Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
begrüße Sie alle herzlich. Besonders gerne hätte ich jetzt
den Kollegen Ströbele begrüßt, um ihm zu seinem
76. Geburtstag nachträglich zu gratulieren. Ich schlage
vor, wir holen das nach, falls und sobald er persönlich
auftritt.
Dann müssen wir noch eine Wahl eines Vertreters der
Bundesrepublik Deutschland zur Parlamentarischen
Versammlung des Europarates durchführen. Hierzu
schlägt die Fraktion Die Linke vor, den Kollegen
Harald Petzold als Nachfolger für die Kollegin Martina
Renner als persönliches stellvertretendes Mitglied des
Kollegen Andrej Hunko zu berufen. Können Sie dem zustimmen? - Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist der
Kollege Petzold als persönliches stellvertretendes Mitglied gewählt.
Darüber hinaus haben wir noch ein Mitglied und ein
stellvertretendes Mitglied des Beirats für Fragen des
Zugangs zur Eisenbahninfrastruktur, also des Eisenbahninfrastrukturbeirats, zu wählen. Hier schlägt die
CDU/CSU-Fraktion vor, für den Kollegen Eckhardt
Rehberg den Kollegen Hans-Werner Kammer als ordentliches Mitglied und den Kollegen Matthias Lietz
als persönliches stellvertretendes Mitglied des Kollegen
Kammer zu berufen. - Ich stelle auch hierzu keinen
Widerspruch fest. Also ist der Kollege Kammer als ordentliches und der Kollege Lietz als persönliches stellvertretendes Mitglied des Eisenbahninfrastrukturbeirats
gewählt.
Es gibt eine interfraktionelle Vereinbarung, die Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführten
Punkte zu erweitern:
ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen
der CDU/CSU und SPD:
Aktueller VN-Bericht - Menschenrechtsverletzungen in Eritrea stoppen
({0})
ZP 2 Überweisungen im vereinfachten Verfahren
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Steffi
Lemke, Nicole Maisch, Harald Ebner, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Wilderei und illegalen Artenhandel stoppen
Drucksache 18/5046
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit ({1})
Innenausschuss
Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Beate
Walter-Rosenheimer, Dr. Franziska Brantner, Katja
Dörner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Kinder- und Jugendhilfe - Beteiligungsrechte
stärken, Beschwerden erleichtern und Ombudschaften einführen
Drucksache 18/5103
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
ZP 3 Weitere abschließende Beratung ohne Aussprache
({2})
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Konstantin von Notz, Luise Amtsberg,
Volker Beck ({3}), weiterer Abgeordneter und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
zu dem Vorschlag einer EU-Datenschutzverordnung
KOM({4}) 11
hier: Stellungnahme gegenüber der Bundesregierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 des
Grundgesetzes
Hohes Schutzniveau im Rat und im Trilog sicherstellen
Drucksache 18/5102
Präsident Dr. Norbert Lammert
ZP 4 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion
DIE LINKE:
Ehe für alle
Dabei soll von der Frist für den Beginn der Beratungen, soweit erforderlich, abgewichen werden.
Der Tagesordnungspunkt 21 - hier geht es um die abschließende Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur
Verbesserung der internationalen Rechtshilfe bei der Vollstreckung von freiheitsentziehenden Maßnahmen - und
der Tagesordnungspunkt 29 - Antrag zur Entwicklungsfinanzierung vor dem Hintergrund universeller Nachhaltigkeitsziele - werden heute abgesetzt.
Schließlich mache ich noch auf eine nachträgliche
Ausschussüberweisung im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam:
Der am 22. Mai 2015 ({5}) überwiesene
nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Ausschuss Digitale Agenda ({6}) zur Mitberatung überwiesen werden:
Erste Beratung des von den Abgeordneten
Renate Künast, Dr. Konstantin von Notz, Nicole
Maisch, weiteren Abgeordneten und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des
Bundesdatenschutzgesetzes - Verbesserung der
Transparenz und der Bedingungen beim Scoring ({7})
Drucksache 18/4864
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({8})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss Digitale Agenda
Ich frage Sie, ob Sie mit diesen zwischen den Fraktio-
nen vereinbarten Veränderungen einverstanden sind. -
Das ist offensichtlich der Fall und damit so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 3 a und 3 b auf:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Entlastung insbesondere der mittelständischen
Wirtschaft von Bürokratie ({9})
Drucksache 18/4948
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Energie ({10})
Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Finanzausschuss
Ausschuss Digitale Agenda
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Thomas Gambke, Kerstin Andreae, Dieter
Janecek, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Bürokratie gezielt abbauen statt Stillstand
manifestieren
Drucksache 18/4693
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Energie ({11})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Finanzausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 96 Minuten vorgesehen.
({12})
- Den Zwischenruf „Wir haben alles versucht“, um das
etwas zu straffen, nehme ich mit besonderem Respekt
zur Kenntnis und komme heute Nachmittag auf den Vorschlag zurück. - Dann ist das jedenfalls so vereinbart.
Ich eröffne die Aussprache und erteile zunächst der
Parlamentarischen Staatssekretärin Iris Gleicke das
Wort.
({13})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Die Wirtschaftspolitik der Bundesregierung
zielt ab auf mehr Wachstum, mehr Beschäftigung sowie
mehr Innovationen. Das geht nur mit mehr öffentlichen
und mit mehr privaten Investitionen in Deutschland. Wir
stellen deshalb in großem Umfang zusätzliche Mittel für
Infrastruktur, Bildung und Forschung zur Verfügung.
Vor allem der Städtebau und die Bereiche Digitales und
Energie profitieren davon.
Ein ganz wichtiger Beitrag zu mehr öffentlichen Investitionen ist auch der neu geschaffene Fonds für kommunale Investitionen in Höhe von 3,5 Milliarden Euro.
Zusammengerechnet kommen wir in dieser Legislaturperiode auf ein Paket für kommunale Investitionen von
über 15 Milliarden Euro. Zudem schafft die Bundesregierung die notwendigen Rahmenbedingungen, die es
unseren privaten Unternehmen ermöglichen, mehr zu investieren und neue Wachstumsfelder zu erschließen.
Der Abbau von unnötiger Bürokratie ist hier ein
wichtiger Punkt. Deshalb bringen wir auf Initiative unseres Bundeswirtschaftsministers Sigmar Gabriel hin die
größte Entlastung der Wirtschaft von unnötigen Bürokratiekosten in der Geschichte der Bundesrepublik auf
den Weg, und das ist erst der Auftakt.
({0})
Wir sprechen hier über 744 Millionen Euro pro Jahr,
die unsere Unternehmen nun in Forschung und Entwicklung stecken können, in die Digitalisierung ihrer Prozesse, in die Internationalisierung ihres Geschäftsmodells und in die Qualifizierung ihrer Beschäftigten. Es
geht hier nicht um Kleinigkeiten, sondern um reale Kostensenkungen, die insbesondere für Gründer und junge
Unternehmen wie ein Konjunkturprogramm wirken können, das aber nicht viel kostet. Wir entlasten die Wirtschaft, ohne unseren ausgeglichenen Haushalt zu gefährden.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, über Bürokratieabbau wird immer viel geredet, in der Sache konkret getan
wird jedoch meist nur wenig, vor allem dann nicht, wenn
es an das Eingemachte geht und wenn man möglicherweise selbst betroffen ist. Klar ist, dass wir zwischen
notwendiger und nicht notwendiger Bürokratie unterscheiden müssen. Jeder funktionierende Rechtsstaat ist
auf eine gut funktionierende Verwaltung angewiesen, die
dem Allgemeinwohl dienende Gesetze umsetzt, also auf
eine effiziente Bürokratie. Unvermeidlich sind Vorschriften, wenn sie dazu dienen, demokratisch festgelegten Allgemeinwohlbelangen Geltung zu verschaffen und
damit Mensch und Natur zu schützen. Der Mindestlohn
und auch das notwendige Korrelat, die Kontrolle seiner
Einhaltung, sind hierfür ein gutes Beispiel; denn der
Rechtsstaat, der Gesetze erlässt, auf deren Einhaltung er
nicht pocht, verlöre seine Legitimation.
({2})
Wer hier über mehr Bürokratie klagt, dem sage ich: Arbeitnehmerrechte sind weder Wachstumshemmnisse
noch überflüssige Bürokratie,
({3})
und Lohnpflichten stellen keinen Erfüllungsaufwand
dar.
Unnötig jedoch sind übertriebene Buchführungs-,
Aufzeichnungs- und Meldepflichten, zu niedrige Schwellenwerte oder ein nicht zu rechtfertigender Erfüllungsaufwand. Die Auflagen müssen insbesondere für kleine
Unternehmen verhältnismäßig sein. Unverhältnismäßige
Vorschriften sind wir mit dem Bürokratieentlastungsgesetz angegangen.
Bei unserem Bürokratieentlastungsgesetz haben wir
vor allem unsere mittelständische Wirtschaft, Existenzgründer und wachsende Unternehmen im Blick. Es ist
ein wichtiger Beitrag für die neue Gründerzeit, die wir
als Ziel im Koalitionsvertrag vereinbart haben. Die klassische Gründerzeit war die Industrialisierung Europas.
Damals entstanden viele Unternehmen wie Siemens,
Borsig, Daimler, Thyssen und Krupp. Das liegt lange zurück. Um unsere großen Herausforderungen zu meistern,
insbesondere den digitalen Wandel, brauchen wir aber
auch heute wieder neue Impulse. Sie kommen häufig
von jungen, dynamischen Unternehmen, die ihr Geld
und ihre Ressourcen dafür brauchen, ihre Ideen in Geschäftsmodelle umzusetzen. Größere finanzielle Spielräume und insbesondere eine verbesserte Wagniskapitalfinanzierung sind deshalb so wichtig.
Unser Ziel ist es, erstens mehr Wachstumsunternehmen an die Börse zu bringen. Dafür wird heute Nachmittag der Startschuss für die neue vorbörsliche Plattform
Deutsche Börse Venture Network gegeben werden.
Zweitens werden wir die öffentlichen Mittel für die
Wagniskapitalfinanzierung deutlicher erhöhen. Dazu legen wir einen Wachstumsfonds mit einem Volumen von
500 Millionen Euro auf. Die KfW steigt nach langer
Pause wieder mit 400 Millionen Euro in die Venture-Capital-Finanzierung ein.
({4})
Drittens wollen wir die steuerlichen Rahmenbedingungen für Wagniskapital verbessern. Ein zentrales
Thema sind dabei die Verlustvorträge bei Anteilseignerwechsel. Der Finanzminister und der Wirtschaftsminister haben vereinbart, hier für Verbesserungen zu sorgen.
Viertens werden wir mit unserem Bürokratieentlastungsgesetz Existenzgründern und jungen Unternehmen
mehr Raum für die wichtigen Dinge geben. Sie sollen
sich auf ihre Geschäftstätigkeit konzentrieren und nicht
auf Formulare.
({5})
Zu den wesentlichen Inhalten des Gesetzentwurfs gehört deswegen, dass künftig mehr kleine Unternehmen
als bisher von Bilanzierungspflichten befreit werden. Sie
sollen länger einfachere Aufzeichnungspflichten nutzen
dürfen. Dazu werden die einschlägigen Grenzbeträge für
Umsatz und Gewinn um jeweils 20 Prozent auf 600 000
bzw. 60 000 Euro steigen. Vor allem auch Existenzgründer werden spürbar entlastet. Dazu werden die Schwellenwerte in verschiedenen Wirtschaftsstatistikgesetzen
und in der Intrahandelsstatistik angehoben. Es werden
erstmals Meldeschwellen in der Umweltstatistik eingeführt.
Ein kraftvolles Signal für weniger Bürokratie ist auch
die sogenannte „One in, one out“-Regelung. Sie ist ein
Kernstück unserer verschiedenen Initiativen. Sie gilt bereits ab dem 1. Juli 2015. „One in, one out“ besagt: Wo
zusätzlicher Erfüllungsaufwand durch neue Gesetze und
Verordnungen entsteht, muss an einer anderen Stelle
eine Belastung wegfallen. Das gab es noch nie in
Deutschland. „One in, one out“ heißt aber nicht, dass die
Politik aufhört, zu gestalten. Wir werden die Vorhaben
des Koalitionsvertrages umsetzen. „One in, one out“
heißt jedoch, dass die Ministerien verpflichtet sind, nicht
immer nur auf die neue Regelung zu schauen. Sie müssen das Gesamtsystem im Blick haben und überlegen,
wo Bürokratie entfallen kann. In diesem Zusammenhang
stärken wir den Normenkontrollrat, dem ich bei dieser
Gelegenheit für seine exzellente Arbeit danken möchte.
({6})
Ich weiß, dass Herr Ludewig sowie seine Mitstreiterinnen und Mitstreiter nicht immer einfache Zeitgenossen
für uns sind. Sie sind jedoch unerlässlich für die Selbstvergewisserung von Politik.
Auch die anderen Eckpunkte werden wir rasch umsetzen. So werden wir beispielsweise die Umsetzung der
neuen europäischen Vergaberichtlinien in das neue
Recht nutzen, um öffentliche Beschaffungen einfacher
und anwenderfreundlicher zu gestalten.
({7})
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, dieses Gesetz verschafft insbesondere den Gründerinnen und
Gründern und jungen Unternehmen in unserem Land
mehr Luft zum Atmen. Weitere Erleichterungen, beispielsweise im Steuerrecht, könnten dazu einen zusätzli10378
chen Beitrag leisten. Das werden wir jedenfalls im Blick
behalten.
Bürokratieabbau muss aber auch und vor allem auf
europäischer Ebene stattfinden. Hier setzt sich Sigmar
Gabriel zusammen mit seinen Ministerkollegen für eine
starke europäische Agenda für eine bessere Rechtsetzung ein. Die EU-Kommission hat zentrale Elemente in
ihre Mitteilung zur besseren Rechtsetzung aufgenommen.
Beim Bürokratieabbau genau wie bei allen anderen
Maßnahmen, mit denen wir wichtige Zukunftsinvestitionen in unserem Land ermöglichen, dürfen wir nicht lockerlassen. In einer Zeit, in der sich die Wirtschaft gut
entwickelt, die Beschäftigung Rekordwerte erreicht und
die Löhne steigen, geben wir den Unternehmen mehr
Spielraum. In diesem Sinne werbe ich auch bei diesem
Vorhaben um Ihre Unterstützung. Wir handeln hier vor
allem im Interesse unserer mittelständischen Wirtschaft
und ihrer Beschäftigten.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({8})
Das Wort erhält nun der Kollege Michael Schlecht für
die Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Damen und
Herren! Bürokratie ist bei vielen ein nicht besonders beliebtes Wort. Das ist verständlich; man hat schon manche
unangenehme Erfahrung gesammelt. Bürokratieabbau
hört sich da schon besser an. Deshalb behandelt anscheinend die Große Koalition dieses Thema auch hier in der
Kernzeit im Parlament und beglückt das Parlament mit
96 Minuten Beratungszeit. Offensichtlich fehlen ihr andere wichtige populäre Themen zur Gestaltung unserer
Gesellschaft, die sie eigentlich hier einbringen und stattdessen behandeln könnte.
({0})
Bemerkenswert an dem ganzen Vorgang ist, dass das
wichtigste Vorhaben der Bundesregierung zum Bürokratieabbau gar nicht im Gesetz steht; vielmehr hat das Kabinett es bereits in seine interne Geschäftsordnung, in einer Art von Selbstverpflichtung, aufgenommen. Es geht
um die sogenannte „One in, one out“-Regelung, nach der
bei einer zusätzlichen bürokratischen Belastung durch
ein neues Gesetz eine zwingende Entlastung für Unternehmen vorzusehen ist. Ich werde noch darlegen, wo da
die Problematik ist.
Es ist aber, finde ich, sehr befremdlich, dass unter
Umgehung des Parlaments eine relativ weitreichende
Norm für Gesetzesinitiativen geschaffen wird. Das einzig Positive an dieser sogenannten untergesetzlichen Regelung ist, dass jede andere Regierung diesen Unfug per
Kabinettsbeschluss gleich wieder abschaffen könnte. Zumindest das ist positiv daran.
Mit der „One in, one out“-Regelung entscheidet nicht
mehr Sach- und Fachpolitik über Sinnhaftigkeit von gesetzlichen Regelungen, sondern das Gebot, dass die Kostenbelastung der Unternehmen nicht durch Regelungstatbestände - auch wenn sie sinnvoll sind - erhöht
werden darf. Witzig oder bemerkenswert ist auch, dass
für die Kontrolle dieser Regel extra Bürokratie geschaffen wird. Ein Staatssekretärsausschuss soll über den Bürokratieabbau wachen. Er soll zukünftig den ressorteigenen Bürokratieauf- und -abbau und den anderer Ressorts
- da ist ein relativ kompliziertes Verfahren vorgesehen kontrollieren. Es ist wirklich schon kabarettreif, dass unter dem Titel „Abbau von Bürokratie“ erst einmal staatliche Bürokratie aufgebaut wird. Das muss man sich
schon einmal auf der Zunge zergehen lassen.
({1})
Besonders interessant ist, welche Auswirkungen von
dieser sogenannten Bürokratiebremse auf künftige Gesetzgebungsvorhaben nun ausgehen werden. Ist etwa
eine Erweiterung der Mitbestimmung für Betriebsräte
nicht mehr möglich, weil sie die Kosten für Unternehmen erhöht? Sind weitere Maßnahmen der Teilhabe von
Menschen mit Behinderung überhaupt irgendwie auszugleichen? Man merkt, da entwickeln sich schon sehr perfide Fragestellungen, die mit diesem Prinzip verbunden
sind.
Man muss davon ausgehen, dass damit etwa die Einführung des Equal-Pay-Grundsatzes für die Leiharbeit,
das Entgeltgleichheitsgesetz oder die Revision der Arbeitsstättenverordnung - das sind ja alles Dinge, die
nach meinem Kenntnisstand die Große Koalition irgendwie noch auf ihrer Agenda hat - für die restliche Legislaturperiode wohl komplett beerdigt sind. Denn sinnvoll
konstruierte derartige Regelungen würden natürlich immer zu ein bisschen mehr Bürokratieaufwand für die Unternehmen führen. Da es aber kaum Möglichkeiten gibt,
sie zu kompensieren, also dafür zu sorgen, dass woanders Bürokratie nach der „One in, one out“-Regelung abgebaut wird, muss man davon ausgehen, dass jegliche
Reformpolitik in der Arbeitswelt durch die Regierung
faktisch aufgekündigt worden ist. Ich finde, es ist schon
ein Skandal, dass man mitten in der Legislaturperiode im
Grunde das Ende der Regierungstätigkeit erklärt.
({2})
Man muss sich schon auf der Zunge zergehen lassen,
was man in einem trojanischen Pferd, das hier Bürokratieabbau heißt, so alles verpacken kann. Das muss man
erst einmal zustande bringen. Man war sehr kreativ. Zumindest dieses Lob muss ich an dieser Stelle aussprechen.
({3})
Hätte es diese Regelung bereits vor der Einführung
des Mindestlohns gegeben, wäre sie - das muss man sich
ja fragen - vielleicht sogar gescheitert; es wurde nämlich
behauptet - ich will das gar nicht bestätigen -, dass der
durch die Einführung des Mindestlohns verursachte Erfüllungsaufwand bei immerhin 9,6 Milliarden Euro liegt.
Ich bezweifle, dass das so ist; aber so hat es die Regierung nun einmal verkündet.
Stünden wir heute vor der gleichen Aufgabe, müsste
die Bundesregierung nach ihrer eigenen Selbstverpflichtung Bürokratie in dieser Größenordnung abbauen, um
den Mindestlohn einführen zu können. Ich behaupte einmal, wir können froh sein, dass der Mindestlohn so, wie
er ist - wir hätten uns einiges mehr gewünscht -, durchgesetzt worden ist, bevor diese Regelung geschaffen
worden ist. Wie gesagt, ich befürchte für die verbleibende Legislaturperiode Schlimmes. Ich finde, es droht
unserem Land und auch uns hier eine ziemliche Zumutung. Dem, wie da verfahren wird, kann man in der Tat
nicht zustimmen.
({4})
Eigentlich ist die Idee, Bürokratie abzubauen, nicht
verkehrt; man muss es nur richtig machen. Ich verrate
Ihnen, wie Sie millionenfach Jubelstürme auslösen können: Schaffen Sie zum Beispiel das Bürokratiemonster
Hartz IV ab. Das wäre eine wirkliche Reform.
({5})
Ein Freund von mir, der alleinstehend ist, rutschte vor
Jahren in Hartz IV ab. Er hat mir damals seinen Antrag
auf Hartz IV gezeigt: Das gesamte Formular hatte
16 Seiten, in denen seine persönlichen Tatbestände akribisch erhoben werden sollten. Wer Kinder hat oder eine
besondere Ernährung benötigt oder gar noch mit jemandem zusammenlebt, bekommt gleich noch ein paar Seiten Fragebogen dazu. Die durchschnittliche Akte eines
Hartz-IV-Haushalts bei der Agentur für Arbeit ist etwa
650 Seiten dick. Was ist das für ein Bürokratieunfug, der
dort betrieben wird!
({6})
Heinrich Alt, Vorstandsmitglied der Bundesagentur
für Arbeit, kritisiert das auch. Er geht auf aus seiner
Sicht vermutlich sehr lebensnahe Dinge ein. Ich zitiere:
Es kann nicht unsere Aufgabe sein, sich mit DINNormen von Schuhen und Einlagen zu beschäftigen
und darauf zu achten, dass nicht die falschen
Schuhe die richtigen Einlagen haben …
Das ist anscheinend die bürokratische Wirklichkeit,
mit der sich die Arbeitsagentur zum Teil herumschlagen
muss, und das müsste endlich beseitigt werden.
({7})
Noch schlimmer ist die Situation für Aufstockerinnen
und Aufstocker. Wer regelmäßig ein Einkommen hat und
aufstocken will, muss in jedem Bewilligungszeitraum einen ganzen Wust an Formularen ausfüllen. Alle sechs
Monate sind das neben dem Weiterbildungsantrag auch
noch Arbeitgeberbogen, zusätzliches Einkommensformular usw. Ist es eigentlich die Schuld von Aufstockerinnen und Aufstockern, dass die Jobcentermitarbeiterinnen und -mitarbeiter angesichts dieses Bürokratiewustes
überlastet sind? Mit Sicherheit nicht. Das müsste abgeschafft werden.
({8})
Das hätte vor allen Dingen auch einen ökonomischen
Effekt. Frau Staatssekretärin, Sie haben in Ihrer Rede so
getan, als nähmen Sie hier eine ganz tolle Entlastung vor.
Diese Entlastung beliefe sich nach Ihren Berechnungen
gerade einmal auf 700 Millionen Euro. Wenn Sie die Bürokratie bei Hartz IV wirklich beseitigen würden, könnten Sie Bürokratiekosten von effektiv sage und schreibe
5 Milliarden Euro abbauen. Das wäre in der Tat ein Fortschritt. Der eigentliche Bürokratieskandal sind nicht bestimmte Rechnungslegungsfristen oder -vorschriften für
einzelne Unternehmer, sondern gerade solcher Unfug
wie Hartz IV. Hinzu kommen sämtliche sozialpolitischen Verwerfungen und das, was damit an unsäglicher
Bürokratie praktiziert wird.
({9})
Die Bundesregierung will mit diesem Gesetz kleinen
und mittleren Unternehmen helfen - es ist immer löblich, wenn man Leuten helfen will, auch kleinen und
mittleren Unternehmen -, aber sie kommt über ein paar
Verzierungen wirklich nicht hinaus. Ich will das einmal
runterbrechen: Hilft man Unternehmen wirklich damit,
dass man sie um sage und schreibe 1,3 Stunden pro Monat für eine Meldung über Ausfuhren und Einfuhren entlastet? Hilft man Sparkassen, Volksbanken etc. wirklich
damit, dass man sie bei der Kundenbetreuung um eine
halbe Minute, also 30 Sekunden, je Kunde entlastet? In
solchen Spitzfindigkeiten bewegt sich das Gesetz. Ich
finde, das ist wirklich aberwitzig. Hilft man Existenzgründerinnen und -gründern, wenn man sie von Pflichten, über Statistik zu berichten, entlastet, die sich, nominal bewertet, auf gerade mal 190 Euro im Jahr belaufen?
Es ist alles lächerlich, was dort an Vorschlägen gemacht
wird, und es ist, wie gesagt, eigentlich abenteuerlich,
dass damit hier in der Kernzeit das Parlament 96 Minuten beschäftigt werden soll.
({10})
Die größte Entlastung, nämlich ungefähr 500 Millionen Euro, soll das Gesetz schaffen, indem es die ordentliche Buchführung erst ab einem Umsatz von 600 000 Euro
und nicht, wie bisher, ab 500 000 Euro vorschreibt.
Auch das finde ich ziemlich abstrus. Jeder Unternehmer
mit mindestens 500 000 Euro Umsatz macht als ordentlicher Kaufmann eine Rechnungslegung mit Bilanz und
Gewinn-und-Verlust-Rechnung, allein schon deshalb,
damit er weiß, wo er ökonomisch steht und damit er
nicht plötzlich von seinen Zahlen überrascht wird. Wer
es nicht freiwillig macht, dem sollte man gesetzlich einen Fingerzeig geben und ihn, zumindest dann, wenn er
500 000 Euro Umsatz hat, dazu anhalten. Das ist schon
eine Fürsorgepflicht. Deswegen finde ich es abstrus,
diese Grenze zu erhöhen.
({11})
Das Hauptproblem der Inhaber kleiner und mittlerer
Unternehmen liegt sowieso nicht in der ausufernden Bürokratie. Fragen Sie doch mal einen Handwerker! Ich
höre an erster Stelle immer: Heute ist es so schwierig geworden, gut bezahlte Aufträge zu bekommen, die dann
auch schnell bezahlt werden, vor allem bei der öffentlichen Hand. - Da gibt es manchmal ziemlich lange Fris10380
ten, bis bezahlt wird. Sie klagen vor allen Dingen auch,
dass sie von der öffentlichen Hand kaum noch Aufträge
bekommen. Das ist kein Wunder in Zeiten, in denen in
der Kasse vieler Kommunen Ebbe herrscht. In den Schulen lässt man die Toiletten lieber vergammeln, als dass
man Geld ausgibt und einen Handwerker, einen Maler,
einen Klempner beauftragt, etwas in Ordnung zu bringen.
Auch noch so viele gestrichene Vorschriften bringen
keine Aufträge für die mittelständischen Unternehmen.
Deswegen: Wenn man für mittelständische und kleine
Unternehmen wirklich etwas tun will, dann muss man
dafür sorgen - das ist das Entscheidende -, dass sie wieder mehr Aufträge bekommen, und dann muss man die
Binnennachfrage stärken. Legen Sie ein groß dimensioniertes Zukunftsinvestitionsprogramm auf, und geben
Sie nicht nur diese Kleckerbeträge - unter einem gesamtwirtschaftlichen Blickwinkel -, die Sie hier immer
stolz vor sich hertragen! Legen Sie ein Zukunftsinvestitionsprogramm von 100 Milliarden Euro auf! Damit
kann vieles geregelt werden. Das hätte dann auch den
Nebeneffekt, dass viele kleine und mittlere Unternehmen
wieder Aufträge bekommen und vor allen Dingen auch
zügig bezahlt werden.
({12})
Sorgen Sie endlich dafür, dass die Löhne in Deutschland wieder richtig steigen! Schaffen Sie andere Rahmenbedingungen für gewerkschaftliches Handeln in der
Tarifpolitik! Das heißt: Leiharbeit muss weg, Befristungen müssen anders geregelt werden; denn mit Leiharbeitern und befristet Beschäftigten lässt sich nicht besonders gut streiken. So lassen sich auch nicht die
notwendigen Lohnerhöhungen durchsetzen. Da besteht
mittelbar Handlungsbedarf. Da muss etwas geschehen.
Es gibt gegenüber dem Jahr 2000 in Deutschland eine
Lohnlücke von mindestens 14 Prozent. Das entspricht
einer Nachfrage von ungefähr 100 Milliarden Euro.
Würden wir diese Lücke schließen, würde es in jedem
Jahr eine um 100 Milliarden Euro höhere Binnennachfrage geben, und davon - das sage ich Ihnen - würden
vor allen Dingen auch kleine und mittlere Unternehmen
profitieren.
({13})
Damit könnten wir auch für diesen Personenkreis etwas
machen und eine wirklich anständige Wirtschaftsförderung betreiben.
Bürokratieabbau ist sinnvoll, wenn er im Interesse der
Menschen ist. Aber so, wie Sie das hier betreiben, vor allen Dingen mit Ihrer „One in, one out“-Regel, ist es sehr
kontraproduktiv
({14})
und, wie gesagt, führt eher zum Ende der Reformpolitik
für diese Legislaturperiode.
Ich danke Ihnen.
({15})
Michael Fuchs ist der nächste Redner für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Kollege
Schlecht, ich habe selten eine Rede gehört, in der wie in
Ihrer gerade mit so viel Kunstfertigkeit für mehr Bürokratie gekämpft wurde.
({0})
Es scheint so zu sein, dass die Linke wieder einmal vorhat, die Bürokratie in Deutschland zu verstärken.
({1})
Ansonsten fiel Ihnen nichts anderes ein als die Forderung, noch mehr Geld auszugeben.
({2})
Wir sind stolz darauf, dass der Bundesfinanzminister
es geschafft hat, dass wir endlich einen ausgeglichenen
Haushalt haben. Das ist ein Wert an sich; für den haben
wir gekämpft. Das ist genau das Richtige, statt andauernd zusätzliche Programme aufzulegen, wie Sie es immer gemacht haben. Das wurde ja schon früher in der
DDR versucht. Nichts hat es gebracht. Das ist einer der
Gründe, weswegen die DDR damals pleitegegangen ist.
({3})
- Das tut Ihnen weh, ich weiß das; aber damit müssen
Sie leben.
({4})
Bei kaum einem Projekt gehen Reden und Handeln so
auseinander wie beim Bürokratieabbau. In Sonntagsreden kommt der Bürokratieabbau immer wieder vor. Es
wird bei neuen Gesetzesvorhaben davon gesprochen,
dass wir dringend Bürokratie abbauen müssen. Aber
wenn man dann am Ende des Tages hinschaut, stellt man
fest, dass wir nicht allzu weit gekommen sind. Es gibt
viel Kreativität, was neue Gesetze angeht, aber wenig
Hoffnung, dass das dann auch zu einem echten Bürokratieabbau führt. Das läuft nicht so, wie wir uns das wünschen. Bürokratie ist ein Riesenproblem; das sollten wir
wissen.
Der Normenkontrollrat hat festgestellt, dass allein im
Zeitraum von Juli 2013 bis Juni 2014 über 9,2 Milliarden Euro an neuen Bürokratiekosten aufgebaut wurden.
({5})
Man lasse sich das bitte einmal auf der Zunge zergehen!
Das ist völlig unproduktiv. Diese 9,2 Milliarden Euro
fehlen der Wirtschaft an allen Ecken und Enden. Das
wäre, nebenbei gesagt, ein wunderbares Investitionsprogramm, wenn man 9,2 Milliarden Euro zusätzlich freisetzen könnte. Dem Normenkontrollrat muss man sehr
dankbar sein, dass er uns ständig auf diese Probleme aufmerksam macht. Er muss ein Stachel im Fleisch des Parlaments sein. Das finde ich auch in Ordnung so.
Bürokratie hat große Schäden verursacht und verursacht sie nach wie vor. Junge Unternehmen trauen sich
nicht in den Markt hinein, weil sie Angst vor der Bürokratie haben. Die Benachteiligung betrifft aber besonders kleinere mittelständische Unternehmen, weil diese
eben keine riesige Rechtsabteilung haben, die sich mit
all diesen bürokratischen Maßnahmen beschäftigen
kann. Bürokratie führt außerdem zu Lähmungserscheinungen in ganzen Volkswirtschaften. Das kann man am
allerbesten an Italien beobachten. Italien hat die
schlimmste Bürokratie in ganz Europa. Dort ist die Wirtschaft auch dementsprechend lahm.
Umso wichtiger ist es, dass wir heute nicht nur über
Bürokratieabbau reden, sondern das Thema auch konkret angehen. Der heute vorliegende Gesetzentwurf ist
ein Schritt in die richtige Richtung. Drei Punkte will ich
dabei hervorheben:
Erstens. Die Anhebung der Schwellenwerte für Meldepflichten von Existenzgründern von 500 000 Euro auf
800 000 Euro im Bereich der Wirtschafts- und Umweltstatistik halte ich für richtig. Ein Gründer - ich selbst
war einmal einer - sollte sich in der ersten Phase seines
Unternehmens mehr mit dem Markt und mit dem Erwirtschaften von Gewinnen beschäftigen, als die ganze Zeit
Statistiken auszufüllen.
({6})
Zweitens. Wir wollen beim Steuerrecht einiges verändern. Der Gesetzentwurf sieht einzelne Entlastungen
vor: bei den Mitteilungspflichten für den Kirchensteuerabzug, eine erhöhte Lohnsteuerpauschalierungsgrenze
für kurzfristig Beschäftigte und eine Vereinfachung beim
Lohnsteuerabzug. Meine Damen und Herren, machen
wir uns nichts vor: Das ist kein Quantensprung. Es ist
nicht so, dass wir damit schon gewaltige Veränderungen
erreicht hätten, aber gerade im Steuerrecht sind die Beharrungskräfte besonders intensiv. 70 Prozent der Bürokratiepflichten, die wir den Unternehmen auferlegen,
entstehen im Steuerrecht. Da haben wir also noch einen
weiten Weg zu gehen.
Mir fällt dazu auch noch das eine oder andere ein: Gerade bei den kleinen Unternehmen verursacht die Aufzeichnungspflicht, die bei geringwertigen Wirtschaftsgütern besteht, erhebliche Bürokratie.
({7})
Da könnte man ansetzen und überlegen, ob man die Abschreibungsgrenze für geringwertige Wirtschaftsgüter
etwas anheben könnte.
({8})
Diese liegt momentan bei 410 Euro. Aber ich könnte mir
durchaus vorstellen, eine Grenze von 600 bis 800 Euro
einzuführen.
({9})
Das würde erhebliche Bürokratie in den Unternehmen
abbauen.
({10})
Auf der anderen Seite bedeutet es für den Staat eigentlich nur eine Verschiebung. Denn wenn die Abschreibung in einem Jahr erfolgt, dann ist im nächsten Jahr
nichts mehr abzuschreiben; dann zahlt der Unternehmer
im nächsten Jahr mehr Steuern. Insofern stellt das keine
gewaltige Änderung dar.
({11})
Angesichts der niedrigen Zinsen halte ich das auch für
notwendig. Wir werden mit dem Bundesfinanzminister
noch einmal darüber zu sprechen haben.
({12})
Aber ich habe es auch noch nicht aufgegeben, an eine
wirkliche Steuervereinfachung zu glauben. Denn bei
dem, was wir bis jetzt gemacht haben, handelt es sich
immer nur um Marginalien. Da wurde immer nur so ein
bisschen an einer Stelle angepackt. - Diese Hoffnung
habe ich also noch nicht ganz aufgegeben.
Ich habe immer noch die Worte des estnischen Präsidenten Ilves, den ich vor zwei Tagen auf dem Wirtschaftstag des Wirtschaftsrates der CDU gehört habe, in
den Ohren. Er sagte, in Estland könne man eine Steuererklärung in fünf Minuten fertigstellen. Das wäre ja ein
Ziel für uns.
({13})
Es wäre wirklich eine Aufgabe, die wir uns gemeinsam
stellen könnten, zu überlegen, wie wir die Steuererklärungen so vereinfachen, dass auch so etwas bei uns möglich ist.
({14})
Der dritte Punkt, den ich für gut halte, betrifft die
neue „One in, one out“-Regelung. Herr Schlecht, auch
wenn Sie es nicht ganz verstanden haben: Sie macht
schon Sinn. Vor allen Dingen macht sie deswegen Sinn,
weil sie zumindest dazu führt, dass sich jeder einmal
überlegen muss: Was passiert denn da? Und: Wie kann
ich es denn auf der anderen Seite abbauen? - Allein der
Druck, der dadurch entsteht, ist schon positiv. Nur, das
wollen Sie ja nicht; das ist ja bekannt. Ich halte es für
richtig, dass wir auf all die neuen Gesetze, die jetzt noch
kommen, diese Regelung anwenden. Mir wäre es am allerliebsten, wir hätten ein rückwirkendes Inkrafttreten.
Stellen Sie sich einmal vor, wir würden das jetzt rückwirkend beim Mindestlohn machen. Das würde schon
Wirkung zeigen.
({15})
Das wäre doch eine gute Idee. Ich meine, wir sollten in
jedem Fall dafür sorgen, dass wir durch diese „One in,
one out“-Regelung nun in eine Phase kommen, wo bei
jedem neuen Gesetzesvorhaben geprüft wird: Wie können wir ein anderes Gesetz so verändern, dass wir weniger Bürokratie haben?
Ich bin vor allen Dingen dem Staatsminister Helge
Braun sehr dankbar, der sich um dieses Gesetz bemüht
hat und für den das ein Herzensanliegen war. Ich denke,
lieber Helge, das hast du gut gemacht. Dir gebührt unser
Dank dafür.
({16})
Die „One in, one out“-Regelung wird in der nächsten
Zeit Veränderungen schaffen. Auch dazu zitiere ich noch
einmal den estnischen Präsidenten. Er sagte vor zwei Tagen: Wir haben mittlerweile gesetzlich geregelt, dass die
Daten von jedem Bürger nur einmal vom Staat gespeichert werden dürfen und die Bürger dann nie mehr nach
ihren persönlichen Daten gefragt werden dürfen. - Wenn
der Staat die Daten also einmal hat, kann er sie anschließend nicht noch einmal nachfragen. Das könnten wir
zum Beispiel als Regelung auch bei uns einführen.
Wir haben eine Reihe von Gesetzen gemacht, die
schwierig sind. Seien wir uns bitte im Klaren darüber,
dass die Regelungen, die wir beim Mindestlohn eingeführt haben, so nicht umsetzbar sind. Die Bundeskanzlerin hat am selben Abend gesagt, dass man an dieses
Thema noch einmal herangehen wird. Das halte ich auch
für richtig. Frau Nahles ist gefordert, eine Regelung zu
finden, die weniger Bürokratie verursacht. Ich denke
auch, dass wir das schaffen können. Niemand redet beim
Mindestlohn über die 8,50 Euro. Die stellt auch keiner
mehr infrage. Die Bürokratie aber, die damit verbunden
ist, stellen wir infrage. Es stört mich auch ganz gewaltig,
dass wir mittlerweile 1 600 bewaffnete Zöllner in die
Bäckereien und Metzgereien schicken, um die Einhaltung des Mindestlohns zu kontrollieren.
({17})
- Das gibt es! Ich habe es schon selbst erlebt. Herr Ernst,
Sie können mit mir ja einmal zu einer Metzgerei gehen. Wir sollten uns darüber im Klaren sein, dass wir keine
Regelungen treffen sollten, welche die Unternehmen gewaltig belasten.
Herr Kollege Fuchs, der Kollege Ernst möchte gerne,
bevor er mit Ihnen eine Metzgerei aufsucht, mit einer
Zwischenfrage die Bedingungen klären. Können wir das
hier schnell erledigen?
Das soll er gerne haben.
Bitte schön.
Herr Fuchs, ich bin der Auffassung, dass Sie sich entschuldigen sollten. Sie haben eben Staatsbeamte der
Bundesrepublik Deutschland als bewaffnete Söldnertruppe bezeichnet.
Das habe ich nicht gesagt, sondern ich habe „Zöllner“
gesagt!
Ich denke, das geht einen Schritt zu weit.
({0})
Es handelt sich hier um Gesetze, die wir hier im Hause
beschlossen haben. Wir haben eine Steuerfahndung, die
dafür zuständig ist, den Mindestlohn zu überwachen.
Diese als bewaffnete Söldnertruppe zu bezeichnen, ist
ein Schlag ins Gesicht der Leute, welche die Gesetze zu
überwachen haben, die Sie mit Ihrer Truppe hier beschlossen haben. Das ist ein unglaublicher Vorgang!
({1})
Herr Kollege Ernst, Sie sollten besser zuhören! Ich
habe „bewaffnete Zöllner“ gesagt. Und das ist der Fall.
Es sind bewaffnete Zöllner, die in die Metzgereien oder
Bäckereien fahren, um die Mindestlohnregelungen zu
überprüfen.
({0})
Wenn Sie das sehen wollen, können Sie es selber überprüfen. Das ist auch keine Beleidigung der Zöllner. Sie
machen ihren Job, und sie müssen diese Aufgaben erledigen.
({1})
Ich kritisiere aber, dass wir dafür über 80 Millionen Euro
jährlich ausgeben. Die könnten wir besser bei der Polizei
unterbringen, denn da gibt es mehr Probleme.
({2})
Meine Damen und Herren, bringen wir unseren Unternehmerinnen und Unternehmern genügend Vertrauen
entgegen! Passen wir auf, dass wir das Misstrauen nicht
so schüren, dass der eine oder andere sagt, er mache es
nicht mehr, er habe keine Lust mehr dazu, und sich aus
dem Bereich des Unternehmertums verabschiedet! Glauben wir an die Kraft und Kreativität von Markt und
Wettbewerb, oder geben wir lieber der Kontrolle den
Vorzug? Haben wir noch den Mut zu Innovation und
Fortschritt, oder wollen wir den Istzustand zementieren?
Ich bin überzeugt: Unsere Unternehmerinnen und Unternehmer haben in der Geschichte der Bundesrepublik
und der Geschichte der sozialen Marktwirtschaft unser
Vertrauen immer gerechtfertigt, und sie haben unser
Land entscheidend weitergebracht, vor allen Dingen der
Mittelstand. Wir müssen ihnen auch in Zukunft die
Spielräume geben, die notwendig sind, damit sie ihren
Unternehmergeist entfalten können. Dies sollte uns bei
allen in der Zukunft anstehenden Gesetzgebungsverfahren leiten, und dafür müssen wir sorgen, damit die Unternehmer auch ernsthaft entlastet werden.
({3})
Das Wort erhält nun die Kollegin Kerstin Andreae für
die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Frau Staatssekretärin! Wir kritisieren gar nicht, was im
Gesetz steht. Entlastungen und Erleichterungen bei Meldepflichten, Grenzbeträgen und Schwellenwerten sind
richtig. Eine Entlastung der Wirtschaft um 744 Millionen Euro pro Jahr, von der Sie gesprochen haben, ist
auch richtig. Das alles kritisieren wir nicht. Aber wir kritisieren, was nicht drinsteht. Sie hätten viele Möglichkeiten. Wenn Sie sagen, dass es der erste Schritt ist, dann
hoffe ich auf die Beratungen nach der ersten Lesung.
Wir stellen ja einen eigenen Antrag zur Debatte. Darin
sind Vorschläge. Nehmen Sie sie mit auf. Dann kommen
Sie einen deutlichen Schritt weiter.
({0})
Der Normenkontrollrat spricht von 200 bis 300 Milliarden Euro Belastung pro Jahr. In Relation zu 200 bis
300 Milliarden sind 744 Millionen Euro nicht wirklich
viel. Sie haben ja auch in den ersten anderthalb Jahren
deutlich Bürokratie aufgebaut. Sie haben fast 2 000 neue
Verordnungen auf den Weg gebracht. Jetzt wird Ihnen
selber ein bisschen mulmig.
Jetzt nenne ich Ihnen einmal ein erstes Beispiel und
mache damit auch gleich einen ersten „One out“-Vorschlag. „One in, one out“ kann ja durchaus positiv sein:
Die Pkw-Maut für Ausländer ist das erste Beispiel.
({1})
Lassen Sie sie einfach, machen Sie etwas anderes, dann
haben Sie ein „One out“ und Möglichkeiten zu einem
neuen „One in“. Finanziell ist die Maut ja ein Desaster.
Sie sprechen von Einnahmen in Höhe von 500 Millionen
Euro. Unsere Studie hat errechnet, dass sie maximal
140 Millionen Euro einbringt. Demgegenüber stehen
laut Normenkontrollrat 164 Millionen Euro Verwaltungskosten und 32 Millionen Euro für Kontrollen. Selbst wenn
wir Ihre 500 Millionen Euro nehmen, dann haben wir
200 Millionen Euro Verwaltungs- und Kontrollkosten.
Dazu sagt der Normenkontrollrat in seiner üblichen Bescheidenheit und in seiner diplomatischen Form, er habe
„gegenüber dem Ressort seine Bedenken hinsichtlich der
Relation zwischen dem anfallenden Erfüllungsaufwand
und den zu erwartenden Einnahmen geäußert“. Temperamentvoll geht zwar anders, aber sie sagen ganz klar: Das
ist Unfug. Lasst diese CSU-Maut!
({2})
Wir haben noch einen Vorschlag für „One out“, betreffend das Mehrwertsteuersystem. Sie haben in der letzten
Legislatur den Unfug mit den Hotelübernachtungen, der
sogenannten Mövenpick-Steuer, gemacht: 7 Prozent für
Übernachtungen, 19 Prozent für Frühstück - hochkompliziert. Auf gepressten Fruchtsaft wird eine Mehrwertsteuer in Höhe von 19 Prozent fällig, auf pürierten
Fruchtsaft - das musste ich auch lernen - in Höhe von
7 Prozent, für den Arbeitsesel werden 7 Prozent fällig,
für den Hausesel 19 Prozent - eine weitere Unterscheidung gibt es, ob er tot und lebendig ist -, für Currywurst
zum Mitnehmen 7 Prozent, für Vor-Ort-Verzehr 19 Prozent. Wann endlich fangen Sie an, das Mehrwertsteuersystem zu reformieren? Wann endlich fangen Sie damit
an?
({3})
Dass Gesetzestexte verständlich und für alle Bürgerinnen und Bürger nachvollziehbar sein sollen, ist
manchmal ein Fernziel, aber sie sollten doch wenigstens
logisch sein. Das sind sie hier nicht. Überhaupt ist im
Bereich der Steuervereinfachung einiges zu tun.
Herr Fuchs, man muss ehrlicherweise zur Steuergesetzgebung auch sagen: Es ist der Versuch, auf der einen
Seite Gerechtigkeit herzustellen und den Anliegen, die
an uns als Gesetzgeber herangetragen werden, gerecht
zu werden und auf der anderen Seite ein einfaches und
verständliches Steuersystem zu schaffen. Die Steuererklärung auf dem Bierdeckel ist zu Recht überhaupt
nicht goutiert worden, weil niemandem eingeleuchtet
hat, was daran gerecht sein soll, drei Steuersätze auf alles zu erheben und dann alles laufen zu lassen. Ein bisschen mehr Anforderungen sollten wir an das Steuersystem stellen, zum Beispiel, dass es auch gerecht besteuert.
Diesen Anspruch sollten wir haben, aber es spricht
nichts gegen Steuervereinfachungen.
({4})
Sie sagen, Sie würden jetzt etwas für die Existenzgründer machen. Da wollen wir mal genauer hinschauen.
Wir haben in Deutschland eine Gründungsmisere. Es
gibt nach wie vor große Hemmnisse, sich selbst als
kleiner Gründer, als kleine Gründerin auf den Weg zu
machen. Die von Sigmar Gabriel eingesetzte Expertenkommission hat Ihnen ja mitgegeben, dass der Abbau
bürokratischer Hemmnisse für Gründer eine der wesentlichen Innovationsbedingungen für Deutschland ist. Ich
bin mal gespannt, was Sie dann tatsächlich machen.
Wir haben Ihnen vorgeschlagen, Lotsen einzuführen
und die Idee von One-Stop-Shops weiterzuentwickeln,
dass also ein Gründer von einem Lotsen durch unser
System geführt wird und er sich nicht selbst bei sämtlichen Stellen melden muss. Überlegen Sie, wie Sie die
Arbeitsstättenverordnung etwas smoother gestalten können. Überlegen Sie, ob Gründer unbedingt von Anfang
an eine monatliche Umsatzsteuervoranmeldung vornehmen müssen. Da gäbe es einiges zu tun, um einem Gründer Luft und Raum zu geben, seine Ideen zu entwickeln,
anstatt gleich mit der deutschen Bürokratiekeule zu
kommen und ihn damit zu erschlagen.
Sie alle haben gesagt, dass entsprechende Regelungen
im Gesetzestext stehen. Ehrlich gesagt: Wir haben sie
nicht gefunden. Das steht da nicht drin. Wenn wir uns
hier darauf einigen können, dass dies die erste Lesung ist
und sich bis zur zweiten Lesung noch etwas verändert,
dann ist das wunderbar. Wir machen in unserem Antrag
Vorschläge, wie man dem Gründungsgeschehen in
Deutschland Raum geben kann. Ich hoffe sehr, dass Sie
da den einen oder anderen Vorschlag übernehmen.
({5})
Jetzt zum Zankapfel Mindestlohn. Für uns ist der
Mindestlohn nicht zu diskutieren. Ich bin froh - wir hatten ja auch zugestimmt -, dass wir jetzt in Deutschland
den Mindestlohn haben. Wir haben aber an einer Stelle
immer Kritik geübt, und zwar haben wir gefragt, warum
die Dokumentationspflicht beim Mindestlohn, die nun
mal auch Bürokratie nach sich zieht, weil die Unternehmen aufschreiben müssen, wann ein Arbeitnehmer angefangen und aufgehört hat zu arbeiten, bis zu einem Einkommen des Beschäftigten von 2 958 Euro pro Monat
besteht. Das entspricht im Falle des Mindestlohns einer
Arbeitszeit von 348 Stunden im Monat, ungefähr 15 pro
Werktag. Der Vorschlag war: Setzen Sie doch die Einkommensgrenze herunter. Dann erfassen Sie immer
noch jeden Einzelnen, der Anspruch auf Mindestlohn
hat; aber Sie entlasten an einer Stelle, an der Bürokratie
wirklich unnötig ist. Diese Bürokratie ist im wahrsten
Sinne des Wortes nicht nötig.
Ihre Bundeskanzlerin
({6})
hat am 21. Januar 2015 gesagt: „Wir schauen uns das
jetzt drei Monate an …“ - Dazu steht aber nichts in Ihrem Gesetzentwurf. Ich bin gespannt, ob Sie es sich
wirklich mal anschauen, ob Sie wirklich sagen: Ja, an
der Stelle können wir entlasten, ohne auch nur einen
Deut am Mindestlohn zu rütteln. - Wir werden nicht zulassen, dass Sie am Mindestlohn rütteln. Aber wenn Sie
unnötige Bürokratie abbauen, haben Sie uns an Ihrer
Seite.
({7})
Schließlich will ich, weil meine Redezeit abgelaufen
ist, ganz kurz unsere Forderungen benennen: eine Steuergutschrift für Forschungs- und Entwicklungsausgaben
kleiner Unternehmen einführen, Möglichkeiten für junge
Asylsuchende schaffen, ihre Ausbildung hier mit einem
sicheren Status durchzuführen, E-Government konsequent einführen, die Grenze für die Abschreibung geringwertiger Wirtschaftsgüter auf 1 000 Euro anheben,
Sozialausgaben so auszahlen, dass das Ganze an einem
Tag terminiert ist, im Sinne eines One-Stop-Shops eine
einzige Anlaufstelle für Gründerinnen einführen.
Ja, es gäbe viel zu tun. Ich hoffe, dass wir in der Debatte hier ein Stück weiterkommen. Wir haben viele Vorschläge für „One out“, aber wir haben auch viele Vorschläge für „One in“.
Vielen Dank.
({8})
Für die SPD-Fraktion hat jetzt Andrea Wicklein das
Wort.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Bürokratie durchdringt unser Leben. Egal ob
wir einen Kredit oder Pflegeleistungen für unsere Eltern
beantragen, eine Firma gründen oder einen Baum fällen
wollen, ob wir Fördermittel oder BAföG in Anspruch
nehmen oder eine Wohnung mieten wollen - alles hat
mit Bürokratie zu tun.
Fast jedes neue Gesetz, das wir beschließen, schafft
neue Bürokratie. Es erfordert in seiner Durchführung
Verwaltungsaufwand, Kontrollaufwand oder Beantragungsaufwand, Informations- oder Nachweispflichten.
Egal, ob wir den Mindestlohn einführen, höhere Standards für Lebensmittel oder Vorschriften für Arbeitsstätten oder den Schutz von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern erlassen - alles ist mit Bürokratie verbunden.
Bürokratie ist notwendig; denn Gerechtigkeit in unserem Land erfordert klare Regeln und Vorgaben.
({0})
Wir sollten uns deshalb, bevor wir von Bürokratieabbau
sprechen, den hohen Stellenwert von notwendiger Bürokratie bewusst machen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bin sehr froh,
dass wir heute die Gelegenheit haben, über die Themen
„überflüssige Bürokratie“ und „bessere Rechtsetzung“
im Plenum zu prominenter Zeit zu sprechen. Das ist ein
gutes Signal; denn es zeigt, dass der Deutsche Bundestag
die Bürgerinnen und Bürger und die Unternehmerinnen
und Unternehmer ernst nimmt, wenn sie bestimmte Regelungen oder deren Vollzug als Belastung empfinden:
nämlich dann, wenn Anträge zu kompliziert oder zu lang
und von Einzelnen kaum noch zu bewältigen sind oder
aber Berichts- und Informationspflichten zu viel Arbeitsund Lebenszeit in Anspruch nehmen - oder auch, wenn
Gesetze zu schwer verständlich sind und in ihrer Umsetzung einen zu hohen Verwaltungsaufwand erfordern.
Genau darum geht es heute bei der Einbringung des Bürokratieentlastungsgesetzes.
({1})
Wir freuen uns sehr, dass der Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel mit frischem Wind dieses
Thema, welches schon in der letzten Großen Koalition
eine hohe Priorität für uns hatte, nach vorne bringt. Er
hat 21 konkrete Vorhaben vorgelegt, von denen heute
mehrere im Gesetzentwurf stehen. Der Bürokratieabbau
hat mit dem vorliegenden Gesetzentwurf neuen Schub
bekommen, und wir sind an dieser Stelle ganz an der
Seite unseres Wirtschaftsministers.
({2})
Wir freuen uns insbesondere über das Entlastungsvolumen, das erreicht werden konnte. Davon werden gerade
der Mittelstand und Start-ups profitieren. Die Schwellenwerte für Buchführungs- und Aufzeichnungspflichten
sowie für Meldepflichten für Existenzgründer und junge
Unternehmen werden angehoben. Damit wird der Aufwand für rund 150 000 Unternehmen reduziert. Hinzu
kommen weitere Vereinfachungen beim Lohnsteuerabzug für Ehegatten bzw. Lebenspartner und eine Anhebung der Pauschalisierungsgrenze für kurzfristig Beschäftigte. Mit dem jetzt vorliegenden Gesetzentwurf
werden wir unsere Wirtschaft um rund 744 Millionen
Euro im Jahr entlasten.
({3})
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, darüber hinaus hat die Bundesregierung weitere Vorschläge beschlossen, die nicht mit diesem Gesetz geregelt werden
müssen; wir haben heute schon viel darüber gehört.
Wichtig ist auch aus meiner Sicht die „One in, one out“Regelung, weil sie die Bundesregierung verpflichtet,
dann, wenn durch neue Regelungen Belastungen für die
Wirtschaft aufgebaut werden, an anderer Stelle Belastungen abzubauen. Deshalb kann ich die Kritik der Grünen und der Linken an dieser Stelle nicht verstehen. Die
Bürokratiebremse ist in Wahrheit ein Riesenerfolg. Das
wissen auch Sie und sollten ihn nicht kleinreden.
({4})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, mir ist es an dieser
Stelle wichtig, noch über einen anderen Punkt zu reden,
den die SPD-Fraktion sehr gerne mit dem vorliegenden
Gesetzentwurf geregelt hätte. Es handelt sich um die
steuerliche Behandlung geringwertiger Wirtschaftsgüter.
Die SPD-Bundestagsfraktion sieht bei der Anpassung
der Schwellenwerte einen dringenden, längst überfälligen Handlungsbedarf.
({5})
Wer sich als Selbstständiger ein Diensthandy, einen
Farblaserdrucker oder einen Bürostuhl kauft, übersteigt
schnell den bisherigen Schwellenwert von 410 Euro
netto. Nur bis zu dieser Höhe, die übrigens seit Jahrzehnten unverändert ist, ist es aktuell möglich, Wirtschaftsgüter im Jahr der Anschaffung vollständig abzuschreiben. Wir schlagen deshalb eine deutliche Anhebung der
Schwellenwerte für die sofortige Abschreibung geringwertiger Wirtschaftsgüter
({6})
und gleichzeitig die Abschaffung der Poolabschreibung
vor. Das würde zu einer steuerlichen Entlastung führen
und gleichzeitig eine substanzielle Vereinfachung der
Buchführung mit sich bringen und damit die Unternehmen in mehrfacher Hinsicht deutlich entlasten.
({7})
Leider gibt es da noch den Widerstand vom Bundesfinanzminister. Ich hoffe, dass er noch einlenkt.
An dieser Stelle möchte ich ganz herzlich meinem
Kollegen Helmut Nowak von der CDU/CSU-Fraktion
für die gute Zusammenarbeit danken. Wir sind uns einig,
dass in diesem Punkt dringender Handlungsbedarf besteht.
({8})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die SPD wird in der
Koalition beim Abbau unnötiger Bürokratie entschlossen die nächsten Schritte gehen. Wir sind dazu in regem
Austausch mit Gewerkschaften, Wohlfahrtsverbänden
und Vertretern der Wirtschaft. Wir brauchen auch dabei
das Engagement der Bürgerinnen und Bürger. Bringen
Sie sich ein! Machen Sie Vorschläge, wie wir gemeinsam weiter vorankommen! Ich bin sicher, diese Anstrengungen lohnen sich.
({9})
Nächster Redner ist für die Bundesregierung der
Staatsminister Helge Braun.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Welcher Bürger und welcher Unternehmer kennt die
Situation nicht? Man unterschreibt ein Formular, und als
letzter Satz steht unten drunter: Ich bestätige hiermit,
alle Angaben vollständig und richtig gemacht zu haben. - Nicht nur den, der dabei vorsätzlich Betrugsabsichten hat, sondern auch den rechtschaffenen Bürger
oder Unternehmer beschleicht dabei manchmal ein laues
Gefühl, weil die Regeln, die Anforderungen, die dem
Formular zugrunde liegen, so kompliziert sind, dass er
nur hoffen kann, alles richtig gemacht zu haben, aber es
nicht ganz genau weiß. Deshalb ist es ein Kernanliegen
von Politik, dass die Regeln, die Gesetze, die Verordnun10386
gen, die wir beschließen, einfach für den Bürger und für
den Unternehmer anwendbar und verständlich sind. Das
ist kein Nebenthema von Politik, sondern bessere Rechtsetzung ist ein Kernthema guter Politik. Deshalb widmet
sich die Bundesregierung diesem mit großer Hingabe.
({0})
Im Jahr 2006 hat die Große Koalition unter der Kanzlerschaft von Angela Merkel den Normenkontrollrat gegründet und gesetzlich verankert. Jetzt, wieder in einer
Großen Koalition, können wir sagen: Wir haben seit
2006 - auf der rechtlichen Grundlage des Normenkontrollratsgesetzes, aber auch darüber hinaus bei der Entwicklung unserer statistischen Methoden gemeinsam mit
dem Statistischen Bundesamt - die Methoden der Bürokratiemessung und die unabhängige Kontrolle der Daten, die wir produzieren, so weit entwickelt, dass wir dabei methodisch Weltmarktführer geworden sind. Viele
Länder schauen auf uns und lernen von uns, wie man
Bürokratie transparent macht - und auch, wie man welche abbaut.
({1})
Wir haben in der aktuellen Legislatur ein neues Arbeitsprogramm. Wir haben einen Eckwertebeschluss gefasst und jetzt das Bürokratieentlastungsgesetz auf den
Weg gebracht, das konkrete Abbauschritte in der Größenordnung - es ist gesagt worden - von 744 Millionen
Euro enthält. Aber wir entwickeln auch die Methodik
des Bürokratieabbaus weiter: Die Bürokratiebremse
- ein Wort, das ich bevorzuge gegenüber der eher englischen Wendung „One in, one out“ - ist ein zentrales Element dieser methodischen Weiterentwicklung. Dass die
Linken damit ein Problem haben, verstehe ich gut; denn
hinter „One in, one out“, hinter der Bürokratiebremse
steht der Grundgedanke, dass die Wirtschaft, dass die
Unternehmen, dass die Unternehmer Zeit brauchen für
das Wesentliche - Zeit für ihre Kunden, Zeit für die Ausbildung von Azubis, Zeit für die Entwicklung neuer Produkte - und weniger Zeit aufwenden sollten für das Ausfüllen von Formularen und dem Nachkommen von
Berichtspflichten.
({2})
Weil wir Unternehmer entlasten wollen, haben wir
beschlossen, dass wir in dieser Legislaturperiode keine
Steuern erhöhen und trotzdem keine Neuverschuldung
machen. Dazu tritt jetzt, dass wir als Bundesregierung
ein Versprechen abgeben. Natürlich ist der Bundestag
frei, nach unserem Kabinettsbeschluss das zu beschließen, was er für richtig hält. Aber wir als Bundesregierung stehen Ressort für Ressort zu dem Ziel, dass wir,
wenn wir selber Gesetze initiieren, im gleichen Umfang
Erfüllungsaufwand abbauen wollen, wie wir an anderer
Stelle welchen aufbauen. Das heißt im Klartext: Durch
von uns motivierte Gesetze wird es in Zukunft, ab dem
1. Juli, keine neue Bürokratie in Deutschland geben. Das
ist ein gutes Signal für die deutsche Wirtschaft.
({3})
Eine häufig geäußerte Kritik an dieser Bürokratiebremse ist, dass wir die Eins-zu-eins-Umsetzung europäischer Regeln ausgenommen haben. Das heißt aber
nicht automatisch, dass wir uns nicht auch auf der europäischen Ebene bemühen. Ganz im Gegenteil: Zwar ist
in den letzten Monaten und Jahren durch die Probleme
der Euro-Zone und durch andere EU-außenpolitische
Fragen das Thema „Bürokratie in Europa“ vielleicht ein
bisschen in den Hintergrund getreten; aber wenn wir einmal schauen, was die Menschen im Hinblick auf die Zukunft Europas bewegt, dann sehen wir: Einer der zentralen Kritikpunkte ist, wie wir im Europawahlkampf und
auch sonst immer wieder gehört haben, dass Europa eher
zu viel regelt als zu wenig. Deshalb hat Deutschland gemeinsam mit anderen Staaten, die das ähnlich sehen, im
Zuge der Bildung der neuen Kommission zahlreiche
Vorschläge gemacht, wie wir auch in Europa Bürokratie
reduzieren können.
Der Vizepräsident Frans Timmermans hat jetzt selbst
ein Konzept vorgelegt, das ebenfalls mehr Kontrolle und
ein mit mehr Rechten ausgestattetes Kontrollgremium
vorsieht. Das Ganze wird gerade kritisch im Europäischen Parlament diskutiert. Ich kann für die Bundesregierung sagen - ich hoffe, ich habe dabei die Unterstützung des ganzen Hauses -, dass wir uns wünschen, dass
zumindest das, was Frans Timmermans zum Bürokratieabbau in Europa vorgeschlagen hat, umgesetzt wird. Es
darf gerne mehr sein, aber sicher nicht ein Jota weniger.
({4})
Wir gehen nicht nur die Regelungsvorhaben der Bundesregierung durch, um zu schauen, an welchen Stellen
wir Bürokratie abbauen können, sondern wir befragen
auch Bürger und Unternehmen. In diesem Jahr befragen
wir über 7 000 Bürger und über 3 000 Unternehmen
nach der praktischen Bürokratiewirkung in wichtigen
Lebenslagen, zum Beispiel bei der Einstellung eines
Mitarbeiters oder bei der Anmeldung eines neugeborenen Kindes. Wir wollen wissen, was Unternehmer und
Bürger im Alltag wirklich belastet. Mit diesem Lebenslagenkonzept schließen wir eine Lücke. Bisher haben
wir im Wesentlichen auf die Kosten geschaut. Durch
diese Befragung erfahren wir nun mehr über den Zeitaufwand, über die gefühlte Bürokratie und über die
Dauer von Verfahren.
Wir schauen also unter diesen Gesichtspunkten auf
unsere neuen Gesetzentwürfe. Damit sind wir - ich habe
es gesagt - Weltmarktführer. Jeder Spiegelstrich eines
neuen Gesetzes wird haargenau bilanziert. Dafür können
wir dem Statistischen Bundesamt nur dankbar sein. Dass
dieses Vorgehen Erfolge zeitigt, wird daran deutlich,
dass wir den Bürgern in Deutschland im letzten Jahr
quasi 8 Millionen Stunden Zeit zurückgegeben haben.
Ich glaube, das ist eine gute Botschaft, auch wenn wir im
Bereich der Wirtschaft noch große Aufgaben vor uns haben.
({5})
Es ist noch viel zu tun. Meine Kollegin Frau Gleicke
hat es eingangs angesprochen: Eine Gruppe, die uns bei
diesem Bürokratieentlastungsgesetz besonders am Herzen liegt, sind die jungen Unternehmen. Wir diskutieren
über die Gründungskultur in unserem Land und darüber,
wie wir es schaffen können, dass mehr Menschen den
Mut haben, ein Unternehmen aufzubauen. Wir können
feststellen, dass diese Unternehmen, gerade wenn es um
Hoch- und Spitzentechnologie geht, viele Menschen einstellen, sehr große Erfolge erzielen und in Krisenzeiten
wesentlich stabiler sind als andere. Deshalb müssen wir
den Gründergeist in Deutschland fördern.
Dieses Bürokratieentlastungsgesetz sieht vor - wir
sind alle Gesetze durchgegangen -, dass junge Unternehmen in den ersten drei Jahren nach Möglichkeit von
Berichtspflichten entlastet werden. Wir haben aber auch
festgestellt, dass man jungen Unternehmen nicht alle Berichtspflichten ersparen kann. Die Berichtspflichten, die
wir ihnen ersparen können, ersparen wir ihnen jedoch.
Zum Schluss möchte ich noch einen Vorschlag unterbreiten, einen Vorschlag, der nicht in diesem Gesetzentwurf stehen kann, weil er nicht allein vom Bundestag beschlossen werden kann. Zur Umsetzung dieses
Vorschlags brauchen wir die Unterstützung der Länder
und der Kommunen. Das können wir nur gemeinsam
schaffen. Wir schlagen vor, dass wir uns auf allen staatlichen Ebenen auf das Prinzip verständigen, dass junge
Unternehmen, wenn sie in den ersten drei Jahren hinsichtlich der verbleibenden Berichtspflichten Fehler machen, beraten und nicht bestraft werden. Das wäre,
glaube ich, ein wichtiger Schritt zur Verbesserung der
Gründungskultur in Deutschland.
Ich bedanke mich bei Ihnen allen für die Unterstützung beim Bürokratieabbau. Wir haben viel getan, aber
es ist auch noch viel zu tun.
({6})
Thomas Gambke ist der nächste Redner für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Wer hat als Bürger nicht
schon mal gestöhnt beim Ausfüllen einer Lohnsteuererklärung oder beim Anmelden des Autos? Auch Unternehmen melden immer wieder zurück: Bürokratieabbau
steht auf Platz Nummer eins oder zwei der Dinge, die
wir als Politiker im Auge haben sollten. Insofern ist dieses Gesetz sehr wichtig; das ist schon gesagt worden.
Eine Debattenzeit von 96 Minuten ist angesichts der Bedeutung dieses Themas durchaus gerechtfertigt, Herr
Schlecht. Wir müssen aber fragen: Ist das, was uns hier
vorgelegt wurde, genug? Ist das ambitioniert genug,
wenn man den Bürokratieabbau als so wichtiges Ziel beschreibt? Diesbezüglich melde ich ernsthafte Zweifel an.
({0})
In den letzten Jahren wurden Bürokratiekosten von
immerhin 12 Milliarden Euro abgebaut. Der Herr Staatssekretär hat es erwähnt: Der Normenkontrollrat hat dabei
eine wichtige Rolle gespielt; denn die Messbarkeit, die
der Normenkontrollrat herstellt, ist eine wichtige Voraussetzung, um Veränderungsprozesse zu begleiten.
Aber Messbarkeit alleine, Herr Staatssekretär, ist nicht
genug. Sie müssen sich - jetzt wende ich mich an die
Große Koalition - auch Ziele setzen, und zwar ambitionierte Ziele. Aber die setzen Sie sich nicht.
In der letzten Großen Koalition gab es das 25-Prozent-Bürokratieabbauziel. Jetzt gibt es überhaupt kein
Ziel mehr. Das ist doch beschämend. Diese „One in, one
out“-Regelung, die gut klingt und sicher auch ein vernünftiger Ansatz ist, ist nichts anderes als Rosstäuscherei. Der Kollege Fuchs hat dies mit seinen Ausführungen
sehr schön gezeigt. Herr Dobrindt sagt: Grüß Gott! Aber
die Maut wird aus die Regelung herausgenommen. - Sie
haben entschieden, dass alle Gesetze bis zum Sommer
dieses Jahres nicht unter die „One in, one out“-Regelung
fallen. Das ist doch eigentlich eine Täuschung. Sie täuschen den Bürger und uns.
({1})
Sie haben jetzt, praktisch als Entlastung, Ihr Bürokratieabbaugesetz vorgelegt. Wir wollen fair sein: Es ist
nicht schlecht. Es sind richtige Elemente dabei. Überflüssige Berichts- und Statistikpflichten werden abgeschafft. Am Ende soll eine Entlastung von rund 750 Millionen Euro stehen. Auch wenn ich die präzise Angabe
von 744 Millionen Euro etwas anzuzweifeln wage,
möchte ich sagen: Das ist ein guter Ansatz. Aber schöpfen Sie das Potenzial aus?
Ich war von dieser Debatte wirklich überrascht. Ich
hatte etwas ganz anderes vorbereitet, nämlich auch die
Behandlung des Themas „Geringwertige Wirtschaftsgüter“. Dazu gibt es einen Antrag von uns. Dem brauchen
Sie eigentlich nur zuzustimmen. Das kann mit drei Federstrichen gemacht werden. Herr Kollege Fuchs, ich
bin 1990 kaufmännischer Werkleiter geworden und habe
mich mit dem viel zu niedrigen Abschreibungsbetrag
von damals 800 DM, der aus dem Jahre 1964 stammt,
gequält. Mehr als 50 Jahre gibt es diese Schwelle schon.
Wir fordern, sie auf 1 000 Euro anzuheben. Schaffen Sie
außerdem endlich die Poolabschreibung ab! Steuerberater sagen dazu, sie sei ein Arbeitsbeschaffungsprogramm.
({2})
Gerade die kleinen und mittleren Unternehmen, die Sie
ja anführen, fragen sich: Soll ich eine Poolabschreibung
oder eine Einmalabschreibung vornehmen? Was ist
günstiger? - Gerade kleine und neu gegründete Unternehmen werden hier gequält.
({3})
Aber Sie stellen sich hier hin und sagen: Herr Schäuble
will das nicht. - Es geht doch nur um Liquidität. Sie
sprechen immer von den sprudelnden Steuerquellen. Ja,
dann handeln Sie doch auch einmal entsprechend!
({4})
Ich war, wie gesagt, schon etwas verwirrt, dass Sie diesen Vorschlag nicht umsetzen.
Herr Fuchs, wir Grüne werden ja oft kritisiert.
({5})
Wir werden kritisiert für unseren Ruf nach Kontrollen.
Aber ökologische und soziale Rahmensetzungen erfordern Transparenz, und Transparenz erfordert schlicht
und einfach, dass man auch Kontrollen durchführt. Sonst
funktioniert das nicht; das wissen wir.
Wenn es um Bürokratie geht, steht an erster Stelle das
Finanzministerium. An zweiter Stelle steht das Justizministerium. Dann folgt das Gesundheitsministerium,
dann das Wirtschaftsministerium, und ganz zum Schluss
kommen das Umwelt- und das Arbeitsministerium; so ist
es. Wenn lamentiert wird, dass ökologische und soziale
Rahmensetzungen überbordende Bürokratie erfordern,
so entspricht dies schlicht und einfach nicht den Tatsachen.
({6})
Vom Finanzministerium wurde über eine Gelangensbestätigung entschieden - nur die Unternehmen werden
wissen, was das bedeutet -, ein Monster, das zurückgenommen werden müsste. Herr Schäuble hat es fertiggebracht, bei der nahezu einzigen Änderung im Bereich
der Mehrwertsteuer, die übrigens das Europäische Parlament an uns herangetragen hat, eine Ausnahme zu schaffen, und zwar für Holzrückpferde.
({7})
- Für Holzrückpferde, Herr Heil; das sollten Sie sich
einmal ansehen. - Auch Hörbücher sind ausgenommen.
Hier hat man noch weiter differenziert und noch mehr
Bürokratie geschaffen. Gehen Sie endlich zu Ihrem Finanzminister, reden Sie mit ihm über die heutige Situation, und beschließen Sie Maßnahmen, die Sie umsetzen
können und dann auch umsetzen sollten!
Bei Selbstständigen - wir haben es gesagt - muss
man genau hingucken. Hier ist noch viel Raum für Entlastung vorhanden. Allein eine Änderung bei den geringwertigen Wirtschaftsgütern soll nach Aussage des DIHK
rund 350 Millionen Euro bringen.
Wenn Sie sich hier also ambitionierte Ziele setzen,
dann sind wir dabei, und wenn Sie sie umsetzen wollen,
dann sind wir auch dabei. Reden Sie jetzt nicht, sondern
handeln Sie!
({8})
- Nein.
Ich erteile dem Kollegen Hubertus Heil für die SPDFraktion das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es gibt diesen schönen Satz: Wenn es nicht notwendig ist, ein Gesetz zu machen, dann ist es nicht notwendig, ein Gesetz zu machen.
({0})
- Herr Kollege Grosse-Brömer ist belesen und weiß,
dass er von Montesquieu ist.
({1})
Genau da liegt das Problem. Dieser schöne, einfache
Satz ist Gegenstand von Streitigkeiten, wenn es darum
geht, zu entscheiden, was notwendig ist. Es ist in einem
politischen Wettstreit aber auch vernünftig, darüber zu
debattieren, welche Gesetze notwendig sind: Ist es notwendig, ein Pkw-Maut-Gesetz zu machen, oder nicht?
Ist es notwendig, die Vorratsdatenspeicherung durchzuführen, oder nicht? Ist es notwendig, einen Mindestlohn
einzuführen, oder nicht? Das wird im demokratischen
Wettstreit immer auch Gegenstand von Diskussionen
sein.
Wir müssen uns nicht die Frage stellen, ob es notwendig ist, dass der Gesetzgeber Regeln setzen darf, sondern
wir müssen die Frage stellen, ob sie verhältnismäßig
sind. Ist es überbordende Bürokratie? Drückt diese Bürokratie die Menschen an die Wand? Nimmt sie den Unternehmerinnen und Unternehmern Spielräume? Oder
gibt es auch Regelungen, die vernünftig sind?
Wenn man Befürworter eines starken und handlungsfähigen Rechtsstaates ist - ich bin das -, dann kommt
man nicht umhin, festzustellen, dass sich der Rechtsstaat
selbst ad absurdum führen würde, wenn er einen Wust an
Regeln aufbaut, den keiner mehr überblicken kann, an
dem die Menschen verzweifeln und der in der Realität
von den Menschen nicht mehr ernst genommen wird. Sie
sagen: „Das sind so viele Regeln, dass ich das gar nicht
mehr nachvollziehen kann“, und fragen sich, ob sie das
überhaupt noch ernst nehmen sollen. Für unser demokratisches Gemeinwesen ist der Abbau unnötiger Bürokratie ein notwendiger Schritt, um die Handlungsfähigkeit
und die Akzeptanz demokratischer Politik in unserem
Rechtsstaat zu stärken.
({2})
Das gilt in besonderem Maße in Bezug auf die Wirtschaft in unserem Land. Wer mit Unternehmerinnen und
Unternehmern redet - mit kleinen und mittleren zumal und fragt, wo der Schuh drückt, der erfährt, dass sich die
Hubertus Heil ({3})
Prioritäten in vielen Bereichen binnen Jahresfrist oder
auch innerhalb von Jahrzehnten ändern. Topthemen sind
heute die Fachkräftesicherung und die Frage, wie es mit
den Energiepreisen und der Energiesicherheit weitergeht.
Ein Dauerbrenner seit vielen Jahren und Jahrzehnten
ist aber das Klagen über bürokratische Belastungen. Die
Relation - mein Vorredner von den Grünen hat sie zu
Recht genannt - dürfen wir an dieser Stelle nicht verschweigen. Ungefähr 70 Prozent der Bürokratie, mit der
kleine und mittlere Unternehmen in diesem Land zu
kämpfen haben, ist Steuerbürokratie. Darauf komme ich
gleich noch einmal. Kollege Fuchs, diese Relation müssen wir im Blick behalten.
Wir müssen über alles und auch über alle Bereiche reden. Auch die Sozialdemokraten stellen sich nicht schützend vor unnötige Bürokratie. Wir müssen darüber reden, was sozusagen der Schwerpunkt dessen ist, was
Unternehmen - vor allen Dingen auch Existenzgründer
und junge Unternehmer - belastet.
Deshalb ist dieser Gesetzentwurf heute ein Anfang
und ein wesentlicher Schritt in dieser Legislaturperiode.
Er reiht sich ein bisschen - Herr Kollege Braun und Frau
Kollegin Gleicke haben darauf hingewiesen - in eine
Tradition der letzten Großen Koalition ein. Damals ist der
Normenkontrollrat geschaffen worden, der den Gesetzgeber natürlich nicht ersetzen kann, der aber die Regierung
und vor allem das Parlament bei der Frage beraten kann,
ob Gesetze in Bezug auf den Erfüllungsaufwand verhältnismäßig ausgestaltet sind.
Bei aller Skepsis, die es damals bei der Etablierung
dieses Normenkontrollrates gegeben haben mag, sind
wir inzwischen alle miteinander froh, dass es ihn gibt. Er
sagt manchmal auch Dinge, die einem nicht schmecken,
weil man politisch anderer Meinung ist. Aber es ist vernünftig, sich das anzuhören und sich als Parlamentarier
bei der Formulierung von Gesetzentwürfen ständig zu
fragen, ob es wirklich notwendig ist, das so auszugestalten, oder ob es an der einen oder anderen Stelle nicht
eine Nummer kleiner geht.
Die Mittelstandsgesetze und der Normenkontrollrat
als Ergebnis der letzten Großen Koalition sind auch verantwortlich dafür, dass wir jetzt diese Diskussion führen.
Viele Vorschläge des Normenkontrollrates hat Bundesminister Sigmar Gabriel aufgenommen, und es lässt sich
sehen, was wir an dieser Stelle schaffen.
Noch einmal: Ich behaupte nicht, dass das das Ende
der Fahnenstange ist, aber allein durch den Abbau von
Statistik-, Buchführungs- und Aufzeichnungspflichten
können wir die Unternehmen in diesem Land nach Bestätigung des Normenkontrollrates jährlich um 744 Millionen Euro entlasten. Das ist ein Stück Investitionsanreiz in diesem Land - wenn Sie so wollen, ein
Konjunkturstimulus -, ohne dass wir in die Haushaltskasse greifen müssen. Das ist ein vernünftiger Schritt.
({4})
Wir entlasten vor allen Dingen Existenzgründer und
junge Unternehmen von statistischen Meldepflichten.
Ich gebe zu: Auch in diesem Bereich kann und muss
man mehr machen. Wir haben beispielsweise über die
Rahmenbedingungen für Existenzgründungen und für
das Wachstum junger Unternehmen insgesamt zu reden,
Stichwort „Wagniskapitalgesetz“. Ich finde, auch in diesem Bereich ist das Bundesfinanzministerium mit in der
Verantwortung, dass wir vorankommen. Aber immerhin:
Der Abbau von Statistikpflichten hilft den Unternehmerinnen und Unternehmern, vor allem den jungen Leuten,
die sich in die Selbstständigkeit aufgemacht haben, ganz
konkret.
Des Weiteren ist die bereits angesprochene Bürokratiebremse nach dem Prinzip „One in, one out“ vorgesehen. Herr Kollege Braun, ich nehme an, dass man diesen
Anglizismus deshalb verwendet, weil die Regelung aus
Kanada stammt. Ich gebe zu: Wir müssen damit Erfahrungen sammeln. Denn ich glaube, dass in vielen Ministerien erst durch die Praxis deutlich wird, was das tatsächlich bedeutet. Es ist sehr anspruchsvoll, in jedem
Ressort darauf zu achten, dass man für jedes neue Gesetz
den Erfüllungsaufwand ermittelt und ihn bei bestehenden Gesetzen entsprechend reduziert, und zwar möglichst im selben Politikfeld. Das ist eine Selbstverpflichtung der Regierung - das steht außer Frage -; es hat für
den Gesetzgeber keinen Verfassungsrang. Aber es wird
hochspannend, zu sehen, was demnächst daraus an Gesetzesvorlagen der Regierung erwächst. Wir werden das
jedenfalls im Blick behalten.
Ich finde, das ist ein sehr spannender Ansatz, der nach
vorne weist. Manche wünschen sich eine rückwirkende
Geltung. Das ist bei Dingen, die man nicht mag, politisch verständlich. Ob die Pkw-Maut dauerhaft Bestand
hat, entscheidet wahrscheinlich nicht die „One in, one
out“-Regelung, die, wie gesagt, nicht rückwirkend wirkt.
Die Pkw-Maut ist jetzt Gegenstand der Diskussion auf
europäischer Ebene. Das Ergebnis bleibt abzuwarten.
Wir haben mit dem Prinzip etwas etabliert, was sich
sehen lassen kann. Ich bin sehr gespannt, wie es in der
Praxis funktioniert.
({5})
Im Zusammenhang mit dem Gesetzentwurf müssen
wir uns auch mit der Frage der geringwertigen Wirtschaftsgüter befassen. Ich stelle in dieser Debatte fest,
dass bis auf die Linken, die dazu offensichtlich keine
Meinung haben, alle Fraktionen übereinstimmend der
Meinung sind, dass in diesem Bereich eine Anpassung
notwendig ist. So habe ich die Einlassungen des Kollegen Fuchs verstanden, und die Kollegin Andreae hat es
ebenso ausgeführt wie die Kollegin Wicklein aus meiner
Fraktion, der ich übrigens sehr dankbar dafür bin, dass
sie sich seit vielen Jahren intensiv um das Thema kümmert. Sie alle haben völlig recht. 1964 war das Referenzjahr für die Möglichkeit, geringwertige Wirtschaftsgüter
mit damals 800 D-Mark - das entspricht etwa 400 Euro abzusetzen. Eine Änderung in diesem Bereich könnte
tatsächlich auf einen Schlag einen Stimulus für Investitionen geben. Das ist nämlich zurzeit unser Hauptthema.
Wir setzen ganze Kommissionen ein, die sich mit der
Hubertus Heil ({6})
Frage befassen, wie wir die öffentlichen, aber auch vor
allen Dingen die privatwirtschaftlichen Investitionen in
Deutschland unterstützen. Wir können und müssen hier
etwas tun.
Es ist richtig, dass es sich gesamtwirtschaftlich rechnet, wenn wir an dieser Stelle ein bisschen lockerlassen.
Deshalb ist meine Bitte in der heutigen ersten Lesung,
dass wir uns im Gesetzgebungsverfahren diesen konkreten Punkt vornehmen und sagen: Wir können und müssen an dieser Stelle ein bisschen lockerlassen. - Die
SPD-Fraktion reicht auch der Unionsfraktion dazu die
Hand. Wir werden das auch im Rahmen der Anhörung
miteinander zu diskutieren haben.
({7})
Herr Kollege.
Ich komme zum Schluss, Herr Präsident. - Ich hatte
am Anfang gesagt: Wenn ein Gesetz nicht notwendig ist,
ist ein Gesetz nicht notwendig. Wir werden weiter darüber streiten, welche Gesetze notwendig sind. Es geht
um Freiraum für Bürgerinnen und Bürger und für die
Wirtschaft in diesem Land. Deshalb ist es ein ehrenwertes Anliegen, und ich finde, dass wir heute einen großen
Schritt nach vorne gehen.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({0})
Helmut Nowak hat nun das Wort für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auf gigantische 200 Milliarden bis 300 Milliarden Euro jährlich
schätzt der Nationale Normenkontrollrat die gesamte
durch gesetzliche Auflagen verursachte Kostenbelastung
der Unternehmen in Deutschland. Das wurde bereits angesprochen. Allein etwa 43 Milliarden Euro, so das Statistische Bundesamt, entfallen im Jahr 2015 auf Regelungen der Bundesebene. Über 17 000 Einzelregelungen
gelten derzeit für Unternehmen und Bürger.
Keine Frage, ein hochentwickeltes staatliches Gemeinwesen wie die Bundesrepublik Deutschland benötigt eine gut ausgebaute Bürokratie. Dennoch müssen
wir uns fragen, ob wir nicht hin und wieder zu viel des
Guten tun. Unternehmer und Freiberufler sollen sich
doch in erster Linie um ihre Unternehmung kümmern
und nicht so sehr um die Befriedigung der Statistik.
Angesichts der Unzahl an Berichtspflichten und Meldungen, die bereits kleine Firmen heute zu bewerkstelligen haben, lässt sich durchaus nachvollziehen, dass viele
Menschen in unserem Land schlicht keine Lust haben,
sich selbstständig zu machen. Sicher sind wir uns darüber einig: Ein Land wie Deutschland benötigt eine
leistungsfähige, schnell arbeitende, transparente und vor
allem serviceorientierte Bürokratie. Alles andere wäre
zweifelsohne ein Standortnachteil.
In einer Welt, die zunehmend vernetzter arbeitet, in
der das Internet und digitale Datenverarbeitung Standortentscheidungen von Unternehmen - möglicherweise
auch zu unseren Ungunsten - erleichtern, können wir es
uns schlicht nicht leisten, Unternehmen und Unternehmer mit unnötigen bürokratischen Belastungen zu beschweren und damit auch ihre Kreativität einzuschränken. Wir müssen aufpassen, dass wir neben hohen Lohnund Energiekosten nicht auch noch überbordende Bürokratiekosten produzieren.
Die Wichtigkeit des Themas Bürokratie und Bürokratiekosten dringt zunehmend auch international in den
Vordergrund. Auf europäischer Ebene hat sich die neue
Kommission unter Jean-Claude Juncker eine schlankere
Verwaltung zum Ziel gemacht. Dass die bessere Rechtsetzung und der Bürokratieabbau direkt beim ersten
Vizepräsidenten der Kommission, Frans Timmermans,
angesiedelt wurden, ist sicherlich positiv. Denn das bedeutet ja auch für uns gegebenenfalls weniger Bürokratie.
Juncker hat recht, wenn er sagt: Nicht jedes Problem
in Europa ist ein Problem der EU. - Ölkännchen, Duschköpfe und Fahrtenschreiber sind Paradebeispiele europäischer Regelungsfantasie. In diesem Zusammenhang
freut es mich außerordentlich, dass Edmund Stoiber
seine höchst erfolgreiche Arbeit in Brüssel als Sonderberater für bessere Rechtsetzung fortsetzen kann.
({0})
Immerhin hatten die Vorschläge seiner Kommission ein
Entlastungsvolumen von 41 Milliarden Euro. 33 Milliarden Euro davon konnten zwischen 2006 und 2012 tatsächlich schon als Entlastung verzeichnet werden.
({1})
In Deutschland muss es uns künftig gelingen, die Erfüllungsaufwandskosten für neue Gesetze noch frühzeitiger zu erkennen. Hilfreich wäre hierzu, wenn die
belastbaren Zahlen zum Erfüllungsaufwand gesetzgeberischer Entscheidungen kurzfristig nach dem Kabinettsbeschluss über den Normenkontrollrat zu uns kämen,
wenn wir als Abgeordnete auch Zahlen vom NKR bekämen, die bereits den zusätzlichen Erfüllungsaufwand
enthalten, der durch unsere Gesetzentwürfe entsteht. Zur
Politik gehört, dass man Dinge gestalten und verändern
möchte. Zur Grundlage jeder politischen Entscheidung
gehört aber meines Erachtens auch, dass man über die
Kosten seiner eigenen Wünsche und Entscheidungen unterrichtet ist. Außerdem wäre eine spätere Überprüfung
nach Beendigung des parlamentarischen Verfahrens auf
Grundlage der korrekten Kostenbasis wesentlich genauer.
Wir wollen die Wirtschaft von unnötiger Bürokratie
befreien. Das Bürokratieentlastungsgesetz der Bundesregierung setzt an der richtigen Stelle an. Ein Schwerpunkt dieses Gesetzes ist die Entlastung insbesondere
kleiner und mittlerer Unternehmen sowie von Existenzgründern. So werden mehr kleine Firmen als bisher von
Buchführungs- und Aufbewahrungsfristen befreit, was allein Einsparungen in Höhe von - dies wurde schon mehrfach gesagt - über 700 Millionen Euro bringen wird. Existenzgründer sollen von Mitteilungs- und Meldefristen
entlastet werden. Hier ist eine effektive Entlastung notwendig. Ich freue mich besonders, dass für diesen Kreis
spürbare Entlastungen vorgenommen werden.
Entlastungen bedeuten dabei nicht - das klang hier
auch schon an -, dass Standards abgebaut oder notwendige Kontrollen verringert werden müssen. Überhaupt
bedeutet Bürokratieabbau nicht, wie so häufig vorgehalten, ein Weniger an staatlichem Schutz für Arbeitnehmer, Umwelt oder im Rahmen von Sicherheitsvorschriften. Wenn wir hier über Bürokratieabbau sprechen, dann
meinen wir ein Weniger an überflüssiger oder gänzlich
überholter Bürokratie.
