menschenrechte vorgetragen, dass bis auf die Verbesserung
der medizinischen Versorgung einer bekannten Inhaftierten der Einfluss der Bundesregierung auf den Menschenrechtsdialog gleich null war; das muss man hier deutlich
sagen. Deshalb sage ich: Hören Sie bitte auf, sich die
Welt schönzureden. Dies sage ich vor allem in Ihre Richtung, Herr Kollege Hahn. Ich schätze Sie sonst sehr; aber
hier hatte ich wirklich etwas anderes von Ihnen erwartet.
Meine Damen und Herren, lassen Sie uns das Kind
beim Namen nennen. Das Land Aserbaidschan entfernt
sich immer mehr von universellen Werten wie dem
Recht auf freie Meinungsäußerung, Pressefreiheit und
Menschenrechte. Lassen Sie uns gemeinsam die Bundesregierung auffordern, statt wirtschaftliche Interessen
zu verfolgen, noch entschiedener gegenüber Aserbaidschan und anderen Ländern, in denen Menschenrechte
mit Füßen getreten werden, aufzutreten und sich für die
Einhaltung der Menschenrechte einzusetzen.
({0})
Enden möchte ich mit Ihrer Erlaubnis, Frau Präsidentin, mit einem schönen türkischen Sprichwort. Es heißt:
„Dost aci söyler“. Ein Freund ist der, der auch unliebsame Wahrheiten ausspricht. - Wir müssen hier deutliche Worte sprechen und sagen: Die Menschenrechte sind
nicht verhandelbar.
Herzlichen Dank.
({1})
Vielen Dank. Das ist auch der Grund, warum ich immer an die Redezeitbegrenzung erinnern muss.
Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt
spricht jetzt die Kollegin Michaela Engelmeier, SPDFraktion.
({0})
Herzlichen Dank. - Sehr geehrte Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Drei Minuten Redezeit sind
kurz. Deswegen komme ich schnell zur Sache. - Eines
vorweg: Ich unterstütze den gemeinsamen Antrag von
CDU/CSU- und SPD-Fraktion voll und ganz. Aber gestatten Sie mir als sportpolitische Sprecherin meiner
Fraktion, die übrigens nicht zu den European Games
nach Aserbaidschan reist, auf die sportpolitischen Dimensionen kurz einzugehen.
Wir haben es gehört: Vom 12. bis zum 28. Juni 2015
finden die ersten European Games in der aserbaidschanischen Hauptstadt Baku statt. Diese Spiele sind nicht nur
ein sportliches Großereignis, sondern auch ein Politikum; das muss man in aller Deutlichkeit sagen. Seit der
Präsidentschaftswahl 2013 hat sich die Menschenrechtslage in Aserbaidschan - Herr Heinrich, Sie haben es bereits angeführt - massiv verschlechtert. Viele Regimekritiker verlassen das Land, sind inhaftiert oder werden
überwacht. Die staatliche Repression richtet sich gegen
Menschenrechtsverteidiger, Rechtsanwälte, Journalisten
und alle politisch aktiven Personen, die eine unabhängige Meinung vertreten. Um eine kritische Berichterstattung während der Europaspiele zu verhindern, drohen
die Behörden den Journalisten mit dem Entzug der Akkreditierung und weiteren Strafmaßnahmen. Zugleich
nutzt die aserbaidschanische Regierung die Europaspiele
als politische Imagewerbung.
Ich mache keinen Hehl daraus, dass ich das für eklatant falsch und ungerecht halte. Natürlich stehen bei
Sportgroßveranstaltungen die Sportlerinnen und Sportler
mit ihren Leistungen im Mittelpunkt, und das ist auch
richtig so. Aber deshalb dürfen Menschenrechtsverletzungen in Austragungsländern nicht einfach ausgeblendet werden.
({0})
Solange sich autoritäre Staaten wie Aserbaidschan nicht
glaubhaft um eine Demokratisierung und die Einhaltung
der Menschenrechte bemühen, sollten große internationale Sportereignisse nicht dorthin vergeben werden. Erfahrungen mit den Olympischen Spielen in China und
Russland sowie der Eishockey-Weltmeisterschaft in
Belarus zeigen, dass positive Auswirkungen auf die
Lage der Menschenrechte in den betreffenden Ländern
leider ausbleiben.
Seit Jahren sehen wir uns mit der Situation konfrontiert, dass zahlreiche internationale Spitzenverbände ihre
Großveranstaltungen in Staaten vergeben, die autoritäre
Strukturen aufweisen und die Menschenrechte nicht beachten bzw. sie politischen Zielen unterordnen. Darum
müssen wir in Gesprächen mit nationalen und internationalen Sportverbänden nachdrücklich auf deren menschenrechtliche, soziale und ökologische Verantwortung
bei der Auswahl der Austragungsorte für Sportereignisse
hinweisen und empfehlen, diese Kriterien in die Ausrichterverträge aufzunehmen
({1})
und ihre Umsetzung einzufordern und nachzuhalten.
({2})
Derzeit sind in Aserbaidschan mindestens acht Journalisten und vier Blogger wegen ihrer Tätigkeit im Gefängnis. Ich will sie kurz aufzählen; Ute, du hast das
ebenfalls gemacht. Ich fordere hiermit die Regierung
von Aserbaidschan auf: Lassen Sie diese Menschen
frei: Khadija Ismayilova, die seit fünf Monaten in Untersuchungshaft sitzt, Rauf Mirgadirov, der seit über einem
Jahr in Untersuchungshaft sitzt, Sejmur Chasi, der wegen „schweren Rowdytums“ zu fünf Jahren verurteilt
wurde, und nicht zuletzt Leyla und Arif Yunus als Aktivisten gegen Menschenrechtsverletzungen. Lassen Sie
diese politischen Gefangenen frei, und wahren Sie die
Menschenrechte in Ihrem Land.
({3})
Mein letzter Satz. Im Übrigen finde ich es geradezu
eine Unverschämtheit und halte es für einen Affront,
dass die aserbaidschanische Botschaft in einer Pressemitteilung Journalisten in unserem Land brandmarkt,
weil sie kritisch über die Spiele berichten. Sehr geehrter
Herr Botschafter aus Aserbaidschan, zu Ihrer Information: In unserem Land herrscht Presse- und Meinungsfreiheit!
({4})
Vielen Dank. - Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen der CDU/CSU und SPD auf Drucksache
18/5092 mit dem Titel „Einhaltung der Menschenrechte
in Aserbaidschan einfordern“.
Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist der Antrag mit den
Stimmen von CDU/CSU- und SPD-Fraktion bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke angenommen.
Wir kommen nun zur Abstimmung über den Antrag
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache
18/5097 ({0}) mit dem Titel „Demokratie, Rechtsstaat-
lichkeit und Menschenrechte in Aserbaidschan auch bei
den Europaspielen 2015 einfordern“. Wer stimmt für
diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält
sich? - Der Antrag ist mit den Stimmen von CDU/CSU-
und SPD-Fraktion gegen die Stimmen von Bündnis 90/
Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion Die Linke abge-
lehnt.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 28 a und 28 b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Luise
Amtsberg, Tom Koenigs, Omid Nouripour, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Seenotrettung jetzt - Konsequenzen aus
Flüchtlingskatastrophen auf dem Mittelmeer
ziehen
Drucksache 18/4695
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({1})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla
Jelpke, Jan Korte, Wolfgang Gehrcke, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Das Mittelmeer darf nicht zum Massengrab
werden - Für eine Umkehr in der EU-Asylpolitik
Drucksache 18/4838
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({2})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Ich sehe, dass
Sie damit einverstanden sind. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Tom
Koenigs, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Seenotrettung, das können wir, das geht. Die
Deutsche Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger mit
180 Festangestellten und 800 Freiwilligen rückt jedes
Jahr 2 000-mal aus und rettet Hunderte. Nord- und Ostsee sind sicher. Das wünschten wir uns auch für das Mittelmeer.
({0})
Das geht. Es ist eine Verpflichtung der Europäischen Gemeinschaft; denn es handelt sich um unsere europäischen Grenzen. Es ist außerdem eine Verpflichtung jedes
einzelnen Mitgliedstaats. Stichwort „Mare Nostrum“,
die italienische Marine hat gezeigt, dass es geht. Das zeigen inzwischen auch eigentlich dafür nicht geschaffene
Organisationen wie Frontex, Triton und Poseidon, oder
welche Meeresgötter wir noch anrufen. Hinzu kommt:
Jeder einzelne Mitgliedstaat hat seine Verpflichtungen.
