Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Nehmen Sie bitte Platz. Die Sitzung ist eröffnet.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
begrüße Sie alle herzlich. Ich möchte Sie zu Beginn unserer Sitzung davon in Kenntnis setzen, dass in den vergangenen Tagen der Bundesminister Dr. Thomas de
Maizière und die Kollegin Dr. Valerie Wilms ihren
60. Geburtstag sowie der Kollege Tom Koenigs seinen
70. Geburtstag gefeiert haben. Allen gelten unsere besonders guten Wünsche.
({0})
Die Kollegin Priska Hinz hat mit Wirkung vom
24. Januar auf ihre Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag verzichtet. Für sie ist der Kollege Dr. Wolfgang
Strengmann-Kuhn nachgerückt, den ich herzlich hier
begrüße und dem ich gute Zusammenarbeit in einem
Hause wünsche, das ihm ja vertraut ist.
({1})
Gemäß § 93 b Abs. 8 unserer Geschäftsordnung sind
auf Vorschlag der Fraktionen deutsche Mitglieder des
Europäischen Parlaments zu berufen, die an den Sitzungen des Ausschusses für die Angelegenheiten der
Europäischen Union teilnehmen können. Anzahl und
Verteilung sind nicht vorgeschrieben, sondern müssen
nach Wahlen zum Europaparlament oder zum Deutschen
Bundestag neu festgelegt werden. Die Fraktionen haben
sich auf insgesamt 14 mitwirkungsberechtigte Mitglieder des Europäischen Parlaments verständigt. Davon
entfallen auf die CDU/CSU 7 Mitglieder, auf die SPD 4,
auf Bündnis 90/Die Grünen 2 Mitglieder und auf die
Linke 1 Mitglied. Sind Sie damit einverstanden? - Das
ist offensichtlich der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Wir müssen vor Eintritt in die Tagesordnung noch
zwei Wahlen durchführen.
Die SPD-Fraktion schlägt vor, als Vertreter der Bundesrepublik Deutschland zur Parlamentarischen Versammlung des Europarates für den ausgeschiedenen
Kollegen Christoph Strässer als ordentliches Mitglied
den Kollegen Josip Juratovic und als dessen Nachfolgerin als stellvertretendes Mitglied die Kollegin
Mechthild Rawert zu wählen. Sind Sie auch damit einverstanden? - Das ist offenkundig der Fall. Dann sind
die beiden genannten Kollegen als ordentliches Mitglied
und als stellvertretendes Mitglied der Parlamentarischen
Versammlung gewählt.
Des Weiteren schlägt wiederum die SPD-Fraktion
vor, als Nachfolgerin für die Kollegin Caren Marks die
Kollegin Elvira Drobinski-Weiß als stellvertretendes
Mitglied des Verwaltungsrates des Deutsch-Französischen Jugendwerks zu wählen. Darf ich auch hier Ihr
Einvernehmen damit feststellen? - Dann ist die Kollegin
hiermit gewählt.
Schließlich gibt es eine interfraktionelle Vereinbarung, am morgigen Freitag als letzten Tagesordnungspunkt, also nach Ende unserer Aussprache zur Regierungserklärung, eine Debatte zur aktuellen Situation
in der Ukraine mit einer Debattendauer von 25 Minuten
aufzurufen. - Auch hierzu höre ich keinen Widerspruch.
Dann ist das so beschlossen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe nun wieder
den Tagesordnungspunkt 1 auf:
Regierungserklärung durch die Bundeskanzlerin({2})
Ich erinnere daran, dass wir gestern für die heutige
Aussprache insgesamt 10 Stunden und 17 Minuten beschlossen haben.
Wir beginnen mit dem Bereich Wirtschaft und
Energie. Ich vermute einmal, dass die Aussprache vom
Minister für Wirtschaft und Energie, Sigmar Gabriel, eröffnet wird, dem ich hiermit das Wort erteile.
({3})
Guten Morgen, Herr Präsident! Meine Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin der
Bundeskanzlerin sehr dankbar, dass sie gestern die soziale Marktwirtschaft in den Mittelpunkt ihrer Regierungserklärung gestellt hat. Denn sie ist seit Jahrzehnten
das Erfolgsmodell für die wirtschaftliche Entwicklung
unseres Landes. Immer nur dann, wenn unser Land dieses Modell vernachlässigt hat, wenn wir dachten, wir
müssten eine angeblich neue soziale Marktwirtschaft erfinden, mit möglichst unregulierten Märkten, einseitiger
Orientierung am Shareholder-Value und vollständiger
Privatisierung aller öffentlichen Güter und der Daseinsvorsorge, geriet das Land in die Schieflage.
({0})
Auch im Zeitalter der Globalisierung ist die Verbindung von nachhaltigem wirtschaftlichen Wachstum mit
sozialem Aufstieg und sozialer Sicherheit und - ich füge
hinzu - mit ökologischer Verantwortung das Erfolgsmodell für unser Land und auch für Europa. In diesem Sinn
ist das Wirtschaftsressort nicht für die bloße Durchleitung ökonomischer Interessen in die Bundesregierung
zuständig. Vielmehr ist Wirtschaftspolitik im Sinne der
Marktwirtschaft immer auch Gesellschaftspolitik. Das
Bundeswirtschaftsministerium versteht sich deshalb
nicht nur als Interessenvertretung der deutschen Wirtschaft, sondern auch und vor allem als Partner für alle,
die sich an der Weiterentwicklung unserer sozialen
Marktwirtschaft beteiligen: Arbeitgeber, die Gewerkschaften, Wirtschafts- wie Umwelt- und Sozialverbände,
Ökonomen wie Sozial- und Kulturwissenschaftler.
Die Bundeskanzlerin hat gestern zu Recht auf die
wirtschaftliche Stärke unseres Landes und darauf hingewiesen, dass vor allen Dingen flexible und innovative
Unternehmer und hochqualifizierte Beschäftigte immer
wieder, jeden Tag von neuem, die Grundlage für diesen
wirtschaftlichen Erfolg legen. Für diese Leistungsfähigkeit der Unternehmerinnen und Unternehmer zu sorgen
und den Beschäftigten auch in Zukunft die richtigen
Rahmenbedingungen zu bieten, ist die vorrangige Aufgabe der deutschen Wirtschaftspolitik.
Wenn wir jetzt aus guten Gründen, nämlich um mehr
Fairness auf dem Arbeitsmarkt und bessere Teilhabe aller zu erreichen, Mindestlöhne durchsetzen, Leih- und
Zeitarbeit und Werksverträge regulieren, mehr Geld für
Pflege und Rente zur Verfügung stellen, dann stärkt dies
das Soziale in unserer Marktwirtschaft. Die damit verbundenen Belastungen für die deutsche Wirtschaft halten wir für angemessen und vertretbar. Aber trotzdem
darf man nicht verkennen, dass es sich um Belastungen
handelt. Umso wichtiger ist es, an anderer Stelle nach
Entlastungen zu suchen, zum Beispiel beim Dauerthema
Entbürokratisierung, und vor allem in der Energiepolitik
für Planbarkeit, Berechenbarkeit und Kostendämpfung
zu sorgen.
({1})
Meine Damen und Herren, zugleich darf uns die gute
wirtschaftliche Entwicklung nicht allzu sehr beruhigen.
Die Herausforderungen der kommenden Jahre sind groß.
Deutschland hat nach wie vor eine zu geringe Investitionsquote, und zwar bei privaten und öffentlichen Investitionen. Es ist gut, dass der Koalitionsvertrag vorsieht, dass wir vor allem in die Verkehrsinfrastruktur, im
Ressort des Kollegen Dobrindt, 5 Milliarden Euro mehr
investieren werden und übrigens auch die Städte und Gemeinden finanziell entlasten, denn zwei Drittel der Investitionstätigkeit der öffentlichen Hand findet in den
Kommunen statt.
({2})
Aber klar ist auch: Wir werden weitere Instrumente, vor
allem zur Erhöhung der privaten Investitionsquote in unserem Land, entwickeln müssen.
Der Fachkräftemangel fordert uns heraus. Vor allem
kleine und mittlere Unternehmen geraten dadurch unter
Druck.
Industrie und verarbeitendes Gewerbe brauchen die Investitionssicherheit und die Rahmenbedingungen, die
diese Wirtschaftszweige in Deutschland benötigen, aber
selbst immer mehr vermissen. Waren es vor einigen Jahren noch Lohn- und Sozialkosten, die den internationalen
Wettbewerb bestimmt haben, so sind es heute Rohstoffund Energiekosten und übrigens auch ein gesellschaftliches Klima, in dem industrielle Produktion als das begriffen wird, was sie ist, nämlich die Grundlage für unseren Wohlstand und nicht ein lästiges Anhängsel einer
Dienstleistungsgesellschaft, das man möglichst schnell
loswerden will.
({3})
Wir werden kein Land für Forschung und Entwicklung
und auch kein Land für Dienstleistungen sein, wenn wir
nicht allem voran ein erfolgreiches Industrieland bleiben. Im Gegenteil: Wir müssen die Chance nutzen, die
Ergebnisse von Forschung und Entwicklung wieder in
der Produktion, im verarbeitenden Gewerbe und in der
Industrie in Deutschland umzusetzen.
({4})
Es gibt für die Herausforderungen ein schönes Beispiel: Im Bereich der Elektromobilität - ein großes
Thema in unserer Gesellschaft - dürfen wir nicht nur das
Ziel haben, die Antriebstechnik bei uns zu entwickeln,
sondern wir müssen auch versuchen, das zurückzuholen,
was in Deutschland einmal eine Leitindustrie gewesen
ist: die Batterietechnik. Sie ist in den 70er-Jahren abgewandert. Jetzt haben wir die Chance, sie auch in die Produktion zurückzuholen. Das muss letztendlich auch ein
Ziel unserer gemeinsamen Anstrengungen sein, liebe
Kolleginnen und Kollegen.
({5})
Natürlich geht das alles nur, wenn sich Europa wieder
stabiler entwickelt; denn unser Hauptexportmarkt bleibt
Europa. Deshalb ist es richtig, wenn wir in die europäische Zukunft investieren; denn wir investieren damit immer auch in unsere eigene Zukunft.
Der Kollege Gysi ist nicht anwesend. Weil er mich
gestern direkt angesprochen hat, wollte ich ihm heute
antworten. Er hat sich gegen einen Vorwurf gegenüber
der Europapolitik seiner Partei gewehrt. Vielleicht richtet es ihm jemand aus.
({6})
Ich will doch noch einmal begründen, warum ich das gemacht habe. Hören Sie einmal genau zu.
Wenn eine Ihrer Repräsentantinnen öffentlich erklärt:
„… die EU ist auch ein Hebel zur Zerstörung von Demokratie“, dann allerdings muss ich sagen: Mit links hat das
nichts zu tun. Das ist rechts außen.
({7})
Für mich ist links immer Aufklärung, Frau Kollegin,
nicht Demagogie.
({8})
Was Sie machen, ist nicht nur wirtschaftspolitisch falsch,
sondern es ist vor allen Dingen politisch rechts außen.
({9})
Es ist kein Zufall, dass Sie der AfD vorwerfen, sie würde
sich bei Ihrer Ideologie bedienen.
({10})
Dass das Frau Wagenknecht auch noch offen zugibt,
zeigt, auf welchem Weg Sie europapolitisch sind.
({11})
Herr Minister, lassen Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Jan van Aken zu?
Selbstverständlich.
Schönen guten Morgen, Herr Gabriel!
Guten Morgen!
Da Sie gerade das Wort „Aufklärung“ in den Mund
nehmen: Sie haben Ihren ersten Teil der Regierungserklärung gestern dem Stern gegeben. Ich habe ihn mit
Interesse gelesen. Zum Thema „Aufklärung“ im Bereich
der Waffenexporte haben Sie gesagt, Sie selbst stehen
für sehr viel mehr Aufklärung, sehr viel mehr Transparenz, keine Geheimhaltung. Ich finde das gut. Ich muss
nur feststellen, dass ich - ebenfalls gestern - aus Ihrem
Hause von Herrn Beckmeyer ein Schreiben bekommen
habe, wo mir Aufklärung und Transparenz bei den Waffenexporten verweigert wurde. Er schreibt, Zahlen zu
den Rüstungsexporten im letzten Jahr bekomme ich
nicht. Ich möchte Sie daran erinnern: Die gleichen Zahlen habe ich im letzten Jahr von einem Herrn Rösler
- Sie werden sich erinnern: FDP - bekommen. Das
heißt, unter einem Herrn Rösler gab es eine gewisse
Transparenz bei den Waffenexporten. Jetzt sind Sie im
Amt. Die erste Amtshandlung ist, dass ich diese Zahlen
nicht mehr bekomme. Ich gehe davon aus, Herr Gabriel,
dass Sie von dem Vorgang nichts wissen. Ich würde
schon gerne wissen: Wer ist der echte Herr Gabriel? Ist
es der, der mehr Transparenz bei Waffenexporten einfordert, oder ist es der Gabriel, dessen Haus mir genau diese
Transparenz verweigert?
({0})
Die ganz konkrete Frage an Sie, weil Sie den Begriff
„Aufklärung“ in den Raum werfen: Sind Sie bereit, hier
für Aufklärung zu sorgen, das heißt, Ihr Haus noch heute
anzuweisen, diese Zahlen, die ganz einfach verfügbar
sind, zur Verfügung zu stellen? Ich habe mit dem Präsidenten des Bundesausfuhramtes gesprochen. Er sagt, im
Handumdrehen hat er die Zahlen bereit.
Ich glaube, die Frage ist jetzt hinreichend deutlich geworden.
({0})
Sind Sie bereit, das Haus anzuweisen,
({0})
diese Zahlen zu veröffentlichen und sie heute noch zur
Verfügung zu stellen? - Danke schön.
Ich bin mir nicht sicher, was dies mit meinem bisherigen Redebeitrag zu tun hat, aber ich will Ihnen gerne
antworten.
({0})
Erstens. Sie bekommen immer den Gabriel, der vor
Ihnen steht.
({1})
Zweitens. Ich kann Ihnen auch noch vorlesen, was
Frau Zimmer über die Unklarheit der Linkspartei erklärt.
Sie ist Ihre Vorsitzende im Europaparlament.
({2})
- Die Frage war, ob man weiß, mit wem man es zu tun
hat. Mit den Antworten ist es so wie mit den Fragen. Immer der, der gerade dran ist, ist verantwortlich für das,
was er sagt.
({3})
Ich erspare Ihnen einmal, die Vorwürfe Ihrer eigenen
Vorsitzenden im Europäischen Parlament gegenüber der
Unklarheit Ihrer Politik vorzulesen.
Die Antwort zur Frage der Waffenexporte ist ganz
einfach:
Erstens. Ich bin für mehr Transparenz, als derzeit
rechtlich möglich ist. Dafür hat die Koalition eine Vereinbarung getroffen. Ich gehe davon aus, dass sie umgesetzt wird.
Zweitens. Immer auf der geltenden Rechtslage bekommen Sie die Auskünfte, die wir geben können. Geben Sie mir nachher Ihre Frage. Ich kläre, ob Ihre Aussagen richtig sind. Ich gehe davon aus, dass dies so ist.
Wenn das, was Sie sagen, stimmt, dann bekommen Sie
jede Information, die zu erteilen ich bei der geltenden
Rechtslage in der Lage bin. Ich hoffe auf schnelle Umsetzung der Vereinbarung der Koalition. Dann erhalten
Sie die Information auf einer aktuelleren Rechtslage. Ich
glaube, da werden wir uns schnell einig.
({4})
Meine Damen und Herren, die Wirtschaftspolitik der
Regierung wird natürlich nicht nur in einem Ressort gemacht. Wir werden auf eine politische Kultur des Zusammenspiels achten. Gute Rahmenbedingungen für die
wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland zu schaffen,
geht nicht allein in einem Ministerium. Es ist eine Gemeinschaftsaufgabe. Wenn wir über den Fachkräftemangel, die Fachkräfteoffensive und den Pakt für Ausbildung reden, dann geht es um die Zusammenarbeit mit
dem Arbeits- und dem Bildungsministerium sowie vermutlich auch mit anderen Häusern, die an dem Thema
Interesse haben.
Das gilt für die digitale Agenda noch viel mehr. Sie
hat eine hohe Priorität bei der Bundesregierung. Dort
müssen Innen-, Infrastruktur- und Wirtschaftsministerium zusammenarbeiten. Deswegen bin ich froh, dass
der Kollege Dobrindt die digitale Infrastruktur dieses
Landes voranbringen will. Was immer wir tun können,
um ihn dabei zu unterstützen, sollten wir miteinander
tun, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({5})
- Ich weiß gar nicht, warum das so bemerkenswert sein
soll. Können Sie das verstehen?
({6})
Es geht uns darum, dass auch diese technologische
Revolution am Ende zu einem Mehr an Freiheit, an Demokratie und auch zu einem Mehr an Solidarität führen
kann und nicht, wie wir derzeit angesichts der Abhöraffären erleben, zum Gegenteil führt.
Klar ist aber auch, dass ein Thema die Arbeit des
Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie in besonderer Weise bestimmen wird: die Energiewende. Die
Reform des EEG, die Reform des Emissionshandels in
Europa und damit verbunden auch ein besserer Klimaschutz sowie im Übrigen eine Reduktion der hohen
CO2-Emissionen in Deutschland aus den traditionellen
Kraftwerken, die Sicherung der Stromversorgung, die
Klärung der Rolle und Integration des konventionellen
Kraftwerkparks, die Organisation des Strukturwandels in
den klassischen Energieversorgungsunternehmen, die
Sicherung der Stadtwerkestruktur, die Anpassung des
Netzausbaus: Das sind nur einige der wichtigsten Stichworte, die den Aufgabenbestand der Energiewende beschreiben.
Was bei uns unter der Überschrift Energiewende debattiert wird, hat nach wie vor das Potenzial zu einem
großen wirtschaftlichen, ökologischen und auch sozialen
Erfolg. Aber es birgt eben auch das Risiko einer dramatischen Deindustrialisierung, wenn wir die Kosten für
Wirtschaft und Industrie nicht deutlich verändern.
({7})
- Wenn Sie glauben, dass das ein Pappkamerad ist, dann
lade ich Sie persönlich zu einem Stahlwerksbesuch ein
oder zu einem Besuch in einem anderen Unternehmen.
Da können Sie einmal mit den Verantwortlichen reden.
Mein Vorschlag ist: Halten Sie einmal eine Rede auf einer Betriebsversammlung.
({8})
- Ich wollte eigentlich etwas Freundliches über Bündnis 90/Die Grünen sagen. Machen Sie es mir nicht so
schwer.
({9})
Ich kann nur jedem raten, sich keine Illusionen über
die Herausforderung zu machen, vor der wir stehen. Die
Energiewende wurde unter der Bundesregierung von
SPD und Grünen unter dem damaligen Bundeskanzler
Gerhard Schröder eingeleitet. Die Grünen haben sich dabei um die ökologische Erneuerung der Industriegesellschaft - und nicht um deren Abschaffung - große Verdienste erworben. Das steht außer Frage.
({10})
Es sind in unserem Land insgesamt 300 000 neue
Jobs entstanden. Darüber darf man auch öffentlich reden. In der Kernenergie waren es übrigens zu Spitzenzeiten ganze 30 000. Das Zehnfache haben wir inzwischen im Bereich der erneuerbaren Energien. Die
erneuerbaren Energien sind von einer Nischentechnologie auf dem Weg zur bestimmenden Technologie. Nicht
an ihrem Misserfolg, sondern an ihrem Erfolg könnte die
Energiewende nun scheitern, wenn wir die Bedingungen
zur Förderung einer Nischentechnologie einfach nur linear fortschreiben in das Zeitalter, in dem sie bestimmende Technologie wird.
({11})
Dass wir jetzt - das ist der Grund, warum ich sage,
die ökonomische Belastung für die Wirtschaft habe ihre
Grenzen erreicht - 22 bis 24 Milliarden Euro jedes Jahr
Verbrauchern und Wirtschaft entziehen zur Förderung
einer Technologie, ist richtig und notwendig, aber es ist
auch eine Belastung, die kein anderes Land in Europa zu
tragen bereit wäre. Eines unserer Ziele war, dass uns andere folgen. Wir werden dieses Ziel nicht erreichen,
wenn wir die Kostendynamik nicht durchbrechen. Dann
hätten wir, auf Deutsch gesagt, mit Zitronen gehandelt.
Reden Sie heute einmal mit denen, die noch vor einigen Jahren mit auf unserer Seite waren, zum Beispiel
Südeuropa. In Osteuropa war es immer schon schwierig,
aber in Südeuropa finden Sie inzwischen fast niemanden
mehr, der bereit ist, unserem Beispiel zu folgen. Wir
müssen zeigen, dass eine erfolgreiche Industriegesellschaft mit der Energiewende vereinbar ist, sonst wird
niemand beim Klimaschutz auf diesem Weg mitmachen.
({12})
Auch im eigenen Land ist das Durchbrechen der Kostendynamik und übrigens auch die Sicherheit der Versorgung die zentrale Aufgabe, um die Zustimmung zur
Energiewende zu behalten. Ein einziger Blackout dadurch, dass eine Strombrücke nicht existiert, wir aber ein
Kernkraftwerk in Süddeutschland abschalten: Da brauche ich keine Umfrage zu machen, um zu wissen, was
hinterher die Zustimmung zur Energiewende betrifft.
Ich danke deswegen ausdrücklich den Kolleginnen
und Kollegen von Bündnis 90/Die Grünen aus Bund und
Ländern für ihre Kritik und ihre Anregungen. Ich weiß,
manches geht Ihnen zu weit, manches geht Ihnen nicht
weit genug. Aber ich empfinde die Kritik als konstruktiv,
und ich will mich mit Ihren Vorschlägen ebenso konstruktiv auseinandersetzen.
Wenn ich Ihre Papiere richtig lese, dann stelle ich fest,
dass wir in vielem sogar übereinstimmen. In Ihrer „Energiewendeagenda 2020“ vom 17. Januar dieses Jahres
finden sich viele Elemente, die auch im Eckpunktepapier
enthalten sind: Reform der besonderen Ausgleichsregelung, Beibehaltung des Einspeisevorrangs, Direktvermarktung, Ausbaukorridor, Begrenzung der Biomasse um nur einiges zu nennen.
Da steht zum Beispiel, dass Sie für eine Förderung
von Offshorewindenergie bis 2020 von 6 bis 8 Gigawatt
sind. Bei uns im Programm stehen 6,5 Gigawatt. Da
scheinen wir uns ja einig zu sein; die Kolleginnen und
Kollegen der Linkspartei haben das gestern kritisiert. Sie
schreiben in Ihrem Papier:
Die einseitige Direktvermarktung an der Strombörse soll künftig durch die Integration erneuerbarer Energien auch in den Regelenergie- und Endkundenmarkt ergänzt werden.
Nichts anderes schlagen wir vor.
Ich glaube, das ist eine gute Basis für die Diskussion.
Lassen Sie mich auf all diejenigen eingehen, die das
Ende der erneuerbaren Energien am Beispiel von
Onshorewindenergie an die Wand malen.
({13})
- Ja, ich rede auch über Kritik aus der SPD, na klar. Wissen Sie, ich finde, der Erfolg der Energiewende lässt sich
auch daran messen, dass inzwischen in allen Teilen der
Gesellschaft Leute aufstehen und sagen: Daran dürft ihr
nichts verändern. Sie machen das, weil sie nämlich merken, wie wichtig die Energiewende für sie selbst geworden ist. Dass alle ihre Interessen verteidigen, ist normal.
Aber ich wiederhole: Die Summe der Einzelinteressen
ist nicht das Gemeinwohlinteresse. Das ist der Unterschied.
({14})
Korridore von 2,5 Gigawatt Onshorewindenergie für
die nächsten Jahre heißt: Wir sind am oberen Rand dessen, was wir in den letzten zehn Jahren überhaupt zur
Verfügung hatten. In zehn Jahren lag der Ausbau der
Windenergiegewinnung an Land nur ein einziges Mal
oberhalb von 2,5 Gigawatt, sonst immer darunter. Wie
kann man eigentlich öffentlich erklären, wir würden die
Onshorewindenergie an die Wand fahren? Da endet dann
eine sachliche Debatte.
({15})
- Ich kann Ihnen aus jeder Partei einen benennen, der
das öffentlich erklärt. Das sind alles nette Leute, alle
Verteidiger der Energiewende.
({16})
- Ja, glauben Sie doch nicht, dass es bei Ihnen keine
gibt! Sie waren doch die Ersten. Wir hatten das Eckpunktepapier noch gar nicht vorgelegt, da haben Sie es
schon kritisiert.
({17})
Von daher: Lassen Sie uns die Debatte so sachlich führen
wie mit Ihren Länderenergieministern. Ich habe keine
Sorge, dass wir damit zum Erfolg kommen.
({18})
Von großer Bedeutung ist, dass wir unser Vorhaben
europarechtskompatibel gestalten. Man kann lange darüber streiten, ob das, was die Europäische Union jetzt
macht, eigentlich mit den Verträgen übereinstimmt. Im
Kern versucht sie, sich über das Wettbewerbsrecht einen
Zugang zur nationalen Energiepolitik zu verschaffen.
Das kann man lange ausfechten, aber es nützt nichts: Wir
müssen uns einig werden, sonst sind wir im Herbst dieses Jahres nicht in der Lage, ein notifizierungsfähiges
EEG in Kraft zu setzen. Das würde übrigens auch bedeuten, dass die besondere Ausgleichsregelung für die Entlastung der deutschen Industrie nicht in Kraft gesetzt
würde. Zum 1. Januar 2015 müsste sie die volle EEGUmlage zahlen. Ich glaube, niemand von uns hat die Illusion, dass wir dann unsere Politik fortsetzen könnten.
Es ist gut, wenn wir mit der EU-Kommission den Versuch unternehmen, sowohl bei der besonderen Ausgleichsregelung als auch bei der Notifizierung des EEG
Schritt für Schritt voranzukommen. Das muss dazu führen, dass wir noch vor der Sommerpause in Deutschland
ein neues EEG in Kraft setzen; denn sonst wird es
schwierig.
({19})
Das heißt auch, dass wir mit den Bundesländern einen
gemeinsamen Weg finden müssen. Mein Interesse jedenfalls ist das. Ich glaube, wir haben eine Menge zu tun,
um das zu schaffen.
Klar ist auch, dass die Energiewende nicht zum Nulltarif zu haben ist. Ich kann und werde niemandem sinkende Strompreise versprechen, aber wir können die
Kostendynamik drastisch brechen. Das ist ein Ziel, das
erreichbar ist.
({20})
Der Übergang von der Anschubfinanzierung der
Energiewende zu einer marktwirtschaftlich funktionierenden Energieerzeugung bedeutet für viele, dass sie lieb
gewonnene Sicherheiten verlieren werden und ihr unternehmerisches Handeln verändern müssen. Das ist aber
ganz normal in einer Marktwirtschaft. Das wird die Bundesregierung zum Maßstab ihrer Entscheidungen machen. Das Gemeinwohl erfordert in diesem Fall auch
schwierige Entscheidungen. Deshalb wiederhole ich:
Wir werden allen zuhören, wir werden berechtigte Interessen einarbeiten, und wir behaupten auch nicht, dass
wir bereits jetzt alle Fragen geklärt haben; aber am Ende
des Tages kann die Summe der Einzelinteressen nicht
Gegenstand der Politik dieser Bundesregierung sein.
({21})
Meine Damen und Herren, lassen Sie uns gemeinsam
versuchen, dieses für das Land so wichtige Projekt auf
den Weg zu bringen - hier im Haus, in der gesellschaftlichen Debatte, aber am Ende auch mit Entscheidungen,
bei denen wir Mut haben müssen. Ich bin sicher, am
Ende wird es ein Erfolg für die Menschen im Land und
damit auch für die Erneuerung der sozialen Marktwirtschaft auf ökologischem Sektor.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({22})
Nächster Redner ist der Kollege Klaus Ernst für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Herr Minister, ich bin ehrlich: Ich freue mich,
({0})
dass die FDP inzwischen nicht mehr den Wirtschaftsminister stellt. Ich teile diese Freude mit vielen Bürgern
in unserem Lande. Inzwischen gibt es aber auch Besorgnis und Irritation; denn wir erinnern uns, mit welchem
Wahlprogramm, mit welchen wirtschaftspolitischen Forderungen Sie gestartet sind, und wir wissen, was im Koalitionsvertrag davon übrig geblieben ist.
({1})
Ich möchte das an folgenden Punkten verdeutlichen:
Die Kanzlerin hat gestern gesagt: Deutschland geht es
gut, die Wirtschaft wächst. - Da dürfen Sie klatschen.
Das hat sie gesagt. Dass Sie nicht klatschen, zeigt, dass
offensichtlich auch Sie der Meinung sind, dass es
Deutschland nicht automatisch gut geht, wenn es der
Wirtschaft gut geht, wenn wir Wachstum haben. Die
Realität sieht anders aus: Tatsächlich ist es so, dass das
Bruttoinlandsprodukt von 2000 bis 2013 um knapp
15 Prozent gewachsen ist. Toll! Im selben Zeitraum sind
die Löhne - das ist brutto wie netto annähernd gleich um nur knapp 1 Prozent gewachsen. Das bedeutet: Die
Löhne in unserem Land sind von der wirtschaftlichen
Entwicklung völlig abgekoppelt worden. Jetzt frage ich
Sie, Herr Minister - auf diese Frage hätte ich mir eine
Antwort gewünscht -, was Sie dagegen zu tun gedenken.
Glauben Sie wirklich, dass Sie durch einen Mindestlohn
von 8,50 Euro das Wachstum so ankurbeln können, dass
die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer wieder am
wirtschaftlichen Wachstum beteiligt sind?
Schauen wir, wie es Deutschland wirklich geht.
Schauen wir auf die Rentner: Die Renten der langjährig
Versicherten sind von 2000 bis 2012 im Westen real um
19 Prozent gesunken, im Osten um knapp 23 Prozent.
Wir haben eine Situation, in der die Wirtschaft zwar
wächst, die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger von
diesem Wachstum aber nicht profitiert. Das ist im Übrigen nicht nur das Ergebnis der Politik der letzten Regierung, sondern auch der Politik der vorherigen Regierung.
({2})
Sie haben in Ihrem Wahlprogramm eine gerechte Steuerpolitik versprochen. Doch weder in der Regierungserklärung der Kanzlerin gestern noch in Ihrer heutigen
Rede habe ich gehört, dass es dafür notwendig ist, über
die Steuern insbesondere bei denen hinzulangen, die in
den letzten Jahren ganz besonders begünstigt wurden.
Was ist mit einer Einführung einer Vermögensteuer?
Was ist mit einer Erhöhung des Spitzensteuersatzes?
Dies hatten Sie vollmundig angekündigt. Nichts davon
ist übrig geblieben. Von der Entwicklung der Wirtschaft
haben nur die wirklich profitiert - von 2000 bis 2012
plus 32 Prozent -, die ihr Einkommen aus Unternehmertätigkeit und Vermögen beziehen. Der gesamte Zuwachs
der Wirtschaft in den letzten zwölf Jahren kam eindeutig
nur dieser Gruppe zugute. Das haben Sie noch vor der
Wahl kritisiert. Aber bei dem, was die Regierung zu tun
gedenkt, findet sich nichts mehr dazu. Das ist eigentlich
Etikettenschwindel, meine Damen und Herren.
({3})
Gestern hat Frau Merkel gesagt - ich möchte sie zitieren -: „Die soziale Marktwirtschaft ist unser Kompass“.
Sie, Herr Minister, haben sich ebenfalls positiv darauf
bezogen. Sie hat des Weiteren gesagt: „Die soziale
Marktwirtschaft ist unser Kompass, weil ihre Prinzipien
zeitlos gültig sind“.
Jetzt möchte ich einmal zitieren, was einer der Väter
der sozialen Marktwirtschaft, nämlich Ludwig Erhard,
zu solch einer Entwicklung geschrieben hat:
Zu wiederholten Malen habe ich darum erklärt, daß
der so oft geübte grundsätzliche Widerstand der
Arbeitgeber gegenüber Lohnerhöhungen, die dank
einer gesteigerten Ergiebigkeit unserer Volkswirtschaft nicht nur möglich, sondern für die Stabilität
unserer Währung sogar notwendig und sinnvoll
sein können, nicht in das System der Marktwirtschaft paßt.
Was bedeutet das? Das, was bei uns geschieht, die von
der Entwicklung abgekoppelten Löhne bzw. abgekoppelten Einkommen der Massen, passt nicht in die soziale
Marktwirtschaft.
({4})
Ich vermisse jede Initiative dieser Regierung, das grundsätzlich zu ändern.
({5})
Was wäre wichtig? Die Löhne müssten erhöht werden
und die Binnennachfrage müsste gesteigert werden. Der
Mindestlohn, so wie er jetzt ausgestaltet werden soll,
reicht hinten und vorne nicht. Die Lohnbremsen müssten
aus dem entsprechenden Gesetz.
Meine Damen und Herren, ja, das ist auch wichtig für
die Stabilität Europas. Sie haben uns ja gerade noch einmal Europafeindlichkeit vorgeworfen. Glauben Sie
etwa, Herr Minister, dass die deutschen Überschüsse
beim Außenhandel von 2000 bis 2013 in Höhe von
1,6 Billionen Euro ein Beitrag zur Stabilität Europas
sind? Glauben Sie etwa, dass die Überschüsse gegenüber
der EU in Höhe von 1,16 Billionen Euro ein Beitrag zur
Stabilität in der Welt sind? Wie wollen Sie das bitte
schön ändern?
Ich möchte Sie an das Stabilitätsgesetz erinnern. Dort
heißt es in § 1:
Bund und Länder haben bei ihren wirtschafts- und
finanzpolitischen Maßnahmen die Erfordernisse
des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts zu beachten. Die Maßnahmen sind so zu treffen, dass
- das ist ein Punkt unter anderen - ein außenwirtschaftliches Gleichgewicht hergestellt wird. Von einem außenwirtschaftlichen Gleichgewicht sind wir himmelweit
entfernt. Europafeindlich sind die, Herr Minister, die
nicht für ausgeglichene Handelsbilanzen sorgen, sondern
diese durch Lohndumping in der Bundesrepublik
Deutschland verhindern; denn so kann Europa nicht zusammenwachsen, vielmehr wird ein gemeinsames Europa so zerstört. Ich sage mit aller Klarheit, Herr Minister, dass diejenigen europafeindlich sind, die hier nicht
für Änderungen sorgen.
({6})
Gegenwärtig finden Verhandlungen statt - das wissen
wir - über eine Neuregelung der Handelsbeziehungen zu
den Vereinigten Staaten. Herr Minister, Sie haben gerade
gesagt, dass Sie für mehr Transparenz sorgen wollen.
Diese Verhandlungen finden im Geheimen statt. Dort
steht vieles auf dem Spiel, was auch für die Bundesrepublik Deutschland von Bedeutung ist. Es geht letztendlich
sogar darum, im Bereich des Investitionsschutzes eine
Gerichtsbarkeit einzuführen, die unabhängig von den nationalen Gesetzen dafür sorgt, dass sich die Gewinninteressen der Unternehmen durchsetzen können. Das alles
findet hinter verschlossenen Türen statt. Nichts legen Sie
offen. Herr Minister, wenn Sie hier von Transparenz reden, dann wäre der erste Akt, dass Sie sagen, was dort
eigentlich passiert, und dass Sie bereit sind, die deutschen Bürgerinnen und Bürger, auch dieses Parlament,
davon in Kenntnis zu setzen, was genau dort eigentlich
verhandelt wird. Herr Gabriel, das wäre dringend notwendig.
({7})
Zum Schluss, meine Damen und Herren: Herr Minister, ich hoffe, dass sich die Enttäuschung über Ihr Regierungsprogramm vor dem Hintergrund Ihres Wahlprogrammes ein wenig dadurch in Grenzen halten wird,
dass Sie zumindest an den Punkten deutlich nachbessern, die in die richtige Richtung gehen. Bisher bleiben
Sie dort deutlich hinter den Anforderungen zurück. Das
betrifft die Themen Mindestlohn, Leiharbeit und befristete Beschäftigung sowie die Entwicklung der Renten.
Beim Rentenniveau nehmen Sie nichts in Angriff; es
müsste aber deutlich erhöht werden. Herr Minister,
nichts, aber auch gar nichts habe ich eben darüber gehört.
({8})
Das Wort erhält nun der Kollege Michael Fuchs für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! An allererster
Stelle sollte man einmal sagen, dass es Deutschland gutgeht. Wenn man den europäischen Kontext betrachtet,
dann ist eine solche Aussage absolut berechtigt. Gestern
habe ich in einer Statistik gelesen, dass die Jugendarbeitslosigkeitsquote bei uns noch nicht einmal ein Drittel
der unseres direkten Nachbarn Frankreichs beträgt. Bei
uns sind weniger als 8 Prozent der Jugendlichen arbeitslos. Das sind immer noch 8 Prozent zu viel. Wir werden
uns dafür einsetzen, diese Zahl noch zu senken. Aber immerhin: noch nicht einmal ein Drittel der französischen
Jugendarbeitslosigkeitsquote! Von Griechenland, Spanien und Italien will ich jetzt gar nicht reden. Das zeigt,
dass wir auf dem richtigen Weg sind, dass die alte
schwarz-gelbe Regierung auf dem richtigen Weg war.
Wir werden in der neuen Regierung diesen Weg konsequent fortsetzen. Dafür setzen wir uns ein.
Unsere Aufgabe ist es - die Kanzlerin hat das gestern
in ihrer Rede sehr deutlich gemacht -, die soziale Marktwirtschaft so zu gestalten, dass die Wirtschaft die soziale
Marktwirtschaft auch finanzieren kann. Das funktioniert
nicht so, wie mein Vorredner das gerade beschrieben hat.
({0})
Wir haben keine Zeit, uns auf unseren Lorbeeren auszuruhen. Es ist erfreulich, dass wir mehr als 42 Millionen Erwerbstätige haben. Das ist, nebenbei gesagt, ein
Allzeithoch, das es in Deutschland vorher nie gegeben
hat. Wir haben trotzdem noch 3 Millionen Arbeitsuchende, allerdings auch 1,3 Millionen Menschen, die sofort einen Job haben könnten, weil es in Deutschland
1,3 Millionen offene Stellen gibt. Wir müssen darüber
noch mit der Arbeitsagentur sprechen - das wird eine
Aufgabe der Arbeitsministerin sein -, warum es dort
solch einen Mismatch gibt. Das dürfte eigentlich nicht
der Fall sein. Wir müssten es besser schaffen, diese
Leute möglichst schnell in die freien Stellen auf dem Arbeitsmarkt zu integrieren.
Meine Damen und Herren, wir haben auch eine Reihe
von dicken Problemen vor uns. Das fängt beim Fachkräftemangel an und geht mit der Überalterung der Bevölkerung weiter. Es wird zunehmender Wettbewerb
durch Länder auf uns zukommen, mit denen wir bis jetzt
noch nicht so intensiv im Wettbewerb stehen. Das wird
aber passieren. Es gibt auch eine Reihe von Punkten, bei
denen uns die Weltwirtschaft in der nächsten Zeit erhebliche Probleme macht. Das fängt in den USA an. Die
Amerikaner haben Schiefergas- und Schieferölvorkommen als Wettbewerbsinstrument entdeckt, um ihr Land
zu reindustrialisieren. Der Minister hat eben vollkommen zu Recht davon gesprochen, dass es nicht sein kann,
dass wir unser Land aufgrund zu hoher Energiepreise deindustrialisieren. Daran müssen wir gemeinsam arbeiten.
({1})
Lieber Herr Gabriel, ich hätte ja nicht gedacht, dass
ich einmal hier stehe und Sie verteidige.
({2})
Das war für mich nicht wirklich vorstellbar. Aber gut, so
ändern sich die Zeiten, so ändert sich das Leben.
({3})
Ich helfe jetzt mit. Ich verteidige Sie selbstverständlich
auch gegen die Angriffe Ihrer Ministerpräsidenten in den
Ländern.
({4})
Ich kann den Kollegen Albig nicht wirklich verstehen. Schleswig-Holstein verfügt mittlerweile über eine
installierte Leistung von 12 Gigawatt Windenergie. Das
Land selbst verbraucht nicht einmal 3 Gigawatt. Das ist
die Spitzenlast in diesem Land.
({5})
Das ist ein Unverhältnis. Es muss eine Struktur geschaffen werden, um diese zusätzlichen 9 Gigawatt irgendwo
anders hinleiten zu können. Hier gibt es ein großes Problem, weil der Netzausbau mit der Geschwindigkeit, mit
der die Windenergie in den nördlichen Bundesländern
ausgebaut wird, nicht Schritt halten kann. Insofern haben
Sie vollkommen recht mit den Maßnahmen, die Sie ergriffen haben. Ich werde das auch in Rheinland-Pfalz
verteidigen; denn in Rheinland-Pfalz haben wir ja auch
eine Ministerpräsidentin Ihrer Couleur, die Sie ebenfalls
in der gleichen Weise angegriffen hat. Ich halte das nicht
für richtig.
({6})
- Lieber Kollege Heil, ich bin selbstverständlich auch da
beim Herrn Minister und werde meinen bayerischen
Freunden sagen, dass die Maßnahme, den Ausbau der
Biomasseproduktion jährlich nur noch um 100 Megawatt zu steigern, schon die richtige ist.
({7})
Es muss Schluss sein mit der Übermaisung unseres Landes. Die einzigen, die daran Spaß haben, sind die Wildschweine, weil die sich in diesen riesigen Maisanlagen
wunderbar wohlfühlen.
({8})
Aber es ist, glaube ich, nicht die Aufgabe des Deutschen
Bundestages, dafür zu sorgen.
({9})
Meine Damen und Herren, ich begrüße ausdrücklich
die Vorschläge des Ministers und der Bundesregierung
zur Dämpfung der EEG-Kosten. Sie knüpfen an Maßnahmen an, die Peter Altmaier im letzten Jahr eingeleitet
hat, aber leider nicht umsetzen konnte, weil der eine oder
andere damals gedanklich noch nicht so weit war wie
heute. Ich bin Peter Altmaier in diesem Zusammenhang
nach wie vor dankbar.
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, wir geben in diesem Jahr nur für das EEG 24 Milliarden Euro aus. Das
ist ein gewaltiger Kaufkraftverlust, zum Beispiel für Familien.
({10})
Auf eine vierköpfige Familie beispielsweise kommen
durch das EEG in diesem Jahr Kosten von 500 Euro zu.
Herr Krischer, rechnen Sie das mal durch! Das stört Sie
nicht, aber die Familien stört es ganz gewaltig; sie werden es Ihnen nicht danken. Im nächsten Jahr wird das
Ganze noch einmal 1,5 bis 2 Milliarden Euro teurer,
({11})
weil wieder heftig gebaut wurde, allein im letzten Jahr
3,3 Gigawatt Photovoltaik und rund 2,5 Gigawatt Windenergie.
Wenn wir die 26 Milliarden Euro, die im nächsten
Jahr für das EEG ausgegeben werden, einmal mit anderen Etats vergleichen, stellen wir fest: Das ist fast so viel
wie der Etat von Verkehrsminister Dobrindt. Eine
Summe fast in Höhe des Verkehrsetats wird nur für das
EEG ausgegeben. Das zeigt doch ganz deutlich, dass wir
jetzt langsam, aber sicher einen Strich ziehen müssen. So
können wir nicht weitermachen. Deswegen sind die
Maßnahmen, die wir ergriffen haben, richtig, und deswegen wird die Bundesregierung das auch - dafür bin ich
ausgesprochen dankbar - sehr konsequent fortsetzen.
Man muss sogar darüber nachdenken, ob die 3,3 Gigawatt Photovoltaik bzw. die 2,5 Gigawatt Windenergie
nicht eventuell zu viel sind auf dem Ausbaupfad, gemäß
dem wir bis 2025 einen Anteil zwischen 40 und 45 Prozent für die erneuerbaren Energien erreichen wollen. Es
kann durchaus sein, dass der Ausbau viel schneller vorangeht, als wir es erwartet haben; es gab nämlich eine erhebliche Kostendegression bei den Anlagen, sowohl auf
der Seite von Photovoltaikanlagen als auch auf der Seite
der Windanlagen. Deswegen werden wir das sehr genau
beobachten und vergleichen müssen.
In einem Punkt bin ich mit Ihnen nicht einer Meinung. Im Koalitionsvertrag steht klar, dass Vertrauensschutz gilt. Vertrauensschutz muss in meinen Augen
aber nicht nur für Photovoltaik und Windenergie, sondern bitte auch für alle KWK-Anlagen und Eigenstromerzeugungsanlagen der Industrie gelten.
({12})
Da muss der gleiche Vertrauensschutz gelten. Wir haben
die Industrie ja bewusst in die Richtung getrieben, dezentral Eigenstrom zu erzeugen. Dafür darf man sie jetzt
nicht nachträglich bestrafen. Wenn wir etwas ändern,
dann müssen alle gleich behandelt werden,
({13})
dann muss das auch die Photovoltaik und die Windenergie treffen.
({14})
- Die haben keinerlei EEG-Maßnahmen ergriffen, die
sind ja nicht berechtigt; das wissen Sie doch selber.
({15})
Vertrauensschutz muss für alle gelten; das müssen wir
durch entsprechende Maßnahmen sicherstellen. Ich
hoffe, dass wir bei den Verhandlungen über das EEG
eine vernünftige gemeinsame Lösung finden. Ich bin da
ganz optimistisch.
Meine Damen und Herren, eines macht mir massive
Sorgen: Das ist das Verfahren, das die EU wegen der
Beihilfen eröffnet hat. Das ist höchst gefährlich. Machen
wir uns bitte nichts vor: Die Befreiung, die wir den energieintensiven Unternehmen bis jetzt eingeräumt haben,
macht 1,35 Cent pro Kilowattstunde aus. Das heißt, die
EEG-Umlage fiele, wenn es keine Befreiungstatbestände
gäbe, 1,35 Cent niedriger aus. Wir haben aber energieintensive Unternehmen in Deutschland, die enorm viel
Strom brauchen, um produzieren zu können. Man kann
Kupfer nicht ohne Strom herstellen; dazu braucht man
nun einmal ein Paar Elektroden. Dieser Prozess lässt
sich technisch nicht verändern, weil er auf physikalischchemischen Gesetzmäßigkeiten beruht.
Wenn es uns nicht gelingt, diese besondere Ausgleichsregelung in Brüssel zu retten - die, nebenbei gesagt, von Rot-Grün eingeführt wurde -,
({16})
dann werden wir wesentliche Industriezweige verlieren.
Wenn Wertschöpfungsketten einmal unterbrochen sind,
dann kommen sie nie mehr wieder. Meine Damen und
Herren, es muss Ziel dieser Bundesregierung sein - und
es ist Ziel dieser Bundesregierung -, den Industriestandort Deutschland zu stärken und gemeinsam dafür zu sorgen, dass industrielle Arbeitsplätze als Kern unserer
Wirtschaft in Deutschland bestehen bleiben.
({17})
Deswegen müssen wir alles daransetzen, dass EU-Kommissar Almunia möglichst schnell mit uns zu einer Regelung kommt; denn ich sehe eine weitere Gefahr: Wenn
uns das nicht kurzfristig gelingt, werden die Unternehmen von den Wirtschaftsprüfern gezwungen werden, in
ihrer Bilanz Drohverlustrückstellungen vorzusehen. Was
das für das eine oder andere Unternehmen bedeutet, das
kann sich jeder vorstellen. Man darf das hier nicht zu
laut sagen, weil es schon fast in Richtung einer Gewinnwarnung geht, die man damit ausspricht.
Wenn das passiert, dann wird das Folgewirkungen haben, die ganz schnell zu einer Deindustrialisierung führen. Ich will dazu nur eine Zahl nennen. Der VDMA hat
in Zusammenarbeit mit dem DIW eine Statistik aufgestellt, die aufzeigt, dass die großen energieintensiven
Unternehmen in Deutschland in den letzten acht Jahren
nur noch in einer Größenordnung von 86 Prozent ihrer
Abschreibungen reinvestiert haben. Was bedeutet das? Ganz einfach: Die Unternehmen haben sich nicht aus
dem Markt verabschiedet, sondern haben dort, wo günstigere Energiebedingungen waren, investiert.
({18})
Dass sie Investitionen woanders tätigen, melden sie
nicht. Die Industrieunternehmen melden sich nicht beim
Einwohnermeldeamt ab, sie gehen einfach woandershin;
stillschweigend sind sie weg. Wenn die Arbeitsplätze
einmal weg sind, dann kommen sie nicht wieder. Ich
möchte keine Situation wie in England, dass wir also
analog zur City of London 27 Prozent unseres Bruttosozialproduktes in der City of Frankfurt erwirtschaften
müssten. Das ist nicht mein Ziel. Das darf nicht sein.
Dass das nicht passiert, daran werden wir arbeiten.
Lassen Sie mich zum Schluss -
Lieber Kollege Fuchs, darf denn kurz vor Schluss die
Kollegin Bulling-Schröter noch eine Zwischenfrage stellen?
Selbstverständlich. Das gibt mir mehr Zeit.
Bitte sehr.
Sehr geehrter Herr Kollege Dr. Fuchs, Sie haben davon gesprochen, dass Industrieunternehmen ins Ausland
verlagert werden, weil dort die Energiepreise wesentlich
niedriger seien als bei uns. Mir ist allerdings bekannt,
dass zum Beispiel in Holland gerade ein Alu-Werk
schließt, weil in Deutschland die Strompreise für die Industrie so billig sind. Mich würde interessieren: In welches Land könnte denn verlagert werden? Wo sind denn
die Energiepreise ganz konkret wesentlich niedriger als
in Deutschland?
Dieses Beispiel ist schlichtweg falsch. Die Hintergründe, warum dieses Aluminiumwerk geschlossen hat,
sind ganz andere gewesen.
({0})
Die Energiepreise für die Industrie liegen in Deutschland
am höchsten in Europa. Es gibt nur ein einziges Land,
das noch ein bisschen teurer ist, nämlich Dänemark.
Aber dort gibt es keine Industrie, insofern ist das für Dänemark nicht wesentlich. Prüfen Sie einmal nach,
({1})
was in den USA, beispielsweise in North Dakota, Energie bei den Gaskraftwerken kostet. Eine Kilowattstunde
kostet dort 2 US-Cent. Das ist ein Fünftel dessen, was
energieintensive Unternehmen in Deutschland bezahlen
müssen.
({2})
Das zeigt sehr gut auf, dass die Situation für die deutsche
Wirtschaft dramatisch und gefährlich ist. Das müssen
wir berücksichtigen. Ich bin dankbar, dass der Bundesminister das vorhat.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum
Schluss einen Satz zum Transatlantischen Freihandelsabkommen sagen, weil auch Herr Ernst auf dieses
Thema eingegangen ist. Die größten Profiteure eines solchen Freihandelsabkommens sind wir. Wir haben die exportstärkste Industrie in Europa. Dieses Abkommen
wird ganz Europa helfen, aber an allererster Stelle natürlich uns. Deswegen werden wir alles daransetzen, dass
die Verhandlungen zu diesem Freihandelsabkommen so
schnell wie möglich vorankommen. Ich bin dem Bundeswirtschaftsminister dafür dankbar, dass er entsprechende Maßnahmen in Brüssel ergriffen hat. Das ist der
richtige Weg. Den müssen wir gemeinsam gehen. Das
wird Europa stärken. Das wird in Europa für mehr Wettbewerb sorgen, gleichzeitig aber auch für bessere Exportbedingungen für alle in Europa. Dadurch wird das
europäische, aber auch das deutsche Bruttoinlandsprodukt gesteigert. Dafür zu sorgen ist unsere Aufgabe als
Politiker. Das werden wir machen.
Danke.
({3})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun der
Kollege Oliver Krischer das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Lieber Sigmar Gabriel, wenn Sie hier das höchste Lob
von Michael Fuchs bekommen, dem letzten Freund der
Atomkraft in Deutschland, sollten Sie sich schon fragen,
ob Sie sich mit Ihrer eigenen Politik noch in den richtigen Koordinaten bewegen.
({0})
Hier ist ja schon viel über Ministerpräsidenten gesprochen worden, die Sie kritisieren; aber schauen Sie sich
einmal an - das habe ich im Lande draußen wahrgenommen -, wer Sie gelobt hat: Das war Günther Oettinger,
und das war Peter Terium, und das ist jetzt Michael
Fuchs. Wer solche Freunde hat, Herr Gabriel, der sollte
sich einmal überlegen, ob sein Kurs noch stimmt.
({1})
Nachdem ich mir das, was Sie in Ihrer Rede vorgetragen haben, angehört habe,
({2})
komme ich zu der Vermutung, dass Sie einem fundamentalen Irrtum unterliegen. Die Deckelung der erneuerbaren Energien und die Ausbaubremse könnte man
hier so vorschlagen und vortragen, wenn der Anteil der
erneuerbaren Energien bei 75 bis 80 Prozent liegen
würde. Er liegt aber erst bei 25 Prozent. Das ist zwar ein
toller Erfolg,
({3})
aber es fehlt noch viel bis 75 Prozent, weshalb es ein
großer Fehler ist, die Erneuerbaren zu deckeln.
({4})
Meine Damen und Herren, all das hat auch nichts mit
Kosteneffizienz zu tun. Ich empfehle hier einmal einen
Blick in das Papier, das Sie selber geschrieben haben.
Darin steht völlig richtig: Die Windenergie an Land ist
die kosteneffizienteste Form, Strom zu erzeugen, nämlich günstiger und preiswerter als Strom aus neuen
Kohle- und Gaskraftwerken. - Diese erneuerbare Energieform zu deckeln, hat nichts mit Kosteneffizienz zu
tun, sondern das treibt den Strompreis in der Zukunft.
({5})
Sie haben dann auch viel über die Ausnahmen und
das Beihilfeverfahren geredet, das uns hier droht. Ja, das
ist völlig richtig. Dieses Thema diskutieren wir hier seit
zwei Jahren rauf und runter und beschäftigen uns mit
möglichen Vorschlägen dazu, was man gegen die absurde Ausweitung der Ausnahmen für die Industrie tun
kann. Wir haben den konkreten Vorschlag gemacht, uns
auf die Strompreiskompensationsliste der EU-Kommission zu beziehen. Ich habe von Ihnen jetzt aber schon
wieder nichts dazu gehört, wie Sie diese Ausnahmen beschränken wollen. Zu Bereichen, in denen es wirklich
um Kosteneffizienz geht und in denen Kostengerechtigkeit hergestellt werden muss, kommt von Ihnen gar
nichts; da verstecken Sie sich hinter taktischen Spielchen
nach dem Motto, man dürfe nicht verraten, was man
will. Das ist doch absurd. Legen Sie endlich einmal auf
den Tisch, was Sie hier vorhaben!
({6})
Eines kann ich Ihnen sagen: Die angeblich zu hohen
Industriestrompreise sind ein Ammenmärchen. Herr Fuchs
hat das gerade ja auch wieder erzählt. Der Verband der
Industriellen Energie- und Kraftwirtschaft - das ist der
Lobbyverband der stromintensiven Industrie - schreibt
auf seiner Internetseite, dass wir in Deutschland die
niedrigsten Industriestrompreise seit zehn Jahren haben.
Wenn es in Stahlunternehmen oder sonst wo Probleme gibt, wie beispielsweise bei ThyssenKrupp, dann
hat das nichts mit hohen Strompreisen zu tun, sondern
mit Managementfehlern, weil man zum Beispiel in Brasilien in absurde Abenteuer investiert hat. Das und nicht
die hohen Industriestrompreise sind die Probleme, die
die energie- und stromintensive Industrie in Deutschland
hat.
({7})
Ihre Pläne führen dazu - das tun Sie hier ein wenig als
den regionalen Protest aus den Ländern ab -, dass Anlagen für die günstige Form der Erneuerbaren, das, was
wir in Zukunft als Hauptlastträger brauchen, nämlich für
die Windenergie, nur noch an günstigen Standorten gebaut werden können. Es geht hier nicht nur um einen
Korridor, sondern eine ganze Reihe von Maßnahmen
führt dazu, dass Planungen für Windenergieanlagen gestoppt werden und dass das alles nicht vorangeht. Damit
sorgen Sie hier für einen Fadenriss. So kann man keine
Energiewende machen. Damit erreichen wir nicht das
Ziel, in den nächsten Jahrzehnten zu 100 Prozent erneuerbare Energien zu kommen. Das wird am Ende nicht
funktionieren.
Sie tun auch noch etwas anderes. Hier darf ich einmal
Herrn Homann, den Präsidenten der Bundesnetzagentur
zitieren. Er sagt, dass Sie durch die Deckelung der erneuerbaren Energien, den reduzierten Ausbau bzw. die
Halbierung des Ausbautempos das infrage stellen, was
wir in der letzten Legislaturperiode mühevoll im Konsens geschaffen haben, nämlich die Netzausbauplanung.
Damit zerstören Sie das, was Sie eben selber gefordert
haben: die Akzeptanz für den Netzausbau. Das ist die
falsche Politik. Das darf am Ende nicht passieren.
({8})
Ich sage Ihnen noch etwas: Ihre Planungen werden
dazu führen, dass die erneuerbaren Energien nicht einmal den wegfallenden Atomstrom werden ersetzen können. Das heißt am Ende, Sie wollen den Atomstrom
durch Braunkohle ersetzen. Das scheint ja offensichtlich
die Planung der Politik zu sein. Wenn Sie sich damit
durchsetzen, dann machen Sie aus der Energiewende
eine Braunkohlewende, und das werden wir Ihnen nicht
durchgehen lassen.
({9})
Sigmar Gabriel zeigt damit aber eine gewisse Konsistenz in seiner Politik. Damals, als er noch Bundesumweltminister war, hat er einmal sogar 30 neue Kohlekraftwerke
gefordert, zeitweise sogar 50 neue Kohlekraftwerke.
({10})
Da kann man ja froh sein, dass es dazu nicht gekommen
ist. Es sind weniger als zehn gebaut worden. Wenn Sie
heute mit denen reden, die diese Kraftwerke auf die
Empfehlung von Sigmar Gabriel gebaut haben,
({11})
dann sagen Ihnen alle unisono, dass das ein Fehler war;
denn alle diese Kraftwerke schreiben inzwischen rote
Zahlen und sind nur Verlustbringer. Das zeigt: Kohlekraft ist nicht nur ein Schaden fürs Klima, sondern auch
ein Schaden für Stadtwerke und für diejenigen, die
fälschlicherweise in solche Kraftwerke investiert haben.
({12})
Meine Damen und Herren, wir haben eben gehört, der
Emissionshandel solle repariert werden. Ich staune über
diese Aussage, weil im Koalitionsvertrag etwas anderes
steht. Es ist aber richtig: Wir brauchen einen funktionierenden Emissionshandel, damit die Betreiber von
Braunkohlekraftwerken für die dadurch entstehenden
Umweltschäden tatsächlich zahlen müssen und so Gaskraftwerke, die bisher aus Kostengründen stillstehen,
eine Chance am Markt haben. Aber im Koalitionsvertrag
steht dazu etwas völlig anderes.
Herr Kollege Krischer, lassen Sie eine Zwischenfrage
zu?
Gerne.
Bitte schön, Herr Kollege.
Sie haben erwähnt, dass in den letzten sieben Jahren
neue Braunkohlekraftwerke entstanden sind, und zwar
weniger als zehn. Können Sie diese bitte einmal benennen? Das ist mir neu.
Ich habe erwähnt, dass in Deutschland weniger als
zehn neue Kohlekraftwerke gebaut worden sind. Das
sind so schöne Projekte wie das Kraftwerk Walsum, das
Kraftwerk Neurath, das Kraftwerk Karlsruhe, das Kraftwerk Lünen usw. Ich kann Ihnen die Projekte alle aufzählen: Es sind am Ende weniger als zehn. Aber fragen
Sie einmal bei den kommunalen Betreibern, den Stadtwerken, zum Beispiel in Ulm oder Aachen, nach, die in
diese Projekte investiert haben. Alle sagen Ihnen - und
da danke ich Ihnen für die Frage, weil ich das so ausführen kann -: Um Gottes willen, hätten wir das bloß nie
gemacht! - Diese Kraftwerke sind nämlich ein Verlustbringer; die Investoren haben die Entwicklung der Erneuerbaren unterschätzt. Von daher hat eben die Kohlekraft keine Zukunft.
Das waren Fehlinvestitionen, ausgelöst von der ersten
Großen Koalition. Diese hat überhaupt nichts zur Energiewende beigetragen, sondern ganz im Gegenteil dafür
gesorgt, dass heute kommunale Unternehmen bzw.
Stadtwerke große Probleme haben und sagen: Hätten wir
doch bloß stärker in Erneuerbare investiert, statt uns auf
diese Versprechen im Hinblick auf Kohlekraftwerke zu
verlassen.
({0})
Ich sage Ihnen: Bei Ihnen kommt auch der Klimaschutz unter die Räder. Er ist inzwischen zu einem bloßen Randthema verkommen. Der Klimaschutz kommt
zwar noch irgendwie beim Thema erneuerbare Energien
und Energiewende vor, aber tatsächlich ist es - darum
geht es doch - das Hauptargument für die Erneuerbaren,
dass so unsere Lebensgrundlagen erhalten werden können. Das kommt bei Ihnen aber gar nicht vor.
Ein weiterer Punkt kommt bei Ihnen gar nicht vor:
Diejenigen, die die Energiewende in der Vergangenheit
vorangebracht haben, waren Privatpersonen und Bürgerenergiegenossenschaften. Es handelte sich um eine Bürgerenergiewende. Dieser Punkt taucht in Ihren Papieren
überhaupt nicht auf. Die Frau Kanzlerin hat gestern gesagt, die Menschen sollen im Mittelpunkt der Energiewende stehen. - Damit können angesichts Ihrer Politik
ganz offensichtlich nicht die Menschen gemeint sein, die
diese Energiewende unterstützt haben, nämlich Privatpersonen und Bürgergenossenschaften und eben keine
Energiekonzerne. Es darf nicht sein, dass Sie dieses Engagement kaputtmachen.
({1})
Eines muss man noch sagen: All das, was Sie jetzt
vorgelegt haben, betrifft nur das EEG. Zu den ganzen anderen Fragen wie Energieeffizienz, bei der wir unbedingt
vorankommen müssen und die selbst in Ihrem Koalitionsvertrag als zweite Säule der Energiewende bezeichnet wird, haben wir noch gar nichts gehört. Gleiches gilt
für die Frage des Strommarktdesigns. Wir haben nichts
dazu gehört, was diese Koalition, was der Minister an
dieser Stelle will. Zu all dem liegt nichts vor. Das alles
sind aber sehr entscheidende Fragen. Sie konzentrieren
sich allein auf ein Ausbremsen der Windenergie
onshore. Das ist der falsche Weg.
Ja, wir haben Ihnen - Sie haben eben darauf hingewiesen - einen Konsens angeboten. Wir haben einen
Vorschlag gemacht, und es gibt, wie ich sehe, in der Tat
Punkte, in denen wir eine gemeinsame Auffassung vertreten. Aber es kann nicht angehen, dass Sie die kostengünstigste Form der erneuerbaren Energien, die kostengünstigste Form der Stromerzeugung jetzt mit einem
ganzen Bündel von Maßnahmen deckeln und infolgedessen die entsprechenden Projekte landauf, landab gestoppt werden. Das darf an der Stelle nicht passieren.
Dann kann es nur noch darum gehen - ich fürchte, das
wird leider die Debatte der Zukunft sein -, dass es nicht
mehr um Konsens geht, sondern nur noch darum, das
Schlimmste zu verhindern. Aber die Hoffnung stirbt bei
uns zuletzt.
Unser Angebot haben Sie, dass wir an der Stelle einen
gemeinsamen Weg gehen. Aber dazu wird sich an Ihren
Vorschlägen einiges ändern müssen.
Ich danke Ihnen.
({2})
Zu einer direkten Erwiderung erhält der Bundeswirtschaftsminister das Wort.
Herr Kollege, ich habe die Hoffnung, dass wir eine
redliche Debatte führen. Deswegen: Bitte überprüfen Sie
Ihre Behauptung, ich sei als Umweltminister jemals für
30 Kohlekraftwerke eingetreten. Das ist schlicht die Unwahrheit.
({0})
Ich erteile das Wort nun dem Kollegen Hubertus Heil
für die SPD-Fraktion.
({0})
Präsident Dr. Norbert Lammert
- Wenn er das gleich klarstellen möchte, kann er das
gerne tun. - Bitte schön.
({1})
Herr Gabriel, Herr Minister, diese Quelle können Sie
sich gerne ansehen.
({0})
Aber ich kann mich gut an eine Veranstaltung in Krefeld
erinnern. Dort sind Sie aufgetreten, weil die örtliche
SPD das geplante Kohlekraftwerk abgelehnt hat. Dann
haben Sie dafür gesorgt, dass die Sozialdemokraten sich
gedreht haben. Derzeit wird dort übrigens ein Gaskraftwerk geplant. Sie sind als Minister aufgetreten und haben an allen Stellen Kohlekraftwerke gefordert.
({1})
- Gut, ich liefere Ihnen die Quelle nach. Dann werden
wir das an der Stelle klären. Aber Sie werden doch wohl
nicht behaupten wollen, dass Sie sich als Minister - als
Umweltminister, der eigentlich für Klimaschutz zuständig ist - nicht auf allen Ebenen massiv dafür eingesetzt
haben, dass landauf, landab Kohlekraftwerke gebaut
werden. Das eine Beispiel aus Krefeld ist ganz konkret.
Das ist vielen Menschen in Erinnerung.
({2})
Herr Minister, ich finde es zwar schön, dass wir solche Sachen direkt bilateral austragen. Ich muss Sie nur
darauf aufmerksam machen: Zwischenrufe sind vonseiten der Regierungsbank nicht erlaubt, Stellungnahmen
gerne jederzeit, wie gerade vorgeführt.
Jetzt hat der Kollege Heil das Wort für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Weil wir gerade über Redlichkeit gesprochen haben,
habe ich noch einen Nachtrag zum Kollegen van Aken,
der bedauernswerterweise dem Minister Zwischenfragen
gestellt und sich dann aus der Debatte entfernt hat.
({0})
Aber vielleicht richten Sie ihm das aus.
Was er vorhin bei seiner Zwischenfrage gemacht hat,
nämlich den Eindruck zu erwecken, dass er als Abgeordneter dem Minister bzw. Vertretern des Ministeriums
Fragen zum Thema Rüstungsexporte gestellt hätte, die
diese nicht beantworten wollten, ist nach meinen Recherchen - ich habe gerade im Bundesministerium nachgefragt - nicht die Wahrheit.
({1})
Die Wahrheit ist: Er hat eine Anfrage gestellt und die
Antwort bekommen, dass die Zahlen für 2013 gerade
aufgearbeitet und im Frühsommer veröffentlicht werden.
Dem Kollegen Rösler hat er dieselbe Frage gestellt,
allerdings im Mai; da konnte er sie beantworten. Wer
hier den Eindruck erweckt, dass das Ministerium, das
beim Thema Rüstungsexportkontrolle einen neuen Kurs
einschlägt, nämlich mehr Transparenz herzustellen, wissentlich Abgeordneten vorliegende Zahlen verschweigt,
der sagt die Unwahrheit, und dem geht es offensichtlich
nicht um das Thema, sondern um billige Linksparteiprofilierung in diesem Land.
({2})
Das ist umso bedauerlicher, als ich Herrn Kollegen van
Aken zumindest in seiner Einschätzung europäischer
Themen leider für eine Minderheit in Ihrer Fraktion halte
({3})
nach dem, was Frau Wagenknecht macht, aber das ist ein
anderes Thema.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir Sozialdemokraten unterstreichen den Satz von Herrn Kollegen
Fuchs, dass es Deutschland gut geht. Aber es gilt auch
der Satz: Wer morgen sicher leben will, der muss heute
für Reformen sorgen.
Wir haben große Aufgaben vor uns. Wir müssen dafür
sorgen, dass in diesem Land die Investitionsquote steigt.
Darauf hat der Bundesminister hingewiesen. Herr Ernst,
an dieser Stelle sind wir nicht diejenigen - im Gegensatz
zu Ihnen -, die bemängeln, dass wir exportstark sind.
Dieses Land ist exportstark. Es soll wettbewerbsfähig
bleiben. Aber gleichzeitig müssen wir die Binnennachfrage in diesem Land stärken. Das tun wir mit einer
neuen Ordnung am Arbeitsmarkt und damit auch für die
Kaufkraft.
Wir müssen auch für Investitionen - öffentliche und
private - in Deutschland sorgen. Deshalb wird diese
neue Bundesregierung 23 Milliarden Euro mehr in Verkehrsinfrastruktur, aber vor allem in Bildung und Forschung investieren: 9 Milliarden Euro allein in diesem
Bereich. Das macht unser Land zukunftsfähig. Wir müssen exportfähig bleiben. Aber wir brauchen auch starke
Heimspiele auf dem Binnenmarkt. Das ist die Balance,
auf die der neue Wirtschaftsminister Wert legt. Wir tun
das ebenfalls.
({4})
Herr Kollege Heil, der Kollege Ernst würde gerne
eine Zwischenfrage stellen.
Bitte schön.
Herr Kollege Heil, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu
nehmen, dass ich nicht die Exporte der Bundesrepublik
Deutschland kritisiert habe, sondern den Überschuss?
Das ist etwas anderes. Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu
nehmen, dass 1,1 Billionen Euro an Überschüssen gegenüber der Europäischen Union den Zusammenhalt Europas gefährden, weil diese Überschüsse permanent Defizite in anderen europäischen Ländern erzeugen? Sind
Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass sich meine Kritik an dem, was Herr Gabriel vorgetragen hat, darauf bezog, dass ich in seinen Erklärungen nichts erkennen
konnte, was darauf zielte, diese Exportüberschüsse
durch gesteigerte Importe, also durch eine vernünftige
binnenmarktwirtschaftliche Entwicklung, zu verringern?
Und sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass wir,
wenn wir es nicht schaffen, diese deutsche Politik entsprechend zu verändern, das Problem in Europa sind und
nicht nur die anderen?
({0})
Herr Kollege Ernst, sind Sie vielleicht bereit, zur
Kenntnis zu nehmen, dass monokausale Argumentationsketten die Probleme, die wir in Europa haben, nicht
abbilden?
({0})
Es ist schlimm, wenn man jemandem antworten muss,
der zum Teil recht hat, aber das gesamte Bild verschweigt. Richtig ist: Handelsbilanzunterschiede stellen
ein ökonomisches Problem dar. Deshalb habe ich gesagt
- vielleicht haben Sie das zur Kenntnis genommen -:
Wir arbeiten daran, wettbewerbsfähig zu bleiben. Um es
in der Fußballsprache zu sagen: Man kann nur erfolgreich sein und Meister werden, wenn man stark in Auswärtsspielen, also in diesem Fall im Export, ist. Aber
man muss auch starke Heimspiele haben. Das heißt, wir
brauchen einen stärkeren Binnenmarkt. Das ist ein ökonomisches Problem. Aber in Ihrer Argumentation tun
Sie gerade so, als wäre der Exporterfolg der Bundesrepublik Deutschland schuld an der gesamten Krise in Europa. Das hat mit der Wahrheit nichts zu tun.
({1})
Dafür gibt es durchaus andere Gründe. Es gibt strukturelle Probleme und Verwerfungen auf den Finanzmärkten. Das dürfen Sie nicht ausblenden.
Herr Ernst, im Gegensatz zu Ihren Parolen tun wir als
Regierung etwas, um die Binnennachfrage in diesem
Land tatsächlich zu stärken. Wir sorgen für eine Neuordnung auf dem Arbeitsmarkt.
({2})
Das stärkt die Kaufkraft. Dazu gehören der gesetzliche
Mindestlohn und Regeln gegen den Missbrauch von
Zeitarbeit. Davon quatschen Sie nur. Aber wir tun es.
Das ist der Unterschied, Herr Ernst.
({3})
Herr Ernst, wir sorgen dafür, dass mehr investiert
wird, und zwar sowohl privat als auch öffentlich. Bei
den privaten Investitionen müssen wir mehr für Planungs- und Investitionssicherheit tun. Hier steht das
Thema Energiewende ganz oben auf der Agenda. Aber
die öffentlichen Investitionen von Bund, Ländern und
Kommunen in Bildung, Forschung und Infrastruktur
sind ein Markenzeichen dieser Regierung. Daran kann
man uns auch messen.
({4})
Ich will zum Thema Energie sprechen, weil das die
größte Baustelle ist, vor der der Bundesminister, die Regierung und das Parlament, aber auch Deutschland insgesamt stehen. Herr Kollege Krischer, wir sind uns in
der Analyse wahrscheinlich in vielem einig. Der Anteil
der erneuerbaren Energien liegt bei 25 Prozent. Das
EEG war als Markteinführungsinstrument vernünftig.
Sonst hätten wir nicht 25 Prozent erreicht. Aber nun geht
es nicht mehr um Markteinführung, sondern um Marktdurchdringung. Deshalb kann man das bisherige Fördersystem nicht perpetuieren. Wer die Energiewende zum
Erfolg führen will, der muss jetzt für eine grundlegende
Reform sorgen, Herr Krischer; das ist der entscheidende
Punkt. Nachdem Sie zuerst alles in Grund und Boden geredet haben, haben Sie am Ende ein Verhandlungsangebot gemacht. Meine Bitte ist, dass Sie im Sinne einer gelingenden Energiewende konstruktiv mitwirken.
Der deutschen Öffentlichkeit und vielleicht auch vielen in diesem Hause ist offensichtlich noch nicht ganz
klar, in welcher dramatischen Situation wir uns aufgrund
mehrerer Entwicklungen, die zusammenkommen, befinden. Klar ist: Wir müssen das EEG ohnehin reformieren,
um die Kostendynamik beim Zubau tatsächlich in den
Griff zu bekommen. Wir wollen übrigens weiterhin ausbauen. Sie tun dagegen so, als würden die Erneuerbaren
überhaupt nicht mehr gefördert. Das ist nicht der Fall.
Wir fördern bislang mit 24 Milliarden Euro jährlich. Wir
werden weiter fördern. Wir haben sehr ambitionierte
Ausbauziele. Wir sind jetzt bei 25 Prozent. Wir werden
den Weg hin zu den erneuerbaren Energien weiterhin
konsequent gehen. Dafür brauchen wir übrigens auch
Planungs- und Investitionssicherheit. Wenn wir aber
nicht zu einer grundlegenden Reform kommen, dann
- das dürfen Sie der Öffentlichkeit nicht verschweigen wird es zwei parallele europäische Entwicklungen geben, die uns wirtschaftlich schaden können. Das eine ist
das Beihilfeverfahren in Bezug auf die Ausnahmetatbestände für energieintensive Betriebe. Wenn wir nicht zu
einer grundlegenden Reform auch bei den Ausnahmetatbeständen kommen - ich komme gleich dazu; hierbei
müssen wir übrigens eine Verständigung mit Brüssel
herbeiführen; es darf nicht zu einer Eskalation komHubertus Heil ({5})
men -, dann haben die Grundstoffindustrien in Deutschland ab dem 1. Januar 2015 ein Riesenproblem. Für
chemische Unternehmen, Stahlunternehmen, Aluminiumunternehmen, für die Unternehmen, die bei ihren Prozessen alles tun, um energieeffizient zu sein, aber einen
hohen Energieaufwand haben, und die miteinander im
Wettbewerb stehen, wird das ein wirkliches Problem.
Das Elektrostahlwerk in meiner Heimatstadt beispielsweise wäre dann weg. Das will keiner. Deshalb müssen
wir diese Ausnahmeregelungen reformieren.
Aber es geht noch weiter. Es gibt ja noch einen anderen Prozess, der mit Herrn Almunia zu tun hat und der in
Brüssel stattfindet: Das ist die Reform der Umwelt- und
Energiebeihilfen. Herr Kollege Krischer, wenn Sie das
nicht im Blick haben, dann riskieren Sie nicht nur, dass
die Ausnahmetatbestände abhandenkommen, sondern
auch, dass die Förderung erneuerbarer Energien, das
EEG insgesamt, zum Kippen kommt.
({6})
Ich sagen Ihnen: Deshalb machen wir uns auf den
Weg grundlegender Reformen. Wer erneuerbare Energien will, der muss heute für Reformen sorgen,
({7})
der darf an dieser Stelle nicht nur zugucken, und der darf
sich auch nicht zum Anwalt von Partikularinteressen
machen. Das finde ich wirklich schwierig. Ich kann verstehen, dass Ministerpräsidenten die Interessen ihres
Landes vertreten und Wertschöpfungsanteile im Rahmen
der Energiewende für sich beanspruchen. Das ist auch
deren Job. Aber es ist nicht die Summe dieser Einzelinteressen, die zu einem Gesamtbild führt.
Ich kann nicht verstehen, dass sich Ministerpräsidenten, die sehr unterschiedliche Interessen haben, verbünden, um sie jeweils einzeln durchzusetzen. Ich meine
ganz konkret Herrn Kretschmann in Baden-Württemberg und Herrn Seehofer in Bayern. Der eine will in
Bayern offensichtlich die Biomasse schützen, und der
andere hat ein Interesse daran - das kann man diskutieren -, die Onshorewindenergie in Baden-Württemberg
auszubauen. Das sind aber sehr gegensätzliche Interessen. Denn Herr Seehofer in Bayern ist ja ein Gegner von
Onshorewindenergie; und Herr Kretschmann sieht mit
Sicherheit das Thema Biomasse kritischer als Herr
Seehofer. Und jetzt treffen sich beide und tun so, als
hätten sie die gleichen Interessen. Das geht nicht! Wir
brauchen Vernunft und nicht eine Koalition von Teppichhändlern; denn wir müssen dafür sorgen, dass die
Energiewende tatsächlich zu einem Erfolg wird.
({8})
Ich sage Ihnen: Wir haben an dieser Stelle eine Riesenchance. Die Energiewende ist eine Chance für unser
Land. Dabei bleibe ich. Wir können in einer Welt mit
wachsendem Energiehunger und einer wachsenden Bevölkerung Ausrüster für moderne Technologien im Energiebereich sein. Wir sind in vielen Bereichen führend.
Aber dafür brauchen wir die Referenz, dass wir die
Energiewende im eigenen Land hinbekommen. Wir werden hart dafür arbeiten, eine sichere, eine saubere, eine
bezahlbare Energieversorgung zu gewährleisten. Dazu
werden wir auch alle Interessen anhören.
Aber ich sage auch: Wir dürfen nicht zu kurz springen! Wir müssen bis Mitte des Jahres eine grundlegende
EEG-Reform auf den Weg bringen. Das ist noch nicht
das Ende der Energiepolitik - gar keine Frage. Wir müssen auch für Energieeffizienz in diesem Land sorgen.
Wir müssen für ein neues Strommarktdesign und für gesicherte Kapazitäten sorgen. Das alles sind große Aufgaben, die vor uns liegen.
Aber meine ganz herzliche Bitte an alle, die sich ein
bisschen damit auskennen, ist: Wirken Sie mit! Gehen
Sie nicht in die Schützengräben! Mauern Sie nicht! Es
geht tatsächlich darum, die Energiewende zum Erfolg zu
führen, aber vor allen Dingen auch darum, dadurch einen
Beitrag dazu zu leisten, dass Deutschland wirtschaftlich
erfolgreich bleibt. Es geht um Wohlstand, Arbeitsplätze,
Lebensqualität in diesem Land. Auch den Weg zu mehr
Klimaschutz werden wir mit einem neuen Bundeswirtschaftsminister gehen, der die Durchschlagskraft hat, die
seinem Vorgänger gefehlt hat.
Herzlichen Dank.
({9})
Das Wort erhält nun die Kollegin Eva BullingSchröter für die Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
habe jetzt wirklich Angst, Herr Gabriel, dass Sie Ihr Gesellenstück vermasselt haben. Mir kommt es jedenfalls
so vor.
({0})
Ob die Strompreise durch Ihre Reform wirklich stabil
bleiben oder ob sie steigen, das wissen Sie nicht. Ich
habe Ihr Interview dazu gesehen. Der Grund dafür ist natürlich auch, dass die Privilegien der Industrie wohl
weitgehend unangetastet bleiben; jedenfalls liegt da alles
noch im Nebel. Wir ahnen, wie das weitergeht. Ich kann
nur sagen: Tun Sie etwas! Wir wollen nicht, dass über
die EU das EEG plattgemacht wird; denn wir brauchen
das EEG auch weiterhin.
Jetzt wird aber die Energiewende abgebremst. Da ist
der rigide Ausbaukorridor von jährlich insgesamt 5 Gigawatt für Wind und Sonne. Zur Erklärung: Das Tempo
des Ausbaus von Ökostromanlagen wird damit um circa
ein Drittel, also 33 Prozent, verringert, insbesondere bei
der Photovoltaik.
Wir haben es schon gehört: Das geschieht ausgerechnet jetzt, da diese weitgehend konfliktfreie Technologie
immer preiswerter wird. Ohnehin sind die EEG-Kosten
zum überwiegenden Teil Kosten, die aus Entscheidungen in der Vergangenheit resultieren. Mit der Ausbaubremse werden wir nicht viel bewirken; denn die Kosten
fallen nach wie vor an. Die Tarife für Altanlagen wurden
schließlich für 20 Jahre garantiert. Diese garantierten Tarife waren und sind im Sinne der Markteinführung richtig. Schließlich müssen Sonnen- und Windenergie gegen
Subventionen in Millionenhöhe für die fossil-atomare
Wirtschaft ankämpfen; denn Atomstrom wird noch indirekt subventioniert.
Herr Fuchs spricht vom Kaufkraftverlust, der durch
das EEG hervorgerufen werde, aber er spricht nicht von
dem Kaufkraftverlust, der aufgrund der Kosten der
Atomenergie entsteht, denn der fossil-atomaren Energieerzeugung fließen erhebliche Mittel zu.
({1})
Im Prinzip sind die EEG-Kosten Technologieentwicklungskosten. So sehen wir das und viele andere auch.
Darum können wir uns auch vorstellen, dass ein Teil dieser Rechnung in der Zukunft beglichen wird. Schließlich
profitieren die künftigen Generationen von der Energiewende, und wir wollen, dass die Energiepreise nicht
mehr so stark steigen. Wir sagen: Ilse Aigner hat an dieser Stelle ausnahmsweise recht.
Herr Minister, ich kann mich noch gut an die Klimakonferenz in Poznan erinnern. Sie sind da aufgetreten,
haben viel Erfolg gehabt und haben die Leute begeistern
können. Ich frage mich: Was ist jetzt? Es ist wirklich
schade; denn das war ein guter Auftritt. Die Drosselung
des Ökostromausbaus bringt die deutschen Klimaschutzziele, die wir bis 2020 erreichen wollen, in Gefahr.
Schauen Sie sich die Zahlen an. Wir sind noch weit weg
von unserem Ziel. Wir müssen aber dorthin. Das ist dringend notwendig. Die Lücke, die noch klafft, beträgt einige Prozent, und sie wird weiter wachsen. Sie wird auch
deshalb wachsen, weil die Kohleverstromung jedes Jahr
neue Rekordwerte erreicht. Ich sehe in dem Regierungskonzept überhaupt keine Ansätze, wie dieser Trend gestoppt werden soll. Wir fluten Europa mit dreckigem
Strom, und die Bundesregierung schaut zu. Und Sie
wundern sich noch, wenn Osteuropa von unserer Politik
nicht begeistert ist. Ich kann die Reaktion wirklich verstehen.
({2})
In die gleiche Richtung wie die Deckelung des Ausbaus wirken die Kürzungen der Vergütungen für den
Ökostrom. Das neue Vergütungsmodell könnte das Aus
für die Windkraft im Süden Deutschlands bedeuten. Damit nehmen Sie ausgerechnet der preiswertesten Art,
Ökostrom zu erzeugen, den Wind aus den Segeln, zumindest regional.
Bei Offshoreanlagen, einer Großtechnologie, an deren
Finanzierung Bürgergenossenschaften scheitern, sind
Sie deutlich vorsichtiger. Da fragen wir uns natürlich,
warum. Ich denke, wenn wir auf die Windkraft im Süden
verzichten, dann verzichten wir nicht nur auf Ökostrom,
sondern sorgen auch dafür, dass sich die Windkraftanlagen im Norden konzentrieren. Wie lange aber werden
die Bürgerinnen und Bürger sich das gefallen lassen?
Sind die Landschaften in Bayern oder Baden-Württemberg mehr wert als die in Niedersachsen oder Mecklenburg-Vorpommern? Ich will hier nicht den Windkraftgegnern das Wort reden, im Gegenteil. Aber der beste
Weg, Akzeptanz zu verspielen, ist der, den Sie, Herr
Gabriel, hier beschreiten. In Bayern stocken schon die
Windkraftprojekte, und die Leute sind sehr verunsichert.
Sie wollen die schwankende Einspeisung von Sonnen- und Windenergie an die Börse zwingen. Wir sagen:
Das ist der falsche Weg.
({3})
Die Makler am Spotmarkt werden am Wetter nichts ändern. Die angeblichen Vorteile der Direktvermarktung
lösen sich in nichts auf; das zeigt sich, wenn man es genauer betrachtet.
Der Vorschlag verkehrt außerdem die vernünftige
Hierarchie der Energiewende ins Gegenteil. Künftig sollen sich im Falle negativer Börsenpreise regenerative
Anlagen an die konventionelle Erzeugung anpassen und
nicht umgekehrt. Das ist für uns „Energiewende absurd“.
Das dient eben nicht der Bürgerenergie, wie wir uns das
alle wünschen, sondern es dient ganz anderen Zielen.
Die Vertreterinnen und Vertreter der Bürgerenergie werden sich wehren, genauso wie auch wir uns gegen diese
Vorschläge wehren werden.
({4})
Joachim Pfeiffer ist der nächste Redner für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In der Tat - es ist
angesprochen worden -, Deutschland steht heute gut da.
Der Laden läuft. Der Wirtschaftsmotor brummt. Vor
zehn Jahren war es ganz anders: Da war Deutschland
mehr oder weniger im Mehltau erstarrt, reformunfähig.
In Hiobsbotschaften wurden wir mit Blick auf die Arbeitslosigkeit als kranker Mann Europas dargestellt.
Seit mittlerweile acht Jahren führt die Union die Bundesregierung unter Angela Merkel, und seither geht es
aufwärts, zunächst mit der SPD 2005 bis 2009 in der
Großen Koalition - da sind vernünftige Beschlüsse zustande gekommen -, dann 2009 bis 2013 mit der FDP ({0})
auch da ging es vernünftig aufwärts -, jetzt, 2013 bis
2017, wieder mit der SPD. Auch da wird es weiter aufwärtsgehen. Wir laden Sie ein, uns auf diesem Weg zu
begleiten.
({1})
Die Union wird dafür sorgen, dass das Ganze mit
Maß und Mitte ohne zu viel Ideologie von links und von
rechts vorangeht. Herr Gabriel, ich sage ganz deutlich
und klar an dieser Stelle: Wir haben ein Interesse daran,
dass wir in den nächsten vier Jahren gemeinsam erfolgreich sind.
({2})
Wir haben große Herausforderungen und große Projekte
vor uns. Wir werden Sie bei allem unterstützen, was in
die richtige Richtung geht, damit wir in vier Jahren gemeinsam besser dastehen, als es heute der Fall ist.
Ich möchte ein paar Punkte ansprechen. Der zentrale
Punkt heute ist die Energie. Wir sind bei der Energiewende zum Erfolg verdammt. Wir haben uns gemeinsam
die nach meiner Kenntnis weltweit ambitioniertesten
Ziele gesetzt, was CO2-Reduktion, den Ausbau Erneuerbarer, die Energieeffizienz und anderes mehr anbelangt.
Viele Ziele sind bereits erreicht oder auch übertroffen,
etwa beim Strom. Wir haben bei der Stromproduktion
bisher alle gesetzten Ziele nicht etwa unterschritten, sondern immer übertroffen. Das ist leider vielleicht sogar
ein Problem, weil wir durch dieses Übertreffen die Kosten etwas aus dem Auge verloren haben. Es kam zu
schnell zu hohen Kosten, beispielsweise weil in die Photovoltaik von 2008 bis 2011/2012 zu viel investiert
wurde. Außerdem haben wir zum Beispiel den Netzausbau nicht mit dem Ausbau der Stromproduktion synchronisiert.
Vor allem gibt der Markt heute nicht mehr die Signale
an der Börse, die er eigentlich geben muss. Gerade war
davon die Rede, man wolle erzwingen, dass die Energiepreise an der Börse ermittelt werden. Genau das ist das
Problem. Die Börse ist heute eine Restgröße. Der Markt
kann nicht mehr die Knappheitssignale liefern, wie wir
sie uns erhofft haben. Ein solches Signal wäre beispielsweise, dass durch Merit-Order-Effekte auch unter Gesichtspunkten der CO2-Reduzierung die richtigen Anreize gesetzt werden, sodass Energie verstärkt aus Gas
statt aus Kohle gewonnen wird. Das ist ein Problem der
Planwirtschaft. Wir haben zu viele Fixpreise im Bereich
der Erneuerbaren. Das ist leider auch wahr.
Es war kein Problem, als der Anteil der Erneuerbaren
bei 5 Prozent lag. Mittlerweile kommen aber 25 Prozent
des Stroms aus Erneuerbaren, und wir wollen dies in
Richtung 35 bis 40 Prozent ausbauen. Insofern ist es
richtig, Herr Minister, was Sie vorschlagen: dass wir bei
den neuen Anlagen in die Direktvermarktung gehen, damit sie in den Markt integriert werden, sodass der Markt
dann endlich wieder funktioniert. Der Markt ist hier
nämlich die Lösung und nicht das Problem des Ganzen.
({3})
Die Energiewende muss in der Tat europakonform
ausgestaltet werden. Die EU wird im April - wenn sie
ihre Zusage einhält; davon gehe ich aus - ihre Umweltund Beihilfeleitlinien vorlegen, sodass wir das EEG
rechtsfest und europakonform ausgestalten können,
damit in den nächsten Jahren für alle Investoren, die in
diesem Bereich unterwegs sind, Planungssicherheit
herrscht.
Jetzt möchte ich doch einmal das Thema ansprechen,
das mir wirklich langsam etwas auf den Zeiger geht.
Bevor Sie zu diesem möglicherweise besonders sensiblen Teil Ihrer Rede kommen:
({0})
Lassen Sie eine Zwischenfrage aus den Reihen der Grünen zu?
Ja. Bitte schön.
Vielen Dank, Herr Präsident. Vielen Dank, Herr Kollege. - Ich habe ein bisschen gewartet, nachdem Sie das
Thema Markt angesprochen und zu Recht beklagt haben,
dass wir in einer Planwirtschaft zu enden drohen; „Deckelung“ und ähnliche Dinge höre ich.
Was ich in den bisherigen Reden vermisse, sowohl
vom Herrn Minister als auch gerade von dem für die
Marktwirtschaft in Worten immer so vehement eintretenden Kollegen Fuchs, ist eine Antwort auf die Frage,
wie Sie den Markt wirklich gestalten wollen in einer
Zeit, wo Sonne und Wind keine Rechnungen schreiben,
also ein Paradigmenwechsel wichtig wäre, nämlich weg
von der bezahlten Kilowattstunde - fragen Sie einmal
die Stadtwerke! - und hin zu einer Flatrate - so sagen die
Stadtwerke; sie wollen die Leistung bezahlen - oder einer Flexibilitätsprämie. Wie wollen Sie - dazu erwarte
ich von Ihnen Ausführungen - den Markt wirklich gestalten in einer Zeit, wo dieser Paradigmenwechsel
- Stichwort „Kapazitätsmärkte“, Stichwort „Flexibilitätsmärkte“ - wichtig wäre? Ich würde erwarten, dass
gerade von Ihrer Seite - Herr Gabriel hat heute ja im
Wesentlichen mit den Grünen gesprochen - Vorschläge
dazu kommen.
({0})
Danke. Das erläutere ich gern.
Zunächst ist festzustellen, dass für Strom aus den Erneuerbaren im Jahr 2013 über das EEG ungefähr 23 Milliarden Euro ausgegeben wurden; es waren, glaube ich,
sogar 23,5 Milliarden Euro. Der Börsenwert dieses
Stroms betrug aber gerade einmal 10 Prozent davon,
2,5 Milliarden Euro. In der Tat Planwirtschaft, wie Sie
sie beschreiben!
Das führt natürlich dazu, dass an der Börse, wo dieser
Strom dann zu Marktpreisen verramscht wird, auch noch
europaweit verramscht wird, der Markt nicht mehr funktionieren kann. Sie wissen das. Sie sind ja einer der wenigen Unternehmer bei den Grünen, gehören also zu de682
nen, die ein Unternehmen auch schon einmal von innen
gesehen haben.
({0})
Insofern können Sie, glaube ich, auch nachvollziehen,
dass es nicht funktionieren kann, wenn das immer noch
weiter ausgeweitet wird.
Wir haben im Moment die Frage des Marktdesigns,
die Sie ja auch ansprechen. Wir haben im Moment, Gott
sei Dank, noch kein Kapazitätsproblem, aber ein Renditeproblem. Es sind im Moment genug Stromerzeugungskapazitäten vorhanden. Deshalb arbeiten wir bei der
Bundesnetzagentur, wie Sie wissen, mit der Winterreserve im Moment auf Sicht. Für den Winter 2013/14
und für den Winter 2014/15 ist die Leistung, die wir in
den Höchstlastzeiten brauchen, schon komplett unter
Vertrag. Für den Winter 2015/16 fehlen noch ungefähr
1 000 Megawatt; die gilt es noch zu kontrahieren.
Wir wollen aber nicht, wie manche vorschlagen, jetzt
auch dort Planwirtschaft einführen in der Weise, dass es
zu Ausgleichszahlungen kommt und wieder zu Subventionierungen, sei es für Kohle oder für Gas oder für andere Energieträger. Wir müssen jetzt vielmehr in einem
ersten Schritt mit neuen Regelungen im EEG dafür sorgen, dass die Erneuerbaren zukünftig in den Markt integriert werden, dass sie nicht einfach nur Strom produzieren, wenn der Wind gerade weht oder die Sonne gerade
scheint. Vielmehr muss es Anreize dafür geben, den
Strom zu speichern, Anreize dafür, den Strom dann zur
Verfügung zu stellen, wenn das System ihn braucht,
wenn er nachgefragt wird. Da haben wir doch bisher ein
Problem.
Wenn wir das EEG in dieser Richtung umgestaltet haben, dann kommt der zweite Schritt - das hat der Herr
Minister ja vorhin angesprochen -; es gilt nämlich, das
Marktdesign so zu gestalten, dass es funktioniert. - Ich
bin immer noch bei der Beantwortung der Frage des
Kollegen, Herr Präsident; es ist halt kompliziert.
Ja. Aber, Herr Kollege Pfeiffer, Sie werden völlig zu
Recht vermuten, dass ich nicht die Absicht habe, Ihre
Redezeit auf diese Weise zu verdoppeln.
({0})
Sagen Sie jetzt noch einen schönen Schlusssatz zu der
Frage des Kollegen Gambke. Dann läuft die Uhr wieder.
Okay. - Ich kann da nur vor etwas warnen; Herr
Gambke, ich glaube, da sind wir der gleichen Meinung.
Wir müssen aufpassen, dass wir das nicht allein in
Deutschland machen. Wir dürfen zu den 28 unterschiedlichen Regimes, die wir in Europa bei den erneuerbaren
Energien haben, jetzt nicht noch 28 unterschiedliche
Marktdesigns realisieren. Wir wollen einen gemeinsamen europäischen Binnenmarkt für Energie und für
Strom verwirklichen. Das wird die Aufgabe sein. Sie
sind herzlich eingeladen, mit Ihrer Expertise daran mitzuwirken.
Jetzt komme ich zu einem in der Tat sensiblen Thema,
wie der Präsident schon zu Recht vermutet hat. Was hier
von grüner und linker Seite ständig behauptet wird, ist
aus meiner Sicht wirklich unseriös und unverantwortlich. Es wird hier der Eindruck erweckt, als sei für den
Strompreisanstieg die energieintensive Industrie in
Deutschland verantwortlich. Es wird behauptet, sie sei
schuld, dass die EEG-Umlage so hoch ist. Das Gegenteil
ist der Fall. Die energieintensive Industrie ist nicht Täter,
sondern Opfer der Entwicklung.
({0})
Herr Krischer, Sie haben sich die Zahlen, die Sie zitiert haben, entweder falsch aufgeschrieben oder bewusst falsch wiedergegeben. Sie haben vorhin den VIKIndex für den Strompreis genannt. Es wurde die Aluminiumhütte in den Niederlanden angesprochen. Der VIKIndex weist aber für die Niederlande einen im Vergleich
zu Deutschland über 2 Cent günstigeren Strom aus. Das
heißt, am Strom aus Deutschland lag es sicher nicht. Für
die Schwierigkeiten gab es vielleicht andere Gründe. Im
Übrigen war der Eigentümer der Hütte in den Niederlanden auch Eigentümer der Hütte in Neuss. Er hat beide
gegen die Wand gefahren; das wissen Sie, Herr Krischer.
Das, was Sie behaupten, ist also unseriös.
({1})
Deutschland hat nach wie vor mit die höchsten Industriestrompreise in Europa. Das gilt für dieses Jahr und
für das letzte Jahr. Wir befinden uns in der Spitzengruppe, zusammen mit Zypern und Italien.
Wir dürfen nicht nur Europa im Blick haben, sondern
wir müssen auch weltweit wettbewerbsfähig sein. Ich
komme an dieser Stelle erneut auf den VIK-Index zu
sprechen, den Sie leider nicht ganz richtig wiedergegeben haben. In Frankreich als Beispiel für ein europäisches Land hat dieser Index für die besonders energieintensiven Betriebe - ich setze den Industriestrompreis in
Deutschland gleich 100 - den Wert 80. Wenn man sich
die großen Wettbewerber außerhalb Europas anschaut
- Michael Fuchs hat das Beispiel USA angesprochen -,
dann sieht man, dass er dort niedriger ist. In den USA
beträgt der Index 48, in Südkorea 61, in Brasilien 69 und
in China 75. Das heißt, in den Ländern, die unsere
Hauptwettbewerber sind, ist der Industriestrompreis
deutlich günstiger, als es bei uns der Fall ist.
({2})
Es ergibt sich dann das Problem, dass Investitionen
nicht mehr in Deutschland erfolgen.
({3})
Es ist auch keine Drohung, sondern das passiert schon.
Wenn man sich die Statistiken anschaut, die zeigen, in
welchem Maße von 2004 bis 2010 reinvestiert wurde,
dann sieht man, dass nicht einmal mehr 80 Prozent der
abgeschriebenen Anlagen in Deutschland im energieintensiven Bereich ersetzt wurden. Was heißt es, wenn Anlagen nicht mehr ersetzt werden? Das bedeutet Deindustriealisierung.
Nehmen Sie als Beispiel für Zukunftstechnologien
SGL Carbon. Jeder will die Produkte dieses Unternehmens für die Elektromobilität sowohl mit Blick auf Flugzeuge als auch auf Autos nutzen. Die erste Fabrik - damit verbunden sind auch Wertschöpfungsstufen wie
Tätigkeiten im Forschungsbereich und Produkte von Zulieferern - wird in Washington State gebaut und nicht in
Deutschland oder in Europa. Das ist leider die Wahrheit.
Deshalb ist das, was Sie sagen, unseriös und unverantwortlich.
Selbst wenn man alle Ausnahmen, die Sie angesprochen haben, streichen würde - das würde allerdings bewirken, dass die energieintensiven Industrien in
Deutschland nicht mehr existent wären -, dann wäre die
EEG-Umlage gerade einmal 1 Cent niedriger. Sie würde
statt 6,3 dann 5,3 Cent betragen. Daran wird deutlich,
dass das, was Sie behaupten, unverantwortlich ist und
dem Industriestandort schadet. Wenn es bei uns keine
energieintensive Industrie mehr geben würde, dann
müssten spätestens in zwei Jahren die Verbraucher wiederum für die Restkosten aufkommen. Insofern ist auch
das eine Milchmädchenrechnung.
({4})
Lassen Sie mich an dieser Stelle deutlich sagen: Unsere Ziele beim Thema Energie betreffen nicht nur den
Strom; wir sprechen heute aber nur über Strom. Wir werden unsere ambitionierten Ziele nicht erreichen, wenn
wir im Gebäudebestand nicht das Engagement zeigen,
das eigentlich notwendig wäre. Es ist aber leider das Gegenteil der Fall. Die Sanierungsquoten stagnieren bei
1 Prozent. Wir haben es einmal von 2005 bis 2009 mit
dem CO2-Gebäudesanierungsprogramm und mit anderen
Programmen geschafft, kurzfristig auf eine Quote von
2 Prozent oder noch darüber zu kommen.
Die unnötige Diskussion aller Beteiligten - im Bundestag gab es eine Entscheidung; aber mit den Ländern
gibt es noch Gespräche - über die steuerliche Förderung
der energetischen Sanierung hat dazu geführt, dass zwei
Jahre lang zu wenig passiert ist. Anstatt Anreize zu setzen, wird jetzt in Erwägung gezogen, mit dem Knüppel
zu kommen. Davor kann ich nur warnen.
Wir haben in der letzten Koalition mit der SPD, in
den Jahren 2005 bis 2009, in diesem Hause auch über
dieses Thema diskutiert und sind damals wohlweislich
nicht zu dem Ergebnis gekommen, technische Vorgaben
für die energetische Sanierung zu machen. Damals hatten Sie zwar eine andere Funktion, Herr Gabriel; aber
Sie erinnern sich sicherlich. Ich glaube, dies war gut.
In Baden-Württemberg hat man ein solches Gesetz
technologieoffen eingeführt und hat gesagt: 10 Prozent
erneuerbare Energien können ersetzt werden durch Bioheizöl oder Ersatzmaßnahmen. Das war aus meiner Sicht
technologieoffen. Dies hat damals die CDU zusammen
mit der FDP eingeführt. Leider ist aber das Ergebnis
- die Zahlen sprechen eine andere Sprache -, dass auch
in Baden-Württemberg die Sanierungsquote und Sanierungsgeschwindigkeit zurückgegangen sind, weil die
Leute dann eher gar nichts machen. Jetzt kommt die
grün-rote Landesregierung und sagt: Die Leute haben es
nicht verstanden. Wir erhöhen jetzt die Quote auf 15
oder gar 20 Prozent.
Ich glaube, das ist der falsche Weg. Wir müssen gemeinsam bessere Wege finden. Wenn wir im Bereich der
Gebäudesanierung nicht mehr erreichen, dann wird der
Umbau der Energieversorgung gegen die Wand fahren.
Dann werden wir nämlich nicht die Effizienzziele und
CO2-Reduktionsziele erreichen, die wir uns gemeinsam
vorgenommen haben.
({5})
Jetzt bleibt mir leider nicht mehr allzu viel Zeit, andere wichtige Punkte anzusprechen.
Europa. In dieser Legislatur muss in Europa vom Krisenmodus auf einen Wachstumsmodus umgeschaltet
werden. Hier gibt es neue Felder.
Verteidigung und Sicherheit. Hierauf kann ich leider
nicht eingehen. Vielleicht habe ich bei anderer Gelegenheit die Chance dazu.
Ich möchte aber noch einen Punkt ansprechen, nämlich die Transatlantische Handels- und Investitionspartnerschaft. Sie bietet die einzigartige Chance, in dieser
Legislatur eine Freihandelszone für 800 Millionen Menschen, Wachstumsimpulse von 120 Milliarden Euro in
Europa - in den USA von 100 Milliarden Euro - und
400 000 neue Arbeitsplätze zu schaffen. Es gibt viele
Chancen und nicht immer nur Gefahren. Lassen Sie uns
über die Chancen reden! Michael Fuchs hat einige
Punkte angesprochen -
Das wird jetzt aber nicht mehr gehen, Herr Kollege
Pfeiffer.