Übrigens: Wenn wir derzeit bei anderen Ländern in
Europa den Abbau von bürokratischen Hemmnissen fordern, um die Wirtschaft anzukurbeln, dann bleibt anzumerken, dass es nicht unbedingt nachvollziehbar ist, dass
wir im Koalitionsvertrag zwar ein quantitatives Kostenabbau- oder Kostenbegrenzungsziel auf europäischer
Ebene für richtig halten, uns selbst aber national ein solches Ziel für diese Wahlperiode noch nicht gegeben haben.
({2})
Seit 2006 gab es in Deutschland immerhin Bürokratieabbau in einer Größenordnung von 12 Milliarden Euro für
die Wirtschaft. Lassen Sie uns diesen erfolgreichen Weg
weitergehen.
Einen wichtigen Schritt in die richtige Richtung geht
die Bundesregierung auch mit der Einführung der „One
in, one out“-Regelung oder Bürokratiebremse. Kern dieses Ansatzes ist es, in gleichem Maße Belastungen abzubauen, wie durch neue Regelungsvorhaben zusätzlich
entstehen. Das Ziel der Bundesregierung ist dabei, den
Anstieg von Belastungen dauerhaft zu begrenzen, ohne
politisch gewollte Maßnahmen zu behindern. Auch andere europäische Länder gehen diesen Weg. Italien,
Frankreich, Spanien, Litauen und Portugal haben die
„One in, one out“-Regelung schon übernommen. Großbritannien will sogar gleich zwei alte Gesetze abschaffen, wenn ein neues eingebracht wird. Manche reden
sogar vom Wegfall von drei, allerdings mit tausend Ausnahmen.
Um es vorwegzusagen: Meines Erachtens ist „One in,
one out“ bei genauerem Hinsehen kein Allheilmittel,
trotzdem ein wichtiger Schritt in Richtung Vermeidung
eines Bürokratieaufbaus. Gleichzeitig wollen wir aber
auch versuchen, unnötige Bürokratie abzubauen. Einer
aktuellen Studie vom Mai 2015 über „Bürokratie im
deutschen Mittelstand“ zufolge ist nur 1 Prozent der
400 befragten Mittelständler der Meinung, dass sie 2014
einen Rückgang der Bürokratie feststellen konnten, während 70 Prozent eine Zunahme beklagen. 96 Prozent halten die Anzahl der Gesetze und Verordnungen insgesamt
für zu hoch, 65 Prozent beklagen die schlechte Verständlichkeit von Gesetzen. 73 Prozent fordern eine Verbesserung der Zusammenarbeit von staatlichen Behörden und
Unternehmen.
Da ist auch der neue Ansatz der Bundesregierung und
des Koordinators für Bürokratieabbau, Staatsministers
Helge Braun, zu begrüßen, nämlich direkt bei den Betroffenen, den Bürgerinnen und Bürgern und Firmen, zu
fragen: Wo ist Bürokratie besonders unangenehm, nervig
und überflüssig? Nicht zuletzt nach vielen Gesprächen
mit Unternehmen und Verbänden weiß ich, dass für die
meisten Betroffenen die im Bürokratieentlastungsgesetz
aufgegriffenen Themen wichtige Probleme der Wirtschaft adressieren.
Gleichzeitig wird aber auch von fast allen Spitzenverbänden der deutschen Wirtschaft bemängelt, dass die hohe
Dichte an bürokratischen Regelungen und der damit verbundene Kostenaufwand weitere Entlastungsschritte notwendig machen. Hierzu gehören beispielsweise die
Rücknahme der sogenannten Vorfälligkeit und eine Verringerung der Anforderung an Aufbewahrungspflichten
und viele weitere sinnvolle Vorschläge, die wir uns vielleicht in den nächsten Monaten noch einmal vornehmen
sollten.
Ich persönlich mache kein Geheimnis daraus, dass ich
mir noch weiter gehende Vereinfachungen wünsche. Ich
werbe daher bei jeder Gelegenheit - wirklich bei jeder Gelegenheit - nachdrücklich um die Anhebung der Pauschbeträge auf 1 000 Euro bei der Abschreibung für geringwertige Wirtschaftsgüter bei gleichzeitiger vollständiger
Abschaffung der Poolabschreibung.
({3})
Inflationsbereinigt müssten es sogar 1 200 Euro sein.
Das wäre ein deutliches Signal an alle Unternehmen in
Deutschland, zumal die Anpassung des Pauschbetrages
schon seit über einem halben Jahrhundert aussteht. Wenn
Sie heute zum Beispiel ein Smartphone erwerben, müssen Sie dieses über fünf Jahre und damit über eine deutlich längere Spanne abschreiben, als Sie das Handy
überhaupt gebraucht haben. Das entspricht weiß Gott
nicht der Lebenswirklichkeit.
Die Abschaffung der Poolabschreibung würde auch
die komplette Führung von Sachanlagekonten und Listen überflüssig machen, also eine echte Bürokratieentlastung für alle Unternehmen. Ich bin sicher, dass dies
mein Konterpart aufseiten unseres Koalitionspartners
genauso sieht. An dieser Stelle noch einmal herzlichen
Dank für die konstruktive Zusammenarbeit, liebe Frau
Kollegin Wicklein, die ich mit Ihnen gerne auch künftig
weiterführen möchte.
({4})
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, zusammenfassend stelle ich fest: Der von der Bundesregierung vorgelegte Entwurf eines Bürokratieabbaugesetzes ist für die
Betroffenen gut. Er führt in die richtige Richtung und ist
daher zu begrüßen. Wir sollten ihn sogar gemeinsam
noch ein Stück besser machen
({5})
und die Erhöhung des Pauschbetrages für GWGs auf
1 000 Euro unter Wegfall der Poolabschreibung in der
parlamentarischen Befassung noch mit aufnehmen.
({6})
Das wäre eine echte Win-win-Situation: Bürokratiekostenentlastung nach Schätzung des DIHK von circa
385 Millionen Euro - diese Zahl wurde hier schon genannt -, die dann für Investitionen frei würden, und zwar
ohne Verringerung der Steuereinnahmen.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({7})
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der
Kollege Matthias Heider.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Ich will zum Schluss
der Debatte gar nicht erst versuchen, alle guten Argumente, die genannt worden sind, zu wiederholen. Sie
sind in meinen Augen völlig unstrittig.
Wir wissen alle, dass die Erwartungen des Mittelstandes und der Familienunternehmen in Deutschland an
dieses Gesetz und an die folgenden Gesetze hoch sind.
Alle Fraktionen dieses Hauses betonen immer wieder
gerne, dass der Mittelstand das Rückgrat der deutschen
Wirtschaft sei. Angesichts der Regelungsdichte in
Deutschland, die auch aus den verschiedenen Anträgen
hier im Hause spricht, bin ich mir nicht so ganz sicher,
wie ernst es der einen oder anderen Fraktion mit diesem
Vorhaben wirklich ist. Die Regelungsdichte ist so hoch,
dass die Bereitschaft, Unternehmer in diesem Land zu
bleiben oder zu werden, inzwischen relativ gering geworden ist.
Wenn Sie einmal hier im eigenen Haus schauen wollen: Was sagt Ihnen die Zahl 14 838? Genau, das ist die
Anzahl der Drucksachen, die wir in der letzten Legislaturperiode hier produziert haben.
({0})
Es ist nicht so, als wären wir nicht auf diese Informationen angewiesen, aber unter diesen Drucksachen sind einige Hundert Gesetze und Gesetzesänderungen, die wir
hier verabschiedet haben.
Meine Damen und Herren, der Parameter guter Gesetzgebung bemisst sich nicht allein in der Bewertung
der Quantität. Wichtig ist die Qualität. Wichtig ist das,
was an Kosten verursacht wird. Wichtig ist die Abschätzung der Folgen. Bei der Abschätzung der Kosten haben
wir mit dem Standardkostenmodell eine Methode, mit
der wir relativ gut ermitteln können, wie die Belastung
der Wirtschaft ist.
Aber was ist eigentlich mit der Folgenabschätzung?
Schauen wir heute noch genug darauf? Das ist gerade für
Unternehmen, die beispielsweise in der Gründungsphase
sind, besonders wichtig. Wenn bei der Mittelstandsvereinigung der CDU vor kurzem in Berlin über 400 junge
Unternehmer, Gründer und Interessierte zusammenkommen und feststellen, dass die Zugangsvoraussetzungen
zum Markt der digitalen Wirtschaft bei uns so schlecht
sind wie in keinem anderen EU-Land, dann ist das ein
Alarmzeichen, das wir ernst nehmen sollten.
({1})
Die Zukunft unseres Wirtschaftsstandortes hängt davon ab, ob wir es schaffen, ein positives Gründungsklima zu erzeugen, ob wir Menschen dafür begeistern
können, mit ihren Ideen für Arbeitsplätze und für Unternehmensgründungen zu sorgen. Deshalb müssen wir an
dem Abbau der bürokratischen Hürden arbeiten. Estland
macht es uns beispielsweise vor. Dort ist eine Unternehmensgründung online in weniger als 20 Minuten möglich. Ich wage kaum, zu sagen, wie lange das hier in
Deutschland dauert.
Neben den Dokumentations- und Informationspflichten, über die wir schon gesprochen haben, sind es gerade
auch die praktischen Probleme, die den Arbeitsalltag
erschweren. In Deutschland werden jährlich ungefähr
2,9 Milliarden Tonnen Güter per Lkw auf den Straßen
transportiert. In Nordrhein-Westfalen und in BadenWürttemberg sitzt eine Anzahl von großen Anlagen- und
Maschinenbauern, die zum Teil wirklich große und
schwere Maschinen produzieren. Wenn diese eine solch
große Maschine auf die Reise zum Kunden bringen müssen, dann stehen sie in aller Regel vor dem Problem,
dass die nächste Autobahnbrücke, die sie benutzen wollen, überhaupt nicht mehr für eine solche Gewichtsklasse zugelassen ist. Das bedeutet, sie müssen auf Bundes- und Landstraßen ausweichen. Liebe Kolleginnen
und Kollegen von den Grünen in diesem Zusammenhang
- da Sie immer wieder die Maut ansprechen -: Wir gehören nicht zu denjenigen, die sagen, wir müssten keine
nutzergestützte Mitfinanzierung der Straßen haben. Wir
gehören auch nicht zu denjenigen, die sagen, eine halbe
Milliarde Euro sei wenig Geld, sondern wir gehören zu
denjenigen, die sagen, dass wir auch diejenigen an den
Kosten beteiligen müssen, die als auswärtige Teilnehmer
am Straßenverkehr durch Deutschland fahren.
({2})
Sie müssen einen Beitrag zu diesen Kosten leisten.
({3})
Wenn die Unternehmen dann die Landstraßen benutzen, stehen sie vor dem Problem, dass sie von jeder einzelnen Gebietskörperschaft der 20 Kreise und kreisfreien
Städte, durch die sie fahren müssen, die Genehmigung
brauchen. Wenn die 16. oder die 17. Gebietskörperschaft
aus welchen Gründen auch immer dem Lkw-Transport
nicht zustimmt, dann fangen sie in Deutschland mit dem
ganzen Verfahren wieder von vorn an. Meine Damen
und Herren, auch das ist ein Beispiel dafür, wie Bürokratie in Deutschland funktioniert.
Ein anderes kleines Beispiel ist, dass wir in Deutschland für Lastkraftwagen immer noch das Samstagsfahrverbot während der Ferienzeit haben. Die meisten Urlauber fahren freitags in den Urlaub. Samstags sind die
Autobahnen meist leerer als in der Woche. Das ist ein
Grund dafür, auch über dieses Verbot nachzudenken.
({4})
Es schmerzt, wenn man die vielen kleinen Beispiele
sieht. Noch mehr schmerzt es, wenn man die großen
Beispiele wie den Anlagenbau ansieht mit den Umweltauflagen und anlagespezifischen Auflagen, die erteilt werden; all das ist nicht dazu angetan, den Wirtschaftsstandort Deutschland attraktiv zu machen.
Meine Damen und Herren, eines muss man fairerweise sagen: Ein Großteil unserer Arbeitsvorlagen
kommt inzwischen aus Brüssel; Staatsminister Braun hat
dies bereits angesprochen. Vorgaben, die in deutsches
Recht zu transformieren sind, sind der Quell manchen
Übels. Ich will Ihnen gar nicht alle bekannten Beispiele
nennen.
Nur ein Beispiel ist die Richtlinie des Rates zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten
über vor dem Führersitz angebrachte Umsturzvorrichtungen für land- und forstwirtschaftliche Schmalspurzugmaschinen auf Rädern. Allein der Titel ist schon
lang. Die mehreren Hundert Seiten, die diese Richtlinie
umfasst, sind sicherlich nur eingeschränkt lesenswert.
Die Verordnung zur Einfuhr von Karamellbonbons enthält übrigens über 25 000 Worte. Die amerikanische Unabhängigkeitserklärung kommt mit 300 Worten aus. Ein
weiteres Beispiel ist die EG-Maschinen-Richtlinie mit
Hinweispflichten betreffend die sichere Benutzung von
Rolltreppen. All dies gibt uns Fragezeichen bei der Bürokratie auf. 21 000 EU-Verordnungen und Richtlinien
gibt es, niedergeschrieben in 24 Amtssprachen. Sie füllen ganze Regalreihen von Bibliotheken und verursachen einen jährlichen Aufwand in Höhe von 124 Milliarden Euro in der Europäischen Union. Ob das sein muss
und ob das nicht im Rahmen der Folgenabschätzung berücksichtigt werden kann? Unsere Bitte an Brüssel lautet, dass dort etwas zur Entlastung der Unternehmen und
der Bürger in Europa getan wird.
({5})
Lassen Sie mich ein anderes Beispiel nennen. Hier
können gerade Sie von der Fraktion der Grünen zeigen,
dass Sie es mit der Entlastung des Mittelstandes in
Deutschland ernst meinen. Bei den vielfältigen Zulassungsvorschriften, die bei den Freihandelsabkommen
angeglichen werden und zu weniger Aufwand führen
sollen, können Sie beweisen, dass Sie dahinterstehen.
({6})
Das ist ein Beispiel, das belegt, wie Sie konkret zur Beseitigung von Bürokratie beitragen können. Da haben
Sie uns an Ihrer Seite. Da werden wir Sie nach allen
Kräften unterstützen.
({7})
Ob der heutige Tag bei der Bürokratieentlastung eine
Sternstunde des Parlaments ist, entscheiden Sie und ich
nicht heute. Das wird die Zukunft zeigen. Wir werden
das bei der Gesetzgebung prüfen müssen. Wir werden
uns den Erfüllungsaufwand genauer ansehen müssen.
Hoffen Sie bitte nicht darauf, dass das Bundesverfassungsgericht im Rahmen der Normenkontrolle unsere
Gesetze wegen des Erfüllungsaufwands aufhebt. In
Karlsruhe werden nur Rechtsverletzungen geprüft. Wir
müssen den Anspruch an unsere Arbeit haben, nachhaltige Gesetze zu verabschieden. Dieser Anspruch muss
für uns jeden Tag in diesem Haus gelten.
({8})
Lassen Sie uns diese Chance nutzen! Lassen Sie uns die
Wirtschaft entlasten, sie von unnötigen Regelungen befreien und für ein investitionsfreundliches Klima in
Deutschland sorgen! Das ist unsere Aufgabe. Wir als
Union werden unseren Beitrag dazu leisten.
Herzlichen Dank.
({9})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 18/4948 und 18/4693 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Also
sind die Überweisungen so beschlossen.
Dann rufe ich nun den Tagesordnungspunkt 4 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Brigitte
Pothmer, Luise Amtsberg, Ekin Deligöz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
In die Zukunft investieren - Asylsuchende auf
ihrem Weg in Arbeit und Ausbildung unterstützen
Drucksache 18/5095
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({0})
Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss
Auch hierzu ist eine Aussprachedauer von 96 Minuten vorgesehen. - Ich erkenne keinen Widerspruch.
Dann ist das so vereinbart.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der
Kollegin Katrin Göring-Eckardt für die Antragsteller.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Wir sprechen heute über die Verbesserungen beim Arbeitsmarktzugang von Flüchtlingen, von Ausbildung
statt Abschiebung. Wir hatten in der Sitzung unserer
Bundestagsfraktion am letzten Dienstag Leoluca
Orlando, den Bürgermeister von Palermo, zu Gast. Wie
Sie wissen, ist Süditalien eine der strukturschwächsten
Regionen. Die Arbeitslosenquote liegt dort bei 21 Prozent. Insbesondere die Jugendarbeitslosigkeit ist sehr
hoch. Bis Anfang Juni waren schon 103 Menschen per
Boot über das Mittelmeer in griechische und italienische
Hoheitsgewässer gelangt. Der Bürgermeister von Palermo, der vor Ort wirklich eine riesige Leistung erbringen muss, hat zum Thema Flüchtlinge einen Satz gesagt,
den ich von vielen deutschen Politikern gerne hören
möchte: Es gibt kein Flüchtlingsproblem, sondern ein
Problem im Umgang mit Flüchtlingen.
({0})
Deutschland macht sich seine Probleme im Umgang
mit Flüchtlingen selbst. Die deutschen Probleme im Umgang mit Flüchtlingen stammen eigentlich noch aus
dem Jahr 1993 mit der Einführung der Drittstaatenregelung und des Asylbewerberleistungsgesetzes. Aus diesem Geist stammt das gescheiterte Dublin-Regime - das
gibt inzwischen auch der Bundesinnenminister zu -, das
Italien und Griechenland mit den Mittelmeerflüchtlingen
alleinlässt. Aus eben diesem Geist stammen auch die arbeitsmarktpolitischen Beschränkungen. Die Flüchtlinge
könnten ja Arbeitsplätze wegnehmen, Probleme machen
oder gar einen dauerhaften Aufenthalt hier erlangen. Wir
müssen uns endlich von diesem Geist lösen. Wir sind
längst weiter in dieser Republik.
({1})
Dafür reicht es nicht, den Zugang zu Arbeit auf dem
Papier zu öffnen, wenn dann doch ein bayrischer Landrat diesen Zugang verweigern kann. Es braucht Deutschkurse von Anfang an, das heißt Zusagen des Bundes für
diese Deutschkurse, es braucht Zugang zu Sprache, damit tatsächlich Arbeit aufgenommen werden kann; denn
Arbeit und Sprachkenntnisse sind die Garanten für gutes
Zusammenleben in unserem Land. Das wollen wir, das
müssen wir auch wollen. Dafür legen wir heute unsere
Vorschläge vor.
({2})
Das Erste ist, dass wir mehr Berater in den Arbeitsagenturen verlangen; denn die Bundesregierung hat sich
zwar mit Mühen bei der Arbeitserlaubnis bewegt, aber
sie hat vergessen, die Arbeitsverwaltung auch mitwachsen zu lassen. Das bedeutet, dass diese Integration nur
sehr bedingt stattfinden kann. Nur dann, wenn es direktes Engagement vor Ort gibt, das an vielen Stellen da ist,
das alleine aber nicht hilft, und wenn genug Personal
vorhanden ist, kann es gelingen, eine wirkliche Struktur
aufzubauen.
Wir fordern Sprachkurse, und zwar für alle Schutzsuchenden vom ersten Tag an. Eine größere Hürde für den
Zugang zum Arbeitsmarkt für Flüchtlinge als die fehlenden Sprachkenntnisse gibt es nicht. Ehrlich gesagt, was
das Goethe-Institut weltweit macht, wollen wir hier in
Deutschland doch nicht verweigern. Das ist doch völlig
unvernünftig, das versteht doch niemand.
({3})
Es ist so: Asylsuchende und Geduldete sind bislang
von all diesen Angeboten ausgeschlossen. Sie sind es
zum Teil monatelang, sie sind es zum Teil sogar jahrelang; denn das Bundesamt hat nach wie vor nicht ausreichend Personal, trotz aller Bemühungen, die da unternommen worden sind. Wir müssen uns vor Augen
halten: Wir haben im Moment einen Antragsstau von
200 000 Asylanträgen. Da geht es um Menschen, die
Monate warten, um angehört zu werden. Gleichzeitig
werden Monate verschwendet, um sich hier einzuleben
und wirklich hier anzukommen. Das ist und bleibt doch
absurd. Wir lassen Potenziale verkümmern. Warum eigentlich?
({4})
Es geht weiterhin um die Anerkennung ausländischer
Abschlüsse, die unbürokratisch laufen muss. Es geht darum, dass wir nach- und weiterqualifizieren. Auch dafür
braucht es Geld. Das ist allerdings wirklich gut investiertes Geld, gerade angesichts des Fachkräftemangels.
({5})
Wir und Sie stehen dabei an der Seite der Unternehmen,
des Handwerks, der IHK, die zu Recht fordern, dass
Flüchtlinge während der Ausbildung vor einer Abschiebung geschützt sind. Dass dem immer noch nicht so ist,
ist und bleibt absurd.
({6})
Da will ich Ihnen mit ein paar Zitaten helfen: „Den
Flüchtlingen, die in unserem Land Zuflucht suchen, sollten wir eine Perspektive geben.“ - Das fordert der Präsident des Deutschen Industrie- und Handelskammertags,
Eric Schweitzer, und setzt sich deshalb dafür ein, dass es
einen schnelleren Arbeitsmarktzugang und einen humanitären Ausbildungsaufenthalt gibt. Erwerbstätigkeit ab
Erteilung der Duldung ohne Vorrangprüfung, das fordert
der Präsident des BDA, Ingo Kramer. Der Chef des InstiKatrin Göring-Eckardt
tuts der deutschen Wirtschaft in Köln, Michael Hüther,
erklärt:
Besonders problematisch ist es, wenn Flüchtlinge
mit negativem Asylbescheid für einen Wechsel in
die Arbeitsmigration ({7})
erst wieder ausreisen müssen, um einen Visumantrag zu stellen. Warum wird der Statuswechsel nicht
einfach hier vor Ort ermöglicht?
Hier wäre der Schulterschluss mit der Wirtschaft
nicht nur angebracht, er wäre vernünftig, und er würde
tatsächlich allen helfen.
({8})
Deswegen erwarte ich Bewegung, und zwar von allen
und auf allen Seiten. In diesen Tagen wird zwischen
Bund und Ländern weiter verhandelt. Sie müssen hier
endlich liefern. Ich erwarte aber vor allem auch echte
Bewegung von der SPD. Rhetorisch sind die Sozialdemokraten immer an der Spitze der Bewegung. Wenn es
um die Verbesserung der Lage der Auszubildenden geht,
überbieten sich die Ministerpräsidenten der SPD in Forderungen. Einen entsprechenden Gesetzentwurf aus dem
Hause von Frau Nahles gibt es nicht.
({9})
Sigmar Gabriel schafft es sogar, in Flüchtlingsfragen
Opposition und Regierung in einer Person zu sein. Das
muss man erst einmal hinkriegen. Angesichts von
Schlagzeilen wie „Sigmar Gabriel fordert rasche Lösung“ oder „Sigmar Gabriel fordert einen Aufstand der
Zuständigen“ frage ich: Ja, liebe Leute, wer ist denn zuständig? Zuständig ist ja wohl die Bundesregierung.
({10})
Zuständig sind damit der Vizekanzler dieser Bundesregierung und das Bundesarbeitsministerium. Die zuständige Ministerin stellt die SPD.
Dass das Wirtschaftsministerium sich nicht um das
schert, was die Vertreter der Wirtschaft sagen, das ist
wirklich ein Armutszeugnis. Hören Sie auf mit dem Gedröhne, und handeln Sie endlich. Hier lohnt es sich einmal, zu kämpfen, und zwar richtig.
({11})
Ja, alle Beteiligten müssen an einen Tisch, und dazu
gehört es, dass die Kommunen endlich nicht mehr am
Katzentisch sitzen. Dazu gehört es, dass diejenigen, die
die Hauptlast tragen und die es in den allermeisten Fällen wirklich gut machen, auch tatsächlich einbezogen
werden.
Dass Sie es immer noch nicht geschafft haben, die
Zusage vom letzten Jahr umzusetzen und die Gesundheitskarte auf den Tisch zu legen, auch das ist ein Armutszeugnis, und es schafft nicht gerade Vertrauen, nicht
zwischen Bund und Ländern, nicht, was die Bürgerinnen
und Bürger angeht, die sich da engagieren. Diese Zusage
müssen Sie einhalten, weil es um das geht, was die
Flüchtlinge am allermeisten brauchen, nämlich Gesundheitsschutz. Vielleicht sollten Sie einmal auch nur ein
paar Tage mit denen mitgehen, die in den Kommunen
Unterkünfte suchen, die sich darum kümmern, Traumaexperten zu finden, die Leute einspannen, die ehrenamtlich Sprachkurse anbieten.
({12})
Ich kann nur sagen: Wenn das so weitergeht, dann
vergeigen wir das, was wir eigentlich zu Recht „nationale Aufgabe“ nennen. Solange man dieses Problem
nicht versteht und solange man die Flüchtlinge immer
noch als Problem versteht, hat man leider das Problem
insgesamt nicht verstanden. Bewegen Sie sich, und zwar
richtig. Gerade wenn es um den Zugang zu Sprache, zum
Arbeitsmarkt und zu Gesundheit geht - darum geht es
jetzt und hier -, können Sie handeln, und zwar schnell.
({13})
Für die CDU/CSU-Fraktion erhält nun Sabine Weiss
das Wort.
({0})
Verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Ja, Frau GöringEckardt, es ist richtig: Die Integration der zu uns kommenden Menschen als Asylsuchende und Flüchtlinge in
Gesellschaft und Arbeit ist von höchster Bedeutung. Ja,
es ist richtig: Spracherwerb und Anerkennung beruflicher Qualifikation sind wichtig; denn sie sind die Grundlage für eine erfolgreiche Integration. Deshalb bin ich
froh, dass wir dieses wichtige Thema heute diskutieren.
In der letzten Woche haben Sie, Frau Pothmer, in der
Presse schon ordentlich für Ihren Antrag getrommelt. Da
enthielt er allerdings noch konkrete Finanzforderungen
von insgesamt 520 Millionen Euro. Heute wird uns dagegen ein eher weichgespülter Antrag präsentiert, in dessen Begründung nur noch von einem jährlich dreistelligen Millionenbetrag für die Sprachförderung die Rede
ist.
Möglicherweise ist Ihnen mittlerweile bewusst geworden, dass Sie von der aktuellen Entwicklung längst
eingeholt sind.
({0})
Konkret: Heute Abend wird im Kanzleramt das Thema
Asyl- und Flüchtlingspolitik gemeinsam mit allen Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten der Bundesländer - das ist der richtige Weg - beraten.
({1})
Sabine Weiss ({2})
Wir wissen - auch das müssen Sie uns nicht sagen -,
dass die weltweiten Flüchtlingsströme noch nie so groß
waren wie jetzt. Wir wissen auch, dass immer mehr
Menschen auf dem Weg nach Europa sind. Sie wollen in
Sicherheit leben und wollen fern von Bürgerkriegen und
Krisen eine sichere Existenz. Aber die für uns als Zielland vieler Flüchtlinge entstehenden Herausforderungen
müssen eben Bund, Länder und Kommunen gemeinsam
stemmen. Das Konzept dazu wird heute im Kanzleramt
abgestimmt. Dabei werden Maßnahmen für alle Flüchtlinge, Asylsuchende und Geduldete verabredet. Es geht
dabei um ein ganzes Bündel von Maßnahmen: Sprachkurse, Fragen der Bildung und Berufsvorbereitung, Arbeitsmarktintegration, Unterbringung, Gesundheitsversorgung und Personalausstattung der beteiligten Behörden.
Aber schauen wir uns nun einige Forderungen aus Ihrem Antrag etwas genauer an.
Thema Sprachkurse. Sprachkurse gibt es bereits für
unterschiedliche Zielgruppen. Mittel dafür sind bis Ende
2016 eingestellt. Die Ministerin hat für die Zeit danach
bereits weitere Mittel beantragt und setzt sich darüber hinaus auch für ein Bundesprogramm Sprachkurse ein.
({3})
Auch im Bundeskanzleramt werden heute Abend zusätzliche Finanzmittel für Sprachkurse ein wichtiges Thema
sein. Im Übrigen - das als deutlicher Hinweis von meiner Fraktion - kann nicht verlangt werden, dass Sprachund Integrationskurse für alle Menschen, ungeachtet ihrer sicheren Bleibeperspektive, vom ersten Tag ihres
Aufenthaltes an angeboten werden.
({4})
Ein Beispiel: Es gab im Jahre 2014 rund 60 000 Asylbewerber vom Balkan, die zu 99 Prozent keine sichere
Bleibeperspektive in Deutschland erhalten. Sprachkurse
machen aber nur Sinn für die Menschen, die hier auf
Dauer leben werden. Dies entscheidet sich eben nicht
gleich am ersten Tag, sondern das braucht Zeit.
Thema „Qualifikation und Bildungsabschlüsse“. Die
zügige Anerkennung beruflicher Qualifikation ist Sache
der Länder. Im Kanzleramt wird auch heute wieder gemeinsam mit diesen über die Stellenaufstockung in den
zuständigen Behörden und deren adäquate personelle
Ausstattung verhandelt.
({5})
Im Übrigen hilft zum Beispiel das Bundesprogramm zur
frühen Kompetenzanerkennung von Flüchtlingen, Möglichkeiten zur Berufsanerkennung zu erschließen und zu
begleiten - und das ist nur ein Programm von vielen. Die
Überprüfung und Anerkennung von beruflichen Qualifikationen sollten außerdem sehr sorgfältig betrieben werden. Das braucht Zeit. Ich möchte - das am Rande bemerkt - beispielsweise nicht von einem Zahnarzt
behandelt werden, der in Wahrheit nicht den notwendigen Berufsabschluss hat. Es ist also eben kein reflexhaft
populistisches Handeln gefragt, sondern es geht um
Rechtssicherheit für potenzielle Arbeitgeber und deren
Kunden, aber auch für die künftigen Arbeitnehmer
selbst. Wir wollen nicht, dass Arbeitgeber Zuwanderer
und Flüchtlinge nicht oder nicht mehr einstellen, weil sie
Stress, Haftungsfragen, Rechtsunsicherheit und zusätzliche Belastungen fürchten. Denn da gäbe es letztlich nur
Verlierer.
Lassen Sie mich aber noch auf einige Aspekte mit
Blick auf die Entwicklungspolitik eingehen. In der Entwicklungspolitik wird im Zusammenhang mit der wachsenden Zahl von Flüchtlingen und Asylsuchenden immer wieder über die Bekämpfung von Fluchtursachen
gesprochen. Damit ist nachhaltige Entwicklungspolitik
gemeint, also eine Politik, die die wirtschaftlichen und
sozialen Lebensbedingungen der Menschen in ihren
Herkunftsländern so stärkt, dass der Druck abnimmt, das
eigene Heimatland zu verlassen. Dazu gehört auch, dafür
zu sorgen, dass sich die gebildeten und ausgebildeten
Menschen nicht alle auf den Weg zu uns machen müssen, sondern eine Chance erhalten, sich in ihren eigenen
Ländern eine auskömmliche Lebensgrundlage zu schaffen. Damit werden dann auch wieder die Heimatländer,
die Herkunftsländer gestärkt.
({6})
Es gibt viele Länder, in denen durch die Abwanderung Fachkräftemangel entstanden ist: Mehr als ein Drittel der in Südafrika ausgebildeten Ärzte verlässt das
Land wegen einer Arbeit im Ausland. In Kenia herrscht
Ärztemangel, weil kenianische Ärzte nach Großbritannien auswandern. In Simbabwe bricht das Gesundheitssystem zusammen, während 18 000 Krankenschwestern
aus Simbabwe im Ausland arbeiten. Mehr als 20 Prozent
der Hochschulabsolventen in Mosambik und Angola gehen nach der Ausbildung ins Ausland und stehen für den
nachhaltigen Aufbau in ihren Heimatländern nicht zur
Verfügung. All das kann nicht in unserem Interesse sein.
({7})
Deshalb brauchen wir einen ausgewogenen Ansatz
für den Umgang mit dem Zustrom von Menschen aus
dem Ausland. Ein solcher Ansatz muss die Interessen aller betroffenen Menschen wahren, organisatorisch und
finanziell von den zuständigen Stellen umsetzbar sein
und negative Rückwirkungen auf die Herkunftsländer
vermeiden.
Jetzt noch einmal abschließend: Ein solches Konzept
für Deutschland wird heute beim Flüchtlingsgipfel besprochen. Nicht allein der Bund ist hier in der Pflicht
und Verantwortung, sondern alle Akteure. Auch die Länder und die Kommunen müssen gleichgerichtet mitziehen. Und da sind wir dann als Parlamentarier auch in
diesem Hause auf allen Ebenen gefragt.
Deshalb ist der Antrag der Grünen aus meiner bzw.
aus unserer Sicht - abgesehen von inhaltlicher Kritik einfach überflüssig und an dieser Stelle nicht sinnvoll.
Sabine Weiss ({8})
({9})
Lassen Sie uns also gemeinsam mit den Bundesländern
den Einsatz des Bundeskanzleramtes unterstützen und
dafür in der Gesellschaft - jeder in seiner Region, in seinem Wahlkreis - werben.
An dieser Stelle möchte ich die Gelegenheit nutzen
und es nicht versäumen, Dank an die vielen Menschen
überall in Deutschland auszusprechen, die sich ehrenamtlich mit ganzem Herzen um alle Belange der Flüchtlinge und Asylsuchenden kümmern.
({10})
Ich denke, da spreche ich auch im Namen meiner Kolleginnen und Kollegen. Dieses Engagement ist mit keinem
Geld zu bezahlen.
Herzlichen Dank.
({11})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Sabine
Zimmermann für die Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Frau Weiss, ich weiß nicht, woher Sie die Gewissheit nehmen, dass heute Abend beim Kanzleramtsgipfel etwas herauskommen wird. Ich bin mir gar nicht
so sicher, dass sich die Regierung bewegen und den
Kommunen mehr finanzielle Unterstützung - vor allen
Dingen in den Bereichen Unterbringung und Gesundheit - geben wird. Denn da gibt es große Probleme.
Wenn Sie sich das vor Ort anschauen würden, würden
Sie auch wissen, dass es so ist.
({0})
- Nein, ich glaube eher nicht, dass Sie die Realität kennen.
({1})
Meine Damen und Herren, Menschen kommen aus
Not nach Deutschland. Viele von ihnen beantragen Asyl,
weil es für sie lebensgefährlich ist, in ihre Heimatländer
zurückzukehren. Das gilt auch für Mohamed Moussa aus
Syrien. Der schreibt in seiner Geschichte:
Ich bin 41 Jahre alt. … Ich bin Kardiologe. Ich bin
wegen des Kriegs in Syrien nach Deutschland gekommen. Ich hatte einen sehr guten Job in Syrien,
deswegen habe ich nie daran gedacht, nach
Deutschland zu gehen. … Und so habe ich es … gemacht. Weil es keinen anderen Weg gab.
Er ist verheiratet und hat vier Kinder. Seine Kinder und
die restliche Familie sind noch in Jordanien. Er ist der
Erste, der jetzt hierherkommt, und er hofft, dass seine
Familie bald nachkommen wird.
Viele verlassen schweren Herzens ihre Heimat und
begeben sich auf eine gefährliche Reise. Nach vielen
Umwegen in Deutschland angekommen, beantragen sie
Asyl, wollen ein neues Leben beginnen und durch ihrer
Hände Arbeit ihren Lebensunterhalt verdienen. Sie stellen dann aber fest, dass ganz hohe Hürden vor ihnen liegen. Wir alle hier im Saal sollten uns vielleicht einmal
für einen Moment in ihre Lage versetzen und darüber
nachdenken, wie es für uns wäre, wenn wir in der gleichen Situation Hilfe und Unterstützung bräuchten.
({2})
Es braucht Gesetze und Regelungen, die denjenigen
Menschen, die bei uns Schutz, Zuflucht und eine neue
Heimat suchen, helfen und sie nicht weiter ausgrenzen.
Genau deshalb fordert die Linke bei der Aufnahme von
Flüchtlingen eine Integration von Beginn an. Das, was
jetzt hier geschieht, sollte nicht stattfinden.
Wir brauchen auch eine ehrliche Debatte. Wir können
davon ausgehen, dass der größte Teil der Menschen, deren Asylantrag bewilligt wurde oder die geduldet sind,
dauerhaft in Deutschland bleiben wird. Wir als Linke sagen: Unterstützung und Solidarität ist das Gebot der
Stunde, meine Damen und Herren!
({3})
Wir sagen, dass die Menschen, die hierherkommen,
eine große Bereicherung für uns sind. Sie bringen viele
unterschiedliche Kenntnisse, Erfahrungen und Fähigkeiten mit. Wir alle gemeinsam müssen eine Willkommenskultur schaffen, damit Nachbarn miteinander leben und nicht wie Fremde nebeneinander.
Lassen Sie mich nun zum Arbeitsmarkt kommen.
Ende letzten Jahres wurden zwar einige rechtliche Hürden für den Zugang zum Arbeitsmarkt abgesenkt - so
weit, so gut -, aber leider nur abgesenkt und nicht beseitigt. Das ist schlecht, und dazu hätte ich mir einiges
mehr im Antrag von den Kolleginnen und Kollegen der
Grünen gewünscht. Vieles geht in die richtige Richtung.
Das unterstützen wir. Dazu haben auch wir im Januar einen Antrag vorgelegt.
Das Arbeitsverbot wurde nicht abgeschafft, es wurde
nur die Frist von neun auf drei Monate abgesenkt. Aber
leider ist die Realität immer noch eine andere. Denn es
besteht weiter die sogenannte Vorrangprüfung, das heißt:
Wenn ein Flüchtling arbeiten will und einen konkreten
Arbeitsplatz in Aussicht hat, muss die Arbeitsagentur
oder das Jobcenter in den ersten 15 Monaten seines Aufenthaltes prüfen, ob es nicht andere EU-Bürgerinnenund -Bürger gibt, die diese Arbeit auch machen können.
Diese Regelung führt faktisch in die Nichtarbeit, so die
verantwortlichen Arbeitsvermittler. Das ist nicht hinnehmbar, meine Damen und Herren.
({4})
Sabine Zimmermann ({5})
Aber selbst für diejenigen, bei denen die rechtlichen
Einschränkungen nicht greifen, gestaltet sich die Suche
nach einem Arbeitsplatz oder einer Ausbildung sehr
schwierig. Es gibt Unwägbarkeiten und Stolpersteine.
Wie sieht es konkret aus? Natürlich muss der erste
Schritt das Erlernen der deutschen Sprache sein. Aber
wir wissen: Nur eine Minderheit der Asylsuchenden bekommt die Möglichkeit, einen Sprachkurs zu machen.
Zu den Integrationskursen des Bundes haben sie grundsätzlich gar keinen Zugang. Die Bundesregierung muss
dafür sorgen, dass es endlich ausreichend Angebote und
ein Recht auf einen Sprachkurs gibt, meine Damen und
Herren.
({6})
Hinzu kommt bei vielen eine unsichere Perspektive.
Sie wissen oft lange nicht, ob sie wirklich bleiben dürfen. Sie alle können sich doch vorstellen, dass man,
wenn man von Abschiebung bedroht ist, in ständiger
Angst und ständiger Verzweiflung lebt. Wir fordern deshalb schnelle und faire Asylverfahren und ein großzügiges Bleiberecht für langjährig Geduldete. Es darf doch
nicht sein, dass die Menschen, die aus großer Not zu uns
kommen, hier dauerhaft in der Schwebe und in Unsicherheit gehalten werden.
Ein großes Problem sind auch die unzureichenden
Verfahren zur Anerkennung der Qualifikationen und Berufsabschlüsse. Wir sagen: Diese Verfahren müssen
frühzeitig ansetzen und leichter zugänglich sein.
({7})
Auch die Kosten von nicht selten über 1 000 Euro für
Gebühren und Übersetzungen sind für viele Betroffene
eine große Hürde. Sie muss abgeschafft werden.
({8})
Völlig unverständlich ist mir auch, dass Menschen, die
in Ausbildung sind, abgeschoben werden können. Hier
ist eine Änderung der Rechtslage überfällig. Das kann
man doch nicht so lange hinnehmen.
({9})
Meine Damen und Herren, leider muss ich an dieser
Stelle ein bitteres Fazit ziehen: Diese Bundesregierung
ist weit davon entfernt, Asylsuchenden und Geflüchteten
einen uneingeschränkten Zugang zum Arbeitsleben in
Deutschland zu gewähren, von einem sicheren Bleibestatus ganz zu schweigen. Deshalb kann ich Ihnen sagen, dass meine Fraktion keine Ruhe geben wird, dass
wir weiter Druck machen werden, bis sich die Verhältnisse so geändert haben, dass man mit Fug und Recht sagen kann, dass es menschenwürdige Bedingungen für
Asylbewerberinnen und Asylbewerber gibt. Sie können
lachen, aber so ist es. Das ist für mich ein Zeichen, dass
Sie das nicht ernsthaft wollen.
Danke schön.
({10})
Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abgeordneten Daniela Kolbe, SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Geschätzte Kolleginnen
und Kollegen! Vor fast genau einem Jahr stand ich hier
und habe zu genau diesem Thema eine Rede gehalten,
damals zur ersten Lesung des Entwurfs eines Gesetzes
zur Aufhebung des Arbeitsverbotes für Asylsuchende
und Geduldete. Unser Ziel war damals, Geflüchteten
eine möglichst frühzeitige Teilhabe an unserer Gesellschaft durch Integration auf dem Arbeitsmarkt zu ermöglichen und die oft jahrelange erzwungene Untätigkeit von Geduldeten zu beenden. Ich denke, wir alle
waren in den letzten Tagen in Unterkünften für Asylsuchende; wir wissen, dass genau das das Schlimmste ist.
({0})
Die Menschen wollen eigentlich keine Sozialleistung
haben, sie wollen für ihre Familien sorgen und arbeiten.
Mit diesem Gesetz haben wir ihnen das ermöglicht. Es
ist gut für die Betroffenen, es ist gut für die Unternehmen und für die Gesellschaft. Wir haben also eine ganz
klare Win-win-win-Situation geschaffen.
({1})
Heute, ein Jahr später, stehe ich hier an der gleichen
Stelle und muss mich mit Blick auf den Antrag der Grünen und das, was Katrin Göring-Eckardt jetzt gerade und
Frau Pothmer via Welt gesagt haben, des Vorwurfs erwehren, die Bundesregierung sei auf diesem Feld untätig. So ein Quatsch!
({2})
Was haben wir innerhalb dieses Jahres erreicht? Sehr
viel. Innerhalb eines Jahres haben wir die grundsätzlichen Voraussetzungen dafür geschaffen, dass Asylsuchende überhaupt arbeiten können. Das Gesetz ist erst
im November letzten Jahres verabschiedet worden und
im Dezember in Kraft getreten. Erst seitdem können Geduldete und Asylsuchende nach drei Monaten Arbeit
aufnehmen. Nach 15 Monaten besteht auch keine Vorrangprüfung mehr, sondern nur noch die Gleichwertigkeitsprüfung - was vollkommen in Ordnung ist, um
Ausbeutung zu verhindern.
({3})
Jetzt muss ich sagen: Ich bin sehr oft, ja ständig bei meiner BA, im Jobcenter und frage, ob das mit der Vorrangprüfung ein Problem ist. Ich bekomme da andere Antworten als Sie.
({4})
Wenn es nach meiner Fraktion ginge, könnten wir die
Frist von 15 Monaten gerne noch streichen. Aber das ist
nicht der Punkt. Die vorhandene gesetzliche Grundlage
ist wirklich gut.
({5})
Wir müssen noch an der Umsetzung arbeiten - gar keine
Frage -, aber wir haben da Ende letzten Jahres einen
Riesenschritt gemacht.
({6})
Früher, das heißt vor einem halben Jahr, gab es ein
De-facto-Arbeitsverbot. Jetzt gibt es den Wunsch der gesamten Gesellschaft: Leute, die ihr hierherkommt und
Asyl sucht, geht arbeiten! - Das ist ein grundsätzlicher
Paradigmenwechsel in der Flüchtlingspolitik, den wir,
die Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten, erkämpft und erstritten haben und in den Koalitionsvertrag
hineinverhandelt haben, und wir haben ihn umgesetzt.
({7})
Mir ist an der Stelle ein Punkt sehr wichtig: Auch
wenn der Zugang zum Arbeitsmarkt für Flüchtlinge ökonomisch und sozial äußerst sinnvoll ist, reden wir beim
Thema Asyl über ein Grundrecht; wir unterscheiden im
Asylrecht nicht danach, ob jemand gut oder schlecht
ausgebildet ist, sondern danach, ob er oder sie verfolgt
ist oder nicht. Das wird so bleiben, und das ist auch gut
so.
({8})
Gleichzeitig ist es so: Wenn die Menschen einmal da
sind, dann sollen sie ihre Fähigkeiten und Fertigkeiten
- das, was sie mitbringen - in unsere Gesellschaft einbringen können. Frau Pothmer hat recht, wenn sie in der
Welt sagt - das steht auch im Antrag -, dass wir die Rahmenbedingungen noch verbessern müssen, damit die
Menschen tatsächlich arbeiten können. Es liegt auf der
Hand, welche Punkte da anzugehen sind und auch schon
angegangen werden: Vermittlung von Sprachkenntnissen, Anerkennung der Abschlüsse sowie Beratung und
Vermittlung. Das sehen wir auch so.
({9})
Man muss kein Experte sein, um das zu erkennen. Das
wurde schon vor längerem erkannt: Die Bundesagentur
für Arbeit hat bereits Anfang 2014 ein Pilotprojekt auf
den Weg gebracht. Es heißt „Early Intervention“. Da arbeiten BA und BAMF an sechs Standorten zusammen.
Man fragt sich jetzt vielleicht: Warum die BA? Für
Feinschmecker: Es ist, wie alles in Deutschland, kompliziert. Für Asylsuchende ist die Bundesagentur für Arbeit
zuständig; sie gehören also zum Rechtskreis des
SGB III. Wenn sie anerkannt worden sind, sind die Jobcenter im Rechtskreis des SGB II zuständig. Es ist schon
ganz spannend, was wir da mit Menschen veranstalten,
die zu uns kommen. Das wäre durchaus eine Diskussion
wert.
Die BA fragt erst einmal: Was bringt ihr mit? Wir
wissen das nämlich gar nicht so genau. Angesichts des
Paradigmenwechsels vor einem halben Jahr müssen wir
hier tatsächlich noch viel verändern. Wir wissen heute
nicht, welche Ausbildung Flüchtlinge mitbringen. Sie
werden derzeit nur sporadisch gefragt, ob sie freiwillig
angeben möchten, welche Ausbildung sie haben. Im
Rahmen von „Early Intervention“ wird danach gefragt,
und dann wird direkt in die intensive Vermittlung eingestiegen.
Wir müssen uns solche Angebote anschauen, sie verstetigen und erweitern. Das ist genau der Weg, den wir
gehen. Wir können aus den Zwischenergebnissen von
„Early Intervention“ lernen. Es gibt eine Zwischenevaluation, die man sich einmal anschauen kann. Das
Thema der Vorrangprüfung steht da nicht im Mittelpunkt. Ein anderes Thema wird dort ganz massiv angesprochen, nämlich die Frage der flächendeckenden Bereitstellung von Deutschkursen. Das ist der zentrale
Punkt, wenn es darum geht, die Menschen wirklich vermitteln zu können.
({10})
- Genau: Macht es doch! - Da sind wir auch dran. Es
geht einerseits um die Öffnung der Integrationskurse,
das heißt: Grundspracherwerb, damit ich mich draußen
verständigen kann, im Leben zurechtkomme. Im Bundesministerium des Innern wird derzeit über die Öffnung
der Integrationskurse debattiert. Es ist aus meiner Sicht
überfällig, dass auch Asylsuchende Zugang zu Integrationskursen bekommen.
({11})
Über die Details wird noch debattiert - das ist auch in
Ordnung -, aber ich denke, die Öffnung wird kommen.
Zweiter Punkt. Wir brauchen mehr Ressourcen für
berufliche Sprachkurse. Ich denke, wir alle hier im
Hause unterstützen die Forderung von Andrea Nahles,
mehr Ressourcen zur Verfügung zu stellen, sodass die
Ärzte Ärztedeutsch und die Ingenieure Ingenieurdeutsch
lernen können. Das ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe und gut investiertes Geld.
({12})
Wir haben übrigens - das war eben auch ein Vorwurf - die Asylsuchenden bereits bei der gesetzlichen
Regelung der assistierten Ausbildung mit bedacht.
({13})
Auch asylsuchende junge Menschen haben Zugang zu
assistierter Ausbildung; das ist ein ganz wichtiger Punkt.
In Bezug auf das Bleiberecht sind wir in der Diskussion,
um einen gesicherten Aufenthalt für junge Geduldete zu
schaffen, wenn sie eine Ausbildung machen.
({14})
Wir tun hier jede Menge. Sie sehen: Es ist beileibe nicht
so, dass wir untätig wären, sondern der Zug ist in Bewegung, und zwar genau in die richtige Richtung.
({15})
Sie können sich darauf verlassen, dass wir auch weiterhin Dampf machen werden.
({16})
Frau Kollegin, apropos Bewegung. Auf Parlamentsdeutsch gesagt: Die Redezeit ist leider abgelaufen.
({0})
Das stimmt.
- aber versuchen Sie, zum Schluss zu kommen.
({0})
Gut. - Was soll ich sagen?
({0})
Der Zug ist auf dem richtigen Gleis, und er wird ans Ziel
kommen. Sie können uns gerne dabei begleiten. Ich
denke, dass Sie viel Gelegenheit haben werden, uns Applaus zu spenden; denn eigentlich machen wir genau
das, was Sie in Ihrem Antrag fordern.
({1})
Das ist Regierungshandeln oder Regierungsverhandeln.
Von daher: Gerne auch Applaus von Ihrer Seite.
({2})
Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abgeordneten Brigitte Pothmer, Bündnis 90/Die Grünen. Bitte schön.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sehr verehrte Frau Weiss, Ihre Rede hat vor allen Dingen eines
dokumentiert: Die CDU ist in dieser Frage immer noch
Teil des Problems und nicht Teil der Lösung.
({0})
Wenn Sie hier sagen, die Integration von Asylbewerbern und Flüchtlingen sei eine Aufgabe von Bund, Ländern und Kommunen, dann müssen Sie uns erklären, warum dann die Kommunen bei diesem Gipfel nicht einmal
am Katzentisch sitzen.
({1})
Wenn sowohl Sie als auch Frau Kolbe hier sagen: „Es
ist doch alles gut“,
({2})
dann frage ich Sie, Frau Kolbe: Warum fordert dann Ihre
eigene Ministerin ein Sonderprogramm? Hat sie ihre
Rolle nicht verstanden? Sie ist nicht Opposition, sie ist
Regierung.
({3})
Sie soll keine Forderungen an sich selber stellen, sie soll
machen, verdammt noch mal!
({4})
Das, was wir Ihnen mit unserem Antrag vorlegen, ist
auch ein Investitionsprogramm in die Zukunft. Wir wollen in die Asylbewerberinnen und Asylbewerber investieren. Wir wollen sie unterstützen, damit sie einen Zugang zu Ausbildung und Arbeit finden.
({5})
Das ist gut für die Menschen, die vor Krieg, Elend und
Verfolgung flüchten, das ist aber auch gut für die Gesellschaft in Deutschland.
({6})
Es kann doch nicht nur darum gehen, dass die Menschen
hier überleben. Sie müssen hier ankommen, sie müssen
leben. Wenn sie hier leben wollen, dann gehört dazu,
dass sie hier arbeiten und hier ihren Lebensunterhalt verdienen,
({7})
und die Grundvoraussetzung dafür ist die deutsche Sprache.
({8})
Wir müssen die Sprachkurse allen, aber auch allen Asylbewerberinnen und -bewerbern von Anfang an zur Verfügung stellen, und zwar unabhängig von der Bleibeperspektive, liebe Frau Weiss.
({9})
Frau Kolbe, Sie sagen hier, dass wir doch schon so
viel geschafft haben. Ja, wir haben den erleichterten Arbeitsmarktzugang. Aber dieser Arbeitsmarktzugang läuft
doch ins Leere für diejenigen, die keinen Sprachkurs
machen, die kein Deutsch sprechen.
({10})
Auch bei der Anerkennung beruflicher Abschlüsse
muss unheimlich viel nachgesteuert werden: Immer
noch arbeiten die Asylbewerberinnen und Asylbewerber
unter ihrem Qualifikationsniveau. Das ist schlecht für
die Menschen, aber auch schlecht für uns hier in
Deutschland. Also: Da gibt es unheimlich viel zu tun.
({11})
Wenn die Asylbewerber immer noch monatelang auf einen Termin im Jobcenter warten, dann bleibt der
Wunsch, hier einen Arbeitsplatz zu finden, doch ein
frommer Wunsch. Deswegen müssen wir da sehr, sehr
viel tun.
Unter den Flüchtlingen - das wissen Sie - sind viele
Fachkräfte. Die BA hat herausgefunden, dass ungefähr
die Hälfte eine akademische Ausbildung oder eine Berufsausbildung hat. Bei dem Modellprojekt „Early Intervention“ - das kein Modellprojekt bleiben darf - haben
40 Prozent der Teilnehmer einen Hochschulabschluss
und weitere 25 Prozent eine Berufsausbildung. Die Wirtschaft - Frau Göring-Eckardt hat es gesagt - hat längst
erkannt, dass hier ein enormes Potenzial ist. Wenn alles
so gut ist, wie es hier dargestellt wird, warum gibt es
dann die Forderung der IHKs, warum gibt es dann die
Forderung des Arbeitgeberverbandes, hier wirklich dringend etwas zu tun?
({12})
Ich frage Sie, warum diese Behörde, die immer so zurückhaltend ist, die Bundesagentur für Arbeit, mit massiven Forderungen, da Verbesserungen herbeizuführen, an
die Öffentlichkeit geht. Sie weiß, es kommt darauf an,
die Flüchtlinge früh und schnell zu unterstützen. Natürlich kostet das Geld, aber ich sage Ihnen: Das ist wirklich eine gute Investition in die Zukunft. Die Investition
in Fähigkeiten und Fertigkeiten zahlt sich mehrfach aus.
Ich sage Ihnen etwas, Frau Weiss: Diese Investition
zahlt sich sogar aus, wenn die Flüchtlinge in ihre Heimatländer zurückkehren. Sie von der Union sind doch
diejenigen, die immer, auch jetzt in Ihrer Rede, sagen:
Wir müssen die Bedingungen in den Herkunftsländern
so gestalten, dass die Menschen da nicht rausgedrängt
werden.
({13})
Ja, aber es hilft doch, wenn sie dann in ihre Länder zurückkehren mit neuen Kontakten, mit neuen Qualifikationen.
({14})
Dann können sie mittun und die Bedingungen dort verbessern.
({15})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Welt ist nicht
gerecht: Meine Redezeit ist gleich abgelaufen.
({16})
Lassen Sie mich Folgendes -
Darf ich mal kurz korrigieren: Sie war schon abgelaufen.
({0})
Aber es gibt ja rhetorische Tricks. Sie dürfen noch weiter
sprechen.
Lassen Sie mich bitte noch sagen: Deutschland hat
einmal schwer versagt: als es um die Integration von
Gastarbeiterinnen und Gastarbeitern und ihren Kindern
ging. Das ist uns teuer zu stehen gekommen, dafür zahlen wir noch heute, sozial und ökonomisch.
({0})
Lassen Sie uns diesen Fehler nicht wiederholen!
({1})
Stimmen Sie unserem Antrag zu, unterstützen Sie unsere
Forderungen!
Danke schön.
({2})
Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abgeordneten Jutta Eckenbach, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau
Pothmer, als ich gerade Ihre Rede gehört habe und auch
die Äußerungen von Frau Göring-Eckardt, habe ich
mich gefragt: Wo waren Sie eigentlich in den letzten
Monaten, als wir etwas getan haben? Haben Sie sich
weggeduckt?
Sie kommen heute mit einem Antrag und mit einer
Pressemitteilung, Frau Pothmer, die eigentlich wieder
nichts anderes macht, als die Welt - Sie machen sie sich
sowieso sehr einfach - in Gut und Böse einzuteilen: Die
Grünen sind bei Ihnen die Guten, und wir sind alle die
Bösen.
({0})
Nein, das werden wir nicht mitmachen.
({1})
Wir waren in der Vergangenheit gut, und wir sind auch
heute gut.
Eines vorweg, was mich die ganze Zeit wirklich
wahnsinnig geärgert hat. - Wenn Sie mir zuhören würden, könnten Sie an dieser Stelle auch noch etwas lernen; denn Ihre Anträge weisen immer wieder aus, dass
Sie bestimmte Dinge vielleicht nicht verstehen. Das gilt
für Frau Göring-Eckardt, das gilt genauso für Frau
Pothmer; aber der Blick aufs Telefon ist im Moment,
glaube ich, wichtiger.
Machen wir uns in dieser Frage doch mal eines klar:
Wenn ein Flüchtling Deutschland erreicht hat, kommt er
in ein Aufnahmelager. Er hat vieles durchlebt, ist unter
Umständen traumatisiert oder wurde von der Familie
weggerissen. Und dann? Dann belegen wir ihn mit
Sprachkursen und der Forderung, eine Arbeit aufzunehmen. - Das alleine soll reichen? Nein, das reicht bei Gott
nicht. Deswegen werden wir Ihre Forderung - Sprachkurse von Anfang an - nicht aufgreifen. Es geht immer
darum, den einzelnen Menschen zu stabilisieren, ihn
mitzunehmen, damit er seine Fachkenntnisse hier einbringen kann. Darum geht es.
Ich will noch einen Punkt ansprechen, den wir deutlich anders sehen als Sie - der DIHK und der Deutsche
Städtetag sehen das übrigens genauso wie wir -: Wir
sollten für die Menschen, die ein Bleiberecht haben und
für viele Jahre in Deutschland sind, besser Sorge tragen
und sie als Fachkräfte ausbilden. Ich will das, was die
Kollegin Sabine Weiss vorhin gesagt hat, deutlich unterstreichen: Wir unterstützen die Forderung - das wird
auch beim heute Abend stattfindenden Flüchtlingsgipfel
mit Vertretern des Bundes und der Länder herauskommen -, dass wir auch dafür Sorge tragen müssen, dass
die Menschen in ihren Heimatländern unterstützt werden. Es darf nicht erneut dazu kommen, dass uns der Außenminister des Kosovo davor warnt, die Menschen
hierzulassen, weil das Kosovo sonst ausblute. Das wollen wir nicht. Das will ich in aller Deutlichkeit für die
CDU/CSU-Fraktion sagen.
({2})
Lassen Sie mich auf das hinweisen, was wir alle miteinander bereits auf den Weg gebracht haben; denn es ist
ja nicht so, dass wir nichts getan haben. Seit 2009 ist es
für geduldete Migranten einfacher, eine duale Ausbildung aufzunehmen. Rechtliche Hürden wurden damals
abgebaut und Perspektiven eröffnet: Mit einer Ausbildung und einer qualifizierten Beschäftigung können sie
leichter eine Aufenthaltserlaubnis erhalten. 2012 wurde
mit dem sogenannten Anerkennungsgesetz ein Rechtsanspruch auf eine Gleichwertigkeitsprüfung der im Ausland erworbenen Berufsqualifikation geschaffen. 2014
wurde das Arbeitsverbot für Asylsuchende auf drei Monate beschränkt.
({3})
Mit all dem sind wir - das ist heute Morgen schon gesagt
worden - auf dem richtigen Weg, Frau Pothmer.
Aktuell wird unter der Federführung des Innenausschusses über Änderungen im Bleiberecht diskutiert.
Auch das ist eine wichtige Frage, wenn wir über geduldete Jugendliche und unbegleitete jugendliche Flüchtlinge in Deutschland reden. An dieser Stelle möchte ich
deutlich machen, dass vieles aufgrund der heutigen Gesetzgebung bereits möglich ist. Dabei sind drei Stadien
zu unterscheiden:
Erstens. Das Asylverfahren ist noch nicht abgeschlossen: Solange sich Asylsuchende im Asylverfahren befinden, darf der Aufenthalt nicht beendet werden. Eine Abschiebung muss nicht befürchtet werden.
Zweitens. Eine Anerkennung als Asylberechtigter ist
erfolgt oder ein subsidiärer Schutzstatus wurde durch
das Bundesamt für Migration anerkannt: Dann kann die
Ausbildung ebenso uneingeschränkt fortgesetzt werden.
Drittens. Wenn dies nicht gegeben ist, gibt es immer
noch die Möglichkeit, unter Bezugnahme auf das Aufenthaltsgesetz eine Duldung aus dringenden persönlichen Gründen zu erwirken, um einen Aufenthalt bis zum
Ende der Ausbildung zu ermöglichen.
Sie sehen, meine Damen und Herren von den Grünen
und den Linken: Bereits heute erhalten die Auszubildenden und die Ausbildungsbetriebe die Sicherheit, dass die
Investition in die Berufsausbildung nicht vergebens ist.
Wir müssen an die Arbeitgeber appellieren; denn sie
sollten sich noch ein wenig deutlicher für diese Menschen einsetzen und sie befähigen, eine Ausbildung zu
absolvieren.
Ich will gar nicht abstreiten, dass es Verbesserungsmöglichkeiten gibt, dass es noch weitere Verbesserungen
geben muss. In dem Antrag der Grünen wird gefordert,
das Erlernen der deutschen Sprache sofort zu ermöglichen. Ich habe gerade schon einmal versucht, unsere
Meinung dazu deutlich zu machen: Erst einmal muss der
Status geklärt werden. Die Menschen müssen stabilisiert
werden. Das Erlernen der deutschen Sprache ist das
Wichtigste überhaupt; aber es geht auch darum, beim Erlernen der deutschen Sprache auf die spezifischen Besonderheiten einzugehen. Das ist ganz wichtig; denn wir
müssen die Fachkräfte befähigen, in ihren Berufen tätig
zu sein. Sie sollten nicht irgendeinen Beruf aufnehmen
müssen. In der Tat ist es richtig, dass die Menschen arbeiten gehen wollen. Ich möchte aber nicht, dass ein
Mediziner in irgendeinem Landschaftsgartenbaubetrieb
tätig ist. Nichts gegen Landschaftsgärtner, aber der Mediziner muss als Mediziner eingesetzt werden können.
Auch die Pflegerin muss als Pflegerin eingesetzt werden
können. Auch sie sollte nicht irgendeinen Beruf aufnehJutta Eckenbach
men müssen. Die Bedingung dafür ist, dass wir das entsprechende Programm der BA stärken.
({4})
Das sollten wir in aller Ruhe machen. Das bedeutet
Zeit, das bedeutet Geduld, und das wird nicht von heute
auf morgen gehen. Die Welt ist nicht einfach, Frau
Pothmer. Die Welt ist etwas komplizierter. Wir können
sie uns in Deutschland auch nicht einfach stricken. Manches bedarf Zeit. Qualifizierung braucht Zeit, und die
müssen wir uns auch nehmen.
Lassen Sie mich noch auf eines eingehen - ich denke,
auch das ist eine wichtige Geschichte, die wir hier angehen müssen -: Wir müssen immer den Handlungsbedarf
sehen und reagieren. Wir haben heute Abend eine große
Runde mit den Ländern. Ich habe jetzt schon zweimal
die Frage gehört: Warum sind die Kommunen nicht eingeladen? Wenn Sie unser Föderalismussystem kennen
({5})
- ich denke, Sie sind lange genug dabei, und Sie kennen
es mittlerweile -, dann wissen Sie, dass der Bund in dieser Sache natürlich mit den Ländern verhandelt. Hier
will ich auf eines hinweisen: Es wäre ganz toll, wenn
auch die Bundesländer, und zwar alle Bundesländer, die
500 Millionen Euro, die der Bund zur Verfügung gestellt
hat, an die Kommunen weitergeben würden.
({6})
Das ist nämlich nicht in allen Bundesländern so. Dann
kämen wir vor Ort an dieser Stelle weiter.
({7})
Zum Zweiten. Die Bundesländer engagieren sich ja.
Ich will deutlich machen, dass es zwei Bundesländer
gibt, die von sich aus auch eigene Sprachkurse anbieten.
Auch das ist etwas, was wir benötigen: Gemeinsamkeiten von Kommunen, Ländern und Bund. Wir werden
nicht alles zentral regeln können. Denn ansonsten würden wir an dieser Stelle dem Föderalismus in Deutschland nicht mehr gerecht werden. Ich glaube, das wollen
auch Sie nicht; denn das würde vieles aushebeln.
Sie können also etwas machen. Sie können es in den
Ländern machen. Sie können es auch und gerade in
Nordrhein-Westfalen machen. Insofern sind wir darauf
gespannt, was kommt.
Es ist vorhin von einem Zug die Rede gewesen; Frau
Kolbe hat davon gesprochen. Ich denke, Sie sind mit Ihrem Antrag letztendlich auf dem Abstellgleis gelandet.
({8})
Wir sind da weiter. Wir werden Sie überholen, und das
wird sich schon morgen herausstellen.
Ich danke Ihnen recht herzlich für Ihre Aufmerksamkeit.
({9})
Als nächster Rednerin erteile ich der Abgeordneten
Sevim Dağdelen, Fraktion Die Linke, das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Frau Kollegin, Sie meinten, Sie würden uns überholen.
Ich meine, das ist tatsächlich eine Ansage, auf die ich
schon seit zehn Jahren, seitdem ich Mitglied des Bundestages bin, warte. Insofern möchte ich kurz anmerken:
Zu Beginn Ihrer Rede meinten Sie, die Grünen würden
die Welt in Gut und Böse einteilen. Das Problem ist
doch, dass es gerade Ihre Schwesterpartei und Ihr Koalitionspartner, die CSU, ist, die die Welt in Gut und Böse
einteilt, gerade in Flüchtlingsfragen, und mit dazu beiträgt, dass es in diesem Land teilweise eine Stimmung
gibt, die wirklich flüchtlingsfeindlich und damit auch
menschenfeindlich ist.
({0})
Ich möchte Ihren Partner Horst Seehofer zitieren, der
- neben NPD und AfD - den Spruch von sich gegeben
hat, dass Deutschland nicht das Sozialamt der Welt ist.
Ich finde wirklich, das ist nicht nur schändlich, sondern
auch wahrheitswidrig, meine Damen und Herren. Laut
UNHCR gibt es in Deutschland gerade einmal 5 Flüchtlinge pro 1 000 Einwohner. Ich wiederhole: 5 Flüchtlinge auf 1 000 Einwohnerinnen und Einwohner hier in
Deutschland! In Malta sind es 18, in Slowenien 24, im
Libanon 260. Aber Sie erzeugen hier durch solche Parolen Stimmung. Das ist schändlich. Sie sollten endlich damit aufhören! Hören Sie auf, Pegida und AfD hinterherzurennen!
({1})
Meine Kollegin ist, was den grünen Antrag betrifft,
schon auf einige Kritikpunkte im Hinblick auf die verbliebenen Beschränkungen beim Zugang zum Arbeitsmarkt eingegangen. Ich finde, dass der grüne Antrag
zwar in die richtige Richtung geht, hier aber etwas zu
kurz springt.
({2})
- Ja. - Für die Linke gilt das Prinzip der gleichen
Rechte. Wir machen keine Ausnahmen bei Arbeit und
Beschäftigung. Wir unterstützen allerdings die Forderungen des grünen Antrags.
({3})
- Ja, natürlich. Wir machen es auch besser, Herr Kollege; lesen Sie sich unsere Anträge durch.
({4})
Wir stimmen auch nicht im Bundesrat einer Verschärfung des Asylrechts zu und kommen dann mit solchen
Anträgen im Bundestag.
({5})
Trotzdem unterstützen wir Ihre Forderungen. Aber Sie
müssen eben auch ergänzt werden - Kritik sollte hier erlaubt sein -, damit das Recht auf Arbeit eben nicht von
migrationspolitischen Erwägungen abhängig gemacht
wird.
Wir fordern ein gleiches Recht auf Arbeit von Beginn
an. Das beinhaltet eben auch die Abschaffung der sogenannten Vorrangprüfung; meine Kollegin hat es gesagt.
Daneben fordert die Linke die Abschaffung der Beschäftigungsverbote, die die Ausländerbehörden gegenüber Personen mit einer Duldung erteilen können.
({6})
Dabei unterstellen die Behörden, dass deren Abschiebung aus Gründen scheitere, die sie selbst zu vertreten
hätten, zum Beispiel, weil sie die für die Abschiebung
notwendigen Papiere nicht besorgen würden. Oder ihnen
wird - zumeist eben auch völlig haltlos - unterstellt,
dass sie nur wegen des Sozialhilfebezugs nach Deutschland eingereist seien.
Ich frage mich wirklich: Was ist das für ein Wahnsinn? Erst durch das Arbeitsverbot werden die Betroffenen nämlich zwangsweise zu Empfängerinnen und Empfängern von staatlichen Transferleistungen.
({7})
Die Gemeinnützige Gesellschaft zur Unterstützung
Asylsuchender e. V. führt hier ein sehr interessantes Beispiel aus Ostwestfalen an - gerade die CDU/CSU sollte
hier einmal gut zuhören -: Frau K. ist türkische Staatsangehörige. Sie hat eine Duldung und lebt seit zwölf Jahren in Deutschland. In ihrer Duldung steht: „Beschäftigung nur mit Zustimmung der Ausländerbehörde …
gestattet“. Sie hat eine Stelle in der Gastronomie gefunden und beantragt die Arbeitserlaubnis. Doch diese wird
ihr verwehrt. Sie sei ja ausreisepflichtig, und eine Arbeitserlaubnis würde dem zuwiderlaufen und zu einer
Aufenthaltsverfestigung führen. - So wird sie sich eben
trotzdem noch in Deutschland aufhalten, aber arbeiten
darf sie nicht.
Das bringt auf den Punkt, wie absurd das im Ausländerrecht geregelt ist. Das muss sich ändern. Die Vorrangprüfung und die Beschäftigungsverbote gehören einfach
abgeschafft. Ich bin froh, dass Sie gesagt haben: Der Zug
hat sich in Bewegung gesetzt. Aber noch mehr würde ich
mich freuen, wenn der Zug endlich einmal auf die Zielgerade einbiegen und sich nicht nur im Schneckentempo
in Bewegung setzen würde.
({8})
Wir wollen auch die Wohnortverpflichtungen in
Flüchtlingsunterkünften und die Einschränkungen der
Bewegungsfreiheit durch die Residenzpflicht wirklich
umfassend aufheben. Ich glaube nämlich, das ist eines
der Integrationshemmnisse für viele Flüchtlinge in
Deutschland.
Ich möchte auch noch darauf aufmerksam machen,
dass wir als Linke es ablehnen, Menschen nur nach ihren
Qualifikationen zu bewerten und gerade im Rahmen der
Flüchtlings- bzw. Migrationspolitik zu sagen: Sie sind
für die deutsche Wirtschaft nützlich; deshalb ist es in
Ordnung und muss etwas in der Gesetzgebung geschehen. - Wir sind vielmehr der Auffassung, dass das nur
den Nützlichkeitsrassismus fördert und Wasser auf die
Mühlen von Pegida ist, in deren Zehnpunkteprogramm
auch steht: Fachkräfte sind willkommen, aber der Rest
soll draußen bleiben.
Das ist eine erschreckende Logik, und ich fordere
dazu auf, einfach einmal darüber nachzudenken, welche
Auswirkungen man mit so einer Logik hier in Deutschland vielleicht mitbefördert.
({9})
Zuletzt möchte ich auf eine Initiative zum Zeichen
gegen Rassismus und Menschenfeindlichkeit und für einen grundsätzlichen Wandel in der Flüchtlingspolitik der
Bundesregierung und der Europäischen Union aufmerksam machen. Wir freuen uns, dass es am 20. Juni 2015
eine entsprechende Veranstaltung geben wird, und ich
hoffe, an diesem Tag viele Menschen um 13 Uhr am
Oranienplatz zu einer Demonstration bis zum Brandenburger Tor anzutreffen - es wird viele Redebeiträge von
Flüchtlingsverbänden und Musik geben -, um ein starkes Zeichen zu setzen. Ich hoffe, dass sich auch die
CDU/CSU das anschauen kann. Sie, Frau Kollegin, sind
herzlich willkommen. Dann können Sie sich vielleicht
ein anderes Bild machen.
({10})
Als nächster Rednerin erteile ich der Abgeordneten
Kerstin Griese, SPD-Fraktion, das Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Frau Kollegin Dağdelen, wirklich ärgerlich und
auch schädlich für diese Debatte ist,
({0})
dass Sie so tun, als sei dieses ganze Land rassistisch und
flüchtlingsfeindlich. Das stimmt nicht.
({1})
Wir haben so viel ehrenamtliches Engagement in den
Städten, vor Ort, quer durch alle Vereine, Parteien, politische Richtungen und Kirchengemeinden. Es gibt so
viel Engagement für Flüchtlinge wie noch nie. Wir haben eine komplett andere Situation als vor 20 Jahren,
und ich bin sehr dankbar dafür, dass das so ist.
({2})
Es hilft der Sache nicht, das Gegenteil zu behaupten.
Natürlich ist noch nicht alles gut. Vieles kann noch besser werden. Aber wir haben in den letzten Monaten in
diesem Bereich so viel verbessert wie noch nie. Wir haben das in dieser Koalition geschafft. Manchmal hat es
mich auch gewundert, dass wir es zusammen geschafft
haben.
({3})
Wir haben die Arbeitserlaubnis erleichtert, die Residenzpflicht abgeschafft und das Asylbewerberleistungsgesetz verbessert. Wir haben wirklich viel verändert, und
wir sind für alle Anregungen dankbar, was man noch
mehr tun kann. Für die Flüchtlinge muss noch mehr getan werden - dazu kommen wir noch -, aber so zu tun,
als gäbe es nur Rückschritte, ist komplett falsch und hilft
der Sache und vor allen Dingen den Flüchtlingen überhaupt nicht.
({4})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, in diesem Jahr werden 400 000 Menschen aus schwerster Not zu uns kommen und bei uns Asyl beantragen. Unser Land will und
soll eine Willkommenskultur zeigen. Das kostet Geld.
Deshalb ist es gut, dass es heute Abend im Kanzleramt
ein Gespräch darüber gibt, wie die Leistungen für
Flüchtlinge, für Asylbewerber finanziert werden können.
Der Bund hat bereits jeweils 500 Millionen Euro zusätzlich für dieses und noch einmal für nächstes Jahr zur
Verfügung gestellt. Auch das ist nicht „nichts“, sondern
es ist eine ganze Menge. Aber ich sage auch ganz klar:
Es reicht noch nicht aus. Die Situation in den Kommunen zeigt, dass der Bund noch weiter und noch mehr unterstützen muss.
({5})
In der Frage, was eine gelingende Integration ausmacht - darum geht es nämlich -, geht es um drei Bereiche: Gesundheit - dieser Bereich wäre eine eigene Debatte wert -, Sprache und Integration durch Arbeit. Wir
konzentrieren uns gerade bewusst auf die Themenfelder
Sprache und Arbeit, die auch zusammengehören. Denn
gerade nach einer Flucht mit traumatischen Erlebnissen
ist es zur Stabilisierung sehr wichtig, hier einen Arbeitsplatz zu finden, soziale Kontakte zu haben, Wertschätzung zu erleben. Oft hilft das dabei, schlimme Erfahrungen zu verarbeiten.
Die Grünen fokussieren sich in ihrem Antrag und in
der Debatte auf 1 000 neue Stellen bei der Bundesagentur für Arbeit. Das klingt erst einmal gut. Ein Sofortprogramm klingt nach Aktivität. Manchmal nutzt das mehr
denjenigen, die laut danach rufen, als denen, für die es
sein soll. Ich glaube, wir müssen erst einmal die vorhandenen Aktivitäten besser vernetzen und unterstützen,
und wir brauchen eindeutig mehr Mittel für den Spracherwerb.
({6})
Dass wir einen Fachkräftemangel haben, ist schon angesprochen worden. Wir brauchen Menschen, die bei
uns leben und arbeiten wollen. Wir brauchen ihre Kenntnisse und Fähigkeiten, und wir brauchen sie mit ihren
Familien. Wir wollen sie in dem Willen und Wunsch,
rasch Arbeit zu finden, unterstützen, damit sie nicht auf
staatliche Leistungen angewiesen sind.
Es ist durchaus ein Fortschritt in der Debatte, dass neben den humanitären Argumenten, die mir sehr sympathisch sind und die ich immer in den Vordergrund stelle,
jetzt auch ökonomische hinzukommen und die großen
Unternehmen, das Handwerk, der Mittelstand und die
Arbeitgeberverbände sich für Flüchtlinge engagieren.
Die Wirtschaftswoche hat neulich sogar getitelt, „Manager wollen sich um die Flüchtlingspolitik kümmern“,
und ein großer Automobilkonzern hat einer Landeshauptstadt Geld für die Einrichtung eines „WelcomeFonds“ gespendet und Flüchtlingsprojekte unterstützt.
Diese Aktivitäten helfen, die Stimmung in unserem
Land und die Situation der Flüchtlinge zu verbessern.
Ich unterstütze das ausdrücklich.
({7})
Ich bin froh, dass jetzt auch die Arbeitgeberverbände
eine rasche Integration von Flüchtlingen in den Arbeitsmarkt fordern und dass sie fordern, dass junge Menschen, die hier eine Ausbildung machen, ein Bleiberecht
bekommen, damit sicher ist, dass sie sie auch abschließen können. Denn das alles zeigt, dass Flüchtlinge in unserem Land als Bereicherung und Chance erfahren werden. Das ist der Wandel, in dem wir uns befinden, und
das ist eine gute und richtige Entwicklung, die wir unterstützen wollen.
({8})
Wir haben schon einiges zur Unterstützung getan. Wir
haben die Arbeitserlaubnis nach drei Monaten statt wie
früher nach einem Jahr ermöglicht. Wir haben eingeführt, dass die Vorrangprüfung nach kurzer Zeit wegfällt.
Die Residenzpflicht haben wir übrigens völlig abgeschafft, Frau Kollegin. Da waren Sie noch im falschen
Film; das war veraltet.
({9})
Wir haben im Bereich der Sprachkurse dafür gesorgt,
dass die Mittel für die Integrationskurse um 25 Millionen Euro auf 269 Millionen Euro erhöht werden.
Das sind wichtige Schritte, aber es muss noch mehr
folgen. Es gibt die Sprachkurse, die berufsbezogene
Deutschkenntnisse vermitteln, und wir unterstützen ausdrücklich die Forderung von Ministerin Andrea Nahles,
dass wir hier mehr Geld brauchen. Wir brauchen ein
Anschlussprogramm, ein eigenständiges Bundesprogramm, mit dem die Sprachförderung zur Integration in
den Arbeitsmarkt weitergeführt und verbessert wird.
Wir brauchen aber auch eine bessere Vernetzung.
Denn oft scheitert es an den Schnittstellen. Vielen fehlt
der grundständige Sprachkurs; sie brauchen gerade diesen zuerst. Wir müssen zudem die richtig guten Förderprojekte zur Vermittlung in Arbeit, die es bereits gibt,
weiterführen und unterstützen.
In meinem Heimatbundesland Nordrhein-Westfalen
hat die Bundesagentur für Arbeit 32 zusätzliche Vermittlungsfachkräfte eingestellt, die die Potenziale der Flüchtlinge erkennen und sie auf den Arbeitsmarkt vorbereiten
sollen. Das ist ein richtig guter praktischer Schritt.
({10})
Sie arbeiten zusammen mit den Bleiberechtsnetzwerken, die eine sehr erfolgreiche Quote haben. Dadurch
können tatsächlich viele Menschen vermittelt werden.
Meine Kollegin Daniela Kolbe hat schon das Modellprojekt „Early Intervention“ vorgestellt, das ein Beispiel für
gelingende Integration durch Spracherwerb, durch Anerkennung der Abschlüsse und durch Vermittlung in Arbeit ist. Wir haben das Förderprogramm „Integration
durch Qualifizierung“, das schon seit 2005 daran arbeitet, Menschen mit Migrationshintergrund in Arbeit zu
bringen. Auch das ist ein wichtiger Schritt.
Ich führe das auf, um deutlich zu machen: Das müssen wir verstetigen, das müssen wir fortführen, das müssen wir auch besser koordinieren. Ich wünsche mir, dass
heute Abend im Kanzleramt auch darüber gesprochen
wird. Denn wichtig ist, dass eine Jobvermittlung in Zukunft nicht an der Dublin-Regelung scheitern darf. Ein
Ausbildungsplatz darf nicht am Aufenthaltsstatus scheitern. Und eine Arbeitsmöglichkeit darf nicht an fehlenden Sprachkenntnissen scheitern. Da wollen und müssen
wir noch mehr tun.
({11})
Ein letzter Punkt, der auch dazu gehört und mir am
Herzen liegt, ist die Betreuung, Unterbringung und Versorgung unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge. Das
sind oft Jugendliche, das sind oft junge Männer, die dringend mehr Unterstützung brauchen. Ich bin sehr froh,
dass Bundesfamilienministerin Manuela Schwesig das
Programm „Willkommen bei Freunden“ aufgelegt hat,
um sich dieser Gruppe, um die man sich bisher viel zu
wenig gekümmert hat, anzunehmen und ihr eine Perspektive zu geben, sie zu begleiten und möglichst in eine
Ausbildung zu vermitteln.
({12})
Es liegen viele Chancen darin, dass Menschen zu uns
kommen. Wir arbeiten daran, ihre Situation zu verbessern. Ich appelliere noch einmal eindeutig an die Runde
heute Abend im Kanzleramt: Wir brauchen dafür mehr
Geld: mehr Geld für Sprachkurse, für die Unterstützung
der Kommunen, für die Fortführung der erfolgreichen
Projekte zur Arbeitsvermittlung. Wir brauchen eine gemeinsame Kraftanstrengung von Bund, Ländern, Kommunen und Zivilgesellschaft, damit wir ein Land sind,
das Menschen willkommen heißt und ihnen eine Chance
gibt - eine Chance auf gute Arbeit und gutes Leben.
Vielen Dank.
({13})
Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abgeordneten Andrea Lindholz, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren Kollegen! Natürlich müssen anerkannte
Flüchtlinge, die in Deutschland Schutz erhalten und dauerhaft bei uns bleiben, schnell integriert werden. Allerdings muss man ganz klar zwischen Asylbewerbern im
Allgemeinen und anerkannten Flüchtlingen unterscheiden. Ihr Antrag blendet diese zentrale Herausforderung
der Asylpolitik wie immer aus und verallgemeinert, anstatt klar zu trennen. Asyl dient nach wie vor ausschließlich und in erster Linie dem Schutz von verfolgten Menschen und nicht der Anwerbung von Fachkräften.
({0})
Mehr als die Hälfte aller Asylanträge in Deutschland
wird derzeit von Menschen gestellt, die aus dem Westbalkan stammen, obwohl diese Anträge seit Jahren zu
nahezu 100 Prozent als offensichtlich unbegründet abgelehnt werden. Im letzten halben Jahr wurden dreimal
mehr Asylbewerber vom Westbalkan registriert - dreimal mehr! - als syrische Kriegsflüchtlinge. Nur rund
15 Prozent aller Asylbewerber stammen aus Syrien. Seit
dem Ausbruch des Krieges haben über 100 000 syrische
Flüchtlinge hier in Deutschland Schutz gefunden. Im
Gegensatz zu den Asylbewerbern aus dem Westbalkan,
die nicht auf der Flucht sind, suchen sie Schutz vor
Krieg und Verfolgung.
Die Flüchtlinge aus dem Westbalkan sind auf der Suche nach Arbeit. Viele geben das in den Befragungen
auch ganz offen zu. Dass sie auf der Suche nach Arbeit
sind, ist auch nachvollziehbar, das ist auch nichts VerAndrea Lindholz
werfliches, aber die Regelungen hierfür sind nicht im
Asylrecht zu suchen.
({1})
Aktuell sind rund zwei Drittel aller Asylbewerber also
nicht schutzbedürftig. Diese abgelehnten Asylbewerber
brauchen, so leid es mir tut, keine Integrationshilfen,
sondern sie müssen zügig ausreisen.
({2})
Das ist kein Populismus, sondern die ganz klare gesetzliche Rechtslage.
({3})
Wir müssen unser Asylrecht konsequent durchsetzen
und abgelehnte Asylbewerber ausweisen und abschieben. Wir riskieren ansonsten die öffentliche Zustimmung
für unser Asylsystem. Die vielen aussichtslosen Anträge
binden Ressourcen. Wir brauchen diese Ressourcen für
die Versorgung der Flüchtlinge, damit diejenigen, die
wirklich unsere Hilfe benötigen, Hilfe bekommen und
damit die Verfahren schneller erledigt werden können.
Wir wecken damit aber auch Hoffnungen in den Herkunftsländern, die wir nicht wecken dürfen. Der im Antrag geforderte Statuswechsel für Asylbewerber zum
Beispiel würde einen massiven Fehlanreiz setzen und die
Verfahren noch mehr in die Länge ziehen. Es ist nicht
unsere Aufgabe, zu prüfen, aus welchem Grund jemand
ein Recht hat, zu uns zu kommen.
Mich haben in dieser Woche im Bundestag 25 junge
Asylbewerber aus einer Berufsschule meines Wahlkreises mit ihren Lehrern besucht. Auf meine Frage, woher
sie kommen und wer schon einen Bescheid hat, haben
drei von ihnen - syrische Flüchtlinge - geantwortet, bereits einen positiven Bescheid erhalten zu haben. Ein
junger Mann hatte einen Duldungsstatus. Alle anderen
haben noch auf ihren Bescheid gewartet, auch diejenigen
aus den Westbalkanstaaten.
({4})
Die durchschnittliche Verfahrensdauer ist noch zu
lang. Sie beträgt laut Statistik sieben Monate, in der Realität geht sie noch darüber hinaus. Auch die Zahl hinsichtlich des Rückstandes ist korrekt. Hieran müssen wir
in erster Linie arbeiten. Das ist das aktuell größte Problem für unser Asylsystem, aber auch für die Menschen,
die zu uns kommen. Es ist wichtig, dass sie schnell wissen und Sicherheit bekommen, ob sie bleiben dürfen
oder nicht. Es ist nicht richtig, dass sie eine Ausbildungsklasse besuchen und nicht wissen, ob sie bleiben
dürfen.
({5})
Es ist nicht richtig, dass sie Deutsch lernen, dass sie sich
Hoffnungen machen und dann vielleicht zurückgeschickt werden.
Hier müssen wir ansetzen. Wir müssen schnellere
Entscheidungen treffen. Ich hoffe, dass das mit den
neuen Stellen im BAMF gelingt: 2 000 weitere Stellen
sind zugesagt. Das wird seine Wirkung zeigen. Das ist
wichtig für die Asylbewerber, für die Kommunen und
auch für die Herkunftsländer.
({6})
Natürlich, liebe Kolleginnen und Kollegen, bin auch
ich und sind auch wir dafür, dass den tatsächlich Schutzbedürftigen, wie zum Beispiel den syrischen Flüchtlingen, den Schülern, die mich am Montag im Bundestag
besucht haben, schnell und unbürokratisch geholfen
wird. Wir dürfen aber auch nicht vergessen, dass sich
nach wie vor über 50 Millionen Menschen auf der Flucht
befinden. Dieses Problem werden wir nicht alleine mit
Geld und mit Personal lösen. Wir müssen auch für Verbesserungen in den Herkunftsländern und in den Anrainerstaaten sorgen. Hier ist die ganze Europäische Union
und nicht nur Deutschland gefordert.
({7})
Auch ich möchte, dass die jungen Menschen aus dem
Westbalkan, die in dieser Woche bei mir im Bundestag
waren, wissen, woran sie sind, dass wir sie vor Ort aufklären, welche, Frau Kollegin, legale Möglichkeit es
gibt, um nach Deutschland zu kommen und hier zu arbeiten oder eine Ausbildung aufzunehmen. Wir haben
diese Möglichkeiten.
({8})
Dann setzen sie auch keine Hoffnungen in aussichtslose
Asylverfahren.
Wenn ein Unternehmen wie Daimler Fachkräfte
sucht, dann sollte es erst einmal die legalen Einreisemöglichkeiten für Fachkräfte aus dem Ausland nutzen.
Das geltende Arbeitsmigrationsrecht für Hochqualifizierte und für Fachkräfte aus Drittstaaten wurde vor zwei
Jahren massiv ausgeweitet. Wir haben 70 Mangelberufe
definiert, um den Branchen, die tatsächlich unter einem
Fachkräftemangel leiden, die Anwerbung von Fachkräften auch aus Nicht-EU-Staaten zu erleichtern. Zudem
stellte Deutschland im letzten Jahr rund 90 Prozent aller
Blauen Karten aus der EU aus. Es ist doch nicht so, dass
es keine Möglichkeit gibt, zu uns zu kommen. Erzählen
Sie uns das doch nicht immer! Das ist schlicht falsch.
Wir müssen zwischen berechtigten Asylbewerbern und
Arbeitsuchenden trennen, für die es andere Möglichkeiten und Wege gibt, zu uns zu kommen.
({9})
Ich möchte auf einen anderen Aspekt eingehen. Laut
Studie des DGB liegt die Jugendarbeitslosigkeit in
Deutschland trotz des Rekordniveaus der Beschäftigung
bei 300 000. So viele junge Menschen in Deutschland
sind ohne Arbeitsplatz. Von denen spricht in der Zwischenzeit kein Mensch mehr.
({10})
In vielen freizügigkeitsberechtigten EU-Staaten wie
Spanien, Frankreich und Italien ist die Jugendarbeitslosigkeit nach wie vor extrem hoch. Deutschland muss daher nach wie vor erst hier bei uns, danach in Europa und
dann im Rest der Welt nach Arbeitskräften suchen. Das
hat nichts mit der Frage zu tun, wer einen Asylanspruch
hat und wem wir auf diesem Weg zügig helfen.