Deutschland stellt Fregatten, Tender und Einsatzgruppenversorger zur Verfügung. Das ist gut.
({1})
Was wir brauchen, ist eine effektive, koordinierte europäische Seenotrettung. Dahin müssen wir kommen,
und auch das geht. Was leider noch nicht geht, ist das
Aufnahmeverfahren. Wir brauchen ein menschenwürdiges, einheitliches und effektives europäisches Aufnahmeverfahren. Darüber wird jetzt noch verhandelt, hoffentlich unter aktiver und erfolgsorientierter Beteiligung.
Auch die Verteilung stellt noch ein Problem dar. Hierzu
gibt es einen Vorschlag der EU-Kommission. Hoffentlich kommen wir zu einem guten Ergebnis.
Was noch überhaupt nicht geht, ist die Familienzusammenführung durch legale Einreise. Selbst bei Menschen, die das Recht haben, hierher einzureisen, dauert
das konsularische Verfahren noch acht bis elf Monate.
Syrische Flüchtlingsfamilien sitzen in irgendwelchen
Lagern und erhalten wegen eines Engpasses im Konsulat
ihre Papiere nicht. Das geht nicht.
({2})
Ja, das ist ein Verwaltungs- und Kapazitätsproblem. Das
wird dann aber zu einem Menschenrechtsproblem. Ich
weiß, dass es schwierig ist, Personal zu finden. Ich weiß,
dass wir das im Nachtragshaushalt regeln. Wenn wir
aber mit einem solchen Problem konfrontiert sind, müssen wir notfalls einen Krisenstab bilden. Schließlich
können wir auch auf Erdbeben innerhalb von zwei Tagen
reagieren. Warum nicht auf diese humanitäre Katastrophe?
({3})
Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel fragte unlängst:
Warum können syrische Flüchtlingsfamilien nicht mit
der Fähre nach Europa kommen?
({4})
Das ist richtig. Das hat er aber leider nicht im Kabinett
gesagt. Wir brauchen Möglichkeiten der legalen Einreise. Da geht mehr,
({5})
zum Beispiel humanitäre Visa wenigstens in den Fällen,
wo das Recht zur Einreise, das Recht auf Asylgewährung offensichtlich ist - wenigstens da, wenn nicht mehr.
Was gar nicht geht, sind die Ablenkungsdiskurse, mit
denen versucht wird, von Themen zu reden, die offensichtlich nicht schnell lösbar sind. Das eine sind die Ursachen der Flucht im Heimatland. Wir haben über Eritrea geredet. Da wird sich kurzfristig leider nichts
ändern, bedauerlicherweise auch nicht in Syrien. Das
sind Ablenkungsdiskurse.
Ein anderer, noch sehr viel gefährlicherer ist der
Krieg gegen die Schlepper. Im Chinesischen Meer versucht man eine Militarisierung des Vorgehens gegen
Schlepperbanden und geht damit letzten Endes wie gegen Piraten vor. Das sind aber keine Piraten, wie die
Bundesregierung uns dankenswerterweise auf entsprechende Fragen antwortet. Jetzt werden wir durch freundliche Briefe des Außenministers und der Verteidigungsministerin darauf hingewiesen, dass es zunächst um die
erste Phase gehe, nämlich die Informationsgewinnung
bezüglich der Schlepperbanden. Die nächste Phase sei
dann die militärische Intervention - ich frage mich: wie
eigentlich? -; aber darüber sei man ja noch in Verhandlung. Man ist aber nicht nur in Verhandlung. Auf europäischer Ebene hat man das schon beschlossen und
lobbyiert kräftig, um ein Mandat des Sicherheitsrates zu
bekommen. Da kann man ja nur hoffen, dass die Russen
ihr Veto einlegen;
({6})
denn das ist quasi eine Aufforderung zum Kollateralschaden. Wie soll das eigentlich gehen? Das sind allenfalls polizeiliche Aufgaben. Aber militärische? Wollen
wir auf die Boote schießen, oder was? In der Öffentlichkeit ist man immer sehr zurückhaltend. Sehr viel weniger zurückhaltend ist man in den Verhandlungen. Ich
hoffe, dass es dem Sekretariat der Vereinten Nationen,
das auch schon seine Bedenken geäußert hat, gelingt, die
Herren permanenten Repräsentanten, auch der europäischen Länder, davon abzubringen,
({7})
einschließlich der Hohen Repräsentantin der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik, Mogherini.
Ich fasse zusammen: Was wir brauchen, ist eine effektive, koordinierte europäische Seenotrettung, ein
menschenwürdiges, einheitliches, schnelles Aufnahmeverfahren und legale Einreisemöglichkeiten für Flüchtlinge.
Vielen Dank.
({8})
Danke schön. - Für die Bundesregierung spricht jetzt
der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Ole Schröder.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Deutschland und Europa stehen vor der größten
Herausforderung im Bereich der Asylpolitik seit den
90er-Jahren.
({0})
Seit Jahren steigen die Asylbewerberzahlen in Deutschland sprunghaft an: von circa 77 600 Asylbewerbern im
Jahr 2012 auf über 202 000 Asylbewerber im Jahr 2014.
Allein in den ersten fünf Monaten dieses Jahres sind
über 140 000 Asylbewerber zu uns gekommen; davon
kam fast die Hälfte aus den als sicher zu betrachtenden
Westbalkanstaaten, also aus Europa. Insbesondere unsere Kommunen stoßen an ihre Belastungsgrenzen.
Europaweit ist im Jahr 2014 die Zahl der registrierten
Asylbewerber um knapp 50 Prozent gegenüber dem Vorjahr auf einen Spitzenwert von 626 000 gestiegen.
({1})
Natürlich, Kollege Koenigs, geht es darum, dass wir die
humanitäre Katastrophe auf dem Mittelmeer abwenden.
Meine Damen und Herren, bisher ist es uns, wie auch
der Vorredner deutlich gemacht hat, nicht gelungen, ein
einheitliches Asylsystem in Europa zu implementieren.
Wir haben zwar Richtlinien verabschiedet, aber wie so
häufig in Europa hapert es an der Implementierung.
Stattdessen wandern Flüchtlinge von den europäischen
Außengrenzen in großer Zahl, ohne registriert und versorgt zu werden, weiter nach Nordeuropa.
Wir haben zurzeit eine De-facto-Verteilung auf wenige Mitgliedstaaten. Drei Viertel aller Asylverfahren in
2014 entfallen auf nur fünf EU-Mitgliedstaaten, allen
voran Deutschland. Unser Ziel ist humanitäre Hilfe für
die wirklich Schutzbedürftigen. Wir können aber nicht
jeden aufnehmen, der sich ein besseres Leben verspricht.
Das würde unser Asylsystem und vor allem auch die
Willkommenskultur in Deutschland und in ganz Europa
gefährden.
({2})
Der Europäische Rat hat am 23. April 2015 klargemacht, dass es jetzt in erster Linie darauf ankommt, Leben zu retten und die Seenotrettung auf dem Mittelmeer
zu gewährleisten. Als Sofortmaßnahmen sind die finanziellen Mittel für die Frontex-Operationen Triton und
Poseidon verdreifacht worden. Der Einsatzraum der
Operation Triton ist bis an die libysche Küste herangeführt worden. Seit Anfang Mai sind zwei deutsche Marineschiffe, die Fregatte „Hessen“ und der Einsatzgruppenversorger „Berlin“, zur Seenotrettung im südlichen
Mittelmeer vor Ort. Aber natürlich müssen auch die afrikanischen Staaten ihren völkerrechtlichen Verpflichtungen zur Seenotrettung nachkommen. Ich denke, dass
muss in einer solchen Debatte auch erwähnt werden.
({3})
Ein weiterer Schwerpunkt liegt bei der Bekämpfung
der kriminellen Schlepperbanden. Das ist ganz entscheidend; denn natürlich stehen wir vor einem Dilemma: Je
mehr Menschen wir retten, desto einfacher machen wir
es eben auch den Schleppern. Natürlich ist die Seenotrettung notwendig. Gleichzeitig aber ist es notwendig, die
Schlepperbanden zu bekämpfen. Dazu zählt auch die Zerstörung der Schlepperboote, die Zerstörung der Werkzeuge dieser Schlepper, wenn es völkerrechtlich möglich
ist.
({4})
Wir verbessern außerdem die Zusammenarbeit mit
den Herkunfts- und Transitländern - das ist ganz entscheidend -, insbesondere mit Libyen und Ägypten. Nur
so ist es möglich, auch die Fluchtursachen zu bekämpfen.
Herr Kollege Schröder, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Trittin?
Gerne.
Bitte schön.