({0})
Vielleicht gibt es noch eine Zwischenfrage zu den
Chlorhühnchen?
Nein, nein, nein.
Dann könnte ich dazu noch etwas sagen. Dieses Beispiel spricht Frau Künast immer so gerne an. - Dann
muss ich dies leider an anderer Stelle erläutern. Denn
auch im Hinblick auf das Problem der Chlorhühnchen ist
die TTIP eine Chance bzw. eine Lösung und keine Gefahr. Es wird, bezogen auf die aktuelle Situation im Rah684
men der WTO, zu anderen Lösungen kommen. Wenn
wir dort Standards vereinbaren können, dann haben wir
die Chance zur Umsetzung besserer Bedingungen auch
in diesem Bereich. Aber die Darstellung weiterer Details
muss wohl einer Rede zu einer anderen Zeit und an anderer Stelle vorbehalten bleiben.
Sehr wohl.
Vielen Dank, Herr Präsident.
({0})
Nur für die neuen Kolleginnen und Kollegen zur Erläuterung der Geschäftsordnungslage und unserer ständigen Praxis: Ich lasse selbstverständlich gerne Zwischenfragen oder Zwischenbemerkungen zu, aber natürlich
nicht, nachdem die Redezeit des jeweils gemeldeten
Redners bereits überschritten ist. Jeder kann sich mühelos vorstellen, zu welcher Atomisierung aller vereinbarten Debattenzeiten eine solche Praxis führen würde.
Nun erhält als Nächster das Wort der Kollege Dieter
Janecek für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrter
Dr. Pfeiffer, gerade kam die Meldung, dass der schleswig-holsteinische Ministerpräsident Albig Ihre Pläne zur
Energiewende - auch die von Ihnen, Herr Gabriel - als
Sozialismus und Planwirtschaft bezeichnet. Ich hätte mir
nicht träumen lassen, dass ich der Union einmal Planwirtschaft und Sozialismus vorwerfen darf; aber das tue
ich hiermit sehr gerne.
({0})
Ich erkenne in Ihren Reden ein Grundproblem: Wenn
Sie von der Energiewende sprechen, dann sprechen Sie
zuerst über Kosten und Risiken. Aber wir Grüne sprechen von Chancen und Zukunft. Wir sprechen nämlich
von der Chance, mit klugen Investitionen das zukunftsfähigste, unabhängigste, modernste, sauberste und bürgerfreundlichste Energiesystem der Welt zu schaffen.
Darum geht es.
({1})
Wir sind die viertgrößte Industrienation der Welt und,
nebenbei bemerkt, Hoffnungsträger für den Klimaschutz
mit einem Weltmarktanteil von 15 Prozent bei den Umweltschutzgütern. Wir geben täglich in ganz Europa
1 Milliarde Euro für den Import von fossilen Energieträgern aus. Das ist eine Menge, da müssen wir raus. Durch
das EEG - das war eine industriepolitische Leistung sind die Produktionskosten für Wind- und Photovoltaikanlagen drastisch in den Keller gegangen. Dies ermöglicht heute, insbesondere Wind onshore, die günstigste
Stromproduktion, die wir haben können. Deswegen ist
das Gerede von der Deindustrialierung eine reine Panikmache Ihrer Seite.
({2})
Die jüngste Fraunhofer-Studie formuliert es doch treffend - das ist nämlich der Weg -: Erneuerbare beruhen
auf „kapitalkostenintensiven Technologien“ - ja, das
stimmt -, aber die Betriebskosten sind am Ende null. Warum sollten wir nicht mit aller Kraft danach streben?
Das ist doch unser Auftrag.
({3})
Das ist auch die Botschaft, die ich von einem deutschen Wirtschaftsminister erwarte. Ihre Aufgabe in der
Großen Koalition ist es, die Erfolgsgeschichte der erneuerbaren Energien zusammen mit den Ländern fortzuschreiben. Und wenn sich mein bayerischer Ministerpräsident Horst Seehofer von Winfried Kretschmann
Nachhilfe geben lässt, dann kann ich das nur begrüßen Hauptsache, es geht voran!
({4})
Wir reden heute beim Wirtschaftsplan aber nicht nur
über die Energiewende; wir haben eine Aussprache zum
gesamten Plan. Es geht zum Beispiel auch um Industriepolitik. Sie setzen auf Bestandsschutz für die alten Dinosaurier. Das sieht man bei der Energiewende, die, so wie
Sie es jetzt planen, de facto auch einen Bestandsschutz
für die Kohleenergie beinhalten wird. Sie fangen auch
bei der Automobilindustrie nicht damit an, darüber zu
reden, ob es immer schneller, höher, weiter gehen soll.
Und Sie verlieren kein Wort zu unserem Steuersystem.
Dieses Steuersystem bestraft nachhaltiges Verhalten und
belohnt es nicht. Auch da müssen wir ran.
({5})
Was wir wirklich brauchen, ist ein konsequenter Wandel
der Wirtschaft in Richtung Nachhaltigkeit und Ressourceneffizienz. Und wir brauchen eine Politik, die diesen
Wandel befördert und nicht bestraft.
Gestern habe ich in der Regierungserklärung der
Kanzlerin einiges Interessantes vernommen, zum Beispiel die Rede von dem „guten Leben“. Das kam mir erst
ein bisschen esoterisch vor, aber dann habe ich darüber
nachgedacht. Dazu gab es in der letzten Legislatur mit
der Enquete-Kommission „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität“ einen Vorlauf. Wir haben darüber diskutiert: Ist es eigentlich unsere Vorstellung von Wirtschaft,
nur auf blindes Wachstum, auf „schneller, höher, weiter“
zu setzen, oder geht es auch um Lebensqualität und
Wohlstand? Sie führen jetzt einen Dialog über das gute
Leben. Das finde ich gut. Ich hoffe nur, dass das wirklich
über Selbstbeschäftigung hinausgeht. Denn es lohnt sich
wirklich, sich darüber Gedanken zu machen.
({6})
- Da sehen Sie mal.
Es gibt auch Licht im Koalitionsvertrag. Immerhin: Es
gibt einen eigenen Abschnitt zur Rohstoffsicherung. Das
finde ich sehr gut. Denn für die Wettbewerbsfähigkeit der
Industrie wird die Frage der Verfügbarkeit von Seltenen
Erden, nachwachsenden Rohstoffen, Einfuhr von Mineralien und Metallen immer bedeutsamer. Die warnenden
Stimmen aus den Unternehmen häufen sich, wie jüngst
eine Studie aus der bayerischen Wirtschaft gezeigt hat.
Wir Grüne wollen die Ressourcenwende. Wir wollen
die Rohstoffabhängigkeit der deutschen Industrie senken, dadurch die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft
stärken und Umwelt und Klima schonen. Wer wirklich
glaubt, dass wir bei Erdöl, bei Seltenen Erden, ja perspektivisch auch bei Gas dauerhaft auf der sicheren Seite
sind, der glaubt auch an den Mann im Mond. Das Ende
des Frackinghypes in den USA sollte uns da endgültig
eines Besseren belehren.
({7})
Ein Thema kam heute wirklich viel zu kurz: die digitale Revolution. Wir reden ja nicht nur über die Energiewende und die Industrie, sondern auch über das Potenzial, das wir in der Digitalwirtschaft haben. Wissen Sie,
wie viele Unternehmen aus Deutschland unter den 64
größten Internetunternehmen weltweit sind? Kein einziges. Deswegen ist es gut, dass wir jetzt einen entsprechenden Ausschuss einrichten. Leider droht er an den
verschiedenen Kompetenzen der Ministerien zu ersticken
und nur eine beratende Funktion zu erhalten. Aber auch
das Thema Digitalwirtschaft gehört auf die Agenda; das
müssen wir intensiv bearbeiten.
({8})
Jetzt ist mir noch ein Punkt wichtig. Sie, Herr Minister, treten hier mit vollen Kassen an. Manche Ihrer Vorgänger hatten es wirklich schwerer. Und was tun Sie?
Sie stecken 10 Milliarden Euro in die - das nenne ich
jetzt so - Finanzierung von Rentenleistungen und schaffen damit nicht einmal, etwas gegen Altersarmut zu tun.
Aber bei öffentlichen Zukunftsinvestitionen bleibt dagegen einiges auf der Strecke. In Ihren Ursprungsüberlegungen war die steuerliche Förderung von Forschung,
Entwicklung und Gebäudesanierung angedacht, vor allem auch - das sage ich in Richtung SPD; denn das war
Ihr Wunschprojekt - ein umfangreiches Förderprogramm für Breitband. All das ist weg; das gibt es nicht
mehr. Das geht zulasten der kommenden Generationen
und der Zukunftsfähigkeit.
({9})
Kommen wir zum Freihandelsabkommen. Wir Grüne
sagen Ja zum Freihandel. Wir sagen auch Ja zu echtem
Wettbewerb. Wir sagen vor allem Ja zu starken ökologischen und sozialen Standards. Aber dann schaffen wir
doch mal gemeinsam die Zölle für Umweltschutzgüter
oder die milliardenschweren Subventionen für Erdöl,
Kohle und Atom hier und jenseits des Atlantiks ab! Dazu
höre ich von dieser Regierung kein Wort. Stattdessen
laufen die Verhandlungen in eine ganz andere Richtung.
Eines muss doch klar sein: Ein Freihandelsabkommen,
bei dem multinationale Konzerne in die Souveränitätsrechte von Staaten eingreifen können, ist nicht zustimmungsfähig.
({10})
Wir sagen Nein zu einem Freihandelsabkommen, das soziale und ökologische Standards schleift. Hier erwarten
wir ganz klare Worte von der Regierung, auch was den
Investitionsschutz angeht. Es kann nicht sein, dass uns
multinationale Konzerne hier verklagen können und wir
dann die Leidtragenden sind.
({11})
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, wir stehen
immer noch am Anfang dieser Legislatur. Die Weichen
für die Zukunft werden jetzt gestellt, doch bei Ihnen
stimmt die Richtung nicht.
Wir bieten Ihnen die Zusammenarbeit an, wenn es darum geht, die Energiewende kraftvoll umzusetzen. Sie
können auf uns setzen, wenn es darum geht, Lösungen
für ressourcenschonendes Wirtschaften zu finden. Aber
was wir wirklich brauchen, ist eine Steigerung des Investitionstempos und der Innovationsansätze.
Wir brauchen Forschung über vernetzte Mobilität,
postfossile, sich selbst versorgende Städte, ökologische
Architektur mitsamt Gebäuden, die künftig mehr Energie produzieren, als sie verbrauchen, über die Chancen
der Sharing Economy, den Schutz der Gemeingüter, die
Potenziale der Biotechnologie und künstlichen Fotosynthese und über die Nutzbarmachung der digitalen Revolution für eine nachhaltige Ökonomie.
In der chemischen Industrie steht die Substitution von
Öl und Gas durch nachwachsende Rohstoffe an. Die Automobilindustrie muss den Weg hin zu Leichtbau, Hybriden
und Elektromobilität beschreiten. Eine Zero-Waste-Ökonomie braucht ein flächendeckendes Recyclingsystem.
Vor allem brauchen wir eines: Preise müssen endlich
die ökologische Wahrheit sagen.
({12})
Deshalb müssen wir über eine Stärkung des Emissionszertifikatehandels und die Weiterführung einer ökologischen Finanzreform reden. Nur dann herrscht echter
Wettbewerb. Nur dann gelingt der Wandel hin zu einer
grünen Ökonomie.
Die Große Koalition steht für die Bewahrung der
Strukturen von gestern. Wir Grüne hingegen stehen für
Innovation, frei nach Edmund Stoiber: Grün ist, was Arbeit schafft.
Ich danke Ihnen.
({13})
Lieber Kollege Janecek, ich gratuliere Ihnen zu Ihrer
ersten Rede im Deutschen Bundestag und wünsche Ihnen
Freude und Erfolg bei Ihrer parlamentarischen Arbeit.
({0})
Wolfgang Tiefensee ist der nächste Redner für die
SPD-Fraktion.
({1})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Diese Große
Koalition hat vier Jahre vor sich, und wir wollen diese
vier Jahre nutzen, um für gesundes und nachhaltiges
Wachstum in Deutschland zu sorgen. Wir wollen für
mehr Arbeitsplätze, für gute Arbeit sorgen. Schließlich
geht es darum, die Lebensqualität aller in Deutschland
lebenden Menschen zu verbessern, egal wo sie herkommen, wie gebildet sie sind und was sie verdienen.
Diese Ziele sind für uns handlungsleitend, und wir
wollen sie in den nächsten vier Jahren umsetzen.
({0})
Dabei setzen wir auf die Unternehmen. Ebenso wie wir
auf die Belegschaft, die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, setzen, setzen wir auf die Unternehmer. Wir
werden ganz dicht an ihnen dran sein. Die Türen stehen
offen, und ich lade alle draußen im Lande ein, mit uns
gemeinsam dafür zu sorgen, dass Deutschland vorankommt.
Wenn ich mit Unternehmern und Belegschaften rede,
dann tauchen immer wieder sechs wichtige Problemkreise auf, die wir in Zukunft im Blick behalten müssen.
Als Erstes wird genannt: Sorgt dafür, dass wir in Europa
verlässliche und stabile Bedingungen haben. Das Zweite
ist: Löst das Problem der Demografie, des Fachkräftebedarfs und der Nachfolge in den Unternehmen. Das
Dritte: Kümmert euch um die Energie, um die Stabilität
der Preise. Als Viertes wird oft genannt: Wir brauchen
eine bessere Infrastruktur - Herr Janecek hat es angesprochen -, womit nicht nur die Infrastruktur in Bezug
auf Straßen, Abwasser und Wasser gemeint ist, sondern
auch die digitale Infrastruktur. Als fünftes Thema wird
genannt: Wir brauchen mehr Innovationsschub. Wir
brauchen eine neue Gründerzeit. Schließlich: Wir haben
immer noch eine überbordende Bürokratie, das Steuersystem ist undurchschaubar. - Diese sechs Punkte werden wir in den nächsten Jahren gleichermaßen im Blick
behalten, auch wenn momentan die Energiewende im
Vordergrund steht. Wir wollen auf allen diesen Sektoren
erfolgreich sein.
({1})
Ein überwölbendes Thema spielt oft eine Rolle, weshalb ich es unbedingt ansprechen möchte: Wir brauchen
in Deutschland eine neue Haltung gegenüber Unternehmen, Unternehmern, und wir brauchen eine neue Haltung von Unternehmern gegenüber den Zulieferern aus
aller Welt.
Zum Ersten. Es ist ganz schön, wenn man während
seiner Schulzeit so nebenbei das Tanzen lernt oder, wie
ich, das Cellospielen - das macht Spaß -, aber wir brauchen auch Education for Enterprise. Wir brauchen eine
Erziehung zum Unternehmertum, die es ermöglicht, dass
wir tatsächlich einen Schub bei den Unternehmensgründungen bekommen: Wertschöpfung, neue Produkte,
neue Märkte. Das wollen wir in der Zukunft angehen,
nicht zuletzt durch unseren High-Tech Gründerfonds,
den wir üppig ausgestattet haben. Wir werden noch viele
weitere Maßnahmen einleiten.
Das Zweite ist aber mindestens genauso wichtig
- Herr Fuchs, aufgrund der Koalitionsgespräche darf ich
Sie direkt ansprechen -: Wir müssen in Bezug auf Corporate Social Responsibility, auf die Verantwortung in
den Wertschöpfungsketten, dafür sorgen, dass Deutschland nicht nur auf die eigenen Schuhspitzen schaut. Wir
müssen uns dafür interessieren, wo die Produkte herkommen und ob sie tatsächlich auf Basis der ILO-Normen, aber auch der OECD-Standards zu Werke gebracht
wurden. Wir werden uns für mehr Verbindlichkeit einsetzen müssen. Es muss uns interessieren, wie es dem
Arbeitnehmer geht, und zwar nicht nur in Deutschland.
({2})
Herr Janecek, Sie haben gesagt, dass wir unzulässigerweise von einer Deindustrialisierung sprechen. Wir
stehen - das ist meine erste Bemerkung dazu - mit Blick
auf Europa vor enormen Herausforderungen. Ich weiß
nicht, ob Ihnen bewusst ist, dass der Anteil Europas an
der Industrieproduktion in der Welt in den letzten
13 Jahren von 27 auf 25 bzw. aktuell 23 Prozent gesunken ist, während der gesamte asiatische Raum - dazu
zählen insbesondere Indien und China - um 18 Prozent
auf 27 Prozent zugelegt hat.
({3})
Wir brauchen industrielle Stärke, und zwar nicht nur
Deutschland, sondern in ganz Europa. Deutschland hat
einen Anteil von 15,3 Prozent an der industriellen Wertschöpfung in Europa, bezogen auf das BIP. Das ist zu
wenig. Da müssen wir mehr tun, auch mit Blick auf Ost-,
Südost- und Südeuropa.
({4})
Dazu bedarf es großer Anstrengungen, auch aus
Deutschland heraus.
Herr Kollege Tiefensee, darf die Kollegin Hajduk Ihnen eine Zwischenfrage stellen?
Ja. - Sehr gerne, Frau Hajduk.
Sehr geehrter Herr Kollege Tiefensee, Sie haben über
die Notwendigkeit und die Entwicklung der Industrialisierung in Europa im Verhältnis zur globalen Wirtschaft
gesprochen. Ist Ihnen bewusst - davon ausgehend, dass
die Zahlen so sind, wie Sie sie vorgetragen haben -, dass
der industrielle Sektor in Europa, insbesondere bezogen
auf die deutsche Wirtschaft, einen enormen Zuwachs
durch das Potenzial der Energiewende verzeichnen
konnte? Darauf ist der Kollege Janecek eingegangen. Ist
Ihnen die Bedeutung der Energiewende für den industriellen Fortschritt im Sinne einer nachhaltigen WirtAnja Hajduk
schaft bewusst? Würden Sie zustimmen, dass das deswegen die richtige Richtung für die deutsche
Industriepolitik ist?
Frau Hajduk, zunächst möchte ich Ihnen sagen, dass
ich mich auf die Zahlen des Instituts der deutschen Wirtschaft beziehe. Das ist ein sehr arbeitgebernahes Institut.
Sie können diese Zahlen sicherlich nachlesen.
Zum Zweiten. Ich stimme Ihnen zu, dass wir auf ganz
unterschiedlichen Feldern dafür sorgen müssen, dass
Deutschland seinen industriellen Sektor ausbaut, zumindest erhält; das Stichwort „energieintensive Unternehmen“ ist genannt worden. Wir dürfen den Fokus aber
nicht allein auf diese Unternehmen richten, sondern wir
müssen zum Beispiel auch die Rohstoffsituation im Fokus haben.
Mein Petitum ist, dass wir stärker auf Europa
schauen. Deutschland hat einen Anteil von ungefähr 23,
24 Prozent - dieser Anteil ist stabil - an der industriellen
Wertschöpfung, bezogen auf das Gesamt-BIP, während
der Anteil Großbritanniens auf 12 Prozent und der Anteil Frankreichs auf 11 Prozent gesunken ist. Wir könnten uns stolz zurücklehnen und sagen: Das reicht, unser
industrielles Rückgrat ist gut. Ich werbe dafür, dass wir
den europäischen Raum in Relation zu Asien und den
USA im Blick behalten. In unseren Schulstuben hängen
Landkarten, auf denen Europa in der Mitte zu sehen ist.
So betrachtet sind Asien und die USA ein Appendix. Ich
plädiere dafür, dass wir diese Karten wegräumen und
vielleicht einmal Asien in den Mittelpunkt stellen. Dann
ist Europa ein Appendix. Wir können auch die USA in
den Mittelpunkt stellen.
Eine Möglichkeit, die Industrie zu unterstützen, eine
Möglichkeit, neue Technologien, neue Produkte und damit neue Märkte und Arbeitsplätze zu gewinnen, ist, die
Energiewende zum Erfolg zu führen. Da kann Deutschland Vorreiter sein. Aber es wird nicht reichen, wenn nur
Deutschland es tut. Wir müssen mit unseren Nachbarn
darüber reden, wie sie die Energiewende gestalten und
gleichzeitig die Industrieproduktion aufrechterhalten
können. Das ist die riesige Herausforderung. Wenn
Deutschland hier Vorreiter ist und Europa mitnimmt,
wenn Deutschland nicht auf Europa herabblickt, nicht
den Faden abreißen lässt, wenn wir die anderen europäischen Länder weiter im Blick behalten, dann sollte es
gelingen, dass wir die industrielle Wertschöpfung in Europa insgesamt heben. Da sind wir einer Meinung.
({0})
Jetzt läuft meine Redezeit schon wieder? Das ist gemein. - Ich wollte noch ganz kurz ansprechen, dass wir
uns um die Fachkräfte kümmern müssen. In diesem Zusammenhang geht es um fünf Sektoren: Erstens müssen
wir den Bereich „Familie und Frauen“ im Auge haben.
Zweitens müssen wir dafür sorgen, dass mehr Jugendliche einen Schulabschluss erreichen. Drittens müssen wir
die Arbeitslosen wieder in Arbeit bringen. Viertens brauchen wir diejenigen, die älter sind, länger am Arbeitsmarkt.
Fünftens brauchen wir eine gezielte Zuwanderung. Die
Bluecard ist ein Flop: 17 000 wurden angemeldet, 7 000
wurden ausgereicht, führten also tatsächlich zu Arbeitsplätzen, davon 4 000 an Menschen, die ohnehin schon in
Deutschland waren. Eine Diskussion, die die Zuwanderung diskreditiert, mit der man auf dem Rücken von Rumänen, Bulgaren und anderen Politik machen will, ist
zurückzuweisen. Wir brauchen diese Fachkräfte, damit
es in Deutschland vorangeht.
({1})
Ich lade die Unternehmerinnen und Unternehmer sowie die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ein, mit
uns gemeinsam für mehr Wachstum, Arbeitsplätze und
damit für mehr Lebensqualität in Deutschland, in Europa
und auch darüber hinaus zu sorgen.
Vielen Dank.
({2})
Das Wort erhält nun der Kollege Michael Schlecht für
die Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren! Sehr geehrter Herr Minister! Ich hatte erwartet, dass Sie heute in Ihrer Rede etwas zu Ihrer wirtschaftspolitischen Konzeption sagen. Dazu habe ich allerdings sehr, sehr wenig gehört.
({0})
Sie haben sich - anscheinend ist das ein Thema, das Sie
sehr stark in Anspruch nimmt - im Grunde genommen
nur auf die Energiewende konzentriert.
Wenn Sie zu Ihrer wirtschaftspolitischen Konzeption
etwas gesagt hätten, hätte ich erwartet, dass Sie sich zum
Beispiel zu dem Tatbestand äußern, dass die wirtschaftspolitische Lage in Deutschland ganz stark von einem
sehr hohen Exportanteil - er beträgt über 50 Prozent abhängig ist und dass wir eine viel zu schwache binnenwirtschaftliche Entwicklung haben. Ich hätte mir auch
gewünscht, dass Sie Ausführungen dazu machen, wie
man die binnenwirtschaftliche Entwicklung wieder deutlich stärken kann, wie man damit vor allen Dingen die
Unsicherheitsfaktoren für die deutsche Wirtschaftsentwicklung, für die Arbeitsplätze in Deutschland, die bei
einer 50-prozentigen Abhängigkeit von Exporten natürlich gegeben sind, beseitigen kann und wie man dafür
sorgen kann, dass eine größere Stabilität in diesem
Lande Einzug hält.
Der wichtigste Punkt in diesem Zusammenhang wäre
gewesen, sich mit dem dramatischen Lohndumping auseinanderzusetzen. Klaus Ernst hat ja bereits ausgeführt,
dass seit 2000 praktisch eine Stagnation der Reallöhne
besteht. In den Jahren 2011 und 2012 hatten wir eine
leichte Steigerung der Reallöhne zu verzeichnen. Im
letzten Jahr sind sie wieder gesunken; es gab Einbrüche.
Das heißt, wir brauchen in Deutschland endlich eine
Politik, die dafür sorgt, dass die Löhne in Deutschland,
insbesondere die Tariflöhne, wieder deutlich ansteigen.
({1})
Die von Ihnen angedachten Maßnahmen zu Veränderungen am Arbeitsmarkt, durch die die Durchsetzungsfähigkeit der Gewerkschaften möglicherweise wieder gestärkt wird - das betrifft die Leiharbeit und einige andere
Dinge; ich habe zu wenig Redezeit, um darauf einzugehen -, sind außerordentlich unzureichend. Auch der
Mindestlohn von 8,50 Euro wird diesen Anforderungen
in keiner Weise gerecht werden, obwohl er für sich genommen für viele Menschen sicherlich eine Verbesserung darstellt.
Ich würde Ihnen in diesem Zusammenhang auch raten, sich zu überlegen, ob Sie in der Tarifrunde des öffentlichen Dienstes, die jetzt im März ansteht - da haben
Sie als Arbeitgeber das Heft in der Hand -, einen Beitrag
dazu leisten, indem Sie auf die Forderungen von Verdi
eingehen und sie am besten komplett erfüllen. Dort
könnte endlich ein deutlicher Beitrag geleistet werden,
um die Lohnentwicklung in Deutschland zu stabilisieren, nach vorne zu bringen. Gerade bei den Löhnen im
öffentlichen Dienst ist gegenüber der Industrie in den
letzten 10, 12, 13 Jahren eine Lücke von über 10 Prozent
entstanden. Diese müsste schon allein aus Gerechtigkeitsgründen ausgeglichen werden. Aber aus wirtschaftspolitischen Gründen wäre es umso wichtiger, eine
ganz andere Lohnentwicklung in Deutschland zu initiieren. Dazu hat die Politik das Heft in der Hand. Dazu haben Sie sich aber überhaupt nicht verhalten. Das wäre
aus meiner Sicht bei diesem ganz zentralen Punkt aber
notwendig, um unser Land voranzubringen.
({2})
Über die weiteren wirtschaftspolitischen Risiken, die
uns gerade von der Seite der Exporte her drohen, habe
ich bisher nichts gehört, auch von anderen - etwa dass
die Euro-Krise weiter vor sich hinwabert oder dass es
durch die Euro-Krise zu weiteren Einbrüchen kommen
wird - nichts.
Es wird beschworen, dass die Absatzmärkte der deutschen Wirtschaft gerade in Europa sind. Im Handel mit
Südeuropa haben wir aber in den letzten Jahren Exporteinbrüche in Höhe von 15 Milliarden Euro zu verzeichnen. Dass dies nicht schon längst zu einer massiven
Krise hier in Deutschland geführt hat, ist einzig und allein dem Umstand zu verdanken, dass die Exporte nach
China um exakt den gleichen Betrag angestiegen sind.
Aber auch die weitere Entwicklung in China ist mit sehr
vielen Fragezeichen versehen. Da gibt es erhebliche Unsicherheitspotenziale. Deshalb ist es aus unserer Sicht
dringend angeraten, die binnenwirtschaftliche Entwicklung zu stärken, vor allen Dingen die Löhne zu erhöhen.
Das ist ein ganz wichtiger Punkt, den wir herausstellen
wollen.
Danke schön.
({3})
Ich erteile das Wort nun dem Kollegen Andreas Lenz
für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Menschen in
Deutschland vertrauen auf eine gute Zukunft. 57 Prozent
der Deutschen blicken laut Allensbach-Institut hoffnungsvoll, ja hoffnungsfroh in die Zukunft. Das sind so
viele wie seit 20 Jahren nicht mehr. Sie können optimistisch in die Zukunft blicken; denn die deutsche Wirtschaft steht in einem schwierigen europäischen und globalen Umfeld blendend da.
Ich brauche nicht zu betonen, dass die bayerische
Wirtschaft noch blendender dasteht und im Rahmen des
Wirtschaftswachstums, das seit 2009 - also nach der
Krise - insgesamt 8 Prozent beträgt, die Wachstumslokomotive innerhalb Deutschlands ist und war.
Basis und Stütze dieser Entwicklung ist eine gute Situation auf dem Arbeitsmarkt. Seit 2009 wurden rund
1,5 Millionen neue, vor allem sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze geschaffen. Die Zahl der Erwerbstätigen befindet sich auf einem Rekordniveau. Es ist zu erwarten, dass die Erwerbstätigkeit weiter zunehmen und
die Zahl der Arbeitslosen im laufenden Jahr wieder unter
2,9 Millionen Menschen sinken wird. Die Jugendarbeitslosigkeit ist so niedrig wie sonst nirgendwo in der Europäischen Union. Die gute Lage auf dem Arbeitsmarkt
und höhere verfügbare Einkommen sorgen für eine steigende Binnennachfrage, die sich immer mehr zum
Träger eines anhaltenden Wirtschaftswachstums entwickelt. All dies ist Ergebnis des Fleißes der Beschäftigten,
der Unternehmer und des leistungsfähigen Mittelstandes.
({0})
Nicht zuletzt hat auch die wachstumsorientierte Konsolidierungspolitik der unionsgeführten Bundesregierung in den vergangenen Jahren dazu beigetragen, dass
Deutschland mittlerweile Wachstumsmotor und, wie die
Bundeskanzlerin gestern sagte, ein Anker der Stabilität
in Europa ist. Klar muss sein, dass die Wirtschaft letztlich immer den Menschen zu dienen hat, nicht umgekehrt. Aber klar muss auch sein, dass nur eine starke
Wirtschaft einen sozialen Ausgleich überhaupt ermöglicht. Das ist ein wesentlicher Wert der sozialen Marktwirtschaft, den es immer wieder zu betonen gilt.
({1})
Einer der Gründerväter der sozialen Marktwirtschaft,
Walter Eucken, meinte: Die soziale Marktwirtschaft hilft
zur größtmöglichen Verwirklichung von Gerechtigkeit, Sicherheit und Freiheit im menschlichen Zusammenleben. Um diese Ziele zu erreichen, muss das Haftungsprinzip
als wesentliches Prinzip der sozialen Marktwirtschaft beDr. Andreas Lenz
herzigt werden. Um einmal mehr Walter Eucken zu bemühen: Wer den Nutzen hat, muss den Schaden tragen. Hierfür wurde bereits vieles erreicht.
({2})
Die soziale Marktwirtschaft schafft die Innovationen,
die uns im internationalen Wettbewerb so stark machen.
So ist der Export eine wesentliche Komponente des wirtschaftlichen Erfolges unseres Landes. Deutsche Unternehmen liefern weltweit in allen Bereichen Spitzenprodukte. Die Pläne der Europäischen Kommission, die
Exportüberschüsse in der deutschen Handelsbilanz zu
prüfen und möglicherweise mit Strafzahlungen zu belegen, sind deshalb weiterhin strikt abzulehnen. Man
macht, gerade in diesem Fall, die Schwachen nicht stärker, indem man die Starken schwächt.
({3})
Vielmehr muss es unser Anliegen sein, dass die wirtschaftlich schwachen Länder stärker werden. Das funktioniert langfristig nur durch Strukturreformen.
({4})
Wir müssen auch aufpassen, dass das Ziel, den Außenhandelsüberschuss abzubauen, nicht sozusagen durch die
Hintertür erreicht wird: durch Wettbewerbsauflagen der
Europäischen Kommission hinsichtlich der Befreiung
der stromintensiven, im internationalen Wettbewerb stehenden Unternehmen in Deutschland von der EEG-Umlage. Auch um dies zu verhindern, müssen wir handeln.
({5})
Deutschland muss Industrieland bleiben, Deutschland
muss Industrieland bleiben können. Mit den Exportüberschüssen gehen riesige Kapitalströme einher. Wir haben
es vorhin schon gehört: Ziel muss auch sein, die Investitionstätigkeit in Deutschland zu stärken. Genau das haben wir im Koalitionsvertrag vereinbart: Wir schaffen
bessere Rahmenbedingungen für private Investitionen
und sorgen für mehr öffentliche Investitionen, vor allem
in den Bereichen Infrastruktur, Bildung und Forschung,
aber auch durch die Entlastung der Kommunen.
({6})
Deutschland braucht einen Investitionsschub. Es geht
darum, langfristig eine Investitionsquote zu erreichen,
die oberhalb des OECD-Durchschnitts liegt.
Für uns sind solide Staatsfinanzen dabei eine entscheidende vertrauensbildende Maßnahme. Hier sind wir auf
dem richtigen Weg. Bereits ab diesem Jahr wollen wir einen strukturell ausgeglichenen Haushalt erreichen, ab
2015 sogar einen Haushalt ohne Nettoneuverschuldung.
Daran, meine Damen und Herren, müssen wir uns auch
messen lassen.
({7})
Wenn sich der Kollege Tiefensee dafür ausspricht, die
Besteuerung in Deutschland in den nächsten vier Jahren
zu vereinfachen, dann werden wir sicherlich die Letzten
sein, die nicht darüber diskutieren wollen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, geht man
vom Reichstag unterirdisch ins Paul-Löbe-Haus, so sieht
man in einem Kellerabteil einen Wegweiser, auf dem
steht: Zur Energiezentrale. - Ich bin ja neu gewählt, da
fällt mir so etwas noch auf. Vielleicht achten Sie beim
nächsten Mal auch darauf. Auf der politischen Agenda
steht die Energiepolitik seit vielen Jahren nicht mehr unten, sondern ganz oben. Es ist deswegen richtig und
wichtig, die Energiepolitik bundespolitisch an hoher
Stelle anzusiedeln, es ist gut, dass wir jetzt einen Energieminister haben.
({8})
Die Novelle des EEG wird eines der großen Themen
dieser Legislaturperiode sein. Um das Vertrauen in eine
verlässliche Wirtschaftspolitik zu stärken, müssen wir
auch im Energiebereich für verlässliche Rahmenbedingungen sorgen. Wir werden am großen Rad drehen müssen, wir werden aber auch an den kleineren Stellschrauben
Justierungen vornehmen müssen. Das Eckpunktepapier
von Bundesminister Gabriel beinhaltet vernünftige Vorschläge für diese ersten Schritte. Diese Eckpunkte stellen eine gute Grundlage dar, auch wenn im Gesetzgebungsverfahren sicherlich noch an der einen oder
anderen Stellschraube zu drehen sein wird. Die CDU/
CSU-Fraktion wird diesen Prozess im Sinne der Menschen in unserem Land begleiten.
({9})
Die Bürger und die Unternehmen sollen sich auf die
in den nächsten Monaten zu treffenden Entscheidungen
langfristig verlassen können. Im Hinblick auf getätigte
und sich in der Realisierung befindende Investitionen
muss Vertrauensschutz gewährt werden. Wir werden darauf achten, dass der Ausbau der erneuerbaren Energien
dynamisch weitergeht; gleichzeitig müssen wir die Energiewende so steuern, dass sie ökonomischen wie ökologischen Interessen Rechnung trägt. Wir brauchen die
richtigen Marktanreize. Dabei bedarf es im Endergebnis
auch einer engen europäischen Koordination. Ebenso
muss der Netz- und Speicherausbau besser koordiniert
und entsprechend gefördert werden. Es bedarf also eines
ganzheitlichen Konzeptes im Rahmen des Energiewirtschaftsgesetzes.
Wir wollen, dass Energie für die Menschen und die
Unternehmen in unserem Land bezahlbar bleibt. Gleichzeitig muss die Energieversorgung in diesem Land sicher bleiben. Die Verbraucher zahlen mittlerweile über
die Stromrechnung pro Jahr rund 24 Milliarden Euro
EEG-Umlage; das ist ungefähr so viel wie das Bruttoinlandsprodukt von Lettland. Hier müssen wir die Kosten
begrenzen. Die Belastung darf für den Verbraucher nicht
so hoch sein, dass er die Verantwortung für die Energiewende nicht mehr tragen kann und auch nicht mehr tragen möchte. Dazu brauchen wir eine markt- und kostenorientierte Reform des EEG.
({10})
Wir brauchen eine bessere Integration von dezentraler
Stromproduktion aus regenerativen Energien innerhalb
einer modernen Stromversorgung. Der Ausgleich der
schwankenden Stromerzeugung aus regenerativen Energien muss durch den Bau hocheffizienter Kraftwerke
und Speicher gewährleistet werden. Im Rahmen eines
Strommarktdesigns - das ist ein schönes Wort - gilt es
die Bereitstellung gesicherter Leistung zusätzlich zu den
Erlösen aus dem Stromverkauf zu honorieren.
Bürgerinnen und Bürger in ganz Deutschland tragen
bereits jetzt vor Ort zum Erfolg der erneuerbaren Energien bei. Beispielsweise gibt es mittlerweile in ganz
Deutschland über 650 Energiegenossenschaften. Ich sage
hier ganz klar: Die Wertschöpfung soll in der Region bleiben, trotzdem müssen sich natürlich auch Energiegenossenschaften dem Wettbewerb stellen.
Es ist auch zu betonen, dass wir uns nicht nur über
den Preis einer Form der erneuerbaren Energien unterhalten dürfen und müssen, sondern dass wir auch deren
Wert ins Blickfeld ziehen sollten. Darüber wird ganz unaufgeregt zu diskutieren sein. Das gilt im Besonderen für
die grundlastfähige Energie aus Biomasse, die gerade im
Bereich der Energiegewinnung aus Reststoffen kosteneffizient weiter erschlossen werden muss.
({11})
Ein gerechter Wettbewerb kann helfen, die Energiekosten im Gleichgewicht zu halten. Ich bin davon
überzeugt, dass sich unsere innovativen Mittelständler
im Bereich der erneuerbaren Energien einem gerechten
Wettbewerb stellen können, werden und letztlich auch
wollen.
Hinsichtlich der Ausschreibungen gilt es, wenn man
eine gesetzliche Regelung treffen will, die Erfahrungen
aus dem Ausland entsprechend zu berücksichtigen.
Auch eine faire Bepreisung des CO2-Ausstoßes kann
helfen, Marktungleichgewichte abzubauen.
({12})
Ich bin von den Chancen der Energiewende überzeugt. Um dauerhaft Akzeptanz und Vertrauen zu schaffen, bedarf es einer Novellierung des EEGs sowie eines
ganzheitlichen Energiekonzeptes, das auch Maßnahmen
zur Energiespeicherung und Energieeffizienz beinhaltet.
Es gilt also, jetzt das als richtig Erkannte bzw. das als
richtig zu Erkennende umzusetzen und dabei das Warum
und das Wozu zu erklären. Es geht um eine gute Zukunft. Es gilt, für Deutschland eine sichere, saubere und
bezahlbare Energiewende zu verwirklichen.
Herzlichen Dank.
({13})
Kollege Lenz, das war Ihre erste Rede im Deutschen
Bundestag. Ich gratuliere Ihnen recht herzlich und wünsche Ihnen viel Erfolg für die Zukunft.
({0})
Ich gratuliere Ihnen im Übrigen aus doppeltem
Grunde: Zum einen ist eine solche Premiere immer aufregend. Zum anderen ist Ihnen gelungen, was den wenigsten Rednern gelingt, wenn sie das erste Mal hier sprechen, nämlich die Redezeit nicht nur einzuhalten,
sondern sogar darunter zu bleiben.
({1})
Das Wort hat die Kollegin Sabine Poschmann für die
SPD-Fraktion.
({2})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
möchte den Fokus nun auf ein Thema richten, welches
nicht ständig in den Medien präsent ist. Es gibt zum
Glück wenig schlechte Nachrichten darüber, da er in der
Regel krisenfest ist. Sie werden vielleicht darauf kommen: Ich spreche vom deutschen Mittelstand,
({0})
der unter all den anderen Themen, die uns auf den Nägeln brennen, immer einen hohen Stellenwert hat und
unsere Aufmerksamkeit verdient. Wir sollten den Mittelstand nicht nur wertschätzen, sondern sollten die Schaffung der ihm zugesagten optimalen Rahmenbedingungen, von denen wir immer sprechen, nun endlich in die
Tat umsetzen.
({1})
Der Mittelstand ist bisher ein Wachstumsmotor. Genau das braucht Deutschland, um die Stürme, die im
europäischen, aber auch im internationalen Wirtschaftsraum eventuell noch auf uns zukommen, zu überstehen.
Dafür brauchen wir das Rad nicht neu zu erfinden,
aber es kann nicht gewollt sein, dass Unternehmen Berater einstellen müssen, um an Fördermittel zu kommen.
Dies können sich Großunternehmen finanziell leisten,
kleine und mittlere Betriebe werden damit jedoch Probleme haben.
({2})
Es kann auch nur eine Hilfskrücke sein, dass wir in
Städten Dienstleistungszentren gründen, die mittelständische Unternehmen durch unseren Auftragsdschungel
lotsen. Hier müssen wir überschüssiges Fett abbauen. Da
der Sommer kommt, fangen wir am besten gleich mit der
Entschlackungskur an.
Am Montag meldete das Handelsblatt, dass der Mittelstand ein finanzielles Rekordpolster hat. Trotz der stabilen Lage investieren unsere deutschen mittelständischen und kleinen Unternehmen aber nur wenig. Hier
müssen wir wieder zu mehr Investitionen animieren, vor
allem in Innovationen; denn innovative Unternehmen
wachsen schneller, und sie schaffen die für uns so wertvollen Arbeitsplätze.
Beim Thema Innovation übernimmt das Handwerk
als Initiator und Impulsgeber, aber auch als Ausbilder
eine hohe Verantwortung.
({3})
Der im letzten Jahr ausgeschiedene Präsident des Zentralverbandes des Deutschen Handwerks erklärte einmal:
„Das Handwerk ist die Wirtschaftsmacht von nebenan.“
Die Qualität seiner Leistung ist über Deutschland hinaus bekannt. Das gilt auch für seine Flexibilität; denn
es stellt sich schnell auf neue Rahmenbedingungen ein,
die häufig von uns geschaffen werden, sei es in Bezug
auf die Haussanierung, die Barrierefreiheit oder die Installation von Anlagen zur Stromgewinnung aus regenerativen Energien. Wir sollten uns deshalb gemeinsam dafür einsetzen, dass deutsche Standards gewahrt werden.
Der Meisterbrief darf auf europäischer Ebene nicht an
Wert verlieren.
({4})
Um für die Zukunft gewappnet zu sein, müssen wir
uns nachdrücklich dem Thema Fachkräftemangel widmen. Dieser trifft vor allem den Mittelstand und hier insbesondere die kleineren Unternehmen; denn sie können
es sich nicht, wie Großunternehmen, leisten, Bewerber
mit besonderen Anreizen zu locken oder duale Studiengänge zu finanzieren. Hier müssen wir unsere
Qualifizierungsreserven im Land besser nutzen, stärker in Bildung investieren und Weiterbildungsmöglichkeiten weiter ausbauen.
({5})
Auf die Energiewende sind meine Kollegen schon
hinreichend eingegangen. Trotzdem möchte auch ich
hier noch einmal auf die Bedeutung gerade für den Mittelstand hinweisen. Die Energiewende muss planbar und
bezahlbar sein, damit der Mittelstand wettbewerbsfähig
bleibt.
Zum Schluss möchte ich auf die Unternehmensgründungen zu sprechen kommen, die von wesentlicher Bedeutung für das Wirtschaftswachstum sind. Bedauerlicherweise sinkt die Quote der Unternehmensgründungen
in Deutschland laut Statistik immer stärker, obwohl wir
in den Städten Gründercoachings, sogenannte Inkubatoren, und Gründerfonds eingerichtet haben. Auch hier
werden von den Unternehmen Bürokratie und Finanzierungsschwierigkeiten als größte Hürden genannt. Hier
müssen wir folglich korrigieren, um Genehmigungsverfahren zu vereinfachen und steuerliche Rahmenbedingungen für Wagniskapital zu verbessern.
Bei all den von mir angesprochenen Punkten sollten
wir die erwähnten Marktakteure intensiv in unsere Überlegungen einbeziehen. Nur so besteht die Chance, eine
effektive und langfristige Stärkung des Mittelstands zu
erreichen.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({6})
Kollegin Poschmann, auch für Sie war das heute die
erste Rede im Deutschen Bundestag. Ich gratuliere Ihnen
dazu und wünsche Ihnen im Namen des gesamten Hauses viel Erfolg in Ihrer weiteren Tätigkeit.
({0})
Das Wort hat der Kollege Roland Claus für die Fraktion Die Linke.
({1})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr
Minister Gabriel, ich muss Sie wohl daran erinnern: In
Ihre Zuständigkeit als Minister im Bundeskabinett fällt
auch Ostdeutschland.
({0})
Zur besonderen wirtschaftspolitischen Verantwortung in
und für Ostdeutschland haben Sie hier jedoch nicht ein
Wort gesagt. Das lassen wir Ihnen nicht durchgehen,
Herr Minister.
({1})
Stattdessen haben Sie einen Großteil Ihrer Redezeit auf
den Versuch verwendet, die Linke zu belehren. Ich
glaube, da haben Sie schlicht und einfach etwas verwechselt. Das hier ist der Deutsche Bundestag und nicht
der Parteitag der SPD, Herr Minister.
({2})
Deutschland ist wirtschaftlich noch immer gespalten:
Es gibt keine einzige Firmenzentrale eines Großunternehmens im Osten. Die Leistungskraft der 100 größten
ostdeutschen Unternehmen zusammengerechnet erreicht noch nicht einmal die Hälfte der Leistungskraft
von Daimler. Da gilt es als verantwortlicher Minister anzupacken und nicht schönzureden.
({3})
Wir haben die Situation, dass es im Osten doppelt so
viele Niedriglohnbezieher gibt wie im Bundesdurchschnitt. Nun erleben wir, dass bei der Einführung des
Mindestlohns insbesondere vonseiten der CSU schon
wieder Ausnahmeregelungen gefordert werden. Im Osten beginnen junge Leute ihr Berufsleben vielfach mit
befristeten Arbeitsverträgen. Wir brauchen vernünftige
Ausstiegsszenarien aus diesem Lohndumping.
({4})
Der Osten ist Vorreiter bei erneuerbaren Energien. Es
ist wahr: Die Leistung der Erneuerbaren ist in den letzten
Jahren um das Fünfzehnfache gestiegen, besonders im
Osten. Nun droht aber durch das, was Sie hier wirtschafts- und energiepolitisch vorhaben, eine, wie es die
Wirtschaftswissenschaftler nennen, zweite Deindustrialisierung des Ostens; die erste hat bekanntlich die Treuhand in Gang gesetzt.
({5})
Deshalb sagen wir Ihnen: Das, was Sie auf den Tisch legen, ist keine Reform des Erneuerbare-Energien-Gesetzes, sondern Sie machen hier eine Rolle rückwärts.
({6})
Die Linke wird sich dafür einsetzen, dass wir auch im
Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe zur Verbesserung
der regionalen Wirtschaftsstruktur keine Absenkung der
Mittel, sondern eine Stabilisierung erreichen. Wir wollen
auch einen Solidarpakt III für den Osten, aber auch für
alle anderen strukturschwachen Regionen in der Republik - als Beitrag für einen Solidarstaat.
({7})
Die Dominanz der Finanzmärkte über die reale Wirtschaft hat auch dazu geführt, dass mehr und mehr eine
Politik zur Stärkung von Metropolen und zur Schwächung von ländlichen Räumen betrieben wird. Vielen
Landkreisen in Ostdeutschland droht in den nächsten
zehn Jahren ein Bevölkerungsrückgang um 20 Prozent.
Das hat erhebliche Auswirkungen auf den Mittelstand.
Wir fordern Sie auf, Herr Minister, als Interessenvertreter des Mittelstandes tätig zu werden; denn die größten Feinde der Mittelständler sind im Moment die Schattenbanken mit ihrem riesigen Geschäftsvolumen und mit
ihrer Philosophie, nicht wertzuschöpfen, sondern umzuverteilen. Diese kann man nicht regulieren, sondern sie
gehören abgeschafft; das wäre Ihre Pflicht.
({8})
Es gibt aber inzwischen so etwas wie einen ostdeutschen Erfahrungsvorsprung in Sachen Unternehmenskultur, einen Erfahrungsvorsprung im Umgang mit
schwierigen Transformationen. Ich meine die Fähigkeit,
mit wenig Eigenkapital Beiträge zum sozial-ökologischen Umbau zu leisten. Es ist eben so, dass wirtschaftliche Notlagen zum einen erbitterte Konkurrenz auslösen
können, aber zum anderen auch Ansätze einer Solidarwirtschaft hervorbringen.
Sie merken: Es gibt Alternativen zum wirtschaftspolitischen Weiter-so. Deshalb sollten Sie den Osten nicht
länger ignorieren, sondern als Chance begreifen, als
Chance für die ganze Republik.
({9})
Das Wort hat der Kollege Professor Dr. Riesenhuber
für die Unionsfraktion.
({0})
Vielen Dank für die Ratschläge. - Frau Präsidentin!
Meine sehr verehrten Kollegen! Der Kollege Lenz hat
darauf hingewiesen, dass der Wirtschaftsminister jetzt
auch Energieminister ist. Das ist gut. Damit bündeln wir
die Kompetenzen in einer Hand. Damit können wir in einem schwierigen Feld schnell entscheiden. Er ist aber
gleichzeitig das, was der Wirtschaftsminister auch in der
letzten Legislaturperiode war: Er ist der Minister für
Technologie und Innovation.
({0})
Wenn uns das gelingen soll, was wir jetzt angedacht
haben - Wolfgang Tiefensee hat darauf hingewiesen -,
dann brauchen wir eine starke und dynamische Wirtschaft, die sich auch in den nächsten Jahren mit Wachstum, Beständigkeit und Innovationskraft in den Märkten
so positioniert, dass wir darüber das verdienen, was wir
brauchen, um die notwendigen Investitionen im Bereich
der Energiewende und die großen Leistungen im Sozialsystem tätigen zu können, die wir uns vorgenommen haben. Wir brauchen eine starke und schwungvolle Wirtschaft.
({1})
Hubertus Heil hat darauf hingewiesen: Wer morgen
sicher leben will, muss heute vorsorgen. Wir haben für
die Forschung auch im Haushalt des Wirtschaftsministers - der Haushalt des Wirtschaftsministers erhält den
größten Brocken vom gesamten Forschungsetat direkt
nach dem Bildungs- und Forschungsminister - beachtliche Wachstumsraten vorgesehen. Wir haben im Gesamtkonzept vorgesehen, dass wir 3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Forschung ausgeben wollen. Prima!
Wir haben in den letzten beiden Wahlperioden die
Mittel für Forschung und Entwicklung um jeweils 6 Milliarden Euro erhöht. So war es angekündigt. In Wirklichkeit war es jeweils mehr, und zwar erheblich mehr.
Ich bin zuversichtlich, dass wir das auch in dieser
Wahlperiode hinbekommen. Geld ist nicht alles, aber
ohne Geld wird es schwierig. Wenn es darum geht, wie
wir das machen, sind wir natürlich in der Hand des Finanzministers, gell?
({2})
Der Finanzminister ist nie so reich wie dann, wenn er in
Forschung investiert. Wir tun das alles nur, damit der Finanzminister glücklich ist.
({3})
Wenn er in seiner Weisheit mit dem Augenmaß und Zielbewusstsein, das ihm eigen ist, in der Gestaltung der
Haushalte dieser Wahlperiode die Ziele so setzt, dass wir
mit mehr Geld und guten Taten tatsächlich noch mehr
für ihn tun können, dann ist das etwas, worüber wir
glücklich sind.
({4})
Das eine ist das Geld. Das andere ist, was man damit
macht, gell?
({5})
Hier haben wir - das ist erfreulich - über die vergangenen Wahlperioden einen Konsens der Fraktionen und
eine Stetigkeit der Arbeit entwickelt, die bei allem, worüber wir uns streiten, bewunderungswürdig und eine
herausragende Voraussetzung dafür ist, dass die Unternehmen und die Wissenschaft verlässliche, dauerhafte
Rahmenbedingungen haben. Das brauchen sie auch.
Was wir angeregt haben, ist - Frau Kollegin
Poschmann, Sie sprachen vom Mittelstand; er ist in der
Tat die Säule -, dass unser Mittelstand dies trägt.
Was wir für die Wahlperiode vorgesehen haben, zieht
sich wie ein roter Faden durch den Koalitionsvertrag:
Forschung, Technologie und Innovation. Es gibt dazu
nicht ein einzelnes abgeschlossenes Kapitel, sondern das
kommt an vielen Stellen vor. Es durchdringt immer mehr
das gesamte Denken der Regierung.
({6})
Im Koalitionsvertrag gibt es an verschiedenen Stellen
Hinweise darauf: Die Innovationscluster werden wir
weiterentwickeln und wachsen lassen. Wir werden die
Zusammenarbeit zwischen Wirtschaft und Wissenschaft
stärken. Wir wollen unser Zentrales Innovationsprogramm Mittelstand auf hohem Niveau fortführen.
({7})
Das ist schnelles und unbürokratisches Fördern.
Das heißt, wir haben in unterschiedlichen Bereichen
jenseits der Spezialprogramme zur Spitzenforschung
- etwa zur Umwelttechnik, Biotechnologie und Informations- und Kommunikationstechnologie - eine Fülle von
Angeboten, in denen wir nicht etwa die Zukunft vorschreiben. Der Staat kann die Zukunft nicht erfinden.
Wenn er gut ist, kennt er die Vergangenheit.
({8})
Aber der Staat muss die Möglichkeit schaffen, dass der
Einzelne Freude daran hat, Neues zu erfinden und sich
auszuprobieren, und dabei helfen wir ihm. Deshalb brauchen wir auch die Kultur der zweiten Chance für Gründer, die gescheitert sind, damit sie den Schwung aufbringen, wieder neu einzusteigen und ihre Erfahrung erneut
einzubringen.
Dem Mittelstand helfen wir mit Förderprogrammen.
Aber Technologiepolitik ist - die Weisheit des Koalitionsvertrags beschreibt das - viel mehr. Wenn wir zum
Beispiel das Europäische Gemeinschaftspatent haben,
wird das Leben leichter, gell? Vor 50 Jahren habe ich
einmal ein paar Patente in Europa angemeldet. Es war
herzbrechend schwierig, allein den Franzosen klarzumachen, wie das aussehen soll. Intellektuelle Probleme sind
meistens vorrangig vor den politischen.
({9})
Technologiepolitik ist auch eine Frage der Normen
und Standards, und zwar nicht deshalb, weil wir leidenschaftlich normieren wollen. Es geht nicht um die
krumme Banane, sondern darum, dass wir hier in Europa
gleichen Zugang zu den Märkten haben, sodass sich
nicht irgendwelche Normhoheiten, sondern die Fähigkeiten der Unternehmen auf den Märkten durchsetzen.
Ich finde es auch wichtig, dass wir das Kompetenzzentrum für öffentliche Beschaffung beim Wirtschaftsminister fortführen. Innovative öffentliche Beschaffung
wird ein interessantes Thema sein. Dass ein Kämmerer
dies nur mit Mühe angeht, weil Innovation nicht sein
Fachgebiet ist, ist nachvollziehbar.
({10})
Ihm zu helfen, hier etwas Sinnvolles zu tun, und ihm die
Chance zu geben, seine Verwaltung bzw. seine Beschaffung auf den letzten Stand der Technik zu bringen und
gleichzeitig einen erheblichen Nachfrageschub für neue
Technologien hervorzurufen, ist eine beglückende Sache. Technologiepolitik geht aber noch weiter. Technologiepolitik verlangt - ich glaube, das hat Hubertus Heil
bereits angesprochen - auch den Abbau der Bürokratie;
das ist schon von einer gewissen Bedeutung. Bürokratie
bedeutet für ein großes Unternehmen Kosten, die in
Rechnung gestellt werden. Das ist unangenehm, aber es
ist nun einmal so. Aber für einen Mittelständler bedeutet
Bürokratie nicht nur Kosten. Sie bindet auch einen Teil
seiner geistigen Kapazitäten. Wenn man aber den Mittelständler von seiner eigentlichen Aufgabe, den Kunden
zu betören und sich etwas Neues einfallen zu lassen, abzieht, dann beeinträchtigt das seine Lebensfreude.
({11})
Das Glück der Menschen ist ein hohes Ziel. Das steht
nicht nur in der amerikanischen Verfassung, sondern ist
auch unser gemeinsames Ziel.
In unserem vorzüglichen Koalitionsvertrag steht in
majestätischer Sprache auch geschrieben, dass wir eine
neue Gründerzeit einläuten wollen, gell? Ich finde diese
Formulierung gut. Genau das haben wir vor.
({12})
Da gibt es interessante Punkte. Eine Reihe der Fragen
fallen in den Zuständigkeitsbereich des Finanzministers.
Ich hoffe zuversichtlich, dass der Wirtschaftsminister
dem Finanzminister den brüderlichen Rat nicht vorenthält, dass man gemeinsam günstige Bedingungen schaffen muss.
({13})
Im Koalitionsvertrag ist festgehalten, dass wir ein Venture-Capital-Gesetz machen. Prima! Wenn wir ein Venture-Capital-Gesetz machen, kann es sich nicht um Regulatorik handeln; denn die wird in Europa gemacht.
Schauen wir einmal, was wir stattdessen im Umgang mit
Verlustvorträgen, der Umsatzsteuerfreiheit für Management-Fees und der steuerlichen Transparenz hinbekommen. Daran zu arbeiten, ist eine Voraussetzung, dass
wieder eine Gründerzeit mit fröhlichem Unternehmungsgeist startet. Bei uns sind die Zahlen bei den innovativen Gründungen noch nicht so gut. Das Schöne ist,
dass wir hier enorm viel Luft nach oben haben, gell? Wir
müssen die Menschen nur dafür gewinnen.
Das alles fließt in wesentlichen Bereichen in der
Hightech-Strategie zusammen, die sich in den vergangenen Jahren, Periode für Periode, entwickelt und entfaltet
hat und zu beständiger neuer Schönheit und Kraft erblüht ist. Das erfasst zunehmend alle Ressorts, und das
ist gut. Hier hat Europa unsere Strukturen übernommen,
und das ist sehr gut. Das ist deshalb gut, weil damit eine
gemeinsame europäische Innovationsstrategie entsteht,
die dafür sorgt, dass wir alle zusammenarbeiten, voneinander lernen und die Regeln so entwickeln, dass die
besten Erfahrungen der Besten einbezogen werden.
Wir haben - Herr Janecek hat darauf hingewiesen nicht alles so erreicht, wie wir es uns gewünscht haben.
Herr Janecek - ich bin ja nun auch schon ein bisschen im
Bundestag, gell? -, Sie werden erfahren, dass hier nicht
immer alles erreicht wird, was man sich wünscht.
({14})
Aber man kann hier beharrlich sein. Ich sehe zum Beispiel unverändert die Notwendigkeit, bei der steuerlichen Forschungsförderung, die Sie angesprochen haben,
eine Augenhöhe mit anderen Ländern zu erreichen nicht um Unternehmen zu beglücken, sondern um den
Finanzminister reich zu machen; ich kann es nur wiederholen.
Das heißt also, hieran weiter zu arbeiten, das wird
eine interessante Sache sein. Bei den Koalitionsverhandlungen, lieber Kollege Fuchs, waren sich die Arbeitsgruppen für Wirtschaft und für Forschung bei diesen
Themen einig.
({15})
Die Finanzer müssen noch daran arbeiten; die müssen
das noch mehr verinnerlichen.
({16})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe
Freunde, wir haben hier ein Riesenfeld vor uns. Es gibt
auch weitere Themen, die im Koalitionsvertrag gar nicht
angesprochen worden sind, obwohl sie wichtig sind.
({17})
Das Thema Weltraum zum Beispiel muss vernünftig gestaltet werden. Die starke Struktur unserer Europäischen
Weltraumagentur muss erhalten bleiben, während die
Europäische Union eine überwölbende Strategie für den
Weltraum entwickelt, die die Nutzer, die Anwender, die
künftigen Märkte mit einbezieht. Das ist sehr wichtig.
Aber hier sind wir uns einig - wie in vielem.
Kollege Riesenhuber, ich bin fest davon überzeugt,
dass das gesamte Haus auch noch den Weltraum mit Ihnen gemeinsam behandeln wollen würde,
({0})
allerdings müssen wir das auf die nächste Rede verschieben. Ich habe schon die Zeit, die der Kollege Lenz Ihnen
überlassen hat, mit eingerechnet. Aber Sie müssen jetzt
bitte zum Schluss kommen.
Deshalb habe ich ihn auch gleich eingangs mit Dankbarkeit gelobt.
({0})
Ich bedanke mich nochmals ausdrücklich. Frau Präsidentin, ich bedanke mich auch für Ihre Nachsicht.
Und so starten wir gemeinsam, in verschiedenen Rollen, in eine interessante Zeit. Wir werden uns streiten;
das ist der Sinn der Sache. Aber wenn wir dann im Ergebnis alle dafür einstehen, dass Deutschland erfolgreich
ist, und schauen, wie wir den besten Weg finden, um das
zu erreichen, wenn wir hier in ganz unterschiedlichen
Aufgaben und Rollen dazu beitragen, dass in Deutschland der frohgemute Mut zur Zukunft weiter wächst,
dann haben wir etwas geschafft. Auf gute Zeit!
({1})
Zu einer Kurzintervention hat der Kollege Hubertus
Heil das Wort.
Frau Präsidentin! Herr Kollege Riesenhuber, ich habe
mich zu Wort gemeldet, weil ich eine Scharte auswetzen
muss, die aus dem Jahre 2005 stammt. Sie waren damals
Vorsitzender des Wirtschaftsausschusses des Deutschen
Bundestages. Ich war damals das jüngste Mitglied dieses
Ausschusses. Am Ende der Legislaturperiode 2005 meldete ich mich in der letzten Sitzung zu Wort, dankte Ihnen ganz herzlich für Ihre faire Sitzungsführung, für die
unterhaltsame Art und Weise, mit der Sie die Sitzungen
gestaltet haben, und wünschte Ihnen für die Zeit nach
dem Parlament alles Gute.
({0})
Sie hörten sich die warmen Worte, die man da so sagt,
ganz fröhlich an, um hinterher zu sagen: Herr Heil, das
ist Ihr Wunschdenken, gell?
({1})
Hubertus Heil ({2})
Ich wollte nur sagen, Herr Riesenhuber: Ihre heutige
Rede beweist, dass es wichtig ist, dass Sie als Alterspräsident in dieser Legislaturperiode bei guter Gesundheit
bleiben. Da wir beide immer für die steuerliche Forschungsförderung gekämpft haben, sie aber auch in diesem Koalitionsvertrag nicht durchgesetzt haben, sodass
sie mutmaßlich auch in dieser Legislaturperiode nicht
kommt, würde ich anregen, dass Sie sich überlegen,
auch für die nächste zu kandidieren. Alles Gute!
({3})
Kollege Riesenhuber, wünschen Sie zu erwidern?
Ich bedanke mich und wünsche eine gute Zeit!
({0})
Gut. Die Folgen dieser Verabredung überdenken wir
dann an anderer Stelle.
Nun hat der Kollege Peter Stein das Wort für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich weiß gar nicht, ob es eine undankbare Aufgabe ist,
nach Herrn Professor Riesenhuber hier stehen zu müssen. Humoristisch kann ich mit ihm sicherlich nicht mithalten.
Ich möchte Sie alle in unsere Kindheit und Schulzeit
entführen. Vielleicht können sich alle daran erinnern,
dass uns ungefähr in der 5. Klasse etwas übergeben
wurde, das uns meistens bis zum Abitur nicht mehr genommen wurde. Das war der Schulweltatlas. Ich kann
mich daran erinnern, dass etwa in der 8. oder 9. Klasse
das Thema Ruhrgebiet für mich ein sehr spannendes
Thema war. Das Ruhrgebiet war dargestellt als rotbrauner Klumpen, umgeben von etwas Grün. Auf der Karte
waren Piktogramme zur Energiewirtschaft, Industrie,
Braunkohle, Steinkohle, Stahl, Maschinenbau usw.
Ich wohnte etwas weiter südlich im ländlichen Raum,
im Bergischen Land. Das war grün bis dunkelgrün dargestellt, was signalisierte, dass dort überwiegend Forstund Landwirtschaft vorhanden war. Das war deutlich,
und wir haben das alles verstanden. Eines wurde auch
deutlich: Die Energieerzeugung und die Industrie sowie
auch das Vorkommen vieler Rohstoffe waren von der
geografischen Lage her deckungsgleich. Das prägte die
Industriegeschichte Deutschlands.
Als ich dann mein Studium in Dortmund begann,
habe ich zum ersten Mal gesehen, wie eine Stadt und
ihre Menschen offensichtlich für den deutschen Aufbau
den Buckel hingehalten haben. Es waren dreckige Städte
im Ruhrgebiet mit Menschen, die hart gearbeitet haben.
Mitte der 80er-Jahre machte das Wort „Pseudokrupp“
die Runde. Ich habe erlebt, wie im Ruhrgebiet ein Strukturwandel einsetzte, den ich - glücklicherweise schon
während des Studiums - begleiten konnte.
Ich will als Beispiel die nationale Kohlereserve nennen, die LEP-VI-Fläche in Dortmund. Diese Kohlereserve wurde aufgegeben, und Dortmund wollte einen
Technologiepark entwickeln, angegliedert an die Universität. Den Menschen war schwer zu vermitteln, dass die
Kohlehalde weg sollte und stattdessen Golfplätze entstehen sollten, um Manager aus der ganzen Welt überzeugen zu können, sich im Technologiepark anzusiedeln.
Vornehmlich Japaner wurden gesucht, und die wollten
nun einmal Golf spielen. Das war für mich der Einstieg
in die Beschäftigung mit dem Strukturwandel. Dieser
Strukturwandel ist heute noch nicht abgeschlossen.
Nach der deutschen Wiedervereinigung hatte ich das
Glück, in die östlichen Bundesländer gehen zu dürfen,
wo ich heute noch lebe. Ich lebe heute in Rostock, war
aber unter anderem auch in Bitterfeld-Wolfen. Auch dort
habe ich Menschen, Städte und Landschaften gesehen,
die ihren Buckel für das hingehalten haben, was in der
DDR wirtschaftlicher Wohlstand bedeutet hat.
Wenn ich heute den Blick in den Schulatlas meiner
Kinder werfe, dann sehe ich, dass sich einiges verändert
hat. Es sind Piktogramme, die ich noch kannte, verschwunden, und es sind andere hinzugekommen, auch
an anderen Standorten.
Ich nenne beispielsweise alles, was mit IT zu tun hat.
Das gab es in den 70er- und 80er-Jahren so noch nicht.
Ich nenne die Standorte zur Erzeugung erneuerbarer
Energien, die neu hinzugekommen sind, und natürlich
die Trassen, die damit verbunden sind. Das zeigt deutlich den Wandel, den wir auf gesamtdeutscher Ebene zu
bewältigen haben, und die neu verteilten Rollen. Dabei
sollen und müssen natürlich die bestehenden industriellen Standorte, die Kerne, die wir haben, bestehen bleiben. Es dürfen auch gerne neue hinzukommen.
In Zeiten der Krise, die wir hoffentlich langsam überwunden haben, reden auch andere davon, dass wir ein
neues deutsches Wirtschaftswunder hätten. Dafür sind
- das ist schon gesagt worden - vor allen Dingen der
deutsche Mittelstand und unsere Wirtschaftsstruktur
maßgeblich verantwortlich. Die Standorte, auf die ich
bereits eingegangen bin und die sich im Wandel befinden, sind bei uns in Mecklenburg-Vorpommern und im
Norden generell Standorte für On- und Offshorewindparks. Im Wandel befinden sich aber auch unsere Häfen;
denn Kohle und andere Rohstoffe werden vornehmlich
über unsere Häfen zu unseren Industriestandorten geliefert. Auch dadurch verändert sich im Laufe der Zeit die
wirtschaftliche Struktur unseres Landes. Dafür, dass die
Verteilung der Lasten, die mit der Entwicklung einhergehen, auf die Schultern, die diesen wirtschaftlichen Fortschritt zu tragen haben, auch fair erfolgt, sind wir hier
verantwortlich. Das ist eine Herausforderung.
Die begonnene Energiewende ist gesellschaftlicher
Konsens. Sie ist richtig, notwendig und gut. Deutschland
ist mit seiner Energiepolitik sicherlich so etwas wie ein
Vorreiter.
Hier ist aber nicht nur Symbolpolitik zu betreiben;
vielmehr muss sich das Ganze auch rechnen. Irgendwann wird es sich auch rechnen, nämlich spätestens
dann, wenn die restliche Welt auf diesen Weg einschwenken muss. Bis dahin haben wir eine Aufgabe
- davon bin ich überzeugt -: Wir haben für uns das
Know-how zu entwickeln. Wir müssen die Technologieführerschaft innehaben und verstetigen. Vor allem haben
wir diese Technologien im eigenen Land völlig unideologisch anzuwenden.
Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen, ich
stimme an diesem Punkt vielem zu, was der Kollege
Hubertus Heil schon vorgetragen hat. Der bisherige Weg
in diese Energiewende war richtig. Das alte EEG, wenn
ich es so bezeichnen darf - wir wollen ja eine Novellierung zustande bringen -, begreift man vielleicht am besten als Kickstart für die Technologien, um die es heute
im Wesentlichen geht.
Wo wir stehen, das wissen wir, glaube ich, noch gar
nicht: Haben wir schon die Hälfte der Strecke zurückgelegt? An welchem Punkt sind wir angekommen? Es ist
nur eines sicher: Zurück können und wollen und dürfen
wir nicht gehen. Wir müssen diesen Weg weitergehen.
({0})
Frau Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel hat gestern
festgestellt, dass der Anteil der erneuerbaren Energien
mittlerweile bei nahezu 25 Prozent liegt. Insofern fristen
die erneuerbaren Energien kein Nischendasein mehr.
Auch da knüpfe ich an etwas an, was bereits gesagt worden ist: Wir müssen jetzt dafür sorgen, dass die erneuerbaren Energien in absehbarer Zeit am freien Markt bestehen können.
({1})
Nur so ist die Energiewende eine echte, vernünftige und
nachhaltige Wende. Der Begriff „nachhaltig“ ist nicht
von mir erfunden worden. Er ist mir mittlerweile schon
fast über, aber in diesen Zusammenhang passt er einfach
hinein. Auch deshalb verwende ich ihn gern. Der Minister Sigmar Gabriel hat im Ausschuss die EEG-Novelle,
die er maßgeblich anschieben muss und will, einen
„Zwischenschritt“ genannt. Er liegt damit sicherlich
nicht verkehrt, wenn wir den Prozess betrachten, der insgesamt noch vor uns liegt.
Wir haben uns im Koalitionsvertrag zur Energiewende bekannt und werden diesen Weg erfolgreich gehen müssen, wenn wir die nötige Akzeptanz dafür erhalten wollen. Die Bundeskanzlerin und übrigens auch
unser Fraktionsvorsitzender haben zuletzt gestern in der
Aussprache zu Recht deutlich gemacht: Das machen wir
alle gemeinsam. - „Gemeinsam“ heißt nicht nur hier im
Hohen Haus, die Regierung und die Koalition, sondern
auch Einbeziehung des Bundesrates. Ich verweise auch
auf die Planungsregionen in den Ländern, die dafür Verantwortung tragen.
Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen, der
vor uns liegende Vorschlag zur EEG-Novellierung geht
dabei sicherlich in die richtige Richtung. Der Ausbau erneuerbarer Energien wird auf die kostengünstigsten und
effizientesten Technologien zurechtgeschnitten. Die Versorgungssicherheit spielt eine ganz herausragende und
wichtige Rolle bei der Novellierung.
Überförderungen sollen wegfallen; das ist heute
schon mehrfach von allen Seiten vorgetragen und begrüßt worden. Onshorewindkraft, Photovoltaik und auch
Offshorewinderzeugung sind die Energien für die Zukunft, was wir übrigens schon heute erleben. Wir wissen,
wie das System funktioniert und was auf uns zukommt.
Wir können da schon eine gewisse Substanz feststellen.
Das ist ein großer Vorteil gegenüber vielen anderen Staaten und Nationen auf der Welt.
In allen drei Bereichen rechnet sich das für uns auf jeden Fall doppelt: zum einen für uns als Stromerzeuger
vor Ort, zum anderen als technologisches Exportgut, als
Produkt, als Know-how für die Zukunft. Wir müssen unsere Technologieführerschaft im eigenen Lande wirklich
unideologisch zulassen und auch fördern.
Lassen Sie mich an dieser Stelle die immense Bedeutung unserer Hochschulen herausstreichen, die einen wesentlichen Beitrag zu Forschung und Entwicklung leisten. Überhaupt sind Forschung und Entwicklung am
Standort Deutschland wesentliche Gründe für den Erfolg
Deutschlands. Unsere Hochschulen sind dabei ein wichtiger Bestandteil, und dies in enger Zusammenarbeit mit
der Wirtschaft. Die meisten Technologien in diesem Bereich werden privatwirtschaftlich finanziert und entwickelt. Die Unternehmen, die das tragen, die das finanzieren, die das wollen, brauchen eine Sache viel mehr als
Subventionen, nämlich Planungssicherheit. Bürokratieaufwuchs ist zu verhindern, damit Planungssicherheit im
Hinblick auf unsere neuen, zukünftigen Energieformen
und unser Wirtschaften generell gewährleistet wird.
Die entscheidenden Punkte dabei sind - auch die
Kanzlerin hat das in ihrer Rede gestern betont - die vorgesehenen Ausbaukorridore und das Marktdesign. Auch
dazu ist heute schon einiges gesagt worden. Deshalb
kann ich mich hier kurzfassen. Auf diese Art und Weise
wird Planungssicherheit erzielt; das System wird berechenbar - und das nicht nur für die Investitionen in erneuerbare Energien, sondern auch für die in den Ausbau
der Netze.
Lassen Sie mich zum Beginn meiner Rede zurückkommen. Der wirtschaftliche Wohlstand muss alle in der
Gesellschaft erreichen, und die Belastungen sollten idealerweise von allen geschultert werden. Aber wie beispielsweise das Ruhrgebiet und seine Menschen, überhaupt die Montanregionen in früheren Zeiten ihren
Beitrag leisteten, so werden heute einzelne andere Regionen und Menschen die Belastungen schultern müssen. Das müssen wir ihnen erklären. Wir müssen sie in
einem Dialog mitnehmen.
Ich sehe, meine Redezeit geht dem Ende entgegen.
Deshalb will ich auch zum Schluss kommen. Sehr geehrte Damen und Herren, lassen Sie mich jetzt noch als
Abgeordneter des Landes Mecklenburg-Vorpommern etwas dazu sagen.
Wir sind wie viele andere norddeutsche Regionen mit
Onshore- und Offshoregebieten gesegnet - mit allen
Vorteilen und Problemen, die das mit sich bringt. Wir
sind bereit und willens, uns für die Energiewende ins
Zeug zu legen. Wir haben Häfen, wir haben die Windindustrie, wir haben speziell in Greifswald - mein Kollege Lietz kennt das ganz genau - den ITER, den Forschungsreaktor, und nicht zuletzt haben wir dort mit den
Energiewerken Nord auch ein Unternehmen, das in dieser Republik sicherlich die höchste Expertise im Rückbau von atomaren Anlagen hat. Mecklenburg-Vorpommern kann und wird also seinen Beitrag leisten. Meine
Kollegin Karin Strenz und meine Kollegen stehen mit
mir dazu.
Ich bedanke mich zum Schluss dafür, dass Sie mir so
fair zugehört haben. Überhaupt hat mich in diesem Hohen Hause in den paar Wochen, die ich jetzt hier bin, der
faire und professionelle Umgang miteinander sehr beeindruckt. Wie gesagt: Ganz herzlichen Dank dafür!
({2})
Kollege Stein, das war Ihre erste Rede im Deutschen
Bundestag. Auch Ihnen wünschen wir alles Gute für Ihre
Arbeit hier im Hohen Hause.
Ihre letzte Bemerkung veranlasst mich dazu, mir zu
wünschen, dass wir hier die gesamte Legislaturperiode
in einem solchen Klima, wie Sie es gerade beschrieben
haben, miteinander umgehen, sicherlich hart in der Sache debattieren, aber fair miteinander umgehen.
Dazu gehört auch der Hinweis: Es ist ein verbreiteter
Irrtum, Kollege Stein, dem auch langjährige Kollegen
aufsitzen, dass auf der Anzeige das Minuszeichen vor
der Redezeit die noch verbleibende Redezeit anzeigt. Es
macht aber ganz deutlich, wie weit Sie Ihre Redezeit
schon überschritten haben.
({0})
- Wenn das heute auch langjährigen Kollegen klar geworden ist, haben wir vielleicht noch einen Beitrag dazu
geleistet, dass unsere Debatten in der vereinbarten Zeit
geführt werden.
Weitere Wortmeldungen zu diesem Themenbereich
liegen mir nicht vor.
Wir kommen nun zum Themenbereich Finanzen und
Haushalt. Das Wort hat der Bundesminister der Finanzen, Dr. Wolfgang Schäuble.
({1})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Die Bundeskanzlerin hat gestern in der Regierungserklärung die großen Herausforderungen beschrieben, vor denen Deutschland und Europa stehen. Das ist
die demografische Herausforderung. Das ist, Herr Kollege Riesenhuber, eine geringere Freudigkeit in unserer
Gesellschaft bei der Einführung und Anwendung neuer
Technologien. Deswegen brauchen wir, wenn wir forschungs- und innovationsfreundlich bleiben wollen,
viele solcher mutmachenden Reden. Deswegen stimme
ich Herrn Kollegen Heil ausdrücklich zu. Wir müssen
uns über die effizienteste Form der Verwendung begrenzter Mittel dann gelegentlich noch verständigen.
({0})
Darüber hinaus gilt - auch das muss man einfach sehen; man muss es sich gelegentlich ins Gedächtnis rufen,
gerade am Beginn einer Legislaturperiode -: Im Vergleich zu anderen großen Industrieregionen der Welt
verwenden die europäischen Länder im Durchschnitt
doppelt so viel von ihrem Bruttoinlandsprodukt für soziale Leistungen. Zusammen mit einer gewissen Risikoscheu und der demografischen Entwicklung beschreibt
dies die Herausforderungen für die Leistungsfähigkeit
unserer Wirtschaft.
Wir sind in einer guten Situation, aber wir müssen uns
darüber im Klaren sein: Wir müssen Kurs halten, und
wir müssen uns weiter mit allen Kräften anstrengen.
Ich will noch folgende Bemerkung machen: Am Ende
hängt die wirtschaftliche Entwicklung immer ganz entscheidend davon ab, wie die Menschen die Zukunft einschätzen. Schon Ludwig Erhard hat gesagt, dass mindestens die Hälfte Psychologie ist. Wir sind in den
vergangenen Jahren aus der schwersten wirtschaftlichen
Krise der Nachkriegszeit besser als andere herausgekommen, weil es uns gelungen ist, das Vertrauen der
Menschen in die Nachhaltigkeit unserer Systeme, insbesondere in unsere öffentlichen Haushalte, zurückzugewinnen. Deswegen hat eine nachhaltige und konsequente Finanzpolitik einen entscheidenden Beitrag für
die Leistungsfähigkeit unserer Wirtschaft zu leisten.
({1})
Am Anfang der letzten Legislaturperiode sind Wetten
abgeschlossen worden, dass wir die Schuldenbremse
niemals einhalten können. Das ist aber überhaupt kein
Thema mehr. Wir haben in den Koalitionsverhandlungen
zu Recht miteinander verabredet, dass wir angesichts der
demografischen Entwicklung den Spielraum der Schuldenbremse des Grundgesetzes in dieser gegebenen Situation nicht ausschöpfen wollen, sondern dass wir in diesem Jahr ohne eine strukturelle Neuverschuldung und ab
dem kommenden Jahr ohne neue Schulden auskommen
wollen. Das ist ein ehrgeiziges Ziel, aber es ist der richtige
Weg, um die Tragfähigkeit unserer wirtschaftlichen Entwicklung auch mittelfristig abzustützen. Deswegen werden wir diesen Punkt Schritt für Schritt umsetzen.
({2})
Auch wenn wir gesamtstaatlich gesehen im letzten
Jahr mit 0,1 Prozent fast kein Defizit hatten - im Vorjahr
hatten wir sogar einen leichten Überschuss -, haben wir
noch immer eine Gesamtverschuldung unserer öffentlichen Haushalte in Höhe von rund 80 Prozent unserer
gesamtwirtschaftlichen Leistung. Wir sind verpflichtet
- wir haben uns vorgenommen, diese Verpflichtung zu
erfüllen -, diese Verschuldung innerhalb von zehn Jahren auf 60 Prozent, was gesamtwirtschaftlich tragfähig
ist, zurückzuführen. Die Planungen für diese Legislaturperiode gehen davon aus, dass wir bis zum Ende der Legislaturperiode in die Nähe von 70 Prozent Gesamtverschuldung im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt
kommen können, wenn wir den vereinbarten Weg durchsetzen. Ich glaube, das ist der richtige Weg. Deswegen
werbe ich schon heute dafür, dass wir ihn auch in den
kommenden Jahren bei den Haushaltsberatungen gemeinsam gehen.
Wir haben uns vorgenommen, den Entwurf des Bundeshaushalts 2014 im März zu verabschieden, gleichzeitig auch die Verhandlungen über die mittelfristige Finanzplanung zu beginnen und zugleich im bewährten
Top-down-Verfahren die Eckwerte für den Haushalt
2015 festzulegen. Wir werden dann gemäß der Vereinbarung im Koalitionsvertrag aufzeigen, wie wir die Spielräume, die wir durch die Finanzpolitik gewonnen haben,
zu verstärkten Investitionen in die Infrastruktur unseres
Landes, in Forschung und Familie nutzen können, wie
wir das miteinander verabredet haben. Dies dient der
langfristigen wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit unseres
Landes.
({3})
Die Tatsache, dass wir einen annähernd ausgeglichenen Gesamthaushalt von Bund, Ländern und Kommunen
haben, ist im Übrigen der beste Beweis dafür, dass wir
keine Steuererhöhungen benötigen, sondern dass wir mit
den gegebenen Steuergesetzen die öffentlichen Aufgaben nachhaltig und angemessen finanzieren können. Im
Übrigen ist unser System der Unternehmensbesteuerung
international wettbewerbsfähig, sonst hätten wir nicht
diese gute wirtschaftliche Entwicklung, die wir im Augenblick haben. Auch das muss man klar sagen.
({4})
In den nächsten Jahren wird es vor allen Dingen darum gehen, dass wir die bestehenden Steueransprüche
noch konsequenter durchsetzen.
({5})
- Ja, das ist leichter gesagt als getan, Herr Kollege, weil
die Möglichkeiten der Steuervermeidung, die die Globalisierung mit sich bringt, es den Finanzmärkten unglaublich leicht machen, die unterschiedlichen steuerlichen
Regelungen, die es überall auf der Welt gibt, im Hinblick
auf die Steuerbelastung optimal zu nutzen. Jedes Unternehmen, das weltweit tätig ist, muss dies aus Gründen
der Wettbewerbsfähigkeit gegenüber anderen auch so
machen. Daher ist es wichtig, dass wir die Initiative gestartet haben, uns weltweit über Regeln zu verständigen,
mit denen die Anzahl der Möglichkeiten der Steuervermeidung reduziert werden kann. Aber das ist ein weiter
Weg. Wir werden auf globaler Ebene - in der OECD und
in den G 20 - konsequent daran arbeiten, im europäischen Rahmen ohnehin, wo wir auch ein Stück weit Vorreiter und Vorbild sein müssen. Aber auch da bleibt in
Europa viel zu tun. Auf der anderen Seite werden wir
uns vor illusionären Erwartungen, die wir nicht erfüllen
können, hüten müssen; denn natürlich ist die Kreativität,
dem auszuweichen, immer groß. Wir haben große Fortschritte in den letzten Jahren gemacht - und das wird
sich in den nächsten Jahren sehr schnell fortsetzen -,
durch den Informationsaustausch der Steuerverwaltungen die Möglichkeiten der Steuerhinterziehung zu verringern. Der automatische Informationsaustausch ist in
Europa auf der Tagesordnung. Ich bin zuversichtlich,
dass wir ihn im Laufe dieser Legislaturperiode in europäisches Recht umsetzen können. In der OECD und auf
der Ebene der G 20 sind wir gut vorangekommen, weil
alle begreifen: Die Akzeptanz unserer demokratischen
Systeme hängt am Ende davon ab, dass die bestehenden
Steueransprüche auch durchgesetzt werden. Darum geht
es.
({6})
Ich will ein paar Bemerkungen zu den aktuellen Problemen bei der Stabilisierung unserer gemeinsamen europäischen Währung machen; auch die Bundesbank hat
dazu in diesen Tagen eine Bemerkung gemacht. Im Zuge
fortschreitender europäischer Integration werden wir uns
auch mit der Frage beschäftigen müssen, dass wir die
richtige Balance finden zwischen der Freiheit jedes einzelnen Mitgliedstaates, durch die Gestaltung seiner Steuersätze Wettbewerb zwischen den Standorten zu betreiben, und der europäischen Solidarität, die im Interesse
unserer gemeinsamen Währung von allen gefordert
wird. Hier haben wir noch nicht das richtige Gleichgewicht, wie wir aus einigen Diskussionen der letzten
Jahre wissen. Auch daran müssen wir arbeiten. Das geht
auch nicht leicht, weil in Europa die Verträge nur einstimmig geändert werden können. Aber trotzdem muss
man das Ziel und die Notwendigkeit beschreiben.
Mit der Verteidigung unserer gemeinsamen europäischen Währung und mit der Herausführung dieser Währung aus der Vertrauenskrise - in die sie übrigens als
Folge der Finanz- und Bankenkrise geraten ist, die gar
nicht in Europa ihren Ursprung und ihre Ursache hatte;
daran muss man gelegentlich erinnern -, in der Rückgewinnung des Vertrauens in die europäische Währung
sind wir viel erfolgreicher gewesen, als die meisten noch
vor drei Jahren für möglich gehalten haben. Die Hilfsprogramme für Irland und Spanien sind erfolgreich abgeschlossen. Portugal wird Mitte dieses Jahres so weit
sein. Griechenland - bei allen verbleibenden Problemen,
die man, was die politische Stabilität und die Maßnahmen, die der Bevölkerung zugemutet werden, nicht unterschätzen darf - hat erhebliche Fortschritte gemacht.
Die Euro-Zone insgesamt ist aus der Rezession herausgekommen, auch dank der starken Leistungskraft
Deutschlands. Der Euro als solcher ist aus der Aufmerksamkeit der Finanzmärkte als eine Quelle der Beunruhigung entschwunden. Dies kann man sehen, wenn man
sich die Sätze für die Staatsanleihen aller Mitgliedstaaten der Euro-Zone ansieht. Das ist wirklich eine Erfolgsgeschichte. Darauf dürfen wir uns nicht ausruhen. Aber
aus der Erfahrung können wir die Sicherheit gewinnen,
dass der eingeschlagene Weg - Solidarität bei der Bekämpfung der Ursachen, also Hilfe, wenn notwendig,
aber unter Auflagen, um die Ursachen der Probleme zu
beseitigen - richtig war. Wir werden ihn auch in den
kommenden Jahren im Interesse Europas und der Stabilität unserer Währung fortsetzen.
({7})
Ich will im Übrigen hinzufügen: Jedermann in
Deutschland muss wissen, dass aus der gemeinsamen
europäischen Währung natürlich nicht zuletzt Deutschland mit seiner leistungsstarken Wirtschaft Vorteile hat.
Wir hätten also mehr zu verlieren. Wenn wir die europäische Währung verteidigen, handeln wir nicht in falsch
verstandener Generosität, was manche Demagogen den
Menschen einreden wollen, sondern wir verhalten uns
richtig in der Wahrnehmung unserer eigenen Interessen
und unserer eigenen Verantwortung gegenüber unserer
Zukunft.
({8})
Wir sind bei der europäischen Bankenunion weit vorangekommen. Wir haben einheitliche Regeln für die Sanierung und Abwicklung von Banken vereinbart, wonach überall in Europa klargestellt ist, dass in Zukunft in
erster Linie die Eigentümer und die Gläubiger bei Banken für etwaige Verluste haften und nicht mehr der Steuerzahler. Chancen und Risiken gehören zusammen: Es
müssen die, die Gewinne machen, auch die Verluste tragen. Und genau diesen Weg verfolgt die europäische Sanierungs- und Abwicklungsrichtlinie. Hier haben wir im
Dezember eine Einigung mit dem Europäischen Parlament erzielt.
Die europäische Bankenaufsicht wird als Kapazität
bei der EZB aufgebaut. Wir sind jetzt in den Endverhandlungen mit dem Europäischen Parlament. Es sind
im Detail noch schwierige Verhandlungen, aber wir werden sie erfolgreich abschließen, sodass wir einen einheitlichen Abwicklungsmechanismus haben.
All dies muss - das muss man auch den Kollegen in
Brüssel sagen - auf einwandfreier rechtlicher Grundlage
geschehen. Die europäischen Verträge sind nicht perfekt,
die Regelungen manchmal kompliziert; aber wir dürfen
nicht riskieren, dass wir Vereinbarungen treffen, die
nachher einer rechtlichen Überprüfung nicht standhalten. Das haben wir bisher so gehalten; das werden wir
auch in der Zukunft um der Stabilität dieser europäischen Währung willen so halten müssen.
Im Übrigen: Wenn wir eine europäische Bankenabgabe nur so bekommen können, dass wir nationale Bankenabgaben einführen, weil es keine Rechtsgrundlage
für eine europäische gibt, dann ist auch klar - das hören
nicht alle gern -: Die Verantwortung dafür, dass die Bankenabgabe gezahlt wird, muss bei den Mitgliedstaaten
verbleiben, weil nur sie sie beschließen und durchsetzen
können. Deswegen können wir die Haftung für eine
nicht eingezahlte Bankenabgabe nicht vergemeinschaften. Erst muss sie eingezahlt sein, dann kann man vergemeinschaften.
({9})
Das ist der Sinn dieser komplizierten Regelung; wenn
man sich den Gehalt anschaut, ist das eindeutig.
Ich bin zuversichtlich, dass wir das schaffen. Dann
werden wir mit einer stabileren europäischen Bankenlandschaft zugleich einen wichtigen Beitrag dazu leisten,
dass wir weiterhin die Lehren aus der Finanz- und Bankenkrise der Jahre 2007 und 2008 ziehen. Wir sind in der
Finanzmarktregulierung weit vorangekommen. Wir haben strengere Vorschriften für das Eigenkapital der Banken, sodass die Risikomaximierung bei den Banken
nicht mehr wie bisher vorangeht. Das ist mit Basel III
gut umgesetzt.
Wir haben, übrigens weltweit, Regelungen zur Begrenzung der Managervergütungen vereinbart. Das ist
dringend notwendig, weil sich ganz falsche Verhaltensweisen ein Stück weit eingeschlichen haben.
Wir schaffen eine europäische Bankenaufsicht, weil
man grenzüberschreitend tätige Banken nicht mehr national beaufsichtigen kann. Wir werden uns jetzt verstärkt dem Thema Schattenbanken widmen müssen; das
ist von den G 20 vereinbart worden. Es ist ein schwieriges Feld; aber das muss energisch vorangetrieben werden. Wir haben gestern die Vorschläge der Europäischen
Kommission zur Umsetzung des Liikanen-Berichts bekommen. Sie sind ein ganzes Stück weit auf der Linie
unserer nationalen Gesetzgebung, die wir, auch um Erfahrungen zu sammeln, in Abstimmung mit und parallel
zu Frankreich, unserem wichtigsten und engsten Partner,
schon im Vorgriff national umgesetzt haben. Wir werden
die Vorschläge noch im Einzelnen genau prüfen müssen.
Ich habe ein bisschen Bedenken, dass die Vorschläge der
Kommission, gerade, was die Abschottung von hochriskanten Geschäften bei den Hedgefonds anbetrifft, weniger weit gehen als unsere deutsche Regelung. Ich glaube,
dass das ein Punkt ist, den wir dann überprüfen müssen.
Denn wir müssen sehr genau hinschauen, damit wir unmäßige Risiken im Bankensektor im Sinne der Stabilität
für die Zukunft möglichst unwahrscheinlich machen.
({10})
Wir haben jetzt übrigens mit der Finanzmarktrichtlinie - um auch das zu sagen - eine europäische und nicht
mehr nur eine nationale Regelung für den Hochfrequenzhandel. Sie schließt ihn nicht aus, schränkt aber
Missbrauchsmöglichkeiten oder Übertreibungen ein.
Wir haben vor allen Dingen auch bestimmte Begrenzungen der Spekulation mit Rohstoffen beschlossen. Auch
das ist ein dringender, wichtiger Punkt. Ich bin froh, dass
uns dies gelungen ist. Meine Damen und Herren, wir
werden diese Bemühungen in den kommenden Jahren
Schritt für Schritt und konsequent fortsetzen.
Ich will eine letzte Bemerkung machen. Ich rede
schnell, weil die Hauptthemen der Finanzpolitik in der
Kürze der Zeit kaum darzustellen sind. Ich habe gelesen,
in den nächsten Jahren werde der Finanzminister Langeweile haben. Diese Sorge habe ich im Moment nicht.
({11})
Wir müssen die Finanzbeziehungen zwischen Bund,
Ländern und Kommunen ein Stück weit mit mehr gemeinsamer Verantwortung bedenken. Wir haben im Koalitionsvertrag wieder zusätzliche Leistungen für die
Kommunen vereinbart. Ich will daran erinnern, dass wir
in der letzten Legislaturperiode mehr Leistungen für die
Kommunen erbracht haben, als die Kommunen selbst erwartet haben. Seit dem 1. Januar haben wir die Kosten
der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung
vollständig durch den Bundeshaushalt übernommen
- das sind noch einmal zusätzlich 1,1 Milliarden Euro und damit die Gemeinden entlastet.
({12})
Ab dem kommenden Jahr werden wir im Vorgriff auf
ein Gesetz über die Eingliederungshilfe - das ist noch
mal eine Riesenaufgabe ({13})
jedes Jahr 1 Milliarde Euro vorab für die Gemeinden zur
Entlastung bei der Eingliederungshilfe vorsehen. Wir haben im Koalitionsvertrag 1 Milliarde Euro für Kindertagesstätten reserviert. Das alles sind Leistungen zur Entlastung der Kommunen.
Für die Länder haben wir darüber hinaus vereinbart,
die Mittel, Herr Kollege Riesenhuber, nicht nur für die
außeruniversitäre Forschung um weitere 3 Milliarden,
sondern auch für die Hochschulen um bis zu 5 Milliarden Euro aufzustocken. All dies dient der Entlastung der
Länder.
({14})
Deswegen nutze ich die Gelegenheit am Ende meiner
ersten Rede in dieser Legislaturperiode, um an alle in
unserem Bundesstaat zu appellieren: Lassen Sie uns gemeinsam auf allen Ebenen zusammenwirken. Nehmen
wir in einer Zeit großer Herausforderungen, aber auch
großer Chancen unsere Verantwortung wahr, um das,
was in Jahrzehnten glücklichster Entwicklung in unserer
Geschichte erreicht worden ist, für das 21. Jahrhundert
zukunftsfest zu machen.
Herzlichen Dank.
({15})
Das Wort hat der Kollege Dr. Dietmar Bartsch für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Lieber Herr Schäuble, ich kann Ihnen zusichern: Wir
werden dieser Verantwortung gerecht werden, aber das
heißt natürlich nicht, dass wir das, was Sie hier als Kurs
vorgeben, unkritisch zur Kenntnis nehmen.
Sie haben als Koalition in den ersten vier Monaten einen schwungvollen Start hingelegt. Es gab ein relativ
großes Chaos. Ich hoffe, dass das Kennenlernprogramm
jetzt zu Ende ist.
Aber was Sie in der kurzen Zeit geschafft haben, ist,
erst einmal die Entscheidung zu treffen, 35 neue Stellen
einzurichten, darunter auch die von Staatssekretären, die
enorm teuer sind. Ich frage mich, wie Sie den Kommunen und den Ländern erklären wollen, dass Sie hier Personal aufbauen und in den Ländern, egal ob von CDU,
SPD oder Linken regiert, Personal abgebaut werden
muss. Das passt nicht zusammen. Es ist auch nicht in
Ordnung: Hier auf Bundesebene Stellen aufzubauen,
geht so nicht.
({0})
Lassen Sie mich als Beispiel das BMZ nennen. Dort ist
Herr Fuchtel offensichtlich gleich in Kompaniestärke
eingezogen.
({1})
Da kann ich nur sagen: Das ist ein Weg, den wir so nicht
mitgehen werden.
({2})
Sie wollen Deutschlands Zukunft gestalten. Das hört
sich gut an. Sie wollen die großen Themen und die großen Probleme angehen. Das ist völlig in Ordnung, damit
sind wir einverstanden. Aber wenn ich mir anschaue,
welche finanz- und haushaltspolitischen Schritte gegangen werden, dann stelle ich fest: Was Sie machen, ist im
Kern ein Weiter-so.
Ich will einen Satz aus der Präambel Ihres Koalitionsvertrages zitieren. Dort heißt es immerhin:
Nicht alle Menschen haben jedoch an dieser positiven Entwicklung teilhaben können.
Wen meinen Sie damit eigentlich? Die 12 Millionen
Bundesbürger, die laut Statistischem Bundesamt an der
Armutsgrenze leben? Die 2,5 Millionen junger Menschen, die unter Einkommensarmut leiden? Die
465 000 Rentner, die von Sozialleistungen leben müssen? Die alle kamen weder bei der Kanzlerin noch bei
Ihnen heute in irgendeiner Weise vor. Das kann ich insoweit verstehen, als Sie über diejenigen, die von Ihrer
Politik profitieren, auch nicht reden.
Ich will Ihnen eines sagen: Zu den großen Herausforderungen der Politik gehört auch, die ungerechte Vermögens- und Einkommensverteilung in Deutschland anzugehen. Die Probleme müssen angepackt werden; denn
die Schere zwischen Arm und Reich geht immer weiter
auseinander.
Ich will Ihnen zwei Zahlen nennen. Auf der einen
Seite steigt die Zahl der Vermögensmillionäre in
Deutschland jedes Jahr. Wir sind inzwischen bei über
1 015 000 Vermögensmillionären, und das wird man
nicht mit eigener Hände Arbeit. Auf der anderen Seite
leben inzwischen 20 Prozent der Kinder in Armut. Beides sind keine Zahlen der Linken. Das zeigt: Auch das
passt nicht zusammen. Das ist eine Politik, die nicht sozial und die nicht christlich ist.
({3})
Deswegen müssen wir bei dieser Entwicklung gegensteuern. Wir können nicht sagen: Alles bleibt beim Alten.
Ihre Finanzpolitik kann man am Beispiel Rente sehr
gut deutlich machen. Ich will nicht zur Sache reden - damit werden sich die Fachpolitiker auseinandersetzen -,
aber die Frage ist: Was machen Sie finanzpolitisch? Erstens. Sie verbraten alle vorhandenen Reserven. Zweitens: Für die Finanzierung der Mütterrente erhöhen Sie
nicht etwa die Beiträge, sondern Sie greifen in die Taschen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Und
zum Schluss sagen Sie noch: Irgendwann 2019 werden
wir den Steuerzuschuss erhöhen. - Das ist eine unsolide
Finanzpolitik.
({4})
Das ist Politik zulasten zukünftiger Generationen, und
das darf nicht sein.
({5})
Nun zum Thema Haushalt. Herr Schäuble, Sie sagen:
Keine neuen Bundesschulden. - Das ist völlig in Ordnung; damit sind wir einverstanden. Das habe ich aber
auch schon von Ihren Vorgängern gehört. Ich will an eines erinnern: In der letzten Legislaturperiode hat Ihre
Koalition 100 Milliarden Euro neue Schulden gemacht.
Die Bundesschuld liegt bei 1,1 Billionen Euro. Ich höre
sehr wohl, dass Sie das auf 70 Prozent reduzieren
wollen - allein, mir fehlt der Glaube.
Es gibt andere Beispiele: Im rot-rot regierten Brandenburg werden seit drei Jahren Überschüsse produziert,
und wir haben mit der Schuldentilgung begonnen. Das,
was auf Bundesebene nicht gemacht wird, geht offensichtlich.
({6})
Auch Sie können mit einer noch so großen Mehrheit
im Parlament die Regeln der Mathematik nicht außer
Kraft setzen; die können Sie nicht wegbeschließen. Deswegen werden wir über Einnahmeerhöhungen nachdenken müssen. Das heißt eben nicht pauschal Steuererhöhungen. Vielmehr müssen wir genau schauen, wer von
der Krise profitiert, wo große Vermögen und Einkommen vorhanden sind.
Ich kann es meinen lieben Kolleginnen und Kollegen
der SPD nicht ersparen: In Ihrem Regierungsprogramm
stand vieles, das sich sehr gut lesen ließ. Was ist aber
nun mit der Erhöhung der Einkommen- und Abgeltungsteuer? Fehlanzeige. Was ist damit, dass die Vermögensteuer wieder erhoben werden sollte? Fehlanzeige. Was
ist denn mit der Korrektur bei der Erbschaftsteuer? Fehlanzeige. Was ist mit einem europäischen Erblastentilgungsfonds? Fehlanzeige. Was ist mit der Streichung
von Subventionen für unökologische Tatbestände? Fehlanzeige. Das alles findet sich nicht wieder. Was ist denn
vom Regierungsprogramm übrig geblieben? Das
Schlimme ist, dass sich der vernünftigste Vorschlag der
CDU, der Abbau der kalten Progression, auch nicht wiederfindet. Sie haben sich also auf dem schlechtesten Level geeinigt. Das kann finanzpolitisch nicht sein. Wir
sollten den Mittelstandsbauch endlich abbauen; denn wir
müssen die Menschen entlasten, die viel in unserer Gesellschaft tun, und starke Schultern müssen mehr tragen.
({7})
Auf dem Gebiet der Haushalts- und Finanzpolitik gibt
es im Kern ein Weiter-so der Politik von Schwarz-Gelb,
liebe Kolleginnen und Kollegen gerade auch der Sozialdemokratie. Wir brauchen etwas anderes. Wir brauchen
nicht das Gerede über die Regulierung der Finanzmärkte, sondern das muss endlich geschehen.
({8})
Wir müssen endlich Millionäre, Milliardäre und Superreiche zur Kasse bitten. Wir dürfen sie nicht länger herausnehmen bei der Finanzierung des Gemeinwesens.
Wir müssen Steuerentlastungen für die Geringverdienerinnen und Geringverdiener durchsetzen, um die Nachfrage zu erhöhen. Millionärssteuer ist angesagt. Es gibt
noch viele weitere Vorschläge.
Herr Schäuble, Sie haben uns an Ihrer Seite, wenn Sie
Steuerhinterziehung stärker bekämpfen wollen, wenn
Sie bei denjenigen etwas abholen wollen, die bewusst
dem Gemeinwohl schaden. Da sind wir dabei. Aber auch
hier frage ich: Wer ist denn seit vielen Jahren Finanzminister und hätte schon einiges tun können?
({9})
Ich sage Ihnen ganz klar und eindeutig: Wir werden Sie
nicht an Ihren, wie Herr Riesenhuber es ausdrückte, majestätischen Worten messen, sondern an Ihren Taten. Ich
sage Ihnen voraus: Mit der Politik werden Sie das ambitionierte Ziel, 2015 einen ausgeglichenen Haushalt vorzulegen, nicht erreichen; denn Sie können mit einer noch
so großen Koalition die Mathematik nicht wegbeschließen.
Herzlichen Dank.