({11})
Ich wehre mich dagegen, dass Sie alle, die zu uns
kommen, in einen Topf schmeißen. Ich wehre mich auch
dagegen, dass die Wirtschaft hier nicht differenziert und
aus meiner Sicht teilweise falsche Forderungen erhebt
und suggeriert, man hätte keine Möglichkeit, Asylbewerber auf legalem Wege bei sich arbeiten zu lassen.
Frau Kollegin, es gibt vom Kollegen Rossmann aus
der SPD-Fraktion den Herzenswunsch nach einer Zwischenfrage. Wollen Sie sie zulassen?
Ich möchte gern den einen Aspekt noch abhandeln.
Dann können Sie Ihre Zwischenfrage stellen.
Dann ist aber Ihre Redezeit um.
Ich dachte, die Zwischenfrage stoppt die Redezeit.
Ja, aber wenn sie um ist, dann gibt es nichts mehr zu
stoppen.
({0})
Dann rede ich jetzt zu Ende. - Asylbewerber und
Flüchtlinge haben bei uns bereits viele Möglichkeiten.
Der Besuch einer Schule, einer Berufsschule oder auch
einer Universität ist bei uns erlaubnisfrei möglich. Nur
in Deutschland gibt es mit § 60 a Aufenthaltsgesetz für
Geduldete die Möglichkeit, die Ausweisung aufgrund einer laufenden Ausbildung auszusetzen. Nicht einmal im
liberalen Schweden gibt es diese Möglichkeit. Ihre Forderung im Antrag unter Punkt 8 ist damit überflüssig.
Wir haben im letzten Jahr die Residenzpflicht eingeschränkt, wir haben den generellen Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt nach drei Monaten erleichtert. Mit
dieser relativ zügigen Erteilung der Arbeitserlaubnis
schaffen wir zwar auf der einen Seite Verbesserungen,
aber auf der anderen Seite müssen wir uns immer wieder
vor Augen halten, dass das auch migrationspolitische
Anreize setzt, zu uns zu kommen. Ich halte die Forderung, dass man hier vom ersten Tag an arbeiten darf, migrationspolitisch schlicht für einen Fehlanreiz. Allein
jetzt schon wird jeder dritte Asylantrag in der EU in
Deutschland gestellt. Warum ist das denn so? Wir haben
nach wie vor die besten Bedingungen. Deshalb höre ich
mir von der Kollegin von der Linken nur ungern diesen
im Übrigen unqualifizierten Vorwurf an, Deutschland sei
nicht aufnahmefreundlich, Deutschland oder auch Bayern oder die CDU oder die CSU seien am Ende auch
nicht zuwanderungsfreundlich. Das ist völliger Blödsinn
und geht an dem vorbei, was wir in den letzten Monaten
und Jahren in diesem Bereich schon für die Menschen
getan haben.
({0})
Im Übrigen treten Sie auch das Engagement der vielen
Bürgerinnen und Bürger in diesem Land, die sich für die
Asylbewerber engagieren, mit Ihrer Rede
({1})
- es ist empörend, was Sie vorhin gesagt haben - mit Füßen, und ich hätte von Ihnen erwartet, dass Sie sich dafür
entschuldigen. Das war wirklich eine Unverschämtheit.
({2})
Ich wünsche dem Gipfel bei der Kanzlerin heute viel
Erfolg. Ich bedanke mich bei den Kolleginnen und Kollegen der SPD ganz ausdrücklich für die gute Zusammenarbeit auch im Bereich der Innenpolitik. Ich weiß,
dass wir in den kommenden Monaten weiterhin für die
Menschen, die zu uns kommen, gute Regelungen schaffen werden und dass wir für eine gute Politik und auch
für eine gute Integrationspolitik stehen.
Vielen Dank.
({3})
Eine Kurzintervention des Kollegen Dr. Rossmann.
Liebe Frau Kollegin, dem Engagement, das Sie in die
Rede gelegt haben und wofür Sie viel Zustimmung aus
dem ganzen Hause bekommen werden, wollte ich an einer Stelle Unterstützung geben: Tatsächlich ist es so,
dass wir uns über die jugendlichen Arbeitslosen in Portugal, in Griechenland und anderswo Gedanken machen.
Aber man wird dieser Bundesregierung nicht vorwerfen
wollen, dass sie sich nicht mindestens genauso viele Gedanken um die 300 000 jungen Menschen machte, die
bei uns ohne Arbeit sind. Sonst würden wir vergessen
machen, was wir mit der Allianz für Aus- und Weiterbildung und mit den Engagements, die Frau Wanka und andere in ihren Häusern für mehr Berufsorientierung und
mehr Qualifizierung usw. zeigen, tun.
Ich finde, wir dürfen das nicht befördern, indem wir
selbst etwas als Angriff formulieren, was tatsächlich
nicht auf die Praxis dieser Regierung zutrifft. Diese Regierung nimmt dies engagiert in den Blick, und sie engagiert sich mit vielen konkreten Maßnahmen für die jungen Menschen, die bei uns noch ohne Ausbildung und
ohne berufliche Perspektive sind. Vielleicht können wir
dies zusammen festhalten, statt heute auf eine falsche
Weise Fronten aufzubauen, die tatsächlich nicht da sind.
Das zu sagen, war mir wichtig. Damit wollte ich Sie
nicht angreifen; ich wollte nur noch einmal das EngageDr. Ernst Dieter Rossmann
ment auch für diese 300 000 Jugendlichen deutlich herausstellen.
({0})
Bitte schön, Frau Kollegin Lindholz.
Ich möchte mich ganz herzlich für die Klarstellung
bedanken.
({0})
So, der Koalitionsfrieden ist hergestellt.
({0})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Matthias Bartke,
SPD-Fraktion.
({1})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Meldung ist noch frisch, aber sie war absehbar: Seit Jahresbeginn haben mehr als 100 000 Menschen die gefährliche Flucht über das Mittelmeer nach Europa gewagt. Die
meisten von ihnen kommen aus dem Nahen Osten und
aus Afrika. Der Anstieg der Zahlen ist dramatisch und
stellt uns vor neue Herausforderungen. Es geht um Tausende persönliche Schicksale, tausendfach um Zukunft
und Hoffnung; Frau Zimmermann, ich fand, dass Sie das
durchaus anschaulich dargelegt haben. Deswegen dürfen
wir uns von dem Flüchtlingsstrom gefordert fühlen.
Aber wir müssen gleichzeitig klarstellen, dass wir nicht
überfordert sind.
({0})
Seit Beginn unserer Regierungszeit haben wir daher
schon eine ganze Reihe von Maßnahmen ergriffen, um
Länder und Kommunen bei der Versorgung und der Integration von Flüchtlingen zu unterstützen.
Geld spielt dabei eine ganz wesentliche Rolle. Deswegen erhalten die Länder 2015 und 2016 einen höheren
Anteil an den Einnahmen aus der Umsatzsteuer. Dieser
Anteil beträgt jeweils 500 Millionen Euro. Außerdem haben wir die Zahl der Personalstellen beim Bundesamt für
Migration und Flüchtlinge 2014 und 2015 um 750 aufgestockt. Weitere 750 Stellen wurden im Nachtragshaushalt 2015 bewilligt. Es ist ein erster Erfolg, dass dies bereits zu einer deutlichen Verkürzung der Asylverfahren
geführt hat.
Aber Asylverfahren sind das eine, ein Dach über dem
Kopf ist das andere. Mit Veränderungen im Baurecht haben wir deshalb dafür gesorgt, dass Flüchtlingsunterkünfte schneller zur Verfügung stehen. Diese Veränderung
ging auf eine Bundesratsinitiative meiner Heimatstadt
Hamburg zurück. Hinzu kommt: Die Bundesanstalt für
Immobilienaufgaben überlässt Flächen zur Unterbringung von Flüchtlingen künftig mietfrei. Das spart Kommunen und Ländern jährlich weitere 25 Millionen Euro.
Mit dem Bundesprogramm „Willkommen bei Freunden“
unterstützen wir - Frau Griese hat darauf hingewiesen gemeinsam mit der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung die Kommunen dabei, junge Flüchtlinge willkommen zu heißen.
Das alles sind Maßnahmen, die Flüchtlingen hier in
Deutschland bessere Bedingungen bieten. Das allein
reicht jedoch nicht aus. Voraussetzung dafür, dass die
Flüchtlinge auch in unserer Gesellschaft ankommen, ist
das Erlernen der deutschen Sprache. Deshalb haben wir
die Integrationskurse zum Spracherwerb nachhaltig gestärkt.
({1})
Im parlamentarischen Verfahren zum Bundeshaushalt
2014 konnten wir die Mittel hierfür um 40 Millionen auf
244 Millionen Euro erhöhen und im Haushalt 2015 verstetigen. Über den Nachtragshaushalt konnten wir die
Mittel um weitere 25 Millionen Euro erhöhen.
({2})
Die Sprache ist Ausgangspunkt, um im Alltag mit
Mitmenschen zusammenzukommen. Das gilt auch und
ausdrücklich für Asylbewerber. Wir haben die Mittel für
die Sprachförderung massiv aufgestockt. Das ist doch,
meine Damen und Herren von der Linken, nicht
„nichts“; das ist schon sehr, sehr viel. Aber es stimmt:
Das Erlernen der Sprache bleibt nur ein erster Schritt.
Teilhabe an der Gesellschaft funktioniert bei uns ganz
wesentlich über Beschäftigung.
In den vergangenen Monaten habe ich an dieser Stelle
mehrfach Reden zum Abbau der Langzeitarbeitslosigkeit gehalten. Ich habe dabei immer wieder betont, dass
Arbeit hilft, soziale Ausgrenzung zu vermeiden. Zwischen Langzeitarbeitslosen und Flüchtlingen gibt es jedoch einen wesentlichen Unterschied. Bei Langzeitarbeitslosen ist die Vermittlung in Arbeit so wichtig,
damit sie der Gesellschaft nicht verloren gehen. Bei
Flüchtlingen hingegen ist sie so wichtig, um sie in die
Gesellschaft überhaupt erst zu integrieren. Es war uns
deswegen ein zentrales Anliegen, den Arbeitsmarktzugang für Asylbewerber und Geduldete schon früher als
bisher zu ermöglichen. Wir haben uns damit durchgesetzt. Asylbewerber und Geduldete können sich nun
schon nach drei Monaten um einen regulären Job bewerben. Nach 15 Monaten Aufenthalt entfällt außerdem die
Vorrangprüfung, ob nicht ein deutscher Staatsbürger
oder EU-Bürger die Stelle besetzen könnte. Ich sage
dazu: Wenn es nach mir ginge, könnten wir das noch
einmal deutlich reduzieren.
({3})
Durch die Verkürzung der Geltungsdauer des Arbeitsverbots sowie die Lockerung der Vorrangprüfung und
der Residenzpflicht wird der Zugang zum Arbeitsmarkt
für Flüchtlinge erleichtert; Frau Kolbe hat zutreffend darauf hingewiesen. Der schnellere Zugang zum Arbeitsmarkt und die große Anzahl an Flüchtlingen stellen uns
nun vor neue Aufgaben. Wir müssen deutlich mehr
Asylbewerber bei der Arbeitsmarktintegration unterstützen. Liebe Kolleginnen und Kollegen von Bündnis 90/
Die Grünen, an dieser Stelle setzt Ihr Antrag durchaus zu
Recht an. Er nimmt zu Recht auf laufende Maßnahmen
Bezug. Dazu gehört das Projekt „Early Intervention“,
das hier schon mehrfach - so auch in Ihrem Antrag - erwähnt wurde. Hier wird erprobt, wie eine schnelle, qualitativ hochwertige Arbeitsmarktintegration von qualifizierten Asylbewerbern gelingen kann. Das Projekt ist im
Januar 2014 gestartet und zeitigt bereits Erfolge. Ich
stimme Ihnen hier ausdrücklich zu.
Mit vielen Ihrer Forderungen, die auch aus dem Projekt resultieren, rennen Sie daher bei uns durchaus offene Türen ein.
({4})
Nicht umsonst bin ich in meiner Rede schon mehrfach
auf Sprachkenntnisse zu sprechen gekommen. Obwohl
wir die Mittel für Integrationskurse zum Spracherwerb
bereits deutlich erhöhen konnten, wird deutlich, dass die
Mittel zukünftig nicht ausreichen werden.
({5})
Auch die berufsqualifizierenden Kurse bei der Bundesagentur für Arbeit müssen ausgebaut werden. Unsere
Arbeitsministerin Andrea Nahles hat diesen Bedarf erkannt und wird sich für die Bereitstellung der Mittel einsetzen. Asylsuchende und Geduldete, die mit hoher
Wahrscheinlichkeit lange Zeit in Deutschland bleiben,
sollten von Beginn an die Möglichkeit zum Spracherwerb und zu berufsqualifizierenden Angeboten haben.
({6})
Ich freue mich, dass wir mit dem Nachtragshaushalt für
Integrationskurse einen Schritt in diese richtige Richtung
unternommen haben.
({7})
Auch im Hinblick auf Jugendliche und ihre Ausbildung sehen wir keinen Dissens. Jugendliche und junge
Erwachsene sollten meines Erachtens unabhängig von
ihrem Asylverfahren eine berufliche Ausbildung aufnehmen und beenden können. Dabei ist es nur konsequent,
auch nach Beendigung der Ausbildung einen sicheren
Aufenthaltsstatus zu bieten. Ich freue mich, dass Sie mit
Ihrem Antrag unserem Handeln Nachdruck verleihen.
({8})
Es liegt in unser aller Interesse, Flüchtlinge bei uns
willkommen zu heißen und ihnen die besten Startmöglichkeiten zu bieten. Deswegen werden wir auch in den
nächsten Monaten unsere Anstrengungen hierfür fortsetzen.
Ich danke Ihnen.
({9})
Vielen Dank. - Als nächster Redner hat Herr
Dr. Pätzold von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Auf Antrag von Bündnis 90/Die Grünen debattieren wir heute die Frage, wie es gelingen kann,
Flüchtlinge schneller in Arbeit und Ausbildung zu bringen. Es ist - angesichts der emotionalen Debatte, die hier
im Haus geführt wurde -, wie ich glaube, sehr wichtig,
dass wir darüber sachlich diskutieren. Dafür ist es notwendig, dass wir uns mit den Zahlen derer beschäftigen,
die nach Deutschland gekommen sind und hier Asyl beantragt haben.
Im letzten Jahr waren es knapp über 200 000 Menschen. Die Schutzquote derer lag bei 31,5 Prozent; das
heißt, die Wahrscheinlichkeit, hierbleiben zu können und
eine Perspektive zu haben, lag ungefähr bei jedem Dritten vor. Die größte Gruppe kam mit 41 000 Personen aus
Syrien. Bei diesen lag die Schutzquote bei 90 Prozent.
Wenn man die Bilder aus den Nachrichten kennt und
wenn man weiß, was dort vor Ort passiert, dann ist es
keine große Überraschung, dass die Zahl mittlerweile
sogar gegen 100 Prozent tendiert. Für Serben, die zweitgrößte Personengruppe mit 27 000 Anträgen, lag die
Schutzquote bei 0,2 Prozent; jeder Fünfhundertste hatte
somit eine Bleibeperspektive. Wenn man die gesamten
Westbalkanstaaten betrachtet, dann kann man von einer
Schutzquote von 1 bis 2 Prozent ausgehen. Das heißt
also, jeder Hundertste bis Fünfzigste hat eine Perspektive, hierbleiben und sich in die Gesellschaft integrieren
zu können und auch perspektivisch hier arbeiten zu dürfen und natürlich arbeiten zu müssen; denn wir wollen
die Menschen über Arbeit integrieren.
Wenn wir uns die Zahlen in den ersten Monaten anschauen - wir haben gehört, dass knapp 100 000 Flüchtlinge bisher schon nach Deutschland gekommen sind,
davon mehr als die Hälfte aus den Westbalkanstaaten -,
dann müssen wir die Diskussion sehr ehrlich führen.
Wenn es darum geht, diese Zahlen nicht nur sachlich
vorzutragen, sondern auch zu schauen, wie die Situation
vor Ort ist, dann möchte ich in Richtung von Frau
Zimmermann von der Fraktion Die Linke sagen, dass
sich unsere Abgeordneten vor Ort natürlich die Einrichtungen ansehen. Meine Kollegin Frau Weiss schaut sich
nicht nur in ihrem Wahlkreis die Einrichtungen an und
redet mit den Menschen vor Ort, sondern sie macht seit
23 Jahren auch ein Projekt auf den Philippinen, mit dem
sie versucht, die Entwicklung vor Ort zu unterstützen.
Deshalb ist sie genau die falsche Person, die Sie kritisieren, weil sie sich angeblich nicht für die Flüchtlinge vor
Ort interessiere und nicht mit den Menschen rede.
({0})
Weil wir uns für die Themen vor Ort interessieren, ist
auch ein Großteil unserer Abgeordneten direkt gewählt.
Das gilt für mich nicht. Aber man muss auch noch Ziele
im Leben haben. Trotz allem habe ich mir am 27. Mai
dieses Jahres alle sechs Einrichtungen, in denen Flüchtlinge in Lichtenberg untergebracht sind, angeschaut. Insgesamt sind dort knapp 2 000 Personen untergebracht.
Auch hier gilt, dass über die Hälfte von ihnen, knapp
1 200, aus den Westbalkanstaaten kommen, deren Bleibeperspektive überschaubar ist. Aber immer mehr kommen mittlerweile aus Syrien und dem Irak. Wenn man
sich mit diesen Personen unterhält, merkt man, dass sie
gern in ihrem Heimatland geblieben wären, aber durch
die Situation vor Ort hier eine neue Heimat suchen und
natürlich auch - da haben Sie vollkommen recht - arbeiten möchten.
Das zeigt uns, dass wir als Gesellschaft die Verantwortung haben, Integration vernünftig zu gestalten. Ich
komme aus einem Ostberliner Wahlkreis, wo die Debatten über dieses Thema am Anfang nicht immer einfach
waren. Deshalb bin ich sehr glücklich darüber, dass
durch die Diskussionen hier im Bundestag und auch in
der Öffentlichkeit mittlerweile sehr sachlich darüber gesprochen wird,
({1})
wie man Flüchtlingen helfen kann, und dass die Gesellschaft vor Ort, die Vereine vor Ort, die Träger vor Ort
und auch die politischen Parteien Verantwortung tragen
und bereit sind, zu helfen, dass es einen großen gesellschaftlichen Konsens gibt, die Integration zu gestalten.
Was haben wir bisher getan? Man muss sich ja immer
die Entwicklung ansehen. Wir als Bundesgesetzgeber
haben noch im Jahr 2013 die Möglichkeit geschaffen,
bereits nach neun Monaten eine Arbeit aufzunehmen,
natürlich nur, wenn zuvor eine Vorrangprüfung stattgefunden hat. Ich höre aber von meinen Akteuren vor Ort,
dass das in der Praxis kein Problem darstellt. Wir, die
Koalitionsfraktionen, haben im letzten Jahr dafür gesorgt, dass diese Frist auf drei Monate verkürzt wird. Wir
als Gesetzgeber haben also eine Entwicklung aufgenommen und entsprechend gehandelt. Ich fand das sehr
wichtig und richtig.
Jetzt ist der Antrag der Grünen eingebracht worden.
Ich glaube, er verfolgt das Ziel, eine aus ihrer Sicht
wichtige gesellschaftliche Debatte in Gang zu bringen.
Der Fokus ist ein etwas anderer als der, den meine Fraktion hat; aber auch in diesem Antrag sind sehr vernünftige Forderungen enthalten.
Ich verweise in diesem Zusammenhang auf den darin
angesprochenen Punkt „Anerkennung von Qualifikationen“. Auch auf meiner Besichtigungstour am 27. Mai
2015 wurde mir deutlich: Das ist relativ klar formuliert
und einfach beschrieben; aber wenn es in der Praxis darum geht, dass Menschen, die aus Syrien oder dem Irak
geflohen sind, keine Urkunden darüber haben, dass sie
ein Studium absolviert haben, entsteht im Zusammenhang mit unserer deutschen Bürokratie das nicht ganz
einfach zu lösende Problem, wie man diese Qualifikationen anerkennt. Ich will deutlich sagen: Ich finde es
schon wichtig, dass es für alles Urkunden gibt. Das ist
sehr deutsch, sehr bürokratisch und sehr klar. Aber es
gibt auch vor Ort viele Personen, die versuchen, zu helfen und Brücken zu bauen. In der Praxis wird geschaut,
dass man zu Lösungen kommt; aber das dauert natürlich
seine Zeit.
Das, was Sie in Ihrem Antrag formulieren, sind
Punkte, die in der Praxis zum Teil umgesetzt werden.
Das Asylrecht ist nicht dazu da, zu entscheiden, wer qualifizierter ist und deswegen eine bessere Perspektive hat,
in der Bundesrepublik Deutschland zu bleiben. Das
Asylrecht ist geschaffen worden, um Menschen eine
neue Heimat zu geben, die Schutz brauchen. Dafür wird
sich die CDU/CSU-Fraktion weiter einsetzen.
Vielen Dank.
({2})
Vielen Dank. - Als nächster Redner hat Dr. Diaby
von der SPD-Fraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! 1 Milliarde Euro zusätzlich vom Bund an die Länder für die Aufnahme und
Integration von Flüchtlingen, bis zu 2 000 neue Stellen
beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge für zügige Asylverfahren, Veränderungen im Baurecht, um
schnell Unterkünfte zur Verfügung zu stellen, die Öffnung des Arbeitsmarkts nach drei Monaten für Asylbewerberinnen, Asylbewerber und Geduldete, die Abschaffung der Residenzpflicht, um Asylbewerbern und
Geduldeten endlich Bewegungsfreiheit im Lande zu ermöglichen, ein neues Bundesprogramm „Willkommen
bei Freunden“ für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, ein reformiertes Asylbewerberleistungsgesetz mit
dem Grundsatz „Geld- statt Sachleistungen“ - liebe Kolleginnen und Kollegen, diese Auswahl von bereits erfolgten und begonnenen Maßnahmen macht deutlich:
Wir sind längst dabei, uns vom alten Geist der Abschottung und der Abwehr im Asylrecht zu verabschieden.
({0})
Wir befinden uns mitten in einer neuen Phase, in der wir
die Potenziale der Geflüchteten in den Blick nehmen und
ihnen Chancen eröffnen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Grünen, Sie
schreiben in Ihrem Antrag:
Der Bundestag fordert die Bundesregierung auf, ein
Konzept zu entwickeln, das Flüchtlinge auf ihrem
Weg in Arbeit und Ausbildung unterstützt …
({1})
Ganz ehrlich: Entweder haben Sie nicht besonders gut
aufgepasst, was in den letzten Monaten alles auf den
Weg gebracht wurde, oder Sie versuchen, das sensible
Thema der Asylpolitik für sich zu nutzen. Ich bin der
Meinung: Dieses Themenfeld eignet sich nicht für Parteitaktik.
({2})
Ich habe in den letzten Jahren die Erfahrung gemacht,
dass das Themenfeld „Migration und Asyl“ der Aufklärung, der Argumente und sachlicher Arbeit bedarf. Ich
bin dankbar, dass wir nicht die Debatte der 90er-Jahre
wiederholen und dass wir aktuell einen parteiübergreifenden Konsens haben.
Herr Diaby, lassen Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Pothmer zu?
Nein. Ich möchte gerne mein Konzept erst einmal zu
Ende bringen; dann können wir diskutieren.
({0})
Ja, wir sind gefordert, aber nicht überfordert. Für die
SPD-Fraktion ist klar: Gute Asylpolitik gelingt nur mit
einer dauerhaften und substanziellen Beteiligung des
Bundes. Wir brauchen weiterhin eine sinnvolle Verantwortungsteilung zwischen Bund und Ländern. Mit großen Erwartungen blicken wir auf die Ergebnisse des heutigen Treffens im Kanzleramt. Es muss den Durchbruch
bringen. Aus meiner Sicht brauchen wir endlich eine
Öffnung der Integrationskurse, und wir brauchen eine
Bleibeperspektive für Auszubildende.
({1})
Zehn Jahre Integrationskurse in Deutschland, das ist
die Erfolgsgeschichte unseres Einwanderungsgesetzes.
Sie läuteten den Paradigmenwechsel ein, hin zu einem
echten Angebot des Staates. Diese Kurse sind das wichtigste staatlich geförderte Angebot für Einwandernde.
Seit der Einführung der Integrationskurse vor zehn Jahren haben sage und schreibe 1 Million Menschen an diesen Kursen teilgenommen. Das ist ein Erfolg.
({2})
Sie alle absolvieren 600 Stunden Deutschunterricht und
60 Stunden Orientierungskurs. Mehr als zwei Drittel
schließen den Kurs erfolgreich ab. Es klingt abgedroschen, aber es stimmt: Sprache ist die Eintrittskarte für
Teilhabe an Arbeit und gesellschaftlichem Leben. Ich
weiß aus meiner eigenen Erfahrung, wovon ich rede. Daher brauchen wir die Öffnung der Integrationskurse für
Asylsuchende und Geduldete.
({3})
Bislang bieten einzelne Bundesländer wie mein Bundesland Sachsen-Anhalt und Berlin unter anderem
Sprachkurse für Asylsuchende auf freiwilliger Basis an.
Sie sind ein voller Erfolg. Es muss aber klar gesagt werden: Der Spracherwerb darf nicht vom Zufall abhängen
oder auf Ehrenamtliche abgewälzt werden.
({4})
Hier muss der Bund seinen Beitrag leisten. Damit ist
auch eine substanzielle Entlastung der Länder und Kommunen verbunden. Das verstehe ich unter moderner Integrationspolitik.
Wir müssen Geflüchteten den Aufstieg ermöglichen.
Ich meine damit Aufstieg durch Bildung. Wir müssen
ihnen Chancen bieten, ihre Fähigkeiten und Talente zu
entfalten, sich einzubringen, und ihnen den Weg öffnen,
Teil dieser Gesellschaft zu werden. Das ist nicht nur
menschenrechtlich geboten, sondern auch volkswirtschaftlich vernünftig.
({5})
Meine Damen und Herren, zu einer fairen und vernünftigen Asylpolitik zählt die Bleibeperspektive für jugendliche Asylsuchende in Ausbildung. Kirchen, Gewerkschaften und Arbeitgeber fordern zu Recht ein
sicheres Aufenthaltsrecht für die jugendlichen Asylsuchenden und Geduldeten, die eine Ausbildung beginnen
können. Die Arbeitgeber brauchen hier Rechtssicherheit.
Die SPD-Fraktion meint: Wir brauchen für diese Jugendlichen einen sicheren Aufenthaltsstatus für die Dauer der
Ausbildung und darüber hinaus für eine anschließende
Arbeitssuche. Daneben sollten wir auch über pragmatische Ausnahmen nachdenken. Es ist ein Paradox: Wir
reden über Konzepte zur Lösung des Fachkräftemangels
und darüber, wie wir Menschen aus Drittstaaten anwerben können. Gleichzeitig aber schieben wir Asylbewerber ab, die mit gesuchten Qualifikationen kommen. Hier
brauchen wir pragmatische Lösungen.
({6})
Werte Kolleginnen und Kollegen, alle diese Maßnahmen machen deutlich, dass wir uns auf einem guten Weg
befinden - hin zu einem Paradigmenwechsel unseres
Asylrechtes: weg von Abwehr und hin zu einer modernen Willkommenskultur.
({7})
Lassen Sie uns diesen Weg weitergehen, indem wir die
Potenziale der Geflüchteten in den Blick nehmen und ihnen Chancen eröffnen.
Danke schön.
({8})
Vielen Dank. - Als letzter Redner in dieser Debatte
hat Kai Whittaker von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Werte Kollegen! Ich kann den verzweifelten Versuch der Kolleginnen Göring-Eckardt und
Pothmer verstehen, hier den Eindruck zu erwecken, als
hätten wir in der Großen Koalition in den letzten Monaten nichts getan.
({0})
Die Vorredner haben aber schon einige Punkte aufgegriffen. Ich weiß, dass sie das nicht so gerne hören. Deshalb
wiederhole ich es einmal. Wir haben es in den letzten
zwölf Monaten geschafft, dass Flüchtlinge bereits nach
drei Monaten Arbeit aufnehmen dürfen. Sie dürfen nach
spätestens 15 Monaten frei ihren Beruf wählen. Dort, wo
es Fachkräftemangel gibt, können sie es sogar sofort. Sie
dürfen nach drei Monaten in Deutschland wohnen, wo
sie wollen. Und wir werden den Kommunen in den
nächsten zwei Jahren mit über 1 Milliarde Euro zusätzlich unter die Arme greifen. Darüber hinaus gibt der
Bund zusätzlich 40 Millionen Euro für Sprach- und Integrationskurse aus. Ich finde, dass man wirklich nicht
sagen kann, dass wir die Hände untätig in den Schoß
gelegt haben. Vielmehr haben wir als Bund unsere Hausaufgaben gemacht.
({1})
Wenn ich mir Ihren Antrag so anschaue, bekomme
ich den Eindruck, dass Sie es nicht wirklich ernst meinen. Werte Kollegen von den Grünen, ich weiß, es bereitet Ihnen eine diebische Freude, von diesem Pult aus zu
betonen, dass Sie in mehr Bundesländern regieren als die
Union.
({2})
Offensichtlich aber wissen Sie nicht, wie Sie mit dieser
Verantwortung umgehen sollen. Die allermeisten Punkte,
die Sie in Ihren Antrag geschrieben haben, können Sie in
den Ländern schon längst umsetzen.
({3})
Ob es um Sprachkurse, Netzwerkarbeit, Beratung oder
Betreuung geht, das alles ist Sache der Länder. Stattdessen laden Sie Ihre Verantwortung beim Bund ab.
({4})
Der Bund ist für das Asylverfahren zuständig, die
Länder sind für die Flüchtlinge da. Dass das auch geht,
sieht man an den Bundesländern Bayern und BadenWürttemberg. Ich bin wirklich unverdächtig, ein großer
Anhänger des grünen Ministerpräsidenten Winfried
Kretschmann zu sein; das trifft allerdings auch auf die
Bundestagsfraktion der Grünen zu. Kretschmann macht
genau das, was Sie fordern, nämlich zielgruppenspezifische Sprachkurse auf Kosten des Landes anzubieten. Ich
empfehle den grünen Landespolitikern anderswo, einen
Besuch im - das hat Jürgen Trittin, glaube ich, vor zwei
Jahren ganz charmant formuliert - „Waziristan“ der Grünen abzustatten. Wahrscheinlich trauen sie sich nicht,
dorthin zu fahren. Es könnte eine unangenehme Begegnung mit der Realität werden.
Herr Whittaker, die Kollegin Pothmer hat die Bitte
nach einer Zwischenfrage.
Der Kollegin Pothmer kann ich keinen Wunsch abschlagen. - Bitte schön.
({0})
Herr Kollege Whittaker, das kann Sie noch teuer zu
stehen kommen.
({0})
Herr Kollege Whittaker, unser Antrag ist mit dem Titel „In die Zukunft investieren - Asylsuchende auf ihrem
Weg in Arbeit und Ausbildung unterstützen“ überschrieben. Da haben wir es im Wesentlichen mit bundespolitischen Kompetenzen zu tun. Wenn Sie hier sagen, der
Bund habe seine Hausaufgaben gemacht, dann müssen
Sie uns hier einmal erklären, warum die Bundesagentur
für Arbeit ein 15-seitiges Papier mit dem Titel „Herausforderung und Handlungsempfehlungen: Humanitäre Zuwanderer in Ausbildung und Arbeit bringen“ vorgelegt
hat.
Die Bundesagentur für Arbeit sieht erheblichen
Handlungsbedarf. Sie selber ist mit der Forderung an die
Öffentlichkeit getreten, 1 000 Stellen zusätzlich einzurichten, weil wir in den Jobcentern und bei den Agenturen einen Flaschenhalseffekt haben und weil es unheimlich viel Nachsteuerungsbedarf gibt, zum Beispiel in der
Frage der Anerkennung von ausländischen Qualifikationen. Ich könnte diese Liste weiter fortsetzen.
Nehmen Sie doch bitte einmal zur Kenntnis, dass es
nicht nur die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ist, sondern dass es darüber hinaus die Bundesagentur für Arbeit ist, dass es die Arbeitgeberverbände sind und dass es
die IHK und die Handwerkskammern sind, die einen erheblichen Handlungsbedarf sehen. Stellen Sie nicht fest,
dass Sie mit Ihrer Auffassung zunehmend einsam werden?
({1})
Frau Kollegin Pothmer, ich finde eher, dass es sehr
einsam um Ihre Fraktion geworden ist. Sie haben letzte
Woche in der Medienlandschaft groß verkündet, dass Sie
1 000 neue Stellen für die BA schaffen wollen, um dieses Problem zu beheben. In Ihrem Antrag steht davon
nichts mehr.
({0})
Insofern mache ich mir um meine Einsamkeit keine Sorgen, Frau Kollegin Pothmer.
({1})
Ich nehme Ihren Antrag auch deshalb nicht wirklich
ernst, Frau Kollegin, weil ich glaube, dass es eher ein
Showeffekt ist, den Sie versuchen hier zu platzieren. Es
ist ja nicht so, dass die Flüchtlinge erst seit Sonntag in
dieses Land kommen. Wir diskutieren dieses Thema seit
über einem Jahr, und - andere Kollegen haben das schon
gesagt - es gibt keine einfachen Antworten. Aber Sie
zetteln für heute eine Debatte an und schaffen es gerade
einmal zwei Tage vorher, in Ihrer eigenen Fraktion zu
klären, was Sie überhaupt wollen, um einen Antrag im
Bundestag zu stellen,
({2})
und das an einem Tag, an dem der Flüchtlingsgipfel von
Bund und Ländern stattfindet. Ich kann nichts anderes
darin erkennen als den verzweifelten Versuch Ihrer Bundestagsfraktion, mit diesem Thema in den Medien zu
landen.
Die Opposition scheint manchmal zu vergessen,
dass wir hier Politik machen und keine Theatervorstellungen geben.
Das ist eine freundliche Erinnerung Ihres Parteifreundes
- ich hoffe, er ist noch Ihr Parteifreund - Joschka
Fischer. Das hat er von diesem Pult aus einmal gesagt.
Ich nehme Ihren Antrag aus einem dritten Grund
nicht ernst. Ihr Showantrag geht an der Realität vorbei.
Was ist das Hauptproblem dafür, dass Asylbewerber keinen Job finden bzw. Schwierigkeiten bei der Jobsuche
haben?
({3})
Vor kurzem wurde eine Bertelsmann-Studie veröffentlicht, in der ganz klar steht, dass die Asylverfahren zu
lange dauern. Letztes Jahr betrug die durchschnittliche
Wartezeit circa sieben Monate. Diese Wartezeit ist nicht
hinnehmbar. Deswegen haben wir beim letzten Flüchtlingsgipfel vereinbart, 2 000 neue Stellen im Bundesamt
für Migration und Flüchtlinge zu schaffen. Damit verdoppeln wir fast das Personal in diesem Amt, um diesen
unsäglichen Wartestau zu beseitigen. Dazu steht in Ihrem Antrag nichts. Das ist enttäuschend.
In Ihrem Antrag schweigen Sie zu einem weiteren
Thema, das Ihnen unangenehm ist, nämlich zu der Frage,
wie wir Wirtschaftsflüchtlinge so schnell wie möglich in
ihre Heimatländer zurückbringen können. Die Deutschen - das nehme ich in meinem Wahlkreis wahr; das
wird sicherlich vielen Kollegen hier genauso gehen sind sehr offen und extrem hilfsbereit gegenüber den
Flüchtlingen, die Schreckliches erlebt haben. Sie engagieren sich wirklich aufopferungsvoll als Sprachlehrer,
als Integrationshelfer oder sind einfach nur da.
Diese Haltung der Bürger könne sich aber ändern,
wenn die Probleme, die durch den großen Zustrom
von Asylbewerbern entstanden seien, nicht gelöst
würden.
Dieser bemerkenswerte Satz stammt nicht von mir, sondern vom grünen Ministerpräsidenten Winfried
Kretschmann, nachzulesen in der Zeit vom 19. September letzten Jahres.
Wer mit den Menschen spricht, wird merken, dass
dieser Satz wahr ist. Die Menschen in diesem Land sehen sehr wohl den Unterschied zwischen Wirtschaftsflüchtlingen und aus humanitären Gründen Geflüchteten. Sie wissen genau, wer dringend Hilfe braucht und
wer nicht. Deshalb wäre es ein starkes Signal von Ihnen,
liebe Grünen, wenn Sie hier im Deutschen Bundestag
und im Bundesrat Ihre Blockadehaltung endlich aufgäben, damit wir alle Balkanstaaten endlich zu sicheren
Herkunftsländern erklären können.
({4})
Aber das wollen Sie nicht hören. Das passt nicht in Ihre
heile Flüchtlingspolitik.
({5})
Stattdessen ist es einfacher, sich hierhinzustellen und uns
als Union zu verunglimpfen. Aber ganz so einfach ist es
eben nicht.
Wir als Union haben schon nach dem Zweiten Weltkrieg die Flüchtlingspolitik neu begründet.
({6})
Ich zitiere:
Jede Art von Selbsthilfe soll größtmögliche Förderung erfahren, damit die Heimatvertriebenen in
freizügiger Weise am Wirtschafts- und Gesellschaftsleben teilnehmen können.
Das stand so im CDU-Wahlprogramm von 1949. Da waren Sie von den Grünen, wie man sagt, noch Quark im
Schaufenster.
({7})
Deshalb heißen wir übrigens „Union“ und nicht „Partei“: Wir haben es als politische Kraft verstanden, Menschen als Union zusammenzubringen und nicht als Partei
zu spalten. Es war eben die Union, die dafür gesorgt hat,
dass nach dem Zweiten Weltkrieg 8 Millionen Flüchtlinge und Heimatvertriebene eine neue Heimat in Westdeutschland gefunden haben.
({8})
Heute reden wir von 400 000 Flüchtlingen. Es ist deshalb schon, wie ich finde, eine Ironie der Geschichte,
wenn Sie uns vorwerfen, dass wir nichts von Flüchtlingspolitik verstehen.
({9})
Dazu fällt mir und meinen Kollegen der CDU/CSUFraktion wirklich nichts mehr ein. Sie nutzen diese Debatte schlicht und ergreifend zur Effekthascherei, für
eine billige Schlagzeile in der Zeitung. Dafür sind wir
nicht zu haben.
Danke schön.
({10})
Vielen Dank. - Damit, liebe Kolleginnen und Kollegen, schließe ich die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/5095 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 5 auf:
Beratung des Berichts des Petitionsausschusses
({0})
Bitten und Beschwerden an den Deutschen
Bundestag
Die Tätigkeit des Petitionsausschusses des
Deutschen Bundestages im Jahr 2014
Drucksache 18/4990
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
diese Aussprache 60 Minuten vorgesehen. Gibt es dazu
Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das so
beschlossen.
Ich werde die Aussprache eröffnen, sobald die Kolleginnen und Kollegen ihre Plätze eingenommen haben. Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hat die
Ausschussvorsitzende Kersten Steinke das Wort.
({1})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter! Petitionsausschuss - das klingt zunächst nicht nach spannender Politik, sondern eher nach verstaubter Verwaltungsarbeit. Aber ich kann Ihnen versichern: Weder unser
Ausschuss noch unsere Arbeit sind verstaubt. Es ist arbeitsintensiv und spannend, aber auch herausfordernd.
Das hat seine Gründe. Wir Abgeordnete bekommen immer ganz aktuell und direkt zu sehen, wie sich die vom
Bundestag beschlossenen Gesetze auf die Bürgerinnen
und Bürger auswirken und wo sich bei Bundesbehörden
Verwaltungsfehler einschleichen. Hier Abhilfe zu schaffen, ist unser Ziel.
Zunächst ein paar Zahlen und Beispiele. Im Berichtsjahr 2014 wurden 15 325 Bitten und Beschwerden eingereicht; das waren 525 mehr als 2013. Mehr als ein
Drittel aller Petitionen gingen auf elektronischem Wege
beim Petitionsausschuss ein. Zudem konnten im Berichtsjahr gut 18 000 Petitionen abschließend behandelt
werden. Die höhere Zahl hat mit dem Überhang aus dem
Wahlperiodenwechsel zu tun.
Der Petitionsausschuss wird täglich - neben Bitten
zur Gesetzgebung, die 45 Prozent aller Petitionen ausmachen - mit Einzelschicksalen von Menschen konfrontiert, die zwischen die Mühlsteine der Bürokratie geraten
sind und nicht mehr ohne fremde Hilfe herauskommen.
Stellen Sie sich einmal Folgendes vor: Sie befinden sich
seit August 2012 in der Ausbildung und beantragen für
sich Kindergeld nach dem Bundeskindergeldgesetz, da
Ihr Vater verstorben ist und Ihre Mutter unbekannten
Aufenthaltes ist. Sie benötigen dieses Geld als Waise
und Alleinstehende ohne Einkommen dringend für Ihren
Lebensunterhalt. Sie beantragen es bei der zuständigen
Familienkasse an Ihrem Wohnort. Dann kommt endlich
der Bescheid - nach sieben Monaten -, eine Ablehnung.
Sie legen Widerspruch ein. Dem wird nach einem weiteren Monat stattgegeben, aber Sie erhalten kein Geld. Sie
rufen an, Sie werden vorstellig, Sie telefonieren, werden
vertröstet, rufen wieder an und erhalten die Auskunft,
dass diese Familienkasse gar nicht zuständig ist, sondern
eine andere. Das geht über ein weiteres Jahr so. Schließlich wenden Sie sich an den Petitionsausschuss des
Landtages. Der ist nicht zuständig und schickt die Petition an den Petitionsausschuss des Deutschen Bundestages. Dieser holt eine Stellungnahme des zuständigen
Ministeriums ein, und siehe da, die Stellungnahme des
Ministeriums ist sehr eindeutig: Alle Voraussetzungen
für den Bezug von Kindergeld sind erfüllt. Endlich, nach
fast zwei Jahren, erhalten Sie 2014 rückwirkend bis
2012 Ihr Kindergeld.
Es ist schlimm, dass es solche Fälle gibt, aber es ist
gut, dass es den Petitionsausschuss gibt und dass wir in
einem solchen Fall auch helfen konnten.
({0})
Etwa 10 Prozent aller Anliegen wurde direkt und unkompliziert entsprochen. Weiteren 28 Prozent der Petenten konnte mit Rat, Auskunft oder Materialien geholfen
werden. 5 Prozent aller Petitionen wurden an die Bundesregierung überwiesen mit der Bitte um Abhilfe.
Wenn wir helfen können, dass Bürgerinnen und Bürger
zu ihrem Recht kommen, dann ist das für uns eine große
Motivation, aber zugleich auch Ansporn, weiterhin für
die Petentinnen und Petenten unser Bestes zu geben.
Den Spitzenplatz unter den Gesamteingaben nimmt,
wie auch in den Jahren zuvor, das Ressort Arbeit und Soziales mit 3 175 Vorgängen ein, also mit etwa 21 Prozent
aller Eingaben. Wie in den Vorjahren lag der Schwerpunkt in diesem Bereich bei den Eingaben zur Grundsicherung für Arbeitsuchende, so zum Beispiel zur Höhe
der Regelbedarfssätze und deren Berechnung. Im Bereich des Arbeitsrechts gab es zahlreiche Eingaben, die
die Abschaffung der Leiharbeit oder zumindest die Anpassung des Arbeitslohns verlangten. Zu dieser Thema10416
tik passte auch die zum 1. Januar 2015 beschlossene Einführung des Mindestlohns, der von vielen Petentinnen
und Petenten unterstützt wurde. Kritisiert wurden hingegen die ebenfalls beschlossenen Ausnahmen. Es ist also
abzusehen, dass uns die Auswirkungen des Mindestlohns in der nächsten Zeit weiter beschäftigen werden.
Ein weiterer großer Teil der Beschwerden an das
Bundesministerium für Arbeit und Soziales mit
1 393 Eingaben entfiel auf den Bereich der gesetzlichen
Rentenversicherung. Eine Vielzahl dieser Petitionen befasste sich mit den Auswirkungen der zum 1. Juli 2014
in Kraft getretenen Rentenreform.
({1})
Dies spiegelte sich auch in den auf den Internetseiten des
Petitionsausschusses veröffentlichten Petitionen wider,
die rege diskutiert wurden, so zum Beispiel zur abschlagsfreien Rente nach 45 Jahren Erwerbstätigkeit
oder zur Abschaffung der Abschläge bei Erwerbsminderungsrenten. Ebenfalls sehr oft kritisierten Bürgerinnen
und Bürger aus den ostdeutschen Bundesländern die unterschiedliche Rentenanpassung in Ost und West.
({2})
Auf dem zweiten Platz der Bundesressorts mit den
meisten Eingaben folgt das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz mit 1 730 Eingaben, also
circa 11 Prozent. Hier ging es vorrangig um zahlreiche
Petitionen zum Mietrecht, in denen gesetzliche Änderungswünsche vorgetragen wurden, die sowohl die Mieter- als auch die Vermieterseite betrafen, oder Beschwerden, in denen es um den Abschluss von Verträgen im
Internet und deren Folgen geht, wie missbräuchliche Abmahnungen oder illegale Downloads.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, neben seinen 27 regulären Sitzungen hat der Ausschuss zwölf Berichterstattergespräche mit den einzelnen Ministerien geführt, um Lösungen für schwierige Fälle zu finden.
Themen in den Gesprächen waren unter anderem Petitionen zu Visaangelegenheiten, zur Erstattung der Aufwandsentschädigung für ehrenamtliche Betreuer oder zu
Regelungen der Altersrente. Hervorzuheben sind ferner
die vier öffentlichen Sitzungen, in denen elf Petitionen
zur Einzelberatung aufgerufen wurden. Hierbei ging es
unter anderem um die Abschaffung von Hartz-IV-Sanktionen, die Stabilisierung der Künstlersozialkasse, die
Vergütung von Logopäden oder das Transatlantische
Freihandelsabkommen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, am Montag, also
am 15. Juni, feiern wir ein Jubiläum. Vor zehn Jahren hat
der damalige Ausschuss einstimmig den Modellversuch
„öffentliche Petitionen“ beschlossen. Seitdem können
Bürgerinnen und Bürger Petitionen im Internet veröffentlichen, online unterstützen oder mitdiskutieren.
Unser Internetportal ist inzwischen klarer Spitzenreiter bei den Internetangeboten des Deutschen Bundestages. Ein Beleg dafür sind die 1,8 Millionen registrierten
Nutzerinnen und Nutzer auf der Internetseite unseres
Ausschusses und über 500 000 Mitzeichnungen bei
436 im vergangenen Jahr veröffentlichten Petitionen.
Dabei ging es unter anderem um die Reform der Pflegeversicherung auf der Grundlage eines neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs mit über 176 000 Unterstützerinnen
und Unterstützern oder auch um die Abschaffung der
Intensiv- und Massentierhaltung bis 2020 mit über
98 000 Mitzeichnungen.
Trotz dieser beeindruckenden Zahl bei den öffentlichen Petitionen sieht sich der Ausschuss seit einiger Zeit
mit einer Konkurrenzsituation konfrontiert. Petitionsplattformen von privaten Anbietern im Internet werden
immer populärer und führen zu Missverständnissen bei
Bürgerinnen und Bürgern, aber auch bei den Medien;
denn diese Art von Petitionen können nicht vom Bundestag anerkannt und bearbeitet werden. Natürlich kann
jedermann öffentlich auf einer von ihm gewählten Plattform eine Petition starten und zu Unterschriftenaktionen
aufrufen. Ich finde, das ist auch gut so: wenn Menschen
sich zusammentun, um sich gemeinsam für etwas einzusetzen. Dafür sind Kampagnen und soziale Netzwerke
auch da. Was uns aber wichtig ist: Man darf sie nicht mit
unserer Arbeit, dem parlamentarischen Petitionswesen
gemäß dem Grundgesetz, verwechseln. Denn: Nur beim
Deutschen Bundestag kann der Petent oder die Petentin
von einer mehrfachen Sicherheit ausgehen: Erstens. Die
Petition wird offiziell entgegengenommen und der Eingang bestätigt. Zweitens. Die Petition wird sorgfältig geprüft. Drittens. Das Parlament fällt eine demokratische,
abschließende Entscheidung. Nicht zuletzt werden die
Daten der Einreicher und Nutzer geschützt und nicht wie auf einigen Plattformen - durch Verarbeitung oder
Weitergabe als Finanzierungsquelle der Plattform genutzt. Außerdem empfinde ich es als wichtig, dass weder
eine Eigen- noch Fremdbewerbung für andere Petitionen
oder kommerzielle Produkte erfolgt.
({3})
Ausdrücklich darauf hinweisen möchte ich aber auch,
dass alle Bearbeitungsschritte unabhängig von der Zahl
der Unterstützerinnen und Unterstützer stattfinden. Ob
es sich um eine Einzelpetition handelt oder ob die Petition 20 oder 120 000 Unterstützerinnen und Unterstützer
hat: Eine sorgfältige Bearbeitung ist beim Petitionsausschuss des Bundestages garantiert.
({4})
Hier bitte ich Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen,
um Ihre Unterstützung, in Ihren Wahlkreisen für Klarheit
und Aufklärung zu sorgen. Sie werden es nicht glauben:
Wir freuen uns, wenn Sie uns mit noch mehr Arbeit versorgen.
({5})
Werte Kolleginnen und Kollegen, abschließend
möchte ich mich noch bei denjenigen bedanken, ohne
die wir als Ausschussmitglieder dem enormen Arbeitspensum hilflos ausgeliefert wären und die hinter den
Kulissen für uns tätig sind. Ein herzlicher Dank geht an
die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Ausschussdienstes, der Abgeordneten und der Fraktionen.
({6})
Bedanken möchte ich mich aber auch bei meinen Ausschusskolleginnen und -kollegen. Wir sind eine tolle
Mannschaft: Bei uns wird gestritten, auch einmal gelacht, um Lösungen gerungen und die Meinung des Gegenübers respektiert. Dafür möchte ich mich ganz herzlich bedanken. Lassen Sie uns weiter so arbeiten!
({7})
Weil Petitionsausschussmitglieder stets und ständig
an Petitionen denken und versuchen, Abhilfe zu schaffen, hoffe ich auch, mit meiner Rede einer Petentin
wenigstens ein wenig gerecht geworden zu sein, deren
Petition lautete: „Der Deutsche Bundestag möge beschließen, dass die erste politische Amtssprache im
Deutschen Bundestag Hochdeutsch ist.“
({8})
Trotzdem sollten wir den Hinweis von Christian Morgenstern beherzigen, der schrieb:
Beim Dialekt fängt die gesprochene Sprache erst
an.
Doch wir beim Petitionsausschuss haben es auch schriftlich mit Dialekten zu tun. So wissen wir mittlerweile
auch, was „Prüttsucht“ und „Spökenkiekerei“ sind.
({9})
Aber ich kann Ihnen versichern: Wir beim Petitionsausschuss lesen weder im Kaffeesatz, noch können wir
die Zukunft voraussagen. Wir halten uns an die Tatsachen und wollen die Zukunft nicht voraussagen, sondern
sie mit unseren Entscheidungen positiv beeinflussen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({10})
Ganz herzlichen Dank, Frau Kollegin Steinke. Ich
sage ausdrücklich herzlichen Dank dafür, dass Sie auch
noch einmal so klar und deutlich beschrieben haben,
welches Privileg und welches wichtige Recht in unserer
Verfassung verankert ist: dass jeder Bürger, jede Bürgerin in unserem Land eine Petition an den Deutschen
Bundestag stellen kann und dass auch jede Petition wirklich sorgfältig bearbeitet wird und auch beantwortet
wird. Das ist eine Errungenschaft, die wir, glaube ich,
alle zu schätzen wissen, die aber leider nicht oft genug
unterstrichen und hervorgehoben wird. Deshalb sage
auch ich ausdrücklich Danke an alle Kolleginnen und
Kollegen, die diese wichtige Arbeit leisten.
({0})
Als nächster Redner in der Debatte hat Andreas
Mattfeldt von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({1})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Ja, wir haben es gehört: Die Arbeit
im Petitionsausschuss ist eine herausragende für unser
Parlament. Tagtäglich dürfen wir uns als Mitglieder in
immer wieder neue Themenbereiche einarbeiten und hineindenken, wie ich es in dieser Vielfalt in keinem anderen Ausschuss erlebe. Wenn ich als Abgeordneter den
Bürgern in ganz vielen Fällen direkt und häufig persönlich helfen kann, ist dies wohl die schönste und auch befriedigendste Aufgabe, die man in unserem Parlament
als Abgeordneter erleben darf.
Bürger aus allen - allen! - Wahlkreisen unserer Republik wenden sich mit ihren Petitionen an uns Abgeordnete, damit wir ganz konkret ihr Anliegen persönlich zur
Kenntnis nehmen und - das wird natürlich erwartet - in
ihrem Sinne lösen. Dies gelingt nicht immer, aber, wie
wir eben von der Kollegin Steinke gehört haben, viel
häufiger, als man denken mag. Es ist eben die Bürgernähe, die die Arbeit dieses Ausschusses auszeichnet. Sie
haben es gesagt, Frau Präsidentin: Jedermann
({0})
hat das Recht, wie es in Artikel 17 des Grundgesetzes
geschrieben steht, sich mit einer Petition an die Abgeordneten des Deutschen Bundestages zu wenden.
({1})
Wir Abgeordneten erfahren so aus erster Hand, wo
sprichwörtlich der Schuh drückt, und erhalten auch Impulse für die Gesetzgebung.
Gerade weil wir aus allen Wahlkreisen der Republik
Petitionen erhalten, würde ich mich freuen, wenn die Arbeit des Ausschusses ein wenig mehr gewürdigt würde,
als dies manches Mal der Fall ist.
({2})
Es ist sicherlich ein Fortschritt, dass wir die Debatte über
den Bericht des Petitionsausschusses im Anschluss an
die Debattenkernzeit führen und nicht, wie ich es auch
schon erlebt habe, zu später Stunde. Allerdings sage ich
auch in aller Deutlichkeit, dass eine Debatte, in der es
um die Anliegen der Bürgerinnen und Bürger geht, in die
morgendliche Kernzeit gehört,
({3})
um deutlich zu machen, dass die Menschen im Mittelpunkt des politischen Handelns dieses Hauses stehen.
({4})
61 Petitionen erhielt der Deutsche Bundestag im Jahr
2014 durchschnittlich pro Werktag. Insgesamt waren es
15 325 Eingaben. Bei so vielen Petitionen muss man natürlich einiges an Arbeit leisten, um den Durchblick
nicht zu verlieren. Damit wir die zahlreichen Petitionen
trotzdem bewältigen können, legen sich unser Ausschussdienst und unsere Mitarbeiter bei der Vorbereitung
mächtig ins Zeug. Deshalb steht an dieser Stelle unser
Dank für die ausgezeichnete Arbeit unseres Ausschussdienstes, unserer Mitarbeiter, die unermüdlich, häufig
weit über die Erfüllung eines normalen Arbeitsvertrages
hinaus, für die Menschen bei uns im Land im Einsatz
sind.
({5})
Viele dieser Petitionen machen uns sehr nachdenklich; denn oftmals enthalten sie nämlich nicht nur rein
fachliche Anmerkungen oder Kritikpunkte. Häufig schildern Betroffene ihre persönlichen Schicksale und wenden sich nahezu hilfesuchend an ihr Parlament. Als ein
besonderes Beispiel möchte ich hier eine Petition erwähnen, in der berechtigterweise moniert wurde, dass es
nicht angehen könne, dass ehemalige Mitarbeiter der
Stasi beim Bundesbeauftragten für die Unterlagen des
Staatssicherheitsdienstes arbeiten, obwohl dies bereits
seit vielen Jahren bekannt ist. Meine Damen und Herren,
es darf doch nicht sein, dass Opfer der Stasi, die unsere
Jahn-Behörde aufsuchen, nunmehr 25 Jahre nach der
Wiedervereinigung immer noch Angst haben müssen, in
der Stasiunterlagenbehörde ihren früheren Peinigern
über den Weg zu laufen.
({6})
Wir Koalitionäre finden, dass die Forderung dieses Petenten mehr als berechtigt ist. Daher haben wir die Kulturstaatsministerin aufgefordert, diesem Missstand umgehend entgegenzuwirken. Sie sehen hieran: Der
Petitionsausschuss ist weit mehr als nur der Kummerkasten des Deutschen Bundestages.
({7})
Allerdings möchte ich kritisch anmerken, dass eine
Vielzahl der Petitionen politisch motiviert ist und von
bezahlten Mitarbeitern von Verbänden eingereicht wird.
Viele Eingaben sind inhaltsgleich zu parallel stattfindenden Bundestagsdebatten. Deshalb sage ich ganz deutlich: Der jeweilige Fachausschuss des Bundestages ist
der richtige Ort, um solche Themen zu behandeln - nicht
der Petitionsausschuss. Leider - diese Kritik kann ich Ihnen nicht ersparen, meine verehrten Kolleginnen und
Kollegen von der Opposition - benutzen Sie den Petitionsausschuss zuweilen gerne als Spielball für parteitaktische Spielchen.
({8})
Der Petitionsausschuss ist aber kein Ort für Spielchen,
und damit wird uns Zeit und Energie geraubt, die wir
den Bürgern und ihren Anliegen widmen sollten.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich abschließend Folgendes klarstellen - das ist von Frau Steinke
schon gesagt worden, aber es kann gar nicht oft genug
gesagt werden -: Bei uns im Petitionsausschuss macht es
keinen Unterschied, ob es sich um eine Einzel- oder eine
Massenpetition handelt. Man hört und liest nahezu ausschließlich von Massenpetitionen mit Tausenden von
Mitzeichnungen, sodass in der Öffentlichkeit allzu leicht
der Eindruck entsteht, dass eine Petition nur dann überhaupt erfolgreich sein kann, wenn sie möglichst viele
Unterstützer findet. Dem ist - auch Frau Steinke hat das
gesagt - definitiv nicht so. Vom Petitionsausschuss wird
jede Petition angenommen, geprüft und beschieden. Das
ist uns wichtig.
Herzlichen Dank an alle Fraktionen für die gute, sachlich und menschlich angenehme Zusammenarbeit!
Danke schön.
({9})
Vielen Dank. - Als nächste Rednerin hat Kerstin
Kassner von der Fraktion Die Linke das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Lassen Sie mich zuerst einmal die potenziellen und tatsächlichen Petenten, also die Bürgerinnen und
Bürger, ansprechen. Hier und heute geht es um die Möglichkeit und das verbriefte Recht, eine Petition zu allen
interessierenden Themen, die mit der Bundespolitik zu
tun haben, einzureichen. Natürlich ist das in Worte gegossene Politik, Kollege Mattfeldt. Es ist ganz klar, dass
natürlich all das, was politisch relevant ist, was den
Menschen am Herzen liegt, in eine Petition einfließt.
Das ist einmal mehr, einmal weniger anspruchsvoll; aber
es muss immer ernst genommen werden. Wir haben uns
verpflichtet, alle Petitionen gleichzubehandeln, und das
machen wir auch so.
({0})
Wenn ich mir die öffentlich debattierten Petitionen
ansehe, dann stelle ich fest: Sie sprechen sehr deutlich
dafür, dass es tatsächlich um relevante politische Themen geht, nämlich zum Beispiel um die Reform der
Pflegeversicherung, die Abschaffung der Massen- und
Intensivtierhaltung, die wohnortnahe Versorgung mit
Hebammen, den einheitlichen Umsatzsteuersatz auf Lebensmittel, die Kennzeichnung von Echtpelzprodukten,
die Reform hinsichtlich Hartz IV, was die Sanktionen
betrifft, oder die Kostenerstattung bei Cannabismedikamenten. Das sind alles Themen, die viele Bürger tatsächlich bewegen und berühren. Deshalb haben sie auch
mindestens 50 000 Unterstützer, wurden von uns öffentlich diskutiert und mit mehr oder weniger breiter Medienresonanz verfolgt.
Ich wünschte mir aber, dass noch viel mehr Petitionen, deren Themen für die Bürgerinnen und Bürger
ebenfalls wichtig sind, im Petitionsausschuss diskutiert
und somit von den Bürgern nachvollzogen werden könnKerstin Kassner
ten. Deshalb wünsche ich mir eine öffentliche Debatte.
Das wäre auch ohne Probleme möglich. Denn wir nennen dort keine Namen, wir nennen dort keine Firmen,
sondern wir reden über die Inhalte, um die es geht. Deshalb könnte sehr viel mehr öffentlich debattiert werden.
({1})
Das würde auch dazu beitragen, dem Anspruch der
Transparenz gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern,
den unser Parlament haben sollte, gerecht zu werden.
Also: Machen wir uns dafür stark!
({2})
Ich möchte den Dank an die Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter des Ausschusses, den Frau Steinke ausgesprochen hat, gerne wiederholen. Es sind vom Ausschusssekretariat im vergangenen Jahr 70 000 Schriftstücke versandt worden. Wir wissen, es gab 15 325 Petitionen. Das
heißt, dass zu jeder Petition mehrere Schriftvorgänge auf
den Weg gebracht werden mussten. Das ist eine gewaltige Leistung. Schönen Dank an alle Mitarbeiter der
Fraktionen, die für Petitionen zuständig sind, aber auch
an die Fachpolitiker! Ohne sie würden wir die vielfältigen Themen gar nicht behandeln können. Es geht dabei
wirklich um das Leben in seiner ganzen Breite. Natürlich weiß man nicht über jedes einzelne Thema selbst
Bescheid, sondern muss sich Hilfe holen. Also: Kollegen, habt vielen Dank für eure Unterstützung!
({3})
Abschließend möchte ich auf die Ausschussdrucksache 18/4990 aufmerksam machen; das ist der Bericht des
Petitionsausschusses für das Jahr 2014. Er ist sozusagen
ein Parcoursritt durch alle Politikfelder. Wenn Sie sich
dafür interessieren, welche Themen man noch aufgreifen
könnte, dann schauen Sie bitte in diese Drucksache. Es
gibt viele Politikfelder, die noch beackert werden müssen. Das lohnt sich im Interesse der Bürgerinnen und
Bürger ganz sicher. Es gibt vielfältige Themen - bis hin
zur Farbe der Parkscheibe an den Autos. Dort sollte man,
so die Petition, buntere Farben benutzen. Es gab auch
eine sehr interessante Einschätzung, die ich Ihnen nicht
ersparen möchte. Auf Seite 79 steht nämlich:
Zum Bereich des Wetterdienstes wurden im Jahr
2014 keine Petitionen eingereicht. Der Ausschuss
konnte somit erfreut feststellen, dass die Bürgerinnen und Bürger mit dem Wetter im Jahr 2014 weitestgehend zufrieden waren.
({4})
Damit, liebe Kollegin, müssen Sie zum Schluss kommen.
Ja. - Ich möchte mich sehr herzlich bei allen bedanken. Es ist wirklich eine sehr gute und kollegiale Arbeit
in unserem Petitionsausschuss, und ich denke, das sind
wir den Bürgerinnen und Bürgern auch schuldig.
Vielen Dank.
({0})
Vielen Dank. - Als nächste Rednerin hat die Kollegin
Martina Stamm-Fibich von der SPD-Fraktion das Wort.
({0})
Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Der Petitionsausschuss ist nicht nur ein sehr arbeitsaufwendiger
Ausschuss, sondern er bietet vor allem auch ein sehr
spannendes Arbeitsumfeld, und das oft jenseits der großen Politik. Gerade das macht diesen Ausschuss so besonders.
Der Petitionsausschuss ist das verfassungsrechtlich
verankerte Sprachrohr zwischen Politik und Bürgern.
Diese Funktion ist extrem wichtig, gerade in einer Zeit,
in der die Zahl komplexer globaler Fragen zunimmt. Oft
sind diese Fragen so kompliziert, dass sie mit einfachen
Worten nicht zu beantworten sind. Kein Wunder, dass so
Politikverdrossenheit entsteht! Wenn ich nicht verstehe,
wo mein Geld hinkommt, dann werde auch ich ärgerlich.
Gerade hier liegt die Bedeutung des Petitionsausschusses.
Wir als Mitglieder dieses Ausschusses müssen zuhören, und zwar vor allem denen, die keine große Lobby
hinter sich haben. Wir müssen die Sorgen und Nöte der
Bürgerinnen und Bürger ernst nehmen, die sonst zu
leicht überhört werden. Das ist für mich die eigentliche
Bedeutung des Petitionsausschusses, und deshalb liegt
mir die Arbeit so sehr am Herzen.
Scherzhaft wurde ich vor kurzem in einem Interview
als „Kümmertante“ bezeichnet. Ich denke, mein Gesprächspartner hatte recht; denn wir kümmern uns sehr
gerne und mit viel Engagement um die Anliegen der
Bürgerinnen und Bürger. Im Petitionsausschuss sammeln wir keine Stimmen, wir suchen Lösungen.
({0})
Als Mitglied im Ausschuss für Gesundheit habe ich
es auch im Petitionsausschuss vor allem mit den Petitionen aus dem Gesundheitsbereich zu tun. 2014 gab es im
Gesundheitsbereich rund 28 Prozent mehr Petitionen als
2013. Insgesamt 1 531 Petitionen richteten sich an das
Bundesministerium für Gesundheit. Die hohe Zahl erklärt sich durch die zwei Gesetze, die wir im letzten Jahr
beschlossen haben.
Petitionen sind aber weit mehr als Reaktionen auf Gesetzesvorhaben. Sie drücken das aus, was Bürger erle10420
ben, sie zeigen Grenzen, an die Bürger stoßen, und die
Alternativen auf, die sie sich für bestimmte Situationen
wünschen.
Im Bereich der Gesundheit sind es vor allem zwei
Themen, bei denen viele Bürgerinnen und Bürger der
Schuh drückt. Zum einen sind es die Beiträge zur gesetzlichen Krankenversicherung. 363 Petitionen beinhalteten
im Jahr 2014 die Beiträge zur GKV. Häufig wenden sich
freiwillig gesetzlich Versicherte, die selbstständig sind,
an uns. Viele der Selbstständigen haben ein zu geringes
Einkommen, um die hohen Beiträge der freiwilligen
Krankenversicherung zahlen zu können. Sie fordern deshalb, dass die Beiträge nach dem tatsächlichen Einkommen berechnet werden. Aktuell gibt es hier eine Mindestbemessungsgrenze.
Neben den Beiträgen zur GKV zeichnen sich zum anderen auch im Bereich der Leistungen der gesetzlichen
Krankenversicherungen Probleme ab. So wurde in einer
Petition die Zuzahlung zu einem elektrischen Rollstuhl
gefordert. Aus einer persönlichen Notlage heraus fordert
die Petentin, dass die Ungleichbehandlung von mittelbarem und unmittelbarem Behinderungsausgleich generell
abgeschafft werden muss. Auch mittelbare Hilfsmittel,
wie der genannte Rollstuhl, sollten es den Betroffenen
ermöglichen, so normal wie möglich am Leben teilzuhaben - so die Forderung der Petentin. Insgesamt haben
sich 77 Bürgerinnen und Bürger an uns gewandt, die
Probleme mit Zuzahlungen in der GKV hatten.
Besonders spannend sind für mich die Petitionen aus
dem Bereich der Arzneimittel. Im Fokus der Kritik steht
dabei oft die Substitution, also die Pflicht, Originalpräparate durch Generika zu ersetzen. Am 15. Juni, also am
kommenden Montag, beschäftigt sich der Petitionsausschuss in einer öffentlichen Anhörung mit dem Thema
Substitution. In der Petition fordert die Deutsche Parkinson Vereinigung, dass die Indikation Parkinson auf die
sogenannte Substitutionsausschlussliste gesetzt wird.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, Sie sehen, die
Arbeit des Petitionsausschusses ist vielfältig, aber
manchmal auch sehr kleinteilig. Ohne die engagierten
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Ausschussdienstes
wäre die Flut an Petitionen für uns nicht zu bewältigen.
Ich danke ihnen für die gute Zusammenarbeit.
({1})
Nur wenn wir uns gemeinsam kümmern, können wir die
besten Lösungen für die Petenten finden.
Herzlichen Dank.
({2})
Vielen Dank. - Als nächste Rednerin hat die Kollegin
Corinna Rüffer vom Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Liebe Gäste auf den Tribünen! Ich schließe
mich dem an - das ist im Jahresbericht nachzulesen -:
Mit Petitionen kann man sehr viel erreichen. Da sind
zum Beispiel die vielen Petitionen, die fordern, endlich
das Leid der vergessenen Kinder anzuerkennen, die in
Einrichtungen der Behindertenhilfe und in Psychiatrien
unermessliches Leid erlitten haben. Wenn die Länder
sich jetzt endlich zu bewegen scheinen, in dieser Frage
ihrer Verantwortung gerecht zu werden, dann auch aufgrund eines gemeinsamen Beschlusses der Abgeordneten
im Petitionsausschuss. Zu verdanken sind die meisten Erfolge in allererster Linie den engagierten Bürgerinnen
und Bürgern und Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des
Ausschussdienstes.
({0})
Wenn wir im Ausschuss immer so engagiert debattieren würden, wie es gestern Morgen auf einmal möglich
war, könnten wir uns auch selber auf die Schulter klopfen. Aber im Rückblick auf das letzte Jahr und die letzten Monate kann ich nur sagen: An uns, liebe Kolleginnen und Kollegen, liegen die Erfolge leider nicht immer.
Denn der Lust der Bürgerinnen und Bürger auf Mitsprache, Mitwirkung und Veränderung steht viel Verzagtheit
entgegen, Verzagtheit der Koalitionsabgeordneten, dieses Engagement aufzunehmen und Fehler zu korrigieren.
Um es deutlich zu sagen: In der heutigen Debatte
herrschen verkehrte Verhältnisse. Sie, liebe Kolleginnen
und Kollegen von der Union und der SPD, haben wieder
zwei Drittel der Redezeit. Aber im Ausschuss bekommen Sie, abgesehen von der wirklich erfreulichen Sitzung gestern, zu selten den Mund auf.
({1})
In der Regel jagen wir im Schweinsgalopp in 30 Minuten durch 30 Petitionen. Die Petitionen sind Ihnen im
Schnitt also 60 Sekunden wert.
({2})
- Wir sagen die ganze Zeit etwas. Das können wir uns
einmal angucken.
Für viele Bürgerinnen und Bürger ist der Petitionsausschuss wie eine Laterne, die Licht ins Dunkel des Behörden- und Paragrafendschungels bringen kann.
({3})
Die Kolleginnen und Kollegen der SPD bräuchten dort
vor allen Dingen eine Laterne, um sich festzuhalten. Regelmäßig mittwochmorgens dürfen wir erleben, wie die
SPD umfällt und sich widerstandslos von eigenen Grundsätzen verabschiedet. Petitionen zu Pflege, Gesundheit
und Arbeitsmarktpolitik, mit denen Bürgerinnen und
Bürger sozialdemokratische Kernanliegen formulieren,
werden von sozialdemokratischen Abgeordneten oft im
Minutentakt und diskussionslos beiseitegewischt.
Wir würden im Ausschuss gerne häufiger oder zumindest ab und an eine Begründung dafür finden, warum berechtigte Petitionen abgelehnt werden.
({4})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD - die
Union schimpft gerade mehr, obwohl sie gar nicht angesprochen ist -, was ist das für ein Verständnis von Demokratie und Parlamentarismus, wenn Sie auf eine Petition, mit der Hunderttausende von Bürgerinnen und
Bürgern die Bundesregierung auffordern, Konsequenzen
aus dem NSA-Skandal zu ziehen, nur antworten - ich zitiere sinngemäß -: Mal ganz ehrlich, daran können wir
doch sowieso nichts ändern.
Warum machen wir uns eigentlich die Arbeit? Es ist
doch Sinn und Zweck des Petitionsausschusses, Regierungshandeln zu kontrollieren und zu korrigieren. Sie
wissen schon, dass auch Abgeordnete der Regierungskoalition nicht verpflichtet sind, zu allem Ja und Amen
zu sagen, was ihre Minister verbocken. Wenn die
Merkel-Raute zum Symbol für Bewegungslosigkeit und
Stillstand in diesem Land geworden ist, dann ist der
Bremsklotz das Symbol für die Tätigkeit der Koalition
im Petitionsausschuss.
({5})
Die Liste von Petitionen - jetzt sollten vor allem auch
diejenigen zuhören, die nicht immer dabei sind -, die
von der Koalition nicht entschieden, sondern immer wieder geschoben werden, wird länger und länger. Es ist
wirklich leichter, einen Pudding an die Wand zu nageln,
als die Koalitionsabgeordneten im Ausschuss zu Entscheidungen zu bewegen.
({6})
Wir alle wollen doch nicht den Petitionsausschuss
wieder in die muffige Ecke des Kummerkastens drängen: Die Leute sollen bei Mutti ihr Herz ausschütten,
aber mit Konsequenzen ist nicht zu rechnen. Jetzt kommen Sie mir nicht damit, dass Sie Fortschritte im Bereich der Barrierefreiheit in der Pipeline haben. Es ist
wirklich peinlich, dass wir in diesem Bereich noch nicht
weitergekommen sind. Ich sage Ihnen ganz deutlich: Wir
können das von unserer Seite aus heute entscheiden. Das
ist überhaupt kein Problem. Aber darüber hinaus steht
eine substanzielle Weiterentwicklung des Petitionsrechts
an. Warum nicht generell öffentliche Ausschusssitzungen?
({7})
Es ist ziemlich absurd, dass mehr als 90 Prozent aller öffentlichen Petitionen in nichtöffentlicher Sitzung beraten
werden.
({8})
Lassen Sie uns hier im Plenum über bedeutende Petitionen debattieren. Lassen Sie uns die öffentliche Petition zu einer offenen Petition weiterentwickeln, sodass
die Bürgerinnen und Bürger gemeinsam Gesetzentwürfe
erarbeiten können. Dann können wir sie in den Fachausschüssen und auch nachher hier im Plenum beraten. Das
wäre ein echter Fortschritt. Lassen Sie uns bessere
Zugänge schaffen für diejenigen, die sich nicht routiniert
im Netz bewegen, für Menschen mit geringem Einkommen, mit niedrigem Bildungsniveau und für alte Menschen. Solche Reformen wären die richtige Antwort auf
die zunehmende Politikverdrossenheit, von der wir alle
ein Lied singen können.
Frau Kollegin Rüffer, auch bei einer großzügigen Bemessung der Redezeit müssen Sie zum Schluss kommen.
Ich komme zum Ende. - Die Menschen möchten sich
einbringen. Das beweist jede Petition, die uns erreicht.
Geben wir ihnen bitte mehr Möglichkeiten, als es heute
der Fall ist.
Vielen Dank.
({0})
Für die CDU/CSU-Fraktion spricht jetzt der Kollege
Paul Lehrieder.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren! Liebe Zuschauerinnen! Liebe Zuschauer!
Sehr geehrte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Petitionsausschusses hier auf der Regierungsbank, auch von
mir vorab ein herzliches Wort des Dankes.
Ich habe mich bemüht, eine sehr harmonische Rede
aufzusetzen, aber, liebe Frau Kollegin Rüffer, ich muss
gleichwohl anfangen, Sie zu korrigieren. An die Damen
und Herren Zuschauer, die die Kollegin Rüffer nicht so
gut kennen wie wir, sage ich: Sie ist eigentlich viel
netter.
({0})
So wie heute - sie hat hier versucht, zu polarisieren - ist
sie zum Glück im Ausschuss ganz selten.
Liebe Frau Kollegin Rüffer, wenn im Ausschuss
Schweigen im Walde herrscht, dann liegt das oft genug
daran, dass wir unsere Petitionen sehr gründlich vorbereitet haben und unsere Meinung gefestigt haben, aber
von der Opposition kein Wort dazu kommt, warum und
weshalb über welche Petition so nicht abgestimmt werden soll.
({1})
Frau Rüffer, wir sind auf eine Wortmeldung von Ihnen,
von den Grünen oder von den Linken noch nie eine
Antwort schuldig geblieben. Das Schweigen im Walde
betrifft also, wenn wir tatsächlich harmonisch eine Petition verabschieden, uns beide. Ich freue mich auf die
nächste Sitzung des Petitionsausschusses am kommenden Mittwoch. Da werden Sie wieder viel netter sein.
({2})
- Sie wollen etwas fragen.
Ich entnehme Ihrer zustimmenden Geste, Herr Kollege Lehrieder, dass Sie mit einer Zwischenfrage der
Kollegin Rüffer einverstanden sind.
Selbstverständlich.
Herr Lehrieder, ich schätze Sie auch sehr.
({0})
Das war schon mal gut. Bisher stimmt alles.
Ich schätze alle Kollegen, die im Petitionsausschuss
sind. Aber das ist nicht der Punkt. Ich nenne einmal ein
Beispiel: Es ist wirklich schwierig, über kritische Petitionen zu diskutieren, wenn sie schlicht nicht auf der Tagesordnung stehen. Ich hatte gestern Berichterstattung
zu fünf Petitionen. Vier dieser Petitionen sind geschoben
worden. Würden Sie mir nicht zustimmen, dass das ein
Problem sein könnte?
Liebe Frau Kollegin Rüffer, herzlichen Dank für die
Einlassung. Natürlich ist es oft so, dass noch Sachverhalte oder neue Erkenntnisse bei der Bearbeitung einer
Petition oder bei der Vorbereitung einer Sitzung des
Petitionsausschusses auftauchen und dass es deshalb der
Petent verdient, dass wir die Petition, bevor wir eine vorschnelle Entscheidung treffen, schieben, um unserem gesamten Ausschuss die Wissensmehrung, auch im Interesse der Opposition, zu ermöglichen.
({0})
Also, Frau Kollegin Rüffer, eine Verschiebung hat
sachliche und vernünftige Gründe. Das zeugt von einem
verantwortungsvollen Umgang mit den Petitionen, den
wir uns angewöhnt haben und den Sie in vielen Fällen
sicherlich gut mitmachen. - Bitte bleiben Sie noch stehen, ich bin mit meiner Antwort noch nicht ganz fertig.
Bitte glauben Sie uns: Die Petitionen sind bei uns in
der Großen Koalition in guten Händen. Wir machen das
richtig. Das hat nichts mit einem Pudding, den man an
die Wand nageln kann, zu tun. Sie dürfen uns dabei
gerne weiterhin kritisch begleiten. Ich freue mich schon
auf die nächste Sitzung. - So, jetzt dürfen Sie sich setzen.
({1})
Meine Damen und Herren, wir treffen uns hier zum
ersten Mal in der 18. Legislaturperiode, um den Jahresbericht 2014 des Petitionsausschusses vorzustellen.
Nach der Bundestagswahl 2013 änderte sich natürlich
auch die Zusammensetzung des Ausschusses, sodass
diese Beratung eines Jahresberichtes heute für einige
Kolleginnen und Kollegen die erste ist.
Sie konnten sich bereits ein Bild über die sehr arbeitsreiche, aber auch über die Fraktionsgrenzen hinweg äußerst angenehme und sehr kollegiale Zusammenarbeit
im Petitionsausschuss machen. Das betrifft unseren
Koalitionspartner von der SPD. Das betrifft aber auch
Sie, Frau Steinke, und die ganzen Kollegen der Linkspartei, aber auch die Kollegin Rüffer und den Kollegen
Meiwald von den Grünen. Im Großen und Ganzen mögen wir uns sehr viel mehr, als es hier den Anschein hat.
Im Vergleich zu den meisten anderen Ausschüssen
des Bundestages findet die Arbeit des Petitionsausschusses bedauerlicherweise nach wie vor eher fernab der öffentlichen Wahrnehmung statt. Ich will nicht verhehlen,
Frau Kollegin Rüffer: Oft ist das auch gut so. Oft enthält
eine Petition wirklich sensible und personenbezogene
Daten. Dabei kann der Petent völlig zu Recht darauf vertrauen, dass wir seine Daten vertraulich behandeln und
sie nicht coram publico erörtern oder auf dem Marktplatz herumtragen.
({2})
Unsere Tätigkeit ist gleichwohl nicht weniger wichtig. Im Gegenteil: Kaum eine Institution innerhalb des
politischen Systems der Bundesrepublik setzt sich mit
den Befindlichkeiten innerhalb der Bevölkerung so intensiv auseinander. Nirgendwo sonst können Bürger auf
so direkte Weise ihre Anliegen dorthin tragen, wo
Entscheidungen getroffen werden: in den Deutschen
Bundestag.
Meine Damen und Herren, wir alle bezeichnen uns als
Abgeordnete. Abgeordnet: Das heißt, wir sind von den
Bürgern aus unseren Wahlkreisen hier nach Berlin entsandt, um zum einen gute Gesetze und gute Arbeit in den
Ausschüssen zu machen, aber um zum anderen natürlich
auch die Sorgen und Nöte der Menschen in unseren
Wahlkreisen, in unserer Heimat mit nach Berlin zu nehmen und sie als Abgeordnete einer vernünftigen Lösung
zuzuführen. Das Vertrauen der Menschen rechtfertigen
wir auch durch die Arbeit im Petitionsausschuss, um als
Seismograf der Befindlichkeit unserer Bevölkerung kritikwürdige Gesetze, kritikwürdige Entscheidungen, aber
auch kritikwürdiges Verwaltungshandeln zu korrigieren.
Bevor meine Zeit zu Ende ist - lieber Herr Präsident,
die Uhr läuft heute wieder sehr schnell -, darf ich auf einige aktuelle Beispiele hinweisen.
({3})
- Lieber Kollege Birkwald, das stimmt. - Ich will ein
paar aktuelle Beispiele aufgreifen, damit sich die Menschen vorstellen können, welche Themen wir behandeln;
von den Kollegen wurden bereits Beispiele aus dem
Petitionsausschuss genannt.
In einer Petition vor einigen Jahren wurde gefordert,
die Kindererziehungszeiten bei der Rentenberechnung
von Frauen, deren Kinder vor dem 1. Januar 1992 geboren wurden, von einem Jahr auf drei Jahre zu erhöhen.
Wir haben diese Petition dem zuständigen Bundesministerium für Arbeit und Soziales zur Erwägung überwiesen, weil wir hier eine Ungleichbehandlung sahen. Diese
Petition hat sinngemäß Eingang in die Koalitionsverhandlungen gefunden. Wir haben zum 1. Juli 2014 die
sogenannte Mütterrente eingeführt, mit der die Erziehungsleistung von Vätern und Müttern, deren Kinder vor
dem 1. Januar 1992 geboren wurden,
({4})
mit einem zusätzlichen Entgeltpunkt berücksichtigt
wurde.
({5})
- Herr Kollege Kurth, bitte stellen Sie eine Frage. Ich
habe nur noch 40 Sekunden Redezeit. - Ich will nicht
behaupten, dass allein der Petitionsausschuss die Mütterrente auf den Weg gebracht hat. Aber wir haben konstruktiv daran mitgewirkt, dass hier mehr Gerechtigkeit
für Mütter von Kindern, die vor dem 1. Januar 1992 geboren worden sind, entstehen konnte.
({6})
Der nächste Punkt betrifft die Prostitution. Die Forderung, Bordellwerbung auf öffentlichen Plätzen und auf
öffentlichen Veranstaltungen zu verbieten, betrifft das
Prostitutionsgesetz, dessen Neuregelung wir derzeit in
sehr konstruktiven und sehr leidenschaftlichen Diskussionen mit unserem Koalitionspartner erarbeiten. Aus
diesem Grund hat der Petitionsausschuss empfohlen, die
Petition der Bundesregierung und damit dem zuständigen Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen
und Jugend zu überweisen, was wir getan haben.
Ich begrüße die in die Arbeit vertiefte Frau Staatssekretärin Caren Marks und darf gleichzeitig die Gelegenheit nutzen, mich für die gute Präsenz von Mitgliedern
der Bundesregierung auf der Regierungsbank sehr herzlich zu bedanken. Oft genug müssen wir uns mit euch
anlegen und einen Staatssekretär vorladen, wenn ihr
nicht sofort das macht, was der Petitionsausschuss will.
Manchmal müssen wir gemeinsam mit unserer Regierung dicke Bretter bohren. Aber in vielen Fällen konnten
wir gemeinsam und konstruktiv eine gute Lösung erreichen.
Ich darf mich bei der Regierung, bei den Ausschussmitarbeitern und auch bei den Kolleginnen und Kollegen
bedanken und wünsche Ihnen noch einen schönen Tag.
Ich freue mich auf die weiterhin harmonische, konstruktive und nette Zusammenarbeit, Frau Kollegin Rüffer.
({7})
Es herrscht also eine ausgesprochen angenehme
Atmosphäre.
({0})
Deshalb erteile ich jetzt das Wort der Kollegin Birgit
Wöllert für die Fraktion Die Linke.
({1})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Zuschauerinnen und Zuschauer und Zuhörerinnen
und Zuhörer! Zu Anfang sei gleich gesagt, dass es eine
spannende Arbeit in diesem Petitionsausschuss ist, weil
es eine Arbeit ist, die durch die Breite aller Politikfelder
reicht. Als Abgeordnete, die auch in einer Stadtverordnetenversammlung und in einem Kreistag tätig ist,
schätze ich es sehr, diese Breite der Politik oftmals auch
in der politischen Bewertung zu haben. Das sei vorausgeschickt.
Ganz interessant finde ich, dass das Bundesministerium für Arbeit und Soziales deutlich auf Platz eins der
Liste der Petitionen liegt, gefolgt von dem Bundesministerium für Gesundheit auf Platz vier, das auch eine recht
hohe Anzahl von Petitionen betrifft. Soziale Fragen - ich
zähle diese einmal zusammen -, sind somit mit einem
hohen Anteil Gegenstand von Petitionen. Ich denke, das
ist eine Widerspiegelung dessen, was gesamtgesellschaftlich diskutiert wird. Das halte ich für sehr wichtig,
und deshalb möchte ich dies an zwei ganz konkreten
Beispielen näher ausführen.
Wir hatten insgesamt elf öffentliche Petitionen in vier
Sitzungen. Davon waren 36 Prozent aus dem Bereich
des Ministeriums für Gesundheit. Spitzenreiter bei den
öffentlichen Petitionen war die Petition zur Reform der
Pflegeversicherung auf der Grundlage eines neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs, an der sich 176 523 Menschen
beteiligt haben. Ich finde, das ist eine tolle Form, seine
eigenen Angelegenheiten selbst in die Hände zu nehmen.
({0})
Worum ging es dabei? Es ging um ein neues Verständnis von Pflegebedürftigkeit. Ich bin immer für eine
konstruktive Arbeit. Harmonisch muss sie nicht immer
sein, das sind wir auch sonst nicht alle,
({1})
und das unterscheidet uns als Opposition von der Koalition.
({2})
Eine nur harmonische Opposition erübrigt sich eigentlich.
({3})
Was heißt das im Einzelnen? Der Hilfebedarf der
Menschen ist ganzheitlich und unter Einbeziehung von
seelischen, geistigen und körperlichen Einschränkungen
zu beurteilen. Seit 2009 liegen dazu Ergebnisse von
verschiedenen Sachverständigen vor. Nun will die Bundesregierung laut Koalitionsvertrag den Pflegebedürftigkeitsbegriff erst 2017 wirklich auf die Tagesordnung
bringen. Das geht den Petentinnen und den Petenten zu
langsam, und ich sage: zu Recht.
({4})
Die Betroffenen haben einfach nicht so lange Zeit. Ihnen rennt die Zeit buchstäblich davon, und wir Politikerinnen und Politiker haben da einfach schneller zu sein.
Wenn Expertinnen und Experten sich in eigener Sache
zu Wort melden, geben sie auch immer gute Hinweise,
wie etwas finanziert werden kann. Es ist nämlich ein
Märchen, dass immer nur gefordert und nicht gesagt
wird, wie das bezahlt werden kann. Auch das zeigte sich
in der öffentlichen Anhörung. Ich sage noch einmal
recht herzlichen Dank dafür, dass alle, die sich diesen öffentlichen Anhörungen stellen, mit einer solchen Sachkompetenz gut vorbereitet dorthin kommen.
({5})
Beispiel zwei: Sicherstellung der flächendeckenden
wohnortnahen Versorgung mit Hebammenhilfe. Mit
88 512 Unterschriften lag diese Petition auf Platz drei,
hinter der Massentierhaltung. Hier ging es erstens um
Sofortmaßnahmen für die Hebammen wegen der Haftpflichtversicherung und zweitens darum, Voraussetzungen zu schaffen, dass Hebammen ohne Einschränkung
bei normalen Geburten der Nachsorge und der Hilfe bei
Beschwerden ihrer Arbeit gut nachkommen können. Es
ist leider nicht gesetzlich gesichert - es wird auch mit
dem neuen Gesetz, dessen Entwurf wir im Rahmen der
zweiten und dritten Beratung unter Tagesordnungspunkt 6 verabschieden werden, nicht gesichert sein -,
dass Hebammen künftig eine Absicherung haben.
Frau Kollegin Wöllert, als erfahrene Parlamentarierin
wissen Sie, dass jede Redezeit einmal ein Ende hat.
Ich kann nur noch sagen: Ich habe das jetzt auf den
Weg gebracht. Die Sache läuft.
Liebe Petentinnen und Petenten, bleiben Sie weiterhin
so fleißig, und sorgen Sie dafür, dass der Bundestag so
viel Arbeit wie möglich hat. Sie haben durchaus Möglichkeiten, hier mitzuwirken.
Vielen Dank.
({0})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Simone Raatz
für die SPD.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Liebe Mitarbeiter des Petitionsausschusses!
Einige meiner Vorredner haben das schon gesagt: Der
Petitionsausschuss ist sehr arbeitsintensiv. Frau Steinke
und Herr Mattfeldt haben bestimmte Zahlen genannt.
Alleine 2014 habe ich als Berichterstatterin für die Themenbereiche Energie, Innen- und Netzpolitik sowie Bildung und Forschung etwa 250 Petitionen bearbeitet. Nun
wurde der Ruf von einigen nach noch mehr Arbeit laut.