Herr Kollege Schröder, kann ich Ihre Äußerung, dass
es nötig sei, Boote zu zerstören, so verstehen, dass Sie
hier namens der Bundesregierung erklären, dass Sie zur
Schaffung der völkerrechtlichen Voraussetzungen als
Bundesrepublik Deutschland aktiv ein solches Mandat
beim Sicherheitsrat der Vereinten Nationen dafür anstreben? Das wäre ja die Konsequenz Ihrer Äußerung.
({0})
Diese Frage sollten Sie hier vielleicht einmal beantworten.
Herr Trittin, wir sind uns doch darüber einig, dass es
notwendig ist, die Schlepperbanden zu bekämpfen. Ich
habe manchmal, wenn ich mir Reden von Mitgliedern
Ihrer Fraktion anhöre, das Gefühl, dass Sie die Schlepper
mittlerweile als eine humanitäre Organisation ansehen.
({0})
Wir müssen das Treiben der Schlepper bekämpfen. Dazu
ist es selbstverständlich notwendig, deren Werkzeuge zu
zerstören. Das wird ja schon auf hoher See gemacht. Inwieweit das innerhalb der 12-Seemeilen-Zone möglich
ist oder sogar auf libyschem Territorium, das wird gerade in der EU diskutiert. Dem Ergebnis kann ich natürlich nicht vorgreifen. In der ersten Phase geht es erst einmal darum, sich überhaupt ein Lagebild zu machen und
sich Klarheit darüber zu verschaffen, ob die zweite und
die dritte Phase notwendig sind, um die Schlepperbanden wirklich effektiv zu bekämpfen. Ich glaube das
schon. Ich stelle aber einmal die Frage zurück. Wollen
Sie wirklich sagen - das klang ja aus der Rede von Herrn
Koenigs heraus -: „Wir retten, da sind wir uns alle einig;
aber die Bekämpfung der Schlepperbanden lassen wir
sein“? Das wäre ja Ihre Schlussfolgerung, wenn ich Sie
richtig verstanden habe, Herr Trittin.
Meine Damen und Herren, ganz entscheidend ist,
dass wir unseren humanitären Verpflichtungen nachkommen, dass wir das ernst nehmen. Das werden wir
auch weiter tun. Ganz besonders wichtig ist die Hilfe vor
Ort im Nahen und Mittleren Osten. Hiermit erreichen
wir die meisten Menschen. Das sehen auch alle Helfer
so.
Außerdem haben wir unser nationales ResettlementProgramm für besonders Schutzbedürftige ausgebaut.
Wir gehören damit zu den Vorreitern in Europa. Die
Kommission ist mit ihrem Vorschlag für ein EU-Resettlement-Programm unserem Ansatz ja auch gefolgt. Jetzt
sollte schnell darüber entschieden werden, dass nach
Möglichkeit auch alle anderen Mitgliedstaaten diesem
Beispiel folgen.
Herr Staatssekretär, es sind noch zwei weitere Zwischenfragen von den Herren Koenigs und Nouripour angemeldet. Wollen Sie die zulassen?
Ich würde angesichts der fortgeschrittenen Zeit eine
Zwischenfrage zulassen.
Dann ist es der Kollege Nouripour. Er hatte sich als
Erster gemeldet. - Herr Kollege Koenigs, Sie dann nicht.
Bitte. - Ich beantworte eine Zwischenfrage. Sie können sich ja das nächste Mal um mehr Redezeit bemühen.
({0})
Herr Staatssekretär, herzlichen Dank, dass Sie die
Frage zulassen. Wie wir in unserer Fraktion die Redezeiten verteilen, ist unsere Angelegenheit.
Ich möchte etwas zurückweisen und eine Frage stellen. Zurückweisen möchte ich das, was Sie permanent
als Pappkameraden aufstellen: Wir können nicht alle
aufnehmen. - Nein, wir können auch nicht alle Chinesen
aufnehmen. Das wäre zu viel. Das ist aber hier gar nicht
das Thema. Deshalb ist es einfach nur Stimmungsmache,
immer davon zu sprechen, dass wir nicht alle aufnehmen
können.
({0})
Ich komme zu meiner Frage. Sie haben ja gesagt, es
passiert bereits auf hoher See, dass die Werkzeuge der
Schlepper zerstört werden. Das ist so, wie Sie es formuliert haben, nicht richtig. Richtig ist, dass die Fregatte
„Hessen“ beispielsweise die Flüchtlinge aufnimmt und
dann die leeren Boote zerstört. Das geschieht nicht, weil
das Schlepperboote sind, sondern weil es das Internationale Seerecht so will, dass leere Geisterschiffe nicht einfach so herumschippern; denn das wäre eine Gefährdung
der Sicherheit.
Wenn Boote draußen sind, befinden sich Menschen in
ihnen. Dann kann man sie nicht aus der Luft zerstören.
Wie wollen Sie denn - aus der Luft auf einen Hafen
schauend, in dem sich ein leeres Boot befindet - beurteilen, ob es ein Fischerboot ist, ob es ein Schlepperboot ist
oder ob es vielleicht tagsüber ein Fischerboot und nachts
ein Schlepperboot ist? Wie wollen Sie das eigentlich unterscheiden?
({1})
Ich glaube, Sie machen den Fehler, den zweiten vor
dem ersten Schritt zu machen. Zunächst einmal würde
ich es begrüßen, wenn Sie sich, bevor Sie hier mögliche
Hindernisse benennen und Probleme formulieren, in einem ersten Schritt einmal dazu bekennen würden, dass
es richtig ist, Schlepperboote, wenn sie denn als solche
identifiziert werden, zu zerstören. Dieses Bekenntnis zur
Bekämpfung der Schlepperkriminalität habe ich von Ihnen bisher nicht gehört, sondern Sie haben bis jetzt nur
Probleme formuliert.
Für mich kommt es darauf an, dass wir uns zunächst
einmal darüber einig sind, was notwendig ist. Notwendig
ist, diesen kriminellen Schleppern und Netzwerken, die
mit der humanitären Katastrophe, mit dem Leid der
Menschen Millionen verdienen, das Handwerk zu legen.
Ich glaube, darüber sollten wir uns erst einmal einig sein.
({0})
Natürlich ist es im Einzelfall nicht einfach, zu identifizieren, ob es sich um ein Schlepperboot handelt oder
nicht; aber natürlich ist das möglich. Vor diesem Problem stehen wir auch bei anderen internationalen Einsätzen. Natürlich kann man sehen: Ist das ein Fischerboot,
das als solches betrieben wird, oder wird dieses Fischerboot unter Umständen als Schlepperboot für den Menschenhandel missbraucht? Es geht vielleicht nicht
immer, aber es gibt Möglichkeiten - auch durch internationale Zusammenarbeit, durch Zusammenarbeit mit den
Transitländern, beispielsweise durch Informationen, die
aus den Häfen kommen -, die Informationen so zu verdichten, um eine solche Entscheidung am Ende zu fällen.
Ich glaube, dass Sie nicht nur Hindernisse bei der Bekämpfung der Schlepperkriminalität sehen sollten, sondern dass wir uns gemeinsam dafür einsetzen sollten,
dass das, was wir vorsehen, möglich ist, um diese humanitäre Katastrophe zu bekämpfen.
Meine Damen und Herren, für die Bundesregierung
kommt es vor allem darauf an, dass wir die unkontrollierte Weiterwanderung und die De-facto-Verteilung
nach Deutschland stoppen. Der Vorschlag der Kommission für ein vorläufiges Verteilungssystem zugunsten von
Italien und Griechenland geht unseres Erachtens in die
richtige Richtung. Das betrifft circa 40 000 Personen. Auf
Deutschland entfallen davon insgesamt etwa 8 700.
Dieser Vorstoß stößt innerhalb der Mitgliedstaaten
teilweise auf Widerstand. Wir als Bundesregierung unterstützen ihn, auch wenn natürlich noch einige Fragen
zu klären sind. Asylbewerber müssen dort versorgt und
registriert werden, wo sie ankommen. Wir unterstützen
deshalb die Einrichtung von sogenannten Hotspots. Die
Asylbewerber, die erkennbar ohne Schutzgrund sind,
müssen sofort wieder zurückgeführt werden.
Voraussetzung für die Umverteilung von Asylbewerbern ist in jedem Fall, dass die Mitgliedstaaten das gemeinsame europäische Asylsystem auch konsequent und
gleichwertig anwenden. Es geht also darum, dass wir
anbieten - insbesondere Italien und Griechenland -,
Flüchtlinge zu übernehmen. Im Gegenzug erwarten wir
aber auch die Implementation des europäischen Rechts,
das heißt Relocation gegen Implementation.