({10})
Das Wort hat der Kollege Carsten Schneider für die
SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich habe keine Sorge, dass die Finanzpolitik in den
nächsten vier Jahren langweilig wird. Es gibt nicht nur
die Debatten mit der Opposition in diesem Haus, die
Herr Bartsch gerade angesprochen hat - darauf werde
ich noch zu sprechen kommen -, sondern es gibt auch
eine ganze Reihe von Herausforderungen, die in den
nächsten vier Jahren zu meistern sind.
Das Erste und Wichtigste ist, dass wir als Koalition
von CDU, CSU und SPD uns ganz klar für solide und
gerechte Finanzen einsetzen.
({0})
- Ich bin auf die Vorschläge gespannt. - Wir haben 2009
unter Federführung des damaligen Bundesfinanzministers Peer Steinbrück die Schuldenbremse ins Grundgesetz geschrieben. Die gilt.
({1})
Wir werden dafür sorgen - auch das ist im Koalitionsvertrag vereinbart -, dass Einnahmen und Ausgaben so
in Einklang gebracht werden, dass wir die Mittel für öffentliche Investitionen erhöhen und die Neuverschuldung, die es in den vergangenen über 40 Jahren gegeben
hat, so deutlich reduzieren können, dass sie im Jahr 2015
null beträgt. Das ist ein Paradigmenwechsel, für den die
SPD steht und bei dem wir den Bundesfinanzminister
auch unterstützen werden.
({2})
Wenn Sie sich die Ausgabenseite ansehen, also
schauen, wofür der Staat das Geld investiert, dann sehen
Sie, dass in den letzten vier Jahren insbesondere bei der
Sozialpolitik, bei der Arbeitsmarktpolitik, bei den
Schwächsten der Gesellschaft die Mittel gekürzt wurden. Wir machen das rückgängig. Die Mittel für die aktive Arbeitsmarktpolitik werden wieder erhöht. Denjenigen, die die schwierigsten Ausgangssituationen haben,
um Arbeit zu finden, anzunehmen und von ihrer eigenen
Hände Arbeit zu leben, werden wir helfen.
({3})
Sie werden für ihre Arbeit künftig auch angemessen entlohnt werden, ein Lohn, von dem man anständig leben
kann. Das bedeutet, dass wir einen Mindestlohn einführen werden, der dafür sorgen wird, dass Millionen Menschen mehr Geld in der Tasche haben, der ihnen Würde
wiedergibt und der auch den sozialen Ausgleich wiederherstellt.
({4})
Das Ganze ist auch haushaltswirksam, weil wir Minderausgaben haben werden: Das Lohndumping, das es
im vergangenen Jahrzehnt gegeben hat, wird unterbunden. Den Arbeitgebern, die mit geringsten Löhnen kalkuliert und in Kauf genommen haben, dass der Staat
dann aufstockt, machen wir einen Strich durch die Rechnung. Ich bin froh, dass die Union uns bei diesem Punkt
jetzt auch folgen wird.
({5})
Trotzdem ist auch klar, dass die Zukunftsinvestitionen
in Deutschland zu gering sind, nicht nur im öffentlichen
Sektor, sondern auch im privaten. Ja, wir haben - verglichen mit anderen Ländern - eine ganz gute wirtschaftliche Ausgangslage.
({6})
Das hängt stark mit den Krisenbekämpfungsmaßnahmen, die wir 2009 auf den Weg gebracht haben, und
auch mit den Arbeitsmarktreformen zusammen. Aber
wir brauchen jetzt eine Zukunftsgewandtheit. Herr
Riesenhuber hat vorhin darauf hingewiesen, dass wir
auch den Forschungsbereich stärken müssen.
({7})
Ich sehe mit Sorge, dass die privaten Investitionen rückläufig sind. Das ist nicht gut. Wir brauchen deutlich
mehr Investitionen in Forschung und Entwicklung, in
die öffentliche Infrastruktur, aber auch in den privaten
Sektor. Wir werden alles tun, um das zu unterstützen.
({8})
Hinsichtlich der öffentlichen Investitionen möchte ich
Ihnen kurz eine Zahl nennen. Das öffentliche Vermögen
ist in den vergangenen 20 Jahren um 800 Milliarden
Euro zurückgegangen, teilweise aufgrund von Desinvestition, aber vor allen Dingen aufgrund der hohen Verschuldung, die zusätzliche Investitionen nicht zuließ.
Wir mussten diese Schulden aufnehmen, um die Finanzkrise zu meistern. Auf der anderen Seite ist die Zahl der
Vermögenden explodiert. Der Umfang der privaten Vermögen ist von 4,6 auf rund 10 Billionen Euro gestiegen.
Ich bin sehr froh, dass die Bundesbank für die europäischen Länder klar gesagt hat - ich hätte mir gewünscht, sie hätte auch etwas zu Deutschland gesagt -,
dass bei zukünftigen Rettungsmaßnahmen - ich hoffe, es
wird keine mehr geben; aber ich will das nicht ausschließen - die Forderung der SPD, die wir immer erhoben haben, umgesetzt wird, dass erst einmal diejenigen, die
über viel Geld verfügen, ihrem Land helfen sollen.
Wir nehmen das als Handlungsauftrag, und wir geben
die Punkte Subventionsabbau und stärkere Besteuerung
Carsten Schneider ({9})
nicht auf. Es ist richtig, dass sie im Koalitionsvertrag
nicht vereinbart sind. Andererseits gibt es auch keine
Steuersenkungen auf Pump, sondern eine solide Finanzpolitik. Wir als SPD werden klar für einen Abbau von
steuerlichen Subventionen werben. Ich finde nicht, dass
man das alles vier Jahre lang so liegen lassen kann.
({10})
Ein weiterer Punkt ist die Finanzmarktregulierung.
Herr Minister, Sie haben eben den Vorschlag von Herrn
Barnier vom gestrigen Tag zitiert. Er hat vorgeschlagen,
Banken in Teile mit riskantem Geschäft und Teile mit
weniger riskantem Geschäft aufzuspalten. Dieser Vorschlag fußt auf einem Expertenbericht von Herrn Liikanen
und anderen. Viele Länder sind in diesem Bereich schon
weiter: die USA mit dem Dodd-Frank Act, aber auch
Großbritannien. Das Trennbankengesetz hier in
Deutschland ist eher eine Light-Version. Ich habe nach
erster Sichtung der Vorschläge, die von Herrn Barnier
vorgelegt wurden, die Sorge, dass sich die Lobby dort
sehr stark durchgesetzt hat.
Deswegen will ich klar sagen: Wir als Sozialdemokraten stehen für ein Trennbankengesetz, das keine
Light-Version ist, für ein Gesetz, das sehr strikt ist. Diejenigen, die Einlagen auf einem Girokonto oder Sparbuch in einer Bank haben, müssen sicher sein, dass die
Banken mit diesem Geld nicht zocken. Wir möchten,
dass dies umgesetzt wird.
({11})
Ich hoffe sehr darauf, dass das Europäische Parlament
hier noch für Verbesserungen sorgen wird, und ich hoffe
auf Sie Herr Minister. Wir haben im Koalitionsvertrag
fest vereinbart, den Liikanen-Bericht umzusetzen und
diese Verbesserungen gegenüber dem Kommissionsentwurf durchsetzen zu wollen.
Der dritte Punkt: Europa. Wir haben ja in den letzten
vier Jahren viele Debatten über einzelne Länder geführt.
({12})
Ja, es gibt Licht am Horizont. Ich sage nicht, dass dies
schon das Ende der Krise ist, wie Herr Barroso das formuliert hat. So weit würde ich nicht gehen. Zur Beruhigung der Finanzmärkte hat nur zu einem kleinen Teil die
Politik beigetragen. Es waren die EZB und Herr Draghi,
die mit der Ankündigung, alles zu tun, um den Euro zu
stützen, die Finanzmärkte beruhigt haben. Das ist von
kurzfristiger Wirkung.
Langfristig wird es darauf ankommen, das Währungsgebiet des Euro auch mit einer politischen Union zu verknüpfen, das heißt, dieses bisher unvollständige Werk,
das wir haben, zu vervollständigen. Wir sehen uns da auf
einer Linie. Ich glaube, dass es schwieriger ist, mit anderen Ländern in Europa über die Frage der Abtretung von
nationalen Souveränitätsrechten zu reden. Wir hier im
Deutschen Bundestag sind in dieser Frage weiter.
Der entscheidende Punkt des nächsten halben Jahres
wird die Bankenunion sein. Ich bin mit dem jetzigen
Entwurf, wie er im Dezember von den Finanzministern
verabredet wurde, nicht gänzlich einverstanden; ich will
das klar sagen. Das Europäische Parlament hat hier ein
starkes Stoppschild gesetzt und gesagt: Wir erwarten, als
Europäisches Parlament auch tatsächlich Mitsprachemöglichkeiten zu haben.
Nun will ich nicht im Einzelnen auf die rechtlichen
Bedenken eingehen. Aber der Kernpunkt ist: Wenn die
Europäische Zentralbank die Bankenaufsicht übernehmen soll, dann ist sie auch verantwortlich und geht das
große Risiko ein, dass sie in ihrer Glaubwürdigkeit hinsichtlich der Geldpolitik beeinträchtigt sein könnte.
Wenn die Bankenaufsicht funktionieren soll, dann muss
es auch einen glaubwürdigen Abwicklungsmechanismus
geben. Das ist ganz entscheidend, um Recht und Ordnung wiederherzustellen und um sicherzustellen, dass
derjenige, der Gewinne macht, auch die Verluste trägt.
Das sind die Aktionäre, das sind die Gläubiger der Banken. Das geht nur, wenn wir auch ein europäisches Abwicklungsrecht haben.
Ich glaube, dass der jetzige Kompromiss - das ist die
Auffassung der SPD -, erst im Jahre 2026, also in zwölf
Jahren, über einen einheitlichen Abwicklungsfonds, den
die Banken speisen sollen, zu verfügen, nicht weitreichend genug ist. Wenn die EZB 2014, also in diesem
Jahr, die Bankenaufsicht übernimmt und einen Stresstest
durchführen wird, laufen wir Gefahr, dass sie im Zweifel
nicht hart genug prüft, weil kein Abwicklungsmechanismus vorhanden ist. Wenn dieser nicht da ist, laufen wir
Gefahr, in japanische Verhältnisse zu geraten. Dauerhaft
marode Banken, sogenannte Zombiebanken, verfügen
über keine Kreditvergabemöglichkeiten mehr und sind
schlecht für die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit. Deswegen empfehle ich, in drei Punkten auf das Europäische Parlament zuzugehen.
Der erste Punkt ist: Eine Entscheidung über eine Abwicklung muss schnell getroffen werden können, im
Zweifel auch über ein Wochenende. Das muss zügig gehen. Der jetzige Vorschlag ist zu komplex.
Der zweite Punkt ist: Erstens. Zum einen darf eine
solche Entscheidung nicht von politischen Geschäften
im Finanzministerrat abhängig sein, sondern es muss
eine sachgerechte Entscheidung sein. Zum Zweiten
muss der Fonds, der dazu dienen soll, Verluste von Banken aufzufangen, schneller gefüllt werden; denn nur,
wenn er schneller gefüllt ist, besteht die Chance, diese
Banken tatsächlich abwickeln zu können und für mehr
Stabilität zu sorgen.
({13})
Der dritte Punkt betrifft die Frage der harten Gläubigerbeteiligung. Die Gläubigerbeteiligung ist durch den
Eintritt der SPD in diese Regierung ganz zentral geworden. Mit dem Eintritt der SPD in diese Bundesregierung
gilt auf europäischer Ebene ein anderer „Turn“. Das bedeutet: Bei Verlusten von Banken zahlen Eigentümer,
Anleihegläubiger und diejenigen, die den Banken Geld
Carsten Schneider ({14})
gegeben haben, und erst ganz zum Schluss - am besten
gar nicht - der Steuerzahler. Das ist unsere Position.
({15})
Ich bin froh, dass die Union uns an dieser Stelle entgegengekommen ist, und hoffe, dass wir nicht nur in dieser Frage Einigkeit erzielen, sondern dass es uns auch
gelingt, auf europäischer Ebene - dazu haben Sie unsere
volle Unterstützung, Herr Minister - die Finanztransaktionsteuer einzuführen.
Meine Damen und Herren, Sie sehen: Es liegt viel vor
uns. Wir haben für die erste Wegstrecke Einigkeit erzielt.
Es wird interessant bleiben.
Bleiben Sie uns gewogen.
({16})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen spricht nun
die Kollegin Kerstin Andreae.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Der Koalitionsvertrag zeigt vor allem eines: Große Koalitionen
({0})
sind teure Koalitionen.
({1})
Die Mehrausgaben belaufen sich auf 23 Milliarden Euro.
Wenn man danach fragt, wie das eigentlich finanziert
werden soll, werden die Antworten dünn. In der ursprünglichen Finanzplanung waren 14 Milliarden Euro
für die Schuldentilgung eingeplant. Diese 14 Milliarden
Euro sollen jetzt ausgegeben werden.
({2})
Dennoch bleibt eine Finanzierungslücke von 9 Milliarden Euro. Sie haben keine Idee, wo man sparen könnte,
({3})
etwa durch den Abbau von Steuersubventionen oder anderen Subventionen. Ausgaben einsparen? Fehlanzeige.
Das ist eine Politik, die die Zukunft teurer macht. Sie
haben mit dem Koalitionsvertrag Mehrausgaben von
23 Milliarden Euro beschlossen, ohne dass Sie uns verraten könnten, wie Sie das finanzieren wollen.
({4})
- Zu Baden-Württemberg komme ich noch.
Die Kanzlerin hat gestern gesagt, „dass wir uns unvermindert anstrengen müssen“, um in die Zukunft zu
investieren.
({5})
Fangen Sie damit an! Ich sage Ihnen: Sie investieren zu
wenig in die Bereiche Schule, Bildung, Hochschule,
Krippe, Kita.
({6})
Stattdessen schnüren Sie ein Rentenpaket, das jedes Jahr
10 Milliarden Euro kosten wird. Zum Vergleich: Für
Zukunftsinvestitionen geben Sie jährlich 2,4 Milliarden
Euro aus. Ich sage Ihnen: Das ist die falsche Prioritätensetzung.
({7})
Im Wahlkampf war der Investitionsstau in den Kommunen für Sie ein großes Thema.
({8})
Dass der Bund die Grundsicherung im Alter übernimmt,
dafür können Sie sich nicht feiern lassen; das haben die
grün-roten Länder im Bundesrat ausgehandelt.
({9})
Dass das Bundesteilhabegesetz Entlastung bringen wird,
ist richtig; diese Entlastung kommt aber leider erst 2018.
Uns interessiert nicht, was die nächste Koalition macht,
uns interessiert, was diese Koalition macht, um die
Kommunen zu entlasten.
({10})
Noch einmal zur Rente. Sie plündern die Rentenkasse. Innerhalb von drei Jahren wird die Nachhaltigkeitsrücklage von ungefähr 30 Milliarden Euro aufgebraucht sein; jeder von Ihnen weiß das. Wenn Sie jetzt
die Mütterrente beschließen und sie, statt über Steuermittel, über die Beitragskasse finanzieren, dann müsste
sich die SPD doch eigentlich Gedanken über die Situation in drei Jahren machen. Soll man die Beitragssätze
erhöhen? Das würde die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer treffen. Soll man Steuern erhöhen? Damit würde
die Union ihr Wahlversprechen brechen. Wie Sie die
Mütterrente finanzieren wollen, ist also eine indiskutable, unseriöse Politik.
({11})
Bei den Ausgaben bestimmt der größte gemeinsame
Nenner. Bei der Steuerpolitik ist es genau umgekehrt:
Hier ist die SPD von ihren Wahlankündigungen komplett abgerückt.
({12})
Es war interessant, Herr Schneider, zu hören, wie ein
Teil der Koalition auf die Ankündigung reagiert hat, dass
es auch um den Abbau von Steuersubventionen gehe. Da
kamen Sprüche wie: Das steht gar nicht im Koalitionsvertrag, machen wir nicht. - Steuersubventionen einmal
anzugehen, das ist für die CDU/CSU kein Thema. Wir
Grüne würden dabei mitmachen.
({13})
Es wundert uns nicht, dass im Jahr 2014 in der Bundesrepublik Hotelbetten weiter steuerlich subventioniert
werden, für die steuerliche Forschungsförderung aber
nach wie vor kein Geld da ist.
({14})
Das Minimalprogramm gegen Steuerhinterziehung
und Steuervermeidung durch international aufgestellte
Unternehmen steht in keinem Verhältnis dazu, was für
ein großes Thema Sie im Bundestagswahlkampf daraus
gemacht haben. Dabei ist es ein Hammer, wie international agierende Unternehmen ihre Steuerlast senken. Anstatt hier mutig voranzugehen, wollen Sie jetzt den
OECD-Bericht 2015 abwarten. Wir wollen nicht abwarten. Wir wollen, dass gegen Steuerhinterziehung und
Steuergestaltung engagiert vorgegangen wird.
({15})
Ein sterbendes Projekt ist die Finanztransaktionsteuer.
Sie planen gar nicht mehr mit zusätzlichen Einnahmen
durch die Finanztransaktionsteuer. Die 2 Milliarden
Euro, die ursprünglich eingeplant waren, sind in Ihrer
Finanzplanung nicht mehr enthalten.
({16})
Dass die Union die Finanztransaktionsteuer immer mit
spitzen Fingern angefasst hat, ist klar; sie hat diese nie
gewollt. Aber für euch ist das ein starkes Stück.
Michael Roth und Hubertus Heil, wir saßen zusammen in den Verhandlungen zum Fiskalpakt. Die Finanztransaktionsteuer war für euch doch der entscheidende
Punkt, dem Fiskalpakt zuzustimmen. Jetzt habt ihr euch
von dieser Steuer verabschiedet;
({17})
sie ist in der Finanzplanung nicht mehr enthalten.
({18})
Dabei brauchen wir diese Steuer, und zwar nicht nur wegen der Einnahmen, sondern vor allem, um die Spekulationen an den Märkten einzudämmen. Hier brauchen wir
mehr Mut.
({19})
Jetzt zu Baden-Württemberg, Herr Kauder.
({20})
Die Ratingagentur Standard & Poor’s bewertet auch die
Bundesländer.
({21})
Standard & Poor’s hatte dem Land Baden-Württemberg
ein Triple-A-Rating gegeben. Dieses Triple-A-Rating ist
unter der CDU-Regierung verloren gegangen. Wegen
der Konsolidierungspolitik dieser grün-roten Landesregierung liegt es wieder bei Triple A.
({22})
- Sie können lachen, so viel Sie wollen. Da nützt Lachen
gar nichts.
Fazit dieser schwarz-roten Finanzpolitik: Erstens. Das
Schmiermittel dieser Großen Koalition ist das Geldausgeben.
({23})
Zweitens. Die Koalition setzt falsche Prioritäten. Drittens. Sie plündern die Sozialkassen.
({24})
Viertens. Ein Schub für mehr Investitionen bleibt aus,
gerade bei Innovationen, gerade für den innovativen
Mittelstand, gerade bei der Forschungsförderung.
Ich sage Ihnen: Wir schauen Ihnen ganz genau auf die
Finger. Das, was Sie machen, ist eine Politik zulasten
von Investitionen und zulasten der Zukunft. Das werden
wir und im Übrigen auch die Mehrheit der Bevölkerung
dieses Landes nicht zulassen.
Danke schön.
({25})
Das Wort hat der Kollege Ralph Brinkhaus für die
Unionsfraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist
verrückt in diesem Deutschen Bundestag: Die Grünen
nehmen eine verhasste amerikanische Ratingagentur als
Kronzeugen ihrer Politik; die Linken beschäftigen sich
mit steuerlichen Entlastungen für den Mittelstand.
({0})
Meine Damen und Herren, lassen Sie uns über unseren
Koalitionsvertrag sprechen. Dabei wird uns wirklich
nicht langweilig, schließlich haben wir uns ein sehr ambitioniertes Programm vorgenommen.
Das Erste, was wir uns vorgenommen haben, ist, die
Nettokreditaufnahme nachhaltig auf Null zu setzen und
die Schuldenstandsquote substanziell zu senken. Das alles wollen wir erreichen, ohne die Steuern zu erhöhen
oder neue Steuern zu schaffen.
({1})
Wir werden den Bund-Länder-Finanzausgleich neu gestalten und dabei ganz besonders auf die Kommunen
achten; denn wir als Union sind die Partei der Kommunen. Das lassen wir uns nicht nehmen.
({2})
Wir werden darüber hinaus mit vielen kleinen und einfachen Maßnahmen das Steuerrecht handhabbarer und
alltagstauglicher machen; denn das bedeutet Bürokratieabbau für den Mittelstand.
Wir werden unsere Politik aus der letzten Legislaturperiode fortsetzen und dafür sorgen, dass die Menschen
und die Unternehmen, die in Deutschland ihr Geld verdienen, dieses Geld auch in Deutschland versteuern. Wir
werden die im Übrigen schon im Jahr 2008 begonnene
Neuordnung der Finanzmärkte, die mittlerweile mit
mehr als 30 Einzelmaßnahmen unterlegt worden ist,
fortführen. Wir werden außerdem beim Verbraucherschutz darauf achten, dass Verbraucherinnen und
Verbraucher die Chancen und Risiken der Produkte, die
sie kaufen, besser verstehen und damit die Verbraucherschutzpolitik der vergangenen Wahlperiode fortsetzen.
({3})
Wir wissen, dass das alles nur Makulatur sein wird,
wenn uns eine Krise in der Euro-Zone, im europäischen
Raum ereilt. Wir werden deswegen im Bewusstsein,
dass wir als stärkste Volkswirtschaft in Europa eine besondere Verantwortung tragen, darauf achten, dass es in
Europa und insbesondere in der Euro-Zone gut läuft.
Wir werden auch unsere Arbeit hier im Deutschen
Bundestag verändern müssen, weil wir in der vergangenen Legislaturperiode gesehen haben, dass wir mit nationaler Gesetzgebung an Grenzen stoßen. Wir haben das
im Bereich des Finanzmarktes gesehen, und wir sehen
das derzeit auch im Bereich der internationalen Steuervermeidung und Steuerhinterziehung. Deswegen wird
die Gesetzgebung, wird der Erlass von Regelungen
zukünftig in größerem Maße auf europäischer Ebene erfolgen. Das entbindet uns als Deutschen Bundestag aber
nicht davon, uns um diese Themen zu kümmern. Nein,
im Gegenteil: Wir müssen unser Verhalten dahin gehend
ändern, dass wir uns bei europäischen Initiativen stärker,
mit mehr Energie und vor allen Dingen frühzeitiger einbringen; denn wenn wir das nicht tun, werden bestimmte
Politikfelder hier in diesem Haus nicht mehr Thema
sein.
({4})
All das, was wir uns vorgenommen haben, ist mit
mehr als 60 Einzelprojekten unterlegt, die wir in den
nächsten dreieinhalb Jahren abarbeiten müssen. Das ist
wahrlich ein ambitioniertes Programm.
Schauen wir einmal hinter diese Einzelprojekte. Was
ist für uns als Union handlungsleitend? Was treibt uns in
diesem Koalitionsvertrag an? Hier sind mir fünf Beispiele besonders wichtig:
Erstens. Wir wollen die Haushalte konsolidieren und
die Schuldenstandsquote abbauen. Das ist kein Selbstzweck; es ist unser tiefes Selbstverständnis, dass wir hier
und heute nicht auf Kosten kommender Generationen
leben dürfen.
Frau Andreae hat die Rentenkasse angesprochen. Ja,
in einem von vier Sozialversicherungssystemen haben
wir der zukünftigen Generation den Rucksack etwas voller gepackt, in drei anderen aber nicht.
({5})
Es ist unser fester Wille, dass wir die Belastungen für zukünftige Generationen in allen Haushalten - auf
Bundesebene, auf Länderebene und vor allen Dingen auf
Ebene der Kommunen - reduzieren. Ich würde mir
wünschen, dass Sie uns mit dem gleichen Engagement,
mit dem Sie sich an dieser Stelle eingesetzt haben, folgen werden, wenn es darum geht, Ausgaben an anderer
Stelle zu reduzieren, um zukünftige Generationen zu
entlasten.
({6})
Die Wahrheit ist: Sie müssen sich an dem messen lassen, was Sie tun, wenn Sie in der Verantwortung sind.
Der baden-württembergische Doppelhaushalt, der jetzt
eingebracht wird, zeichnet sich durch eines besonders
aus, nämlich dadurch, dass er nicht darauf setzt, Ausgaben zu reduzieren, sondern darauf, mehr Einnahmen zu
erzielen,
({7})
indem beim Bund-Länder-Finanzausgleich mehr für das
Land herauskommt. Insofern ist es schlichtweg falsch,
wenn Sie Ihre Politik in Baden-Württemberg loben.
({8})
Deswegen brauchen wir in Sachen Generationengerechtigkeit keine Belehrungen von Ihnen.
Zweitens. Wir haben gesagt, dass wir das alles erreichen wollen, ohne Steuern zu erhöhen. Deswegen steht
in unserem Koalitionsvertrag, dass alle zusätzlichen
Maßnahmen und Projekte - bis auf die prioritären Maßnahmen - intern gegenfinanziert werden müssen. Das
heißt am Ende des Tages: Es ist kein Geld da für mehr
Staat. Das ist uns auch wichtig. Aus gutem Grund haben
wir in den letzten Jahren im Rahmen der Konjunkturpakete mehr Geld ausgegeben; wir wollten einen ordnungspolitischen Rahmen setzen und Infrastruktur aufRalph Brinkhaus
bauen. Aber ganz ehrlich: Wir geraten langsam auf eine
schiefe Ebene. Wir sagen nämlich nicht nur, dass wir als
Staat für die Ordnungspolitik zuständig sind, sondern
wir suggerieren den Menschen auch, dass wir als Staat
dafür da sind, alle Probleme zu lösen. Das entspricht
aber nicht unserem Menschenbild. Unser Menschenbild
ist auf Eigenverantwortung angelegt. Dass wir diese Entwicklung mit diesem Koalitionsvertrag gestoppt haben,
ist ein großes Verdienst derjenigen, die ihn verhandelt
haben.
({9})
Drittens. Wir sagen weiterhin, dass wir das Steuersystem mit vielen kleinen Einzelmaßnahmen handhabbarer
und einfacher machen werden. Als Steuerberater bin ich
ein großer Fan von grandiosen Steuerreformen von
Kirchhof, Merz und der Stiftung Marktwirtschaft, auch
von dem Vorschlag der Steuererklärung auf dem Bierdeckel.
({10})
Aber ganz ehrlich: Was haben wir im Hinblick darauf in
den letzten Jahren erreicht? Ich glaube, es ist wichtig,
dass wir die Wirklichkeit nicht aus den Augen verlieren
und das Machbare tun. Machbar für uns ist, insbesondere
für unsere Mittelständler die Bürokratie im Steuerverfahren zu senken und an sehr vielen kleinen Stellschrauben zu drehen. Ich glaube, uns als Union zeichnet
aus, dass wir den Blick für das Machbare haben.
({11})
Viertens. Wir haben auch gesagt, dass wir die Neuordnung der Finanzmärkte fortsetzen werden. Das heißt
nicht, dass wir die Märkte abschaffen werden. Im Gegenteil: Wir wollen die Märkte schützen. Es war in den
letzten Jahren sehr unpopulär, vom Markt zu reden.
Jeder, der das Wort in den Mund genommen hat, hat sich
beeilt, im gleichen Atemzug auch noch vom Ordnungsrahmen und vom starken Staat zu reden. Auch hier kommen wir auf eine schiefe Ebene. Der Markt ist in unserer
Wirtschaftsordnung noch immer am demokratischsten.
Der Wettbewerb auf dem Markt ist ein Entdeckungsverfahren, das Innovationen und Dynamik ermöglicht. Im
Übrigen ist es so - das gilt auch gesellschaftspolitisch -:
Ohne Markt ist keine offene Gesellschaft möglich, und
ohne Markt und Wettbewerb ist auch keine Demokratie
möglich. Deswegen ist es wichtig, dass wir uns auch in
dieser Legislaturperiode ein bisschen stärker bemühen,
wieder Freude am Markt zu wecken.
({12})
Fünftens. Zum Bereich Verbraucherschutz habe ich
ganz bewusst gesagt: Wir wollen, dass die Verbraucher
die Finanzprodukte besser verstehen. Ich habe nicht gesagt, dass wir etwas verbieten wollen. Das hat mit Freiheit zu tun. Wenn Menschen Produkte verstehen, können
sie ihre eigene Entscheidung treffen. Die Freiheit der
Entscheidung ist ein hohes Gut, das wir auch in dieser
Legislaturperiode hochhalten werden. Deswegen teile
ich hier nicht die Meinung von Herrn Gysi. Herr Gysi
hat gestern gesagt - Sie haben das heute wiederholt, Herr
Bartsch -: In unserer Wirtschaftsordnung ist es skandalös,
dass wenige ganz viel besitzen und viele ganz wenig.
({13})
Darüber kann man reden. Aber wissen Sie, was ich noch
skandalöser finde? Eine Wirtschaftsordnung, in der wenige darüber entscheiden, wie viele zu leben haben. Davon haben wir die Nase voll. Wir werden dafür sorgen,
dass das in diesem Lande nicht passiert.
({14})
Ich schließe meine Ausführungen. Sicherlich sind wir
uns bei der einen oder anderen Stelle im Koalitionsvertrag nicht einig; Carsten Schneider hat dies eben ausgeführt. Sie sind mehr fürs Geldausgeben zuständig; wir
sorgen dafür, das Geld zusammenzuhalten. Darüber werden wir sportlich diskutieren. Aber ich glaube, wir werden uns in der Sache gut verstehen. Wir werden diese
60 Projekte abarbeiten. Wir werden dafür sorgen, dass
dieses Land nach den vier Jahren, in denen wir gut zusammengearbeitet haben werden, zukunftsfester ist, als
es dies früher war. Darauf freue ich mich.
Danke schön.
({15})
Das Wort hat die Kollegin Dr. Gesine Lötzsch für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Vielen Dank. - Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Liebe Gäste auf den Tribünen! Der
Koalitionsvertrag zwischen Union und SPD hat einen
gravierenden Konstruktionsfehler: Die Steuereinnahmen
reichen nicht für die Ausgaben. Zur Erinnerung: Vor der
Wahl wusste die SPD noch, dass sie Steuergerechtigkeit
wollte. Sie wollte zum Beispiel die Stromsteuer senken
und den ausufernden Reichtum begrenzen. Nach der
Wahl hat sich dieses Wissen irgendwie in Luft aufgelöst.
Ich nenne das ganz schlicht Wahlbetrug.
({0})
Deutschland hat nach Analysen des Internationalen
Währungsfonds als eines der wenigen Länder in Europa
seine Spielräume für zusätzliche Staatseinnahmen nicht
ausgenutzt. Diese machen nach Aussagen des IWF
- nicht der Linken - immerhin rund 80 Milliarden Euro
pro Jahr aus. Man muss sich das einmal vorstellen: Mit
80 Milliarden Euro könnte man locker eine gerechte
Rentenreform erreichen und müsste nicht die Sozialkassen plündern.
({1})
Aber nein, diese Große Koalition will diese Spielräume,
diese Potenziale nicht nutzen. Ich finde das verantwor708
tungslos und sozial ungerecht. Diese Politik darf nicht
fortgeführt werden.
({2})
Jeden Tag macht ein anderes Regierungsmitglied
neue kostspielige Vorschläge. Nicht alle diese Vorschläge sind falsch. Doch ohne solide Einnahmen wird
das gute Leben, von dem gestern und heute wieder so oft
die Rede war, nicht zu finanzieren sein. Angefangen hat
diese Regierung mit neuen Posten; Kollege Bartsch ist
darauf schon eingegangen. Man muss hinzufügen, dass
die Große Koalition allein durch die Schaffung zusätzlicher Regierungsstellen in den nächsten vier Jahren weit
über 6 Millionen Euro mehr ausgibt als die schwarzgelbe Vorgängerregierung, und die war schon nicht sparsam. Ein schlechter Anfang, wie ich finde.
Frau von der Leyen will nun noch mehr Kriegseinsätze für die Bundeswehr. Geld scheint dabei überhaupt
keine Rolle zu spielen. Herr Schäuble, Frau von der
Leyen hat einmal in einem Interview erklärt, Sie seien
für sie so etwas wie ein Mentor in der Regierung. Ich
finde, dann sollten Sie ihr einmal den Vorschlag unterbreiten, eine Eröffnungsbilanz ihres Ministeriums vorzulegen und nicht schon wieder ans Geldausgeben zu denken.
({3})
Wissen Sie eigentlich, wie viel Geld der Steuerzahler
bisher für Auslandseinsätze ausgegeben hat? Über diese
Art der Ausgaben ist in dieser Haushalts- und Finanzdebatte komischerweise bisher überhaupt nicht gesprochen worden. Allein in den Jahren von 2000 bis 2012
kosteten die Auslandseinsätze über 15 Milliarden Euro.
Das sind zusätzliche Kosten. Gehälter und andere laufende Kosten der Bundeswehr kommen extra hinzu. Sie
geben also jetzt schon 1 Milliarde Euro pro Jahr für Auslandseinsätze aus. Bereits auf der Kabinettsklausur 2010
wurde damals unter Kanzlerin Merkel beschlossen, dass
die Bundeswehr 4,3 Milliarden Euro einsparen solle.
Diese Auflagen wurden nie erfüllt. Im Gegenteil: Die
Bundeswehr hat noch mehr Geld ausgegeben, als in der
Finanzplanung vorgesehen war. Offenbar soll das so
weitergehen. Ich finde, das ist absolut der falsche Weg,
meine Damen und Herren.
({4})
Ihre Bilanz als Finanzminister, Herr Schäuble, wurde
nur durch die niedrigen Zinsen gerettet. Dafür mussten
Sie nichts tun. Das ist Ihnen leistungslos in den Schoß
gefallen. Nun, Herr Schäuble, versuchen Sie, die Ausgabenwünsche Ihrer Kollegen vom Bundeshaushalt auf die
Sozialsysteme umzulenken. Das ist ein Trick, der sich
bitter rächen wird.
Bei der Rente ab 63 will sich die Bundesregierung aus
dem Topf der Rentenversicherung bedienen. Die Rentenversicherung soll quasi wie eine Zitrone ausgepresst
werden, damit der Zuschuss aus dem Bundeshaushalt
nicht explodiert. Auch der Zuschuss zum Gesundheitsfonds soll um 3,5 Milliarden Euro gesenkt werden. Ich
finde diesen Griff in die Sozialkassen mehr als riskant.
Ein ausgeglichener Haushalt auf Kosten der Sozialkassen wäre nicht nur ein Pyrrhussieg, sondern auch äußerst
wacklig. Denn jede Konjunkturabschwächung, jede problematische außenwirtschaftliche Situation, jede neue
Bankenkrise würde den Bundestag zwingen, die Zuschüsse an die Sozialkassen wieder zu erhöhen. Dann
hat die ganze Trickserei nichts gebracht. Mein Vorschlag
ist: Machen Sie doch gleich einen ehrlichen Haushalt,
statt es mit diesen Tricks zu versuchen!
({5})
Wir werden bei den anstehenden Haushaltsberatungen sehr genau hinschauen, wie diese Regierung ihre
Versprechen finanzieren will. Ich warne Sie schon jetzt
davor, die fehlenden Steuermilliarden den Bürgerinnen
und Bürgern über höhere Sozialbeiträge aus den Taschen
zu ziehen. Ein Steuerrechtler hat sehr genau berechnet,
dass höhere Beiträge das Monatseinkommen von Geringverdienern wesentlich stärker belasten als das von
Spitzenverdienern. Damit würde die neue Bundesregierung, wie mein Kollege Gysi gestern schon gesagt hat,
den Kurs der abgelösten FDP-CDU/CSU-Regierung, die
Umverteilung von unten nach oben, fortsetzen. Das werden wir als Linke niemals akzeptieren.
Vielen Dank.
({6})
Das Wort hat der Kollege Johannes Kahrs für die
SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Enak Ferlemann freute sich, als ich nach
vorne ging: Er ahnt, dass er heute nicht dran ist, weil ich
nicht mehr für Verkehr zuständig bin. Aber es sei dir gegönnt.
({0})
Wenn man die Debatte verfolgt hat, dann hat man das
Gefühl, dass der Koalitionsvertrag, also das, was die neue
Koalition in den nächsten Jahren umsetzen will, heute
Thema ist. Ich habe verfolgt, was Herr Schäuble gesagt
hat, der zu Beginn Teile des Koalitionsvertrages vorgetragen und festgestellt hat, dass wir eine gute wirtschaftliche Entwicklung haben. Darin gebe ich Ihnen recht, Herr
Schäuble. Daran haben in den letzten Jahren viele Koalitionen gearbeitet. Man kann Gerhard Schröder und der
rot-grünen Koalition noch einmal dafür danken, die
Grundlagen geschaffen zu haben, dass es uns heute gut
geht und dass die wirtschaftliche Entwicklung in diesem
Lande solide und vernünftig verläuft.
({1})
Wir machen das schrittweise. Wir haben dann in der
Großen Koalition entsprechend daran weitergearbeitet.
Über die letzten vier Jahre wollen wir nicht reden; sie
waren eher tragisch.
Wenn der Bundesfinanzminister sagt, dass wir keine
Steuererhöhungen benötigen, dann ist das die Meinung
der CDU/CSU. Wir sind in einer Koalition. Wir haben
einen Koalitionsvertrag vereinbart. Koalitionsverträge
bestehen daraus, dass man Kompromisse schließt. Jede
Seite setzt etwas durch. Das ist richtig. Der Kollege
Brinkhaus hat gerade gesagt, wir Sozialdemokraten
seien fürs Geldausgeben zuständig. Das sind Plattitüden,
die gerne gebracht werden. Dazu haben wir nicht geklatscht. Das mögen Sie uns verzeihen. Aber der Umgang in der Koalition übt sich noch ein; da bin ich ganz
zuversichtlich. Der Kollege Kauder hat das bereits vorbildlich gemacht. Er hat teilweise ganz alleine geklatscht, während seine Fraktion geschwiegen hat. Herr
Kauder ist sehr koalitionstreu. Ich werde mich bemühen,
ihm nachzueifern.
({2})
Dann haben wir den Kollegen Bartsch reden gehört.
Er hat genauso wie die Kollegin Lötzsch die SPD kritisiert, weil sie ihr Wahlprogramm nicht umgesetzt hat;
das ist nun einmal so.
({3})
Ehrlicherweise muss man zugeben: Man kann in einer
Koalition nicht alles durchsetzen; das weiß jeder. Wir
haben uns in vielen Punkten durchgesetzt, die richtig,
wichtig und gut sind. Über den Mindestlohn werden wir
nicht einmal mehr streiten. Unser Problem war, dass uns
zu einer Koalition mit der Union die Alternativen fehlten.
({4})
- Herr Bartsch, das liegt einfach daran, dass die Linke
weder koalitionsfähig noch regierungsfähig noch in der
Lage ist, eine Politik auf Bundesebene zu machen, für
die sich eine Mehrheit in diesem Hohen Hause finden
lässt.
({5})
Solange Sie Ihren eigenen Laden nicht in den Griff kriegen, können Sie natürlich ewig Oppositionsplattitüden
von sich geben. Aber das alles klingt billig und hohl.
({6})
Dann hat uns Kollegin Andreae kritisiert. Das finde
ich sehr tapfer. In einigen Punkten kann ich ihr sogar
recht geben. Wir hätten sicherlich an der einen oder anderen Stelle gerne Steuererhöhungen durchgesetzt; darin
stimme ich Ihnen vollkommen zu. Die Verbesserungen
der Leistungen der Rentenversicherung, die wir im Koalitionsvertrag vereinbart haben, hätten wir lieber über
Steuern finanziert. Das ist sozialdemokratische Politik;
das hatten wir angekündigt. Das ist uns leider nicht geglückt.
({7})
Aber es hat einen Hauch von Unredlichkeit, dass Sie von
den Grünen sich hier aufplustern. Sie hätten schließlich
mit der Union koalieren und dann all das durchsetzen
können, was Sie nun ansprechen. Sie haben aber gekniffen.
({8})
Sie haben sich in die Büsche geschlagen. Sie haben all
das, was Sie hätten tun können, nicht gemacht. Sie tun
nun so, als wären Sie die große Opposition, die alles
Mögliche aufzeigen kann. Ich sage Ihnen: Sie hatten
eine reale Regierungsoption. Sie wollten sie aber nicht
nutzen. Was dabei herauskommt, wenn Sie regieren,
sieht man zurzeit in Hessen. Wenn man sich den hessischen Koalitionsvertrag anschaut, dann weiß man, wie
günstig Grüne zu haben sind.
({9})
Kollege Kahrs, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung des Kollegen Ernst?
Vom Kollegen Ernst immer gerne. - Früher haben wir
das auf unseren Parteitagen gemacht.
({0})
Herr Kollege Kahrs, Sie haben sich nun kräftig über
mögliche Koalitionen ausgelassen. Da Sie Haushälter
sind, müssen Sie einigermaßen rechnen können. Dann
mussten Sie schon vor der Wahl gewusst haben, dass
eine Koalition mit den Grünen für eine Mehrheit zugunsten der SPD nicht ausreicht. Trotzdem haben Sie ein
Wahlprogramm aufgestellt, das den Eindruck erweckt
hat, als würden Sie zum Beispiel die von meinem Kollegen Bartsch angesprochenen Steuererhöhungen wollen.
Obwohl Sie rechnen können, sagen Sie gleichzeitig, dass
die Partei, die ein ähnliches Programm hat und mit der
Sie das, was Sie wollen, durchsetzen könnten, nicht
koalitionsfähig ist. Finden Sie es unter dieser Voraussetzung nicht richtig, Herr Kollege Kahrs, dass meine Kollegen Bartsch und Lötzsch darauf hinweisen, dass das,
was Sie gemacht haben, eigentlich vorprogrammierter
Betrug am Wähler war? Sie haben ein Wahlprogramm
aufgestellt, obwohl Sie wussten, dass Sie das meiste
davon mit dem Koalitionspartner CDU/CSU nicht umsetzen können. Das hätten Sie auch lassen können. Sie
hätten auch darauf verzichten können, einen Kanzler710
kandidaten aufzustellen. Ein Vizekanzlerkandidat hätte
gereicht, Kollege Kahrs.
({0})
Herr Ernst, zum einen bedanke ich mich, dass Sie
meine Redezeit verlängern.
({0})
Zum anderen verstehe ich jetzt, warum der Verlust der
bayerischen SPD nicht wirklich gefühlt wird.
({1})
Wenn wir uns das genauer anschauen, dann stellen
wir fest: Wir als SPD haben ein Angebot gemacht und
ein Regierungsprogramm aufgestellt, aus dem hervorgeht, wie wir uns eine Regierung in Deutschland vorstellen. Wir haben aufgeschrieben, was wir richtig, wichtig
und notwendig finden, und haben versucht, dafür eine
Mehrheit zu finden. Im Gegensatz zu Ihnen glauben wir
noch daran, dass man Menschen überzeugen kann.
Das ist uns nicht in dem Maße gelungen, in dem wir
es wollten. Aber natürlich muss man als Volkspartei mit
dem Anspruch antreten, zu regieren. Und Umfrageergebnisse verändern sich. Deswegen, Herr Ernst, glaube ich,
dass Ihre Frage gerade erstens einen Hauch billig ist,
zweitens mit der Sache nicht zu tun hat und drittens von
der blamablen Präsentation Ihrer eigenen Partei ablenken soll. Deshalb wiederum verspüren wir in dieser Großen Koalition auch eine gewisse Freude darüber, dass
wir nicht mit Ihnen koalieren müssen.
Vielen Dank, Sie können sich setzen.
({2})
Wir als SPD und CDU/CSU - und jetzt wende ich
mich gerne einmal dem Koalitionsvertrag zu ({3})
haben uns also gemeinsam hierhingestellt und wollten
eine Regierung bilden. Dabei haben wir uns von dem
Gedanken der soliden Staatsfinanzen leiten lassen. Der
Bundesfinanzminister Schäuble hat - genauso wie
Carsten Schneider und Kollege Brinkhaus - schon viel
dazu gesagt. Ich glaube, dass es wichtig ist, in den
nächsten Jahren die Finanzen in Ordnung zu bringen und
gleichzeitig alles zu tun, um in den nächsten Jahren weiterhin eine funktionierende Wirtschaft und einen prosperierenden Mittelstand zu haben, damit wir diese starke
Rolle in Europa auch in Zukunft weiterhin einnehmen
können.
Wir haben gleichzeitig gesagt, dass wir Maßnahmen
umsetzen müssen, um in den nächsten Jahren richtig investieren zu können. Deshalb gibt es prioritäre Maßnahmen, die nicht unter einem Finanzierungsvorbehalt
stehen. Die Partei, die im Wahlkampf gesagt hat, dass
Länder und Kommunen entlastet werden sollen, war die
SPD.
({4})
Die SPD hat versprochen; die SPD hat geliefert. Denn
unter den prioritären Maßnahmen befinden sind schwerpunktmäßig Maßnahmen, die für Länder und Kommunen wichtig sind.
({5})
Ich glaube, dass man das gar nicht häufig genug sagen
kann. Denn wenn man keine Maßnahmen ergreift, dann
wird der Investitionsstau vor Ort, in den Ländern und
Kommunen, nicht aufgelöst. Da können wir auf Bundesebene machen, was wir wollen - wenn in die Kommunen und Länder nicht investiert wird, haben wir Probleme.
({6})
- Eine einsame Stimme von den Grünen sagt: Ihr macht
ja nichts! - Ich empfehle die Lektüre des Koalitionsvertrages.
({7})
Dort steht, dass Gemeinden, Städte und Landkreise entlastet werden. Die letzte Stufe der Übernahme der Grundsicherung im Alter umfasst 1,1 Milliarden Euro. Des Weiteren sollen die Kommunen im Rahmen der Verabschiedung
des Bundesteilhabegesetzes im Umfang von 5 Milliarden Euro jährlich von der Eingliederungshilfe entlastet
werden.
({8})
- Ganz entspannt bleiben!
({9})
Bereits vor der Verabschiedung des Bundesteilhabegesetzes beginnen wir mit einer jährlichen Entlastung
der Kommunen in Höhe von 1 Milliarde Euro und werden uns dann an die 5 Milliarden annähern - damit Sie
nicht immer sagen können, dass gar nichts passiert.
Die Länder und Gemeinden werden bei der Finanzierung von Kinderkrippen, Kitas, Schulen und Hochschulen in der laufenden Legislaturperiode mit 6 Milliarden
Euro entlastet. Und ein wichtiger Punkt steht noch dabei
- das vergessen manchmal die Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU -:
Sollten die veranschlagten Mittel für die Kinderbetreuung für den Aufwuchs nicht ausreichen, werden
sie entsprechend des erkennbaren Bedarfes aufgestockt.
Ich glaube, das ist ein ganz wesentlicher Punkt. Wir
haben im Wahlkampf ganz klar und deutlich gesagt, dass
es für uns wichtig ist, dass die Kinderbetreuung vernünftig organisiert und sauber finanziert wird. Und dabei
wollen und werden wir den Ländern und Kommunen
entsprechend helfen.
({10})
Für die dringend notwendigen Investitionen in die
Verkehrsinfrastruktur werden 5 Milliarden Euro zusätzlich mobilisiert. Wir als SPD hätten uns deutlich mehr
vorstellen können. Ich erinnere mich noch an die langen
Vorträge, die wir zum Thema Nord-Ostsee-Kanal usw.
gehalten haben - Enak Ferlemann freut sich, dass er jetzt
doch wieder dran ist.
Wir hoffen also, dass in diesem Bereich weiterhin etwas passiert, obwohl das Haus nicht sozialdemokratisch
geführt wird, und zwar nicht nur beim Nord-Ostsee-Kanal, sondern auch bei der A 20 und anderen wichtigen
Projekten hier in Deutschland. Unser Vertrauen ist auch
so groß, dass wir bereit sind, das mit der CDU/CSU gemeinsam anzugehen.
Wir stellen bei der Städtebauförderung und im Rahmen der ODA-Quote viel Geld zur Verfügung, und wir
leisten einen Bundeszuschuss zur Rentenversicherung.
({11})
Wir als Sozialdemokraten haben gesagt: Die Maßnahmen bei der Rente, mit denen wir angetreten sind, halten
wir in der Sache für richtig. Das ist so. Wir haben für die
Rente mit 67 gekämpft. Wir glauben aber auch, dass diejenigen, die sehr früh angefangen haben, zu arbeiten, die
in der Regel gewerblich arbeiten und körperlich stark belastet sind, die Möglichkeit haben müssen, eher in Rente
zu gehen, ohne Abschläge hinzunehmen. Das haben sich
diese Menschen verdient. Diese Möglichkeit muss es geben. Das ist die richtige Ergänzung zur Rente mit 67.
Deswegen wird das jetzt auch kommen.
({12})
Um das zu finanzieren, haben wir 2 Milliarden Euro zusätzlich in dieser Legislaturperiode für die Rentenversicherung bereitgestellt. Wir hätten uns gewünscht, dass es
komplett aus dem Haushalt finanziert worden wäre.
Abschließend sei noch eine Bemerkung erlaubt. Mich
hat gefreut, dass der Kollege Kauder so häufig bei mir
geklatscht hat wie noch nie. Ich hoffe, dass wir das bei
Debatten zur Gleichstellung von Lesben und Schwulen
auch noch erleben werden.
Vielen Dank.
({13})
Das Wort hat der Kollege Sven-Christian Kindler für
die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Es war schon lustig, mit anzuhören, welche
Pirouetten der Kollege Kahrs jetzt in der neuen Koalition
dreht. Ich hätte mir mehr Reden zur Sache gewünscht.
({0})
Ich möchte auf Ihre Bemerkung zum Koalitionsvertrag eingehen. Natürlich ist es richtig, dass man in Koalitionsverträgen Kompromisse machen muss. Das wissen
auch wir Grüne. Aber das Problem der SPD ist doch,
dass sie in den Bereichen Finanzen, Europa und Haushalt keine Kompromisse gemacht hat, weil sie nichts hat
durchsetzen können; das war eine komplette Niederlage
für die SPD.
({1})
Jetzt zu Ihnen, Herr Schäuble, und Ihrer zukunftsvergessenen Haushaltspolitik. Schauen wir uns einmal an,
wie es mit den Investitionen aussieht. Dieser Staat lebt
seit Jahren von der Substanz. Die Investitionsquote des
Staates ist negativ. Daran muss sich dringend etwas ändern. Wir brauchen mehr Zukunftsinvestitionen.
Wenn man sich jetzt den Koalitionsvertrag anschaut,
kann man sehen, was die finanziellen Prioritäten sind. Das
sind keine Zukunftsinvestitionen. Es wird sehr viel Geld
für die Rente ausgegeben, sehr wenig Geld für Bildung
und Betreuung. Es wird gar nichts gegen Kinderarmut unternommen. Durch Einschnitte bei den Bürgerinnen und
Bürgern und durch Maßnahmen im Bundeshaushalt wollen Sie die Energiewende abwürgen. Klimaschutz
kommt im Haushalt nicht vor. Das ist das Gegenteil einer Politik, die für Zukunftsinvestitionen steht. Bei der
GroKo kommt das nicht vor. Das meinen wir Grüne mit
„zukunftsvergessen“. Das ist ganz klar gegen die Generationengerechtigkeit.
({2})
Natürlich muss man, um Geld für Zukunftsinvestitionen bereitzustellen, auch Entscheidungen treffen. Haushalt heißt, Prioritäten zu setzen, Entscheidungen zu treffen, sich festzulegen. Aber was machen Sie im Haushalt,
welche Pläne finden sich im Koalitionsvertrag? Sie streichen keine Ausgaben, zum Beispiel beim Betreuungsgeld oder bei Rüstungsprojekten. Sie gehen nicht an die
klimaschädlichen Subventionen in Milliardenhöhe heran. Fehlanzeige. Anpacken einer gerechten Steuerpolitik? Erneut Fehlanzeige. Null Veränderungen planen Sie
im Haushalt. Das ist das Gegenteil einer Gestaltung von
Haushaltspolitik. Sie haben den Anspruch, den Haushalt
zu gestalten, komplett aufgegeben.
({3})
Übrigens haben sich die SPD, aber auch die CDU für
Maßnahmen gefeiert, die sie im Koalitionsvertrag versprechen und die nicht unter einem Finanzierungsvorbehalt stehen, zum Beispiel die Leistungen für Kommunen.
Wenn man sich diese einmal genau anschaut, dann stellt
man fest, dass es sich um 23 Milliarden Euro handelt, die
im Koalitionsvertrag nicht unter Finanzierungsvorbehalt
stehen. Ihre sogenannte Gegenfinanzierung besteht aber
darin, 14 Milliarden Euro weniger für den Schuldenabbau vorzusehen. 23 Milliarden Euro minus 14 Milliarden Euro ist aber 9 Milliarden Euro. Es klafft also eine
Lücke von 9 Milliarden Euro. Entweder können Sie
nicht rechnen - das wäre schlimm -, oder Sie täuschen
ganz bewusst die Öffentlichkeit - das wäre noch schlimmer. Auf jeden Fall stehen alle Maßnahmen, gerade auch
die Leistungen für die Kommunen, im Koalitionsvertrag
unter einem Finanzierungsvorbehalt.
({4})
- Natürlich stimmt das; denn Sie haben es nicht richtig
gegengerechnet.
Auch zur Rentenfinanzierung wurde schon viel gesagt. Ich finde es wichtig, zu sagen, dass auch wir Grüne
Verbesserungen bei der Rente wollen. Wir haben aber
andere Prioritäten. Das Hauptproblem bei der Rente ist
die Altersarmut, die vor allen Dingen Frauen betrifft.
Mit dem vielen Geld - 160 Milliarden Euro bis 2030 machen Sie aber nichts gegen Altersarmut, und das genau ist das große Gerechtigkeitsversagen der Großen
Koalition bei der Rente.
({5})
Was gar nicht geht, ist Ihre Finanzierung. Die ist unsolide hoch zehn und zudem ungerecht. Wer zahlt denn
eigentlich für das Rentenpaket? 25 Prozent des Rentenpakets, so sagt die Deutsche Rentenversicherung, zahlen
die bisherigen Rentnerinnen und Rentner, weil ihre
Rente wegen der Finanzierung sinken wird. 60 Prozent
werden aus der Rentenkasse kommen, obwohl klar ist,
dass die Anerkennung von Kindererziehungszeiten wichtig ist und somit die Finanzierung der Mütterrente eine
gesamtgesellschaftliche Aufgabe ist, die zu Recht aus
Steuermitteln hätte finanziert werden müssen.
({6})
Aber an die Steuern trauen Sie sich nicht heran, dazu
haben Sie keinen Mumm, obwohl man gerade in der
Steuerpolitik solidarisch dafür sorgen könnte, dass starke
Schultern mehr tragen als schwache Schultern. Wen belasten Sie stattdessen bei der Rente? Es sind vor allen
Dingen die Leute, die Rentenbeiträge zahlen. Es sind
normale Menschen mit normalem Einkommen, die Sie
belasten. Spitzenverdienerinnen und Spitzenverdiener
werden nur wenig beitragen. Wir Abgeordnete werden
keinen Cent dazu beitragen. Kapital- und Vermögenseinkommen werden nicht dazu beitragen. Das nenne ich
eine feige und ungerechte Finanzierungspolitik.
({7})
Das Problem ist: 2018/2019 kommt die böse Überraschung. Die notwendigen Steuererhöhungen und die notwendigen Beitragserhöhungen zur Finanzierung kippen
Sie der nächsten Regierung und der nächsten Generation
vor die Füße. Aber das ist ja auch nichts Neues bei der
Großen Koalition. Das Verschieben von Risiken gehört
bei ihr zum Programm. Was zum Beispiel die Finanzplanung angeht: Im Koalitionsvertrag äußern Sie die Hoffnung auf ewiges Wachstum von 1,5 Prozent. Was machen Sie eigentlich, wenn es wieder einmal schlechtere
Jahre gibt, die Steuereinnahmen nicht so sprudeln und
die Beiträge nachher wieder steigen müssen? Was machen Sie eigentlich, wenn die historisch niedrigen Zinsen wieder auf Normalmaß steigen? Darauf haben Sie
keine Antwort. Daher wird Ihr Haushalt zusammenfallen
wie ein Kartenhaus.
({8})
Wir sind auf die kommenden Haushaltsberatungen
gespannt. Wir werden Ihnen als Grüne konkrete Angebote für eine nachhaltige, gerechte Haushaltspolitik vorlegen. Ich hoffe, dass Sie dann Ihren zukunftsvergessenen Irrweg korrigieren werden.
Ich möchte mit einem Zitat von Gustav Heinemann
schließen:
Wer nichts verändern will, wird auch das verlieren,
was er bewahren möchte.
Ich hoffe, das nehmen Sie sich zu Herzen.
Vielen Dank.
({9})
Als Nächstem erteile ich das Wort dem Kollegen
Norbert Barthle, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine Damen und Herren! Lieber Herr Kollege Kindler, Ihre Rede erinnert mich an die ersten Reden aus der Opposition heraus vor vier Jahren. Da wurde
uns genauso vorgehalten, wir planten nicht, wir könnten
nicht rechnen, alles funktioniere nicht. Lesen Sie diese
Reden einmal nach! Man kann sie alle in die Tonne treten; denn gekommen ist es ganz anders, nämlich viel
besser.
({0})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, lassen Sie
mich zu Beginn wiederholen, was hier vor einigen Minuten der Kollege Riesenhuber gesagt hat:
Der Staat kann die Zukunft nicht erfinden. Wenn er
gut ist, kennt er die Vergangenheit.
Ich finde dieses Zitat schön. Warum? Weil es so wunderbar in die Generalaussprache in dieser Woche passt, in
der sich die Koalitionsfraktionen vergewissern wollen,
was sie in den kommenden vier Jahren erreichen wollen.
Wenn man sich vergewissern will, wohin man will, muss
man zuerst einmal wissen, woher man kommt. Lassen
Sie mich deshalb zwei Blicke zurück auf die vergangenen vier Jahre werfen.
Stichwort „Schuldenbremse“: Die Schuldenbremse
schreibt uns vor, dass wir 2016 strukturell nur noch
0,35 Prozent Verschuldung haben dürfen. 2012 haben wir
das bereits erreicht; da waren wir nämlich bei 0,34 Prozent struktureller Verschuldung, 2013 bei 0,23 Prozent.
Dieses Jahr werden wir einen strukturell ausgeglichenen
Haushalt vorlegen. Das ist nicht nur unser Ziel, sondern
wir machen das auch.
({1})
Zweiter Blick zurück: Wie hat sich die Nettokreditaufnahme entwickelt? Noch vor vier Jahren standen wir
hier und mussten 80 Milliarden Euro neue Schulden planen. Geworden sind es am Ende des Jahres 44 Milliarden Euro. Im Jahre 2011 haben wir 48 Milliarden Euro
neue Schulden geplant. Geworden sind es 17,3 Milliarden Euro. Im Jahre 2012 haben wir 28 Milliarden Euro
neue Schulden geplant, geworden sind es 22,5 Milliarden Euro. Im Jahre 2013 haben wir 25,1 Milliarden Euro
neue Schulden geplant, geworden sind es 22,1 Milliarden Euro. Jedes Jahr haben wir besser abgeschnitten als
geplant.
({2})
Wenn ich jetzt noch die Sondereffekte herausrechne
- Befüllung des ESM-Kapitalstocks, Europäische Investitionsbank, Fluthilfe -, dann stelle ich fest, dass wir
schon bei einem nahezu ausgeglichenen Haushalt sind.
Auch dieses Ziel steht klipp und klar im Koalitionsvertrag: ab 2015 keine neuen Schulden mehr.
({3})
Das ist, fiskalpolitisch betrachtet, eine Erfolgsbilanz,
wie es sie in diesem Lande noch nie gab.
({4})
Das muss man immer wieder betonen.
Im Koalitionsvertrag ist aber nicht nur festgehalten,
dass wir hinter das bei der Schuldengrenze Erreichte
nicht mehr zurückfallen wollen, sondern auch - das steht
ebenfalls darin -, dass diese Strategie mit bestimmten
Maßnahmen eingehalten wird.
Darin steht zum Beispiel auch, dass, falls es konjunkturelle Schwankungen geben sollte, was man nie ausschließen kann, der Anstieg der Ausgaben nie höher sein
darf als der Anstieg des Bruttoinlandsprodukts. Das ist
eine ganz wichtige Regelung zur Begrenzung der Ausgaben.
An die Adresse all jener aus der SPD-Fraktion gerichtet, die immer noch auf Steuererhöhungen spekulieren
- dass es solche gibt, konnte ich den Reden entnehmen,
lieber Johannes Kahrs, lieber Carsten Schneider -: Darin
steht klipp und klar, was wir an prioritären Maßnahmen
finanzieren. Maßnahmen zur Verbesserung von Bildung
und Forschung, für die Kommunen, für die Infrastruktur,
für die ODA-Quote werden finanziert. Für alles andere
gilt nicht nur ein strenger Finanzierungsvorbehalt.
({5})
Darin steht nämlich auch: Alles Übrige muss unmittelbar, dauerhaft und - wie heißt die dritte Formel? ich lese
nach - vollständig gegenfinanziert werden, und zwar im
gleichen Politikbereich. Jeder Haushälter, der lesen
kann, weiß, dass damit Steuererhöhungen zur Verbesserung der Ausgabemöglichkeiten ausgeschlossen sind;
denn das fließt in den Einzelplan 60. Finanzierung von
zusätzlichen Ausgaben oder Ausgleich von Mindereinnahmen über den allgemeinen Haushalt, das geht nicht;
es muss im jeweiligen Politikbereich vollständig, unmittelbar und dauerhaft gegenfinanziert werden. Das sollten
auch die Ministerinnen und Minister unseres Koalitionspartners einmal genau nachlesen.
({6})
- Aber ja, das mache ich schon. Ich sage es ja auch hier
in aller Deutlichkeit.
An dieser Stelle muss ich auf die Grünen zurückkommen. Im Koalitionsvertrag steht auch, dass wir die Kommunen - der Finanzminister hat es vorgetragen - bei der
Eingliederungshilfe für Behinderte entlasten:
({7})
5 Milliarden Euro pro Jahr ab 2018, zuvor jeweils 1 Milliarde Euro pro Jahr Vorabhilfe an die Kommunen.
Liebe Frau Andreae, was macht Ihr Ministerpräsident
Winfried Kretschmann?
({8})
Er schreibt in seinen Haushalt 400 Millionen Euro Mehreinnahmen hinein, die er sich aus Steuererhöhungen erhofft hat. Da wir Steuererhöhungen aber nicht machen,
fehlen ihm 400 Millionen Euro. Was macht er? Er gibt in
einem Zeitungsinterview bekannt, der Bund übernehme
ja jetzt die Eingliederungshilfe; da könne er sich die
400 Millionen Euro holen. Das nenne ich unseriöse
Haushaltspolitik in einem Maße, wie ich es noch nicht
erlebt habe. Deshalb kann Standard & Poor’s mit seinem
AAA-Rating nur die baden-württembergischen Unternehmerinnen und Unternehmer, die fleißigen und sparsamen Menschen gemeint haben, aber nicht die grün-rote
Landesregierung.
({9})
Meine Damen und Herren, was steht noch im Koalitionsvertrag? Darin steht, dass wir uns intensiv mit den
Finanzbeziehungen zwischen Bund, Ländern und Kommunen beschäftigen wollen. Da soll eine Kommission
eingerichtet werden. Sie hat sich sehr viel vorgenommen. Da geht es nämlich um die Einhaltung des europäischen Fiskalvertrags, der auch die Länder betrifft. Da
geht es um die Schuldenbremse für die Länder, die ab
2020 greift. Da geht es um die Verteilung von Einnahmen und Aufgaben auf allen föderalen Ebenen. Da geht
es um den Länderfinanzausgleich. Da geht es um die
Frage der Altschulden. Es geht um die Zukunft des Soli.
Es geht also um sehr viel. Unter dem Strich, wie Professor Henneke dieser Tage in der FAZ so schön geschrieben hat: Es geht um die Umverteilung von 640 Milliarden Euro gesamtstaatlicher Steuereinnahmen.
Das wird eine Mammutaufgabe der kommenden Wochen und Monate werden. Bis Mitte der Legislaturperiode müsste das abgeschlossen sein. Da werden wir
noch viel zu beraten haben. Darauf können sich die
Kommunen und die Länder verlassen. Der Bund ist bislang Vorreiter, was die Konsolidierung anbelangt. Einige
Länder machen mir Sorge, insbesondere Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen - um nur einige wenige zu nennen. Aber wir stehen solidarisch zueinander,
genauso wie wir das auf europäischer Ebene tun, aber
immer unter der Maßgabe: Hilfe zur Selbsthilfe.
({10})
Das gilt auch auf europäischer Ebene. Darüber werden wir im Zusammenhang mit der Bankenunion noch
intensiv zu sprechen haben.
Ich darf abschließend -
Herr Kollege.
Ich bin schon beim Schlusssatz.
Herr Kollege, ich wollte Sie fragen, damit die Grünen
ihre Chancen wahrnehmen können, ob Sie vor Ihrem
Schlusssatz noch eine Zwischenfrage zulassen.
Ja, gerne.
Frau Hajduk, bitte.
Sehr geehrter Kollege Barthle, Sie haben gerade von
der Mammutaufgabe der Neuordnung der Bund-LänderFinanzbeziehungen gesprochen, haben auch die Summe
in den Raum gestellt und gesagt, wie viel hundert Milliarden es sind, um die es da letztendlich geht. Können
Sie uns als Mitglied dieses Hohen Hauses hier schon einmal deutlich machen, dass die Koalition auch sicherstellt, dass der Haushaltsgesetzgeber, der Deutsche Bundestag, bei der Erarbeitung dieser Vorschläge von
Anfang an mit eingebunden ist? Das wird im Koalitionsvertrag nicht so richtig deutlich.
Da die Einsetzung dieser Kommission im Koalitionsvertrag von CDU, CSU und SPD und nicht in einer Regierungsvorlage angekündigt wird, gehe ich davon aus,
dass das Parlament auch entsprechend eingebunden sein
wird, wenn es darum geht, die Finanzbeziehungen zwischen Bund und Ländern neu auszutarieren, und zwar
unter Einbeziehung der Kommunen. - So lautet die Formulierung.
({0})
Kollegin Hajduk, Sie können davon ausgehen, dass wir
das nicht einfach an uns vorüberziehen lassen.
Zum Schluss noch eine Bemerkung zum Thema Bankenunion. Darüber muss in den kommenden Monaten
noch verhandelt werden. Wir sind an den Verhandlungen
beteiligt. Ich darf Ihnen versichern, dass wir Haushälter
streng darauf achten werden, dass die Haftungskaskade,
die der Kollege Carsten Schneider angesprochen hat,
eingehalten wird. Wir werden ebenfalls sehr darauf achten, dass der Europäische Stabilitätsmechanismus künftig die Aufgaben erfüllen kann, die er zu erfüllen hat,
nämlich in Schwierigkeiten geratenen Staaten zu helfen,
und nicht dazu benutzt wird, eine grenzenlose Rekapitalisierung von Banken zu betreiben.
In diesem Sinne freue ich mich auf eine gedeihliche
Zusammenarbeit mit unseren neuen Freunden auf der
linken Seite des Hauses, auf eine erfolgreiche Fortsetzung der Konsolidierungspolitik, die wir bisher betrieben haben, und damit auf eine gute Zukunft für den
Haushalt dieses Landes.
Danke.
({1})
Zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag erteile
ich nun unserer Kollegin Cansel Kiziltepe von der SPDFraktion das Wort.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Liebe Gäste auf der Tribüne! Es soll laut Koalitionsvertrag um die Gestaltung von Deutschlands Zukunft gehen. Dazu kann die Finanzpolitik einen wichtigen Beitrag leisten. In diesem Zusammenhang sind zwei
Punkte besonders wichtig: zum einen die Erzielung von
mehr Steuergerechtigkeit und zum anderen die Finanzmarktregulierung. Damit soll ein solidarischer, gerechter
Lastenausgleich erreicht werden. In Deutschland sind
wir davon allerdings noch weit entfernt.
Zum ersten Punkt. Zukunftsfähigkeit bedeutet größere Handlungsfähigkeit des Staates durch mehr SteuerCansel Kiziltepe
gerechtigkeit. An Instrumenten für eine gerechte, nachhaltige Finanzpolitik wäre eigentlich kein Mangel. Wir
als SPD stehen auch weiterhin für eine Vermögensbesteuerung und für die Erhöhung des Spitzensteuersatzes,
liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linken.
({0})
Damit es in unserem Land gerechter zugeht, ist eine
größere Steuergerechtigkeit unabdingbar. Wir werden
eine stärkere und intensivere Verfolgung von Steuerhinterziehern auf den Weg bringen; denn Deutschland verliert durch Steuerbetrug und die sogenannte Steueroptimierung jedes Jahr Milliarden von Euro. Es geht hier frei
nach der KB-Methode - kaltblütiger Betrug - um die
Bereicherung Einzelner auf Kosten der Allgemeinheit.
Dieses Verstecken vor der gesellschaftlichen Solidarität
muss ein Ende haben.
({1})
Daher bin ich froh darüber, dass im Bundesrat Ende
2012 das Steuerabkommen mit der Schweiz verhindert
werden konnte. Wenn man sich die Anzahl der Selbstanzeigen im letzten Jahr im Vergleich zu 2012 ansieht,
kann man einen wahren „Hoeneß-Boom“ erkennen. Wir
von der SPD wollen zusammen mit der Union, wenn ich
Herrn Schäuble richtig verstanden habe, kein Spekulieren auf Hoeneß-Effekte, sondern wir wollen die Steuerhinterziehung ausmerzen.
({2})
Daher ist es jetzt unsere Aufgabe, die Regelung zur
strafbefreienden Selbstanzeige so zu entwickeln, dass
der milde Umgang mit Steuerverbrechern ein Ende hat.
Wichtig ist uns dabei, dass es nicht nur darum geht, diejenigen konsequent zu verfolgen, die sich auf ihrem persönlichen Egotrip befinden, sondern dass es hier um die
Handlungs- und Investitionsfähigkeit unseres Landes
und seiner Institutionen geht.
Der zweite wichtige Punkt im Bereich der Finanzpolitik ist die Einführung einer Finanztransaktionsteuer. Wie
wir alle feststellen mussten, führt ein intensiver Umschlag von Wertpapieren nicht, wie das Marktradikale
stets behaupten, zu besseren, sondern zu schlechteren
Preisen an den Finanzmärkten. Da sind wir uns im Deutschen Bundestag einig.
({3})
Dies hat massive negative gesamtwirtschaftliche Folgen.
Das muss unterbunden werden, liebe Kolleginnen und
Kollegen.
({4})
Herr Brinkhaus, wir wollen keine Märkte schützen,
sondern wir wollen Finanzmärkte regulieren.
({5})
Eine Finanztransaktionsteuer führt dazu, dass auf diesen
Märkten weniger, dafür aber bewusster gehandelt wird,
weil Spekulieren teurer wird. Die Europäische Kommission hat einen Vorschlag zur Einführung vorgelegt. Dieser umfasst die Besteuerung des Handels mit Aktien,
Anleihen und Derivaten. Das ist gut so. Die Einführung
soll uns in Europa jährlich 60 Milliarden Euro bringen.
Ob das gerecht ist und ausreicht, ist diskussionswürdig,
aber ein Schritt in die richtige Richtung.
({6})
Im Moment besteht jedoch die Gefahr, dass der Vorschlag der Kommission verwässert wird. Bei vielen
potenziellen Teilnehmern ist lediglich eine Besteuerung
der Aktien im Gespräch oder bereits im eigenen Land
durchgesetzt. Wenn es dabei bliebe, wäre es ein handfester Skandal; denn lässt man neben dem Devisenhandel
auch noch den Derivatehandel weg, bleiben europaweit
nur noch Einnahmen von etwa 20 Milliarden Euro. Dann
kann von einer gerechten Beteiligung der Krisenverursacher keine Rede mehr sein.
({7})
Es wird also unsere Aufgabe sein, gemeinsam mit unserem Koalitionspartner in dieser Sache in Europa klar
Farbe zu bekennen. Wir brauchen für Europa eine Finanztransaktionsteuer mit einer maximalen Bemessungsgrundlage. Dafür werde ich mich gemeinsam mit meiner
Fraktion einsetzen. Die Behauptung der Finanzlobby,
dass kapitalgedeckte Rentenversicherungen dadurch negativ belastet würden, ist völlig falsch. Wenn Sie sich
überlegen, dass heute ein Riester-Sparer für 100 Euro
15 bis 20 Prozent Verwaltungskosten bezahlen muss
- das sind 20 Euro - und bei einer Finanztransaktionsbelastung von 0,1 Prozent nur 10 Cent bezahlen müsste,
dann zeigt das, dass die Belastung sehr gering ist.
Wir sind uns mit unserem Koalitionspartner einig,
dass wir handeln müssen. Das ist moralisch und politisch
richtig und ökonomisch vernünftig. Es ist wichtig, dass
Steuerhinterziehung endlich konsequent verfolgt wird.
Über das Aufkommen können wir nur spekulieren. Auf
solche Schätzungen können wir uns nicht verlassen.
Frau Kollegin, es wäre total lieb, wenn Sie ab und zu
einen Blick auf die Uhr werfen würden. Das Präsidium
hat nämlich schon 2 Minuten Erstredezuschlag gewährt,
ohne dazwischenzufunken.
({0})
Sehr gut. Ich komme zum Ende. Danke, Herr Präsident.
({0})
Wir dürfen uns nicht auf die Hoeneß-Spekulation verlassen. Vorhin haben wir gehört, dass es eine Rieseninvestitionslücke in Deutschland gibt. Im Koalitionsvertrag haben
wir vereinbart, dass wir den Kommunen dort Hilfestellung
leisten und sie entlasten werden. Ich nehme auch die
Bundeskanzlerin beim Wort. Gestern hat sie in ihrer
Rede gesagt: Kein Finanzmarkt, kein Finanzakteur, kein
Finanzprodukt soll unreguliert bleiben. Diese Einschätzung teile ich.
Vielen Dank.
({1})
Wir gratulieren der Kollegin Kiziltepe zu ihrer ersten
Rede.
({0})
Die Zustimmung im Haus wird noch wachsen, wenn
Sie bei zukünftigen Reden ab und zu einen liebevollen
Blick auf die Uhr werfen. Das dient dem solidarischen
Stimmenausgleich und verhindert die Besorgnis des
Herrn Kollegen Bartsch, dass es zwischen Regierung
und Opposition möglicherweise zu zeitmäßigen Imbalancen kommt.
Jetzt rufe ich als nächste Rednerin die Kollegin Antje
Tillmann von der CDU/CSU-Fraktion auf.
({1})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr geehrte Damen und Herren! Es gibt gute Nachrichten über Deutschland. Die Opposition mag es nicht
hören, aber über Deutschland wird gut berichtet. Die
Steuereinnahmen sind auf einem Rekordhoch. Ich nutze
heute sehr gerne die Gelegenheit, all denjenigen Unternehmerinnen und Unternehmern, Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmern dafür zu danken, dass sie morgens
aufstehen und dass sie einen Teil ihres Verdienstes als
Steuern für diesen Staat abführen, um den Sozialstaat
aufrechtzuerhalten. Kurzfassung: Ihnen, liebe Steuerzahlerinnen und liebe Steuerzahler, danke ich für Ihr Engagement und Ihr Mitwirken in diesem Staat.
({0})
Ich gebe das Protokoll dieser Debatte gerne jedem,
der gesagt hat: Na ja, all das, was die Parteien im Wahlkampf in Bezug auf Steuererhöhungen behauptet haben,
wird ja so nicht kommen. - Die heutige Debatte hat wieder ganz klar gezeigt: Es gibt ein Rekordhoch bei den
Steuereinnahmen, aber die anderen Fraktionen können
immer noch nicht genug kriegen. Wir sind die Einzigen,
die den Bürgern sagen: Mit dem, was wir Ihnen, den
Steuerzahlern, abnehmen, müssen wir auskommen.
Darauf können Sie sich verlassen. - Wir werden dank
dieser Steuereinnahmen zusätzlich die Schuldenbremse
einhalten, Investitionen in Bildung und Forschung
tätigen und ab 2015 keine neuen Schulden mehr aufnehmen.
({1})
Was die Opposition noch sehr viel mehr ärgert als die
harten Fakten, dass wir hohe Steuereinnahmen haben
und den Haushalt konsolidieren, ist, dass immer mehr
Menschen in Deutschland optimistisch in die Zukunft
schauen. Es scheint sie so richtig zu ärgern, dass Menschen sagen: Mit Deutschland geht es gut voran; wir sind
auf dem richtigen Weg. - Wir, die Koalition, insbesondere die CDU/CSU-Fraktion, werden in den nächsten
vier Jahren dafür sorgen, dass es so bleibt und die Menschen im Nachhinein sagen: Das war ein guter Weg; wir
sind ein Stück weitergekommen.
Ich will Ihnen im Folgenden einen kurzen Überblick
darüber geben, wie wir das tun wollen. Wir bleiben, wie
auch schon in den letzten vier Jahren, bei einer stabilen,
verlässlichen Steuerpolitik. Ein kurzer Rückblick: Wir
haben den Grundfreibetrag erhöht und die Menschen
hierdurch um 2,6 Milliarden Euro entlastet. Wir haben
die Wirtschaft um Bürokratie entlastet, indem wir eine
elektronische Rechnungsstellung bei der Umsatzsteuer
möglich gemacht und das Reisekostenrecht vereinfacht
haben. Wir haben mehrfach das Kindergeld und den
Kinderfreibetrag erhöht und damit Familien in Deutschland unterstützt. Die weitere Erhöhung des Kindergeldes
und des Kinderfreibetrags steht auf der Tagesordnung.
Auch da werden wir die Familien in Deutschland im
Auge haben; sie können sich auf uns verlassen.
Auch in dieser Legislaturperiode werden wir das
Steuerrecht fortentwickeln. Und nein, es wird keine
Steuererklärung geben, die auf einen Bierdeckel passt,
weil einfach auch Lebenssachverhalte nicht auf einen
Bierdeckel passen.
({2})
Aber wir werden das Steuerrecht noch gerechter machen.
Wir haben in den letzten vier Jahren viele Steuergestaltungsmöglichkeiten in Deutschland eingeschränkt.
Ich erinnere an die „Goldfinger“-Debatte. Das, was wir
in Deutschland verhindern konnten, haben wir verhindert. In den nächsten vier Jahren setzen wir unsere Bemühungen fort, auch international zu Verbesserungen zu
kommen. Steuervermeidungen - sie tragen den tollen
Namen BEPS - werden wir international einschränken.
Wir werden sicherstellen, dass auch im Internet und in
der digitalen Wirtschaft Steuern gezahlt werden. Wir
werden verhindern, dass Menschen keine Steuern
zahlen, weil sie in unangemessener Weise Vorteile aus
Doppelbesteuerungsabkommen, DBA, in Anspruch nehmen. Wir werden Steuerverkürzungen international dadurch verhindern, dass ein Informationsaustausch durchgeführt wird. Ich bin sehr froh, dass wir auch in dieser
Legislaturperiode diese Politik zusammen mit unserem
Finanzminister gestalten, denn er ist hier seit Jahren Vorreiter auf internationaler Ebene.
({3})
Wir werden auch die Finanzmärkte regulieren. Die
Bürgerinnen und Bürger rechnen zu Recht damit, dass
wir verhindern, dass Steuerzahler Banken retten müssen.
Lieber Kollege Schneider, es ist schön, dass wir uns
heute einig sind. Aber dass für die Haftungskaskade gilt,
dass der Bürger zuletzt haftet, kann nicht direkt auf Sie
zurückgehen; denn es gab sie schon, bevor Sie in die
Regierung eingetreten sind.
({4})
Auch da geht ein herzliches Dankeschön an unseren
Finanzminister, der das auf europäischer Ebene durchgesetzt hat.
({5})
Frau Kollegin Tillmann, es gibt eine Zwischenfrage
aus der Fraktion der Grünen. Gestatten Sie diese?
Gerne.
Bitte, Herr Kollege.
Vielen Dank, Herr Präsident, vielen Dank, Frau Kollegin, dass Sie die Zwischenfrage erlauben. - Frau
Tillmann, Sie haben von mehr Steuergerechtigkeit gesprochen. Ich habe absichtlich gewartet, bis Sie zum
nächsten Thema kamen. Sie haben ein Thema ausgelassen, das die schwarz-gelbe Koalition anpacken wollte,
aber nicht angepackt hat - das haben wir und gerade
auch die Kollegen von der SPD oft beklagt -, nämlich
das Thema Mehrwertsteuer.
({0})
Finden Sie es gerecht, dass Sie bei einem Bratwurstbräter unabhängig davon, ob Sie die Bratwurst mitnehmen oder dort verzehren, den gleichen Preis bezahlen,
aber in dem einen Fall der verminderte Mehrwertsteuersatz und in dem anderen Fall der volle Mehrwertsteuersatz berechnet wird?
({1})
Um es in unserer Sprache zu sagen: Für Außer-HausUmsätze gilt der verminderte Mehrwertsteuersatz. - Ich
könnte jetzt die ganzen weiteren Beispiele aufzählen, die
Sie genauso gut kennen wie ich.
({2})
Wir waren uns mit den Kollegen von der SPD einig,
dass wir das Thema angehen müssen. Wir waren uns mit
der CDU, allerdings nicht mit der CSU, beim Thema
Hotelsteuer einig. Können Sie mir bitte sagen, warum
Sie nicht den Mut haben, dieses zentrale Projekt zur
Schaffung von Steuergerechtigkeit - auch wenn Herr
Schäuble sagt, dass 60 Prozent der Bevölkerung dagegen
sind, was sicher richtig ist - endlich anzugehen?
({3})
Lieber Herr Kollege Gambke, ich beschäftige mich
mit dem Thema Mehrwertsteuer wahrscheinlich schon
länger, als Sie im Deutschen Bundestag sind. Ich gebe
Ihnen recht: Es gibt in diesem Bereich Verwerfungen.
Das Beispiel Babywindeln haben Sie jetzt nicht genannt,
auch das ist ein uraltes Thema. Ein Teil der Problematik
ist im Zuge der europäischen Umsatzsteuerrichtlinie entstanden; dadurch ist es innerhalb Deutschlands nicht
ohne Weiteres möglich, die bestehende Regelung zu ändern.
Ich bin gerne bereit, mit Ihnen in den nächsten vier
Jahren an Lösungen zu arbeiten. Das Thema ist nicht
Bestandteil des Koalitionsvertrags, dafür haben wir
61 andere Projekte, die jetzt anstehen. Wir werden das
Thema Mehrwertsteuer aber immer wieder auf die
Tagesordnung setzen, zum Beispiel, wenn die Umsatzsteuer-Systemrichtlinie neu gefasst wird. Das bietet die
Gelegenheit, das Thema intensiv zu diskutieren. Ich
freue mich sehr, wenn Sie dabei sind.
({0})
Neben der Regulierung der Banken, insbesondere
auch der Schattenbanken - Dr. Schäuble hat heute Morgen schon darauf hingewiesen -, werden wir uns intensiv mit dem Verbraucherschutz auf dem Finanzmarkt beschäftigen. Was für die Banken im Großen gilt, gilt für
die Anleger im Kleinen: Wer ein Risiko eingeht, der
muss auch den Schaden tragen. Aber natürlich fühlen
wir uns bei Kleinanlegern aufgrund unserer Fürsorgepflicht mehr gefordert. Bereits in der Vergangenheit
wurden Regulierungen in diesem Bereich vorgenommen. Für Anlageberater gelten strengere Informationsund Beratungspflichten. Es gibt sogar Sanktionsverfahren und Bußgelder. Es gibt sogenannte Kundeninformationsblätter für die Anleger und Anlegerinnen, was zu
einer größeren Transparenz geführt hat, als es in der Vergangenheit der Fall war.
Trotzdem gilt natürlich nach wie vor der Leitspruch:
hohe Zinsen, hohes Risiko - niedrige Zinsen, niedriges
Risiko. Ich kann von dieser Stelle aus an die Verbraucherinnen und Verbraucher, die sogenannten Kleinanleger,
nur appellieren, dass sie die entsprechenden Informationen zur Kenntnis nehmen. Bei einem Zinssatz von 8 Prozent lohnt es sich, eine Stunde lang Informationsblätter
zu lesen oder sich Rat einzuholen. 8 Prozent Zinsen
bedeuten ein hohes Risiko. Wir können den Verbraucher
nicht in jedem Einzelfall davor schützen, dass er Fehler
bei der Anlage seines Geldes macht.
({1})
Das nächste große Thema, insbesondere für die
neuen, aber auch für die alten Bundesländer, ist die Neuregelung des Länderfinanzausgleichs. Eben wurde von
dem Kollegen der Grünen gefragt, ob wir uns als Bundestag da einschalten. Nun muss man zunächst festhalten, dass die Neuregelung des Länderfinanzausgleichs
natürlich Sache der Länder ist. Wenn sich die Länder einigen würden, ohne auf den Bund zurückzugreifen, dann
hätten wir wenig Probleme, die Vorschläge der Länder
nachzuvollziehen. Ich befürchte, das wird so nicht
kommen. Also werden wir uns selbstverständlich in
diese Verhandlungen einbringen.
Wir werden einen gerechten Ausgleich zwischen
Leistungsanreizen und Solidarität finden. Es muss dabei
insbesondere unser Interesse sein, sicherzustellen, dass
die Schuldenbremse nicht nur einmalig eingehalten wird
- der Bund und einige Länder sind hier vorbildlich -,
sondern dass das Thema Schuldenbegrenzung gerade
vor dem Hintergrund der Generationengerechtigkeit in
Deutschland in Bund, Ländern und Kommunen dauerhaft aktuell bleibt.
({2})
Damit die Kommunen das tun können, haben wir das
größte Entlastungsprogramm für die Kommunen in der
Geschichte der Bundesrepublik Deutschland verabredet.
Frau Andreae ist gerade leider nicht da. Dass sie sich
hinstellt und sich traut, zu behaupten, die rot-grünen
Landesregierungen hätten das in den Koalitionsvertrag
und in den Vermittlungsausschuss hineinberaten,
({3})
ist sehr tapfer. Dabei hat doch gerade Rot-Grün den
Kommunen mit den Kosten für die Unterkunft das
größte Sozialprogramm aufgedrückt, sie dann aber hinsichtlich der Finanzierung im Regen stehen gelassen. Ich
glaube daher, dass ein bisschen Demut schon angemessen wäre.
({4})
Ich wundere mich immer wieder, dass ausgerechnet
die, die nicht im Vermittlungsausschuss sind, genau wissen, was dort passiert ist. Es war unser Finanzminister,
der in der kommunalen Finanzkommission das 10-Milliarden-Euro-Entlastungsprogramm ins Gespräch gebracht hat. Rot-Grün ist dann auf diesen Zug aufgesprungen, was im Sinne der Kommunen ist. Aber
tatsächlich lag die Initiative ganz klar bei uns.
({5})
Die Kommunen werden sich auch weiterhin auf uns
verlassen können. Das Programm zum Ausbau der Kinderbetreuung ist gut angelaufen. Wir wissen sehr wohl,
dass auch in dieser Legislaturperiode zusätzliche
Kindergartenplätze nötig sind. Lieber Herr Kahrs, auch
hier war es wieder unsere Familienministerin, die die
Bundesmittel ausgereicht hat, bevor manche SPD-regierten Länder überhaupt auf die Idee gekommen sind,
dass Kindergärten zu bezahlen sind.
({6})
- Nein, das will ich nicht. Aber die Retourkutsche dafür,
dass Sie gesagt haben, die CDU müsste überzeugt werden, müssen Sie jetzt schon hinnehmen.
({7})
Ich bin sicher, dass die Koalition auch in diesen Punkten zu guten Ergebnissen kommt. Wenn wir in vier
Jahren die Menschen noch einmal befragen, werden sie
sagen: Das waren vier gute, optimistische Jahre.
Wir haben uns auf den Weg gemacht. Wir freuen uns,
wenn Sie mitmachen.
Herzlichen Dank.
({8})
Als Nächstem erteile ich das Wort dem Kollegen
Lothar Binding, SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Sehr verehrte Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zwei Bemerkungen
einer Kollegin und eines Kollegen der Linken haben
mich mehr erschreckt als geärgert: Gesine Lötzsch hat
von Wahlbetrug, Kollege Ernst von Lüge gesprochen.
Ich glaube, wenn wir auf dem Niveau des betrunkenen
Stammtischbesuchers angekommen sind, gemäß dem
alle Politiker Lügner sind, dann haben wir etwas falsch
gemacht.
({0})
Sie müssen uns nicht erklären, wie ein Kompromiss
funktioniert. Ein Wahlversprechen ist immer so gemeint,
dass es das enthält, was man tun will, wenn man allein
regiert. Wenn man nicht allein regiert, dann kann man
nicht alles einhalten, was man versprochen hat. Das gilt
für die einen, für uns, wie für die anderen, die CDU/
CSU-Fraktion.
({1})
Das hätte auch gegolten, wenn die Linke mit der CDU/
CSU koaliert hätte. Auch dann hätte das gegolten.
({2})
Lothar Binding ({3})
Um das zu verstehen, bedarf es allerdings der Bereitschaft, mehr Verantwortung für das Ganze wahrzunehmen, als Sie bisher an den Tag gelegt haben.
({4})
Dietmar Bartsch hat das geschickter gemacht. Er hat
gesagt, was ihn an unserem Verhandlungsergebnis stört:
Wir haben keine Einkommensteuererhöhung, keine höhere Abgeltungsteuer, keine Vermögensteuer. Das will
ich gar nicht bestreiten; das stimmt. Die andere Hälfte
haben Sie aber vergessen zu erwähnen: Wir haben den
Mindestlohn, wir haben verbesserte Arbeitnehmerrechte,
wir haben Beschäftigungsförderung, die Leih- und Zeitarbeit wollen wir verbessern, wir wollen die Rente und
die Pflege verbessern. Das ist die andere Hälfte.
({5})
Ein Kollege von der CDU/CSU könnte das ganz ähnlich
vortragen.
Kerstin Andreae hat sich in ihrer Rede implizit widersprochen; dieser Widerspruch war ein wenig versteckt.
Sie hat gesagt: Ihr wollt 23 Milliarden Euro mehr ausgeben; das ist richtig schlimm.
({6})
Dann hat sie gesagt: Bei den Kommunen und in den Bereichen Verkehr, Schule, Kita, Forschung usw. fehlt
Geld. Genau dafür wollen wir die 23 Milliarden Euro
aber ausgeben. Und dann sagt sie noch: Das ist zu wenig.
({7})
Das ist irgendwie unlogisch. Das ist ein Widerspruch.
({8})
- Ja, das ist ein versteckter Widerspruch. Ich verstehe
das sehr gut. Sie können das rechtfertigen. Aber die
Erklärung ist falsch.
({9})
Insofern ist das eine komplizierte Angelegenheit.
({10})
Ich will eine kleine Zäsur machen. Kollege Schäuble
hat gesagt, dass in Europa viel zu tun bleibt. Ich will daran einen Gedanken anknüpfen: Ich glaube, wir müssen
interkulturelle Kompetenz als Stärke akzeptieren und
weiterentwickeln. Das muss unsere Basis sein. Von diesem Grundverständnis sind wir aber noch ein ganzes
Stück weg. Heute betrachten sich die Länder gegenseitig
noch so, als würden sie sich gar nicht kennen. Mein
Lieblingsbeispiel dafür lautet: Wenn ich morgen
Minister werde und meinen Bruder einstelle, sagt hier jeder: Günstlingswirtschaft! Sauerei! Der Binding muss
gehen! - Wenn ich in Griechenland meinen Bruder nicht
einstelle, sagen alle: In der Familie stimmt etwas nicht.
Der muss gehen!
({11})
Genau diese Diskrepanz zu verstehen, ist aber eine kulturelle Stärke. Ich will das nicht nach moralischen Maßstäben beurteilen; denn das steht uns gar nicht zu. Diesbezüglich machen wir es uns immer viel zu einfach. Ich
glaube, diese Dimension müssen wir noch erschließen.
({12})
Ich denke, wir dürfen es uns vielleicht auch nicht so
einfach machen, wie es sich Herr Brinkhaus und Herr
Barthle gemacht haben. Wir haben offensichtliche
Probleme - das ist klar -, aber wir haben auch ein paar
Probleme, die man nicht sofort bemerkt. Schuldenabbau prima, das machen wir. Keine Steuererhöhungen - darauf haben wir uns jetzt eingelassen; dazu ist schon viel
gesagt worden. Mehr Ausgaben - das machen wir alle
gerne. Wir haben Wachstumsannahmen. Wenn sie stimmen, ist es gut, wenn sie nicht stimmen, wird es schwierig. Auch das Zinsniveau und die niedrige Inflationsrate
sind dabei sehr hilfreich. Man muss aber genau hinschauen: Was passiert mit den Sozialabgaben? Was ist
mit dem Substanzverzehr? Das ist etwas, was keiner
merkt, es sei denn, er gerät während einer Zugfahrt in
eine Langsamfahrstelle, von denen wir einige Hundert
haben, oder er fährt in ein Schlagloch. Da denkt man
dann: Vielleicht wäre es doch gut, da etwas mehr Steuergelder zu investieren. Wir haben auch die Lage der
Kommunen in den Blick zu nehmen.
Wenn wir all diese versteckten Themen hinzunehmen,
dann wird deutlich, dass sich vielleicht eine größere Vorsicht im Umgang mit dem Finanzierungsvorbehalt anbietet. Vielleicht verbreitet sich diese Erkenntnis ja in
den nächsten drei, vier Jahren. Dann haben wir bessere
Chancen, die Einnahmeseite zu verstärken, um die gewünschten Dinge tun zu können.
Ich will noch ein paar ganz konkrete Punkte ansprechen, sonst sagen Sie noch: Der ist zwar Finanzer, redet
aber so wenig über Finanzen. Ich nenne das Stichwort
BEPS, Base Erosion and Profit Shifting. Dabei geht es
darum, die Basis der Steuereinnahmen durch Gewinnverlagerung zu zerstören. Auf diesem Gebiet haben wir
sehr viel vor. Wir wollen Zinstricks abschaffen. Wir
wollen gegen Lizenzboxen vorgehen. Wir wollen die
Hinzurechnungsbesteuerung überdenken. Wir wollen die
hybriden Strukturen angehen, mit denen doppelte Nichtbesteuerung erreicht werden soll. Wir wollen Amazon,
Google und Ikea motivieren, ihre Steuern in Deutschland fair zu zahlen.
({13})
Lothar Binding ({14})
Mit diesem Programm haben wir eine Chance, auch unsere Einnahmeseite so zu verstärken, dass daraus ein
Schuh wird. Ich glaube, in dreieinhalb Jahren können
wir dann zufrieden sein.
({15})
- Hans Michelbach stimmt mir gerade zu. Vielen Dank.
Indem ich dieser Hoffnung Ausdruck verleihe, wünsche ich Ihnen alles Gute.
({16})
Als letztem Redner zu diesem Themenbereich erteile
ich nun dem Kollegen Bartholomäus Kalb, CDU/CSUFraktion, das Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
nähern uns einer namentlichen Abstimmung. Dann wird
es hier im Saal immer etwas unruhiger und lebhafter.
Trotzdem will ich darauf verweisen, dass der Haushaltsabschluss für 2013, den wir vor wenigen Wochen von
Ihnen, Herr Minister, erhalten haben, wiederum ein Beweis für absolut solides Wirtschaften war. Das fünfte
Jahr in Folge ist der Haushaltsabschluss besser ausgefallen, als es die Ansätze vorgesehen hatten. Wir sind also
auf dem richtigen Weg der Haushaltskonsolidierung.
Wir haben es in der Koalitionsvereinbarung ja entsprechend festgelegt: Wir wollen keine neuen Schulden.
Wir wollen keine Steuererhöhungen. Aber wir haben
viel zu leisten. Natürlich - das ist auch in der Debatte
mehrfach angeklungen - gibt es darüber hinausgehende
Wünsche. Ich sage aber: Wenn wir es in dieser Legislaturperiode schaffen, keine Steuern zu erhöhen, einen
absolut ausgeglichenen Haushalt zu erreichen, keine
neuen Schulden zu machen, mehr Investitionen in Verkehrsinfrastruktur und Bildung zu tätigen, die Kommunen auch im Bereich der Behinderteneingliederung zu
entlasten, wenn wir all dies schaffen, dann haben wir,
glaube ich, viel erreicht. Wenn ich das den Menschen in
meinem Wahlkreis erkläre, dann sagen sie zwar, dass sie
noch den einen oder anderen Wunsch im Hinblick auf
Steuersenkungen, Steuerveränderungen usw. haben, aber
das Wichtigste ist, dass wir solide wirtschaften und die
Zukunft gestalten.
({0})
Solide Finanzen sind nun einmal die Grundlage für
Wirtschaftswachstum und damit auch für die soziale
Stärke, die dieses Land auszeichnet. Deswegen wollen
wir, wie ich schon gesagt habe, die Investitionen in Bildung und Verkehrsinfrastruktur, in Städtebau usw. verstärken.
Frau Kollegin Lötzsch hat vorhin gesagt, es wäre sozusagen ein leistungsloser Zugewinn gewesen, der dem
Finanzminister mit den niedrigeren Zinsausgaben zugutegekommen ist. Nein, eben nicht! Dass wir günstige Zinsausgaben für unsere Bundesanleihen haben, hat auch damit zu tun, dass wir solide arbeiten, solide wirtschaften,
dass unsere Volkswirtschaft eine enorme Leistungsfähigkeit ausweist.
({1})
Das ist der eigentliche Grund für das Vertrauen, das die
Märkte in Deutschland setzen. Deswegen wollen wir
diesen Weg konsequent fortsetzen.
Ich muss noch ein Wort zu Frau Andreae sagen.
({2})
Ich bin sehr dafür, dass wir uns über jeden Punkt, den
wir hier zu behandeln haben, Gedanken machen und
kontrovers darüber diskutieren, auch beim Thema Rente
in Bezug auf Mütterrente, abschlagsfreie Rente usw.
Mich hat der Ton gestört, den Sie an den Tag gelegt haben.
({3})
Durch den Ton wurde die ganze Herzlosigkeit, der ganze
Egoismus deutlich. So etwas können Sie offenbar an den
Tag legen, weil Ihre Wählerklientel wohl eher in den
wohlhabenden Schichten zu Hause ist
({4})
als in den Schichten der Bevölkerung, die wir als Volksparteien vertreten.
({5})
Vorhin wurde schon davon gesprochen, dass die Finanzbeziehungen zwischen Bund und Ländern neu geordnet werden müssen. Wir müssen darauf achten, dass
das Leistungsprinzip und das Solidaritätsprinzip wieder
ins Gleichgewicht gebracht werden, dass die Fehlanreize
im jetzigen System des Länderfinanzausgleichs entfernt
werden. Es kann nicht richtig sein, dass ein einziges
Bundesland - ich meine Bayern - allein mehr als die
Hälfte des Ausgleichsvolumens tragen muss.
({6})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir brauchen natürlich auch die Maßnahmen im Bankensektor
- ich kann das nur noch kurz am Rande ansprechen -,
die von meinen Vorrednern angesprochen worden sind.
({7})
Die Schwachstellen bei Bankenunion bzw. europäischer
Bankenaufsicht - all das ist hier schon gesagt worden müssen beseitigt werden.
Notwendig ist es auch - Kollege Binding hat ja darauf
hingewiesen -, im internationalen Steuersektor etwas zu
tun, damit Gewinnreduzierungen und Gewinnverlagerungen vermieden werden. Da müssen wir auf europäiBartholomäus Kalb
scher Ebene vorangehen. Unser Bundesfinanzminister
hat das ja auch auf internationaler Ebene ganz oben auf
die Tagesordnung gesetzt, sogar im Kreise der G 20; das
will ich hier noch einmal unterstreichen.
({8})
Genauso will ich kurz darauf eingehen, was der Kollege Carsten Schneider zur sogenannten Haftungskaskade, also wenn Banken in Europa in Schwierigkeiten
kommen, gesagt hat. Es ist ja alles richtig. Aber es wäre
gut, zu akzeptieren, dass da das Urheberrecht nicht allein
bei Carsten Schneider bzw. bei der SPD liegt. Lieber
Carsten Schneider, es ist gut, dass eine Bundestagsrede
keine Doktorarbeit ist und man sie nicht dementsprechend überprüfen muss.
({9})
Ich glaube schon, dass wir das gemeinsam in der Form
anerkennen sollten.
Wir freuen uns über die Unterstützung aus den Kreisen der SPD, des neuen Koalitionspartners, unserer
neuen Freunde. Wir freuen uns, dass der Finanzminister
auf der europäischen und internationalen Bühne tatkräftigst in dem Bemühen unterstützt wird, dass zuerst die
Hauptverantwortlichen in die Verantwortung genommen
werden, also die Eigentümer und die Anleger, und dass
erst ganz zum Schluss auf Instrumente wie den europäischen Ausgleichsfonds oder den Bankenabwicklungsfonds usw., die zum Teil noch geschaffen werden sollen,
zurückgegriffen wird. Damit ist sichergestellt, dass nicht
der Steuerzahler wieder zuerst zur Kasse gebeten wird,
sondern zunächst einmal andere Instrumente zu greifen
haben.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, leider ist
meine Redezeit abgelaufen. Ich würde gerne noch sehr
viel länger zu diesen schönen Themen sprechen. Aber
wir haben ja bei der ersten Lesung des Bundeshaushaltes
2014 Gelegenheit, all das zu sagen, was wir heute nicht
mehr sagen konnten.
Herzlichen Dank.
({10})
Weitere Wortmeldungen zu dem Themenbereich liegen nicht vor.
Ich rufe jetzt auf den Tagesordnungspunkt 5:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die
Feststellung des Wirtschaftsplans des ERPSondervermögens für das Jahr 2014 ({0})
Drucksache 18/273
Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Energie ({1})FinanzausschussAusschuss für TourismusHaushaltsauschuss
Es handelt sich um eine Überweisung im vereinfachten Verfahren ohne Debatte.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlage an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Gibt es Gegenstimmen? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 6 a und 6 b auf. Es
handelt sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zu
denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Tagesordnungspunkt 6 a:
Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Gewährung einer
Umverteilungsprämie 2014 ({2})
Drucksache 18/282
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Ernährung und Landwirtschaft
({3})
Drucksache 18/390
Berichterstattung:-
Abgeordnete Hermann Färber-
Dr. Wilhelm Priesmeier-
Dr. Kirsten Tackmann-
Der Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa-
che 18/390, den Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/
CSU und SPD auf Drucksache 18/282 anzunehmen.
Bevor wir in die Abstimmung eintreten, weise ich da-
rauf hin, dass eine Erklärung zur Abstimmung nach § 31
der Geschäftsordnung der Kollegin Dr. Kirsten
Tackmann vorliegt, die dann im Protokoll entsprechend
aufgenommen wird.1)
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? Enthaltungen? - Dann ist der Gesetzentwurf in zweiter
Beratung mit den Stimmen der CDU/CSU, der SPD und
der Grünen bei Gegenstimmen und einigen Enthaltungen
aus der Fraktion Die Linke angenommen worden.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Dann ist der
Gesetzentwurf in dritter Beratung unter Zustimmung aller Fraktionen bei Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen worden.