Ich bin mir nicht sicher,
({0})
ob wir das dann noch bewältigen können. Ich finde, dass
schon 250 Petitionen ausreichend sind, wenn man sie ordentlich bearbeiten möchte. Wenn es sich um wichtige
Anliegen handelt, stehen wir Abgeordnete im Petitionsausschuss natürlich bereit, um alles ordentlich zu bearbeiten.
Unter den 250 Petitionen gab es viele interessante, die
ein Nachjustieren auf politischer Ebene erforderlich
machten. Da viele allgemeine Sachverhalte bereits erwähnt wurden, möchte ich auf ein Beispiel näher eingehen. Sie alle kennen sicher die Wäscheetiketten in ihrer
Kleidung. Haben Sie diese auch schon einmal aus Ihrer
Kleidung entfernt - wenn nicht, sollten Sie dies tun und gesehen, dass manche Wäscheetiketten ein Innenleben haben? Warum diese Frage? Weil genau dieses
Innenleben der Etiketten Bürger in unserem Land beschäftigt und sie dazu eine Petition an den Deutschen
Bundestag gerichtet haben. Denn in den Etiketten befindet sich häufig ein Chip, der sogenannte RFID-Chip, der
Radiofrequenz-Identifikations-Chip. Dieser dient den
Unternehmen der Warenverfolgung und der Inventur.
Aber er verbleibt nach dem Verkauf weiterhin im Kleidungsstück. Das fiel einem Petenten auf und machte ihn
stutzig. Er forderte daher in seiner Petition die automatische Deaktivierung und Entfernung des Chips nach dem
Kauf des Kleidungsstücks.
Warum? Bisher können Kunden über diesen Chip,
ohne dass sie etwas davon wissen, im Umkreis von etwa
einem Kilometer identifiziert werden. Damit wäre es
zum Beispiel möglich, Bewegungsprofile zu erstellen,
das Kaufverhalten zu analysieren und damit individuelle
Werbebotschaften zu platzieren, und das alles mit handelsüblichen Lesegeräten. Das mag manchem gefallen.
Ich persönlich würde es sympathisch finden, wenn man
mir das eine oder andere anbieten würde.
({1})
Manche, wie dieser Petent, möchten das aber nicht. In
der Sitzung des Petitionsausschusses waren wir uns daher parteiübergreifend einig, dass hier Handlungsbedarf
besteht. Frau Rüffer, da waren wir einer Meinung und
haben gemeinsam gestimmt. Unterschiedliche Meinungen im Petitionsausschuss dürfen und müssen möglich
sein. Ich gebe Ihnen dahin gehend recht, dass eine intensivere Diskussion über manche Punkte wünschenswert
wäre. Vielleicht kommen wir noch dahin. Ich wünsche
es mir jedenfalls auch.
Solche RFID-Chips sollten - das war der Wunsch des
Petenten - beim Verkauf deaktiviert bzw. entfernt werden. Um das zu erreichen, haben wir die Petition folgendermaßen behandelt: Erstens. Diese Petition haben wir
zur Erwägung an die Bundesregierung überwiesen. Das
ist immerhin das zweithöchste Votum, welches der Petitionsausschuss vergeben kann. Zweitens haben wir ein
Berichterstattergespräch mit den zuständigen Ministerien in die Wege geleitet, um ganz konkret klären zu lassen, was getan werden muss, um dieser Petition gerecht
zu werden.
Ein bisschen ernüchtert waren wir nach dem Gespräch;
denn wir mussten feststellen, dass auch die Mitarbeiter in
den zuständigen Ministerien über relativ wenig technisches Know-how bezüglich dieser Chips verfügten und
darum keine genauen Aussagen treffen konnten, wie die
Verwendung und Einsetzbarkeit zukünftig zu regeln ist.
Das macht die Entscheidung im Petitionsausschuss nicht
unbedingt einfacher.
Aber - und darauf kommt es an - die zuständigen
Ministerien BMWi und BMI haben jetzt den Auftrag,
sich intensiver mit der Thematik zu befassen, rechtliche
Klarheit zur Nutzung der RFID-Chips zu schaffen und
zukünftig eine automatische Deaktivierung der Chips zu
gewährleisten. Damit hat der Petent mit seiner Petition
auf ein allgemeines Problem aufmerksam gemacht und
uns als Petitionsausschuss zum Handeln aufgefordert.
Damit und mit der Reaktion, die ich gerade beschrieben
habe, machen wir doch deutlich, dass Petitionen sehr erfolgreich zum Ziel geführt werden können, es also auch
sinnvoll ist, sich mit dem Anliegen an uns zu wenden.
Um auf den Chip zurückzukommen: Im Moment sind
die zuständigen Ministerien am Zug. Konkret bedeutet
das, dass die Ministerien spätestens bis Ende des Jahres
einen Bericht darüber vorlegen müssen, was sie diesbezüglich veranlasst haben. Das Beispiel zeigt eben, dass
wir die Anliegen von Petenten natürlich ernst nehmen
und jedes Anliegen behandelt wird. Meine Kolleginnen
und Kollegen haben es schon hier erwähnt. Wenn möglich, werden wir die Anliegen zu einer guten Lösung
führen, und wir haben das in der Vergangenheit schon
getan. Darum kann man von Verzagtheit, Frau Rüffer,
hier eher nicht sprechen.
({2})
Das war ein Beispiel von vielen. Im vorliegenden Jahresbericht sind weitere aufgeführt.
Frau Kollegin Dr. Raatz, darf ich auch Sie an die Redezeit erinnern?
Ich komme zum Schluss, und zwar mit einem Dankeswort. - Alle anderen haben gedankt; daher möchte
auch ich jetzt danken.
({0})
Da diese Themenvielfalt alleine nicht zu bearbeiten
ist, gilt mein Dank an dieser Stelle all jenen, die es ermöglichen, dass dieses Instrument der direkten Demokratie funktioniert. Das sind alle Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter des Ausschussdienstes und der Fraktionen,
die eigenen wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter sowie die Kolleginnen und Kollegen des
Ausschusses. Ich jedenfalls freue mich auf die weitere
Zusammenarbeit.
({1})
Darf ich generell an die Kolleginnen und Kollegen
appellieren, die Redezeiten nicht als ungefähre Richtgröße zu empfinden, sondern als präzise Abmachung
zwischen den Geschäftsführern?
Ich erteile in diesem Sinne das Wort dem Kollegen
Peter Meiwald für Bündnis 90/Die Grünen.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Verehrte Kolleginnen
und Kollegen! Wieder einmal ist die Zahl der Eingaben
deutlich gestiegen. Das ist auch das, was wir uns wünschen. Wir wollen artikulationsstarke, wir wollen partizipierende Bürger, wir wollen auch zwischen den
Wahltagen Menschen, die Anteil an unserem parlamentarischen Verfahren nehmen. Erfreulich ist - das ist
schon angeklungen - der angenehme menschliche Umgang im Ausschuss. Erfreulich ist auch - Herr Kollege
Lehrieder hat es gesagt - die Unterstützung durch die
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Ausschusses und
der Fraktionen.
Doch wir wollen heute auch den Blick darauf werfen,
was eigentlich hinter den Petitionen steckt und welcher
Art die Petitionen sind, die wir Mittwoch für Mittwoch
bearbeiten. Es wird schnell deutlich: Das Petitionswesen
wird immer wieder von tragischen Einzelfällen bestimmt. Es handelt sich bei den Petenten um Menschen,
bei denen man wirklich lange überlegt, wie man ihnen
im Einzelfall helfen kann.
Es gibt andererseits aber auch die Menschen, die das
Petitionswesen als sachkundige Bürger im Sinne eines
politischen Korrektivinstruments nutzen. Das ist auch
gut so. Auch wenn es viele positive Beispiele für diese
Nutzung gibt, so ist das Bemühen leider oftmals vergeb10426
lich. Es wird viel zum Nachdenken angeregt - Kollege
Mattfeldt hat es gesagt, und das ist wohl wahr -, aber wir
stellen immer wieder fest, dass es dabei bleibt, dass man
nachdenkt, aber am Ende sagt: Diese Alarmsignale nehmen wir wahr, aber wir können die Lage nicht ändern,
die Petition lässt diese Konsequenz nicht zu.
Vielleicht ein paar Beispiele dazu. Manchmal gibt es
ein gesetzgeberisches Problem - Corinna Rüffer hat das
angesprochen -, aber keine Möglichkeit, sich innerhalb
der Koalition zu einigen. Dann belässt man es dabei. Als
Beispiel nenne ich die vermurkste EEG-Reform aus dem
letzten Jahr. Es gibt immer wieder Bürgerinnen und Bürger, die sich darüber beklagen, wie ungerecht die Lastenverteilung der EEG-Umlage zwischen finanzstarken Unternehmen und weniger finanzstarken Bürgerinnen und
Bürgern ist. Es geht darum, zu schauen, wie man zu einer gerechteren Verteilung kommen kann. Viele Petitionen mahnen das an und beklagen, dass die EEG-Reform
nicht zu dieser Gerechtigkeit geführt hat. Wenn man sich
das anschaut, stellt man fest: Am Ende des Tages kommen wir nicht zu Voten, die die Regierung auffordern,
etwas zu verändern. Es gelingt uns nicht, uns gemeinsam
darauf zu einigen, diesem Anliegen der Bürgerinnen und
Bürger Nachdruck zu verleihen.
({0})
- Das ist sicherlich auch Teil der Demokratie und auch
eine Frage von Mehrheiten. - Aber natürlich würden wir
uns wünschen, dass wir diesen Seismografen der Bürgergesellschaft manchmal etwas besser zum Ausdruck
bringen könnten.
({1})
Ein anderes Beispiel, das ich noch kurz erwähnen
möchte - es wird immer wieder vorgebracht -, ist die
Frage der Krankenversicherung; es ist von den Kolleginnen Stamm-Fibich und Wöllert schon angesprochen
worden. Da gibt es einen enormen Handlungsbedarf.
Unser zweigliedriges Krankenversicherungssystem ist
überholt, vorgestrig, bürokratisch, im Einzelfall oftmals
ungerecht. Zu dieser Einschätzung kommen wir oft gemeinsam. Wir schlagen immer wieder vor, die Petition
der Bundesregierung als Material zu überweisen, um
eine Bürgerversicherung einzuführen. Das Ministerium
könnte mit Vorschlägen dieser Art wahrscheinlich schon
heute seine Bürowände pflastern. Aber die Überweisungsvorschläge, die wir machen, bringen die Petition
nicht in das Ministerium, weil sie im Ausschuss blockiert werden. Ich sage das, um zu unterstreichen, was
Kollegin Rüffer meinte. Es gibt da viele Dinge, wo wir
noch Verbesserungsbedarf haben.
Auch wenn das Petitionswesen als solches noch Reformen vertragen könnte - das ist schon angesprochen
worden -: Wenn wir das, was wir schon können, nutzen
würden, könnten wir für die Bürgergesellschaft einiges
mehr tun, als wir bisher getan haben. Ich freue mich darauf, daran in den nächsten Jahren konstruktiv weiterzuarbeiten, auch im Ringen um die besten Lösungen.
Natürlich gibt es in einer Demokratie Mehrheitsverhältnisse; das ist völlig klar. Aber ich glaube, wir sollten gemeinsam daran weiterarbeiten.
Herzlichen Dank.
({2})
Die Kollegin Antje Lezius spricht jetzt für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor einem Jahr durfte ich hier im Plenum eine Rede aus Sicht
eines Neumitglieds des Petitionsausschusses halten.
Heute rede ich zu Ihnen als jemand, die schon viele Erfahrungen sammeln durfte. Dazu gehört die sehr gute
Zuarbeit der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Ausschussdienstes, die die vielen Petitionen und Eingaben
mit Bravour meistern. Herzlichen Dank an dieser Stelle!
({0})
Nicht unerwähnt lassen möchte ich auch die gute und
konstruktive Zusammenarbeit in der Arbeitsgruppe der
CDU/CSU. Vielen Dank an meine Kolleginnen und Kollegen! Natürlich auch an meine Mitarbeiter hier an dieser Stelle ein herzliches Dankeschön!
Erfreulich ist zudem die hohe Zahl an Petitionen, denen abgeholfen werden konnte. Bei 1 743 wurde dem
Anliegen entsprochen, und bei 5 130 Petitionen erfolgte
die Erledigung bereits durch Auskunft oder Verweisung.
Zudem hat der Ausschuss etliche Anliegen und Anregungen mit Mehrheit aufgenommen und an die Bundesregierung überwiesen - immerhin 982. Die Erfolgsaussichten einer Petition lassen sich nicht an der Anzahl der
Unterstützer messen, sondern es geht um die Berechtigung des Anliegens. In der Öffentlichkeit wird dies teilweise anders gesehen.
Ich begrüße natürlich, dass Petitionen auf der Internetseite des Bundestages oder in Schriftform mitgezeichnet werden können. Es tut gut, zu wissen, welche
breite Basis manche Auffassungen haben. Nur wird eine
Idee nicht dadurch richtiger, dass viele sie vertreten.
Diese Erfahrung bestätigte sich in den öffentlichen Sitzungen zu den Themen TTIP oder Arbeitslosengeld-IISanktionen.
Die Vielfalt macht gerade den Reiz dieses Ausschusses aus. Ich bin immer wieder angenehm überrascht und
erfreut, dass sich so viele Menschen auf diesem Wege
Gedanken machen über unsere Gesellschaft und darüber
hinaus über die Probleme der Welt. Das ist für mich aktive Bürgerbeteiligung.
({1})
Die Eingaben reichen von der Idee, direkt vor dem
Reichstagsgebäude einen Kinderspielplatz zu errichten,
bis hin zur Forderung nach mehr Entwicklungshilfe. Von
regional bis global ist also alles dabei.
Es freut mich auch, dass Petitionen aus meinem
Wahlkreis kommen, zum Beispiel der Vorschlag, die Legislaturperiode des Bundestags auf fünf Jahre zu verlängern, ein Vorschlag, den ich für sehr unterstützenswert
halte. Mein Bundesland, Rheinland-Pfalz, liegt bei der
Anzahl der Petitionen pro 1 Million Einwohner allerdings auf dem letzten Platz.
({2})
Dabei sind wir doch eigentlich ein ideenreiches Land.
Meine Kollegin Corinna Rüffer, die aus Trier kommt,
wird mir hierin, glaube ich, zustimmen.
Vielleicht müssen wir noch mehr für das Petitionsrecht werben. Ich bin im Rahmen der Öffentlichkeitsarbeit des Bundestages gerne auch persönlich dabei, wie
demnächst auf der renommierten Buchmesse in Frankfurt am Main oder beim Tag der offenen Tür hier im
Bundestag. Mir wird dann immer bewusst, wie aufgeschlossen die Menschen doch für unsere Ausschussarbeit sind.
Viele Petitionen haben einen sehr persönlichen Bezug. Manch ein Petent schüttet sein Herz aus. Dies sind
teils bedrückende Erfahrungen, besonders wenn es um
gesundheitliche Probleme oder Schicksalsschläge geht.
Der mit 21 Prozent der Eingaben größte Posten betrifft den Bereich Arbeit und Soziales, den ich als Mitglied des Fachausschusses hier hauptsächlich bearbeite.
Bei vielen Eingaben merkt man, dass auch ein guter Sozialstaat, den wir, objektiv betrachtet, haben und für den
wir dankbar sein dürfen, keine Garantie für Lebensglück
sein kann. Bei diesen Petitionen gilt es für uns Parlamentarier auch, Professionalität zu wahren und den Petenten
jenseits aller emotionalen Aufwallungen ernst zu nehmen. Ein Beispiel ist eine Petition, bei der der Petent zu
seiner Arbeitslosenhilfe zusätzlich eine Unfallrente von
mehreren Tausend Euro erhielt, dies aber nicht angab.
Bei allem Verständnis für schwierige Situationen fehlt
mir das Verständnis für meine Kolleginnen und Kollegen
von der Opposition, die die Forderung des Petenten,
nichts zurückzahlen zu müssen, unterstützten.
Ich wünsche mir, dass wir weiterhin alle gemeinsam
die Petenten ernst nehmen und auch einmal den Mut zeigen, eine Petition einstimmig abzuschließen, wenn die
konkrete Idee nicht durchführbar oder die Forderung unberechtigt ist, selbst wenn das Grundanliegen in den Augen der Opposition unterstützenswert erscheint. Das hat
jede Petentin, jeder Petent, die bzw. der sich die Mühe
macht, eine Petition einzureichen, verdient.
Ich freue mich auf die weitere kollegiale Zusammenarbeit im Ausschuss.
Vielen Dank.
({3})
Für die SPD spricht jetzt die Kollegin Annette
Sawade.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Frau Vorsitzende Steinke! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Ausschussdienstes! Liebe Besucherinnen und Besucher auf der Besuchertribüne! Da es sehr viele jugendliche Besucherinnen und Besucher sind, sage ich Ihnen nur: Sie alle
dürfen eine Petition einreichen. Es gibt da keine Altersgrenze. Also: Fröhlich voran!
({0})
Vor knapp einer Woche, am vergangenen Samstag,
habe ich den Petitionsausschuss am Stand des Deutschen
Bundestages beim Evangelischen Kirchentag in Stuttgart
vertreten. Ich kam mit vielen Bürgerinnen und Bürgern
ins Gespräch, die mich zu vielen Anliegen befragten, die
eigentlich fast alle petitionsreif waren. Dass es so etwas
gibt, also die Möglichkeit, Petitionen einzureichen,
wussten allerdings leider die wenigsten. Es ging um
Themen wie Asylverfahren, Betreuung von Flüchtlingen, aber auch Fragen zur Maut. Darum habe ich einfach
einen Werbeblock für das Verfahren der Petition beim
Deutschen Bundestag eingelegt.
({1})
Nicht, dass wir nicht genügend zu tun hätten - es
wurde ja schon gesagt; die Zahlen sprechen eine andere
Sprache -, aber für mich ist der Petitionsausschuss der
direkte Weg der Bürgerinnen und Bürger zum Gesetzgeber und zur Regierung. Herzliche Bitte: Nicht alles
schlechtreden. Wir können und müssen noch vieles verbessern; aber wir möchten auch, dass der Petitionsausschuss als Organ noch mehr anerkannt und in die Öffentlichkeit getragen wird. Da hilft keine Pauschalkritik,
sondern nur konstruktive Kritik; und darum bitte ich.
({2})
- Wir bemühen uns darum.
Es gilt außerdem - auch das ist mir wichtig -, die Unterschiede zu anderen öffentlichen Petitionsplattformen
aufzuzeigen. Sie haben zurzeit gewaltigen Zulauf, sie
haben aber im Gegensatz zu einer Petition an unseren
Petitionsausschuss keinen Einfluss auf die Gesetzgebung. Deshalb war ich sehr froh, die Chance auf dem
Deutschen Evangelischen Kirchentag nutzen zu können,
mit einigen Vorurteilen aufzuräumen.
Viele der Menschen waren wirklich überrascht, wie
niedrig die Hürden für das Einreichen einer Petition
beim Deutschen Bundestag tatsächlich sind. Alle können
Petitionen per Brief, per Fax, per E-Mail, per Postkarte
oder elektronisch, wie schon gesagt, über die Website
des Petitionsausschusses einreichen. Damit dürfte sich
auch die hohe Zahl der 2014 eingereichten Petitionen erklären. Es wurde bereits gesagt, 15 325 Petitionen wurden eingereicht: Bitten, Beschwerden, Anregungen, Hinweise an die Bundespolitik und ganz konkrete Probleme
einzelner Menschen. Immerhin wurde auch erwähnt: Es
gibt insgesamt 1,8 Millionen Nutzerinnen und Nutzer
der Internetseite des Petitionsausschusses. Das vom Gesetzgeber gewollte Recht, diese aus meiner Sicht sehr
wichtige Form der politischen Partizipation, wird also
von den Bürgerinnen und Bürgern sichtlich angenommen. Es kann und muss aber auch - das gehört zur
Wahrheit dazu - noch vieles verbessert werden. Zwei
Beispiele möchte ich nennen:
Erstens wünschen sich viele Petentinnen und Petenten
eine schnellere Bearbeitung ihrer Eingaben. Sieht man
sich die Zahl der eingegangenen Petitionen an und bedenkt man, dass wir auch welche aus den vorangegangenen Wahlperioden zu bearbeiten hatten, wird einem klar,
dass es oftmals nicht möglich ist, sie schneller zu bearbeiten. Es gibt aber schon Vorschläge, das beim nächsten
Legislaturperiodenwechsel zu ändern.
Manchmal ist, zum Beispiel, wenn es um Asylverfahren, um Dublin-II-Verfahren geht, Eile geboten. Ich habe
in meinem Wahlkreis den Fall eines solchen Dublin-IIVerfahrens gehabt. Ich konnte helfen; aber da mussten
wir wirklich sehr schnell arbeiten. Den Menschen ist
nämlich nur geholfen, wenn man rasch agiert.
Zweitens stehen wir - das wurde auch schon erwähnt vor der Aufgabe, das Petitionsrecht stetig weiterzuentwickeln und zu verbessern. Dazu gehört es, die Beschlüsse
des Petitionsausschusses in einer verständlichen und
adressatengerechten Sprache anzubieten. Auch gehört
dazu, die Beteiligungsrechte der Menschen mit Behinderungen zu stärken, zum Beispiel über das Angebot einer
barrierefreien Internetseite oder - daran arbeiten wir durch die Übersetzung von öffentlichen Beratungen in
Gebärdensprache. Das würden wir gerne weiterführen.
({3})
Wir als SPD-Fraktion haben im Januar ein Positionspapier verabschiedet, in dem es um diese Probleme geht.
Nächste Woche feiern wir ein Jubiläum; wir haben
nämlich vor zehn Jahren öffentliche und Onlinepetitionen - ein Dank geht hier auch an die Staatssekretärin
Lösekrug-Möller, die damals maßgeblich daran beteiligt
war - eingeführt; das war auch eine sehr große Verbesserung.
Sehr geehrte Frau Vorsitzende, liebe Mitarbeiterinnen
und Mitarbeiter, liebe Kolleginnen und Kollegen, wir
haben unser erstes gemeinsames Jahr, denke ich, sehr
gut hinbekommen. Getreu der Losung des Evangelischen Kirchentages „damit wir klug werden“ würde ich
mich freuen, wenn wir auch weiterhin unsere Offenheit
gegenüber den Themen, die über den Petitionsausschuss
tagtäglich an uns herangetragen werden, bewahren. Und
ich würde mich freuen, wenn wir weiterhin kollegial zusammenarbeiten und auch überfraktionell zu guten Beschlüssen kommen, die dem Wohle der Petentinnen und
Petenten dienen. Uns fehlt dazu - das möchte ich an dieser Stelle einfach noch einmal sagen - wirklich nicht der
Mut.
({4})
Mein Dank gilt auch den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Ausschussdienstes und natürlich ebenso unseren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in den Büros,
die ganz viel Vorarbeit leisten. Ansonsten könnten wir
dieses gewaltige Pensum an Petitionen, die wir jedes
Jahr bearbeiten, nicht bewältigen.
Noch einmal vielen Dank.
({5})
Die Kollegin Christel Voßbeck-Kayser spricht jetzt
für die Unionsfraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! 15 325 Petitionen im vergangenen Jahr zeigen, dass die Bürger ihre Grundrechte kennen und von
ihnen auch immer wieder Gebrauch machen. Bei diesen
Eingaben handelt es sich um Themen aus allen Bereichen des täglichen Lebens, bei denen Bürger durch Gesetze direkt betroffen sind, sich benachteiligt oder eingeschränkt sehen bzw. fühlen. Ich möchte daher einmal
drei Anliegen vortragen, wo wir zu unterschiedlichen
Ergebnissen gekommen sind.
Das erste Anliegen bezog sich darauf, durch die Einrichtung einer Schlichtungsstelle Qualitätsstandards in
unseren Pflegeheimen sicherzustellen. Das war eine gute
Anregung. Für uns im Petitionsausschuss war da die
Frage: Brauchen wir so eine Schlichtungsstelle, oder reichen die vorhandenen Instrumente bzw. Gesetze aus?
Gibt es ausreichende Prüfinstanzen bzw. Ansprechpartner? Beim Prüfverfahren wurde festgestellt, dass es aufgrund des Pflege-Weiterentwicklungsgesetzes, des
Pflege-Neuausrichtungs-Gesetzes, durch die rechtlichen
Vorschriften der Länder in Bezug auf die Heimaufsicht
sowie durch die Heimbeiräte in den Pflegeheimen viele
Ansprechpartner und Mittler gibt, die hier, wenn man es
so nennen will, als Schlichtungsstelle zur Verfügung stehen und sich auch mit Regelungen bezüglich Qualitätsstandards befassen. Da diese Regelungen rechtlich
verbindlich sind, können sie auch nicht auf ein Schiedsverfahren reduziert werden. Daher konnten wir diesem
Anliegen nicht entsprechen.
Beim zweiten Anliegen, das ich schildern möchte,
geht es darum, die Pflegedokumentation auf ein nötiges
Maß zu reduzieren. Mit der Effizienz der Pflegedokumentation - sowohl in der ambulanten als auch in der
stationären Pflege - befasst sich die Bundesregierung
bzw. das Bundesministerium für Gesundheit seit gerauChristel Voßbeck-Kayser
mer Zeit; denn wir alle wollen, dass die Zeit für die
Pflege am Bett von Pflegebedürftigen und nicht am
Schreibtisch verbracht wird.
({0})
Aufgrund der Tatsache, dass am Thema Pflegedokumentation aktuell gearbeitet wird, hat der Petitionsausschuss
diese Petition als Material an das Bundesministerium für
Gesundheit überwiesen. So stellen wir sicher, dass Anregungen, welche in und mit einer Petition eingehen, in
den Prozess eines Gesetzgebungsverfahrens mit aufgenommen werden können. Bürgerinnen und Bürger können auf diesem Weg direkt an Prozessen der Gesetzgebung mitwirken. Dies nenne ich gelebte Demokratie.
({1})
Beim dritten Anliegen ging es um die Berechnung einer Erwerbsminderungsrente, welche - das gab der Petent/die Petentin an - falsch berechnet worden sei. Der
Petitionsausschuss - so ist das Verfahren - holte im Rahmen des Prüfverfahrens eine Stellungnahme beim zuständigen Versicherungsamt ein. Bei der Überprüfung
dieses Anliegens beim zuständigen Versicherungsamt
wurde der Fehler bei der Berechnung der Erwerbsminderungsrente aufgedeckt. Er wurde seitens des Versicherungsamtes sofort korrigiert, und zwar auch rückwirkend. So konnte der Frau bereits im Prüfverfahren bei
ihrem Anliegen geholfen werden.
({2})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das waren drei Beispiele mit unterschiedlichen Ergebnissen aus dem vergangenen Jahr. Auch wenn den Anliegen nicht immer
entsprochen werden konnte, so entspricht es unserem demokratischen Selbstverständnis, sich jeder Eingabe und
damit jedem Anliegen eines Bürgers anzunehmen. Jede
dieser Eingaben wird sachgerecht geprüft, und das Ergebnis bzw. die Entscheidung wird dem Bürger mit einer
ausführlichen Begründung erklärt.
15 325 Petitionen gab es im Jahr 2014. Das sind über
60 Eingaben täglich. Für diese Zahl an Eingaben und
deren Bearbeitung braucht es motivierte Menschen. Deshalb an dieser Stelle auch von mir ein herzliches Dankeschön allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des
Ausschussdienstes, der Fraktionen und der Abgeordnetenbüros für diese Arbeit! Sie alle unterstützen uns Abgeordnete in großartiger Weise bei der Bearbeitung von
Petitionen. Gemeinsam kümmern wir uns mit Engagement und Herzblut um diese Eingaben und um die Anliegen von Bürgern und Bürgerinnen.
Ich danke für dieses gemeinsame Engagement und
freue mich auf unsere weitere Zusammenarbeit.
({3})
Für die SPD spricht jetzt der Kollege Stefan
Schwartze.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Sehr geehrte Zuhörerinnen und Zuhörer! Sehr
geehrte Zuschauer!
({0})
Ich möchte mich ganz herzlich für die gute Zusammenarbeit in den letzten Jahren bedanken. Ich möchte an dieser Stelle aber auch einen kleinen Einschub machen.
Liebe Corinna Rüffer, liebe Fraktion der Grünen, für lebendige Debatten im Ausschuss habe ich eine ganz revolutionäre Idee.
({1})
Wenn Sie anderer Meinung sind als die Mehrheit, dann
begründen Sie diese Meinung, werben Sie für Ihre Argumente, und dann kommen wir in die Diskussion.
({2})
Beschränken Sie sich nicht immer nur auf zwei, drei Tagesordnungspunkte von über 30.
({3})
- Also, zu einer Debatte gehört das gesprochene Wort
und kein begleitender Brief. Das ist an dieser Stelle doch
eine gute parlamentarische Übung.
({4})
Ganz besonders bedanken möchte ich mich an dieser
Stelle bei den Regierungsvertretern, allen voran Gabriele
Lösekrug-Möller, für die gute Zusammenarbeit, die wir
pflegen, und dafür, dass wir im Sinne der Petenten dort
sehr oft nach Lösungen suchen und um Lösungen ringen. Wie sehr sich die Zusammenarbeit geändert hat, hat
sich gerade in diesem Jahr noch einmal gezeigt, als wir
das erste Mal in einer öffentlichen Beratung zwei Bundesminister zu Gast hatten: Sigmar Gabriel und
Hermann Gröhe. Auch für diese Zusammenarbeit ganz
herzlichen Dank.
({5}) sowie der Abg. Kersten Steinke
[DIE LINKE])
Für die Intensivierung der Zusammenarbeit gibt es
aber auch einen guten Grund - er ist eben schon genannt
worden -, nämlich den zehnten Geburtstag der öffentlichen Petitionen, der Onlinepetitionen, der öffentlichen
Beratungen dieses Ausschusses.
({6})
Die Entscheidung dafür war ein Volltreffer. Sie machte
aus dem Petitionsausschuss - neben seiner wichtigen
Rolle als Anwalt der Bürgerinnen und Bürger - ein In10430
strument der direkten Demokratie auf Bundesebene. Es
war eine Initiative der damaligen Koalition aus SPD und
Grünen; und nicht allen Fraktionen hat es gefallen, den
Petitionsausschuss aus der Ecke mit den vielen verstaubten Akten herauszuholen.
Während öffentliche Petitionen beim Bundestag ihren
zehnten Geburtstag feiern, gibt es seit einiger Zeit immer
mehr private Petitionsplattformen. Sie bieten eine gute
Möglichkeit, bei Aktionen Gleichgesinnte zu finden. Ich
bin für Beteiligung. Ich finde es gut, wenn Menschen
sich gemeinsam für ein Anliegen einsetzen. Ich habe
auch selbst schon auf einer solchen privaten Plattform
die Proteste gegen Pegida unterstützt. Aber nur Petitionen, die sich an den Bundestag wenden, können vom
Bundestag bearbeitet werden. Sollten Sie sich also beschweren wollen oder Anregungen zu Gesetzen haben,
schauen Sie genau hin, wohin Sie Ihre Beschwerden
oder Anregungen schicken! Beschweren Sie sich dort,
wo Sie auch Antworten bekommen, wo diejenigen sitzen, die etwas verändern können, wo Sachkunde und Zuständigkeit gegeben sind! Wenden Sie sich direkt ans
Parlament!
({7})
Lassen Sie mich einen Blick in die Zukunft wagen:
Wohin entwickelt sich unser Petitionsrecht? Ich sehe
gute, verständliche Informationen über das Recht auf
eine Petition für jeden und jede. Ich sehe Informationen
in einer Sprache, die alle verstehen, unabhängig davon,
welchen Bildungsstand sie haben, ob sie unsere Sprache
erst erlernen oder aufgrund einer Behinderung Leichte
Sprache benötigen. Übrigens: Die SPD bereitet eine Information über das Petitionsrecht in Leichter Sprache
vor. Ich sehe Schulen, die über Petitionen informieren,
und Kinder und Jugendliche, die beim Deutschen Bundestag Petitionen einreichen. Ich sehe einen starken Petitionsausschuss, der bei den Petitionen stets die Menschen und ihre berechtigten Anliegen und nicht den
Koalitionsvertrag im Sinn hat.
({8})
Ein Beispiel unserer Arbeit hat mich besonders bewegt - ich begleite diese Menschen seit fünf Jahren -:
Es geht um das Schicksal der ehemaligen sowjetischen
Kriegsgefangenen, das von unsäglichem, unfassbarem
Leid geprägt ist. Sie wurden unter unmenschlichen Umständen in Lagern untergebracht. Es waren umzäunte
Felder ohne Infrastruktur. Auf diesen Feldern hockten
die Menschen sich selbst überlassen. Ihr Tod durch Hunger und Krankheit war das Ziel der Unterbringung in
diesen Lagern. Zwei Drittel der Gefangenen überlebten
diese Hölle nicht. Für die Überlebenden gab es niemals
eine Entschädigung oder eine Anerkennung für das erlittene Leid. Es ist eine Schande, dass es 70 Jahre gedauert
hat, dieses Unrecht anzuerkennen. Jetzt, nachdem der
Beschluss zur Anerkennung getroffen wurde und vom
Haushaltsausschuss im Rahmen des Nachtragshaushalts
Geld bereitgestellt wurde, sind wir in der Verantwortung,
die Mittel möglichst schnell den Opfern zugutekommen
zu lassen. Mein Dank gilt dem Verein Kontakte-Kontakty, ohne dessen unermüdlichen Einsatz wir nicht zu
dieser Lösung gekommen wären.
Danken möchte auch ich noch einmal den Kollegen
aller Fraktionen. Danken möchte ich den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Ausschussdienstes für ihre hervorragende Arbeit. Danken möchte ich auch den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Abgeordneten und der
Fraktionen. Denn wir alle wissen: Jeder Abgeordnete ist
nur so gut wie sein Büro, das ihm zuarbeitet.
({9})
Mein ganz besonderer Dank gilt den Petentinnen und
Petenten. Ohne sie wüssten wir oft nicht oder viel zu
spät, wo die Probleme in dieser Gesellschaft liegen.
Vielen Dank.
({10})
Abschließender Redner in dieser Aussprache ist der
Kollege Günter Baumann für die CDU/CSU.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wenn man als Letzter sprechen darf, kann
man vielleicht die Gelegenheit nutzen, einen Strich unter
die Debatte zu ziehen. Ich möchte das mit wenigen Sätzen tun. Ich möchte zunächst allen ganz herzlich danken.
Ich denke, es war eine gute Diskussion, und die Bürgerinnen und Bürger, die zugeschaut haben, haben mitbekommen: Es gibt einen Petitionsausschuss, an den ich
mich wenden kann, und dort bemühen sich Abgeordnete
aller Fraktionen, etwas für mich zu bewegen. - Das betrifft auch das große Thema, dass wir darum werben,
dass die Bürgerinnen und Bürger zu uns kommen.
Eines fand ich allerdings sehr schade: Kollegin
Rüffer, Ihre Rede war am Thema vorbei.
({0})
Ich sage Ihnen eines: Die CDU/CSU-Fraktion hat gestern extra den Kollegen Mattfeldt für seine heutige Rede
weichgespült; das haben Sie ja sicher alle gemerkt.
({1})
- Das haben wir gemacht. - Aber Kollegin Rüffer, Ihre
Rede war einfach falsch.
({2})
Sie selbst wissen es besser. Sie wissen, dass wir gemeinsam mit den Obleuten aller Fraktionen um Lösungen ringen und auch immer einen Weg finden. Da können Sie
nicht sagen, dass Sie nicht zu Wort kommen. Wenn wir
in einer Stunde 35 Petitionen schaffen wollen, können
wir im Ausschuss nicht über Petitionen, die vorher bereits die Abgeordneten, die Arbeitsgruppe und die Obleuten beraten haben, die also relativ klar sind, erst noch
lange diskutieren, bevor abgestimmt wird. Sie, Frau Kollegin Rüffer, haben dann, wenn Sie zu einem von dem
der Koalition abweichenden Votum kommen, die Pflicht,
dies zu begründen.
({3})
Aber Sie haben kein Votum begründet. Wenn Sie anderer
Meinung sind, dann müssen Sie einen Antrag auf Einzelausweisung gemäß 8.2.2 unserer Verfahrensregeln stellen.
({4})
- Entschuldigung, ansonsten ist Ihnen bisher nichts eingefallen. - Wenn Sie zu jeder Petition gerne etwas sagen
wollen, dann müssen Sie nur beim Präsidenten beantragen, die Beratungszeit des Ausschusses von einer Stunde
auf drei Stunden zu verlängern.
({5})
Dann können wir das gerne tun. Aber so ist es jetzt nicht
möglich.
({6})
Kollegin Rüffer, ich erinnere noch einmal daran, dass
wir in schwierigen Fällen gemeinsame Briefe geschrieben haben, zum Beispiel den mit vier Unterschriften an
alle Bundesländer, als es um die behinderten Kinder
ging. Das haben wir gemeinsam gemacht. Dass Sie die
Arbeit heute derart negativ darstellen, das ist einfach
schade.
({7})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich wollte
meinen Redebeitrag eigentlich anders beginnen als alle
anderen heute. Ich wollte nicht all denen danken, denen
schon gedankt worden ist. Vielmehr wollte ich den
Petenten danken, die mit großem Vertrauen zu uns kommen, die sich bei uns mit ihren Bitten und Beschwerden
aufgehoben fühlen und uns seit 2006 konstant jedes Jahr
etwa 15 000 bis 18 000 Petitionen schicken. Das ist eine
stolze Zahl. Nun muss man wissen: Die Zahl der Petitionen ist konstant geblieben, obwohl die Zahl der Mitbewerber und anderer Anlaufstellen ständig gestiegen
ist. Es gibt mehr Ombudsmänner und Ombudsfrauen, es
gibt Beauftragte in allen möglichen Bereichen, die für
die Belange der Bürgerinnen und Bürger da sind, und es
gibt, wie schon erwähnt, viele Internetplattformen. All
das nimmt zu. Trotzdem wird jedes Jahr eine konstant
hohe Zahl von Petitionen bei uns eingebracht. Das zeigt:
Die Bürgerinnen und Bürger haben Vertrauen zu uns.
Das macht uns froh. Darauf kann man stolz sein.
An dieser Stelle möchte ich auch unseren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, allen Abgeordneten und natürlich dem Ausschussdienst ganz herzlich danken für die
Arbeit, die geleistet worden ist.
({8})
Ohne die sachkundige und fachliche Zuarbeit des Ausschussdienstes würde uns manche Entscheidung sehr
schwer fallen. Ich bitte den Ausschussdienst, nicht über
uns zu schimpfen, wenn wir nicht jedes Votum von ihm
übernehmen. Oft haben wir eine andere Meinung. Aber
trotzdem ist die Recherche des Ausschussdienstes für
uns die Grundlage, wie wir mit einer Thematik umgehen.
Die Erfolgszahlen sind genannt worden. Wir liegen
bei über 40 Prozent positiv erledigter Eingaben. Das
kann sich sehen lassen. Wenn man bedenkt, wie hoch die
Prozentzahlen bei Gerichtsverfahren sind, dann stellt
man fest: Wir sind ein ganzes Stück besser. Ich schlussfolgere daraus, dass die Bürgerinnen und Bürger uns akzeptieren, zu uns kommen und unseren Rat und unsere
Hilfe annehmen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, leider steht
unser Ausschuss nicht jeden Tag in der Öffentlichkeit.
Es ist nicht ganz einfach, mehr Werbung für unsere
Arbeit zu machen, weil wir relativ geräuschlos die Berge
auf unseren Schreibtischen abarbeiten und erfolgreich
sind. Die Frage ist immer, wie wir es schaffen, ohne
große Schlagzeilen etwas bekannter zu werden. Frau
Sawade hat bereits erwähnt: Wir nutzen Messen und den
Tag der Ein- und Ausblicke. Trotzdem sollten wir gemeinsam überlegen, was man noch tun kann, um an die
Bürger heranzukommen und ihnen zu sagen: „Jawohl, es
gibt uns. Bitte, kommt zu uns!“
({9})
Ich möchte ein Thema noch einmal ansprechen, auch
wenn es schon genannt wurde, weil es mir sehr am Herzen liegt. Für uns in der CDU/CSU-Fraktion ist es eindeutig: Jede Petition ist gleichwertig. Wir wollen uns um
jede Petition intensiv kümmern. Egal ob eine Bürgerin
mit unleserlicher Handschrift uns ihr Problem schildert
oder eine gut vernetzte Internetgemeinschaft mit
100 000 Unterschriften uns ihr Problem darlegt: Jedermann hat das Recht, eine Petition einzureichen. Wir
kümmern uns um jedermann in gleichem Maße.
Kollegin Kassner, Sie forderten mehr Öffentlichkeit
bei den ganzen Beratungen. Der Bundestag hat eine Geschäftsordnung, die eindeutig sagt - § 69 -: Ausschüsse
tagen nicht öffentlich. Das hat gute Gründe: Da ist zum
einen der Datenschutz, und wir wollen nicht - das gibt es
manchmal; das kennen wir auch -, dass die berühmten
Fensterreden gehalten werden. Wir wollen ein Problem
abarbeiten, und das ist in nichtöffentlicher Sitzung wesentlich besser möglich. Wir können in Ausnahmefällen
Öffentlichkeit beschließen - das machen wir auch, viermal im Jahr, am nächsten Montag wieder -; aber generell, fast jede Sitzung öffentlich zu machen, dies wollen
wir einfach nicht. Das ist nicht das, was der Petent eigentlich von uns will.
({10})
Ich glaube, das Wichtigste für jeden von uns, der sich
mit einer Petition befasst, ist, dass wir erkennen: Ist das
ein menschlich schweres Schicksal eines Bürgers, der an
zig anderen Stellen gescheitert ist und jetzt zu uns
kommt - da müssen und wollen wir uns reinknien -,
oder ist das ein Petent, der tagesaktuell ein Geschehen
aufgreift, das vielleicht schon in den Fachausschüssen irgendwo beraten wird? Wichtig für uns ist einfach, dass
wir die Wertigkeit erkennen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich wollte
noch zum Abschluss ein Beispiel aus der letzten Zeit
bringen, und zwar hatten wir eine Petentin, die ihren
Lebensgefährten in Afghanistan verloren hat. Beide hatten vorher ein Testament gemacht, dass die Versicherung
und andere Gelder an die Lebensgefährtin gehen sollten.
Die rechtliche Lage war dann aber so, dass die Lebensgefährtin nichts bekommen hat; das Geld ging an die
Eltern. Das war rechtlich alles sauber. Wir hätten eigentlich nichts machen können. Wir haben aber gesagt:
„Nein, so geht das nicht, wir wollen das anders haben“,
und haben die Verteidigungsministerin aufgefordert, mit
Mitteln aus dem Härtefallfonds, der ja vorhanden ist,
dieser Frau zu helfen. Es tut wirklich gut, wenn dann ein
Brief der Petentin kommt, in dem sie sich für das Geld
bedankt, das sie bekommen hat. Auch wir brauchen ja
manchmal Anerkennung und ein lobendes Wort. Hier
haben wir wirklich eine Lösung für ein schweres Schicksal gefunden.
({11})
Meine Damen und Herren - Herr Präsident, wenn Sie
mir noch ein paar Sekunden gestatten -, es kam das
Thema „schnelle Bearbeitung“. Wir wollen die Petitionen schnell bearbeiten. Wir schaffen manche Petitionen
in vier, fünf Monaten; es gibt aber auch welche, deren
Bearbeitung Jahre dauert. Wir haben diese Woche eine
behandelt, die sechs Jahre alt war. Wenn man dann nachschaut, stellt sich heraus, dass sie in manchem Büro sogar mehrere Jahre lag. Deswegen wäre es gut, als Erstes
zu schauen: Was liegt in unserem eigenen Büro noch im
Schreibtischkasten? Das kann jeder Mitarbeiter im Ausschuss selbst einmal tun. Das Zweite ist: Für uns geht
Gewissenhaftigkeit vor. Wenn wir viel Zeit brauchen für
Stellungnahmen, dann nehmen wir uns die auch; ansonsten wollen wir die Petitionen schnell bearbeiten.
Ein berühmtes Beispiel haben wir jetzt schon das
zehnte Jahr auf dem Tisch: Das sind meine geliebten Antennengemeinschaften.
({12})
Hier haben wir ja mit großer Mehrheit ein Votum gefasst, das bis heute nicht umgesetzt ist. Wir haben wiederholt Gespräche mit der GEMA geführt, auch letzte
Woche wieder. Ich denke, wir werden irgendwann auf
einem guten Weg sein. Also: Wir können an Problemen
manchmal auch sehr lange dranbleiben - im Interesse
der Petenten, nicht um uns selbst zu beschäftigen. Ich
wünsche uns weiterhin viel Erfolg und Gespür für die
Arbeit.
Vielen Dank.
({13})
Damit schließe ich die Aussprache, nicht ohne zu erwähnen, dass fast kein Redner es versäumt hat, Dank für
die Mitarbeiter auszusprechen, die Außerordentliches
geleistet haben, worauf sie auch stolz sein können.
({0})
Ich rufe jetzt die Zusatzpunkte 2 a und 2 b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Steffi
Lemke, Nicole Maisch, Harald Ebner, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Wilderei und illegalen Artenhandel stoppen
Drucksache 18/5046
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit ({1})
Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Beate
Walter-Rosenheimer, Dr. Franziska Brantner,
Katja Dörner, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Kinder- und Jugendhilfe - Beteiligungsrechte
stärken, Beschwerden erleichtern und Ombudschaften einführen
Drucksache 18/5103
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe
niemanden, der nicht einverstanden wäre. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Vizepräsident Johannes Singhammer
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 30 a bis 30 i sowie Zusatzpunkt 3 auf. Es handelt sich dabei um die
Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Tagesordnungspunkt 30 a:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz,
Bau und Reaktorsicherheit ({2}) zu
der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Baukulturbericht 2014/15 der Bundesstiftung
Baukultur
und Stellungnahme der Bundesregierung
Drucksachen 18/3020, 18/4850
Der Ausschuss empfiehlt, in Kenntnis der Unterrichtung eine Entschließung anzunehmen. Wer für diese Beschlussempfehlung stimmt, den bitte ich um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? Damit ist diese Beschlussempfehlung mit den Stimmen
von CDU/CSU und SPD sowie der Fraktion der Linken
bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Tagesordnungspunkt 30 b:
Beratung der Dritten Beschlussempfehlung und
des Berichts des Wahlprüfungsausschusses
zu Einsprüchen gegen die Gültigkeit der
Wahl zum 8. Europäischen Parlament am
25. Mai 2014
Drucksache 18/5050
Bevor ich die Beschlussempfehlung des Wahlprüfungsausschusses sowie einen Änderungsantrag der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zur Abstimmung stelle,
erteile ich dem Vorsitzenden des Ausschusses, dem Kollegen Dr. Johann Wadephul, das Wort zur Berichterstattung. - Bitte schön.
Herr Präsident, dafür danke ich Ihnen sehr herzlich. Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nachdem der Kollege
Baumann die mangelnde Bekanntheit des Petitionsausschusses bedauert hat, kann ich nur sagen: Was soll ich
da erst sagen? Ich nutze daher die voraussichtlich letzte
Gelegenheit in dieser Wahlperiode, mit der der Wahlprüfungsausschuss Ihre Aufmerksamkeit erheischen kann.
Dieser Ausschuss hat eine große Bedeutung. Der Parlamentarische Staatssekretär beim Bundesminister des
Innern hat zu Recht darauf hingewiesen, dass viele Kollegen aus dem Europäischen Parlament möglicherweise
mit einer gewissen Spannung jetzt auf uns blicken.
Ich will den Damen und Herren Berichterstattern
ganz herzlich für ihre Arbeit danken, aber insbesondere
natürlich den Mitarbeitern des Sekretariats. Es sind
- Herr Kollege Beck, das wird hier nicht immer so deutlich - zahlreiche Akten zu sichten, der Sachverhalt ist
umfassend aufzuarbeiten, und es sind schwierige
Rechtsfragen zu prüfen. Wir sind stolz darauf, dass wir
innerhalb eines Jahres nach der Europawahl diese Arbeit
seitens des Deutschen Bundestages abschließen konnten.
Einen ganz herzlichen Dank allen, die daran aktiv mitgewirkt haben.
Wie schon bei der Prüfung der Bundestagswahl ging
es auch bei der Prüfung der Europawahl um eine Fülle
von Einspruchsgegenständen, wenngleich keiner der
109 Wahleinsprüche im Ergebnis aus unserer Sicht begründet war. Dies liegt daran, dass ein Wahleinspruch
nur dann begründet ist, wenn er einen Wahlfehler benennt, der entweder Einfluss auf die Sitzverteilung hatte
oder das subjektive Wahlrecht der den Einspruch einlegenden Person beim Wahlakt verletzte. Den Einsprüchen
ließen sich derartige Fehler aus Sicht des Ausschusses
nicht entnehmen.
Ich möchte betonen, dass der Wahlprüfungsausschuss
jedem behaupteten Wahlfehler sorgfältig nachgegangen
ist. Wie bei der Prüfung der Bundestagswahl haben wir
den Bundesminister des Innern, den Bundeswahlleiter
und die Landeswahlleiterinnen und Landeswahlleiter um
Stellungnahmen gebeten und diese einbezogen.
In nur einem Fall, der früh bekannt wurde, hat es einen nachweisbaren Wahlfehler gegeben. Es ging um eine
mehrfache Stimmabgabe. Ein vermutlich vielen von Ihnen bekannter Journalist bekundete schon am Wahlabend in einer Sendung der ARD,
({0})
die demnächst übrigens ihren Moderator verliert, dass er
seine Stimme zweimal abgegeben hatte. Einmal wählte
er in einem deutschen Wahllokal und einmal in einem
italienischen.
Dieser Fall hat viele Bürgerinnen und Bürger dazu
veranlasst, einen Wahleinspruch einzulegen, und einen
vormaligen Präsidenten des Bundesverfassungsgerichtes
zu der im Spiegel veröffentlichten Überlegung veranlasst, dass möglicherweise die ganze Europawahl unwirksam sein könnte. Dieser Auffassung ist der Wahlprüfungsausschuss nicht gefolgt. Denn es hat über diese
eine Person hinaus keine weitere Person gegeben, von
der nachgewiesen ist, dass sie ihre Stimme mehrfach abgegeben hat. Es wird für Sie schnell nachvollziehbar
sein, dass eine einzige Person das Wahlergebnis nicht
entscheidend wird verändert haben können.
Gleichwohl hat dies den Ausschuss veranlasst, Ihnen
allen, liebe Kolleginnen und Kollegen, eine Prüfbitte an
die Bundesregierung vorzulegen, in der es darum geht,
wie national oder auf Unionsebene für die Besitzer einer
Staatsangehörigkeit mehrerer EU-Mitgliedstaaten die
faktisch bestehende - rechtlich zwar verbotene - Möglichkeit einer mehrfachen Stimmenabgabe in ähnlicher
Weise unterbunden werden kann, wie es für Unionsbürger ohne doppelte Staatsangehörigkeit, die sich dafür
entscheiden, statt im Heimatstaat in ihrem EU-Wohnsitzstaat zu wählen, bereits vorgesehen ist.
Auch bei der Europawahl haben wir uns mit der Frage
des Wahlrechts für Menschen mit Behinderung befasst.
Auch hier haben wir eine zweite Prüfbitte an die Bun10434
desregierung formuliert; ich bitte Sie herzlich um Ihre
Zustimmung dazu. Wir wollen die Bundesregierung bitten, zu prüfen, welche Änderungserfordernisse sich für
das deutsche Wahlrecht aus der EU-Behindertenrechtskonvention ergeben können, und zwar insbesondere in
Bezug auf die Aufhebung einzelner benannter Wahlrechtsausschlüsse und die Barrierefreiheit im Wahlrecht
und in den Wahllokalen.
Neben den genannten Themen hat der Wahlprüfungsausschuss erneut typische Einspruchsgegenstände beraten, wie sie bei jeder Wahlprüfung behandelt werden: zu
spät oder nicht zugestellte Briefwahlunterlagen, die repräsentative Wahlstatistik und den Identitätsnachweis im
Wahllokal.
Ich will nicht verschweigen, dass die Umstände bei
der Delegiertenwahl und der Kandidatenaufstellung der
AfD von einigen Einspruchsführern heftig kritisiert worden sind. Das hat den Ausschuss dazu veranlasst, vereinzelte verbesserungsfähig anmutende Vorgänge äußerst
umfangreich und gründlich zu prüfen. Im Ergebnis haben wir jedoch keine mandatsrelevanten Wahlfehler erkannt. Die Europawahl verlief, soweit wir sie beurteilen,
im Ergebnis rechtskonform. Ich bitte Sie daher sehr
herzlich um Ihre Zustimmung zur Dritten Beschlussempfehlung.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({1})
Vielen Dank dem Kollegen Wadephul und allen Mitgliedern des Ausschusses.
Wir kommen dann zur Abstimmung, und zwar zunächst
über den Änderungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen auf der Drucksache 18/5120. Wer stimmt für
diesen Änderungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Dieser Änderungsantrag ist mit den Stimmen von CDU/
CSU und SPD gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die
Grünen und der Fraktion Die Linke abgelehnt.
Wer stimmt nun für die Beschlussempfehlung des
Wahlprüfungsausschusses? Ich bitte um ein Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die
Beschlussempfehlung ist damit einstimmig angenommen.
Wir kommen nun zu den Tagesordnungspunkten 30 c
bis 30 i. Es handelt sich um die Beschlussempfehlungen
des Petitionsausschusses.
Tagesordnungspunkt 30 c:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({0})
Sammelübersicht 190 zu Petitionen
Drucksache 18/4953
Wer stimmt dafür? Den bitte ich um ein Handzeichen. Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist die
Sammelübersicht 190 einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 30 d:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({1})
Sammelübersicht 191 zu Petitionen
Drucksache 18/4954
Wer stimmt dafür? Den bitte ich um ein Handzeichen. Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Diese Sammelübersicht ist damit mit Stimmen von CDU/CSU und
SPD gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke bei Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Tagesordnungspunkt 30 e:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({2})
Sammelübersicht 192 zu Petitionen
Drucksache 18/4955
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 192 ist damit mit den
Stimmen von CDU/CSU, SPD und Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen.
Tagesordnungspunkt 30 f:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({3})
Sammelübersicht 193 zu Petitionen
Drucksache 18/4956
Wer dafür stimmt, den bitte ich um ein Handzeichen. Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 193 ist damit mit allen Stimmen dieses
Hauses angenommen.
Tagesordnungspunkt 30 g:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({4})
Sammelübersicht 194 zu Petitionen
Drucksache 18/4957
Wer dafür stimmt, den bitte ich um ein Handzeichen. Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist die
Sammelübersicht 194 mit den Stimmen von CDU/CSU,
SPD und Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der
Fraktion Die Linke angenommen.
Tagesordnungspunkt 30 h:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({5})
Sammelübersicht 195 zu Petitionen
Drucksache 18/4958
Wer dafür stimmt, den bitte ich um ein Handzeichen. Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 195 ist damit mit den Stimmen von CDU/
CSU und SPD gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die
Grünen bei Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen.
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({0})
Sammelübersicht 196 zu Petitionen
Drucksache 18/4959
Wer dafür stimmt, den bitte ich um das Handzeichen. Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 196 ist damit mit den Stimmen von CDU/
CSU und SPD gegen die Stimmen der Fraktion Die
Linke und von Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Zusatzpunkt 3:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Konstantin von Notz, Luise Amtsberg,
Volker Beck ({1}), weiterer Abgeordneter und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
zu dem Vorschlag einer EU-Datenschutzverordnung
KOM({2}) 11
hier: Stellungnahme gegenüber der Bundesregierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 des
Grundgesetzes
Hohes Schutzniveau im Rat und im Trilog
sicherstellen
Drucksache 18/5102
Wer für diesen Antrag stimmt, den bitte ich um ein
Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält
sich? - Der Antrag ist damit mit den Stimmen von CDU/
CSU und SPD gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die
Grünen und der Fraktion Die Linke abgelehnt.
Damit haben wir diesen Teil abgeschlossen.
Ich rufe jetzt den Zusatzpunkt 4 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion DIE LINKE
Ehe für alle
Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hat die
Kollegin Caren Lay von der Fraktion Die Linke das
Wort.
({3})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Über 62 Prozent der Iren haben bei einer Volksabstimmung Ja zu gleichgeschlechtlichen Ehen gesagt ({0})
ausgerechnet im erzkatholischen und konservativen Irland. Das ist ein wunderbares Ergebnis und ein Riesenerfolg für die Lesben- und Schwulenbewegung, zu dem
wir auch aus dem Deutschen Bundestag ganz herzlich
gratulieren.
({1})
Das Schönste ist, dass dieses Ergebnis die Debatte darüber in ganz Europa neu entfacht hat. Es wird höchste
Zeit, dass auch die Bundesregierung sich bewegt und die
Ehe für Lesben und Schwule endlich ohne Wenn und
Aber öffnet.
({2})
Das ist natürlich für die Große Koalition, insbesondere für die Union, ein unangenehmes Thema.
({3})
Sie hat in den letzten Wochen zu Recht viel Hohn und
Spott für ihre verstaubten und fadenscheinigen Argumente geerntet. Ich habe mich gestern sehr geärgert, dass
Sie uns im Ausschuss verweigert haben, noch vor der
Sommerpause eine Anhörung zu unserem Gesetzentwurf
und zum Gesetzentwurf der Grünen durchzuführen.
Aber wenn Sie geglaubt haben, damit bekommen Sie das
Thema geschoben, haben Sie sich geschnitten: Genau
deswegen haben wir die heutige Aktuelle Stunde beantragt.
({4})
Die Union blockiert das Vorhaben mit Rücksicht auf
ihre konservative Wählerschaft. Den Vogel hat Frau
Kramp-Karrenbauer abgeschossen, die tatsächlich sinngemäß sagte: Wenn die Homoehe kommt, dann kommen
auch Inzest und Polygamie.
({5})
Das ist eine handfeste Beleidigung von Lesben und
Schwulen. Sie ist völlig unakzeptabel.
({6})
Getoppt wird dies nur noch vom Vatikan: Einer seiner
Sprecher sagte laut Presseberichten, das Ergebnis in
Irland sei eine Niederlage für die Menschheit. Auch
wenn es den einen oder anderen überraschen mag: Ich
wurde katholisch erzogen, und vor dem Hintergrund
kann ich, glaube ich, sagen: Lieber Vatikan, mit einer
etwas weniger dogmatischen Interpretation der Bibel
würden wir alle besser fahren, und der Kirche würden
nicht so viele junge Menschen davonlaufen.
({7})
Weniger Verbohrtheit und weniger Dogmatismus:
Das würde auch der Union guttun. Ich glaube, dass Ihre
Wählerschaft deutlich weiter ist als Sie selbst. Das belegen auch alle Umfragen. Diese konservative Haltung
fällt Ihnen auf die Füße. Keine der 15 größten deutschen
Städte wird noch von der CDU regiert. In Dresden hat
sich am Wochenende - Gott sei Dank, kann ich sagen Ihre Hoffnung auf einen CDU-Bürgermeister zerschlagen.
({8})
Mit dieser hinterwäldlerischen Politik locken Sie niemanden mehr hinter dem Ofen hervor. Es wird endlich
Zeit, das zu ändern.
({9})
Ich bin fest davon überzeugt: Auch in Deutschland
würde jedes Referendum für die Ehe für alle haushoch
gewonnen. Das ist ein weiteres Argument dafür, auch in
Deutschland endlich Volksbegehren auf Bundesebene zu
ermöglichen.
({10})
65 Prozent der Deutschen haben in der letzten Umfrage angegeben, sie seien für die Ehe für alle, ja sogar
58 Prozent, also eine satte Mehrheit, der CDU/CSUWähler. Nur bei der AfD sind die Homophoben noch in
der Mehrheit. Aber das können wir uns nicht zum Vorbild nehmen.
({11})
Das Beste ist: Die Ehe für alle tut niemandem weh.
Auch die Ehe von Frau Kramp-Karrenbauer wird nicht
dadurch beschädigt, dass die Lesben und Schwulen in
der Nachbarschaft jetzt auch einen Trauschein bekommen. Also, geben Sie Ihren Widerstand dagegen endlich
auf!
({12})
Ein beliebtes und aus meiner Sicht das einzig wirklich
ernstzunehmende Argument der Gegnerinnen und Gegner ist, die Ehe für alle würde dem Grundgesetz widersprechen. Ich lese dort allerdings nirgends, dass mit dem
Schutz der Ehe nur der Schutz der Heteroehe gemeint
ist. Vielmehr lese ich in Artikel 3 Absatz 1: „Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.“ Übersetzt heißt das
für mich: Wer Lesben und Schwulen die gleichen Rechte
verweigert, der verletzt den Gleichheitsgrundsatz. Es
wird endlich Zeit, die Ehe für alle einzuführen.
({13})
Die Bundesregierung verheddert sich im Klein-Klein.
Hinter den Kulissen wird heftig gerungen, in welchen
Einzelgesetzen die eingetragene Lebenspartnerschaft an
die Ehe angepasst werden soll. Da frage ich mich: Warum so kompliziert? Ich glaube, die Zeiten, in denen wir
ein Sondergesetz für Lesben und Schwule brauchten,
sind vorbei. Lassen Sie uns die Ehe endlich für Lesben
und Schwule öffnen. Damit wird der Grundsatz „Ehe für
alle“ am einfachsten und am schnellsten umgesetzt.
({14})
Wir haben als Linke - darauf möchte ich abschließend hinweisen - schon vor längerem einen Gesetzentwurf dazu vorgelegt. Im Bundesrat wird eine ähnliche
Initiative morgen hoffentlich eine Mehrheit finden.
Ich weiß, liebe SPD, Sie haben es mit diesem Koalitionspartner schwer. Es gibt eine kurzfristige Lösung:
Geben Sie die Abstimmung darüber einfach frei! Eine
rot-rot-grüne Mehrheit im Bundestag gibt es auch bei
diesem Thema rechnerisch schon längst.
({15})
Wenn wir die Abstimmung freigeben, bin ich sicher,
dass auch der eine oder andere Unionspolitiker dazu beitragen würde, dass eine Regenbogenallianz zustande
kommt und die Ehe für alle endlich auch in Deutschland
Realität wird.
Vielen Dank.
({16})
Für die CDU/CSU hat jetzt das Wort die Kollegin
Elisabeth Winkelmeier-Becker.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Zuhörer! In der aktuellen Debatte sind für mich
drei Überlegungen wichtig.
Erstens. Mein Menschenbild differenziert nicht nach
sexueller Orientierung. Gleiche Würde und gleiche Anerkennung folgen daraus unmittelbar und zwingend.
({0})
Dass diese Selbstverständlichkeit lange in Abrede gestellt worden ist, dass es noch lange nach der Geltung
des Grundgesetzes einen § 175 StGB gegeben hat, wirkt
auch heute noch verletzend.
({1})
Eine offizielle, dauerhafte und vielleicht auch gesegnete
Verbindung von zwei Menschen, die füreinander einstehen, hat ihren Wert, unabhängig von der Frage der sexuellen Orientierung und auch unabhängig von der Frage,
ob diese Verbindung auch auf Familiengründung ausgelegt ist oder nicht.
({2})
Deshalb habe ich mich vor drei Jahren zusammen mit
zwölf anderen Kollegen in der Union für eine steuerliche
Gleichstellung von Lebenspartnerschaften eingesetzt.
Das hat damals nicht jedem gefallen. Das hat auch nicht
auf Anhieb geklappt. Aber es hat in unserer Partei eine
Diskussion ausgelöst, die in der Union und darüber hinaus in der Gesellschaft einiges bewirkt hat.
({3})
Zweitens. Wir haben den weiteren Abbau von Ungleichheiten gerade auf den Weg gebracht. In dem
Zusammenhang werden wir natürlich auch Ihren Gesetzentwurf weiter bearbeiten und eine Sachverständigenanhörung dazu durchführen. Da wird überhaupt nicht
irgendeiner Diskussion oder Auseinandersetzung aus
dem Weg gegangen, sondern die beiden Dinge werden
zusammengefügt.
({4})
- Weil es mit einer anderen schon bereits vereinbarten
Sachverständigenanhörung kollidierte. - Wie gesagt, der
andere Gesetzentwurf zum selben Thema ist auf dem
Weg. Daher macht es Sinn, das zusammenzuführen. Das
ist der Grund.
({5})
Was dann noch bleibt, ist in der Tat eine Teilfrage der
Adoption, weil Lebenspartner ein Kind nicht gleichzeitig adoptieren können, sondern nur nacheinander. Darauf möchte ich kurz eingehen. Wenn der Staat für ein
Kind neue Eltern sucht, dann ist es ganz normal, dass auf
das Einkommen der Eltern, auf ihre Gesundheit, auf die
verfügbare Zeit, die sie für das Kind haben, und auf ihr
Alter - sie sollten nicht älter als 40 Jahre sein - geschaut
wird. Wenn es an einem dieser Punkte nicht optimal
läuft, dann wird es schon schwierig mit der Adoption.
Mir leuchtet jetzt nicht ein, warum das Einkommen und
das Alter der potenziellen Eltern eine Rolle spielen dürfen, aber nicht die Frage, ob ein Kind Vater und Mutter
bekommt.
Ich weiß, dass Kinder auch in gleichgeschlechtlichen
Partnerschaften geliebt und umsorgt werden;
({6})
teilweise werden sie als Pflegekinder dorthin gegeben.
Ein guter Vater, eine gute Mutter zu sein, hängt nicht von
der sexuellen Orientierung ab.
({7})
Gleichzeitig habe ich Lebenserfahrung als Mutter von
drei Kindern und Großmutter eines Enkelkindes sowie
als langjährige Familienrichterin. Für mich war immer
klar, dass Vater und Mutter eine eigenständige Bedeutung haben, die sich ergänzt. Der zweite Vater ersetzt
eben nicht die Mutter, und die zweite Mutter ersetzt
nicht den Vater. Deshalb betreiben wir, wenn sich Eltern
trennen, doch den ganzen Aufwand, damit das Kind den
Kontakt auch zu dem anderen Elternteil erhält.
({8})
In der letzten Wahlperiode haben wir uns um die Verbesserung der Rechte nichtehelicher Väter bemüht. Auch
das war doch von dem Gedanken getragen, dass es für
das Kind von Anfang an wichtig ist, Kontakt zum Vater
zu haben.
({9})
Deshalb ist für mich klar, dass das bei der Adoption
eine Rolle spielen muss. Für mich ist aber auch klar, dass
dieser Aspekt genau wie die anderen, Alter, Einkommen
usw., im Einzelfall in der Abwägung zurücktreten kann.
Klare Beispiele wären Pflegekinder oder Kinder aus der
Verwandtschaft.
Jetzt haben wir die Sukzessivadoption. Sie führt,
wenn auch auf Umwegen, zumindest zu praktikablen
Ergebnissen. Mir ist kein anderer Fall bekannt. Ich appelliere: Vielleicht sollten wir von beiden Seiten nicht zu
viel Wert auf die Frage legen, ob das im Gesetz geregelt
ist oder untergesetzlich nur in der Verwaltungspraxis,
wie das auch für die anderen Kriterien gilt.
Drittens. Ich komme zu den Begriffen. Zunächst: Ich
finde den Begriff „Homo-Ehe“ unterirdisch, diskriminierend und unwürdig.
({10})
Ich kann nachvollziehen, dass es gerade nach der Vorgeschichte eine besondere emotionale Bedeutung hätte,
den Begriff der Ehe auch auf Lebenspartnerschaften
anzuwenden. Auf der anderen Seite hat aber nicht erst
unsere Rechtsordnung den Begriff der Ehe erfunden. Er
hat eine lange kulturgeschichtliche Vorgeschichte, auch
eine religiöse Vorprägung. Damit wird durchgängig die
offizielle Verbindung von Frau und Mann gemeint.
({11})
- Auch da, Herr Beck, immer Mann und Frau.
({12})
Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil
aus dem Jahr 2002 zum Lebenspartnerschaftsgesetz und
auch seither immer wieder von der Verschiedengeschlechtlichkeit als einem Wesensmerkmal der Ehe gesprochen und davon, dass der Gesetzgeber die wesentlichen Strukturprinzipien beachten muss, die sich aus der
Anknüpfung des Artikels 6 Grundgesetz an die vorgefundene Lebensform der Ehe ergeben.
({13})
Deshalb habe ich meine Zweifel, dass wir diesen Begriff
der Ehe einfach hernehmen und umdefinieren können.
({14})
Man muss auch sagen: Eine begriffliche Unterscheidung ist nicht mit einer Diskriminierung gleichzusetzen.
Das darf man nicht verwechseln. Bei der Einführung der
Lebenspartnerschaft war diese Unterscheidung klar gewollt. Lesen Sie doch bitte die Reden von Herta
Däubler-Gmelin oder Margot von Renesse nach. Auch
Sie, Herr Beck, haben damals gesprochen und waren geradezu enthusiasmiert.
Frau Kollegin Winkelmeier-Becker, darf ich Sie an
die Redezeit erinnern?
({0})
Ich komme sofort zum Ende. - Aber ich wollte doch
noch das Glücksgefühl, das Sie damals ausgedrückt haben, erwähnen. Sie haben damals von den vielen Festen
gesprochen, die zu feiern wären. Genauso ist es doch
auch gekommen, und zwar unter Geltung dieses Gesetzes und noch darüber hinaus.
({0})
Deshalb ist mein Vorschlag: Reden wir über eine weitere Aufwertung und bessere Wertschätzung des Begriffs
der Lebenspartnerschaft. Darüber sollten wir diskutieren.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({1})
Der Kollege Dr. Anton Hofreiter spricht jetzt für
Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wir haben in diesen Tagen eine große Chance:
Wir können erreichen, dass Homosexuellen mehr entgegengebracht wird als nur duldende Toleranz, nämlich
wirklicher Respekt für die Unterschiedlichkeit menschlichen Lebens und echte Gleichberechtigung für verschiedene Lebensentwürfe. Ich sage Ihnen eines - dabei
wende ich mich auch an meine Vorrednerin -: Alles andere als echte rechtliche Gleichberechtigung von Homosexuellen ist Diskriminierung, nicht mehr und nicht weniger.
({0})
Doch leider erleben wir, auch gerade eben wieder, nur
die Fortführung eines bizarren Schauspieles: Die Kolleginnen und Kollegen von der Union sind gegen die echte
Gleichstellung von Lesben und Schwulen. Aber sie
können und wollen offensichtlich nicht so richtig sagen,
warum eigentlich. Also drucksen sie herum wie gerade
auch in der Rede. Sie drucksen herum wie ihre Parteivorsitzende im Wahlkampf 2013. So ist das eben, wenn
man offensichtlich selber weiß, dass man im Unrecht ist.
({1})
Was sollte der Staat, was sollte denn unsere Gesellschaft dagegen haben, wenn zwei Menschen Verantwortung füreinander übernehmen und das verbindlich machen wollen? Auch auf die Religion können Sie sich
nicht wirklich berufen. Ich darf zitieren:
Für mich ergibt sich aus zentralen biblischen Geboten der Impuls zu einer Öffnung der Kirche gegenüber gleichgeschlechtlichen Partnerschaften.
Das sagt nicht Volker Beck, das sagen nicht wir, sondern
das sagt einer der höchsten christlichen Repräsentanten
unseres Landes, der Ratsvorsitzende der EKD, Herr
Bedford-Strohm. Das sollten Sie aus den Parteien, die
das Christliche sogar im Namen tragen, sich wirklich zu
Herzen nehmen.
({2})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, manche von Ihnen argumentieren ja, mit der Ehe für alle
würde die Familie gefährdet. Können Sie mir irgendwie
erklären, wie es mein Recht beeinflussen könnte, meine
Freundin zu heiraten, wenn unser Kollege Volker Beck
oder unser Kollege Jens Spahn das Recht hätten, ihren
Freund zu heiraten? Nein, das können Sie eben nicht erklären, denn das hat keinerlei Einfluss. Das stimmt einfach nicht.
({3})
Die Ehe für alle ist eben kein Nullsummenspiel. Wenn
Sie allen das Recht zur Eheschließung geben, nehmen
Sie doch den Heterosexuellen nichts weg. Einzig die
Schlange vor den Standesämtern wird vielleicht ein kleines bisschen länger. Ist das so schlimm?
({4})
Nein, liebe Gegner der Ehe für alle von der Union, Ihr
Widerstand gegen die Öffnung basiert doch nicht auf Argumenten oder auf Werten. Seien wir doch einmal ehrlich: Im Kern geht es um Ressentiments und um Vorurteile, um Vorurteile gegen Lesben und Schwule. Das
wollen Sie natürlich nicht so offen sagen, erst recht nicht
in einer solchen Debatte, aber das rutscht Ihnen immer
wieder raus.
({5})
Annegret Kramp-Karrenbauer ist sich nicht zu
schade, Homosexualität, Inzest und Polygamie in einen
Topf zu werfen.
({6})
Bei der CSU - das war erst gestern wieder im Fernsehen
zu beobachten - gibt es sogar manche, die homosexuelle
Beziehungen minderwertig finden. Es ist genau diese
muffige Geisteshaltung, die überhaupt nicht mehr zu unserem offenen und modernen Land passt.
({7})
Seien wir doch einmal ehrlich: Da war es ehrlicher, als
so mancher Konservative offen homophob war. Homosexuelle Liebespaare erst mit Inzest zu vergleichen und
dann zu behaupten, das hätte nichts mit Homophobie zu
tun, ist nicht nur bigott, das ist wirklich verlogen.
({8})
Schauen Sie sich die Umfragen an. Es gibt viele Umfragen, die zeigen: 65 Prozent, manchmal auch 70 oder
75 Prozent der Bürgerinnen und Bürger sind weiter als
Sie. Die Mehrheit im Bundesrat ist längst weiter als Sie.
Ich bin mir verdammt sicher: Die Mehrheit hier im Bundestag ist auch weiter als Sie. Sie vertreten doch längst
nicht mehr die Wertehaltung einer Mehrheit bei uns. Sie
sind doch selbst längst eine fundamentalistische Minderheit in diesem Zusammenhang.
({9})
Schauen wir uns das einmal an: In einer pluralen und
freien Gesellschaft haben Sie überhaupt kein Recht, der
Mehrheit diese Wertvorstellung aufzuzwingen.
({10})
Sie müssen nicht einmal Ihre Meinung ändern. Geben
Sie einfach die Abstimmung frei, und dann schauen wir
einmal, welche Mehrheit es hier im Deutschen Bundestag gäbe.
({11})
Aber Sie stellen dieses Recht einfach darüber. Sie wollen
Fraktionsgehorsam, Sie wollen Parteigehorsam, das ist
Ihnen offensichtlich wichtiger.
Aber warum? Es stellt sich die spannende Frage: Warum machen Sie das eigentlich? Eine Ihrer stellvertretenden Bundesvorsitzenden hat selbst zugegeben, dass Sie
in ein paar Jahren diese Position räumen. Mit anderen
Worten: Das Ganze hat nichts mit Ihren Werten zu tun,
sondern es geht eher darum, bei der sogenannten konservativen Klientel noch ein paar Punkte zu sammeln, vielleicht auch noch ein paar Punkte bei der AfD zu sammeln. Das ist doch das Einzige, worum es Ihnen da geht.
({12})
Stellen Sie Ihr Interesse am Machterhalt und Ihr Parteiinteresse nicht weiter über die Liebe vieler Menschen
und über die Bereitschaft und den Wunsch vieler Menschen, füreinander einzustehen. Das ist nämlich nicht
christlich, das ist maximal schäbig. Deshalb appelliere
ich an Sie: Geben Sie die Abstimmung frei, dann sehen
wir, wer bzw. welche Wertvorstellung hier die Mehrheit
hat.
Vielen Dank.
({13})
Der Kollege Johannes Kahrs spricht jetzt für die SPD.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Diese Debatte ist keine neue, sondern eine,
die wir hier häufiger führen. Diese Debatte zeichnet sich
dadurch aus, dass Linke, SPD und Grüne eine Position
vertreten, CDU/CSU eine andere.
({0})
Wir können diese Debatte noch lange weiterführen. Da
ich zurzeit in einer Koalition mit der CDU/CSU bin und
man sich in einer Koalition - freundschaftlich verbunden den einen oder anderen Rat geben kann, glaube ich sagen zu dürfen, dass es für die Union auf Dauer besser
wäre, wenn sie sich einer Entwicklung, die seit 1998 andauert, nicht weiter in den Weg stellt,
({1})
weil ich einfach glaube, dass die gesellschaftliche Entwicklung nicht nur über sie hinweggeht, sondern der
Union auch irgendwann schadet.
({2})
Es gibt Diskussionen, die man führen kann, in denen
man sich inhaltlich streiten kann. Aber inzwischen haben zwölf Länder in Europa die Ehe geöffnet. Wenn man
sieht, dass außerhalb von Europa selbst solche Länder
wie Brasilien, Uruguay und Argentinien
({3})
- das habe ich noch zu Europa gezählt ({4})
die Ehe geöffnet haben und deutlich weiter sind als Sie,
meine Damen und Herren von der Union, fragt man sich,
wie Sie noch gegen eine Öffnung der Ehe argumentieren
können.
Die konservative Regierung in Großbritannien hat die
Zeichen der Zeit erkannt und hat die Ehe geöffnet. Man
könnte hämisch behaupten: gerade weil sie konservativ
ist und die Ehe schätzt. Angesichts der Tatsache, dass
selbst Länder, in denen Konservative regieren, die Ehe
geöffnet haben, gibt es keine inhaltliche Begründung für
eine Nichtöffnung der Ehe. Ich gebe zu, dass Sie, Frau
Kollegin Winkelmeier-Becker, wirklich tapfer argumentieren, und das über Jahre hinweg. Respekt! Es ist in Ihrer Fraktion sicherlich nicht einfach. Schließlich kenne
ich den einen oder anderen Ihrer Kollegen. Dafür gebührt Ihnen höchster Respekt.
({5})
Trotzdem müssen Sie alle, meine Damen und Herren
von der Union, zur Kenntnis nehmen, dass die Lesben
und Schwulen in diesem Land auf das Schauspiel, das
seit 1998 andauert, keine Lust mehr und dafür kein Verständnis mehr haben und der Meinung sind, dass das,
was in Uruguay, Brasilien, Argentinien, Slowenien, Spanien, Frankreich, Irland und Südafrika möglich ist, auch
in Deutschland möglich sein müsste.
({6})
Unter uns: Ich habe als Hamburger sehr viele
Freunde, die Mitglied in der Union sind. Diese sind
schwer geknickt. Es gibt gerade unter Schwulen und
Lesben sehr viele - ich weiß auch nicht, warum -, die
sehr konservativ sind. Diese würden Sie, meine Damen
und Herren, gerne wählen.
({7})
- Natürlich muss das nicht sein. Aber man kann einmal
daran erinnern.
({8})
Weil Sie, meine Damen und Herren von der Union, diesen potenziellen Wählern vor jeder Wahl rechts und
links eine herunterhauen und ihnen mitteilen, dass sie
nicht gleichberechtigt sind, und deutlich machen, dass
Sie als Union weiterhin bereit sind, sie zu diskriminieren, und zwar aus dem Grund, dass Frau Merkel ein bestimmtes Bauchgefühl hat, glaube ich, dass nichts daraus
wird, sie vom Gegenteil zu überzeugen. Aber was Sie
vertreten, ist in der Sache falsch. Es gibt keine Argumente gegen eine Öffnung der Ehe.
Ich könnte sehr viel dazu sagen, warum es richtig ist,
Schwule und Lesben gleichberechtigt zu behandeln. Ich
glaube, das versteht jeder hier. Ich verweise auf das
Grundgesetz und auch auf unseren Koalitionsvertrag, in
dem steht, dass wir Diskriminierung abbauen wollen.
Die Frage, die sich mir stellt, lautet: Warum in aller
Herrgotts Namen machen Sie es nicht?
({9})
Die Antwort macht die Sache so peinlich. Wenn Sie
in der Union über die Öffnung der Ehe abstimmen würden, dann würde die Mehrheit sogar zustimmen. Ihre
Wähler sind jedenfalls mehrheitlich für die Öffnung der
Ehe. Was Sie antreibt, sind rein taktische Erwägungen.
Das hat nichts mit inneren Überzeugungen zu tun. Es hat
nichts damit zu tun, dass Sie davon überzeugt sind, dass
Lesben und Schwule diskriminiert sein müssen. Es liegt
vielmehr daran, dass Sie sich in den letzten Jahren sehr
stark bewegt haben, von rechtskonservativ bis in die
Mitte. Sie sind inzwischen für die doppelte Staatsbürgerschaft sowie für die Gleichberechtigung der Frau und für
Frauenquoten. Sie haben Atomkraftwerke abgeschaltet
und die Wehrpflicht abgeschafft. Sie bejubeln sogar die
Einführung des Mindestlohns. All das, was die Union
tut, führt dazu, dass sich ein Großteil ihrer Stammwähler
fragt: Warum soll ich diesen komischen Verein eigentlich noch wählen? - Mit dem, was Strauß, Dregger und
selbst noch Roland Koch vertreten haben, haben Sie
nichts mehr zu tun. Dazu haben wir tapfer beigetragen.
Wir sind gerne weiterhin bereit, solche Beiträge zu leisten. Aber dass Sie es nun an Lesben und Schwulen auslassen, weil Sie rechte und konservative Wähler nicht
verlieren wollen, ist unanständig; das geht nicht.
({10})
Das muss ein Ende haben. Das muss auch Frau Merkel
begreifen; denn sie ist verantwortlich. Frau Merkel
bremst. Das nehmen wir ihr persönlich übel. Deswegen:
Geben Sie die Abstimmung frei!
({11})
Nächster Redner ist der Kollege Helmut Brandt,
CDU/CSU.
({0})
Überhaupt nicht, Herr Beck. - Herr Präsident! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kahrs, das Pult
ist heil geblieben. Ihre Handkantenschläge waren genauso wenig überzeugend wie Ihre Rede.
({0})
Seitdem die Iren diesen Volksentscheid durchgeführt
haben, wird diese Debatte wieder - leider nicht sachlich,
sondern hysterisch - geführt. Anders kann man das nicht
bezeichnen, auch das nicht, was Sie heute hier abliefern.
({1})
Das ist aber dieses Themas gar nicht würdig. Ich weiß
auch nicht, ob Sie wollen - das Thema der Aktuellen
Stunde lautet „Ehe für alle“ -, dass sich die Leute in dieser Art und Weise artikulieren. Ich frage mich: Hätten
wir heute diese Debatte auch, wenn die Iren so wie die
Kroaten abgestimmt hätten? Die Kroaten haben 2013 genau das gegenteilige Ergebnis in der Volksabstimmung
erzielt, nämlich eine Ablehnung.
({2})
Sie führen immer wieder an, dass angeblich bei Umfragen, die es geben mag, die Mehrheit der Bevölkerung
für diese Gleichstellung ist. Dazu muss ich sagen: Ich
habe erhebliche Zweifel.
({3})
Die Zweifel habe ich auch deswegen, weil ich seit diesem Entscheid in Irland - wahrscheinlich auch die anderen Kolleginnen und Kollegen - eine Vielzahl von Zuschriften bekommen habe, die genau den gegenteiligen
Eindruck erwecken. Dann kommt es so weit, Herr Beck,
dass es Leute gibt, die mir schreiben, dass sie sogar
Angst haben, offen einzuräumen, für die Beibehaltung
der Ehe zu sein, weil sie sonst automatisch von Leuten
wie Ihnen, Herr Beck, in eine rechte, homophobe oder
welche Ecke auch immer geschoben werden. Sie diskriminieren diese Leute, die ihre Meinung zum Ausdruck
bringen wollen, nicht umgekehrt.
({4})
- Ich weiß, dass Sie, Herr Beck und Herr Kahrs, gerne
dazwischenrufen. Aber nicht der, der am lautesten
schreit, hat recht.
({5})
- Bei Ihnen stimmt es in dem Fall genau nicht, dass Sie
recht haben.
Man sollte diese Debatte ohne diese Emotionen und
mit Sachlichkeit führen.
({6})
Da wir unter uns sind, wie Sie, Herr Kahrs, gesagt haben: Ich stehe ganz eindeutig dafür, die Ehe in der jetzigen Form beizubehalten und nicht für gleichgeschlechtliche Paare zu öffnen.
({7})
Deshalb, Frau Lay, empfinde ich die Debatte auch keineswegs als unangenehm. Ich bin froh, dass ich dieses
Bekenntnis hier frank und frei abgeben kann. Ich hoffe,
dass das auch in Zukunft weiter möglich sein wird.
({8})
Es mag auch sein, dass es keine Legaldefinition für
den Begriff der Ehe gibt, aber - das hat die Kollegin
Winkelmeier-Becker schon ausgeführt - es gibt
({9})
eine Historie, und es gibt viele Gründe kultureller und
religiöser Art, die zu dem Ehebegriff geführt haben, so
wie wir und ich ihn verstehen.
({10})
Das hängt natürlich auch damit zusammen - man
kann das drehen und wenden, wie man will -, dass die
klassische Ehe von Mann und Frau, wenn auch nicht immer - leider -, in der Regel dazu führt, dass man sich
fortpflanzt.
({11})
- Wer hat das gerufen? Sie schämen sich dafür, ja? Ich
möchte Sie bitten, sich dafür zu entschuldigen. Den Zwischenruf „Und was ist mit der Bundeskanzlerin?“ bei
dieser Aussage halte ich für eine Unverschämtheit. Ich
bitte, zu prüfen, ob das nicht gerügt werden muss.
({12})
Es gibt eben diesen Unterschied, und es gibt das, was
ich hochhalten möchte.
({13})
Jetzt kommen diese Drohungen und auch die Falschaussagen, die ich auch von Ihrer Seite, meine Damen
und Herren, heute wiederholt in diesem Raum gehört
habe.
({14})
Wenn Sie der saarländischen Ministerpräsidentin Dinge
in den Mund legen, die sie so nicht gesagt hat, dann halte
ich das für eine Frechheit.
({15})
Ich möchte mit der gleichen Deutlichkeit sagen, dass
ich ihre Aussage unterstütze, dass nämlich immer überlegt werden muss, wo das Ende einer möglichen Entwicklung ist. Darauf hinzuweisen, ist, glaube ich, legitim.
({16})
Lassen Sie mich zum Schluss aus einer Zuschrift eines Wählers Folgendes zitieren: „Auch Iren können irren.“ Ich glaube, sie haben sich geirrt.
({17})
Ich möchte darauf hinweisen, dass zwar immer Zwischenrufe gemacht werden können, nach unserer Geschäftsordnung allerdings nicht von der Regierungsbank.
({0})
Wenn ein Regierungsmitglied Zwischenrufe machen
möchte, dann kann es dieses tun: als Abgeordneter, aber
nicht von der Regierungsbank. Das ist unsere Vereinbarung.
({1})
Nächster Redner ist der Kollege Harald Petzold für
die Fraktion Die Linke.
({2})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Liebe Besucherinnen und Besucher! Lieber Kollege Brandt, natürlich sollen Sie hier im Deutschen Bundestag Ihre Meinung sagen können
({0})
und auch für Ihre Positionen werben können. Darum
geht es doch gar nicht. Es geht nur darum, dass Sie zum
Beispiel den Kolleginnen und Kollegen in Ihrer eigenen
Fraktion und den Kolleginnen und Kollegen in der SPDFraktion, die offensichtlich eine ganz andere Meinung
als die Spitzen ihrer eigenen Fraktionen haben - der Kollege Kahrs hat es ja hier dargestellt -, die Möglichkeit
einräumen, hier für ihre Position zu werben und dementsprechend dann auch abstimmen zu können.
({1})
Deswegen auch von meiner Seite zu Beginn meiner
Rede in der Aktuellen Stunde zum Thema „Ehe für alle“
die Forderung: Geben Sie diese Abstimmung frei. Wenn
Sie das nicht wollen, dann lassen Sie einen Volksentscheid zu dieser Frage zu. Dann werden Sie sehen, dass
Sie die Meinungsführerschaft in der Gesellschaft mit Ihren Positionen, was die Ehe anbelangt, leider verloren
haben.
Ich sage Ihnen auch klar und deutlich: Die Umfragen
belegen vor allen Dingen, dass es für junge Leute eine
ganz zentrale Frage von Gerechtigkeit in dieser Gesellschaft ist, dass es keine Diskriminierung mehr gibt und
dass Respekt für alle Lebensweisen bekundet wird und
dass niemand mehr ausgegrenzt und diskriminiert wird.
Das sollten wir zur Kenntnis nehmen. Dem sollten Sie
sich hier im Bundestag endlich öffnen.
({2})
Als meine Fraktion am Anfang dieser Woche diese
Aktuelle Stunde beantragt hat, war ich mir nicht sicher,
ob das zum gegenwärtigen Zeitpunkt tatsächlich das optimale Mittel ist, mit dem Gegenstand umzugehen.
({3})
Der Kollege Jens Spahn hat sich sinngemäß in der Presse
geäußert: Was im katholischen Irland möglich ist, sollte
doch auch bei uns möglich sein.
({4})
Das war überhaupt nicht aufgeregt oder hysterisch, sondern das ist einfach richtig.
({5})
Ihr Generalsekretär Peter Tauber hat auf seiner Facebook-Seite eine Umfrage initiiert, die eine überwältigende Mehrheit für die Öffnung der Ehe gebracht hat.
Ich finde, das ist überhaupt nicht hysterisch. Das ist legitim, und es hat Sie sozusagen mit der gesellschaftlichen
Realität konfrontiert.
({6})
Die Berliner CDU hat angekündigt, dass sie in dieser
Frage einen Mitgliederentscheid herbeiführen will. Was
ist daran hysterisch? Es ist einfach ein legitimes und demokratisches Mittel. Es wird Ihnen zeigen, dass in Berlin - der Kollege Luczak wird mich wahrscheinlich bestätigen - inzwischen viel weiter gedacht wird als in der
CDU/CSU-Bundestagsfraktion.