Meine Damen und Herren, wir müssen in Deutschland unsere Hausaufgaben machen, auch innerhalb
Europas. Das heißt, wir müssen den Asylmissbrauch in
Bezug auf die Westbalkanstaaten effektiv bekämpfen,
um genügend Kapazitäten zu haben, um uns um die
wirklich Schutzbedürftigen zu kümmern.
({1})
Meine Damen und Herren, es muss europäische Aktivitäten geben, wie wir das Problem der Asylbewerber in
Europa in den Griff bekommen. Die Bundesregierung
stellt sich diesen Aufgaben. Ich fand es wohltuend, lieber Herr Koenigs, dass Sie heute nicht nur Betroffenheit
formuliert haben, wie wir das so häufig aus Ihrer Fraktion kennen, sondern sich auch intensiv mit Möglichkeiten der Problemlösung auseinandergesetzt haben; denn
genau darum geht es bei diesem komplexen und schwierigen Thema. Ich fordere Sie als Opposition auf, sich an
diesem Diskurs zu beteiligen und für Problemlösung zu
sorgen. Das ist notwendig in dieser Zeit.
({2})
Vielen Dank. - Der Kollege Trittin hat eine Kurzintervention angemeldet. Bitte schön.
Frau Präsidentin! Sehr geehrter Kollege Herr
Schröder, ich finde, Sie haben hier ziemlich unglaubliche Äußerungen getan. Sie haben erstens gesagt, dass
jede Form von Rettung auch eine Erleichterung des Geschäftes für Schlepper ist. Wollen Sie ernsthaft dann der
umgekehrten Logik folgen: „Je weniger wir retten, umso
schwieriger ist das Geschäft für Schlepper“? Oder ist es
nicht so gewesen, dass, als Europa weniger Menschen
gerettet hat, nicht weniger Menschen von Schleppern auf
See gesetzt worden sind, sondern einfach mehr ersoffen
sind? Das ist eine unglaublich unmenschliche Haltung,
die Sie an den Tag gelegt haben.
({0})
Zweitens. Ich weise mit Nachdruck die Unterstellung
zurück, dass Menschen, die Ihre Position nicht teilen,
Schlepperorganisationen für humanitäre Organisationen
halten. Wer effektiv etwas gegen diese Verbrecher machen will, muss den Weg gehen, den Tom Koenigs völlig
zu Recht beschrieben hat. Er muss legale Flucht- und
Zuwanderungsmöglichkeiten schaffen. Wer das macht,
verhindert, dass die Menschen in ihrer Not für teures
Geld auf schlechten Booten fliehen. Das ist Bekämpfung
und Austrocknung des Schlepperunwesens, und nicht Ihr
symbolisches Reden, dass man hart gegen Schlepper sei,
aber in Wirklichkeit ihr Geschäft nicht zerstört.
({1})
Letzte Bemerkung. Ich habe sehr genau zugehört. Sie
haben es noch einmal bestätigt. Sie haben hier für die
Regierung der Bundesrepublik Deutschland erklärt, sie
streben an, in Libyen Boote mit Anwendung militärischer Gewalt zu zerstören. Damit setzen Sie sich in einen scharfen Kontrast zur Haltung zum Beispiel des UNGeneralsekretärs Ban Ki-Moon, der ausdrücklich erklärt
hat: Diese Haltung ist aus seiner Sicht unverantwortlich,
({2})
weil genau diese Unterscheidung, die Sie gemacht haben, nicht gemacht werden kann. - Ich bin der Auffassung, dass Deutschland auf den Kurs der Vereinten Nationen zurückkehren und von dem Kurs der Eskalation
und des militärischen Abenteurertums in Libyen absehen
sollte.
({3})
Vielen Dank. - Herr Staatssekretär, Sie haben jetzt die
Gelegenheit, zu antworten. Bitte schön.
Herr Trittin, ich finde Ihre Äußerung ungeheuerlich.
Ich finde es vor allen Dingen ungeheuerlich, dass es
noch nicht einmal möglich ist, im Bundestag ein Dilemma darzustellen.
({0})
Selbstverständlich ist es ein Dilemma, dass wir, wenn
wir humanitäre Hilfe leisten und Menschen aus Seenot
retten - dazu haben wir uns als Bundesregierung ausdrücklich bekannt und in Europa alles auf den Weg gebracht -, gleichzeitig das Geschäft der Schlepper erleichtern. Auch das ist zurzeit auf dem Mittelmeer zu
sehen. Die Schlepper lassen die Flüchtlinge mit immer
untauglicheren Booten auf See. Das hängt natürlich auch
damit zusammen, dass wir mehr Rettung anbieten.
Nichtsdestotrotz ist es unsere humanitäre Verpflichtung,
zunächst zu retten, aber gleichzeitig ist es, um aus diesem Dilemma herauszukommen, notwendig, dass wir
natürlich auch die Schleuser bekämpfen. Ich hätte mir
gewünscht, Sie hätten in Ihrer Kurzintervention zumindest zum Ausdruck gebracht, dass dies auch notwendig
ist.
Sie haben mich des Weiteren bewusst falsch interpretiert, indem Sie gesagt haben, ich hätte hier bereits ein
Bekenntnis dazu abgegeben, dass es notwendig ist, die
Schlepperboote auf libyschem Territorium zu zerstören.
Genau das habe ich nicht gesagt.
({1})
Vielmehr hat der Bundesaußenminister zusammen mit
der Bundesverteidigungsministerin ein Phasenmodell
vorgestellt, das vorsieht, in Phase eins zunächst einmal
genau zu beobachten: Es werden Informationen gesammelt, um erkennen zu können, ob es wirklich notwendig
ist, auf libyschem Territorium, innerhalb der 12-SeemeiParl. Staatssekretär Dr. Ole Schröder
len-Zone, operativ tätig zu werden, oder ob es beispielsweise reicht, auf hoher See tätig zu sein. Kollege
Nouripour hat es ja schon zum Ausdruck gebracht: Zum
Glück werden bereits heute Schlepperboote von der Marine zerstört, weil sie eine schifffahrtspolizeiliche Gefahr
darstellen.
({2})
Aber man zerstört sie natürlich vor allen Dingen auch
deshalb, weil man dieses Werkzeug der Schlepper vernichten muss, damit sie nicht noch mehr Menschen in
Seenot bringen und Geld mit dem Leid der Menschen
verdienen.
Insofern würde ich mir wünschen, dass Sie, Herr
Trittin, nicht versuchen, hier Stimmung zu machen, sondern sich der Verantwortung bewusst werden, gemeinsam nach Lösungen zu suchen, anstatt nur Probleme zu
sehen und nicht einmal bereit zu sein, sich dazu zu bekennen, dass es notwendig ist, Schlepperkriminalität zu
bekämpfen.
({3})
Vielen Dank. - Nächste Rednerin ist die Kollegin
Ulla Jelpke, Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr
Staatssekretär Schröder, ich glaube, das Hauptproblem
ist, dass Sie immer wieder Schlepper als das Hauptproblem darstellen, wenn es um die Seenotrettung geht. So
ist es eben nicht. Es ist zynisch, wenn man hauptsächlich
darauf abstellt und nicht selbstkritisch zur Debatte stellt,
was denn in Sachen Bekämpfung von Fluchtursachen
getan wurde, was denn getan wurde, um tatsächlich
- wie eben schon erwähnt - legale, sichere Wege für
Flüchtlinge nach Europa zu schaffen. In diesen Bereichen wird wirklich nichts getan.
Sie entziehen den Schleppern eben nicht die Geschäftsgrundlage. Um das zu tun, könnten Sie zum Beispiel humanitäre Visa ausgeben und tatsächlich Fähren
schicken. Sie könnten im Grunde genommen die Menschen, die heute schon auf legalem Wege hierherkommen könnten, viel schneller hierherholen, zum Beispiel
diejenigen, die einen Anspruch auf Familienzusammenführung haben und heute - das ist ein Skandal - über ein
Jahr darauf warten, überhaupt nach Europa zu kommen.
Diese wenigen Schritte sind Sie bisher überhaupt nicht
gegangen, sondern haben nur ein Ziel und fragen sich
immer: Wie können wir Schlepper bekämpfen? So
kommt man meiner Meinung nach nicht zu einer anderen Flüchtlingspolitik, schon gar nicht dazu, dass das
Massensterben im Mittelmeer endlich ein Ende hat.