({4})
1) Anlage 2
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung und Landwirtschaft ({0}) zu dem Antrag der
Abgeordneten Harald Ebner, Bärbel Höhn,
Renate Künast, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
zu dem Vorschlag für einen Beschluss des Rates über das Inverkehrbringen eines genetisch
veränderten, gegen bestimmte Lepidopteren
resistenten Maisprodukts ({1}) für den Anbau gemäß der Richtlinie
2001/18/EG des Europäischen Parlaments
und des RatesKOM({2}) 758 endg.; Ratsdok. 16120/13
hier: Stellungnahme gegenüber der Bundes-
regierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 des
Grundgesetzes
Keine Zulassung der gentechnisch veränder-
ten Maislinie 1507 für den Anbau in der EU
Drucksachen 18/180, 18/397
Berichterstattung:-
Abgeordnete Kees de Vries-
Elvira Drobinski-Weiß-
Dr. Kirsten Tackmann-
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 18/397, den Antrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/180 abzuleh-
nen. Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat namentli-
che Abstimmung verlangt.
Ich möchte schon jetzt darauf hinweisen, dass wir im
Anschluss an die namentliche Abstimmung eine Reihe
von Gremien wählen werden. Die geheime Wahl der
Mitglieder des Sondergremiums wird mit Stimmkarten
und Wahlausweis erfolgen.
Bevor wir in die Abstimmung eintreten, weise ich
auch hier darauf hin, dass zur Abstimmung mehrere Er-
klärungen nach § 31 der Geschäftsordnung vorliegen,
die Sie dann dem Protokoll entnehmen können.1)
Ich bitte nun die Schriftführerinnen und Schriftführer,
die vorgesehenen Plätze für die namentliche Abstim-
mung einzunehmen.
Sind die Plätze an den Urnen besetzt? - Das ist der
Fall. Ich eröffne damit die Abstimmung über die Be-
schlussempfehlung.
Gibt es noch jemanden im Saal, der seine Stimme
nicht abgegeben hat? - Dann bitte ich, das zu tun.
Hat jemand seine Stimme noch nicht abgegeben? -
Das ist nicht der Fall. Dann schließe ich die Abstim-
mung und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer,
mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der Ab-
stimmung wird Ihnen später bekannt gegeben.2)
1) Anlagen 3 bis 11
2) Ergebnis Seite 724 C
Wir kommen nun zu einer ganzen Reihe von Wahlen
zu Gremien. Die Wahlen lassen wir per Handzeichen erfolgen, die letzte Wahl erfolgt dann geheim. Damit das
Präsidium den Überblick behalten kann, bitte ich alle
Kolleginnen und Kollegen darum, Platz zu nehmen.
({3})
Ich bitte auch die Kollegen an den Urnen, die Gespräche
entweder nach draußen zu verlegen oder sie einzustellen
und Platz zu nehmen. Das wäre hilfreich, würde den
Überblick vereinfachen und die Geschäfte beschleunigen; denn wir müssen nun eine ganze Reihe von Wahlen
durchführen.
({4})
- Der Fraktionsvorsitzende der Union freut sich, dass er
den Glockenklang gehört hat.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 4 e bis 4 k auf.
Tagesordnungspunkt 4 e:
Wahl der Mitglieder des Gemeinsamen Ausschusses gemäß Artikel 53a des Grundgesetzes
Drucksache 18/370
Dazu liegen Wahlvorschläge der Fraktionen der
CDU/CSU, der Fraktion der SPD, der Fraktion Die
Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 18/370 vor. Wer stimmt für diese Wahlvorschläge? - Wer stimmt gegen diese Wahlvorschläge? Ich sehe niemanden. Wer enthält sich? - Ich sehe keine
Enthaltungen. Dann sind die Wahlvorschläge einstimmig
mit der Zustimmung aller Fraktionen angenommen.
Tagesordnungspunkt 4 f:
Wahl vom Deutschen Bundestag zu entsendender Mitglieder des Ausschusses nach Artikel 77 Absatz 2 des Grundgesetzes ({5})
Drucksache 18/371
Dazu liegen Wahlvorschläge aller Fraktionen auf
Drucksache 18/371 vor. Wer stimmt für diese Wahlvor-
schläge? - Wer stimmt gegen diese Wahlvorschläge? -
Niemand. Wer enthält sich? - Auch niemand. Dann sind
die Wahlvorschläge einstimmig so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 4 g:
Wahl der Mitglieder des Wahlprüfungsaus-
schusses gemäß § 3 Absatz 2 des Wahlprü-
fungsgesetzes
Drucksache 18/372
Dazu liegen Wahlvorschläge aller Fraktionen auf
Drucksache 18/372 vor. Wer stimmt für diese Wahlvor-
schläge? - Wer stimmt dagegen? - Keiner. Wer enthält
sich? - Auch keiner. Dann sind die Wahlvorschläge ein-
stimmig mit der Zustimmung aller Fraktionen so be-
schlossen.
Wahl der Mitglieder des Gremiums gemäß
§ 23c Absatz 8 des Zollfahndungsdienstgeset-
zes
Drucksache 18/373
Wahlvorschläge aller vier Fraktionen liegen auf
Drucksache 18/373 vor. Wer stimmt für diese Wahlvor-
schläge? - Wer stimmt dagegen? - Niemand. Wer ent-
hält sich? - Auch niemand. Dann sind die Wahlvor-
schläge einstimmig mit der Zustimmung aller Fraktionen
so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 4 i:
Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU,
SPD, DIE LINKE und BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN
Einsetzung eines Gremiums gemäß Artikel 13
Absatz 6 des Grundgesetzes
Drucksache 18/374
Wahl der Mitglieder des Gremiums gemäß
Artikel 13 Absatz 6 des Grundgesetzes
Drucksache 18/375
Wir kommen zunächst zu dem gemeinsamen Antrag
aller Fraktionen auf Einsetzung des Gremiums auf
Drucksache 18/374. Wer stimmt für diesen Antrag? -
Gegenstimmen? - Keine. Enthaltungen? - Keine. Dann
ist das einstimmig so beschlossen, das Gremium nach
Art. 13 Abs. 6 des Grundgesetzes eingesetzt und die
Zahl der Mitglieder für dieses Gremium auf neun festge-
legt.
Zu dem eben eingesetzten Gremium liegen Wahlvor-
schläge aller vier Fraktionen auf Drucksache 18/375 vor.
Wer stimmt für diese Wahlvorschläge? - Gegenstim-
men? - Keine. Enthaltungen? - Auch keine. Dann ist
dieses Gremium einstimmig mit Zustimmung aller Frak-
tionen so bestimmt.
Tagesordnungspunkt 4 j:
Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU,
SPD, DIE LINKE und BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN
Einsetzung eines Gremiums gemäß § 10a des
Finanzmarktstabilisierungsfondsgesetzes
Drucksache 18/376
Wahl der Mitglieder des Gremiums gemäß
§ 10a des Finanzmarktstabilisierungsfondsge-
setzes sowie gemäß § 16 des Restrukturie-
rungsfondsgesetzes
Drucksache 18/377
Wir kommen zuerst zu dem gemeinsamen Antrag al-
ler Fraktionen auf Einsetzung des Gremiums auf Druck-
sache 18/376. Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dage-
gen? - Niemand. Wer enthält sich? - Niemand. Dann ist
das einstimmig so beschlossen und das Gremium gemäß
§ 10 a des Finanzmarktstabilisierungsfondsgesetzes ein-
gesetzt.
Wir kommen nun zur Wahl der Mitglieder. Wer
stimmt für die gemeinsamen Wahlvorschläge auf Druck-
sache 18/377? - Wer stimmt dagegen? - Niemand. Wer
enthält sich? - Auch niemand. Die Wahlvorschläge sind
einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 4 k:
Wahl der Mitglieder des Sondergremiums ge-
mäß § 3 des Stabilisierungsmechanismusge-
setzes
Drucksache 18/378
Bei dieser Wahl handelt es sich um eine geheime
Wahl. Hierzu liegen Wahlvorschläge aller Fraktionen auf
Drucksache 18/378 vor.
Ich bitte noch kurz um Aufmerksamkeit für einige er-
forderliche Hinweise zum Wahlverfahren:
Wir wählen jetzt gleich sieben ordentliche Mitglieder
sowie sieben Stellvertreter. Gewählt ist, wer die Stim-
men der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages erhält.
Für diese Wahl benötigen Sie Ihren blauen Wahlaus-
weis, den Sie bitte, soweit noch nicht geschehen, den
Stimmkartenfächern in der Lobby entnehmen. Weiterhin
benötigen Sie zwei unterschiedlich farbige Stimmkarten
sowie einen Wahlumschlag.
Diese Unterlagen erhalten Sie von den Schriftführe-
rinnen und Schriftführern an den Ausgabetischen vor
den Wahlkabinen. Zeigen Sie dort bitte Ihren Wahlaus-
weis vor. Die blaue Stimmkarte ist für die Wahl der sie-
ben ordentlichen Mitglieder, die rosafarbene Stimmkarte
ist für die Wahl der sieben stellvertretenden Mitglieder.
Auf jeder der beiden Stimmkarten können Sie jeweils
sieben Kreuze machen. Sie können bei jedem Kandida-
ten „Ja“, „Nein“ oder „Enthalte mich“ ankreuzen. Wenn
Sie bei einem Namen mehr als ein Kreuz oder gar kein
Kreuz machen oder andere Namen als die der vorge-
schlagenen Kandidaten oder Zusätze eintragen, ist diese
Stimme ungültig.
Die Wahl ist geheim, das heißt, Sie dürfen Ihre beiden
Stimmkarten nur in der Wahlkabine ankreuzen und müs-
sen beide Stimmkarten ebenfalls noch in der Wahlkabine
in den Umschlag stecken. Anderenfalls wäre die Stimm-
abgabe ungültig. Die Wahl kann in diesem Fall vor-
schriftsmäßig wiederholt werden. Die Schriftführerinnen
und Schriftführer werden darauf achten.
Bevor Sie den Wahlumschlag in die Wahlurne werfen,
müssen Sie dem Schriftführer an der Wahlurne Ihren
blauen Wahlausweis übergeben. Die Abgabe des Wahl-
ausweises dient als Nachweis für die Beteiligung an der
Wahl. Kontrollieren Sie bitte, ob der Wahlausweis tat-
sächlich Ihren Namen trägt.
Ich bitte nun die Schriftführerinnen und Schriftführer,
die vorgesehenen Plätze einzunehmen. - Das ist der Fall.
Ich eröffne hiermit die Wahl.
Vizepräsident Peter Hintze
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich frage, ob alle Mit-
glieder des Hauses, auch die Schriftführerinnen und
Schriftführer, ihre Stimmkarten abgegeben haben. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist das offensichtlich der
Fall. Ich schließe die Wahl und bitte die Schriftführerinnen
und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das
Ergebnis der Wahl wird Ihnen später bekannt gegeben.1)
Ich komme nun zur Bekanntgabe des von den Schrift-
führerinnen und Schriftführern ermittelten Ergebnisses
der namentlichen Abstimmung über die Beschluss-
1) Ergebnis Seite 749 A
empfehlung des Ausschusses für Ernährung und Landwirtschaft zu dem Antrag der Abgeordneten Harald
Ebner, Bärbel Höhn, Renate Künast, Nicole Maisch und
weiterer Abgeordneter der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Keine Zulassung der gentechnisch veränderten Maislinie 1507 für den Anbau in der EU - hier:
Stellungnahme gegenüber der Bundesregierung gemäß
Artikel 23 Absatz 3 des Grundgesetzes“, Drucksachen 18/180 und 18/397: abgegebene Stimmen 591. Für
die Beschlussempfehlung des Ausschusses haben gestimmt 452, mit Nein haben gestimmt 121, enthalten haben sich 18 Kolleginnen und Kollegen. Die Beschlussempfehlung ist damit angenommen.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 590;
davon
ja: 451
nein: 121
enthalten: 18
Ja
CDU/CSU
Stephan Albani
Katrin Albsteiger
Artur Auernhammer
Dorothee Bär
Thomas Bareiß
Julia Bartz
Günter Baumann
Maik Beermann
Manfred Behrens ({0})
Veronika Bellmann
Sybille Benning
Dr. Andre Berghegger
Dr. Christoph Bergner
Ute Bertram
Peter Beyer
Steffen Bilger
Peter Bleser
Dr. Maria Böhmer
Wolfgang Bosbach
Norbert Brackmann
Klaus Brähmig
Michael Brand
Dr. Reinhard Brandl
Helmut Brandt
Dr. Ralf Brauksiepe
Dr. Helge Braun
Heike Brehmer
Cajus Caesar
Gitta Connemann
Alexandra Dinges-Dierig
Alexander Dobrindt
Michael Donth
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Hansjörg Durz
Jutta Eckenbach
Hermann Färber
Uwe Feiler
Dr. Thomas Feist
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Thorsten Frei
Dr. Astrid Freudenstein
({1})
Michael Frieser
Hans-Joachim Fuchtel
Alexander Funk
Ingo Gädechens
Dr. Thomas Gebhart
Eberhard Gienger
Cemile Giousouf
Ursula Groden-Kranich
Klaus-Dieter Gröhler
Michael Grosse-Brömer
Astrid Grotelüschen
Markus Grübel
Manfred Grund
Oliver Grundmann
Fritz Güntzler
Dr. Herlind Gundelach
Olav Gutting
Christian Haase
Florian Hahn
Jürgen Hardt
Gerda Hasselfeldt
Matthias Hauer
Mark Hauptmann
Dr. Stefan Heck
Dr. Matthias Heider
Helmut Heiderich
Mark Helfrich
Jörg Hellmuth
Rudolf Henke
Michael Hennrich
Ansgar Heveling
Christian Hirte
Dr. Heribert Hirte
Robert Hochbaum
Alexander Hoffmann
Karl Holmeier
Dr. Hendrik Hoppenstedt
Margaret Horb
Bettina Hornhues
Anette Hübinger
Erich Irlstorfer
Thomas Jarzombek
Sylvia Jörrißen
Dr. Franz Josef Jung
Xaver Jung
Andreas Jung ({2})
Dr. Egon Jüttner
Hans-Werner Kammer
Steffen Kampeter
Steffen Kanitz
Alois Karl
Anja Karliczek
Bernhard Kaster
Volker Kauder
Dr. Stefan Kaufmann
Roderich Kiesewetter
Dr. Georg Kippels
Volkmar Klein
Jürgen Klimke
Axel Knoerig
Jens Koeppen
Markus Koob
Carsten Körber
Hartmut Koschyk
Kordula Kovac
Michael Kretschmer
Gunther Krichbaum
Dr. Günter Krings
Rüdiger Kruse
Bettina Kudla
Dr. Roy Kühne
Günter Lach
Uwe Lagosky
Dr. Karl A. Lamers
Andreas G. Lämmel
Katharina Landgraf
Ulrich Lange
Barbara Lanzinger
Silke Launert
Dr. Katja Leikert
Dr. Philipp Lengsfeld
Philipp Graf Lerchenfeld
Dr. Ursula von der Leyen
Antje Lezius
Ingbert Liebing
Matthias Lietz
Andrea Lindholz
Patricia Lips
Wilfried Lorenz
Dr. Claudia Lücking-Michel
Dr. Jan-Marco Luczak
Daniela Ludwig
Karin Maag
Yvonne Magwas
Thomas Mahlberg
Gisela Manderla
Andreas Mattfeldt
Stephan Mayer ({3})
Reiner Meier
Dr. Michael Meister
Jan Metzler
Maria Michalk
Dr. h.c. Hans Michelbach
Dr. Mathias Middelberg
Philipp Mißfelder
Dietrich Monstadt
Karsten Möring
Elisabeth Motschmann
Carsten Müller
({4})
Stefan Müller ({5})
Dr. Philipp Murmann
Dr. Andreas Nick
Michaela Noll
Helmut Nowak
Wilfried Oellers
Florian Oßner
Dr. Tim Ostermann
Henning Otte
Ingrid Pahlmann
Sylvia Pantel
Ulrich Petzold
Dr. Martin Pätzold
Sibylle Pfeiffer
Ronald Pofalla
Eckhard Pols
Thomas Rachel
Vizepräsident Peter Hintze
Kerstin Radomski
Alexander Radwan
Alois Rainer
Dr. Peter Ramsauer
Eckhardt Rehberg
Katherina Reiche ({6})
Lothar Riebsamen
Josef Rief
Johannes Röring
Dr. Norbert Röttgen
Erwin Rüddel
Albert Rupprecht
Anita Schäfer ({7})
Dr. Annette Schavan
Jana Schimke
Norbert Schindler
Tankred Schipanski
Heiko Schmelzle
Christian Schmidt ({8})
Gabriele Schmidt ({9})
Patrick Schnieder
Dr. Andreas Schockenhoff
Nadine Schön ({10})
Dr. Ole Schröder
Dr. Kristina Schröder
({11})
Bernhard Schulte-Drüggelte
Uwe Schummer
Armin Schuster ({12})
Christina Schwarzer
Detlef Seif
Reinhold Sendker
Dr. Patrick Sensburg
Bernd Siebert
Johannes Singhammer
Tino Sorge
Carola Stauche
Dr. Frank Steffel
Dr. Wolfgang Stefinger
Albert Stegemann
Erika Steinbach
Sebastian Steineke
Johannes Steiniger
Christian Freiherr von Stetten
Dieter Stier
Rita Stockhofe
Gero Storjohann
Max Straubinger
Matthäus Strebl
Karin Strenz
Thomas Stritzl
Thomas Strobl ({13})
Lena Strothmann
Michael Stübgen
Dr. Sabine Sütterlin-Waack
Dr. Peter Tauber
Astrid Timmermann-Fechter
Dr. Hans-Peter Uhl
Dr. Volker Ullrich
Arnold Vaatz
Oswin Veith
Thomas Viesehon
Michael Vietz
Volkmar Vogel ({14})
Sven Volmering
Christel Voßbeck-Kayser
Kees de Vries
Dr. Johann Wadephul
Marco Wanderwitz
Nina Warken
Kai Wegner
Albert Weiler
Marcus Weinberg ({15})
Dr. Anja Weisgerber
Peter Weiß ({16})
Sabine Weiss ({17})
Ingo Wellenreuther
Karl-Georg Wellmann
Marian Wendt
Kai Whittaker
Peter Wichtel
Annette Widmann-Mauz
Heinz Wiese ({18})
Klaus-Peter Willsch
Elisabeth WinkelmeierBecker
Oliver Wittke
Dagmar G. Wöhrl
Barbara Woltmann
Tobias Zech
Heinrich Zertik
Emmi Zeulner
Dr. Matthias Zimmer
Gudrun Zollner
SPD
Niels Annen
Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Heike Baehrens
Ulrike Bahr
Heinz-Joachim Barchmann
Dr. Katarina Barley
Dr. Hans-Peter Bartels
Klaus Barthel
Dr. Matthias Bartke
Sören Bartol
Bärbel Bas
Uwe Beckmeyer
Lothar Binding ({19})
Burkhard Blienert
Willi Brase
Dr. Karl-Heinz Brunner
Edelgard Bulmahn
Martin Burkert
Petra Crone
Bernhard Daldrup
Dr. Daniela De Ridder
Dr. Karamba Diaby
Martin Dörmann
Siegmund Ehrmann
Petra Ernstberger
Saskia Esken
Karin Evers-Meyer
Dr. Johannes Fechner
Dr. Fritz Felgentreu
Elke Ferner
Dr. Ute Finckh-Krämer
Christian Flisek
Gabriele Fograscher
Dr. Edgar Franke
Ulrich Freese
Dagmar Freitag
Martin Gerster
Iris Gleicke
Ulrike Gottschalck
Kerstin Griese
Wolfgang Gunkel
Metin Hakverdi
Ulrich Hampel
Sebastian Hartmann
({20})
Dirk Heidenblut
Hubertus Heil ({21})
Gabriela Heinrich
Marcus Held
Wolfgang Hellmich
Dr. Barbara Hendricks
Heidtrud Henn
Gabriele Hiller-Ohm
Petra Hinz ({22})
Dr. Eva Högl
Matthias Ilgen
Christina Jantz
Frank Junge
Thomas Jurk
Oliver Kaczmarek
Christina Kampmann
Ralf Kapschack
Gabriele Katzmarek
Ulrich Kelber
Marina Kermer
Arno Klare
Lars Klingbeil
Dr. Bärbel Kofler
Daniela Kolbe
Birgit Kömpel
Anette Kramme
Dr. Hans-Ulrich Krüger
Helga Kühn-Mengel
Christine Lambrecht
Christian Lange ({23})
Burkhard Lischka
Gabriele Lösekrug-Möller
Hiltrud Lotze
Kirsten Lühmann
Dr. Birgit Malecha-Nissen
Caren Marks
Hilde Mattheis
Dr. Matthias Miersch
Susanne Mittag
Bettina Müller
Michelle Müntefering
Dr. Rolf Mützenich
Dietmar Nietan
Ulli Nissen
Mahmut Özdemir ({24})
Aydan Özoguz
Markus Paschke
Christian Petry
Jeannine Pflugradt
Joachim Poß
Florian Post
Achim Post ({25})
Dr. Sascha Raabe
Dr. Simone Raatz
Martin Rabanus
Mechthild Rawert
Gerold Reichenbach
Andreas Rimkus
Sönke Rix
Dennis Rohde
Dr. Martin Rosemann
René Röspel
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Michael Roth ({26})
Bernd Rützel
Annette Sawade
Dr. Hans-Joachim
Schabedoth
Dr. Nina Scheer
Marianne Schieder
({27})
Udo Schiefner
Dr. Dorothee Schlegel
Ulla Schmidt ({28})
Matthias Schmidt ({29})
Carsten Schneider ({30})
Swen Schulz ({31})
Ewald Schurer
Stefan Schwartze
Andreas Schwarz
Rita Schwarzelühr-Sutter
Dr. Carsten Sieling
Rainer Spiering
Norbert Spinrath
Svenja Stadler
Martina Stamm-Fibich
Christoph Strässer
Kerstin Tack
Claudia Tausend
Michael Thews
Carsten Träger
Rüdiger Veit
Dirk Vöpel
Gabi Weber
Bernd Westphal
Andrea Wicklein
Dirk Wiese
Gülistan Yüksel
Dagmar Ziegler
Stefan Zierke
Dr. Jens Zimmermann
Manfred Zöllmer
Brigitte Zypries
Vizepräsident Peter Hintze
Nein
CDU/CSU
Josef Göppel
Hubert Hüppe
Matern von Marschall
Hans-Georg von der Marwitz
Martin Patzelt
DIE LINKE
Dr. Dietmar Bartsch
Herbert Behrens
Heidrun Bluhm
Roland Claus
Sevim Dagdelen
Dr. Diether Dehm
Wolfgang Gehrcke
Nicole Gohlke
Diana Golze
Annette Groth
Dr. Gregor Gysi
Dr. Andre Hahn
Heike Hänsel
Dr. Rosemarie Hein
Inge Höger
Andrej Hunko
Sigrid Hupach
Ulla Jelpke
Susanna Karawanskij
Kerstin Kassner
Jan Korte
Jutta Krellmann
Katrin Kunert
Sabine Leidig
Ralph Lenkert
Michael Leutert
Stefan Liebich
Thomas Lutze
Cornelia Möhring
Niema Movassat
Dr. Alexander S. Neu
Richard Pitterle
Martina Renner
Dr. Petra Sitte
Kersten Steinke
Azize Tank
Frank Tempel
Dr. Axel Troost
Alexander Ulrich
Dr. Sahra Wagenknecht
Harald Weinberg
Birgit Wöllert
Hubertus Zdebel
Sabine Zimmermann
({32})
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Luise Amtsberg
Annalena Baerbock
Marieluise Beck ({33})
Volker Beck ({34})
Dr. Franziska Brantner
Agnieszka Brugger
Ekin Deligöz
Katharina Dröge
Dr. Thomas Gambke
Matthias Gastel
Kai Gehring
Katrin Göring-Eckardt
Britta Haßelmann
Dr. Anton Hofreiter
Bärbel Höhn
Uwe Kekeritz
Sven-Christian Kindler
Tom Koenigs
Sylvia Kotting-Uhl
Christian Kühn ({35})
Renate Künast
Monika Lazar
Steffi Lemke
Dr. Tobias Lindner
Peter Meiwald
Beate Müller-Gemmeke
Özcan Mutlu
Omid Nouripour
Cem Özdemir
Lisa Paus
Tabea Rößner
Claudia Roth ({36})
Manuel Sarrazin
Ulle Schauws
Dr. Frithjof Schmidt
Kordula Schulz-Asche
Dr. Wolfgang StrengmannKuhn
Hans-Christian Ströbele
Dr. Harald Terpe
Markus Tressel
Dr. Julia Verlinden
Doris Wagner
Dr. Valerie Wilms
Enthalten
CDU/CSU
Frank Heinrich ({37})
Charles M. Huber
Johannes Selle
SPD
Marco Bülow
Michael Groß
Uli Grötsch
Bettina Hagedorn
Gustav Herzog
Thomas Hitschler
Steffen-Claudio Lemme
Klaus Mindrup
Detlev Pilger
Stefan Rebmann
Susann Rüthrich
Ursula Schulte
Sonja Steffen
Waltraud Wolff
({38})
Für die neuen Kollegen sei der informelle Hinweis
gestattet, dass der Antrag damit abgelehnt ist. Wir haben
die Besonderheit, dass wir bei Gesetzentwürfen immer
mit Ja, Nein oder Enthaltung über den jeweiligen Gesetzentwurf abstimmen. Bei Anträgen stimmen wir allerdings über die jeweilige Beschlussempfehlung ab. In
diesem Fall ist also die Beschlussempfehlung angenommen und der Antrag damit abgelehnt. - So viel zur gemeinsamen Information.
Wir fahren fort mit Tagesordnungspunkt 1:
Regierungserklärung durch die Bundeskanzlerin({39})
Wir kommen damit zum Themenbereich Arbeit und
Soziales.
Das Wort hat als Erste Frau Bundesministerin Andrea
Nahles.
({40})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und
Kollegen! Gleich zu Beginn des Jahres haben wir im Bereich Arbeit und Soziales mit dem ersten Gesetzesvorhaben der Bundesregierung deutlich gemacht, worum es
uns in den nächsten vier Jahren geht: Deutschland gerechter zu machen. Im Rentenpaket ist unsere Grundbotschaft beispielhaft angelegt: Wir wollen die Lebensleistung von Menschen besser anerkennen.
({0})
Diejenigen, die sich anstrengen, diejenigen, die hart
arbeiten, diejenigen, die Kinder erzogen haben, sollen
wissen: Ihr Einsatz lohnt sich. Er wird wertgeschätzt.
Dafür unseren Respekt.
({1})
Wir halten Wort. Wir geben damit auch ein Signal des
Vertrauens und der Verlässlichkeit. Wir stehen zu dem,
was wir vor der Wahl gesagt haben, was die Menschen
auch gewählt haben. Das setzen wir jetzt um,
({2})
und zwar eins zu eins.
Ich habe mich in den letzten Tagen etwas darüber gewundert, wie überrascht einige - auch in den Medien gewirkt haben, dass wir jetzt so schnell an die Umsetzung
unserer Wahlversprechen herangehen. Ich beobachte aber,
dass die Bürgerinnen und Bürger, die anrufen, die schreiben, die E-Mails schicken, das ganz anders sehen. Sie
klopfen auf den Tisch und sagen: Jetzt macht aber auch
das, was ihr versprochen habt! - Ich kann diesen Bürgerinnen und Bürgern einen ganz einfachen Satz sagen:
Darauf können Sie sich verlassen!
({3})
Als ich vor einigen Tagen in meinem Dorf die Straße
hochging, lief mir eine ältere Nachbarin noch ein Stück
weit nach, fasste mich am Ellenbogen und sagte: Ich
möchte, Andrea, dass du das mit der Mütterrente auch
wirklich durchkriegst. Das wäre was für Frauen wie
mich. Das wäre wirklich ein Stück Anerkennung. - Was
meinte meine Nachbarin mit „Frauen wie mich“? Sie hat
ihr ganzes Leben gearbeitet, Kinder großgezogen, aber
Arbeit im Beruf war nicht drin. Das ist eine sehr typische
Biografie vieler Frauen, gerade in Westdeutschland.
Trotzdem hat sie natürlich ihr Soll geleistet. Und ihre
Kinder finanzieren heute unsere Rente. Entsprechend
klein ist aber ihre eigene Rente ausgefallen. Deswegen
wartet sie jetzt auf die Mütterrente im Rentenpaket. Die
wird bei ihr auch ankommen und bei 9,5 Millionen anderen Müttern und einigen Vätern ebenfalls.
({4})
Frau Bundesministerin, es gibt den Wunsch des Kollegen Wunderlich von der Fraktion Die Linke nach einer
Zwischenfrage. Mögen Sie die zulassen?
Bitte, von mir aus!
({0})
Ist das jetzt ein Zulassen?
Ja.
Bitte.
Vielen Dank, Frau Ministerin und Herr Präsident. Sie sprachen gerade von der alten Dame, die Sie auf der
Dorfstraße am Ellenbogen gefasst und sich quasi mit
Tränen in den Augen Andrea Nahles, Bundesministerin für Arbeit und
Soziales:
So habe ich es nicht gesagt.
- für die Mütterrente bedankt hat, weil sie eine sehr
geringe Rente bezieht und sich jetzt auf die erhöhte
Rente freut. Es betrifft ja all die Frauen, die am 1. Juli
bereits in Rente sind. Sie sollen diesen Rentenpunkt
ohne Prüfung erhalten. Bei allen anderen sollen erworbene Leistungen angerechnet werden, sodass unter dem
Strich bei manchen Müttern gar nichts ankommt.
Was die Rentnerinnen mit einer geringen Rente angeht, von denen Sie gerade gesprochen haben, ist es ja
so, dass die ärmsten Rentnerinnen - zum Beispiel in
NRW hat eine Rentnerin im Schnitt 480 Euro - sowieso
Hilfe zum Lebensunterhalt bekommen. Das heißt, beim
Sockelbetrag plus Wohngeld oder Kosten der Unterkunft
wird die Rente als Einkommen abgezogen. Das heißt im
Klartext: Die geplante Aufstockung - pro Kind im Westen 28 Euro, im Osten 26 Euro, round about - wird von
den Sozialleistungen abgezogen. Unter dem Strich sind
Profiteure dieser Rente also letztlich die Finanzministerien, die nämlich die Kosten der Unterkunft sparen. Was
sagen Sie denn dazu? So ist es auch in allen gängigen
Artikeln in der Presse bundesweit zu lesen.
Das ist im System unserer Rentenversicherung auch
logisch, weil Sozialhilfe oder Grundsicherung nachrangig sind. Ich will Ihnen ehrlich sagen, dass wir hier nicht
eine Reform am System machen und dieses grundsätzlich ändern, sondern eine Reform im System. 2,5 Prozent der Menschen in Deutschland, die über 65 Jahre alt
sind, sind in der Grundsicherung. Bei dieser begrenzten
Gruppe wird die Mütterrente mit dem, was diese Menschen sonst an Hilfen des Staates bekommen, verrechnet. Das ist aus meiner Sicht richtig. Daran werden wir
nichts ändern, auch nicht in diesem Gesetz.
({0})
Mit der Rente mit 63 in unserem Rentenpaket packen
wir noch eine andere Gerechtigkeitslücke an: Anstrengungen, langjährige Versicherungszeiten werden ausreichend wertgeschätzt. Es sind die Krankenschwestern
- es geht also durchaus auch um Frauen -, die Fliesenleger, die ganz normalen Arbeitnehmer, die jahrzehntelang
unser Rentensystem getragen haben. In Zeiten also, in
denen der Arbeitsschutz noch in den Kinderschuhen
steckte. Hier sage ich sehr klar: Die, die hart gearbeitet
haben, bekommen jetzt die Chance, nach 45 Beitragsjahren ohne Abschläge in Rente zu gehen. Das ist nicht geschenkt, das ist verdient; davon bin ich fest überzeugt.
({1})
Wir haben an dieser Stelle auch sehr klar gesagt:
Nicht immer verlaufen Erwerbsbiografien ohne Brüche.
Die Zeiten des Bezuges von Schlechtwettergeld, Kurzarbeitergeld und Insolvenzgeld, das bei dramatischen Situationen in Unternehmen gezahlt wird, sowie die Zeiten
von Kindererziehung, Pflege und kurzzeitiger Arbeitslosigkeit werden ebenfalls berücksichtigt.
Die Punkte, die ich gerade aufgezählt habe, sind Bestandteil von ganz konkreten Erwerbsbiografien vieler
Menschen in unserem Land. Dabei handelt es sich um
Menschen, die zum Beispiel von den Strukturumbrüchen
in Nordrhein-Westfalen betroffen waren. In vielen Regionen konnten sich die Menschen dem Strukturwandel
nicht entziehen und haben ein oder zwei Jahre gebraucht, um wieder in Arbeit zu kommen. Auch nach der
Wende hat es viele Menschen gegeben - sie stellen im
Übrigen die größte Gruppe dar -, die umschulen mussten, die einige Zeit brauchten, wieder Tritt zu fassen, und
deshalb wenige Jahre der Arbeitslosigkeit vorzuweisen
haben.
Als weiteres Beispiel will ich ältere Arbeitnehmer
nennen - wer von uns kennt sie nicht aus den Bürgersprechstunden? -, die mit 58 Jahren aus ihrem Betrieb
gedrängt wurden und dann, weil sie weiter arbeiten wollten, Hausmeister oder Pförtner geworden sind und die
nun bis zum 63. Lebensjahr in diesem neuen Tätigkeitsfeld arbeiten. All diese Menschen erfassen wir hier. Das
ist gerechtfertigt. Ich bin froh, dass wir mit diesem Gesetzentwurf die Zeiten des Bezugs von Arbeitslosengeld I
und von Schlechtwettergeld sowie die anderen Zeiten,
die ich vorhin genannt habe, berücksichtigen. Ich sage
Ihnen im Übrigen: Die überwiegende Anzahl derjenigen,
die während ihres Arbeitslebens einmal von Arbeitslosigkeit betroffen waren, hat weniger als zwei Jahre Zeiten der Arbeitslosigkeit vorzuweisen. Deswegen berücksichtigen wir sie mit bei unserer Neuregelung.
({2})
Wir haben mit dem Rentenpaket einen guten Aufschlag gemacht, das ist bei weitem noch nicht alles, was
wir uns vorgenommen haben. Es stehen noch viel mehr
Punkte auf der Liste. Deswegen werden wir schon in den
nächsten Wochen ein weiteres Paket schnüren, nämlich
das Tarifpaket. Dieses Paket zielt auf die Lebens- und
Arbeitswirklichkeit von Millionen Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmern ab. Zielgruppe sind diejenigen, die
einer Arbeit nachgehen, die nicht mehr unter dem Dach
von Tarifverträgen geregelt ist. Manchmal kann man es
dem Monatslohn nicht ansehen, dass jemand nicht mehr
in einem tariflich abgesicherten Bereich arbeitet. Man
sieht es aber an anderen relevanten Punkten wie Urlaubsgeld, Weihnachtsgeld, Urlaubszeiten sowie sozialen Leistungen.
Mir hat vor wenigen Tagen ein Handwerker aus meinem Wahlkreis gesagt, dass die Konkurrenten ihn bei
Aufträgen regelmäßig unterbieten können, weil sie nicht
mehr tariflich entlohnen. Auch das ist ungerecht, weil
dieser Umstand einen unfairen Wettbewerb für diejenigen Arbeitgeber darstellt, die ihre Leute noch anständig
tariflich bezahlen. Auch deswegen müssen wir aus meiner Sicht für mehr Tarifsicherheit sorgen.
({3})
Wir haben im Koalitionsvertrag sehr klar gesagt: Wir
wollen die Sozialpartnerschaft und die Tarifbindung
stärken. Das werden wir tun, indem wir die Allgemeinverbindlichkeitserklärung von Tarifverträgen verbessern
und erleichtern.
({4})
Dabei soll das öffentliche Interesse im Mittelpunkt stehen. Was bedeutet es, wenn wir dieses Ziel am Ende
durchsetzen? Viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer werden dann wieder unter dem Dach von Tarifverträgen arbeiten können. Viele Unternehmer werden in einem faireren Wettbewerb stehen, und vieles, was sonst
der Staat regeln müsste, können die Tarifpartner wieder
selbst aushandeln. Auch das ist ein Ziel, welches ich für
richtig erachte.
Die Kultur der Partnerschaft, die Kultur der Verabredungen hat sich bei uns gerade in der Krise bewährt.
Dies ist das eigentliche Geheimnis unseres Erfolges.
Viele Länder schauen auf Deutschland und fragen sich,
warum wir es geschafft haben, besser durch die Krise zu
kommen als andere. Deswegen sagen wir klipp und klar:
Diese Stärke wollen wir mit diesem Tarifpaket in den
nächsten Wochen und Monaten weiter ausbauen.
({5})
Dazu zählt im Übrigen die Erweiterung des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes auf alle Branchen. Das gilt
dann sowohl für inländische als auch für ausländische
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Hier sollen Mindestlöhne verbindlich festgeschrieben werden. Wir werden mit der Fleischbranche vorangehen, in der jetzt ein
Abschluss erreicht wurde, den wir gerne flankieren wollen.
Natürlich ist in diesem Paket auch der Mindestlohn
enthalten. Ein allgemeiner gesetzlicher Mindestlohn von
8,50 Euro für alle Arbeitnehmer in Ost wie in West, in
allen Branchen ohne Ausnahme, schafft eine wirksame
Barriere gegen Lohndumping. Davon bin ich fest überzeugt.
({6})
Auch das Prinzip der Tarifeinheit wollen wir noch in
diesem Jahr gesetzlich absichern. Das Gesamtpaket
wird, wie gesagt, noch vor der Sommerpause die parlamentarische Beratung erreichen.
Ordnung auf dem Arbeitsmarkt ist ein anderer Punkt,
den wir uns vorgenommen haben. Dabei geht es uns um
die Bekämpfung von Missbrauch, insbesondere bei
Werkverträgen. Im Gegensatz zu dem, was ich gestern
von der Opposition gehört habe, glaube ich sehr wohl,
dass eine gute Kombination aus Informationspflicht, wesentlich besserer Kontrolle und präziserer UnterscheiBundesministerin Andrea Nahles
dung, was Werkverträge und was Scheinwerkverträge
sind, was Scheinselbstständigkeit und was Selbstständigkeit ist, wirksam ist und dem Unwesen, das es im
Werksvertragsbereich gibt, einen Riegel vorschieben
wird.
({7})
Wir werden in diesem Zusammenhang auch die Frage
der Leiharbeit regeln.
Eines der größeren Gesetzespakete dieser Legislaturperiode betrifft das Thema Inklusion. Zum ersten Mal
überhaupt habe ich grade eine junge Frau mit Behinderung als Behindertenbeauftragte der Bundesregierung
berufen: Verena Bentele.
({8})
Das ist eine klare Ansage von mir: Wir wollen nicht
mehr nur über Inklusion reden, sondern Inklusion konkret machen. Das ist der entscheidende Punkt.
({9})
Wir wollen in dieser Legislaturperiode gemeinsam
eine Menge bewegen. Mit dem Teilhabegesetz wird es
zum ersten Mal in einem Bundesgesetz konkret auch finanzielle Regelungen geben. Ein so grundlegend neues
Gesetz macht man als Arbeitsministerin übrigens nicht
alle Tage. Hier empfehle ich uns allen: Gründlichkeit
geht vor Schnelligkeit. Ich weiß, dass ganz viele Behindertenverbände mit großer Spannung und Freude darauf
warten. Wir werden in diesem Jahr mit der Arbeit an diesem Gesetz beginnen, alle anhören und Beteiligung organisieren. Aber die Umsetzung braucht eine Weile,
wenn sie gut sein soll, damit es für die behinderten Menschen in unserem Land ein Erfolg wird.
({10})
Unsere Wirtschaft braucht die Fähigkeit aller. Angesichts der zunehmenden Unsicherheit in Bezug auf Fachkräfte - Fachkräftemangel ist in der Region, aus der ich
komme, längst angekommen; mit Arbeitslosenzahlen
von 4 bis 5 Prozent in meiner Region ist dies faktisch ein
ständiges Thema, wenn ich mit Unternehmern rede soll dies ein Schwerpunktthema für die gesamten vier
Jahre sein. Das ist eine Aufgabe, die auch über diese Legislaturperiode hinaus bestehen bleiben wird.
In dieser Legislaturperiode wollen wir uns ganz besonders bemühen, den Gesundheits- und Arbeitsschutz
im Betrieb voranzutreiben. Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist ein wichtiges Thema. Dazu gehört auch
die Frage, wie Frauen aus der Teilzeitfalle herauskommen. Vor allem wird es aber auch um das Problem der
Langzeitarbeitslosigkeit gehen. Hier haben wir, mit Verlaub, vieles versucht. Es sind auch viele gute Ansätze
vorhanden. Aber den Stein der Weisen haben wir wahrscheinlich immer noch nicht gefunden. Deswegen bin
ich sehr froh, dass wir über ESF-Mittel wieder die Möglichkeit haben, gute Programme aufzulegen und Wege zu
suchen, wie wir diesem Problem nachhaltig entgegentreten können.
Lassen Sie mich zum Schluss auch die jungen Menschen erwähnen. Ich bin sehr beeindruckt von neuen Ansätzen, wie beispielsweise der Jugendberufsagentur in
Hamburg. Das halte ich für vorbildlich. Das würde ich
gerne an anderen Stellen überall in Deutschland auch sehen. Ich möchte, dass wir mehr investieren als bisher in
eine zweite Chance - gerade für junge Leute -, wenn es
um das Nachholen von Schulabschlüssen und Berufsabschlüssen geht. Meine Kollegin Frau Wanka und ich sind
uns darin einig. Das werden wir gemeinsam anpacken.
Natürlich sollen auch Menschen mit Migrationshintergrund dabei nicht aus den Augen verloren werden.
({11})
Zum Abschluss. Nur wenn wir es schaffen, der Arbeit
Wert und Würde zurückzugeben, werden wir eine starke
und erfolgreiche Wirtschaftsnation bleiben. Davon bin
ich fest überzeugt. Tarifpartnerschaft, gute Arbeit, gerechte Löhne, mehr Chancen und soziale Sicherheit, das
ist die Grundbotschaft dieser Bundesregierung für die
nächsten vier Jahre. Wir stehen bei den Menschen im
Wort - das Wort wollen wir halten -, dass es in Deutschland gerechter zugeht.
Vielen Dank.
({12})
Als Nächste hat das Wort unsere Kollegin Katja
Kipping, Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nach einem langen Arbeitsleben muss es tatsächlich die Möglichkeit geben, ohne Abschläge früher in Rente zu gehen. Diese Forderung der Gewerkschaften unterstützt
auch die Linke mit aller Energie.
({0})
Für das, was gegenwärtig von der Bundesregierung unter dem Stichwort „Rente ab 63“ verhandelt wird, bekommt die Bundesregierung aber zu Recht den Preis für
den besten Etikettenschwindel des Jahres.
({1})
Denn nur ein Geburtsjahrgang kommt tatsächlich in den
Genuss, nach 45 Arbeitsjahren mit 63 Jahren und 0 Monaten abschlagsfrei in Rente gehen zu können. Die nachfolgenden Jahrgänge müssen länger arbeiten - je später
sie geboren wurden, desto länger.
All diejenigen, die nach 1964 geboren wurden, also
faktisch alle unter 50-Jährigen in diesem Land, sind
durch die jetzigen Regelungen gleich dreimal gekniffen:
Erstens. Laut den Plänen aus dem Hause Nahles gilt
die Möglichkeit, nach 45 Jahren abschlagsfrei in Rente
zu gehen, nur für die Jahrgänge, die vor 1964 geboren
wurden. Das heißt, in diesen Sondergenuss kommen die
unter 50-Jährigen nicht.
Zweitens. Die unter 50-Jährigen werden voraussichtlich nach dem Jahr 2030 in Rente gehen. Genau ab dem
Jahr 2030 greift aber die Rente erst ab 67 in vollem Umfang. Das heißt, die unter 50-Jährigen in diesem Land
müssen deutlich länger arbeiten, mindestens bis 67.
({2})
Drittens. Laut geltendem Rentenrecht kann das Rentenniveau bis zum Jahr 2030 auf bis zu 43 Prozent sinken. Das heißt, die unter 50-Jährigen in diesem Land
müssen damit rechnen, dass ihre Rente irgendwo in der
Nähe von 43 Prozent landet.
Wissen Sie, ich bin sehr zurückhaltend und skeptisch,
wenn bei rentenpolitischen Maßnahmen immer gleich
der Vorwurf kommt, das sei nicht generationengerecht.
Aber hier muss man schon mal unter dem Strich festhalten: Der jetzige Gesetzentwurf spielt Alte gegen Junge
aus. Die unter 50-Jährigen müssen länger arbeiten, erwarten eine niedrigere Rente und müssen für die Älteren
auch noch mit ihren jetzigen Rentenbeiträgen bezahlen.
Ich finde, das ist weder sozial noch generationengerecht.
Deswegen sage ich: Wir brauchen hier ganz klar eine
Rentengarantie, die das heilen kann, eine Rentengarantie, die absichert, dass das Rentenniveau nicht unter das
jetzige Niveau sinkt. Das wäre ein Weg, den früheren
Renteneinstieg generationengerecht zu gestalten. Davon
profitieren dann Jung und Alt in diesem Land.
({3})
Wer sich von dieser Regierung Verbesserungen im
Bereich Hartz IV erhofft hat, wurde enttäuscht. Das zeigt
ein Blick in den Koalitionsvertrag. Dort gibt es stattdessen einen Verweis auf eine Bund-Länder-Arbeitsgemeinschaft. Das klingt erst mal ganz harmlos. Es wird um
Verwaltungsverbesserungen gehen. In der Tat werden in
dieser Bund-Länder-Arbeitsgemeinschaft ein paar verfahrenstechnische Verbesserungen diskutiert. Aber vor
allen Dingen gibt es dort eine Giftliste von Vorschlägen.
Ich möchte nur drei Beispiele von vielen wiedergeben:
Erstens wird dort unter anderem vorgeschlagen, eine
Strafgebühr von 20 Euro für Leute einzuführen, die einfach nur einen Widerspruch einreichen wollen.
Zweitens wird dort vorgeschlagen, dass Selbstständige, die auf aufstockende Hartz-IV-Leistungen angewiesen sind, die Aufstockungsleistungen nur noch zwei
Jahre lang bekommen sollen.
Die Krönung ist aber, wie ich finde, der folgende Vorschlag. Heute gibt es die Regelung: Alleinerziehenden
wird ein Mehrbedarf zugestanden - aus gutem Grund;
denn Ein-Eltern-Familien stehen in diesem Land vor besonderen Herausforderungen. Nun wird dort vorgeschlagen - zugegebenermaßen gibt es noch keinen Konsens -,
genau diesen Mehrbedarf zu streichen, wenn keine Erwerbstätigkeit vorliegt. Dazu sage ich: Versetzen Sie
sich mal in die Situation eines alleinerziehenden Vaters,
einer alleinerziehenden Mutter. Dies würde sie sehr treffen: Je nach Alter der Kinder würde dies 140 bis
230 Euro weniger bedeuten. Und wir reden hier von
Menschen, die ohnehin wenig haben.
Deswegen, Frau Nahles, fordere ich Sie auf: Sorgen
Sie dafür, dass keiner dieser Vorschläge umgesetzt wird!
Kassieren Sie diese sozialpolitische Giftliste, und sorgen
Sie dafür, dass Ein-Eltern-Familien nicht zur Melkkuh
einer verfehlten Steuerpolitik werden.
({4})
Vor dem Hintergrund der Vorschläge dieser Arbeitsgemeinschaft finde ich den Erfolg der Massenpetition
der mutigen Hartz-IV-Rebellin Inge Hannemann gegen
Hartz-IV-Sanktionen besonders wichtig. Die Linke wird
diese Forderung aufgreifen. Wir werden uns dafür einsetzen, dass Sanktionen gegen Hartz-IV-Missbrauch
wieder abgeschafft werden; denn wir meinen: Grundrechte gehören nicht gekürzt.
({5})
Abschließend möchte ich in aller Kürze noch auf ein
sehr brisantes Thema eingehen. Die Bundeskanzlerin hat
gestern vor der - ich zitiere - „faktischen Einwanderung
in die Sozialsysteme“ gewarnt. Sie sagte: Wir dürfen die
Augen nicht vor einem möglichen Missbrauch der Freizügigkeit verschließen. - Ich würde sagen, das ist die etwas
vornehmere Variante der CSU-Hetze: „Wer betrügt, der
fliegt.“
Das Empörende an den Äußerungen von Frau Merkel
ist, dass es gerade der Kurs der Austerität, also der Kurs
des Kürzungsdiktates ist, der das Elend, die Not und die
Armut in anderen Ländern vorangetrieben hat. Dieser
Kurs wurde in Europa durch die Troika und durch
Merkel vorangebracht.
Es gibt ein vernünftiges Mittel dagegen, dass Menschen aus lauter Not und Armut ihre Heimat verlassen:
Man müsste innerhalb der Europäischen Union durchsetzen, dass es in jedem Land das Recht auf ein Mindesteinkommen, auf eine Mindestrente und einen Mindestlohn gibt. Dann müsste niemand mehr sein Land aus
lauter Armut verlassen.
Wenn man es ernst meint, dann findet man auch eine
Möglichkeit, sich europaweit für die genannten Lösungen einzusetzen. Ich fordere Frau Merkel auf: Wenn
Sie wirklich keine Armutsmigration in der EU wollen,
dann setzen Sie sich ein für eine Europäische Union der
sozialen Rechte und machen Sie Schluss mit dem Kurs
der Sozialkürzung und Schluss mit dem Kurs des Kürzungsdiktats.
({6})
Das Wort hat jetzt der Kollege Schiewerling von der
CSU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
„Deutschlands Zukunft gestalten“ - das ist der Titel des
Koalitionsvertrags. Er zeigt, dass sich die Koalition gerade der großen Herausforderungen im Bereich der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik verantwortungsvoll annimmt.
Im Koalitionsvertrag haben wir uns auf gemeinsame
Ziele und Projekte geeinigt, die nun angepackt und umgesetzt werden: für mehr Arbeit, für mehr sichere Arbeit,
für mehr Wohlstand, für mehr gesellschaftliche Teilhabe
und Zusammenhalt. Das, was wir an Gerechtigkeit in unserem Land haben, wollen wir weiter sichern, weiterentwickeln und weiter stärken. Das sind die großen Ziele
der Großen Koalition. Das ist der Aufgabenkatalog für
die Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik.
Die Ausgangslage ist denkbar gut. Die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten ist hoch. Vor
zehn Jahren wurde hier im Hohen Haus über mehr als
5 Millionen Arbeitslose ohne jegliche Perspektive, wie
es weitergehen könnte, diskutiert. Heute diskutieren wir
über Fachkräftemangel. Ich sage Ihnen: Ich diskutiere
lieber über Fachkräftemangel als über Arbeitslosigkeit.
({0})
Wir haben hohe Rücklagen im System der sozialen Sicherung.
({1})
Wichtig ist auch: Wir haben eine hohe wirtschaftliche
Prosperität, ohne die wir keine erfolgreiche Sozial- und
Arbeitsmarktpolitik betreiben könnten.
({2})
Der erfolgreiche Weg der letzten Jahre unter Führung
von Angela Merkel wird jetzt fortgesetzt. Die gute Ausgangslage, die wir jetzt haben, darf nicht aufs Spiel gesetzt werden. Die Lebensverhältnisse der Menschen, der
Familien in Deutschland, müssen weiter verbessert werden, indem wir uns an ihren Situationen und Bedürfnissen orientieren. Menschen, Familien brauchen Sicherheit, einen sicheren Arbeitsplatz sowie feste Zeiten und
Räume für sich.
Wir können die Ziele „mehr gute Arbeit, Wohlstand
und Zusammenarbeit“ erreichen. Die Union orientiert
sich dabei an den Prinzipien der christlichen Soziallehre:
Personalität, Solidarität, Subsidiarität und Nachhaltigkeit. Diese Prinzipien sind übrigens unserer Verfassung
zugrunde gelegt und sichern die Entfaltung von Eigenverantwortung und Freiheit. Das Basieren auf diesen
Grundprinzipien macht sich gerade im Sozialrecht deutlich bemerkbar.
Wir diskutieren über das Rentenpaket, das die Bundesarbeitsministerin in einem, wie ich finde, beachtlichen Tempo auf den Weg gebracht hat.
({3})
Wir diskutieren dabei über die Frage der Solidarität. Wir
führen eine kontroverse Debatte über die Mütterrente
und die Rente mit 63. Ich kann nur sagen, dass auch ich
mich in der Tat sehr über die Diskussionen gewundert
habe, die wir zurzeit in Deutschland erleben. Ich habe
mich gewundert, mit welcher Weltuntergangsstimmung
das Ende der Marktwirtschaft und das Ende der Prosperität vorhergesagt werden. Ich kann mich darüber nur
wundern. In dem Wahlprogramm von CDU und CSU
steht seit einem Dreivierteljahr, dass wir die Mütterrente
haben wollen, dass sie 6,5 Milliarden Euro kostet, dass
wir sie anfangs aus den Rücklagen finanzieren wollen, in
die über 10 Milliarden Euro Steuermittel geflossen sind.
Wir haben von Anfang an gesagt, dass wir wollen, dass
der Steuerzuschuss zur Rentenversicherung weiter aufwächst, damit wir die Mütterrente eines Tages gänzlich
aus Steuern finanzieren können. Wir haben gesagt, dass
wir das machen wollen, weil es um Gerechtigkeit geht,
und zwar um Gerechtigkeit zwischen den Müttern, die
vor 1992 Kinder geboren und dafür 1 Rentenpunkt bekommen haben, und den Müttern, die ab 1992 Kinder
geboren und dafür 3 Rentenpunkte bekommen haben. Es
geht noch um eine andere Gerechtigkeitsfrage: Dass es
uns heute in Deutschland wirtschaftlich gut geht, verdanken wir dieser Generation von Frauen und Männern,
die Kinder geboren und so erzogen haben, dass sie zu lebenstüchtigen Menschen wurden. Ohnedem hätten wir
heute den Wohlstand nicht.
({4})
Das bringt mich zu einer Grundsatzdebatte. Rentenpolitik bezieht sich in erster Linie auf die Rentenversicherung. In die Rentenversicherung zahle ich ein und erwerbe Ansprüche. Gut, Sie werden sagen: Das habe ich
im Bereich der Lebensversicherung auch. - Ja, aber die
Rentenversicherung ist eine Solidarversicherung, weil
darüber auch andere Fährnisse des Lebens abgesichert
werden. Zum Beispiel werden Rehabilitationsleistungen
bezahlt, und es wird anerkannt, dass Frauen, die zur Erziehung von Kindern zu Hause geblieben sind, nicht faul
waren, sondern ihren Auftrag wahrgenommen haben.
Deswegen erhalten sie möglicherweise am Ende der Zeit
eine abgeleitete Witwenrente. Die Kindererziehungszeiten werden berücksichtigt, weil wir wissen, dass die
Rentenversicherung ohne Kinder keine Perspektive hat.
({5})
Herr Kollege?
Nein. - Um dieses System zu sichern, brauchen wir
Kinder. Sonst gibt es nicht nur keine Zukunft für die Sozialversicherung, sondern auch keine Zukunft für unser
Land.
({0})
Deswegen wollen wir diesen Bereich fördern und unterstützen.
Die Rente mit 67 ist auf Grundlage derselben Prinzipien des Sozialversicherungssystems eingeführt worden.
Die Menschen, die 1961 in Rente gegangen sind, hatten
gerade noch sechs oder sieben Jahre zu leben. Menschen, die heute in Rente gehen, haben eine Perspektive
von 18 bis 19 Jahren, weil sie entsprechend länger leben.
Deswegen ist die Rente mit 67 eingeführt worden. Das
hat etwas mit Solidarität und mit Anerkennung der Realität eines Sozialversicherungssystems zu tun.
({1})
Deswegen wollen wir die Rente mit 67 erhalten.
Wir begrüßen in diesem Zusammenhang ausdrücklich, dass wir in dem damaligen Gesetz festgelegt haben,
dass man nach 45 Beitragsjahren mit 65 Jahren in Rente
gehen kann. Das wird nun für einen bestimmten Zeitraum vorgezogen auf 45 Beitragsjahre und 63 Jahre. Die
Bundesarbeitsministerin hat das, wie ich finde, nachvollziehbar damit begründet, dass es nach der Wende insbesondere in den neuen Ländern bei vielen Menschen zu
Brüchen in der Erwerbsbiografie gekommen ist und wir
in der Krise erlebt haben, dass viele Menschen unverschuldet arbeitslos geworden sind. Dies wird jetzt für einen befristeten Zeitraum berücksichtigt. Die langfristige
Perspektive ist aber die Rente mit 65 Jahren und 45 Beitragsjahren. Wir wollen sie erhalten, um auf dieser
Grundlage in Zukunft Politik gestalten zu können.
Ich sage Ihnen genauso deutlich Folgendes: Ein großes Problem in Deutschland ist, dass die Sozialversicherungssysteme zunehmend mit dem System der Sozialhilfe
durcheinandergeworfen werden. Die Bundesarbeitsministerin hat recht, wenn sie sagt, dass die Anerkennung von Kindererziehungszeiten verdient ist. Ich kann nur davor warnen, diese Systeme miteinander zu vermischen.
Sozialhilfe zahlen wir denjenigen, die keine eigenen Ansprüche erworben haben, aber in ihrer jeweiligen Notlage ein Recht auf Unterstützung haben. Diese beiden
Systeme müssen wir auseinanderhalten. Je mehr wir sie
miteinander vermischen, umso weniger wird den Menschen klar, dass dieser Sozialstaat nur auf der Basis von
Eigenverantwortung und Eigeninitiative der Menschen
funktionieren kann. Der Sozialstaat kann nur funktionieren, wenn man selbst seinen Beitrag für die Gesellschaft
leistet, in die Sozialversicherung einzahlt, wenn man das
tut, was man kann. Dann hat man auch ein Anrecht darauf, von unserer Gesellschaft unterstützt zu werden.
({2})
Nach diesem Prinzip der Solidarität und der Subsidiarität organisieren wir die Dinge, die wir uns jetzt gemeinsam vorgenommen haben. Hinsichtlich des Mindestlohns teile ich ausdrücklich die Auffassung, dass es
auch um Fairness am Arbeitsmarkt geht. Es ist okay,
dass wir ihn einführen. Wir haben jetzt vereinbart, dass
wir am 1. Januar 2015 mit 8,50 Euro einsteigen. Wir
werden miteinander noch weiter bereden, wie die Dinge
im Detail zu organisieren sind. Dabei geht es beim Mindestlohn - so habe ich immer alle Beteiligten verstanden darum, dass man von seinem Lohn leben können muss;
dies müssen wir entsprechend organisieren.
Wir haben auch vereinbart, dass es Aufgabe der Tarifpartner sein wird, festzulegen, wie sich das Ganze in Zukunft entwickelt. Denn nicht der Staat kennt sich in diesen Fragen aus, sondern die Tarifpartner. Das hat mit
Subsidiarität in unserem Land zu tun.
({3})
Das hat auch zutiefst mit den Grundzügen unserer christlichen Gesellschaftslehre zu tun. Ich bin der Arbeitsministerin ausdrücklich dankbar, dass sie auf diese Zusammenhänge der Tarifpartnerschaft und der Tarifautonomie
noch einmal nachdrücklich hingewiesen hat.
Auch der Union ist völlig klar, dass der Markt kein
Selbstzweck ist. Die Wirtschaft hat vielmehr den Menschen zu dienen. Das sagen nicht wir, das ist grundgelegt
im christlichen Menschenbild. Aber auch die Rahmenbedingungen, die wirtschaftlichen Bedingungen müssen
so gestaltet sein, dass man dann von seiner Arbeit leben
kann. Deswegen geht es auch immer um Interessenausgleich.
Ich glaube, dass wir mit diesem Koalitionsvertrag und
mit dem, was wir uns vorgenommen haben, in den
nächsten vier Jahren die Weichen für eine gute Entwicklung stellen können und stellen werden und dass es den
Menschen in vier Jahren in diesem Land besser gehen
wird als jetzt, und zwar allen. Das ist unser erklärtes
Ziel. Dafür treten wir an. Deswegen werden wir als Koalition in diesem Bereich intensiv, gut und sicherlich
auch erfolgreich zusammenarbeiten.
({4})
Vielen Dank. - Das Wort zu einer Kurzintervention
hat jetzt die Kollegin Kipping.
Herr Schiewerling, Sie haben ja mit sehr viel Leidenschaft für die Gleichstellung der Menschen geworben,
die vor 1992 Kinder geboren und großgezogen haben.
Dieses Ziel teile nicht nur ich, sondern meine gesamte
Partei. Sie erinnern sich sicherlich, dass wir schon vor
einigen Jahren dementsprechende Anträge gestellt haben. Leider wurden diese damals von allen Mitgliedern
Ihrer Fraktion abgelehnt. Aber ich freue mich sehr über
Ihren Sinneswandel bei diesem Thema.
Ich habe nun aber auch eine Frage. Leider ist es ja immer noch so, dass Frauen, die Kinder vor 1992 geboren
haben, nur 2 Entgeltpunkte angerechnet bekommen sollen, währenddessen Frauen, die nach 1992 Kinder geboren haben, 3 Entgeltpunkte angerechnet bekommen.
({0})
2 ist nicht dasselbe wie 3. Deswegen frage ich, wie Sie
sich diesen Unterschied erklären. Gehen Sie etwa davon
aus, dass es vor 1992 leichter war, Kinder großzuziehen,
als es heute der Fall ist?
Herr Kollege Schiewerling.
Frau Kollegin Kipping, wir haben Ihre Anträge damals abgelehnt, weil sie mit der gleichen geistigen Intention gestellt waren wie die Frage, die Sie gerade an mich
gerichtet haben.
({0})
Es ging Ihnen nicht um die Sache. Sie wissen genau, unter welchen Bedingungen, auch unter welchen finanziellen Bedingungen wir Rentenpolitik zu gestalten haben.
Wir haben Ihre Anträge damals auch deswegen abgelehnt, weil unsere Fraktion längst auf dem Weg war,
diese Dinge selbst nach vorne zu bringen.
Wir können aus rein finanziellen Gründen zunächst
nur einen weiteren Rentenpunkt anrechnen.
({1})
Ich habe allen Müttern, allen Frauen, die uns bzw. mir
geschrieben haben, geantwortet: Ich bin dafür, dass wir
die Mütterrente einführen und einen Entgeltpunkt mehr
anrechnen, aber diese Rente muss bezahlt werden von
der Generation der Kinder und der Enkelkinder,
({2})
die von euch geboren und erzogen worden sind. - Da ich
innerfamiliären Ausgleich sehr gut kenne, weiß ich, dass
das Geld ihnen am Ende der Tage wieder zugutekommt.
Aber der entscheidende Punkt ist, dass wir hier den Einstieg vollzogen haben.
Ich sage aber auch allen Beteiligten in aller Klarheit:
Wer mehr verspricht, lügt den Menschen etwas vor. Wir
werden es in den nächsten Jahren nicht finanzieren können,
({3})
und wir müssen dies in aller Klarheit und aller Deutlichkeit sagen. Deswegen spreche ich auch nicht davon, dass
wir die Gerechtigkeitslücke schließen, sondern dass wir
sie verkleinern. Ich sage allerdings zu, dass wir versuchen werden, diese Frage auf Dauer zu klären, nur versprechen können wir im Gegensatz zu den Linken
nichts.
({4})
Vielen Dank. - Nächster Redner in der Debatte ist der
Kollege Kurth, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Große Koalition verlegt sich in der Rentendebatte jetzt zunehmend auf das Moralisieren statt aufs
Argumentieren. Sigmar Gabriel spricht davon, die Einführung der Rente mit 63 und der Mütterrente sei eine
Frage des Anstands.
({0})
Im Umkehrschluss unterstellen Sie dann natürlich den
Kritikern des Rentenpakets, sie seien unanständig. Ich
will hier für alle Mitglieder meiner Fraktion einmal eines
klarstellen: Wir haben den allergrößten Respekt vor denjenigen, die 45 Jahre lang harte Arbeit geleistet haben.
({1})
Ich habe den größten Respekt vor Menschen, die hart arbeiten. Ich kenne das aus eigener Erfahrung. Ich habe
mir mein Studium durch Arbeit in der häuslichen Altenpflege und im Altersheim weitgehend selbst finanziert.
Gerade weil ich das kenne, muss ich die Rente mit 63 als
eher unanständig kritisieren. Denn die dort beschäftigten
Frauen - in der Pflege arbeiten überwiegend Frauen kommen überhaupt nicht auf 45 Beitragsjahre, genauso
wenig wie der Bauarbeiter, der mit Ende 50 aus gesundheitlichen Grünen aus dem Arbeitsleben ausscheiden
und Erwerbsminderungsrente beantragen muss. Auch
der prekär beschäftigte Lagerarbeiter, der, statt eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung auszuüben,
unfreiwillig in Scheinwerkverträge gedrängt wird,
kommt nicht auf 45 Beitragsjahre, auch nicht die Nachwuchsjournalistin, die nur auf Honorarbasis arbeiten
kann.
Leisten all diese arbeitenden Menschen keine harte
Arbeit? Muss man vor deren Leistung nicht auch Respekt haben? Sie werden aber nichts von der Rente mit 63
haben. Im Gegenteil: Sie werden diese über ihre Beiträge mitfinanzieren und später ein zweites Mal über das
niedrigere Rentenniveau. Ist das anständig?
({2})
Wir halten es für anständig, Rentenabschläge für diejenigen aufzuheben, die aus gesundheitlichen Gründen
früher in den Ruhestand gehen müssen. Die sogenannten
Erwerbsminderungsrentner - das ist inzwischen jeder
Zweite, der vorzeitig in Rente geht - haben sich den vorzeitigen Renteneintritt nicht aussuchen können. Nach
unserem Verständnis von Sozialpolitik gilt es, dort einzugreifen, wo der größte Handlungsbedarf besteht. In
den Haushalten von Erwerbsminderungsrentnerinnen
und -rentnern liegt die Armutsquote bei 37 Prozent. Das
müssen Sie einmal zur Kenntnis nehmen. Nach unserem
Verständnis von Sozialpolitik kann es auch nicht darum
gehen, eine einzelne Gruppe zu begünstigen oder besserzustellen, sondern es muss darum gehen, tragfähige Lösungen für alle zu erarbeiten.
({3})
Wer erreichen will, dass die Rente mit 67 keine verkappte Rentenkürzung darstellt, muss flexible Über734
gänge in die Rente für alle ermöglichen, die darauf angewiesen sind, egal ob sie 35, 40 oder 45 Jahre gearbeitet
haben.
({4})
Der Bezug einer Teilrente bei reduzierter Arbeitszeit
wäre zum Beispiel eine solche Möglichkeit, die wir weiterverfolgen werden. Zur Flankierung der Rente mit 67
braucht es nämlich mehr altersgerechte Arbeitsplätze,
bessere betriebliche Gesundheitsförderung und eine Humanisierung der Arbeitswelt - zum Beispiel über eine
Antistressverordnung, Frau Nahles.
({5})
Zurück zum Anstand. Es ist aus unserer Sicht vollkommen nachvollziehbar, die unbezahlte Erziehungsarbeit unserer Großmütter und Mütter finanziell anzuerkennen und ihnen zumindest symbolisch über eine
Rentenerhöhung - einen zusätzlichen Entgeltpunkt - etwas von dem wiederzugeben, was sie in all den Jahren
geleistet haben.
Wir sagen - auch in unserem Wahlprogramm -: Das
- die unterschiedliche Bewertung der Kindererziehungszeiten - ist ungerecht. Auch wenn dieses Thema für uns
nicht die oberste Priorität gehabt hätte, können wir nachvollziehen, dass man hier etwas machen will. Aber nicht
alle Kinder dieser Mütter, Herr Schiewerling, zahlen
heute Beiträge in die gesetzliche Rentenversicherung
ein. Viele von ihnen sind über Versorgungswerke abgesichert - Ärzte, Apotheker, Architekten, Rechtsanwälte -,
andere sind Beamte, Richter, einige auch Bundestagsabgeordnete. Meine Mutter wird von der Mütterrente profitieren, und ich würde gerne über einen höheren Einkommensteuersatz mein Scherflein dazu beitragen.
({6})
Zahlen wird die Mütterrente für meine Mutter aber die
Verkäuferin, die 1 500 Euro brutto bekommt.
({7})
Ist das anständig? Nein. Diese Große Koalition geht mit
ihren Rentenplänen an den wirklich wichtigen Fragen
der Alterssicherung vorbei: wenig zu altersgerechten Arbeitsbedingungen, kein Programm gegen Altersarmut
und keine gerechte und solide Finanzierung, stattdessen
teure Symbolpolitik.
Vielen Dank.
({8})
Nächste Rednerin in der Debatte ist Carola Reimann,
SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben
uns für die kommenden Wochen und Monate viel vorgenommen. Starten werden wir mit dem erst gestern im
Kabinett beschlossenen Rentenpaket. Da wir jetzt schon
in so kurzer Zeit Arbeits- und Betriebstemperatur erreicht haben, werden wir noch in diesem Jahr weitere
wichtige Projekte, gerade im Bereich Arbeit, auf den
Weg bringen. Zentrale Beschlüsse aus dem Koalitionsvertrag werden wir konsequent Schritt für Schritt umsetzen.
Unser Ziel ist dabei klar: Wir wollen einen Arbeitsmarkt, auf dem der Wert der Arbeit geschätzt wird, der
Aufstiegsmöglichkeiten bietet und bei dem die Menschen Leben und Arbeit gut miteinander vereinbaren
können. Wir wollen, dass all diejenigen, die nicht mehr
im Erwerbsleben stehen können - aus Krankheits- oder
Altersgründen -, sich auf unsere bewährten Sicherungssysteme verlassen können.
({0})
Damit unsere Sicherungssysteme diese Funktion auch
weiterhin erfüllen können, bringen wir als erste Maßnahme in dieser Wahlperiode das Rentenpaket auf den
Weg, ein Paket, das sich sehen lassen kann, weil es ganz
konkrete Verbesserungen bringen wird. Wir werden trotz
des ambitionierten Zeitplans ausreichend Gelegenheit
haben, dieses große Paket mit den vielen Verbesserungen, die es bringt, hier im Parlament umfassend zu beraten, auch die Punkte, die in den vergangenen Tagen in
der öffentlichen Diskussion eine Rolle gespielt haben,
zum Beispiel die Frühverrentung. Niemand von uns will
eine Frühverrentungswelle befördern. Sollte es Handlungsbedarf geben, dann werden wir geeignete Gegenmaßnahmen ergreifen.
({1})
Wir nehmen unsere Verantwortung an dieser Stelle wahr.
Ich erwarte aber auch von den Unternehmen, dass sie
sich ihrer eigenen Verantwortung bewusst sind; denn
auch sie haben es in der Hand, ob es zu einer Zunahme
von Frühverrentungen kommt oder nicht.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich habe anfangs erwähnt, dass man sich auch bei Krankheit auf die Sicherungssysteme verlassen können muss. In der öffentlichen
Wahrnehmung kommen zwei ganz wichtige Punkte unseres Rentenpakets meiner Meinung nach immer etwas
zu kurz: Ich meine die Verbesserungen bei der Erwerbsminderungsrente und bei der Reha. Es ist wichtig, dass
wir den Fokus in der Rentenversicherung künftig stärker
auf die Gesundheit richten.
({2})
Unser Anspruch war immer: Reha vor Rente. Wir werden dieses Prinzip mit dem Rentenpaket stärken. Vor
dem Hintergrund, dass die Generation der Babyboomer
älter wird, ist abzusehen, dass der Bedarf an Rehabilitation steigen wird. Es ist wichtig, dass es uns gelingt,
dazu beizutragen, dass möglichst viele möglichst lange
aktiv und gesund am Arbeitsleben teilhaben können.
Deshalb ist es notwendig, mehr Mittel für Rehabilitation
zur Verfügung zu stellen. Das ist eine Forderung, die wir
in diesem Haus schon seit vielen Jahren immer wieder
vorgebracht haben. Ich bin froh, dass wir hier einen
wichtigen Schritt vorangekommen sind.
({3})
Die Stärkung der Reha ist ein zentraler Punkt, genauso die Stärkung der Prävention. Ebenso wichtig wie
Unterstützung im Krankheitsfall ist, dass schon vorher
dafür gesorgt wird, dass Arbeit nicht krankmacht. Ich
spreche nicht allein von harter körperlicher Arbeit;
Druck, Stress und verdichtete Arbeitsabläufe führen zunehmend auch zu psychischen Belastungen am Arbeitsplatz. Der Schutz der Beschäftigten vor diesen Gefahren
ist eine der zentralen Aufgaben. Deshalb bin ich froh,
dass wir den Gesundheitsschutz so klar im Koalitionsvertrag verankert haben, lieber Kollege Kurth. Auch die
diese Woche veröffentlichten Zahlen der Bundespsychotherapeutenkammer zur Frühverrentung wegen psychischer Erkrankungen sprechen eine deutliche Sprache:
Hier muss mehr getan werden.
({4})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, Sie sehen
also: Wir betreiben eine vorsorgende Politik, die die Zukunft im Blick hat, indem Prävention und Reha gestärkt
werden. Dieses Prinzip setzt sich auch bei unseren Plänen zum Arbeitsrecht und bei der Arbeitsmarktpolitik
fort. All den Kritikern, die bereits auf den Cent genau
von uns ausgerechnet haben wollen, welche Generation
von unserer Politik profitiert und welche Generation angeblich verliert, empfehle ich, sich unser arbeitsmarktund sozialpolitisches Programm in Gänze vorzunehmen
und sich dann ein Urteil zu bilden.
({5})
Wir werden für die Gruppe derer, die unterbrochene
Erwerbsbiografien haben, die unserer Unterstützung bedürfen, die solidarische Lebensleistungsrente einführen.
Wir wissen aber auch, dass man künftiger Altersarmut
vor allem mit einer effektiven Bekämpfung der Erwerbsarmut begegnen muss.
({6})
Dazu gehört in erster Linie, dass wir Beschäftigung in
prekären Arbeitsverhältnissen endlich Einhalt gebieten,
unter anderem mit einem flächendeckenden gesetzlichen
Mindestlohn.
({7})
Auch diesen werden wir noch in diesem Jahr verabschieden, und zwar so, wie er im Koalitionsvertrag steht.
Damit erübrigen sich auch die Debatten über Ausnahmen. Das ist nichts anderes als der leicht zu durchschauende Versuch, den Mindestlohn systematisch zu unterlaufen.
({8})
Mal ganz abgesehen von den verfassungsrechtlichen
Problemen, die ja bereits festgestellt wurden, sind Ausnahmen allein schon wegen der zu erwartenden Steuerungseffekte widersinnig. Mein Rat an alle: Lasst uns
das einfach so machen wie besprochen und beschlossen,
nämlich 8,50 Euro flächendeckend für alle.
({9})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, für manche mag es
vielleicht schwer vorstellbar sein, aber es gibt auch noch
ein Leben neben der Arbeit. Die Vereinbarkeit von Beruf
und Familie oder - sagen wir - von Beruf und Leben ist
den Menschen immer wichtiger. Das zeigt nicht nur die
aktuelle Beschäftigtenbefragung der IG Metall, das erfahre ich auch immer wieder in persönlichen Gesprächen. Erst am vergangenen Montag hatte ich Mitglieder
der Braunschweiger Feuerwehr hier zu Gast, Männer
zwischen 20 und 50 Jahren. Wer jetzt glaubt, wir hätten
vor allem über technische Ausstattung und Arbeitssicherheit gesprochen, der täuscht sich gewaltig. Am
meisten bewegte sie die Frage, wie wir es schaffen, Arbeitszeiten bzw. Dienstzeiten flexibler und familienfreundlicher zu gestalten. Ganz offensichtlich sprechen
wir also nicht nur von persönlichen Debattenbeiträgen,
sondern von einem von weiten Teilen der Gesellschaft
getragenen Wunsch nach flexiblen Arbeitszeiten,
({10})
sei es wegen der Kinder, sei es wegen der pflegebedürftigen Eltern oder weil die Lebensumstände es schlicht und
einfach so erfordern.
Ich bin froh, dass die Debatte jetzt angestoßen wurde,
auch durch die Beiträge von Andrea Nahles und
Manuela Schwesig. Dieses Thema brennt den Leuten auf
den Nägeln. Es ist unsere Aufgabe, dieses Thema gemeinsam mit Gewerkschaften und Arbeitgebern voranzubringen.
({11})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie sehen: Wir haben viel vor in den nächsten vier Jahren. Ich freue mich,
dass wir mit dem Rentenpaket ein sehr großes, ein sehr
wichtiges Paket mit konkreten Verbesserungen gleich zu
Beginn in den ersten Wochen der Legislaturperiode auf
den Weg gebracht haben. Das ist auch ein Zeichen für
die Verlässlichkeit dieser Regierung: Wir setzen um, was
wir uns vorgenommen haben.
Danke.
({12})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Zimmermann,
Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Stellen Sie sich bitte für einen Moment Folgendes vor: Sie sind 55 Jahre alt und seit 15 Jahren arbeitslos. Sie haben 20 Jahre lang in der Textilindustrie
Sabine Zimmermann ({0})
hart gearbeitet und waren gut qualifiziert. In den 15 Jahren Arbeitslosigkeit hatten Sie eine ABM, einen 1-EuroJob, eine Bürgerarbeit und einen sechswöchigen Crashkurs Bewerbertraining. Was Sie in dieser Situation an
Rente erwarten dürfen oder auch nicht zu erwarten haben, brauche ich Ihnen, glaube ich, nicht zu erklären.
Von dieser Rente kann man hier nicht leben.
Das sind keine Einzelfälle; das ist bittere Realität und nicht nur bei uns im Osten und auch nicht nur in
meinem Wahlkreis.
Ich frage Sie: Welche Perspektive haben Sie denn mit
55 Jahren? Für Qualifizierung und für Arbeit sind sie zu
alt und für die Rente zu jung. Es bleibt Ihnen nur noch
Hartz IV übrig. Damit müssen Sie sich dann bis zu Ihrer
Rente, die überhaupt nicht üppig sein wird, durchwurschteln. So kann es hier einfach nicht weitergehen.
({1})
Seit Jahren wird der Begriff des „robusten deutschen
Arbeitsmarktes“ gebetsmühlenartig wiederholt. Das Einzige, was in den letzten Jahren wirklich robust und anhaltend schlecht gewesen ist, waren aber die Jobchancen
der Menschen mit dem größten Problem am Arbeitsmarkt. Damit meine ich die Langzeiterwerbslosen - von
diesen haben Sie, Frau Ministerin Nahles, nämlich fast
gar nicht gesprochen -, die Menschen mit Behinderung
und die älteren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer;
denn die Jobchancen für diese Menschen werden immer
schlechter, und deren Zahl erhöht sich immer mehr.
Schon jetzt sind über 1 Million Menschen langzeitarbeitslos. Auch die Zahl der schwerbehinderten Arbeitslosen
stieg auf 186 000 weiter an. Einen deutlichen Anstieg auf
619 000 gibt es aber gerade bei den über 55-Jährigen.
Hier zeigen sich natürlich auch die ersten Auswirkungen der Erhöhung des Renteneintrittsalters. Herr
Schiewerling, ich sage Ihnen: Das hat nichts mit Solidarität zu tun, sondern das ist einfach nur ein Rentenkürzungsprogramm. Das können wir so nicht hinnehmen.
({2})
Selbstverständlich sorgt die Rente erst ab 67 nicht dafür, dass mehr ältere Arbeitslose einen Job bekommen.
Diese vergessenen Menschen erwarten Antworten von
der Bundesregierung darauf, wie auch sie wieder am Arbeitsmarkt teilhaben können. Oder sollen die Jobcenter
nur noch Statistikverwahrstationen sein? Ich frage Sie,
ob das so weitergehen soll.
Fast die Hälfte der arbeitslosen Menschen verfügt
mittlerweile über keine abgeschlossene Berufsausbildung mehr. Gleichzeitig wird Abertausenden Betroffenen der Zugang zur Weiterbildung verwehrt. Diese Arbeitsmarktpolitik ist eine Geisterfahrt sondergleichen
und muss endlich gestoppt werden.
({3})
Dazu gehört die Einführung eines Rechtsanspruchs
auf Weiterbildung. Wir brauchen einen Rechtsanspruch
auf Weiterbildung. Das ist notwendig, und deswegen
brauchen wir einen Kurswechsel in der Arbeitsmarktpolitik.
({4})
Dazu gehört auch ein öffentlich geförderter Beschäftigungssektor, der anständig entlohnt und Perspektiven für
die Betroffenen bietet. Im Wahlprogramm, Frau Ministerin Nahles, war der soziale Arbeitsmarkt noch eine Forderung von Ihnen. Leider ist er irgendwo verschüttgegangen. Sich nur auf leicht vermittelbare Erwerbslose zu
konzentrieren und den Rest seinem Schicksal zu überlassen, ist aus unserer Sicht gleichermaßen unchristlich wie
unsozial.
Liebe Frau Nahles, tun Sie mir einen Gefallen: Treten
Sie nicht in die Fußstapfen der ehemaligen Arbeitsministerin von der Leyen. Lassen Sie die Chance, es besser zu
machen, nicht verstreichen.
Danke schön.
({5})
Vielen Dank. - Ich darf die nachfolgenden Rednerinnen und Redner noch einmal daran erinnern, bitte die
vorgegebene Redezeit einzuhalten. - Das Wort für die
CDU/CSU-Fraktion hat jetzt die Kollegin Sabine Weiss.
({0})
Schönen Dank, Frau Präsidentin, ich werde mich an
Ihre Worte halten. - Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Die Bundeskanzlerin hat uns
gestern daran erinnert: Deutschland hat eines der besten
Sozialversicherungssysteme der Welt.
Als Entwicklungspolitikerin kenne ich viele Länder,
in denen die Menschen froh wären, solche Bedingungen
wie wir hier zu haben. Diese Länder sind wirklich weit
davon entfernt, auch nur im Entferntesten eine solch
gute soziale Absicherung für ihre Menschen wie wir zu
haben. Wir sollten manchmal auch über den Tellerrand
schauen, bevor wir immer alles negativ reden.
({0})
Wir müssen natürlich immer wieder um den Erhalt und
die Stabilität unserer sozialen Sicherungssysteme ringen.
Das werden wir in den nächsten vier Jahren mit Vehemenz tun. Die Pläne hierzu liegen seit langer Zeit offen
auf dem Tisch.
Wir sind mit einem guten Ergebnis aus der Wahl hervorgegangen und haben in intensiven Verhandlungen
- Frau Griese, Sie haben mir gestern gesagt, dass wir in
unserer Arbeitsgruppe über 100 Stunden verhandelt haben - mit unserem politischen Partner einen guten Koalitionsvertrag ausgehandelt. Jetzt geht es endlich ans Umsetzen.
Lassen Sie mich ein paar Worte zur aktuellen Situation sagen. Wir, die Union, sind im Wahlkampf angetreten, um zum Beispiel die Mütterrente, Verbesserungen
bei der Erwerbsminderungsrente und Verbesserungen im
Zusammenhang mit dem Rehadeckel einzuführen. Gemeinsam mit der SPD haben wir dann vor Wochen die
Sabine Weiss ({1})
Rente mit 63 Jahren nach 45 Beitragsjahren im Koalitionsvertrag vereinbart.
Vier Freunde von mir, alle im Rentenalter, fragten
mich am letzten Wochenende: Was macht ihr denn jetzt
in Berlin?
({2})
Ihr habt doch im Wahlkampf und im Koalitionsvertrag
eine Rentenreform versprochen. Jetzt liest man jeden
Tag in der Zeitung neue Kritik daran: Die Pläne seien
nicht bezahlbar, die Rentenkasse würde geplündert, Alt
und Jung würden gegeneinander ausgespielt usw.
({3})
Ich habe Ihnen gesagt - hören Sie zu - und sage das
auch hier und jetzt: Lasst euch doch nicht verrückt machen. Tatsache ist: Die Parteien, die jetzt die Regierungskoalition bilden, haben im Wahlkampf Versprechen zur
Verbesserung von Rentenleistungen abgegeben. Jetzt
werden diese Versprechen, die in den Koalitionsvertrag
Eingang gefunden haben, umgesetzt. Das sind wir unseren Wählern schlicht schuldig.
({4})
Jetzt, nach kurzer Zeit - das ist schon gesagt worden,
vielen Dank, Frau Ministerin -, haben wir für die parlamentarische Beratung bereits den Gesetzentwurf zum
Rentenpaket vorliegen. Für viele - auch das möchte ich
noch einmal betonen - scheint das geradezu ein Aha-Erlebnis zu sein, obwohl alle darin aufgeführten Punkte
schon seit langer Zeit in Wahlprogrammen und letztlich
im Koalitionsvertrag festgeschrieben waren.
Wir haben Leistungsverbesserungen für die Menschen vorgesehen. Folgendes soll umgesetzt werden:
Erstens. Für Menschen mit verminderter Erwerbsfähigkeit werden künftig die Grundlagen für die Rentenberechnung verbessert. Das führt zu einer merklich höheren Erwerbsminderungsrente.
Zweitens. Für Mütter und Väter, die vor 1992 geborene Kinder erzogen haben, verbessert sich die Anrechnung der Kindererziehung von 12 auf 24 Monate oder
eben um 1 Rentenpunkt. Der Unterschied bei der Berücksichtigung von Erziehungsleistungen bei Kindern,
die vor und nach 1992 geboren wurden, verringert sich,
wird aber nicht vollständig abgeschafft.
Drittens. Es soll eine abschlagsfreie Rente mit 63 Jahren nach 45 Beitragsjahren ermöglicht werden. Hier
müssen im Laufe der parlamentarischen Debatte natürlich noch wesentliche Details geklärt werden. Die Bundesministerin hat uns hierfür die Tür weit geöffnet. Zum
Thema Missbrauch bei der Frühverrentung könnte ich
mir bzw. könnten wir uns - Karl Schiewerling hat das
heute mit uns einmal besprochen - durchaus vorstellen,
über eine Stichtagsregelung nachzudenken,
({5})
um hier vielleicht eine solide, sichere, gerechte, aber
auch verfassungskonforme Lösung zu finden.
Dank der guten Lage in der Wirtschaft und auf dem
Arbeitsmarkt - auch das kann man nicht kaputtreden;
denn es ist so - haben sich die Zuflüsse in die Rentenkasse erhöht und sogar zu einer guten Rücklage geführt.
({6})
Diese Rücklage besteht etwa zu einem Drittel aus Bundesmitteln; denn Rentenpolitik ist immer auch Gesellschaftspolitik. Daher zahlt auch der Bund neben den
Beitragszahlern in das Rentenversicherungssystem ein,
um eben dessen Stabilität zu gewährleisten.
Den Behauptungen, die immer wieder herumgeistern
- Herr Kurth, jetzt spreche ich einmal Ihre Sprache -,
wie „Griff in die Rentenkasse“, „Finanzierung von
Wahlgeschenken auf Kosten der Jungen“ und „übermäßige Belastung der Beitragszahler“, kann ich daher an
dieser Stelle nur widersprechen. Denn die jetzt vorgeschlagenen Leistungsverbesserungen
({7})
werden - das haben wir auch nie verhehlt, weder im
Wahlprogramm noch im Koalitionsvertrag - zum großen
Teil aus den Bundeszuschüssen bezahlt. Weil wir die demografische Entwicklung im Blick behalten müssen, hat
die Bundesministerin - sie hat das auch so gesehen - in
ihrem Entwurf steigende Zuschüsse des Bundes ab 2018
zur Finanzierung dieser Leistungszulagen vorgesehen.
({8})
Meine Damen und Herren der Opposition, ich möchte
dazu noch etwas Persönliches sagen. Meine Mutter freut
sich wie Zigtausende andere Mütter und einige Väter
sehr über die Mütterrente.
({9})
Dabei geht es ihr nicht nur um das Geld, sondern insbesondere um die Anerkennung und die Würdigung ihrer
Erziehungsleistungen. Das ist auch ein gesellschaftspolitisches Thema.
({10})
Meine Mutter hat drei Kinder geboren und diese dann als
junge Witwe unter großen Anstrengungen zu, wie
Freunde von mir jetzt sagen würden, prima Menschen
gemacht.
Ja, wir wollen, dass sich Lebensleistung in der Rente
auszahlt. Etwa 9 Millionen Frauen und einige Männer
haben vor vielen Jahren mit ihrer Erziehungsleistung
entsprechend dem damals üblichen Lebensentwurf
- auch das muss man sich vergegenwärtigen - auf ihre
Sabine Weiss ({11})
Art und Weise zum Generationenvertrag beigetragen.
Sie sollen dafür auch einen höheren Zuschlag zur Rente
erhalten.
({12})
Der Wahlkampf ist vorbei. Die Wähler haben entschieden.
({13})
Wir lösen unsere Versprechen ein und werden die Aufgaben, die vor uns liegen, positiv angehen und in sachgerechten, durchaus heftigen Debatten nach den besten und
gerechtesten Lösungen suchen.
Ja, es gibt viel zu tun. Aber wir packen es an.
Herzlichen Dank.
({14})
Vielen Dank. Sie haben Ihr Versprechen wunderbar
eingehalten, Frau Kollegin Weiss. - Nächste Rednerin in
der Debatte ist jetzt Brigitte Pothmer, Bündnis 90/Die
Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich will
jetzt einen kleinen Themenwechsel vornehmen. Ich bin
erstaunt darüber, dass in dieser Debatte das Thema Mindestlohn bisher kaum eine Rolle gespielt hat.
({0})
- Frau Nahles hat es angesprochen - das ist richtig -,
aber die Debattenrednerinnen und -redner kaum. Vielleicht hat das auch etwas damit zu tun, dass es in dieser
Frage nicht gerade Einigkeit in der Koalition gibt.
Als ich die Debatte in den letzten Wochen verfolgt
habe, hatte ich eher den Eindruck, dass Union und SPD
ganz unterschiedliche Koalitionsverträge unterschrieben
haben. Frau Nahles hat heute noch einmal gesagt: Die
SPD steht für einen gesetzlichen Mindestlohn und will
eine verlässliche Lohnuntergrenze schaffen.
Die CDU und vor allem die CSU fordern eine Ausnahme nach der anderen: kein Mindestlohn für Schüler
und Studenten, kein Mindestlohn für Rentner, kein Mindestlohn für Langzeitarbeitslose, kein Mindestlohn für
Saisonarbeiterinnen und Saisonarbeiter, kein Mindestlohn für Zeitungsausträger, kein Mindestlohn für Taxifahrer usw. usf.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, wer
soll nach Ihren Vorstellungen eigentlich einen Mindestlohn kriegen?
({1})
Genauso wenig, wie Sie nur aus Löchern einen Käse machen können, können Sie aus massenhaften Ausnahmen
einen Mindestlohn machen.
({2})
Das sage ich ausdrücklich, obwohl auch ich der Auffassung bin, dass die Einführung eines Mindestlohnes sensibel angegangen werden muss.
({3})
Aber es geht Ihnen überhaupt nicht um sinnvolle und
notwendige Ausnahmen, zum Beispiel für Auszubildende oder für Praktikantinnen und Praktikanten während der Ausbildung und des Studiums. Ich persönlich
bin im Übrigen der Auffassung, dass wir keine Anreize
dafür setzen dürfen, dass junge Menschen keine Ausbildung machen.
Aber Sie wollen etwas ganz anderes: Sie wollen einen
Niedriglohnsektor unterhalb des Mindestlohns schaffen.
Das machen wir nicht mit.
({4})
Mit dieser Politik werden Sie dafür sorgen, dass Niedriglöhner Mindestlöhner vom Arbeitsmarkt verdrängen.
Wenn das Sinn Ihrer Politik ist, stoßen Sie bei uns auf erbitterten Widerstand.
({5})
Richtig hanebüchen finde ich den Vorschlag von Herrn
Seehofer. Herr Seehofer möchte den Mindestlohn an den
sozialen Status knüpfen. Wenn jemand noch andere Einkünfte hat wie Rentnerinnen und Rentner oder Studierende, dann soll er keinen Mindestlohn bekommen. Sollen
dann - das fragen Sie bitte einmal Herrn Seehofer in meinem Auftrag - Ehefrauen von gutverdienenden Ehemännern auch keinen Mindestlohn bekommen? Da gibt es
doch auch noch ein anderes Einkommen. Wollen wir
Menschen, die in Wohngemeinschaften leben, überprüfen,
ob sie noch andere Einkommen haben? Sind Einnahmen
aus Mieten und Pachten oder das Erben Gründe für den
Ausschluss vom Mindestlohn? Nein, Herr Seehofer hat
hier etwas grundfalsch verstanden.
({6})
Der Mindestlohn ist keine bedarfsgeprüfte Sozialleistung. Der Mindestlohn ist eine Lohnuntergrenze, die vor
Lohndumping schützen soll.
({7})
Ich bin froh, dass nicht das Bayerische Landrecht, sondern die Verfassung in der gesamten Bundesrepublik
gilt. Die Verfassung ist hier sehr eindeutig. Sie lässt eine
Ungleichbehandlung dieser Art nicht zu.
({8})
Meine Redezeit ist ungerechtfertigterweise inzwischen abgelaufen.
({9})
Aber lassen Sie mich bitte noch eine Bemerkung an die
Adresse von Frau Nahles machen. Liebe Frau Nahles,
ich bin in tiefer Sorge um die Arbeitslosen und insbesondere um die Langzeitarbeitslosen. Wir waren in der letzten Legislaturperiode schon weiter. Seit an Seit habe ich
mit meinen sozialdemokratischen Freunden für einen
sozialen Arbeitsmarkt gekämpft, weil wir längst verstanden hatten, dass die Konzepte, die wir bisher für Langzeitarbeitslose hatten, nicht mehr ausreichen. Wo ist Ihr
Engagement geblieben? Ich sage Ihnen eindeutig: Sie
unterschätzen das Problem der Spaltung auf dem Arbeitsmarkt. Ich unterschätze es nicht. Ich biete Ihnen unsere Unterstützung dabei an. Machen Sie etwas daraus!
({10})
Frau Kollegin Pothmer, Sie waren sehr großzügig mit
der Redezeit.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Katja Mast, SPDFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Diese Koalition hat viele Verbesserungen
gerade in der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik im Koalitionsvertrag festgeschrieben. Das wirklich Neue an dieser Koalition ist, dass wir diese auch umsetzen.
({0})
Ich kann nur sagen: In der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik geht es vorwärts. Wir werden in vier Jahren einen
flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn gleichermaßen in Ost und West umsetzen
({1})
- gleicher Lohn für gleiche Arbeit, Schritt für Schritt für
Frauen und Männer -, Leiharbeit und Werkverträge regulieren, die Mitbestimmung erhöhen, die Eingliederungshilfe reformieren, eine Kultur der zweiten Chance
in der Ausbildung schaffen, eine Jugendberufsagentur
durchsetzen, eine assistierte Ausbildung einführen, um
nur einige wenige Punkte zu nennen. Hier in der Arbeitsmarkt- und Arbeitnehmerpolitik ist unser Leitbild, eine
gerechte und neue Ordnung auf dem Arbeitsmarkt zu
schaffen sowie den Fachkräftebedarf der Zukunft zu
decken.
({2})
Unser erstes Gesetzesvorhaben, über das heute schon
hinreichend diskutiert wurde, ist das Rentenpaket von
unserer Bundesarbeits- und -sozialministerin Andrea
Nahles. Es beinhaltet vier wichtige Punkte. Ich will die
beiden als Erstes nennen, über die am wenigsten diskutiert wird: die massive Verbesserung der Erwerbsminderungsrente - in diesem Punkt haben wir übrigens fraktionsübergreifend einen Konsens ({3})
und die Anhebung des Rehadeckels; Carola Reimann hat
dazu Hinreichendes gesagt. Die weiteren beiden Punkte
sind die Mütterrente und - für uns Sozialdemokratinnen
und Sozialdemokraten ein Herzensanliegen - die abschlagsfreie Rente nach 45 Versicherungsjahren.
Es ist ein Trugschluss - das wird hier ja die ganze Zeit
behauptet -, zu glauben, das alles werde nur aus Beitragsmitteln finanziert;
({4})
denn ein Drittel der Rücklagen in der Rentenversicherung sind Steuermittel, Kolleginnen und Kollegen.
({5})
Es muss klar sein, dass bei der abschlagsfreien Rente
nach 45 Versicherungsjahren eine Verschlechterung für
die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer von der SPD
nicht toleriert werden würde. Vielmehr sind die Arbeitgeber dafür verantwortlich, dass es keine Frühverrentungsprogramme gibt.
({6})
Die Arbeitgeber sind diejenigen, die die Verträge am
Ende des Tages unterschreiben. Deshalb liegt die Verantwortung für dieses Thema genau dort.
({7})
Wir wollen mit dem Rentenpaket Lebensleistungen anerkennen und soziale Sicherheit verbessern.
Ich will nun, weil ich finde, dass die Menschen in
unseren Diskussionen immer etwas zu kurz kommen,
einmal einen Streifzug quer durch Deutschland machen,
um zu zeigen, was sich durch unsere Politik in den
nächsten vier Jahren verbessern wird.
Da sind Sonja und ihr Onkel Christian aus Saarbrücken, die beide künftig durch den flächendeckenden
gesetzlichen Mindestlohn mehr in der Tasche haben übrigens wie ihre Verwandten in Altenburg auch.
Da sind Eva und ihr Freund Markus aus Tuttlingen,
die nun eine feste Planungsgrundlage für ihr Leben haben, weil ihr Leiharbeitsvertrag in einen Vertrag über
eine Festanstellung umgewandelt wird.
({8})
Da sind der Gewerkschafter Hendrik und sein Bruder
Helge - Helge ist Unternehmer in Leipzig -, die sich
darüber freuen, dass künftig Tarifverträge einfacher für
allgemeinverbindlich erklärt werden können.
({9})
Frau Kollegin Mast, gestatten Sie eine Zwischenfrage
der Kollegin Zimmermann?
Ich würde gerne meine Ausführungen zu diesem
Punkt noch beenden, ich bin gerade mittendrin. Das ist
ein bisschen schwierig.
({0})
Aber Sie dürfen dann direkt, wenn ich mit Hendrik und
Helge fertig bin, die Zwischenfrage stellen, okay?
({1})
- Ich beeile mich, so lange dauert es nicht.
Also noch einmal: Der Gewerkschafter Hendrik und
sein Bruder Helge, der Unternehmer aus Leipzig, freuen
sich, weil Tarifverträge leichter für allgemeinverbindlich
erklärt werden können. Da fragt man sich ja zunächst
einmal: Wieso freuen sich ein Unternehmer und ein Gewerkschafter über das Gleiche? Die freuen sich deshalb
über das Gleiche, weil künftig bei Ausschreibungen
nämlich nicht mehr der gewinnt, der Dumpinglöhne
zahlt. Deshalb ist das für beide gut.
({2})
Jetzt, Frau Kollegin Zimmermann, können Sie gerne
Ihre Zwischenfrage stellen - unter der Voraussetzung,
dass die Präsidentin es zulässt.
Ich lasse das zu. - Frau Kollegin Zimmermann.
Danke schön, liebe Kollegin Mast. - Sie reden hier so
inbrünstig über die Umsetzung des Mindestlohns für
alle, deshalb habe ich eine Frage. Im Koalitionsvertrag
steht, dass die Umsetzung erst 2017 erfolgt. Habe ich das
richtig verstanden? Denn dann stellt sich ja die Frage:
Schaffen Sie das bis zum Ende dieser Legislaturperiode,
oder wird das nur für die nächste vorbereitet werden?
({0})
Liebe Frau Kollegin Zimmermann, wie das immer so
ist: Es ist schlecht, wenn man nur die Hälfte eines Koalitionsvertrages zitiert. Sie wissen sehr genau, dass der
flächendeckende gesetzliche Mindestlohn in Höhe von
8,50 Euro 2015 in Ost und West kommt. Nur dort, wo
Tarifverträge etwas anderes regeln, tritt diese Regelung
zwei Jahre später in Kraft. Wir sind stolz darauf, dass
wir das erreicht haben. Wir haben dafür acht Jahre lang
gekämpft und setzen das jetzt in dieser Koalition um.
({0})
Ich will zu dem vierten Beispiel bei meinem Streifzug
quer durch Deutschland kommen: Die beiden Schwestern Mia und Svenja aus Flensburg freuen sich nämlich
darüber, dass sie von unserem Entgeltgleichheitsgesetz
profitieren und Männer und Frauen Schritt für Schritt
gleiches Geld für gleiche Arbeit bekommen.
({1})
Und Opa Günter aus Bremen sagt: Es ist toll, dass
meine Lebensleistung endlich anerkannt wird und ich
demnächst, nach 45 Jahren Arbeitsleben und Rentenversicherungsbeitragszahlungen, abschlagsfrei in Rente
gehen kann.
Ich will auch eine Frau aus meinem Wahlkreis erwähnen: Christine Glauner aus meinem Wahlkreis Pforzheim/Enzkreis - sie lebt in Birkenfeld - hat mir auf einem Neujahrsempfang gesagt, dass sie es echt klasse
findet, dass die Erziehungsleistung von Müttern künftig
besser angerechnet wird - Stichwort „Mütterrente“. Sie
hat vor 1992 drei Kinder auf die Welt gebracht: Sabine,
Regina und Susanne. Sie wird künftig 84,42 Euro mehr
Rente bekommen. Auch das wird ihre Situation verbessern.
({2})
Frau Kollegin Mast, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage?
Mein Vorschlag ist: Lassen Sie mich meinen Streifzug
fertig machen. Die Kollegin kann dann nach dem Ende
meiner Rede eine Kurzintervention machen.
Kurt aus Hannover ({0})
- wir können auch gerne den Kollegen Klaus aus Bayern
nehmen, aber ich hätte an der Stelle Kurt aus Hannover
anzubieten ({1})
- wird künftig eher der Rehaantrag genehmigt, weil wir
nämlich die Deckelung bei den Rehaleistungen gelockert
haben.
Der Fliesenleger Jupp aus Köln,
({2})
der Erwerbsminderungsrente beantragt, weil er einen
Knieschaden hat, wird künftig im Schnitt ungefähr
35 Euro mehr als heute im Monat bekommen.
Die alleinerziehende Ulrike aus Kassel bekommt mit
30 Jahren endlich eine zweite Chance auf Ausbildung,
nachdem sie ihre erste Ausbildung abgebrochen hatte,
als sie Mutter wurde. Jetzt wird ihr eine zweite Ausbildung finanziert.
Monika aus Hof freut sich darüber, dass sie, nachdem
sie ihren Vater Otto zwei Jahre gepflegt hat, ihre befristete Teilzeitstelle wieder in eine Vollzeitstelle umwandeln kann.
({3})
Das alles wird sich durch unsere Politik verändern.
Das alles sind Schicksale von Menschen, die ganz
konkret von unserer Politik profitieren. Dafür lohnt es
sich, vier Jahre gemeinsam Politik in dieser Koalition zu
machen. Dazu sage ich: Vorwärts in der Arbeitsmarktund Sozialpolitik in Deutschland.
({4})
Danke schön, Frau Kollegin Mast. - Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich jetzt der Kollegin
Vogler.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Liebe Kollegin
Mast, ich bedanke mich für diese umfangreiche Aufzählung all derjenigen, die profitieren. Ich möchte an der
Stelle dieser Aufzählung gerne noch jemanden hinzufügen. Ich kenne Edelgard aus Emsdetten - ich weiß gar
nicht, ob sie Edelgard heißt -, die kürzlich in mein Wahlkreisbüro kam, sich fürchterlich aufregte und sagte, ihr
Sohn habe zu ihr gesagt: Mensch, das ist jetzt toll mit der
Großen Koalition. Du bekommst ja demnächst richtig
viel Geld durch diese sogenannte Mütterrente.