({7})
Leider gibt es die „Oberbremser“ in der Union wie
Frau Kramp-Karrenbauer, Herrn Kauder oder Herrn de
Maizière, diesmal getarnt als Bedenkenträger. Ich muss
sagen: Das, was Frau Kramp-Karrenbauer gesagt hat
- egal ob das jetzt richtig zitiert worden ist oder nicht -,
({8})
Harald Petzold ({9})
ist den sogenannten besorgten Bürgern viel näher als einem tatsächlichen, sachlichen Austausch über diese Thematik in der Gesellschaft.
({10})
- Genau, das war blanke Hysterie.
Ich sage Ihnen voraus: Es ist ein sinnloser Abwehrkampf, den Sie hier führen. Nicht nur die Umfragen in
Deutschland belegen das, sondern auch die Politik in
vielen anderen Ländern. Der Kollege Kahrs hat sie aufgezählt. Ich könnte die Aufzählung ergänzen. Zu dieser
Aufzählung gehören Länder, von denen man es nie im
Leben für möglich gehalten hätte: Tschechien, Slowenien
({11})
- Südafrika, genau - und eben auch das katholische Irland. Dazu kommen 36 Bundesstaaten der USA. Wir erwarten zu Beginn des Sommers eine Entscheidung des
Supreme Court der USA. Wir sind fest davon überzeugt,
dass die Ehe gleichgeschlechtlicher Paare auch in den
USA als verfassungsgemäß beurteilt wird. Und dann
werden Sie sehen, verehrte Kolleginnen und Kollegen
von der CDU/CSU: Der Kaiser ist nackt.
({12})
Da können Sie machen, was Sie wollen. Sie haben kein
sachliches Argument mehr gegen die Öffnung der Ehe.
({13})
Deswegen sage ich Ihnen: Lassen Sie sich von den
Kolleginnen und Kollegen in Ihrer Fraktion, die bei den
vergangenen CSDs Grußworte gehalten haben, doch einfach einmal erzählen, wie das ist, wenn man für seine
Position ausgebuht wird.
({14})
Sie können nicht beantworten, warum Sie nicht die
Gunst der Stunde nutzen. Die Kanzlerin würde von den
Teilnehmerinnen und Teilnehmern der CSDs auf Händen
getragen. Ich befürchte sogar, die Mehrheit meiner eigenen Anhänger wäre darunter. Aber das wäre mir recht,
damit Sie endlich Ihre Position ändern. Nutzen Sie die
Gunst der Stunde, die neuen Mehrheiten in der Gesellschaft. Wenn Sie eine Bewegung schon nicht mehr verhindern können, dann sehen Sie wenigstens zu, dass Sie
an ihre Spitze kommen, und öffnen Sie die Ehe für
gleichgeschlechtliche Partnerschaften.
Vielen Dank.
({15})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Karl-Heinz
Brunner, SPD.
({0})
Sehr verehrter Herr Präsident! Meine Kolleginnen
und Kollegen! Verehrte Zuhörerinnen und Zuhörer! Im
Vorgriff auf diese Aktuelle Stunde habe ich überlegt, ob
ich den Einstieg in meine Rede über den Begriff „Vorurteile“ wählen soll, aber, Kollege Brandt, nach Ihrem
Wortbeitrag hier in diesem Hohen Hause fällt mir dies
deutlich leichter.
({0})
Ich sage dies deshalb, weil ich, wie eine Kollegin der
Grünen, am vergangenen Wochenende in Kiew war, als
die ukrainischen Schwulen und Lesben versucht haben,
als ein Häufchen Aufrechter im Land eine Gay Pride Parade - nicht bunt, nicht mit irgendwelchen Federboas,
sondern ganz anständig - als Demonstration für Menschenrechte durchzuführen,
({1})
und ich zusammen mit den 250 Demonstrantinnen und
Demonstranten von rund 1 000 Polizisten bewacht werden musste, um überhaupt an einem öffentlichen Platz
fernab des Zentrums stehen zu können, während ein
Mob von vorurteilsgeprägten Rechten versucht hat, auf
die Menschen einzuschlagen. Dass ich in meinem Alter
noch so schnell laufen kann, wenn man verfolgt wird,
hat mich gewundert.
({2})
Nach diesem Eindruck kehrt man dann nach Deutschland zurück - man hat überlebt, weil man nicht verprügelt wurde; der Kollege Beck hat vor ein paar Jahren leider nicht das Glück gehabt, so schnell laufen zu können,
({3})
und kein Postamt gefunden, wo er sich verstecken
konnte - und denkt sich: Schön zu wissen, dass wir in
Deutschland sind, dass es keine Gefahr für Leib und Leben gibt, dass es hier eine Mehrheitsgesellschaft gibt, die
Minderheiten respektiert.
Ironischerweise hatte ich gedacht, dass ich nach meiner Rückkehr am Montag als Erstes einen Brief vorfinden würde mit dem Inhalt: Schön, dass du wieder gesund
zurück bist. Schön, dass du dich für die Rechte der
Schwulen eingesetzt hast. Schön, dass du hier etwas
tust. - Was lag stattdessen auf dem Tisch? Ein Schreiben
eines angehenden Priesters, der sich wohl so wie die
Teilnehmer des Shitstorms der letzten Wochen durch die
Mitunterzeichnung des Aufrufs im Spiegel provoziert
fühlte und der die Homo-Ehe, wie er sie bezeichnete, mit
den Rassegesetzen der Nazis und Ähnlichem verglich.
Normalerweise und eigentlich schmeiße ich solchen
Mist sofort in den Papierkorb. Aber angesichts dieser
Penetranz, auch der Penetranz, mit der in unserer Region
in letzter Zeit Leserbriefe geschrieben werden, war ich
der Meinung: Nein, wir müssen endlich sagen, was die
Mehrheit der Menschen denkt, was sie will, was richtig
und anständig ist.
({4})
Anständig ist die Ehe für alle, anständig ist nicht Diskriminierung. Doch das ist in diesem Lande nicht immer
Realität. Wenn man sich einmal anschaut, wie man sich
auf den Sportplätzen, auf den Schulhöfen dieses Landes
oder in manchen Familien heute noch sehr oft verhält,
wo der Begriff „schwule Sau“ als nett und schick angesehen wird und blöde Kommentare, die unter die Gürtellinie zielen, nur Schmunzeln hervorrufen, dann weiß
man: Bei uns besteht zwar keine Gefahr für Leib und Leben, aber Gefahr für die Seele und Psyche von jungen
Menschen.
({5})
Weil dies nicht gut ist, weil wir Sozialdemokratinnen
und Sozialdemokraten dies erkannt haben und weil das
in diesem Land nicht sein darf, haben wir im Koalitionsvertrag vereinbart - ich habe es ausgedruckt, damit man
nicht sagt, es stehe etwas anderes drin -:
Wir werden darauf hinwirken, dass bestehende
Diskriminierungen von gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaften und von Menschen aufgrund
ihrer sexuellen Identität in allen gesellschaftlichen
Bereichen beendet werden.
Punkt!
({6})
Deshalb verstehe ich manche der Aufregungen und
manche Ablehnung der Ehe für alle aus folgenden Gründen überhaupt nicht:
Erstens. Noch bestehende bürokratische Unterschiede
zwischen Ehe und Lebenspartnerschaften sind künstlich
und willkürlich.
Zweitens. Gestatten Sie mir den Gebrauch des Begriffes: Früher hatten wir Rosa Listen. Heute haben wir mit
dem Stempel „Lebenspartnerschaftsurkunde“ den Vermerk, anhand dessen jeder draußen weiß, welch sexuelle
Orientierung der Mieter, der Eröffner eines Bankkontos
oder von etwas anderem hat. Dies geht jedoch niemanden etwas an - weder den Staat noch andere.
({7})
Drittens. Ich bin der festen Überzeugung, dass Politik
führen und Richtung weisen muss. Sie muss Farbe bekennen sowie Motor der Gleichstellung sein.
Nicht zuletzt wollen wir Verträge - auch den Koalitionsvertrag - ernst nehmen; nicht nur bei der Maut.
Deshalb sage ich: Setzen wir den Koalitionsvertrag um nicht mehr, auch nicht weniger. Beenden wir - so, wie
wir es vereinbart haben - Diskriminierungen in allen gesellschaftlichen Bereichen.
Das Folgende sage ich an den Kollegen Kauder gerichtet. Liebe Frau Winkelmeier-Becker, teilen Sie es
ihm - genauso wie der Kanzlerin - mit. Ich bin mir sicher und kann Ihnen mit der Kollegin Sütterlin-Waack,
die immer noch aufrecht und standhaft auf diesem Gebiet arbeitet, versprechen: Wir kriegen die Ehe für alle
sehr schnell hin!
({8})
Beenden wir also die unterschiedliche Behandlung
zwischen Lebenspartnerschaft und Ehe. Geben wir den
Kindern in unserer Gesellschaft Geborgenheit. Die Kinder brauchen Familien. Sie brauchen sie nicht nur am
Sonntag, sondern von Montag bis Sonntag, die ganze
Woche über. Dort, wo Kinder sind, muss auch eine Familie sein. Dabei ist es egal, ob zwei Frauen, zwei Männer oder eine Frau und ein Mann die Eltern sind: Kinder
brauchen Geborgenheit.
({9})
Ich glaube, lieber Herr Kauder und liebe Zauderer in
der Union: Wir wären der Zustimmung der Mehrheit der
Deutschen und dieses Hauses gewiss. Wäre es nicht
schön, wenn wir das hinbekämen?
Vielen herzlichen Dank.
({10})
Der Kollege Volker Beck spricht jetzt für Bündnis 90/
Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es geht in
dieser Debatte nicht um juristisches Klein-Klein, sondern um eine Grundsatzfrage. Es geht um gesellschaftlichen Respekt gegenüber einer Minderheit. „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten
geboren.“ - Das ist Artikel 1 der Allgemeinen Erklärung
der Menschenrechte. Wer gleiche Rechte verweigert,
verweigert auch gleiche Würde.
({0})
So nehmen die Lesben und Schwulen in Deutschland
diese Debatte wahr. Sie nehmen diesen Menschen mit
Ihrem harten Festhalten an einer Minderheitsmeinung
und der Geiselnahme des gesamten deutschen Parlamentes für Ihre Position die Würde, die Anerkennung und
Volker Beck ({1})
den Respekt, den sie verdient haben und den die Verfassung auch für sie so will.
({2})
Was führen Sie dafür ins Feld? Die Kanzlerin sagt:
Ich tue mich mit der völligen Gleichstellung schwer. Im Präsidium der CDU soll sie es ein bisschen näher
ausgeführt und gesagt haben, es gebe einen Unterschied
zwischen der Ehe, die zwischen Mann und Frau geschlossen wird, und der Lebenspartnerschaft von zwei
Menschen gleichen Geschlechts.
({3})
- Ja, da hat sie recht! - Und wie ist das mit den Unterschieden im demokratischen Rechtsstaat? Lesen Sie einmal Artikel 3 Grundgesetz. Unser Grundgesetz weiß um
die Verschiedenheit der Menschen. Es zählt sogar ganze
Litaneien von Kategorien auf, nach denen man die Menschen in Gruppen unterscheiden kann, und sagt dann:
Diese Unterscheidungen dürfen keine Abstriche bei der
Gleichheit vor dem Gesetz rechtfertigen.
Im demokratischen Rechtsstaat ist es so, dass Sie Ungleiches nur dann ungleich behandeln dürfen, wenn Sie
dafür ein legitimes Ziel haben und wenn diese Ungleichbehandlung erforderlich und angemessen bezogen auf
das Ziel ist. Dies sagt der Europäische Gerichtshof für
Menschenrechte im Rahmen ständiger Rechtsprechung.
Das sagt auch das Bundesverfassungsgericht so.
Es ist eben nicht so, wie Ihre Leute in den Talkshows
immer erzählen, dass man Gleiches gleich und Ungleiches ungleich behandeln müsse. Das Gegenteil ist der
Fall. Gleiches muss man nicht gleich behandeln. Das ist
schon gleich.
({4})
Ungleiches muss man gleich behandeln, wenn man
keinen guten Grund hat, unterschiedliche Rechte an die
Differenz zu knüpfen.
({5})
Das ist Demokratie, das ist Rechtsstaatlichkeit, und das
ist eine Politik des Respekts. Die geht Ihnen leider vollkommen ab.
Dann wird mit der Tradition und der Geschichte oder
gar der Religion argumentiert; mein Fraktionsvorsitzender hat schon das richtige Zitat gebracht. Was gibt die
Tradition als Rechtsquelle her bei den Menschenrechten
von Lesben und Schwulen? Bis 1969 wurde Homosexualität unter erwachsenen Männern mit dem Strafrecht
verfolgt. 50 000 Männer haben ihre Existenz in dieser
Republik bis 1969 verloren aufgrund von strafrechtlicher
Verfolgung nach § 175 Strafgesetzbuch. Ist es dann in
einer solchen Rechtssituation von Relevanz, was 1949
jemand zu dieser Frage im Zivilrecht gedacht hat? Das
war eine Frage, die gar nicht denkbar war, nicht diskutabel. Deshalb: Das Eherecht verändert sich, wie wir in die
Gesellschaft und zu den Menschen schauen.
Das Verfassungsgericht hat es doch schon längst gemacht. Aber immer gegen Sie. In den 90er-Jahren hat
das Verfassungsgericht in der Entscheidung zum Kindschaftsrecht gesagt: Auch Kinder in nichtehelichen
Lebensgemeinschaften bilden mit ihren Eltern eine Familie, und zwar eine Familie nach Artikel 6 des Grundgesetzes. 2013 hat das Bundesverfassungsgericht das
Gleiche im Urteil zur Sukzessivadoption über die
lebenspartnerschaftliche Familie gesagt. Wenn sich die
Familie in Artikel 6 GG wandeln kann, dann kann sich
die Ehe in Artikel 6 GG genauso wandeln.
({6})
Sie müssen mir schon einmal erklären, warum ausgerechnet in der deutschen Verfassung, die eigentlich als
Negation auf die Barbarei des Nationalsozialismus geschrieben wurde, stehen soll, dass man eine Minderheit
nachhaltig diskriminieren soll? Wenn das in anderen demokratischen Verfassungen - in Südafrika, Argentinien,
Uruguay, in den USA und den Niederlanden, in Spanien,
Portugal, Irland, Dänemark - überall anders ist, müssen
Sie mir das einmal erklären. Der Wortlaut gibt gar nichts
her. Sie behaupten aber, diese Art von Menschenverachtung gegenüber der homosexuellen Minderheit sei in
unsere Verfassung eingeschrieben. Das kann historisch
nicht der Fall sein. Das ist vom Wortlaut her nicht der
Fall, und das gibt auch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes nicht her. Ganz im Gegenteil: Das
Verfassungsgericht hat jeden Schritt zur Gleichberechtigung seit 2005 selber auf den Weg bringen müssen.
Gehen Sie voran. Beenden Sie die Geiselhaft der
Mehrheit des Deutschen Bundestages und des Bundesrates. Lassen Sie den Respekt, den unsere Bevölkerung
gegenüber der lesbischen und schwulen Minderheit hat,
endlich in einem Gesetzesbeschluss zum Ausdruck kommen. Geben Sie die Ehe frei.
({7})
Vielen Dank, Volker Beck. - Einen schönen Tag von
meiner Seite, Ihnen und den Gästen auf der Tribüne!
Nächster Redner, dem ich zu seiner Eheschließung
gratulieren möchte, ist Dr. Stefan Kaufmann für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen, insbesondere
von den Linken! Das Ziel, das Sie mit der heutigen
Debatte verfolgen, ist klar: Sie wollen uns, Sie wollen
die Union vorführen. Dabei ist es kein Geheimnis, dass
es in dieser Union unterschiedliche Positionen zum
Thema „Ehe für alle“ gibt. Das kann auch in einer großen Volkspartei gar nicht anders sein. Sie wissen auch,
dass Sie derzeit in der Sache mit dieser Debatte überhaupt nichts erreichen. Am Ende provozieren Sie mögli10446
cherweise sogar mehr Widerstand, als Ihnen um der Sache willen lieb sein müsste.
({0})
Die ersten Redebeiträge haben schon gezeigt, wie
emotional diese Debatte geführt wird: hier im Plenum,
aber auch draußen in der Bevölkerung. Mein dringender
Wunsch wäre daher, dass wir auf beiden Seiten die
Debatte erst einmal versachlichen, Emotionen herunterfahren, Verletzungen vermeiden.
({1})
Vor Ihnen steht jemand, der in Partei und Gesellschaft
für eine Öffnung der Ehe wirbt.
({2})
Ja, es verletzt, wenn von manchen Gegnern der Eindruck
erweckt wird, der Weg von der Öffnung der Ehe für
gleichgeschlechtlich Liebende zu anderen unerwünschten Verbindungen sei nicht weit. Ja, es verletzt, wenn
Sätze in Mails oder Diskussionen mit den Worten beginnen: „Ich habe ja nichts gegen Homosexuelle, aber …“
Dann folgt häufig: „… müsst ihr das immer zum Thema
machen?“, „… jetzt ist auch mal genug mit Gleichstellung“, „… es ist halt nicht normal.“ - Doch auf der anderen Seite verletzt es genauso, wenn eine unglückliche
oder vielleicht auch unbedachte Äußerung eines Kollegen, der ehrlich um eine Position bei diesem Thema
ringt, in einem Shitstorm aus der Community endet.
({3})
Das gilt im Übrigen auch für die mitunter aggressive
Rhetorik von Kollegen aus der Opposition.
({4})
Apropos „normal“: Ja, es ist nur eine Minderheit, die
gleichgeschlechtlich liebt - nach Schätzungen bis zu
5 Prozent. Aber zu dieser Minderheit gehören allein in
Deutschland - wenn Sie mal rechnen - bis zu 4 Millionen Menschen. Diese 4 Millionen Menschen haben Eltern, Geschwister, Verwandte, Kollegen und Freunde,
die mit ihnen fühlen und solidarisch sind. Das erklärt
vielleicht auch, warum diese gesellschaftliche Debatte
so schwierig ist und so emotional geführt wird.
Ja, am Ende mag es in rechtlicher Hinsicht nur um
eine Begrifflichkeit gehen. Doch wenn man in Formularen oder Bewerbungen wahrheitsgemäß „verpartnert“
angibt, weiß eben jede Behörde oder jeder Arbeitgeber
sofort, wie man liebt; Herr Brunner hat darauf hingewiesen. Viele wollen eben nicht sagen, dass sie verpartnert
sind. Sie wollen sagen, dass sie verheiratet sind, dass sie
Ehepartner sind.
({5})
Sie wollen das, was sie verbindet, Ehe nennen, weil sie
Ehe in ihrem Alltag erleben, weil das, was sie Tag für
Tag leben, für sie, ihre Familie und Freunde Ehe ist.
({6})
Worum geht es denn in diesen Verbindungen? Es geht
um Verlässlichkeit, Vertrauen und Verantwortung. Das
ist der Kern der Ehe: gelebte Verantwortung.
Nun haben viele Kritiker einer Eheöffnung Sorge,
dass die Ehe als Institution entwertet wird; darum geht es
im Kern in dieser Debatte. Aber ist nicht genau das Gegenteil der Fall? Wird das Institut der Ehe nicht vielmehr
gestärkt? Sicher, eine gleichgeschlechtliche Ehe kann
nie auf eigene leibliche Kinder ausgerichtet sein. Wer
nun die Ehe vor diesem Hintergrund als eine ausschließliche Verbindung von Mann und Frau definiert, hat die
Kulturgeschichte und die Tradition, ja sogar die entsprechend geprägte Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auf seiner Seite. Das, meine Damen und Herren,
liebe Kolleginnen und Kollegen, müssen wir in dieser
Debatte ernst nehmen - auch wenn es in Umfragen klare
Mehrheiten für eine Öffnung der Ehe gibt.
Im Übrigen wollen wir auch nicht vergessen: Wir
haben in den letzten 15 Jahren viel erreicht. Die Entwicklung in Gesellschaft, Partei und Fraktion habe ich
als Betroffener in den letzten 15 bzw. 6 Jahren hautnah
miterlebt. Gewiss: Die Union war hierbei nicht die treibende Kraft. Aber es ist das Verdienst der Union, liebe
Kolleginnen und Kollegen, dass wir der Diskussion
nicht aus dem Weg gegangen sind. Wir haben die konservativen, die traditionell ausgerichteten Bürgerinnen
und Bürger bei dieser Debatte mitgenommen.
({7})
Dieser Aspekt kam mir in der bisherigen Debatte zu
kurz.
Lassen Sie mich dabei nur das Beispiel der Debatte
um eine Gleichstellung im Steuerrecht auf dem Bundesparteitag in Hannover nennen. Sie war eine zentrale
Wegmarke, die bei vielen in der Partei einen Prozess des
Umdenkens ausgelöst hat. Am Ende haben etliche Kolleginnen und Kollegen aus Überzeugung jene Wählerinnen und Wähler mitgenommen, die noch Probleme mit
der Vorstellung hatten, dass gleiche Liebe auch gleiche
Rechte und gleiche Pflichten mit sich bringen soll.
({8})
Die Tatsache, lieber Kollege Beck, dass Großdemos wie
in Frankreich bei uns in Deutschland ausbleiben, zeigt,
dass hierzulande Toleranz und Akzeptanz mittlerweile
von weiten Teilen der Bevölkerung verinnerlicht werden.
({9})
Dennoch, meine Damen und Herren, beschäftigt viele
Menschen die Frage: Wird hier nicht Ungleiches gleich
behandelt? Da ist für mich entscheidend: Es wird
niemandem etwas weggenommen; es wird kein Kind
weniger geboren und keine Ehe weniger geschlossen.
({10})
Daher ist für mich kein Widerspruch zu Artikel 6 des
Grundgesetzes zu erkennen; denn am besonderen Schutz
der Familie wird nicht gerüttelt. Welchen Geschlechts
die Partner einer Ehe zu sein haben, regelt das Grundgesetz nicht.
Zum Adoptionsrecht. Hier geht es nicht um das Recht
oder um einen Anspruch adoptionswilliger Paare, auch
nicht bei Heterosexuellen. Es geht ausschließlich um die
Frage, ob gleichgeschlechtliche Paare in eine Einzelfallprüfung einbezogen werden sollen oder nicht. Es geht
also in der Tat um das Kind und dessen Wohl, um das
Recht des Kindes auf die besten Eltern.
({11})
Ich komme zum Schluss. Im Übrigen geht es auch
nicht darum, am Sakrament der Ehe zu rütteln. Aber es
muss das Recht des säkularen Staates sein, eine eigene
diskriminierungsfreie Definition der Ehe gesetzlich festzuschreiben.
({12})
Ich bitte Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, herzlich darum: Debattieren wir dieses Thema offen und
sachlich, und beschädigen wir das Anliegen nicht durch
falsch verstandene Hau-Ruck-Aktionen wie diese Debatte heute.
({13})
Nehmen wir uns die Zeit für die notwendige Diskussion,
und freuen wir uns, dass die Institution Ehe und die mit
ihr verbundenen Werte geradezu eine Renaissance erleben. Dafür sollten wir dankbar sein.
Danke sehr.
({14})
Vielen Dank, Dr. Kaufmann. - Nächster Redner ist
Sönke Rix für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Es gehört zu dieser Debatte dazu, darauf hinzuweisen,
dass wir in den letzten Jahren viel erreicht haben. Ich
glaube, das muss man an dieser Stelle einmal sagen. Die
jetzige Situation hat mit der Diskriminierung, die es in
den vergangenen Jahrzehnten gegeben hat, natürlich
wenig zu tun. Wir haben erreicht, dass es eingetragene
Lebenspartnerschaften gibt. Wir haben eine Verbesserung im Steuerrecht erreicht. Wir haben durchaus auch
dazu beigetragen, dass die gesellschaftliche Akzeptanz
von schwulen und lesbischen Paaren viel größer geworden ist.
Es gibt Menschen, über die man früher gesagt hat, sie
würden sich in der Öffentlichkeit nie trauen, zuzugeben
oder zu sagen, dass sie als Mann mit einem Mann oder
als Frau mit einer Frau zusammenleben, die sich das
heute trauen. In diesen Bereichen haben wir viel erreicht.
Aber das haben wir politisch auch immer unterstützt.
Das haben wir auch immer mit politischen Maßnahmen
flankiert. Von daher sollten wir nicht aufhören, diesen
Weg weiterzugehen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({0})
Der gesellschaftliche Wandel und die damit verbundene Zustimmung, dass ein Mann mit einem Mann oder
eine Frau mit einer Frau zusammenleben kann, kommen
nicht von ungefähr. Deshalb frage ich ganz leise und
vorsichtig in Richtung Union: Warum kann diese Diskriminierung nicht aufgehoben werden?
Wir haben vorhin gehört: Es ist keine Diskriminierung.
({1})
Man hat versucht, anhand verschiedener Argumente darzulegen, dass es eigentlich keine Diskriminierung ist.
Aber es ist doch so: Wenn ich einer Minderheit etwas
vorenthalte, worauf sie laut Grundgesetz, laut unserer
Wertvorstellung, eigentlich ein Recht hat, dann ist das
eine Diskriminierung; denn ich entkoppele sie von ihrem
Recht. Deshalb müssen wir diese Diskriminierung beenden, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({2})
Gerade wenn man dieses Thema in Bürgersprechstunden oder bei Veranstaltungen diskutiert, dann sind es
häufig nicht nur die - in Anführungsstrichen - „betroffenen Menschen“, die zu mir kommen und sagen: „Jetzt
schafft endlich die Ehe für alle“, sondern es sind auch
die Angehörigen oder Freunde dieser Personen, die
sagen: Ich fühle doch, dass mein Sohn, meine Tochter,
mein Freund, meine Freundin, mein Bruder, meine
Schwester noch diskriminiert wird. Sie fragen mich: Warum diskriminiert ihr ihn noch? Er will doch einfach nur
heiraten. Er will mit seinem Partner deutlich das zeigen,
was seine Eltern durch eine Heirat gezeigt haben, nämlich dass sie Verantwortung füreinander übernehmen
wollen. - Diesen Wert sollten wir unterstützen.
({3})
- Ja, diesen Wert sollten wir unterstützen. Aber wir enthalten ihnen ihr Recht vor, und sie fühlen sich dadurch
diskriminiert.
Laut einer Untersuchung ist es immer noch so, dass
sich über zwei Drittel der Betroffenen am Arbeitsplatz,
in Vereinen, in Verbänden, in der Öffentlichkeit, in der
Schule oder an der Universität diskriminiert fühlen. Es
ist auch so, dass „Du schwule Sau“ immer noch ein
Schimpfwort ist. Es ist auch immer noch so, dass diesen
Menschen mit Vorbehalten begegnet wird. Wenn wir sagen, die Schwulen und Lesben haben ein Recht weniger,
nämlich das Recht, zu heiraten, dann unterstützen wir
diese Vorbehalte und heben sie eben nicht auf.
({4})
Deshalb ist meine ganz dringende Bitte: Nehmen wir das
ernst, was an Akzeptanz weit über die Grenzen eines
Teils dieses Hauses und weit über die Grenzen der gesellschaftlichen Mehrheit hinaus vorhanden ist.
Wir müssen anerkennen, dass die Akzeptanz des heiligen Begriffs - wenn man das an dieser Stelle sagen
darf - „Ehe für alle“ mittlerweile weit in die Kreise vorgedrungen ist, in denen wir das früher nicht für möglich
gehalten haben. Es wurde vorhin angesprochen: Einer
der höchsten christlichen Repräsentanten der evangelischen Kirche streitet dafür. In der katholischen Kirche
wird darüber diskutiert. Es ist auch gut, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass bei Ihnen darüber diskutiert
wird.
Ich wünsche mir: Nehmen Sie die Argumente der
Menschen ernst, die sich diskriminiert fühlen. Suchen
Sie das Gespräch mit ihnen. Sagen Sie endlich: Ja, wir
wollen diese Diskriminierung aufheben. Wir wollen
nicht, dass ihr euch diskriminiert fühlt. Wir wollen für
euch die gleichen Rechte, deshalb geben wir die Abstimmung im Bundestag frei. Wir wollen, dass keiner diskriminiert werden kann wegen seiner Haltung zu diesem
Thema.
Herzlichen Dank.
({5})
Vielen Dank, Herr Kollege Rix. - Nächster Redner:
Alexander Hoffmann für die CSU/CDU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Geschätzte Kolleginnen und Kollegen! Aufgabe der Politik ist es, einen gesellschaftlichen Wandel zu begleiten. Es ist aber nicht
Aufgabe der Politik, die Gesellschaft zu verändern.
({0})
Gestatten Sie mir, dass ich unter dieser Überschrift drei
Aspekte aus der Debatte herausgreife:
Zunächst einmal ist ein gesellschaftlicher Wandel
spürbar. Er war spürbar, und er ist es noch - zum Glück,
sage ich da. Gleichgeschlechtliche Partnerschaften sind
in unserer Gesellschaft eine Selbstverständlichkeit geworden, sie sind in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Diese gleichgeschlechtlichen Partnerschaften verfügen mittlerweile - auch: glücklicherweise - über eine
Vielzahl von Rechten. Wenn man das einmal juristisch
betrachtet, sind eigentlich noch zwei Punkte offen: die
Frage der Volladoption und die Frage der Bezeichnung
als Ehe.
({1})
Dann wieder der Blick auf die Rolle der Politik: Aufgabe der Politik ist es, diesen Wandel auch weiter zu begleiten; aber die Politik sollte sich davor hüten, in emotionalen Debatten wie heute, die ideologisch geführt
werden, Gräben aufzuwerfen.
({2})
Da sage ich Ihnen ganz offen, Herr Beck, Herr Hofreiter,
Frau Lay: Wenn Sie meinen, dass Sie dieses Thema so
befördern können, dann halte ich Ihnen entgegen: Ich
bezweifle, dass Sie so ein guter Sachwalter der Interessen von Homosexuellen sind,
({3})
und ich frage Sie, wo eigentlich Ihr Verständnis für die
Meinungsfreiheit ist.
({4})
Wenn man - das ist der zweite Aspekt - die Befürworter der Begrifflichkeit „Ehe“ auch für gleichgeschlechtliche Partnerschaften fragt, warum, dann kommt
oft als Antwort: Wir wollen eine gleiche Rechtsstellung.
Wenn man dann erklärt, dass wir heute eigentlich bis auf
die von mir benannten Punkte glücklicherweise weitestgehend Gleichstellung haben - bis hin zur Sukzessivadoption und zum Ehegattensplitting -, dann sind es die
allerwenigsten, die an dieser Forderung festhalten. Liebe
Kolleginnen und Kollegen, blicken wir nun einmal auf
die beiden offenen Posten - so will ich es mal nennen -:
Zunächst einmal zur Frage der Volladoption.
({5})
Wenn man mit Adoptionssachbearbeitern von Jugendämtern spricht, dann bekommt man die Bestätigung,
dass diese Frage eine praktische Relevanz nicht flächendeckend in der Bundesrepublik hat. Aber in den Großstädten spielt sie vereinzelt tatsächlich eine Rolle. Man
bekommt aber - das muss man der Ehrlichkeit halber dazusagen - auch die Information, dass sich die Praxis zu
helfen weiß mit der, ich will es mal benennen, versetzten
Sukzessivadoption. Wichtig ist mir nur, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass wir die Debatte von der richtigen
Seite beginnen; denn die Debatte, auch um die Gleichstellung im Adoptionsrecht, muss immer mit der Überschrift „Wohl des Kindes“ beginnen.
({6})
Sie darf eben nicht beginnen mit dem Drang der Selbstverwirklichung der Adoptionswilligen - egal ob verheiratet, alleinstehend oder verpartnert. Dann müssen wir
uns, liebe Kolleginnen und Kollegen, vor Augen führen,
dass genau unter dieser Überschrift „Wohl des Kindes“
dem Grunde nach jeden Tag in Deutschland Personen
diskriminiert werden. Adoptionswilligen wird gesagt: Es
gibt keine Möglichkeit, weil die sozialen Verhältnisse zu
schlecht sind, weil die Wohnverhältnisse mangelhaft
sind, weil die Adoptiveltern vielleicht zu alt sind oder
die Vereinbarkeit von Beruf und Familie bei ihnen nicht
so gegeben ist wie bei anderen Antragstellern.
({7})
Nun - das ist der letzte Gesichtspunkt, den ich ins
Feld führen möchte - die Auseinandersetzung mit der
Begrifflichkeit „Ehe“: Ich bin der festen Überzeugung,
dass eine offene Gesellschaft sich nicht durch oberflächliche Gleichmacherei auszeichnet,
({8})
sondern sie zeichnet sich dadurch aus, dass wir Verschiedenes auch verschieden bezeichnen: Männer sind Männer, Frauen sind Frauen.
({9})
Das ist in der Anrede und das ist im Vornamen oftmals
schon erkennbar.
({10})
Meine Damen, meine Herren, eine Ehe zwischen Mann
und Frau und eine gleichgeschlechtliche Partnerschaft
sind etwas Unterschiedliches, schon aus biologischen
Gründen.
({11})
Weil immer wieder das Bundesverfassungsgericht bemüht wird, sage ich Ihnen: Das bestätigt auch das Bundesverfassungsgericht. Deswegen will ich mit zwei Zitaten des Bundesverfassungsgerichts schließen.
({12})
- Auch dort wurde diese Entscheidung zitiert, Herr
Beck. Sie können es nachlesen.
Das Bundesverfassungsgericht spricht von einem
„Gebot, die Ehe als Lebensform zwischen einem Mann
und einer Frau zu schützen“. Es verwendet den folgenden Satz - ich zitiere -:
Zum Gehalt der Ehe, wie er sich ungeachtet des gesellschaftlichen Wandels und der damit einhergehenden Änderungen ihrer rechtlichen Gestaltung
bewahrt und durch das Grundgesetz seine Prägung
bekommen hat, gehört, dass sie die Vereinigung eines Mannes mit einer Frau zu einer auf Dauer angelegten Lebensgemeinschaft ist …
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({13})
Danke, Alexander Hoffmann. - Der letzte Redner in
dieser Debatte: Marcus Weinberg für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Viele Menschen in diesem Land schauen
auf die heutige Debatte. Sie fragen sich: Welche Position
hat man? Wie argumentiert man inhaltlich? Sie fragen
aber auch: Wie offen ist man für andere Argumente?
Viele Menschen in diesem Land fragen auch: Sind der
Deutsche Bundestag und die Abgeordneten des Deutschen Bundestages in der Lage, eine kulturell gut angelegte Debatte zu führen?
Ich war heute Morgen um 6.23 Uhr in großer Sorge
- nicht, weil ich Johannes Kahrs angeblickt hätte; ich
kenne Johannes aus Hamburg gut -,
({0})
weil ich mich gefragt habe, ob es uns in der heutigen Debatte gelingen wird, zu beweisen, dass wir uns mit den in
der Öffentlichkeit momentan diskutierten Punkten ernsthaft auseinandersetzen. Ich möchte den Rednern, allen
voran Sönke Rix, danken, die in dieser Debatte deutlich
gemacht haben, dass es für uns in den nächsten Wochen
und Monaten darauf ankommt, diese Debatte weiterzuführen.
Sie haben heute feststellen können, dass es bei der
Union verschiedene Positionen gibt. Über diese verschiedenen Positionen haben wir geredet. Ich sage Ihnen
noch etwas: Ich bin stolz darauf, dass wir in der Union
eine offene Debatte über diese verschiedenen Positionen
führen.
({1})
- Lieber Johannes, das mag daran liegen, dass wir als
große Volkspartei breite Schichten der Gesellschaft abbilden müssen.
({2})
Marcus Weinberg ({3})
Ich glaube, das ist gut so. Lieber Sönke, heute haben
Elisabeth Winkelmeier-Becker, Stefan Kaufmann und
ich gesprochen, drei Vertreter der sogenannten W 13,
also der „Wilden 13“, die damals für die steuerliche
Gleichstellung gekämpft haben. Ich bitte darum, egal
welche Position man hat, Folgendes zu berücksichtigen
- das wurde schon angesprochen -: Intoleranz kann man
nicht mit Intoleranz bekämpfen.
({4})
Ich habe ebenso wie viele andere Kolleginnen und Kollegen in den letzten Wochen gemerkt, wie sehr man
durch einen Shitstorm verletzt werden kann, der entsteht,
weil man eine etwas andere Position vertritt. Ich glaube,
es wird in den nächsten Wochen und Monaten darauf ankommen, bei diesem Thema eine vernünftige Debattenkultur an den Tag zu legen.
Jetzt zu vier Punkten, die aus meiner Sicht wichtig
sind:
Der erste Punkt ist der Stand der Gleichstellung. Die
Menschen in einer Lebenspartnerschaft haben wie die
Menschen in einer Ehe entschieden, nicht nur freiwillig
füreinander Verantwortung zu übernehmen, sondern sich
auch rechtlich verbindlich verpflichtet, füreinander einzustehen. Sie übernehmen Verantwortung - mit Rechten
und Pflichten. Das Wertesystem unserer Gesellschaft
- das ist an dieser Stelle ganz klar definiert - beruht auf
genau dieser Verantwortungsübernahme mit Fürsorge und
Beistand. Daher ist es wichtig und richtig, dass der Staat
diese Verantwortungsübernahme fördert. Wenn Partner
füreinander Verantwortung übernehmen, darf kein Unterschied gemacht werden, gleich ob es sich um Mann
und Frau, Frau und Frau oder Mann und Mann handelt.
Es muss eine Gleichstellung geben, unabhängig von der
sexuellen Orientierung.
Eingetragene Lebensgemeinschaften werden mittlerweile in fast allen Bereichen, die die Partner untereinander betreffen, materiell-rechtlich mit der Ehe gleichgestellt,
({5})
und zwar im Erbrecht, im Steuerrecht und in anderen
Rechtsfragen. Dafür haben sich auch bei uns in der
Union damals viele starkgemacht.
({6})
Ungleichbehandlung und Bevormundung müssen abgestellt werden.
Das heißt für uns - damit komme ich zum zweiten
entscheidenden Punkt, den ich ansprechen möchte; er
wurde vorhin ebenfalls schon angesprochen -, dass wir
in der Diskussion über die Vergangenheit in der Bundesrepublik Deutschland Folgendes berücksichtigen müssen: Der Umgang mit Homosexuellen in der Bundesrepublik Deutschland ist ein schwarzer Fleck in der
deutschen Geschichte.
({7})
Als Bundestagsabgeordnete haben wir die Verantwortung, dafür zu sorgen, dass diese Geschichte aufgearbeitet wird und die Betroffenen rehabilitiert werden.
({8})
Ich glaube, im Herbst wird es an der Zeit sein, ein konkretes Gesetzesvorhaben dazu zu initiieren.
Dritter Punkt: Alleinstellungsmerkmal. Zwischen Ehe
und eingetragener Lebenspartnerschaft gibt es rechtlich
nur noch zwei Unterschiede; sie wurden angesprochen.
Die Unterschiede betreffen das Recht zur Adoption und
den expliziten Schutz der Ehe durch das Grundgesetz.
Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts
sieht die Ehe als eine Verbindung von Mann und Frau
an; das ist in Europa eine seit Jahrhunderten geltende
Selbstverständlichkeit.
({9})
Das ist tatsächlich ein Alleinstellungsmerkmal: Die Ehe
unterscheidet sich von der eingetragenen Lebenspartnerschaft dadurch, dass es die Möglichkeit gibt, Kinder zu
bekommen - die Möglichkeit.
({10})
Ich finde es übrigens verwerflich, wenn man Personen,
die keine Kinder haben, haben wollen oder bekommen
können, vorwirft - ({11})
- Nein. - In diesem Zusammenhang halte ich das für diffamierend. Ich warne davor, solche Vergleiche - auch
vonseiten der Regierungsbank - weiter anzustellen.
({12})
Kinder profitieren von der Verbindlichkeit der Beziehung ihrer Eltern. Es ist grundsätzlich im Interesse von
Kindern, in einer stabilen Partnerschaft
({13})
ihrer leiblichen Eltern beiderlei Geschlechts aufzuwachsen.
Marcus Weinberg ({14})
Die Tatsache, dass die Verbindungen zwischen Mann
und Frau und zwischen zwei gleichgeschlechtlichen
Partnern hier unterschiedlich sind, ist nicht diskriminierend, sondern völlig wertneutral; denn zwischen diesen
rechtlichen Verbindungen ist zu unterscheiden.
Zweiter Punkt: Adoption. Ich finde es in diesem Zusammenhang sehr wichtig, dass wir uns darüber austauschen - Frau Winkelmeier-Becker hat das angesprochen -, wie wir das Adoptionsrecht verändern können;
({15})
dabei geht es unter anderem um die Personen, die zu alt
oder zu arm sind oder gewisse Vorgaben nicht erfüllen.
Dann möchte ich aber auch ganz offen darüber diskutieren, dass die weibliche und die männliche Rollenkonstellation für Kinder nicht unerheblich ist,
({16})
sondern es ist soziologisch, pädagogisch und psychologisch schon wichtig, insbesondere mit Blick auf die Entwicklungspsychologie, dass auch diese Rollenkonstellation betrachtet wird.
({17})
Hier sind wir übrigens erst am Anfang, auch in der Forschung. Deswegen wird dies bei möglichen Änderungen
des Adoptionsrechts, über die man ja diskutieren kann,
berücksichtigt.
({18})
Grundsätzlich möchte ich zum Schluss betonen, dass
man diese Diskussion mit Verständnis für die jeweils andere Sicht führen sollte. Es kann nicht sein, dass Politikerinnen und Politiker, die nicht eins zu eins dem Mainstream folgen, mit Häme und Intoleranz konfrontiert
werden. Ich bin bzw. wir sind der Meinung, dass man in
dieser Sache unterschiedlicher Auffassung sein kann und
dass man darüber diskutieren sollte, ohne zu diskriminieren, insbesondere nicht mit Blick auf die sexuelle
Orientierung. Wir in der Union führen diese Debatten,
wie in der Vergangenheit so auch in Zukunft. Auf diese
Diskussion freue ich mich.
({19})
Das mag möglicherweise ein Unterschied zwischen der
offenen Diskussionskultur innerhalb einer großen Volkspartei und denjenigen sein, die meinen, alles schon zu
wissen.
Vielen Dank.
({20})
Vielen Dank, Herr Weinberg. - Damit ist die Aktuelle
Stunde beendet.
({0})
Wie ich sehe, findet jetzt ein Platzwechsel statt. Ich
bitte Sie, ihn zügig zu vollziehen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 6 a und 6 b auf:
a) - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Stärkung der Versorgung
in der gesetzlichen Krankenversicherung
({1})
Drucksache 18/4095
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit ({2})
Drucksache 18/5123
- Bericht des Haushaltsausschusses ({3}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
Drucksache 18/5124
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Gesundheit ({4})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Birgit Wöllert, Sabine Zimmermann ({5}),
Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Wohnortnahe Gesundheitsversorgung durch
bedarfsorientierte Planung sichern
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Harald
Terpe, Maria Klein-Schmeink, Kordula
Schulz-Asche, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Gesundheitsversorgung umfassend verbessern - Patienten und Kommunen stärken, Strukturdefizite beheben, Qualitätsanreize ausbauen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Harald
Terpe, Maria Klein-Schmeink, Elisabeth
Scharfenberg, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Mehr Transparenz der Selbstverwaltung
im Gesundheitswesen
Drucksachen 18/4187, 18/4153, 18/1462,
18/5123
Zum Gesetzentwurf der Bundesregierung liegen ein
Änderungsantrag und ein Entschließungsantrag der
Fraktion Die Linke vor.
Vizepräsidentin Claudia Roth
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 60 Minuten vorgesehen. - Ich höre und
sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
({6})
Noch einmal: Die Debatte über die Ehe für alle ist beendet. Jetzt geht es um ein anderes Thema, nämlich um
die Krankenversicherung.
Ich eröffne die Debatte und gebe das Wort dem Bundesminister Hermann Gröhe.
({7})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Umfragen
belegen: Die Menschen in unserem Land vertrauen dem
Gesundheitswesen. Sie wissen: Bei Krankheit, bei Pflegebedürftigkeit, bei einem Unfall werden sie gut versorgt. Dies gilt dank eines solidarischen Gesundheitswesens unabhängig vom Einkommen und unabhängig vom
Wohnort.
({0})
Wir spüren aber auch, dass sich die Menschen Sorgen
machen, ob das so bleibt, ob der medizinische Fortschritt
also auch weiterhin für alle zur Verfügung steht und
bezahlbar bleibt. Deswegen ist es wichtig, dass wir den
wirklichen Patientennutzen zum entscheidenden Maßstab des Fortschritts in diesem Bereich machen.
Die Menschen haben auch die Sorge, ob auch dies
gilt: unabhängig vom Wohnort eine gute Versorgung zu
finden. Damit bin ich bei einem zentralen Thema, nämlich der Versorgung im ländlichen Raum und der Frage,
ob es gelingt, auch hier eine gute ambulante und Krankenhausversorgung sicherzustellen.
Ich komme gerade von einem Gespräch mit der
NRW-Landrätekonferenz. Da war das natürlich ein
Thema, und das ist auch längst nicht mehr nur ein
Thema in den noch wenigen Gebieten mit einer manifestierten Unterversorgung, sondern kluge Kommunalpolitikerinnen und -politiker schauen auf das Durchschnittsalter der niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte und
bedenken die Sorgen, die mancher hat, einen Praxisnachfolger zu finden,
({1})
und prüfen, wie es in zehn Jahren aussehen wird und wo
sie dann stehen werden, wenn es ihnen nicht gelingt,
mehr Niederlassungen zu ermöglichen.
Wir stellen mit dem Versorgungsstärkungsgesetz,
über das wir heute entscheiden, wichtige Weichen, um
unser Gesundheitswesen fit für die Zukunft zu machen:
({2})
Erstens. Wir stärken die Versorgung im ländlichen
Raum. Zweitens. Wir stärken die Rechte der Patientinnen und Patienten. Drittens. Wir stärken Innovation in
der Versorgung.
Zum Ersten. Ich habe erwähnt, dass den Kommunalpolitikern nicht nur die Unterversorgung Sorgen macht.
Deswegen ist es richtig, dass wir den Kassenärztlichen
Vereinigungen mit diesem Gesetzentwurf die Möglichkeit einräumen, mit Versorgungsstrukturfonds überall im
Land Anreize für eine Niederlassung zu schaffen. Das
zeigt, dass wir es mit dem Leitbild der niedergelassenen
Ärztin bzw. des niedergelassenen Arztes als Rückgrat
der ambulanten Versorgung ernst meinen.
Solche Anreize in unterversorgten Gebieten werden
durch Strukturfonds bereits heute geschaffen, und zwar
so, dass es vor Ort dann auch passt. Einmal ist es ein Stipendium, das mit der Verpflichtung verbunden ist, später
als niedergelassene Ärztin bzw. als niedergelassener
Arzt in einem konkreten Raum tätig zu werden. In einem
anderen Fall sind das Hilfen bei der Niederlassung und
bei der Übernahme einer Praxis. Das können aber auch
Vergütungsanreize bei besonders nachgefragten Tätigkeiten sein, etwa bei Hausbesuchen in Räumen mit großen Entfernungen.
Solche Möglichkeiten wird es zukünftig überall in
unserem Land geben. Überall werden Strukturfonds die
Möglichkeit schaffen, solche tatsächlichen Niederlassungsanreize zu schaffen. Das ist ein klares Bekenntnis
zur Freiberuflichkeit und zur Selbstverwaltung, das mit
der Erwartung verbunden ist, dass der Sicherstellungsauftrag konkret umgesetzt wird.
({3})
Wir tragen auch dem Umstand Rechnung, dass junge
Medizinerinnen und Mediziner zunehmend sagen: Wir
wollen mehr Formen gemeinschaftlicher Berufsausübung. Deswegen sieht unser Gesetzentwurf verbindliche Reformen zur Unterstützung von Praxisnetzwerken
und mehr Möglichkeiten für Medizinische Versorgungszentren - beispielsweise auch bestehend aus einer Arztgruppe, zum Beispiel den Hausärzten - vor.
Schließlich - um nur beispielhaft Dinge zu erwähnen stärken wir die Weiterbildung im Bereich der Allgemeinmedizin und auch - einem Änderungsantrag der
Koalitionsfraktionen zufolge - im Bereich der grundversorgenden Fachärzteschaft durch eine entsprechend
attraktivere Gestaltung der Weiterbildungsstellen.
Wer über Unterversorgung redet, muss auch über
Überversorgung reden. Das hat die Gemüter in den letzten Wochen natürlich erhitzt. Da ist manches gesagt worden, was - mit Verlaub - schlichter Unsinn war.
Wer etwa gegen Bedarfsplanung und Feststellung von
Überversorgung polemisiert, der muss auch bekennen,
wer in diesem Land die Verantwortung für die Bedarfsplanung trägt. Das ist nämlich die Selbstverwaltung.
Deswegen beauftragen wir sie - die Kritik aus diesem
Bereich ernst nehmend -, diese Bedarfsplanung bis Ende
2016 zu überprüfen und gegebenenfalls neu festzulegen.
Auch bei einer Überversorgung oberhalb von
140 Prozent werden wir keineswegs vom Rasenmäher
sprechen und auch keine zentralistischen Vorgaben aus
Berlin machen, sondern vor Ort muss in Zulassungsausschüssen entschieden werden, ob eine aufgegebene
Praxis weiter erforderlich ist. Dann bleibt sie selbstverständlich erhalten. Kein Angebot, das wirklich nötig ist,
wird gestrichen, sondern vor Ort wird entschieden.
Wenn wir aber nicht einen moderaten und an der Versorgungswirklichkeit orientierten Abbau der Überversorgung angehen, dann werden wir nicht erfolgreicher gegen drohende Unterversorgung sein.
({4})
Zum Zweiten. Wir stärken die Rechte der Patientinnen und Patienten. Das war das nächste Aufregerthema:
die Terminservicestellen. Die Debatte war insofern typisch, als wir schnell dabei sind, zwischen Alarmismus alles ist schrecklich - und Schönfärberei - es gibt gar
kein Problem - hin und her zu pendeln. Tatsache ist: Wir
sind in der Versorgung mit Facharztterminen besser als
viele unserer Nachbarn. Tatsache ist aber auch: Es ist
keine kleine Minderheit der gesetzlich Versicherten, die
immer wieder klagt, dass sie zu lange auf einen Termin
warten muss.
Selbstverständlich schränkt eine Terminservicestelle
nicht die Freiheit der Arztwahl ein. Das ist purer Unsinn.
Wer zu seiner Ärztin und seinem Arzt gehen will und dafür eine längere Wartezeit in Kauf nimmt, dem ist dies
unbenommen. Wer aber Hilfe braucht, hat in Zukunft einen verlässlichen Ansprechpartner, der für die Vermittlung eines Facharzttermins in zumutbarer Entfernung
oder, wenn das nicht möglich ist, auch für eine fachärztliche Untersuchung oder Behandlung im Krankenhaus
Sorge trägt.
Es wird viel lamentiert und manche Anzeige geschaltet. Die fixen Sachsen haben es einfach gemacht, und
siehe da: Es funktioniert, sogar ohne dass wir es vorgeschrieben haben. Deswegen bin ich sicher: Schon bald
wird diese Stärkung der Patientenrechte in diesem Land
selbstverständlich sein.
({5})
Um Patientenrechte geht es auch, wenn wir mit einem
strukturierten Zweitmeinungsverfahren für besonders
mengenanfällige Operationen in Zukunft sicherstellen
- damit das klar ist -: Eine notwendige Operation wird
durchgeführt. In manchen Fällen ist es aber klug, wenn
sich ein besonders qualifizierter Kollege bzw. eine Kollegin ein Bild macht und eine Zweitmeinung mit besonderer Expertise zur Verfügung stellt, und zwar nicht als
Verpflichtung, sondern als Angebot, auf das die Patientin
und der Patient hinzuweisen ist. Auch das ist eine Stärkung von Patientenrechten.
Schließlich geht es um die Stärkung der Innovation.
Wir sind eine älter werdende Gesellschaft. Mehrfacherkrankungen und chronische Erkrankungen fordern verstärkt das Zusammenspiel über Sektorengrenzen in unserer Gesundheitsversorgung. Wir haben zu lange Mauern
zwischen den Sektoren gebaut. Wir müssen jetzt Brücken bauen. Das wird die Aufgabe eines Innovationsfonds sein, der gerade die sektorübergreifende Versorgung ermöglicht, befördert, Anreize schafft und mit
einer entsprechenden Versorgungsforschung begleitet
und damit einen Beitrag dazu leistet, unser Gesundheitswesen fit zu machen.
Das Letztgenannte ist ein Beispiel dafür - das sage
ich angesichts der Debatte in den letzten Tagen -, dass
wir keineswegs als Große Koalition einfach abstrakt
mehr Geld in irgendein System geben. Vielmehr sind unsere Reformen, ob es um Prävention, Krankenhausreformen oder E-Health geht, stets mit Anregungen und
Incentives für eine Modernisierung unseres Gesundheitswesens verbunden, das heute das Vertrauen der
Menschen in diesem Land hat, es aber auch zukünftig
verdient. Dafür stellen wir heute wichtige Weichen.
Ich bitte Sie um Zustimmung zu dem Gesetzentwurf.
({6})
Vielen Dank, Hermann Gröhe. - Nächste Rednerin:
Birgit Wöllert für die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Zuschauerinnen und Zuschauer auf der Tribüne!
Sie haben drei Schwerpunkte genannt, Herr Minister.
Lassen Sie uns zunächst einmal fragen, wie es tatsächlich mit der nachhaltigen Versorgung in allen Teilen unseres Landes aussieht und was am Ende bei Ihrem
Gesetz herauskommt. Es geht nämlich nicht um ein Weiter-so, sondern darum, die Gesundheitsversorgung überall zu sichern. Sie ist aber nicht mehr überall gesichert.
Lassen Sie mich kurz etwas zu Ihrem Ziel und Ihrer
Problemstellung sagen. Sie beziehen sich darauf, dass
wir mit dem GKV-Finanzstruktur- und Qualitäts-Weiterentwicklungsgesetz, also dem Gesetz zur gesetzlichen
Krankenversicherung, im Januar 2014 nachhaltige
Strukturen geschaffen haben, die eine bessere Versorgung ermöglichen. Ich frage mich: Ist das Ignoranz oder
Wunschdenken? Die Spitzenverbände der Krankenkassen sagen für 2016 eine Steigerung der Beitragssätze um
0,1 oder 0,2 Prozentpunkte voraus, die diesmal nur von
den Versicherten zu tragen ist. 0,1 Prozentpunkte sind
1,2 Milliarden Euro. Das können Sie ausrechnen. Bis
2019 werden gar Steigerungen um 0,5 bis 1 Prozentpunkte prognostiziert. Vielen Dank auch, dass jetzt die
Versicherten ihre Strukturen selbst finanzieren müssen,
und das auch noch mit zweifelhaftem Erfolg.
({0})
Zweiter Punkt: Terminservicestellen. Diese hat die
Linke seit 2010 gefordert. Das ist völlig okay. Auch ich
finde, dass die Sachsen flink waren. Sie haben das seit
Ende vergangenen Jahres. Das war in der Presse und
heute früh im Morgenmagazin Thema. Im Gegensatz zu
dem Kollegen von der FDP, der gestern bei den Fachärz10454
ten meinte, dass das gar nicht nötig sei und - darauf
haben sie ja angespielt - die freie Arztwahl einschränke,
haben die Patientinnen und Patienten bewiesen, dass sie
viel Grips haben. Sie haben nämlich vorher beim Arzt
ihres Wunsches nachgefragt und sind nicht gleich zur
Terminservicestelle gelaufen. Die Sachsen waren auch
noch so klug, das an die Überweisung eines Hausarztes
oder einer Hausärztin zu binden, der die Dringlichkeit
- sie wird in drei Kategorien eingeteilt - zu entnehmen
ist. Danach bemisst sich die Schnelligkeit der Vermittlung. Das ist eine durchaus vernünftige Regelung. Das
muss ich an dieser Stelle sagen.
Wo ich ins Grübeln komme, ist, dass das bei den
Fachärzten auf einmal gemeinsam mit der AOK geht;
denn es gibt eine zusätzliche Honorierung. Das lässt
mich nachdenken.
({1})
Drittens: Abbau von Überversorgung. Man kann es ja
wirklich fast schon nicht mehr hören. Wer legt eigentlich
fest, wann über- und unterversorgt ist? Wir brauchen uns
doch gar nicht über 110 oder 140 Prozent zu unterhalten.
Es muss endlich eine vernünftige Grundlage für eine ordentliche Bedarfsplanung hergestellt werden.
({2})
Dazu gehört die Infrastruktur. Neben Alter und Geschlecht sind ferner zu berücksichtigen die Sozialstruktur der Bevölkerung und die Morbidität. Ich nenne Ihnen
ein Beispiel aus Potsdam. Potsdam hat eine Überversorgung an Kinderärztinnen und Kinderärzten; sie haben einen Versorgungsgrad von 163,3 Prozent. Trotzdem wird
den jungen Frauen bei der Schwangerenberatung gesagt:
Besorgen Sie sich im Umland von Potsdam eine Kinderärztin oder einen Kinderarzt, bevor Ihr Kind geboren
wird. Sie bekommen sonst keinen rechtzeitig für die
Früherkennungsuntersuchung. - Wie geht denn das zusammen? Gar nicht. Dazu steht in Ihrem Gesetzentwurf
aber nicht viel.
Nächster Punkt: Zweitmeinungsverfahren. Das ist
erstens jetzt schon möglich, und zweitens reduzieren Sie
das im Gesetz auf bestimmte notwendige, mengenanfällige Operationen. Das heißt, Sie schränken es ein. Wir
wollen aber grundsätzlich ein Zweitmeinungsverfahren
bei schweren Erkrankungen. Zum Beispiel muss eine
Patientin oder ein Patient auch bei einer Chemotherapie
oder bei radiologischen Therapien eine Zweitmeinung
einholen können. Warum denn eigentlich hier nicht? Ein
Zweitmeinungsverfahren nur zur Kostenreduzierung ist
an dieser Stelle falsch.
({3})
Das Nächste sind die spezialisierten Behandlungszentren für Menschen mit Behinderung. Da sagen wir: Ja,
bei besonderen Bedarfen. Aber wir werden genau
schauen, ob Sie gleichzeitig vorantreiben, was schon
längst überfällig ist, nämlich den barrierefreien Ausbau
der gesundheitlichen Versorgung, damit die Zugänge für
alle Menschen gesichert sind. Auf deren Kosten darf das
nicht gehen.
({4})
Frau Kollegin, Sie denken an die Redezeit?
Ich komme sofort zum Schluss. - Warum enthalten
wir uns nun doch bei Ihrem Gesetzentwurf?
({0})
Ein paar kleine Pünktchen sind enthalten, bei denen ich
noch Hoffnung habe - ich bin mir da aber nicht sicher -,
zum Beispiel die Strukturfonds und der Innovationsfonds. Wir werden sehen - wir werden das sehr kritisch
begleiten -, ob das wirklich in die Versorgungsforschung
und in neue Versorgungsformen fließt. Denn Sie haben
den Kreis derjenigen, wer sich alles aus dieser Kasse bedienen können soll, ja schon wieder erweitert.
Vielen Dank.
({1})
Danke, Frau Kollegin Wöllert. - Nächster Redner für
die SPD ist Dr. Karl Lauterbach.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Zunächst einmal zögere ich ein bisschen
mit meiner Kritik, Frau Wöllert. Ich habe nämlich mit
Genugtuung gehört - das findet meine Zustimmung -,
dass Sie sich enthalten wollen. Das ist ein wichtiger
Schritt nach vorne, dafür danke ich Ihnen.
({0})
- Nein, die Enthaltung war sachlich begründet, und das
muss man anerkennen. - Aber ich möchte auf die von
Ihnen beklagte fehlende Parität eingehen. Dass wir mit
diesem Gesetz den Zusatzbeitrag in der Größenordnung
von einem Zehntel Beitragssatzpunkt im nächsten Jahr
erhöhen müssen, bedeutet für den klassischen Rentner
im Durchschnitt 1 Euro pro Monat. Wäre der Zusatzbeitrag paritätisch gezahlt worden, hätte das eine Nettodifferenz von 50 Cent ausgemacht.
({1})
So sehr ich es für richtig halte, zur Parität zurückzukehren - das ist auch langfristig ein sozialdemokratisches Ziel -, so darf man doch nicht den Eindruck erwecken, als ob es hier zu hohen Zusatzbeiträgen käme. Wir
verbessern die Versorgung in vielen Bereichen. Wir vereinfachen viele bürokratische Verfahren. Wir bilden
mehr Hausärzte aus. Wir erleichtern die Einrichtung von
Medizinischen Versorgungszentren. Wir regeln den Anspruch auf ein Zweitmeinungsverfahren. Wir verkürzen
die Wartefristen für einen Termin beim Facharzt. Im
Rahmen des Entlassmanagements gibt es eine neue Leistung für diejenigen, die aus dem Krankenhaus entlassen
werden und keine sofortige Anschlussbehandlung haben. All diese neuen Leistungen bauen wir auf, und zwar
für 1 Euro für den Durchschnittsrentner im Monat. Ich
glaube, diese Investitionen sind das wert. Wir stehen hier
für eine Verbesserung der Versorgung.
({2})
Ich glaube, dass das Gesetz seinen Namen verdient.
Es ist tatsächlich ein Gesetz der Versorgungsstärkung.
Dabei wird an vielen Stellschrauben gleichzeitig gedreht, und zwar auf eine unbürokratische Art, die gleichzeitig sehr wirksam ist. Das Gesetz halte ich auch handwerklich für gelungen. Ich will dafür ein paar Beispiele
bringen.
Wir haben die Bedarfsplanung - wo ist ein Bedarf gedeckt, und wo ist er nicht gedeckt? - angepasst. Wir machen die Bereiche kleinräumiger. Was nutzt - sage ich
einmal - ein zu 100 Prozent gedeckter Bedarf, wenn der
Bezirk so groß ist, dass es Unter- und Überversorgung
nebeneinander gibt, wenn ein Stadtteil total überversorgt
und ein anderer Stadtteil unterversorgt ist? Das ist das
bisherige Problem.
Betrachten wir einmal ganz Deutschland als Versorgungsbereich: Dabei würde festgestellt, dass die Versorgung bei 100 Prozent läge und es kein Problem gäbe.
Die Tatsache, dass wir die Versorgungsbereiche kleiner
machen, wird zu einer Veränderung bei den Arztsitzen
führen. Das ist im Prinzip das, was wir hier wollen.
Diese Art von Bedarfsplanung ist aus meiner Sicht ein
wesentlicher Schritt nach vorne, den wir immer gefordert haben. Wir machen die Bezirke, in denen der Versorgungsbedarf gemessen wird, kleiner.
({3})
Ich glaube, dass die Vermittlung eines Arzttermins innerhalb der Vier-Wochen-Frist durch die Terminservicestellen ein wichtiger Schritt zum Abbau der Zweiklassenmedizin ist. Es ist klar: Der Privatversicherte
bekommt den Facharzttermin immer sofort. Er ist ein
gern gesehener Gast bei fast jedem Facharzt und wird
leider oft auch mit Leistungen behandelt, die er gar nicht
benötigt. Für denjenigen aber, der noch keinen Arztkontakt hatte, der aber wegen einer Erkrankung, die er nicht
einschätzen kann, in Sorge ist, ist der erste Facharzttermin oft von größter Bedeutung. Diesen sollte er innerhalb von vier Wochen bekommen. Wenn dieser Termin
im ambulanten Sektor nicht angeboten werden kann,
muss man auch ins Krankenhaus ausweichen können,
was zum Beispiel in Sachsen nach wie vor nicht der Fall
ist. Wie gesagt: Das ist ein wesentlicher Schritt nach
vorne, ein Schritt in Richtung Abbau der Zweiklassenmedizin.
Wir haben den Kommunen die Möglichkeit gegeben,
selbst Medizinische Versorgungszentren einzurichten.
Diese Zentren können auch so aufgebaut sein, dass dort
Hausärzte und nicht nur Facharztgruppen zusammenarbeiten. Das ist sehr viel leichter gestaltbar und leichter
organisierbar. Auch das ist ein wesentlicher Schritt in
Richtung einer besseren hausärztlichen Versorgung.
Hinzu kommen die Ausbildungsangebote, die wir für
Hausärzte und versorgungsnahe Fachärzte geschaffen
haben. Sie haben auch die Tausende von Stellen gar
nicht erwähnt, die wir schaffen, um für eine bessere
Hausarztausbildung zu sorgen.
({4})
Wir führen Chronikerprogramme für Menschen mit
Rückenleiden und Depressionen ein, zwei große Volkskrankheiten, von denen immer mehr Menschen betroffen
sind. Bisher gibt es in Deutschland keine evidenzbasierte
Chronikerversorgung. Die Einführung dieser Programme ist aus meiner Sicht ebenfalls handwerklich gut
gemacht.
Wir führen das Zweitmeinungsverfahren ein. Man
kann zwar sagen: Das ist überall notwendig. Aber wir
fangen mit den Krankheiten an, bei denen wir wissen,
dass es sich um mengenanfällige Leistungen handelt.
Übrigens, Frau Wöllert, bei der Krebsversorgung wird
die Zweitmeinung auch jetzt schon bezahlt. Wenn Sie im
Rahmen einer Chemotherapie oder einer onkologischen
Untersuchung eine Zweitmeinung benötigen, wird auch
jetzt schon die Zweimeinung bezahlt.
({5})
Es gibt andere Bereiche, in denen es nicht so ist, aber Ihr
Beispiel war hier nicht zielführend.
Zum Abschluss - ich sehe, meine Redezeit ist schon
abgelaufen -: Man darf nicht vergessen, dass wir die
Hochschulambulanzen fördern. Die Hochschulambulanzen versorgen in Deutschland zum Teil die schwersten
und die teuersten Fälle, machen im Durchschnitt mit diesen Fällen aber immer einen Verlust. Das heißt, wir bestrafen in Deutschland im Moment eine Struktur, auf die
wir dringend angewiesen sind. Auch das beseitigen wir.
Ich könnte das breit ausführen. Meine Kolleginnen
werden das tun; ich werde es nicht. Ich sage: Ich könnte.
Ich weiß, dass ich das nicht darf. Nichtsdestotrotz
schließe ich mit meinem letzten Satz: Es ist ein Gesetz,
das ich wie folgt bezeichnen würde: Das ist nicht eine
spektakuläre umstrittene Maßnahme, die jeder kapiert
und an der man sich reiben kann - ich weiß nicht, woran
ich jetzt konkret denke -, sondern es ist ein Gesetz mit
vielen Einzelmaßnahmen, die in der Fachwelt unumstritten sind und die wir gegen die Lobbywiderstände im
System durchsetzen konnten.
Ich danke für die Aufmerksamkeit und bitte um Zustimmung.
({6})
Vielen Dank, Karl Lauterbach. - Nächste Rednerin:
Maria Klein-Schmeink für die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Viel hilft nicht immer viel. Ich glaube, das ist
in der vorangegangenen Rede sehr deutlich geworden.
Man kann viele, viele Detailregelungen auf einem Haufen schaffen, nämlich ein Gesetz mit fast 180 Änderungen, und trotzdem den Weg verlieren und die eigentlichen Aufgaben, die es zu bewältigen gilt, nicht angehen.
Genau das ist mit diesem Versorgungsstärkungsgesetz
passiert.
({0})
Das will ich Ihnen ganz deutlich machen. Was ist die
zentrale Herausforderung, die wir in unserem Gesundheitswesen haben? Wir haben einen demografischen
Wandel zu bewältigen. Wir haben heute die Situation,
dass 20 Prozent aller Versicherten 80 Prozent aller Leistungen abfragen, und das ist die Gruppe der Älteren und
der mehrfach Erkrankten. Genau diese Gruppe wird sich
in den nächsten 15 Jahren ungefähr verdoppeln.
({1})
Das ist die große Herausforderung, die wir zu bewältigen haben, und ich finde kaum eine Regelung, die dem
hier gerecht wird. Das ist das eine.
({2})
Zweitens. Genau diese Gruppe braucht nicht ein Mehr
an einzeln agierenden Hausärzten oder Fachärzten,
sondern sie braucht etwas anderes: Sie braucht gut abgestimmte Behandlungswege, sie braucht örtliche Strukturen, die leicht erreichbar sind, sie braucht Gesundheitsberufe, Ärzte, Krankenhäuser, die gut miteinander
kooperieren und den Behandlungsweg für diese Patienten abstimmen und ein Geflecht schaffen, auf das sich
die Patienten verlassen können, in dem sie gut aufgehoben sind und gut behandelt werden.
({3})
Auch das wäre eine Aufgabenstellung, die wir angehen
müssten.
({4})
Was tun Sie dagegen, dass wir in Deutschland Weltmeister im Besuch einer Arztpraxis sind, dass uns in dieser Arztpraxis dann aber gerade einmal acht Minuten zur
Verfügung gestellt werden? Auch das muss sich ändern.
Ich sehe keine einzige Regelung, die in diese Richtung
gehen würde. Das ist genau die Grundkritik, die wir an
diesem Gesetz haben: Wir geben hier nicht die Antworten, die eigentlich notwendig wären, um unser Gesundheitssystem zukunftsfest zu machen und dafür zu sorgen,
dass die Patientinnen und Patienten die Behandlung und
die Unterstützung finden, die sie in Zukunft brauchen
werden.
Wenn wir uns die Einzelregelungen ansehen, die alle
genannt worden sind, dann stellen wir schnell fest: Sie
klingen gut. Aber was steht tatsächlich dahinter? Es gab
ein Landärztegesetz. Was ist tatsächlich in Bewegung
gesetzt worden, um mehr Ärzte in den ländlichen Raum
und in die unterversorgten Gebiete zu bekommen?
Mit Ihrer Bedarfsplanung, wie Sie sie jetzt angelegt haben, werden Sie das nicht erreichen. Einen Auftrag an
den G-BA zu vergeben, der schon vor zwei Jahren nicht
in der Lage war, eine vernünftige Planung hinzubekommen, ist nicht die Lösung des Problems. Da müssen wir
weitergehen, und das wissen Sie eigentlich auch.
({5})
Der Sachverständigenrat hat Ihnen deutlich ins
Stammbuch geschrieben, was zu tun wäre. Wir müssten
die Grundlagen dafür legen, dass wir eine sektorübergreifende Planung schaffen könnten, sodass wir die ambulante und die stationäre Versorgung und den Pflegebereich gemeinsam bedenken und vor Ort Lösungen
schaffen könnten, um die Versorgung zu verbessern. In
einen solchen Weg müssten wir investieren. Da reicht es
nicht, ein kleines Töpfchen mit einem Volumen von
300 Millionen Euro bereitzustellen, mit dem Sie dann
neue Versorgungsmodelle anschieben wollen. Da brauchen wir mehr. Rot-Grün hat schon vor zehn Jahren einen viel größeren Topf bereitgestellt, um neue Versorgungsformen voranzubringen. Genau das hätte es nun
auch gebraucht.
({6})
Sie reden davon, die Belange von Patienten besser zu
berücksichtigen. Eine der zentralen Gruppen, die
schlecht versorgt sind in unserem ansonsten guten Gesundheitswesen, sind die Menschen mit Behinderung.
Was haben Sie hier getan? Von 180 Regelungen beziehen sich gerade einmal fünf auf diese Personengruppe.
Etliches von dem, was wir in unserem Antrag aufzeigen,
haben Sie nicht berücksichtigt.
({7})
Ich hoffe, dass wir bei den nächsten Gesetzen weiterkommen und dass Sie dann einige unserer Anregungen
aufnehmen. Aber nun klafft auch hier eine große Lücke.
Sie gehen viel zu kleine Schritte. Wir müssten mehr tun,
um zum Beispiel Barrierefreiheit tatsächlich zu realisieren.
Auch die Redezeit!
Zum Schluss will ich durchaus ein versöhnliches
Wort sagen. Der Druck, den wir mit unseren vielen Kleinen Anfragen im Bereich der Psychotherapie ausgeübt
haben, hat immerhin dazu geführt, dass Sie den Mut geMaria Klein-Schmeink
funden haben, tatsächlich in neue Versorgung zu investieren
({0})
und die Richtlinien so zu erweitern, dass wir zu einer
Akutsprechstunde und zu ganz neuen Formen der wohnortnahen Versorgung kommen. Wir haben nun die
Chance, die elend langen Wartezeiten zu reduzieren. Ich
gestehe Ihnen zu, dass das eine Verbesserung ist. Aber
viele andere Sachen gehen uns in der Tat nicht weit genug.
({1})
Vielen Dank, Maria Klein-Schmeink. - Der nächste
Redner: Jens Spahn für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Im Grunde geht es bei diesem Gesetz - genauso wie bei
einigen anderen, über die wir in den letzten Jahren beraten haben - um die Frage, wie wir in Zukunft die medizinische bzw. die ärztliche Versorgung im ländlichen
Raum sowie in bestimmten Stadtteilen sicherstellen können. Dass es dabei auch um bestimmte Stadtteile geht,
geht oft unter. Ein Beispiel: In Berlin-Charlottenburg
gibt es die meisten Kinderärzte, aber in Marzahn die
meisten Kinder. Ähnliches gilt für viele andere Städte.
Es gibt große Unterschiede in der Versorgung innerhalb
der Städte, aber vor allem auch im Vergleich zum ländlichen Raum. Wenn wir sehen, dass ein Großteil der Hausärzte im Schnitt 55 Jahre und älter ist, dann wissen wir,
was in fünf, zehn oder zwölf Jahren passiert, wenn diese
Ärzte ihre Praxen aufgeben: Sie suchen Nachfolger, finden aber keine. Wenn wir heute die Weichen nicht richtig stellen, dann wird es schwierig mit der ärztlichen
Versorgung im ländlichen Raum. Deswegen ist dieses
Gesetz - in Fortsetzung weiterer Gesetze, die wir zuvor
verabschiedet haben - eines der wichtigsten Gesetze für
die Infrastruktur im ländlichen Raum.
({0})
Dazu braucht es - das muss man ehrlich zugeben; das
haben Sie ebenfalls anerkannt - einen Instrumentenkasten. Es wird nicht die eine Maßnahme, nicht den einen
Hebel geben, den man umlegen muss, und dann sind die
Probleme gelöst. Man könnte denken, dass es mehr
Ärzte auf dem Land geben würde, wenn nur die Bezahlung besser sein würde. Aber Geld alleine löst das Problem offenkundig nicht. In Mecklenburg-Vorpommern
ist die Kassenärztliche Vereinigung gar nicht mehr in der
Lage, all das Geld an die Ärzte auszuschütten. Man
könnte als Hausarzt dort richtig gut verdienen. Trotzdem
lassen sich derzeit viel zu wenige Hausärzte in Mecklenburg-Vorpommern nieder. Das zeigt: Es geht nicht nur
um Geld, sondern auch um Rahmenbedingungen und
Arbeitsbedingungen. Deswegen geht es in diesem
Gesetz auch um folgende Fragen: Was ist mit dem Notdienst? Hat der Hausarzt auf dem Land zwei-, dreimal
Notdienst am Wochenende, während sein Kollege in einer großen Stadt nur einmal im halben Jahr Notdienst
leisten muss?
({1})
Es geht außerdem um die Frage der vernetzten
Zusammenarbeit. Wir fördern Praxisnetze sowie die
Zusammenarbeit von ambulanter und stationärer Versorgung, von niedergelassenen Ärzten und Krankenhäusern
in der Versorgung. Es geht auch um die Zusammenarbeit
mit anderen Gesundheitsberufen. So können entsprechend ausgebildete Pflegekräfte Routinehausbesuche
machen und dabei Blutdruck messen und Verbände anlegen, um die Ärzte zu entlasten und durch diese Art der
Zusammenarbeit die Versorgung zu verbessern. Dieses
Bündel an Maßnahmen macht den Wert des Gesetzes
aus. Wenn man ehrlich ist, suchen Sie doch nur das Haar
in der Suppe, das es Ihnen ermöglicht, abzulehnen; denn
Sie wissen genau, dass vieles von dem, was wir vorhaben, gut und richtig ist.
({2})
Ich will zwei Themen aufgreifen, die bereits genannt
wurden. Das eine ist die Zeit des Wartens auf einen
Facharzttermin. Wir alle wissen aus den Debatten vor
Ort: Das ist mit Abstand das größte Aufregerthema im
deutschen Gesundheitswesen. Natürlich kann ich darauf
verweisen, dass man beispielsweise in Schweden und
Holland sechs, acht oder sogar zwölf Monate auf einen
Facharzttermin warten muss. Man vergleicht sich aber
nicht mit den Schweden und den Holländern, sondern
mit dem Nachbarn, der Beamter ist und übermorgen einen Termin hat, weil er privat versichert ist.
In diesem Vergleich - der eine hat einen Termin in
zwei Tagen, der andere muss wochenlang warten - liegt
zu Recht ein großes Aufregungspotenzial. Deswegen
- ich hoffe, das hat die Ärzteschaft nach anfänglichen
Widerständen auch erkannt - gibt es ein gemeinsames
Interesse aller im Gesundheitswesen Verantwortlichen,
von Ärzten, von uns in der Politik und von allen anderen, die mitgestalten, dass wir dieses Aufregerthema
endlich abräumen, indem wir den Patienten ein verlässliches Angebot machen und ihnen einen verlässlichen Ansprechpartner bieten, an den sie sich wenden können,
wenn sie die Überweisung zu einem Facharzt haben. Das
ist eine Servicestelle, die sie über Telefon oder über eine
App erreichen können - auch das wird in Zukunft möglich sein -, um zeitnah einen Termin zu bekommen, um
die Versorgung besser zu organisieren oder eine Behandlung im Krankenhaus möglich zu machen. Dem Patienten ist es am Ende, wenn er dringend einen Arzt braucht,
egal, welcher Arzt ihn behandelt. Er will zeitnah einen
Arzt in der Nähe haben, egal ob er im Krankenhaus ist
oder ob es ein niedergelassener Arzt ist. Genau diesem
Interesse des Patienten tragen wir mit unserer Regelung
Rechnung. Das wissen eigentlich auch Sie, und das
könnten Sie an der Stelle einmal würdigen.
({3})
Jetzt zur Zweitmeinung, Frau Kollegin Wöllert, weil
Sie das angesprochen haben. Sie sagten, es gehe nur um
Kostenreduktion.
({4})
Da vergessen Sie einen wichtigen Aspekt. Was nützt es
Ihnen als Patient, wenn Sie qualitativ super operiert wurden - wir sehen richtigerweise auch eine Ergebnisqualität bei Operationen und Behandlungen im Krankenhaus
vor -, diese Operation aber unnötig war? Jede Operation
ist auch immer eine potenzielle Gefährdung des Patienten. Deswegen geht es bei diesem Thema nicht nur um
Kostenreduktion. Im Gegenteil: Es geht um eine gute
Behandlung des Patienten, und es geht darum, ihn vor
unnötigen Gefahren zu bewahren. Deswegen ist die Regelung, die wir vorsehen, nämlich ein strukturiertes
Zweitmeinungsverfahren anzubieten, insbesondere in
den Bereichen, bei denen man vermuten darf, dass es
auch ökonomische Interessen für mehr Behandlungen
und Operationen gibt, ein wichtiges Angebot für den Patienten, ihn zu schützen. Auch das sollten Sie nicht
kleinreden.
({5})
Sie haben gerade spannenderweise auf die Kostensteigerung hingewiesen; das ist etwas Neues für die
Linke. Sie haben gerade zum ersten Mal in einer gesundheitspolitischen Debatte, wenn ich einmal die letzten
zwölf Jahre, die ich überblicken kann, nehme, erkannt,
dass Mehrausgaben irgendjemand bezahlen muss. Sie
haben zum ersten Mal gemerkt, dass, wenn man zusätzliches Geld für die Versorgung ausgibt, das natürlich am
Ende irgendjemand bezahlen muss.
({6})
Ich gratuliere jedenfalls zu der Erkenntnis. Die haben
wir bisher von der Linkspartei in diesem Hohen Haus
noch nicht vernommen.
({7})
Sie fordern nur immer mehr Leistungen, mehr Ausgaben, immer mehr, mehr, mehr; aber damit, dass das jemand bezahlen muss, haben Sie sich bisher nicht beschäftigt. Insofern gratuliere ich zu diesem Schritt.
Ja, Sie haben recht: Natürlich führt das, was wir nach
unserem GKV-Versorgungsverstärkungsgesetz tun, im
Moment im Krankenhausbereich, in der Palliativversorgung zu Mehrausgaben. Aber mit diesen Mehrausgaben
- das haben wir gerade für dieses Gesetz dargelegt, und
das werden wir in den nächsten Wochen auch für die
Krankenhäuser diskutieren - wollen wir vor allem Strukturen verändern. Wir wollen dahin kommen, dass wir
Schritt für Schritt die Versorgung effizienter machen und
sie da, wo es noch Lücken gibt, besser machen.
Meine feste Überzeugung ist, dass Sie, wenn Sie nicht
einfach nur mehr Geld in das System geben, sondern die
Ausgaben mit Strukturveränderungen verknüpfen und
am Ende eine effizientere und bessere Versorgung des
Patienten hinbekommen, dann auch Akzeptanz bei den
Versicherten haben, wenn diese ein wenig mehr bezahlen müssen; denn in Wahrheit wissen die Menschen
doch - wir sollten es ihnen jedenfalls ehrlich sagen; Sie
tun das leider nicht immer -, dass es, wenn wir in einer
älter werdenden Gesellschaft eine gute, hochwertige Gesundheitsversorgung wollen, in den nächsten Jahren teurer wird. Ich habe den Eindruck, die Menschen sind bereit, das zu bezahlen, wenn wir es ihnen ehrlich sagen
und wenn wir ihnen vor allem erklären können, wofür
wir dieses Geld ausgeben. Genau das tun wir mit den
entscheidenden Weichenstellungen in diesem Gesetz.
Schön, dass Sie das endlich erkannt haben.
({8})
Herr Kollege, war das jetzt das Schlusswort?
Nein, ich habe noch ein bisschen.
Ja, Sie haben noch ein paar Sekunden. Ich frage Sie,
ob Sie eine Zwischenfrage oder -bemerkung zulassen
wollen.
Na klar.
Dann bitte, Frau Klein-Schmeink.
Sie sprachen gerade davon, dass es in der Bevölkerung und bei den Versicherten große Akzeptanz dafür
gibt, dass man mehr Geld bezahlen muss, wenn man
auch in Zukunft gut versorgt sein will. Ich glaube, das
würden hier im Raum alle bestätigen. Aber diese Akzeptanz hängt sehr eng damit zusammen, dass man das Gefühl hat, dass es auf der einen Seite gerecht zugeht und
auf der anderen Seite alles getan worden ist, dass die
Versorgung auch in Zukunft gut sein wird. Dazu gehört
unter anderem, dass die Versorgungseinrichtungen gut
erreichbar sind.
Die Große Koalition hat gesetzlich geregelt, dass
sämtliche Kostensteigerungen im Gesundheitswesen allein von den Versicherten zu tragen sind; das war eine
grundlegende Veränderung. Deshalb wird es in relativ
kurzer Zeit zu deutlich höheren Zusatzbeiträgen kommen, die nur von den Versicherten zu zahlen sind. Halten
Sie das durch, und werden Sie in der Lage sein, bis Ende
der Wahlperiode genau diesen Weg zu gehen? Sind Sie
sicher, dass Sie gemeinsam mit Ihrem Koalitionspartner
durchsetzen wollen, dass es Kostensteigerungen bis zu
1,5 Prozent nur zulasten der Versicherten geben wird?
Oder kommt es am Ende nicht doch zu Leistungseinschränkungen? Werden Sie also nicht mehr den Mut haMaria Klein-Schmeink
ben, das, was notwendigerweise zu tun ist, tatsächlich
durchzusetzen?
Diese Frage war trotz ihrer Länge in gewisser Weise
eine Suggestivfrage.
Auch das ist erlaubt.
Auch das ist erlaubt; das stimmt. - Ich will trotzdem
versuchen, darauf einzugehen. Schließlich bringen Sie
diese Gedanken immer wieder vor.
Wir haben die Kassen mit der Finanzierungsreform,
die wir im letzten Jahr durchgeführt haben, wieder in einen Preiswettbewerb miteinander eintreten lassen. Dieser Wettbewerb hat es möglich gemacht, dass seit 1. Januar letzten Jahres etwa 20 Millionen Deutsche weniger
Beitrag zahlen als vorher.
({0})
Der Wettbewerb der Kassen untereinander hat dazu geführt, dass die Kassen einen niedrigeren Beitrag genommen haben, nämlich nur den, den sie tatsächlich brauchten.
Ja, wir haben den Arbeitgeberanteil festgeschrieben.
Wir haben damit übrigens fortgesetzt, was Rot-Grün
2004 richtigerweise schon einmal gemacht hat. Dieses
Vorgehen ergab sich aus der Erkenntnis, dass steigende
Lohnnebenkosten die Arbeit in Deutschland verteuern,
dass also auch steigende Gesundheitskosten, die in einer
älter werdenden Gesellschaft zwangsläufig sind, den
Faktor Arbeit und damit die Schaffung von Arbeitsplätzen in Deutschland teurer machen. Es war ein Kompromiss - wie gesagt, so etwas gab es schon unter Rot-Grün -,
zu sagen: Wir schreiben zur betriebswirtschaftlichen
Planbarkeit für die Unternehmen den Arbeitgeberanteil
fest - im Moment sind es 7,3 Prozent - und lassen die
künftigen Kostensteigerungen in den Zusatzbeitrag einfließen, der dem Wettbewerb ausgesetzt ist und dadurch
nach unten reguliert werden soll.
Wie man damit in Zukunft umgeht, wird eine der großen Fragen der Gesundheitspolitik werden; da haben Sie
recht. Wir nutzen diese Legislatur, in der wir noch Überschüsse und Rücklagen haben, um genau die Strukturveränderungen im Krankenhausbereich, in der flächendeckenden Versorgung, in der Zusammenarbeit von
ambulanter und stationärer Versorgung herbeizuführen,
über die wir gerade diskutiert haben. Wir wollen mit
dem zusätzlichen Geld effizientere Strukturen schaffen,
um im nächsten Schritt - das wird sicherlich ein Thema
ab 2016/2017 werden, auch in der programmatischen
Auseinandersetzung, die dann zu führen ist - darüber zu
reden - das werden wir alle tun müssen -, wie wir künftige Kostensteigerungen finanzieren. Ich glaube nicht,
dass es richtig ist, am Ende alle Kostensteigerungen beitragsfinanziert zu decken. Man wird über andere Modelle reden müssen. Der Krankenversicherungsbeitrag
wird nach allen Hochrechnungen irgendwann in den
nächsten zehn Jahren den Rentenversicherungsbeitrag
überholen. Spätestens dann wird es ganz andere politische Debatten geben. Aber es ist schön, dass Sie diese
Frage stellen. Das macht nämlich deutlich, dass Forderungen nach immer mehr nicht angezeigt sind, sondern
dass es im Kern darum gehen muss, das Geld effizient
auszugeben.
Helfen Sie bei der Umsetzung dieses Gesetzes mit.
Suchen Sie nicht das Haar in der Suppe, wie Sie es gerade getan haben, um zu begründen, warum Sie bei der
Abstimmung mit Nein stimmen. Helfen Sie jetzt mit,
Versorgung effizienter zu machen, und bringen Sie sich
dann, und zwar jenseits Ihres Schlagworts, das Sie bei
dieser Gelegenheit immer verwenden, in der Finanzierungsdebatte in dem Wissen ehrlich ein, dass steigende
Beiträge die Arbeit in Deutschland teurer machen. 2016,
2017, 2018, wenn wir all diese Debatten wieder führen
werden, geht es darum, wie wir Gesundheit in Deutschland in Zukunft finanzieren wollen. Denn eines ist sicher
- dabei bleibe ich -: Eine gute, qualitativ hochwertige
Versorgung wird in einer älter werdenden Gesellschaft
Geld kosten. Die Menschen wüssten das, wenn wir es ihnen häufiger ehrlich sagen würden.
({1})
Vielen Dank, Herr Kollege Spahn. - Nächster Redner: Harald Weinberg für die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Zunächst ein Wort zu Herrn Lauterbach und zu Herrn
Spahn: Es ist ja eine schöne Rechnung, die Sie da angestellt haben. Aber wenn man sich die Gesetzesvorhaben
insgesamt anschaut - das hat Ihnen ja auch der GKV-Spitzenverband, also der Spitzenverband der gesetzlichen
Krankenversicherungen, schon vorgerechnet -, dann
muss man sagen, dass der Zusatzbeitrag von jetzt durchschnittlich 0,8 Prozent relativ zügig auf etwa 1,8 Prozent
steigen wird. Dann reden wir nicht über einen Betrag in
der Größenordnung von 50 Cent, Herr Lauterbach, sondern über einen Betrag von 50 Euro.
({0})
Da ist man durchaus in einer ganz anderen Region, und
das ohne Überlastungsausgleich und ohne Parität.
Ich möchte noch einmal auf das GKV-Versorgungsstärkungsgesetz insgesamt eingehen und es kurz bewerten. Es ist ja ähnlich wie bei der Echternacher Springprozession: drei Schritte nach vorne, zwei zurück. Man
kann das an ein paar Beispielen deutlich machen.
Erstens. Praxisstilllegungen in überversorgten Regionen; das macht ja erst einmal Sinn. Wir waren zunächst
bei einem Wert von 110 Prozent Überversorgung, dann
haben die Ärzteverbände gegen Praxisstillegungen op10460
poniert, und am Ende ist dann ein Wert von 140 Prozent
herausgekommen. Das heißt also, das Vorhaben ist sozusagen reduziert worden.