({0})
Ich will hier noch einmal sagen: In diesem Jahr sind
etwa 2 000 Menschen, die verzweifelt versucht haben,
über das Mittelmeer nach Europa zu kommen, daran gescheitert und gestorben. Jedes Mal, wenn Hunderte von
Flüchtlingen ertrunken sind - ob es 2013 oder jetzt im
April 2015 war -, haben wir solche Töne gehört: Das
darf sich nicht wiederholen, das ist eine Schande für
Europa. - Ich meine nach wie vor, auch nach der heute
gehörten Aufzählung dessen, was angeblich alles getan
wird: Das reicht bei weitem nicht aus. Es müssen viel
weiter gehende Schritte für eine veränderte Flüchtlingspolitik in Europa durchgeführt werden.
({1})
An dieser Stelle möchte ich auch sagen: Unter moralischen Maßstäben halte ich es für ein regelrechtes Verbrechen, dass man Mare Nostrum eingestellt hat.
({2})
Man muss sich das einmal vorstellen: Zum damaligen
Zeitpunkt konnte man das Geld für Mare Nostrum angeblich nicht aufbringen, aber jetzt steckt man Geld in
Frontex, die Grenzabschottungsagentur, die eben nicht
hauptsächlich dafür zuständig ist, Seenotrettung zu betreiben; das hat uns übrigens auch Herr Leggeri, Direktor der Agentur, am Mittwoch im Innenausschuss berichtet. Nur im Notfall werden Flüchtlinge gerettet. Das
zeigt, dass es im Grunde genommen nicht in erster Linie
um die Flüchtlinge geht. Vielmehr ist in die Abschottung
der europäischen Grenzen investiert worden. Ich will an
dieser Stelle darauf hinweisen: Frontex reicht nicht bis
an die Grenze von Libyen. Aber wir wissen, dass von
dort die meisten Flüchtlinge losfahren.
Wie sieht die Seenotrettung gegenwärtig überhaupt
aus? Alleine im vergangenen Jahr sind 20 000 Menschen
durch private Handelsschiffe gerettet worden, 1 700 in
diesem Jahr von Frontex. Da Sie immer auf Frontex abstellen: Das macht sehr deutlich, dass eine Seenotrettung
so nicht organisiert werden kann. Wenn wir Menschen
retten wollen, dann brauchen wir eine koordinierte europäische Seenotrettung, und zwar für den gesamten Mittelmeerraum. Das muss für uns alle an erster Stelle stehen.
({3})
Auch innerhalb Europas steht es nicht zum Besten. Alleine am letzten Wochenende sind 5 000 Menschen aus
Seenot gerettet und nach Italien gebracht worden. Fast
täglich kommen 600 Menschen auf den griechischen Inseln an. In beiden Ländern ist die Situation für Flüchtlinge
katastrophal. Allein in Italien sind 180 000 Flüchtlinge in
Lagern untergebracht. Die Lager sind völlig überfordert,
und die Flüchtlinge können nicht angemessen versorgt
werden. Vor diesem Hintergrund muss man sich einmal
vorstellen, dass diskutiert wurde, als Notmaßnahme
40 000 Flüchtlinge aus Griechenland und Italien in den
Mitgliedstaaten aufzunehmen, und man nun einmal eben
so aus den Medien erfährt, dass man diese Maßnahme
auf den Herbst verschoben hat. Geht es hier wirklich um
die Schutzsuchenden, um diejenigen, die Hilfe brau10634
chen? Wie kann es sein, dass die nationalen Eigeninteressen innerhalb Europas so stark im Vordergrund stehen, dass es nicht möglich ist, die Flüchtlinge sofort in
andere europäische Länder zu bringen und sie wirklich
zu schützen?
Sie kommen bitte zum Schluss, Frau Kollegin.
Ja, ich komme zum Schluss. - Lassen Sie mich noch
einen Aspekt des Militäreinsatzes ansprechen. Wer versucht, Schiffe durch das Militär zu versenken, wird die
Flüchtlinge auf noch unsicherere Schiffe bringen, nämlich auf Schlauchboote; denn die sind nicht so einfach zu
vernichten, die kann man sehr schnell aufpusten. Das bedeutet noch mehr Tote. Deswegen ist es zynisch und unglaublich, wenn Sie an dieser Militäraktion festhalten
wollen, Herr Staatssekretär. Die Linke jedenfalls lehnt
das eindeutig ab.
({0})
Vielen Dank. - Bevor ich jetzt die nächste Rednerin
aufrufe, möchte ich noch etwas klarstellen: Die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen hat noch Kurzinterventionen angemeldet, aber ich habe entschieden, sie nicht zuzulassen, weil ich glaube, dass die Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen heute die Gelegenheit hatte, nicht nur zu reden,
sondern auch Zwischenfragen zu stellen, und zwar mehr
als eine, und auch eine Kurzintervention hatte.
Zwei Gründe spielen hierfür eine Rolle. Erstens. Wir
geben uns einen Zeitrahmen, auf den sich alle Kolleginnen und Kollegen einstellen. Was die Redezeiten, aber
auch, was die Zwischenfragen betrifft, war ich schon
sehr großzügig, weil es ein emotionales Thema ist.
Zweitens. Der Antrag wird heute nicht abschließend beraten. Er wird im gegenseitigen Einverständnis überwiesen. Wir haben in den Ausschüssen Gelegenheit, darüber
zu reden, und auch noch einmal im Plenum. Deshalb ist
die Entscheidung so gefallen, wie ich sie jetzt dargestellt
habe.
({0})
Die nächste Rednerin ist Christina Kampmann, SPDFraktion.
({1})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Seit
anderthalb Jahren bin ich jetzt hier im Bundestag und
kann mit dazu beitragen, denen eine Stimme zu geben,
die sonst keine Lobby haben. Ich habe verstanden, dass
das Bohren dicker Bretter mit ein Teil von Politik ist. Ich
finde aber: Wenn es um das Leben von Menschen geht,
dann können wir uns nicht mit dem Bohren von Brettern
aufhalten. Es sind dabei nicht ausschließlich die über
800 Toten, die wir im vergangenen April zu beklagen
hatten. Es sind auch nicht ausschließlich die fast
2 000 Menschen, die in diesem Jahr umgekommen sind,
und auch nicht die 366, die im Oktober 2013 umgekommen sind und zu denen ich meine erste Rede hier im
Bundestag gehalten habe. Es ist diese unglaublich große
Zahl von 25 000 Menschen, die seit Anfang des Jahrtausends beim Versuch, das Mittelmeer zu überqueren, umgekommen sind. 25 000, ich finde, das ist eine unglaublich große Zahl.
({0})
Seit so langer Zeit sehen wir zu, seit so langer Zeit
lassen wir zu, seit so langer Zeit verschließen wir die
Augen vor einer menschlichen Tragödie, die sich mit
grausamer Alltäglichkeit an unseren Küsten abspielt. Ja,
es sind unsere Küsten - es sind nicht die Küsten der Italiener, es sind nicht die Küsten der Griechen und auch
nicht die der Malteser -, weil wir Europäerinnen und
Europäer uns dazu entschieden haben, dass Europa mehr
sein soll als ein gemeinsamer Binnenmarkt, weil wir uns
entschieden haben, gemeinsame Werte nach innen und
nach außen zu vertreten, gegen alle Widerstände und für
das, was uns wichtig ist und woran wir glauben.
Wir beschweren uns zu Recht, wenn andere diese
Werte mit Füßen treten, weil sie uns schaden oder bedrohen wollen. Aber was passiert eigentlich, wenn wir diese
Werte selbst aus den Augen verlieren? Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Erklärung des Europäischen Rates
zur Flüchtlingskatastrophe im Mittelmehr beginnt mit
den Worten:
Die Lage im Mittelmeerraum ist eine Tragödie. Die
Europäische Union wird alles in ihrer Macht Stehende unternehmen, um den Verlust weiterer Menschenleben auf See zu verhindern …
({1})
- Genau. - Aber was ist seitdem passiert? Ich möchte
drei entscheidende Maßnahmen vorstellen, die wir schon
lange fordern und die durchaus zur Verbesserung beigetragen haben.
Die erste ist eine Verdreifachung der Finanzmittel für
Triton und Poseidon. Inzwischen - das ist meine Information - ist klar, dass es stimmt, was der Staatssekretär
gesagt hat, Frau Jelpke: dass Triton sehr wohl bis vor die
libysche Küste fahren kann. Das ist eine unglaublich
wichtige Maßnahme, weil da - wie Sie es gesagt haben die meisten Boote starten; deswegen muss Triton auch
da vor Ort sein. Das entspricht auch der Forderung aus
dem Antrag der Grünen; auch sie fordern die Verdreifachung der Mittel. Deshalb glaube ich, dass das ein ganz
entscheidendes Kriterium ist.