Darauf hat sie ihm gesagt: Bist du eigentlich bekloppt? Ich habe fünf Kinder großgezogen. Ich habe
mein Leben lang bis zur Rente in der Textilindustrie gearbeitet, und zwar für 6 D-Mark die Stunde; das war
nicht so viel. Was bekomme ich? Okay, ich habe jetzt
höhere Rentenansprüche von 100 oder 120 Euro, aber
das wird mir sofort von der Grundsicherung abgezogen,
weil meine Rentenansprüche insgesamt nicht so hoch
sind, dass ich das Geld behalten darf.
Das ist das Problem. Es gibt eine große Gruppe von
Leuten, die auch Lebensleistungen erbracht haben und
nicht profitieren. Die Frau, die ihr Leben lang gearbeitet
hat und fünf Kinder großgezogen hat, hat überhaupt
nichts von Ihren Plänen. Das entwertet nicht die Sachen,
die gut sind, aber ich finde, man sollte schon die ganze
Wahrheit vortragen.
({0})
Vielen Dank. - Frau Kollegin Mast, möchten Sie antworten?
Frau Kollegin, Sie haben natürlich damit recht, dass
in unserem Sozialstaat der Grundsatz gilt, dass steuerfinanzierte Grundsicherungsleistungen der letzte Anker
sind, um Menschen, die um ihre Existenz bangen müssen, zu unterstützen. Deshalb haben wir das Prinzip in
unserem Sozialstaat, dass man sich zuerst selbst helfen
muss, bevor die Solidargemeinschaft mit Steuermitteln
eingreift. Dass das zu Härten führt, ähnlich wie die, die
Sie gerade am Beispiel der Mutter von fünf Kindern geschildert haben, weiß ich. Ich habe selbst einmal von Sozialhilfe gelebt und weiß, in welchen Existenzängsten
und Sorgen die Menschen sind, die Sozialhilfe beziehen.
Aber es ist dennoch ein gutes Prinzip unseres Sozialstaates, zu sagen: Hilf dir zuerst selbst, dann helfen dir auch
alle anderen. - Das ist auch deshalb so wichtig, weil wir
nur damit die Akzeptanz für diese Leistungen in unserer
Gesellschaft schaffen.
({0})
Vielen Dank. - In der Hoffnung, dass wir jetzt die
Lust auf Zwischenfragen vielleicht etwas eindämmen,
erteile ich dem Kollegen Ernst von der Fraktion Die
Linke das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Es liegt mir ja fern, die Regierung zu verteidigen, wie Sie wissen. Aber ich finde, es gibt ein Argument, das Sie, Herr Kurth, überdenken sollten: Sie sollten einmal darüber nachdenken, dass Menschen mit
45 Versicherungsjahren in der Regel natürlich auch
45 Jahre in das System eingezahlt haben. Dann ist es
durchaus adäquat, dass man genau diese Menschen früher in Rente gehen lässt. Sie zahlen im Übrigen länger
ein als jemand, der mit 30 nach dem Studium in dieses
System hineinkommt. - Ich glaube, diese Überlegung ist
nicht ganz falsch. Wie Sie es umsetzen, ist etwas anderes.
Ich möchte vor allen Dingen über die Regulierung
von Arbeit reden, die die Regierung in ihr Programm
aufgenommen hat. Ich stelle fest, Frau Nahles: kleine
Schritte in die richtige Richtung; der große Wurf gelingt
nicht; die eigentlichen Probleme werden nicht angegangen.
({0})
Ich sage Ihnen, an welchen Punkten das zutrifft. Ich
nehme einmal den Mindestlohn. Da hat Kollegin
Pothmer richtigerweise das gesagt, was zu den Ausnahmeregelungen zu sagen ist. Bei einem Punkt bin ich mir
nicht ganz sicher, Frau Pothmer: Was wollen Sie mit denen machen, die jung sind, aber keine Ausbildung haben? Wollen Sie ihnen den Mindestlohn verweigern, damit man keine falschen Anreize setzt? Sie sind ja dann
möglicherweise Aufstocker. Das verstehe ich noch nicht
ganz.
Ich bin dafür, möglichst keine Ausnahmen beim Mindestlohn zuzulassen. Ich möchte Frau Nahles den Tipp
geben: Lassen Sie sich da nicht von all denen beirren,
die hinsichtlich der Ausnahmen herumstänkern. Diese
Leute wollen den Mindestlohn eigentlich überhaupt
nicht.
({1})
Abgesehen davon, dass es natürlich positiv ist, dass es
den Mindestlohn überhaupt gibt: Warum ändert sich vor
2015 überhaupt nichts? Das ist die erste Frage. Warum
wird der flächendeckende gesetzliche Mindestlohn für
alle erst am 1. Januar 2017 Realität? Schließlich sind ja
vorher diejenigen mit Tarifverträgen die Gekniffenen,
wenn sie schlechtere Tarife haben. Diese Personen bleiben ja bei niedrigeren Löhnen.
Der flächendeckende Mindestlohn erfährt nach dem
Koalitionsvertrag seine erste Erhöhung am 1. Januar
2018. Ja, bitte schön, warum? Wissen Sie, was? Im Jahre
2018 wird das, was heute bzw. 2010, als der DGB diese
Forderung erhoben hat, noch 8,50 Euro sind oder waren
- ich habe es mir ausgerechnet -, 7,23 Euro sein. Was
Sie im Koalitionsvertrag vereinbart haben, ist eine systematische Entwertung des Mindestlohns. Dazu muss ich
sagen: Da muss bei der Gesetzgebung deutlich nachgebessert werden. So können wir dies nicht akzeptieren,
meine Damen und Herren.
({2})
Nun zur Leiharbeit. Auch das ist ein Punkt, der von
besonderer Bedeutung ist. Sie haben ja gesagt: Wir wollen die Würde von Menschen wiederherstellen. - Wir
wissen: Leiharbeit entwürdigt Menschen sehr häufig. Ja,
Sie regulieren ein wenig. Sie sagen: Ab dem neunten
Monat in einem Arbeitsverhältnis bekommen Leiharbeiter gleichen Lohn für gleiche Arbeit. - Das ist löblich.
Aber Sie wissen doch genau, dass 50 Prozent der in
Leiharbeit Beschäftigten in dem Unternehmen, an das
sie ausgeliehen sind, nur drei Monate sind; dann sind sie
wieder weg. Die geplante Regelung geht zumindest an
denen, die als Leiharbeiter nur drei Monate in einem Unternehmen arbeiten, vollkommen vorbei. Personen, die
neun Monate und länger Leiharbeit in demselben Unternehmen verrichten, gibt es natürlich noch weniger. Die
meisten Leiharbeiter haben von dieser Regelung
schlichtweg nichts.
Außerdem wollen Sie die Leiharbeit auf 18 Monate
befristen. Die wenigsten, die in Leiharbeit in einem Betrieb tätig sind, tun dies 18 Monate lang. Die meisten
Leiharbeiter sind dort schon früh wieder heraus. Das bedeutet, Sie schaffen ein reines Placebo. In der Realität
kommt bei den Beschäftigten nichts an. Sie regulieren in
dieser Frage so gut wie nicht.
Werkverträge, Frau Nahles: Die Betriebsräte haben
nicht wirklich das Recht, an ihnen etwas zu ändern. Das
Informationsrecht reicht dazu nicht aus. Man informiert
die Betriebsräte, dass man etwas Bestimmtes tut, und
macht genauso weiter wie vorher. Sie haben an diesem
Punkt nichts geändert.
Bei der Befristung kann ich im Koalitionsvertrag
überhaupt keine Neuregelung erkennen. Wir wissen,
dass insbesondere Jugendliche nur noch befristet eingestellt werden. Das zu ändern, haben wir überhaupt keine
Regelung. Sie haben mit dem, was Sie im Koalitionsvertrag festgehalten haben, eins überhaupt nicht erreicht:
dass Sie Arbeit wieder in vernünftiger Weise regulieren.
Das geht an der Realität vollkommen vorbei.
Deshalb sage ich Ihnen: Ich hoffe, dass Sie an dieser
Stelle deutlich nachbessern. Das, was ich gesagt habe
- kleine Schritte -, reicht zur Bekämpfung der Probleme
am Arbeitsmarkt überhaupt nicht aus, wenn Sie das Ziel,
das zu erreichen Sie sich vorgenommen haben, auch tatsächlich erreichen wollen, nämlich die Würde der Menschen am Arbeitsmarkt wiederherzustellen.
({3})
Da springen Sie mit Ihrem Koalitionsvertrag vollkommen zu kurz.
({4})
Vielen Dank. - Für die CDU/CSU-Fraktion spricht
jetzt der Kollege Stracke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Deutschland geht es gut. Wie kaum ein
anderes Land sind wir in solch einer Stärke aus der Finanz- und Wirtschaftskrise herausgegangen. Die Wirtschaft erlebt einen nach wie vor andauernden Aufschwung. Die Beschäftigungszahlen liegen auf
Rekordniveau. Die Sozialkassen sind prall gefüllt. Das
ist der Erfolg unserer Arbeitnehmer und der deutschen
Wirtschaft, und das ist der Erfolg der unionsgeführten
Regierung unter Bundeskanzlerin Angela Merkel.
({0})
Wirtschaftliches Wachstum ist Grundlage für Arbeit,
Wohlstand und soziale Sicherheit. Wo nichts erwirtschaftet wird, da gibt es auch nichts zu verteilen. Die
deutsche Wirtschaft hat sich in den letzten Jahren hervorragend entwickelt und bleibt weiterhin auf Wachstumskurs. Das Ifo-Institut hat beispielsweise festgestellt,
dass wir im letzten Jahr den weltweit größten Exportüberschuss erzielt haben. Wenn man ins Inland blickt:
Die Kauflaune ist prima. Alles das lässt uns zuversichtlich in die Zukunft schauen.
Das gilt gleichermaßen für den deutschen Arbeitsmarkt. Die Beschäftigtenzahlen - wir haben jetzt auch
die aktuellen Zahlen für den Januar 2014 auf dem Tisch haben mit mehr als 40 Millionen einen Höchststand erreicht. Davon sind mehr als 29 Millionen Erwerbstätige
in sozialversicherungspflichtigen Arbeitsverhältnissen.
Wenn wir einmal in unsere Nachbarländer wie Italien,
Frankreich oder Spanien blicken, so dürfen wir uns in
diesem Land über eine sehr geringe Jugendarbeitslosigkeit von 7,5 Prozent freuen. Das ermutigt uns, in diesem
Bereich so weiterzugehen. Wir wollen, dass Jugendarbeitslosigkeit endlich der Vergangenheit angehört.
({1})
Wir haben in den letzten Jahren hierzu die richtigen Weichenstellungen vorgenommen.
Das zeigt: Die Erfolge sind uns alles andere als in den
Schoß gefallen. Die Erfolge sind das Ergebnis von verantwortungsvoller Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik. Jetzt
gilt es, darauf nicht auszuruhen, sondern dem Grundsatz
zu folgen: Derjenige, der stehen bleibt, fällt zurück. Deswegen gehen wir mit diesen Reformen weiter.
Die robuste Lage auf dem Arbeitsmarkt mit steigender Tendenz bei den Löhnen und Beschäftigtenzahlen
hat den Sozialkassen auch steigende Einnahmen beschert. Der Rekordüberschuss im Jahr 2012 von
15,8 Milliarden Euro wurde zu einem Großteil direkt an
die Beitragszahler und Leistungsempfänger zurückgegeben. Damit sind wir erstmals seit über 17 Jahren wieder
deutlich unter der 19-Prozent-Grenze angekommen. Der
Gesamtsozialversicherungsbeitrag liegt unter 40 Prozent. Das bedeutet: Beitragszahler und Rentner profitieren gleichermaßen. Das ist verantwortungsvolle Sozialund Arbeitsmarktpolitik, so wie wir sie verstehen.
({2})
Für die neue, nun anstehende 18. Legislaturperiode
gilt: Deutschland soll es am Ende dieser Wahlperiode
besser gehen als heute. Wir werden alles daransetzen,
dass die Menschen in unserem Land eine aussichtsreiche
Zukunftsperspektive haben. Deshalb gilt für uns: keine
Steuererhöhung und keine neuen Schulden. Wir werden
die Wettbewerbsfähigkeit stärken und die Investitionen
erhöhen; denn wir setzen auf die Leistungsträger in diesem Land und unterstützen auch weiterhin diejenigen
Menschen, die der Solidarität der Gemeinschaft bedürfen. Deutschland hat einen starken Sozialstaat. Die Sozialleistungen liegen insgesamt bei 760 Milliarden Euro
pro Jahr. Wir bekennen uns ausdrücklich zu diesen Leistungen; denn sie nutzen den Menschen.
Das Bundeskabinett hat nun ein Rentenpaket auf den
Weg gebracht. Ich möchte hier einen Punkt herausstellen, der der CSU besonders wichtig ist und für uns den
vorrangigsten rentenpolitischen Fortschritt darstellt: die
Mütterrente. Meine lieben Kolleginnen und Kollegen,
wir wollen starke, vitale Familien. Die Familien bilden
das Rückgrat unserer Gesellschaft. Familien gewähren
Geborgenheit und Freiheit. Sie schaffen den Raum, dass
gerade junge Menschen ihre Fähigkeiten entdecken und
entfalten können und starke, selbstbewusste Persönlichkeiten werden, die sich aktiv in unsere Gesellschaft einbringen. Geht es unseren Familien gut, geht es unserer
gesamten Gesellschaft gut. Unsere Politik ist es deshalb,
die Familien in Deutschland zu unterstützen und zu stärken.
Deshalb streichen wir keine einzige Familienleistung.
Im Gegenteil: Wir werden sie ausbauen. Wir setzen auf
Krippenausbau und Betreuungsgeld, und wir sorgen für
Leistungsgerechtigkeit. Kindererziehung ist Persönlichkeits- und Herzensbildung. Kindererziehung geht nicht
einfach so nebenbei, sondern ist harte, echte Arbeit, und
die Mütterrente ist eine ganz klare Anerkennung dieser
Erziehungsleistung, ist Lohn für Arbeit.
({3})
Sie schließt zugleich zu einem guten Stück die bestehenden Gerechtigkeitslücken bei der Bewertung von Erziehungszeiten älterer und jüngerer Frauen mit Kindern. Es
ist ein großer Erfolg, dass wir die Mütterrente durchgesetzt haben.
Wir stehen auch hinter der abschlagsfreien Rente
nach 45 Beitragsjahren. Wer sein Erwerbsleben lang solidarisch in die Rentenkasse eingezahlt hat, darf auch im
Alter Solidarität erwarten. Die CSU hat sich schon immer für die Menschen starkgemacht, die besonders lange
und körperlich hart gearbeitet haben. Bei der Rente mit
63 gilt es, darauf zu achten, dass sie auf diejenigen konzentriert bleibt, die besonders lange rentenversicherungspflichtig beschäftigt waren. Indem wir auf die besondere Bindung zur Rentenkasse achten, sollen die
Tüchtigen und Fleißigen belohnt werden. Darum wollen
wir bei der konkreten Ausgestaltung die Gespräche in
diese Richtung lenken.
Wir dürfen vor allem - das hat die Bundesregierung
anerkannt - keine neuen Frühverrentungsanreize setzen.
Deswegen werden wir auch hier die Vorschläge, die auf
dem Tisch liegen, prüfen und dann zu einem Ergebnis
kommen, das der Solidarität zwischen den Generationen
Rechnung trägt.
({4})
Das gilt auch für das Thema Mindestlohn. Wir haben
immer gesagt: Wer Vollzeit arbeitet, soll davon auch angemessen leben können. - Ein zentraler Baustein dafür
ist Bildung und Ausbildung. Sie entscheiden maßgeblich
über die Zukunft eines jeden Einzelnen. Wir fördern deshalb alle Talente und lassen niemanden auf der Wegstrecke zurück.
Das gilt im Übrigen auch für die Menschen mit Behinderung. Wir werden in den nächsten Jahren ein Bundesleistungsgesetz auf den Weg bringen, das zum einen
Entlastungen für die Kommunen und zum anderen auch
konkrete Verbesserungen für die Menschen mit Behinderung enthalten wird. Für uns ist die Teilhabe an der Gesellschaft und am Arbeitsleben entscheidend. Das wollen wir weiter ausbauen.
({5})
Aufgabe der Sozialpartner wird es auch sein, weiterhin für einen gerechten Lohn zu sorgen; das ist das Prinzip der Tarifautonomie. Es hat sich in der Vergangenheit
bewährt und muss auch in der Zukunft so bleiben. Deswegen werden wir im Dialog mit Arbeitgebern und Arbeitnehmern aller Branchen, in denen der Mindestlohn
wirksam werden wird, diese Themen beraten und dabei
auch über Ausnahmen diskutieren. Genauso haben wir
es im Koalitionsvertrag niedergelegt. Er ist ein guter Anknüpfungspunkt für alle anstehenden Gespräche in diesem Bereich. Wir wollen uns an der Lebenswirklichkeit
orientieren, und an nichts anderem.
Ich bin zuversichtlich, dass wir am Ende zu guten Ergebnissen kommen werden. Der Start der Koalition
stimmt mich hier optimistisch. Wir haben mit dem Rentenpaket ein wichtiges Gesetzesvorhaben auf den Weg
gebracht, und zwar in Rekordzeit. Das zeigt: Die Koalition funktioniert. Daran werden wir bei der künftigen
Zusammenarbeit anknüpfen, zum Wohle der Menschen
in diesem Land.
({6})
Vielen Dank. - Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen spricht jetzt die Kollegin Corinna Rüffer.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie auch mich jetzt noch einmal von Löhnen
sprechen. Wer im Arbeitsbereich einer Werkstatt für
Menschen mit Behinderung arbeitet, verdiente im Jahr
2011 im Durchschnitt 180 Euro monatlich. Das ist von
einem Mindestlohn kilometerweit entfernt. Die Zahl der
Werkstattplätze ist in den letzten Jahren immer weiter
gewachsen.
Wie sieht es für Menschen mit einer Beeinträchtigung
auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt aus? In meinem
Wahlkreis arbeitet eine Richterin, die vermutlich nie
mehr als 2 600 Euro auf dem Konto haben wird, egal
wie gut ihr Gehalt ausfällt. Denn wer einen etwas umfangreicheren Unterstützungsbedarf hat - diesen haben
Menschen mit Behinderung - und diesen aus Sozialhilfeleistungen decken muss, kann sich qualifizieren und
Geld verdienen, so viel er will: Einkommen und Vermögen werden angerechnet.
Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.
Art. 3 unseres Grundgesetzes ist nicht missverständlich
formuliert. Das bedeutet, es muss angemessene Unterstützungsleistungen dort geben, wo sie nötig sind.
({0})
Menschenrechte gelten für Menschen mit und ohne Behinderungen. Wir müssen garantieren, dass sie auch
wahrgenommen werden können. Dieses Ziel haben wir
in Deutschland nicht erreicht. So wie es aussieht, wird es
noch lange dauern.
Die neue Bundesregierung ist erst kurz im Amt, und
ich schicke eines vorweg: Ich hoffe aufrichtig, dass sie
hier ernsthaft voranschreiten wird. Mit Blick auf den
Koalitionsvertrag habe ich allerdings Zweifel. Was ich
dort finde, sind unseriöse Finanzierungszusagen. Sie
versprechen als prioritäre Maßnahme, die Kommunen
jährlich in Höhe von 1 Milliarde Euro von den Kosten
der Eingliederungshilfe zu entlasten, nach Verabschiedung eines weiterentwickelten Leistungsrechts sogar um
5 Milliarden Euro. Wenn man jetzt zusammenrechnet,
wie viel Sie insgesamt ausgeben möchten und wie viel
Geld Sie zur Verfügung haben, wird deutlich: Diese Milliarden werden so bald nicht fließen. Woher soll das
Geld auch kommen? Die Steuern werden Sie nicht erhöhen; das haben wir gerade noch einmal gehört. In der
Rentenpolitik werfen Sie mit Geld um sich, als gäbe es
kein Morgen.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen in den Ländern und
den Kommunen, diese 5 Milliarden Euro bekommen Sie
so schnell nicht zu Gesicht. Ob diese Koalition das Leistungsrecht inhaltlich fundiert weiterentwickeln wird,
steht in den Sternen. Konkrete Zusagen, mit denen man
rechnen kann, finden sich im Koalitionsvertrag jedenfalls nicht. Sie möchten ein modernes Teilhaberecht entwickeln und Menschen mit Behinderungen „aus dem
bisherigen ‚Fürsorgesystem‘ herausführen“. Bedeutet
das, Menschen mit Behinderungen müssen in Zukunft
nicht mehr ihr Einkommen und Vermögen einsetzen, um
gleiche Chancen zu haben wie nicht behinderte Menschen? Versprechen möchten Sie das ganz offensichtlich
nicht. Und ob Sie echte Alternativen zu Werkstattarbeitsplätzen anzubieten haben, bleibt nebulös. Sie möchten
den Übergang erleichtern und dazu Erfahrungen mit dem
Budget für Arbeit einbeziehen. Damit bleiben Sie hinter
den Forderungen Ihrer eigenen Landesregierungen zurück.
({2})
Die machen sich nämlich deutlich für einen dauerhaften
Lohnkostenzuschuss als Nachteilsausgleich stark.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es war zuletzt die
rot-grüne Bundesregierung, die das Leistungsrecht für
Menschen mit Behinderungen systematisch weiterentwickelt hat. In der Zwischenzeit haben wir eine Behindertenrechtskonvention ratifiziert, die es nun umzusetzen
gilt. Die letzte Bundesregierung hat hier nicht viel erreicht, die neue bleibt inhaltlich vage, und sie weckt bei
den Kommunen Erwartungen, die sie so nicht erfüllen
wird. Aber bitte, überraschen Sie mich.
({3})
Vielen Dank, Frau Kollegin Rüffer. - Das war Ihre
erste Rede, und ich gratuliere Ihnen im Namen des gesamten Hauses.
({0})
Nächster Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Peter Weiß, CDU/CSU-Fraktion.
({1})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Unsere Bundeskanzlerin Angela Merkel hat in ihrer gestrigen Regierungserklärung für die kommenden vier Jahre dieser
Legislaturperiode ein sehr klares und eindeutiges Ziel
vorgegeben: Es soll den Menschen in unserem Land in
vier Jahren besser gehen als heute.
({0})
Das soll vor allen Dingen für die Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer in unserem Land gelten. Wir starten mit
guten Voraussetzungen: mit einem Höchststand der Beschäftigung in Deutschland und der Perspektive, dass
wir das in den kommenden Jahren fortsetzen. Erst gestern hat der Sparkassen- und Giroverband mitgeteilt,
dass er davon ausgeht, dass das Wirtschaftswachstum in
diesem Jahr besser ausfällt, als es ursprünglich prognostiziert war.
({1})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich finde,
dass das, was in unserem Land gut läuft, bei allem Bemühen der Opposition, etwas Kritisches zu finden, nicht
schlechtgeredet werden sollte; denn es ist der Erfolg der
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und der UnterPeter Weiß ({2})
nehmen in unserem Land, dass wir auf einen so guten
Stand gekommen sind.
({3})
Das heißt aber: Wer gut ist, muss auch den Ehrgeiz
haben, besser zu werden. Diesen Ehrgeiz haben wir von
der Großen Koalition. Das heißt für uns vor allen Dingen, dass wir Arbeit, die die materielle Grundlage unseres Lebens und den Zusammenhalt sichert, zum zentralen Thema unserer Koalitionsvereinbarung gemacht
haben. Das heißt, dass wir eben nicht nur eine Regelung
zu einem Mindestlohn verabredet haben, sondern insgesamt für gute und bessere Entlohnung in Deutschland
sorgen wollen, dass wir zum Beispiel dafür sorgen wollen, die Erklärung der Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen zu erleichtern.
Die Sozialpartnerschaft, die Vereinbarungen zwischen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern und ihren
Gewerkschaften und Arbeitgebern und ihren Verbänden,
war die Grundlage des wirtschaftlichen Erfolgs in
Deutschland und soll es auch in Zukunft sein. Wir wollen die Sozialpartnerschaft und die Tarifautonomie stärken, damit gut bezahlte Arbeit in Zukunft eine erfolgreiche Entwicklung in Deutschland möglich macht und wir
mehr Steuern einnehmen, um das bezahlen zu können,
was wir im Koalitionsvertrag niedergeschrieben haben,
vor allen Dingen auch, um unsere sozialen Sicherungssysteme zu stärken. Das ist für uns zentral: Arbeit, bessere Arbeit, gut bezahlte Arbeit. Es ist das zentrale Anliegen unserer Koalition.
({4})
Das heißt auch, dass wir uns um die Qualität der Arbeit kümmern. Meine sehr geehrten Damen und Herren,
wenn die Zahl psychischer Erkrankungen im Arbeitsumfeld immer deutlicher zunimmt, dann zeigt sich: Arbeitsschutz kann nicht nur technischer Arbeitsschutz sein; es
muss auch ein Arbeitsschutz sein, der die psychische
Gesundheit unserer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer umfasst. Deswegen haben wir verabredet: Wir wollen gemeinsam mit den Gewerkschaften, den Arbeitgeberverbänden und den Sozialversicherungen die
Prävention stärken und dazu beitragen, dass Menschen
gesund durch das Arbeitsleben und bis zur Rente kommen. Wir wollen das betriebliche Gesundheitsmanagement stärken und damit einen wesentlichen Beitrag dazu
leisten, dass Menschen in ihrem Arbeitsleben gesund
bleiben und gesund in Rente gehen können.
({5})
Das ist auch eine Zielsetzung unserer Rentenreform.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, wenn in diesem
Zusammenhang mangelnde Generationengerechtigkeit
beklagt wird, verstehe ich das nicht ganz. Wenn wir sagen, dass wir den Schutz für Menschen mit Erwerbsminderung, die aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr
Vollzeit arbeiten können, verbessern wollen, dann ist das
auch eine Zusage an die Jungen. Denn sie wissen: Wenn
es darauf ankommt, leistet die Rentenversicherung etwas
für mich. Wenn wir die Rehaleistungen der Rentenversicherung verbessern, dann ist das auch eine Zusage an
die Jungen, die wissen sollen, dass sie in einem Arbeitsleben, in dem sie länger arbeiten sollen als die heutigen
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, darauf zählen
können: Wenn es gesundheitliche Probleme gibt, dann
ist die Rentenversicherung leistungsfähig und finanziert
eine Rehamaßnahme.
({6})
Ich finde, das ist ein Aspekt, der wesentlich zur Generationengerechtigkeit der Rente beiträgt.
({7})
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, es ist in der Debatte schon vieles zum Thema Mütterrente, die meines
Erachtens ein Stück weit für Gerechtigkeit sorgt - sie
sorgt auch für Generationengerechtigkeit -, und zur abschlagsfreien Rente nach 45 Beitragsjahren mit 63 gesagt worden. Was mich an der öffentlichen Debatte und
auch an der Kritik der Opposition wundert: Alle Maßnahmen dieses Rentenpakets standen genau so im Wahlprogramm der Union
({8})
und im Wahlprogramm der SPD.
({9})
Was haben die Bürgerinnen und Bürger, die uns gewählt
haben, für eine Erwartung? Dass wir das, was im Wahlprogramm steht, auch umsetzen.
({10})
Herr Kollege Weiß, gestatten Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Ernst?
Bitte schön.
Bitte schön, Herr Kollege Ernst.
Herr Kollege Weiß, recht herzlichen Dank. - Sie haben gerade gesagt: Die Mütterrente steht so im Wahlprogramm.
({0})
Dann würde ich gerne wissen, wo in Ihrem Wahlprogramm steht, dass Sie diese Mütterrente nicht aus Steuermitteln finanzieren wollen.
Sehr geehrter Herr Kollege Ernst, die deutsche Rentenversicherung erhält zur Zeit aus dem Bundeshaushalt
Peter Weiß ({0})
jährlich einen Steuerzuschuss in Höhe von knapp
12 Milliarden Euro für Kindererziehungszeiten.
({1})
- Ich beantworte Ihnen Ihre Frage zur Finanzierung. Davon wird aktuell nur ein Teilbetrag für die Finanzierung der Kindererziehungszeiten ausgegeben. Deswegen
sagen wir: Wir wollen den Beitrag des Bundes künftig
zu 100 Prozent in Anspruch nehmen. Ab dem Jahr 2019
werden wir zusätzliche 2 Milliarden Euro Bundeszuschuss dazugeben;
({2})
denn richtig ist: Die Anerkennung von Kindererziehungszeiten ist nicht nur eine Sache der Beitragszahlerinnen und Beitragszahler, sie ist eine Sache der Allgemeinheit. Deswegen sollen auch alle Steuerzahlerinnen
und Steuerzahler zur Finanzierung der Mütterrente beitragen.
({3})
Zu einer Gesellschaft, die zusammenhält, gehört
auch, dass Menschen mit Behinderungen mitten unter
uns leben, gleichberechtigt und gleich anerkannt sind. Es
ist großartig, dass sich diese Große Koalition nach vielen
Diskussionen und auch gescheiterten Anläufen vorgenommen hat, die Eingliederungshilfe für Menschen mit
Behinderung zu reformieren. Dabei werden auch noch
die Kommunen entlastet. Auch das ist richtig. Die großartige Zusage an die Menschen mit Behinderung in unserem Land ist: Ja, mit uns kommt die Reform der Eingliederungshilfe.
({4})
Es ist ein gutes Zeichen, Frau Bundesministerin
Nahles, dass Sie Frau Bentele, die selbst mit einer Behinderung lebt, zur neuen Beauftragten der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen gemacht haben. Ich möchte an dieser Stelle unserem Kollegen
Hubert Hüppe, der in den letzten vier Jahren in der Bundesregierung für diese Aufgabe verantwortlich war, ein
herzliches Dankeschön für sein großartiges Engagement
aussprechen.
({5})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich will zum
Schluss feststellen: Ja, wir stehen zu dem, was in unserem Wahlprogramm stand und was wir, die Große Koalition, im Koalitionsvertrag vereinbart haben. Deswegen
gilt in den kommenden vier Jahren für uns klar und eindeutig bei Arbeit, Sozialem und Rente: Wir halten Wort.
Vielen Dank.
({6})
Vielen Dank. - Für die CDU/CSU-Fraktion spricht
jetzt die Kollegin Jana Schimke.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Heute veröffentlichte die Bundesagentur für Arbeit die aktuellen Arbeitsmarktzahlen. Demnach entwickelt sich der Arbeitsmarkt trotz saisonaler Effekte
weiter positiv.
({0})
Wir starten mit guten Voraussetzungen in diese Legislatur. Noch nie seit der Wiedervereinigung waren so
viele Menschen in sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung wie heute: 30 Millionen. Noch nie zuvor
waren so viele Menschen sozial abgesichert wie heute.
Die Welt schaut auf uns - dank Rekordbeschäftigung
und der niedrigsten Jugendarbeitslosigkeit in Europa.
Wir sind Vorbild, sowohl in der Ausbildungspolitik als
auch in der Beschäftigungs- und Sozialpolitik.
Bisher haben wir zugunsten von Wohlstand und Wirtschaftlichkeit die richtigen Entscheidungen getroffen,
({1})
oft gegen Widerstände; denn dieser Erfolg wurde durch
grundlegende strukturelle Reformen hart erarbeitet.
({2})
Politik, Sozialpartner und Beschäftigte haben ihren Beitrag geleistet. Wir sind das Zugpferd in Europa, und das
wollen wir auch bleiben.
({3})
Die neue Bundesregierung ist mit dem Ziel angetreten, diesen erfolgreichen Kurs weiter fortzuführen.
Gleichwohl liegen eine Reihe von Problemen vor uns:
Der demografische Wandel wird unsere sozialen Sicherungssysteme künftig aufs Ärgste fordern. Generationengerechtigkeit ist daher keine Floskel oder irgendetwas,
was uns nicht betrifft, sondern sie ist gelebte Verantwortung und das Mindeste, was wir heute für morgen tun
können.
({4})
Am Arbeitsmarkt werden unsere Betriebe mit dem
Fachkräftemangel konfrontiert. Unsere Betriebe müssen
ihre Personalarbeit also künftig völlig neu definieren.
Dennoch gehen viele der Unternehmen bei der Suche
nach Fachkräften leer aus. Erst vor kurzem musste die
Bundesagentur für Arbeit die Liste der sogenannten
Mangelberufe erweitern. In 2020 werden 1,7 Millionen
Fachkräfte am Arbeitsmarkt fehlen. Diese Lücke wird
sich bis 2035 mehr als verdoppeln. Inzwischen konkurrieren nicht mehr nur Regionen und Branchen um ausreiJana Schimke
chendes Personal; auch der kleine Mittelständler muss
sich in Konkurrenz zu großen Unternehmen am Arbeitsmarkt bewähren.
Wir haben uns für diese Wahlperiode viel vorgenommen. Dass zuallererst Vorhaben im Bereich der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik zur Entscheidung anstehen,
spricht für sich. Eines muss klar sein: Das richtige Maß
bei unseren Entscheidungen wird am Ende darüber entscheiden, wie sich die Lage am Arbeitsmarkt und in unseren sozialen Sicherungssystemen weiterentwickelt.
Das sage ich Ihnen als Abgeordnete, die nicht nur relativ
jung ist, sondern auch in den neuen Ländern zu Hause
ist. Wir wissen schon jetzt, dass eine Lohnuntergrenze,
ein Mindestlohn ohne Einschränkung, in den neuen Ländern Arbeitsplätze kosten wird. Auch das gehört zur
Wahrheit.
({5})
Es ist gut, dass der Koalitionsvertrag die Möglichkeit
zur Rücksichtnahme auf mögliche Probleme einräumt.
Ich denke ganz persönlich zum Beispiel an das Kinderferienlager, das Langzeitarbeitslosen in den Sommermonaten Beschäftigung gibt. Ich denke an so manchen Schüler, dem sich im jugendlichen Leichtsinn nicht auf den
ersten Blick der Vorteil einer dreijährigen Berufsausbildung gegenüber einer ungelernten Tätigkeit mit kurzfristig höherem Einkommen erschließt. Ich denke auch an
die kleinen familiengeführten Hotelbetriebe, die in einer
strukturschwachen, aber landschaftlich reizvollen Region Menschen Arbeit geben. Was hier ausgegeben wird,
muss auch eingenommen werden. Gerade in solchen
kleinen Unternehmen lautet die Frage am Ende immer,
was der Kunde bereit ist zu zahlen. Es gibt politische
Stimmen, was mich persönlich immer sehr erschreckt,
die solch einem Unternehmen die Existenzberechtigung
am Markt absprechen. Doch darüber hat Politik nicht zu
entscheiden. Im Gegenteil: Arbeit ist immer besser als
Arbeitslosigkeit. Das gilt gerade auch für Menschen, die
sonst, zum Beispiel wegen einer fehlenden Ausbildung,
vollständig von der Solidargemeinschaft getragen werden müssten. Erst Arbeit ermöglicht ihnen ein finanziell
selbstbestimmtes Leben, den Weg zum beruflichen Aufstieg und vor allem auch, selbst für das Alter vorzusorgen.
({6})
Wir müssen eine Debatte darüber führen, wie wir die
Vereinbarungen des Koalitionsvertrags umsetzen können, ohne den Menschen den Weg in Beschäftigung zu
versperren. Das ist kein „Schweizer Käse“, wie neulich
eine große überregionale Zeitung titelte, sondern ein
Weg, der die Vielfalt unserer Arbeitslandschaft abbildet.
Hier gibt es nicht nur Schwarz und Weiß. Politik hat die
Aufgabe, diese Vielfalt anzuerkennen. Deshalb ist eine
gute Arbeitsmarktpolitik, die Beschäftigung fördert und
nicht abwürgt, immer auch eine gute Sozialpolitik.
({7})
Doch nicht alles, was sozial wünschenswert ist, ist
auch zu leisten. Wir haben uns entschlossen, die rentenpolitischen Entscheidungen der letzten Jahre anzugehen
und sie ein Stück weit aufzuschnüren. Ich will hier
durchaus auch Selbstkritik üben. Das ist eine teilweise
Abkehr von richtigen und wichtigen Entscheidungen der
vergangenen Jahre. Das ist auch eine Abkehr von einem
mühsam erarbeiteten gesellschaftlichen Konsens. Deshalb finde ich es sehr beruhigend, zu wissen, dass eine
Zunahme der Frühverrentungen auch nicht im Interesse
unserer Bundesarbeitsministerin ist. Ich bin sehr zuversichtlich, dass wir dies im weiteren Gesetzgebungsverfahren regeln werden.
Lassen Sie mich abschließend darauf hinweisen, dass
wir die Betriebe seit Jahren für die Beschäftigung älterer
Arbeitnehmer sensibilisiert haben: Kongresse wurden
veranstaltet, Programme gestartet, Studien erstellt und
Leitfäden entwickelt. Produzierende Unternehmen in
Deutschland haben Investitionen in altersgerechte Arbeitsplätze und ein betriebliches Gesundheitsmanagement getätigt, um Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter
möglichst lange im Unternehmen zu halten. Jetzt wird
ein anderes politisches Signal ausgestrahlt, das seine
Wirkung nicht verfehlt. Sie wissen aus Gesprächen vor
Ort ebenso wie wir, dass eine gewisse Vorfreude auf einen frühzeitigen Renteneintritt vorhanden ist. Dieses
Vorgehen birgt in der Konsequenz aber die Gefahr, dass
der Fachkräftemangel in unseren Unternehmen weiter
verschärft wird.
Das zeigt aber auch, dass die Vernunft bei wichtigen
Entscheidungen, auch wenn sie unbequem sind, nur von
diesem Hause ausgehen kann. Diese Verantwortung tragen wir heute gegenüber all jenen, die künftig einmal
Verantwortung tragen werden. Deshalb hoffe ich, dass
wir in den kommenden Monaten eine konstruktive Debatte im Sinne der Menschen für die Zukunft und für die
Generationengerechtigkeit in unserem Land führen werden.
Vielen Dank.
({8})
Vielen Dank, Frau Kollegin Schimke. Das war Ihre
erste Rede. Ich darf Ihnen im Namen des gesamten Hauses dazu gratulieren.
({0})
Letzter Redner in der Debatte ist jetzt der Kollege
Dr. Carsten Linnemann für die CDU/CSU-Fraktion.
({1})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Frau
Schimke, herzlichen Glückwunsch zu Ihrer ersten Rede.
Ich möchte daran anknüpfen und auch etwas zum Thema
Beschäftigung sagen. Wir haben jetzt viel über Sozialpolitik gesprochen. Ich bin der Überzeugung, dass die
Beschäftigungspolitik dieses Landes, die Arbeitsmarktpolitik der letzten zehn Jahre erfolgreich war. Die Beschäftigungsschwelle, der entscheidende Indikator für
gute Beschäftigungspolitik, ist von 2 Prozent auf 1 Pro748
zent gesunken. Früher brauchte man 2 Prozent Wachstum, um Beschäftigung zu erzielen, heute nur noch
1 Prozent. Das ist das Ergebnis der Politik der Arbeitsminister und -ministerin der letzten zehn Jahre. Darauf
sollte man an dieser Stelle hinweisen. Diese Politik war
gut und richtig. Wir sollten die Arbeit so fortführen.
Frau Schimke, Sie haben tolle Zahlen genannt. Ich
möchte diese ergänzen. Vor neun Jahren - ich glaube,
die Zahlen wurden sogar auf den Tag genau vor neun
Jahren genannt - gab es in Deutschland Rekordarbeitslosigkeit. Mehr als 5 Millionen Menschen hatten keine Arbeit. Exakt neun Jahre später gibt es Rekordbeschäftigung. Ähnlich sieht es bei der Langzeitarbeitslosigkeit
aus. 2005 verharrten 2,4 Millionen Menschen in der
Langzeitarbeitslosigkeit. Jetzt sind es 1,2 Millionen
Menschen.
Frau Nahles, das Thema Langzeitarbeitslosigkeit wird
- ich beziehe mich hier auch auf die Rede von Frau
Pothmer - ein Schwerpunkt unserer Arbeit sein. Das
sollte man mehr hervorheben. Im Koalitionsvertrag steht
explizit, dass wir dieses Thema in den nächsten vier Jahren angehen werden.
({0})
Das finde ich richtig, und das sollten wir auch tun.
({1})
Ein weiterer wichtiger Indikator ist die Höhe der Sozialversicherungsbeiträge. Diese sind von 42 Prozent
Anfang der 2000er-Jahre auf jetzt unter 40 Prozent gesunken. Der Beitrag zur Arbeitslosenversicherung ist
von 6,5 Prozent auf jetzt 3 Prozent gesunken. Gleichzeitig hatten wir mehr Steuereinnahmen und haben die
Neuverschuldung zurückgefahren. Diesen erfolgreichen
Weg sollten wir weitergehen. Wir erkennen, dass die Situation in Deutschland insgesamt unmittelbar mit der
Beschäftigung zusammenhängt. Deswegen sollte unser
Fokus ganz klar bei der Beschäftigungspolitik liegen.
Sie muss im Sinne der Arbeitnehmer und Arbeitgeber
dieses Landes erfolgreich sein.
({2})
Um das zu schaffen, müssen wir mehrere Schwerpunkte legen; einige wurden schon angesprochen. Ein
Schwerpunkt ist natürlich das Thema Mittelstand. Die
meiste Beschäftigung in Deutschland wird im Mittelstand geschaffen. Rund 70 Prozent der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten und 80 Prozent der Auszubildenden sind im Mittelstand. Wir in Deutschland
haben am industriellen Mittelstand festgehalten, während viele Länder sich davon verabschiedet haben. Das
muss auch Ziel der Arbeitsmarktpolitik sein.
Damit sind wir beim Thema Fachkräftemangel. Erst
vor wenigen Minuten hat der Deutsche Industrie- und
Handelskammertag das Ergebnis der aktuellen Umfrage
2014 veröffentlicht. Dies zeigt, dass das Thema Fachkräfte für jedes dritte Unternehmen essenziell für die Zukunft ist. Deswegen freue ich mich, dass auch beim
Thema Fachkräftemangel ein Schwerpunkt gesetzt wird.
Dieser ist ebenso wichtig wie die Bekämpfung der Langzeitarbeitslosigkeit.
({3})
Wir müssen auch das inländische Potenzial - damit
bin ich beim Thema Meisterbrief - stärken. Es reicht
nicht, nur die Akademikerquote zu erhöhen, sondern wir
müssen auch das duale Ausbildungssystem stärken.
Denn wir wissen, dass in Zukunft nicht nur im industriellen Mittelstand, sondern auch im Handwerk junge
Leute fehlen. Deswegen ist es gut, dass der Meisterbrief
explizit im Koalitionsvertrag verankert ist. Daran halten
wir fest; denn es ist richtig. Er garantiert nicht nur die
Qualität in den Betrieben, sondern bietet auch eine Karrieremöglichkeit für junge Leute. Er gibt ihnen den Anreiz, den Weg der dualen Ausbildung zu gehen.
({4})
Zu guter Letzt - Frau Schimke, da haben Sie völlig
recht -: Die Maßnahmen, die wir hier beschließen, müssen immer unter der Prämisse ablaufen: Schadet oder
nutzt es der Beschäftigung? Der Koalitionsvertrag liegt
vor; daran werden wir uns halten. Aber der Koalitionsvertrag lässt natürlich insoweit Spielräume zu, als es
auch Diskussionen und harte Debatten über das Thema
„Nutzt oder schadet es der Beschäftigung?“ geben wird.
Insofern finde ich es gut, dass wir bei der Frage der
Höchstüberlassungsdauer beim Thema Zeitarbeit eine
Öffnungsklausel haben und beim Thema Werkverträge
die Informationsrechte. Niemand hat auch ein Interesse
daran, dass der Mindestlohn zu einer Schwächung der
dualen Ausbildung führt. Niemand will, dass die jungen
Leute keinen Anreiz mehr haben, in die duale Ausbildung zu gehen. Über all das müssen wir diskutieren, genauso wie über das Thema „Rente mit 63“. Ich bedanke
mich bei dem Kollegen Karl Schiewerling, der auf die
Idee gekommen ist, eine Stichtagsregelung einzuführen,
um das Thema Frühverrentung nicht auf den Plan zu rufen. Das sollten wir seriös prüfen; denn wir alle haben
kein Interesse an Frühverrentungen, genauso wenig daran, bei der Rente mit 63 unbegrenzt Zeiten der Arbeitslosigkeit zuzulassen. Wir haben vielmehr ein Interesse
daran, uns hier an die vereinbarte Deckelung zu halten.
({5})
In diesem Sinne werden wir eine harte Debatte führen.
Das gehört dazu, weil wir alle ein Ziel haben, nämlich
die Beschäftigung in Deutschland nicht nur stabil zu halten,
({6})
sondern in den nächsten vier Jahren noch auszubauen.
Herzlichen Dank.
({7})
Vielen Dank. - Damit sind wir am Schluss dieses
Themenbereichs.
Ich darf Ihnen nun die von den Schriftführerinnen und
Schriftführern ermittelten Ergebnisse der Wahl der or-
dentlichen Mitglieder und der Stellvertreter des Sondergre-
miums gemäß § 3 Abs. 3 des Stabilisierungsmechanismus-
gesetzes bekannt geben: abgegebene Stimmkarten 586,
keine ungültigen Stimmen. Alle Bewerberinnen und Be-
werber erhielten die erforderliche Stimmenzahl. Gewählt
sind als ordentliche Mitglieder Norbert Barthle, Axel
Fischer, Bartholomäus Kalb, Petra Hinz, Ewald Schurer,
Dr. Dietmar Bartsch und Sven-Christian Kindler. Als
Stellvertreter wurden gewählt Klaus-Peter Flosbach,
Alois Karl, Michael Stübgen, Johannes Kahrs, Dr. Hans-
Ulrich Krüger, Roland Claus und Manuel Sarrazin. Die
genauen Stimmergebnisse können Sie dem Protokoll
entnehmen.1)
Ich rufe jetzt den Themenbereich Gesundheit auf.
Als erster Redner in dieser Debatte spricht der Bundesminister Hermann Gröhe.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Zum Sozialstaat der Bundes-
republik Deutschland gehört es ganz wesentlich, dass
sich alle Menschen in diesem Land darauf verlassen
können, dass sie im Falle der Krankheit, der Pflegebe-
dürftigkeit oder eines Unfalls menschliche Zuwendung
und qualifizierte Hilfe erfahren. In diesem Zusammen-
hang möchte ich unterstreichen, was Bundeskanzlerin
Angela Merkel in der gestrigen Regierungserklärung
formuliert hat: Die Menschlichkeit unserer Gesellschaft
muss sich gerade darin erweisen, wie wir mit schwachen
und hilfsbedürftigen Menschen umgehen.
Die Bundesrepublik Deutschland verfügt insgesamt
über ein leistungsfähiges Gesundheitswesen, das vielen
in der Welt als Vorbild dient. Die Politik hat dafür wich-
tige Rahmenbedingungen geschaffen. Den Rahmen mit
Leben füllen aber diejenigen, die in den unterschied-
lichsten Berufen im Gesundheitswesen dafür Sorge tra-
gen, dass Kranke und Pflegebedürftige angemessene
Unterstützung erfahren: unsere gut ausgebildeten Ärztin-
nen und Ärzte, Pflegerinnen und Pfleger, die Hebammen
und Therapeuten, die Apothekerinnen und Apotheker,
diejenigen, die in Industrie und Handwerk oder der For-
schung dazu beitragen, dass unsere Gesundheitsversor-
gung immer besser wird. Auch die Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter der Krankenversicherungen möchte ich nicht
vergessen. Schließlich möchte ich - das in ganz beson-
derer Weise - aber auch diejenigen erwähnen, die als Eh-
renamtliche, beispielsweise bei Besuchsdiensten für
Kranke oder Pflegebedürftige oder in der Hospizarbeit,
Eindrucksvolles leisten, um die menschliche Qualität
unseres Gesundheitswesens zu sichern.
1) Anlage 12
({0})
Wir schulden all diesen Menschen großen Dank. Wir
schulden ihnen für ihren täglichen Einsatz aber auch
gute Arbeitsbedingungen.
({1})
Sie sind in Ausbildung und Beruf unerlässlich, auch um
zukünftig über genügend Fachkräfte - das Thema Fachkräftemangel klang in dieser Debatte schon an - im
Gesundheitswesen zu verfügen. Hier wird einer der
Schwerpunkte meiner künftigen Arbeit liegen: Wir wollen Menschen für einen Gesundheitsberuf gewinnen, ja
begeistern. Unsere Pläne dafür reichen von einer umfassenden Reform der Ausbildung der Pflegekräfte über
Maßnahmen der Berufs- und Weiterqualifizierung bis
hin zum „Masterplan Medizinstudium 2020“.
Meine Damen und Herren, unser Gesundheitswesen
ist von hoher Qualität. Doch erstens kann auch Gutes
noch besser werden - nicht zuletzt dank des medizinischen Fortschritts -, und zweitens wird es angesichts der
demografischen Entwicklung und des Bevölkerungsrückgangs großer Anstrengungen bedürfen, das hohe Niveau der Versorgung in unserem Land aufrechtzuerhalten, nicht zuletzt in ländlichen Teilen unseres Landes.
Dies aber ist das zentrale Anliegen unserer Gesundheitspolitik: Wir wollen, dass alle Menschen in unserem Land
auch zukünftig Zugang zu einer Versorgung von hoher
Qualität haben, und zwar unabhängig von ihrem Wohnort und ihrem Geldbeutel.
({2})
Das gilt für die Arztpraxis genauso wie für das Krankenhaus; beide sind wesentliche Elemente der Daseinsvorsorge.
Dauerhafte Qualitätssicherung ist ein weiterer
Schwerpunkt unserer Politik. Wir können dabei an das
hohe Verantwortungsbewusstsein und fachliche Können
derjenigen anknüpfen, die in unserem Gesundheitswesen
tätig sind. Wir wollen dieses Qualitätsbewusstsein fördern und die Qualität zum Wohle der Patienten und Pflegebedürftigen noch transparenter machen. Wir müssen
uns dazu auf taugliche Maßstäbe für die ambulante und
die stationäre Versorgung verständigen, auch angesichts
des nicht enden wollenden Gelehrtenstreits, der nahezu
jedem veröffentlichten Ranking folgt. Zu diesem Zweck
werden wir ein neues Qualitätsinstitut schaffen. Es soll
dem Gemeinsamen Bundesausschuss Empfehlungen für
Maßnahmen zur Qualitätssicherung geben.
Auch die Qualitätsberichte der Krankenhäuser müssen verständlicher werden. Wichtig ist, dass sie auch die
Ergebnisse von Patientenbefragungen einbeziehen. Wir
werden den Gemeinsamen Bundesausschuss damit beauftragen, entsprechende Vorgaben zu machen.
Nicht nur bei der Behandlung, sondern auch bei der
Vermeidung von Krankheiten kommt es auf die Qualität
der Maßnahmen an. Bei dem geplanten Präventionsge750
setz geht es darum, die Förderung des gesundheitsbewussten Verhaltens eines jeden Einzelnen dadurch zu
verbessern, dass entsprechende Maßnahmen in allen Lebensbereichen - von der Kita über die Schule und den
Arbeitsplatz bis hinein in die Altenpflege - erstens verstärkt, zweitens besser miteinander verzahnt und
schließlich in hoher Qualität erbracht werden.
Zur Qualität im Gesundheitswesen gehört auch
- diese Frage wird in diesen Tagen wieder einmal öffentlich diskutiert -, dass die Menschen in angemessener
Zeit einen Termin beim Facharzt bekommen. Das gilt für
privat wie auch für gesetzlich Versicherte. Zumeist bekommt man einen Termin; überlange Wartezeiten sind
aber kein Einzelfall. Daher wollen wir, dass künftig Terminservicestellen bei den Kassenärztlichen Vereinigungen helfen, zügig einen Facharzttermin zu erhalten, oder,
falls dies nicht möglich ist, eine ambulante Behandlung
im Krankenhaus ermöglichen.
({3})
Die Ärzteschaft hat auf diesen Vorschlag mit kritischen Einwänden, aber auch mit eigenen Vorschlägen
- etwa im Hinblick auf eine differenzierte Überweisungspraxis - reagiert. Ich begrüße, dass damit Handlungsbedarf eingeräumt wird. Ich möchte es einmal so
sagen: Wenn die vorgeschlagene differenzierte Überweisungspraxis, die ja im Rahmen der Selbstverwaltung
möglich ist, gut funktioniert,
({4})
dann werden die Terminservicestellen wenig zu tun bekommen. Insofern bin ich gespannt, wie wir da zueinanderfinden.
({5})
Ein Thema, das mir persönlich ganz besonders am
Herzen liegt, sind die geplanten Verbesserungen im Bereich der Pflege. Gerade bei der Kranken- und Altenpflege leisten die Pflegekräfte nicht selten unter schwierigen Bedingungen Eindrucksvolles zum Wohle der
ihnen anvertrauten Menschen.
({6})
Oft gehen sie dabei bis an die Grenzen der eigenen Leistungsfähigkeit, ja sogar darüber hinaus. Ich selbst habe
dies als Vorsitzender der Diakonie in meiner Heimatstadt
Neuss über sieben Jahre intensiv miterlebt und dabei
prägende Einsichten gewonnen. Ich freue mich daher,
dass die Verbesserungen im Pflegebereich erklärtermaßen einen wichtigen Schwerpunkt im Handeln dieser
Bundesregierung bilden.
Nach der Erhöhung der Leistungen für Demente und
Verbesserungen im Hinblick auf die Vereinbarkeit von
Pflege und Beruf in der vergangenen Legislaturperiode
wollen wir nun die Leistungen für alle Pflegebedürftigen, ihre Angehörigen und die Pflegekräfte in zwei großen Schritten deutlich verbessern. Hier ist ein echter
Kraftakt notwendig und von uns auch in Angriff genommen worden.
({7})
In einem ersten Schritt wollen wir die Dynamisierung
von Leistungen angehen und mit der Flexibilisierung der
Leistungen und einer besseren Personalausstattung dazu
beitragen, dass der individuellen Situation eines Pflegebedürftigen besser Rechnung getragen werden kann.
Gute Pflege braucht mehr Zeit. Diese berechtigte Forderung der Pflegekräfte wollen wir umsetzen.
({8})
Dafür werden wir die Beitragssätze zum 1. Januar 2015
um 0,2 Prozentpunkte erhöhen und damit das Leistungsvolumen um 2,4 Milliarden Euro mehren. Eine weitere
Beitragserhöhung um 0,1 Prozentpunkte soll für einen
Pflegevorsorgefonds genutzt werden, um dann, wenn die
geburtenstarken Jahrgänge ins Pflegealter kommen, eine
Beitragssteigerung abzumildern.
In einem zweiten Schritt wollen wir mit einer Beitragssteigerung von noch einmal 0,2 Prozentpunkten unter anderem die erforderliche Umsetzung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs einleiten. Danach werden pro
Jahr 5 Milliarden Euro mehr für Leistungen in der Pflegeversicherung zur Verfügung stehen. Dies bedeutet eine
Steigerung des Leistungsvolumens um 20 Prozent. Das
ist ein echter Kraftakt.
({9})
Wenn wir uns ansehen, dass die Zahl der Pflegebedürftigen in den nächsten 15 Jahren von 2,5 Millionen
auf 3,5 Millionen steigen wird, dann wird völlig klar,
dass wir uns sehr anstrengen müssen, ausreichend Fachkräfte für den Pflegeberuf zu gewinnen. Wir wollen mit
einer umfassenden Reform der Pflegeausbildung, einer
einheitlichen Grundausbildung mit einer anschließenden
Spezialisierung in den Bereichen Alten-, Kranken- oder
Kinderkrankenpflege, die Möglichkeiten des Berufswechsels im Pflegebereich und die Aufstiegschancen
verbessern und so eine Grundlage für ein attraktives
Ausbildungsangebot legen, zu dem übrigens auch gehören muss, dass Schulgeld im Bereich der Altenpflege
endlich der Vergangenheit angehört.
({10})
Meine Damen, meine Herren, ein solidarisches Gesundheitswesen braucht eine verlässliche finanzielle
Grundlage. Wir werden deshalb unsere Vorstellungen
über die Weiterentwicklung der GKV-Finanzierung, die
im Koalitionsvertrag niedergelegt sind, bis Sommer dieses Jahres hier im Parlament beschließen, damit sie zum
1. Januar des nächsten Jahres in Kraft treten können. Wir
sichern damit erstens, dass Arbeitsplätze nicht durch
steigende Lohnzusatzkosten gefährdet werden - gute Arbeitsplätze sind Grundlage eines solidarischen Gesundheitswesens -, und zweitens schaffen wir damit die Voraussetzungen dafür, dass zwischen den Kassen neben
dem Wettbewerb über unterschiedliche Beitragssätze
auch ein Wettbewerb über eine möglichst effiziente Versorgung der Versicherten entsteht. Auch das sichert Qualität.
({11})
Dies gemeinsam mit allen Mitgliedern des Gesundheitsausschusses des Bundestages und des Parlaments
insgesamt sowie den Bundesländern anzupacken, ist
eine Aufgabe, auf die ich mich sehr freue.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({12})
Vielen Dank. - Ich darf alle Rednerinnen und Redner
noch einmal an die vereinbarte Redezeit erinnern.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Sabine
Zimmermann, Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Die Apotheken Umschau hat Anfang dieses
Jahres eine repräsentative Umfrage über die wichtigsten
Lebenswünsche der Menschen in unserer Republik veröffentlicht.
({0})
Der erste Wunsch, der von mehr als zwei Dritteln geäußert wurde, war, dass sie gesund bis ins hohe Alter kommen und geistig sowie körperlich fit bleiben. Ich finde
das gut und wünsche allen eine gute Gesundheit.
Jeder Mensch kann aber in die Situation kommen,
schwer zu erkranken. Wenn Sie Glück haben, sind Sie
privat versichert. Wer privat versichert ist, der braucht
sich keine Sorgen zu machen: Er bekommt schnell einen
Termin, er bekommt die besten Medikamente, und das
Einzelzimmer im Krankenhaus ist auch schon reserviert.
Aber für die Masse der Menschen gilt das eben nicht.
70 Millionen Menschen sind gesetzlich versichert und
9 Millionen privat. In der Gesundheitspolitik muss das
Prinzip gelten: Eine gute Versorgung darf nicht vom
Geldbeutel abhängen. Dafür stehen wir als Linke.
({1})
Doch die neue Bundesregierung hat sich vorgenommen, diese Zweiklassenmedizin in Deutschland aufrechtzuerhalten. Die privaten Krankenkassen werden
nicht angetastet. Die SPD hat vor der Wahl eine Bürgerversicherung gefordert, in die alle einzahlen: vom Metallbauer über die Verkäuferin bis hin zum Rechtsanwalt
und zum Abgeordneten. Aber davon ist nichts übrig geblieben. Wer krank wird, wird weiter spüren, wie teuer
das werden kann. Für fast alle Gesundheitsleistungen
sind weiter Zuzahlungen fällig, egal ob für Arzneimittel,
Krankenhausaufenthalte oder Heil- und Hilfsmittel. Wer
einen Zahn verliert oder eine Brille braucht, muss weiterhin tief in die Tasche greifen.
Die Große Koalition macht auch damit weiter, die Arbeitgeber bei der Finanzierung des Gesundheitssystems
aus der Verantwortung zu entlassen. Deren Kostenanteil
wird eingefroren; die Zusatzkosten sollen einseitig wieder einmal die Versicherten tragen. Das ist ungerecht. Da
sagen wir als Linke: So kann es nicht weitergehen.
({2})
Den Sozialausgleich für Geringverdienende streicht
die Koalition ersatzlos. Meine Damen und Herren der
Großen Koalition, Ihre Gesundheitspolitik ist sozial zutiefst ungerecht und gehört aus unserer Sicht beendet.
({3})
Ich sage Ihnen auch, was sozial ist, damit Sie vielleicht
etwas lernen, lieber Kollege. Sozial gerecht wäre es, zu
einer solidarischen und paritätischen Finanzierung der
Krankenversicherung zurückzukehren.
({4})
Aber davon wollen Sie in der Koalition gar nichts wissen.
Herr Minister Gröhe, ich muss Ihnen sagen: Sie bleiben auch eine Antwort darauf schuldig, wie eine gute
und nachhaltige Finanzierung der Gesundheitsversorgung aussehen kann. Union und SPD setzen weiter auf
Kostendruck, Wettbewerb und pauschale Vergütung. Dabei führt diese Fehlentwicklung, die schon in den letzten
Jahren zu erkennen war, zu einer dramatischen Situation.
In den vergangenen Jahren hat die Zahl bestimmter Operationen zugenommen, nur weil sie finanziell lukrativ
sind; davon haben Sie sicherlich gehört. Medizinisch ist
das oft fragwürdig.
Auf der Strecke bleiben auch die Beschäftigten im
Gesundheitssektor, vor allem in den Pflegeberufen; Sie
haben das angesprochen, Herr Minister Gröhe. Für gute
Löhne und eine ausreichende Personaldecke steht zu wenig Geld zur Verfügung. Die Arbeitsverdichtung hat zugenommen. Es sind vor allem Frauen, die diese oft lebensnotwendigen Tätigkeiten verrichten. Das, Herr
Minister Gröhe, sind die Arbeitsbedingungen in diesen
Berufen.
Ein weiterer zentraler Punkt taucht bei Union und
SPD gar nicht erst auf: Wer eine gute Gesundheit will,
muss auch dafür sorgen, dass Arbeit nicht krank macht.
Deswegen wäre es wichtig gewesen, den Vorschlag der
Gewerkschaften für eine Antistressverordnung mit auf
die Tagesordnung zu setzen. Aber Fehlanzeige!
({5})
Hier haben die Wirtschaftslobbyisten in der Union einen
verlässlichen Partner und in der SPD einen schwachen
Gegner gefunden.
Ich komme zum Schluss. Die Linke sagt klar: Die Patientinnen und Patienten müssen wieder in den Mittelpunkt des Gesundheitswesens gestellt werden. Eine gerechte Finanzierung ist notwendig, damit die Gesundheit
nicht vom individuellen Geldbeutel abhängt. Dafür werden wir als Linke weiter streiten.
({6})
Vielen Dank. - Nächster Redner in der Debatte ist
Dr. Karl Lauterbach für die SPD-Fraktion.
({0})
Danke schön. - Fürs Protokoll: Applaus von der
CDU/CSU!
({0})
Frau Präsidentin! Herr Minister! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir lernen in diesen Tagen, auch
für die Bundeskanzlerin zu klatschen, was dem einen
leichter und dem anderen schwerer fällt. Sie hat gestern
etwas Wichtiges gesagt, nämlich dass wir auf unsere soziale Marktwirtschaft stolz sein können.
Unser Gesundheitssystem ist immer ein sehr wichtiger Bestandteil in dem Gebäude der sozialen Marktwirtschaft. Aber wenn man von einer schweren Krankheit
betroffen ist, dann ist es der mit Abstand wichtigste Bestandteil. Dann ist alles andere weniger bedeutsam.
Ich werde jeden Tag mit Menschen konfrontiert, die
eine schwere Erkrankung befürchten oder tatsächlich davon erfasst werden. Ich persönlich bekomme sehr viele
dieser Einzelschicksale in der Verzweiflung unmittelbar
mitgeteilt, ob unklarer Befund oder klarer Befund. Dann
geht es um die Frage: Wie geht es jetzt weiter?
Das erlebe ich jeden Tag. Ich helfe gerne, wo ich
kann. Aber daher ist mir die Debatte, die wir führen,
wichtig. Die Qualität unseres Gesundheitssystems, die
dazu führt, menschliches Leid zu vermeiden und den Familien Sorgen zu nehmen, entscheidet in der Tat, genau
wie der Minister gesagt hat, über die Qualität unseres
Sozialstaates. Das darf man nicht verhetzen oder kleinreden. Das ist für den Einzelnen im Falle der Betroffenheit
der wichtigste Bestandteil des Sozialstaats. Wir sind in
der Pflicht, diesen Teil des Sozialstaats handwerklich gut
auszubauen, in der Qualität zu verbessern und bezahlbar
zu halten.
({1})
Die Qualität der Versorgung - darauf komme ich
gleich zu sprechen - wird in dieser Legislaturperiode
wichtige Initiativen erfahren. Ich gehe aber erst einmal
auf einen Teil ein, der die Wirtschaftlichkeit betrifft. Wir
werden in dieser Legislaturperiode die kleinen Kopfpauschalen, die Gesundheitsprämie, abschaffen. Es wird immer relativiert: Das ist kein großer Schritt; das ist nicht
so wichtig; der Solidarausgleich fällt weg, usw., usf. Ich
darf daran erinnern: Wir haben gemeinsam zehn Jahre
dafür gekämpft, liebe Kolleginnen und Kollegen von
den Grünen und auch von der Linkspartei, dass die
Kopfpauschalen fallen. Uns ist das jetzt gelungen. Da
wäre ein kleines Maß an Anerkennung angemessen gewesen.
({2})
Diese Kopfpauschalen wären eine Bedrohung für das
Solidarsystem gewesen. Das darf man nicht kleinreden.
Es wäre doch so gewesen: Die Kassen, die viele Geringverdiener versichern, wären von den Kopfpauschalen
besonders betroffen gewesen und hätten Leistungen
kürzen müssen. Das wissen Sie doch. Sie wären von den
Kopfpauschalen bedroht gewesen und hätten Mitgliederverluste befürchtet, und sie hätten daher wichtige
Leistungen, insbesondere in der vorbeugenden Medizin,
gestrichen. Hätten wir das gewollt? Das wäre eine Katastrophe gewesen.
Wir haben dagegen gekämpft, und wir haben das erreicht. Dabei hat übrigens auch die gemeinsame Oppositionsarbeit in der letzten Legislaturperiode eine wichtige
Rolle gespielt, für die ich mich bei dieser Gelegenheit
noch einmal bedanken möchte. Aber bitte vergesst das
nicht. Das war ein gemeinsames Ziel, und das haben wir
umsetzen können. Es ist auch der Union dafür zu danken, dass sie diesen Weg mit uns gemeinsam mutig gegangen ist.
({3})
Was die Pflegereform angeht, haben wir es in der
Pflege mit doppelter Armut zu tun. Dort ist die Situation
so: Diejenigen, die in der Pflege arbeiten, können oft von
der Arbeit, die sie leisten, nicht leben. Bei denjenigen,
die in der Pflege versorgt werden, sind oft nicht nur die
zu Pflegenden arm, sondern die ganze Familie kann darüber arm werden.
Wenn wir jetzt insgesamt 5 Milliarden Euro mehr in
die Pflege bringen, dann ist das prozentual die größte
Erweiterung eines solidarischen Systems, unseres
Sozialstaates, die wir je beschlossen haben. Das ist eine
Erweiterung um fast 25 Prozent. Wer hier im Haus hat
die Ausdehnung eines System um 25 Prozent in einem
Schritt, also in einer Legislaturperiode, in Erinnerung?
Das ist eine sehr wichtige Initiative.
Die Kollegin von der Linken hat die Arbeitgeber angesprochen. Die Erweiterung wird zur Hälfte von den
Arbeitgebern bezahlt. Es kann nicht die Rede davon
sein, dass die Arbeitgeber hier geschont werden. Wir gehen vielmehr gemeinsam diesen Weg: Arbeitgeber und
Arbeitnehmer verbessern die Pflege in Deutschland, entbürokratisieren sie und werden sie finanziell auf eine
viel bessere Säule setzen. Darauf können wir stolz sein.
({4})
Mir läuft die Zeit davon. Ich will es kurz machen und
komme zur Qualität zurück, weil sie mir ein besonderes
Anliegen ist. Ich erlebe es selbst jeden Tag, dass die
Qualität der Versorgung das Wichtigste überhaupt ist,
wenn der Einzelne betroffen ist. Dann fragt man nicht
mehr nach dem Kassenbeitrag. Dann fragt man auch
nicht mehr, ob gesetzlich oder privat. Dann fragt man:
Ist das, was jetzt gemacht wird, tatsächlich medizinisch
sinnvoll? Entspricht das dem wissenschaftlich gesicherten Stand? Komme ich an die Versorgung heran, die ich
benötige? Lassen Sie uns hier im Hohen Haus ehrlich
sein: Das ist in vielen Fällen nicht der Fall, auch bei
Privatversicherten nicht. Das hängt damit zusammen,
dass wir nach wie vor Defizite in der Fortbildung haben.
Viele Bereiche sind nicht gut untersucht. Vieles ist auch
nicht so gut organisiert, wie es eigentlich unserem Land
anstünde. Daher ist die Qualitätsinitiative - 300 Millionen Euro durch einen Innovationsfonds in Verbindung
mit einem neuen Qualitätsinstitut und Datentransparenz,
sodass wir eine neue Ära der Versorgungsforschung starDr. Karl Lauterbach
ten können - ganz wichtig; das darf man nicht unterschätzen.
Uns wird es in dieser Legislaturperiode gelingen, das
System effizienter und gerechter zu machen. Ich lade
alle ein - auch die Kolleginnen von der Opposition -,
uns im Ausschuss konstruktiv zu begleiten, sodass wir
auf gute handwerkliche Weise unser Solidarsystem und
somit auch die soziale Marktwirtschaft weiter nach
vorne bringen.
Vielen Dank.
({5})
Vielen Dank, Herr Lauterbach. - Jetzt hat das Wort
Elisabeth Scharfenberg für Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr Gesundheitsminister, Sie machen seit einigen Tagen ganz große pflegepolitische Ankündigungen.
Darin stehen Sie, ehrlich gesagt, Ihrem Vorgänger in
nichts nach. Das kennen wir aus den vergangenen Jahren
schon zur Genüge. Erwarten Sie bitte dafür von uns zumindest zum jetzigen Zeitpunkt kein Lob.
({0})
Sie sind uns erst einmal Antworten und Lösungen schuldig. Wie werden Sie das alles machen? Wie werden Sie
denn die Bürokratie eindämmen? Wie werden Sie mehr
Geld für die Pflegekräfte bereitstellen? Wie werden Sie
mehr Auszubildende gewinnen, und wie werden Sie
- das ist ganz besonders wichtig - die Minutenpflege abschaffen? Dazu, Herr Gröhe, sagen Sie nichts. Stattdessen liest man gleichzeitig in der Presse, dass Sie die
Reform des Pflegebegriffs doch eher für eine „akademische Diskussion“ halten. An dieser Äußerung erkennt
man bei allem Respekt, Herr Minister: Sie haben einfach
keine Ahnung.
({1})
Sonst wüssten Sie, dass ein neuer Pflegebegriff ein Ende
der Minutenpflege und übermäßiger Bürokratie ermöglichen kann. Der neue Pflegebegriff kann die Ungleichbehandlung Demenzkranker beenden und Teilhabe an
der Gesellschaft ermöglichen. Er kann, wenn man es
wirklich will. Aber diesen Willen sehe ich bei Ihnen zum
jetzigen Zeitpunkt nicht.
({2})
Herr Gröhe, wir werden den Verdacht nicht los, dass
Sie sich von der Reform des Pflegebegriffs freikaufen
wollen. Ihre Umschreibung, dass Sie den Pflegebegriff
einleiten wollen, ist weit entfernt von einer Umsetzung;
das macht es noch deutlicher. Sie wollen den Menschen
ab dem nächsten Jahr ein paar kleine Leistungsverbesserungen zukommen lassen und sie damit ruhigstellen.
Natürlich wird das einigen Menschen helfen. Aber gerade die demenziell Erkrankten erhalten dadurch immer
noch keinen klaren Anspruch auf Leistungen der Pflegeversicherung. Das geht nur mit dem neuen Pflegebegriff.
({3})
Herr Gröhe, Sie gehen den bequemen, aber falschen
Weg Ihres Vorgängers Daniel Bahr weiter. Das ist fachlich falsch, und es ist auch feige. So erreichen wir keine
Trendwende.
Dann zur Finanzierung. Es ist gut, dass die Große
Koalition mehr Geld für die Pflege in die Hand nehmen
will. Aber es muss nachhaltig und gerecht zugehen.
Auch davon sind Sie sehr weit entfernt. Die Privatversicherten werden sich weiterhin dem Solidarsystem entziehen. Die Einnahmebasis wird nicht verbreitert. Der
unsinnige Pflege-Bahr bleibt. Stattdessen kommen Sie
uns mit einem Pflegevorsorgefonds. Wenn Sie uns schon
nicht glauben, dann glauben Sie doch wenigstens namhaften Ökonomen oder auch der Bundesbank: Dieser
Fonds funktioniert nicht.
({4})
Herr Minister, seit vielen Jahren bestimmt die Pflegeversicherung über Wohl und Wehe von pflegebedürftigen Menschen. Sie sollten genauso wie wir die Probleme
im System kennen. Es gibt keine ordentlich funktionierende Selbstverwaltung, keine wirkliche Transparenz,
keine wirklich neutrale Beratung, keine existierende
Gerechtigkeit, keine Teilhabemöglichkeit, keine
Wunsch- und Wahlmöglichkeit sowie keine wirkliche
Entlastung für die pflegenden Angehörigen. Die Pflegekräfte gehen an ihre Grenzen und darüber hinaus. Und
Sie schauen weiterhin weg.
Warum wollen Sie wieder im Klein-Klein arbeiten,
wenn wir doch wissen, dass die Baustelle so groß ist?
Sie rücken mit Hammer und Meißel im Gepäck an, und
das, wo wir doch eine so große Baustelle zu bedienen
haben und die Werkzeuge wirklich größer sein müssten.
({5})
Nun noch zu Ihnen, meine lieben Kolleginnen und
Kollegen aus der SPD: Wir waren uns doch weitgehend
einig darüber, was in Zukunft bei der Pflege passieren
muss. Warum haut denn jetzt keiner von euch auf den
Tisch und sagt, dass wir diese Reform brauchen und
nicht ständig nur an den kleinen Rädchen drehen dürfen.
Was wir nicht brauchen, ist wieder eine Leistungsverbesserung hier und eine Leistungsverbesserung dort. Das ist
konzeptionslos, und das macht eine wirkliche Trendwende in der Pflege am Ende des Tages viel schwerer.
Frau Kollegin, Sie denken an Ihre Redezeit?
Ich komme gleich zum Ende. - Noch dazu kostet das
strategielose Gewurstel mindestens genauso viel wie
eine große Reform. Und das tragen Sie auch noch auf
dem Rücken der Jungen aus.
Herr Minister, Generationengerechtigkeit heißt nicht
nur, für die Älteren zu sorgen, sondern auch die Jungen
und deren Belastung im Auge zu behalten. Eine Pflegeoffensive sieht ganz anders aus. Und eine Mehrheit
von 80 Prozent im Parlament könnte offensiver und mutiger sein. Herr Minister, prägende Einsichten bei der
Diakonie reichen nicht aus.
Aber Ihre Zeit reicht jetzt auch nicht mehr aus.
Handeln Sie, aber richtig!
Vielen Dank.
({0})
Vielen Dank. Es tut mir zwar leid, aber wir haben ja
eine Redezeit vereinbart.
Jetzt freue ich mich ganz besonders - Sie alle werden
es nicht verstehen, aber das ist auch egal -: Dr. Georg
Nüßlein aus Krumbach in Schwaben.
({0})
- Wir waren auf der gleichen Schule.
({1})
Aber ich bin ein bisschen älter. - Das wirkt sich natürlich nicht auf seine Redezeit aus. - Bitte, Herr
Dr. Nüßlein.
Frau Präsidentin! Meine Damen, meine Herren! Ich
freue mich auch.
Ich möchte an dieser Stelle deutlich machen, dass aus
meiner Sicht dieser Koalitionsvertrag drei wichtige
Schwerpunkte hat, die die Legislaturperiode mit prägen
werden. Das sind zum einen Maßnahmen zur Verbesserung der ambulanten ärztlichen Versorgung und zur
Abwendung eines Ärztemangels im ländlichen Raum.
Das ist zweitens die zukunftsfeste Sicherung der finanziellen Grundlagen der Krankenhausfinanzierung und
drittens die Reform der Pflegeversicherung, wie sie hier
bereits verschiedentlich angesprochen wurde.
Nun habe ich die Vorurteile gehört, liebe Kollegin
Scharfenberg, die Sie hier formuliert haben. Ich kann Ihnen nur zurufen: Abwarten statt Abbruchbirne an dieser
Stelle! Einfach mal abwarten, ich glaube, dass wir hier
mehr schaffen, als Sie sich vielleicht vorstellen.
({0})
Ich will aber zu Beginn - nicht nur meiner Rede, sondern auch unserer Arbeit hier - eine ganz große Klammer zitieren, die uns gestern die Bundeskanzlerin ins
Stammbuch geschrieben hat: Eine Politik, die nicht den
Staat, nicht die Verbände, nicht Partikularinteressen,
sondern den Menschen in den Mittelpunkt ihres Handelns stellt, kann die Grundlage für ein gutes Leben in
Deutschland sein.
({1})
Meine Damen und Herren, es gibt wenige Politikfelder, die genau dieses Motto so notwendig und so sinnvoll erscheinen lassen wie die Gesundheitspolitik. Im
Mittelpunkt dessen, was wir vorhaben, steht der Patient,
mithin der Mensch, und stehen die Menschen darum
herum, die für sein Wohl sorgen: die Ärzte und natürlich
das medizinische Personal. Sie sind hoch qualifiziert;
das ist in Deutschland Standard, und das soll, meine
Damen und Herren, so bleiben.
Was die ärztliche Versorgung angeht, so ist diese in
der Tat inzwischen regional unterschiedlich. Wir haben
in den Städten hier und da bereits ein Überangebot, während wir im ländlichen Raum einen sich allmählich anbahnenden Mangel erleben. Da müssen wir tätig werden,
insbesondere deshalb, weil die demografische Schere
auseinandergeht, weil der Anspruch an ärztliche Versorgung demografisch bedingt größer wird und auf der anderen Seite die Ärzte tendenziell immer älter werden.
Das heißt für uns: Wir brauchen mehr qualifizierten
Nachwuchs im ärztlichen Bereich. Und wie sieht die
Realität aus? Großes Interesse am Arztberuf, genügend
Studienanfänger, aber dann viele Abbrecher und zu viele
Absolventen, die nach ihrem Abschluss nicht in den präventiven oder kurativen Bereich gehen. Der Schluss daraus ist klar. Der Numerus clausus schließt vermutlich
im Wortsinne die Falschen an dieser Stelle aus.
({2})
Deshalb müssen wir uns überlegen, wie wir damit
umgehen. Da sind zunächst die Universitäten gefordert,
die den Spielraum hätten, selber Absolventen auszuwählen, die aber das Problem haben, dass sie das nicht
rechtssicher tun können, und sich aufgrund der Operationalität am Schluss wieder an der Abiturnote festhalten,
was ich bedauerlich finde. Wir werden in dieser Legislatur sicher überlegen müssen, welchen Beitrag der Bund
dazu leisten soll.
Wir sollten im Übrigen auch Gehirnschmalz darauf
verwenden, wie man junge Mediziner für bestimmte Bereiche motiviert, in denen Unterversorgung herrscht.
Medizinstudenten, die sich bereits während der Ausbildung für eine spätere Tätigkeit als Allgemeinmediziner
in einer unterversorgten Region entscheiden, müssen aus
meiner Sicht besonders gefördert werden.
({3})
- Mir ist die Umsetzungsproblematik klar, Herr Kollege.
Darum habe ich auch gesagt, wir sollten Gehirnschmalz
darauf verwenden und nicht gleich hasenfüßig sagen:
Das geht nicht.
({4})
Natürlich ist in dem Zusammenhang auch hilfreich,
die Attraktivität des Arztberufs insgesamt zu steigern
und Freiräume für die sprechende Medizin zu schaffen.
Das Thema „weniger Bürokratie“ wurde angesprochen.
Ich habe nun zehn Jahre hier Wirtschaftspolitik gemacht
und weiß, wie wenig bei dem Versprechen, Bürokratie
abzubauen, am Schluss herausgekommen ist. Deshalb
muss das trotzdem ein Anliegen für uns alle sein.
Mehr Assistenz durch nichtärztliches Personal ist
wichtig. Das sind im Übrigen Berufe, die wir auch aufwerten und fördern müssen. Auch die familienfreundliche Gestaltung des Berufsalltags ist ein wichtiger Punkt.
Was bei Soldatinnen und Soldaten gelten und möglich
sein soll, muss auch im medizinischen Bereich gelten.
({5})
Ich sage aber auch - ich hoffe, das ist mir gestattet den Berufsträgern selber: Wer seinen Beruf ständig selber infrage stellt, ihn abwertet und klagt, wie furchtbar
die Arbeitsbedingungen sind, der leistet auch einen Beitrag dazu, dass wir wenig Interessenten haben und wenig
Nachwuchs bekommen. Der darf sich dann auch nicht
wundern, wenn er am Schluss seine Praxis nicht verkaufen kann. Auch das muss man einmal in dieser Klarheit
formulieren.
({6})
Nun wissen wir alle, dass die Hausärzte eine zentrale
Säule der ärztlichen Versorgung sind und dass wir sie für
eine vielfach notwendige wohnortnahe oder, wenn man
das so formulieren will, zumindest erreichbare Versorgung brauchen. Wenn ich mir die neuesten Zahlen der
Kassenärztlichen Vereinigung Bayerns anschaue, dann
stelle ich fest, dass aktuell in Bayern etwa 25 Prozent aller Hausärzte 60 Jahre und älter sind, jeder Vierte. Die,
die nachkommen, sind aufgrund falscher Einstellungen
vielfach nicht bereit, auf das Land zu gehen.
Deshalb wollen wir über die Hausarztverträge wieder
ein geeignetes und sinnvolles Instrument schaffen, um
die Hausarztversorgung auch künftig flächendeckend zu
erhalten, dadurch ein verbessertes Versorgungsniveau
schaffen und die Steuerung der Inanspruchnahme ärztlicher Leistungen nach Wirtschaftlichkeitserwägungen
wieder in das Gesetz bringen. Ich glaube, dass das sehr
viel dazu beitragen wird, dass die hausärztliche Versorgung auf dem Land besser wird.
({7})
Lassen Sie mich noch ein paar Sätze zur Krankenhausversorgung sagen. Die ist mit mehr als 62 Milliarden
Euro Kosten der größte Brocken im GKV-Bereich. Das
ist ein Bereich, den wir in den letzten Jahren mit immer
mehr Geld ausgestattet haben. Das geschah zu Recht,
weil wir auf der einen Seite wissen, wie wichtig diese
Versorgung ist, aber auch, weil wir auf der anderen Seite
gesehen haben, wie stark der Druck ist; denn wir können
nur mit gutem Personal, das entsprechende Kosten verursacht, hohe Qualität garantieren.
Trotzdem wird der Bundesgesetzgeber das Problem
nicht allein lösen können. Bei der Investitionskostenfinanzierung sind natürlich auch die Länder gefordert.
Aber auch die alleine werden es nicht schaffen. Schauen
Sie sich an, wie in manchen Landkreisen auf alten Strukturen beharrt wird. Wir sind noch nicht so weit, zu sehen,
dass wir uns eine Überzahl von Krankenhäusern einfach
nicht mehr leisten können, egal wie viel Geld der Bundesgesetzgeber gibt. Wir müssen der Kommunalpolitik
deutlich sagen, dass auch in diesem Bereich die Hausaufgaben zu machen sind.
({8})
Was die Pflege angeht, haben Herr Minister Gröhe
und Herr Lauterbach das Richtungweisende und Notwendige gesagt.
Erstens. Ich bin, anders als die Kollegin
Scharfenberg, der Meinung, dass der Pflegevorsorgefonds durchaus bewirken kann, künftige Beitragssteigerungen zumindest abzumildern. Es ist jedenfalls ein
Schritt in die richtige Richtung.
({9})
Zweitens. Ich glaube, dass wir auch ein Auge darauf
haben müssen, dass Pflegeleistungen durch die Kostenentwicklung künftig eben nicht schleichend inflatorisch
entwertet werden. Wir müssen also regelmäßig Anpassungen vornehmen.
Drittens. Ich glaube, dass die Grundsätze „ambulant
vor stationär“ und „Reha vor Pflege“ nachvollziehbare
Anliegen der Betroffenen sind, die wir schon aus humanitären Erwägungen werden entsprechend berücksichtigen müssen. Das ist die Pflicht der Politik.
({10})
Viertens. Ich glaube auch, dass der Begriff der Pflegebedürftigkeit der tatsächlichen Situation der Menschen
mit eingeschränkter Alltagskompetenz und ihrer Angehörigen nur unzureichend Rechnung trägt und dass es
deshalb notwendig und richtig ist, hier nach entsprechender Begutachtung etwas zu ändern.
({11})
Fünftens -
„Fünftens“ aber ganz schnell, bitte, weil Sie Ihre Redezeit schon überschritten haben.
Last, not least: Es kommt auf das pflegende Personal
an. Diese Leute leisten Großartiges. Sie brauchen Anerkennung, aber nicht nur immaterielle, sondern auch materielle. Es ist wichtig und richtig, auch das zu sagen.
Vielen herzlichen Dank.
({0})
Vielen Dank, Herr Dr. Nüßlein. - Die nächste Rednerin ist Pia Zimmermann von der Linksfraktion.
Vielen Dank. - Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr Gesundheitsminister Gröhe,
2,5 Millionen Pflegebedürftige, deren Angehörige und
das Pflegepersonal warten auf ganz konkrete Hilfe. Seit
zehn Jahren werden Pflegereformen entwickelt und geprüft, weiterentwickelt und weitergeprüft. Zum großen
Wurf ausgeholt haben schon einige; aber geschehen ist
nicht viel.
Realer Alltag ist: unwürdige Pflegebedingungen,
strukturelle Engpässe an vielen Stellen und miserable
Arbeitsbedingungen. Hier macht auch Ihr Koalitionsvertrag nur minimale Schritte, um eine riesige Lücke zu
schließen. Herr Minister Gröhe, Ihre Rede kürzlich auf
dem Deutschen Pflegetag war nicht von konkreten
Schritten gekennzeichnet. Aber immerhin haben Sie
festgestellt, dass man die Verbesserung der Pflege zum
„Schwerpunkt der Arbeit dieser Bundesregierung“ machen werde. Das begrüßen wir als Fraktion Die Linke
sehr, und wir schlagen Ihnen dazu Folgendes vor:
Stoppen Sie die Privatisierung der Pflegevorsorge und
die Ungerechtigkeit zwischen privater und sozialer Pflegeversicherung.
({0})
Schaffen Sie den Pflege-Bahr ab. Setzen Sie endlich auf
die Umwandlung der Pflegeversicherung von einer Teilkaskoversicherung in eine Vollversicherung, in die alle
einzahlen. So würden Sie den Menschen in diesem Land
wirklich helfen.
({1})
Ihre Minibeitragserhöhungen reichen nicht aus, um
die Leistungen grundsätzlich zu verbessern. Genau darum sollten Sie die Finanzierung auf eine gerechte
Grundlage stellen. Nehmen Sie die solidarische Bürgerinnen- und Bürgerversicherung endlich in Angriff.
({2})
Damit könnte der Beitrag zur Versicherung nachweislich
langfristig unter 2 Prozent bleiben, und es gäbe den finanziellen Spielraum für eine echte Reform und für bessere Löhne für die Beschäftigten in der Pflege.
({3})
Wir sind uns einig, dass der Fachkräftemangel behoben werden muss. Gute Pflege setzt qualifiziertes und
motiviertes Personal voraus. Dazu gehört auch die Reform der Ausbildung in den Pflegeberufen. Ich habe
selbst 15 Jahre im Pflegebereich gearbeitet und weiß,
Pflege ist eine schwere und anspruchsvolle Arbeit, die
anerkannt und entsprechend bezahlt werden muss.
({4})
Deutlich höhere Löhne sind unerlässlich ebenso wie
eine verbindliche, bundesweit einheitliche Personalbemessung. Die Verankerung des Pflegebegriffs ist längst
überfällig. Das entspricht im Übrigen den Erwartungen
aller Beteiligten im Pflegebereich. Dann würden endlich
auch die Demenzerkrankten wissen, woran sie sind.
({5})
Sie streuen den Menschen Sand in die Augen, wenn
Sie ankündigen, den Pflegebegriff noch in dieser Legislaturperiode einzuführen.
Aber gleichzeitig, Herr Gröhe, wieder einen neuen Gutachterausschuss einzurichten, das halte ich dann tatsächlich für eine Farce. Lesen Sie doch einfach in den Berichten von 2009 und 2013! Dort ist alles erörtert und
definiert. Die Sozialverbände, die Gewerkschaften und
alle Betroffenen wollen keine weiteren Warteschleifen,
sondern entschiedenes Regierungshandeln.
({6})
Ich fasse zusammen: Beenden Sie die Privatisierung
des Pflegerisikos, und schaffen Sie den Pflege-Bahr ab!
Bringen Sie die solidarische Bürgerinnen- und Bürgerversicherung auf den Weg, die eine finanzielle Grundlage für alle notwendigen Verbesserungen schafft! Der
Fachkräftemangel muss durch attraktivere Arbeitsbedingungen behoben werden; die Pflegeausbildung gehört
reformiert. Vergessen Sie nicht eine verbindliche Personalbemessung! Bringen Sie den bereits neu definierten
Pflegebegriff sogleich auf den Weg! Lassen Sie Worten
Taten folgen!
({7})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich hoffe,
dass es nicht wieder vier verlorene Jahre für die Pflege
werden, und ich kann Ihnen eines schon heute versprechen: Wir, die Linke, werden eine entschlossene Oppositionspolitik gestalten, und wir werden immer wieder darauf hinweisen: Gute Pflege ist ein Menschenrecht.
({8})
Vielen Dank, Frau Kollegin. - Ich bin ganz sicher,
dass das Parlament, und zwar das ganze Parlament, Ihnen zu Ihrer ersten Rede im Bundestag gratuliert.
({0})
Wir wünschen Ihnen viel Kraft und viel Erfolg bei Ihrer
Arbeit als Abgeordnete.
Das Wort als nächste Rednerin hat Kollegin Hilde
Mattheis von der SPD.
({1})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Papier ist geduldig; das wissen wir alle.
({0})
Aber wenn Sie den Koalitionsvertrag der Koalitionspartner aus der letzten Legislatur mit dem Koalitionsvertrag
von uns vergleichen, wissen Sie: Unser Koalitionsvertrag hat konkrete Projekte, konkrete Ziele, oft hinterlegt
mit einer klaren Zeitschiene.
({1})
Wenn Sie das vergleichen, lieber Kollege von der Linken, werden Sie feststellen, dass Sie das Wort „Daseinsvorsorge“ im Koalitionsvertrag für die letzte Legislatur
nicht nachlesen können. Es steht bei uns aber drin.
Uns ist klar: Es geht um Patientinnen und Patienten.
Es geht um ihre Versorgung, um ihre Rechte. Es geht um
Qualität und natürlich auch um die Finanzierbarkeit.
({2})
Um alles das geht es. Da, glaube ich, sind wir ein gehöriges Stück - ein gehöriges Stück! - weitergekommen.
Jetzt können wir alle miteinander definieren: Ist das Glas
halb voll oder halb leer? Ich rate in diesem Fall, weil es
darum geht, die ambulante und stationäre Versorgung zu
verbessern, in der Pflege viel hinzubekommen, dazu, zu
sagen, dass das Glas halb voll ist - mindestens.
({3})
Ich möchte, was die Qualität und die Patientenrechte
anbelangt, gerne auf den stationären Bereich zu sprechen
kommen. Wir wollen, dass sich die Krankenhausversorgung an der Erreichbarkeit orientiert.
({4})
Was bedeutet das für den ländlichen Raum? Es ist ganz
wichtig, dass die Versorgung im ländlichen Raum genauso gut ist wie im städtischen Raum, wie in den Ballungsgebieten. Das muss für alle erreichbar sein. Keine
Barrieren!
({5})
Wir wollen die Qualität mit Finanzierungselementen
koppeln. Vor allen Dingen wollen wir im Krankenhausbereich eine bessere personelle Ausstattung. Wer sich
schon einmal genauer damit befasst hat - das unterstelle
ich hier im Hohen Hause; alle, die im Gesundheitsausschuss sind, kennen sich aus und wissen, was in Krankenhäusern zum Teil los ist -,
({6})
weiß: Es bedarf einer besseren Personalausstattung. Die
wollen wir erreichen und das finanziell nachprüfbar unterlegen.
({7})
Ich finde, das ist ein wichtiger Punkt. Uns geht es nicht
nur in Sonntagsreden um die Aufwertung des Pflegeberufs; nein, das muss sich für die Menschen spürbar auswirken.
Damit bin ich bei der Pflege. Liebe Kollegin
Elisabeth Scharfenberg, wir sitzen fast wöchentlich zusammen auf Pflegepodien. Wir in diesem Raum, egal zu
welcher Fraktion wir gehören, unterscheiden uns in dem
Ziel, für Pflegebedürftige, für pflegende Angehörige, für
Fachkräfte gute Bedingungen zu erreichen, nur minimal.
Im Bereich Finanzierung allerdings - das sage ich an
dieser Stelle ganz deutlich - unterscheiden wir uns, was
das langfristige Ziel anbelangt, von unserem jetzigen
Koalitionspartner. Wir haben unsere Idee von der Bürgerversicherung nämlich nicht aufgegeben. Warum
auch?
({8})
- Nein, wir haben diese Idee nicht aufgegeben.
Wir verwirklichen in dieser Legislaturperiode das,
was wir für die Menschen erreichen können. Da sollten
sich die Oppositionsfraktionen - ich gebe zu, dies ist
eine freundliche Bitte - mit uns gemeinsam auf den Weg
machen. Im Koalitionsvertrag steht ja drin, dass wir so
schnell wie möglich den Pflegebedürftigkeitsbegriff reformieren wollen, und zwar - das ist der Zusatz - „in
dieser Legislaturperiode“.
({9})
Wer nun aus dem Ausdruck „in dieser Legislaturperiode
so schnell wie möglich“ eine Definitionsbandbreite ableitet, den verstehe ich nicht. Das ist doch eine eindeutige Definition.
Ich finde es sensationell, dass wir es im Interesse der
Pflegeversicherung geschafft haben, uns gemeinsam auf
eine Beitragssatzerhöhung um insgesamt 0,9 Prozentpunkte zu verständigen. Da müssten Sie von den Oppositionsfraktionen uns doch positiv begleiten. Was können
wir mit den zusätzlichen Einnahmen alles machen?
({10})
Wir wollen, dass die Leistungen teilhabeorientiert bei
den Menschen ankommen. Wir wollen, dass die Pflegefachkräfte eine gute Ausbildung bekommen, Perspektiven haben und eine gute Bezahlung erhalten. Darin sind
wir uns doch einig, Herr Gröhe. - Er nickt.
({11})
Wir wollen dieses gemeinsame Ziel nicht nur festschreiben, sondern auch miteinander erreichen. Wir alle
wissen - wir sind ja nicht blauäugig -, dass es an der einen oder anderen Stelle knirschen wird, wenn es an die
politische Umsetzung und um die Ausgestaltung geht.
Herr Spahn und ich liegen nicht immer auf der gleichen
Wellenlänge.
({12})
Aber er nähert sich an.
({13})
- Nein, nein! Dazu kann er sich gleich selber äußern.
Wenn wir die Mehreinnahmen, die sich aus der Erhöhung um 0,9 Prozentpunkte ergeben, für Wohnumfeldverbesserung, für technische Assistenzsysteme und für
Maßnahmen, die sich aus der Einführung des neuen
Pflegebedürftigkeitsbegriffs ergeben, verwenden, dann
ist die Vereinbarung das Papier wert, auf dem sie steht.
Ich kann allen versichern, dass die Geduld der SPD,
was Verbesserungen im Pflegebereich, im ambulanten
Bereich und im Krankenhausbereich angeht, erschöpft
ist. Wir wollen Taten sehen. Mit uns gibt es Taten.
Danke.
({14})
Danke, Frau Kollegin. - Bevor sich Kollege Spahn
Ihnen annähert, gebe ich das Wort an Maria KleinSchmeink vom Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Liebe Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Lieber Herr Minister! Es war jetzt gerade sehr viel von
Patientenorientierung und von der Bedeutung des Gesundheitswesens für die Daseinsvorsorge die Rede. Ich
bin erst einmal froh, dass hier im Saal Einigkeit darüber
besteht, dass das so ist. Jetzt ist aber die Frage, ob sich
dies auch in entsprechenden Resultaten und Gesetzen
niederschlagen wird.
Da muss man als Erstes einmal sagen, lieber Karl
Lauterbach: Qualität reduziert sich nicht auf Effizienz
und auf Pay-for-Performance-Systeme. Qualität heißt
vielmehr, dass ich mir die Bedarfe der einzelnen Patienten tatsächlich anschaue. Wir müssen uns daher mit der
Frage auseinandersetzen, wie die Bedarfe von Patienten
im hohen Alter in unserem Gesundheitssystem berücksichtigt werden können.
({0})
Zu dieser Frage steht unglaublich wenig in dem ansonsten sehr umfangreichen Gesundheitsteil des Koalitionsvertrages. Gleichzeitig muss man sagen: Sie lassen
jede Vision vermissen; es fehlt ein konsistentes Handlungskonzept. Wir sehen zwar viele Detailregelungen,
die durchaus in die richtige Richtung gehen mögen.
Aber man muss erst einmal festhalten: Zu einer Vision,
wohin wir mit unserer Gesundheitsvorsorge und unserer
Gesundheitsversorgung wollen, finde ich ausgesprochen
wenig in diesem Programm.
({1})
Das umfangreiche Arbeitsprogramm, Herr Minister
Gröhe, das nun auf Sie zukommt und von den Chefverhandlern wie ein Drehbuch festgehalten worden ist,
macht gleichzeitig deutlich, wie groß der Reformstau der
schwarz-gelben Regierung eigentlich ist. Die Situation
in den Krankenhäusern wurde schon erwähnt. Es wurde
der Fachkräftemangel erwähnt. Es wurde die Situation in
der Ausbildung erwähnt. Es wurde die insgesamt
schlechte Verzahnung der ambulanten und stationären
Versorgung erwähnt. Heute nicht erwähnt wurde, welch
große Belastung des Gesundheitssystems im Bereich
seelischer Gesundheit besteht und dass wir kein konsistentes Gesamtkonzept für die Versorgung und für die
Unterstützung der Gruppe der davon Betroffenen haben.
Das zeigt insgesamt: Die letzten vier Jahre gelang nicht
der große Sprung. Im Gegenteil, es war eine Zeit, in der
Reformstau produziert worden ist.
({2})
Deshalb, Herr Minister, werden Sie nicht viel Schonfrist haben. Sie werden ganz konkrete Strukturverbesserungen angehen müssen. Und Sie können sich und uns
nicht mit Scheinlösungen zufriedenstellen. So eine
Scheinlösung findet sich zum Beispiel bei der Wartezeitenregelung im Koalitionsvertrag. Das ist keine strukturelle Lösung für ein Problem, was ursächlich mit unserem zweigeteilten Versicherungsmarkt - mit der privaten
und der gesetzlichen Krankenversicherung - zu tun hat.
So wird es nicht gehen.
({3})
Dann haben Sie, Herr Minister, als Ihre Aufgaben
- allerdings nur sehr kurz - erwähnt: die Krankenhausfinanzierung und das Präventionsgesetz. Beide sind
große Vorhaben. Beide Vorhaben liegen seit zehn Jahren
in den Schubladen. Für beide gilt: Sie werden tragfähige
Lösungen nur gemeinsam mit den Ländern hingekommen. Da - das muss ich sagen - sehe ich allerdings noch
wenige Ansätze dazu, dass Sie tatsächlich bereit sind,
gemeinsam mit ihnen Lösungen zu finden und auch die
entsprechende Finanzierung zu mobilisieren. Ich habe
bisher nur Äußerungen gelesen, die darauf schließen lassen, dass das ewige und altbekannte Schwarze-PeterSpiel „Wer bezahlt?“ weitergehen wird und dass wir
wieder nicht zu strukturellen und nachhaltigen Lösungen
kommen werden. So, glaube ich, kann man diese Aufgaben nicht angehen.
({4})
Frau Kollegin, ich darf Sie an die Redezeit erinnern.
Gerne.
({0})
Ich wollte eigentlich Herrn Lauterbach noch einmal
klarmachen, dass er im Grunde den Teufel mit dem
Beelzebub ausgetrieben hat. Der pauschale Zusatzbeitrag ist zwar gefallen, aber wir werden es mit einem ungedeckelten neuen Zusatzbeitrag zu tun bekommen. Die
Finanzierung des Gesundheitswesens wird unsozialer als
bisher, weil diese Koalition allein den Beitragszahlern
die Lasten, die zukünftigen Kostensteigerungen im Gesundheitswesen, aufbürdet. Das ist zutiefst ungerecht,
und das werden wir in Kürze bei der Gesetzeseinbringung deutlich kritisieren.
({1})
Danke, Frau Kollegin. - Jetzt Jens Spahn.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Frau Kollegin Mattheis, ob wir uns annähern, weiß ich
nicht, aber dass wir uns in den letzten Wochen so nahe
gekommen sind wie selten, weiß ich auf jeden Fall.
({0})
Das ist vielleicht auch eine Basis für die Arbeit in den
nächsten Jahren.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben über das
wichtige Thema Pflege gesprochen. Hinter der Diskussion über den Begriff der Pflegebedürftigkeit verbirgt
sich ja eigentlich die Frage: Ist Zeit da, ist Betreuung da,
ist Unterstützung da, insbesondere für Menschen mit
Demenz und für Menschen, die im Alter jenseits körperlicher Unzulänglichkeiten, des körperlichen Unvermögens, dass man sich nicht bewegen kann, Unterstützung
brauchen? Wir sind uns doch einig, dass wir das umsetzen wollen.
Sie wissen aber genauso gut wie wir, dass eine Umsetzung dessen, was bisher vorgelegt worden ist, von einem Tag auf den anderen schlicht und ergreifend nicht
möglich ist.
({1})
Das sagen selbst alle Sachverständigen. Wir würden den
Menschen einen Tort antun, wenn wir etwas, das bisher
nur in der Theorie, in dicken Gutachten, aufgeschrieben
worden ist, von einem Tag auf den anderen in die Realität umsetzen würden,
({2})
ohne zu wissen, was es für Folgen hat, wer möglicherweise schlechtergestellt wird, wer anschließend weniger
Unterstützung bekommt, und ob es wirklich gelingen
kann, dass die Unterstützung dort ankommt, wo sie ankommen soll. Das wäre fatal. Deswegen braucht es eine
Erprobung in der Praxis. Eine solche Erprobung haben
wir miteinander vereinbart; wir werden sie jetzt zeitnah
angehen.
({3})
Und Sie wissen eigentlich, dass es eine Erprobung
braucht, bevor man es umsetzen kann.
Dann sagen Sie, wir würden erst einmal mit kleinen
Dingen anfangen. Wissen Sie, für die Pflegebedürftigen,
die darauf angewiesen sind, dass jemand für sie Zeit zum
Gespräch, zum Essen oder zum Spazierengehen hat, ist
das, was wir in den letzten Jahren eingeführt haben,
nämlich einen Anspruch auf entsprechende Betreuung
- wir haben ja klar geregelt, dass es in den stationären
Einrichtungen auch sogenannte Betreuungskräfte gibt,
also Menschen, die genau dabei Unterstützung leisten -,
eine enorme Hilfe. Das Gleiche gilt für den von uns vereinbarten Ausbau dieser Leistungen zum 1. Januar 2015,
wo insbesondere zusätzliche Zeit für Betreuung vorgesehen wird. Den betroffenen Menschen muss es doch wie
Hohn vorkommen, wenn Sie sich hier hinstellen und sagen, dass die 2 Milliarden Euro, die wir schon gleich im
nächsten Jahr zusätzlich dafür ausgeben wollen, den
Menschen nichts bringen. Das bringt ihnen eine ganze
Menge, nämlich jeden Tag mehr Unterstützung und
mehr Zeit der Betreuung im Alltag. Deswegen wollen
und werden wir das umsetzen, und ich glaube, die Menschen wissen bzw. werden schnell merken, dass es ihnen
hilft.