Zweitens. Ein geregeltes Zweitmeinungsverfahren
- davon war schon die Rede - ist eigentlich eine gute Sache. Aber es bleibt nach wie vor die Frage: Warum eigentlich nur bei mengenmäßig relevanten Eingriffen,
also bei Eingriffen, bei denen man im Wesentlichen die
Ökonomie im Blick hat? Warum will man dies im Prinzip eher wie eine Kostendämpfungsmaßnahme anwenden?
Drittens. Die Nutzenbewertung von Medizinprodukten ist ebenfalls eine gute Sache; aber es stellt sich die
Frage: Warum nur bei teuren und neuen Produkten und
nicht bei allen Hochrisikoprodukten in diesem Bereich?
({1})
Letzter Punkt: Regelungen zur Haftung von Hebammen. Die Folgebehandlungskosten aus der Haftpflicht
herauszunehmen, ist ebenfalls nur halb gut. Eine grundlegende Lösung in Form eines Härtefallfonds oder eines
Haftungsfonds für alle Gesundheitsberufe wäre deutlich
besser.
Fazit insgesamt: Jeweils drei Schritte vor, zwei zurück, aber immerhin in Teilen durchaus in die richtige
Richtung. Das erkennen wir an. Deswegen haben wir für
uns gesagt: Wir werden uns bei der Abstimmung über
dieses Gesetz enthalten.
Vielen Dank.
({2})
Danke, Herr Kollege. - Nächste Rednerin: Hilde
Mattheis für die SPD.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich kann ja verstehen, dass die Opposition ein Problem
damit hat, wie der Kollege Spahn sagte, das Haar in der
Suppe zu finden, oder, wie ich es sagen würde, uns zu
diesem guten Versorgungsqualitätsgesetz zu beglückwünschen; denn dieses Gesetz, verehrte Kollegin, verdient wirklich den Namen, den es trägt: GKV-Versorgungsstärkungsgesetz.
({0})
Ich glaube, dass die Bevölkerung mitbekommt, was
wir in diesem Gesetz regeln: dass es nämlich darum
geht, in unterversorgten Gebieten Anreize zu setzen, damit ein Arzt dort hinkommt, und auch eine neue Bedarfsplanung aufzulegen, und zwar eine Bedarfsplanung,
die nicht nur Köpfe zählt, sondern bei der es darum geht,
die Lebenssituation der Menschen zu erfassen, den demografischen Wandel und die sozialen Strukturen zugrunde zu legen. Ich kann Ihnen sagen, werte Kollegin:
Würden Sie dieses Gesetz vorlegen, könnten Sie vor lauter Kraft gar nicht laufen.
({1})
Ich bin froh, dass die Linke anerkennt, was wir in dieser Richtung Richtiges machen und dass wir nicht nur
die Bedarfsplanung im Auge haben. Wir müssen auch
Anreize für junge Ärzte setzen, zum Beispiel indem sie,
wenn sie sich fünf Jahre in einem unterversorgten Gebiet
niederlassen, einen Vorteil haben. Ja, es ist richtig, solche Anreize zu schaffen oder nach dem Vorbild der
Kompetenzzentren in Baden-Württemberg und anderen
Bundesländern zu sagen: Lasst uns doch die jungen
Leute, die Medizin studieren, für den Hausarztberuf begeistern. - Was uns darüber hinaus besonders am Herzen
liegt, ist, die Entlassung aus den Krankenhäusern zu verbessern.
({2})
Es ist nicht hinzunehmen, dass Menschen, die zum Wochenende oder in schwierigen Situationen entlassen werden, zur Apotheke laufen müssen, sich bei den Heilmitteln umtun müssen usw.
Frau Kollegin, erlauben Sie eine Zwischenfrage?
Ich würde gerne weiterreden.
({0})
Gut.
An diesen Schwerpunkten erkennt die Bevölkerung,
welche Versorgungsverbesserung das Gesetz mit sich
bringt.
({0})
Wir haben auch vereinbaren können, dass es bei der
pflegerischen Übergangsversorgung einen Leistungsanspruch gibt. Wenn Menschen - und der demografische
Wandel beschäftigt uns ja alle - noch nicht nach Hause
gehen können, aber keine Einstufung in eine Pflegestufe
haben, wird es demnächst eine Leistungshinterlegung
geben. Auch das Zweitmeinungsrecht wurde schon vielfach angesprochen. Was ist daran falsch? Es sichert die
Patientinnen- und Patientenrechte. Das Gesetz wird
durch Folgendes durchgängig bestimmt: Es werden Versorgungsstrukturen verbessert, die Patientenrechte gestärkt und Innovationen unterstützt.
Dazu zählt auch die Finanzierungsseite; darüber werden wir mit Sicherheit eine Debatte führen müssen. Karl
Lauterbach hat unsere Haltung schon angedeutet. Ich
kann nur sagen: Parität ist ein wichtiges Ziel für uns Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten.
({1})
Wir werden mit dem Krankenhausreformpaket und mit
allem, was wir im Bereich Prävention und zum Thema
„Palliativmedizin und Hospiz“ machen, die nächsten
Bausteine setzen.
Ich darf auch ein kleines Lob aussprechen; es kommt
uns nicht immer deutlich von den Lippen. Ich glaube, für
die Bevölkerung haben wir mit diesem Gesetz und mit
dem, was wir noch in harter Arbeit auf den Weg bringen
werden, eine wichtige Grundlage in Bezug auf Versorgungssicherheit und Versorgungsqualität geschaffen.
Wir werden diesem Gesetz nicht nur mit ganzem Herzen
und vollster Überzeugung zustimmen, sondern es auch
in die Wahlkreise tragen. Sie werden ja in den Wahlkreisen mit genau diesen Fragen bombardiert. In Zukunft
werden Sie Antwort geben können: Ja, der Hausarzt
bleibt in einem unterversorgten Gebiet. Das unterstützen
wir; er kommt dahin. Ja, wir werden mit Blick auf die
Ausbildung eine Reform hinbekommen. - Alle diese
Fragen werden Sie dann beantworten können. Vielleicht
können Sie auch einfach sagen: Diese Koalition hat auch
ein klein wenig Gutes gemacht.
Ich danke Ihnen für Ihre Enthaltung.
({2})
Danke, Hilde Mattheis. - Die nächste Rednerin:
Elisabeth Scharfenberg für Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Herr Minister! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Das Gesetz, dessen Entwurf heute
zur Abstimmung steht, soll die gesundheitliche Versorgung bedarfsgerecht und flächendeckend sicherstellen.
Ich denke, das ist eine Herausforderung, der wir uns unbedingt stellen müssen.
Wir alle werden älter. Es wird mehr Menschen mit
mehreren Erkrankungen gleichzeitig geben. Das Gesundheitssystem muss sich den geänderten Bedürfnissen
und auch den Ansprüchen der Patientinnen und Patienten in Bezug auf mehr Lebensqualität anpassen. Da sehe
ich nicht - so wie Sie - die Ärzte ganz vorne, sondern
die Gesundheitsberufe. Menschen mit chronischen Erkrankungen, multimorbide Menschen brauchen neben
medizinischer Behandlung auch Hilfen zum Leben. Sie
brauchen Präventionsmaßnahmen sowie aktivierende
Maßnahmen, die den Krankheitsverlauf verlangsamen
und die Lebensqualität erhöhen. Das leisten nicht allein
die Ärzte. Besonders die Pflege muss hier eine viel größere Rolle spielen.
({0})
Die Pflege ist nahe dran an den Menschen, und sie bleibt
auch bei ihnen. Sie kann den Pflegebedarf am besten
einschätzen. Das sollte sie auch eigenständig tun. Sie
sollte auch bestimmte ärztliche Tätigkeiten ausüben dürfen. Dazu bedarf es besserer Kooperationen zwischen
den Angehörigen der verschiedenen Gesundheitsberufe.
Mit dem Standesdünkel muss jetzt endlich Schluss sein.
Es braucht endlich Substitution statt Delegation. Die
Pflege kann nämlich viel mehr, als sie darf.
Es braucht eine angemessene Ausbildung, um kooperativ und verantwortlich handeln zu können. Das Gesetz
zur Zusammenlegung der Pflegeausbildungen - dabei
werden Altenpflege, Krankenpflege und Kinderkrankenpflege zusammengeführt - ist hier genau das falsche Signal.
({1})
Inhalte aus drei Ausbildungen werden in der gleichen
Zeit vermittelt, die früher für eine Ausbildung vorhanden war. Dabei wird zwangsläufig Wissen auf der Strecke bleiben. In einer alternden Gesellschaft brauchen wir
aber spezifisches Wissen. Das schafft auch endlich Augenhöhe mit den Ärzten.
({2})
Es findet sich auch eine Regelung zur Versorgung mit
Hebammenhilfe im Gesetzentwurf. Das klingt zunächst
folgerichtig; denn in Ihrem Koalitionsvertrag behaupten
Sie:
Die Sicherstellung einer flächendeckenden Versorgung mit Geburtshilfe ist uns wichtig.
Was Sie dann aber vorschlagen, wird keine flächendeckende Versorgung mit Geburtshilfe sicherstellen, Ihr
Ziel in allen Ehren. Die Haftpflichtprämien für Hebammen sollen durch den sogenannten Regressverzicht gesenkt werden. Dazu sollen Kranken- und Pflegekassen
künftig die Behandlungskosten für Kinder mit Geburtsschäden nicht mehr bei der Hebamme oder ihrer
Versicherung einfordern können. Dadurch könnten die
Versicherungen tatsächlich Kosten einsparen, um die
20 Prozent. Das sind genau die 20 Prozent, um die die
Haftpflichtprämie zum 1. Juli steigen wird.
Sie verkleinern diese ohnehin schon nicht sehr üppige
Einsparung weiter. Wenn ein Geburtsschaden grob fahrlässig verursacht wurde, können die Kassen ihre Behandlungskosten für ein geschädigtes Kind weiterhin zurückfordern. Was wird nun passieren? Das liegt doch auf
der Hand. Die Kassen werden in jedem Fall alles daransetzen, der betreffenden Hebamme grobe Fahrlässigkeit
nachzuweisen. Damit steigen die Anwaltskosten und der
Verwaltungsaufwand. Die Haftpflichtprämien für Hebammen werden so jedenfalls nicht gesenkt. Der Regressverzicht bringt überhaupt nichts, er ist eine reine Alibimaßnahme. Das hat die wichtige Arbeit der Hebammen
wirklich nicht verdient.
Vielen Dank.
({3})
Vielen Dank, Kollegin Scharfenberg. - Nächste Rednerin: Karin Maag für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Frau Scharfenberg, ich glaube, für die Hebammen werden wir mit diesem Gesetz mehr tun, als wir ursprünglich erwarten konnten. Ich bin sicher, dass die Hebammen in Deutschland vernünftig und gerecht behandelt
werden.
({0})
Der Schwerpunkt dieses Gesetzentwurfs liegt aber
nicht bei den Hebammen. Uns war wichtig, Deutschland
im Hinblick auf die ärztliche Versorgung zukunftsfest zu
machen. Das ist uns mit dem Versorgungsstärkungsgesetz absolut gelungen. Wir haben den guten Entwurf des
Ministeriums im parlamentarischen Verfahren weiter
verbessert. Wir haben Patienten, Kassen, Körperschaften
und Verbände um ihre Meinung gebeten. Wir haben diskutiert, Argumente eingebracht, abgewogen, verworfen
und aufgenommen. Ich denke, wir haben einen runden
Gesetzentwurf geschaffen. Die Aufregerthemen, die hier
schon genannt wurden, wurden geglättet. Wir haben dem
G-BA aufgegeben, die Bedarfsfragen lebensnah, arztgruppenspezifisch und kleinräumig weiterzuentwickeln.
({1})
Wir sind bei der Überversorgung zur Kannregelung zurückgekehrt und verlangen erst ab einem Versorgungsgrad von 140 Prozent, dass der Zulassungsausschuss einen Arztsitz nicht nachbesetzt. Das verhindert vor allem
unnötige Bürokratie - das war uns wichtig - beim Zulassungsausschuss.
({2})
Falls eine Nachbesetzung ansteht, Herr Weinberg, werden weiterhin 12 000 Praxen von den Zulassungsausschüssen auf ihre Versorgungsrelevanz hin überprüft. Ich
glaube also, wir haben einen wunderbaren Kompromiss
gefunden.
({3})
Gelungen ist uns auch die Abwägung bei der ambulanten spezialfachärztlichen Versorgung. Hier war mir
die Zusammenarbeit von ambulant und stationär tätigen
Rheumatologen ein gutes Beispiel. So stelle ich mir übrigens innovative Gesundheitspolitik vor. Mit dem Verzicht auf die schwere Verlaufsform bei onkologischen
und rheumatischen Erkrankungen können Patienten jetzt
auch nach Auslaufen einer Übergangsregelung weiter in
der ambulanten spezialfachärztlichen Versorgung - sektorenübergreifend übrigens, Frau Klein-Schmeink ({4})
versorgt werden.
Zu den Terminservicestellen haben wir das Wesentliche herausgearbeitet. Wir haben selbstverständlich Wert
darauf gelegt, dass gute regionale Ideen - das Land Sachsen wurde als Beispiel genannt - umgesetzt werden, was
eine zügige Terminvergabe angeht. Das ist uns sehr willkommen. Jedenfalls erhalten jetzt alle Patienten - unabhängig ob privat oder gesetzlich versichert - innerhalb
von vier Wochen einen Facharzttermin.
Bei allem war uns eine Botschaft ganz wichtig: Der
Patient steht immer im Mittelpunkt. Die Patienten - darauf will ich hinweisen - profitieren von diesem Gesetz,
zum Beispiel durch neue, innovative Versorgungsformen. Wir führen einen Innovationsfonds ein, mit dem
wir außerhalb der Regelversorgung 300 Millionen Euro
jährlich für die Förderung sektorenübergreifender Versorgungsformen und für die Versorgungsforschung einsetzen. Die Patienten mit schweren und komplexen
Krankheitsbildern profitieren davon, dass wir die Hochschulambulanzen öffnen. Der Zugang zur Spitzenmedizin wird den Patienten dadurch erheblich erleichtert.
Es geht nicht nur um Teilhabe, sondern auch um eine
qualitativ hochwertige Behandlung. Neue Methoden, bei
denen Medizinprodukte mit hoher Risikoklasse zum
Einsatz kommen, werden systematisch einem fristgebundenen Bewertungsverfahren unterzogen. Wir gehen
damit den guten Weg weiter, den wir mit dem AMNOG
eingeschlagen haben.
Die Patienten profitieren auch vom Entlassmanagement. Krankenhäuser können jetzt bei der Entlassung die
Arzneimittel verschreiben, die Heil- und Hilfsmittel verordnen, die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung selber ausstellen. Die Suche nach dem niedergelassenen Arzt am
Freitagnachmittag nach der Entlassung aus dem Krankenhaus hat für unsere Patienten jetzt ein Ende. Ich glaube,
schon allein das ist ein zentraler Fortschritt.
({5})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Patienten können die Verbesserungen nur dann nutzen, wenn es weiterhin den Arzt vor Ort gibt. Wir werden aber nur dann
ärztlichen Nachwuchs gewinnen, wenn wir das berufliche Umfeld mit den Vorstellungen der Studenten und der
jungen Ärzte von der eigenen Work-Life-Balance in Einklang bringen und Regulierungen nur dort vornehmen,
wo sie notwendig sind, sie also auf das ausdrücklich
Notwendige begrenzen. Wir haben die Rahmenbedingungen extrem verbessert: Es wird mindestens 7 500 zusätzliche Stellen im Rahmen der Weiterbildung in der
Allgemeinmedizin geben; das wurde genannt. Die fachärztliche Grundversorgung liegt uns genauso am Herzen;
hier sind es 1 000 zusätzliche Stellen. Die Angst vor Regressen ist zwar eher ein psychologisches Hemmnis,
weil schon in der Vergangenheit 98 Prozent der Ärzte
nicht in Regress genommen wurden; aber wir haben die
bundeseinheitlichen Vorgaben für die WirtschaftlichKarin Maag
keitsprüfung aufgegeben. Es wird regionale Vereinbarungen geben.
Frau Klein-Schmeink, wir entlasten die Ärzte, indem
wir die delegierte ärztliche Leistung qualifizierter Fachkräfte erstmals gesondert vergüten. Das heißt, wir geben
den Ärzten die Zeit für das Gespräch mit den Patienten
zurück.
({6})
Viele der jungen Ärzte wollen im Team arbeiten. Fachgleiche MVZs sind möglich. Wir sichern die Vergütung
für anerkannte Praxisnetze. Auch dort wird der Teamgedanke gefördert.
Ich bin zutiefst davon überzeugt, Frau KleinSchmeink, dass uns ein ausnehmend gutes Gesetz gelungen ist, das Ausdruck einer zukunftsgerichteten Gesundheitspolitik ist.
Danke schön.
({7})
Vielen Dank, Frau Kollegin Maag. - Nächster Redner
in der Debatte: Dirk Heidenblut für die SPD.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Liebe Zuhörerinnen! Liebe Zuhörer! Nein, sofort
werden wir mit diesem Gesetz die unverantwortlich langen Wartezeiten im Bereich der Psychotherapie natürlich
nicht abschaffen. Aber das Gesetz zeigt den absehbaren
Zeitraum auf, in dem das gelingen kann. Das liegt daran,
dass wir in konsequenter Abarbeitung unseres Koalitionsvertrages an ganz vielen Stellen zeitgleich anpacken, um die Frage des Bedarfs in den Griff zu bekommen. Vor dem Hintergrund kann ich nur sagen: Hier
machen wir viel, und das wird auch viel bewirken. Da
bin ich mir ganz sicher.
({0})
- Ja, ich will gerne zugeben, dass das zugestanden
wurde.
Ich will nur drei Aspekte nennen.
Zunächst nehmen wir den Bedarf in Angriff, der natürlich eines der Kernprobleme ist. Auch wenn immer
wieder gesagt wird: „Na ja, das hatten wir ja schon einmal versucht“ - den Versuch darf man nicht aufgeben.
Ich bin mir ganz sicher: An dieser Stelle wird das funktionieren, weil alle begriffen haben: Gerade im Bereich
Psychotherapie gibt es ausreichend Expertise. Jeder
weiß, dass der Bedarf für diesen Bereich nie ordentlich
ermittelt worden ist. Da müssen wir heran, das muss angepasst werden. Wir geben auch vor, wie wir es wollen,
nämlich an Sozial- und Morbiditätsstruktur orientiert,
und das Ganze auch noch kleinräumig.
({1})
Wir nehmen die Psychotherapie-Richtlinie in Angriff.
Auch das ist wichtig; denn natürlich kann man auch im
Bereich der Leistungserbringung noch eine Menge bewirken. Wir werden - ich will nur einen Punkt aufgreifen - Sprechstunden einrichten, um die Akutversorgung
deutlich besser in den Griff zu bekommen. Wir wollen,
dass derjenige, der akut etwas hat, einen schnellen Zugang zu Hilfe erhält. Wir wollen auch die Therapie steuern. Es ist doch nur folgerichtig, zu sagen: Wenn die
Richtlinie geändert ist, dann müssen entsprechende Änderungen bei den Terminservicestellen vorgenommen
werden. Denn es kann doch nicht sein, dass ich in der
Sprechstunde erfahre, ich bekomme eine Therapie, aber
dann dauert es wieder sechs Monate. Nein, auch hier
muss geregelt sein, dass eine Therapie nach vier Wochen
begonnen werden kann. Es ist völlig richtig, dass wir
auch an dieser Stelle handeln.
({2})
Last, but not least: Wir verändern auch die Arbeitsmöglichkeiten direkt in den Praxen; denn wir schaffen
gerade im Psychotherapiebereich deutlich bessere Anstellungsverhältnisse, sodass zum Beispiel die Möglichkeit besteht, sich für Jobsharing zu entscheiden. Das
wird für die Patientinnen und Patienten viel bringen,
weil das mehr Kapazität schafft. Aber es wird auch - die
Work-Life-Balance wurde angesprochen - den Berufseinstieg erleichtern. Das wird dazu führen, dass mehr
Menschen Zugang zu diesem Beruf finden. - Wir haben
also in zwei Bereichen hervorragende Ansätze gefunden.
Vor diesem Hintergrund kann ich nur sagen: Wir
schaffen mit diesem Gesetz gerade im Bereich der Psychotherapie sehr gute Möglichkeiten, endlich zuzupacken. Wir erwarten vom G-BA, dass das alles schnell,
zügig und zielgerichtet und im Sinne der Patientinnen
und Patienten umgesetzt wird.
({3})
Auch wenn viel manchmal nicht viel hilft, eines ist klar:
Nix hilft gar nix, und Nein ist am Ende nix.
Danke schön.
({4})
Vielen Dank, Herr Kollege Heidenblut. - Nächster
Redner: Reiner Meier für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit dem
GKV-Versorgungsstärkungsgesetz liegt uns heute ein
ausgewogenes Gesamtpaket vor. Für uns von der Union
steht eines fest: Der freiberufliche Arzt ist und bleibt
eine zentrale Säule der gesundheitlichen Versorgung in
unserem Land.
({0})
- Auch im Krankenhaus.
Wir haben erreicht, dass Arztpraxen in überversorgten
Gebieten künftig erst bei einem Versorgungsgrad von
140 Prozent aufgekauft werden sollen. Das ist auch richtig; denn mit dieser Regelung lassen wir der Selbstverwaltung die notwendigen Handlungsspielräume
und fokussieren den Blick auf die stark überversorgten
Regionen. Dabei bleibt es auch weiterhin bei den geltenden Ausnahmen, die einen Praxisaufkauf ausschließen.
Hierzu ist schon viel gesagt und auch geschrieben worden. Deshalb möchte ich mich nur auf einen Punkt konzentrieren.
Künftig gibt es eine Privilegierung für junge Ärzte,
die nach dem Studium fünf Jahre lang in einem unterversorgten Gebiet arbeiten. Möchte ein solcher Arzt eine
Praxis weiterführen, so darf diese nicht aufgekauft werden. Dadurch machen wir die ärztliche Tätigkeit in unterversorgten Regionen deutlich attraktiver;
({1})
denn die Entscheidung, die Ballungszentren zu verlassen, wird dadurch nicht zu einer Einbahnstraße. Im Gegenteil: Ein junger Arzt, der weiß, dass er sich mit einer
Tätigkeit auf dem Land seine Bewegungsfreiheit nicht
nur erhält, sondern sogar verbessert, wird viel eher bereit
sein, die Großstadt zu verlassen.
Keine Ungleichbehandlung sollte es allerdings bei der
Bereinigung der ärztlichen Vergütung geben. Wir meinen, dass ein gerechter Modus weder Ärzte, die am Selektivvertrag teilnehmen, noch Ärzte, die am Kollektivvertrag teilnehmen, bevorzugen darf; das haben wir im
Ausschuss übrigens auch deutlich gemacht und zu Protokoll gegeben.
Meine Damen und Herren, leider gibt es in Deutschland Regionen, in denen der ambulante Bereich die Versorgung derzeit nicht vollständig gewährleisten kann.
({2})
Hierfür - jetzt komme ich zu Ihnen - erfüllen Krankenhäuser seit Jahren eine wichtige Versorgungsfunktion.
Aus diesem Grund haben Krankenhäuser in unterversorgten Gebieten künftig einen Anspruch auf Zulassung
zur ambulanten Behandlung - solange und soweit es erforderlich ist. Unser Leitbild bleibt aber auch weiterhin
die Versorgung durch den niedergelassenen Arzt. Wir
haben deshalb eine verpflichtende Überprüfung der Zulassung, alle zwei Jahre, eingeführt.
({3})
Das verschafft einerseits den Krankenhäusern genügend
Planungssicherheit und andererseits den Ärzten faire Bedingungen für die Niederlassung in einer solchen Region.
Auch das Entlassmanagement verbessern wir. Wir
verzahnen den ambulanten und den stationären Bereich.
Dazu haben wir die Möglichkeit der Krankenhäuser ausgeweitet, dem Patienten bei der Entlassung die notwendigen Leistungen zu verordnen, und zwar so lange, bis
der ambulante Bereich die Nachsorge übernehmen kann.
Zudem verbessern wir an dieser Stelle die Kooperation
zwischen Kranken- und Pflegeversicherung. Besonders
Patienten, die zum Wochenende entlassen werden, eröffnen wir dadurch einen reibungsloseren Übergang in die
ambulante Weiterversorgung.
Lassen Sie mich abschließend noch kurz zum Innovationsfonds kommen. Meine Damen und Herren, Innovation ist keine Frage von Sektoren oder Einrichtungen,
sondern von Fortschritt und Nutzen für den Patienten. Es
kommt deshalb nicht mehr darauf an, wer eine Innovation vorschlagen darf, sondern wie gut die Innovation ist.
Bei der Gestaltung des Förderverfahrens haben wir uns
für höhere Transparenz und Objektivität eingesetzt. So
gibt ein Expertenbeirat zu jedem Vorhaben eine Empfehlung ab, die der Innovationsausschuss berücksichtigen
muss. Von der Empfehlung darf der Ausschuss nur dann
abweichen, wenn er dies schriftlich ausführlich begründet. Dieses Verfahren sichert, dass die Förderentscheidung stets transparent und nachvollziehbar ist. Darüber
hinaus muss jedes aus dem Innovationsfonds geförderte
Vorhaben zum Beispiel im Internet veröffentlicht werden. Ich bin überzeugt, dass der Innovationsfonds ein
wirksames Instrument sein wird, das schon in kurzer
Zeit zahlreichen Patienten spürbare Verbesserungen
bringen wird.
Meine Damen und Herren, Henry Ford hat einmal gesagt:
Zusammenkommen ist ein Beginn, zusammenbleiben ist ein Fortschritt, zusammenarbeiten ist Erfolg.
In diesem Sinne darf ich mich bei den Kolleginnen und
Kollegen im Gesundheitsausschuss für die konstruktiven, zumeist auch zielführenden Beratungen bedanken
und Sie heute um die Zustimmung zu diesem Gesetzentwurf bitten.
Vielen Dank.
({4})
Vielen Dank, Herr Kollege Meier. - Die letzte Rednerin in dieser Debatte: Sabine Dittmar für die SPD.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Der Gesetzentwurf zum GKV-Versorgungsstärkungsgesetz hat in den parlamentarischen Beratungen mit 56 Änderungsanträgen den letzten Schliff bekommen, sodass wir heute ein Gesetz vorlegen, das die
Rahmenbedingungen für eine Sicherstellung der flächendeckenden ärztlichen Versorgung weiter flexibilisiert und entbürokratisiert, den Zugang zur mediziniSabine Dittmar
schen Versorgung verbessert, das Leistungsangebot für
Versicherte erweitert und mit dem Innovationsfonds
neuen sektorenübergreifenden Versorgungsmodellen und
der Versorgungsforschung einen neuen Schub verleiht.
Kolleginnen und Kollegen, als ich 1987 mein Medizinstudium begann, war mir sehr schnell klar, dass ich
als Allgemeinärztin arbeiten möchte.
({0})
Leider entscheiden sich heute immer weniger junge
Ärztinnen und Ärzte für den Hausarztberuf. In vielen
Regionen spüren wir diesen Mangel, genauso wie auch
Defizite in der fachärztlichen Versorgung. Deshalb war
es mir so wichtig, dass wir im GKV-Versorgungsstärkungsgesetz der Förderung der Weiterbildung einen
neuen Impuls geben.
({1})
Die Anzahl der zu fördernden Stellen im Bereich der
Allgemeinmedizin erhöhen wir um 50 Prozent auf
7 500. Außerdem haben wir, was ebenfalls sehr wichtig
ist, eine Vergütung entsprechend einer tarifvertraglichen
Vergütung im Krankenhaus vorgegeben. Weitere 1 000
Stellen für grundversorgende Fachärzte kommen hinzu.
Für mich war es ein besonders wichtiges Anliegen,
die Qualität und Attraktivität der Weiterbildung zu verbessern. Viele weiterzubildende Ärztinnen und Ärzte
fühlen sich in der Praxis draußen alleingelassen. Ihnen
fehlt die Rückkoppelung, der Austausch mit anderen,
wie er im klinischen Bereich üblich ist. Deshalb war es
richtig, die Möglichkeit zu eröffnen, 5 Prozent der Fördersumme für die Unterstützung von Einrichtungen zu
verwenden, die genau diesen Austausch ermöglichen.
({2})
Die bei Universitäten angesiedelten Kompetenzzentren,
wie wir sie aus Baden-Württemberg oder Hessen kennen, sind dafür ganz sicher ein Vorbild.
Auch die Rahmenbedingungen für die ambulante Tätigkeit haben wir weiter flexibilisiert und den Bedürfnissen angepasst; dazu ist schon einiges gesagt worden. Wir
wissen, dass die jungen Ärztinnen und Ärzte im Team
arbeiten wollen, geregelte Arbeitszeiten haben möchten,
dass die Work-Life-Balance eine große Rolle für sie
spielt. Diesen Wünschen kommen wir entgegen, indem
wir kooperative Versorgungsformen, medizinische Versorgungszentren und Praxisnetze weiter stärken und entbürokratisieren.
({3})
All dies ist aber vergebliche Liebesmüh - das habe
ich in der ersten Lesung schon betont -, wenn es uns
nicht gelingt, die Medizinstudentinnen und Medizinstudenten für die ambulante ärztliche Tätigkeit zu begeistern.
({4})
Ich bin froh, dass es am 8. Mai 2015 endlich zu einem
ersten Treffen der Gesundheits- und Wissenschaftsminister von Bund und Ländern kam und der Startschuss
für den „Masterplan Medizinstudium 2020“ gefallen ist;
denn es ist dringend notwendig, dass wir die Zulassungskriterien anpassen und die Studieninhalte versorgungsorientierter gestalten.
Lassen Sie mich abschließend auf einen weiteren
Punkt eingehen, in den ich sehr viel Herzblut stecke und
über den heute schon viel diskutiert wurde. Die Sachverständigen in der Anhörung und der Sachverständigenrat
haben unisono auf diesen Punkt hingewiesen. Es geht
um die Weiterentwicklung der Bedarfsplanung. Eine Bedarfsplanung, die den realen Versorgungsplan abbildet,
ist das zentrale Steuerungselement, wenn es um die
gerechte Verteilung von Ärztinnen und Ärzten geht. Die
derzeitige Bedarfsplanung wird diesem Anspruch
nicht gerecht. Aus diesem Grund ist es richtig, dass wir
den G-BA beauftragen, bis Ende 2016 die Bedarfsplanung zu überarbeiten und dabei die Faktoren Sozial- und
Morbiditätsstruktur und Demografie verstärkt zu berücksichtigen.
Natürlich ist es auch notwendig, dass wir sektorenübergreifend planen. Dafür haben die Länder mit § 90 a
SGB V - gemeinsames Landesgremium - bereits ein Instrument an der Hand. Dieses Instrument nutzen sie aber
nicht so, wie sie es nutzen könnten; auch das ist in der
Anhörung angesprochen worden. Wir werden einen
Blick darauf haben. Notfalls muss man bei § 90 a SGB
V nachjustieren, um die Wirkung zu verbessern.
Wichtig ist, dass wir jetzt einen ersten Schritt unternehmen. Ich teile den Pessimismus der Opposition nicht.
({5})
Ich glaube, wir kommen ein gutes Stück voran. Ich bin
davon überzeugt, dass wir heute einen guten Gesetzentwurf zur Abstimmung vorlegen. Es geht um ein Gesetz,
das den Versicherten, den Patientinnen und Patienten
draußen wirklich nützt.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
({6})
Vielen Dank, Frau Kollegin Dittmar. - Ich schließe
die Aussprache.
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den von der
Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Stär-
kung der Versorgung in der gesetzlichen Krankenversi-
cherung. Zu dem Gesetzentwurf liegt uns eine persönli-
che Erklärung nach § 31 unserer Geschäftsordnung von
Rudolf Henke vor.1)
Der Ausschuss für Gesundheit empfiehlt unter Buch-
stabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/
5123, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf
Drucksache 18/4095 in der Ausschussfassung anzuneh-
men. Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Linken auf
Drucksache 18/5125 vor, über den wir zuerst abstimmen
werden. Wer stimmt für diesen Änderungsantrag? - Wer
1) Anlage 2
Vizepräsidentin Claudia Roth
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Änderungsantrag ist bei Zustimmung der Linken, bei Gegenstimmen von CDU/CSU und SPD und bei Enthaltung von
Bündnis 90/Die Grünen abgelehnt. Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der
Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen. Sie haben es gesehen: CDU/CSU und SPD haben
dafür gestimmt, die Grünen haben dagegen gestimmt,
und die Linken haben sich enthalten.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist bei Zustimmung von CDU/CSU und SPD,
bei Gegenstimmen vom Bündnis 90/Die Grünen und bei
Enthaltung der Linken angenommen.
Abstimmung über den Entschließungsantrag der
Fraktion Die Linke auf Drucksache 18/5126. Wer stimmt
für diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Entschließungsantrag ist
abgelehnt. Es gab Zustimmung von den Linken, Enthaltung vom Bündnis 90/Die Grünen und Gegenstimmen
von CDU/CSU und SPD.
Wir setzen die Abstimmung über die Beschlussempfehlungen des Ausschusses für Gesundheit auf Drucksache 18/5123 fort.
Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner
Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der
Fraktion Die Linke auf Drucksache 18/4187 mit dem Titel „Wohnortnahe Gesundheitsversorgung durch bedarfsorientierte Planung sichern“. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung des Ausschusses? - Wer stimmt
dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung des Ausschusses ist angenommen. Zugestimmt haben CDU/CSU und SPD, abgelehnt haben die Linken,
und enthalten haben sich Bündnis 90/Die Grünen.
Unter Buchstabe c empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/4153 mit dem Titel „Gesundheitsversorgung umfassend verbessern - Patienten und
Kommunen stärken, Strukturdefizite beheben, Qualitätsanreize ausbauen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält
sich? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen. Zugestimmt hat die Große Koalition, also CDU/CSU und
SPD, Gegenstimmen gab es von den Grünen und Enthaltung von den Linken.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe d seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des
Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/1462 mit dem Titel „Mehr Transparenz der
Selbstverwaltung im Gesundheitswesen“. Wer stimmt
für die Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen. Zugestimmt haben CDU/CSU und SPD, und
es gab Gegenstimmen vom Bündnis 90/Die Grünen und
von den Linken.
Damit haben wir die Gesundheitspolitik für heute geschafft. Ich danke den Gesundheitspolitikerinnen und
-politikern recht herzlich und lade sie ein, hierzubleiben,
wenn wir über das Thema „Exportüberschüsse abbauen“
reden. Ansonsten bitte ich, die Plätze zu tauschen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Michael
Schlecht, Klaus Ernst, Matthias W. Birkwald,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Exportüberschüsse abbauen - Wende in der
Lohnpolitik einleiten
Drucksache 18/4837
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Energie ({0})
Finanzausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Ich höre viel,
aber keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort an
Michael Schlecht für die Linken.
({1})
Sehr geehrte Präsidentin! Sehr geehrte Damen und
Herren! Die deutsche Wirtschaft verkaufte 2014 Waren
und Dienstleistungen im Wert von 190 Milliarden Euro
mehr ans Ausland,
({0})
als sie aus dem Ausland bezog. Das ist der viel gefeierte
Exportüberschuss, der manche mit großem Stolz erfüllt.
({1})
Was bedeutet das aber real? Sitzt Deutschland nun auf
einem großen Geldsack? Nein. Das bedeutet nur, dass
sich das Ausland bei Deutschland weiter verschuldet hat.
2014 lieh Deutschland dem Ausland weitere 190 Milliarden Euro, um deutsche Waren zu kaufen. Der Geldsack besteht aus nichts anderem als aus Forderungen an
das Ausland.
Nimmt man den Leistungsbilanzüberschuss, in dem
zusätzlich Einkommens- und Vermögensübertragungen
berücksichtigt werden, hinzu, dann betrug der Überschuss im letzten Jahr sogar 220 Milliarden Euro. Selbst
das Riesenreich China kam nur auf 115 Milliarden Euro.
Auch das ist für einige vermeintlich ein großer Erfolg,
aber das hat nur die Verschuldung des Auslandes gegenüber Deutschland erhöht.
({2})
Seit dem Jahr 2000 haben sich die deutschen Exportüberschüsse auf mittlerweile 1,8 Billionen Euro summiert, weil es seit 2000 kein einziges Jahr mit einem DeMichael Schlecht
fizit gegeben hat. Am Ende dieses Jahres werden es
2 Billionen Euro sein. Das sind 2 000 Milliarden Euro,
die Deutschland ans Ausland verliehen hat, um seinen
Export zu finanzieren. Ursache für diese ungleiche Entwicklung ist die desaströse Lohnentwicklung hier in
Deutschland. Im Vergleich zum Jahr 2000 sind die Reallöhne heute kaum höher als damals. Das ist in allen anderen Ländern anders. Dort hat es zumindest halbwegs
anständige Lohnerhöhungen gegeben.
({3})
Die Binnennachfrage hier in Deutschland wurde in
diesen 15 Jahren stranguliert. Damit wuchsen die Importe viel schwächer als die Exporte, die durch das
Lohndumping - vor allen Dingen in den Jahren 2000 bis
2010 - auch noch zusätzlich gestärkt worden sind. Deshalb gibt es diese Auseinanderentwicklung.
Wie nachhaltig ist das Ganze?
({4})
Gar nicht. Wirtschaftsminister Gabriel - wir haben das
hier mehrfach erlebt - und andere halten Exportüberschüsse weiterhin für unverzichtbar. Das heißt nur, dass
erstens die Schulden des Auslandes bei uns dauerhaft
weiter gesteigert werden und dass er zweitens dem Ausland nie die Chance geben will, die Schulden, die es bei
uns hat, an uns zurückzuzahlen. Gabriel ist letztlich bereit, die Waren und Dienstleistungen im Wert von demnächst 2 Billionen Euro dem Ausland eines Tages faktisch zu schenken. Wenn es nämlich nie die Möglichkeit
gibt, dass das Ausland seine Schulden zurückzahlt, dann
wird es am Ende irgendeine Form von Schuldenstreichung geben, und das ist nichts anderes, als dass man es
dem Ausland im Grunde genommen schenkt.
Damit dieser Handel vernünftig - ohne Schenkungsmaßnahmen - funktioniert, müsste Deutschland eigentlich Defizite im Außenhandel machen, um die Verschuldung des Auslandes bei uns zu senken. Dann würde
endlich auch die Situation beendet, dass Deutschland unter seinen Verhältnissen lebt. Das ist ja der eigentliche
Skandal, der mittlerweile kaum noch bekannt ist.
({5})
Die eigentlichen Ursachen für die Verschuldung zum Beispiel in Griechenland - liegen sehr deutlich bei
uns hier in Deutschland. Auch wenn die deutsche Regierung den Griechen und anderen Sozial- und Lohnkürzungen ohne Ende aufherrscht, werden die Schulden dieser Länder damit nicht beseitigt. Notwendig ist ein Ende
der unfairen deutschen Wirtschaftspolitik, die mittlerweile zuweilen imperialistische Züge trägt.
({6})
Im Übrigen verstößt die Bundesregierung mit dem
beständigen Leistungsbilanzüberschuss gegen deutsches
Gesetz. Das Stabilitätsgesetz von 1967 schreibt nämlich
einen langfristig ausgeglichenen Außenhandel vor. Die
damaligen Autoren - Schiller und Franz Josef Strauß,
({7})
den manche von der rechten Seite hier ja kennen - verstanden damals noch etwas von Wirtschaft.
({8})
Das sind Kenntnisse, die auf der rechten Seite des Hauses mittlerweile in weiten Teilen verloren gegangen sind.
Dabei wäre die Lösung so einfach: massive Reallohnerhöhungen durch Stärkung der Gewerkschaften, bessere
Bedingungen für Tarifauseinandersetzungen, Verbot der
Leiharbeit und massives Zurückdrängen des Missbrauchs von Werkverträgen und der Befristungen. Es ist
nämlich vollkommen klar: Mit Menschen, die unter solchen Verhältnissen arbeiten müssen, lassen sich keine
besonders guten Streiks führen oder zumindest Streikdrohungen aufbauen, die eine Voraussetzung für vernünftige Lohnerhöhungen sind.
({9})
Mit einem massiven Investitionsprogramm von
100 Milliarden Euro könnten öffentliche Investitionen
zur Stärkung der Binnennachfrage durchgeführt werden.
Dazu gehört im Übrigen auch, dass in den Auseinandersetzungen um die Erzieher und Sozialberufe den Kolleginnen und Kollegen in diesen Berufen eine deutliche
Aufwertung ihrer Arbeit zugestanden wird.
Das alles stützt die Konjunktur, schafft Jobs, macht
Menschen wohlhabender, steigert die Importe und beseitigt auf Dauer den unhaltbaren Zustand, dass Deutschland den Banker der Welt spielt, was immer mit der Gefahr verbunden ist, dass das Geld nicht zurückgezahlt
wird und praktisch alles verschenkt wird.
Kommt es nicht zu einer Umkehr, dann wird der Tag
kommen, an dem die anderen Länder aufwachen, sich
wehren und eines Tages eine Troika einsetzen, die die
Aufgabe haben wird, die deutsche Wirtschaftspolitik zu
überwachen, damit in Deutschland der verheerende Außenhandelsüberschuss endlich durch eine massive Stärkung der Binnennachfrage abgebaut wird.
Aber so weit muss es nicht kommen. Es besteht die
Chance, dass es vorher ein Einsehen gibt und es zu einer
anderen Wirtschaftspolitik kommt. Wir werden uns jedenfalls nach wie vor massiv dafür einsetzen.
Danke schön.
({10})
Vielen Dank, Herr Kollege Schlecht. - Nächster Redner in der Debatte: Dr. Andreas Lenz für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr
Schlecht, die gute Nachricht zu Beginn Ihrer Rede: Die
Daten, die Zahlen und Fakten, die Sie genannt haben,
stimmen. Die Einordnung fällt aber etwas unterschiedlich aus.
Sie als Linke fordern in Ihrem Antrag: Exportüberschüsse abbauen. Die deutschen Außenhandelsüberschüsse führen laut Ihrem Antrag zu einer beständig anwachsenden Verschuldung anderer Länder, insbesondere
der Euro-Partner. Lassen Sie mich eines gleich zu Beginn sagen: Für die Staatsverschuldung eines Landes ist
immer nur die jeweilige Regierung verantwortlich und
sonst niemand.
({0})
Unsere Außenhandelsüberschüsse sind ein Zeichen
der hohen Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft. Sie kritisieren dies. Deutsche Unternehmen, darunter zahlreiche kleine und mittelständische Unternehmen, sind in vielen Bereichen Weltmarktführer, und
zwar nicht wegen ihres angeblichen Lohndumpings,
sondern wegen ihrer qualitativ hochwertigen Produkte.
Darauf können wir stolz sein.
({1})
Von der deutschen Wettbewerbsfähigkeit profitieren
im Übrigen auch die anderen EU-Länder. 58 Prozent aller deutschen Importe stammen aus den EU-Mitgliedstaaten. Das schafft Beschäftigung und Wohlstand nicht
nur bei uns, sondern auch in den anderen EU-Ländern.
Es lässt sich überdies feststellen, dass der Anteil der
deutschen Exporte an Länder außerhalb der Euro-Zone
zunehmend wächst. So beträgt der Anteil der Handelsüberschüsse außerhalb der Euro-Zone 156 Milliarden
Euro, also 72 Prozent. Es schadet also nicht, auch hier
eine europäische Perspektive einzunehmen. Die EuroZone als Ganzes betrachtet konnte sogar einen Handelsbilanzüberschuss erzielen.
Es muss auch noch einmal betont werden, dass die
Kommission für Deutschland gerade keine zukunftsund stabilitätsgefährdenden Ungleichgewichte festgestellt hat. Deutschland hat 2014 einen Handelsbilanzüberschuss von 7,7 Prozent. Der Grenzwert liegt bei
6 Prozent.
({2})
Es handelt sich laut Kommission zwar um Ungleichgewichte, aber nicht um exzessive Ungleichgewichte.
Sie fragen zudem in Ihrem Antrag, warum die Kommission Außenhandelsdefizite anders behandelt als
Überschüsse. Das liegt daran, meine Damen und Herren,
dass das eine Überschüsse und das andere Defizite sind.
Im Übrigen wäre es wohl besser, die Maastricht-Kriterien strenger zu überprüfen, als sich auf außenwirtschaftliche Ungleichgewichte zu fokussieren. Sie meinen - so
heißt es wörtlich in Ihrem Antrag -, dass der deutsche
Außenhandelsüberschuss die zentrale Ursache für die
anhaltende Euro-Krise sei. Das kann doch nicht Ihr Ernst
sein. Hier verkennen Sie wieder einmal ganz gehörig Ursache und Wirkung.
Die Staatsschuldenkrise in einigen Ländern des EuroRaums ist hausgemacht. Strukturreformen und Eigenverantwortung sind der Schlüssel zur Überwindung der
Krise. Gerade die EZB-Politik, also auch die solidarische Haltung der Euro-Partner und die Euro-Rettungspolitik, trägt im Übrigen massiv zur Erhöhung des deutschen Außenhandelsüberschusses bei.
Der Euro verlor durch die EZB-Zinspolitik im letzten
Jahr über 10 Prozent seines Wertes. Dadurch wird natürlich die Preisattraktivität deutscher Waren im Ausland
gesteigert. Ebenso trägt der niedrige Ölpreis zu geringeren Importausgaben und dadurch natürlich auch zu höheren Überschüssen bei.
Das Jahresgutachten des Sachverständigenrates zur
Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Lage betont
im Übrigen ausdrücklich, dass keine Maßnahmen ergriffen werden sollten, die allein darauf abzielen, den deutschen Leistungsbilanzüberschuss zu reduzieren. Vielleicht
lesen Sie sich das auch einmal durch. Sie schreiben - und
Sie sagten es auch gerade -, dass Deutschland gegen das
Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums
der Wirtschaft von 1967 verstößt. Professor Feld, Leiter
des Walter-Eucken-Instituts an der Uni Freiburg, wähnt
hingegen Deutschland so nah am magischen Viereck aus
hoher Beschäftigung, angemessenem Wirtschaftswachstum, stabilem Preisniveau und außenwirtschaftlichem
Gleichgewicht wie noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik. Es handelt sich also wieder einmal um einen Versuch der Geschichtsfälschung durch Sie.
({3})
Sie bemängeln in Ihrem Antrag die zu geringe Binnennachfrage. Wir hatten 2014 einen Bruttolohnzuwachs von 3,2 Prozent und einen Reallohnzuwachs von
1,6 Prozent. Das ist die größte Zunahme seit 2010. Auch
die verfügbaren Einkommen sind erheblich gestiegen.
Die Zahl der Beschäftigten steigt in 2015 voraussichtlich
um 170 000. Damit stehen wir vor einem erneuten Beschäftigungsrekord. 2015 werden 42,8 Millionen Menschen erwerbstätig sein. Das sind so viele wie noch nie
in der Geschichte der Bundesrepublik. Auch darauf können wir stolz sein.
Mehr als 3,5 Millionen Menschen haben seit 2005 einen sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplatz aufgenommen. Deutschland hat im Hinblick auf die Europa2020-Ziele in den Bereichen Beschäftigung, Bildung
und Armutsbekämpfung alle Zielwerte übererfüllt. So
lag die Erwerbstätigenquote für die 20- bis 64-Jährigen
mit 78,1 Prozent in 2004 deutlich über der Zielmarke
von 75 Prozent. Die Zahl der Langzeitarbeitslosen ist
zwischen 2008 und 2012 um 40 Prozent gesunken. Besonders stark stieg dabei der Anteil der Beschäftigung
von ausländischen Mitbürgern. Diese trugen im letzten
Jahr zu annähernd 40 Prozent des Beschäftigungswachstums bei, im Übrigen ganz ohne Einwanderungsgesetz.
Für dieses Jobwunder brauchen wir auch weiterhin einen flexiblen und aufnahmefähigen Arbeitsmarkt. Trotz
der hohen Flexibilität unseres Arbeitsmarktes stieg das
Vertrauen in die Jobsicherheit auf ein Rekordniveau.
91 Prozent der Arbeitnehmer halten ihren Arbeitsplatz
für sicher. Flexibilität und Vertrauen müssen also kein
Gegensatz sein. Mit Ihrem Antrag würden wir all das für
die Menschen in Deutschland Erreichte aufs Spiel setzen. Deshalb lehnen wir ihn ab.
Herzlichen Dank.
({4})
Vielen Dank. - Als nächster Redner hat
Dr. Strengmann-Kuhn von der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Es ist wirklich erschreckend, wie stark die wirtschaftliche Kompetenz der Union in den vergangenen Jahren
gesunken ist.
({0})
Ich habe selten so viel ökonomischen Unsinn in einer
Rede gehört wie gerade eben. Deswegen will ich versuchen, das Problem der außenwirtschaftlichen Ungleichgewichte zu beschreiben.
({1})
In der Tat steht es ja nicht grundlos im Stabilitäts- und
Wachstumsgesetz der damaligen Großen Koalition.
Man muss sich vorstellen, was passiert, wenn man
permanent mehr produziert als konsumiert - das heißt
außenwirtschaftliches Ungleichgewicht -, für eine Firma,
für eine Person oder für einen Landwirt. Es ist ökonomisch nicht gesund, wenn man mehr produziert, als man
selber konsumieren kann. Man scheffelt immer nur mehr
Vermögen, aber das macht nur dann Sinn, wenn man das
Vermögen irgendwann wieder aufbraucht und in Konsum umsetzt. Dauerhafter Überschuss ist ökonomisch
nicht sinnvoll, und er ist nicht gut für eine Volkswirtschaft. Das sollten Sie einsehen.
Der zweite Punkt ist, dass man auch die andere Seite
betrachten muss. Wenn wir einen Überschuss haben,
dann geht es rechnerisch gar nicht anders, als dass es auf
der anderen Seite ein genauso hohes Defizit gibt. Deswegen müssten in der Europäischen Union die Grenzen
für Überschuss und Defizit eigentlich gleich hoch sein,
weil es rein rechnerisch auch das Gleiche ist. Aber mit
dem Rechnen haben Sie offensichtlich Schwierigkeiten.
Weil Vermögen auf der einen Seite immer das Defizit
auf der anderen Seite ist, bedeutet das: Wenn wir hier
Vermögen aufbauen und dafür bei den anderen ein Defizit entsteht, also mehr konsumiert als produziert würde,
dann ist das ein Problem, das Sie auch mit Blick auf
Griechenland kritisieren. Die Menschen in Griechenland
haben über ihre Verhältnisse gelebt, während wir unter
unseren Verhältnissen gelebt haben. Die Folge eines Defizits ist Verschuldung. Unsere Güter werden dadurch
bezahlt, dass anderswo Schulden aufgehäuft werden. Insofern hat Herr Schlecht recht, wenn er sagt, dass dies
eine der Ursachen der Krise ist, in der wir uns im Moment befinden.
Auf diese Problematik haben wir schon des Öfteren in
Anträgen hingewiesen. Ich muss allerdings sagen, dass
ein reiner Fokus auf die Löhne zu einfach ist.
({2})
Die Betrachtung muss hier breiter ausfallen. Es ist sicherlich richtig: Die Ausweitung des Niedriglohnsektors
ist ein Problem. Das war zwar ein Ziel der Agenda 2010.
Aber man muss deutlich sagen: Das war ein Fehler.
({3})
Das ist, wie gesagt, nur eine von mehreren Ursachen.
Im Zusammenhang mit der Agenda 2010 sage ich:
Die Flexibilisierung war durchaus richtig. Viele wichtige
Leute in der Fraktion, etwa der damalige sozialpolitische
Sprecher, der vorne sitzt, haben schon damals einen
Mindestlohn gefordert. Der damalige Umweltminister
hatte parallel zur Einführung der Agenda 2010 einen
Mindestlohn gefordert. Auch unser Parteivorsitzender in
der Zeit der rot-grünen Regierung, Reinhard Bütikofer,
hat damals einen Mindestlohn gefordert. Das wäre eine
notwendige flankierende Maßnahme zur Agenda 2010
gewesen.
Auch bei der Deregulierung sind wir ein Stück zu
weit gegangen. Wir haben in den letzten Jahren viele
Vorschläge vorgelegt, wie man diese Deregulierung
nicht komplett zurückdreht, sondern sie verbessert. Deswegen haben wir sowohl die Einführung des Mindestlohns als auch das Tarifautonomiestärkungsgesetz unterstützt. Das waren beides Forderungen, die wir seit Jahren
erheben.
({4})
Wir sind dabei noch lange nicht am Ende. Wir sind
für die Abschaffung der sachgrundlosen Befristung. Wir
sind für Maßnahmen gegen den Missbrauch von Werkverträgen. Aber am Beispiel Leiharbeit kann man den
Unterschied zwischen uns Grünen und Ihnen von der
Linksfraktion deutlich machen.
Wir halten die Leiharbeit für ein wichtiges Instrument, um den Unternehmen mehr Flexibilität zu ermöglichen. Sie wollen die Leiharbeit abschaffen. Wir wollen
Flexibilität ermöglichen. Gleichzeitig aber müssen Leih10470
arbeiter fair bezahlt werden. Das heißt Equal Pay ab dem
ersten Tag, nicht erst, wie es die Große Koalition vorhat,
nach neun Monaten. Equal Pay muss ab dem ersten Tag
gelten, verbunden mit dem Flexibilitätsbonus. Dann
wäre es ein vernünftiges und flexibles Instrument mit
entsprechender sozialer Sicherheit.
({5})
Es fehlen in Ihrem Antrag ganz viele wichtige Punkte.
Herr Strengmann-Kuhn, lassen Sie eine Zwischenfrage zu?
Ja, gerne.
Bitte.
Herr Kollege Strengmann-Kuhn, Sie haben eben am
Beispiel Leiharbeit den Unterschied zwischen Bündnis 90/Die Grünen und der Linken dargestellt. Ich frage
Sie: Worin bestünde denn der Unterschied zwischen uns,
wenn all das, was Sie als Vorteil bezeichnen, durch sachlich begründete Befristungen möglich wäre? Läge dann
nicht der Unterschied darin, dass diejenigen, die unter einen Tarifvertrag fielen, eine vernünftige, gleiche Bezahlung erhielten?
({0})
Ich möchte jetzt ein Stück weit grundsätzlich werden.
Erinnern wir uns an den Arbeitsmarkt in Deutschland
vor 15 oder 20 Jahren. Dieser Arbeitsmarkt war einer der
am stärksten regulierten Märkte in Europa mit den entsprechenden Problemen. Deswegen war, wie gesagt, die
Flexibilisierung an dieser Stelle richtig. Es war auch vernünftig, verschiedene Möglichkeiten der Flexibilisierung einzuführen. Das gilt auch für Befristungen, die unseres Erachtens begründet werden müssen. Deswegen
fordern wir die Abschaffung der sachgrundlosen Befristung.
Auch die Leiharbeit kann sowohl für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer als auch für die Unternehmen eine gute Wahl sein. Das hängt von der ökonomischen Situation und auch von der Person ab. Es gibt
durchaus Leiharbeitnehmerinnen und -arbeitnehmer, insbesondere besser verdienende - das gebe ich zu -, die es
sehr sinnvoll und auch spannend finden, in verschiedenen Betrieben zu arbeiten. Wie gesagt, diese Tätigkeit
muss dann auch entsprechend bezahlt werden. Weil das
eher eine höhere Qualifikation erfordert, sagen wir, dass
es an dieser Stelle einen Flexibilitätsbonus geben
müsste.
Nun zu den Punkten, die in Ihrem Antrag fehlen. Da
meine Redezeit langsam abläuft, kann ich nur noch
Stichworte nennen.
Wenn wir die Exportüberschüsse abbauen wollen,
dann heißt das nicht, dass wir die Exporte reduzieren
wollen, sondern wir wollen die Importe steigern. Das
heißt, wir brauchen Umverteilung und in der Tat mehr
Nachfrage. Das betrifft aber nicht nur die Löhne, sondern wir müssen insbesondere geringe Einkommen stärken durch bessere Armutsbekämpfung. Wir müssen die
Grundsicherung verbessern, wir müssen den Regelsatz
erhöhen, und wir müssen die Kinderarmut bekämpfen.
Es ist ein Skandal, dass Kinder bei uns immer noch ein
Armutsrisiko sind. Wir müssen dafür sorgen, dass sowohl abhängig Beschäftigte als auch Selbstständige von
ihrer Arbeit leben können. Das sind Punkte, die neben
der Lohnarbeit bewirken, dass durch sie die Nachfrage
steigen würde.
Wir müssen auf der anderen Seite auch eine Umverteilung am oberen Ende der Skala betrachten. Wir müssen vor allen Dingen hohe Vermögen stärker besteuern.
Was in Ihrem Antrag komplett fehlt, ist die europäische
Ebene. Darüber könnte ich weitere fünf bis zehn Minuten reden. Wir brauchen eine europäische Koordinierung
der Wirtschafts- und Lohnpolitik. Das Europäische Semester und die Punkte, die darin schon enthalten sind
und noch verbessert werden könnten, fehlen in Ihrem
Antrag komplett. Darüber könnte man noch lange reden.
Wenn man dies zusammenfasst, dann würde ich sagen: Die Probleme sind durchaus richtig beschrieben,
die Forderungen in Ihrem Antrag sind aber völlig platt.
Teilweise wird das Kind mit dem Bade ausgeschüttet.
Herr Strengmann-Kuhn, Sie müssen zum Schluss
kommen.
Zentrale Punkte fehlen. So wird das noch nichts mit
der Regierungsfähigkeit, aber das kommt vielleicht
noch.
({0})
Vielen Dank. - Als nächster Redner hat Dr. HansJoachim Schabedoth von der SPD-Fraktion das Wort.
({0})
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Stellen Sie sich einmal folgende
Szene vor: Das Kind kommt mit dem Stolz aus der
Schule heim, die beste Klassenarbeit geschrieben zu haben, doch die Eltern wollen diesen Stolz nicht teilen. Sie
beklagen auch noch, das eigene Kind habe durch seine
Spitzenleistung die Messlatte für die Arbeitsleistung aller anderen nach oben verschoben.
Nach der Lektüre des vorliegenden Antrags der
Linkspartei frage ich mich: Hatten Sie solche Eltern?
({0})
- Trotzdem, damit müssen Sie fertigwerden. - Ihre
Sorge finde ich schon ein wenig verwunderlich. Warum
sind es ausgerechnet die Exporterfolge der deutschen
Wirtschaft, die Sie heute zum Anlass nehmen, um Ihre
im Parlamentswochenrhythmus übliche Alarmismussirene erschrillen zu lassen? Was stört Sie an den deutschen Exporterfolgen? Sie behaupten, diese Exportüberschüsse seien maßgeblich auf das Lohndumping in
Deutschland zurückzuführen. Das ist nicht nur ein
schlechtes Argument, das ist ein sehr schlechtes Argument. Das kann man nicht ernst nehmen, und Sie werden
sich schon fragen lassen müssen, ob Sie noch recht bei
Trost sind, wenn Sie mit abgebauten Exportüberschüssen eine Wende in der Lohnpolitik einleiten wollen.
({1})
Eine solche Wende gäbe es tatsächlich, und zwar Richtung Südpol.
({2})
Die deutsche Wettbewerbsfähigkeit beruht keineswegs auf Lohndumping. Wer das sagt, der erzählt Unsinn. Gerade die Arbeitskosten in der Exportindustrie
liegen in der Spitzengruppe. Die Löhne tun dies auch.
Die deutschen Exporterfolge erklären sich durch die Fähigkeit, im Qualitätswettbewerb mit den Konkurrenten
besser zu sein.
({3})
Spezialisierte Kundenwünsche können passgenauer erfüllt werden. Im globalen Innovationswettbewerb verfügt die deutsche Wirtschaft über eine fast einmalige
Basis an gut ausgebildeten Fachkräften. Wir haben in
Deutschland eine breit aufgestellte, mittelständisch geprägte Produktionsbasis, die im internationalen Wettbewerb ihre Innovationsführerschaft und ihre Einzigartigkeit bislang noch - ich komme noch darauf zurück behaupten konnte.
({4})
Deshalb werden gerade in der deutschen exportorientierten Industrie Spitzeneinkommen gezahlt, die sich auch
im europäischen Vergleich sehen lassen können. Wieso
reden Sie hier von Billiglöhnen? Von Billiglöhnen zu
sprechen, ist wirklich dummes Zeug, oder - wenn Sie es
höflicher haben wollen - kontrafaktisch.
Ich kann den Antragstellern nur in einem Punkt folgen. Es wäre in der Tat keine gute Situation, wenn sich
der Wohlstand eines Landes auf Dauer nur auf seine
Exporterfolge stützen würde. Stabiles Wachstum und
nachhaltige Sicherung des sozialen Fortschritts sowie
der ökonomischen und ökologischen Erfolge kann es
ohne eine Vitalisierung der Binnennachfrage und hinreichende Investitionen in die soziale und die industrielle
Infrastruktur nicht geben. Das ist relativ unstrittig. Der
Antrag der Linksfraktion liefert dazu keine Offenbarung,
sondern strapaziert eine Binsenweisheit, die zudem mit
mangelhaften Schlussfolgerungen behaftet ist. Sie bieten
uns nichts, was uns in der Sache weiterhelfen könnte. Sie
können doch nicht wirklich erwarten, dass deutsche
Politiker dazu aufrufen: Völker dieser Welt, kauft weniger Güter aus deutscher Produktion und deutsche Dienstleistungen, damit unsere Handelsbilanz wieder in Ordnung kommt.
({5})
Sollen wir denn dem deutschen Konsumenten wirklich
empfehlen, statt Autos aus der inländischen Produktion
lieber die Wagen aus China, Indien oder Griechenland zu
kaufen?
Wenn sich die deutschen Exporterlöse vermindern,
weil beispielsweise die Sanktionen gegen Russland greifen, dann mag das noch in Ihr falsches Konzept passen;
denn auch das verändert die Handelsbilanz. Aber was Ihr
Votum zur Steigerung der Binnennachfrage betrifft, hätten Sie Ihre Argumente aus schwarz-gelben Regierungszeiten besser den Realitäten von heute angepasst.
Herr Schabedoth, lassen Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Ernst zu? - Ich will in diesem Zusammenhang
nur darauf hinweisen, dass nach jetzigem Stand die Debattenzeit bis 23 Uhr dauert. Ich bitte, das ein bisschen
im Blick zu haben, wenn es um die Entscheidung geht,
ob eine Zwischenfrage gestellt werden soll oder nicht.
Ich glaube, es wäre nicht gut, wenn wir hier um 23 Uhr
mit nur noch vier oder fünf Kollegen sitzen würden. Ich
bitte, das ein bisschen im Blick zu haben.
Bei meiner Debattenzeit liege ich bei fünf Minuten.
Ich will die mir verbleibenden sechs Minuten nicht ganz
ausschöpfen.
Dann lassen Sie es.
Aber vielleicht provoziert mich Herr Ernst dazu,
meine gesamte verbleibende Redezeit in Anspruch zu
nehmen.
Herr Ernst.
Lieber Achim, da wir uns 30 Jahre kennen, bleibe ich
beim Du. Vorhin wurde das Stabilitätsgesetz erwähnt.
Dieses Gesetz wurde damals nicht von den Linken im
Bundestag beschlossen - wir waren damals gar nicht da10472
bei -, sondern von den Sozialdemokraten und der CDU/
CSU einschließlich Herrn Strauß, die offensichtlich in
Kenntnis dessen, was ökonomische Ungleichgewichte
weltweit und für das jeweilige Land bedeuten, zu dem
Ergebnis gekommen sind: Es ist Ziel staatlicher Wirtschaftspolitik, ausgeglichene Handelsbilanzen zu erreichen. - So steht es in diesem Gesetz. Waren all diejenigen, die das Gesetz beschlossen haben, nach deiner
Ansicht Trottel? Genau das schließe ich aus deinem Diskussionsbeitrag.
Dass in der Exportindustrie die höchsten Löhne gezahlt werden, ist sicherlich unstrittig; so schlau sind wir
auch. Aber die Lohnentwicklung in der Bundesrepublik
Deutschland hat nach 14 Jahren Stagnation letztendlich
dazu beigetragen, dass die Binnennachfrage so gering
war, dass wir weniger im Ausland kaufen konnten und
die Defizite der anderen Länder verursacht haben. Ein
außenhandelswirtschaftliches Gleichgewicht bedeutet
doch, dass man so viel importiert, wie man exportiert;
das gilt auch für die Leistungsbilanz. Genau das findet in
der Bundesrepublik Deutschland nicht statt. Angesichts
dessen könnte man zu dem Ergebnis kommen - genau
das hat der Kollege Schlecht angesprochen -, dass wir
unsere Importe durch eine entsprechende Lohnpolitik so
weit befördern müssen, dass wir wieder zu einem wirtschaftlichen Gleichgewicht kommen. Oder bist du der
Auffassung, dass dieses Ziel im Stabilitätsgesetz über
Bord geworfen werden muss? Dann würde ich die Regierung aber bitten, ein entsprechendes Gesetz einzubringen; denn noch gilt das Stabilitätsgesetz.
({0})
Kollege Ernst, das Stabilitätsgesetz enthält mehrere
Komponenten. Dort steht unter anderem, dass die staatliche Politik Sorge tragen muss, dass Vollbeschäftigung
({0})
und eine auskömmliche Preisstabilität herrschen. Das alles muss man miteinander verbinden. Das macht die
Kunst des Regierens aus. Dass man bei einem Parameter
unter der Zielmarke liegt und bei einem anderen Parameter darüber, ergibt sich aus der Dynamik des sogenannten magischen Vierecks. Ausgerechnet Sie thematisieren
zwar die Leistungsüberschüsse, nicht aber die Tatsache,
dass es noch immer 2 Millionen Arbeitslose gibt. Das
verwundert mich; denn unsere Leistungen auf dem Arbeitsmarkt hängen auch damit zusammen, dass die Waren, die wir produzieren, internationale Wertschätzung
erfahren. So werden die Kapazitäten der deutschen Wirtschaft ausgelastet und Arbeitsplätze in unserem Land gesichert. - Wenn Sie sich wieder hinsetzen, kann ich noch
weitere Ausführungen dazu machen. Ich habe noch vier
Minuten Redezeit.
Kollege Ernst und alle, die zuhören: Starke Gewerkschaften und einsichtsvolle Arbeitgeber haben mit ihren
letzten Lohnabschlüssen der Binnenkonjunktur erheblichen Auftrieb verschafft. Das kann man doch wohl sagen. Das relativ stabile Preisniveau hat die Masseneinkommen noch nachfragewirksamer gemacht. Man mag
es für ökologisch bedenklich halten, aber die gesenkten
Ausgaben für unsere Importe von Erdöl haben die Binnennachfrage zusätzlich belebt, aber die Bilanz verschlechtert.
Nicht zuletzt hat der von uns realisierte Mindestlohn
Millionen Menschen in diesem Jahr die größte Einkommensverbesserung ihres bisherigen Berufslebens gebracht. Was das millionenfach für den Binnenmarkt bedeutet, dazu will ich nicht wiederholen, was von
sozialdemokratischer Seite schon bei vielen anderen Debattenanlässen gesagt worden ist.
Aber noch ein Wort zur Belebung der öffentlichen Investitionstätigkeit. Auch in dieser Beziehung gilt eigentlich nie: Genug ist genug. Man kann immer noch mehr
tun. Aber was schon getan worden ist, ist mehr als nichts
und kann sich jedenfalls sehen lassen. Kritik scheint mir
hier nur ratsam, wenn es nach dem Muster geht: Das
noch Bessere ist stets der Feind des schon Guten. Das
gilt im Übrigen auch für die Einkommen der abhängig
Beschäftigten. Sie verdienen wirklich jeden Euro mehr.
Aber - das ist meine Mahnung an die Linkspartei - überlassen wir es doch weiterhin den Tarifvertragsparteien,
dazu das richtige Maß von Branche zu Branche zu finden.
({1})
Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber ich vertraue hier
den Tarifvertragspartnern und ihrer Regulierungskompetenz mehr als jeder Beschlussvorlage der Linkspartei.
({2})
Was an rechtlichen Rahmensetzungen notwendig ist,
um die Tarifbindung zu sichern, das werden wir immer
wieder gerne, auch ohne Ihre Mahnung, auf die Höhe der
Zeit bringen. Vergessen Sie nicht: Jedes Mehr an Einkommen muss irgendwann einmal verdient oder umverteilt werden - das ist alles nicht so einfach -, bevor es
nachfragewirksam werden kann und vielleicht auch
- auch das ist kein Gesetz - importstimulierend zur Geltung kommen könnte.
Der vorliegende Antrag und seine Begründung ignorieren, dass über deutsche Wettbewerbsfähigkeit und
Arbeitsplatzsicherheit nicht im Kosten-, sondern im
Qualitätswettbewerb entschieden wird. Jeder deutsche
Exportverlust schlägt in der europäisch verflochtenen
Wirtschaft auf die europäischen Partner zurück. Die
Wende in der Lohnpolitik ließe sich dann wohl noch
schwerer realisieren.
Die eigentlichen Gefahren für den deutschen und europäischen Wohlstand sowie für außenwirtschaftliche
Stabilität verkennen Sie. Die liegen darin, dass wir geopolitische Unsicherheiten haben. Das Welthandelsvolumen ist schon seit Anfang dieses Jahres reduziert. Die
Bremsspuren merken Sie auch beim deutschen Export.
Das ist keine gute Entwicklung. Die von Ihnen so vehement kritisierte aktuelle Exportstärke ergibt sich nie im
Selbstlauf.
Dazu will ich noch einen Gedanken äußern. Die einzigartige deutsche Wertschöpfungskette zwischen traditionsreichen und zugleich modernen, wissensbasierten
Industrien könnte zerreißen. Statt uns über aktuelle Exporterfolge aufzuregen, sollten wir doch lieber gemeinsam darüber nachdenken, wie wir durch das staatliche
Engagement, am besten in europäischen Absprachen, die
deutsche Leistungsfähigkeit bei der Energiewende ausbauen und besser nutzen können.
Es stellt sich auch die Frage: Was muss heute getan
werden, um die ökologische und soziale Nachhaltigkeit
der industriellen Produktion zu fördern und zu verbessern? Wirtschaftsminister Gabriel muss man dabei nicht
zum Jagen tragen. Das wäre auch etwas schwer.
({3})
Er hat zusammen mit den Industriegewerkschaften und
den Wirtschaftsverbänden ein Bündnis für Industrie ins
Leben gerufen. Ziel dieses Bündnisses ist es, die Wandlungsprozesse der modernen Arbeitswelt so zu fördern
und zu gestalten, dass gutes Arbeiten und gutes Leben
ein festes Fundament finden, statt zu erodieren. Allen
Akteuren ist dabei hoffentlich vor Augen, dass das auch
mehr Teilhabe der abhängig Beschäftigten an den Entscheidungsprozessen und an den Produktionsergebnissen bedeutet.
Noch hat die deutsche Industrie beste Voraussetzungen, den Klimawandel zu bewältigen, Energie- und Ressourceneffizienz zu steigern, moderne Übertragungsnetze und Infrastrukturen aufzubauen und die gesamte
Industriestruktur ökologisch und zukunftstauglich zu
machen. Noch ist die deutsche Industrie in der Poleposition bei der Nutzung der Chancen, die uns mit der weiteren Digitalisierung bei der Produktion von Gütern und
Dienstleistungen ins Haus stehen. Die aufgelaufenen Investitionsdefizite, die wir alle miteinander zu Recht beklagen, könnten durch nachholendes Engagement noch
ausgeglichen werden.
Das Ziel, bei der Elektromobilität Antreiber statt Getriebener zu sein, ist immer noch erreichbar - noch. Wer
die Arbeitsplätze von morgen sichern will, wer ökonomische mit sozialen und ökologischen Fortschritten verbinden will, der sollte besser nicht über die Exporterfolge der deutschen Wirtschaft jammern. Stattdessen
sollten wir alles tun, um unsere wirtschaftliche Leistungsfähigkeit zu erhalten,
({4})
und das nicht nur, um tatsächlich eine Wende in der
Lohnpolitik zu ermöglichen, sondern auch, um die europäische Wirtschaft zu stärken - das hängt auch damit zusammen - und in der globalen Wirtschaft als sozial verantwortlicher Akteur gefragt und geschätzt zu bleiben.
Diese Chance haben wir.
({5})
Vielen Dank. - Als letzter Redner in dieser Debatte
hat Andreas Lämmel von der CDU/CSU-Fraktion das
Wort.
({0})
Na ja, Herr Schlecht, zumindest habe ich noch keinen
Kontakt zur Staatlichen Plankommission gehabt, wo Sie
Ihren Vortrag vielleicht hätten halten können. - Frau
Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren!
Der Kollege Schabedoth hat es eigentlich schon deutlich
gemacht: Deutschland ist wieder Exportweltmeister. Das
ist eine Leistung, auf die wir stolz sein können. Das ist
eine Leistung der deutschen Wirtschaft. Daran gibt es
erst einmal überhaupt nichts schlechtzureden.
({0})
Man darf nicht vergessen: 25 Prozent aller Arbeitsplätze in Deutschland hängen vom Export ab, Herr
Schlecht. Wenn Sie den Export jetzt sozusagen künstlich
zurückschrauben wollen, dann müssen Sie eben auch
den Arbeitnehmern klarmachen, dass ein paar weniger
von ihnen die Möglichkeit haben, arbeiten zu gehen,
weswegen sie zu Empfängern staatlicher Transferleistungen werden. Es ist eine widersinnige Rechnung, die
Sie hier aufmachen.
340 000 Unternehmen in Deutschland exportieren.
Circa 680 000 Unternehmen in Deutschland importieren.
Man kann sehen: Das Exportgeschäft umfasst nicht bloß
zehn große Konzerne, sondern ist ein Qualitätsmerkmal
der breit aufgestellten deutschen Wirtschaft. Die Exportquote unserer Produkte liegt bei ungefähr 40 Prozent.
Das heißt, 60 Prozent der bei uns hergestellten Produkte
werden im Inland verbraucht, 40 Prozent gehen ins Ausland.
Meine Damen und Herren, trotz dieser Exportstärke
und obwohl wir wieder Exportweltmeister sind, muss
man konstatieren: Der Anteil des deutschen Exports am
Welthandel ist rückläufig. Unser Anteil am Welthandel
liegt bei 7,8 Prozent, also bei knapp 8 Prozent. Das waren einmal über 11 Prozent, und zwar 1991. Das ist also
noch keine 25 Jahre her.
({1})
Man kann sehen: Das Handelsvolumen in der Welt insgesamt dehnt sich immer mehr aus. Obwohl wir Exportweltmeister sind, geht unser Anteil am Welthandel insgesamt zurück.
Das Hauptproblem aus meiner Sicht ist eigentlich die
Statistik. Wie wird die Statistik denn aufgestellt? Darauf
sind Sie überhaupt nicht eingegangen, obwohl Sie meinen, Sie seien Wirtschaftswissenschaftler, Herr Schlecht.
Sie wissen natürlich genau, dass die alte Exportstatistik
eine Statistik ist, die man vielleicht vor 40 Jahren erfun10474
den hat, als man die Prozesse noch relativ genau beschreiben konnte. Heute gibt es verschiedene Effekte,
die in diese Statistik bisher überhaupt nicht eingegangen
sind.
Das ist zum einen der Globalisierungseffekt. Ich will
es einmal an dem sogenannten Veredelungseffekt deutlich machen. Deutschland kauft weltweit Rohstoffe, weil
es, wie Ihnen vielleicht bekannt ist, ein relativ rohstoffarmes Land ist. Wir machen daraus Produkte, veredeln
diese Rohstoffe sozusagen und verkaufen natürlich zu
einem Preis, der höher ist als der, zu dem die Rohstoffe
eingekauft worden sind; denn diese Produkte sind ein
Ergebnis unserer gesamten Wertschöpfung. Schon gibt
es im Prinzip einen Exportüberschuss. So einfach ist die
Rechnung.
Ich komme auf den sogenannten Intra-Firm Trade zu
sprechen. Dabei geht es um die Verrechnung von Leistungen innerhalb von Konzernen. Das wird ja am Beispiel der Flugzeug- oder der Automobilindustrie ganz
besonders deutlich. Da werden im Prinzip innerhalb des
Konzerns Teile mehrmals über die Grenzen geschickt, in
verschiedenen Verarbeitungszuständen, in verschiedenen vormontierten Einheiten. Jedes Mal sind das Leistungen, die in die Exportstatistik eingehen.
Der Witz an der ganzen Sache ist dann - das ist die
Grundlage für die statistische Berechnung -, dass in dem
Land, wo der letzte wesentliche Bearbeitungsgang erfolgte, das Produkt zu 100 Prozent in die Statistik eingeht. In der Automobilproduktion geht sozusagen jedes
Fahrzeug, das beispielsweise in Wolfsburg fertiggestellt
wird - dabei ist es ganz egal, ob die Plattform aus Bratislava geliefert wird, ob die Teile aus Mladá Boleslav oder
aus Spanien kommen -, letztendlich bei uns in die Statistik ein. Schon allein an dieser Behandlung der Austauschprozesse zwischen den einzelnen Ländern können
Sie sehen, dass die Statistik in Wirklichkeit nur noch in
Teilen aussagekräftig ist.
({2})
Wenn Sie einmal weitergeschaut hätten, Herr Schlecht,
dann hätten auch Sie das festgestellt. Aber es geht Ihnen
ja nicht darum, eine sachliche Aufklärung zu betreiben,
sondern darum, Ihre Parolen zu verkaufen. Das hat Herr
Schabedoth eins a seziert. Daran konnte selbst Herr
Ernst mit seiner langen Frage nichts mehr ändern.
Handel führt insgesamt - es gilt ja, wie Sie wissen: ist
der Handel noch so klein, bringt er immer etwas ein - zu
steigendem Wohlstand in der Welt; das müssen wir erst
einmal festhalten. Deswegen sind wir natürlich auch
stark an weltweitem freien Handel interessiert.
Nun sagen Sie: Der Exportüberschuss ist maßgeblich
auf Lohndumping zurückzuführen. Herr Schabedoth hat
schon ausführlich darauf geantwortet. Ich will Ihnen einmal sagen: 53 Prozent der Überschüsse in der Exportstatistik entfallen auf fünf Länder. Welche sind das? Der
größte Exportüberschuss wird gegenüber der USA erwirtschaftet - eines der ärmsten Länder der Welt; die
werden an den Krediten, die sie uns da geben müssen,
fast pleitegehen. Dann kommen an zweiter Stelle das
Vereinigte Königreich, an dritter Stelle Frankreich und
an vierter Stelle Österreich. Die Vereinigten Arabischen
Emirate sind das Land mit dem fünfgrößten Exportdefizit gegenüber Deutschland. Die Länder, die Sie uns einreden wollen - Griechenland, Spanien und Portugal -,
fallen in der Exportstatistik überhaupt nicht ins Gewicht,
weil deren Handelsvolumen so gering ist. Weil die griechische Wirtschaft so schwach ist, exportiert sie kaum.
Das ist doch ein Grund, warum in Griechenland der
Staatsbankrott vor der Tür steht. Wenn man sich mehr
leistet, als erwirtschaftet werden kann, dann kann man
das nur über Kredite finanzieren, aber nur so lange, wie
ihnen noch jemand etwas gibt. Insofern steht auch diese
Argumentation auf völlig wackligen Beinen.
Dann steht in Ihrem Antrag: „Es besteht dringender
Handlungsbedarf, die Überschüsse … zu reduzieren.“
Da kommen wir dann wieder auf die DDR. Das heißt
also, Sie wollen Quoten verordnen. Sie sagen dann den
340 000 exportierenden Betrieben: Ihr baut jetzt 10 Prozent der Beschäftigten ab; denn ihr müsst euren Export
um 10 Prozent reduzieren. - Das ist doch die Logik, die
aus Ihrem Antrag resultiert. Das ist so absurd, dass man
nur sagen kann: Dass wir diese Anträge hier nun zum
wiederholten Mal diskutieren müssen, ist eigentlich vertane Zeit.
Vielleicht ist Ihnen eines in der Exportstatistik auch
nicht aufgefallen: Wenn Sie sich die genau anschauen,
dann werden Sie feststellen, dass der Überschuss zum
Beispiel schon deswegen stark schwankt, weil den größten Posten in der Importstatistik Deutschlands die Energieimporte ausmachen, also Gas und Öl. Und mit jeder
Preisänderung, ohne dass sich da ganz grundsätzlich etwas ändert, ändert sich zum Beispiel der importierte
Wert und der Überschuss wird größer oder kleiner. Insofern ist dieser Antrag überflüssig,
({3})
und wir brauchen, Herr Schlecht, das auch nicht zum
fünften Mal zu diskutieren.
Ich glaube, wir sind uns hier in der Koalition einig
- Herr Schabedoth hat es noch einmal deutlich gemacht -:
Wir sind stolz darauf, was in Deutschland geleistet wird,
und wir werden alles tun, damit diese Exportkraft erhalten bleibt.
Vielen Dank.
({4})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, damit schließe ich
die Debatte.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/4837 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall, und die Überweisung ist
so beschlossen.
Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung und Landwirtschaft ({0})
- zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU
und SPD
Gesunde Ernährung stärken - Lebensmittel wertschätzen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Karin
Binder, Caren Lay, Dr. Dietmar Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Gute Lebensmittel für eine gesunde Ernährung
- zu dem Antrag der Abgeordneten Nicole
Maisch, Friedrich Ostendorff, Harald Ebner,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Gute Ernährung für alle
Drucksachen 18/3726, 18/3730, 18/3733,
18/5008
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. Gibt es dazu
Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das so
beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin in der
Aussprache hat die Kollegin Katharina Landgraf von der
CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({1})
Warten Sie bitte noch einen Moment, bis alle Kolleginnen und Kollegen Platz genommen haben und Ruhe
eingekehrt ist. - Bitte, Frau Landgraf.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer auf den
Tribünen! Mit Genehmigung der Präsidentin darf ich besonders die Zuhörer aus meinem Wahlkreis begrüßen. Es
passiert mir zum ersten Mal, dass Besucher aus meinem
Wahlkreis bei einer Rede von mir anwesend sind. Also
schön, dass ihr da seid!
({0})
Jetzt zum Thema: Grundsätzliche und umfangreiche
Erläuterungen zu dem Debattenthema „gesunde Ernährung“ will ich uns hier ersparen; denn wir haben in diesem Hohen Hause schon mehr als genug darüber diskutiert und auch gestritten.
Wir beschließen heute über den Antrag der Koalitionsfraktionen, dem durchaus alle Abgeordneten zustimmen könnten. Denn wir alle wollen - das will jeder
auf seine Weise und aus seinem Blickwinkel -, dass stärker auf gesunde Ernährung geachtet und der Wert der
Lebensmittel mehr geschätzt wird. Nur der Weg dorthin
wird unterschiedlich interpretiert und dementsprechend
grundverschieden gestaltet.
Meine Damen und Herren, wir als Union wollen das
Ziel ganz gewiss nicht auf einer Woge neuer Paragrafen
und Verbote erreichen. Verbote sind nicht hilfreich, weder für die Produzenten noch für die Verbraucherinnen
und Verbraucher.
({1})
Denn wir alle wissen: Verbote provozieren nur die Kreativität, sie zu umgehen. Außerdem ist Ernährung doch
für jeden einzelnen Menschen eine Existenzfrage. Es ist
seine persönliche Angelegenheit, die er mit seinem eigenen Verstand erfassen und bewältigen muss. Das gilt
auch für die Genussfrage: Es ist gut, wenn man weiß,
wie viel man sich gönnen kann, um zum Beispiel auch
einmal ohne Reue etwas Süßes zu genießen. Jeder Einzelne sollte also motiviert werden, für sich und seinen
Körper das Beste zu tun, und sollte frei entscheiden können, was das ist. Das ist also eine Sache des Bewusstseins und des Wissens. Hier liegt der Handlungsansatz
für die Politik. Wir wollen, dass die Bürger freie Entscheidungen für eine gesunde Lebensweise treffen.
({2})
Dazu brauchen wir in unserem Land eine ganz bestimmte Atmosphäre und gesellschaftliche Leitbilder für
eine bewusste Lebensführung; denn der Zusammenhang
zwischen falscher Ernährung und der Entstehung ernährungsbedingter Krankheiten muss jedem klar sein - in
der Öffentlichkeit und besonders auch an den Stammtischen in unserem Land. Diese Kausalität kann in einer
großen Vielfalt und allgemeinverständlich in den Medien sowie in Bildung und Erziehung - meinetwegen
auch gebetsmühlenartig - dargestellt werden.
Dahinter steht nicht nur ein zutiefst humanitäres Anliegen. Es geht dabei auch um klare, berechenbare Fakten, nämlich um die Kosten, die durch ernährungsbedingte Krankheiten entstehen. Diese Kosten sind ein
Problem und ein Thema für die gesamte Solidargemeinschaft. Da kann sich niemand wegducken und nichts davon wissen wollen. Wir sprechen da alle an: die Unternehmen der Ernährungswirtschaft insgesamt und jeden
Einzelnen, der für sich und andere Verantwortung trägt.
Den Krankenkassen wie auch dem gesamten medizinischen und gesundheitlichen Bereich spreche ich da ohnehin ganz bestimmt aus der Seele.
Als Landwirtschaftspolitikerin werbe ich für eine
nachhaltigere und effizientere Partnerschaft mit der Gesundheitspolitik.
({3})
Da gibt es ja schon vielfältige Kooperationen, zum Beispiel die Strategien der Initiative IN FORM, deren Umsetzung in Arbeitsteilung zwischen dem Landwirtschaftsministerium und dem Gesundheitsministerium
realisiert wird. Da laufen zurzeit verschiedene Projekte
in entsprechenden Projektphasen. Hier brauchen wir
eine Verstetigung, die wir möglicherweise mit einer ent10476
sprechenden Umsetzung des neuen Präventionsgesetzes
erreichen können. Ich hoffe, die beiden Staatssekretärinnen haben zugehört. Es handelt sich übrigens um zwei
Staatssekretärinnen aus dem Gesundheitsministerium;
das möchte ich meinen Besuchern noch sagen.
({4})
Wir brauchen dazu eine permanente Finanzierung der
generationsübergreifenden Aufklärungs- und Bildungsarbeit, die dafür notwendig ist. So etwas erwarten alle
Partner, die hier aktiv sind. Und deren Zahl ist groß.
Eine wichtige Rolle sollte aus meiner Sicht die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung spielen, beispielsweise in der Partnerschaft mit der Bundesanstalt
für Landwirtschaft und Ernährung. Und: Wir sollten bereits jetzt überlegen, in welcher Weise die seit 2008 laufende nationale Strategie zur gesunden Ernährung nach
2017 zu einem gesamtgesellschaftlich getragenen Prozess umgestaltet werden kann.
Wir haben mit diesem Antrag einen Kompass, der den
Weg zum Ziel klar aufzeigt. Wir fangen nicht bei null an.
Wir haben in den Ministerien weit geöffnete Tore für unser gemeinsames Anliegen, die gesunde Ernährung zu
stärken und die Lebensmittel mehr wertzuschätzen. Bei
der Wertschätzung der Lebensmittel sind wir schon
lange auf einem guten Weg, zum Beispiel mit der Aktion
„Zu gut für die Tonne“ - übrigens die meistgenutzte App
der Bundesregierung.
({5})
Stimmen Sie also, verehrte Kolleginnen und Kollegen, dem Antrag der Koalitionsfraktionen zu.
Vielen Dank.
({6})
Vielen Dank. - Liebe Kolleginnen und Kollegen, als
nächste Rednerin hat die Kollegin Karin Binder von der
Fraktion Die Linke das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren auf den
Tribünen! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Über die
Hälfte der Erwachsenen und jedes siebte Kind in
Deutschland sind übergewichtig. Ein knappes Viertel der
Erwachsenen und 6 Prozent der Kinder sind sogar von
Fettleibigkeit betroffen. Das erkläre ich hier nicht zum
ersten Mal. Das sind die Folgen von zu viel Zucker, Fett
und Salz, den Lockmitteln der modernen Lebensmittelindustrie. Das Ergebnis sind dicke Profite und dicke
Menschen statt gesunde Ernährung. Und das Übergewichtsproblem nimmt unaufhaltsam zu. Damit nehmen
auch Krankheitsbilder wie Diabetes Typ 2, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, aber auch soziale Ausgrenzung und
psychische Belastungen zu. Ernährungsbedingte Krankheiten kosten das Gesundheitssystem in Deutschland
bald 25 bis 30 Milliarden Euro im Jahr.
Wir müssen also feststellen: Die hochgepriesenen
Maßnahmen der Bundesregierung blieben bisher völlig
wirkungslos. Meine Damen und Herren, mit Broschüren
und Informationskampagnen werden wir Übergewicht
nicht bekämpfen.
({0})
Herr Minister Schmidt, nehmen Sie das Problem endlich
ernst. Statt wirksame Maßnahmen durchzusetzen, lädt
die Bundesregierung die Schuld bei den Verbraucherinnen und Verbrauchern ab. Man müsse sich nur richtig ernähren und mehr bewegen, so die Haltung im Hause
Schmidt.
Die Wirklichkeit aber sieht so aus: fröhlich bunte
Frühstücksflocken, die zur Hälfte aus Zucker und Fett
bestehen; Kinderfruchtjoghurt, der mehr Zucker enthält
als eine Limonade, dafür aber gänzlich frei von Früchten
ist; für Zwischenmahlzeiten werben Promis für Süßes
und Salziges; im Sportverein fördern Softdrink-Hersteller das nächste Jugendturnier. Für Kinder ist es schwer,
sich diesen ständigen Verlockungen zu entziehen. Die
Schulkantine bietet leider viel zu oft verkochtes Gemüse, Nudelpampe und lauwarme Kartoffeln und - wie
Anfang der Woche bei einer Wallraff-Reportage aufgedeckt wurde - verschimmeltes Obst und Gammelfleisch.