Die zweite Maßnahme - darüber haben wir heute
schon gesprochen - ist eine verstärkte internationale Zusammenarbeit beim Vorgehen gegen Schlepper. Ich
glaube, dass wir uns erst einmal einig sein sollten, entschieden gegen Schlepper vorzugehen; da hat Herr
Koenigs recht. Was ich aber nicht sehe, Herr Staatssekretär, ist, dass wir, wie Sie es gesagt haben, den zweiten
Schritt vor dem ersten machen, wenn wir uns erst einmal
fragen: „Wie kann das Ganze eigentlich faktisch funktionieren, wie können wir das überhaupt realisieren?“, bevor wir die völkerrechtlichen Möglichkeiten prüfen. Ich
glaube, dass es an dieser Stelle noch ganz viele Fragezeichen gibt. Auch ich habe von Ihnen dazu noch keine
Antwort bekommen, wie das tatsächlich im Einzelnen
aussehen soll.
({2})
Die dritte Maßnahme - auch die ist entscheidend - ist
eine schnelle und gemeinsame Durchsetzung gemeinsamer europäischer Standards. Bevor wir keine gemeinsamen Standards haben und diese nicht auch tatsächlich
durchsetzen, werden wir immer wieder Migrationsbewegungen innerhalb der Europäischen Union haben. Deshalb müssen wir da auf jeden Fall heran, und deshalb ist
es gut, dass auch diese Maßnahme beschlossen wurde.
Die Europäische Kommission hat in ihrer Migrationsagenda weitere Maßnahmen vorgestellt. Dazu gehört unter anderem, dass 40 000 Flüchtlinge aus Griechenland
und Italien auf der Grundlage eines Verteilungsschlüssels umzusiedeln sind, zum Zweiten, dass wir in den
nächsten zwei Jahren 20 000 Flüchtlinge aufnehmen und
diese neu ansiedeln werden. Das Dritte - das ist zumindest eine Möglichkeit der erweiterten legalen Migration ist die Überarbeitung der Bluecard-Regelung für hochqualifizierte Arbeitskräfte. Ich sage eindeutig: Auch das
ist eine Maßnahme. - Ich wünsche mir aber, dass weitere
hinzukommen.
Ich finde, das sind wichtige Schritte, die zeigen: Der
Wille, hier zumindest auf der europäischen Ebene etwas zu ändern - ich rede noch nicht über die Mitgliedstaaten -, ist endlich da. Das ist auch gut so, meine Damen und Herren, dafür hat sich unsere Bundesregierung
lange starkgemacht. Wir sind an dieser Stelle - das ist
mein Eindruck - schon sehr viel weiter, als wir es noch
vor wenigen Wochen waren.
({3})
Einige der von Ihnen in den Anträgen aufgeführten
Punkte haben sich damit erledigt. Bei anderen gibt es
weiterhin einen Dissens. An anderen Stellen sollten wir
- da bin ich mit Ihnen einig - durchaus noch weiter
Druck machen. Ich glaube, dass diese Migrationsagenda
ein guter Schritt in die richtige Richtung ist. Aber es
muss unbedingt noch weiter gehen.
Wo es aber weiterhin einen Dissens gibt - Sie fordern
es wieder in Ihrem Antrag -, ist das Free-Choice-Verfahren, das wir ablehnen. Free Choice bedeutet, dass sich
jeder Flüchtling den Mitgliedstaat aussuchen kann, in
dem er seinen Asylantrag stellt. Wir haben die Befürchtung, dass es dann zu einer Reduzierung der Standards
kommt, weil die Mitgliedstaaten hoffen: Je geringer die
Standards sind, desto weniger Flüchtlinge kommen zu
uns. - Deshalb lehnen wir das entschieden ab. Wir glauben, dass das auch im Sinne der Flüchtlinge ist, die zu
uns kommen.
Es gibt einen zweiten Punkt, bei dem noch ein eindeutiger Dissens besteht.
Frau Kollegin Kampmann, ich muss Sie an die Zeit
erinnern. Jetzt bitte nicht noch „zweitens“, „drittens“,
„viertens“, sondern bitte zum Schluss kommen!
Es gibt nur noch „zweitens“, liebe Frau Präsidentin;
das betrifft die Abschaffung von Frontex. Auch da können wir nicht zustimmen. Wir sagen aber, dass es eindeutig ein Seenotrettungsmandat von Frontex geben
muss. Wir hatten dieses Thema diese Woche im Innenausschuss. Da wurde eindeutig gesagt: Das macht einen
großen Teil der Arbeit von Frontex aus. Deshalb ist es
nur ehrlich, wenn wir hier ein rechtliches Seenotrettungsmandat hinbekommen. - Dafür werden wir uns
weiter starkmachen. Ich glaube, dass wir dann auf dem
richtigen Weg sind und weiter in eine gute Richtung gehen.
Vielen Dank.
({0})
Vielen Dank. - Nächste Rednerin ist Nina Warken,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Immer wieder bestimmen die dramatischen
Ereignisse, die sich im Mittelmeer abspielen, die Schlagzeilen unserer Nachrichten. Der traurige Höhepunkt in
diesem Jahr ereignete sich am 19. April. Ein völlig überladenes Schlepperboot mit Flüchtlingen an Bord kenterte
auf seinem Weg von Libyen nach Italien. Nach Schätzungen sind dabei über 800 Menschen ums Leben gekommen, auch weil sie unter Deck zusammengepfercht
waren. Nur 28 Menschenleben konnten gerettet werden.
Katastrophen wie diese machen uns alle tief betroffen. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, von dem Unglück ging auch ein Signal aus: Europa war bereit, sofort
und entschlossen zu handeln. Auf dem EU-Sondergipfel
am 24. April dieses Jahres wurden als Sofortmaßnahme
die Mittel für die Seenotrettung im Mittelmeer deutlich
aufgestockt und ausgeweitet. Auch Deutschland stellte
sich seiner Verantwortung und hat umgehend Schiffe der
Bundeswehr ins Mittelmeer entsandt. Letzten Samstag
wurden bei einer Rettungsaktion von deutschen Schiffen
rund 1 400 Menschen aufgenommen und versorgt. Inzwischen sind es insgesamt über 3 000 Flüchtlinge, die
die Bundesmarine aus Seenot gerettet hat. Für ihren unermüdlichen Einsatz möchte ich unseren Soldatinnen
und Soldaten danken. Sie werden weiterhin im Mittelmeer Präsenz zeigen und unter psychisch wie physisch
schwersten Bedingungen dort Leben retten. Wir schulden ihnen allen unseren Dank.
({0})
Meine Damen und Herren, Europa hat gemeinsam reagiert und seine Präsenz im Mittelmeer verstärkt, um
Flüchtlinge zu retten. Dennoch sollte uns eines bewusst
bleiben: Alleine mit der Ausweitung von Seenotrettungsmaßnahmen werden wir die Flüchtlingskatastrophe
im Mittelmeer nicht lösen. Stattdessen gilt: Nur wenn es
uns gelingt, die Ursachen der Flüchtlingskatastrophen zu
beseitigen und den Menschen in ihrer Heimat eine echte
Perspektive zu geben, werden wir die Probleme nachhaltig lösen. Auf dieses Ziel arbeiten wir hin.
({1})
Die Europäische Kommission hat mit der Migrationsagenda und ihren Umsetzungsvorschlägen einen Ansatz
entwickelt, der sowohl kurzfristige als auch langfristige
Maßnahmen enthält. Ein solches aufeinander abgestimmtes Vorgehen ist der einzig richtige Weg. An erster
Stelle steht hier die noch konsequentere Bekämpfung der
Schleuserbanden, auch wenn Teile von Ihnen das nicht
einsehen. In allen Mitgliedstaaten sollen Ermittlungsstellen eingerichtet werden, um die Boote aus dem Verkehr zu ziehen und das Vermögen der Schleuser zu beschlagnahmen. Den Kriminellen muss endlich das
Handwerk gelegt werden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, zur Lösung der
Flüchtlingsproblematik gehört in meinen Augen auch,
dass wir legale Wege nach Europa schaffen.
({2})
Im Gegensatz zu den Grünen bin ich aber der Auffassung, dass humanitäre Visa nicht der richtige Ansatz
sind. Auch die Forderung der Linken nach einer visumfreien Einreise für Flüchtlinge wäre keine Lösung. Erstens sind es nicht nur Schutzsuchende, die nach Europa
kommen wollen. Ein großer Teil sucht nach Arbeit. Dafür brauchen wir andere Instrumente wie zum Beispiel
Programme zur Anwerbung von Arbeitskräften in
Afrika. Zweitens würde man durch die visafreie Einreise
die Sogwirkung, die Europa auf die afrikanischen Staaten ohnehin erzeugt, vervielfachen und damit dafür sorgen, dass viele dieser Länder förmlich ausbluten würden.