({4})
Wenn Sie etwas zur Frage der Personalsituation und
des Fachkräftebedarfs sagen, klingt das erst einmal gut.
Aber ich muss Ihnen sagen: Mich nervt es langsam
schon. Ich habe auch gelesen, was Ihre Parteikollegin,
Frau Ministerin Steffens, gefordert hat, nämlich dass wir
bestimmte Personalschlüssel für Krankenhäuser und
Pflegeeinrichtungen festlegen sollen. Wir alle, die wir
hier sitzen, wissen, dass der Bund aus verfassungsrechtlichen Gründen keine Personalschlüssel festlegen kann.
Für Krankenhäuser wie für Pflegeeinrichtungen können
nur die Länder verbindliche Personalvorgaben machen.
Es geht nicht, dass sich die Landesminister alle paar Wochen hinstellen und uns auffordern, da etwas zu regeln,
obwohl sie eigentlich ihre Hausaufgaben machen müssten. Machen Sie in Nordrhein-Westfalen mit Frau Ministerin Steffens die Hausaufgaben, anstatt sich so wohlfeil
hier hinzustellen, wie Sie es gerade gemacht haben.
({5})
Das gilt im Übrigen auch für Schulgeld. Die Regelungen zum Schulgeld finden sich vor allem im Landesrecht. Sie stellen sich hier hin und klatschen mit uns,
wenn wir uns dafür aussprechen, das Schuldgeld abzuschaffen. Das werden wir auch tun. Ich wäre sogar bereit, jenseits ordnungspolitischer Vorstellungen unterstützend mehr Kassenmittel dafür einzusetzen, um die
Pflegeausbildung in die richtige Richtung zu bringen.
Aber während Sie hier so reden und klatschen, macht
Frau Ministerin Steffens in Nordrhein-Westfalen Folgendes: Sie sorgt dafür, dass für die Ausbildung zur pharmazeutisch-technischen Angestellten und in anderen Berufen überhaupt erst Schulgeld gezahlt werden muss. Hier
über Fachkräftemangel jammern und in den Ländern etwas anderes tun - das passt nicht zusammen. Da muss
man als Opposition hier im Bundestag am Ende konsistent bleiben und berücksichtigen, was man woanders tut.
({6})
Herr Kollege Spahn, erlauben Sie eine Zwischenbemerkung oder Zwischenfrage der Kollegin KleinSchmeink?
Jederzeit.
Gut.
Lieber Jens Spahn, ist Ihnen bekannt, dass Frau
Steffens in Nordrhein-Westfalen durch die Neuregelung
der Ausbildungsumlage 45 Prozent mehr Ausbildungswillige erreichen konnte und für sie Ausbildungsplätze
geschaffen hat? Das ist ein Beispiel dafür, wie man in
der Pflege vorgehen könnte. Es gibt andere, CDU- bzw.
CSU-geführte Bundesländer, in denen es in der Tat noch
Schulgeld gibt.
({0})
Wir haben in anderen medizinischen Berufen in
Nordrhein-Westfalen die Situation, wie ich sie gerade
dargestellt habe. Es geht jetzt auch nicht darum, das von
einem Land auf das andere zu schieben.
({0})
- Bleiben Sie doch mal ganz ruhig. Sie wissen doch gar
nicht, was ich jetzt sagen will. - Ich stimme Ihnen zu,
dass das Modell, das Nordrhein-Westfalen umsetzt, gut
ist
({1})
und es auch ein mögliches Modell - ({2})
- Aber ich erzähle nicht zunächst das eine, so wie Sie es
getan haben, um anschließend, was etwa das Schulgeld
für angehende PTA in Nordrhein-Westfalen anbelangt,
etwas anderes zu tun. Ich sage doch nur: Wir wollen in
dem Bereich etwas tun. Aber es geht eben nicht, immer
wohlfeil etwas zu fordern, ohne anschließend bei der
konkreten Umsetzung - da, wo man Verantwortung hat auch Entsprechendes zu tun.
Wie gesagt: Im Bereich Pflege ist das in NordrheinWestfalen gut gelungen. Das ist sicherlich ein Modell,
das man weiterentwickeln kann. Wir wären froh, wenn
das auch in anderen Pflegeberufen umgesetzt werden
könnte. Das geht aber nicht ohne die Länder. So brauchen wir Ihre Hilfe; denn ohne entsprechende Mehrheiten geht es nicht.
Zur Frage der gesetzlichen Krankenversicherung. Die
Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung
- darauf hat Herr Kollege Lauterbach bereits hingewiesen - beschäftigt uns seit gut zehn Jahren; es gab sehr
unterschiedliche Konzepte. Das hat vor allem dazu geführt, dass bei Diskussionen zur Gesundheitspolitik im
Mittelpunkt immer Finanzdebatten standen.
({3})
Das hat oft von den Themen abgelenkt, die die Menschen eigentlich bewegen. Es ist uns in den Koalitionsverhandlungen gelungen, zu einem, wie ich finde, tragfähigen Kompromiss in Bezug auf die Finanzierung zu
kommen. Einerseits wird nun sichergestellt, dass die
Lohnnebenkosten nicht steigen, sodass steigende Gesundheitskosten die Arbeit in Deutschland nicht teurer
machen. Andererseits wird sichergestellt, dass die Krankenkassen miteinander im Service-, Qualitäts- und Preiswettbewerb stehen.
({4})
Am Ende haben wir natürlich auch ein Finanzierungsmodell gewählt, das alle drei Koalitionsparteien mittragen können.
Wir sind nun in der Situation, dass wir die Fragen, die
die Menschen wirklich bewegen, zum Beispiel die Versorgung, in den Mittelpunkt unserer Debatten stellen
können. Wir haben heute schon begonnen, über diese
Themen zu sprechen. Es geht um Fragen wie: Habe ich
eigentlich noch einen Hausarzt vor Ort, insbesondere auf
dem Land? Wie lange muss ich auf einen Facharzttermin
warten? Wie ist es eigentlich, wenn ich am Freitagnachmittag aus dem Krankenhaus entlassen werde? Dabei
geht es um die ganz praktische Frage, ob sich jemand darum gekümmert hat, wie es weitergeht, etwa wenn
Pflege oder weitere Medikation nötig sind? Es geht aber
auch um die Frage der Regresse. Viele haben die Befürchtung, dass ihnen ihr Arzt nicht wirklich das verschreibt, was nötig ist, weil er ansonsten möglicherweise
selbst dafür haften muss. Das sind die konkreten Themen, die die Menschen im Alltag bewegen.
Die christlich-liberale Koalition hat mit dem Versorgungsgesetz angefangen, an wichtigen Stellschrauben zu
drehen und hier etwas zu ändern. Wir werden in der Großen Koalition genau diesen Kurs fortsetzen. Wir beenden nach vielen Jahren den Finanzierungsstreit und legen alle Kraft in eine gute, vor allem auch im Alltag
spürbare Versorgung der Menschen. Genau das wollen
wir in den nächsten vier Jahren angehen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({5})
Zu Ihrem Argument, die Abschaffung der privaten
Krankenversicherung löse alle Probleme der gesetzlichen Krankenversicherung: Als ob der Umstand, dass
auch Privatversicherte in Zukunft länger auf einen Termin warten müssten, für die gesetzlich Versicherten irgendetwas besser machen würde! Ich verstehe die Logik
nicht, die dahinter stecken soll. Es geht doch darum: Wie
können wir dafür sorgen, dass gesetzlich Versicherte
schneller einen Facharzttermin bekommen?
Herr Spahn, erlauben Sie eine weitere Zwischenbemerkung oder Zwischenfrage der Kollegin KleinSchmeink?
Da ich gerade „jederzeit“ gesagt habe - ({0})
Wir müssen nur insgesamt an die Dauer der Debatten
denken.
Sie heben gerade darauf ab, dass keine Probleme gelöst wären, wenn man die private Krankenversicherung
abschaffen würde. Stimmen Sie nicht mit mir, der Opposition und eigentlich auch der SPD überein, dass wir
durch das Nebeneinander, durch die Konkurrenz zwischen PKV und GKV viele Entwicklungen haben, die
die Versorgung verschlechtern und nicht verbessern,
dass es zum Beispiel Fehlanreize in Bezug auf die Ansiedlung von Ärzten vor allem in Regionen, wo vermutlich viele Privatversicherte leben, gibt?
Stimmen Sie uns zu, dass durch die immer älter werdende Gesellschaft auch große Probleme auf die PKV
zukommen? Stimmen Sie mit uns überein, dass hierfür
Lösungen gefunden werden müssen, da sehr viele Privatversicherte durch die hohen Beiträge extrem überfordert sind? Sind das nicht auch Baustellen, die auch Sie
angehen müssten?
Ja, die Probleme innerhalb der privaten Krankenversicherung gibt es, sie wurden auch schon vielfach adressiert. Sie haben aber wenig mit Ihrer Ausgangsthese zu
tun.
Ich bin der festen Überzeugung, dass auch der Systemwettbewerb zwischen privater und gesetzlicher
Krankenversicherung in der Vergangenheit dazu geführt
hat, dass beide Systeme besser geworden sind, zum Beispiel, was das Leistungsangebot betrifft. Das wäre nicht
der Fall, wenn wir nur ein System hätten.
Ich bin auch der festen Überzeugung - die Zahlen zeigen es -, dass die Leistungen, die die PKV erbringt, auch
die Infrastruktur bei den Ärzten unterstützt, die auch gesetzlich Versicherte behandeln,
({0})
und dass so die Versorgung aller, privat wie gesetzlich
Versicherter, gewährleistet wird.
Die Frage, wie schnell ich einen Facharzttermin bekomme - um diese geht es ja eigentlich - hat mit dem
Facharztangebot in der Region zu tun. Das hängt wiederum davon ab, wie attraktiv es ist, sich in einer bestimmten Region niederzulassen. Das hat nun vor allem mit
den Vergütungsregelungen im gesetzlichen Bereich zu
tun, aber auch mit den Rahmenbedingungen, den Arbeitsbedingungen vor Ort. Schließlich hat das auch etwas mit dem Medizinstudium zu tun. Der Minister hat
darauf hingewiesen. Genau an diesen Stellschrauben haben wir zu drehen begonnen, und wir wollen weiter daran drehen. Sie lösen das Problem der langen Wartezeiten für gesetzlich Versicherte aber nicht, indem Sie die
Privatversicherung abschaffen. Diese Logik ist, mit Verlaub, Humbug, Frau Kollegin Klein-Schmeink.
({1})
Abschließend will ich kurz das aufgreifen, was Sie,
Frau Zimmermann, zu den Zuzahlungen, prozentual bezogen auf das jeweilige Einkommen, gesagt haben. Ich
weiß, es fällt Ihnen schwer, sich dem Gedanken zu nähern, aber wenn jemand im Rahmen seiner Möglichkeiten einen angemessenen Beitrag zu den Kosten leistet,
sehe ich darin eine Form der Solidarität in einem Gesundheitswesen, in dem ich mich darauf verlassen kann,
dass mir die Solidargemeinschaft hilft, egal wie krank
ich bin, egal wie hoch die Kosten sind, egal wie teuer
und aufwendig die Behandlung wird. Angesichts dessen
sind prozentual auf die Leistungsfähigkeit des Einzelnen
bezogene Zuzahlungen eine Form gegenseitiger Solidarität. Darüber mögen wir unterschiedlich denken. Deswegen sind wir ja auch in unterschiedlichen Parteien. Da
an dieser Stelle der Unterschied zwischen den verschiedenen politischen Richtungen deutlich wird, wäre es der
Mühe wert, das weiter auszuführen. Doch ich kann jetzt
leider nicht darauf eingehen, da die Frau Präsidentin
mich schon auf das Ende meiner Redezeit hinweist.
Einen Unterschied mache ich nicht bei der Redezeit.
Ich bitte Sie, zum Ende zu kommen.
Abschließend sage ich daher Folgendes: Sie denken
- das hat Ihre Forderung nach einer Anti-Stress-Verordnung gezeigt -, man könne die Dinge nur durch Regeln,
Verordnungen, durch den Staat lösen. Am Ende hilft eine
Verordnung aber niemandem.
({0})
Es geht darum, die Realität zu ändern und die Lebenswirklichkeit in den Blick zu nehmen. Hier geht es um
Entschleunigung. Es ist zu fragen, welche Präventionsmaßnahmen die Menschen in der jeweiligen Situation
brauchen. Genau damit wollen wir uns in den nächsten
vier Jahren beschäftigen.
Wir wollen nicht mehr Bürokratie. Wir wollen nicht
mehr Regeln, sondern wir wollen den Menschen und
seine alltäglichen Erlebnisse im Bereich des Gesundheitswesens in den Mittelpunkt stellen. So kann diese
Große Koalition für Gesundheit und Pflege tatsächlich
Großes leisten.
({1})
Danke, Herr Spahn. - Die letzte Rednerin in dieser
Debatte ist Sabine Dittmar für die SPD.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Es ist heute schon sehr viel Richtiges und
Wichtiges zu den geplanten Vorhaben und Reformen gesagt worden. Als letzte Rednerin in dieser Debatte
möchte ich auf einen Aspekt eingehen, der mir persönlich sehr am Herzen liegt.
Es ist unser erklärtes Ziel, echte Verbesserungen hinsichtlich der Versorgungsstruktur und der Versorgungsqualität herbeizuführen. Wir werden Maßnahmen herbeiführen, die Millionen von Patientinnen und Patienten
unmittelbar zugutekommen. Dazu werden wir die Versorgung strukturell und qualitativ verbessern, angefangen bei der primärärztlichen Versorgung über die fachärztliche und psychotherapeutische Versorgung bis hin
zu den Krankenhäusern.
Wenn ich mich heute schwerpunktmäßig mit der
hausärztlichen, mit der primärärztlichen Versorgung auseinandersetze, dann ist das ganz sicher keine qualitative
Wertung, sondern schlicht und ergreifend der begrenzten
Redezeit geschuldet.
Kolleginnen und Kollegen, wir alle kennen aus unseren Wahlkreisen die Sorge um die zukünftige hausärztliche Versorgung. Das beschäftigt die Bürgerinnen und
Bürger landauf, landab und, wie ich meine, zu Recht. In
allen Teilen Deutschlands erleben wir, dass keine Nachfolger für Praxen gefunden werden. Deshalb bin ich sehr
froh, dass wir uns im Koalitionsvertrag auf Maßnahmen
verständigt haben, wodurch wir auch in ländlichen, in
strukturschwachen Regionen, aber auch in Stadtteilen
mit sozialen Brennpunkten die ärztliche Versorgung wieder verbessern können.
({0})
Wir korrigieren damit - das sage ich in aller Deutlichkeit - einen Teil der Versäumnisse des Versorgungsstrukturgesetzes.
({1})
So werden wir beispielsweise den Betrieb arztgruppenund fachgruppengleicher MVZ ermöglichen. Wir werden die Praxisnetze weiter ausbauen und vor allem ihre
Förderung auf verbindliche Füße stellen
({2})
und die integrierte Versorgung stärken.
({3})
Das immer wieder angeführte Niederlassungshemmnis Regress werden wir weiter entschärfen und in die
Hände der Selbstverwaltung legen. Die hausärztliche
Versorgung werden wir - das ist aus meiner Sicht ein
ganz wesentlicher Punkt - dadurch stärken, dass wir den
§ 73 b SGB V, die Hausarztverträge, wieder in die alte
Rechtsform zurückführen.
({4})
Ich denke, mit diesen Maßnahmen geben wir jungen niederlassungswilligen Medizinerinnen und Medizinern
echte Planungssicherheit.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Patient, die Patientin müssen sich aber auch auf die Qualität der Versorgung verlassen können. Deshalb sind evidenzbasierte,
leitliniengerechte Behandlung, Qualitätssicherung und
Evaluation ganz wesentliche Bausteine in der Versorgung. Ich begrüße es daher wirklich außerordentlich und
ausdrücklich, dass zu den bestehenden Disease-Management-Programmen zwei neue Behandlungsprogramme
dazukommen: Rückenschmerzen und Depressionen.
({5})
Ich selbst habe die Einführung des ersten DMP zu
Diabetes als Hausärztin miterlebt. Glauben Sie mir, das
war wirklich ein holpriger Start. Die Ärzteschaft hat sich
vehement gewehrt, und die Patienten mussten mit Prämien von der Kasse zur Einschreibung ermuntert
werden. Ich bin froh, dass wir zwischenzeitlich zu der
Erkenntnis gelangt sind, dass strukturierte Behandlungsprogramme die Versorgung von chronisch kranken Patienten bei uns deutlich verbessern. Wir schreiben damit
eine echte Erfolgsgeschichte.
({6})
Das Gleiche erhoffe ich mir auch von den beiden
neuen Programmen. Erkrankungen im muskuloskelettalen Bereich führen die Hitliste der Krankschreibungen
an. Auch müssen wir ganz klar feststellen, dass Depressionen oftmals zu spät oder gar nicht diagnostiziert werden und deswegen auch nicht ausreichend therapiert
werden. Deshalb muss es unser Ziel sein, den Zugang zu
psychotherapeutischer Versorgung zu verbessern.
({7})
Betroffene müssen zeitnah einen Termin bekommen und
auch ein Angebot zur Kurzzeittherapie erhalten.
Wir werden die Wartezeiten bei den Fachärzten auf
vier Wochen verkürzen. Darauf sind die Vorredner schon
eingegangen.
Mir ist noch ein anderer Aspekt wichtig. Wenn wir
von Versorgungsstrukturen sprechen, sollten wir nicht
nur die Unterversorgung im Blick haben, sondern wir
sollten auch einmal klar zur Kenntnis nehmen, dass es
Regionen und Fachgebiete gibt, die deutlich überversorgt sind.
({8})
Ich bin dankbar, dass wir die gesetzlichen Vorgaben zum
Abbau der Überversorgung durch den Aufkauf von Arztsitzen von einer Kann- in eine Sollregelung überführen.
Zur Aus- und Weiterbildung hat Kollege Nüßlein eine
ganze Menge gesagt. Ich meine, dass es wirklich notwendig ist, frühzeitig das Interesse an der Allgemeinmedizin zu wecken und die Auswahlkriterien so zu gestalten, dass auch berufliche und soziale Kompetenzen
berücksichtigt werden und eben nicht nur die Abiturnote
über hopp oder top beim Studienplatz entscheidet.
({9})
Auch die Studieninhalte müssen wir versorgungsorientierter gestalten.
Meine Damen und Herren, wir haben uns eine Menge
vorgenommen. Ich bin davon überzeugt, der Koalitionsvertrag setzt die richtigen Akzente. Wir geben einen guten Rahmen vor. Zur Umsetzung der Vorhaben brauchen
wir natürlich auch die Partner der Selbstverwaltung, die
das Ihre tun müssen, und die Bundesländer und Kommunen. Ohne deren Beitrag geht es nicht.
Ich danke für die Aufmerksamkeit und freue mich auf
die zukünftige Zusammenarbeit hier im Parlament und
im Gesundheitsausschuss.
({10})
Danke, Frau Kollegin. Das ganze Haus gratuliert Ihnen zu Ihrer engagierten ersten Rede.
({0})
Wir wünschen Ihnen viel Kraft und Durchsetzungsvermögen und gute Maßnahmen gegen Rückenschmerzen.
({1})
- Ja, ich weiß, wovon ich rede.
Es liegen keine weiteren Wortmeldungen zu diesem
Themenbereich vor.
Jetzt machen wir schnell einen fliegenden Wechsel,
auch wenn sich Gesundheitspolitiker eigentlich auch für
Ernährung interessieren dürften. - Ich bitte Sie, Platz zu
nehmen.
Wir kommen jetzt zum Themenbereich Ernährung
und Landwirtschaft.
Die Debatte eröffnet der Bundesminister für Ernährung und Landwirtschaft, Dr. Hans-Peter Friedrich.
({2})
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Es ist mir eine große
Freude. Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Frau Bundeskanzlerin hat gestern eine Regierungserklärung abgegeben, in der sie gesagt hat: Der Mensch steht im Mittelpunkt unserer Politik. Sie hat einen Auftrag an das ganze
Parlament, an die ganze Regierung erteilt, indem sie gesagt hat: Wir müssen Antworten geben auf die Frage,
wie man in unserem Land gut leben kann. Das ist angesichts der Herausforderungen der Zukunft, angesichts
der Globalisierung, aber auch angesichts der Sehnsucht
der Menschen nach kleineren Einheiten, nach Überschaubarkeit, nach Heimat und angesichts des demografischen Wandels eine wichtige Fragestellung.
Ich denke, eine der Antworten, die wir gemeinsam
geben müssen, ist die Stärkung des ländlichen Raums,
dort, wo Millionen von Menschen Heimat haben, dort,
wo Millionen von Menschen in gefestigten gesellschaftlichen Strukturen und in geordneten ökonomischen Verhältnissen leben. Insofern ist die Stärkung des ländlichen
Raums eine zentrale Antwort auf die Zukunftsherausforderungen in unserem Land.
({0})
In diesem ländlichen Raum spielen die Landwirtschaft, die Ernährungswirtschaft, die Forstwirtschaft und
das Ernährungshandwerk eine zentrale ökonomische
Rolle. Sie sind Arbeitgeber. Sie sind ökonomischer Faktor im ländlichen Raum. Sie bewirtschaften die Flächen
und produzieren Lebensmittel. Das muss man der Bevölkerung im ganzen Land, auch in den Städten, klarmachen. Wenn die Menschen an den Ladentheken, egal wo
im Land, stehen und sich für Qualität entscheiden, dann
entscheiden sie sich zumeist für deutsche Produkte. Ich
denke, es wird Zeit, dass wir uns alle gemeinsam wieder
bewusst machen, dass auf den Flächen unseres Landes
Qualitätsprodukte produziert werden, und dass wir darauf auch wieder stolz sind. Das ist eine wichtige Aufgabe der Koalition.
({1})
Die deutsche Landwirtschaft ist führend. Die deutsche Ernährungswirtschaft ist führend. Warum sind sie
führend? Weil wir gute Böden, ein gutes Klima und genügend Wasserreserven haben, aber auch weil unsere
Landwirte, unsere mittelständischen Familienunternehmen Unternehmer sind, unternehmerisch handeln, unternehmerisch denken, weil ihnen Wettbewerbsfähigkeit
und Innovation wichtig sind. Es ist unsere politische
Aufgabe, dafür zu sorgen, dass diese unternehmerische
Gestaltungs- und Handlungsfreiheit ihnen auch in der
Zukunft erhalten bleibt, damit sie so gut bleiben können,
wie sie jetzt sind.
({2})
Wir sind dabei, die Gemeinsame Agrarpolitik auf europäischer Ebene umzusetzen. Ich bedanke mich bei den
Agrarministern der Länder, die mit 16:0 schon im November bei einer Sonderkonferenz einen gemeinsamen
Kompromiss verabschiedet haben. Es gilt jetzt, dafür zu
sorgen, dass die ökonomische Basis unserer Bauern in
der nächsten Förderperiode klar und verlässlich ist. Es
geht um Direktzahlungen dafür, dass die Landwirte unsere Kulturlandschaft pflegen und unserer Heimat, unserem Land ein Gesicht geben. Dafür haben sie es verdient, Direktzahlungen zu bekommen. Denn wir als
Abgeordnete, als Politiker machen den Landwirten alle
möglichen Auflagen in Form von Verordnungen und Gesetzen, die in ihre Eigentumsrechte und Bewirtschaftungsmöglichkeiten eingreifen. Deswegen haben sie es
im Gegenzug auch verdient, dass wir ihnen stabile Direktzahlungen über direkte Einkommensbeihilfen zukommen lassen.
({3})
Unsere Bauern sind Leistungsträger im ländlichen
Raum, weil sie Verantwortung für Mensch, Tier und
Umwelt übernehmen. Das Tierwohl ist etwas, was den
Verbrauchern beim täglichen Einkauf immer wichtiger
wird; das sagen alle Umfragen. Immer mehr Menschen
sagen: Ich will nicht nur wissen, was ich kaufe, sondern
auch, wie es produziert worden ist,
({4})
wie die Tiere gehalten worden sind und wie mit der Umwelt umgegangen worden ist. - Insofern ist das ein wichtiges Kriterium. Deswegen haben wir auch im Koalitionsvertrag festgelegt, dass die Tierwohl-Offensive ein
wichtiges Ziel sein soll. Ich möchte gerne im Dialog
zwischen Verbrauchern, Verbänden, den Tierhaltern und
der Landwirtschaft dafür sorgen, dass wir noch mehr für
das Tierwohl und den Tierschutz in unserem Land tun
können.
({5})
Das Ziel muss sein, dass Lebensmittel made in Germany als Markenzeichen gleichzeitig Nachhaltigkeit und
Tierschutz in sich tragen, damit jeder weiß: Wenn ich
Lebensmittel made in Germany kaufe, dann habe ich etwas für Umwelt, Tierschutz und Nachhaltigkeit getan.
Wir haben mit dem Deutschen Tierschutzbund ein
Tierlabel auf den Weg gebracht, das für Transparenz auf
den Märkten sorgt, ein Regionalfenster, das dem Verbraucher sagt, woher die Lebensmittel, die er kaufen
will, stammen. Wir brauchen keine Volksbevormundung, unser Leitbild muss der mündige Verbraucher
sein, der auf transparenten Märkten entscheiden kann,
was er kaufen möchte.
({6})
Wir sind stolz auf das Label „Made in Germany“
- Autos made in Germany, Maschinen made in
Germany -, wenn wir Produkte aus unserer industriellen
Fertigung verkaufen. Wir sollten auch stolz sein, dass
hervorragende landwirtschaftliche Produkte und Lebensmittel made in Germany bei unseren europäischen Nachbarn und auf den aufnahmefähigen Märkten der aufstrebenden Länder in Asien und woanders gefragt sind.
Auch die ökonomische Basis der Landwirtschaft hängt
mit dem Export zusammen. Wir sollten stolz sein, dass
wir Produkte made in Germany exportieren können - innerhalb Europas und darüber hinaus.
({7})
Neben dem ökonomischen Aspekt spielt der Gesundheitsschutz eine große Rolle. Wir haben in den letzten
Jahren Erfahrungen mit Krisen machen müssen. In Reaktion darauf haben wir die Reaktionssysteme schnell
gemacht und perfektioniert. Wir müssen aber auch präventiv noch mehr tun als bisher. Das ist deswegen nicht
ganz einfach, weil aufgrund unserer föderalistischen
Strukturen Bund und Länder zusammenarbeiten müssen.
Wir werden mit den Ländern darüber diskutieren, wie
wir ein Frühwarnsystem zur besseren Kontrolle auch im
präventiven Bereich schaffen können, vor allem wie wir
Lebensmittelbetrug, wie wir ihn ja in der Vergangenheit
kennengelernt haben, bekämpfen können. Auch dafür
werden wir zusammen mit den Ländern Vorschläge erarbeiten.
Gesunde Ernährung ist ein zentrales Thema. Sie ist
auch ein volkswirtschaftlicher Faktor: Gesunde Ernährung trägt dazu bei, dass - der Gesundheitsminister ist
nicht mehr anwesend - die Krankenkassen entlastet werden. Gesunde Menschen fühlen sich auch wohler; Gesundheit trägt zur Lebensqualität bei. Ich bin sehr stolz
und glücklich, dass es entsprechende Initiativen gibt,
zum Beispiel den Ernährungsführerschein des Deutschen LandFrauenverbandes, bei dem Kinder schon in
frühester Kindheit lernen, was gesunde und gute Ernährung ist. Ich glaube, das ist der richtige Weg, wie wir die
Menschen zu mündigen Verbrauchern machen.
({8})
Ländlicher Raum, Halt, gesellschaftliche Stabilität,
Heimat, dafür stehen nicht nur Landwirtschaft und Ernährungswirtschaft, dazu gehören auch Handwerk, mittelständische Unternehmen im verarbeitenden Gewerbe,
freiberufliche Strukturen. Wenn wir die Attraktivität des
ländlichen Raums, der für unser Land große Bedeutung
hat, in der Zukunft stärken wollen, müssen wir beachten,
dass der ländliche Raum in ökonomischer, gesellschaftlicher und politischer Hinsicht eine Gesamtheit bildet.
Auch dem wollen wir uns gemeinsam widmen.
({9})
Schließlich, meine sehr verehrten Damen und Herren,
haben wir nicht nur Verantwortung für unser Land und
für Europa, sondern auch darüber hinaus: Im Jahr 2050
werden auf der Erde 9 Milliarden Menschen leben. Die
Wissenschaftler rechnen uns vor, dass wir, allein um
diese 9 Milliarden zu ernähren, die Produktion der Landwirtschaft weltweit um 70 Prozent steigern müssen.
Meine Damen und Herren, die Lösung der Ernährungsprobleme der Weltbevölkerung findet zuallererst auf den
Äckern, auf den Feldern statt. Dort müssen die Erträge
erwirtschaftet werden, dort muss das produziert werden,
was die Milliarden von Menschen in der Zukunft ernähren soll. Deswegen hat die Agrarpolitik auch eine internationale Verantwortung: die Verantwortung für die Ernährung der Weltbevölkerung. Auch diesem Kapitel
wollen wir uns in besonderer Weise widmen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, Deutschland ist deswegen so stark, weil es starke ländliche
Räume hat. Wir wollen gemeinsam daran arbeiten, dass
das so bleibt. Ich freue mich auf die Zusammenarbeit.
Alles Gute.
({10})
Vielen Dank, Herr Minister Friedrich. - Das Wort hat
Karin Binder für die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Antworten brauchen wir noch einige, Herr Minister
Friedrich. Sie haben jetzt zwar einige Themen aufgezählt, aber viele Antworten habe ich leider nicht erkennen können.
Ich beginne jetzt einfach einmal mit Ihrem Schluss,
den Ernährungsproblemen der Weltbevölkerung. Ich
glaube nicht, dass Ertragssteigerungen die Lösung des
Problems sind. Wir müssen dafür sorgen, dass die vielen
Menschen in den Ländern dieser Welt, in denen Armut
und Hunger vorherrschen, in die Lage versetzt werden,
sich selbst zu versorgen.
({0})
Dazu gehört aber, dass wir deren Ackerflächen nicht
dazu benutzen, Tierfutter für unsere Tiere anzubauen.
({1})
Millionen Tonnen werden jährlich zu uns geliefert, damit wir einen Fleischkonsum praktizieren können, der
dazu führt, dass wir dicke Kinder, fehlernährte Erwachsene
({2})
und gesundheitliche Probleme - angefangen bei HerzKreislauf-Erkrankungen über Gelenkerkrankungen bis
hin zu Gicht usw. - haben. Das alles hängt zusammen.
Wir müssen dafür sorgen, dass unsere Gesellschaft
über Verbraucherverhalten und Konsum nachdenkt.
({3})
Weniger ist mehr: mehr Qualität.
({4})
Damit bin ich beim Thema „Industrielle Lebensmittelherstellung“. Wir haben das Problem, dass viele Menschen heute nicht mehr wissen, was in ihren Lebensmitteln ist. Die Kennzeichnungspflicht ist völlig
unzulänglich. Eigentlich kann jeder Betrieb machen, was
er will, Hauptsache, das steht in einer Schriftgröße von
1,2 Millimetern irgendwo im Kleingedruckten hintendrauf. Das ist absolut unzulänglich. Wir brauchen klare
Kennzeichnungen bezüglich der Dickmacher - Fett, Zucker, Salz - und der Zusatzstoffe: Geschmacksverstärker, Farbstoffe und andere, die zum Beispiel der Konservierung dienen.
Wir alle wissen mittlerweile, welche gesundheitlichen
Folgen das nach sich zieht, insbesondere wenn Kinder
damit konfrontiert sind. Kinder reagieren darauf mit Unverträglichkeiten und Allergien und haben als Erwachsene extreme Probleme, sich vernünftig zu ernähren.
Das sind unsere Probleme. Diese sind im Zusammenhang mit einer Überflussgesellschaft entstanden und
werden weiter befördert. Hier müssen wir ansetzen. Deshalb ist die Linke auch in der letzten Legislaturperiode
vehement für eine gesunde, qualitativ hochwertige und
kostenfreie Schulverpflegung eingetreten. Das werden
wir auch in dieser Legislaturperiode wieder aufgreifen.
({5})
Hier müssen wir ansetzen. Die Kinder müssen in der
Schule in Theorie und Praxis lernen können, wie vernünftige Ernährung aussieht. Der Ernährungsführerschein ist wunderbar; das ist ein schönes Beispiel. Damit
erreichen Sie aber nur einen kleinen Bruchteil der Kinder. Wir wollen aber alle Kinder erreichen, insbesondere
auch die aus armen Elternhäusern, die keine 3,50 Euro
für das Schulessen bezahlen können. Wir wollen, dass
all diese Kinder gut versorgt sind,
({6})
sodass sich die Eltern, wenn sie nach der Arbeit heimkommen, keine Sorgen machen und fragen müssen, wie
das Kind den Tag überstanden hat und ob es die Fertigpizza in die Mikrowelle geschoben hat.
All diese Fehler, die durch den Arbeitsalltag und die
Dominanz der Wirtschaft und der Betriebe entstehen,
muss diese Gesellschaft ausgleichen. Wenn wir das nicht
tun, werden wir leider auch weiterhin zugucken müssen,
wie die Menschen auf der einen Seite der Welt dick werden und auf der anderen Seite der Welt millionenfach
verhungern; denn alle zehn Sekunden stirbt auf dieser
Welt ein Kind an Unterernährung, weil die vorhandenen
Lebensmittel nicht richtig verteilt werden.
Frau Kollegin, denken Sie bitte an Ihre Redezeit.
Jawohl. - Auch hier spielt die Verteilungsfrage leider
eine wichtige Rolle.
Deshalb kann ich nur sagen: Wir haben in dieser Legislaturperiode noch viel zu tun. Herr Minister Friedrich,
ich hoffe, Sie packen hier mit an.
Danke schön.
({0})
Vielen Dank, Frau Kollegin. - Als nächste Schwäbin
hat Ute Vogt für die SPD das Wort.
({0})
Herzlichen Dank. - Frau Präsidentin! Herr Minister!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte mit Ihrer
Erlaubnis, Frau Präsidentin, mit einem Zitat beginnen:
„Wir brauchen ein neues Denken und Handeln in der
Agrarpolitik.“ So hat es der Präsident des Deutschen
Tierschutzbundes, Thomas Schröder, anlässlich der Demonstration am 18. Januar 2014 in Berlin gefordert.
An diesem Tag, einem Samstagvormittag mit kaltem
Wetter, haben sich immerhin über 30 000 Menschen versammelt, die dafür demonstriert haben, dass wir hier in
der Agrarpolitik einen Wechsel herbeiführen.
({0})
Es ist gut, wenn die Agrarpolitik öffentliche Aufmerksamkeit bekommt. Ich denke, dass wir im Koalitionsvertrag zwar keine Revolution beschlossen, aber immerhin
deutliche Wegmarken gesetzt haben, auch für Neues.
Ich will das am Beispiel von Tierhaltung und Tierwohl erläutern - ich habe mich gefreut, Herr Minister,
dass auch Sie das in Ihrer Rede herausgestellt haben -:
Es ist unser Ziel, dass die Tierhaltung an die Bedürfnisse
der Tiere angepasst wird und nicht umgekehrt. Das ist
für unser Politikverständnis ein wichtiger Punkt.
({1})
Es geht darum, die Tierhaltung an die Größe der Flächen zu binden und Prüf- und Zulassungsverfahren im
Zusammenhang mit Haltesystemen einzuführen. Das
sind sehr konkrete Forderungen, auf die wir uns verständigt haben und die wir in Kürze umsetzen wollen.
Es ist ebenfalls erfreulich, dass sich auch der Bauernverband diesem Thema widmet. Aber ich will hier auch
deutlich sagen: Es reicht nicht aus, nur einige Vorzeigebetriebe zu haben. Notwendig sind tatsächliche Veränderungen in Form von höheren Standards und mehr Transparenz für die Verbraucherinnen und Verbraucher, die
wissen wollen, unter welchen Bedingungen ihre Lebensmittel entstanden sind.
({2})
Ein weiterer Schwerpunkt, Herr Minister Friedrich
- ich habe mich gefreut, dazu etwas von Ihnen auf der
Grünen Woche zu hören -, kam von Ihnen anlässlich des
Tages des Ökologischen Landbaus - ich darf erneut zitieren, Frau Präsidentin -:
Der ökologische Landbau setzt Maßstäbe: Er
schont die Ressourcen, wirtschaftet besonders umweltverträglich und orientiert sich noch stärker am
Prinzip der Nachhaltigkeit.
Sehr geehrter Herr Minister, liebe Kolleginnen und
Kollegen, ich glaube, wenn Sie diese Aussagen zum
Maßstab unserer gemeinsamen Politik machen, dann
werden Sie hier nicht nur die Große Koalition, sondern
eine weit darüber hinausgehende Mehrheit hinter sich
haben, nicht nur in diesem Hause, sondern auch in der
Bevölkerung.
({3})
Nachhaltig heißt auch, dass wir Gefährdungen für
kommende Generationen ausschließen. In Deutschland
hat die große Mehrheit der Bevölkerung große Vorbehalte gegen den Einsatz von Gentechnik in der Landwirtschaft. Auch im Kabinett gibt es mit Blick auf die Ressorts eine Mehrheit dafür, keine weiteren gentechnisch
veränderten Produkte - ich beziehe mich auf die Grüne
Gentechnik - in Deutschland zuzulassen. Das betrifft
nicht allein die SPD-geführten Ressorts, sondern ich
denke, dass wir auch das Landwirtschaftsministerium an
unserer Seite finden, wenn es um eine aktuelle Frage
geht, nämlich die Zulassung der Maislinie 1507 auf europäischer Ebene. Wir wollen nicht, dass sie zugelassen
wird.
({4})
Wir haben uns im Koalitionsvertrag darauf verständigt,
dass wir die Vorbehalte der Bevölkerung ernst nehmen. Wir
fordern von der Bundesregierung und in diesem Fall vor allem auch vom Bundesforschungsministerium, dass sie
sich an die dazu im Koalitionsvertrag getroffenen Regelungen halten.
Ich füge hinzu: Jenseits des Grundsatzstreites mit
dem Forschungsministerium an dieser Stelle geht es im
konkreten Fall um eine Maislinie, die uns weder wirtschaftlich etwas bringt, noch für die es eine Nachfrage in
Deutschland gibt. Es gibt in Deutschland auch keinerlei
Forschungsinteresse, was diese Maislinie angeht. Deshalb spricht im konkreten Fall - nicht im Grundsätzlichen, aber in diesem konkreten Fall - überhaupt nichts
dafür, diese Maislinie zuzulassen. Ich erwarte von unserer Bundesregierung, dass wir mit einem klaren Nein zu
diesem Thema nach Brüssel fahren.
({5})
Wir werden uns bemühen, das durchzusetzen. Wir haben noch Zeit, weil die Entscheidung der Europäischen
Union noch etwas aussteht. Ich freue mich über jeden
und jede, die das unterstützen, natürlich auch vonseiten
des Koalitionspartners.
Ich denke, wie gesagt, wir haben einen guten Vertrag,
der gute Ansätze bietet. Aber es kommt auch darauf an,
dass wir das, was wir gemeinsam niedergeschrieben und
zum Teil auch gemeinsam errungen haben, durchaus
ernst nehmen und jetzt umsetzen. Ich freue mich darauf.
({6})
Danke, Frau Kollegin. - Der nächste Redner ist
Friedrich Ostendorff für Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr
Minister Friedrich, eines muss man Ihnen lassen: Sie haben Ihre erste Grüne Woche mit Geschick gemeistert.
({0})
Sie haben nicht, wie manche Ihrer Parteikollegen, reflexartig in das Horn des Bauernverbands geblasen.
Mir ist durchaus bewusst, dass schon die positive Erwähnung der „Wir haben es satt!“-Demo vom vorletzten
Samstag und Ihr Gesprächsangebot an die 30 000 Demonstranten in Ihrer Fraktion einer kleinen Revolution
gleichkommt. Angesichts der Bauernverbandsfunktionäre in Ihren Reihen werden Sie viel Rückgrat brauchen,
um Ihre anfängliche Politik des Dialogs durchzuhalten.
Selbstkritik, Offenheit, Dialog und Transparenz sind ja
bisher nicht die Sache der CDU/CSU und des Deutschen
Bauernverbands.
({1})
Stattdessen geht es hier zu wie beim ADAC:
({2})
Es wird beschönigt und verharmlost. Kritiker werden beschimpft, ausgegrenzt und zu Nestbeschmutzern und
Antidemokraten erklärt, mit denen man besser nicht
spricht.
So empfiehlt der Bauernverband seinen Mitgliedern
das Schönreden als Reaktion auf die wachsende Kritik
an der Massentierhaltung. Man soll nicht mehr wissenschaftlich korrekt von Schnabelkürzen reden, sondern
Schnabelbehandlung sagen. Man soll den Begriff „Antibiotika“ unbedingt vermeiden und bloß nicht von Massentierhaltung, sondern von moderner Tierhaltung reden.
Präsident Rukwied spricht sogar von Wellness- und Relaxzonen in deutschen Schweineställen.
({3})
Pünktlich zur Grünen Woche findet der arglose Fahrgast im Zug ein Hochglanzmagazin namens Meat-Magazin vor, das die Vorzüge zügellosen Fleischkonsums anpreist und eine heile Welt der Tierhaltung vorgaukelt.
Herausgeber: der Deutsche Bauernverband.
Herr Minister, der Markt verlangt Wahrheit und Klarheit mit sauberer Herkunftskennzeichnung. Das ist das
Gebot der Stunde.
({4})
Begleitet wird die Schönfärberei durch eine wilde Publikumsbeschimpfung durch Herrn Rukwied, der mit
seiner wüsten Gummistiefelrhetorik alle Kritiker als
Lügner und Verleumder verunglimpft, die „Gülle über
redliche Bauernfamilien ausschütten“.
Die CDU/CSU sekundiert diese Strategie mit politischer Dauerblockade, egal ob es um die EU-Agrarreform, das Tierschutzgesetz, die Massentierhaltung, die
Gentechnikfreiheit oder die Förderung des Ökolandbaus
geht. Keine Spur von Einsicht, dass Massentierhaltung
Quälerei ist, dass das Amputieren der Schnäbel bei den
Hühnern eine Verstümmelung ist, dass es beim Antibiotikamissbrauch nicht um eine Bagatelle, sondern um
eine Gefährdung der menschlichen Gesundheit geht und
dass Strukturwandel eine unerträgliche Verharmlosung
des Verlustes Tausender bäuerlicher Existenzen jedes
Jahr ist. Bei keinem einzigen dieser Probleme haben Sie,
meine Damen und Herren von der CDU/CSU, in den
letzten vier Jahren etwas zustande gebracht.
({5})
Nein, wir müssen die Missstände in der Landwirtschaft schon beim Namen nennen: 65 Prozent der Stickstoffemissionen stammen in Deutschland aus der Tierhaltung. 94 Prozent der Ammoniakemissionen werden
durch die Landwirtschaft verursacht. Ein Drittel der
Grundwassermessstellen in den viehdichten nordrheinwestfälischen und niedersächsischen Kreisen weisen
Grenzwertüberschreitungen bei Nitrat von mehr als
50 Milligramm pro Liter auf, Tendenz stark ansteigend.
1 619 Tonnen Antibiotika wurden 2012 in der Tierhaltung verwendet, davon rund 800 Tonnen in den niedersächsischen und westfälischen Hochburgen der Massentierhaltung. Gewinnen tun dabei nicht die von Ihnen
beschworenen Familienbetriebe, meine Damen und Herren; Gewinner ist die von Ihnen vertretene Agrarindustrie.
Die UN hat das Jahr 2014 zum Jahr der bäuerlichen Familienbetriebe ausgerufen. Heute ist zu lesen - Zitat -:
Die bäuerliche Landwirtschaft bildet das Rückgrat
der weltweiten Nahrungsmittelversorgung.
So sagte der UN-Sonderbotschafter, der frühere Präsident des DBV, Gerd Sonnleitner. Wie wahr!
Nur, die Zahl der Familienarbeitskräfte in der Landwirtschaft ist von 80 Prozent 1990 auf heute 50 Prozent
gesunken. Von 1999 bis 2000 haben 45 Prozent der
Milchvieh-, 50 Prozent der Schweine- und 75 Prozent
der Geflügelbetriebe trotz zum Teil stark steigender Gesamttierzahlen zugemacht. Diese Entwicklung ist nicht
die Zukunft der bäuerlichen Landwirtschaft, sondern ihr
Ende.
({6})
Die Zukunft der bäuerlichen Landwirtschaft liegt im
Schulterschluss mit der Gesellschaft. Sie liegt in dem
Versuch, gemeinsam mit der Gesellschaft eine nachhaltige, ökologische und soziale Landwirtschaft aufzubauen. Für diese Zukunft der bäuerlichen Landwirtschaft
waren am 18. Januar über 30 000 Menschen auf der
Straße.
({7})
Herr Minister Friedrich, es ist gut, dass Sie moderatere Töne anschlagen und den konstruktiven Dialog
scheinbar suchen. Sie haben in den letzten Tagen viele
Erwartungen geweckt. Nun ist es Zeit, Taten folgen zu
lassen und endlich etwas für die bäuerliche Landwirtschaft zu tun.
({8})
Vielen Dank, Herr Kollege. - Als Nächste hat
Marlene Mortler das Wort für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Der Begriff des Nestbeschmutzers hat einen
Namen: Friedrich Ostendorff.
({0})
Ich finde es unsäglich, wie er hier unsere Landwirtschaft
in Europa und in Deutschland in Bausch und Bogen verurteilt hat.
({1})
So geht es nicht. Wir stehen dafür, dass Missstände aufgedeckt werden. Wir stehen dafür, dass schwarze Schafe
an den Pranger gestellt und bestraft werden.
({2})
Aber wir stehen auch zu unseren Landwirten, die nach
bestem Wissen und Gewissen ihren Beruf ausüben.
({3})
Damit zu unserem Minister. Ich finde es klasse, wie er
in den letzten Wochen das Thema Landwirtschaft an sich
gerissen hat; das haben wir gerade wieder live erlebt. Für
mich war das eine Liebeserklärung an den ländlichen
Raum und an die Landwirte im ländlichen Raum.
({4})
Gerade die Grüne Woche hat deutlich gemacht, dass
das Interesse an weltweiter Agrarpolitik und Welternährung immer größer wird. Diese Messe weist eine Rekordbilanz auf. 410 000 Messegäste aus über 70 Ländern
und 1 650 Aussteller haben darüber diskutiert und debattiert, wie wir die Zukunft der Welternährung sichern
können. Es war nicht nur ein agrarpolitisches Treffen
von weltweitem Rang. Es war auch ein Großereignis, um
Verbrauchern Produktion, Qualität und Sicherheit von
Nahrungsmitteln transparent und anschaulich vor Augen
zu führen, ein Aspekt, der - das gebe ich gerne zu - immer wichtiger wird. Unsere gut 280 000 landwirtschaftlichen Betriebe - in der Mehrzahl bäuerliche Familienbetriebe - produzieren höchste Qualität. Ich zitiere hier
gerne das Bundesinstitut für Risikobewertung, das gesagt hat: Nie waren unsere hiesigen Lebensmittel sicherer als heute.
({5})
Wir beobachten jedoch eine zunehmende Entfremdung zwischen landwirtschaftlicher Produktion und Teilen der Gesellschaft. Transparenz in der Herstellungskette vom Saatgut bis zum Teller - wie auf der Grünen
Woche erlebbar - ist wichtiger denn je, um Verständnis
für moderne Produktion und moderne Verarbeitung von
Nahrungsmitteln zu schaffen. Gleiches gilt selbstverständlich auch für Fragen des Tierwohls. Denn - wie
eine Studie von TNS Infratest vom Mai 2013 besagt im Bereich Sicherheit von Lebensmitteln hängt viel vom
Informationsstand des einzelnen Verbrauchers ab. Je weniger er informiert ist, umso unsicherer ist er. Je mehr er
weiß, umso sicherer bewertet er die Lebensmittel.
({6})
Damit bin ich bei der Kollegin der Linken. Ich behaupte: Hier hat keine aufgeklärte Verbraucherin, sondern eine unaufgeklärte Politikerin gesprochen.
({7})
Fachliche, ideologiefreie Aufklärung nicht nur durch die
Politik, sondern auch durch jeden einzelnen Betrieb in
der Prozesskette nach dem Motto „Warum und wie mache ich was?“ ist eine Daueraufgabe. Die Entfremdung
von landwirtschaftlicher Produktion bietet den Nährboden für nicht hinnehmbare Pauschalverurteilungen eines gesamten Berufsstandes. Es geht eben nicht um das
Ausspielen von Biolandwirtschaft gegen konventionelle
Landwirtschaft. Wir sind Gott sei Dank an einem Gunststandort, wo beide Bereiche ihre Berechtigung haben.
({8})
Parallel dazu, liebe Kolleginnen und Kollegen, sehen
wir diese Entfremdung auch beim Thema gesunde Ernährung. Wir dürfen nicht zulassen, dass unser Gesundheitssystem wegen falscher Ernährung und Verhaltensweisen folgenschwer belastet wird. Hier ist mit dem
Beschluss der Kultusministerkonferenz im Herbst letzten Jahres zur Verbraucherbildung an Schulen - Stichworte „Alltagsökonomie“, „Ernährungskompetenz“,
„Lebensökonomie“ - ein weiterer Meilenstein auf dem
Weg zu frühzeitiger und damit nachhaltiger Aufklärung
auf diesem Feld erreicht worden.
An dieser Stelle danke ich - genauso wie mein Minister - unseren Landfrauen landauf, landab, die der Motor
dafür waren, dass diese wichtigen Felder in den Unterricht eingebaut werden. Danke!
({9})
Meine Damen, meine Herren, die Vereinten Nationen
haben aus guten Gründen das Jahr 2014 zum Jahr der
bäuerlichen Familienbetriebe ausgerufen. Sie haben erkannt: Familienbetriebe sind weltweit die Voraussetzung
für starke ländliche Räume; da sind wir uns wieder einig,
Friedrich Ostendorff. Und warum? Weil sie persönlich
für unternehmerische, finanzielle Entscheidungen haften
und damit eine hohe Eigenverantwortung übernehmen.
Tag für Tag haben sie generationenübergreifend ihre
Familien, ihre Mitarbeiter, ihre Tiere und eine intakte
Umwelt im Blick.
Zugang zu Land und zu Eigentum, zu den Agrarmärkten und eine gute Ausbildung sind und bleiben der
Schlüssel für die Landwirte nicht nur bei uns, sondern
weltweit. Das heißt, wir brauchen mehr leistungsfähige
bäuerliche Familienbetriebe, die mit weniger Einsatz
mehr produzieren. Wir haben dafür das Wissen und das
Können in unserem Land, und wir versündigen uns an
der Zukunft, wenn wir dieses Wissen und Können nur
bei uns umsetzen oder sogar - wie die Grünen hier - infrage stellen. Wir haben die Pflicht, einen starken Beitrag im Sinne der sogenannten Millenniumsziele in unserem Land und weltweit zu leisten.
In diesem Sinne schließe ich mit einem Satz unseres
Landwirtschaftsministers:
Das Landwirtschaftsministerium ist das Wirtschaftsministerium des ländlichen Raums.
Wenn das alle Landwirtschaftsministerien der Welt
erkannt haben, dann sind wir auf einem guten Weg. Wir
leisten unseren Beitrag dazu.
Danke.
({10})
Danke, Frau Kollegin Mortler. - Die nächste Rednerin ist Dr. Kirsten Tackmann für die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Frau Mortler, ich glaube, so ganz den parlamentarischen
Gepflogenheiten hat das nicht entsprochen, wie Sie hier
mit den Kollegen umgegangen sind. Ich finde schon,
man sollte da etwas fairer sein.
({0})
Um zur Realität zurückzukommen: Ganz so schick ist
das in den Dörfern und kleinen Städten ja nicht.
({1})
Das liegt auch daran, dass wir einem falschen agrarpolitischen Leitbild folgen. Die Linke will eine Landwirtschaft, die die Menschen versorgt, am besten regional.
Dann ist der Markt aber nur ein Dienstleister. Aber die
Realität ist, dass die Landwirtschaft der Dienstleister für
einen globalen Markt geworden ist, der die Menschen
nur auf ihren Geldbeutel reduziert. Dieser sozial und
ökologisch blinde Markt knebelt die Landwirtschaftsbetriebe.
Wer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gut behandelt
und die Natur schont, der setzt sich einem betriebswirtschaftlichen Risiko aus. Das ist der Systemfehler, den
wir beheben müssen.
({2})
Die Kanzlerin forderte doch gestern den Staat als die
ordnende Macht, als den Hüter der Ordnung. Aber wo ist
dafür der agrarpolitische Beleg im Koalitionsvertrag?
Die vagen Aussagen und Prüfaufträge sind eher ein
Wegducken. Das lassen wir Ihnen nicht durchgehen.
Gerade weil sich die Konflikte in den Dörfern und
kleinen Städten zuspitzen, brauchen wir ein neues agrarpolitisches Konzept, ein friedensstiftendes, so möchte
ich es nennen. Ich will nur einige Brandherde benennen:
Die Boden- und Pachtpreise sind unterdessen mit landwirtschaftlicher Arbeit nicht mehr zu finanzieren. Deshalb müssen wir den spekulativen Bodenerwerb durch
nichtlandwirtschaftliche Investoren beenden.
({3})
Übertragen Sie endlich die BVVG-Flächen an die ostdeutschen Länder, am besten kostenlos oder zumindest
zu einem fairen Preis. Regeln Sie endlich gesetzlich
Obergrenzen für die Tierhaltung, sowohl hinsichtlich der
Größe als auch der Dichte für Standorte und Regionen.
({4})
Megaställe mit 400 000 Hähnchen oder 40 000 Schweinen sind nicht vernünftig, weder sozial noch ökologisch,
und sie werden auch nicht akzeptiert.
Stärken Sie die Erzeugerbetriebe durch die Förderung
regionaler Verarbeitung und Vermarktung. Das bringt
Wertschöpfung in die Regionen. Das ist übrigens besser
für die Betriebe als Fördergelder, die häufig in falschen
Taschen landen.
({5})
Stärken Sie Erzeugergemeinschaften. Binden Sie Agrargenossenschaften in die Aus- und Weiterbildung ein.
Da können Sie vielleicht vom Osten etwas lernen. Schaffen Sie die anachronistische Hofabgabeklausel ab. Die
ist ein Witz.
({6})
Da muss ein Bauer seinen Hof verkaufen, damit er eine
Armutsrente bekommt. Ich finde, das ist staatlich angeordnete Enteignung und wird den Strukturwandel allerhöchstens beschleunigen; das ist nicht notwendig.
({7})
Sorgen Sie dafür, dass bei der Energiewende die Dörfer mitbestimmen können und auch davon profitieren
und nicht nur die Landeigentümer und die Investoren.
Deckeln Sie den Maisanteil für Biogasanlagen bei
30 Prozent. Es gibt doch unterdessen vernünftige Alternativen, die auch noch für eine bienenfreundliche Landwirtschaft geeignet sind.
({8})
Stellen Sie klar, dass eine Vorerntebehandlung mit
dem Unkrautvernichter Glyphosat keine gute landwirtschaftliche Praxis ist. Stellen Sie das ein.
({9})
Sorgen Sie dafür, dass bei dringend benötigten Ausweichflächen für Hochwasser die Agrarbetriebe fair
behandelt werden. Aber sorgen Sie auch dafür, dass
Hochwasserschutz für viele nicht an einzelnen Landeigentümern scheitert. Dafür gibt es Art. 14 Grundgesetz.
({10})
Lehnen Sie die Zulassung gentechnisch veränderter
Pflanzen ab. Die Mehrheit durchschaut doch längst, wer
davon profitiert, und sie will keine Landwirtschaft, die
am Gängelband der Saatgutkonzerne hängt.
({11})
Vergessen Sie übrigens auch das Freihandelsabkommen mit den USA; denn Chlorhähnchen und Fracking
will nun wirklich überhaupt niemand.
Herr Minister Friedrich, machen Sie sich im Kabinett
für die Dörfer stark. Die müssen per Bus und Bahn erreichbar bleiben, Kranke müssen versorgt werden, und
das Internet darf kein Neuland und übrigens auch keine
Verheißung werden.
({12})
Beenden Sie die direkte und indirekte Exportförderung, weil sie den Entwicklungsländern die Zukunftschancen verbaut. Machen Sie Agrarforschung zur Chefsache. Dann ist uns selbst und auch der Welt geholfen.
Zum Schluss ein Rat: Wer die Feuerwehr nicht ruft,
wenn es brennt, oder absichtlich das Wasser abstellt, riskiert Totalschaden, auch politisch. Ihre 100 Tage laufen.
Vielen Dank.
({13})
Danke, Frau Kollegin Tackmann. - Die nächste Rednerin in der Debatte ist Elvira Drobinski-Weiß für die
SPD.
({0})
Frau Präsidentin! Herr Minister! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! In den letzten Jahren hat die Verbraucherpolitik der Bundesregierung unter ihren falschen
Voraussetzungen gelitten; denn auf dem Markt der
schwarz-gelben Vergangenheit bewegten sich ausschließlich mündige Verbraucher. Bei der Kollegin
Mortler ist das auch hängen geblieben, wie wir vorhin
gehört haben. Das sind nämlich solche, die jederzeit und
überall in der Lage sind, informierte und rein rationale
Konsumentscheidungen zu treffen, ob beim Zehnminuteneinkauf im Supermarkt, im Internet oder auch beim
Abschluss eines Versicherungsvertrages. Dem widersprechen jedoch die Ergebnisse der Verbraucherforschung. Wir wissen alle, alle, wie wir hier sitzen, aus unserem eigenen Alltag, dass zwischen diesem Ideal und
der Realität eine große Lücke klafft.
Die Verbraucherpolitik gehört zu den Bereichen, in
denen es mit der neuen Bundesregierung die größten
Neuerungen geben wird. Damit meine ich jetzt weniger
die neue Ressortaufteilung. Ich sehe, Herr Landwirtschaftsminister, Ihr Kollege Verbraucherminister ist
auch da. Ich meine damit, dass die Politik auf eine neue
Basis gestellt wird. Das gilt unabhängig davon, ob es um
Lebensmittel geht, um die digitale Welt oder um Finanzdienstleistungen. Ich bin sehr froh, dass unsere neue
Bundesregierung im Koalitionsvertrag den realen Verbraucher, die reale Verbraucherin mit ihren unterschiedlichen Voraussetzungen, Interessen und Problemen im
Blick hat. Damit können wir gemeinsam eine Verbraucherpolitik gestalten, die bei den Menschen ankommt
und ihren Alltag erleichtert.
({0})
Es ist eine Verbraucherpolitik mit dem Ziel, für
Schutz zu sorgen, wo Verbraucher sich nicht selbst
schützen können - dafür haben wir genügend aktuelle
Beispiele -, sie zu unterstützen durch gezielte und umfassende Information, Beratung und Bildung, Transparenz zu schaffen durch Vergleichbarkeit, Möglichkeiten zu schaffen für eine effektive Rechtsdurchsetzung.
Zusammengefasst: Dieser Verbraucherpolitik geht es
darum, Interessen, Bedürfnisse und Vorbehalte zu berücksichtigen.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie haben bestimmt
Verständnis dafür, dass ich, wie meine Kollegin Ute
Vogt, noch ein Wort zur Agrogentechnik verliere. Ute
Vogt hat bereits darauf hingewiesen, dass wir diese
Technologie nicht brauchen.
({2})
Herr Bundeslandwirtschaftsminister, Ihr Haus hat erst
im Dezember eine Studie veröffentlicht, die Ihr Haus in
Auftrag gegeben hatte. Diese Studie zeigte, dass 83 Prozent der Menschen diese Technik ablehnen. Deshalb ist
es für uns klar, dass die Zulassung der gentechnisch veränderten Maislinie 1507 in Brüssel abgelehnt werden
muss.
({3})
Mit dem Koalitionsvertrag haben wir ein gutes, aber
auch ein ehrgeiziges Programm, bei dem wir die Bundesregierung nach Kräften unterstützen wollen, zumal,
wie wir wissen, gerade die Verbraucherpolitik sich
dadurch auszeichnet, dass das Leben täglich neue Tagesordnungspunkte auf die Agenda setzen kann. Ich sage
„das Leben“ und erinnere an Schufa, an ADAC oder an
einen neuen Lebensmittelskandal. Wie wir wissen,
kommt der nächste bestimmt.
({4})
Die im Koalitionsvertrag skizzierten Vorgaben ergeben eine anspruchsvolle Agenda, aus der ich wegen der
Kürze der Zeit nur wenige Punkte herausgreifen kann.
So gilt es insbesondere, im Lebensmittelbereich verlorengegangenes Vertrauen vom Verbraucher zurückzugewinnen. Ich sehe das nicht so optimistisch, wie es einige
Vorrednerinnen und Vorredner formuliert haben. Denn
Anlässe zum Misstrauen gab es beispielsweise durch die
großen Lebensmittelskandale wie Gammelfleisch oder
Dioxin im Ei. Allzu oft fühlen sich Verbraucherinnen
und Verbraucher von Verpackungsaufmachungen oder
von Bezeichnungen hinters Licht geführt. Das Internetportal lebensmittelklarheit.de zeigt Fälle, in denen die
Erwartungen von Verbrauchern an Produkte nicht erfüllt
wurden.
Wir finden auch, dass die Verbraucher endlich eine
echte Wahlfreiheit haben müssen, zum Beispiel durch
eine EU-weit verpflichtende Kennzeichnung für Produkte von Tieren, die mit gentechnisch veränderten
Pflanzen gefüttert worden sind.
({5})
Die Lebensmittelüberwachung soll besser vernetzt
und ihre Standards sollen vereinheitlicht werden. Außerdem soll eine sachgerechte Kontrolldichte für mehr
Sicherheit sorgen. Im Verbraucherinformationsgesetz
- dessen Umsetzung liegt ja in Ihrem Haus, Herr Minister Friedrich - und im Lebensmittel- und Futtermittelgesetzbuch sollen Änderungen endlich eine rechtssichere
Veröffentlichung von Verstößen ermöglichen. Ich finde,
Verbraucherinnen und Verbraucher haben ein Recht darauf, zu erfahren, in welchen Betrieben geschmuddelt
wird und welche Betriebe vorbildlich sind.
({6})
Unser Ziel - ich denke, unser aller Ziel - ist ein verbraucherfreundlicher, transparenter Markt, auf dem sichere und gute Produkte unter fairen und nachhaltigen
Bedingungen hergestellt und angeboten werden. Dafür
werden wir uns einsetzen.
Vielen Dank.
({7})
Vielen Dank, liebe Kollegin. - Ich danke auch dafür,
dass Sie Ihre Redezeit absolut eingehalten haben. Das
war schon mal eine kleine Mahnung für alle nachfolgenden Redner.
Das Wort hat der Abgeordnete Harald Ebner für
Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Etwas hat in der Rede des Herrn Ministers gefehlt. Es wurde dann von der gefühlten Scheinopposition
SPD doch noch nachgeholt. Was die Menschen in diesem Land im Bereich Ernährung und Landwirtschaft
dieser Tage nämlich umtreibt, ist jenseits von GAP und
Milchquote die Frage der Gentechnik auf dem Acker.
In der nächsten Sitzungswoche entscheiden die Regierungen der EU-Mitgliedstaaten, also auch Sie, Herr
Minister Friedrich, ob die gentechnisch veränderte Maislinie 1507 für den Anbau in der EU zugelassen wird. Sie
entscheiden damit auch, ob Deutschlands Äcker weiterhin frei von Gentechnik bleiben. Das ist die Frage.
Nach jüngsten Umfragen wollen 88 Prozent der Menschen in Deutschland keine Gentechnik auf Acker und
Teller - und das aus gutem Grund. Diese Maislinie
bringt - wie alle anderen Gentechnikpflanzen - keinen
Mehrertrag, keine qualitativen Vorteile, und vor allem
produziert sie ein Insektengift, das unter anderem seltene
Schmetterlingsarten bedroht.
Die Zulassung einer solchen Maislinie schadet auch
dem Produktionsstandort Deutschland. Landwirte, Ernährungswirtschaft und Handel haben sich in den letzten
Jahren auf eine gentechnikfreie Erzeugung ausgerichtet.
Allein die 190 Mitgliedsunternehmen des Verbandes Lebensmittel ohne Gentechnik - das ist die grüne Raute der
Vorgängerin Aigner - erzielen einen Jahresumsatz von
68 Milliarden Euro. Die deutsche Lebensmittelwirtschaft müsste sich nach so einer Zulassung mit einem
Riesenaufwand und unter hohen Kosten vor der Verun772
reinigung ihrer Felder und Produkte schützen. Es steht
also nicht weniger auf dem Spiel als der hart errungene
Status eines gentechnikfreien Landes, meine Damen und
Herren.
({0})
Zur Gentechnik gab es von den Koalitionären CSU
und SPD vorher knackige Worte: „Freisetzungen von
gentechnisch veränderten Pflanzen werden in Bayern
nicht gestattet“, so die CSU 2013, oder: „Wir lehnen die
Zulassung der gentechnisch veränderten Maissorte ab“,
so Bundeswirtschaftsminister, Vizekanzler und SPDVorsitzender Sigmar Gabriel letzte Woche.
({1})
Da hatte ich noch den Hoffnungsschimmer, dass sich
nach dem Ausscheiden der Pro-Gentech-Fraktion FDP
in diesem Haus etwas bewegt. Aber: Fehlanzeige! Die
Halbwertszeit dieser Aussagen ist kurz.
({2})
Vor gerade vier Stunden hat die Große Koalition hier im
Hohen Hause, Herr Kollege, unseren Antrag gegen die
Zulassung der Maislinie 1507 mit 452 Stimmen abgelehnt, auch mit der Stimme der Kollegin Vogt und mit
den Stimmen der anderen Kolleginnen und Kollegen der
SPD. Da finde ich es schon seltsam, wenn man jetzt hier
große Töne anschlägt.
({3})
Wenn im Koalitionsvertrag steht: „Wir erkennen die
Vorbehalte des Großteils der Bevölkerung gegenüber der
grünen Gentechnik an“, dann frage ich mich schon, was
das für eine Anerkennung ist. Auf so eine Anerkennung
kann ich eigentlich verzichten.
({4})
Herr Kollege, denken Sie bitte an die Redezeit.
Ich komme gleich zum Schluss. - „Im Zweifel handeln wir für den Menschen“, hat Kanzlerin Merkel gestern hier verkündet.
({0})
Die Menschen wollen diese Gentechnik nicht. Dann erwarte ich auch, dass sich der Herr Friedrich und dass
sich die Bundeskanzlerin dafür einsetzen, dass die Gentechnik nicht auf unsere Äcker kommt. Deshalb hier
noch mein Appell: Stimmen Sie in der nächsten Sitzungswoche in Brüssel gegen die Zulassung dieser
Maissorte! Ich erwarte von der CSU und ich erwarte
auch von den Kolleginnen und Kollegen der SPD,
Und ich erwarte, dass Sie jetzt zum Ende kommen.
- dass sie sich effektvoll, wirksam und vor allem erfolgreich dafür einsetzen.
Danke schön.
({0})
Danke, Herr Kollege. - Der nächste Redner ist Alois
Gerig für die CDU/CSU.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine Damen und Herren! Die Landwirtschaft hat durchaus noch Bedeutung in Deutschland.
670 000 Erwerbstätige sind in dem Bereich der Land-,
Forst- und Fischereiwirtschaft tätig. Das sind zwar gerade einmal 1,6 Prozent aller Erwerbstätigen, aber - darauf kommt es an - jeder neunte Arbeitsplatz in Deutschland hängt mittelbar oder unmittelbar mit dieser Branche
zusammen. Somit ist die Landwirtschaft ein wichtiger
Wirtschaftsriese. Ich bin daher sehr froh, dass für die
Landwirtschaft weiterhin ein eigenständiges Ministerium zuständig ist. Dies ist ein wichtiges Signal an die
Landwirtschaft und an die ländlichen Räume. Die Aufgaben, die sich dort ergeben - das haben wir schon gehört -, sind in der Tat sehr vielfältig.
({0})
Ich bin nicht blauäugig; der Strukturwandel wird weitergehen. Dafür gibt es einen Grund: Unsere Höfe
schließen nicht wegen Wohlstands. Das Vergleichseinkommen in der Landwirtschaft liegt rund 50 Prozent unter dem des Gewerbes. Das heißt, wir brauchen eine
Politik, die die bäuerlichen Strukturen in unserem Land
fördert. Das ist ganz wichtig. Die Landwirte müssen gute
wirtschaftliche Rahmenbedingungen vorfinden und eine
gewisse Wertschätzung erfahren. Ich danke unseren
Bäuerinnen und Bauern für das, was sie leisten. Wir
müssen ihre Arbeit anerkennen. Sie sind sieben Tage in
der Woche für ihren Hof und für ihre Tiere da, damit wir
gesunde und die am besten geprüften Nahrungsmittel haben. Wenn wir es schaffen, dass die Lust und die Freude
an der bäuerlichen Arbeit auf den Höfen erhalten bleibt,
dann haben wir eine Chance, dass die Höfe auch über
den Generationswechsel in der Landwirtschaft hinweg
bestehen bleiben.
({1})
Der Verbraucher hat es in der Hand. Wir brauchen einen entsprechenden Dialog. Mit jedem Griff ins Regal
entscheidet der Verbraucher, wer wo was produziert. Mit
jedem Griff ins Regal entscheidet der Verbraucher, wie
unsere Heimat aussieht und wie die Kulturlandschaft in
Deutschland beschaffen ist. Deswegen bin ich Ihnen, lieAlois Gerig
ber Herr Minister, sehr dankbar, dass Sie den ländlichen
Raum in den Mittelpunkt Ihrer Politik stellen. Das ist
wichtig.
Wir, die wir aus den ländlichen Räumen kommen,
wissen um die Probleme. Es gibt den demografischen
Wandel und eine gewisse Abwanderungstendenz. Wir
brauchen daher eine Politik speziell für die ländlichen
Räume. Wir müssen den Politikern auf allen Ebenen
klarmachen, wie wichtig es ist, für diesen Bereich eine
besondere Politik zu machen.
Die Stückkosten für die Einwohner in den dünner besiedelten Räumen liegen nun einmal höher als für die
Menschen, die in Ballungszentren leben. Das müssen
wir berücksichtigen. Es geht um die Infrastruktur:
Straße, Schiene und schnelles Internet. Es geht aber auch
um medizinische Nahversorgung und Lebensmittelnahversorgung sowie um die Versorgung mit Schulen. Dafür, dass es da zu Verbesserungen kommt, wollen wir gemeinsam kämpfen. Wir wollen uns dafür einsetzen, dass
die ländlichen Räume eine Zukunft haben. Davon profitieren alle Bürger in Deutschland.
({2})
Es geht um Mittelstand und um Handwerk; das wurde
bereits gesagt. Es geht auch um den Tourismus. Da sehe
ich noch sehr viel Potenzial für die Zukunft.
Es geht aber auch um die Energiewende. Die Energiewende findet im ländlichen Raum statt. Dort gibt es die
Ressourcen in Feld und Wald. Wir haben, wenn man so
will, die Standorte für die Windkraftanlagen und die Dächer für die Solaranlagen.
({3})
Wir brauchen eine Novelle des EEG. Sie ist wichtig,
um die Akzeptanz der Bürger zu erhalten, lieber Kollege
Ebner. Aber wir brauchen auch auf jeden Fall eine Energiepolitik, die den Markt für die erneuerbaren Energien
nicht zerschlägt. Dafür wollen wir uns einsetzen, auch
wenn wir regulieren und den Zubau in manchen Bereichen eingrenzen müssen. Es geht beispielsweise darum,
dass die Biomasse, die stärkste Säule der Erneuerbaren,
noch effizienter wird und dass wir damit Regelenergie
produzieren. Der daraus erzeugte Strom kann dann eingespeist werden, wenn aus den volatilen Energien, die
aus Wind und Sonne gewonnen werden, kein Strom erzeugt werden kann. Darauf müssen wir hinarbeiten. Dafür wollen wir uns einsetzen.
Ich will noch kurz auf den Genmais eingehen, lieber
Kollege Ebner. Wir haben heute den Antrag der Grünen
abgelehnt. Dafür gibt es gute Gründe.
({4})
Im Antrag waren fachliche Fehler enthalten. Es ging
aber keinesfalls um die Frage, ob wir in Deutschland
gentechnisch veränderte Pflanzen wollen oder nicht. Wir
waren es, die die Hürden mit schuldunabhängiger Haftung und bestimmten Abstandsflächen sehr hoch gelegt
haben.
({5})
Wir haben doch dafür gesorgt, dass es in Deutschland
keinen kommerziellen Anbau gibt.
({6})
Ich sehe im Moment überhaupt keine Gefahr, dass ein
kommerzieller Anbau von gentechnisch veränderten
Pflanzen kommen wird. Ich sage auch: Ich sehe im Moment auch keine Notwendigkeit.
Herr Kollege, wollen Sie eine Zwischenfrage oder -bemerkung des Kollegen Ebner zulassen?
Ja, gerne.
Dann bitte schön.
Danke schön, Alois Gerig. - Wenn angesprochen
wird, dass da fachliche Mängel in unserem Antrag wären: Der Antrag hat nur einen Satz: Der Bundestag möge
beschließen, die Bundesregierung aufzufordern, den Zulassungsantrag der Kommission in Brüssel abzulehnen.
In dieser Kürze kann ich mir keinen fachlichen Fehler
vorstellen. Hier bin ich für eine Erläuterung dankbar.
({0})
Mich würde auch interessieren: Wenn gesagt wird, es
gebe doch gar keinen Anbau, auch wenn er zugelassen
ist, weil wir so tolle Regeln haben. Obwohl wir diese
Regeln haben, hatten wir mit MON 810 3 000 Hektar
Anbau in Deutschland. Das ist wenig, aber es ist nicht
nichts. Und es laufen heute noch Gerichtsprozesse dazu.
Und da frage ich schon: Wie kommt man zu einer
solchen Aussage, wenn man genau weiß, was damals
lief?
Danke schön.
({1})
In dem Antrag, der mir vorliegt, lieber Kollege Ebner,
ist sehr ausführlich erläutert, dass es um ein Pflanzenschutzmittel geht, dass es darum geht, dass die Mehrheit
der deutschen Bürger das nicht will und man deswegen
diesen Antrag eingebracht hat. Vielleicht gibt es einen
neueren Antrag, den ich nicht gesehen habe. Aber das
Papier, das ich gesehen habe, liefert Gründe genug, um
es abzulehnen.
({0})
Wir müssen natürlich einen Dialog führen - ohne
Zweifel. Aber wir müssen differenzieren. Wir dürfen
nicht nur polarisieren, nicht mit ideologischen Scheuklappen nur dem Mainstream folgen.
({1})
Das ist zu einfach. Wenn der Kollege Ostendorff einerseits sagt, man müsse Transparenz herstellen und einen
Dialog führen, und andererseits in seiner Rede nur auf
die Landwirtschaft einschlägt, dann ist das auch nicht
fair.
({2})
So müssen wir auch mit dem Thema GVO umgehen.
Wir müssen differenzieren. Wir brauchen dies nicht in
Deutschland. Es gibt überhaupt keinen Grund für irgendeine Sorge, aber die Welt wird sich weiterdrehen. Die
Bevölkerung wird weiter zunehmen. Länder, in denen
der Hunger groß ist, werden vielleicht noch sehr froh
sein; gentechnisch veränderte Pflanzen können dort
unter Umständen eine Chance sein. Ich möchte keine
Gentechnik in Deutschland. Aber ich bitte auch darum,
dass wir dieses Thema nicht als Ersatz für „Atomkraft?
Nein danke“ nutzen. Das wird diesem Thema nicht gerecht.
({3})
Wir dürfen dieses Thema nicht nur emotional behandeln.
Wir sind es unseren Bürgerinnen und Bürgern schuldig,
dass wir bei diesem Thema etwas fairer miteinander umgehen und in einen Dialog eintreten.
({4})
Alles in allem brauchen wir eine Ernährungs- und
Landwirtschaftspolitik für die Verbraucher, die transparent ist, die aber auch eine gewisse Wertschätzung an
den Tag legt. Das brauchen wir in der Gesellschaft, das
brauchen wir in der Politik. In unserem Fachbereich
brauchen wir eine Politik im Sinne der Ernährung, eine
Politik im Sinne unserer schönen Kulturlandschaft, eine
Politik, die die Energiewende schafft. Ich bin davon
überzeugt. Meine Damen und Herren, packen wir es an!
Auch in der Großen Koalition werden wir gemeinsam
genau dies schaffen.
Vielen herzlichen Dank.
({5})
Danke, Herr Kollege. Ich darf Ihnen im Namen des
ganzen Hauses - wenn ich jetzt wüsste, ob Sie singen
können, würde ich Sie jetzt bitten, aufzustehen und zu
singen - alles, alles Gute - ({0})
- Bitte alle!
({1})
Alles Gute zum Geburtstag! Unser Geschenk von hier
oben waren drei Minuten mehr Redezeit. Das ist ziemlich viel Redezeit für die Opposition. Alles Gute!
Feiern Sie schön, lassen Sie sich hochleben! Ab morgen
geht es dann wieder in den Clinch.
({2})
Jetzt verabschiede ich mich hier. Zum Freibier melde
ich mich auch an. Schönen Abend noch! Ich übergebe an
Herrn Singhammer.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, nächster Redner ist
der Kollege Dr. Wilhelm Priesmeier, SPD.
({0})
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Herr Minister! Zunächst einmal macht es mir natürlich besondere Freude, dir, Alois, auch von hier vorne zu
gratulieren. Ich verspreche, dass ich mich an meine Redezeit halte, damit du früh feiern kannst. Ich komme
dann auch noch vorbei, so wie das unter Kollegen im
Agrarausschuss an und für sich üblich ist.
Aber nun zu den ernsten Inhalten. Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, ich darf etwas Persönliches zum
Ausdruck bringen: Gestalten macht Spaß, Regieren
auch. In der neuen Konstellation der Bundesregierung
werden wir, die SPD, das, was wir in den Koalitionsverhandlungen formuliert haben, hier gemeinsam mit der
Union umsetzen. Ich glaube, der Koalitionsvertrag eröffnet eine gute Perspektive für Deutschland,
({0})
für unsere Landwirte und vor allen Dingen auch für den
ländlichen Raum.
Die Umsetzung der EU-Agrarpolitik ist ein wesentlicher Punkt, den wir jetzt angehen. Von der Agrarministerkonferenz in München ist ein Signal ausgegangen.
Wir haben es aufgenommen. Jetzt gilt es, die Wettbewerbsfähigkeit unserer landwirtschaftlichen Betriebe
weiter zu fördern und zu entwickeln. Denn mittelfristig
wollen wir alle auf die direkte Einkommensstützung
durch Prämien verzichten;
({1})
das muss zumindest Ziel einer geordneten Agrarpolitik
sein. Es bleibt für die SPD ein Ziel für die Zukunft, auch
über das Jahr 2017 hinaus. Wir wollen die freiwerdenden
Mittel zielgerichtet in den ländlichen Raum investieren.
Insofern freue ich mich ganz besonders über das Bekenntnis des Herrn Ministers zum ländlichen Raum, das
er anlässlich der Grünen Woche und auch heute ausgesprochen hat. Denn für eine strukturierte Politik, die den
ländlichen Raum vorwärtsbringt, bedarf es einer besseren Koordinierung.
({2})
Wir haben in diesem Hause einen klaren Anspruch: Wir
wollen gestalten und koordinieren. In diesem Sinne werden wir die Chancen der Großen Koalition nutzen und
die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes“, eine Kernaufgabe, für
die auch in unserem Haushalt Mittel bereitstehen, zu einer Gemeinschaftsaufgabe für den ländlichen Raum weiterentwickeln.
({3})
Das ist ein Signal, das von unserer gemeinsamen Politik
in diesem Hause ausgehen wird. Wir werden aus dem
Grunde die Verfassung ändern und natürlich auch die
entsprechenden finanziellen Ressourcen für die Ausgestaltung einer nachhaltigen Politik für den ländlichen
Raum zur Verfügung stellen. Ich weiß den Minister da
an meiner Seite, weiß, dass er auch mit dem Finanzminister streiten wird, damit sich die entsprechenden finanziellen Ressourcen in unserem Haushalt wiederfinden.
({4})
Darüber hinaus gibt es andere wichtige Themen, die
für uns Sozialdemokraten Signalwirkung haben. Wir
konnten hinsichtlich der Novellierung der Vorschriften
zur agrarsozialen Sicherung nicht erreichen, dass die
Hofabgabeklausel gestrichen wird. Trotzdem haben wir
der Vereinbarung zugestimmt.
({5})
Ich glaube, das Ergebnis unserer Verhandlungen in den
Koalitionsgesprächen ist eindeutig und klar: Wir haben
uns dafür ausgesprochen, die Hofabgabeklausel neu zu
gestalten.
({6})
Dafür gibt es eine entsprechende gutachterliche Grundlage. Denjenigen, die bislang noch zweifeln, ob das denn
so einfach geht, kann man nur empfehlen, den Weg mit
uns zu gehen.
Ein Abschlag bei der Rente von 10 Prozent ist eine
gute Regelung.
({7})
Diejenigen Kollegen, die ihren Betrieb nicht aufgeben,
werden weiterhin die höheren Beiträge zahlen müssen.
Insofern werden im Wesentlichen die kleineren Betriebe,
die nicht unbedingt immer auf Rosen gebettet sind, von
dieser Regelung profitieren, wenn die Betriebsinhaber es
denn wollen.
Bei der monatlichen Rente geht es um eine Größenordnung von heute etwa 472 Euro. Das ist als Altersrente
nicht sehr viel.
({8})
Für kleinere Betriebe besteht durchaus die Alternative,
in dem von ihnen noch gewünschten Umfang eventuell
weiter zu wirtschaften. Diese Entscheidung sollten wir
ihnen überlassen.
Ich finde, es ist eine Frage der Gerechtigkeit. Wer ein
Leben lang in die landwirtschaftliche Alterskasse eingezahlt hat, sollte ohne Einschränkung ein Recht auf Rente
haben wie in anderen Bereichen unserer Rentenversicherung auch.
({9})
Dafür werden wir nachhaltig streiten. Wenn ich die Zeichen richtig verstanden habe, dann können wir in Zukunft bei der Umsetzung mit der Unterstützung unseres
Koalitionspartners rechnen.
({10})
Die landwirtschaftliche Nutztierhaltung ist für die
Wertschöpfung von zentraler Bedeutung. Wir brauchen
hier nicht nur sichtbare, sondern auch qualitative Verbesserungen im Bereich Tierwohl. Das ist heute schon angekündigt worden, auch vom Minister. Diesen Weg werden
wir zielgerichtet weitergehen.
Nur wettbewerbsfähige Betriebe können höhere Tierschutzstandards umsetzen. Das sollte uns allen bewusst
sein.
({11})
Darum halte ich wenig von Debatten über entsprechende
Größenordnungen, über Export, weitere Orientierungen
und Selbstbeschränkungen. Ich bin der Meinung, wir
sollten es den Betrieben selbst überlassen, wie sie das
gestalten wollen.
({12})
Unserer Einschätzung nach ist es auch wichtig, dass
wir für den gesamten Bereich Tierschutz und Tierhaltung gesellschaftliche Akzeptanz schaffen. Unser Vorhaben, einen einheitlichen Rechtsrahmen für den Bereich
Tiergesundheit und Tierarzneimittel zu schaffen, wird in
ganz entscheidender Weise dazu beitragen können; denn
wer den Arzneimitteleinsatz, vor allem den Einsatz von
Antibiotika, reduzieren will, muss sich um die Verbesserung der Haltungsbedingungen kümmern. Schlechte
Haltungsbedingungen sind die Ursachen von Krankheiten. Mit dem einheitlichen Gesetzesrahmen werden wir
an Verbesserungen arbeiten können. Vor allen Dingen
können wir den Betrieben eine Richtung vorgeben, können ihnen Sicherheit für Investitionsentscheidungen geben. Dazu trägt auch ein bundeseinheitliches Prüf- und
Zulassungsverfahren bei.
Der landwirtschaftliche Sektor insgesamt hat in
Deutschland eine hervorragende, nachhaltige Perspektive. Die Landwirtschaft ist und bleibt das Fundament
des ländlichen Raums. Aber, wie der ehemalige EUKommissar Fischler schon gesagt hat: Man darf Politik
für den ländlichen Raum nicht mehr ausschließlich als
Klientelpolitik begreifen, sondern man muss den ländlichen Raum als Ganzes sehen. Dazu sind wir bereit.
({13})
Wir wollen unseren Beitrag dazu leisten. Ich bin sicher, die Kollegen von der CDU/CSU werden uns dabei
unterstützen.
Vielen Dank.
({14})
Abschließender Redner zu diesem Thema ist der Kollege Franz-Josef Holzenkamp, CDU/CSU.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Auch ich bin
der Meinung, dass wir für die nächsten vier Jahre ein gutes, ein ambitioniertes Programm für den ländlichen
Raum vorgelegt haben. Lieber Kollege Wilhelm
Priesmeier, Unterstützung lebt immer von Gegenseitigkeit. So wollen wir es hier auch pflegen.
Ich möchte mit einem Lob für unseren Bundesminister beginnen, dem, wie ich finde, ein fulminanter Start in
das agrarpolitische Jahr 2014 gelungen ist, traditionell
beginnend mit der Internationalen Grünen Woche. Er hat
nicht nur den Terminmarathon beeindruckend gemeistert, er hat vor allen Dingen eines gemacht: Er hat die
Menschen begeistert. Das ist eine große Leistung.
({0})
Die Leistungen der Land- und Ernährungswirtschaft, der
knapp 300 000 Bauernfamilien, der 5 Millionen Beschäftigten im ländlichen Raum anzuerkennen, den
Menschen Mut zu machen und Vertrauen in das Handeln
dieser Menschen zu haben, das ist klasse, das ist toll. Dafür herzlichen Dank, Herr Bundesminister.
({1})
Ich bin froh, dass wir uns eigentlich im ganzen Haus
einig sind, dass unsere Aufgabe über den Bereich der
Landwirtschaft hinausgeht, dass wir uns als Anwalt des
ländlichen Raumes verstehen. Damit verbunden sind
vielfältige Aufträge und Aufgaben, letztendlich bis zum
Thema Breitbandversorgung, damit die Attraktivität unserer ländlichen Räume erhöht wird.
Wenn wir durch Deutschland fahren, stellen wir immer wieder fest, dass es nur dort, wo es eine moderne
Landwirtschaft gibt, auch lebendige Dörfer gibt. Deshalb werden wir in dieser Legislaturperiode die Landwirtschaft als tragende Säule weiter stärken, und zwar in
Verantwortung für unsere Folgegenerationen. Wir sind
uns sehr wohl bewusst - Bundesminister Friedrich hat
das mehrfach angesprochen -, dass uns dabei ein Spagat
gelingen muss; denn wir müssen auch unserer Schöpfung, unserer ethischen Verantwortung gerecht werden.
({2})
- Tun Sie mal nicht so spöttisch. Jeder Bauer weiß das.
Jeder hat das in die Wiege gelegt bekommen. Von Ihnen
kenne ich das aber nicht anders. Sie können es einfach
nicht. Sie kennen kein Benehmen; es tut mir leid.
({3})
Wir müssen den Spagat schaffen, wir müssen auf der
einen Seite der Schöpfung gerecht werden und auf der
anderen Seite wettbewerbsfähig sein.
({4})
Die Menschen, die sich damit auskennen, wissen das.
Schauen wir uns die Länder auf unserer Weltkugel an:
Überall dort, wo Wettbewerbsfähigkeit herrscht, wird im
Sinne der Nachhaltigkeit gehandelt, und nirgendwo anders. Wettbewerbsfähigkeit und Nachhaltigkeit sind
ganz eng miteinander vernetzt und können nicht gegenseitig ausgeschlossen werden.
({5})
Da Sie von den Grünen über den Strukturwandel gesprochen haben, möchte ich Ihnen Folgendes sagen: In
der Zeit von Rot-Grün sind 76 000 Höfe gestorben.
Wenn Sie über Strukturwandel reden, dann sollten Sie
auch das sagen. Ansonsten ist das einfach unehrlich.
({6})
Wir haben uns ein Leitbild gegeben. Über Wettbewerbsfähigkeit und Nachhaltigkeit haben wir bereits gesprochen. Wir wollen, dass die Landwirtschaft in den
Händen von Bauernfamilien und in keinen anderen Händen liegt.
({7})
Wir wollen keine kapitalgesteuerten Fremdinvestoren.
Ich glaube, das gilt für das ganze Haus.
({8})
Das ist im Rahmen unseres Grundgesetzes nicht ganz
einfach zu verwirklichen - das will ich zugestehen -,
aber das ist unser Ziel. Deshalb sollten wir mit der Stigmatisierung von Bauern aufhören. Das haben sie einfach
nicht verdient.
({9})
Wir haben ein ambitioniertes Konzept aufgelegt.
Meine Überschrift lautet: Lösungen statt Verbote. Verbieten kann jeder; das ist einfach. Wir wollen Lösungen
bieten für unsere Landwirte, die sie umsetzen können.
Deshalb stärken wir die Agrarforschung. Deshalb setzen
wir die GAP so um, wie wir uns das vorgenommen haben, auf Basis des Beschlusses der AgrarministerkonfeFranz-Josef Holzenkamp
renz. Wir machen das mit dem Greening vernünftig. Vernünftig heißt praxisgerecht. Wir fördern die
Vermarktung, und zwar regional und global. „Made in
Germany“ ist überall gefragt; Minister Friedrich hat es
gesagt. Regional und global! Wir wären doch mit dem
Klammerbeutel gepudert, wenn wir diese Märkte nicht
nutzen würden. Deutsche wollen ausländische Lebensmittel essen, und Ausländer wollen unsere Lebensmittel
- „Made in Germany“ - essen. Diese Märkte werden wir
befriedigen. Das ist Wertschöpfung und Arbeitsplatzsicherung im ländlichen Raum. Das ist vernünftig. Das
werden wir so machen.
({10})
Zur Tierwohloffensive ist einiges gesagt worden. Damit ist es uns sehr ernst. Wir wollen unvoreingenommen
in einen offenen gesellschaftlichen Dialog eintreten, bis
hin zu einer wissenschaftlichen Diskussion über die
Frage, bis zu welcher Größenordnung eine artgerechte
Tierhaltung möglich ist.
({11})
Ich lade Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, ganz herzlich dazu ein, bitte aber um Ernsthaftigkeit. Sonst macht das keinen Sinn.
({12})
Wir wollen den Flächenverbrauch reduzieren. Wir
wissen, dass Grund und Boden Grundlage jeder Erzeugung sind. Die Bodenpreise steigen. Das ist ein Indikator
für Knappheit, für zunehmende Spekulationen. Wir wollen dem entgegenwirken; darauf habe ich hingewiesen.
Landwirtschaftliche Flächen gehören in Bauernhand.
({13})
Auch um unsere Umwelt kümmern wir uns. Wir wollen die Risiken für Mensch, Tier und Umwelt natürlich
weiter minimieren. Beispielhaft zu nennen ist die Düngeverordnung, die sich in der Novellierung befindet.
Aber wir wollen nicht diese Schaukämpfe zum Thema
„Intensiv oder extensiv“ führen, die Sie hier immer wieder anbringen. Es wird langweilig. Haben Sie eigentlich
nichts Neues im Kopf? Was ist das für ein Blödsinn, für
ein Quatsch? Die Lösung heißt Effizienz. Es ist ganz
einfach. Sie gilt für alle, für große und kleine, für ökologisch wirtschaftende Betriebe und für konventionell
wirtschaftende Betriebe. Lassen wir das also mit dem
gegenseitigen Ausspielen der verschiedenen Arten unserer Landwirtschaft. Wir sollten vielmehr unsere gesamte
Landwirtschaft in Deutschland unterstützen. Sie hat es
verdient.
({14})
Ich denke, wir haben eine sehr gute Basis für die
Land- und Ernährungswirtschaft in Deutschland - Stichwort: der ländliche Raum als tragende Säule - erarbeitet.
Wir haben den Bereich gesundheitlicher Verbraucherschutz im Ministerium gehalten. Das ist vernünftig; alles
andere wäre unsinnig. Es wäre unsinnig, die Lebensmittelkette hinsichtlich der fachlichen Zuständigkeit zu
sprengen. Das haben wir gut gemacht. Minister Friedrich
hat da mächtig mitgeholfen. Herzlichen Dank! Ich freue
mich auf diese vier Jahre. Ich lade alle ein, mitzumachen, aber bitte persönlich respektvoll und gern hart in
der Sache.
Vielen Dank.
({15})
Vielen Dank, Herr Kollege Holzenkamp. - Weitere
Wortmeldungen zu diesem Themenbereich liegen nicht
vor.
Ich rufe nun den Themenbereich Innen auf.
Das Wort hat zu Beginn der Bundesminister des Innern, Herr Thomas de Maizière.
({0})
Ich bitte die Kollegen, die jetzt den Platz verlassen
und anderen Platz machen, dies in einer gewissen Zügigkeit durchzuführen, damit der Minister, wenn alle Platz
genommen haben, unverzüglich mit seiner Rede beginnen kann.
({1})
- Ist notiert. - Ich denke, Herr Minister, Sie können jetzt
beginnen.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Bundesministerium des Innern ist nach meiner Auffassung das
Bürgerministerium für Deutschland, das Ministerium für
den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Was bedeutet
das? Wir wollen erstens, dass unsere Bürgerinnen und
Bürger ihr Leben in Freiheit führen, dass sie sich engagieren, aktiv und tolerant dazu beitragen, dass wir als
Gesellschaft zusammenhalten. Wir wollen zweitens,
dass unsere Bürgerinnen und Bürger möglichst in Sicherheit leben und auf einen leistungsfähigen Staat und
eine gute Verwaltung vertrauen können. Für diese Ziele
arbeite ich als Bundesminister des Innern und für die inneren Angelegenheiten unseres Gemeinwesens.
({0})
Freiheit und Sicherheit - das klingt auf den ersten
Blick nach Gegensatz, nach Spannung, nach widerstreitender Forderung. Aber in Wahrheit ist es nicht so. Sie
bedingen einander geradezu. Freiheit und Sicherheit sind
zwei Seiten ein und derselben Medaille. Innenpolitik ist
geprägt von Ermöglichen und Einschränken, von Selbstbestimmung und Ordnung, von Unabhängigkeit und
Verpflichtung, von Freiheit und Verantwortung. Ziel ist
es in unserer Demokratie stets, die Ausübung von Frei778
heit zu stärken. Dafür braucht es Rahmenbedingungen.
Das gilt nicht nur für Märkte, insbesondere Finanzmärkte, wie wir schmerzlich gelernt haben, sondern genauso für das Zusammenleben von Menschen insgesamt.
Lassen Sie mich das an drei Beispielen deutlich machen.
Erstens. Zunächst zum Kernanliegen eines jeden demokratischen Staates, dem Schutz der Bürgerinnen und
Bürger. Um diesen Schutz zu gewährleisten, braucht es
Instrumente und Menschen, Gesetze und Beamte. Wo
diese Instrumente ansetzen und wie sie wirken, hängt
von dem zu schützenden Gut oder anders formuliert davon ab, welchen Gefahren wir ausgesetzt sind.
Leider müssen wir davon ausgehen, dass der internationale Terrorismus immer noch eine große Gefahr für
unsere öffentliche Sicherheit in Deutschland darstellt.
Schließen wir bitte nicht daraus, dass es bei uns weniger
Anschläge als in anderen Staaten gibt, dass die Gefahr
bei uns geringer sei; eine Gefahr, der wir entschlossen
gegenübertreten müssen, allerdings in dem Wissen, dass
es einen perfekten Schutz vor terroristischen Anschlägen
nicht gibt.
Der Kampf gegen den internationalen Terrorismus
darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass wir in Deutschland in erheblichem Umfang international agierende organisierte Kriminalität haben. Die Täter agieren in den
Bereichen Einbruchs- und Kfz-Diebstahl, bei international vernetzten Finanzgeschäften, bei Menschenhandel
und Rauschgift - auch im und mithilfe des Internets. Dagegen müssen wir in Deutschland entschlossen und in
Europa gemeinsamer als bisher vorgehen. Das habe ich
mir auch mit meinem französischen Kollegen vorgenommen.
({1})
Unsere Demokratie, unsere Freiheit wird darüber hinaus von Extremisten, rechts wie links, angegriffen. Die
Vergangenheit, gerade auch die letzte Legislaturperiode,
hat es gezeigt: Wir dürfen politischen Extremismus nie
mehr unterschätzen.
({2})
Notwendige Instrumente, die wir zu all dem brauchen, sind unter anderem bestimmte, präzise wirkende
und maßvoll geführte Dateien über Gefährder. Effektive
und rechtsstaatliche Möglichkeiten für die Ermittlungsarbeit sind die Neuausrichtung unseres Verfassungsschutzes und die sogenannte Vorratsdatenspeicherung,
präziser: die Regelung von Mindestspeicherfristen für
Verbindungsdaten bei den Unternehmen, die ohnehin
über diese Daten verfügen. Wir brauchen dieses Instrument, um schwerste Straftaten aufklären zu können.
({3})
Instrumente sind aber nur das eine. Es geht immer
auch um den Menschen. Ich sehe mit Sorge, dass die
harte, rohe Gewalt in unserem Alltag zunimmt. Ich
meine Gewalt gegen Polizisten, aber sogar auch gegen
Rettungskräfte. Ich meine Gewalt rund um das Thema
Fußball. Ich meine rohe Gewalt unter Jugendlichen, die
dann gelegentlich auch noch ins Netz gestellt wird. All
das ist natürlich strafbar und muss bestraft werden. Aber
es geht genauso um Prävention und Zusammenhalt. Wir
brauchen eine Ächtung von Gewalt auf unseren Straßen.
Es gibt keinen Grund, es gibt keinen gesellschaftlichen
Missstand, der es rechtfertigt, in unserem Land Gewalt
auszuüben.
({4})
Ich denke dabei zum Beispiel an die jüngsten Ausschreitungen in Hamburg. Mit Blick auf zukünftige Einsatzlagen, zum Beispiel den G-8-Gipfel im nächsten
Jahr, kann ich nur dringend dazu auffordern: Wir brauchen Solidarität mit Polizisten. Wir brauchen Solidarität
mit Polizisten, wenn sie angegriffen werden, wenn sie
bei Demonstrationen den Rechtsstaat vertreten. Wir
brauchen genauso auch Solidarität mit allen Opfern von
Angriffen: Jugendlichen, Asylbewerbern - wo und wie
auch immer. Gewalttäter dürfen in unserem Land von
niemandem gesellschaftliche Solidarität erfahren.
({5})
Das kann der Staat nicht allein leisten. Wir brauchen
solidarische Bürgerinnen und Bürger. Natürlich haben
wir Initiativen wie das Bundesprogramm „Zusammenhalt durch Teilhabe“, die zu Mitwirkung und Solidarität
anregen. Aber es bedarf vieler Netzwerke der Hilfe, der
Zivilcourage und der gesellschaftlichen Übereinstimmung. Bürgerschaftliches Engagement ist wie Hefe für
eine freiheitliche Gesellschaft. Wir sind auf Menschen
angewiesen, die für andere Verantwortung übernehmen,
die einen Beitrag für die Gemeinschaft erbringen. Das
wird in Zeiten des demografischen Wandels sicher nicht
einfacher; denn die Bewältigung demografischer Probleme trifft nicht allein die Sozialkassen.
Nachhaltige Demografiepolitik bedeutet auch, sich
darüber Gedanken zu machen, wie wir unser Zusammenleben künftig organisieren wollen, in den Städten
genauso wie in den ländlichen Regionen, von der Schulversorgung über Krankenhäuser und Pflegestrukturen
bis zu einer erreichbaren Verwaltung. Alt und Jung sind
mehr denn je aufeinander angewiesen. Das Bundesministerium des Innern führt die Anliegen der Ressorts
der Bundesregierung in einer Demografiestrategie zusammen.
Der gesellschaftliche Zusammenhalt braucht auch
eine leistungsfähige Verwaltung; nur sie kann das Funktionieren unserer arbeitsteiligen Gesellschaft gewährleisten. Wir brauchen eine Verwaltung mit tüchtigen Mitarbeitern, die zügig entscheiden, klug abwägen und immer
daran denken, dass es bei der Gesetzesanwendung um
Menschen geht. Ich stelle mich als Minister für den öffentlichen Dienst vor unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.
({6})
Im Hinblick auf die Lohnrunde, vor der wir stehen, rufe
ich die Gewerkschaften auf: Halten Sie Maß! Kein
Baum wächst in den Himmel.
Der zweite Bereich, den ich heute ansprechen will, ist
das Thema „Sicherheit im Netz“. Bürger, Gesellschaft,
Wirtschaft und Staat sind immer stärker auf digitale Informationswege angewiesen. Gleichzeitig steigt die Zahl
der Angriffe auf das Netz, nimmt die Kriminalität im
Netz zu, wie wir es unlängst mit den Hackerangriffen
auf Millionen von E-Mail-Konten deutscher Nutzer erlebt haben. Bei diesen Angriffen geht es aber auch um
Spionage gegenüber Staat und Wirtschaft und um die
Bedrohung kritischer Infrastrukturen aus dem Cyberraum.
Wenn wir diesen Gefahren begegnen wollen, dann
brauchen wir Freiheit im Netz und Sicherheit im Netz.
Wir brauchen ausreichenden Raum für neue Geschäftsmodelle. Wir brauchen eine intelligente Nutzung der
neuesten technischen Kommunikationsmöglichkeiten.
Und wir brauchen selbstverständlich auch hier einen
Ordnungsrahmen. Nur so kann überhaupt ein sicheres
und verantwortungsvolles Navigieren im Netz erhalten
oder wiederhergestellt werden. Rechtsfreie Räume dürfen wir auch im Netz nicht dulden.
Wir reden zu Recht viel über die NSA und die USA;
die Kanzlerin hat das gestern thematisiert, und wir werden es weiter tun. Aber das ist nur ein Ausschnitt eines
ganz großen Themas: Gleichgültig mit welcher Motivation, mit welchen Methoden oder von wo aus auch immer das Netz angegriffen wird, es muss uns dabei stets
um eines gehen: um den Erhalt und den Schutz des Netzes als geordneten Freiheitsraum und damit um den
Schutz unserer Bürgerinnen und Bürger. Deswegen behaupte ich: Der demokratische Staat und die Netzcommunity sind nicht etwa Gegner, sondern in Wahrheit Verbündete bei diesem Anliegen.