Dass nach dem Kantinenfrust jede Werbung für Süßes
und Fettes verfängt, ist kein Wunder.
Kinder stehen auch nicht ohne Grund im Mittelpunkt
der Marketingstrategen. Die am Küchentisch der Eltern
erlernten Essgewohnheiten behalten wir oft unser Leben
lang. Das überträgt sich auf die Auswahl von Produkten
und Marken. Deshalb wird heute auch das Essen in der
Familie massiv durch Werbebotschaften beeinflusst.
Auch wenn die Kinder schon im Bett sind, werden Eltern, Großeltern und ältere Geschwister weiter bearbeitet, den Kleinen doch mal „was Gutes“ zu gönnen. Damit muss Schluss sein!
({1})
Wir müssen Kinder vor Werbung für dickmachende Produkte schützen.
Die Ernährung hat bei Minderjährigen enormen Einfluss auf deren Wachstum und ihre geistige Entwicklung.
Ausgewogene Ernährung und gesundes Essverhalten
spiegeln sich in besseren Schulnoten und besserem sozialem Verhalten wider. Übergewichtige Kinder fallen
beim Sport zurück und werden nicht selten gehänselt
und ausgegrenzt. Wenn Spitzensportler für Schokocreme
und Chips werben, wird Kindern nicht klar, dass ihre
Idole falsche Vorbilder sind,
({2})
da sie einen doppelt so hohen Kalorienbedarf haben wie
ihre kleinen Fans.
Wir dürfen der Zunahme des Übergewichtsproblems
gerade bei Kindern nicht tatenlos zusehen. Die Politik
hat die Pflicht, einen guten Start ins Leben durch geKarin Binder
sunde Ernährung zu ermöglichen. Dazu muss aber auch
die Ernährungswirtschaft in die Schranken verwiesen
werden.
({3})
Die Ernährungswirtschaft und die Lebensmittelindustrie
reden das Problem klein. In einem Brief der Zuckerindustrie wurden wir Abgeordnete jüngst darüber belehrt,
warum die Verwendung von weniger Zucker in Lebensmitteln Augenwischerei sei. Zucker würde dann meist
nur durch andere Kohlenhydrate wie Stärke oder Mehl
ersetzt, und damit bliebe die Kalorienzahl doch fast
gleich. Ja, danke! Meine Damen und Herren, da werde
ich langsam sauer.
Die Linke fordert deshalb: Lebensmittelwerbung, die
sich an Kinder und Jugendliche richtet, ist zumindest
konsequent einzuschränken. Die Finanzierung einer
hochwertigen und flächendeckenden Kita- und Schulverpflegung muss durch den Bund sichergestellt werden.
({4})
Verbindliche Qualitätsstandards für Gemeinschaftsverpflegung müssen definiert werden. Wir fordern, dass die
Nährwertampel eingeführt wird, um verbraucherfreundliche und vergleichbare Lebensmittelinformationen hinsichtlich einer gesundheitsorientierten Ernährung zu ermöglichen.
({5})
Und wir müssen die Einflussnahme der Lebensmittelindustrie auf Erziehungs- und Bildungsinhalte unterbinden.
({6})
Das gilt auch für Projekte der Bundesregierung, zum
Beispiel für die Plattform Ernährung und Bewegung,
peb, bei der die Lebensmittelindustrie am Tisch sitzt und
ihre Ansagen macht.
Wir sagen: Am Küchentisch, im Klassenzimmer und
im Sportverein müssen Eltern, Lehrer und Trainer das
Sagen haben und nicht die Lobbyisten.
({7})
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({8})
Vielen Dank. - Damit hat jetzt die nächste Rednerin
das Wort: Jeannine Pflugradt von der SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Frau
Landgraf, ich bin der Meinung, wir können hier gar nicht
oft genug über gesunde Ernährung reden. Wir unterscheiden uns vielleicht in diesem einen Punkt; aber das
ist gar nicht schlimm.
({0})
Jedes sechste Kind zwischen sieben und zehn Jahren
gilt in Deutschland als übergewichtig. Das Ernährungsverhalten der Kinder erscheint unausgereift. Vor allem
nach der Einschulung geht die Gewichtskurve bei vielen
Kindern zu steil nach oben. Eine Studie des RobertKoch-Instituts zeigt, dass ab der ersten Klasse immer
mehr Kinder übergewichtig werden. In den Jahren nach
der Einschulung steigt der Anteil übergewichtiger Kinder von 9 auf 15 Prozent, und der Anteil adipöser Kinder
steigt sogar auf 6,4 Prozent. Die Betroffenen leiden nicht
nur unter den schon angesprochenen körperlichen Folgen, sondern oft auch unter seelischen Schwierigkeiten,
etwa einem schwachen Selbstwertgefühl oder Mobbing
durch Gleichaltrige. Neueste wissenschaftliche Erkenntnisse zeigen, dass der Verzehr von zuckerhaltigen Getränken neben zu wenig Schlaf und Bewegungsmangel
eine der Hauptursachen von Übergewicht bei Kindern
und Jugendlichen ist.
({1})
In diesem Zusammenhang freue ich mich, dass das
Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft
um Bundesminister Schmidt an der Ausgestaltung eines
nationalen Qualitätszentrums für Kita- und Schulernährung arbeitet. Wenn ich richtig informiert bin, soll hierzu
Ende Juni, also in wenigen Tagen, ein erster Entwurf
vorgelegt werden.
({2})
Ich bin gespannt darauf, wie dieses Zentrum die Vernetzungsstellen Schulverpflegung in ihrer Arbeit ergänzt
bzw. unterstützt und welchen Beitrag die Deutsche Gesellschaft für Ernährung leisten kann. Gleichzeitig appelliere ich erneut an alle Bundesländer, ihre Vernetzungsstellen mit eigenen finanziellen Mitteln auszustatten, um
eine mögliche Förderung des Bundes nach 2017 zu gewährleisten.
({3})
Ich denke, alle Fraktionen sind sich einig, dass eine
ausgewogene Ernährung eine wichtige Basis für ein gutes und gesundes Leben eines jeden Menschen ist. In
Deutschland ist in den vergangenen Jahren eine Zunahme von ungesundem Ernährungsverhalten und besonders Bewegungsmangel festzustellen, in deren Folge
die Anzahl der übergewichtigen Menschen leider zunimmt. Glauben Sie mir, liebe Kolleginnen und Kollegen, ich weiß, wovon ich spreche, auch wenn man das
aufgrund meiner Kleidung heute vielleicht nicht so sieht.
({4})
- Danke, das wollte ich doch nur hören.
({5})
Es ist für uns von besonderer Wichtigkeit, dass gegen
den Anstieg ernährungsbedingter Krankheiten aktiv vorgegangen wird, und gerade die Kinder und Jugendlichen
müssen besonders in den Fokus gerückt werden.
In ihrem Antrag plädieren die Koalitionsfraktionen
für verpflichtende Qualitätsstandards bei der Kita- und
Schulverpflegung, in öffentlichen Kantinen sowie in
Pflegeheimen und Krankenhäusern. Darüber hinaus fordern wir ein Werbeverbot für ungesunde Lebensmittel in
Grundschulen und Kitas
({6})
sowie süßigkeitenfreie Kassenzonen in Supermärkten.
Das finde ich - hier spreche ich als Mutter - fantastisch.
Zudem muss die Wirtschaft mit einer nationalen Reduktionsstrategie für Zucker, Fett und Salz in Fertigprodukten in die Pflicht genommen werden.
({7})
Wir möchten nicht nur ausschließlich an die Verbraucher appellieren, ihr Verhalten zu verändern, sich gesünder und bewusster zu ernähren und sich vor allem auch
mehr zu bewegen. Es geht uns vielmehr darum, die Rahmenbedingungen für eine gesunde Ernährung zu verbessern, damit alle Menschen und gerade alle Kinder eine
Chance auf ein gutes und gesundes Leben erhalten. Ich
begrüße daher auch die Anstrengungen, die im Rahmen
des Präventionsgesetzes und einer nationalen Präventionsstrategie unternommen werden, um das Ernährungsverhalten aller Menschen in den Vordergrund eines
gesunden Lebensstils zu stellen.
({8})
Um Kindern und Jugendlichen Obst und Gemüse
schmackhaft zu machen, hat die Europäische Union
2009 ein Schulobst- und -gemüseprogramm in den Mitgliedstaaten eingeführt. Mit dem Programm werden
jährlich europaweit 150 Millionen Euro Gemeinschaftsbeihilfe für die Mitgliedstaaten bereitgestellt. Deutschland stehen davon pro Schuljahr circa 20 Millionen Euro
zur Verfügung. Für das laufende Schuljahr hat Deutschland 22,8 Millionen Euro beantragt und auch erhalten.
25 Prozent der Kosten müssen durch die Mitgliedstaaten
aufgebracht werden, die restlichen 75 Prozent werden
von der Europäischen Union übernommen. Neun Bundesländer - leider nur neun - nehmen derzeit an diesem
Programm teil.
({9})
- Genau, ein Riesenjammer ist das.
({10})
Im Januar 2014 legte die Europäische Kommission
den Vorschlag für ein neues Schulprogramm vor. Dieser
Vorschlag sieht die Zusammenlegung des bisherigen
Schulobst- und -gemüseprogramms mit dem Schulmilchprogramm auf Basis der beschlossenen Mittel für
das Haushaltsjahr 2014 vor. Leider hat sich bis heute bezüglich einer Entscheidung nichts getan. Das EU-Parlament hat sich zwar vor zwei Wochen erneut für die Zusammenlegung ausgesprochen und fordert auch eine
Erhöhung der Mittel für das Schulmilchprogramm auf
100 Millionen Euro, aber noch sind die Mitgliedstaaten
sehr weit von einer gemeinsamen Position entfernt. Wie
auch immer die Beratungen auf EU-Ebene ausgehen
werden: Außer Frage steht, dass separate Anpassungen
bei den Programmen gemacht werden müssen, um die
geforderte Ernährungsbildung zunehmend im Unterricht
zu etablieren. Ich hoffe außerdem, dass die bürokratischen Zugangshürden für diese EU-Programme vereinfacht werden und sich künftig alle Bundesländer daran
beteiligen.
({11})
Natürlich können solche Programme nicht allein die
Verhältnisse der Menschen und das Verhalten der Kinder
bezüglich einer ausgewogenen Ernährung ändern, vor
allem, weil sie mit Sicherheit nicht alle erreichen. Möglicherweise initiieren sie aber ein Umdenken, anstelle eines Schokoriegels lieber einmal einen Apfel oder eine
Möhre zu essen - nicht immer, aber vielleicht immer öfter. Hier sind kleinere Schritte gefragt, und niemand darf
das Gefühl haben, zur gesunden Ernährung gedrängt
bzw. gezwungen zu werden.
({12})
Dazu macht unser Koalitionsantrag einen ersten Aufschlag.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({13})
Vielen Dank. - Als nächste Rednerin hat Nicole
Maisch von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das
Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Gäste auf den Tribünen! Papier ist geduldig. Der Antrag,
den uns die Koalitionsfraktionen vorgelegt haben, und
die bisherige Debatte darüber sind das beste Beispiel.
Sie haben sehr viele gute und richtige Sachen aufgeschrieben. Einige der Forderungen würden wir sofort unterschreiben, bei anderen hätte ich jedoch Zweifel. Ich
glaube, die Quengelkasse stählt im Zweifelsfall auch
mal Mutter und Kind: Wenn man das ein-, zweimal
durchgemacht hat, dann hat man vielleicht auch in der
Erziehung was erreicht. Das kann ich jetzt so aus meiner
Erfahrung sagen; aber darüber kann man ja noch mal reden.
Sie haben also sehr viel guten Text geschrieben; aber
Ihr Handeln passt überhaupt nicht dazu. Deshalb werden
Sie von uns keine Zustimmung zu Ihrem Antrag bekommen.
({0})
Die Ernährungspolitik, die Sie und Ihr Minister hier abfeiern, das ist ein Budenzauber, das ist eine Mogelpackung. Ich will Ihnen das an drei Beispielen belegen.
Sie fordern in Ihrem Antrag eine nationale Reduktionsstrategie. Sie fordern die Regierung auf, „eine nationale Strategie zu erarbeiten für die Reduktion von
Zucker, Fetten und Salz in Fertigprodukten“. Dieses Anliegen ist richtig. In anderen Ländern hat das auch Erfolge gezeitigt. Allerdings stehen Ihre eigenen Leute null
dahinter. Ich hatte das Vergnügen, mit einer Vertreterin
der Union bei der Wirtschaftsvereinigung Alkoholfreie
Getränke über dieses Thema zu diskutieren. Und wer
sagte: „Zuckerreduktion in Limonaden ist der letzte
Quark“? Die Vertreterin der CDU. Ich habe das Gleiche
mit Ihnen auch im Ausschuss diskutiert, habe den Staatssekretär Bleser gefragt, wie er das denn findet: Reduktion von Salz, Zucker, Fetten in verschiedenen Fertigprodukten? Auch der Staatssekretär sagte: Nein, das sei
überhaupt nicht sein Ding, das finde er schlecht. - Da
frage ich mich doch: Wenn das bei Ihnen keiner will,
warum schreiben Sie das dann in den Antrag? Das passt
doch irgendwie nicht zusammen. Das finde ich schon ein
bisschen absurd.
({1})
Dabei ist so eine Strategie eigentlich etwas Tolles.
Die Finnen haben dadurch, dass sie ihren Salzkonsum
reduziert haben, die Anzahl von Herz-Kreislauf-Erkrankungen reduziert. Wir in Deutschland haben ähnliche Erfahrungen gemacht: Sie erinnern sich vielleicht noch an
diese widerlich zuckrigen Kindertees, von denen Kleinkinder Karies vorne an den Zähnen bekamen. Da hat
man Rezepturen geändert. Das Problem, nämlich der
Karies bei Kleinkindern, ging zurück. Da könnte man
weitermachen. Aber wenn die rechte Seite des Saals
nicht will, dann kann Elvira Drobinski-Weiß die tollsten
Sachen in diese Anträge schreiben, es wird nichts Vernünftiges dabei rauskommen.
({2})
Zweites Beispiel: Lebensmittelverschwendung. Da
haben Sie das Nichtstun Ihrer eigenen Regierung schon
in den Antrag reingeschrieben. Sie schreiben nämlich:
Wir bekräftigen die Forderungen aus dem Antrag
…
- Ihrem Antrag vom 16. Oktober 2012 …
Auf Deutsch: Die letzten paar Jahre ist nicht so viel passiert; deshalb schreiben Sie einfach alles, was Sie damals
schon gefordert haben, noch einmal in einen Bundestagsantrag. Ich finde das ein bisschen peinlich. Seit 2012
sind jetzt schon einige Jahre ins Land gegangen. Natürlich machen Sie nette Sachen: irgendwelche Restebeutel,
die man sich aus dem Restaurant mit nach Hause nehmen kann, und es gibt die Rezepte-App.
All das finden wir gut; aber wir erwarten auch, dass
Sie sich für das einsetzen, worauf sich der gesamte Bundestag gemeinsam verständigt hat, nämlich verbindliche
Ziele zur Abfallreduktion in Gastronomie, in Handel, in
Erzeugung und Verarbeitung. Hier haben wir noch nichts
gesehen. Hier hat Ihr Minister mehr oder weniger die
ganze Sache ausgesessen. Das kann es nicht sein!
({3})
Wir sind bald 10 Milliarden Menschen auf diesem Planeten. Da können wir es uns nicht leisten, gute Lebensmittel wegzuwerfen. Ihr Minister hat hier wenig auf die
Kette gekriegt. Das finde ich durchaus kritikwürdig.
({4})
Drittes Beispiel: Schulessen. Ich finde alles, was Sie
zum Thema Schulessen aufgeschrieben haben, zumindest diskussionswürdig und das meiste sogar gut. Schulkinder brauchen besseres Essen; das ist ganz klar. Aber
in der Realität haben Sie es doch bisher nicht einmal hinbekommen, die Finanzierung der Schulvernetzungsstellen dauerhaft zu sichern. Es gibt einen aktuellen, einstimmigen VSMK-Beschluss, vom 8. Mai 2015, also
noch nicht so lange her. Die Länder wollen wissen: Wie
soll es weitergehen mit der Finanzierung? Was ist das
Förderkonzept? Wie lange ist die Förderdauer? Wie viel
Geld gibt es wirklich vom Bund? Bleibt es bei den lächerlichen 15 Prozent, oder wird hier mal ein bisschen
mehr Butter bei die Fische gegeben? - Wer so große Reden schwingt über bessere Ernährung, über dicke Kinder, über die Kosten, die durch Fehlernährung auf unser
Gesundheitssystem zukommen, der müsste auch einmal
ein bisschen mehr Geld lockermachen als die läppischen
paar Cents, die Sie pro Schulkind und Jahr ausgeben.
({5})
So kann es nicht bleiben! Da kann man auch nicht erwarten, dass die Opposition hier jubelt, wenn Sie solche Anträge vorstellen.
({6})
Meine Damen und Herren, ich finde dieses Ministerium ist jetzt wirklich nicht mit Themen überfrachtet.
Die kniffligen Themen des Verbraucherschutzes haben
Sie an die SPD abgeschoben; das heißt, digitale Welt, Finanzen und so weiter macht alles Herr Maas. Die GAPReform ist mehr oder weniger durch. Es sollte also doch
möglich sein, dass der Minister während seines Arbeitstages eine vernünftige Ernährungspolitik auf die Reihe
kriegt. Es ist jetzt Zeit da, in die Puschen zu kommen,
was zu machen; denn die Probleme sind doch da. Wir
müssen dafür sorgen, dass jedes Kind in diesem Land
vernünftiges Essen in der Schule und in der Kita bekommt. Wenn Sie das hinbekommen, stimme ich Ihren
Anträgen, die Sie für diesen Bereich stellen, auch zu.
({7})
Vielen Dank. - Als nächste Rednerin hat Gitta
Connemann von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wer von
Ihnen war schon einmal in der Alten Pinakothek in München?
({0})
- Ich hätte mir etwas mehr Zustimmung gewünscht. Dort hängt das Gemälde „Das Schlaraffenland“. Es zeigt
drei Männer unter einem Baum. Sie öffnen nur den
Mund, und schon gibt es Milch, Wein und Fleisch. Essen
und Trinken im Überfluss, und zwar für alle - im
16. Jahrhundert erschien dies den Menschen wie das
Paradies.
Und heute? Für 800 Millionen Menschen auf der Welt
bleibt das ein Traum; denn sie hungern. Täglich sterben
nach wie vor 10 000 Kinder auf der Welt, weil sie nicht
genug zu essen haben. Die Zahl wird kleiner. Wir finden
aber, dass kein Kind an Hunger sterben sollte.
({1})
Und hier? In unserem Land gibt es Lebensmittel im
Überfluss: gesund, sicher, bezahlbar. Dies verdanken wir
ganz leistungsfähigen Landwirten, ganz leistungsfähigen
Herstellern und übrigens auch Händlern.
({2})
Wir dürfen sagen: Was für ein Segen ist es, dass wir in
diesem Land leben. - Aber spüren wir dies noch? Wohl
kaum. Die Zahlen zeigen, dass das Gefühl für den Wert
von Lebensmitteln verloren gegangen ist. Beweis gefällig? Jeder Bundesbürger wirft im Jahr 82 Kilogramm
Lebensmittel fort. Das bedeutet hochgerechnet auf alle
Privathaushalte in Deutschland: 6,7 Millionen Tonnen
Lebensmittel. Das ist eine Zahl, die fassungslos macht.
Für meine Fraktion, für die CDU/CSU-Fraktion, kann
ich sagen: Lebensmittel sind zu gut für die Tonne.
({3})
Wer Lebensmittel wegwirft, verschwendet Nahrung,
verschwendet Energie, verschwendet Geld und verschwendet Ressourcen.
({4})
Glücklicherweise hat sich schon einiges getan. Unser
Ministerium sorgte mit der Aktion „Zu gut für die
Tonne“ für die Initialzündung. Seitdem gibt es nicht nur
eine öffentliche Diskussion, sondern erstmalig auch ein
Problembewusstsein für dieses Thema, das zuvor von
niemandem angefasst worden ist. Auch die Aktion
„Restlos genießen“ ist erfolgreich angelaufen. Die Restaurantbesitzer bieten ihren Gästen an, ihre Reste mit
nach Hause zu nehmen. All das sind kleine Bausteine,
aber es sind Bausteine zur Bekämpfung eines Riesenproblems. An dieser Stelle danke ich unserem Minister
Christian Schmidt für seinen Einsatz und dafür, dass er
an dieser Stelle nicht lockerlässt.
({5})
Natürlich gibt es noch viel zu tun. Beispiel gefällig?
Familienpackungen. Familienpackungen und Singlehaushalte passen einfach nicht zusammen. Da sind Reste
vorprogrammiert. Ein Teil muss im Müll landen. Wir
brauchen kleinere Verpackungsgrößen für Alleinstehende, gerade bei Frischprodukten. Das Angebot ist
mager. Deswegen fordern wir in unserem Antrag die
Bundesregierung auf, mit der Wirtschaft zu vereinbaren,
dass sie ihr Angebot diesbezüglich verbessert.
({6})
Oder der Preis. Ohne Zweifel ist die Bezahlbarkeit
von Lebensmitteln eine soziale Frage. Aber es gibt aus
meiner und unserer Sicht einen Unterschied zwischen
preiswert und verramschen.
({7})
Ein Beispiel gefällig? In dieser Woche wirbt ein großer
Discounter: 400 Gramm Hackfleisch für 1 Euro. Ich
sage Ihnen: Das ist pervers.
({8})
Nicht jeder Preiskrieg muss zu Ende geführt werden.
Hier steht der Handel in der Verantwortung, aber auch
der Verbraucher, der so etwas erwirbt.
({9})
Meine Damen und Herren, es gibt in diesem Haus
Fraktionen, die an dieser Stelle gerne nach dem Gesetzgeber rufen, nach künstlichen Mindestpreisen, nach Zusatzsteuern. Die Kollegin Binder hat das eindrucksvoll
bewiesen,
({10})
und auch die Kollegin Maisch. Dies lehnen wir ab. Wir
schreiben den Menschen nicht vor, was sie in ihren Einkaufswagen legen sollen.
({11})
Der Bürger soll selbst entscheiden, was er isst und wie er
isst. Er will das übrigens auch; das hat die Reaktion auf
den Veggie-Day eindrucksvoll bewiesen.
Frau Connemann, lassen Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Maisch zu?
Ja, sehr gerne.
Bitte.
Frau Kollegin Connemann, Sie haben gesagt, ich
hätte in meiner Rede Mindestpreise und Sondersteuern
gefordert. Können Sie belegen, welche Mindestpreise
und welche Sondersteuern sowie wann und wo ich das in
meiner Rede gesagt haben soll?
Ich habe nicht gesagt, dass Sie Mindestpreise gefordert haben,
({0})
sondern ich habe gesagt, dass Fraktionen in diesem Haus
danach gerufen haben, zum Beispiel die Kollegin
Binder,
({1})
und sehr deutlich auf die Preisbildung, aber auch auf gesetzliche Regulierungen eingegangen sind. Ich weise an
dieser Stelle nicht nur auf den Veggie-Day hin, sondern
auch auf die von Ihnen auf dem letzten Bundesparteitag
der Grünen mitbeschlossene Veggie-Steuer.
({2})
- Ich bin noch nicht fertig. - Die Grünen wollen durch
diese Besteuerung den Verbrauch von Fleisch reduzieren. Das ist für mich eine Bevormundung und Gängelung, die es in sich hat, liebe Frau Kollegin Maisch.
({3})
Das lehnen wir ab. Wir lehnen auch Strafsteuern auf
Zucker, Fett oder Salz ab. Es gibt nämlich kein per se
schlechtes Lebensmittel. Die Dosis macht bekanntlich
das Gift.
({4})
Hier hilft nur Wissen, Wissen, Wissen; die Kollegin
Mortler wird darauf noch eingehen.
Dass unsere Bürger staatliche Gängelung ablehnen,
zeigte übrigens auch die Diskussion über einen anderen
Punkt unseres Antrags:
({5})
über die quengelfreien Kassen ohne Süßigkeiten. Als der
Eindruck entstand, wir wollten diese gebieten, war der
Gegenwind aus der Bevölkerung sehr groß - übrigens zu
Recht; denn auch hier wollen wir Wahlfreiheit. Deshalb
plädieren wir für Familienkassen. Süßigkeiten gehören
ohne Frage dazu, aber nicht als Lockmittel in jede Warteschlange; denn Kinder greifen zu, ohne nachzudenken.
Hier wollen wir Eltern eine echte Alternative bieten,
eine Alternative auf freiwilliger Basis.
Wir nehmen die Verbraucher ernst. Deshalb lehnen
wir als CDU/CSU-Bundestagsfraktion übrigens auch ein
Mittel, das hier wiederholt angesprochen wurde, ab: die
Ampelkennzeichnung.
({6})
Der Verbraucher ist nicht so dumm, wie Sie ihn immer
darstellen. Dass die Ampelkennzeichnung, wie sie in
England gelebt wird, am Ende ein Rohrkrepierer ist,
zeigt die Tatsache, dass die Europäische Union inzwischen ein entsprechendes Vertragsverletzungsverfahren
eingeleitet hat, und zwar aus zwei Gründen: Der eine
Grund ist, dass dies ein Eingriff in den Binnenmarkt ist.
Aber das viel wichtigere Argument ist - das ist der
andere Grund für die Europäische Union -: Hier findet
tatsächlich eine Täuschung des Verbrauchers statt.
({7})
Denn am Ende ist auch das Olivenöl mit Rot gekennzeichnet, und der Verbraucher, der sich etwas Gutes tun
will, greift dann vielleicht zu einem anderen Produkt.
Oder aber es kommt zu einer anderen Täuschung, wie
mir vor kurzem ein Kollege aus England bestätigte. Er
sagte: Inzwischen ist es so, dass Lebensmittel mit der
Kennzeichnung Rot bei unseren Verbrauchern als lecker
gelten. - Das ist eine Fehlsteuerung. Da hilft nur Wissen,
Wissen, Wissen, das wir deshalb in den Mittelpunkt unseres Antrags gestellt haben.
Wir haben mit dem Bild von Bruegel begonnen. Am
Ende ist ein Schlaraffenland auch Synonym für
Übermaß und Völlerei. Das Einzige, was an dieser Stelle
hilft, ist, den Verbraucher ernst zu nehmen und ihn aufzufordern, ihn darin zu bestärken, sich zu bewegen und
sich gesund zu ernähren. Das wollen wir mit diesem
Antrag tun.
Herzlichen Dank.
({8})
Vielen Dank. - Als nächste Rednerin hat die Kollegin
Elvira Drobinski-Weiß das Wort.
({0})
Okay. Entschuldigung, das habe ich übersehen.
Liebe Frau Kollegin Connemann, ich muss jetzt,
glaube ich, eines klarstellen: Weder Öl noch Butter oder
sonstige Grundstoffe in Nahrungsmitteln werden einen
roten Punkt bekommen; das ist völliger Unsinn. Es geht
um heute produzierte Fertiglebensmittel, und es geht um
industriell gefertigte Lebensmittel, die viele Bestandteile
enthalten, sodass die Menschen nicht mehr wissen, wie
viel von was drin ist. Darum geht es, und das soll gekennzeichnet werden, damit man auch bei einem Einkauf, für den man nur wenig Zeit zur Verfügung hat,
schnelle Vergleichsmöglichkeiten hat. Deshalb soll es
die Angaben zu Nährwerten und eine Kennzeichnung
mit den Farben Rot, Gelb und Grün geben.
In diesem Parlament soll keine Volksverdummung
stattfinden, sondern es soll klar gesagt werden, um was
es geht: Es geht um industriell gefertigte Nahrungsmittel. Hier haben die Menschen heute einfach ein Informationsproblem. Darum geht es.
({0})
Ich möchte auch noch einen anderen Punkt ansprechen: Sie haben unter anderem von einer Sondersteuer
und von Mindestpreisen gesprochen. Das trifft auf uns
überhaupt nicht zu. Die Linke hat in keinem Zusammenhang irgendeine weiter gehende Besteuerung von Lebensmitteln gefordert. Im Gegenteil: Wir wollen, dass
die Mehrwertsteuer auf die Schulverpflegung endlich
heruntergesetzt wird. Eine Mehrwertsteuer von 19 Prozent auf die Schulverpflegung ist völliger Blödsinn. Es
geht uns da eher um die Reduzierung dieser Steuer und
nicht um die Erhebung von neuen Steuern.
({1})
Frau Connemann hat das Wort zur Gegenrede.
Frau Kollegin Binder, mir ist bewusst, dass es immer
wehtut, sich von Träumen zu verabschieden. Das zeigt
auch Ihr jetziges Petitum für die Lebensmittelampel. Dabei betrachten Sie Folgendes nicht:
Erstens. Es geht nicht nur um industriell gefertigte
Lebensmittel, sondern die Ampel gibt Aufschluss über
die Inhaltsstoffe. So viel Ehrlichkeit sollten Sie an dieser
Stelle schon zulassen.
Zweitens. Sie ignorieren das entsprechende Plädoyer
der Europäischen Union vollkommen. Es ist nicht nur
meine Wahrnehmung gewesen, sondern auch Ihnen
sollte nicht entgangen sein, dass die Europäische Union
sehr deutlich gesagt hat, dass hier die Gefahr einer Verbrauchertäuschung besteht. Deswegen hat die Europäische Union - nicht ich - ein Vertragsverletzungsverfahren gegen England eingeleitet.
Ich bitte Sie einfach, das zur Kenntnis zu nehmen;
denn am Ende bringt es nichts, an Träumen festzuhalten,
die sich einfach als falsch erweisen, und das ist unter anderem die Lebensmittelampel.
({0})
Frau Elvira Drobinski-Weiß von der SPD-Fraktion,
Sie haben das Wort.
({0})
Herzlichen Dank. - Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr verehrte Zuschauerinnen und
Zuschauer auf den Tribünen! Zu dem Gegenwind in Bezug auf die „quengelfreien“ Kassen: Wir haben hier ganz
andere Rückmeldungen bekommen. Uns haben Eltern
geschrieben: Wunderbar, endlich können wir jetzt auch
einmal in aller Ruhe einkaufen gehen, ohne dass unsere
Kleinen uns nerven, dass sie etwas haben wollen.
Genauso wie Sie habe auch ich in der letzten Woche
Post bekommen, und zwar von der Zuckerwirtschaft.
Mit Blick auf die Debatte heute wollte man mich darauf
hinweisen, dass auch die Zuckerwirtschaft Initiativen
begrüßt, mit denen die Gesundheit verbessert und Übergewicht reduziert wird. Dafür halte man Aufklärung
über eine gesunde Lebensweise für wichtig. Außerdem
würde man dazu ja auch schon einen Beitrag leisten. Ja, das glaube ich sofort.
Sorgen bereitet der Zuckerwirtschaft allerdings unser
Vorhaben, mit einer Reduktion von Zucker in Lebensmitteln präventiv tätig zu werden. Aha, wie überraschend! Mir bereitet es eher Sorgen, dass wir trotz der
zahllosen Aufklärungs- und Informationskampagnen,
die es seit Jahren gibt, den Anstieg chronischer Erkrankungen wie Diabetes - gerade auch bei Kindern und
Jugendlichen - immer noch nicht gestoppt haben
({0})
und dass es sehr vielen Menschen nach wie vor schwerfällt, sich ausgewogen und gesund zu ernähren, selbst
wenn sie wissen, wie es geht, und es auch wollen. Vielleicht fragen Sie sich auch einmal selbst.
Das liegt vor allem daran, dass die Lebensrealität vieler Menschen tagtäglich und beharrlich selbst gegen die
besten Vorsätze arbeitet. Das wollen wir ändern. Wir
wollen es den Verbraucherinnen und Verbrauchern leichter machen, sich gesund zu ernähren. Wir wollen eben
keine Verhaltensvorschriften machen, wie es hier gerade
eben schon ausgeführt worden ist, sondern wir wollen
die Lebensverhältnisse so gestalten, dass die gesunde
Wahl zu einer leichteren Wahl wird. Deswegen fordern
wir in unserem Antrag unter anderem auch eine nationale Strategie zur schrittweisen Reduktion von Zucker,
Salz und Fetten in Fertiglebensmitteln.
({1})
In anderen Ländern sind damit schon beeindruckende
Erfolge erzielt worden. Das wurde bereits angesprochen.
In Großbritannien beispielsweise hat die Regierung mit
der Lebensmittelwirtschaft vereinbart, den Salzgehalt in
verschiedenen Lebensmitteln Schritt für Schritt zu senken. Tatsächlich hat sich der Salzgehalt innerhalb einiger
Jahre deutlich verringert, und das Risiko der Bevölkerung für Schlaganfälle und Herzerkrankungen ist um
40 Prozent gesunken, und zwar ohne dem Absatz der
Unternehmen zu schaden.
In Deutschland hat das Ernährungsministerium vor
einigen Jahren schon einen Anfang gemacht. Es hat
nämlich mit der Wirtschaft vereinbart, herzschädigende
Transfette in Lebensmitteln zu reduzieren. Ergebnis: Der
Transfettgehalt in vielen Lebensmitteln ist seitdem gesunken. Es funktioniert also, und es wird auch für Salz
und Zucker funktionieren. Wir müssen das Vorhaben nur
ehrgeizig genug angehen. Die Zuckerwirtschaft werden
wir dafür voraussichtlich nicht gewinnen, aber damit
kann ich leben.
Hoffnung macht mir dagegen, dass beispielsweise in
Großbritannien die Supermarktkette Tesco angefangen
hat, den Zuckergehalt in Kindergetränken zu reduzieren.
Dort hat offensichtlich jemand die Zeichen der Zeit erkannt.
({2})
In Großbritannien hat man allerdings auch erkannt:
Wirklich gut funktioniert das alles langfristig nur, wenn
jemand, zum Beispiel ein Ministerium oder eine Behörde, zentral das Zepter in der Hand hält, den Dialog
organisiert und für einheitliche Berichte sorgt. Dann sind
faire Wettbewerbsbedingungen gegeben; dann machen
alle mit.
Natürlich wird es mitunter komplex werden. Natürlich werden wir darauf achten müssen, dass nicht nur ein
ungünstiger Nährstoff durch einen anderen ersetzt wird,
sondern dass ausgewogenere und vollwertigere Nahrungsmittel das Ziel der Reduktionsstrategie sind. Denn
es geht nicht allein um Kalorien, sondern um bessere
und trotzdem schmackhafte Lebensmittel.
({3})
Natürlich soll es auch weiterhin Schokolade und Limonade geben.
({4})
Aber auf vermeintlich gesundes Müsli für Kinder, das in
Wahrheit doppelt so süß ist wie Kekse, oder auf eine
Fertigsuppe, die allein den täglichen Salzbedarf deckt,
können wir alle sicher gut verzichten.
Kurzum: Vor uns liegt eine nicht ganz leichte Aufgabe. Aber ich finde, es ist an der Zeit, sie endlich anzugehen.
Vielen Dank.
({5})
Vielen Dank. Damit ist auch die letzte Sorge um die
Schokolade genommen. - Jetzt hat die Kollegin Marlene
Mortler von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
vor allem liebe Kollegen! Bundesbildungsministerin
Johanna Wanka hat in der Bild am Sonntag das Schulfach Alltagswissen gefordert.
({0})
Auch Grundkenntnisse richtiger Ernährung und im Kochen gehören für sie dazu.
Agenturen wie dpa, AFP und KNA griffen die Botschaft auf und streuten sie weit. Ich glaube, das ist gut
so. Denn Ministerin Wanka trifft einen wunden Punkt,
den unser Antrag behandelt. Auch wenn manches Lifestyle-Magazin neue Essgewohnheiten zum Glaubenssatz
erhebt, zeigen Umfragen: Strikt nach Kriterien wie vegan oder weizenfrei ernährt sich nur eine Minderheit.
Wir sehen vielmehr die Kenntnisse über gesunde und
ausgewogene Ernährung schwinden, und das, während
das Angebot an Produkten zunimmt.
Immer weniger Menschen wissen, was sie zu sich
nehmen, was im Fertigprodukt enthalten ist und was ihr
Körper braucht, um gesund oder gar fit zu sein, von
Kochkenntnissen ganz zu schweigen. Der englische
Koch Jamie Oliver urteilte gar: Kochen ist eine lebenswichtige Fähigkeit, die wir verloren haben.
Auch wenn uns das nicht schmeckt: Das kleine Einmaleins gesunder Ernährung wird heute in vielen Familien nicht mehr weitergegeben. Das Ergebnis: Fehlernährung ist inzwischen - wir haben es gehört - ein
schwergewichtiges Problem. Während dies Teile der Opposition gar zum Verbotsschwert etwa beim Fleischkonsum greifen lässt, setzen wir auf Aufklären statt Gängeln.
({1})
Mündiger Verbraucher ist niemand von Geburt an.
Das muss man erst werden. Deswegen sind mir zwei
Forderungen unseres Antrages besonders wichtig.
Erste Forderung. Wir brauchen regelmäßige Ernährungsbildung in unseren Schulen.
({2})
Mir ist völlig klar: Schule kann, wie die Präsidentin der
Kultusministerkonferenz Kurth auf Wankas Vorstoß gestern konterte, den Eltern nicht alles abnehmen. Das
stimmt. Aber dennoch: Was gehört dort auf die Agenda,
wenn nicht das Grundlagenwissen über unsere elementarste Lebensgrundlage überhaupt, die Nahrung? Dies
gilt umso mehr, wenn dieses Wissen zu Hause niemand
mehr vermitteln kann, weil er es im schlimmsten Fall
selbst nicht mehr besser weiß. Diese Wissensvermittlung
funktioniert in der Schule. Bei uns in Bayern etwa ist Ernährungsbildung fächerübergreifend verankert. Zudem
startete im Mai gerade erst wieder das Projekt „Landfrauen machen Schule“.
Damit komme ich zur zweiten Forderung des Antrages. Wir müssen Kindern und Jugendlichen die Möglichkeit geben, mehr über den Ursprung ihrer Nahrung zu er10484
fahren. Wissen ist Grundlage für Wertschöpfung und für
Wertschätzung. Gerade unsere Bäuerinnen und Bauern
haben es verdient, dass man mehr über ihre Arbeit weiß.
({3})
Denn wer weiß heute noch, wie Kartoffeln wachsen und
was man braucht, damit ein Acker Früchte trägt? Wer
weiß noch, was der Bauer braucht, damit er am Ende den
Teller mit guten Produkten füllen kann?
Es gibt bereits eine Vielzahl guter Angebote. Wahlweise haben das BMEL, das BMG, das BMBF und das
BMU den Hut auf. Das heißt: Unser Ministerium, das
BMEL, hat Rückgriff auf renommierte und gute Adressen wie die BLE - ich verkürze hier wegen der Zeit -,
das BfR, das BVL, also das Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit, den AID und die
DGE, das Gesundheitsministerium auf das RobertKoch-Institut und die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, das Forschungsministerium auf das
Deutsche Institut für Ernährungsforschung in PotsdamRehbrücke und das BMU auf das Umweltbundesamt.
Deshalb ist abschließend meine Vision für die Zukunft, die Zuständigkeit in einem Ressort zu bündeln.
Die Aufgabe lohnt; denn eine gesunde Ernährung sichert
national langfristig die Gesundheit unserer Verbraucher,
und international ist sie ein Schlüssel zur Nachhaltigkeit
ländlicher Entwicklung und zur Ernährungssicherung.
Deshalb werbe ich für unseren Antrag.
Vielen herzlichen Dank.
({4})
Vielen Dank. - Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich
schließe die Debatte.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Ernährung und Landwirtschaft auf Drucksache 18/5008.
Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die Annahme des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und SPD auf Drucksache 18/3726 mit
dem Titel „Gesunde Ernährung stärken - Lebensmittel
wertschätzen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist diese Beschlussempfehlung mit den Stimmen der
Koalition gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke bei
Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen worden.
Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die
Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf
Drucksache 18/3730 mit dem Titel „Gute Lebensmittel
für eine gesunde Ernährung“. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich? - Damit ist diese Beschlussempfehlung
ebenfalls angenommen worden mit den Koalitionsstimmen gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke, bei Enthaltung der Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe c
seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache
18/3733 mit dem Titel „Gute Ernährung für alle“. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt
dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist diese Beschlussempfehlung mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Stimmen der Fraktion Die Linke ebenfalls
angenommen worden.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Katja
Keul, Agnieszka Brugger, Katharina Dröge, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Eckpunkte für ein Rüstungsexportkontrollgesetz
Drucksache 18/4940
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Energie ({1})
Auswärtiger Ausschuss ({2})
Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Federführung strittig
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Ich höre dazu
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat als erste
Rednerin Katja Keul von der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Alle, die schon einmal Fragen zu Rüstungsexporten eingereicht haben, kennen die Standardantwort
der Bundesregierung. Bei den Sozialdemokraten dürfte
die Erinnerung daran noch frisch sein. Für die anderen
will ich sie noch einmal verlesen. Die Standardantwort
lautet:
Über die Erteilung von Genehmigungen für Rüstungsexporte entscheidet die Bundesregierung im
Einzelfall und im Lichte der jeweiligen Situation
nach sorgfältiger Prüfung unter Einbeziehung außen- und sicherheitspolitischer Erwägungen.
Grundlage hierfür sind die „Politischen Grundsätze
der Bundesregierung für den Export von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern“ aus dem
Jahr 2000 und der „Gemeinsame Standpunkt des
Rates der Europäischen Union vom 8. Dezember
2008 betreffend gemeinsame Regeln für die Kontrolle der Ausfuhr von Militärtechnologie und Militärgütern“.
Antwortende.
Es ist zunächst einmal erfreulich, dass sich bis heute
alle Bundesregierungen immer wieder auf die unter RotGrün im Jahr 2000 ins Leben gerufenen Grundsätze berufen.
({0})
Darin steht nämlich viel Richtiges.
({1})
Entscheidend sollen unter anderem die Menschenrechtslage im Empfängerland und die Gefahr innerer
Repression sein. Da wir uns alle so wunderbar einig
sind, schlagen wir Ihnen heute vor, diese Grundsätze als
Gesetz zu beschließen, wie sich das für ein Parlament
gehört.
({2})
Es ist als Gesetzgeber unsere Aufgabe, die Rechtsgrundlagen für die Genehmigungsentscheidungen der Exekutive zu schaffen. So machen wir das in allen anderen
Bereichen auch. Die Voraussetzungen für eine Baugenehmigung stehen schließlich im Baugesetzbuch und
nicht in irgendwelchen freiwilligen Selbstverpflichtungserklärungen.
Leider findet sich in den Gesetzen, auf deren Grundlage über Rüstungsexporte entschieden wird, nicht ein
einziges Wort zu den Menschenrechten im Empfängerland. Weder das Außenwirtschaftsgesetz noch das
Kriegswaffenkontrollgesetz enthalten auch nur den geringsten Hinweis auf die außen- und sicherheitspolitischen Kriterien. Deshalb schlagen wir Grünen Ihnen
heute vor, die richtigen und wichtigen Kriterien für Rüstungsexporte aus den Politischen Grundsätzen und auch
aus dem Gemeinsamen Standpunkt der EU endlich in
das Außenwirtschaftsgesetz und das Kriegswaffenkontrollgesetz aufzunehmen und somit eine klare gesetzgeberische Entscheidung zu treffen, nach der sich die Bundesregierung dann im Einzelfall richten kann.
Das gäbe uns zusätzlich die Gelegenheit, das eine
oder andere Kriterium zu präzisieren. Ich denke zum
Beispiel an den Begriff der Spannungsgebiete. Denn am
Ende hilft keine noch so verbindliche gesetzliche Grundlage, wenn diese nicht auch justiziabel ist, das heißt, von
Gerichten zu überprüfen ist. Das setzt zwei Dinge voraus:
Erstens. Es muss gegen eine erteilte Genehmigung
eine Klagebefugnis geben. Klagen kann in der Regel
aber nur, wer persönlich in seinen subjektiven Rechten
verletzt ist. Da es in Deutschland zwangsläufig niemanden gibt, der von Waffenexporten in seinen subjektiven
Rechten verletzt ist, schlagen wir Ihnen den Weg über
eine Verbandsklage vor.
({3})
Zweitens. Die erteilten Genehmigungen müssen
bekannt gemacht werden, damit man sie überprüfen
kann. In dieser Hinsicht hat es in dieser Legislaturperiode durchaus einige kleine Fortschritte gegeben. Die
Mitteilungen im Anschluss an die Sitzungen des Sicherheitsrates sind deutlich zeitnäher, als es der jährliche
Bericht gewesen ist. Leider geben aber auch diese Mitteilungen nur einen fragmentarischen Einblick in die Genehmigungspraxis, da die Mehrheit der Genehmigungen
gar nicht vom Sicherheitsrat selbst, sondern auf der Arbeitsebene bzw. vom Bundesamt für Wirtschaft und
Ausfuhrkontrolle erteilt wird. Außerdem sind diese
neuen Zwischeninformationen eher als spartanisch zu
bezeichnen. Man kann nicht einmal erkennen, ob es sich
um Genehmigungen nach dem Außenwirtschaftsgesetz
oder nach dem Kriegswaffenkontrollgesetz handelt. Das
ist aber wichtig, da zwischen diesen Genehmigungen
Monate, wenn nicht Jahre liegen können.
Ich will Ihnen ein Beispiel geben: Im Februar 2012
stellte die Firma Krauss-Maffei Wegmann eine Voranfrage für den Verkauf von Kampfpanzern des Typs Leopard an Katar. Der Bundessicherheitsrat beriet darüber
im Juli 2012, und Krauss-Maffei Wegmann erhielt anschließend, am 6. August, einen positiven Vorbescheid
des Auswärtigen Amtes.
Über solche Vorbescheide bekommen wir als Parlament leider überhaupt keine Informationen, obwohl auf
deren Grundlage später immer die Genehmigung erteilt
wird. Am 6. März 2013, also acht Monate nach dem Vorbescheid, wird man sich handelseinig, und Katar unterschreibt den Kaufvertrag. Am nächsten Tag geht der Antrag beim Wirtschaftsministerium ein, und am 26. März
liegt die Genehmigung nach dem Kriegswaffenkontrollgesetz vor.
Sie fragen sich, warum das so schnell geht? Kein Problem: Der Sicherheitsrat hatte ja bereits ein Jahr zuvor
entschieden - informell, versteht sich. Es findet dann
keine weitere Prüfung der außen- und sicherheitspolitischen Kriterien mehr statt.
({4})
Mit der Vorlage der Genehmigung ist der Deal perfekt,
und Krauss-Maffei Wegmann macht selbst proaktiv
Pressearbeit zu dem Vorgang.
Nur die Bundesregierung hält es nach wie vor für angebracht, das Parlament darüber nicht zu informieren.
({5})
Auch im jährlichen Rüstungsexportbericht 2013 taucht
dieser Panzerexport im Wert von immerhin 1,8 Milliarden Euro bis heute nicht auf. Angeblich könne man diese
Genehmigung nicht aufführen, da der Kaufpreis nicht
bekannt sei. Der werde ja immer erst mit der späteren
AWG-Genehmigung erfasst, die erst dann erteilt werde,
wenn die Lieferung ansteht, also wieder Jahre später. Da
sollen wir als Parlament doch wirklich für dumm verkauft werden.
({6})
Immerhin ist der Wert des Geschäfts in dem Antrag des
exportierenden Unternehmens angegeben, und er ist außerdem noch in der vorzulegenden Endverbleibserklä10486
rung aufgeführt. Hier muss die Informationspolitik gegenüber dem Parlament noch deutlich nachgebessert
werden, und auch das wollen wir in einem Rüstungsexportkontrollgesetz verbindlich festschreiben.
({7})
Das Gesetz soll künftig auch eine echte Endverbleibskontrolle, also sogenannte Post-Shipment-Kontrollen,
verbindlich vorschreiben. Die Ressortzuständigkeit wird
vom Wirtschaftsministerium auf das Auswärtige Amt
übertragen, und der Bundessicherheitsrat, der seit Franz
Josef Strauß ohne jede gesetzliche Grundlage existiert,
wird aufgelöst.
Sie sehen, unsere Eckpunkte enthalten jede Menge guter Vorschläge, mit denen Sie sich die eingangs erwähnte
Standardantwort künftig ersparen können. Völlig unbeantwortet bleibt allerdings nach wie vor, was die Bundesregierung eigentlich geritten hat, einem menschenverachtenden
Regime wie Katar, für dessen 200 000 Staatsbürger über
1 Million Gastarbeiter als Dienstboten und Bauarbeiter
versklavt werden, ausgerechnet 62 deutsche Kampfpanzer zu genehmigen.
({8})
Es bleibt zu hoffen, dass es nicht die gleichen Motive
waren wie die der FIFA, dorthin eine Fußballweltmeisterschaft zu vergeben, und hoffen wir, dass die Kampfpanzer nicht gerade gebraucht werden, wenn unsere
Sportler dort über den Rasen laufen.
Vielen Dank.
({9})
Vielen Dank. - Als nächster Redner hat Andreas
Lämmel das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Frau Keul, die Schlussbemerkung hat wieder
einmal Ihren ganzen Redebeitrag völlig entwertet. Ich
meine, Sie haben gut begonnen, da Sie noch einmal auf
die von Rot-Grün beschlossenen Grundsätze für Rüstungsexporte verwiesen haben, nach denen wir uns heute
noch richten. Es hat Sie stolz gemacht und uns auch,
dass diese Grundsätze offensichtlich so weise verfasst
worden sind, dass sie heute noch Gültigkeit haben können. Deshalb stützt die Bundesregierung ihre Entscheidungen noch auf genau diese Grundsätze, die damals unter rot-grüner Regierung erlassen worden sind.
Sie haben vielleicht nicht ganz klar herausgearbeitet,
dass jede Rüstungsexportgenehmigung eine Einzelfallentscheidung ist. Es gibt also keine Pauschalgenehmigung, sondern über jeden einzelnen Fall muss beraten
werden. Je nach Art des Rüstungsexportantrages muss
nach dem Außenwirtschaftsgesetz oder dem Kriegswaffenkontrollgesetz entschieden werden; das Ganze ist
aber auf jeden Fall genehmigungspflichtig. Wenn Sie
sich mit der Genehmigungspraxis des BAFA auseinandersetzen, dann wissen Sie eigentlich, dass viele Güter,
die noch nicht einmal zu den Dual-Use-Gütern gehören
und nur im Verdacht stehen, auch militärisch genutzt
werden zu können, der Pflicht zur Exportgenehmigung
unterliegen und dass viele Unternehmen große Probleme
haben, Güter in verschiedene Länder auszuführen.
Die Prüfung und die Genehmigung der Ausfuhr von
Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern unterliegen
letztendlich dem Bundessicherheitsrat. Dieser tagt geheim. Den Vorsitz hat die Bundeskanzlerin inne. Ein
weiteres Mitglied des Bundessicherheitsrates, der über
die Rechtmäßigkeit der Exporte wacht, ist zum Beispiel
der Vizekanzler. Er hat in den letzten Monaten bewiesen,
dass er für eine etwas restriktivere Genehmigungspraxis
ist. Die weiteren Mitglieder des Bundessicherheitsrates
sind die Bundesministerinnen und Bundesminister der
Verteidigung, des Auswärtigen, des Innern, der Justiz,
der Finanzen, der Minister für Wirtschaft und Energie
- in diesem Fall der Vizekanzler - sowie der Minister für
wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. Die
Aspekte aus all diesen Ministerien fließen letztendlich in
die Entscheidung ein. Nicht zuletzt ist der Chef des Bundeskanzleramts zu nennen. Der Regierungssprecher und
der Generalinspekteur der Bundeswehr nehmen ebenfalls an den Sitzungen des Bundessicherheitsrates teil.
({0})
Es handelt sich hier also nicht um einen formalen Akt,
wie das von Ihnen oft verkürzt dargelegt wird, sondern
um ein anspruchsvolles Verfahren. Es besteht kein Anspruch auf Erteilung einer Ausfuhrgenehmigung.
({1})
Auch dazu sagen Sie oft nur die halbe Wahrheit. Tatsächlich sind zahlreiche Gesetze und Vereinbarungen zu
beachten, zum Beispiel das Kriegswaffenkontrollgesetz
- das haben Sie selbst erwähnt -, das in § 6 eindeutig besagt, dass Genehmigungen zwingend versagt werden
müssen, wenn die Gefahr besteht, dass Kriegswaffen bei
einer friedensstörenden Handlung, insbesondere bei einem Angriffskrieg, verwendet werden. Das Gesetz enthält also ganz klare Regelungen.
Die Regelungen im Außenwirtschaftsgesetz über die
Erteilung der Ausfuhrgenehmigung für Rüstungsgüter
sind ebenfalls eng gefasst. Es gibt außerdem den Verhaltenskodex der Europäischen Union für Waffenausfuhren,
dessen Kriterien ebenfalls in die Entscheidungsfindung
einfließen. Letztendlich gibt es die Prinzipien der OSZE
zur Regelung des Transfers konventioneller Waffen.
Auch diese Prinzipien finden bei der Erteilung einer
Ausfuhrgenehmigung ihren Niederschlag.
Der Hauptteil der Rüstungsexporte Deutschlands geht
in EU-Länder bzw. an NATO-Partner, also in PartnerlänAndreas G. Lämmel
der, die in einer gemeinsamen Wertegemeinschaft und
Verteidigungsgemeinschaft organisiert sind. Selbst die
Genehmigung dieser Exporte wird sehr restriktiv gehandhabt. Wenn Sie dies immer weiter einengen, dann
wird das dazu führen, dass kein Antrag mehr gestellt
wird,
({2})
weil niemand mehr Lust hat, mehrere Jahre darauf zu
warten, dass eine Genehmigung erteilt wird. Dann würden die deutschen Produzenten als unzuverlässig gelten.
Wenn sie diesen Ruf erst einmal haben, dann können sie
ganz schnell in wirtschaftliche Schwierigkeiten kommen. Die IG Metall hat im letzten Jahr einen langen
Brief in Sachen Sicherheits- und Rüstungsindustrie an
die Mitte des Deutschen Bundestags geschrieben und
deutlich darauf hingewiesen, dass hier Gefahr im Verzug
ist, wenn die Restriktionen wesentlich drastischer gefasst werden.
({3})
Sie sollten mit den Gewerkschaftsfunktionären in Ihrer
Partei einmal darüber reden, dass viel davon abhängt, ob
die Restriktionen zunehmend verschärft werden.
Die beiden zentralen Merkmale deutscher Rüstungspolitik sind seit Jahrzehnten konstant. Es ist ein großer
Vorteil, dass man sich schon im Vorhinein darauf verlassen kann, dass man nur dann einen Antrag zu stellen
braucht, wenn man überhaupt eine Chance hat.
Deutsche Rüstungsgüter sind gefragt, weil die Qualität sehr hoch ist. Was für Autos und Elektrogeräte gilt,
gilt genauso zum Beispiel für U-Boote, für Schiffe oder
für Panzer. Bei den Gewehren scheint es im Moment ein
bisschen schwierig zu sein.
({4})
Wir liefern keine Rüstungsgüter in Konfliktgebiete.
({5})
Frau Keul, noch einige Worte zur Mitwirkung des
Parlaments bei der Ausfuhrgenehmigung. Wir haben
mehrfach in der letzten Legislaturperiode und in dieser
Legislaturperiode darüber diskutiert. Zuerst einmal muss
man sagen: Das Bundesverfassungsgericht hat klar formuliert, dass die Mitgestaltung des Parlaments bei diesen Entscheidungen eigentlich nicht nötig ist. Deswegen
ging die ganze Diskussion darum - das wissen Sie ganz
genau -, wie man das Parlament zeitnah besser über die
Dinge informieren kann, die im Bundessicherheitsrat genehmigt wurden.
Das hat sich in dieser Legislatur deutlich verbessert.
Der Rüstungsexportbericht muss viel zeitnaher abgeliefert werden, nämlich vor Beginn der parlamentarischen
Sommerpause. Ich bin gespannt, ob Sie in den neuen Bericht noch vor der Sommerpause einen Blick werfen
oder ob Sie sich die Lektüre erst danach gönnen. Dann
haben wir im Herbst jedes Jahres einen Zwischenbericht
für das erste halbe Jahr des laufenden Jahres. Das erhöht
die Transparenz über das, was genehmigt worden ist,
schon sehr deutlich. Nach jedem dieser Berichte haben
wir eine Diskussion hier im Parlament, sodass aus unserer Sicht sich die Transparenz im letzten Jahr deutlich
verbessert hat.
Abschließend ist zu sagen: Wir brauchen in Deutschland eine intakte Sicherheits- und Verteidigungsindustrie. Die muss wettbewerbsfähig sein, und sie muss weiterhin die Möglichkeit haben, an Spitzentechnologien zu
forschen und diese zu entwickeln. Wenn wir nicht mehr
den Bedarf in unserem eigenen Lande haben, bleibt
letztendlich nur der viel gescholtene Export. Wir haben
schon in der vorletzten Debatte gehört, welche Auffassung Sie zur deutschen Exportstärke haben. Deshalb
wundert es mich nicht, dass dazu von Ihnen nichts Neues
kommt.
Ich kann nur sagen: Wir brauchen dieses Gesetz nicht.
Wir haben einen Weg zu mehr Transparenz und zu mehr
Information des Parlaments beschritten. Ich denke, das
ist genau der Weg, den wir auch weiter gehen sollten.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({6})
Vielen Dank. - Als nächster Redner hat Jan van Aken
von der Fraktion Die Linke das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Oh
Mann, Herr Lämmel, Sie haben hier neun Minuten über
Waffenexporte geredet. In Ihrer Rede waren so viele
Fehler, dass ich mindestens 20 Minuten bräuchte, um die
alle aufzuzählen.
({0})
Um nur einmal einen Punkt aufzugreifen: Sie behaupten hier einfach, dass der allergrößte Teil der deutschen
Rüstungsexporte in die EU-Länder geht.
({1})
Sie haben überhaupt keine Ahnung. Über 60 Prozent der
deutschen Waffenexporte gehen mittlerweile an Länder
außerhalb der NATO,
({2})
obwohl in diesen Politischen Grundsätzen steht, dass das
die riesengroße Ausnahme sein soll. Über 60 Prozent!
Das haben Sie von der CDU verbrochen.
({3})
Jetzt haben die Grünen ihren Antrag zu Waffenexporten vorgelegt, den wir in ungefähr der gleichen Version
vor drei Jahren hier schon einmal diskutiert haben. Ich
finde, das ist jetzt eine gute Gelegenheit, Bilanz zu ziehen, auch über anderthalb Jahre Tätigkeit des Rüstungsexportministers Gabriel. Der war mit dem Ziel angetreten - das hat er jedenfalls damals gesagt -, deutsche
Waffenexporte drastisch zu reduzieren. Er hat im Januar
2014 ein schönes Interview gegeben, woraus ich zitieren
möchte. Gabriel sagte wörtlich:
… wenn man die Waffen in die falschen Regionen
gibt, kann es zu einem Geschäft mit dem Tod werden. …
({4})
Keine Waffen an Länder, in denen Bürgerkrieg
herrscht. Auch Unrechtsregimen sollte man keine
Waffen verkaufen.
Das ist total richtig so.
({5})
Das Problem ist, dass die Realität des Herrn Gabriel
leider ganz anders aussieht. Nehmen wir Saudi-Arabien.
Ich meine, da sind wir uns doch alle einig, selbst mit
Herrn Lämmel, dass das ein Unrechtsstaat ist, oder?
Schauen wir uns einmal an, dass unter Herrn Gabriel im
Januar 2015, in nur einem Monat, Rüstungsexporte im
Wert von 110 Millionen Euro nach Saudi-Arabien genehmigt worden sind - in nur einem Monat an den Unrechtsstaat Saudi-Arabien! Das ist ein schmutziges Geschäft, und das wissen auch Sie von der SPD.
({6})
Nicht einmal die Tatsache, dass dann Anfang des Jahres die Saudis angefangen haben, Krieg zu führen - die
bombardieren im Jemen, übrigens auch mit deutschen
Waffen -,
({7})
hat dazu geführt, dass die Exporte eingestellt werden.
Selbst nach Beginn der saudischen Bombenangriffe im
Jemen haben Sie von der SPD und der CDU Rüstungsexporte nach Saudi-Arabien genehmigt. Das ist genau
das, was Gabriel „Geschäft mit dem Tod“ genannt hat.
Das macht er jetzt jeden Tag: Ein Geschäft mit dem Tod.
Ich frage mich immer, ob Sie von der SPD nicht anders
wollen oder ob Sie nicht anders können. Ich meine, Frau
Merkel regiert ja auch noch mit, und sie ist voll dabei,
wenn Waffen verkauft werden sollen, jetzt gerade wieder
nach Ägypten.
Fakt ist: Im ganzen Jahr 2014 mit dem Rüstungsexportminister Gabriel ist der größte Teil der deutschen
Rüstungsexporte in Drittländer gegangen. Acht der zehn
Hauptempfängerstaaten sind nicht NATO-Staaten. Das
ist die Realität, Herr Lämmel. Der müssen Sie sich einmal stellen.
({8})
Der Punkt ist jedoch: Wenn wir das wirklich ändern
wollen, dann brauchen wir endlich klare und einfache
Regeln. Änderung geht nicht mit vielem Hin und Her
und Wenn und Aber, sondern wir brauchen klare und
einfache Verbote. Da bin ich jetzt bei dem Antrag der
Grünen.
Eines vorweg: Ich bin völlig bei Ihnen, dass wir endlich ein Gesetz zur Kontrolle von deutschen Rüstungsexporten brauchen. Das ist richtig. Was ich aber nicht
verstehe, ist: Warum wollen Sie in das Gesetz nur das hineinschreiben, was im Moment sowieso schon gilt?
({9})
Warum wollen Sie nur die Politischen Grundsätze in
ein Gesetz überführen? Ich weiß, dass die Politischen
Grundsätze Ihnen naheliegen. Sie haben sie selbst vor
15 Jahren mit aufgestellt. Aber die Politischen Grundsätze erlauben, dass sogar Panzer nach Katar geliefert
werden, sie erlauben, dass Panzer nach Saudi-Arabien
geliefert werden, sie erlauben Exporte an Menschenrechtsverletzer.
Das Problem ist doch, dass Rot-Grün damals einen
ganz großen Ermessensspielraum in den Politischen
Grundsätzen verankert hat. Deswegen sagen wir: Diese
Politischen Grundsätze sind heute wie ein großes Scheunentor, durch das weiter und weiter deutsche Waffen in
alle Welt geliefert werden. Deswegen reichen uns diese
Grundsätze auf gar keinen Fall.
({10})
Ich möchte einmal eine Sache klarstellen. Sie schreiben in Ihrem Antrag, dass die Politischen Grundsätze
von allen politischen Lagern akzeptiert werden. Nein,
ich akzeptiere diese Grundsätze nicht. Auch die Linke
akzeptiert sie nicht, eben weil sie sämtliche Waffenexporte, selbst die nach Katar, selbst die nach SaudiArabien, erlauben.
({11})
Von mir aus können alle Waffenexporte - das wissen
Sie - sofort verboten werden.
Lassen Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Keul zu?
Ja.
Frau Keul, bitte.
Vielen Dank für die Zulassung der Frage. - Irgendwie
sehe ich jetzt doch einen Widerspruch; denn Sie haben
am Anfang Ihrer Rede deutlich gemacht, dass die PolitiKatja Keul
schen Grundsätze der Bundesregierung gerade nicht eingehalten werden. Darin steht nämlich: In der Regel ist
nur an EU- und NATO-Staaten zu exportieren und nur in
wenigen Ausnahmefällen überhaupt an Drittstaaten.
Wir haben in den letzten Jahren aber erlebt - das ist
sowohl im Rüstungsexportbericht 2013 als auch im Rüstungsexportbericht 2014 festgehalten -, dass der Anteil
der Exporte in Drittstaaten dermaßen angestiegen ist,
dass er heute die Regel ist; dorthin gehen sogar über
50 Prozent der exportierten Waffen. Das zeigt doch deutlich, dass die Politischen Grundsätze der Bundesregierung, wie sie im Jahr 2000 aufgeschrieben worden sind,
schlichtweg ignoriert werden. Man bekennt sich zu ihnen zwar, weil sie schön klingen, aber am Ende ignoriert
man sie. Das ist der Grund, warum wir sagen: Wir wollen diese Grundsätze gesetzlich verankern, damit ihre
Einhaltung endlich eingeklagt werden kann.
({0})
Nein, Frau Keul. Sie wissen doch genau, was darin
steht. Darin steht: Waffenexporte an Drittstaaten werden
nicht genehmigt, es sei denn, dass besondere außen- und
sicherheitspolitische Interessen dagegenstehen. - Das
heißt, in jedem Einzelfall wird entschieden und in jedem
Einzelfall werden diese Grundsätze - leider - tatsächlich
eingehalten. Es dürfen sogar Panzer mitten in ein
Kriegsgebiet an Menschenrechtsverletzer exportiert
werden, wenn die sicherheitspolitischen Interessen im
Einzelfall dafürsprechen.
Insofern haben Sie recht: Es ist völliger Wahnsinn,
dass in der Summe über 60 Prozent der Waffenexporte
an Drittstaaten gehen, obwohl diese Grundsätze in jedem
Fall eingehalten werden. Ich finde, das ist der Moment,
wo wir alle hier uns einmal eingestehen müssen, dass
das Prinzip der Politischen Grundsätze, egal ob sie gesetzlich verankert sind oder nicht, nicht funktioniert.
Selbst unter Rot-Grün - ich glaube Ihnen, dass Sie die
Waffenexporte damals reduzieren wollten - sind die
Waffenexporte trotz der Politischen Grundsätze gestiegen. Es funktioniert so einfach nicht.
({0})
Von mir aus können alle Waffenexporte - das wissen
Sie alle - sofort verboten werden. Aber ich bin ja halbwegs Realist. Ich glaube, das dauert noch ein paar Jahre.
Aber das Mindeste, das wir jetzt durchsetzen müssten,
und zwar sofort, sind drei Dinge:
Erstens: keine Exporte mehr von Kleinwaffen, keine
Sturmgewehre, keine Maschinenpistolen, keine Panzerfäuste.
({1})
Zweitens: klare Regeln, dass es keine Waffenexporte
mehr an Menschenrechtsverletzer gibt.
Drittens: kein Steuergeld für Waffenexporte, keine
Hermesbürgschaften für Waffenexporte.
({2})
Das alles sind Dinge, bei denen ich mich die ganze
Zeit frage: Liebe Grünen, warum können Sie sich nicht
endlich einmal dazu durchringen, wenigstens Verbote
von Kleinwaffenexporten zu fordern. Ich verstehe einfach nicht, warum Sie an diesen wischiwaschiweichen
Regelungen aus der Vergangenheit festhalten wollen.
Im Übrigen bin ich der Meinung, dass Deutschland
überhaupt keine Waffen mehr exportieren sollte; aber
das wissen Sie jetzt ja.
({3})
Als nächster Redner hat Bernd Westphal von der
SPD-Fraktion das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Der Export von Sicherheits- und Rüstungsgütern bedeutet nicht gleich Krieg. Dieser Export geschieht
in Deutschland nach klaren Regeln und hohen Maßstäben. Die Politischen Grundsätze - sie wurden ja eben
schon genannt - beruhen auf dem Artikel 26 des Grundgesetzes. Das ist ja auch durch das Bundesverfassungsgericht bestätigt worden. Weiterhin gelten das Außenwirtschaftsgesetz und das Kriegswaffenkontrollgesetz.
Jede Exportanfrage wird im Einzelnen überprüft, abgewogen, und erst dann wird entschieden. Eine Genehmigung wird nur dann erteilt, wenn keine Menschenrechtsverletzungen stattfinden und nachgewiesen werden
können. Sie wird auch nicht erteilt, wenn Krisen in Empfängerländern sich dementsprechend entwickeln.
({0})
Gerade für Staaten außerhalb der NATO und der EU sind
die Regeln besonders streng; denn die Bundesregierung
erteilt nur in Ausnahmefällen Genehmigungen für Rüstungsexporte an Drittstaaten
({1})
und betreibt keine Exportpolitik nach wirtschaftlichem
Interesse. Bei Entscheidungen über Exporte in sogenannte Drittstaaten sind die im Jahr 2000 beschlossenen
Rüstungsexportrichtlinien immer noch Grundlage für
das Handeln der Bundesregierung.
Frau Keul, ich sage Ihnen: Das hat sich bewährt.
Ebenso wurde in den Koalitionsverhandlungen ausdrücklich festgelegt, dass diese Politischen Grundsätze
weiterhin verbindlich sind. Es gilt der Grundsatz der
Selbstbindung der Verwaltung bei der Anwendung der
entsprechenden Regeln des Außenwirtschaftsgesetzes
und des Kriegswaffenkontrollgesetzes. Auf den Gemeinsamen Standpunkt der EU für Rüstungsexporte wird in
den Politischen Grundsätzen ebenfalls Bezug genommen. Diese sind demensprechend gültig.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Grünen fordern
in ihrem Antrag zudem, dass das Bundeskabinett in Zu10490
kunft alle sensiblen Entscheidungen trifft. Wir vertreten
dagegen die Auffassung, dass im Bundessicherheitsrat
sowieso alle für eine solche Entscheidung zuständigen
Minister vertreten sind. Wofür bedarf es dann bei einer
solchen Entscheidung des Gesamtkabinetts? Das ist kein
effizientes Regierungshandeln, wenn am Kabinettstisch
alle Minister solche Vorlagen behandeln. Was hat zum
Beispiel der Landwirtschaftsminister damit zu tun?
({2})
Der Kern des Vorschlags der Grünen besteht in der
Forderung nach einem Verbandsklagerecht. Falls dieses
eingeführt würde, könnte es in vielen Fällen bei Entscheidungen über Rüstungsexporte zu langwierigen Gerichtsverfahren kommen. Dies wäre zum Beispiel auch
bei Entscheidungen der Bündnispartner zur Unterstützung der kurdischen Regionalregierung ein Problem gewesen. Ohne die Waffenlieferungen an die Peschmerga
würden wahrscheinlich die vom IS verfolgten Jesiden
heute nicht mehr existieren, und das ist nicht unser Ziel.
({3})
Die Bundesregierung hat sich für eine restriktive Politik bei Exporten von Rüstungsgütern ausgesprochen.
Dies ist im Koalitionsvertrag fest verankert, und die
Zahlen für das erste Halbjahr 2014 unterstreichen dies.
Im Berichtszeitraum entfielen circa 60 Prozent - das entspricht einem Wert von 1,2 Milliarden Euro - der
Genehmigungen allein auf U-Boote, Fregatten und Patrouillenboote. Ich kann nicht erkennen, dass diese Waffen dort eingesetzt werden können, um zum Beispiel die
eigene Bevölkerung zu drangsalieren.
({4})
Bei Exporten sind die legitimen Sicherheitsinteressen
eines Empfängerlandes zu berücksichtigen. Boote werden unter anderem zum Schutz von Hoheitsgewässern
auf internationalen Seewegen benötigt. Nicht jedes Rüstungsgut trägt automatisch zur Eskalation einer Situation
bei oder ist eine potenzielle Bedrohung für die heimische
Bevölkerung. Bei den Staaten in der Golfregion handelt
es sich um souveräne Staaten mit eigenen außen- und sicherheitspolitischen Interessen. Diese Staaten nehmen
ihre legitimen Aufgaben wahr, ihr eigenes Recht und ihr
eigenes Land zu schützen, zum Beispiel gegen Terrorismus.
Lassen Sie eine Zwischenfrage zu, Herr Westphal?
Ja, sicher.
Vielen lieben Dank, Herr Kollege Westphal, dass Sie
die Frage zulassen. - Sie sprechen ja gerade von den legitimen außen- und sicherheitspolitischen Interessen der
Empfängerländer. Jetzt ist es ja so gewesen: Vor ein paar
Jahren ist Saudi-Arabien mit Panzern in das Nachbarland Bahrain einmarschiert, um dort den friedlichen
Aufstand im Rahmen des Arabischen Frühlings zu unterdrücken. Saudi-Arabien ist ja ein großer Empfänger von
deutschen Rüstungsexporten. Halten Sie das für legitime
außen- und sicherheitspolitische Interessen, die von
deutscher Seite aus mit Rüstungsexporten unterstützt
werden sollen?
({0})
Das sind nicht unbedingt Panzer. Man muss sich ganz
genau angucken, welche Dinge dorthin geliefert werden.
Es handelt sich auch um viele Dinge aus dem Sicherheitsbereich. Das kann zum Beispiel ein Zaun mit
Sicherheitssystemen sein, der die Grenzen von SaudiArabien schützt, der auch unter den Export von
Rüstungs- und Sicherheitsgütern fällt. Es ist sicherlich
legitim, solche Dinge an dieses Land zu liefern.
({0})
Im ersten Halbjahr 2014 wurden Einzelausfuhrgenehmigungen für Waren im Wert von 2,2 Milliarden Euro
erteilt. Das ist immerhin ein Rückgang um 700 Millionen Euro. Rund zwei Drittel des Gesamtwertes betrafen
Genehmigungen für Lieferungen an sogenannte Drittstaaten, vor allem an Israel, Singapur, Südkorea und
Brunei. Allein auf die Genehmigung der Lieferung eines
U-Bootes nach Israel entfällt zum Beispiel ein Wert von
600 Millionen Euro.
Bei den Exportgenehmigungen für Kleinwaffen und
Kleinwaffenteilen an Drittländer ist eine erhebliche Abnahme von 18 Millionen Euro auf 1,4 Millionen Euro zu
verzeichnen. Mit Ausnahme von Indonesien sank die
Zahl der Genehmigungen im Vergleich zum ersten Halbjahr 2013. Der Wert der Genehmigungen war bei den
eben genannten Ländern ebenfalls rückläufig.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, bezüglich der
Forderung nach einer ausführlichen Unterrichtung des
Parlaments wurden hier schon einige Dinge gesagt. Ich
denke, es kommt dem Wunsch des Parlamentes entgegen, dass wir schon jetzt viele Berichte zeitnah bekommen. Der Rüstungsexportbericht wird zeitnah zweimal
im Jahr veröffentlicht. Bisher vergingen bis zur Veröffentlichung bis zu eineinhalb Jahre.
Die Entscheidung des Bundessicherheitsrates muss
innerhalb von zwei Wochen an den Wirtschaftsausschuss
des Bundestages berichtet werden. Das ist bereits Praxis.
Damit wurde die Geheimhaltungspraxis bei Exporten
von deutschen Rüstungsgütern sowie bei Rüstungs- und
Beschaffungsprojekten für die Bundeswehr beendet.
Deutschland verfolgt nicht das Ziel eines offensiven
Verkaufs von Wehrtechnik. Rüstungs- und Verteidigungsgüter werden nicht eingesetzt, um weltweit Konflikte zu erzeugen oder anzuheizen.
({1})
Sie dienen dem Frieden und der Durchsetzung von Menschenrechten, der Sicherheit von Regionen und dem berechtigten Schutz von Menschen.
({2})
Und sie helfen vor allem, geschützte Räume zum Beispiel für den Einsatz von Hilfskräften zu garantieren.
({3})
Das wird weiterhin im Fokus unserer Politik stehen.
Vielen Dank.
({4})
Vielen Dank. - Als nächster Redner hat Helmut
Nowak von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Meine Damen und Herren! Die Grünen
fordern in ihrem Antrag strengere Kontrollen und mehr
Transparenz. Dabei ist die Genehmigung von Rüstungsexporten schon heute bis ins Detail geregelt und streng
überwacht. Für den gesamten Handlungsprozess bestehen bereits strikte Vorgaben. Das gilt insbesondere für
Drittländer. Eine Ausfuhr wird nur in Ausnahmefällen
gestattet.
({0})
Im weltweiten Vergleich hat Deutschland seit vielen Jahren die restriktivste Praxis in Bezug auf Genehmigungen
bis hin zum letztendlichen Verbleib der Rüstungsgüter,
also bis zu der Zeit nach der Nutzung.
({1})
In ihren Entscheidungen richtet sich die Bundesregierung maßgeblich nach den Politischen Grundsätzen der
Bundesregierung für den Export von Kriegswaffen und
sonstigen Rüstungsgütern. Diese wurden übrigens im
Jahr 2000 - das ist schon mehrfach genannt worden von der rot-grünen Regierung beschlossen, und das war
auch gut so.
Auch die jetzige Koalition bekennt sich im Koalitionsvertrag ausdrücklich zu diesen Dingen. Die darin
enthaltenen Genehmigungskriterien für Exporte sind
durch Aufnahme als Ermessensleitlinie bereits verbindlich. Sie bedürfen daher keiner weiteren Einbindung in
das Gesetz.
Als rechtliche Basis dienen der Bundesregierung das
Außenwirtschaftsgesetz, die Außenwirtschaftsverordnung und das Gesetz über die Kontrolle von Kriegswaffen. Laut dieser Gesetze bzw. Verordnung wird bei der
Ausfuhr aller Rüstungsgüter eine Genehmigung benötigt.
Es wird grundsätzlich keine Genehmigung erteilt,
wenn auch nur der „hinreichende Verdacht“ besteht, dass
die Bevölkerung des Empfängerlandes interner Repression oder sonstiger Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt ist. Zudem wird das Verfahren bei den Genehmigungsprozessen durch den Verhaltenskodex der
Europäischen Union für Waffenausfuhren sowie durch
die Prinzipien zur Regelung des Transfers konventioneller Waffen der OSZE geregelt. Der Bundessicherheitsrat
trifft die abschließende Entscheidung. Wie im Koalitionsvertrag vereinbart, unterrichtet die Bundesregierung
den Deutschen Bundestag und damit die Öffentlichkeit.
Dadurch wird Transparenz gegenüber Parlament und
Bürgerinnen und Bürgern entsprechend den festgelegten
Berichtspflichten sichergestellt.
Bereits im Frühjahr 2014 stufte das Bundesverfassungsgericht die in diesem Zusammenhang durchgeführte Informationspraxis als verfassungsgemäß ein. Daher sehe ich auch hier keine Anknüpfungspunkte für die
gestellten Forderungen.
Der Export von Gütern der Sicherheits- und Verteidigungsindustrie in Deutschland ist somit bereits streng
geregelt, reglementiert, und die damit einhergehende Informationspraxis ist rechtlich verankert. Insbesondere
eine weitere Verschärfung ist daher an dieser Stelle nicht
erforderlich. Zusätzliche Restriktionen brächten die
deutsche Sicherheitswirtschaft dagegen in eine durchaus
prekäre Lage. Schon jetzt müssen die deutschen Unternehmen fürchten, aus der internationalen Sicherheitskooperation verdrängt zu werden, da sie im globalen
Ansehen zunehmend an Verlässlichkeit einbüßen. Bei
internationalen Rüstungsmessen werben ausländische
Hersteller bei der Präsentation ihrer Produkte inzwischen mit „German free“, was bedeuten soll, dass auf
deutsche Bauteile und deutsches Know-how verzichtet
wurde. Verzichtet wurde deshalb, weil kein Vertrauen
mehr in eine langfristig angelegte Zusammenarbeit besteht. Und das, sehr geehrte Damen und Herren, ist eine
wirklich besorgniserregende Entwicklung.
Die deutsche Rüstungsexportpolitik war immer eine
Politik der Selbstbeschränkung. Wir setzen damit internationale Standards und gehen mit gutem Beispiel voran. Alles ist genau und transparent geregelt. In präzisen
Einzelfallüberlegungen wird etwa erörtert: Wer erhält
die Güter? Zu welchem Zweck? Was passiert mit dem
Gerät nach der Nutzungsphase? - Glauben Sie, dass das
in irgendeinem anderen Land ähnlich gehandhabt wird?
Ich zumindest kenne keines.
({2})
Beschränkungen dürfen aber nicht durch immer weitere Verschärfungen dazu führen, dass bei uns ganze Industriebereiche vernichtet werden. Firmen bekämen
nicht mehr genügend Aufträge, Zehntausende Angestellte verlören ihren Arbeitsplatz, was gleichzeitig ein
Ende von Entwicklung und Produktion von Sicherheits10492
gütern in Deutschland bedeuten würde, oder die Unternehmen sähen sich gezwungen, ins Ausland abzuwandern. In beiden Fällen gingen damit der dauerhafte
Verlust des entsprechenden technischen Know-hows sowie hochqualifizierter Arbeitsplätze einher. Die Folge
wäre eine erhebliche Schwächung der außen- und sicherheitspolitischen Handlungsfähigkeit Deutschlands. Wir
wären abhängig von Importen und würden somit weniger Kontrolle über unsere eigene nationale Sicherheit besitzen, und dies in einer Zeit, in der Krisen und Kriege
mittlerweile direkt vor unserer Haustür stattfinden.
Es ist aber eine Kernaufgabe staatlichen Handelns,
die Sicherheit seiner Bürger und die seiner Bündnispartner zu garantieren. Hierzu zählen Frieden und Stabilität
im Inland sowie eine wirksame Landesverteidigung. Wir
dürfen dabei auch nicht übersehen, dass sich viele
NATO-Staaten bei der Sicherung ihrer Länder auch auf
deutsche Technologie verlassen. Aber auch viele Staaten, die nicht Mitglied des Nordatlantischen Bündnisses
sind, vertrauen bei ihrer Landesverteidigung auf deutsches Know-how. Soll Deutschland den anderen Ländern verwehren, sich dafür einzusetzen, ihre Landesgrenzen auch mit deutscher Technologie zu sichern und
das Leben, das Hab und Gut der eigenen Bevölkerung zu
schützen?
Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen, eines ist
doch auch klar: Eine noch weitere Beschränkung von
Rüstungsexporten bis hin zur totalen Aufgabe, wie sie
gefordert wird, würde den weltweiten Handel von Rüstungsgütern in keiner Weise stoppen, nicht einmal quantitativ verändern. Unsere Exporte würden dann lediglich
von anderen Ländern übernommen werden, deren Kontrollen und Anforderungen wesentlich geringer ausfallen - von der Berücksichtigung der Menschenrechtslage
ganz zu schweigen.
Ich sage, mit zusätzlichen Verschärfungen der Gesetzgebung im Bereich der Rüstungsexportkontrolle erreichen wir keines der von Ihnen gewünschten Ziele. Wir
wollen unsere wettbewerbsfähigen Unternehmen und
Technologien im Inland fördern. Wir wollen bei der
Kontrolle von Rüstungsexporten weltweit Standards setzen und mit gutem Beispiel vorangehen. Wir wollen unseren Bürgern eine wirksame Landesverteidigung garantieren. Wir wollen anderen Ländern dieselbe sichere und
stabile Landesverteidigung nicht verwehren. Daher ist
es, entgegen Ihrem Ansinnen, dringend notwendig, die
deutsche Sicherheits- und Verteidigungsindustrie weiterhin nachhaltig zu stärken. Ihrem Antrag können wir deshalb nicht zustimmen.
Ich danke Ihnen.
({3})
Vielen Dank. - Nächste Rednerin für die SPD-Fraktion ist die Kollegin Ute Finckh-Krämer.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer auf den Tribünen! Alle
14 Minuten stirbt auf der Welt ein Mensch durch eine
Kugel aus einer Waffe von Heckler & Koch - das hat die
„Aktion Aufschrei - Stoppt den Waffenhandel!“ ausgerechnet. Angesichts dessen, was über Jahrzehnte an
deutschen Waffen in Umlauf gekommen ist, fürchte ich,
dass sie recht hat.
Jürgen Grässlin schreibt in seinem Buch Schwarzbuch
Waffenhandel, dass täglich im Durchschnitt etwa
2 000 Menschen auf der Welt durch Waffengewalt sterben, die meisten davon - rund 95 Prozent - durch Kleinwaffen. Deswegen ist nicht nur für die SPD, sondern
auch für die Organisationen, die sich zu Recht und mit
großem Engagement gegen Rüstungsexporte einsetzen,
das Thema „Kleinwaffenproliferation und Kleinwaffenexporte“ seit Jahren das entscheidende.
An diesem Punkt ist in diesem Jahr tatsächlich etwas
passiert: Einerseits gab es eine öffentliche Anhörung im
Petitionsausschuss, weil die „Aktion Aufschrei - Stoppt
den Waffenhandel!“ eine Petition auf den Weg gebracht
hatte, die 90 000 Unterschriften erhalten hat. Zu dieser
Anhörung ist Sigmar Gabriel selber gekommen. Er hat
ganz deutlich gesagt, dass aus seiner Sicht als Wirtschaftsminister - ich glaube, da hat er für die ganze
SPD-Fraktion gesprochen - Waffenexporte kein Mittel
der Industrieförderung sind, Rüstungsforschung auch
kein Grund dafür ist, Waffenexporte zu genehmigen,
sondern dass, wenn überhaupt, nur andere Kriterien - da
hat er sich auf die Rüstungsexportrichtlinie bezogen herangezogen werden dürfen.
({0})
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Vogler?
Ja, gerne.
Bitte schön, Frau Kollegin Vogler.
Liebe Kollegin Finckh-Krämer, vielen Dank, dass Sie
meine Zwischenbemerkung zulassen. Ich freue mich,
dass Sie so ausführlich über die „Aktion Aufschrei Stoppt den Waffenhandel!“ und über die Aktivitäten zur
Begrenzung von Kleinwaffenexporten sprechen. Ich
würde einfach mal nachfragen wollen: Wie passt es,
wenn die SPD hinter diesen Aktivitäten steht und auch
der Wirtschaftsminister angeblich alles dafür tun will,
dass der Handel mit Kleinwaffen nicht mehr Bestandteil
der Wirtschaftspolitik ist, ins Bild, dass der Staatssekretär im Wirtschaftsministerium Uwe Beckmeyer im Februar dieses Jahres, und zwar unmittelbar nach dem Red
Hand Day, an dem wir gegen den Einsatz von Kindersoldaten demonstriert haben, im Rahmen einer Reise nach
Indien, einem Land, in dem Kinder für gewalttätige AusKathrin Vogler
einandersetzungen rekrutiert werden, eine umfangreiche
Wirtschaftsdelegation zu Rüstungs- und Sicherheitstechnologien bei sich gehabt hat, in der unter anderem die
Firma Heckler & Koch vertreten war? Die Kollegin Parlamentarische Staatssekretärin Brigitte Zypries hat diesen Vorgang in der Fragestunde des Bundestages als
Rüstungsförderung „by the way“ bezeichnet. Ist es so,
dass die SPD - den Eindruck konnte man auch bei der
Rede Ihres Kollegen aus dem Wirtschaftsbereich bekommen - es nach außen hin so darstellt, als ob sie Rüstungsexporte gar nicht so gut findet und wirklich etwas
dagegen unternehmen und sie transparenter gestalten
will, tatsächlich aber heimlich Wirtschaftsdelegationen
zur Förderung des Kleinwaffenhandels in Ländern wie
Indien begleitet, und das unmittelbar nach dem Red
Hand Day?
({0})
Liebe Kathrin Vogler, das, was Uwe Beckmeyer als
Parlamentarischer Staatssekretär macht, basiert nicht auf
einem Beschluss der SPD-Fraktion. Insofern wäre ich
froh, wenn diese Frage an ihn gerichtet würde und nicht
an mich.
Was ich referieren kann - das kommt ebenfalls aus
dem Wirtschaftsministerium, aber nicht von Uwe
Beckmeyer -, sind die neuen „Grundsätze der Bundesregierung für die Ausfuhrgenehmigungspolitik bei der
Lieferung von Kleinen und Leichten Waffen, dazugehöriger Munition und entsprechender Herstellungsausrüstung in Drittländer“ vom 18. März dieses Jahres. Darin
sind einige der Forderungen aufgegriffen, die von Organisationen wie der „Gemeinsamen Konferenz Kirche
und Entwicklung“ oder von der „Aktion Aufschrei Stoppt den Waffenhandel!“ geäußert worden sind - ich
zitiere Punkt 6 -:
Der Exportgrundsatz „Neu für Alt“ wird grundsätzlich bei Genehmigungen von Kleinen und Leichten
Waffen angewendet. Das heißt: staatliche Empfänger von Kleinen und Leichten Waffen haben grundsätzlich eine Verpflichtungserklärung dahingehend
abzugeben, dass sie die durch die Neubeschaffung
zu ersetzenden Kleinen und Leichten Waffen vernichten. … Die Bundesregierung trägt dafür Sorge,
- so geht es weiter im Text dass die Umsetzung des Exportgrundsatzes „Neu
für Alt“ sowie dessen Variante „Neu, Vernichtung
bei Aussonderung“
- sie wird dazwischen geschildert überwacht wird.
Ein weiterer Punkt dieser Grundsätze, die übrigens im
Internet auf der Seite des Wirtschaftsministeriums öffentlich zugänglich sind, ist der Punkt 9, bei dem es um
die Kennzeichnung von Kleinen und Leichten Waffen
geht, weil der Weiterverkauf bzw. die unkontrollierte
Weitergabe eines der großen Probleme bei Kleinen und
Leichten Waffen ist. Unter Punkt 9 heißt es:
Kleine und Leichte Waffen sind mit Kennzeichen
zu versehen, die leicht erkennbar, lesbar, dauerhaft
und nach Maßgabe der technischen Möglichkeiten
wiederherstellbar sind. Die umfassende Kennzeichnung von in Deutschland hergestellten Kleinen und
Leichten Waffen wird rechtsverbindlich geregelt
und erfolgt unter Berücksichtigung internationaler
Verpflichtungen.
Unter Punkt 10 heißt es schließlich - hoffentlich wird
er sich in Zukunft hilfreich auswirken -:
Die Bundesregierung bekräftigt in diesem Zusammenhang, dass überschüssige Kleine und Leichte
Waffen im Verantwortungsbereich der Bundeswehr
grundsätzlich vernichtet werden.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Keul?
Ja.