Für die Entwicklung eines ganzen Kontinents wäre das
eine Katastrophe.
Meine Damen und Herren, auch wenn Sie es nicht
wahrhaben wollen: Wir können nicht alle, die in Afrika
auf der Flucht sind, zu uns holen. Deshalb halte ich die
geplante Schaffung von Migrationszentren in den
Herkunfts- und Transitländern für zweckmäßiger und
vielversprechender. Schutzbedürftige würden dort
eine Anlaufstelle finden und könnten im Rahmen von
Aufnahmekontingenten der Mitgliedstaaten nach Europa
gebracht werden.
Gleichzeitig bietet es sich an, in den Aufnahmezentren auch über legale Zuwanderungswege nach Europa
und über ernsthafte und glaubhafte Alternativen im
Heimatland zu informieren. Bis zum Jahresende soll im
afrikanischen Niger ein solches Aufnahmezentrum als
Pilotprojekt eingerichtet werden. Ich glaube, in diesem
Ansatz liegt viel Potenzial.
Die Vorschläge der EU-Kommission gehen insgesamt
in die richtige Richtung. Es soll erstmals ein europäisches Aufnahmeprogramm geben, wodurch 20 000 besonders schutzbedürftige Flüchtlinge nach Europa gebracht und auf die Mitgliedstaaten verteilt werden.
Auch der zeitlich befristete Notfallmechanismus zur
Umsiedlung von Flüchtlingen aus Italien und Griechenland ist richtig. Da zurzeit die Lage auf den griechischen
Inseln immer kritischer wird, hat sich der Frontex-Direktor bei der Europäischen Kommission dafür eingesetzt,
dass Griechenland umgehend zusätzliche Gelder für die
Flüchtlingsaufnahme bekommt. Teams von Frontex und
dem Europäischen Unterstützungsbüro für Asylfragen
werden Italien und Griechenland künftig bei der Aufnahme von Flüchtlingen unterstützen. Europa zeigt dadurch Handlungsfähigkeit, Solidarität und Verantwortung.
({3})
Der langfristige Schlüssel zum Erfolg liegt aber in der
Beseitigung der Fluchtursachen. Die Menschen brauchen in ihrer Heimat eine echte Zukunftsperspektive.
Hier muss Europa gemeinsam weiter nachfassen.
Wir brauchen ein langfristiges und nachhaltiges Entwicklungskonzept für die betroffenen afrikanischen
Staaten. Es muss - um den Bundesentwicklungsminister
zu zitieren - zum Kerngeschäft europäischer Entwicklungszusammenarbeit werden, den Menschen vor Ort zu
helfen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie sehen, Deutschland und die EU sind fest entschlossen, zu verhindern,
dass Menschen weiterhin auf der Flucht ihr Leben riskieren müssen. Auch wenn wir bei der Beseitigung der
Fluchtursachen einen langen Atem brauchen werden, bin
ich mir sicher, dass wir diese Aufgabe gemeinsam mit
unseren europäischen Partnern erfolgreich bewältigen
werden. Stellen wir uns gemeinsam dieser Verantwortung!
Vielen Dank.
({4})
Vielen Dank. - Nächster Redner ist Dr. Lars
Castellucci, SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist
daran erinnert worden, dass im April schätzungsweise 800 Menschen im Mittelmeer zu Tode gekommen
sind. Es ist gesagt worden, dies sei der Fall gewesen,
weil sie sich auf diesen Weg begeben hätten. Sie hätten
sich auf den Weg über das Mittelmeer begeben müssen,
und sie seien im Inneren dieses Bootes zusammengepfercht worden.
Zur Ehrlichkeit gehört aber auch: Sie sind umgekommen, weil Europa nicht geholfen hat.
({0})
Unsere Verabredung in der Bundestagsdebatte war, dass
wir das nicht noch einmal zulassen wollen. Jetzt ist die
Frage: Haben wir heute eine Seenotrettung, die der Lage
angemessen ist, ja oder nein? Ich weiß es nicht.
Ich sehe, dass sich viel bewegt hat. Ich sehe, dass
viele europäische Staaten Schiffe entsenden.
({1})
Ich sehe, dass die italienische Regierung das Programm
Mare Sicuro gestartet hat, das Rettungseinsätze bis vor
die libysche Küste umfasst.
Es ist nicht so, Frau Jelpke, dass Flüchtlinge nur im
Notfall gerettet werden, sondern im Notfall müssen
Flüchtlinge gerettet werden. Das bedeutet Seenotrettung.
Ich weiß nicht, was Sie an dieser Stelle kritisieren wollten.
({2})
Zurzeit ist es so, dass die Dichte von Schiffen im Mittelmeer zugenommen hat und damit die Wahrscheinlichkeit, dass Flüchtlinge, die in Seenot geraten, rechtzeitig
aufgefunden werden können, gestiegen ist.
Ich habe einige befremdliche Sitzungen hinter mir, in
denen es um Listen ging, wie hoch die Zahlen bei Mare
Nostrum waren und wie hoch sie jetzt sind und wie viele
Fregatten und Helikopter im Einsatz waren. Ich muss Ihnen sagen: Das ist mir völlig egal.
({3})
Denn die einzige politische Frage, die wir zu beantworten haben, ist: Ist das, was zurzeit vorhanden ist, der aktuellen humanitären Lage angemessen? Wir müssen uns
dafür einsetzen, dass es angemessen ist.
({4})
Wir waren mit der Deutsch-Italienischen Parlamentariergruppe in Italien und haben dort mit Verantwortlichen gesprochen. Sie haben uns klar gesagt, im Moment
sähen sie, dass die Ressourcen gestiegen sind und dass
es viel europäische Unterstützung gibt. Das sind gute
Nachrichten. Dazu muss man sagen: Diese Aufstockung
erfolgte erst nach der Katastrophe. Jeder, der in der
Kommunalpolitik ist, kennt das: Bevor ein Zebrastreifen
aufgemalt wird, muss erst etwas passieren.
Die Kapazitäten werden aber möglicherweise nicht
reichen, wenn es noch einmal zu einer solchen Katastrophe wie im April kommt, bei der die Menschen gerettet
und an Land transportiert werden müssen, und im gleichen Moment ein Signal vom anderen Ende des Mittelmeers gesendet wird. Das war auch eine Aussage, die
wir von den Verantwortlichen auf den Schiffen gehört
haben. Mit anderen Worten: Wir werden in den nächsten
Wochen immer weiter und minutiös beobachten müssen,
ob die Kapazitäten reichen. Wenn sie nicht reichen, muss
dort auch mehr passieren; denn unsere erste Aufgabe ist,
Leben zu schützen.
({5})
Wenn die Menschen an Land transportiert worden
sind, dann stellt sich die Frage: Was passiert dann? Die
Präfektin von Catania hat uns sehr eindrücklich gesagt:
Vielen Dank, dass die Dänen, die Briten und die Deutschen Schiffe entsenden, aber sie bringen all diese Menschen zu uns nach Catania, einer Stadt mit 300 000 Einwohnern. - Deswegen kämpfen wir auch dafür, dass es
einen europäischen Verteilungsschlüssel gibt.
({6})
Das ist selbstverständlich. Es muss eine größere europäische Solidarität geben.
({7})
Man kann sich in Europa nicht immer nur das heraussuchen, wovon man etwas hat und profitiert, sondern
man muss auch die Lasten teilen. Es wäre sogar gut,
wenn wir Flüchtlinge nicht als Lasten begreifen würden;
denn die Bevölkerung unseres Kontinents altert und
schrumpft. Wenn Menschen zu uns kommen, die einen
großen Lebenshunger haben, die sich mit ihren Familien
ein neues Leben aufbauen wollen und die Kompetenzen
besitzen, die vielleicht hier oder dort gebraucht werden,
dann ist das auch eine Chance für unseren Kontinent,
und diese Chance müssen wir auch bestmöglich nutzen.
({8})
Einen Punkt will ich noch verstärkt betonen, nachdem
ich für den Rückweg von Italien diese Zeitschrift, den
aktuellen L‘Espresso, mitgenommen habe.