({7})
Die Sicherung der Kommunikation und der Nutzung
der Informationstechnik ist eine gemeinsame Aufgabe
von Staat, Wirtschaft und Zivilgesellschaft. Alle Beteiligten in Verantwortung zu nehmen, wird ein Schwerpunkt meiner Arbeit sein. In Anbetracht der angespannten Bedrohungslage im Netz ist der Schutz kritischer
Infrastrukturen für uns alle besonders wichtig. Ich werde
einen neuen Entwurf für ein IT-Sicherheitsgesetz vorlegen. Dieser wird mit klaren Verantwortungszuweisungen
und Vorgaben natürlich auch reglementieren, ein bestimmtes Verhalten vorschreiben. Aber es wird kein sicheres Netz geben, wenn durch die Sorglosigkeit Einzelner
elementare Güter unseres Zusammenlebens gefährdet
werden.
Zum dritten Bereich, der Integration. Deutschland
braucht qualifizierte Zuwanderer - das wissen längst
alle, auch wenn es unterschiedlich laut ausgesprochen
wird -; aber sie muss legal erfolgen und nicht weil unsere Sozialleistungen ohne Arbeit höher sind als anderswo. Auch das, meine Damen und Herren, sind zwei
Seiten derselben Medaille. Stichtagunabhängiges Bleiberecht, Lockerung der Residenzpflicht für Asylbewerber, erleichterter Arbeitsmarktzugang, Aufhebung der
Optionspflicht für in Deutschland geborene und aufgewachsene junge Menschen: all diese Maßnahmen können bei der Bevölkerung nur dann auf Akzeptanz stoßen,
wenn wir gleichzeitig dafür Sorge tragen, dass gegenüber denjenigen, die den Rechtsfrieden in Deutschland
stören, das Recht auch klar durchgesetzt wird.
({8})
Die Beendigung des Aufenthalts von Ausländern, denen
unter keinem Gesichtspunkt ein Aufenthaltsrecht zusteht,
muss tatsächlich zeitnah erfolgen. Ebenso die Verkürzung
der Asylverfahren. Hier müssen erhebliche Vollzugsdefizite bei der Aufenthaltsbeendigung abgebaut werden und
eine angemessene Modernisierung des Ausweisungsund Abschiebungsrechts erfolgen. Für beide Bereiche
haben wir in der Koalitionsvereinbarung Verabredungen
getroffen, die gemeinsam umgesetzt werden. Wir brauchen eine Willkommenskultur in Deutschland für alle,
die hier wirklich willkommen sind.
Zum Schluss ein paar Worte zum Sport: Deutschland
braucht Spitzensport. Hier gilt ein unverfälschtes, klares
Leistungsprinzip. Hier entstehen Vorbilder, und Spitzensport fördert Patriotismus. Ich freue mich darüber.
Allen Teilnehmern der Olympischen Winterspiele in
Sotschi möchte ich alles Gute und viel Erfolg wünschen.
({9})
Als Bundesinnenminister ist es für mich selbstverständlich, die Olympischen Winterspiele 2014 in Sotschi
zu besuchen. Wir wollen unseren Athletinnen und Athleten die Daumen drücken.
({10})
Danach reden wir dann mit den Sportverbänden und auf
deren Vorschläge hin über Veränderungen bei den Förderstrukturen.
Dem Parlament, Herr Präsident, biete ich bei alledem
und auch bei den Punkten, die ich aus Zeitgründen nicht
ansprechen konnte, wie etwa den Katastrophenschutz
und vielen andere Themen, eine gute und faire Zusammenarbeit an. Streiten wir für die Freiheit, für den
Schutz der Bürger, für die Sicherheit und für den Zusammenhalt unserer Gesellschaft um den besten Weg.
Vielen Dank.
({11})
Danke sehr, Herr Bundesminister. - Das Wort hat nun
Kollege Jan Korte, Die Linke.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Das Vorgehen, mit dem Bundeskanzlerin
Merkel hier gestern schlimmerweise begonnen hat,
nämlich eine Regierungserklärung in Form einer Neujahrsansprache vorzutragen, setzt sich leider auch im
Innenressort mit rekordverdächtigen Phrasen fort. Das
ist sehr bedauerlich und der Sache, wie ich finde, nicht
angemessen.
({0})
Seit sechs Monaten bewegt die Ausspähaffäre dieses
Land und die Menschen. Diese Bundesregierung bewegt
das aber herzlich wenig, wie wir gerade auch feststellen
konnten.
Die massenhafte Überwachung gefährdet die Fundamente unserer Demokratie - ob offen oder verdeckt. Wer
überwacht wird, ist nicht frei. Das ist keine freie Gesellschaft, und dazu, was Sie konkret tun wollen, haben Sie
im Kern nichts gesagt. Das ist der Sache nicht angemessen.
({1})
Was tut denn die Bundesregierung? Wo sind die Gipfel im Kanzleramt, die ja insbesondere die Bundeskanzlerin ansonsten jeden Monat durchgeführt hat? Nichts
findet statt. Wo sind die Initiativen für eine Neuverhandlung zum Beispiel des Fluggastdatenabkommens oder zu
SWIFT auf europäischer Ebene? Fehlanzeige! Wo ist
denn Ihre Initiative dafür, die Kooperation der deutschen
Geheimdienste mit den US-amerikanischen endlich zumindest einmal offenzulegen, damit man sie korrigieren
kann? Auch dazu kam heute nichts. Auch das ist der
Dimension dieser Affäre nicht angemessen.
({2})
Wie wollen Sie denn die Bevölkerung und auch die Unternehmen ganz konkret vor Spionage schützen? Auch
dazu kam nichts.
Die einzige Personalie, die der Bundesregierung in
diesem Zusammenhang am Anfang wichtig gewesen ist,
nämlich die Neubenennung des Bundesdatenschutzbeauftragten, war ein grandioser politischer Fehlgriff.
({3}): Gute Wahl!)
Sie haben Ihre Parteikollegin ernannt, die die Vorratsdatenspeicherung gut findet und jetzt viele Wochen Zeit
hatte - Änderungen sind ja möglich -, endlich etwas zu
diesen ganzen Vorgängen zu sagen. Fehlanzeige! Wir
bräuchten dringend eine kompetente Datenschutzbeauftragte, die in diese Debatten eingreift. Das haben Sie mit
dieser Personalentscheidung völlig versemmelt.
({4})
Aus aktuellem Anlass - auch dazu haben Sie leider
gar nichts gesagt -: Wo bleibt eigentlich ein kleines Signal der Dankbarkeit und des Respekts an Edward
Snowden, der das Ganze in Gang gesetzt und uns überhaupt erst in die Lage versetzt hat, über diese Vorgänge
Bescheid zu wissen und diskutieren zu können? Hier
kommt nichts. Stattdessen muss er sich auch noch vom
Präsidenten des Bundesverfassungsschutzes in eine
zwielichtige Ecke stellen lassen. Zumindest das hätten
Sie heute hier einmal geraderücken können, lieber Kollege de Maizière.
({5})
Es ist an der Zeit, im Bereich der Innenpolitik und des
Datenschutzes alles auf Anfang zu setzen und ein neues
Zeitalter von Bürgerrechten und Demokratie einzuläuten. Das tut man am besten vor der eigenen Haustür.
Deswegen mache ich Ihnen konkrete Vorschläge, wie
man ohne bürokratischen Aufwand und Neujahrsansprachen einfach schnell handeln kann: Verzichten Sie nun
endgültig auf die Vorratsdatenspeicherung, die nichts anderes als die Totalprotokollierung des menschlichen
Kommunikationsverhaltens ist. Werden Sie in Europa
aktiv, und warten Sie nicht erst auf die Entscheidung des
EuGH. Beerdigen Sie endlich die Vorratsdatenspeicherung!
({6})
Ich will etwas in eigener Sache sagen. Es gibt inzwischen einen bemerkenswerten Briefwechsel zwischen
meinem Fraktionsvorsitzenden, Ihrem Ministerium und
der Bundeskanzlerin. Ich glaube, dass es jetzt wirklich
an der Zeit ist, die unsägliche und antidemokratische
Beobachtung meiner Abgeordnetenkollegen und meiner
Partei durch den Verfassungsschutz ein für allemal endlich zu beenden.
({7})
Die Zeit dafür ist gekommen: Beenden Sie das!
Da Sie das Thema Integration zumindest kurz angesprochen haben, will auch ich dazu etwas sagen. Gestern
hat der Kollege Oppermann sinngemäß gesagt, dass es
hier in diesem Bundestag europakritische, europafeindliche und populistische Kräfte geben würde. Komischerweise meinte er damit meine Fraktion, meine Partei, aber
nicht die neuen Freunde von der CSU. Ihre unsägliche
Kampagne gegen Menschen aus Rumänien und Bulgarien ist europafeindlich, bedient die übelsten Ressentiments und zerstört das solidarische Zusammenleben in
diesem Land. Sie sind das Problem, nicht meine
Fraktion!
({8})
In diesem Zusammenhang will ich Ihnen noch einmal
sachlich in Erinnerung rufen, was Ihre Regierung
auf eine Kleine Anfrage der Linken bzw. meiner Kollegin Jelpke geantwortet hat: Seit 2010 kamen rund
400 000 Menschen aus den besagten Ländern Rumänien
und Bulgarien nach Deutschland. Von diesen 400 000
Menschen sind 38 000 auf soziale Hilfestellungen angewiesen. Von diesen 38 000 Menschen sind 30 Prozent
Aufstocker.
Das heißt - man kann ja rechnen -, dass die Menschen, die hierher gekommen sind, viel mehr in unsere
sozialen Sicherungssysteme einzahlen, als sie aus ihnen
herausbekommen. Das müssen Sie doch einmal zur
Kenntnis nehmen und deswegen dieses Spiel mit dem
Feuer beenden. Dazu hätten Sie heute etwas sagen müssen, Herr Innenminister.
({9})
Selbst wenn die Zahlen anders wären - auch das will
ich sagen -, brauchen diese Menschen im Zweifel Hilfe.
Bei den Christen nennt man das Nächstenliebe. Ich
möchte von internationaler Solidarität sprechen. Sie sind
die Brunnenvergifter, und die SPD koaliert mit diesen
Brunnenvergiftern. Deswegen brauchen wir in dieser
Frage keine Nachhilfe von Ihnen.
({10})
Es wird Sie vielleicht überraschen, aber ich möchte
eine kleine Anmerkung zur FDP machen,
({11})
mit der mich politisch immer wenig verbunden hat. Allerdings spricht für die FDP ein Twitter-Eintrag der erfreulicherweise anwesenden Kollegin Steinbach von der
CDU/CSU. In Ihrem Twitter-Eintrag konnte man lesen
- Zitat -:
Koalitionsvertrag: Gedenktag für die deutschen
Heimatvertriebenen kommt! War mit der FDP nicht
möglich!
Ende des Twitter-Eintrags. - Ich finde es sehr wichtig,
dass wir hier bestimmte Formen von Gedenken und Aufarbeitung finden. Aber mit dieser Entscheidung - das
geht vor allem an die Adresse der SPD - wird dieser Gedenktag symbolisch auf eine Stufe mit dem am 27. Januar gestellt, den wir in dieser Woche begangen haben,
und die Geschichte aus ihrem Kontext gerissen. Dass die
SPD bei ihrer Geschichte so etwas mittragen kann, ist
für mich unbegreiflich. Da hatte die FDP, die dies verhindert hat, mehr Rückgrat, um das hier klar zu sagen.
({12})
Zum Schluss. Ich glaube, dass die Große Koalition in
der Innenpolitik für große Fehlentwicklungen steht. Es
gibt noch viele andere Punkte, zu denen ich noch etwas
hätte sagen können. Leider hat die Opposition bedeutend
zu wenig Redezeit, Sie haben bedeutend zu viel Redezeit.
({13})
Ich glaube, dass die Hoffnung auf eine fortschrittliche
und progressive Innenpolitik noch nie so begründet gering gewesen ist, wie dies zu Beginn dieser Wahlperiode
der Fall ist. Wir würden uns, Herr Minister, über positive
Überraschungen selbstverständlich freuen - wie auch
immer. Aber ich glaube, dass das nicht eintreten wird.
Deswegen wird auch in dieser Frage von Freiheit und
Gerechtigkeit die Linke die Arbeit übernehmen müssen,
da Sie es nicht wollen oder dazu nicht in der Lage sind.
({14})
Vielen Dank.
({15})
Es spricht jetzt für die Sozialdemokraten der Kollege
Michael Hartmann.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, wer
andere mit der Formulierung kritisiert, es würden nur
Neujahrsansprachen gehalten, der muss selbst aber auch
etwas anderes bringen als die alten Schallplatten, die wir
schon ewig von der Linken hören.
({0})
- Tut mir leid, das hat angesichts dieser Eingangskritik
nicht bestanden.
Wie in allen übrigen Politikbereichen, so ist die
Große Koalition auch im Bereich der Innenpolitik gefordert. Sie ist in der Pflicht, dieses Land zu regieren. Wir
werden uns dieser gemeinsamen Pflicht stellen. Das
stelle ich deshalb an den Anfang meiner Ausführungen,
weil ich uns allen sagen will: Jetzt dürfen nicht mehr die
jeweils eigenen puren Interessen dominieren, sondern jeder muss in der Lage und bereit sein, den gemeinsam gefundenen Kompromiss mitzutragen. Das gilt für die
SPD, die sich dem auch da stellt, wo es ihr im Detail
vielleicht gar nicht so gut gefällt, und das muss auch für
die CDU/CSU gelten. Deshalb bin ich froh, wenn, ob
Wildbad Kreuth droht oder nicht, Sätze wie „Wer betrügt, fliegt“ nur noch an die eigene Adresse gerichtet
werden statt an die Adresse der Regierung oder gar des
Koalitionspartners.
({1})
Ich kann allerdings auch allen übrigen Neugierigen
versichern: Jetzt wird Innenpolitik gemacht werden. Es
werden nicht mehr Blockade und wechselseitiges Sichaufhalten dominieren, sondern jetzt wird das Entscheiden angesagt sein: in dieser Großen Koalition
({2})
und bei allen Themenblöcken, die anstehen. Das bedeutet im Übrigen, dass Handwerk an die Stelle von Ideologie treten wird, meine sehr geehrten Damen und Herren.
({3})
Michael Hartmann ({4})
Wir als SPD-Bundestagsfraktion haben im Bereich
der klassischen Sicherheitsfragen drei große Themen,
die ich heute Abend erwähnen möchte.
({5})
Erstens. Die Aufarbeitung des historisch großen Skandals um den NSU ist noch nicht beendet, sondern erst an
ihrem Anfang. Wir wollen, dass der begonnene Umbau
unserer Sicherheitsbehörden weitergeht. Das bedeutet
für uns: Natürlich muss einiges anders werden, lieber
Kollege Binninger, liebe Kollegin Eva Högl. Beide sind
intensiv mit den Fragen befasst. Wir müssen bei der Führung der V-Leute besser werden und anders vorgehen.
Wir müssen die Zusammenarbeit zwischen den Sicherheitsbehörden ganz anders und neu definieren. Das
ist nicht nur an die Adresse der Behörden des Bundes
gerichtet.
Wir müssen unbedingt kultursensibler werden, wenn
ermittelt wird. Last, not least müssen wir auch auf die
Zivilgesellschaft, die in den Fragen der Bekämpfung des
Rechtsextremismus ein Gewinn sein kann, ganz anders
zugehen. Das bedeutet auch, dass man beim Verfassungsschutz und anderswo nicht mehr beliebig irgendwelche Dokumente auswertet, sondern die Gewaltbereitschaft bestimmter Gruppen der Rechten in den Fokus
nimmt und da hart und entschlossen agiert.
({6})
Zweitens. Sicherheitsgesetze sind kein Selbstzweck.
Sie müssen maßvoll und mit geeigneten Methoden umgesetzt und eingesetzt werden. Dies vorausgeschickt,
füge ich hinzu: Das bedeutet, dass jedes Sicherheitsgesetz, das in die Persönlichkeitsrechte der Menschen eingreift, permanent einer Quasi-Evaluierung und Befristung unterliegen muss. Da darf nichts in Stein gemeißelt
und auf Dauer sein, schon gar nicht in Zeiten der NSA.
Das bedeutet zugleich aber auch, dass nun endlich
einmal der ewige Glaubenskrieg um die Mindestspeicherfristen beendet werden muss. Sie ist weder das Instrument der Totalausspähung, das unsere Bürgerrechte
völlig negiert und in der Auswirkung quasi der Hölle
gleich ist, noch das Allheilmittel polizeilicher Arbeit.
({7})
Eine Polizei wäre arm dran, wenn sie ohne die Vorratsdatenspeicherung nicht mehr ermitteln könnte. Ziel und
Maß sind bei diesem Thema dringend geboten, und zwar
auf beiden Seiten, denen ich dabei Abrüstung empfehle.
({8})
Wir werden deshalb sehr genau nach Europa schauen,
wo ein wegweisendes Urteil bevorsteht, und dann auch
vorlegen, und zwar werden sich der Justizminister und
der Innenminister - im Unterschied zur Vergangenheit,
da bin ich mir sehr sicher - gemeinsam zusammenraufen. Es kann nur vorgelegt werden, was grundrechtschonend ist, einem Richtervorbehalt unterliegt und zeitlich
sehr begrenzt wirkt. Das bedeutet, dass eine Überprüfbarkeit ermöglicht werden muss und dass die Daten unserer Bürger vor dem unberechtigten Zugriff durch
Dritte geschützt sein müssen. Das sind die Parameter, innerhalb derer wir weiter diskutieren und die wir bei dem,
was uns auf europäischer Ebene vorgegeben wird und
Karlsruhe bereits vorgegeben hat, beachten werden.
Herr Minister, ich bin Ihnen zum Dritten sehr dankbar, dass Sie das Thema organisierte Kriminalität stärker
in den Mittelpunkt rücken. Natürlich haben wir den
NSA-Skandal weiter aufzuarbeiten. Natürlich haben wir
Konsequenzen aus dem NSU-Skandal zu ziehen. Natürlich ist die Terrorbedrohung andauernd und muss ebenfalls bekämpft werden. Auch die Gewalt- und Alltagskriminalität bleiben große Themen. Aber wir sollten es
nicht länger zulassen, dass die organisierte Kriminalität
in Deutschland fröhliche Urstände feiert. Damit meine
ich das Rockerunwesen und - die entsprechenden Daten
müssen uns bedrücken - die klassische Mafia wie
’Ndrangheta und Camorra. Ich meine damit aber auch
das, was uns aus Osteuropa droht: Drogenschmuggel
und Drogenkriminalität, Menschenhandel und Zwangsprostitution, Glücksspiel und Ausbeutung von Menschen, Schutzgelderpressung und Ähnliches mehr. Der
Staat würde versagen, würde er in diesen Bereichen weiterhin die Augen verschließen und nicht konsequent vorgehen. Das gilt auch für die Weiße-Kragen-Kriminalität.
({9})
Dabei gilt: Wir müssen wissen, worüber wir reden.
Deshalb brauchen wir bessere und aussagefähigere Statistiken. Wir müssen die Präventionsarbeit stärken. Wir
brauchen die nötige Technik und - last, but not least gute Behörden, da das Internet immer auch Instrument
der Tatvorbereitung oder der Tatdurchführung ist. Wir
brauchen zudem eine entsprechende Debatte. Das Internet ist sicherlich ein Raum der Freiheit, aber nicht der
Libertinage. Es muss auch ein Raum der Sicherheit und
des Rechts sein. Da wird viel Arbeit auf uns zukommen.
Am wichtigsten ist, Herr Minister, dass wir gutes und
motiviertes Personal haben. Deshalb sollten wir alle gelegentlich etwas sorgsamer bei unserer Wortwahl gegenüber den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in den Sicherheitsbehörden sein. Wir müssen aber auch dafür
sorgen, dass diese Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter motiviert sind und es sein können. Das verlangt eine anständige Bezahlung - sie wird in Tarifverhandlungen ausgefochten - und auch, dass wir den Beamtinnen und
Beamten im mittleren Dienst des großen Personalkörpers der Bundespolizei mit über 40 000 Beschäftigten
wieder eine Perspektive bieten und ihnen ihre Identität
zurückgeben. In diesem Zusammenhang sollten wir uns
auch der Aufgabe betreffend die Ausrüstung stellen.
Herr Kollege Hartmann, denken Sie an Ihre Redezeit.
Ich bin quasi beim letzten Absatz. Aber es ist nett,
dass Sie mich erinnern.
({0})
Das werde ich weiterhin tun.
Gut. Ich bin nicht beim letzten Absatz meiner fünfbändigen Memoiren, sondern dieser meiner Rede, keine
Sorge.
Wenn wir in diesem Rahmen weiter agieren, dann ist
die SPD als eine Partei dabei, die soziale Sicherheit als
Voraussetzung für innere Sicherheit sieht. Wir wollen,
dass alle die Regeln einhalten, sowohl jene, die abhängig
beschäftigt sind, als auch jene, die die Arbeit bestimmen.
Wenn das Gefühl entsteht, dass man die Großen laufen
lässt und die Kleinen henkt, ist es um die innere Sicherheit schlecht bestellt. Wir sollten hier gemeinsam zusammenstehen und in diesem Sinne in den kommenden vier
Jahren agieren.
Vielen Dank.
({0})
Als Nächster spricht der Kollege Dr. Konstantin von
Notz, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Lieber Herr Minister de Maizière, auch von uns
herzlichen Glückwunsch zum neuen, alten Amt. Gerne
sagen wir zu, weiterhin offen und konstruktiv mit Ihnen
zu streiten und zu diskutieren. Aber dort, wo Sie als
Große Koalition dieselbe Blockadehaltung beim Datenund Verbraucherschutz, den gleichen Zynismus in der
Flüchtlingspolitik und eine ähnliche Verweigerungshaltung in netzpolitischen Fragen an den Tag legen, wie das
Schwarz-Gelb getan hat, werden wir uns kritisch mit Ihnen auseinandersetzen.
({0})
Zuallererst müssen wir hier heute feststellen: Diese
Bundesregierung hat ein handfestes Sicherheitsproblem,
und dieses trifft alle Bürgerinnen und Bürger unmittelbar. Herr Minister, das ist relevant für das Bürgerministerium. Im größten Überwachungsskandal aller Zeiten
stehen Sie nach neun Monaten mit völlig leeren Händen
da. Selbst der amerikanische Präsident, über dessen Untätigkeit Sie zu Recht klagen, hat öffentlich klarer Stellung bezogen, als sie das bisher getan haben.
({1})
Die einzigen Antworten der Bundeskanzlerin in dieser schweren Krise unseres Rechtsstaates - EU-Datenschutzverordnung und No-Spy-Abkommen - sind beide
kläglich gescheitert. Sie sind gescheitert wie der Versuch
von Herrn Pofalla, die Probleme für beendet zu erklären,
oder der Versuch, sie einfach wegzudefinieren, den
jüngst der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz unternommen hat, um offenbar von eigenen Versäumnissen abzulenken. Dieses Verhalten ist skandalös.
Deswegen brauchen wir Aufklärung, Transparenz und
den parlamentarischen Untersuchungsausschuss, meine
Damen und Herren.
({2})
Zweifellos geht es um komplexe Zusammenhänge
von kommerziellen und staatlichen Infrastrukturen bei
der Datenverarbeitung. Da braucht es neue, differenzierte Antworten. Ein IT-Sicherheitsgesetz, das allein
auf Meldepflichten der Wirtschaft abzielt, wird deshalb
eben nicht ausreichen, Herr Minister - vor allem dann
nicht, wenn - wie beim jüngsten millionenfachen Datenklau - staatliche Stellen selbst auf den Informationen zumindest wochenlang sitzen bleiben.
({3})
Das geht so nicht, und auch in dieser Frage haben wir
noch ganz erheblichen Aufklärungsbedarf, meine Damen und Herren.
({4})
Gut, dass Sie den Stellenwert der Netzpolitik so klar
benennen, Herr Minister - das sehe ich genauso. Aber
bei aller Sympathie für den Dialog: Die Zeit der Kaffeekränzchen, unverbindlichen Dialogrunden und Runden
Tische ist vorbei. Jetzt ist die Zeit des Handelns. Und
dieses Handeln werden wir anhand der Empfehlungen
der Enquete-Kommission „Internet und digitale Gesellschaft“, deren Einsetzung wir alle interfraktionell beschlossen haben, mit Nachdruck von Ihnen einfordern,
Herr Minister.
({5})
Auch heute kann ich es Ihnen nicht ersparen: Ungeachtet anhaltender Datenschutzskandale in der Privatwirtschaft und geheimdienstlicher Totalüberwachung
halten Sie weiter an der Vorratsdatenspeicherung als Instrument der anlasslosen Massenüberwachung der gesamten Bevölkerung fest.
({6})
Das ist grober Unfug, Herr Schuster, grober Unfug!
({7})
Die Vorratsdatenspeicherung ist kein Mehr an Sicherheit, sie stellt vielmehr ein zusätzliches Risiko für den
Datenschutz und für die Datensicherheit der Menschen
und der Wirtschaft dar. Und weil Sie gesagt haben, diese
Daten wären bei den Unternehmen sowieso vorhanden:
Das ist ja gerade nicht so, sonst bräuchten wir ja überhaupt kein Gesetz. Sie wollen zusätzliche Datenberge
anhäufen. Das ist fatal. Herr Hartmann, da Sie schon darauf hinweisen, man sollte entspannt und moderat auf
die Vorratsdatenspeicherung schauen: Als Sie das das
letzte Mal in der Großen Koalition gemacht haben, ist
das von Karlsruhe zu Recht wieder einkassiert worden.
({8})
Deswegen: Ziehen Sie endlich einen Schlussstrich
unter die Peinlichkeit, sich als Exekutive ständig von
den Gerichten über unsere Verfassung belehren zu lassen. Das ist doch peinlich für einen Innenminister und
ein Innenministerium. Streiten Sie mit uns gegen die
Vorratsdatenspeicherung in Deutschland und in Europa!
({9})
Schließlich: Bei der Vorstellung des Migrationsberichts haben Sie erklärt, wie dringend unser Land Zuwanderung braucht und wie sehr wir von Zuwanderung
profitieren. So ist das! Aber es war hochgradig irritierend, dass gestern auch die Bundeskanzlerin seehoferte
und Zuwanderung illegitimerweise mit Missbrauch verbunden hat. Auch Ihre Stilblüten hier von der Willkommenskultur für diejenigen, die willkommen sind, erscheinen mir eher merkwürdig.
({10})
Sie tun das gegen alle Zahlen und wider besseres Wissen. Die CSU gibt bei dieser Kampagne ja vor, den Menschen „aufs Maul“ zu schauen. Tatsächlich aber sind das
die Stammtische von oben. Die allermeisten Menschen
sind viel weiter als Horst Seehofer und die CSU.
({11})
In den Gemeinden, in den Städten, in den Kirchen unseres Landes gibt es runde Tische, eine Willkommenskultur für Zuwanderer, Mitgefühl und Aufnahmebereitschaft gegenüber Flüchtlingen.
Wir erwarten, dass diese Debatten über Zuwanderung
und Flüchtlinge hier in diesem Hohen Haus auch auf diesem Niveau geführt werden und nicht anders, meine Damen und Herren.
({12})
In diesem Sinne: Herzlichen Dank!
({13})
Es spricht jetzt der Kollege Stephan Mayer, CDU/
CSU.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen! Sehr geehrte Kollegen! Zunächst möchte ich Ihnen,
sehr geehrter Herr Bundesminister de Maizière, ganz
herzlich dafür danken, dass Sie eindrucksvoll dargelegt
haben, wie groß die Bandbreite von innenpolitischen
Themen in dieser Legislaturperiode ist. Ich möchte Ihnen vor allem auch dafür danken, dass Sie deutlich gemacht haben, dass es wenig hilfreich ist, einen Widerspruch zwischen Sicherheit und Freiheit zu konstruieren.
Innenpolitik ist nicht rückwärtsgewandt und nicht
anachronistisch, Innenpolitik ist Zukunftspolitik. Das Innenministerium ist nicht ohne Grund das Verfassungsministerium. Es ist es deshalb, weil es federführend für
Grundgesetzänderungen zuständig ist. Ich bin der festen
Überzeugung, dass vielleicht in keinem Ministerium so
stark wie im Innenministerium Regelungen und Vorkehrungen getroffen werden, die ausschlaggebend dafür
sind, wie die innere Verfassung und vielleicht auch die
innere Verfasstheit unseres Staates und unserer Gesellschaft sind.
Wir haben die Aufgabe, durch gesetzliche Rahmenbedingungen größtmögliche Sicherheit zu erzeugen, damit
unsere Bürgerinnen und Bürger in Freiheit leben können.
Wir haben die Aufgabe, auch mit gesetzgeberischen
Maßnahmen dafür zu sorgen, dass die Offenheit und Toleranz, die in unserer Gesellschaft vorhanden sind, weiterentwickelt werden können. Aber wir haben auch die
Aufgabe, dass wir denjenigen ganz klare Grenzen aufzeigen, die unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung bekämpfen wollen,
({0})
die extremistisch sind, egal auf welcher Seite sie extremistisch sind - das sage ich hier ganz deutlich -, ob am
linken Rand oder am rechten Rand; das gilt auch für islamistisch motivierten Extremismus.
({1})
Wir haben auch die klare Aufgabe, jedweden Gewalttätern, egal in welcher Form sie Gewalt ausüben, klar entgegenzutreten.
Deswegen ist es wichtig, dass wir den Abschlussbericht des NSU-Untersuchungsausschusses beherzigen.
Ich gehe davon aus, dass die wichtigen Empfehlungen,
die uns dieser Untersuchungsausschuss in der letzten
Wahlperiode mit auf den Weg gegeben hat, in dieser
Wahlperiode entsprechend wahrgenommen und umgesetzt werden. Der Untersuchungsausschuss hat wesentliche Hinweise für die zukünftige Arbeit der Justiz, der
Polizei und des Verfassungsschutzes, aber auch für die
parlamentarische Kontrolle der Nachrichtendienste gegeben. Deswegen sollten diese Empfehlungen auch weiterhin Bestand haben.
Unser zentrales Anliegen muss sein, dass wir den Verfassungsschutz nicht schwächen oder gar abschaffen,
wie es die Fraktion Die Linke fordert, sondern dass wir
unseren Verfassungsschutz verbessern, natürlich im Einvernehmen mit den Ländern. Deswegen kann man sich
aus meiner Sicht nicht einerseits über mangelnde AufStephan Mayer ({2})
klärung und über fehlerhafte Frühwarnsysteme beklagen, aber auf der anderen Seite unseren Nachrichtendiensten die erforderlichen Sach- und Personalmittel und
die rechtlichen Befugnisse vorenthalten.
Ein weiteres wichtiges Thema, das in dieser Legislaturperiode hohe Priorität haben wird, ist die IT-Sicherheit. Hier stehen wir vor besonderen Herausforderungen.
Es gilt, das Vertrauen in die Informations- und Kommunikationstechnik wiederherzustellen und zu sichern, und
hier sind sowohl die Wirtschaft als auch der Staat, aber
auch die Zivilgesellschaft insgesamt gefordert.
Die NSA-Affäre ist eine besondere Problematik. Das
möchte ich in keiner Weise negieren. Ich sage hier auch
in aller Deutlichkeit: Ich bin nicht mit den Antworten zufrieden, die uns die US-Amerikaner, aber auch die Briten
bisher gegeben haben. Diese Affäre hat mit Sicherheit
dazu beigetragen, dass das Bewusstsein in der Bevölkerung für die Themen Datensicherheit und Datenschutz
deutlich gestiegen ist. Aber ich möchte genauso deutlich
sagen, dass mit Sicherheit die größten Gefahren für unsere Datensicherheit nicht von befreundeten Nationen
wie den USA und Großbritannien drohen, sondern dass
es uns weniger freundlich gesonnene Staaten und auch
OK-Strukturen sind, von denen weitaus größere Gefahren für die Freiheit und die Sicherheit im Internet ausgehen.
({3})
Gerade im Bereich der IT- und der Datensicherheit ist
ein erheblicher Handlungsbedarf gegeben. Ich denke
schon, dass wir es kritisch sehen müssen, dass sich eine
zunehmende Abhängigkeit Deutschlands im Bereich der
Informations- und Kommunikationstechnik von ausländischen Anbietern ergeben hat. Das hat aus meiner Sicht
nicht nur eine sicherheitspolitische Dimension, sondern
das hat sehr wohl auch eine wirtschaftspolitische Dimension. Deswegen ist es auch unsere Aufgabe, mit dazu
beizutragen, dass wir eine wettbewerbsfähige deutsche
IT-Sicherheitswirtschaft aufbauen. Wir müssen hierbei
offensiv in die Weiterentwicklung gehen. Deutschland
muss zu einem herausragenden IT-Sicherheitsstandort
werden. Dafür haben wir unsere Unternehmen entsprechend zu unterstützen.
Ein erster Schritt ist durch die Gründung des Runden
Tisches „Sicherheitstechnik im IT-Bereich“ durch das
Bundesinnenministerium gemacht worden. Ich sage hier
aber ganz offen: Dieser erste Schritt reicht noch nicht. Es
bedarf in Zukunft weiterer Schritte. Wir müssen eine gezielte Industriepolitik im Bereich der IT-Sicherheit betreiben.
({4})
Dazu gehört aus meiner Sicht, dass der Staat zunehmend
als Nachfrager auftritt, um die Förderung der IT-Sicherheit weiter zu gewährleisten.
Wir müssen auch stärker in Forschung und Entwicklung gerade in diesem wichtigen Bereich investieren.
Das IT-Sicherheitsgesetz, das Sie, sehr geehrter Herr
Bundesminister, schon angesprochen haben, ist erforderlich, insbesondere zum Schutz kritischer Infrastrukturen.
Ich sage aber auch offen: Es wird notwendig sein, dass
wir insbesondere das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik sowohl personell als auch finanziell
stärken.
Entscheidend für die innere Verfassung eines Staates
ist aber auch die Frage, wie man mit den Themen Migration, Integration, Staatsangehörigkeit, Asyl und Zuwanderung umgeht. Es wird in den kommenden vier Jahren
entscheidend darauf ankommen, dass wir die schon gut
etablierte Willkommens- und Anerkennungskultur, die
wir in Deutschland haben, weiterentwickeln. Wir sind
gut beraten, offen zu sein für qualifizierte Zuwanderung,
die eine Bereicherung für Deutschland und nicht nur für
unsere Wirtschaft darstellt. Aber wir haben genauso die
Aufgabe, klare Maßnahmen gegen die Bürgerinnen und
Bürger ins Werk zu setzen, die ausschließlich des Sozialleistungsbezugs wegen nach Deutschland kommen.
({5})
Hier gilt es, beides entsprechend zu berücksichtigen.
Insofern bin ich sehr dankbar für die sehr präzisen
Vorgaben zum Asylrecht und zum Asylverfahrensrecht
im Koalitionsvertrag. Es ist schon erwähnt worden: Wir
wollen die Möglichkeiten, in den Arbeitsmarkt einzutreten, erleichtern. Wir wollen bei den entsprechenden Vorgaben, auch was die Durchführung des Verfahrens anbelangt, eine Beschleunigung erreichen. Aber es geht auch
darum, dass klargemacht wird, dass derjenige, der wirklich abgelehnt ist und auch nicht geduldet wird, unser
Land zügig zu verlassen hat.
Denn nur wenn wir hier konsequent handeln, können
wir die hohe Akzeptanz in unserer Bevölkerung für das
im Grundgesetz verbürgte Asylrecht weiterhin erhalten.
({6})
Es darf nicht heißen: Wer asylberechtigt ist, darf bleiben,
und wer nicht asylberechtigt ist, darf auch bleiben. Deswegen ist es wichtig, beide Seiten der Medaille zur Geltung kommen zu lassen.
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, ich
möchte zum Abschluss schon noch ein paar Worte zum
Bevölkerungs- und Katastrophenschutz sagen. Ein schönes geflügeltes Wort besagt: Wir leben nicht vor der Katastrophe, und wir leben auch nicht nach der Katastrophe, wir leben zwischen den Katastrophen. - Dass das
stimmt, hat sich uns sehr deutlich gezeigt, als im Juni
letzten Jahres ein schwerwiegendes Hochwasser viele
Bundesländer, viele Bürgerinnen und Bürger ereilt hat.
Ich sage hier ganz deutlich: Es ist wichtig, dass wir
die ehrenamtliche Organisation des Bundes im Bereich
des Bevölkerungsschutzes, das Technische Hilfswerk,
weiter stärken. Wir können nicht in Sonntagsreden das
Hohelied auf die Bedeutung des Ehrenamts singen und
bleiben dann hinter den Erfordernissen zurück, wenn es
ganz konkret darum geht, Maßnahmen ins Werk zu setzen und durchzuführen, die erforderlich sind, um dieses
hohe bürgerschaftliche Engagement gerade im Bevölke786
Stephan Mayer ({7})
rungs- und Katastrophenschutz weiter aufrechtzuerhalten.
({8})
Deswegen sehe ich uns in der Verpflichtung, dass wir
insbesondere das Technische Hilfswerk, in dem 99 Prozent ehrenamtlich tätig sind, auch finanziell weiterhin
angemessen und ausreichend unterstützen.
Ein allerletztes Wort möchte ich an den Kollegen
Korte richten, weil Sie, Herr Korte, es nicht unterlassen
konnten, eine Bemerkung zum wichtigen Anliegen der
Großen Koalition, einen nationalen Gedenktag für die
Heimatvertriebenen zu schaffen, zu machen.
({9})
Ich muss schon sagen: Es ist wirklich unerträglich, wenn
Sie hier behaupten, dieser Gedenktag werde aus dem
historischen Kontext gerissen.
({10})
Wir sind sehr wohl gehalten - ich glaube, wir haben
hier eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe -, dass wir
der schrecklichen Unrechtstaten, die durch den Holocaust passiert sind und die 6 Millionen Menschen auf
bestialische Weise das Leben gekostet haben, immer
wieder gedenken und dass wir dieses Gedenken auch
hochhalten. Aber in gleicher Weise, Herr Kollege Korte,
sind wir aufgerufen, das Gedenken und die Erinnerung
an diejenigen hochzuhalten - das waren am Ende und
nach dem Zweiten Weltkrieg immerhin 15 Millionen
Deutsche -, die aus ihrer Heimat vertrieben worden sind,
({11})
und das nicht, weil sie Nationalsozialisten waren, sondern weil sie einfach den falschen Wohnort hatten.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, es gehört
ebenfalls zu der ordentlichen Verfassung eines modernen
und aufgeklärten Staates, dass man beide historischen
Ereignisse entsprechend würdigt und ihrer gedenkt.
({12})
Deswegen werden wir in der Großen Koalition neben
dem Weltflüchtlingstag am 20. Juni auch noch einen eigenen Gedenktag für die 15 Millionen deutschen Heimatvertriebenen und Flüchtlinge schaffen.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({13})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Irene Mihalic,
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Herr Minister! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! „Wir wollen einen Staat, der Freiheit und
Sicherheit für die Menschen überall gewährleistet.“ So
heißt es in Ihrem Koalitionsvertrag. Doch „Freiheit“ sucht
man in Ihrem innenpolitischen Programm leider vergebens,
und das ist fatal; denn Sicherheit steht im Dienste der Freiheit und nicht umgekehrt.
({0})
Das sind Ihre Worte, Herr Minister de Maizière. Sie
selbst haben es vorhin noch einmal in mehreren Zusammenhängen betont. Selbst in Ihrer ersten Rede als Innenminister in der Aussprache zur Regierungserklärung der
Bundeskanzlerin 2009 haben Sie gesagt, dass die „Freiheitssicherung der eigentliche Kern der staatlichen Zuständigkeit für öffentliche Sicherheit“ ist. Recht haben
Sie! Denn Sicherheit ist eben kein vorrangiges Supergrundrecht, auch wenn Ihr Nachfolger und zugleich Vorgänger im Amt, Hans-Peter Friedrich, sie eigenmächtig
dazu auserkoren hat, und Freiheit ist kein Grundrecht
zweiter Klasse.
({1})
Es kann nicht unsere Pflicht als Opposition sein, immer wieder zusammen mit dem Bundesverfassungsgericht als Korrektiv dafür zu sorgen, dass die Verfassungsordnung von Freiheit und Sicherheit wieder ins
rechte Lot gebracht wird. Die Wahrung der Verfassung
ist die elementarste Aufgabe des Bundesinnenministers.
({2})
Dass Sicherheit nicht absolut gewährleistet werden
kann, das hat uns allen auf sehr grausame Art und Weise
die Terrorserie des NSU vor Augen geführt. So etwas
darf in unserem Land nie wieder geschehen.
({3})
Gerade deshalb ist es höchst bedauerlich, dass die Große
Koalition mit ihrer so großen Mehrheit die Steilvorlage
der gemeinsamen Empfehlungen des NSU-Untersuchungsausschusses verschenkt. Liebe Kolleginnen und
Kollegen von der SPD, von Ihrem 30-Seiten-Sondervotum - lieber Kollege Hartmann, Sie haben das vorhin
noch einmal angesprochen - ist im Koalitionsvertrag
rein gar nichts mehr übrig geblieben.
({4})
Löblich ist zwar, dass Ihre Ankündigung, den gemeinsamen Konsens umsetzen zu wollen, darin enthalten ist; doch gerade diesen Konsens durchlöchern Sie,
indem Sie einzelne Reformpunkte nochmals gesondert
aufgreifen. Ich jedenfalls kann Ihnen versichern, dass
wir konkrete Schritte einfordern werden, damit Sie wenigstens Ihre Minimalversprechen auf diesem Gebiet
einlösen werden.
({5})
Für die hohen Güter „Freiheit“ und „Sicherheit“ treten tagtäglich Polizistinnen und Polizisten mit großem
Engagement ein. Nach 20 Dienstjahren als Polizeibeamtin bin ich persönlich ziemlich erschrocken darüber, wie
wenige Ideen Sie für unsere Polizei entwickeln. Ein Weiter-so verdienen weder meine Kolleginnen und Kollegen
im Dienst noch die Bürgerinnen und Bürger unseres
Landes. Ja, wo ist denn der Schritt hin zu einer echten
Bürgerpolizei, einer Polizei aus Bürgerinnen und Bürgern und für Bürgerinnen und Bürger?
Sie haben vorhin die Gewalt gegen Polizistinnen und
Polizisten angesprochen und Solidarität angemahnt,
Herr Minister. Aber was ist zum Beispiel mit der Beamtin der Bundespolizei, die sich im Dienst verletzt hat und
danach wochenlang auf die Erstattung ihrer Kosten
durch die Beihilfe warten muss? Wo ist denn da die Solidarität?
({6})
Oder was ist mit dem Ad-hoc-Aufruf des Bundespolizeipräsidiums an Vollzugsbeamte, ihre Dienstzeit zu verlängern? Das ist doch der Offenbarungseid einer falschen Personalpolitik!
({7})
Als damaliger Bundesinnenminister waren Sie Dienstherr, Herr de Maizière. Sie tragen die Verantwortung dafür, in den Jahren 2010 und 2011 zu wenige Dienstanfänger eingestellt zu haben, und das rächt sich jetzt; denn
es zeigt sich, dass der Einsatz von Videotechnik, wie Sie
in der Koalition ihn ja so favorisieren, die Polizei vor Ort
eben nicht ersetzen kann.
({8})
Polizistinnen und Polizisten sind keine Übermenschen. Sie machen natürlich, wie jeder andere in seinem
Beruf, auch einmal Fehler. Was wir aber brauchen, ist
endlich ein offener und konstruktiver Umgang mit diesem Fehlverhalten, und dazu bedarf es beispielsweise
auch im Bund einer unabhängigen Beschwerdestelle.
Diese muss für die Menschen von außen genauso ansprechbar sein wie für die Beamtinnen und Beamten von
innen.
({9})
Der hoch geschätzte und unermüdliche Kämpfer für
den verantwortungsvollen und freiheitlichen Rechtsstaat, Winfried Hassemer,
({10})
der leider kürzlich verstorben ist, hat einmal kritisiert:
Eine Schippe Sicherheit passt immer noch in den mit
Kontrollen und Sanktionen schon prall gefüllten Sack. Liebe Kolleginnen und Kollegen, in diesem prall gefüllten Sack darf aber die Freiheit nicht ersticken. Dafür zu
sorgen, ist unsere gemeinsame Aufgabe.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({11})
Sehr geehrte Kollegin Mihalic, das war Ihre erste
Rede im Deutschen Bundestag. Ich gratuliere Ihnen dazu
und wünsche Ihnen viele erfolgreiche Reden im Hohen
Hause.
({0})
Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Dr. Lars
Castellucci für die Sozialdemokraten.
({1})
Sehr geehrter Präsident! Meine Damen und Herren!
Wir haben uns in der Großen Koalition noch etwas vorgenommen, und zwar eine Reform des Staatsangehörigkeitsrechts. Sehr geehrter Herr Minister de Maizière, das
ist für Sie anscheinend so selbstverständlich, dass Sie es
gar nicht mehr erwähnen. Das ist gut.
({0})
Bereits Rot-Grün hat das Staatsangehörigkeitsrecht
reformiert. Das war schon damals eine längst überfällige
Maßnahme. Es ist gesünder, sich nicht an jedes Detail
aus dieser Debatte zu erinnern.
({1})
Klar ist: Die SPD steht für das moderne Deutschland,
und sie steht damit auch für ein modernes Staatsangehörigkeitsrecht, so auch heute.
({2})
Wir zwingen junge Menschen, die neben der deutschen eine weitere Staatsangehörigkeit besitzen, dazu,
sich bis zu ihrem 23. Lebensjahr für eine zu entscheiden.
Das fällt ihnen schwer. Man kann in den Medien einige
theoretische Einlassungen wahrnehmen, zum Beispiel
von Hannes Wader inspiriert: „Heute hier, morgen dort,
bin kaum da, muss ich fort“. Es wird darüber berichtet,
was alles passieren kann, wenn Menschen mehrere
Staatsangehörigkeiten haben.
Ich glaube, es wäre gut, wenn wir einmal die betroffenen Menschen zu Wort kommen lassen würden. Das will
ich hier tun. Einer hat mir vorgestern geschrieben - ich
zitiere -: Kurz vor der Veröffentlichung des Koalitionsvertrages saß ich im bosnischen Konsulat und habe die
Abtretungsurkunde der bosnischen Staatsangehörigkeit
unterschrieben. Das hat wehgetan. Die Familie in Bosnien versteht das nur sehr schwer; denn für sie lasse ich
ein Land im Stich, das Heimat für meine Großeltern war
und ist. Warum muss ich das? Ich bedrohe niemanden,
wenn ich zwei Staatsangehörigkeiten habe.
Es fällt den Betroffenen schwer, und es betrifft eine
ganze Reihe von Menschen. Ab 2018 - das wird prognostiziert - werden 40 000 Jugendliche unter die Optionspflicht fallen. Gleichzeitig akzeptieren wir schon
heute bei einer Mehrheit der Einbürgerungen Mehrstaatlichkeit: weil es nicht anders geht, weil es sich um andere EU-Bürger handelt. Kinder aus internationalen
Ehen haben ohnehin keine Schwierigkeit, einen Doppelpass zu haben. Meine Damen und Herren, es ist ein bisschen wie bei der Wehrpflicht: Irgendwann haben wir
mehr Ausnahmen als Regeln, und dann funktioniert es
nicht mehr. Das ist dann ungerecht, und es treibt einen
Keil in den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Das kann
nicht so bleiben.
({3})
Im Dezember war ich bei einem Empfang des Verbands der Migrantenwirtschaft in Berlin. Dort meldete
sich jemand zu Wort, der Folgendes sagte: Wir leben
hier, wir arbeiten hier, wir zahlen hier Steuern, wir gründen hier unsere Familien, wir schaffen Arbeitsplätze.
Können wir nicht einfach alle Deutsche sein, statt Ausländer oder ausländische Mitbürger oder Deutsche mit
Migrationshintergrund oder Deutsche mit Zuwanderungsgeschichte? - Diese Begrifflichkeiten zeigen nur
eines, nämlich dass wir an dieser Stelle ein Problem haben.
({4})
Als die Frage „Können wir nicht einfach Deutsche
sein?“ gestellt worden war, kam Rita Süssmuth zu Wort.
Sie sagte: Vergessen Sie Ihre Wurzeln nicht.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich kann Ihnen das
aus meiner eigenen Familie erzählen. Mein Vater hat
schon in den 70er-Jahren die italienische Staatsbürgerschaft abgegeben und die deutsche angenommen. Immer, wenn ein Acker in der alten Heimat zu vererben
war, hat er seinen Geschwistern gesagt: Macht es unter
euch aus. Ich habe damit nichts mehr zu tun. - Er ist vor
einigen Jahren in Rente gegangen, und dann waren die
Fragen wieder da: Wo gehöre ich hin? Wo will ich leben? Vielleicht hier und dort? - Frau Süssmuth hat recht:
Die Wurzeln sind tief im Inneren da. Die neue Staatsangehörigkeit möchte blühen und Früchte tragen, aber
ohne seine Wurzeln ist der Mensch nicht ganz.
({5})
Deshalb wollen wir als SPD-Fraktion - ich bin Aydan
dankbar, dass sie es auch so ausspricht - die Optionspflicht abschaffen, gänzlich und ohne Einschränkung.
({6})
Deshalb haben wir in den Koalitionsverhandlungen
durchgesetzt, dass wir nun bei den Kindern beginnen.
Der Optionszwang entfällt. Mehrstaatigkeit wird akzeptiert. Das ist ein Anfang. Manche werden sagen: Nur ein
Anfang. Ich sage: Es ist ein guter Anfang.
({7})
Johannes Rau hat einmal gesagt:
Wer dauerhaft in Deutschland leben will, braucht
seine Herkunft nicht zu verleugnen.
In diesem Sinne, meine Damen und Herren: Zwingen
wir die Menschen nicht länger, die eigenen Wurzeln abzuschneiden! Unterstützen Sie uns alle dabei, den nächsten
Schritt bei der Reform des Staatsangehörigkeitsrechts zu
gehen! Lassen wir die Menschen ganz!
Vielen Dank.
({8})
Herr Kollege Castellucci, das war auch Ihre erste
Rede hier im Deutschen Bundestag. Ich gratuliere Ihnen
dazu und wünsche auch Ihnen viele weitere Reden im
Hohen Hause.
({0})
Ich erteile jetzt dem Kollegen Clemens Binninger das
Wort, CDU/CSU-Fraktion.
({1})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Ich habe auch den Beiträgen der Oppositionsredner,
nicht nur meiner eigenen Kollegen, aufmerksam zugehört. Herr Kollege Korte, ich würde mich gern mit Ihren
Vorschlägen auseinandersetzen, nur: Es gab keine.
({0})
Acht Minuten ohne eigene konkrete Vorschläge.
({1})
Immer nur Kritik am Minister, was er angeblich vergessen hat und was zu kurz kommt. Aber eine eigene
Agenda: Fehlanzeige.
({2})
Wenn Sie wollen, dass wir in den politischen Streit um
den besten Weg kommen - den ich auch mit Ihnen führen würde -, müssen Sie sagen, was Sie wollen, und dürfen nicht nur lamentieren, was angeblich alles fehlt.
Vielmehr müssen Sie Ihr eigenes Programm vorstellen.
Das haben Sie nicht getan.
Frau Kollegin Mihalic, Glückwunsch auch von mir
zur ersten Rede. Sie haben sinngemäß gesagt: Es ist
nicht Hauptaufgabe der Opposition, dafür zu sorgen,
dass wir bei den Sicherheitsgesetzen die Verfassung einhalten.
({3})
- „Mit Karlsruhe zusammen.“ - Ganz bescheiden! Eigentlich machen die es alleine, aber so sei es.
Ich will nur daran erinnern: Eine der größten Schlappen dieses Parlaments bzw. einer Regierung war das rotgrüne Luftsicherheitsgesetz, mit dem Sie grandios gescheitert sind.
({4})
Insofern sollte man immer daran denken, dass man auch
selber im Glashaus sitzt, bevor man meint, hier eine
Rolle einzunehmen, die nicht zu uns passt.
({5})
Herr Kollege von Notz, die Vorratsdatenspeicherung
durfte nicht fehlen.
({6})
- Bei uns fehlt sie auch nicht. Wir werden sie auch umsetzen. Ich hätte nur die Bitte:
({7})
Wenn wir diesen politischen Streit führen, dann müssen
wir der Bevölkerung und allen, die vielleicht anderer
Meinung sind als wir, deutlich machen, dass unser Verfassungsgericht - ich bin mir sehr sicher, dass der Europäische Gerichtshof nicht anders entscheiden wird sagt: Die Vorratsdatenspeicherung ist grundsätzlich mit
unserem Grundgesetz vereinbar.
({8})
Können wir diesen Satz einmal an den Beginn der Debatte stellen?
({9})
Es kommt darauf an, wie wir sie regeln. Das ist der entscheidende Punkt.
({10})
Sie tun immer so, als ob es per se verfassungswidrig
wäre. Das ist nicht der Fall. Es kommt darauf an, wie wir
es regeln. Wir haben uns vorgenommen, dass wir der
Datensicherheit, den Speicherfristen und all diesen Dingen einen hohen Stellenwert einräumen.
({11})
Dann ist es nicht verfassungswidrig. Insofern sollten wir
da zu einer seriösen Debatte kommen.
({12})
Wir brauchen diese Daten für unsere Behörden, wenn
auch nicht - Kollege Hartmann, da haben Sie recht - als
Allheilmittel. Aber es ist doch kaum zu ertragen, dass die
Strafverfolger, wenn ein Straftäter kinderpornografische
Inhalte ins Internet stellt - mit den wirklich schlimmsten
Bildern, die man sich vorstellen kann -, sagen müssen:
Wir haben zwar die IP-Adresse des Verbrechers, der dieses Video ins Netz gestellt hat, erfahren von den Providern aber nicht, wem diese IP-Adresse gehört, weil sie
sie nicht speichern müssen, weil sie mit Verweis auf eine
fehlende Regelung zur Vorratsdatenspeicherung sagen,
dass sie es nicht speichern. - Dann hört die Strafverfolgung schon auf, bevor sie überhaupt begonnen hat. Bei
solch schweren Verbrechen ist das nicht hinnehmbar auf keinen Fall!
({13})
- Doch, das ist auch Vorratsdatenspeicherung.
Jetzt will ich kurz drei der Punkte herausgreifen, die
der Minister angesprochen hat. Ich bin sehr dankbar,
dass wir uns in der Koalition darauf verständigt haben,
die Empfehlungen des NSU-Untersuchungsausschusses
umzusetzen. Es sind 47 gemeinsame Empfehlungen. Da
brauchen wir übrigens nicht auf Sondervoten irgendeiner
Fraktion abzuheben; es sind 47 Empfehlungen, die alle
Fraktionen mitgetragen haben. Wenn wir dafür sorgen,
dass sie umgesetzt werden, haben wir der Sache am
meisten gedient.
({14})
Ich will deutlich machen, wer davon betroffen ist, erst
recht, weil auch der Justizminister hier ist: Es sind nicht
nur hinsichtlich Polizei und Verfassungsschutz Reformüberlegungen notwendig; auch Staatsanwaltschaften bis
hin zum Generalbundesanwalt haben sich in der NSUSache nicht mit Ruhm bekleckert. Auch da muss es Veränderungen geben.
({15})
Das ganze tragische Scheitern im Zusammenhang mit
den schrecklichen Morden des NSU hat aber auch gezeigt, dass die Sicherheitsarchitektur des Föderalismus
sehr schnell an ihre Grenzen kommt. Deshalb sind nicht
nur wir und die Bundesregierung in der Pflicht. Wir richten natürlich auch einen Appell an die Länder, die Reformen, die wir empfohlen haben, auch in den Ländern umzusetzen. Wenn wir alle zusammen handeln, dann wird
sich hier in der Sache etwas bewegen.
({16})
Der zweite Punkt. Eine der großen Schwächen war,
dass sich Polizei und Verfassungsschutz nicht austauschen konnten; es gab keine gemeinsame Datei. Wir hatten eine gemeinsame Datei für den Bereich des Islamismus, aber nicht für den Bereich des Rechtsextremismus.
Jetzt haben wir für beide Bereiche eine Datei: die
Rechtsextremismusdatei und die Antiterrordatei. Karlsruhe hat über die Antiterrordatei geurteilt und sie für
grundsätzlich verfassungskonform erklärt, aber unter
dem Vorbehalt notwendiger Veränderungen.
({17})
Diese werden wir vornehmen. Dann haben die Sicherheitsbehörden in unserem Land das Instrument, das sie
brauchen, um unter Beachtung des Trennungsgebotes
die Informationen auszutauschen, die ausgetauscht werden müssen, damit wir in unserem Land Islamismus und
gewaltbereiten Rechtsextremismus bekämpfen können.
Insofern ist es ein wichtiger Schritt, wenn wir hier vorangehen.
Ein dritter Punkt. In einem aktuellen Fall hat das BSI
nach Weihnachten gewarnt, dass Nutzerdaten und Kennwörter zu 16 Millionen E-Mail-Adressen gestohlen worden sind. Ich muss sagen: Ich habe großen Respekt davor, was das BSI hier in der kurzen Zeit gestemmt hat,
wie es die Bevölkerung gewarnt und eine eigene Homepage aufgebaut hat, auf der man überprüfen konnte, ob
die eigene E-Mail-Adresse betroffen ist. Ich habe es selber gemacht. Das hat innerhalb weniger Minuten tadellos geklappt. Ich war Gott sei Dank nicht betroffen. - Ich
hoffe, dass ich nicht betroffen war, aber ich bin mir
ziemlich sicher.
({18})
Der Fall zeigt doch auch: All die Warnungen zur Sicherheit im Netz - zu Botnetzen, Serverattacken und
infizierten Homepages -, die wir seit Jahren äußern,
werden von den Menschen offenkundig noch nicht so
sensibel aufgenommen, weil man immer denkt: Das ist
weit weg, das betrifft mich nicht. - Die Schaffung von
Sicherheit im Netz wird eine der wichtigsten Aufgaben
sein, vor denen wir in den nächsten Jahren stehen - damit die Akzeptanz für alle Möglichkeiten, die das Netz
den Bürgern, den Behörden und der Wirtschaft bietet, erhalten bleibt und das Netz nicht zu einem Ort der Unsicherheit wird, sondern ein Ort der Sicherheit bleibt.
Herr Minister, ganz zum Schluss sage ich Ihnen: Die
Fraktionen, die Regierungsfraktionen allemal, vielleicht
die anderen auch, werden Sie gerne auf Ihrem Weg begleiten, die Agenda, die Sie uns skizziert haben, umzusetzen. Es gehört zum Selbstbewusstsein von Parlamentariern, dass wir manchmal vielleicht etwas aufs Tempo
drücken, manchmal vielleicht etwas auf der Bremse stehen oder auf eine Abzweigung oder eine Sehenswürdigkeit am Rande des Weges hinweisen.
({19})
Aber wir sind an Ihrer Seite.
Eines verpflichtet uns alle: Wenn es uns gelingt, sei es
im politischen Streit oder durch gemeinsame Gesetzgebung, ein Stück dazu beigetragen zu haben, dass die
Menschen in unserem Land in Freiheit und Sicherheit leben können, dann haben wir unsere Aufgabe erfüllt.
Herzlichen Dank.
({20})
Abschließende Rednerin zu diesem Themenbereich
ist jetzt die Kollegin Michaela Engelmeier-Heite, SPD.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Sehr verehrte Damen und Herren! Herr
Minister de Maizière, ich möchte mich bei Ihnen für Ihren kleinen Exkurs in die Welt des Sports bedanken. Ich
hoffe, Sie alle sind noch ordentlich fit; denn auch jetzt
geht es fünf Minuten lang um Sport.
In den kommenden Monaten und Jahren erwarten uns
große Herausforderungen im Bereich der Sportpolitik.
Ich kann in der Kürze der Zeit nicht alle Ziele nennen,
weswegen ich mich auf drei Schwerpunkte beschränken
werde.
Ein zentrales Ziel unserer Arbeit in den nächsten Jahren ist die Unterstützung des organisierten Sports bei der
Bewahrung der sportlichen Ideale. Wir Sozialdemokraten stehen immer dafür ein, die sozialen, gesundheitlichen und kulturellen Aspekte des Sports zu fördern und
die Werte von Toleranz und Fairness herauszustellen.
Damit sind wir gleich beim ersten wichtigen Thema
in dieser Wahlperiode angelangt: Antidoping und Spielmanipulationen im Sport. Wir brauchen zum einen eine
nachhaltig finanzierte Antidopingagentur, die NADA,
zum anderen brauchen wir schärfere gesetzliche Maßnahmen gegen Doping und Spielmanipulationen.
({0})
Der Sport lebt vom fairen Wettkampf, und wir dürfen
es nicht zulassen, dass die Werte des Sports beschädigt
werden. Es darf nicht sein, dass die NADA jedes Jahr
aufs Neue um ihre Existenz bangen muss. Die Finanzierung bedarf eines soliden Fundamentes, und wir müssen
entsprechende Mittel zur Verfügung stellen. Das Stakeholder-Modell, bei dem Bund, Länder, Wirtschaft und
Sport gemeinsam die Finanzierung der NADA sicherstellen sollen, funktioniert in dieser Form nicht. Die Länder und die Wirtschaft haben sich bis auf wenige Ausnahmen nicht an der Finanzierung der NADA beteiligt.
Das Unternehmen Otto Bock zum Beispiel hat am
Dienstag dieser Woche verkündet, der NADA 1 Million
Euro für das operative Geschäft zu spenden. Das ist erfreulich.
({1})
Es wäre begrüßenswert, wenn andere Unternehmen diesem positiven Beispiel folgen würden. Nichtsdestotrotz
benötigen wir eine nachhaltige Finanzierung. Das Prinzip, von der Hand in den Mund zu leben, ist nicht zielführend. Es darf nicht sein, dass die NADA weniger
Kontrollen durchführt als geplant, nur weil kein Geld
mehr da ist.
({2})
Ein ehemaliger Sieger der Tour de France sagte einmal: „Doping ist für mich, wenn einer positiv erwischt
wird“. Ich finde, das sagt schon alles. Wir brauchen ein
engmaschiges Kontrollnetz, das nicht an den Finanzen
scheitert. Es gilt daher, über das derzeitige Modell zu
diskutieren und in einem offenen Dialog über neue Konzepte zu sprechen.
Mir ist es wichtig, dass wir hier im Bundestag rechtlich stärker als bisher gegen Doping und Spielmanipulationen vorgehen. Wir brauchen eine tragfähige und
rechtssichere Lösung, um auch dopende Spitzensportler
zu überführen. Der dopende Sportler ist die zentrale Gestalt des Dopingsystems und nicht das Opfer.
Die bisherigen Regelungen in § 6 a des Arzneimittelgesetzes reichen nicht aus; insbesondere die Beschränkung der Strafbarkeit auf die sogenannte nicht geringe
Menge wird den Ansprüchen an einen sauberen Spitzensport nicht gerecht. Wir brauchen schärfere strafrechtliche
Maßnahmen unter Wahrung der Sportgerichtsbarkeit. Nur
so besteht überhaupt die Chance, die kriminellen Dopingnetzwerke aufzubrechen und die Hintermänner zu
fassen, und dies ist möglich.
Der Koalitionsvertrag setzt an der entscheidenden
Stelle an. Wir werden die Einführung einer uneingeschränkten Besitzstrafbarkeit prüfen. Über die endgültige Form werden wir noch ausführlich sprechen, aber
die Richtung ist klar: Der Sport benötigt die verstärkte
Unterstützung des Staates im Kampf gegen Doping.
({3})
Bereits im Februar werden wir uns in einer Sitzung des
Sportausschusses weiter mit der Finanzierung der
NADA und der Dopinggesetzgebung befassen.
Der Sportausschuss ist mein nächstes Stichwort.
Meine Fraktion, die SPD-Bundestagsfraktion, hat sich
generell für öffentliche Sitzungen des Sportausschusses
ausgesprochen,
({4})
das konnte aber leider nicht einvernehmlich beschlossen
werden. Wir stehen zu den Vereinbarungen mit unserem
Koalitionspartner, auch wenn uns das an dieser Stelle etwas schmerzt. Dennoch setzen wir uns weiterhin dafür
ein, in jeder Ausschusssitzung große Teile öffentlich zu
behandeln.
Ich werde meine Rede mit einem Thema schließen,
das momentan täglich in der Presse zu finden ist. Am
7. Februar werden die Olympischen Spiele in Sotschi eröffnet, einen Monat später die Paralympischen Winterspiele. Die aktuelle Berichterstattung in den Print- und
Onlinemedien beschränkt sich nicht auf den Sportteil.
Nein, Sotschi hat quasi seit der Vergabe im Jahr 2007
auch eine politische Komponente. Stichworte dazu sind
die aktuelle Menschenrechts- und Bürgerrechtssituation
in Russland, Arbeitsbedingungen beim Bau der
Wettkampfstätten, Korruption und keine Entlohnung der
Arbeit beim Sportstättenbau, Umweltzerstörung und
Gigantismus. Es ist unsere Aufgabe, diese Fehlentwicklungen zu thematisieren und gegenzusteuern.
({5})
Aber auf der anderen Seite - das ist mir ganz wichtig steht immer noch der Sport. Aus eigener Erfahrung weiß
ich, dass Athletinnen und Athleten jahrelang oder sogar
ihr ganzes Leben lang auf diese Spiele hingearbeitet und
große Entbehrungen auf sich genommen haben. Dies
und die sportliche Leistung dürfen nicht in den Hintergrund geraten. Den Sportlerinnen und Sportlern gilt unsere volle Anerkennung.
Aus dem Bundestag heraus und gemeinsam mit dem
Innenminister wünsche ich den deutschen Athletinnen
und Athleten für Olympia und die Paralympics alles
Gute und viel Erfolg.
({6})
Auf der politischen Ebene müssen aus Sotschi Lehren
gezogen werden, aber nicht nur aus Sotschi. Die Bewerbung Münchens um die Winterspiele 2022 scheiterte bereits im Vorfeld deutlich am Bürgerwillen, und das trotz
eines guten und nachhaltigen Konzepts. Die Gründe für
das negative Votum sind sehr vielschichtig. Aus unserer
Sicht gibt es für das Internationale Olympische Komitee
viel zu tun. Aber auch der Fußballweltverband FIFA ist
gefragt. Die Diskussion über Katar als Ausrichter der
Fußball-WM 2022 wird uns sicherlich begleiten und mit
vielen Problematiken konfrontieren.
Wir stehen zur Verfügung, wenn der Sport unsere Unterstützung in Bezug auf faire und nachhaltige Standards
bei internationalen Sportgroßveranstaltungen benötigt.
Wir reichen dem Sport in partnerschaftlicher Zusammenarbeit die Hand.
Danke.
({7})
Frau Kollegin Engelmeier-Heite, das war Ihre erste
Rede hier im Deutschen Bundestag. Meinen Glückwunsch dazu! Auch Ihnen wünsche ich viele weitere erfolgreiche Reden.
({0})
Weitere Wortmeldungen zu diesem Themenbereich
liegen mir nicht vor. Deshalb kommen wir nun zu dem
Bereich Recht und Verbraucherschutz.
Ich warte einige Sekunden, damit die Kolleginnen
und Kollegen ihre Plätze einnehmen können. - Herr
Wunderlich, die Disziplin der Linkspartei ist notiert und
archiviert. ({1})
Vizepräsident Johannes Singhammer
Darf ich bitten, dass die Kolleginnen und Kollegen, die
die vorderen Plätze einnehmen wollen, dies jetzt auch
tun, damit wir beginnen können?
Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort dem
Bundesminister Heiko Maas. - Herr Bundesminister, Sie
haben das Wort.
({2})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Heute steht nicht nur ein neuer Bundesjustizminister vor Ihnen, sondern zum ersten Mal
liegt auch die Verantwortung für Justiz und Verbraucherschutz in einer Hand. Ich finde, das ist eine gute Nachricht für Stromkunden, für Internetnutzer, für Käufer und
Kleinanleger. Für den Verbraucherschutz in Recht und
Wirtschaft gilt nämlich, wie ich finde, schon lange: Die
Zeit der Appelle ist vorbei; auch den Schwachen soll die
Stärke des Rechts zuteilwerden. Deshalb ist der Verbraucherschutz im Justizministerium gut aufgehoben.
({0})
Wie notwendig das ist, liegt auf der Hand. Wer in den
letzten Monaten in Berlin oder in anderen Großstädten
unterwegs gewesen ist, der konnte einer Reklame kaum
entkommen. Da warb ein Unternehmen um Anleger, indem es das Zeichen für atomare Strahlung schrittweise
in ein grünes Windrad verwandelte. Gutes tun und dabei
Gewinn machen, das war das subtile Versprechen, dem
dann 75 000 Bürgerinnen und Bürger geglaubt haben.
Inzwischen hat das Unternehmen Prokon Insolvenz angemeldet, und viele Menschen bangen um ihr Erspartes,
das sie dort angelegt haben.
Keine Frage, zur Marktwirtschaft gehört auch das
Risiko; aber Risiken müssen offengelegt werden, damit
Anleger abwägen können, ob sie diese Risiken wirklich
eingehen wollen. Das war bisher nicht immer der Fall.
Dieses Beispiel zeigt, dass es beim Grauen Kapitalmarkt
nicht unerheblichen Handlungsbedarf gibt. Wir werden
deshalb zusammen mit dem Bundesfinanzministerium
demnächst Vorschläge machen, wie wir die Irreführung
von Anlegerinnen und Anlegern etwa durch Werbung
verhindern können. Wir wollen dazu auch die Zuständigkeiten der BaFin erweitern. Die Finanzaufsicht und
deren Zielkatalog soll nicht nur die Stabilität des Marktes im Blick haben, sie muss sich auch um den kollektiven Schutz der Verbraucherinnen und Verbraucher
kümmern. Das ist ein erster Punkt, wo wir als Verbraucherschutzministerium in den kommenden Tagen aktiv
werden wollen.
({1})
Der Verbraucherschutz hat viele Facetten. Eine, die
besonders viele Menschen betrifft, ist das Mietrecht.
Dieses Thema war ja auch bisher im Justizministerium
ressortiert. Heute werden die Mieten vor allem bei Wiedervermietungen zum Teil drastisch erhöht. In München
betragen die Steigerungen in einzelnen Stadtteilen
40 Prozent und mehr, und selbst in Berlin
({2})
- ja, auch noch mehr - muss man bei neuen Mietverträgen oft 20 bis 30 Prozent mehr zahlen als bei laufenden
Verträgen für vergleichbare Wohnungen.
Ich meine, auch gegen diese unverhältnismäßige Dynamik bei den Mieten müssen wir etwas tun.
({3})
Auch in Großstädten muss das Wohnen bezahlbar bleiben. Wir wollen keine Gentrifizierung. Unsere Städte leben von der Vielfalt in den Wohnquartieren und nicht
von der Separierung nach Einkommensgruppen.
({4})
Deshalb werden wir noch im März einen Entwurf für
eine wirksame Mietpreisbremse vorlegen. In Zukunft
sollen die Länder Gebiete festlegen können, in denen bei
Wiedervermietung die Mietsteigerung auf maximal
10 Prozent über der ortsüblichen Vergleichsmiete begrenzt wird.
({5})
Das ist ein Beitrag für mehr bezahlbare Mieten und
Wohnungen auch in Ballungsgebieten.
Ein zweiter Teil der Vorlage, die wir machen werden,
wird beinhalten, dass wir bei den Kosten für die Makler
das Bestellerprinzip einführen. Wer bestellt, bezahlt.
({6})
Dieses Prinzip der Marktwirtschaft soll in Zukunft auch
für die Maklerrechnung gelten. Eigentlich ist dies nichts
anderes als eine überfällige Selbstverständlichkeit. Dem
werden wir nachkommen.
Rechtspolitik ist immer auch Gesellschaftspolitik.
Unser Ideal ist eine moderne Gesellschaft, in der alle
Menschen selbstbestimmt leben können ohne Privilegien
und ohne Benachteiligungen aufgrund ihrer Herkunft,
ihres Geschlechts oder ihrer sexuellen Identität. Für zu
viele Menschen in unserer Gesellschaft ist das aber noch
immer Utopie, zum Beispiel für Frauen in deutschen Unternehmen. Trotz hervorragender Qualifikationen gibt es
immer noch viel zu wenige Frauen in Führungspositionen. Um das zu ändern, um zumindest einen ersten
Schritt zu tun, werden wir zusammen mit der Frauenministerin Manuela Schwesig das Aktienrecht reformieren.
Wir werden dafür sorgen, dass in den Aufsichtsräten der
größten Unternehmen zukünftig eine verbindliche Frauenquote gilt. Es kann nicht sein, dass es sich um einen
statistischen Fehler handelt, dass wir mittlerweile die
bestausgebildete Generation an Frauen haben, sich das
in den Führungsetagen der deutschen Wirtschaft aber
immer noch nicht niederschlägt.
({7})
Selbstbestimmt zu leben, das bedeutet auch, dass der
Staat zwar die Solidarität unter den Menschen fördern
soll, ihnen aber nicht vorschreibt, wie sie zu leben haben.
Ich setze mich deshalb dafür ein, dass wir alle Benachteiligungen von eingetragenen Lebenspartnerschaften, die
unser Recht noch immer kennt, endlich beseitigen.
({8})
Im Adoptionsrecht haben wir damit bereits angefangen.
Der Entwurf eines Gesetzes, das die Sukzessivadoption
für Lebenspartner ermöglicht, ist fertig und wird derzeit
innerhalb der Bundesregierung abgestimmt. Auf dem
langen Weg zur rechtlichen Gleichstellung ist das, wie
ich finde, ein wichtiger Schritt.
Die dritte große Aufgabe unserer Politik sehe ich vor
allem im Schutz der Freiheit und der Bürgerrechte. Ihnen drohen heute viele Gefahren, sogar von denen, die
vorgeben, sie zu schützen.
({9})
Der Fall des massenhaften Abgreifens persönlicher
Daten durch fremde Geheimdienste ist für mich nicht erledigt.
({10})
Um gegenseitiges Vertrauen wiederherzustellen, dürfen
wir nichts unversucht lassen, die Daten unserer Bürger
- übrigens nicht nur die der Regierungsmitglieder - besser zu schützen.
({11})
Präsident Obama hat zumindest erste Schritte angekündigt. Dennoch sind wir uns einig - ich bin froh, dass die
Bundeskanzlerin in ihrer Regierungserklärung klare
Worte dazu gefunden hat -: Die NSA sollte nicht mehr
ungebremst Daten sammeln können. Gerade in den USA
gibt es längst Hinweise, dass die enormen Datenmassen
gar nicht ausgewertet werden können und daher auch
keinen Beitrag zum Schutz vor Terroranschlägen leisten.
Bei der schwierigen Suche nach der Balance zwischen Freiheit und Sicherheit können wir den Anspruch
der Bürgerinnen und Bürger auf ein Leben in Sicherheit
nicht ignorieren. Genauso wenig können wir ignorieren,
dass immer häufiger lediglich vermeintliche Sicherheitsinteressen dazu dienen sollen, Bürgerrechte unverhältnismäßig einzuschränken. Das ist nicht der richtige Weg
für eine ausreichende Balance zwischen Freiheit und
Sicherheit.
({12})
Wenn mitten in Deutschland Menschen wegen ihrer
Herkunft oder ihrer Hautfarbe verfolgt, ja ermordet werden, dann ist das der schlimmste Angriff auf Freiheit und
Sicherheit, den man sich vorstellen kann. Der rechtsextreme Terror des NSU war ein Schock für unsere
gesamte Gesellschaft. Ich weiß, dass sich der Deutsche
Bundestag sehr intensiv mit diesen Verbrechen beschäftigt hat. Deshalb sage ich Ihnen zu: Die Empfehlungen
des Untersuchungsausschusses werden wir zügig umsetzen.
({13})
Wir werden, Herr Binninger, zum Beispiel die Rolle des
Generalbundesanwaltes stärken. Es ist sinnvoll, dass der
Generalbundesanwalt in Zukunft eine größere Entscheidungskompetenz erhält für den Fall, dass sich die Staatsanwaltschaften der Länder nicht über Verfahrensabgaben
einigen können. Wir stellen auch sicher, dass Rassismus
als Motiv einer Tat zukünftig stärker berücksichtigt
wird. Bei der Bekämpfung des Rechtsextremismus werden Sie uns an Ihrer Seite haben.
({14})
Meine Damen und Herren, das waren nur einige wenige Punkte aus unserem Arbeitsprogramm. Wir haben
uns viel vorgenommen. Dazu gehören auch der Kampf
gegen Menschenhandel und die rasche Umsetzung der
entsprechenden EU-Richtlinie oder die Einrichtung des
Sachverständigenrates für Verbraucherfragen. Auch
beim Urheberrecht sind wichtige Entscheidungen nicht
länger aufschiebbar.
({15})
- Das freut mich. - Ich freue mich auf die Zusammenarbeit.
Schönen Dank.
({16})
Vielen Dank, Herr Minister. - Auch ein Bundesjustizminister hält hier einmal seine erste Rede. Das darf man
auch einmal erwähnen. Ich bin mir sicher, dass er hier
noch viele Reden halten wird.
({0})
Gestatten Sie mir, bevor wir wieder zur Tagesordnung
kommen, noch einen Hinweis aufgrund der Erfahrungen
der stattgefundenen Debatten. Der eine oder andere Redner hat sich wohl mehr an die gefühlte Redezeit gehalten
als an die, die zwischen den Parlamentarischen Geschäftsführern vereinbart worden ist. Ich bitte zumindest
für den folgenden Teil der Aussprache, die vereinbarten
Redezeiten einzuhalten, nachdem die Zeit am heutigen
Tag schon sehr fortgeschritten ist. Ich bin mir sicher,
dass das alle Kolleginnen und Kollegen beachten werden
und darf jetzt der Kollegin Halina Wawzyniak für die
Fraktion Die Linke das Wort erteilen.
({1})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Bundesjustizminister! Mein Kollege Korte hat
eigentlich schon alles zur Vorratsdatenspeicherung gesagt. Sie arbeiten an einem entsprechenden Gesetzentwurf. Werfen Sie ihn in den Papierkorb, und lassen
Sie ihn dort liegen! Dahin gehört er nämlich.
({0})
Die dadurch gewonnene Zeit sollten Sie sinnvoll nutzen,
zum Beispiel indem Sie einen Gesetzentwurf für mehr
direkte Demokratie auf Bundesebene vorlegen. Es ist an
der Zeit für Volksbegehren, Volksinitiativen und Volksentscheide. An diesen sollen sich auch Menschen beteiligen können, die seit fünf Jahren hier leben. Wir machen
es Ihnen einfach: Sie können, wenn wir Ihnen demnächst
einen Gesetzentwurf dazu vorlegen, gerne von Copyand-Paste Gebrauch machen.
Sie könnten auch den Vorschlag der schleswig-holsteinischen Justizministerin aufnehmen und gemeinsam
mit den Justizministerinnen und Justizministern der Länder über eine Bereinigung des Strafrechts von NS-Tatbeständen nachdenken. Das ist überfällig. Der Deutsche
Anwaltverein hat hierzu vorzügliche, nachdenkenswerte
Vorschläge unterbreitet. Schauen Sie sich die doch bitte
einmal an!
({1})
Das wäre allemal sinnvoller, als unsinnige Projekte voranzutreiben wie zum Beispiel das Fahrverbot als Hauptstrafe. Dieses Fahrverbot ist nicht nur politisch unsinnig;
es gibt auch erhebliche verfassungsrechtliche Bedenken
gegen eine solche Regelung. Deswegen, Herr Maas:
Lassen Sie die Finger davon!
({2})
Weil wir gerade bei „Finger davon lassen“ sind: Die
Idee einer nachträglichen Therapieunterbringung ist
ebenfalls ein solcher Fall. Sie kennen sicherlich den offenen Brief, in dem Wissenschaftler, Strafverteidiger,
Bewährungshelfer und Kriminologen detailliert aufzeigen, warum eine nachträgliche Therapieunterbringung
europarechtlich und verfassungsrechtlich Unsinn und
deshalb abzulehnen ist.
({3})
Ich kann Ihnen diesen Brief nur dringend empfehlen; ich
stimme ihm vollumfänglich zu. Deswegen: Treten Sie
diese Idee einfach in die Tonne!
({4})
Sie haben vorhin gesagt, Sie arbeiten an einem Gesetz
zur sogenannten Mietpreisbremse. Nun wird diese Mietpreisbremse im besten Fall ein Mietpreisbremschen. Sie
suggerieren eine Lösung, die aber nur dann eine werden
kann, wenn die Bundesländer mitspielen. Diese müssen
nämlich eine Ermächtigung dafür schaffen, dass die
Miete auf maximal 10 Prozent über der ortsüblichen
Vergleichsmiete beschränkt wird, wenn eine Wohnung
wiedervermietet wird. Sie wollen die Regelung zudem
auf fünf Jahre beschränken, und sie soll nur gelten, wenn
der lokale Wohnungsmarkt angespannt ist.
({5})
Das sind lauter Wenn-Regelungen. Was, wenn nicht?
Dann haben Millionen Mieterinnen und Mieter noch immer das Problem viel zu hoher Mietkosten. Statt „wenn“,
„falls“ und „vielleicht“ brauchen die Menschen klare
und verbindliche Ansagen. Wir wollen unter anderem,
dass eine Mieterhöhung bei Wiedervermietung ohne
Wohnwertverbesserung nur im Rahmen des Inflationsausgleichs möglich ist. Das wäre wenigstens ein Anfang.
Auch hierzu werden wir Ihnen in Kürze einen Vorschlag
vorlegen; auch in diesem Fall ist Copy-and-Paste ausdrücklich erlaubt.
({6})
Weil wir gerade bei Copy-and-Paste sind: Das dürfen
Sie auch bei unserem Gesetzentwurf zur Abschaffung
der Störerhaftung im Internet machen. Das ist nämlich
ebenso erforderlich wie eine gesetzliche Festschreibung
der Netzneutralität. Auch das Urheberrecht ist an das digitale Zeitalter anzupassen; Sie haben es selbst angesprochen. Die Kreativen müssen von ihrer Arbeit leben
können. Gleichzeitig müssen die Nutzerinnen und Nutzer einen Zugang zu Wissen und Kultur haben. Wir haben in der letzten Legislaturperiode einen hervorragenden Gesetzentwurf zum Urhebervertragsrecht vorgelegt.
Auch hier ist Copy-and-Paste ausdrücklich erlaubt.
Ich habe die Redezeit eingehalten.
Danke schön.
({7})
Ich bedanke mich ausdrücklich für die Disziplin und
bitte die anderen, das nachzuahmen.
Ich erteile jetzt das Wort dem Kollegen Thomas
Silberhorn, CDU/CSU.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Bundesminister Maas hat bereits einige wichtige
Projekte vorgestellt, die wir in dieser Legislaturperiode
gemeinsam angehen wollen. Gestatten Sie mir dazu nur
zwei kurze ergänzende Anmerkungen:
Sicherlich gehört das, was wir im Koalitionsvertrag
zur Behebung des Wohnungsmangels beschlossen haben, zu den dringlichsten Vorhaben. Eine Mietpreisbremse ist hier ein wichtiges Instrument. Sie kann aber
nur den weiteren Anstieg der Mieten abschwächen; das
Problem lösen kann sie nicht. Wir brauchen also auch
mehr Wohnraum. Daher haben wir uns im Koalitionsvertrag darauf verständigt, dass wir den Wohnungsbau stärken wollen. Ein größeres Angebot an Wohnungen wirkt
überzogenen Mietpreisen am ehesten entgegen.
({0})
Wir stehen auch zu den Vereinbarungen zur Frauenquote und setzen sie um.
({1})
Ich will allerdings nicht verhehlen, dass es mir persönlich lieber wäre, wenn erst gar kein Handlungsbedarf für
den Gesetzgeber entstünde.
({2})
Die Wirtschaft und die Tarifparteien sind aufgerufen,
ihre Hausaufgaben zu machen.
({3})
Das gilt für die Frauenquote, aber auch für ein angemessenes Entgelt.
({4})
Soweit die Tarifparteien ihre Angelegenheiten selbst angemessen regeln, muss der Gesetzgeber gar nicht tätig
werden.
({5})
Wenn sie es aber nicht tun, dann greifen wir ein.
({6})
Lassen Sie mich drei Kernpunkte ansprechen, die für
die Rechtspolitik von strategischer Bedeutung sind und
die wir aus meiner Sicht zügig anpacken sollten: Erstens.
Wir müssen den Opferschutz weiter verbessern. Zweitens. Wir müssen Recht und Ordnung aufrechterhalten.
Drittens. Wir müssen Strafbarkeitslücken im digitalen
Raum schließen.
({7})
Für den Opferschutz brauchen wir eine großzügigere
Regelung der strafrechtlichen Verjährung bei sexuellem
Missbrauch.
({8})
Wir haben in der letzten Legislaturperiode für alle Sexualstraftaten den Beginn der Verjährung vom 18. auf das
21. Lebensjahr verschoben. Das war richtig, aber das
reicht uns nicht.
({9})
Sie und wir wollten schon in der letzten Legislaturperiode mehr. Jetzt haben wir die Gelegenheit, das umzusetzen. Die Opfer von sexueller Gewalt sind nämlich oft
traumatisiert und brauchen Jahre, manchmal sogar Jahrzehnte, bis sie überhaupt über das Geschehene reden
können. Deshalb müssen wir dieser besonderen Belastung der Opfer bei sexuellem Missbrauch Rechnung tragen und dafür sorgen, dass die Täter ihrer gerechten
Strafe nicht länger entgehen können.
({10})
Wir müssen auch den Stalking-Paragrafen präzisieren. Wir verzeichnen eine wachsende Anzahl an Strafanträgen aufgrund von Stalking, aber nur eine geringe Anzahl an Verurteilungen. Das liegt daran, dass erst
ermittelt werden muss, ob das Opfer, dem jemand nachstellt, dadurch in seiner Lebensgestaltung schwerwiegend beeinträchtigt wird. Dieses Kriterium ist aber objektiv kaum überprüfbar, und zudem zählen psychische
Belastungen hier nicht mit. Wir müssen künftig eine Bestrafung ermöglichen, ohne dass das Opfer erst umgezogen sein muss oder Ähnliches. Für die Strafbarkeit sollte
es deshalb ausreichen, dass die Lebensgestaltung nicht
tatsächlich schwerwiegend beeinträchtigt wird, sondern
dass das Nachstellen geeignet ist, die Lebensgestaltung
des Opfers zu beeinträchtigen.
Meine Damen und Herren, es ist ein großer Fortschritt, dass wir uns im Koalitionsvertrag darauf verständigt haben, ein Angehörigenschmerzensgeld einzuführen. Deutschland ist eines der wenigen Länder in
Europa, das bislang kein Angehörigenschmerzensgeld
kennt. Natürlich kann Geld niemals einen menschlichen
Verlust aufwiegen. Es ist aber auch nicht das Ziel des
Angehörigenschmerzensgeldes, einen solchen Ausgleich
zu verschaffen. Die Entschädigung soll ausdrücken, dass
das seelische Leid, das den Angehörigen zugefügt
wurde, anerkannt wird und dass die Rechtsgemeinschaft
mit den Betroffenen solidarisch ist. Das werden wir umsetzen.
({11})
Um Recht und Ordnung aufrechtzuerhalten, müssen
wir Menschenhandel und auch Zwangsprostitution gezielt bekämpfen. Der Handel mit der Ware Mensch ist
eine der schlimmsten Formen moderner Sklaverei.
Durch die Zulassung der Prostitution wurde auch die
Kontrolle in diesem Bereich eingeschränkt, was der
Zwangsprostitution offenkundig Vorschub geleistet hat.
Straftaten sind schwer nachweisbar, zumal die Opfer oft
bedroht und eingeschüchtert werden. Wir müssen die betroffenen Frauen besser vor Gewalt und vor Zwangsprostitution schützen. Die Verfolgung der Täter darf nicht
davon abhängen, dass sich die Opfer zu einer Aussage
bereitfinden, obwohl sie bedroht werden. Das werden
wir im Zuge der Umsetzung des Koalitionsvertrages ändern.
({12})
Wir sollten auch Polizisten und Einsatzkräfte besser
schützen. Sie halten für uns den Kopf hin, wenn es
brenzlig wird. Wir haben bereits in der letzten Wahlperiode dafür gesorgt, dass Widerstand gegen Polizeibeamte strenger bestraft werden kann. Die Entwicklung
der Gewalt gegen Polizisten und Einsatzkräfte ist aber
weiterhin alarmierend. Bei der Demonstration für den
Erhalt des Kulturzentrums „Rote Flora“ in Hamburg
wurden Ende letzten Jahres mehr als 80 Polizisten ver796
letzt. Immer wieder gibt es Aufrufe im Internet zur Gewalt gegen die Polizei. Hier muss die Polizei konsequent
durchgreifen, wie das in Hamburg zu Recht geschehen
ist. Aber auch der strafrechtliche Schutz von Polizeibeamten und Einsatzkräften muss weiter verbessert werden.
({13})
Wir müssen auch die organisierte Kriminalität austrocknen. Wirtschaftskriminalität verursacht jedes Jahr
einen immensen Schaden für unsere Volkswirtschaft.
Wir müssen insbesondere dem kriminellen Treiben von
Geldwäschern entschieden entgegentreten. Wir werden
deshalb die Möglichkeit schaffen, Vermögen und Bargeld, das mutmaßlich krimineller Herkunft ist, leichter
einzuziehen. Wir wollen nicht die Kleinen hängen und
die Großen laufen lassen, sondern die Großen hängen
und die Kleinen auch nicht laufen lassen.
Schließlich müssen wir die digitalen Herausforderungen in der Rechtspolitik annehmen. Es gibt im digitalen
Raum Strafbarkeitslücken, die wir schließen müssen, damit unsere Rechtsordnung für das 21. Jahrhundert fit
wird. Wir wissen um die dramatische Wirkung von
Straftaten über das Internet, beispielsweise bei Cybermobbing. Die Dimension von Mobbing wird in sozialen
Netzwerken um ein Vielfaches verstärkt. Mehrere
Selbstmorde von Jugendlichen zeigen, dass wir auch in
der digitalen Welt die Rechtsordnung durchsetzen müssen.
Ein Letztes. Die Richtlinie der Europäischen Union
zur Bekämpfung sexuellen Missbrauchs und der sexuellen Ausbeutung von Kindern hätte bereits am 18. Dezember letzten Jahres umgesetzt sein müssen. Es ist kein
Ruhmesblatt, dass eine Richtlinie, die dem Schutz der
Schwächsten in unserer Gesellschaft dient, nicht fristgerecht umgesetzt worden ist.
({14})
Bundesminister Maas trägt dafür keine Verantwortung,
seine Vorgängerin aber schon.
({15})
Deswegen zähle ich darauf, dass wir diese EU-Richtlinie
jetzt schnell umsetzen können.
Wir haben viele und bedeutende Aufgaben vor uns.
Ich freue mich auf eine konstruktive Zusammenarbeit
der Rechtspolitiker in dieser Großen Koalition.
Vielen Dank.
({16})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Katja Keul, Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Sehr geehrter Herr Bundesminister Maas, zunächst möchte ich Ihnen von dieser Stelle aus zu Ihrem
neuen Amt ganz herzlich gratulieren. Die Justiz ist nicht
einfach nur eines von 14 Ministerien dieser Regierung.
Neben der Gesetzgebung und der Regierung ist sie als
dritte Gewalt die tragende Säule unseres demokratischen
Rechtsstaates. Wenn hier alles glattläuft, dann halten das
die Bürgerinnen und Bürger schnell für selbstverständlich. Aber wehe, das Vertrauen in den Rechtsstaat
kommt ins Wanken. Dann ist die Grundlage unseres
friedlichen Zusammenlebens schnell in Gefahr.
In den Krisenregionen von Libyen über Somalia bis
nach Afghanistan wissen die Menschen oft besser als
wir: Gerechtigkeit und Frieden gehören zusammen und
bedingen einander. Ich freue mich daher, im Koalitionsvertrag zu lesen, dass Sie die Initiative „Law - Made in
Germany“ stärken und weiterentwickeln wollen. Dabei
können Sie mit unserer grünen Unterstützung rechnen.
({0})
Aber auch hier bei uns gilt es, das Vertrauen der Bürger in den Rechtsstaat immer wieder neu zu gewinnen.
Dabei ist vor allem der Zugang zum Recht eine Schlüsselvoraussetzung. Zum 1. Januar 2014 trat das neue Prozesskostenhilfe- und Beratungshilferecht in Kraft, mit
dem die Voraussetzungen der staatlichen Kostenhilfe
verschärft werden. Damit soll angeblicher Missbrauch
bekämpft werden, obwohl die staatliche Kostenhilfe gerade einmal 5 Prozent der Gesamtkosten der Justiz ausmacht und Deutschland im europäischen Vergleich weit
unter den durchschnittlichen Pro-Kopf-Kosten liegt. Das
von Ihrem Ministerium vorgelegte Formular ist nun länger und komplizierter. Gerade Hartz-IV-Empfänger sollen ihre Bedürftigkeit nicht mehr allein durch die Vorlage des Leistungsbescheides nachweisen können.
Warum eigentlich? Ist ihre Bedürftigkeit nicht bereits
ausreichend geprüft worden? Bitte denken Sie bei der
weiteren Ausgestaltung der Verfahren daran, wie wichtig
es für uns alle ist, dass auch die Ärmeren unter uns ihre
Anliegen der staatlichen Gerichtsbarkeit anvertrauen
und nicht aus Frust dazu übergehen, die Dinge selbst in
die Hand zu nehmen; denn das wäre am Ende immer die
teuerste Alternative - für alle.
({1})
Dann gibt es da noch eine Berufsgruppe, die für den
Zugang zum Recht von besonderer Bedeutung ist: die
Anwältinnen und Anwälte vor Ort in den kleinen Kanzleien, sozusagen die Hausärzte des Rechtssystems. Trotz
der unveränderten Haftungsrisiken verdienen die Einzelanwälte durchschnittlich gerade noch 1 500 Euro netto.
Das werden auch die Idealisten unter ihnen nicht mehr
lange durchhalten. Wir können aber die Rechtsuchenden
auf dem Lande langfristig nicht auf die großen Wirtschaftskanzleien in der nächsten Metropole verweisen.
Auch das würde den Zugang zum Recht und damit das
Vertrauen in den Rechtsstaat erheblich erschüttern.
({2})
Aber auch bei der Frage der Gerichtsbarkeit sehe ich
eine Gefahr auf unseren Rechtsstaat zukommen. In Ihrem Koalitionsvertrag steht:
Wir wollen das Rechtsprechungsmonopol des Staates stärken.
Das ist gut. Wie wollen Sie aber damit in Einklang bringen, dass künftig im Rahmen des Transatlantischen Freihandelsabkommens internationale Konzerne vor einem
internationalen Schiedsgericht gegen unsere Gesetze
klagen und den deutschen Gesetzgeber aushebeln können?
({3})
Hier sind Sie als Bundesjustizminister gefordert. Verhindern Sie, dass Streitigkeiten mit internationalen Konzernen demnächst nicht mehr vor deutschen Gerichten
ausgetragen werden! Verhindern Sie, dass wenige ausgewählte Wirtschaftsanwälte als Richter von Schlichtungskammern den sogenannten Investorenrechten Vorrang
vor unserer Gesetzgebung einräumen, ohne dass es dagegen eine Berufungsmöglichkeit gibt!
Wir Grünen halten außerdem die Aussetzung der Verhandlungen zu diesem Abkommen für unabdingbar, solange uns nicht einmal ein Mindestmaß an Datenschutz
von der anderen Seite des Atlantiks garantiert wird. Freihandel und Wirtschaftsspionage passen nicht zusammen.
Es tut sogar der Opposition weh, zu sehen, wie hilflos
die Bundesregierung auf diese Rechtsverstöße reagiert.
Ärgerlich wird es, wenn der einzige Deutsche, der konkrete Ermittlungen einleiten könnte, sich das seit Monaten nicht traut. Der Generalbundesanwalt unterliegt Ihrer
Weisung. Wenn er jetzt nicht bald in Gang kommt, fällt
das irgendwann auf Sie zurück.
({4})
Es ist bitter, erkennen zu müssen, dass niemand in Europa der NSA technologisch Paroli bieten kann. Solange
sich daran nichts ändert, sollten wir möglicherweise
noch einmal neu über die zwingende, das heißt ausschließlich elektronische Gerichtspost ab 2022 nachdenken. Wir sollten ehrlich sein: Keine Anwaltskanzlei und
kein deutsches Gericht kann den Rechtsuchenden bei digitalen Schriftsätzen derzeit den erforderlichen Vertrauensschutz vollständig garantieren.
({5})
Diesem Vertrauensschutz droht weiteres Ungemach.
Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil vom
2. März 2010 entschieden, dass Telekommunikationsdaten von zu Verschwiegenheit verpflichteten Berufsgruppen
keinesfalls im Rahmen einer Vorratsdatenspeicherung
übermittelt werden dürfen. Das ist ein verfassungsrechtliches Gebot.
Unabhängig davon, wie das Urteil des EuGH zur Vorratsdatenspeicherung ausgeht, ist eine Übermittlung und
Nutzung gespeicherter Daten schon aus verfassungsrechtlichen Gründen immer unter Richtervorbehalt zu
stellen. So wie man nicht auf Vorrat übermitteln und nutzen darf, so darf man auch nicht auf Vorrat speichern.
({6})
Der Begriff Vorrat passt nicht zu einem Rechtsstaat.
Er übermittelt nicht auf Vorrat, hört nicht auf Vorrat ab
und sammelt auch nicht auf Vorrat. Unser Rechtsstaat
braucht keine Vorratsdatenspeicherung.
({7})
Sie haben aber noch viel nettere Projekte, die Sie
schnell und unkompliziert werden angehen können, zum
Beispiel im Aktienrecht. Sie haben es angesprochen. Die
Frauenquote für die Aufsichtsräte ist überfällig und
sollte nicht länger auf sich warten lassen. Die Mieterinnen und Mieter in den Ballungsräumen warten darauf,
dass Sie endlich die Mietpreisbremse bei Neuvermietung
einführen.
Bei der Prostitution müssen wir nicht nur im Gewerberecht nachsteuern, sondern auch Opfern von Menschenhandel besseren Schutz gewähren.
({8})
Noch eine gute Idee: Wie ist es denn mit der Karenzzeit für ausgeschiedene Regierungsmitglieder? Nachdem
zunächst einige meinten, man bräuchte dazu keine gesetzliche Regelung, hat sich zum Glück doch noch der
juristische Sachverstand durchgesetzt.
Zu alledem sind Sie jetzt auch federführend für den
Verbraucherschutz zuständig. Das finden wir richtig. Der
mündige Bürger des BGB und der schutzbedürfte Verbraucher sind eben doch ein und dieselbe Person. Haben
Sie in den letzten Jahren schon mal ernsthaft den Versuch unternommen, Ihre Telefonrechnung nachzuvollziehen? Da kann man auch als mündiger Bürger wütend
werden. Nicht umsonst spielen die Telekommunikationsverträge bei Verbraucherinsolvenzen eine erschreckende Rolle, und das, obwohl Telefonieren in den letzten 20 Jahren doch eigentlich billiger geworden ist.
Da ist es in der Tat eine staatliche Aufgabe, den
marktbeherrschenden Konzernen die roten Linien aufzuzeigen. Dazu gibt Ihr Koalitionsvertrag leider nicht viel
her: keine Ausweitung der Verbraucherinformationsrechte und keine Einführung der Gruppenklage. Egal ob
im Finanzmarkt, beim Onlinehandel, bei Bewertungen
durch den ADAC oder die Schufa - überall dort würden
diese Instrumente weiterhelfen.
Sie sind sich mit Ihrem Kabinettskollegen noch nicht
einmal einig, dass das Verbraucherinformationsgesetz in
Ihren Zuständigkeitsbereich fällt. Die Auskunftsrechte
der Verbraucher sind eine zentrale Säule des Verbraucherschutzes und sollten sich gerade nicht auf Lebens798
mittel beschränken. Lassen Sie sich hier also nicht vom
Landwirtschaftsminister die Butter vom Brot nehmen.
({9})
Und lassen Sie sich von einem schwachen Koalitionsvertrag nicht abhalten, trotzdem sinnvolle Gesetze auf
den Weg zu bringen. Wenn Sie eine gute Idee brauchen,
können Sie gerne die Opposition fragen.
Vielen Dank.
({10})
Herzlichen Dank, Frau Kollegin Keul, auch für die
präzise und disziplinierte Einhaltung der Redezeit. - Ich
darf jetzt die Kollegin Elvira Drobinski-Weiß, SPD, bitten.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr Minister! Die Verbraucherpolitik gehört zu
den Bereichen, in denen es die größten Neuerungen geben wird. Damit meine ich weniger die neue Ressortaufteilung. Ich meine damit: Die Verbraucherpolitik wird
auf eine neue Basis gestellt. Das gilt unabhängig davon,
ob es sich um Lebensmittel, um die digitale Welt oder
um Finanzdienstleistungen handelt.
Der mündige Verbraucher, der gerade angesprochen
worden ist, ist ein Ideal. Er ist nicht die Realität. Die
Verhaltensforschung zeigt, dass wir alle als Verbraucherinnen und Verbraucher häufig nicht rational entscheiden, sondern von vielen unterschiedlichen Faktoren beeinflusst werden. Fragen Sie sich doch einmal selbst!
Nicht umsonst setzt die gesamte Werbebranche auf
Emotionen und Stimmungen.
Die neue verbraucherpolitische Basis, das sind die realen, die konkreten Menschen mit ihren verschiedenen
Interessen und Bedürfnissen. Gute Verbraucherpolitik
muss ihre unterschiedlichen Voraussetzungen und Verhaltensweisen berücksichtigen. Die Erkenntnisse der
Verbraucherforschung sollen in Zukunft starken Einfluss
auf Gesetzesvorhaben und Regelungen haben. Ich begrüße sehr, dass eine der ersten Maßnahmen des neuen
Verbraucherministers die Einrichtung eines Sachverständigenrats für Verbraucherfragen sein wird.
({0})
Wichtig ist aber, dass sich dieser Rat aus unabhängigen
Experten und Wissenschaftlern interdisziplinär zusammensetzt und die juristische Perspektive um Erkenntnisse aus zum Beispiel Soziologie, Politologie und Verhaltensforschung ergänzt. Der Sachverständigenrat soll
zu wichtigen Verbraucherfragen und Teilmärkten Gutachten abgeben und Vorschläge zur Forschungsförderung erarbeiten.
Durch das Nutzen der Ergebnisse der Verbraucherforschung zur Entwicklung von effektiveren und effizienteren Politikinstrumenten wird die Verbraucherpolitik besser werden. Das wird direkt bei den Menschen
ankommen und ihren Alltag erleichtern. Darauf freue ich
mich und werde gerne daran mitwirken.
Vielen Dank.
({1})
Genauso großes Lob für die Disziplin. - Jetzt erteile
ich das Wort der Kollegin Caren Lay für die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Der Justizminister ist neuerdings auch der Verbraucherminister. Ich kann Ihnen sagen: Nach den vier
Jahren der letzten Legislaturperiode, wo die Verbraucherpolitik so eine Art unwichtiger Anhang der Landwirtschaftsministerin war, klingt das zunächst vielversprechend. Wenn wir uns die Details allerdings ansehen,
dann stellen wir fest, dass das ganz schön ernüchternd
ist. Es beginnt damit, dass Sie das Themengebiet Verbraucherpolitik im Grunde einmal in der Mitte durchschneiden und es damit faktisch spalten. Wir haben hier
den gesundheitlichen Verbraucherschutz. Wir haben an
einer anderen Stelle den wirtschaftlichen Verbraucherschutz. Ich kann nur sagen: Damit ist das Thema Verbraucherpolitik verhackstückt statt gestärkt.
({0})
Die entscheidende Frage lautet natürlich: Welche
Konsequenzen hat das in der Realität? Das heißt beispielsweise, dass der nächste Lebensmittelskandal dann
vom Landwirtschaftsminister und nicht vom Verbraucherminister aufgeklärt wird. Wie absurd ist das denn?
Genau hier wäre doch die Chance gewesen, dafür zu sorgen, dass die Interessenvertretung der Landwirtschaft
und der Lebensmittelwirtschaft auf der einen Seite und
der Aufklärungswille im Interesse der Verbraucherinnen
und Verbraucher auf der anderen Seite strukturell getrennt werden. Das wäre eine historische Chance gewesen. Sie haben sie leider verpasst.
Es kommt noch dicker, wenn wir davon ausgehen,
dass die Zuständigkeit für das Verbraucherinformationsgesetz Pressemeldungen zufolge federführend beim
Landwirtschaftsministerium bleiben soll. Das ist eines
der ganz zentralen Instrumente der Verbraucherpolitik.
Es geht darum, dass die Bürgerinnen und Bürger ein
Auskunftsrecht gegenüber Behörden und - wenn es nach
uns geht - auch gegenüber Unternehmen haben.
Es kann doch wirklich nicht sein, dass dieses zentrale
Gesetzesinstrument federführend beim Landwirtschaftsministerium bleiben soll. Ich sage: Wer den Verbraucherschutz stärken will, der muss verantwortlich für dieses
Gesetz sein, und der muss dieses Gesetz reformieren.
Meine Damen und Herren, darauf wird es auch in dieser
Legislatur ankommen.
({1})
Bis jetzt, so scheint es mir, ist im Detail schlecht verhandelt worden. Ich hoffe sehr, dass Sie hier nachverhandeln können. Denn wenn das nicht gelingt, dann bleiben Sie in Bezug auf die Verbraucherpolitik leider ein
Schmalspurministerium. Und das können wir gemeinsam nicht wollen.
({2})
Ich habe mich gefreut, dass Sie die Mietpreisbremse
angesprochen haben. Auch wir als Fraktion die Linke
wollen die Mietpreisbremse. Aber dann muss es auch
eine sein, die ihren Namen verdient. Bitte, verhindern
wir gemeinsam, dass es sich hierbei nicht um Etikettenschwindel handelt!
({3})
Es gibt ein ganz wichtiges Thema im Interesse der
Verbraucherinnen und Verbraucher, das heute noch nicht
angesprochen wurde, das ist die Deckelung der Dispozinsen. Wir, SPD, Grüne und Linke, haben in der letzten
Legislatur gemeinsam dafür gekämpft. Es ist ja auch
nicht sehr einleuchtend: Die verschuldeten Banken bekommen ihr Geld für 0,5 Prozent Zinsen; die verschuldeten Verbraucher bezahlen 12,5 Prozent, wenn sie im
Dispo stecken. Das ist logischerweise ungerecht.
Dieses Thema hat leider keinen Eingang in den Koalitionsvertrag gefunden. Das halte ich für falsch. Ich kann
Sie nur auffordern: Bereiten Sie diesem wirklich unangemessenen Treiben der Banken ein Ende, und setzen
Sie dem Dispo an dieser Stelle einen Deckel auf.
({4})
Ein weiterer Punkt: Wer einmal eine Verbraucherzentrale von innen gesehen hat, der weiß, dass vor allen
Dingen ältere Menschen in die Verbraucherzentralen
kommen, und ein ganz wichtiges Thema ist, dass ihnen
am Telefon unseriöse Verträge untergeschoben wurden.
Wir haben in der letzten Legislatur auch gemeinsam für
die Lösung durch eine schriftliche Bestätigung gestritten. Sie hatte auch Eingang in den Koalitionsvertrag gefunden, aber auf den letzten Metern wurde sie - aus welchen Gründen auch immer - herausgestrichen. Das finde
ich sehr schade. Bitte setzen Sie sich für eine Bestätigungslösung bei Telefonverträgen ein!
({5})
Zu guter Letzt, meine Damen und Herren: In der letzten Legislatur war es fast immer so - und dass das auch
heute so ist, ist vielleicht kein Zufall -, dass wir das
Thema Verbraucherschutz im Schutze der Dunkelheit
diskutiert haben. Das sagte einiges über den geringen
Stellenwert aus, den die Vorgängerregierung dem Thema
beigemessen hat. Ich hoffe sehr, dass wir dieses Thema
gemeinsam ins Licht führen können. Die Verbraucherinnen und Verbraucher würden es uns danken.
Vielen Dank.
({6})
Als nächster Rednerin erteile ich der Kollegin
Elisabeth Winkelmeier-Becker, CDU/CSU, das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am
Anfang meiner Rede möchte ich die besten Wünsche
der CDU/CSU-Fraktion an den Minister und die übrige
Hausspitze, an die Parlamentarischen Staatssekretäre,
die heute hier sind, richten. Ich denke, wir haben - so
habe ich es jedenfalls unseren ersten Gesprächen entnommen - einen konstruktiven Ansatz, eine positive Herangehensweise an die Rechtspolitik gefunden. Deshalb
freue ich mich auf die Zusammenarbeit. Ich denke, dass
wir da auch einiges schaffen werden. Denn wir haben
uns in der Tat sehr viel vorgenommen.
Wir stehen nicht nur am Beginn der Legislaturperiode, sondern auch eines besonderen Jahres, in dem wir
uns an viele besondere Ereignisse des letzten Jahrhunderts erinnern: 100 Jahre Erster Weltkrieg, 75 Jahre
Zweiter Weltkrieg, 25 Jahre friedliche Revolution. Vor
allem die beiden Ereignisse, die ich zuletzt genannt
habe, führen uns den Wert des Rechtsstaats noch einmal
besonders vor Augen. Sie zeigen, welches Unrecht und
Leid es bedeutet, wenn es keinen Rechtsstaat gibt. Sie
zeigen, was Menschen auf sich nehmen, welche Risiken
sie auf sich nehmen, um wieder einen Rechtsstaat zu erkämpfen.
({0})
Dies zeigt aber auch ein Blick in die Gegenwart, zum
Beispiel in die Ukraine. Der Oppositionsführer Klitschko
wurde vor einiger Zeit gefragt: Was ist denn schwieriger,
Politik in der Ukraine oder Boxen? - Er hat gesagt: Ganz
klar, Politik in der Ukraine; denn da gelten keine Regeln. - Die Menschen dort kämpfen gerade für solche
Regeln, für eine politische Machtverteilung und für ihre
persönliche Sicherheit, weil ihnen der Staat dies eben
nicht gewährt. Sie riskieren Leib, Leben und Gesundheit, damit ihnen diese Bürgerrechte gewährt werden.
Bei einer Reise nach Uganda habe ich vor einiger Zeit
kennengelernt, was es heißt, wenn es kein Katasteramt
gibt. Wenn es kein Grundbuchamt gibt, gibt es dort auch
keine Investitionen. Wo Kinder keinen Namen haben,
der bei einer Behörde gemeldet ist, sind die Kinder ihres
Lebensrechts nicht sicher. Das zeigt, dass das vermeintlich so trockene Recht doch ganz relevante Auswirkungen auf das tägliche Leben der Menschen hat; denn es
bietet den Rahmen, in dem sich Entwicklungen geschützt vollziehen können. Deshalb sollten wir froh und
stolz sein, dass wir uns mit dem Recht, dieser wichtigen
Grundlage und den Regeln unseres Zusammenlebens,
beschäftigen.
({1})
Deshalb ist uns dieser Rechtsstaat so wichtig. Wir
wissen, dass er nicht eine statische Veranstaltung ist, die
einmal geschaffen worden ist und dann immer so bleibt;
der Rechtsstaat muss vielmehr weiterentwickelt werden,
er muss an technische Entwicklungen und Verfahrensänderungen angepasst werden, und es muss Änderungen
im materiellen Recht geben. Diese Aufgabe müssen wir
so wahrnehmen, dass sich die Bürger mit ihren Anliegen
in ihrem Alltag, mit den Konflikten, die sie haben, sei es
im öffentlichen Recht, sei es im privaten Recht, auch
wiederfinden. Sie müssen erkennen, dass wir ihre Anliegen aufgreifen, Regeln schaffen und diesen zur Geltung
verhelfen, damit dieser Rechtsstaat ihnen, den Bürgern,
dient.
Eine der ersten Voraussetzungen dafür ist eine gute
und funktionsfähige Justiz. Das fängt bei dem Zivilprozess an, der erst garantiert, dass man seine privaten
Rechtsansprüche durchsetzen kann, das gilt aber auch
für die Abwehr von unberechtigten Eingriffen des Staates im öffentlichen Recht oder im Strafrecht. Dieser Justizapparat muss gepflegt und unterstützt werden. Das
fängt bei einer guten Ausbildung an und geht hin bis zu
einer guten Besoldung. Das sage ich ganz bewusst als
Richterin, die ich vor dem Einstieg in die Politik war; ich
sehe, dass nicht immer die Wertschätzung erfolgt, die
dem Beruf entgegengebracht werden müsste.
Wir haben auch einige Veränderungen vorgesehen,
um eine Effizienzsteigerung bei den Verfahren zu erreichen. Ich möchte hier nur wenige nennen. Die Digitalisierung muss auch in der Justiz noch deutlicher genutzt
werden. Sie bietet Chancen, wir müssen aber auch jetzt
den Blick dafür schärfen, welche Gefahren damit verbunden sind. Ich denke, es wird trotz der Gefahren ein
weites Anwendungsfeld geben. Die meisten Verfahren
sind öffentlich. Es wird nicht in dem Maße auf Schutz
ankommen wie in geheimen Verfahren. Die Leute müssen sich aber auch des Risikos bewusst sein, dass etwas
nicht vertraulich behandeln werden könnte. Wir müssen
uns die Frage stellen, ob man eine Pflicht dafür aufrechterhalten soll.
Eine wichtige Verbesserung ist die Stärkung des Adhäsionsverfahrens. Es geht dabei um die Durchsetzung
privater Rechtsansprüche im Strafprozess, für die man
die Voraussetzungen nicht einfach nachweisen kann. Da
soll demnächst helfen, dass im Strafverfahren Feststellungen getroffen werden, die man auch zur Durchsetzung des privaten Rechtsanspruchs braucht.
Ich denke aber auch, dass im Strafverfahren vieles
neu geregelt werden muss. Vieles ist einfach eklatant ungerecht. Oft schüttelt man den Kopf, wenn sich Befangenheitsanträge aneinanderreihen, die dazu führen, dass
Verurteilungen nicht mehr möglich sind, man ist erstaunt, zu sehen, dass Verfahren anscheinend missbräuchlich verzögert werden. Stattdessen muss wieder
mehr im Mittelpunkt stehen, zu klären, welche Schuld
anzuklagen und welche Strafe angemessen ist. Die Verfahrensmätzchen müssen wieder in den Hintergrund gedrängt werden.
({2})
Es muss uns besorgt machen, wenn, wie Studien zeigen, Anklagevertreter und angeklagte Manager und
Unternehmen, die hochspezialisierte und oft gut bezahlte
Anwälte haben, nicht mehr auf gleicher Augenhöhe
agieren, sondern die Anklagevertreter in der schwächeren Position sind. Wir haben auch im materiellen Recht
etliche Punkte auf der Agenda; zahlreiche wurden vom
Minister und von meinen Vorrednern schon angesprochen. Ich möchte ausdrücklich betonen: Das ist eine gemeinsame Agenda. Die Aspekte, die sie angesprochen
haben, sind im Koalitionsvertrag enthalten und liegen
auch uns am Herzen, angefangen von der Mietpreisbremse über Regelungen im Aktienrecht bis hin zu
Regelungen bei der Zwangsprostitution. Was die Mietpreisbremse angeht, sage ich ganz klar: Eine solche
Regelung ist vor allem dann in der Realität sinnvoll,
wenn man weiterhin Anreize zum Wohnungsbau schafft.
({3})
Es wurde schon darauf hingewiesen, dass der Verbraucherschutz jetzt einen ganz starken Platz im Rechtsausschuss wie auch im Justizministerium einnimmt. Ich
möchte allerdings, liebe Elvira Drobinski-Weiß, noch
einmal auf den mündigen Verbraucher eingehen. Der
mündige Verbraucher ist ganz klar der, der unserem
Menschenbild entspricht.
Frau Kollegin Winkelmeier-Becker, darf ich an Ihre
Redezeit erinnern?
Ja, das dürfen Sie. Ich komme zum Schluss.
Ich zitiere unsere Ausschussvorsitzende, die hier
heute nicht zu Wort kommt. Sie hat gesagt: Verbraucherschutz ist eigentlich zu eng gefasst. Wir brauchen Verbraucherpolitik, die nicht davon ausgeht, dass wir den
Verbraucher unter die Käseglocke setzen; vielmehr müssen wir den Verbraucher auch in seiner Eigenverantwortung ernst nehmen. - Ich denke, das ist der richtige Ansatz für die gemeinsame Verbraucherpolitik. In diesem
Sinne auf gute Zusammenarbeit!
Herzlichen Dank.
({0})
Nächster Redner ist der Kollege Burkhard Lischka,
SPD.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn wir
hier heute Abend über Rechtspolitik sprechen, möchte
ich eine Feststellung vorneweg machen: Um das Justizund Rechtssystem hier in Deutschland - Frau Kollegin
Winkelmeier-Becker, Sie haben eben beispielsweise auf
die Ukraine verwiesen - beneiden uns viele. Das können
wir jedes Jahr in den unterschiedlichen Rankings ablesen, in denen verschiedene Standortfaktoren der Industrienationen miteinander verglichen werden. Da sind wir
seit vielen Jahren eigentlich immer weltweit vorne mit
dabei, wenn es um eine gute, verlässliche Justiz, um einen sicheren und ausgewogenen Rechtsrahmen geht.
Wir merken das übrigens auch hier im Deutschen Bundestag, wenn uns ausländische Delegationen besuchen.
Der deutsche Rechtsstaat hat für viele wirklich Vorbildfunktion. Insofern wird es sicherlich auch in dieser
Legislaturperiode in der Rechtspolitik nicht darum gehen, das Rad komplett neu zu erfinden.
Dieser Erfolg hat eben auch etwas damit zu tun, dass
sich Rechtspolitik immer wieder darum bemüht hat, ausgewogene Antworten auf neue gesellschaftliche Entwicklungen und Herausforderungen zu geben und sich
so auf die Höhe der Zeit zu bringen. So werden wir das
auch in dieser Legislaturperiode tun.
({0})
Eine dieser Herausforderungen wird darin bestehen,
dass wir endlich damit anfangen, die männliche Monokultur, die es leider in vielen großen Konzernen hier in
Deutschland gibt, aufzubrechen und zu überwinden.
Dazu ist schon einiges gesagt worden. Deshalb nur ein
paar grundsätzliche Feststellungen:
Erstens. Unser Land hat jetzt wirklich eine verbindliche gesetzliche Frauenquote bitter nötig.
({1})
Es muss Schluss damit sein, dass es gerade in Deutschland viel zu viele große Unternehmen gibt, in denen
Schlipsträger andere Schlipsträger bevorzugen, wenn es
um die Besetzung von Führungspositionen geht. Das
wird ohne verbindliche Vorgaben - das zeigen leider die
letzten zwölf Jahre - nicht zu ändern sein.
({2})
Zweitens. Nicht die Frauen, sondern leider manche
Männer haben eine verbindliche Quote nötig, um endlich gut qualifizierten Frauen, beispielsweise in den Aufsichtsräten, Platz zu machen. Liebe Unternehmer, habt
keine Angst: Das wird unserer Wirtschaft guttun. Es gibt
in diesem Land genügend gut ausgebildete Frauen, die
sich ganz hervorragend für Führungspositionen eignen.
({3})
Ein Argument, das wir in den letzten Jahren immer
wieder von so manchem Schlipsträger zu hören bekamen, lautete in etwa so: Wenn eine Frau gut ist, dann
schafft sie es auch ohne Quote. - Wir drehen das in dieser Legislaturperiode einmal um und sagen: Habt keine
Angst, liebe Männer. Wenn ein Mann in einem Unternehmen richtig gut ist, dann schafft er es auch trotz
Quote.
({4})
Lassen Sie mich noch zu einem weiteren Thema kommen, das in der Debatte bisher - da bin ich ein bisschen
überrascht - gar keine Rolle gespielt hat, zu dem ich
aber sage: Da müssen wir uns wirklich dringend auf die
Höhe der Zeit begeben. Die Vereinten Nationen warten
jetzt seit über zehn Jahren darauf, dass wir in Deutschland endlich das UN-Abkommen gegen Korruption ratifizieren und damit die Bestechung und Bestechlichkeit
von Abgeordneten unter Strafe stellen.
({5})
Das haben inzwischen 169 Länder weltweit getan; wir
noch nicht. Ich finde, das ist eigentlich eine unfassbare
Strafbarkeitslücke, die wir jetzt dringend schließen müssen.
({6})
Jede Demokratie lebt vor allen Dingen von dem Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger darauf, dass wir Abgeordnete Vertreter des ganzen Volkes sind und nicht im
Einzelfall irgendwie Gefahr laufen, unsere Stimme an
den meistbietenden Lobbyisten zu verscherbeln. Eigentlich ist das eine Selbstverständlichkeit. Hier müssen wir
alle uns einmal an die eigene Nase fassen. Es ist wirklich
ein Skandal, dass gleichwohl Bestechung und Bestechlichkeit von Abgeordneten hier in Deutschland noch
weitestgehend straflos bleibt. Wenn es um Korruption
gerade im parlamentarischen und im politischen Bereich
geht, dann kann es ernsthaft nur eine Antwort geben:
Das muss strafbar sein. Nur wir können da handeln, und
das werden wir jetzt tun, gemeinsam. Alles andere ist
nur noch peinlich, meine Damen und Herren.
({7})
Drittes Thema, wo wir jetzt tatsächlich dringend Antworten auf aktuelle Entwicklungen geben wollen, ist die
Mietpreisbremse; das wurde schon mehrfach angesprochen. Wir wissen inzwischen: Wohnen ist in vielen
Ballungszentren wirklich zum Luxusgut geworden. Aber
wenn inzwischen ganz normale Menschen mit ganz normalen Berufen und einem ganz normalen Einkommen
Schwierigkeiten haben, das Wohnen in ihren Städten zu
bezahlen, dann stimmt etwas nicht in diesem Land.
München, Hamburg, Berlin und andere Städte dürfen
nicht in Zukunft Gettos für Wohlhabende werden, sondern sie müssen Heimat für Millionen Menschen aus unterschiedlichsten Einkommensschichten bleiben, meine
Damen und Herren.
({8})
Die Mittelschicht in die Außenbezirke und die Reichen
in die City - das kann nicht die Zukunft unserer Städte
sein. Auch da werden wir handeln - mit einer Mietpreis802
bremse. Vielen Dank, Herr Minister, dass Sie das heute
Abend wieder als ein prioritäres Vorhaben dieser Koalition angekündigt haben. Die SPD-Rechts- und -Verbraucherschutzpolitiker jedenfalls werden Sie bei diesem
Vorhaben und bei vielen anderen Vorhaben an Ihrer Seite
haben.
Herzlichen Dank.
({9})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Stephan
Harbarth, CDU/CSU, dem ich hiermit das Wort erteile.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es
ist heute Abend schon deutlich geworden: Der Koalitionsvertrag von CDU, CSU und SPD, der im Bereich
der Rechts- und Verbraucherschutzpolitik sehr ambitioniert ist, ist eine gute und tragfähige Grundlage für eine
erfolgreiche Arbeit der Großen Koalition in den kommenden Jahren. Wer sich den Koalitionsvertrag 2005 anschaut, der wird feststellen, dass die Große Koalition in
den Jahren 2005 bis 2009 den allergrößten Teil dessen,
was sie sich vorgenommen hatte, abgearbeitet, vollständig umgesetzt hat. Das ist ein gutes Vorzeichen für die
neue Legislaturperiode. Das sollte auch jetzt wieder
unser Anspruch sein.
({0})
Die Bundeskanzlerin hat in ihrer gestrigen Regierungserklärung deutlich gemacht, dass und wie der
Mensch im Mittelpunkt unserer Politik steht. Der
Rechts- und der Verbraucherschutzpolitik kommt dabei
eine besondere Bedeutung zu: der Rechtspolitik als
klassischer Querschnittsaufgabe, die viele Sphären
menschlichen Lebens erfasst - wir sehen das auch im
Koalitionsvertrag, wo sich die Rechtspolitik nicht auf
ein Kapitel beschränkt; sie durchzieht den gesamten
Koalitionsvertrag -, und der Verbraucherschutzpolitik,
weil sich gerade in der modernen arbeitsteiligen Welt der
Verbraucher in seinem täglichen Leben vielfach auf Auskünfte Dritter verlassen muss.
Die Arbeit, die wir zu verrichten haben werden, ist
auch deshalb so wichtig, weil die Rechtspolitik Gesellschaftspolitik ist und weil sie für die langfristige Ausrichtung einer Gesellschaft entscheidend ist.
Die Bundeskanzlerin hat gestern den großen Stellenwert der sozialen Marktwirtschaft betont; diese ist weit
mehr als ein Wirtschaftsmodell, nämlich ein Gesellschaftsmodell für unser Land. Im Bereich des Privatrechts und auch im Bereich des Wirtschaftsrechts wird
es in den kommenden Jahren darum gehen, dass wir gerade in der Rechtspolitik mit einer vernünftigen Ordnungspolitik an die Aufgaben herangehen. Meine Vorredner hatten schon herausgearbeitet: Für uns bedeutet
Ordnungspolitik, dass man nicht nur an Symptomen herumdoktert, etwa in Form einer Mietpreisbremse, sondern
dass man sich auch überlegt, wie der äußere Rahmen so
geschaffen werden kann, dass der Markt in der Lage ist,
eine vorhandene Nachfrage zu befriedigen.
({1})
Wir werden Sie daran messen. Wenn es gerade in der
Anfangsphase in einem sozialdemokratisch geführten
Haus mit der ordnungspolitischen Perspektive ab und zu
etwas hapern sollte, dann dürfen Sie versichert sein, dass
Sie immer einen großen, starken und tüchtigen Koalitionspartner an Ihrer Seite haben, auf den Sie jederzeit
gerne zukommen können.
({2})
Lassen Sie mich den Bereich von Unternehmensgründungen kurz anreißen. Trotz aller wirtschaftlichen Erfolge unseres Landes liegen wir im Bereich von Unternehmensgründungen noch weit zurück. Es wird darum
gehen, dass wir in den kommenden Jahren auch in der
Rechtspolitik darüber nachdenken, wie wir Unternehmensgründungen erleichtern können, um damit den
Wohlstand künftiger Generationen zu sichern. Es wird
auch darum gehen, etwa die Europäische Privatgesellschaft, die völlig unabhängig von politischer Couleur in
den vergangenen Jahren auch auf deutscher Seite viel zu
lange liegen geblieben ist, mit neuem Schub zu versehen
und auf den Weg zu bringen. Ich nenne weiterhin das
Konzerninsolvenzrecht, bei dem wir bereits in Kürze
schauen werden, wie wir es reformieren können, um zu
verhindern, dass Werte zerschlagen werden und Arbeitsplätze verloren gehen.
Ferner nenne ich das Urheberrecht, das ohne jeden
Zweifel gerade im Lichte der Herausforderungen des digitalen Zeitalters der Modernisierung bedarf. Klar ist dabei für uns, dass Urheber, die mit ihren geistigen Leistungen wichtige Beiträge zu unserem Wohlstand leisten,
angemessen geschützt werden müssen. Klar ist für uns
aber auch, dass in einer Rechtsordnung, die am Ziel der
Widerspruchsfreiheit festhält, die zentralen Maßstäbe in
der analogen Welt einerseits und in der digitalen Welt
andererseits nicht fundamental auseinanderklaffen können.
({3})
Wir wollen - Kollege Lischka hat zu Recht darauf
hingewiesen -, dass der deutsche Rechtsstaat eine Vorbildfunktion hat, auch international. Wir wollen weiterhin schauen, dass sich das deutsche Recht international
entwickeln kann. Die Initiative „Law - Made in Germany“, die wir in den vergangenen Jahren erfolgreich
betrieben haben, wollen wir fortsetzen.
Innerhalb des Deutschen Bundestages ist der Rechtsausschuss in ganz besonderer Weise dem Einsatz für das
Recht verpflichtet. Wir werden deshalb auch in der
neuen Legislaturperiode den fachlichen Diskurs innerhalb des Ausschusses führen sowie mit Sachverständigen
und mit vielen anderen Gesprächspartnern versuchen,
sachkundig und lösungsorientiert unsere Rechtsordnung
fortzuentwickeln.
Wir werden uns mit vielen Detailfragen mit Hingabe
befassen. Das ist ein Gütesiegel unseres Ausschusses.
Aber es geht nach meiner Auffassung nicht nur darum,
dass wir uns mit Detailfragen befassen. Es geht auch darum, dass wir schauen, wo Recht in seiner fundamentalen Funktion, wo Recht in seiner existenziellen Dimension betroffen ist.
Dass Deutschland eine Hochburg des Menschenhandels und der Zwangsprostitution geworden ist - in Europa wird die Zahl der Opfer auf 900 000 geschätzt -, ist
ein Schandmal unserer Gesellschaft.
({4})
Wenn wir uns nur einen Moment in die Situation der Betroffenen hineinversetzen - mit Gewaltandrohung und
Gewalt festgehalten, des Kontakts zum angestammten
sozialen Umfeld, zur Familie und zu Freunden beraubt,
täglichem Missbrauch ausgeliefert -, dann wird uns klar,
in welcher existenziellen Weise hier Recht betroffen ist.
Da geht es um Fälle, bei denen Menschen auf dem Papier Rechte haben, sich aber in der Lebenswirklichkeit
rechtlos fühlen. Dies zeigt klar, wie aktuell in diesem
Bereich der Handlungsauftrag ist, den uns Art. 1 des
Grundgesetzes auferlegt: „Die Würde des Menschen …
zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“
Wir möchten diese Problemfelder, die viel zu lange
liegen geblieben sind, in der neuen Legislaturperiode mit
voller Entschlossenheit und in aller Konsequenz angehen.
({5})
Ihnen, Herr Bundesminister Maas, gratuliere ich zu
Ihrer neuen Aufgabe. Ich wünsche Ihnen eine glückliche
Hand. Die CDU/CSU-Fraktion freut sich auf eine gute
Zusammenarbeit mit Ihnen und mit Ihrem Haus.
Vielen Dank.
({6})
Die Kollegin Mechthild Heil ist die letzte Rednerin zu
diesem Geschäftsbereich.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Verbraucherpolitik wird in dieser Wahlperiode in einem anderen Ministerium gestaltet. Aber die
alte Frage bleibt: Was kann die Politik für Verbraucherinnen und Verbraucher leisten, was muss sie leisten, und
wo liegen die Grenzen unserer Politik? Das ist die
grundsätzliche Frage, die wir uns bei jedem Thema, bei
jedem neuen Fall, der in der Öffentlichkeit, in den Medien diskutiert wird, stellen müssen. Wir werden daran
gemessen werden, ob wir diese Frage mit einem klaren
Bekenntnis zur Selbstbestimmung der Verbraucher beantworten können oder ob wir uns von der medial gemachten Aufregungskultur in eine Regulierungswut
drängen lassen, was am Ende vor allem den Verbrauchern schaden würde. Die Vorhaben der Großen Koalition stehen deshalb unter dem Motto: So viel Regulierung wie nötig und so wenig Bevormundung wie
möglich!
Wir wollen den Verbrauchern keine Ernährungsvorschriften machen. Lebensmittel mit einer Ampel zu versehen, halten wir für falsch; denn auch Fette und Kohlenhydrate sind wichtige Bestandteile einer gesunden
Ernährung. Ein bewusster Umgang mit unseren Lebensmitteln und ausreichende Bewegung muss allerdings unser Ziel sein.
({0})
Das ist eben eine Frage der Bildung und nicht der Verbote. Deswegen wollen wir auch die vielen Initiativen
zur Ernährungsbildung, so zum Beispiel die Plattform
Ernährung und Bewegung, in dieser Wahlperiode evaluieren und die erfolgversprechenden Ansätze verstetigen.
Wir wollen die Verbraucherinnen und Verbraucher
davor bewahren, sich zu überschulden. Wir wollen aber
nicht die Höhe des Dispo-Zinssatzes deckeln, weil das
nicht das wirkliche Problem löst. Wir wollen stattdessen
für Finanzkompetenz und Gebührentransparenz sorgen,
etwa durch den Warnhinweis beim Eintritt in den DispoKredit. Junge Menschen müssen für einen überlegten
Umgang mit Geld sensibilisiert werden.
({1})
Die aktuelle Diskussion um das Windenergieunternehmen Prokon - Minister Maas hat es angesprochen stellt uns vor Fragen. Was wollen wir für einen Markt?
Vor welchen Gefahren wollen wir die Verbraucher schützen? Wie weit mischt sich der Staat in die Angelegenheiten der Verbraucher ein? Also: Was wollen wir Verbrauchern erlauben, und was wollen wir ihnen verbieten?
Wir wollen aus Verbrauchern keine unmündigen Konsumkinder machen, sondern wir wollen ihnen helfen,
selbstbestimmte Marktteilnehmer zu werden. Was heißt
das für uns, für unsere politische Praxis? Im Fall Prokon
haben 75 000 Anleger sogenannte Genussscheine erworben, eine riskante, aber immerhin lukrative Anlageform
nach dem Muster: Sie gehen ein hohes Risiko ein und
bekommen dafür vielleicht eine hohe Rendite oder gar
nichts. - Jetzt hat das Unternehmen Insolvenz angemeldet, und die Anleger fürchten nicht nur um ihre Rendite,
sondern um ihre gesamte Einlage. Die Frage, die wir beantworten müssen, lautet nun: Welche Informationen
standen den Anlegern zur Verfügung? War das Risiko
darin vollständig beschrieben? Denn jeder, der Genussscheine kauft, muss wissen, dass ein Totalverlust möglich ist. Ein Blick in die Vertragsunterlagen sollte genügen. Und ein Nachschlagen des Begriffs „Genussschein“
schafft Klarheit über die Kapitalabsicherung bei diesen
Produkten.
Aus diesem Fall die Forderung an die Politik abzuleiten: „Reguliert diesen Markt! Verbietet diese Genussscheine!“, ist für mich eine Dummheit.
({2})
Denn das Problem sind nicht die Genussscheine, sondern die Tatsache, dass die Anleger das Risiko nicht ein804
schätzen oder unterschätzen. Das wiederum ist eine Wissens- und Bildungsfrage. Deswegen muss die Antwort
der Politik lauten: Es geht hier nicht ums Verbieten, wir
schauen uns aber den Grauen Kapitalmarkt genau an. Die Vertragsbedingungen müssen verständlich sein. Die
Risiken müssen klar beschrieben werden. Die Kunden
müssen ein Grundwissen in Finanzfragen haben.
({3})
Die Verbraucherpolitik muss also die Rahmenbedingungen dafür schaffen, dass die Verbraucher überlegte,
selbstbestimmte Entscheidungen treffen können. Voraussetzung dafür ist selbstverständlich, dass unseriöse
Geschäftspraktiken der Anbieter durch staatliche Regelungen ausgeschlossen oder - das müssen wir ehrlicherweise sagen - fast ausgeschlossen sind.
({4})
Wenn dies gewährleistet ist und der Staat dafür sorgt,
dass die Verbraucher nicht übervorteilt werden, dann
sind nach meiner Auffassung die Grenzen einer verantwortungsvollen Regulierung in einem demokratischen
Staat auch erreicht.
Eine Regulierungswut, die vorgeblich im Sinne der
Verbraucher handelt, führt uns in eine Welt, in der irgendwann Wirtschaft zum Erliegen kommt und es keinen Wettbewerb mehr gibt - zum Schaden der Verbraucher. Das können wir nicht wollen. Die Wirtschaft
braucht die Kunden, und die Kunden, also die Verbraucher, brauchen auch die Hersteller. Deswegen gehen wir
einen anderen Weg: Wir gehen den Weg einer ausgewogenen Verbraucherpolitik, die Verbraucher und Anbieter
als zwei Seiten derselben Medaille begreift. Diese Aussage wird uns nicht in die Schlagzeilen bringen, aber das
ist auch nicht wichtig. Wir sollten uns auf das Wesentliche konzentrieren, und das gemeinsam.
Ich möchte das Beste für die Verbraucherinnen und
die Verbraucher in unserem Land erreichen. Dabei sind
Schutz und Selbstbestimmung meine Ziele. Gemeinsam
- da bin ich mir sicher - werden wir sie erreichen.
Vielen Dank.
({5})
Damit schließen wir die Aussprache zu diesem Geschäftsbereich.
Wir kommen nun abschließend zu dem Bereich Familie, Senioren, Frauen und Jugend.
Auch hierzu ist eine Redezeit von insgesamt einer
Stunde verabredet.
Das Wort hat zunächst die Bundesministerin Frau
Schwesig, wir warten aber noch einen kleinen Augenblick, bis sich der Schichtwechsel halbwegs übersichtlich vollzogen hat, wobei ich mit Erstaunen registriere,
dass so viele Juristen dieses spannende Thema nicht
mehr glauben bewältigen zu können. Aber wie auch immer!
({0})
Frau Ministerin, Sie haben das Wort.
({1})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren Abgeordnete! Tja, Familien- und Frauenpolitik ist eben nur etwas für Leute, die durchhalten.
({0})
Ich freue mich jedenfalls, auch wenn es vielleicht
keine ganz familienfreundliche Redezeit ist, dass ich
heute hier meine erste Rede als Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend halten kann. Ich
freue mich auch auf die Zusammenarbeit mit Ihnen: natürlich auf die Zusammenarbeit mit meiner SPD-Fraktion, weil wir seit vielen Jahren für viele Themen kämpfen, die wir jetzt voranbringen können, aber auch auf die
Zusammenarbeit mit der Fraktion des Koalitionspartners
von CDU/CSU, weil wir in den Koalitionsverhandlungen gemeinsam um viele gute Ansätze gerungen haben,
die die Lebensbedingungen von Familien, aber auch die
Gleichstellung von Frauen und Männern voranbringen.
Ich denke, wir haben eine gute Basis, um gemeinsam
viel voranzubringen.
({1})
Ich freue mich aber ausdrücklich auch auf die Zusammenarbeit mit der Opposition, mit den Abgeordneten der
Fraktion Die Linke und der Grünen. Es gehört zum Wesen der Demokratie, dass wir um die besten Lösungen
streiten werden. Sie können jedenfalls sicher sein, dass
ich auf Ihre Argumente gespannt bin, gut zuhören will
und dem Streit nicht aus dem Weg gehe, sondern Ihre
konstruktiven Anregungen gerne aufnehme. Wir haben
in der letzten Legislaturperiode bewiesen, dass wir auch
über Parteigrenzen hinweg Dinge voranbringen können,
wie beim Bundeskinderschutzgesetz oder beim Runden
Tisch „Sexueller Kindesmissbrauch“. Ich bin sicher,
dass uns das auch in dieser Legislaturperiode gemeinsam
gelingen kann.
({2})
Ich will meine Gestaltungsmöglichkeiten im Rahmen
des Koalitionsvertrages nutzen, um eine moderne Gesellschaftspolitik für das 21. Jahrhundert zu machen,
eine moderne Gesellschaftspolitik, die die Vielfalt der
Lebensentwürfe von Menschen in unserem Land, die
Vielfalt der Herkunft und der Kulturen als Chance begreift und nicht als Bedrohung, und die vor allen Dingen
dafür sorgt, dass die Generationen zusammenhalten,
Jung und Alt, Groß und Klein. Hierbei sehe ich sechs
Schwerpunkte.
Es geht um eine moderne Familienpolitik, die den Lebensentwürfen der Menschen gerecht wird, die vor allem
annimmt, dass Familien heute bunt sind, und die dabei
hilft, dass wir Familien bestmöglich unterstützen.
Es geht um eine starke Gleichstellungspolitik, die das,
was unser Grundgesetz längst verankert hat, nämlich die
gleichberechtigte Teilhabe von Frauen und Männern,
Lebenswirklichkeit lassen wird.
Es geht mir um eine gute Kinderpolitik, die vor allen
Dingen darauf ausgerichtet ist, dass die Kinder in unserem Land die bestmöglichen Chancen haben, dass Kinder geschützt, individuell gefördert und beteiligt werden.
({3})
Es geht auch um eine eigenständige Jugendpolitik, die
nicht immer auf die Defizite von Jugendlichen schaut
und Jugendliche nur vor dem Hintergrund von Jugendarbeitslosigkeit und Komasaufen sieht,
({4})
sondern die berücksichtigt, dass Jugendliche Ansprüche
auf Freiräume haben, und deren Interessen sowie den berechtigten Anspruch auf Partizipation in den Mittelpunkt
rückt.
({5})
Dann geht es darum, dass wir in der Seniorenpolitik
Senioren nicht nur über die Bereiche Rente und Pflege
definieren, sondern dass wir begreifen, dass wir die Lebenskenntnisse, die die älteren Menschen in unserem
Land haben, zum Beispiel im Bereich des bürgerschaftlichen Engagements, brauchen.
Es geht auch darum, Demokratie und Toleranz zu
stärken, weil das die Basis für unser gemeinschaftliches
Zusammenleben ist. Ich möchte die Frauen und Männer,
vor allem die vielen Jugendlichen, die sich in unseren
Vereinen und Verbänden gegen Extremismus, egal von
welcher Seite, engagieren, unterstützen.
Eines ist ganz klar: Kein Steuergeld darf an Extremisten gehen, egal in welchen Bereichen: ob Kultur, Sport
oder Demokratieförderung. Aber klar ist auch: Wir dürfen gerade die Menschen, die sich stark machen, die sich
in unserem Land engagieren und die wir in unseren
Sonntagsreden immer wieder loben, nicht unter Generalverdacht stellen.
({6})
Sie wissen, dass meine Redezeit niemals reicht, um
alle Vorhaben, die wir vereinbart haben, anzusprechen.
Ich möchte deshalb kurz Schlaglichter auf die Bereiche
werfen, die uns gerade 2014 gemeinsam bewegen werden.
Im Bereich der Familienpolitik geht es vor allem darum, dass wir die Familien so annehmen, wie sie sind,
dass wir die Menschen unterstützen, die partnerschaftlich Verantwortung füreinander übernehmen. Das sind
die vielen Paare, ob mit Trauschein oder ohne, mit Kindern, aber vor allem auch mit pflegebedürftigen Angehörigen. Es sind die vielen Alleinerziehenden, die unsere
Unterstützung brauchen, aber es sind auch die Regenbogenfamilien und Patchworkfamilien. Wo Menschen bereit sind, in unserer Gesellschaft füreinander einzustehen, haben sie unsere Unterstützung verdient.
({7})
Das wollen wir tun mit einem Dreiklang aus Geld für
Familien, Angeboten für Familien und Zeit für Familien.
Neben materieller Unterstützung brauchen gerade junge
Familien gute Betreuungs- und Bildungsangebote für
ihre Kinder: von der Ganztagsschule über die Ganztagskita bis hin zur Hochschule.
Aber ich sage auch ganz klar: Familien wünschen
sich heute, Beruf und Familie miteinander vereinbaren
zu können, und das eben nicht nur über gute Infrastruktur, sondern auch über eine familienfreundliche Arbeitswelt. Nicht die Familien müssen immer flexibler und
arbeitsfreundlicher werden, die Arbeitswelt muss familienfreundlicher werden. Das ist der Schlüssel.
({8})
Es ist gut und richtig, dass wir 2014 Projekte auf den
Weg bringen, die dafür sorgen werden, dass die Balance
zwischen beruflichen Herausforderungen und dem
Wunsch nach Zeit für Familie besser gelingen kann, und
zwar durch eine flexiblere Elternzeit, mit dem ElterngeldPlus, was helfen wird, die Kombination aus Teilzeit
und Zeit für Familie zu verbessern, und auch mit dem
Rückkehrrecht von Teilzeit auf Vollzeit.
Wir wollen aber auch die Vereinbarkeit von Pflege
und Beruf verbessern. Hier setze ich sehr auf bessere Bedingungen im Zuge einer guten Pflegereform durch meinen Kollegen Herrn Gröhe. Aber wir wollen zum Beispiel auch die zehntägige Auszeit unter Lohnfortzahlung
setzen. Damit setzen wir ein Zeichen: Wer sich Zeit für
die Pflege und Unterstützung seiner Angehörigen
nimmt, der bekommt auch von uns Unterstützung.
({9})
Nicht zuletzt mit dem Pflegeberufegesetz, das ich gemeinsam mit Herrn Gröhe in diesem Jahr auf den Weg
bringen will, sorgen wir dafür, dass zukünftig gut ausgebildete Fachkräfte den Familien durch professionelle
Unterstützung bei der Pflege helfen können.
Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete, starke
Gleichstellungspolitik wird auch in diesem Jahr auf der
Tagesordnung stehen. In der vorangegangenen Debatte
habe ich gehört, dass die Rechtspolitiker dabei an unserer Seite sind; das freut mich. Ich will hier mit meinem
Kollegen Heiko Maas gemeinsam an einem Strang ziehen; denn in Bezug auf eine gleichberechtigte Teilhabe
von Frauen und Männern besteht zwischen der Wirklichkeit und dem, was wir eigentlich wollen, ein großer Unterschied: Frauen verdienen strukturell bedingt weniger
als Männer; nach wie vor sind nur wenige Frauen in
Führungspositionen vertreten; Frauen arbeiten oft im
Niedriglohnbereich. Diese drei Missstände für Frauen
gehören abgeschafft. Das wollen wir ändern.
({10})
Wir wollen das ändern durch ein Entgeltgleichheitsgesetz, für das wir in diesem Jahr die Eckpunkte festlegen und dann auf den Weg bringen wollen, und vor allem durch das Gesetz zur Förderung von Frauen in
Führungspositionen. Nicht die Frauenquote ist ein Problem für Deutschland, sondern die 90-prozentige Männerquote, die wir in Wissenschaft, Wirtschaft und Politik
haben. Sie gehört abgeschafft, indem wir mehr Frauen in
Führungspositionen bringen.
({11})
Das werden wir in dreierlei Weise tun: mit einer verbindlichen Quote für die Aufsichtsräte bestimmter Unternehmen, mit verbindlichen Zielvorgaben für Vorstände und Aufsichtsräte in weiteren Unternehmen und
durch Vorgaben im öffentlichen Bereich; denn wir können der Wirtschaft nicht Dinge vorschreiben, die wir
selbst nicht einhalten.
({12})
Es geht aber auch darum, Frauen vor Gewalt zu schützen. Auch das war in der vorherigen Debatte ein wichtiges Thema. Die Koalition ist sich einig, dass wir hinsichtlich Menschenhandel und Zwangsprostitution
strengere Regeln im Strafrecht brauchen. Wir müssen
aber auch die legale Prostitution besser regeln. Wir brauchen hier klare Regeln und Kontrollen, damit die Ausbeutung von Frauen in der legalen Prostitution verhindert wird.
({13})
Meine sehr geehrten Damen und Herren Abgeordnete, ich wünsche mir, dass wir diese Projekte in diesem
Jahr gut gemeinsam auf den Weg bringen, um die Lebensbedingungen in unserem Land für viele Kinder und
Jugendliche, aber auch Senioren, Frauen und Männer zu
verbessern. Ich denke, da ist eine ganze Menge Musik
drin. Ich freue mich auf die Arbeit als Bundesministerin,
und ich freue mich über gute Debatten hier im Parlament.
Vielen Dank.
({14})
Und ich freue mich über die vorbildliche Einhaltung
der Redezeit, was schon gar mit Blick auf Mitglieder der
Bundesregierung ein seltenes, aber erfreuliches Erlebnis
ist.
({0})
Nun hat der Kollege Jörn Wunderlich für die Fraktion
Die Linke das Wort.
({1})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Frau Ministerin, ich habe mir den Koalitionsvertrag vorgenommen. Nach der Klausur am 23. Januar 2014
sprach die Kanzlerin bezüglich der Familienpolitik von
einem bunten Strauß von Maßnahmen. Wo allerdings die
Blumen in diesem Strauß sein sollen, weiß die Kanzlerin
offensichtlich nicht. Das wurde auch in ihrer Regierungserklärung gestern deutlich. Frau Ministerin, auch
Sie sind meiner Überzeugung nach nicht so recht fündig
geworden, zumindest sind Sie nicht konkret geworden.
({0})
Gut, das Blümchen „ElterngeldPlus“ soll es geben.
Ich glaube, das fällt bei den Blumen, um in diesem
Genre zu bleiben, in die Rubrik Stinknelke.
({1})
Es benachteiligt Alleinerziehende. Inwieweit es überhaupt von Eltern wahrgenommen wird, kann keiner sagen. Eine aktuelle forsa-Studie belegt jedenfalls, dass
Männer zwar mehr Zeit für die Familie haben wollen,
ihre Arbeitszeit aber nicht verkürzen wollen.
Dann gibt es noch das Blümlein „32-Stunden-Woche“: kaum aufgegangen, schon plattgemacht. Schade
eigentlich.
({2})
Prinzipiell ist das ja keine schlechte Idee. Nur, sie ist
nicht zu Ende gedacht. So, wie das vorgetragen und vorgelegt wurde, käme sie auch nur Eltern zugute, die beide
in Vollzeit arbeiten. Das wären nach dem Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung in Berlin knapp 14 Prozent, und sie wäre angesichts der bestehenden Kinderbetreuungsmöglichkeiten wohl der absolute Ausnahmefall.
Aber die Idee ist ausbaufähig. So sieht es unter anderem
auch der Verband berufstätiger Mütter.
Von den fehlenden Blumen wurde gestern und heute
gar nicht gesprochen.
Die Kosten und die weiteren Maßnahmen der Bundesregierung für den Kitaausbau - er wurde gestern von
der Kanzlerin erwähnt - sind ein ganz wichtiges Thema.
Die fehlenden Plätze, der Personalmangel und der qualitative Ausbau wurden nicht angesprochen. Schon vor
Jahren hat die Linke auf den sich abzeichnenden Personalmangel hingewiesen. Die Regierung hat nichts getan.
Vor drei Tagen konnte man in der taz lesen, dass eine
junge Mutter aus Berlin-Lichtenberg zehn Monate auf
einen Kinderbetreuungsplatz warten musste. Als sie
schließlich einen erhielt, war sie froh und fragte nicht
nach der Qualifikation der Erzieher. Anschließend stellte
sich heraus, dass einige der Betreuer Praktikanten waren.
Gründe für den Personalmangel in Kitas gibt es viele:
schlechte Bezahlung, hohe Arbeitsbelastung, mangelnde
Anerkennung.
In Berlin dürfen Kitas seit dem letzten Jahr zu 25 Prozent Erzieher ohne entsprechende Ausbildung beschäftigen. In Baden-Württemberg dürfen Physiotherapeuten
und Dorfhelfer - ich konnte bis heute Abend nicht mehr
klären, was ein Dorfhelfer eigentlich ist ({3})
nach 25-tägiger Schulung als Erzieher arbeiten. Das ist
ein Zustand, der sich schon vor Jahren klar abgezeichnet
hat. Die Regierung hat nichts getan. Gut, 2012 hat Ihre
Amtsvorgängerin, Frau Schröder, ein bundesweites Qualitätsgesetz angekündigt. Das Thema wurde aus dem Koalitionsvertrag gestrichen. Ich denke, das ist vielleicht
auch ganz gut; denn möglicherweise wären dann Minimalstandards eingeführt worden, was zu einem noch
stärkeren Qualitätsverlust geführt hätte.
Zur Kinderarmut wird nichts gesagt, obwohl nahezu
jedes fünfte Kind betroffen ist. Das muss sich ändern.
({4})
Dazu sage ich auch: Die angekündigte Erhöhung des
Kinderzuschlags um 20 Euro - dafür gibt es keine Erhöhung des Kindergeldes, keine Erhöhung der Freibeträge wird die Situation nicht verbessern.
Frau Ministerin, Sie haben die Jugendpolitik angesprochen. Was ist denn mit den Problemen rund um das
auslaufende Programm zur Jugendschulsozialarbeit?
Wie und wann soll es mit den Jugendberufsagenturen
losgehen, die laut Koalition bundesweit eingerichtet
werden sollen?
Zur Mütterrente: Warum sind Kinder aus den neuen
Bundesländern - das ist schon angesprochen worden knapp 10 Prozent weniger wert als Kinder aus den alten
Bundesländern? Wie viel kommt bei den Eltern tatsächlich an und bei wem? Bei der Mutter, beim Vater oder
bei beiden? Wie ist es bei inzwischen geschiedenen Eltern, die noch nicht in Rente sind? Soll das alles im Rahmen eines möglicherweise erneut durchzuführenden
Versorgungsausgleichs erfolgen? Da werden sich die Familiengerichte freuen. Wurde dieses Vorhaben zu Ende
gedacht? Ich glaube kaum.
Das Ehegattensplitting muss reformiert werden. Aus
einer Studie, welche die Regierung 2009 in Auftrag gegeben hat, ergibt sich klar, dass die steuerlichen Vorteile
die finanzielle Situation von Familien langfristig nicht
verbessern. So konnte man es in der Welt am 23. Januar
dieses Jahres lesen. Kinderbetreuung und Elterngeld erhalten gute Noten, aber zu deren Ausbau oder Erweiterung wird von der Regierung nicht viel gesagt.
Die Frauenquote mutiert unter dieser Regierung letztlich zu einer Miniquote. Aus der Flexi-Quote und einer
40-Prozent-Quote ist eine Miniquote von 30 Prozent geworden, die laut Koalitionsvertrag nur für den kleinen
Sektor der 200 mitbestimmungspflichtigen und börsennotierten Unternehmen gelten soll, nicht für die übrigen
2 000 Unternehmen und auch nicht für die Vorstände.
Heute haben Sie gesagt, dass diese Quote auch für die
Vorstände gelten soll. Daran werde ich Sie erinnern; wir
können es dem Protokoll entnehmen. Das war nämlich
ein ganz neuer Aspekt, den ich vorher noch nie so gehört
habe.
Gewalt gegen Frauen. Dieses Problem ist offensichtlich kein Thema. Das einzig Konkrete, das im Vertrag
genannt wird, ist das Frauenhilfetelefon. Alles andere ist
keiner Erwähnung wert. Im Entwurf des Koalitionsvertrages war noch die dringende Einigung mit den Ländern
zur Finanzierung der Frauenhäuser aufgeführt. Im geltenden Vertrag sucht man danach vergeblich. Das Wort
„Frauenhäuser“ taucht nur noch in einer Überschrift auf;
Konkretes gibt es dazu aber nicht.
Entgeltgleichheit. Hier wird zwar guter Wille gezeigt,
aber ohne gesetzliche Regelungen wird sich da nichts
tun. Es ist schon so lange auf die Freiwilligkeit gesetzt
worden. Ich bin seit 2005 im Bundestag. Jedes Jahr treffen sich zum Equal Pay Day Vertreter aller Fraktionen,
insbesondere die Frauen, hier am Brandenburger Tor, gehen auf die Bühne, und insbesondere die frauenpolitischen Sprecher der regierungstragenden Koalitionsfraktionen ergreifen das Mikrofon und rufen: Was ist das für
eine Ungerechtigkeit! Endlich muss das abgeschafft
werden! Wir brauchen gleiches Recht für alle! Frauen
müssen gleichgestellt werden! - Jedes Jahr, immer wieder, aber nichts tut sich. Alle wollen es, egal ob CDU/
CSU, SPD, FDP - jedenfalls das letzte Mal noch - und
Grüne,
({5})
alle, die regiert haben, wollen es, aber es tut sich nichts.
Antidiskriminierung. Die Linke fordert ein klares Bekenntnis der Bundesregierung zur Förderung und zum
Ausbau der Antidiskriminierungsstelle des Bundes. Frau
Lüders, die Leiterin, ist eine ganz toughe Frau. Sie
macht ihre Arbeit mit so viel Leidenschaft und Engagement und hat Akzente gesetzt. Sie braucht letztlich einen
erhöhten Etat. Diese Arbeit soll sie fortsetzen. Deswegen
sollte man sie auch auf dieser Stelle weiterbeschäftigen.
Wir fordern von der Bundesregierung - Sie haben es
heute schon einmal angedeutet - ein klares Bekenntnis
zu allen Formen von Familie. Egal ob hetero, lesbisch,
schwul oder alleinerziehend: Alle leisten ihren Beitrag
zu unserer Gesellschaft. Jegliche Ressentiments, auch
gegenüber Regenbogenfamilien, gehören abgeschafft.
Unterstützung und ein klares Bekenntnis: Das fordert
die Linke. So stand es auch im Wahlprogramm der SPD,
und so fordern wir es von der Ministerin. An Ihre heutigen Worte werden wir Sie noch erinnern.
Zu den Alleinerziehenden. Sie werden im Koalitionsvertrag quasi nicht erwähnt. Allein durch die Erhöhung
von Entlastungsbeträgen sollen sie Unterstützung erfahren.
Unterhaltsvorschuss: Im ersten Entwurf war noch etwas dazu zu finden. Kein Wort mehr darüber im Vertrag,
also sogar ein Rückschritt hinter den Koalitionsvertrag
zwischen CDU, CSU und FDP.
Zu den Senioren findet sich als eine der Hauptaussagen in den 22 Zeilen im entsprechenden Kapitel des
Koalitionsvertrages, dass die Altersgrenzen überprüft
und gegebenenfalls verändert werden sollen. Das klingt
für mich wie eine Drohung. Rente erst ab 70?
Dann die Extremismusklausel. Frau Ministerin, Sie
haben es angesprochen. Erst wollten Sie sie abschaffen,
dann soll das Ganze beibehalten werden, aber mit einem
entspannten Verfahren, wie man der Presse entnehmen
konnte. Auf dieses entspannte Verfahren bin ich furchtbar gespannt.
({6})
Sie tun so, als wären das Erfolge. Ich möchte nicht
wissen, wie Sie Niederlagen wegstecken. Einen Strauß
aus Disteln und Brennnesseln bezeichne ich jedenfalls
nicht als bunten Strauß.
Frau Ministerin, wir werden Sie beobachten - nicht
überwachen; das soll die NSA machen -, wir werden Ihnen richtungsweisende, zukunftsorientierte Wege bzw.
Alternativen aufzeigen zum Wohle aller Kinder, Jugendlichen, Senioren und Familien, wie auch immer sie konzipiert sind, egal ob in Ost oder West.
Gleiche, gute Lebensverhältnisse für alle Familien:
Das ist die Politik der Linken. Nach Ihren heutigen Worten freue ich mich auf die avisierte gute Zusammenarbeit
mit der von Ihnen so genannten Opposition.
({7})
Nadine Schön ist die nächste Rednerin für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Familienpolitik ist ein sehr sensibles und auch
sehr wichtiges Feld. Deshalb ist es schade, dass wir darüber zu so später Uhrzeit debattieren; aber ich denke,
wir können uns alle gemeinsam vornehmen, in der
nächsten Sitzungswoche in der Kernzeit über dieses
wichtige Thema zu debattieren.
Bei Familienpolitik geht es ja um ganz entscheidende
Dinge. Zum einen geht es um unsere Gesellschaft als
Ganzes. Wir wollen eine Gesellschaft, in der Werte gelebt werden, eine Gesellschaft, die bei aller Vielfalt auch
bindende Elemente aufweist, die gemeinsame Vorstellungen davon hat, was ein gutes Leben ist, eine Gesellschaft, die uns zusammenhält. Familienpolitik muss und
will dazu beitragen, den Zusammenhalt in unserem Land
zu stärken.
Zum anderen geht es um den einzelnen Menschen,
den Menschen in seiner Vielfalt und Unterschiedlichkeit,
mit ganz unterschiedlichen Bedürfnissen und Erwartungen an das eigene Leben, den Menschen in allen Phasen
seines Lebens, von der Geburt, also vom ersten Schrei,
bis zum letzten Atemzug. Es geht um den Menschen in
seiner Beziehung zu anderen Menschen und den Menschen in Verantwortung für andere, also um ein großes
und sehr sensibles Feld.
Diese beiden Punkte - Zusammenhalt der Gesellschaft und die Bedürfnisse des einzelnen Menschen stehen wie kommunizierende Röhren miteinander in
Verbindung. Wenn wir den Einzelnen stärken, für sich
und für andere Verantwortung zu übernehmen, eigene
Chancen zu nutzen und auch anderen Chancen zu geben,
dann entsteht eine lebenswerte Gesellschaft. Wir haben
die große Aufgabe, mit unseren Rahmenbedingungen
dafür zu sorgen, dass diese lebenswerte Gesellschaft entstehen kann. Dazu müssen wir Möglichkeiten schaffen.
({0})
Eine dieser Möglichkeiten ist der Bundesfreiwilligendienst. Hinter dem Bundesfreiwilligendienst steht der
Gedanke, dass Menschen jeder Generation für eine
Weile Verantwortung übernehmen - den ganzen Tag, nur
gegen ein kleines Taschengeld. Die Betätigungsmöglichkeiten sind sehr vielfältig, etwa im kulturellen, sportlichen oder sozialen Bereich. Spricht man mit Menschen,
die einen Bundesfreiwilligendienst geleistet haben - sich
zum Beispiel für ein Jahr in einem Seniorenheim engagiert haben oder in Kolumbien mit Straßenkindern gearbeitet haben -, dann erfährt man nicht nur, was das für
die Menschen bedeutet hat, mit denen sie gearbeitet
haben, sondern man erfährt auch, was das mit den
Menschen gemacht hat, die als Freiwillige tätig waren,
nämlich dass sie eine bereichernde Erfahrung gemacht
haben, dass sie ihre Persönlichkeit gestärkt haben.
Jede einzelne Stunde Bundesfreiwilligendienst leistet
ihren Beitrag dazu, dass unsere Gesellschaft zusammenwächst - im sozialen, im ökologischen, im kulturellen
Bereich. Deshalb ist der Bundesfreiwilligendienst, den
wir in der letzten Legislaturperiode eingeführt haben, ein
Paradebeispiel für eine gute, christdemokratische Gesellschaftspolitik, bei der individuelle Chancen genutzt
werden und gleichzeitig der Zusammenhalt der Gesellschaft gestärkt wird.
Ich bin sehr froh, dass wir den Bundesfreiwilligendienst weiter ausbauen wollen und dass auch die neue
Regierung sich auf den Weg macht, ihn zu stärken. Es
gibt mehr Bewerber als Plätze; das ist ein Garant für den
Erfolg dieses Modells.
({1})
Die beiden genannten Grundsätze - Zusammenhalt
der Gesellschaft und Unterstützung des Einzelnen in
ganz unterschiedlichen Lebenssituationen - durchziehen
unsere komplette Familienpolitik, auch das, was man im
klassischen Sinne als Familienpolitik bezeichnet, nämlich Politik, bei der es um die Frage geht: Was brauchen
die Familien in unserem Land?
Herr Wunderlich, selbstverständlich können wir einen
Strauß von familienpolitischen Maßnahmen vorsehen.
Nadine Schön ({2})
Natürlich könnte man, um die Familien glücklich zu machen, auch nur mit Geld arbeiten. Aber ganz ehrlich: Ich
glaube nicht, dass das der Kern dessen ist, was die Familien brauchen.
({3})
Die Familien sind ganz vielfältig; deshalb brauchen wir
einen Werkzeugkasten, aus dem sich Familien, wenn sie
Hilfe, wenn sie Unterstützung brauchen, das passende
Werkzeug für ihre Lebenssituation heraussuchen können.
({4})
Im Wesentlichen sind das drei Dinge - die Ministerin hat
es erwähnt, und auch in der letzten Legislaturperiode hat
dieser Dreiklang unsere Familienpolitik ausgemacht -:
Zeit, Geld und Infrastruktur.
({5})
Beim Thema Geld wird die Vielzahl der ehe- und familienpolitischen Leistungen immer kritisch beäugt. Tatsächlich müssen wir schauen, wie man diese Leistungen
besser aufeinander abstimmen kann. Aber wenn wir
Menschen nicht vorschreiben wollen, wie sie zu leben
haben, wenn wir nicht ein Familienmodell zum Allheilmittel erklären wollen - sei es die Alleinverdienerfamilie, sei es die Doppelverdienerfamilie, sei es ein anderes
Modell -, wenn wir den Familien selbst überlassen wollen, wie sie leben möchten, dann müssen wir ein vielfältiges Angebot an familienunterstützenden Leistungen
anbieten. Ich denke, es ist nichts Schlechtes daran, wenn
sich jeder seiner individuellen Situation entsprechend
die staatliche Leistung aussuchen kann, die passend ist.
Das ist eben die Konsequenz daraus, dass wir in unserem
Land eine Vielzahl von unterschiedlichen Wertvorstellungen und eine Vielzahl von unterschiedlichen Lebensentwürfen haben. Der Ansatz unserer Politik ist nicht,
Menschen etwas vorzuschreiben, sondern der Ansatz ist,
diese Vielfalt wertzuschätzen - auch durch Leistungen
des Staates.
({6})
Neben Geld ist für die Familien die Infrastruktur
wichtig. Dass die Kitabetreuung ausgebaut werden
muss, ist angesprochen worden. Wir werden massiv weiter in Qualität investieren.
Was Familien aber auch brauchen, ist Zeit: Zeit, um
Verantwortung wahrzunehmen, Zeit, um - das war schon
in der letzten Legislaturperiode das große Stichwort - in
schwierigen Lebenssituationen, etwa nach der Geburt eines Kindes oder während der Pflege eines Angehörigen,
Freiräume zu haben. Deshalb, Herr Wunderlich, ist das
ElterngeldPlus, das wir einführen wollen, keine „Stinknelke“, wie Sie das bezeichnet haben, sondern eine wesentliche Fortentwicklung der Elternzeit. Dieses Erfolgsmodell gibt jungen Familien mehr Flexibilität und stärkt
gleichzeitig die Partnerschaftlichkeit in der Beziehung.
Das ist genau das, was junge Familien wollen. Deshalb
ist das ElterngeldPlus eine adäquate und folgerichtige
Weiterentwicklung der Elternzeit.
({7})
Das Gleiche gilt für die Pflege. Auch die Pflege ist
eine Situation im Leben eines Menschen, in der besondere Unterstützung gebraucht wird. Die Weiterentwicklung der Familienpflegezeit ist elementar für die Menschen, die sich dieser besonderen Aufgabe stellen. Somit
ist der Dreiklang aus Zeit, Geld und Infrastruktur auch in
dieser Legislaturperiode das, worauf wir unsere Familienpolitik ausrichten und was den Werkzeugkasten für
die Familien ergänzt.
Ich will aber noch einen vierten Punkt hinzufügen,
der mir sehr wichtig ist. Es geht um die Anerkennung.
Wenn wir über Familienpolitik sprechen, dann reden
wir oft von den problematischen Dingen: vom Druck,
von der Zerreißprobe, in der sich Eltern befinden, und
von der Belastung, die pflegende Angehörige haben. Wir
sprechen viel zu wenig von dem Schönen und dem Sinnstiftenden, das Familien eigentlich ausmacht.
Viel zu selten sind Familien auch zu sehen. Wann haben Sie zum letzten Mal abends im Restaurant Kinder
gesehen? In Italien ist es völlig normal, dass Kinder
abends mit den Eltern ins Restaurant gehen. Am Flughafen gibt es spezielle Einrichtungen. In unserem Land
werden Kinder aber immer wieder outgesourct. Ich
finde, diesen Zustand kann man nicht hinnehmen. Das
trägt nämlich zu einer familienunfreundlichen Gesellschaft und dazu bei, dass sich junge Menschen dreimal
überlegen, ob das jetzt die richtige Zeit ist, ein Kind zu
bekommen. Es bestehen eine große Verunsicherung und
eine große Skepsis.
Ich erlebe das in Gesprächen mit jungen Menschen
meiner Generation. Man sichert sich erst nach allen Seiten hin ab, und erst wenn das komplette Feld bestellt ist,
hat man den Mut, Kinder zu bekommen. Dann ist es aber
meistens schon zu spät.
Wir müssen viel mehr dahin kommen, dass Kinder als
eine Selbstverständlichkeit angesehen und wertgeschätzt
werden und dass man eben auch das Gute und Sinnstiftende der zwischenmenschlichen Beziehungen nach außen kehrt, sei es bei der Kindererziehung, sei es aber
auch bei der Pflege; denn ja, Pflege ist hart, aber viele
pflegende Menschen berichten auch davon, dass es eine
sinnstiftende und gute Erfahrung war, einen Menschen,
den man liebt, zu pflegen.
Deshalb will ich zum Schluss Eckart von Hirschhausen
zitieren, der gesagt hat: Das Glück der Gemeinschaft ist
die wichtigste Quelle des Glückes. - Um es mit der
Kanzlerin zu sagen: Wir wollen ein gutes Leben. - Dafür
wollen wir uns in den nächsten vier Jahren einsetzen für die Familien, für die Menschen in unserem Land und
für den Zusammenhalt unserer Gesellschaft.
({8})
Das Wort erhält nun die Kollegin Katja Dörner für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Sehr geehrte Frau Ministerin! Frau
Schwesig, Sie haben unlängst gesagt, es sei Ihre Aufgabe, wichtige gesellschaftspolitische Debatten anzustoßen. Ich will einmal etwas provokant anfangen und
sagen: Nein, das ist eigentlich nicht Ihre Aufgabe. Sie
sind Ministerin, und als Ministerin ist es Ihre Aufgabe,
zu handeln und die Herausforderungen, die auf dem
Tisch liegen, beherzt anzugehen.
Wenn ich mir den Koalitionsvertrag anschaue, dann
habe ich große Zweifel, ob da etwas kommt. Da unsere
Kollegin Nadine Schön es geschafft hat, neun Minuten
zu sprechen, ohne eine einzige konkrete Maßnahme zu
nennen,
({0})
muss ich sagen: Hier klingeln bei mir alle Alarmsignale.
({1})
Wir haben in den nächsten Jahren familien- und frauenpolitisch offensichtlich nicht viel zu erwarten.
Ich verstehe es sehr gut, dass ein Koalitionsvertrag
wie der, den Union und SPD abgeschlossen haben, eine
Ministerin dazu einlädt, lieber über das zu sprechen, was
notwendig wäre, als über das wenige, was tatsächlich geplant ist. Wir werden Sie in den kommenden Monaten
und Jahren aber an Ihren Taten und nicht an Ihren Diskussionsbeiträgen messen.
({2})
Dass meine Bedenken richtig sind, hat man hier eben
schon erleben können, als das Thema Extremismusklausel angesprochen worden ist. Selbstverständlich muss
diese unsägliche Extremismusklausel abgeschafft werden.
({3})
Sie wird aber eben gerade nicht abgeschafft, und das ist
doch ein Fehler in der Rede gewesen, den man hier einmal ganz klar benennen muss. Der Innenminister hat
schon Njet gesagt.
({4})
Das ist eine Ankündigungspolitik, die wir Ihnen hier
nicht durchgehen lassen.
({5})
Wir müssen über die Herausforderungen in der Familienpolitik für die nächsten Jahre sprechen. Welche
Herausforderungen sind das?
Stichwort: Mehr Zeit für Familien. Zwei Drittel aller
jungen Eltern wünschen sich, Familie und Erwerbsarbeit
partnerschaftlich aufteilen zu können. Nur 7 Prozent
können diesen Wunsch in ihrem realen Familienalltag
tatsächlich umsetzen. In dieser Diskrepanz liegt aus meiner Sicht eine der größten Herausforderungen moderner
Familienpolitik überhaupt. Diese Diskrepanz zeigt auch,
dass die vielbeschworene Wahlfreiheit, die gerade die
Union immer so hoch hängt, in diesem Land eine Fata
Morgana ist.
Wo sind denn die konkreten Vorschläge, um Eltern
mehr Zeit für Kinder und Familie, aber auch Pflegenden
mehr Zeit für ihre Angehörigen zu ermöglichen? Statt einen konkreten Vorschlag zu machen, gibt es bei Ihnen,
Frau Ministerin, eine Runde 32-Stunden-Woche für alle.
Auch dieser Vorschlag wurde umgehend wieder einkassiert.
({6})
Ich muss einfach sagen: Mit Ihrem Vorgehen haben Sie
einem absolut wichtigen und berechtigten Anliegen einen Bärendienst erwiesen. Gutgemeinte Diskussionsbeiträge ersetzen eben keine gut gemachte Politik.
({7})
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, es geht auch um
Kinderarmut. 2,5 Millionen Kinder in Deutschland sind
arm. Das ist ein Zustand, den wir nie und nimmer akzeptieren können. Wenn man in eine große Suchmaschine
„Manuela Schwesig Kinderarmut“ eingibt, bekommt
man umgehend 6 440 Treffer. Wenn man im schwarz-roten Koalitionsvertrag den Begriff „Kinderarmut“ sucht,
gibt es keinen einzigen Treffer - auf 185 Seiten keinen,
({8})
und das, nachdem sich Union und SPD im Bundestagswahlkampf einen Überbietungswettbewerb geliefert haben, wer mehr für eine bessere materielle Absicherung
von Familien tut. Das ist überhaupt nicht akzeptabel. Die
SPD hat ein Kindergeldplus versprochen. Die Union hat
gesagt: Das Kindergeld und auch die Kinderfreibeträge
werden erhöht. - Was lernen wir daraus? Kindergeldplus
plus mehr Kindergeld gleich keinen Euro mehr für Familien. Das ist eine traurige und beschämende Gleichung.
({9})
Dabei spricht beim Thema Kinderarmut vieles dafür,
hier mutig zu sein. In der von der vorherigen Großen
Koalition selber in Auftrag gegebenen Evaluation der
ehe- und familienbezogenen Leistungen wird gerade
dazu aufgefordert, alle Kinder, unabhängig von der Familienform, in der sie aufwachsen, materiell besser zu
unterstützen und damit direkt gegen Kinderarmut anzugehen. Dafür spricht auch eine aktuelle Umfrage, woKatja Dörner
nach 66 Prozent der Bürgerinnen und Bürger ausdrücklich bereit sind, höhere Steuern zu zahlen, wenn mit
diesem Geld konkret gegen Kinderarmut vorgegangen
wird.
({10})
Das macht auch ganz klar: Wir brauchen keine Flickschusterei am Kinderzuschlag. Wir brauchen ein Gesamtkonzept gegen Kinderarmut.
({11})
Was das Thema Qualität in der Kindertagesstätte angeht - unbestritten eine große Herausforderung, der wir
uns stellen sollten -: Auch da muss man sich Sorgen machen, dass die Ankündigungen im Koalitionsvertrag
reine Lyrik bleiben, weil die Bundesregierung nicht bereit ist, sich im Sinne einer besseren Fachkraft-Kind-Relation auch finanziell zu engagieren. Wir werden es nicht
akzeptieren, dass sich die Bundesregierung mit dem
Fähnchen „Mehr Qualität in Kindertagesstätten“ schmückt,
wenn die Kosten dafür bei den Ländern und Kommunen
hängen bleiben. Das werden wir nicht hinnehmen.
({12})
Ich finde es richtig, dass die Ministerin gesagt hat,
dass wir nicht mit einem defizitorientierten Blick auf Jugendliche schauen sollen. Wir müssen über Partizipation
und über Rechte reden; das unterstütze ich ausdrücklich.
Aber wie sehen die nächsten vier Jahre für Jugendliche
aus, die Unterstützung brauchen, um beispielsweise in
einer Ausbildung Fuß zu fassen?
Ich erinnere mich sehr gut an die letzte Legislaturperiode, als es darum ging, die finanzielle Absicherung für
Programme wie „Die 2. Chance“ oder auch die Kompetenzagenturen zu schaffen. Damals hat sich die SPD zum
Anwalt dieser Jugendlichen gemacht. Und jetzt? Wie
heißt es im Koalitionsvertrag hauchdünn? Da geht es nur
noch um eine modellhafte Unterstützung der Länder und
Kommunen.
Wo ist die Jugendministerin, die wir brauchen, die
sich auch für die abgehängten Jugendlichen starkmacht?
Hier hätte ich mir ganz klar mehr erwartet. Das gilt übrigens auch für die Jugendverbandsarbeit, die dringend
eine bessere finanzielle Absicherung durch den Bund
braucht, weil sie eben von lahmen Absichtserklärungen
keine coolen Programme wird finanzieren können.
({13})
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, dass zu einer guten Frauenpolitik mehr gehört, als eine Ministerin für
dieses Ressort zu haben, ist bekannt; das haben wir
schon leidvoll erfahren. Aber es gehört auch mehr dazu
als die geplante und angesichts der Debatte der letzten
Jahre nun wirklich zu erwartende Einführung einer Frauenquote. So wichtig und überfällig diese Maßnahme ist,
ersetzt sie nicht weitere notwendige Schritte, um eine
echte Gleichstellung von Frauen und Männern hinzubekommen. Dazu gehören aus unserer Sicht ganz klar die
eigenständige Existenzsicherung für Frauen, eine solide
Finanzierung von Frauenhäusern und eine Reform des
Ehegattensplittings, das der eigenständigen Existenzsicherung von Frauen entgegensteht und das Armutsrisiko
für Frauen erhöht. Hier wollen wir in den nächsten vier
Jahren eine entschlossene Frauenministerin handeln sehen. Aber ich bin sehr skeptisch.
({14})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte noch einen letzten Aspekt ansprechen. Auch im Bereich der Altenpolitik will die Bundesregierung offensichtlich keine
sonderlich dicken Bretter bohren. Beispiel Altersdiskriminierung: Altersdiskriminierung aktiv zu bekämpfen,
das versprechen verschiedene Bundesregierungen seit
Jahren.
({15})
Warum nutzt diese Bundesregierung nicht die guten
Erkenntnisse der Antidiskriminierungsstelle des Bundes
und packt das Problem endlich an? Altersdiskriminierung zählt zu den häufigsten Diskriminierungsgründen
in Deutschland. Doch statt einer konkreten Gesetzesinitiative gibt es auch hier nur Prüfaufträge. Das ist definitiv zu wenig.
Sehr geehrte Frau Ministerin, ich habe den Eindruck,
Sie würden schon mehr wollen, wenn Sie denn dürften.
({16})
Da wir am Beginn der Legislaturperiode sind, wage ich
doch zu hoffen, dass es gelingt, das enge Korsett Koalitionsvertrag ein bisschen aufzusprengen. Wenn es gelingt,
etwas konkret gegen Kinderarmut, für mehr Gleichberechtigung, für Freiräume für Jugendliche und mehr
Teilhabe für Ältere zu tun und uns gemeinsam dafür zu
engagieren, dann haben Sie selbstverständlich auch unsere Unterstützung.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({17})
Für die SPD-Fraktion hat nun Carola Reimann das
Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine lieben Kollegen und Kolleginnen! In die Familien- und Gleichstellungspolitik kommt
neuer Schwung. Das haben Sie, Frau Ministerin
Schwesig, mit Ihrem bisherigen Engagement sehr deutlich gemacht.
({0})
In der letzten Großen Koalition ist es uns gemeinsam
gelungen, mit dem Elterngeld und dem Kitaausbau die
Familienpolitik zu entstauben und ihr ein modernes Gesicht zu verleihen. Frau Ministerin, hier wollen Sie anknüpfen und weitermachen. Im Koalitionsvertrag sind
dazu für die Bereiche Bildung und Kitaausbau 6 Milliarden Euro und auch das ElterngeldPlus vereinbart. Dabei
haben Sie unsere volle Unterstützung.
({1})
Kolleginnen und Kollegen, wir haben uns aber noch
viel mehr vorgenommen. Wir wollen eine wirkungsvolle
Gleichstellungspolitik neben die moderne Familienpolitik stellen. Die Bundesregierung will für Frauen die gleichen Verwirklichungschancen schaffen, wie sie für Männer lange üblich sind. Und wir wollen auch Männern
ermöglichen, neue Lebensentwürfe zu leben. Es geht uns
darum, das Versprechen unseres Grundgesetzes auf gleiche Chancen unabhängig vom Geschlecht endlich auch
einzulösen. Dafür haben wir uns in den nächsten vier
Jahren viel vorgenommen. Ich will drei besonders wichtige Vorhaben herausgreifen.
Erstens. Vorstands- und Chefetage sollen für Frauen
nicht länger verschlossen bleiben. Wir wollen für Frauen
all die Hindernisse aus dem Weg räumen, die sie in ihrem beruflichen Fortkommen heute noch beschränken.
Die Arbeitgeber hatten jetzt fast 13 Jahre Zeit, über freiwillige Selbstverpflichtungen Frauen den Weg in Führungsfunktionen zu ebnen. Diese Chance haben sie vertan. Nicht mehr Frauen in Vorstandspositionen, sondern
in einigen Bereichen sogar weniger: So lautet der beschämende Befund des letzen Managerinnen-Barometers. Deshalb ist es absolut richtig, dass wir jetzt als Gesetzgeber handeln.
({2})
Ich komme zum zweiten Punkt. Quote ist wichtig.
Entgeltgleichheit ist mir persönlich noch wichtiger.
Frauen bekommen ganze 22 Prozent weniger Lohn als
Männer. Diese Ungerechtigkeit betrifft fast alle Frauen.
Sie ist in fast allen Berufen und Branchen anzutreffen,
und sie gilt für die Aushilfskraft genauso wie für die
Chefin.
Wir wollen Hindernisse aus dem Weg räumen, die
Frauen von einem fairen und gerechten Lohn ausschließen. Dazu haben wir uns in der Großen Koalition auf gesetzliche und untergesetzliche Regelungen verständigt.
Wir wollen einen individuellen Auskunftsanspruch
für alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, damit
Lohnungleichheit überhaupt sichtbar wird. Wir wollen
verbindliche Verfahren für die Unternehmen, mit denen sie
Lohngerechtigkeit erreichen können, Herr Wunderlich.
Frau Kollegin Dörner, wir werden das beherzt angehen.
({3})
Helfen wird auch der gesetzliche Mindestlohn; denn
70 Prozent derjenigen, die mit Niedriglöhnen zurechtkommen müssen, sind Frauen. Es werden also vor allem
Frauen sein, die mehr verdienen, wenn 8,50 Euro als untere Lohngrenze gesetzlich festgeschrieben sind.
Drittens wollen wir ein großes Rad drehen: die Flexibilisierung der Arbeitszeiten. Ein zentraler Grund, warum Frauen weniger verdienen als Männer, ist Teilzeitarbeit. Teilzeitarbeit ist in Deutschland immer noch eine
Frauendomäne. Wer in Teilzeit arbeitet, wird trotz eines
bestehenden Diskriminierungsverbots letztlich doch
noch oft benachteiligt: bei der Bezahlung, beim beruflichen Aufstieg und auch bei Fort- und Weiterbildung.
Deswegen machen wir zweierlei: Zum einen stärken wir
die Rechte von Teilzeitbeschäftigten. Wir werden einen
gesetzlichen Anspruch auf befristete Teilzeit einführen,
damit Teilzeit nicht zur Falle wird, damit Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer auch das Recht erhalten,
auf eine Vollzeitstelle zurückzukehren. Das ist bei Kindererziehung, aber auch bei pflegenden Angehörigen
ganz wichtig.
({4})
Zum anderen wollen wir eine grundsätzliche Debatte
darüber führen - ich glaube, dass sie nötig ist, Frau
Dörner -, ob wir im Interesse von Frauen und Männern
mit Familienpflichten nicht über andere Arbeitszeitmodelle nachdenken müssen. 60 Prozent der Eltern kleiner
Kinder wünschen sich eine partnerschaftliche Teilung
von Erwerbs- und Familienarbeit. Nur ganze 14 Prozent
können diesen Wunsch auch verwirklichen. Hier klafft
eine gewaltige Lücke zwischen gewünschter und gelebter Familienrealität. Das muss uns zu denken geben;
denn dieser Widerspruch zwischen Wünschen und Wirklichkeit belastet Paare, eine Belastung, die Familien destabilisieren kann und im schlimmsten Fall zu Trennung
und Scheidung führt.
Andere Arbeitszeiten für Familien sind ein Thema für
Frauen, aber eben auch für Männer. Ein Großteil der
Männer wünscht sich mehr Zeit für ihre Kinder; das ist
ein Ergebnis der forsa-Väterstudie. Das aber zu realisieren, ist für Männer oft noch schwieriger. Da kann schon
die bloße Äußerung des Wunsches nach Arbeitszeitreduzierung schnell zum Karrierekiller werden.
Frau Ministerin Schwesig, Sie haben mit Ihrem Vorschlag der Familienarbeitszeiten einen wichtigen Vorstoß gemacht. Wie überfällig er war, merken wir daran,
dass jetzt überall über Arbeitszeiten für Familien diskutiert wird: in Feuilletons, in Talkshows und bei den Tarifpartnern.
({5})
Gerade Anfang der Woche hat die IG Metall 30-Stunden-Wochen für Familien und zur Weiterbildung vorgeschlagen. Es gibt ja konkrete Vorschläge. Auch die Bürgerinnen und Bürger diskutieren darüber. Ich hatte vor
wenigen Tagen gestandene Feuerwehrmänner zu Besuch. Reden wollten sie vor allem über eines: flexible
Arbeitszeiten und die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Zeit für Familie ist die nächste große Baustelle in
der Familienpolitik. Deshalb haben wir im Koalitionsvertrag sehr schnell das ElterngeldPlus als einen ersten
Schritt aufgenommen. Dabei werden wir das Elterngeld
weiter entwickeln. Mit dem ElterngeldPlus soll Teilzeitarbeit während der ersten Lebensjahre des Kindes besser
möglich werden. Eltern, die partnerschaftlich in Teilzeit
arbeiten, wollen wir dabei mit einem Partnerschaftsbonus besonders unterstützen.
Kolleginnen und Kollegen, es gibt in den nächsten
vier Jahren eine Menge zu tun. Ich finde, wir haben einen Koalitionsvertrag mit den richtigen Rezepten. Jetzt
kommt es darauf an, unsere Rezepte gut und zügig umzusetzen. Ich freue mich auf eine konstruktive Zusammenarbeit.
Danke.
({6})
Marcus Weinberg erhält nun das Wort für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Vielen Dank, Herr Präsident. - Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Um eine familienfreundliche Arbeitszeit
ist es bei uns nicht immer so gut bestellt, Frau Ministerin. Aber daran werden wir arbeiten, zumal heute der
Präsident bei uns ist und nun den siebten Redner gehört
hat, der darauf hinweist, dass die Familienpolitik im
Zentrum der Gesellschaftspolitik steht
Ich kann das nicht oft genug hören, Herr Kollege
Weinberg. Sie müssen keine Hemmungen haben, das zu
wiederholen, wenn Sie das wollen.
({0})
- und deshalb in das Zentrum der Diskussion im
Deutschen Bundestag gehört.
Herr Wunderlich, wie ich nachgelesen habe, hat Henri
Matisse einmal gesagt: „Es gibt überall Blumen für den,
der sie sehen will.“ Wenn man in einem Blumenbeet
liegt, kann man einen Blumenstrauß allerdings nicht so
richtig erkennen. Im Hinblick auf die Familienpolitik
mag das so sein.
({0})
Ich bin sehr froh, dass wir in der ersten Debatte in der
neuen Legislaturperiode einen anderen Stil gefunden haben, den die Ministerin vorgegeben hat. Wir tun jetzt etwas, was wir in den letzten Jahren nicht immer so beherzigt haben: Wenn wir über die Besonderheiten von
Familien diskutieren, entideologisieren wir die Diskussion. Opposition und Regierung müssen kontrovers
streiten, wobei wir an der Seite der Ministerin stehen,
wenn wir sie auch gelegentlich anstupsen werden - ich
glaube, das sagt man heute so auf Facebook -, keine
Frage,
({1})
aber wir müssen die Diskussion endlich davon befreien,
Familien im Sinne politischer Ideologien zu instrumentalisieren.
({2})
Ich glaube, wir waren heute schon auf einem guten Weg.
Deswegen ist das Angebot einer offenen Diskussion
weiterhin gültig, Frau Dörner.
In einer Generaldebatte muss man auch sagen, was
man will und wofür man eigentlich steht. Dazu gibt es in
der Großen Koalition einen fast schon überraschenden
Konsens.
({3})
Wir gehen davon aus, dass wir Familien in ihrer Vielfalt,
ihrer Besonderheit und Einzigartigkeit anerkennen und
dass die Politik, wie Frau Schön es gesagt hat, die Rahmenbedingungen setzen und Angebote machen muss,
und zwar frühzeitig, zielgenau und bedarfsorientiert. Die
Politik darf aber nicht bestimmen, was Familie ist und
was die Familien machen sollen. Wir setzen nur den
Rahmen, nicht mehr und nicht weniger.
({4})
Wir befinden uns in einem Lernprozess und erkennen
an, dass Familienbilder sich ändern. Darauf hat Politik
zu reagieren. Wir müssen den Familien aber auch immer
wieder Mut zusprechen. Wir sehen, dass Familien es
schaffen können, wenn sie politisch unterstützt werden.
Das heißt auch, dass wir Vertrauen in die Familien setzen.
({5})
Wenn Menschen Weichen stellen wollen, sollten sie
sich bewusst sein, dass es vorher Menschen gegeben hat,
die die Weichen gelegt haben. Deswegen sei mir der
Hinweis gestattet, dass viele der wichtigen und guten
Dinge, über die wir jetzt diskutieren und die wir gemeinsam auf den Weg bringen wollen, in den letzten acht Jahren in der Politik der CDU/CSU-geführten Bundesregierung angelegt waren; denn diese Regierung hatte den
Ansatz einer neuen, modernen und nachhaltigen Politik
gewählt.
({6})
Auch in der letzten Großen Koalition, Kollege Kahrs,
haben wir vier Jahre in diesem Bereich erfolgreich zusammengearbeitet.
Ich will einige Beispiele nennen, weil diese vor dem
Hintergrund der heutigen Diskussion wichtig sind:
Das Elterngeld. Geld allein macht nicht glücklich, außer vielleicht den Kollegen Kahrs. Im Nachhinein muss
man sagen, dass das Elterngeld, das wir eingeführt haben, eine der zentralen politischen Maßnahmen war, die
einen unheimlichen Erfolgsfaktor hatte. Diese Maßnahme hat auch einen ungeheuren Nachhaltigkeitswert.
Im letzten Jahr haben wir 5 Milliarden Euro ausgegeben.
Seit der Einführung hat sich die Anzahl der Väter, die
Vätermonate beantragt haben, von 20 auf 30 Prozent erhöht. Es ist noch mehr möglich, und ich wünsche mir,
dass noch mehr Väter diese Möglichkeit in Anspruch
nehmen; aber die Einführung des Elterngeldes war richtig und wichtig.
({7})
Frau Dörner, Sie haben das Kindergeld und die Kinderfreibeträge angesprochen.
({8})
Ich will rückblickend sagen, dass wir das Kindergeld um
20 Euro pro Monat erhöht haben und der Kinderfreibetrag mittlerweile 7 008 Euro beträgt. Noch einmal: Geld
allein macht es nicht. Die Maßnahmen müssen aber auch
finanzierbar sein. Sie haben Ihren Vorschlag präsentiert
und Ende September dafür in gewisser Weise die Quittung erhalten.
({9})
Wir sagen ganz deutlich: Wenn wir für Familien und
Kinder Politik machen, dann können wir nicht Schulden
machen, die genau diese Kinder später zurückzahlen
müssen. Deshalb muss man in dieser Hinsicht sehr sorgsam sein.
({10})
Der eigentlich wichtige Impuls, den wir in der Familienpolitik gesetzt haben, ist, dass seit dem 1. August 2013 ein Rechtsanspruch auf einen Krippenplatz
besteht. Wenn ich davon rede, dass wir Familien und
auch die Vielfalt von Familien akzeptieren, dann stelle
ich den Begriff der Wahlfreiheit in den Mittelpunkt. Es
ging nie darum, entweder das eine oder das andere zu
machen, das sogenannte Betreuungsgeld oder die Krippenbetreuung in Anspruch zu nehmen. Es ging bei dem,
was wir damals beschlossen haben, immer um eine
Kombination. Wir haben gesagt, dass wir Familien bei
der Wahlmöglichkeit stärken wollen.
Sie fragen, was der Bund dafür getan habe. Ich sage Ihnen: Der Bund hat 5,4 Milliarden Euro zur Unterstützung
des Aufbaus der Kindertagesbetreuung und der Krippenplätze bereitgestellt. Sie, Frau Dörner, fragen, wo das
Geld eigentlich fließe und worin die großen Impulse bestünden. Wir geben jedes Jahr 845 Millionen Euro für die
Betriebskosten der Krippen aus. Das ist eine immense
Leistung des Bundes.
({11})
Wir werden die Weichen auch weiter stellen. Wir haben das Bundeskinderschutzgesetz implementiert. Es
wird auch evaluiert werden. Ich sage das gerade vor dem
Hintergrund einer traurigen Diskussion über Geschehnisse in Hamburg, wo wieder einiges bei der Frage „Wie
gehen Ämter mit Problem- bzw. Risikofamilien um?“
falsch gelaufen ist. Wir werden bei der Evaluierung des
Bundeskinderschutzgesetzes sehr genau darauf achten,
wo wir als Bundesgesetzgeber Verbesserungen vornehmen können.
Auch der Unterhaltsvorschuss ist angesprochen worden. Ich erinnere daran: Am 1. Januar 2010 wurde der
Unterhaltsvorschuss für Alleinerziehende angehoben,
und der damit einhergehende Vollzug wurde erleichtert.
„Wer sich auf seinen Lorbeeren ausruht, trägt sie an
der falschen Stelle“, hat Mao Zedong einmal gesagt. Wir
werden auch in den nächsten vier Jahren überlegen, wo
wir Veränderungen durchführen können. Ich glaube,
dass dieser Koalitionsvertrag gerade das Thema „Zeit für
die Familie“ - es wurde von Frau Schön und von der
Ministerin angesprochen - im Hinblick auf mehr Flexibilität bei der Gestaltung der Zeit für die Familie stärkt;
dort werden wesentliche Akzente gesetzt.
Es ist so, dass Familienaufgaben und Erwerbspflichten partnerschaftlich - das wünschen sich immer mehr
Männer und Frauen - aufgeteilt werden. Das ist das Ergebnis vieler Studien und auch ein zentraler Erkenntnisstand des Achten Familienberichtes. Wir werden darüber
nachdenken, wie man diesen Schritt noch besser vollziehen kann. Ich glaube, die Flexibilisierung bei der Elternzeit ist der richtige Weg. Ein Elternteil kann jetzt bis
zum achten Lebensjahr des Kindes bis zu 24 Monate Elternzeit nehmen. Hinzu kommt die Diskussion über das
Elterngeld und das ElterngeldPlus. Ich will nicht wiederholen, was die Kolleginnen und Kollegen zum Partnerschaftsbonus bereits ausgeführt haben.
Eine weitere Maßnahme ist übrigens, dass wir im
Hinblick auf Kita, Schule und weitere Institutionen überprüfen, wo und wie wir mehr für die Flexibilisierung tun
können. Das betrifft Öffnungszeiten. Das betrifft den
Unterricht an Schulen. Das betrifft familienunterstützende Dienstleistungen und insbesondere die bessere
Abstimmung der Betreuungszeiten in Kindertageseinrichtungen und Schulen.
Viele haben diesen Strauß an Maßnahmen angesprochen. Jeder hat seinen Schwerpunkt. Ich will noch auf
zwei Bereiche eingehen.
Das eine ist, dass wir es schaffen müssen, den Kindern gerechte und gute Chancen zu bieten. Dabei ist der
Ausbau der Kindertagesbetreuung ein Impuls, aber nicht
der einzige. Wir haben es zum Beispiel mit dem Programm „Offensive Frühe Chancen“ geschafft, gerade
das Thema „Integration und Sprache“ neu aufzulegen. In
jedem Wahlkreis müssten es fünf bis zehn Kindertagesstätten sein, die davon profitieren. Wir müssen zwei
Dinge tun: Wir müssen gute, feste familiäre Bindungen
stärken. Aber wir müssen auch frühe Impulse für die Bildung geben. Wir müssen endlich den Konflikt „Bindung
oder Bildung?“ auflösen. Es darf in jeder Phase eines
jungen Menschen nur noch „Bindung und Bildung“ heißen.
({12})
In der Familie kommt die Individualität besonders
zum Vorschein. Vieles ist bei dem einen Kind anders gelagert als bei einem anderen. Ich glaube, wenn wir den
beschriebenen Konflikt dauerhaft auflösen und passgenaue Angebote machen, die im Sinne einer Wahlfreiheit
angenommen werden können, dann sind wir auf dem
richtigen Weg.
Im Hinblick auf die aktuellen Fälle der Gefahren für
Kinder müssen wir sehr darauf achten - das will ich
noch einmal sagen -, dass wir die Kompetenzen der Kinder stärken, und zwar mit den Eltern. Wir sollten nicht
versuchen, sozusagen Teile aus einer Familie herauszubrechen. Familienpolitik muss immer in Gänze betrachtet werden.
Gerne würde ich noch das eine oder andere zum Bundesfreiwilligendienst sagen. Der soziale Zusammenhalt
der Generationen wird für uns in den nächsten Jahren
- Nadine Schön hat es ausgeführt - zentral sein. Es spiegelt die Stärke oder die Schwäche einer Gesellschaft wider, wie die Generationen zusammenleben und zusammenhalten und welches Engagement es gibt, freiwillig
etwas zu tun.
Herr Kollege Weinberg.
Herr Präsident, Sie werden gleich sagen, dass ich zum
Schluss kommen muss.
Nein. Ich wollte sagen: schönes Thema für die
nächste Debatte.
({0})
Die hoffentlich am helllichten Tag stattfindet.
Zum Schluss. 85 000 Menschen sind es, glaube ich,
die sich mittlerweile freiwillig über den BFD oder über
andere Einrichtungen engagieren. Dieses Engagement
zu stärken, ist eine der vielen Aufgaben der Politik.
Frau Ministerin, Sie haben unsere volle Unterstützung. Wir stupsen Sie, wie gesagt, ab und zu einmal im
Sinne der Familien und der Kinder an. Insofern freue ich
mich auf eine gute Zusammenarbeit in der Koalition,
aber auch auf einen kontroversen Diskurs mit der sogenannten Opposition im Sinne der Familien.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({0})
Als Abschluss und Höhepunkt der heutigen Debatten
erhält jetzt der Kollege Paul Lehrieder das Wort.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Ich
kann es mir nicht verkneifen, hier mein Bedauern über
den späten Zeitpunkt dieser Debatte - ich bin der siebente Redner in dieser Diskussion - zum Ausdruck zu
bringen. Wir vertreten in unserem Ausschuss die Bevölkerungsgruppen Familien, Senioren, Frauen und Jugend.
Nicht dazu gehören die alleinstehenden 20 bis 25 Jahre
alten Männer. Da wäre es gut gewesen, wenn diese Debatte von einem größeren Teil der Bevölkerung hätte angesehen werden können. Wir müssen feststellen: Die Familien sind zum Teil nicht in der Lage, dieser Debatte
heute Abend um halb elf zu folgen. Die Jugendlichen
sind im Bett oder auf dem Weg in die Disko.
({0})
- Vielleicht sind auch ein paar zu Hause und schauen das
an. - Es wäre wirklich gut gewesen, wenn mehr Menschen die Chance gehabt hätten, dieser Debatte zu folgen.
Ich bitte die Parlamentarischen Geschäftsführer, das
nächste Mal dafür Sorge zu tragen, dass wir das Thema
Familie zu einem prominenteren Zeitpunkt diskutieren
können. Ich bedanke mich bereits jetzt für die diesbezüglichen Bemühungen für die nächste Plenardebatte.
Unser Dreigestirn im Bundesfamilienministerium, Frau
Ministerin Schwesig, die Parlamentarische Staatssekretärin Elke Ferner und die Parlamentarische Staatssekretärin Caren Marks, hätten es durchaus verdient, mit dem
vorgelegten tollen Strauß von Maßnahmen, lieber Kollege Wunderlich, die wir mit dem Koalitionsvertrag auf
den Weg gebracht haben, hier beachtet zu werden.
Die Vorrednerinnen und Vorredner haben bereits einiges bilanziert. Im familienpolitischen Teil des schwarzroten Koalitionsvertrags sind wichtige Impulse gesetzt
worden. Zentrale Erwartungen der Wählerinnen und
Wähler sind von uns aufgegriffen und vertraglich verankert worden.
Besonders erfreulich ist, dass nach zähen Verhandlungen der Einstieg in die verbesserte rentenrechtliche Anerkennung der Kindererziehung auch für alle jene Mütter
gelungen ist, deren Kinder vor 1992 geboren wurden.
({1})
Sehr geehrte Damen und Herren, die Familien leisten
einen wesentlichen Beitrag für den Generationenvertrag;
das ist allen hier bekannt. Daher war und ist unser erklärtes Ziel, die Gerechtigkeits- und Rentenlücke für Mütter
von vor 1992 geborenen Kindern zu schließen. Hier ist
zwar der Ausschuss für Arbeit und Soziales federführend, aber das betrifft genau die Mitbürgerinnen und
Mitbürger, nämlich die Frauen und die Senioren, für die
wir in unserem Ausschuss Verantwortung tragen.
Die bessere Anerkennung der Lebensleistung von
Müttern war längst überfällig. Gerade in den Wochen
vor der Wahl habe ich Unmengen von Postkarten, Briefen und E-Mails von Frauen - und, wohlgemerkt, auch
von Männern - bekommen, die sich für die Gleichbehandlung aller Mütter bei der Rentenberechnung eingesetzt haben. Und das vielfältige Engagement hat sich gelohnt.
Über die Mütterrente und deren Finanzierung wurde
und wird viel diskutiert. Jedoch ist die Einführung der
Mütterrente der falsche Austragungsort für Grabenkämpfe zwischen den Generationen.
({2})
Ich halte es für falsch, bei diesem Thema eine Generation gegen die andere auszuspielen. Es geht hier
schlichtweg um ein Stück mehr Gerechtigkeit in unserer
Gesellschaft
({3})
und die längst überfällige Anerkennung und Honorierung der Lebensleistung unserer Mütter. Die Mütterrente
ist ein wichtiger Beitrag für Millionen von Frauen in unserem Land und schließt die bestehende Gerechtigkeitslücke bei der Bewertung von Kindererziehungszeiten
von älteren und jüngeren Frauen mit Kindern.
Das Ziel unserer Familienpolitik ist, weiterhin Bedingungen zu schaffen, die eine Entscheidung für das Leben
mit Kindern in der Familie erleichtern, um der demografischen Entwicklung etwas entgegenzusetzen. Auf dem
Feld der Familienpolitik stoßen die unterschiedlichsten
Interessen aufeinander. Auf der einen Seite sind die Eltern mit ihren Kindern, die möglichst viel Zeit mit- und
füreinander brauchen - darauf wurde bereits von mehreren Vorrednern hingewiesen -; auf der anderen Seite
steht die Wirtschaft, die Nachwuchskräfte und qualifizierte Frauen braucht. Natürlich geht es auch um die Behinderung von Karrierechancen von Frauen, wenn sie
eine längere Auszeit zur Familiengründung genommen
haben; das wurde von etlichen Vorrednern bereits deutlich gemacht.
Unser Familienpaket stellt die Entwicklung familienfreundlicher Lebens- und Arbeitsbedingungen in den
Vordergrund. Den wichtigsten Beitrag zu einer modernen Familienpolitik leistet dabei der weitere Ausbau der
Kindertagesbetreuung - mit den notwendigen Regelungen der Qualität der Betreuungseinrichtungen. Dazu gehören eine sachgerechte Bezahlung von qualifizierten
Fachkräften und ein entsprechender Betreuungsschlüssel.
Lieber Kollege Wunderlich, Dorfhelferinnen - um Sie
da einer Wissenslücke zu berauben - sind Kräfte, die im
dörflichen Bereich quasi als Familienersatz, Mutterersatz, Hausfrauenersatz eingesetzt werden, wenn eine
Frau, insbesondere eine Bäuerin - so war das bei uns
früher insbesondere -, ausgefallen ist.
({4})
- Vaterersatz auch; aber dann muss es ein Dorfhelfer
sein. - So wurde Hilfe für die Familie geleistet. So kennen wir das.
({5})
Ich kenne noch die Dorfhelferin aus meiner Heimatgemeinde. Das war gang und gäbe.
({6})
- Das ist nicht arrogant, sondern das ist Historie. Damit
müssen Sie leben. Das war bei uns so.
Kitaplätze verbessern das Miteinander von Beruf und
Familie und stabilisieren zugleich das Einkommen von
Eltern mit Kindern. Das wirkt sich langfristig auch positiv auf die Renten von Müttern aus. Eine qualitativ hochwertige Betreuung verhilft den Kindern zudem zu einer
guten frühkindlichen Bildung und legt damit den Grundstein für spätere Chancen auf dem Arbeitsmarkt.
Bei den Verhandlungen zum Koalitionsvertrag war
uns besonders wichtig, dass es bei den Familien zu keinerlei Kürzungen kommt. Wir streichen nicht nur keinen
einzigen Euro bei den Familienleistungen, sondern
bauen sie sogar noch weiter aus, und zwar mit der Flexibilisierung der Elternzeit, dem ElterngeldPlus, das Kollege Wunderlich unverständlicherweise als „Stinknelke“
bezeichnet hat. Herr Kollege Wunderlich, Sie hatten vor
kurzem Geburtstag, und wir haben uns auf ein Bier verabredet. Ich biete Ihnen an, dass ich Ihnen bei dieser Gelegenheit die einzelnen Passagen des Koalitionsvertrages
in gemütlicher Atmosphäre erkläre. Vielleicht verstehen
Sie es dann besser.
({7})
Wenn Sie den Koalitionsvertrag Seite für Seite erläutern wollen, wird ein Bier nicht reichen.
({0})
Wenn der Herr Präsident die weiteren Striche auf unserem Deckel übernimmt, dann können wir natürlich
mehrere Biere trinken, lieber Jörn Wunderlich.
Wenn der Kollege Wunderlich zusagt, dass er diese
Prozedur komplett erträgt, dann sage ich das zu.
({0})
Meine Damen und Herren, wir wollen das ElterngeldPlus und einen Partnerschaftsbonus für alle Eltern, die
zusätzlich zu der Erziehung ihrer Kinder 20 bis 30 Wochenstunden arbeiten. Kinder und Eltern brauchen viel
gemeinsame Zeit. Daran besteht kein Zweifel. Die Elternzeit ist eines der familienpolitischen Instrumente, um
junge Väter und Mütter dabei zu unterstützen. Die von
der schwarz-roten Koalition vorgesehene zeitliche Flexibilisierung der Elternzeit kommt den Eltern entgegen
und soll im Sinne der Eigenverantwortlichkeit der Eltern
noch weiter ausgebaut werden.
Wir haben einiges vor. Sie sind alle des Lesens mächtig. Ich bitte Sie, die einzelnen Passagen unseres Koalitionsvertrages noch einmal zur Kenntnis zu nehmen.
({0})
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit und wünsche noch einen schönen Abend.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das war’s für heute.
({0})
Beschlossen hatten wir, zehn Stunden und siebzehn Minuten zu diskutieren. Wenn wir uns daran gehalten hätten, wären wir seit gut drei Stunden zu Hause. Aber da es
so schön wie im Plenarsaal zu Hause gar nicht sein kann,
machen wir gegebenenfalls auch Überstunden. Für die
neuen Kolleginnen und Kollegen mache ich darauf aufmerksam, dass hier weder Überstunden- noch Nachtzuschläge gezahlt werden.
({1})
Für die morgige Sitzung, die ich hiermit für 9 Uhr
einberufe, steht ungefähr so viel Zeit zur Verfügung, wie
wir heute Überstunden gemacht haben.
Die Sitzung ist geschlossen. Schönen Abend noch.