({9})
- Ja, so heißt sie. Das hat aber einen sehr ernsten Hintergrund, weil sie eine Fotoserie von Menschen enthält, die
sich auf Flüchtlingsbooten auf dem Meer befinden. - Ich
muss wirklich klar sagen: Ich bitte alle in diesem Haus
darum, hier kein Aber oder irgendwelche anderen Relativierungen zu gebrauchen, wenn es um Schleuser und
Schlepper geht, sondern mit uns gemeinsam dafür zu
kämpfen, dass wir diesen Verbrechern das Handwerk legen. Das steht auf der Tagesordnung.
({10})
Sie können sich die Bilder in dieser Zeitschrift anschauen. Die Menschen haben nichts am Leibe, das
Holzboot geht unter, und das Schlauchboot nebenan entfernt sich immer weiter. Es hatte nicht genügend Platz
für alle Menschen und ist gar nicht mehr für alle erreichbar. - Die Menschen werden von schlimmsten Verbrechern ins Elend und in den Tod gestürzt. Denen müssen
wir selbstverständlich das Handwerk legen. Das ist eine
ganz zentrale Aufgabe,
({11})
und hier darf es wirklich keine Relativierungen geben,
zu denen es in diesem Hause immer wieder kommt.
Vielen Dank.
({12})
Vielen Dank. - Jetzt hat Andrea Lindholz, CDU/
CSU-Fraktion, das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Der Anlass dieser Debatte berührt
uns alle, und das Kernanliegen der beiden Anträge halte
ich auch für berechtigt.
Natürlich darf Europa nicht tatenlos zusehen, wenn
Menschen auf dem Mittelmeer ertrinken. Europa sieht
auch nicht tatenlos zu. Europäische Marinesoldaten überwachen in diesem Moment ein gewaltiges Gebiet vor der
nordafrikanischen Küste und haben schon Tausende
Menschenleben gerettet. Ihr Einsatz verdient unsere
höchste Anerkennung.
Genauso müssen wir auch den Besatzungen der Handelsschiffe und den europäischen Grenzschutzbeamten
danken, die im Rahmen der Frontex-Operation Triton
ebenfalls viele Tausend Migranten aus Seenot gerettet
haben. Das zeigt auch, wie ernst Europa seine humanitäre Verpflichtung gegenüber den Bootsflüchtlingen
nimmt, auch wenn es nie genug sein kann. Trotzdem
halte ich die meisten Forderungen in den Anträgen für
überholt und teilweise auch für nicht zu Ende gedacht.
Fangen wir mit dem Antrag der Grünen an. Sie fordern eine Rettungsmission auf dem Niveau der alten italienischen Mission Mare Nostrum. Mit der Rettungsmission Mare Sicuro der italienischen Marine gibt es das
längst. Im Gegensatz zu Mare Nostrum wird diese
Mission auf bilateraler Ebene von zwei deutschen
Marineschiffen, einem irischen und einem britischen
Marineschiff unterstützt. Die Mittel für Frontex wurden
verdreifacht, und das Einsatzgebiet der Operation Triton
wurde stark ausgeweitet. Frontex überwacht jetzt nicht
nur in Küstennähe, sondern ein Gebiet, das 250 Kilometer auf das offene Meer reicht.
Auch Ihre Forderung, die Bundesregierung sollte
noch mehr Aufnahmeplätze für schutzbedürftige Flüchtlinge in Europa fordern, ist erfüllt. Die Bundesregierung
fordert das seit Monaten, sogar seit Jahren. Sie setzt sich
nachhaltig dafür ein, dass wir ein gesamteuropäisches
Aufnahmeprogramm bekommen. Wir alle mahnen das in
jeder Rede hier an. Wir alle sind uns einig: Europa darf
keine Einbahnstraße sein. Ich möchte ausdrücklich daran
anschließen. Wir brauchen eine gesamteuropäische Verantwortung, und wir brauchen auch mehr Aufnahme von
Flüchtlingen in ganz Europa. Aber sagen Sie mir doch
bitte, mit welchen Mitteln wir das so umsetzen sollen,
dass es auch gelingt. Wir sind in gewissem Maße auf
Freiwilligkeit angewiesen. Es gibt keine Androhung von
unmittelbarem Zwang oder Ähnlichem.
({0})
Insofern sind wir hier auf die diplomatischen Kanäle angewiesen. Ich bin mir sicher, Sie alle werden in Ihren
Parteien auf allen Ebenen, vielleicht auch länderübergreifend, dafür werben, dass uns das zeitnah gelingt.
Der UN-Flüchtlingskommissar hat die deutsche Asylpolitik als Vorbild für ganz Europa bezeichnet. Wir haben längst drei Sonderkontingente für syrische Kriegsflüchtlinge aufgenommen. Ja, angesichts des Leides
kann man sagen, dass es nie genug ist. Ich will aber an
dieser Stelle auch sagen - ich spreche hier ausdrücklich
Herrn Trittin an -: Etwa 11 Millionen Syrier befinden
sich auf der Flucht, 4 Millionen in den Nachbarstaaten
und 6,5 Millionen in Syrien. Ich spreche nur Syrien an.
Dann sagen Sie mir bitte, wie man dieses Problem mit
wie vielen Aufnahmeprogrammen hier lösen will.
Deshalb ist es richtig, dass wir - ich höre das immer
wieder - unseren Fokus auf die Hilfe vor Ort richten
müssen. Nur wenn wir die Fluchtursachen bekämpfen
und nur wenn wir die Krisenstaaten stabilisieren, kann
uns wirklich die Linderung von Leid gelingen. Es ist seit
Jahren das zentrale Ziel der Außen- und Entwicklungspolitik dieser Bundesregierung, unseren Fokus auf die
Hilfe vor Ort zu richten. Das halte ich angesichts von
über 50 Millionen Menschen, die sich auf der Flucht befinden, für den richtigen Weg.
Ich möchte noch auf eine Forderung der Linken eingehen. Sie fordern in Ihrem Antrag die Auflösung von
Frontex. Wenn wir Frontex heute auflösen würden, dann
würden wir nicht nur die Sicherheit der Menschen in Europa gefährden, sondern auch das Leben der Migranten
auf dem Mittelmeer. Würde man diese Forderung umsetzen, hätten Schmuggler, die organisierte Kriminalität
und auch IS freie Bahn. Europa würde seine Kontrolle
über die Migrationsströme verlieren. Dadurch würde
auch die solidarische Lastenverteilung für den europäischen Grenzschutz abgeschafft werden. Sie würden damit auch das Leben der vielen Menschen gefährden, die
aktuell auf dem Mittelmeer gerettet werden.
({1})
Ein Seenotrettungsdienst, wie Sie ihn fordern, wäre
kein Ersatz für Frontex. Denn Frontex schützt nicht nur
unsere Grenzen, sondern rettet auch im Notfall. Frontex
leistet einen wichtigen Beitrag zur Aufklärung und zur
Bekämpfung der kriminellen Schleusernetzwerke. Natürlich müssen wir diese Schleusernetzwerke - ich sage
das an dieser Stelle - mit allen möglichen und uns zur
Verfügung stehenden Mitteln bekämpfen. Wir dürfen
diese Schleuserkriminalität nicht länger zulassen. Wir
müssen dem kriminellen Treiben ein Ende bereiten, soweit uns das möglich ist.
({2})
Ich habe vorhin gehört, man solle das ganze Mittelmeer überwachen. Ich frage mich, ob Sie einmal geschaut haben, wie groß das Mittelmeer ist. Das Mittelmeer hat 2,5 Millionen Quadratkilometer. Erklären Sie
mir einmal, Frau Jelpke, in einer Ihrer nächsten Reden,
wie Sie das bewerkstelligen wollen. Wir können die
Flüchtlingskrisen nur in den Herkunftsländern lösen. Die
Anträge sind, wie ich schon sagte, teilweise überholt und
nicht bis zum Ende gedacht. Gehen Sie doch auch einmal darauf ein, was wir mit den vielen Menschen machen wollen, die sich innerhalb ihrer Länder auf der
Flucht befinden. Auch dafür müssen wir Lösungen finden. Die Lösung kann nicht sein, unbegrenzt eine Brücke nach Europa zu bauen, so sehr man das auch sympathisch, menschlich und human finden kann. Aber es ist
keine Lösung für über 50 Millionen Menschen auf der
Flucht.
Vielen Dank.
({3})
Danke schön. - Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 18/4695 und 18/4838 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung angekommen.
Ich berufe die nächste Sitzung des Bundestages auf
Mittwoch, den 17. Juni 2015, 13 Uhr, ein.
Ich wünsche Ihnen jetzt allen ein hoffentlich nicht so
arbeitsreiches und vor allen Dingen sonniges Wochenende.
Die Sitzung ist geschlossen.