Bitte schön. - Vielleicht darf ich vorher noch einmal
darauf aufmerksam machen, dass die Zwischenfragen
oder Zwischenbemerkungen immer kurz und präzise
sein sollten, damit eine ebenso kurze und präzise Antwort möglich ist.
Ich werde das berücksichtigen. - Frau FinckhKrämer, Sie zitieren aus diesem glorreichen Papier. Ich
möchte deshalb nachfragen, ob Sie mir einen Punkt nennen können, der in irgendeiner Weise neu ist. Alle diese
Punkte, die Sie eben genannt haben - Punkt 6: „Neu für
Alt“, Punkt 9: „sind zu kennzeichnen“, Punkt 10: „bekräftigen wir“ -, stehen seit Jahren wortwörtlich so in den
Rüstungsexportberichten, einschließlich: „Wir werden
keine Waffenlizenzen an Drittstaaten genehmigen“. - Das
steht alles wortwörtlich seit Jahren in den Berichten. Wo
in diesen Grundsätzen ist auch nur irgendein Komma
neu?
({0})
Neu ist zumindest, dass es eine Absichtserklärung der
Bundesregierung ist, die in der letzten Legislaturperiode
vielleicht nicht ganz so - das hat die SPD in der Opposition zu Recht kritisiert - eingehalten wurde. Jetzt wird
sie noch einmal in zehn knappen und präzisen Punkten
festgelegt. Letztlich ist es - das kann man so formulieren eine Bekräftigung, dass man die etwas lockerere Genehmigungspraxis der letzten Legislaturperiode nicht mehr
haben möchte.
Bernd Westphal hat eben schon aus dem Zwischenbericht über die Rüstungsexporte im ersten Halbjahr 2014
zitiert, der im Herbst veröffentlicht wurde. Dort ist gegenübergestellt, wie viele Kleinwaffen im ersten Halbjahr 2013, also unter Schwarz-Gelb, in NATO- bzw. EU10494
Länder oder in Länder außerhalb der EU bzw. NATO
und gleichgestellte Länder exportiert wurden. Hier sind
die Zahlen drastisch zurückgegangen. Übrigens enthält
dieser Bericht in der Anlage eine vollständige Liste über
die „Genehmigungen von Kleinwaffen für Drittländer
im ersten Halbjahr 2014 ({0})“. Man
kann also nachlesen, in welche Länder im ersten Halbjahr 2014 exportiert wurde.
Aus meiner persönlichen Sicht ist jede Kleinwaffe,
die exportiert wird, eine zu viel. Andererseits haben etliche in diesem Haus - auch von Ihrer Partei, soweit ich
weiß - diversen VN-Missionen zugestimmt. In Anlage 7
zu diesem Zwischenbericht sind auch einzelne Exporte
in VN-Missionen aufgeführt. Das sollten Sie dann unter
Umständen mal intern diskutieren.
({1})
- Eben, genau. Aber wenn man Waffenlieferungen in
VN-Missionen akzeptiert, kann man nicht ganz so
grundsätzlich argumentieren, wie man das kann, wenn
man auch VN-Missionen ablehnt.
Was ich noch wichtig finde und was ich allen hier im
Raum noch mitgeben möchte: Vorgestern ist das Friedensgutachten 2015 erschienen. Viele von uns, die wir in
den zuständigen Ausschüssen sind, haben inzwischen
mit den Herausgeberinnen und Herausgebern Gespräche
geführt. Der Bundestag ist ja auch ein Gremium, das gelegentlich dazulernt; auch die Bundesregierung lernt gelegentlich dazu. Deswegen möchte ich zum Schluss
noch einmal daran erinnern, was im Friedensgutachten
in der Stellungnahme der Herausgeberinnen und Herausgeber zu Waffenexporten steht. Sie sagen ganz klar, dass
Waffenlieferungen an Konfliktparteien ein ungeeignetes
Mittel sind, um Völkermord und Verbrechen gegen die
Menschlichkeit zu verhindern, und sie kommen als Experten für Friedens- und Konfliktforschung zu dem
Schluss, dass auch Waffenlieferungen an vermeintliche
Stabilitätsanker wie zum Beispiel Saudi-Arabien abzulehnen sind, weil sie zu einer friedlichen Entwicklung
der Region nichts beitragen.
Ich hoffe, dass wir in einem weiteren Diskurs mit den
Expertinnen und Experten, die das Friedensgutachten
herausgeben, zu weiteren Erkenntnissen in Bezug auf
Waffenlieferungen kommen und dass sich dann noch
weitere Änderungen über den Bereich der Kleinwaffen
hinaus ergeben.
Danke schön.
({2})
Vielen Dank. - Damit sind wir am Ende der Aussprache.
Unstrittig ist die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 18/4940 an die in der Tagesordnung aufgeführten
Ausschüsse.
Strittig ist die Federführung. Die Fraktionen der
CDU/CSU und SPD wünschen Federführung beim Ausschuss für Wirtschaft und Energie. Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen wünscht die Federführung beim Auswärtigen Ausschuss.
Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen abstimmen. Wer
stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist der
Überweisungsvorschlag gegen die Stimmen der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen von den übrigen Fraktionen abgelehnt worden.
Ich lasse nun abstimmen über den Überweisungsvorschlag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD: Federführung beim Ausschuss für Wirtschaft und Energie.
Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Überweisungsvorschlag ist mit den Stimmen von CDU/CSUund SPD-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktionen
Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf:
Beratung des Antrags der Bundesregierung
Fortsetzung der deutschen Beteiligung an der
internationalen Sicherheitspräsenz in Kosovo
auf der Grundlage der Resolution 1244 ({0})
des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen
vom 10. Juni 1999 und des Militärisch-Technischen Abkommens zwischen der internationalen Sicherheitspräsenz ({1}) und den
Regierungen der Bundesrepublik Jugoslawien ({2}) und der Republik Serbien vom 9. Juni 1999
Drucksache 18/5052
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({3})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Haushaltsausschuss gemäß § 96 der GO
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich bitte jetzt, die Plätze einzunehmen. Die Kollegin
Vogler und die Kollegin Finckh-Krämer können vielleicht draußen weiterreden. - Danke.
Ich eröffne die Aussprache. Für die Bundesregierung
erhält das Wort Bundesminister Dr. Frank-Walter
Steinmeier.
({4})
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Ich weiß nicht, ob Sie es alle wissen: Gestern war Tag des Peacekeepers. Wir haben gestern als
Bundesregierung neun junge Frauen ausgezeichnet - einige waren bei der Veranstaltung dabei, unter anderem
Frau Finckh-Krämer -, die in unterschiedlichen Peacekeeping-Aktionen in der Welt unterwegs sind. Unter ihnen war eine Frau, die vom Podium aus erzählt hat, dass
sie vor vielen Jahren bei EULEX, auf dem Balkan, im
Kosovo, angefangen hat und heute mit anderen europäischen Richtern dabei ist, im Kosovo das höchste Gericht
aufzubauen. Sie hat gesagt, nicht alles sei vollständig,
nicht alles so, wie wir uns das wünschen, aber man
komme voran.
Wenn man sich die verschiedenen Berichte all derjenigen, die in Peacekeeping-Operationen unterwegs waren,
auch derjenigen, die auf dem Balkan waren, anschaut,
dann kommt einem vieles von dem in Erinnerung, was
man schon verdrängt hat: blutige Auseinandersetzungen,
Menschenrechtsverletzungen, Instabilität, Krieg und
Bürgerkrieg. Das alles ist erst wenige Jahre her.
KFOR, eine Operation, über die wir uns hier im Deutschen Bundestag jedes Jahr unterhalten, geht jetzt ins
16. Jahr. Manch einer mag fragen: Wenn das schon
16 Jahre dauert, ist das dann eigentlich noch sinnvoll?
Ich will das mit einem eindeutigen Ja beantworten, gerade weil mir noch vor Augen ist, wie es am Anfang war,
wie viel Instabilität und Unsicherheit auf dem westlichen
Balkan vorhanden war. Ich weiß, was sich verändert hat,
seit wir dem westlichen Balkan insgesamt eine europäische Perspektive haben anbieten können.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, dass viele Staaten
in der Region sicherer und stabiler geworden sind, ist
eben auch das Verdienst der deutschen Soldatinnen und
Soldaten im Rahmen von KFOR.
({0})
Wir wissen, dass positive Entwicklungen in einem Staat
des westlichen Balkans stabilisierende Konsequenzen
auch für die Nachbarstaaten haben. Das ist in einer ethnisch so eng verflochtenen Region wie dem westlichen
Balkan notwendigerweise so. Ich will ausdrücklich sagen: Unsere Soldatinnen und Soldaten haben dazu einen
entscheidenden Beitrag geleistet. Dafür gebührt ihnen
Dank und unsere ganze Anerkennung.
({1})
Es geht nicht nur um KFOR und den Einsatz der Soldatinnen und Soldaten. Wenn man genauer hinschaut,
stellt man fest, dass sich trotz aller Unvollständigkeit
und trotz aller Gründe, zu klagen, zwischen den Staaten,
die miteinander im Konflikt lagen und nach wie vor unterschiedliche Interessen haben, etwas bewegt. Das wird
etwa deutlich, wenn wir auf das Verhältnis zwischen
Serbien und Kosovo schauen: Sie bewegen sich mit viel
Mühe und Kompromissbereitschaft, jedenfalls von Zeit
zu Zeit, aufeinander zu. Sie haben ihr Verhältnis grundlegend neu geregelt. Im Wege der Normalisierungsvereinbarung, die zur Umsetzung ansteht, hat sich die Beziehung zwischen diesen beiden Ländern durchaus
verbessert. Das gilt auch für den Norden des Kosovo; ich
bin mir sicher, der eine oder andere von Ihnen war vor
kurzem dort. Dort gibt es immerhin einheitliche Polizeistrukturen und legitimierte Kommunalverwaltungen.
Das ist mehr als ein Schritt nach vorne. Aber es fehlt
natürlich noch vieles. Wir reden - ich bin gerade erst
dort gewesen - mit den Kosovaren und den Serben über
die Einrichtung eines kosovo-serbischen Gemeindeverbandes. Diesbezüglich gibt es noch einige Dinge zu klären. Wir reden darüber, wie die Energieversorgungs- und
Telekommunikationsbeziehungen zwischen Serbien und
dem Kosovo geregelt werden können. All das ist Gegenstand der Normalisierungsvereinbarung. Das ist aber
noch nicht umgesetzt.
Wir dürfen nicht nachlassen. Wir dürfen nicht nachlassen in unserem politischen Druck, aber wir dürfen
auch nicht nachlassen in unseren Bemühungen, dort Sicherheit und Stabilität zu gewährleisten. Deshalb brauchen wir KFOR nach wie vor. Deshalb bitten wir Sie um
die Fortsetzung des Mandats.
({2})
Wir tun das nicht - ich hoffe, das versteht keiner
miss - nur aus reinster Nächstenliebe. Europa hat auch
eigene Interessen. Wir haben Interesse an einer sicheren
und stabilen Nachbarschaft auf dem westlichen Balkan.
Weil das so ist, verfolgen wir die Geschehnisse in unterschiedlichen Staaten nicht nur mit Interesse, sondern
manchmal auch mit Unruhe.
Mit Unruhe verfolge ich in diesen Tagen etwa die
Entwicklung in Mazedonien. Ich habe heute Morgen mit
EU-Kommissar Hahn gesprochen, der sich redlich bemüht, dort schlichtend zwischen den Streitparteien tätig
zu werden. Aber es sind fragile Beziehungen zwischen
den verschiedenen ethnischen Gruppen. Der Rückfall
des Landes ist jedenfalls nicht ausgeschlossen, wenn die
politisch Verantwortlichen ihrer Verantwortung nicht gerecht werden.
In der vergangenen Woche schien es so zu sein, als ob
wir einen Schritt weiter wären. Es schien so zu sein, dass
der Weg hin zu Neuwahlen in einem überschaubaren
Zeitraum geebnet ist. Diese Woche haben Gespräche darüber stattgefunden, wie man den Zeitraum bis zum
Stattfinden von Neuwahlen so gestaltet, dass alle ethnischen und politischen Gruppierungen bei diesen Wahlen
eine faire Chance haben. Diese Gespräche sind gestern
nicht gut gelaufen. Ich hoffe, dass wir sie in allernächster
Zeit wiederholen können. Ich hoffe auch, dass der Ministerpräsident von Mazedonien weiß: Wer sich auf dem
westlichen Balkan auf den Weg nach Europa begibt und
hofft, dort anzukommen, der wird diesen Weg nur dann
erfolgreich gehen können, wenn er seine Verantwortung
zur Wahrung demokratischer und rechtsstaatlicher Strukturen wirklich wahrnimmt.
({3})
Es gibt Licht und Schatten auf dem westlichen Balkan; das hatte ich gesagt. Vorübergehend Licht gab es jedenfalls mit Blick auf Bosnien. Wir hatten dort über
viele Jahre eine völlig blockierte innenpolitische Situation. Sie haben gesehen, dass ich versucht habe, gemeinsam mit dem britischen Außenminister eine Initiative zu
starten, um die bosnischen Entitäten und die politischen
Parteien in Bosnien-Herzegowina wieder miteinander
ins Gespräch zu bringen, indem wir sie davon weggebracht haben, die schwierigsten Fragen dieses Gemeinwesens, etwa die Reform der Verfassung, zu Anfang zu
lösen, und sie ermutigt haben, sich zunächst einmal den
sozioökonomischen Notwendigkeiten zu stellen und ein
gemeinsames Reformprogramm auf den Weg zu bringen. Da jedenfalls scheint es Fortschritt zu geben. Ich
hoffe, dass die Republik Srpska diesen Prozess nicht erneut blockiert. Dieser Fortschritt wäre jedenfalls eine
Voraussetzung dafür, dass der Rückstand, den BosnienHerzegowina auf dem europäischen Weg erlitten hat
- auch kraft eigenen Versagens -, nach und nach aufgeholt wird.
Mein wichtigstes Beispiel, wenn ich in dieser Region
unterwegs bin, ist immer Kroatien. Das Land ist seit Jahren Mitgliedstaat der Europäischen Union. Kroatien ist
einen Weg gegangen, der diesem Land nicht leichtgefallen ist. Es gibt Länder wie Montenegro, die auf einem
ähnlichen Weg sind und erkannt haben, dass sie sich
selbst bewegen müssen, wenn der Zug in Richtung Europa schleuniger fahren soll.
Ob das Ganze auch für Serbien gilt, müssen wir sehen. Mit Serbien sind wir zurzeit in intensiven Gesprächen. Serbien wünscht die Eröffnung von Beitrittskapiteln. Der Deutsche Bundestag hat seine Erwartungen
dazu geäußert. Wir haben bei unseren letzten Gesprächen in Serbien noch einmal deutlich gemacht, dass ein
signifikanter Fortschritt bei der Umsetzung der Normalisierungsvereinbarung für die Regierung eine der Voraussetzungen dafür ist, dass wir der Eröffnung von Beitrittskapiteln tatsächlich zustimmen können.
Dieser kurze Überblick über die Situation auf dem
westlichen Balkan mag zeigen: Es ist eine Region mit
viel Licht und Schatten, eine Region, die weiterhin unsere dringende Aufmerksamkeit verlangt. Verlangt ist
aber auch, dass wir unser Bemühen um Sicherheit und
Stabilität nicht aufgeben. Dafür brauchen wir KFOR;
deshalb noch einmal meine Bitte um Zustimmung.
Vielen Dank.
({4})
Vielen Dank. - Nächster Redner ist Dr. Alexander
Neu für die Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrte Damen und Herren! Sehr geehrte Frau
Präsidentin! Kanzlerin Merkel wird nicht müde, zu behaupten, Russland habe die europäische Friedensarchitektur zerstört. Am 9. Mai dieses Jahres erklärte Frau
Merkel in Moskau:
Durch die verbrecherische und völkerrechtswidrige
Annexion der Krim hat die Zusammenarbeit … einen schweren Rückschlag erlitten.
Hierzu zwei Anmerkungen:
Erste Anmerkung. Welche europäische Friedensordnung meint Frau Merkel? Meint sie die Nichtumsetzung
der Charta von Paris? Meint sie das Verhindern der
Schaffung eines gemeinsamen europäischen Hauses auf
ökonomischer und sicherheitspolitischer Grundlage von
Lissabon bis Wladiwostok?
Beides sind im Übrigen Konzepte, die tatsächlich eine
europäische Friedensordnung hätten schaffen können
und die vermutlich auch die Konflikte in der Ukraine
und in Jugoslawien verhindert hätten. Stattdessen haben
wir eine Ausdehnung der NATO und der Europäischen
Union und NATO-Kriege auch in Europa - gegen Jugoslawien - gesehen.
Der Westen hatte seit 1991 die historische Chance,
der Welt die Tauglichkeit seiner eigenen Werte und zivilisatorischen Standards unter Beweis zu stellen. Was geschah? Man versagte. Die Verlockung von Macht und
geopolitischen Gewinnen wog schwerer als die friedenspolitische Vernunft. Merkels sogenannte Friedensordnung ist nichts anderes als eine vom Westen diktierte
Machtordnung, eine Machtordnung, die nicht mehr
funktioniert.
({0})
Zweite Anmerkung. Es geht um Merkels Aussage der
völkerrechtswidrigen Annexion der Krim. Es lässt sich
darüber streiten, ob dies eine Annexion oder eine Sezession mit Beitritt zur Russischen Föderation war. Fakt ist:
Nimmt man das UN-Völkerrecht, das heißt die UNCharta, ernst, dann war die Aufnahme der Krim in die
Russische Föderation völkerrechtswidrig. Fakt ist aber
auch: Der Westen nimmt die UN-Charta seit langem selber nicht mehr ernst.
({1})
Die Einmischung des Westens in die inneren Angelegenheiten eines Landes wird zum Normalfall; das ist
derzeit besonders in Syrien wieder zu sehen. In Jugoslawien - und später Serbien - wurden bis heute die meisten westlichen Völkerrechtsbrüche begangen. Festzuhalten ist: Die internationale Rechtsordnung wurde nach
1991 durch die westliche Machtordnung ersetzt. Aber:
Völkerrechtsbrüche schaffen Präzedenzfälle, und Präzedenzfälle werden genutzt, wenn sich die Machtverhältnisse ändern.
Nun verschiebt sich die globale Machtordnung. Das
wiedererstarkte Russland nutzt diese Präzedenzfälle, und
damit ist der Krim-Fall nicht mehr so eindeutig eine
Völkerrechtsverletzung, wie vorgegeben, wenn man Präzedenzfälle als Weiterentwicklung des Völkerrechts begreift, und das wird in der Politikwissenschaft und in der
Politik - auch in Deutschland - so formuliert.
({2})
Im Land der Denker und Dichter
({3})
- Denker - hat der deutsche Philosoph Immanuel Kant
in seinem berühmten Werk Zum ewigen Frieden die Einmischung in innere Angelegenheiten als kriegsursächlich bezeichnet. In seinen Aufzählungen der Konditionen zur Schaffung des ewigen Friedens fordert Kant
- ich zitiere ihn -:
Kein Staat soll sich in die Verfassung und Regierung eines andern Staats gewalttätig einmischen.
({4})
Dem ist nichts hinzuzufügen.
Die Frage ist doch: Warum durften sich die jugoslawischen Teilrepubliken Slowenien, Kroatien und Bosnien
und die serbische Provinz Kosovo gewaltsam von Jugoslawien separieren, also das Selbstbestimmungsrecht gewaltsam über die territoriale Integrität und Souveränität
Jugoslawiens stellen? Warum dürfen die Serben das
nicht in Kroatien? Warum dürfen die Serben das nicht in
Bosnien oder in Nordkosovo? Warum dürfen das die
Südosseten, die Abchasen und die Ostukrainer nicht?
Warum dürfen die sich nicht selbstbestimmen?
Die Antwort ist völkerrechtlich nicht leistbar. Sie ist
banal: Es geht um Machtpolitik. Konkret: Der Westen
als Sieger des Kalten Krieges bestimmt selbstherrlich,
wer ein guter Separatist und wer ein schlechter Separatist und somit Terrorist ist.
({5})
Die guten Separatisten stehen auf der richtigen Seite,
nämlich im Westen, und die übrigen halt auf der falschen
Seite. Die NATO-geführte KFOR ist für uns der Inbegriff einer neoimperialistischen Politik: von der ProUCK-Kriegspartei über Nacht zur Friedenstruppe mit
UN-Mandat.
({6})
- Schauen Sie sich einmal dieses wunderbare Bild an,
auf dem alle Ganoven drauf sind: Wesley Clark,
SACEUR, sein Stellvertreter Michael Jackson und
Hashim Thaci. Das sind alles Ihre Freunde während des
Krieges. Das zeigt die große Nähe der NATO und wie
sich die NATO für die kosovo-albanische Sezession hergegeben hat. Das ist ein Bild, das tausend Worte spricht.
({7})
Wir, die Linke, fordern ein Ende dieser rechtszerstörenden Doppelstandardpolitik, und daher lehnen wir den
KFOR-Antrag ab.
Danke.
({8})
Nächster Redner ist Philipp Mißfelder, CDU/CSUFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr verehrte Damen und Herren!
Liebe Kollegen! Herr Neu, was soll ich dazu sagen? Mir
fällt es jetzt wirklich schwer, das, was Sie gesagt haben,
einzuordnen.
({0})
Man kann auf manche Argumente von Herrn Gehrcke
oder von Herrn Dehm normalerweise ja noch reagieren,
aber bei Ihnen fällt es mir jetzt wirklich sehr schwer.
Ich möchte Ihnen nur eine Frage stellen - fühlen Sie
sich dadurch nicht zu einer Zwischenfrage provoziert,
die Sie meinetwegen aber auch stellen können; ich lasse
sie zu -: Was ist denn bitte Ihre Alternative zu dem, was
Sie gerade vorgetragen haben? Sie tun so, als ob KFOR
ein Kampfeinsatz wäre, der einer Invasion gleichkommt.
({1})
- Nein, das ist es nicht. KFOR ist eine friedenssichernde
Maßnahme. Wir hätten uns als Unionsfraktion gewünscht, dass wir heute sagen können: Das Mandat endet. - Wir hatten sogar zwischendurch eine Entwicklung, in der es danach aussah. Allerdings hat sich der
Balkan - der Minister hat es gerade gesagt - leider in
eine andere Richtung entwickelt.
Wir haben - ich weiß nicht, ob man darüber berichten
darf, aber ich setze das Einverständnis meiner Kollegen
voraus - diese Woche im Auswärtigen Ausschuss ausführlich darüber diskutiert. Ich glaube, wir haben in dieser Frage selten so viel Einigkeit gehabt wie in dieser
Woche. Denn das, was gerade auf dem Balkan insgesamt
passiert - im Kosovo, in Bosnien, aber auch in Mazedonien -, bleibt zehn Jahre hinter einer Entwicklung zurück, die wir eigentlich schon erreicht hatten. Deswegen
ist das Mandat weiter notwendig.
Ich würde gerne sagen: Es läuft aus. - Aber wir können es uns jetzt nicht leisten, die Soldaten abzuziehen,
weil der Gefährdungsgrad nach wie vor gegeben ist. Es
stimmt zwar, dass der Charakter des Mandats sich im
Laufe der Zeit etwas verändert hat. Aber heute ist die
Lage näher an eine Auseinandersetzung, sowohl politisch als auch im negativsten Fall militärisch, gerückt,
als wir es vor fünf Jahren vielleicht noch gedacht haben.
Was Mazedonien angeht, möchte ich dem Minister
beipflichten. Ich finde es richtig, dass die EU sich so
stark engagiert. Ich glaube, an dieser Stelle sind tatsächlich auch wir gefordert, weil - das möchte ich als etwas
Positives werten - beide Seiten in Mazedonien sehr
großen Wert auf gute Beziehungen zu ihren Schwesterparteien - damit meine ich nicht CDU/CSU oder SPD,
sondern die europäischen Schwesterparteien - legen.
Teilweise wird auch versucht, das zu instrumentalisieren.
Was wir als starke Parlamentarier und Parteivertreter
dazu beitragen können, ist, glaube ich, die EU-Kommission zu unterstützen, indem wir darauf hinwirken, dass
Mazedonien eine Technokratenregierung bekommt und
es Neuwahlen unter fairen und rechtmäßigen Bedingungen gibt, um dadurch die Situation etwas abzukühlen.
Denn das, was wir vor ein paar Wochen erlebt haben
- unabhängig davon, wie das konkret zustande gekommen ist; es gibt viele Verschwörungstheorien und unterschiedliche Ansichten dazu -, war definitiv eine Auseinandersetzung militärischer Art, die entweder durch
Terror oder durch so große Verwerfungen innerhalb des
Landes entstanden ist, dass man in Mazedonien alarmiert sein muss. Von Aussöhnung ist man sehr weit entfernt.
Deshalb werbe ich dafür, dass wir versuchen, möglichst auf die Bildung einer Allparteienregierung hinzuwirken - ich habe gerade von einer Technokratenregierung gesprochen - oder den Prozess einzuleiten, von
dem der Minister gesprochen hat, einen Prozess, der
dazu führt, dass wieder Stabilität einkehrt. Die Sorge, die
ich bei der Forderung nach Neuwahlen habe, ist, dass es
dann wieder zu einem gegenseitigen Aufrüsten im Wahlkampf kommt - das meine ich nicht militärisch, sondern
medial und rhetorisch -, von dem man nur schwer wieder herunterkommt.
Hier muss ich - wir diskutieren ja oft über Griechenland - deutlich sagen: Das Verhalten unseres griechischen NATO-Partners ist an dieser Stelle nicht akzeptabel.
({2})
In einer solchen Phase in dem Namensstreit, in dem die
Amerikaner konkrete Lösungsvorschläge gemacht haben
- übrigens emotional zulasten der Mazedonier -, jeden
Vorschlag immer wieder abzulehnen, halte ich für unverantwortlich. Wenn man mit griechischen Politikern darüber diskutiert, schwingt immer eine Drohung im
Raume mit. Sie sagen nämlich: Ihr müsst mit dem Problem dann halt fertig werden, dass die ausländischen
Kämpfer, die vom Balkan nach Syrien gezogen sind und
jetzt, bestens trainiert und motiviert, aus dem LevanteKampfgebiet zurückkehren, nicht wieder in den Balkan
einsickern; wir können dazu nichts beitragen.
Natürlich muss Griechenland etwas beitragen, und
zwar durch Grenzkontrollen und den Austausch der notwendigen nachrichtendienstlichen Informationen, damit
es dort nicht zu einem Terroristenverkehr von A nach B
kommt. Insofern müssen wir die Griechen wirklich ermahnen. Denn diese Drohung hat der griechische Verteidigungsminister sogar einmal in einer deutschen Zeitung
geäußert. Ich hoffe nicht, dass das der Grund ist, dass
diese Auseinandersetzung in Mazedonien stattgefunden
hat oder Kämpfer eingesickert sind. Es gibt Hinweise
darauf, dass es so sein könnte. Ich schließe an dieser
Stelle keine einzige Erklärung aus.
Frau Präsidentin, ich werbe für das Mandat und
komme zum Schluss meiner Rede.
Vielen Dank.
({3})
Vielen Dank. Das ist vorbildlich. - Das Wort hat jetzt
die Kollegin Marieluise Beck, Bündnis 90/Die Grünen.
Liebe Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wer wie ich wenige Tage, nachdem sich der Albtraum in Srebrenica abgespielt hatte und von der Batteriefabrik in Potocari etwa 7 000 männliche Kinder, junge
Männer und auch Frauen aus den Händen von Blauhelmsoldaten in die Wälder entführt und dort ermordet worden sind, vor Ort war, wer das sehr nah miterlebt hat, der
kann mit so einfachen Wahrheiten, Herr Neu, wie Sie sie
hier dargelegt haben, nicht umgehen. Denn es gibt zwei
Seiten. Es gibt einmal das „Nie wieder Krieg“ - da haben Sie recht -, aber die zweite Seite heißt: Nie wieder
Opfer.
({0})
Wir müssen uns damit auseinandersetzen, wie wir diese
Lehre für uns umsetzen. Denn das ist die zweite Lehre
aus der deutschen Geschichte mit der nationalsozialistischen Aggression, mit der wir ganz Europa überzogen
haben.
Wir beraten seit 1999, also nun zum 16. Mal, dieses
KFOR-Mandat. Ich würde trotz der kurzen Zeit darum
bitten, dass wir nicht nur auf das Kosovo schauen. Es ist
nur ein Teil des Gebietes. Der Westbalkan ist miteinander verbunden. Wir sollten tatsächlich sehr aufmerksam
beobachten, dass es in der Region stärker brodelt, als wir
es vor 20 Jahren vielleicht für möglich gehalten haben.
Wir alle waren davon ausgegangen, dass nach einer
Beruhigungsphase und mit dem Ausblick und der
Möglichkeit, den Weg nach Europa einzuschlagen, die
Staatenbildung und die Institutionenbildung schneller
vorangehen würden, dass Gewalt, Hass, Korruption und
fehlende Rechtsstaatlichkeit schneller überwunden werden könnten, als es sich dann tatsächlich herausgestellt
hat.
Es gibt neue Hotspots. Während der Ministerpräsident Serbiens eine EU-orientierte Politik macht, fordert
der serbische Präsident das Kosovo für Serbien zurück.
In Bosnien-Herzegowina ist die Föderationsregierung
gerade wieder zerbrochen. Es gärt in der Republik
Srpska, weil Präsident Dodik um sein politisches Überleben kämpft. Mazedonien steuert unter einem Premierminister, der in seiner Politik immer repressiver wird
- der Journalismus gerät immer stärker unter Druck -,
immer tiefer in die Krise. Es gab die offene, gewalttätige
Auseinandersetzung in Kumanovo. Wir wissen bis zum
heutigen Tage nicht, was dort wirklich passiert ist. Aber
diese Gewalttat wird von vielen Seiten politisch instrumentalisiert, einmal ethnisch oder um die autoritären
Strukturen des Regimes noch stärker zu rechtfertigen.
Frau Kollegin Beck, gestatten Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Neu?
Ja, bitte.
Bitte schön.
Frau Kollegin Beck, Sie sprachen vorhin von Opfern.
Sehen Sie auch die Opfer in der Ostukraine, verursacht
durch ukrainisches Militär, zivile Opfer, mehrere
Tausend? Sehen Sie die Opfer in Südossetien 2008? Sehen Sie die Opfer im Kosovo, die nach dem NATO-Einmarsch geflüchtet sind? Etwa 250 000 Serbinnen und
Serben und Roma sind nach Zentralserbien geflüchtet
und konnten bis heute nicht zurückkehren. Sehen Sie
auch diese Opfer? Warum plädieren Sie nicht dafür, dass
KFOR für ausreichend Sicherheit sorgt, damit auch
diese Opfer zurückkehren können?
Ich bin im Augenblick etwas überfordert, diese Verbindung zu sehen. Sie haben vollkommen recht: Opfer
müssen im politischen Zusammenhang gesehen werden.
Ich habe gerade mit meinem Kollegen darüber gesprochen: das Beispiel Vietnam. Der Einmarsch Vietnams in
Kambodscha - er war völkerrechtlich nicht eindeutig gedeckt, nicht durch ein UN-Mandat gedeckt - hat einem
unglaublichen Regime wie dem von Pol Pot ein Ende
bereitet. Diese Frage können Sie nur noch politisch entscheiden. Das ist die Schwierigkeit, vor der wir als Politiker stehen. Wir müssen die Entscheidungen, die wir gefällt haben, moralisch und ethisch verantworten.
Es gibt Recht und Völkerrecht. Es gibt auch eine Unterscheidung von Tätern, Aggressoren und Opfern. Es
war Hannah Arendt, die uns mit auf den Weg gegeben
hat, dass wir uns vor der Bewertung von Tatsachen nicht
wegschleichen können. Das ist der feste Grund, auf dem
wir stehen. Dabei brauchen wir dann das Völkerrecht.
({0})
Kommen wir zurück zum Balkan. Die Situation auf
dem Balkan ist im Augenblick sehr fragil. Auch EULEX
hat es nicht ganz geschafft, sich von diesen schwierigen
Verhältnissen frei zu halten. Das politische Problem ist,
dass wir gegen die Perspektivlosigkeit der Menschen in
der Region ankämpfen, die das Gefühl haben: Wir wissen nicht, ob wir hier eine Zukunft haben. - Das hat etwas mit den Menschen zu tun, die unser Land erreichen.
Ich würde schon sagen: 20 Jahre, nachdem auf dem
Westbalkan die OSZE, die UN, die EU, viele NGOs und
unsere Stiftungen aktiv sind und unterschiedliche Stabilisierungsabkommen in Kraft getreten sind, müssen wir
in einen Review-Prozess eintreten, nicht nur für die Politik des Auswärtigen Amtes, sondern auch für unsere Stabilisierungspolitik auf dem Westbalkan.
Ich kann nur ganz deutlich sagen: Ich habe mir vor
20 Jahren vorgestellt, dass die Staatenbildung einfacher
und schneller vonstatten geht. Ich habe gedacht: Wenn
Menschen die Freiheit bekommen, wird der Schub, der
dadurch gesellschaftlich entsteht, größer sein. Insofern
lernen wir, dass Transformationsprozesse, die vor allen
Dingen die Beteiligung der Bürgergesellschaft und damit die Freiheit für zivilgesellschaftliches Engagement
von unten brauchen, sehr viel Zeit benötigen. Wir werden das auch in der Ukraine erleben, Herr Kollege Neu.
Ich meine nur, uns muss klar sein: Soldaten schaffen
keinen Frieden. Aber sie schaffen die Voraussetzungen
dafür, dass solche Prozesse überhaupt in Gang kommen;
denn unter Gewalt sind solche Prozesse nicht möglich.
Deswegen stimmen wir Grüne diesem Mandat zu.
Schönen Dank.
({1})
Vielen Dank. - Für die SPD-Fraktion spricht jetzt der
Kollege Dirk Vöpel.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Morgen vor genau 16 Jahren hat der Deutsche
Bundestag zum ersten Mal die Beteiligung an der
NATO-geführten Operation KFOR beschlossen. Nach
dem Ende des Kosovokrieges haben wir uns also von
Beginn an an dieser multinationalen Mission beteiligt.
KFOR ist für die Bundeswehr bisher der längste Einsatz mit dem personell zweitgrößten Auslandskontingent. Zurzeit sind 751 Bundeswehrangehörige vor Ort.
Mehr als 125 000 deutsche Soldatinnen und Soldaten haben im Laufe der 16 Jahre im Kosovo ihren Dienst geleistet. Sie haben durch ihren Einsatz wesentlich zur Stabilisierung der gesamten Region beigetragen. Hierfür
möchte ich ihnen an dieser Stelle meinen Dank und
meine Anerkennung aussprechen.
({0})
Den Erfolg der Mission kann man an der quantitativen Entwicklung des Kräfteansatzes festmachen: Waren
zu Beginn noch mehr als 50 000 Soldaten notwendig,
um ein sicheres und stabiles Umfeld sowie Bewegungsfreiheit im Kosovo zu gewährleisten, so konnte das Aufgabenspektrum von KFOR einschließlich der ergänzenden Aufgaben bei der Unterstützung des Aufbaus
selbsttragender Sicherheitsstrukturen im vergangenen
Jahr mit insgesamt etwa 5 000 Soldatinnen und Soldaten
abgedeckt werden. Aber auch die politischen Fortschritte bei der Normalisierung der Beziehungen zwischen Kosovo und Serbien geben bei allen Schwierigkeiten einen begründeten Anlass zur Hoffnung, dass hier in
Zukunft eine weitere Reduzierung erfolgen kann.
Im Zuge der Umsetzung der Normalisierungsvereinbarung vom 19. April 2013 werden Schritt für Schritt die
serbischen Parallelstrukturen im Norden Kosovos aufgelöst und in kosovarische Strukturen überführt, und es
wird ein einheitlicher Rechtsraum in ganz Kosovo hergestellt. Hierbei wurden bereits wichtige Erfolge erzielt.
Solange sich jedoch die Beziehungen zwischen Serbien
und Kosovo noch nicht nachhaltig stabilisiert haben, ist
eine weitere enge internationale Begleitung notwendig.
Nun zum deutschen Beitrag. Die nationale Personalobergrenze für die deutsche Beteiligung an KFOR soll
im kommenden Jahr unverändert bei 1 850 Soldatinnen
und Soldaten verbleiben. Damit können deutsche Streitkräfte im umfassenden Einsatz- und Fähigkeitsspektrum
gemäß den NATO-Anforderungen im zugesagten Umfang für die Operation bereitgestellt werden. Auf mögliche Lageänderungen kann weiterhin angemessen reagiert werden.
Mit der Einsatzkompanie KFOR im Rahmen des derzeitigen Kontingents, den deutschen Anteilen am Hauptquartier, insbesondere im Bereich der Aufklärung und
mit dem Einsatzlazarett, sowie Teilen der operativen Reserve stellt Deutschland für den KFOR-Einsatz wichtige
und von anderen Partnern nur eingeschränkt zur Verfügung gestellte Fähigkeiten.
Mit dem seit 2014 gestellten Leiter des NATO Liaison and Advisory Teams besetzt Deutschland einen zentralen und wichtigen Posten in der Begleitung des Aufbaus der kosovarischen Sicherheitskräfte. Über die
Beratung der Kosovo Security Force durch die NATO
hinaus unterstützt Deutschland deren Aufbau mit Materiallieferungen sowie durch die enge Zusammenarbeit
mit dem deutschen KFOR-Kontingent. Zusätzlich werden auf bilateraler Basis die sicherheitspolitischen Instrumente der militärischen Ausbildungshilfe und der
bilateralen Jahresprogramme seit 2011 für Kosovo angeboten und intensiv genutzt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Lage in der
Republik Kosovo ist grundsätzlich ruhig und stabil.
Dennoch kann nicht ausgeschlossen werden - meine
Vorredner haben einige Punkte angesprochen -, dass ein
unerwarteter Zwischenfall, räumlich und zeitlich begrenzt, zu einer Anspannung der Lage vor Ort führen
könnte. Deshalb ist die Fortsetzung des Mandats notwendig und sinnvoll.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({1})
Vielen Dank. - Nächster Redner ist Peter Beyer,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist noch
gar nicht lange her, Anfang dieses Monats, dass der
Papst in Sarajevo war. Er hat von einer Atmosphäre des
Kriegs gesprochen. Er hat dies auf die gesamte Weltlage
bezogen, aber an diesem Ort, in Sarajevo, kann man dies
durchaus auch als eine Mahnung verstehen angesichts
der offenen und unterschwelligen Spannungen in der Region des westlichen Balkans.
Es ist kein Geheimnis, und wir haben es heute schon
häufiger richtigerweise in der Debatte gehört, dass die
KFOR-Mission und die Soldatinnen und Soldaten an der
Grenze zwischen Kosovo und Serbien erforderlich sind.
Sie sind erforderlich für die Sicherheit und die Stabilität.
Die Sicherheit und die Stabilität, die die KFOR-Soldatinnen und -Soldaten dort bringen, ermöglichen erst die
schwierigen Prozesse, die im Rahmen der Normalisierung des Verhältnisses zwischen Serbien und Kosovo in
diesem Spannungsgebiet erforderlich sind. Für ihre
wichtige Arbeit, die die Soldatinnen und Soldaten dort
leisten, sage ich einen ausdrücklichen und herzlichen
Dank.
({0})
Gleichzeitig mahne ich aber auch an: Allzu häufig
schauen wir nur „bei Gelegenheit“ auf den westlichen
Balkan, zumeist dann, wenn einmal wieder etwas
Schlechtes passiert, was uns mit Sorge umtreibt, beispielsweise die drohende massenhafte Auswanderung
aus dem Kosovo, unter anderem nach Deutschland. Es
ist für uns Zeit, zu erkennen, dass es mit dem bloßen
bürokratischen Abarbeiten des Acquis communautaire
schon lange nicht mehr alleine getan ist. Dass kein Missverständnis aufkommt: Ich bin schon davon überzeugt,
dass es richtig war und nach wie vor richtig ist, eine Einzelbetrachtung bei der Heranführung an die Europäische
Union sowie an europäische Standards und Strukturen
vorzunehmen. Spätestens jedoch die gewaltsamen Aufstände in Mazedonien im letzten Monat, die heute schon
mehrfach in der Debatte angesprochen wurden, sollten
uns wachrütteln. Ich will mich nicht an Spekulationen
darüber beteiligen, welche Hintergründe und Hintermänner bei den kämpferischen Aufständen in Mazedonien
eine Rolle gespielt haben. Für mich steht jedenfalls fest,
dass die Akteure eine Erosion der relativen Stabilität in
der Region zum Ziel haben; das sollte uns mit Sorge erfüllen. Das ist eine gefährliche Situation.
({1})
Die Europäische Union - ich meine ausdrücklich
nicht die Bürokraten in Brüssel, sondern die politische
Führung in den einzelnen EU-Mitgliedstaaten - muss erkennen und handeln. Es bedarf des Entwurfs eines in die
Zukunft dieser europäischen Region gerichteten politischen, strategischen Regionalplans mit dem Ziel, dauerhaft Stabilität und Sicherheit in der Region zu etablieren.
Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang die Gelegenheit nutzen, die fünf EU-Mitgliedstaaten, die noch
immer nicht das Kosovo als eigenständigen, souveränen
Staat anerkannt haben, aufzurufen, das Versäumte nachzuholen. Durch die Nichtanerkennung wird nicht allein
das Kosovo in seiner Entwicklung behindert, sondern
auch andere Länder der Region. Ich halte das für die
Europäische Union für einen untragbaren, ja beschämenden Zustand, der alsbald zu beenden ist.
({2})
- Ja, da kann man applaudieren. Vielen Dank, Frau Kollegin Beck, das finde ich sehr nett von Ihnen. Das gilt
aber natürlich auch für die anderen.
Südosteuropa muss als Region wieder mehr in den
Fokus unserer Politik gelangen und auf der politischen
Prioritätenliste ein ganzes Stück weit nach oben rücken.
Natürlich bin ich mir der Überlagerung durch andere
Krisengebiete und andere politische Probleme auf der
Welt bewusst. Aber es ist unsere Aufgabe, ein stärkeres
öffentliches Bewusstsein zu schaffen und zu schärfen.
Ich habe die Befürchtung, dass wir sonst zulassen, dass
eine Krise mitten in Europa und sehr nahe an den Grenzen zu Deutschland entsteht. Die Folgen wären unabsehbar, und die Kosten - nicht nur finanzieller Art - wären
erheblich.
Wir beobachten in letzter Zeit verstärkt etwas, das
nicht neu ist, sondern - das weiß man, wenn man recherchiert und sich das noch einmal ins Gedächtnis ruft - seit
Jahren vorhanden ist. In letzter Zeit rückt verstärkt ins
Blickfeld, dass verschiedene Finanzierungsströme den
Neubau von Moscheen in Bosnien-Herzegowina, aber
auch in anderen Staaten der Region ermöglichen. Diese
Geldströme kommen aus Saudi-Arabien, den Emiraten,
dem Iran, dem Irak, auch aus der Türkei. Wir hören in
letzter Zeit mehrfach davon, dass es Geldprämien dafür
gibt, dass Frauen Kopftücher tragen und dass sich Männer lange Bärte wachsen lassen. Zudem gibt es Geld für
den Besuch von Moscheen.
Radikale Islamisten des sogenannten „Islamischen
Staats“ rekrutieren junge Muslime im Kosovo und in anderen Ländern der Region. In den letzten zwei Jahren
kamen allein aus dem Kosovo über 200 Foreign Fighters. Das ist eine bedrohliche Situation. Die Versprechungen des „Islamischen Staats“ fallen auf den Nährboden von 70 Prozent Jugendarbeitslosigkeit im Kosovo.
Es entsteht ein radikaler Islam in Europa. Wir, die Europäer, müssen uns angesichts dieser Entwicklung fragen,
warum wir es eigentlich nicht schaffen, diesen jungen
Frauen und Männern eine attraktive Perspektive in ihrem
eigenen Land, eingebunden in euroatlantische Strukturen, anzubieten.
Damit komme ich zur Visaliberalisierung. Ich weiß,
dass das in der Diskussion problematisch gesehen wird.
Aber es handelt sich um eine Ungerechtigkeit. Das Kosovo ist das einzige Land in der Region, mit dem es noch
keine Visafreiheit gibt. Ich werbe dafür, dass wir uns
noch einmal damit befassen. Die Kriterien der Roadmap
sind allesamt vom Kosovo erfüllt worden.
Abschließend will ich noch einen Gedanken in die
Debatte einführen, den wir in der Westbalkan-Runde der
Unionsfraktion in der letzten Zeit ventiliert haben. Wir
haben uns darüber Gedanken gemacht, ob wir KFOR
nicht in Strukturen regionaler Verantwortung weiterentwickeln sollen. Wir haben die Idee, ein regionales,
NATO-geführtes Hauptquartier mit einer revolvierenden Kommandoführung zu etablieren. Das soll nichts
anderes heißen, als dass die Länder der Region Stück für
Stück zunehmend mehr eigene Verantwortung für die Sicherheit und Stabilität in der gesamten Region übernehmen. Ich denke, das ist eine Idee, die es wert ist, weiter
diskutiert und verfolgt zu werden. Das muss unser Ziel
sein.
Ich danke Ihnen.
({3})
Vielen Dank. - Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Florian Hahn, CDU/CSUFraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Die Entwicklungen in den letzten Jahren in
der Region sind, optimistisch gesehen, ein Beispiel dafür, dass die Europäische Union eine große Anziehungskraft ausstrahlt und wichtige Impulse im Land und in der
Region setzt. Ohne die Aussicht, Verhandlungen über einen Beitritt im Falle Serbiens oder eine Assoziierung im
Falle des Kosovo aufzunehmen, wäre es nie zum Durchbruch in den Gesprächen zwischen Serbien und Kosovo
gekommen. Vor allem Serbien als EU-Beitrittskandidat
muss sich jetzt erst recht an den angestrebten Zielen
messen lassen und alles in seiner Macht Stehende tun,
um eine nachhaltige Stabilisierung im Norden des Kosovo zu unterstützen. Der serbischen Regierung ist auch
ganz klar, dass ein Gelingen ihrer Kandidatur wesentlich
vom Dialog zwischen Belgrad und Pristina abhängt. Das
haben wir ihr klargemacht.
Neben den zahlreichen positiven Entwicklungen
muss aber auch ganz klar gesagt werden: Die Lage in der
Republik Kosovo ist zwar grundsätzlich ruhig und stabil;
allerdings bleibt das Eskalationspotenzial im serbisch
dominierten Norden des Kosovo weiterhin hoch. Leider
erkennen Serbien und auch fünf EU-Mitgliedsländer die
staatliche Unabhängigkeit des Kosovo nach wie vor
nicht an. Das ist sehr verdrießlich. Der Kollege Peter
Beyer hat das zu Recht gesagt. Auch der Zwischenfall
am 24. Mai erinnert an alte Zeiten im Kosovo. Unbekannte haben eine EULEX-Patrouille beschossen. Es
kam zu Schäden an den geschützten Fahrzeugen mit fünf
Insassen, darunter im Übrigen auch ein deutscher Polizist. Diese Insassen konnten Gott sei Dank unverletzt
das Auto verlassen. Es sind solche Rückschläge, die uns
zeigen, wie wichtig eine weitere Präsenz der KFORTruppen ist.
Auch die Situation im angrenzenden Mazedonien
- darüber wurde ebenfalls schon gesprochen - hat das
Potenzial, die gesamte Region zu destabilisieren, da die
Bevölkerungsgruppen über die Landesgrenzen hinweg
ethnisch eng miteinander verbunden sind. Die schweren
Kämpfe nahe der Grenze zum Kosovo im letzten Monat
haben gezeigt, dass wir unerwartete Zwischenfälle, die
zu einer Anspannung der Lage führen, nicht ausschließen können.
Die internationale Truppenpräsenz von KFOR bleibt
deshalb so lange nötig, bis die Sicherheitsorgane Kosovos, gegebenenfalls unterstützt durch die EU-Mission
EULEX, im Kosovo ein sicheres und stabiles Umfeld
aufrechterhalten können. Wir wissen, dass unsere militärische Unterstützung und unsere sicherheitspolitische
Arbeit nur nachhaltig sein können, wenn wirtschaftliche
Kooperation und Entwicklungszusammenarbeit den
Weg flankieren.
Kosovo leidet zum einen noch immer unter der historischen Unterentwicklung aus der osmanischen Zeit und
der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, aber auch unter
den Folgen der ökonomischen Marginalisierung unter
dem Milosevic-Regime. Die Wirtschaftsentwicklung
kann nicht mit dem überdurchschnittlichen Bevölkerungswachstum mithalten. Die Auswirkungen sind verheerend, und das bekommen auch wir in Deutschland
deutlich zu spüren.
Die Flüchtlingswelle aus dem Kosovo hat sich mit
28 000 Asylbewerbern allein Anfang 2015 um das Sechzehnfache im Vergleich zum Vorjahr vergrößert. In einer
Zeit, in der Europa Ziel von Hundertausenden notleidenden Menschen aus Kriegs- und Krisengebieten des Nahen Ostens und Afrikas ist, liegt es auf der Hand, dass
Deutschland diese Welle der Einwanderer aus dem
Kosovo und aus dem gesamten Balkan nicht auch noch
schultern kann. Wir müssen uns verstärkt daranmachen,
den Menschen in ihrer Heimat eine Perspektive zu bieten. Bundesminister Dr. Müller hat deshalb bei seiner
Reise auf den Balkan betont, dass die Ursachen für die
Flucht aus dem Herkunftsland noch intensiver bekämpft
werden müssen. Hierfür gibt es bereits Zusagen von über
25 Millionen Euro allein im Jahre 2015.
Wenn wir also über die KFOR-Mission debattieren,
ist uns klar, dass dieses Mandat neben unserem entwicklungspolitischen Engagement für die Region ausschlaggebend ist. Es ist viel zu früh, den Kosovo und Serbien
auf sich allein zu stellen. Wir müssen die Länder auf ihrem ehrgeizigen Weg in die EU weiter unterstützen. Das
KFOR-Mandat muss ein weiteres Mal verlängert werden.
Um auf den Debattenbeitrag von Frau Beck einzugehen: Wir müssen weiterhin für ausreichend Luft im Kosovo sorgen.
Herzlichen Dank.
({0})
Vielen Dank. - Damit schließe ich die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/5052 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe, das ist der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf:
Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Halina Wawzyniak, Dr. Petra Sitte, Jan
Korte, weiteren Abgeordneten und der Fraktion
DIE LINKE sowie den Abgeordneten Tabea
Rößner, Dr. Konstantin von Notz, Renate
Künast, weiteren Abgeordneten und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Aufhebung des
Achten Gesetzes zur Änderung des Urheberrechtsgesetzes ({0})
Drucksache 18/3269
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz
({1})
Drucksache 18/4987
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Martin Dörmann, SPD-Fraktion.
({2})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Das heute in Rede stehende Leistungsschutzrecht für
Presseverleger wurde in der vergangenen Wahlperiode
von der schwarz-gelben Koalition beschlossen. Wie Sie
wissen, hat damals die SPD-Bundestagsfraktion gegen
das Gesetz gestimmt,
({0})
wie ich finde, aus guten Gründen. Union und SPD haben
hier also eine gegensätzliche Auffassung. Dies ist der
Hintergrund dafür, dass wir uns im Koalitionsvertrag zunächst darauf verständigt haben, die Wirkung des Gesetzes zu überprüfen. Eine Evaluierung soll darüber Aufklärung bringen, wie das Gesetz wirkt und welche
Konsequenzen hieraus gezogen werden müssen. Da wir
uns in der Großen Koalition auf dieses Verfahren verständigt haben, werden wir den vorliegenden Gesetzentwurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ablehnen,
durch den die Aufhebung dieses Gesetzes bereits jetzt
herbeigeführt würde.
({1})
- Es handelt sich um einen gemeinsamen Gesetzentwurf
der Oppositionsfraktionen.
Dennoch möchte ich die heutige Debatte dafür nutzen, hier noch einmal darzulegen, warum die SPD-Fraktion dem Leistungsschutzrecht von Anfang an skeptisch
gegenüberstand und die getroffene gesetzliche Regelung
für problematisch hält.
({2})
Ich will zunächst in Erinnerung rufen, was die Ausgangslage der seinerzeitigen Debatte war. Wir alle leben
in einer veränderten Medienwelt. Abos und Auflagen
von Tageszeitungen gehen zurück. Das Anzeigengeschäft im Printbereich ist teilweise sogar dramatisch eingebrochen. Praktisch alle namhaften Titel haben gleichzeitig umfangreiche Internetportale aufgebaut, die
bislang ganz überwiegend kostenlos genutzt werden
können. Auch das Anzeigengeschäft ist stark in den Onlinebereich abgewandert, ohne dass hierdurch in der Regel aber bereits schwarze Zahlen geschrieben werden.
Um auch in Zukunft guten Journalismus finanzieren zu
können, werden deshalb nach und nach Bezahlangebote
etabliert; denn gute Recherche kostet Geld, und Journalistinnen und Journalisten müssen für ihre kompetente
und für die Gesellschaft immanent wichtige Arbeit angemessen entlohnt werden. Bezahlangebote werden sich
aber nur dann auf Dauer durchsetzen können, wenn Urheberrechte gewahrt und journalistische Inhalte nicht
von Dritten ohne Erlaubnis umfangreich genutzt werden.
Nun gibt es im Netz die sogenannten News-Aggregatoren und Harvester. Sie sammeln die Inhalte anderer
und bieten diese als eigene Dienstleistungen an, ohne
von den Rechteinhabern die Erlaubnis dafür zu haben.
Gemeint sind hier nicht die Suchmaschinen, die nur einige kurze Textschnipsel nutzen, sondern Plattformen,
die illegal ganze Artikel verwenden. Gegen diese
Rechtsverstöße in jedem Einzelfall erfolgreich vorzugehen, hat sich für die Verlage als schwierig erwiesen;
denn Gerichte verlangen für jeden Artikel eine komplexe
Darstellung der Rechtekette. Das hat viele Prozesse aus
Sicht der Verlage unwirtschaftlich gemacht. Es geht also
im Kern nicht darum, dass es an Rechten fehlt, sondern
darum, dass die Rechtsdurchsetzung oftmals so schwierig ist, dass diese Rechte ins Leere zu laufen drohen.
Gerade auch von Verlagsprotagonisten für ein Leistungsschutzrecht wurde uns übrigens bestätigt, es gehe
im Kern um eine bessere Rechtsdurchsetzung bereits bestehender Urheberrechte. Die SPD-Bundestagsfraktion
hat sich, wie übrigens auch der Bundesrat, deshalb dafür
eingesetzt, Lösungen zu suchen, die eine bessere Rechtsdurchsetzung ermöglichen. Damit hätten wir uns viele
Folgeprobleme des jetzt diskutierten Gesetzes erspart.
Die schwarz-gelbe Koalition ist einen anderen Weg
gegangen. Nach vielen Pirouetten zu Beginn hat man
sich letztendlich entschieden, ein Leistungsschutzrecht
zu zimmern, das im Wesentlichen auf Suchmaschinenbetreiber ausgerichtet ist, eigentlich namentlich auf
Google. Wir haben das stets für einen falschen Ansatz
gehalten; denn Suchmaschinen üben eine wichtige Lotsenfunktion im Netz aus. Sie bündeln und strukturieren
nämlich die dort vorhandenen vielfältigen Informationen
und machen sie so für die Nutzerinnen und Nutzer besser
zugänglich. Zugleich profitieren gerade auch die Zeitungsportale; denn es werden zusätzliche Leser auf ihre
Seiten gelenkt, durch die sich höhere Anzeigeneinnahmen erzielen lassen.
Die beinahe monopolartige Stellung der Suchmaschine von Google ist allerdings dann ein Problem, wenn
die Platzierung von Suchergebnissen nicht nach objektiven Kriterien erfolgt, sondern womöglich von den Geschäftsinteressen des Unternehmens mitbestimmt wird.
Deshalb ist es der richtige Weg, dass nun im Rahmen der
aktuellen Bund-Länder-Kommission zur Medienkonvergenz darüber nachgedacht wird, ob und in welcher Form
es einer Regulierung von Suchmaschinen bedarf, um
Transparenz und Diskriminierungsfreiheit zu sichern.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das beschlossene
Leistungsschutzrecht hat aus meiner Sicht bislang vor allem neue Rechtsunsicherheiten produziert, die nun übrigens gerichtlich geklärt werden müssen.
({3})
Fakt ist jedenfalls, dass Google nicht, wie eigentlich beabsichtigt, an Presseverlage zahlt, sondern diese zunächst ausdrücklich eingewilligt haben, dass Google
verlinken kann, ohne dafür zu zahlen. Stand heute hat
das Gesetz also aus meiner Sicht keines seiner Ziele erreicht, sondern vor allem dafür gesorgt, dass einige Anwälte wahrscheinlich noch auf Jahre hinaus ein sicheres
Einkommen haben.
({4})
Von daher bin ich sehr gespannt, was die von der Koalition vereinbarte Evaluierung ergibt.
({5})
Herzlichen Dank.
({6})
Vielen Dank. - Für die Fraktion Die Linke spricht
jetzt die Kollegin Wawzyniak.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen
und Kollegen! Es ist schon eine Weile her, dass wir hier
über den gemeinsamen Gesetzentwurf von Linken und
Bündnis 90/Die Grünen zur Abschaffung des Leistungsschutzrechtes für Presseverleger diskutiert haben. Seit
der ersten Lesung hat sich nichts geändert. Ich könnte
Ihnen also noch einmal erklären, dass das Leistungsschutzrecht mehr schadet als nützt. Ich könnte Ihnen
auch noch einmal erklären, warum dieses Leistungsschutzrecht nur Geschäftsmodelle der Verlage schützt
und nicht die eigentlichen Urheberinnen und Urheber.
Ich könnte Ihnen auch noch einmal erklären, warum
Suchmaschinen Verlagen nicht schaden, sondern nützen,
weil ihnen damit Nutzerinnen und bares Geld zugeführt
werden. All das könnte ich noch einmal erzählen, und
ich habe ernsthaft das Gefühl, dass ich Ihnen das tatsächlich noch einmal erklären muss.
({0})
Denn anstatt zu schauen, was aufgrund dieses Gesetzes
wirklich abläuft, scheint gerade die Union für alle Argumente unzugänglich zu sein, sich die Finger in die Ohren
zu stecken und zu sagen: Lalala, ich hör’ dich nicht. Man denkt sogar daran, diese Idee auch noch auf europäischer Ebene einzuführen.
({1})
- Das ist Schwachsinn; das hat auch die Anhörung, die
wir im Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
durchgeführt haben, allen vor Augen geführt.
Die Mehrheit der anwesenden Sachverständigen hat
dargelegt, warum das Leistungsschutzrecht für Presseverleger schädlich ist. Mehrere Sachverständige machten darauf aufmerksam, dass das Gesetz so ungenau formuliert ist, dass erst Gerichte klären müssen, was
eigentlich genau drinsteht.
({2})
Diese rechtliche Klärung kann dann gut zehn Jahre dauern.
({3})
Im schnelllebigen digitalen Bereich sind zehn Jahre eine
halbe Ewigkeit, und schon in der kurzen Zeit, in der das
Leistungsschutzrecht nun gilt, hatte es verheerende Auswirkungen auf den Markt.
Elf Start-ups mussten bereits wegen der Leistungsschutzregelung in Deutschland aufgeben, erklärte Professor Spindler in der Anhörung. Wie viele werden das
in zehn Jahren sein?, frage ich Sie, die Sie ja so innovationsfreundlich sein wollen. Währenddessen schaut
Google seelenruhig zu, wie Konkurrenz bereits im Keim
erstickt wird. Aber Hauptsache, der Axel-SpringerVerlag kann Geld dafür verlangen, dass Nutzerinnen und
Nutzer auf seine Webseiten geleitet werden. Die Absurdität des Leistungsschutzrechts für Presseverleger
brachte Professor Malte Stieper auf den Punkt: Kleinste
Textausschnitte sollen lizenzpflichtig sein, aber die komplette Veröffentlichung eines Artikels an einer Litfaßsäule wäre erlaubt. - Das ist nun wirklich absurd.
({4})
Nun hat auch Spanien versucht, mit einem Leistungsschutzrecht für Presseverleger aktiv zu werden. Was ist
passiert? Google hat Google News in Spanien eingestellt. Die Nutzerzahlen der Onlinemedien brachen derart ein, dass dieselben Verlage, die zuerst darum gebeten
hatten, das Leistungsschutzrecht einzuführen, jetzt
darum betteln, dass es wieder abgeschafft wird. Auch
hierzulande scheint man sich der Leistung, die Google
erbringt, bewusst zu sein; sonst hätte man Google kaum
von der Lizenzzahlung ausgenommen. - Nach alledem
möchte ich jetzt genau wissen: Was nehmen Suchmaschinen den Verlagen eigentlich weg? Nichts!
Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht. Mir reicht das alles
aus, um das Leistungsschutzrecht sofort, und zwar mit
der Abstimmung, abzuschaffen.
({5})
Ich brauche keine weitere Evaluation, auf die Union und
SPD laut ihrem Koalitionsvertrag noch warten wollen.
Die Große Koalition erweist sich als Bollwerk gegen
Innovation und für Rechtsunsicherheit. Es wird aber die
Zeit kommen, wo auch Sie merken, dass das Leistungsschutzgesetz Unsinn ist. Je eher, desto besser!
({6})
Denn ein derart innovationsfeindliches Gesetz, das nur
Rechtsunsicherheit schafft und nichts an der Lage von
Urheberinnen und Urhebern verbessert, hat nichts anderes verdient als ein schnelles Ende. Wenn Sie mir nicht
glauben, dann lesen Sie im Bericht der Monopolkommission „Herausforderung digitale Märkte“ die Randnummer 287. Auch dort steht, dass das nicht mit gesetzgeberischen Maßnahmen, sondern mit Wettbewerb geht.
Deshalb stimmen Sie heute einfach zu!
({7})
Vielen Dank. - Nächster Redner für die CDU/CSUFraktion ist Ansgar Heveling.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wenn ich zu wählen hätte zwischen einem Land mit
einer Regierung, aber ohne Zeitung, und einem
Land mit Zeitung, aber ohne Regierung, dann
würde ich mich für das Land ohne Regierung entscheiden.
Auf diese prägnante Formel brachte der dritte Präsident
der Vereinigten Staaten von Amerika, Thomas Jefferson,
sein Verständnis der Bedeutung von Zeitungen für die
Demokratie. Heute würden dem Hauptverfasser der
amerikanischen Unabhängigkeitserklärung wahrscheinlich die Tränen in den Augen stehen, sollte er sich die Situation des Zeitungsmarktes in den Vereinigten Staaten
von Amerika anschauen. Die USA sind zwar noch nicht
ganz ein Land ohne Zeitungen; aber das Zeitungssterben
in der Fläche ist dort evident.
Wir wollen kein Land ohne Zeitungen sein. Deshalb
haben wir zum Schutz von Presseerzeugnissen ein Leistungsschutzrecht für Presseverlage eingeführt. Wir
haben ein Recht und keine Rechtunsicherheit geschaffen. Mit „wir“ meine ich in der Tat die christlich-liberale
Koalition der letzten Wahlperiode. Allerdings hat der
Bundesrat mit einer anderen politischen Färbung dieses
Gesetz in der letzten Wahlperiode gebilligt.
({0})
Zunächst ist festzustellen, dass das Leistungsschutzrecht für Presseverlage in diesen Wochen spannende
Entwicklungen erlebt. Schauen wir zum einen nach Österreich. Dort wird das Parlament noch vor der Sommerpause die Einführung eines Leistungsschutzrechtes für
Presseverlage beschließen. Das Gesetz orientiert sich explizit an der deutschen Regelung. Allerdings werden bei
der Formulierung des Schutzgegenstandes sowie bei den
einzuräumenden Verwertungsrechten teilweise sogar
viel weiterreichende Ansätze als das deutsche Vorbild
vorgeschlagen.
({1})
Zum anderen blicken wir nach Brüssel. Der für den digitalen Binnenmarkt zuständige EU-Kommissar Günther
Oettinger denkt über die Einführung eines europäischen
Leistungsschutzrechtes nach. Neben Deutschland hat
auch Spanien bereits ein Leistungsschutzrecht eingeführt. In Spanien hat Google daraufhin seinen Newsdienst
abgeschaltet. Diese Reaktion ist gerade ein Argument
für die Einführung eines EU-weiten Leistungsschutzrechtes; denn in der europaweiten Dimension könnte es
sich Google sicherlich nicht leisten, seinen Newsdienst
einfach abzuschalten.
In der EU-weiten Synopse können wir also feststellen, dass Deutschland mit der Einführung des Leistungsschutzrechtes eine Vorreiterrolle übernommen hat. Auch
deshalb werden wir den hier vorliegenden Gesetzentwurf der Oppositionsfraktionen heute ablehnen.
Aber bleiben wir noch einen Moment bei Google:
Eric Schmidt, Google-Chef, verlautbarte vor kurzem, er
fühle eine „moralische Verantwortung, um Nachrichten
beim Überleben zu helfen, ohne die die Demokratie
leiden würde“. Das klingt nachgerade etwas zynisch.
Würde Herr Schmidt tatsächlich die Bedeutung von Medien für die Demokratie und Meinungsvielfalt anerkennen, die im Übrigen in Deutschland Verfassungsrang hat,
könnte er auch das Leistungsschutzrecht als geltende
Gesetzeslage akzeptieren. Stattdessen streut Google nun
in einer auf drei Jahre befristeten Initiative 150 Millionen Euro über die europäische Verlagslandschaft als Geschenk aus und ignoriert gleichzeitig geltendes Recht.
Google könnte mit den Verlagen ohne Weiteres die nötigen Lizenzen abschließen, aus deren Einnahmen die
Verlage dann in digitale Innovation investieren könnten.
So aber setzt sich Google einfach über geltendes Recht
hinweg.
Aber auch aus weiteren Gründen werden wir dem
vorliegenden Gesetzentwurf nicht zustimmen. Zum einen steht die Evaluierung des Leistungsschutzrechtes
durch die Bundesregierung noch aus. Diese haben wir
vereinbart, und das werden wir abwarten. Zum anderen
ist im Laufe des Sommers zu erwarten, dass die Entscheidung der Schiedsstelle beim Deutschen Patent- und
Markenamt über den dort vorgelegten Tarif der VG Media erfolgen wird. Dies ist im Übrigen der für Verwertungsgesellschaften übliche Weg einer Tarifveröffentlichung.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit der Einführung
des Leistungsschutzrechtes für Presseverlage haben wir
eine ordnungspolitische Entscheidung getroffen. Diese
Entscheidung stellen wir als CDU/CSU nicht infrage.
({2})
In seiner knapp zweijährigen Daseinsgeschichte steht
das Leistungsschutzrecht für Presseverleger noch am
Anfang seiner Entwicklung und Durchsetzung. Es ist
nicht untypisch im Urheberrecht, dass einzelne Aspekte
eines Gesetzes streitbehaftet sind. Deswegen müssen wir
die Klärung einzelner Rechtsbegriffe im Rahmen von
Schieds- und Gerichtsverfahren abwarten. Das ist der
natürliche Gang der Dinge. Auch die stattgefundene Anhörung im Rechtsausschuss hat differenzierte Ergebnisse
erbracht. Diese Ergebnisse sprechen aber aus unserer
Sicht in keiner Weise dafür, das Leistungsschutzrecht für
Presseverlage aufzuheben.
Die Entwicklungen rund um das Leistungsschutzrecht
werden wir weiter mit Spannung und Interesse verfolgen. Den vorliegenden Gesetzentwurf werden wir heute
ablehnen.
Vielen Dank.
({3})
Vielen Dank. - Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen spricht jetzt Tabea Rößner.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Das schwarz-gelbe
Leistungsschutzrecht muss weg“,
({0})
dieser Satz kommt nicht von mir - könnte er aber auch -,
sondern vom ehemaligen SPD-Kanzlerkandidaten Peer
Steinbrück. Der Mann hatte zwar nicht immer recht, aber
hier schon. Das Leistungsschutzrecht für Presseverlage
ist ein so haarsträubender und kontraproduktiver Blödsinn, dass es besser gestern als heute abgeschafft gehört.
({1})
Nichts, was sich die Union und vor allem die Großverlage von dem Leistungsschutzrecht versprochen haben, ist eingetreten. Es floss kein Geld, kein Cent, schon
gar nicht an die Urheberinnen und Urheber. Stattdessen
haben die Verlage unter dem Druck der schwindenden
Klickzahlen ausgerechnet Google eine Art Gratislizenz
erteilt und damit das Leistungsschutzrecht endgültig ad
absurdum geführt. Gleichzeitig streitet sich die Verwertungsgesellschaft VG Media mit Google vor Gericht.
Andere, kleinere Aggregatoren wie Rivva haben ihren
Dienst vorsichtshalber stark eingeschränkt. Aus der ITWirtschaft hört man, dass Unternehmen in Deutschland
wegen der unsicheren Rechtslage keine neuen Ideen für
Content-Verwertung austesten wollen.
Ein Hang zur Besserwisserei liegt mir völlig fern;
aber es ist schon unglaublich, dass alles, aber auch wirklich alles, wovor wir bei der Einführung gewarnt haben,
wahr geworden ist: Innovationsbremse, Rechtsunsicherheiten und eine Stärkung der großen Anbieter zulasten
der kleinen. Das Leistungsschutzrecht schafft das Gegenteil vom Versprochenen, und diesen gesetzgeberischen Bumerang wollen Sie ernsthaft beibehalten.
Jetzt kommen Sie von der Koalition wieder mit dem
Argument, dass wir die Evaluation abwarten sollten;
Herr Dörmann hat es eben auch gesagt. Ich bin wirklich
kein ungeduldiger Mensch; aber auf die Evaluation warten wir jetzt schon seit anderthalb Jahren vergebens.
Seien wir doch ehrlich: Evaluieren ist doch nichts anderes als ein Euphemismus für großkoalitionäres Aussitzen.
({2})
Was genau soll denn überhaupt evaluiert werden? Die
Fakten liegen doch auf dem Tisch. Wenn etwas nicht
nützt, sondern nur schadet, dann braucht man es nicht.
Das sagt einem doch der gesunde Menschenverstand.
({3})
Falls der bei Ihnen nichts gilt - das würde einiges erklären -, dann überzeugen die Experten Sie ja vielleicht.
Sowohl in einem Fachgespräch des Ausschusses Digitale Agenda als auch in der Anhörung zu unserem Gesetzentwurf im Rechtsausschuss wurde von der deutlichen Mehrheit der Experten die Abschaffung des
Gesetzes gefordert - nebenbei bemerkt: auch von Sachverständigen, die die Koalition eingeladen hatte -, von
den unzähligen kritischen Stellungnahmen im Vorfeld
einmal ganz abgesehen.
Ich fasse also zusammen: Die Fakten sprechen gegen
das Leistungsschutzrecht, der Menschenverstand tut es,
die Experten tun es, im Übrigen auch der Bundesrat; das
können Sie in einer Entschließung des Bundesrates
gerne nachlesen. Wir wollen es nicht. Die Verlage nutzen es nicht. Also: Korrigieren Sie einen großen Fehler
und schaffen Sie dieses Unglück endlich ab!
({4})
Ich wende mich auch direkt an Sie, liebe Kolleginnen
und Kollegen der SPD. Heute müssen Sie Flagge zeigen.
In der vergangenen Legislaturperiode waren Sie noch
sehr geschlossen gegen das Leistungsschutzrecht. Und
nun? Es hat sich nichts an den Tatsachen geändert; aber
es braucht keinen Propheten, um zu wissen, dass Sie
auch heute leider nicht das Richtige tun werden. Mit
Verweis auf den Koalitionsvertrag und die Evaluation
akzeptieren Sie das Leistungsschutzrecht. Wie schon bei
der Vorratsdatenspeicherung sagen Sie auch hier vorher
das eine und machen dann doch das andere. Wie fühlt es
sich eigentlich an, der netzpolitische Dackel der Union
zu sein?
({5})
Ich präsentiere Ihnen ein allerletztes Argument gegen
das Leistungsschutzrecht. Heute Morgen haben wir in
diesem Haus passenderweise über den Bürokratieabbau
diskutiert. Ich denke, der gesamte Prozess rund um Snippets, Verwertungsgesellschaften, Anhörungen, rechtliche Unklarheiten, Klagen und Gegenklagen hat gezeigt:
Sie sollten heute unserem Gesetzentwurf zustimmen und
für etwas weniger Bürokratie und Wahnsinn in diesem
Land sorgen.
Vielen Dank.
({6})
Vielen Dank. - Nächster Redner ist Dr. Volker
Ullrich, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Der Schutz des geistigen Eigentums ist Ausprägung der Eigentumsgarantie des Grundgesetzes
und damit ein wesentliches Strukturmerkmal unserer
Wirtschaftsordnung. Das Leistungsschutzrecht für Presseverlage wurde nach langen und zugegebenermaßen intensiven Debatten im Jahr 2013 eingeführt, um im sensiblen Bereich der Presse und Verlage die Urheberschaft
von Texten zu sichern und journalistische Arbeit zu würdigen.
Dabei geht es um mehr als nur den Schutz rein wirtschaftlicher Belange. Ein demokratisches und freiheitliches Gemeinwesen muss ein lebendiges Interesse an einer funktionierenden Presselandschaft haben, welche die
Vielfalt der Meinungen bündelt und durch die Wahrnehmung öffentlicher Kontrolle zur Meinungsvielfalt und
Pluralität beiträgt. Eine solche Presselandschaft ist allerdings nicht zum Nulltarif zu haben. Qualität kostet, und
eine gute journalistische Arbeit hat zu Recht ihren Preis.
Es ist nicht gerecht, wenn diejenigen, die mit hohem
Aufwand eine Leistung erbringen, mit ansehen müssen,
wie andere davon profitieren, ohne dass der Urheber
selbst an der Verwertung beteiligt wird.
({0})
Daher ist den Herstellern das Recht eingeräumt worden,
ihre Presseerzeugnisse zu gewerblichen Zwecken zugänglich zu machen. Suchmaschinen sollen nach Bezahlung diese Presseerzeugnisse nutzen können, Überschriften und Textausschnitte sind frei. Diese Erwägung folgt
damit anderen Vermarktungsmustern im Bereich des
geistigen Eigentums. Diese grundsätzlichen Überlegungen zur Einführung des Leistungsschutzrechtes im Jahr
2013 waren richtig. Sie sind es auch heute noch.
({1})
Ich möchte nicht verschweigen, dass das Leistungsschutzrecht zum Zeitpunkt der Verabschiedung umstritten war und wir auch heute eine kontroverse Debatte
führen. Es gibt auch hörenswerte Gründe, die eine andere Richtung aufzeigen können. Jedenfalls spricht
gegen das Leistungsschutzrecht nicht, dass offene
Rechtsbegriffe existieren. Die Klärung unbestimmter
Rechtsbegriffe ist Kernaufgabe der Rechtsprechung. Die
Gerichte klären die konkrete Reichweite und die Grenzen des Leistungsschutzrechts anhand von Einzelfällen
unter Betrachtung aller Einzelheiten. Das ist gelebte Gewaltenteilung. Deswegen spricht im Ergebnis nichts dafür, jetzt schon Ihrem Gesetzentwurf zu folgen.
Wir haben uns im Koalitionsvertrag darauf verständigt, dass die Wirksamkeit des Leistungsschutzrechts in
dieser Periode evaluiert wird. Aber diese Evaluation ist
nicht beendet.
({2})
Es sind Gerichtsverfahren und Schiedsverfahren anhängig. Diese sollten wir abwarten. Wir sollten uns mit diesem Thema befassen und die Erkenntnisse berücksichtigen. Erst klug überlegen, dann handeln, das ist der Kern
verantwortungsvoller Politik.
({3})
Wie auch immer diese ergebnisoffene Evaluation am
Ende des Tages ausgehen wird: Die Union steht zum
Schutz des geistigen Eigentums als grundsätzliches Ordnungsprinzip. Wir stehen zu einem modernen und tauglichen Urheberrecht im digitalen Zeitalter. Deswegen werden wir für heute Ihren Gesetzentwurf ablehnen.
Vielen Dank.
({4})
Vielen Dank. - Damit sind wir am Ende der Debatte
angekommen.
Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen zur Aufhebung des Achten Gesetzes zur Änderung
des Urheberrechtsgesetzes. Der Ausschuss für Recht und
Verbraucherschutz empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/4987, den Gesetzentwurf der
Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 18/3269 abzulehnen. Ich bitte diejenigen,
die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das
Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält
sich? - Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung
mit den Stimmen der CDU/CSU-Fraktion und der SPDFraktion gegen die Stimmen der Fraktionen Die Linke
und Bündnis 90/Die Grünen abgelehnt, und mit dieser
Ablehnung entfällt laut unserer Geschäftsordnung die
weitere Beratung.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:
Beratung des Antrags der Bundesregierung
Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter
deutscher Streitkräfte an der Multidimensionalen Integrierten Stabilisierungsmission der
Vereinten Nationen in Mali ({0}) auf
Grundlage der Resolution 2100 ({1}) und
2164 ({2}) des Sicherheitsrates der Vereinten
Nationen vom 25. April 2013 und 25. Juni
Drucksache 18/5053
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({3})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss gemäß § 96 der GO
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann sind Sie damit einverstanden.
Bevor ich nun der Kollegin Bulmahn das Wort gebe,
möchte ich die Gäste aus Mali auf der Tribüne ganz
herzlich begrüßen, darunter zwei Mitglieder des Parlaments in Mali, die unserer Diskussion hier folgen. Herzlich willkommen!
({4})
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Edelgard Bulmahn.
({5})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Heute Mittag hatte ich ein hochinteressantes
Gespräch mit der malischen Delegation. Ein Teil der Delegation nimmt jetzt an unserer Debatte teil. Die Delegation besucht Deutschland, um sich über den deutschen
Föderalismus zu informieren, über die Art und Weise,
wie wir Macht- und Aufgabenteilung zwischen Bund,
Ländern und Kommunen in unserem Land organisiert
haben und wie die Verwaltungen tätig sind. Ich freue
mich sehr, dass wir die Möglichkeit haben, von unseren
Erfahrungen hier etwas mitzuteilen. Ich hoffe sehr, dass
dieser Besuch für Sie alle ein sehr ertragreicher und erfolgreicher wird.
({0})
Vor gut einem Monat hatten meine Kollegin Bärbel
Kofler, noch ein weiterer Kollege und ich die Möglichkeit, Mali selbst zu besuchen, auf Einladung des Präsidenten des malischen Parlaments. Das Ziel dieses Besuches waren Verhandlungen und Gespräche über eine
engere Zusammenarbeit zwischen dem malischen Parlament und dem deutschen Parlament, um das malische
Parlament auch in der Verbesserung seiner Arbeitsbedin10508
gungen und damit auch der Arbeitsmöglichkeiten zu unterstützen.
In den Gesprächen, die wir in Mali mit Regierungsvertretern - darunter mit dem Premierminister -, mit vielen Parlamentarierinnen und Parlamentariern, aber auch
mit Vertretern unterschiedlicher politischer Gruppen und
mit zivilen Organisationen geführt haben, wurde immer
wieder deutlich, wie groß die Hoffnung der Menschen in
Mali auf den Friedensprozess ist und wie wichtig auch
die Unterstützung ist, die wir von unserer Seite aus in
Mali leisten.
Wenn man die Situation heute vergleicht mit dem
Mali am Abgrund, 2013, dann kann man sagen, dass in
den letzten zweieinhalb Jahren wirklich Erstaunliches,
viel erreicht worden ist. Es gibt zwar immer noch große
Herausforderungen, vor denen Mali steht - sowohl das
Parlament als auch die Menschen -, aber es gibt auch
enorme Fortschritte: die weitgehende Wiederherstellung
der territorialen Integrität des Staates, die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen - also die Rückkehr zur
demokratischen Ordnung -, eine deutliche Verbesserung
der Sicherheitslage, das Waffenstillstandsabkommen
von Kidal, aber vor allen Dingen auch der Friedensprozess von Algier, der Abschluss des Vertrages für Frieden
am 15. Mai und die Bereitschaft und die Ratifizierung,
die jetzt am 20. Juni durch die Gruppen auch noch geleistet werden wird, die diesen Friedensvertrag bisher
nicht unterschrieben haben. Das sind gewaltige Fortschritte, die in den letzten zweieinhalb Jahren erreicht
werden konnten.
Wir haben von deutscher Seite aus diese gewaltigen
Fortschritte unterstützt - und werden dies auch weiter
tun - durch die Bereitstellung von Entwicklungszusammenarbeit, durch die Unterstützung des Landes in seiner
kulturellen, wirtschaftlichen und auch sozialen Entwicklung.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, all das wäre
nicht möglich gewesen ohne die militärische Intervention von Frankreich und ohne die VN-Mission
MINUSMA.
({1})
Deshalb ist Mali auch ein Beispiel dafür, dass eine apodiktische Ablehnung jeglicher militärischer Einsätze
- ich rede über VN-Missionen - oder ein apodiktisches
Gegenüberstellen von zivilen Missionen, zivilen Hilfestellungen und Interventionen und militärischen der Sache nicht gerecht wird. Sicher sind zivile Hilfestellung
und Unterstützung, ziviles Krisenmanagement immer
besser, wenn es diese Möglichkeit noch gibt; aber
manchmal brauchen wir auch ein militärisches Eingreifen, damit wir überhaupt erst einmal wieder politische
Verhandlungen führen können und ein politischer Prozess beginnen kann.
({2})
MINUSMA ist eine VN-Mission, die erstens eine militärische Komponente enthält, um die Sicherheitslage
weiter zu stabilisieren und die Bevölkerung zu schützen,
die zweitens aber auch eine starke zivile und entwicklungspolitische Seite hat:
({3})
indem die Mission die Umsetzung des Vertrages von Algier unterstützt, indem die Dezentralisierung, die in diesem Vertrag niedergelegt worden ist, unterstützt wird, indem der politische Dialog, die nationale Aussöhnung,
unterstützt wird und indem dafür Sorge getragen wird,
dass die Menschenrechte beachtet werden.
Ich glaube, dass dieser Einsatz, dass diese Mission
und das, was wir zusätzlich tun, zeigen, wie wichtig es
ist, dass wir bei einer wirklich massiven Krise in einem
Land, bei Bürgerkrieg oder bürgerkriegsähnlichen Verhältnissen, einen multidimensionalen Ansatz wählen
- wir können das auch einen kohärenten Ansatz nennen -,
der neben dem militärischen Einsatz auch die zivilen
Elemente umfasst. Ich finde es schade, dass wir in den
Debatten oft nur über die militärische Mission sprechen,
aber nicht über die zivile Hilfe und Unterstützung, die
wir gleichzeitig leisten.
({4})
Wir müssen auch in diesem Parlament ganzheitlich
denken und ganzheitlich agieren. Wir sollten den gesamten Umfang der Missionen inklusive der Hilfestellungen
betrachten. Dann, glaube ich, wird deutlich, wie wichtig
es ist, dass wir uns engagieren, dass wir außenpolitisch
mehr Verantwortung übernehmen; denn so können wir
wirklich dazu beitragen, die Lebensverhältnisse in den
Ländern zu verbessern. So können wir den Menschen
eine neue Perspektive geben. So können wir sie dabei
unterstützen, diese Perspektive zu entwickeln. Deshalb
ist es richtig, dass wir uns neben dem militärischen Einsatz im Rahmen von MINUSMA auch an politischen
und sozialen und auch an Programmen zur Förderung
der wirtschaftlichen Entwicklung beteiligen.
Wir unterstützen im Übrigen auch das Parlament,
weil das Parlament eine ganz erhebliche Verantwortung
besitzt. Es hat eine wichtige Aufgabe und eine erhebliche Bedeutung für gutes Regieren in einem Land. Gelegentlich vergessen wir als Parlamentarier das. Dabei
müssten wir das aus eigener Erfahrung sehr gut wissen.
Deshalb will ich an dieser Stelle die Bedeutung der Zusammenarbeit zwischen dem Deutschen Bundestag und
dem Parlament in Mali unterstreichen. Diese Zusammenarbeit bezieht sich nicht nur auf die Zusammenarbeit
zwischen den nationalen Parlamenten, sondern wir unterstützen Mali auch bei dem Aufbau und der Weiterentwicklung regionaler Parlamente und Verwaltungen. Damit unterstützen wir das Land mit Blick auf eine gute
Regierungsführung.
({5})
Gute Regierungsführung ist die entscheidende Voraussetzung dafür, dass ein Land eine friedliche und staEdelgard Bulmahn
bile Entwicklung nimmt. Wie wichtig das ist, hat gerade
erst eine Umfrage gezeigt, die morgen den VN zur
Kenntnis gegeben wird. Nach dieser Umfrage sagen
70 Prozent der Bevölkerung Malis, dass die Sicherheitslage in Mali, dass friedliche, stabile Verhältnisse für sie
eine ganz große Bedeutung haben. Knapp 50 Prozent sagen, dass ihnen die Arbeitslosigkeit, die soziale Entwicklung insgesamt große Sorgen bereiten.
Deshalb unterstreiche ich zum Schluss noch einmal,
wie wichtig es ist, dass wir den kohärenten Ansatz, den
wir gewählt haben, fortsetzen. Die kulturelle Zusammenarbeit gehört im Übrigen auch dazu: Deutschland
unterstützt Mali bei der Restaurierung der wunderbaren
Bibliothek von Timbuktu. Auch das gehört dazu, weil
das ein wichtiger Teil der Geschichte und Tradition Malis ist.
Bei allem Engagement, Frau Bulmahn, Sie müssen
zum Schluss kommen.
Ich plädiere deshalb ausdrücklich dafür, dieser Mission zuzustimmen. Wenn Sie das Land besuchen, werden Sie selbst erleben, wie wichtig das ist. - Da geht mir
das Herz über, Frau Präsidentin. Ich hoffe, Sie sehen es
mir nach. - Ich bitte Sie sehr, der Fortsetzung dieser
Mission zuzustimmen, weil das für die Menschen in
Mali von ungeheurer Bedeutung ist.
Vielen Dank.
({0})
Vielen Dank. - Für die Fraktion Die Linke spricht
jetzt der Kollege Niema Movassat.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich
muss Ihnen sagen: Wir diskutieren hier über einen Bundeswehreinsatz in Mali, und es ist, wenn ich es richtig
sehe, niemand vom Auswärtigen Amt da. Das überrascht
mich schon ein bisschen, weil es natürlich dazugehört,
dass auch das Auswärtige Amt bei der Debatte im Parlament dabei ist.
({0})
Ich muss sagen: Die Bilanz dieses Einsatzes der Bundeswehr ist schlecht. Der erste Grund dafür ist, dass das
Zivile zu kurz kommt. Eigentlich soll der Einsatz in Mali
ein Musterbeispiel für den vielgepriesenen vernetzten
Ansatz aus Bundeswehr, Polizeiausbildern und zivilen
Maßnahmen sein. Aber wo sind die deutschen zivilen
Beiträge im Rahmen von MINUSMA? Ich sehe bloß Militär:
({1})
Bundeswehrsoldaten, die andere Soldaten ins Einsatzgebiet fliegen und französische Kampfflugzeuge auftanken, daneben Bundeswehrsoldaten, die malische Soldaten ausbilden. Die Probleme in Mali werden so nicht
gelöst. Schon deshalb ist der Einsatz abzulehnen.
({2})
Der zweite Grund: Die Ursache für den Dauerkonflikt
im Land wird nicht angepackt. Armut und Perspektivlosigkeit im Norden Malis sind die Gründe dafür, dass
sich junge Menschen den Separatisten und Islamisten
anschließen. Diese locken mit Einkommen; da machen
100 Euro Sold schon den Unterschied. Übrigens: Den Islamisten geht es wiederum weniger um den Glauben als
vielmehr um die attraktiven Handels- und Schmugglerrouten. Der Militäreinsatz ändert nichts an diesen Konfliktursachen.
({3})
Die Probleme Malis lassen sich nur lösen, wenn die Armut, vor allem im Norden, bekämpft wird.
Dritter Grund für die schlechte Bilanz: Es gibt keinen
echten Dialog in Mali. Seit Jahren fordert die malische
Zivilgesellschaft einen nationalen Dialogprozess. Dieser wurde aber immer wieder hintertrieben. Auch die
Versöhnungskommission bleibt hinter den Erwartungen
der Zivilgesellschaft zurück. Die Friedensverhandlungen
in Algier sind von militärischer Logik bestimmt.
({4})
Dort dürfen mit der malischen Regierung nur die Gruppen verhandeln, die Waffen haben. Wer keine Waffen
hat, sitzt nicht am Tisch - also die gesamte Zivilgesellschaft. Wie soll es da eine nachhaltige Lösung geben?
Ein vierter Grund: Der wichtigste Partner, die ehemalige Kolonialmacht Frankreich, spielt ein falsches Spiel.
Es geht ihr um die reichen Rohstoffvorkommen und um
die wichtige geostrategische Lage. Die Rettung der Zivilbevölkerung war nie das primäre Ziel der Intervention. Frankreichs Interesse zeigt sich auch anhand der eigenen Militäroperation mit 3 000 Soldaten, von der wir
fast nichts wissen. Dazu hat Frankreich Mali ein Militärabkommen aufgedrückt, das dessen Souveränität mit Füßen tritt. Trotzdem kooperiert Deutschland auch weiterhin militärisch mit Frankreich - ein Unding.
({5})
Fünfter Grund für das Scheitern: Die Strategie des
Einsatzes ist unlogisch. Bundeswehrsoldaten unterstützen die malische Regierung, um gegen die MNLA-Rebellen zu kämpfen. Diese Rebellen wiederum werden
von Frankreich unterstützt und von Saudi-Arabien mit
Waffen beliefert. Mit Frankreich ist Deutschland verbündet, an Saudi-Arabien liefert Deutschland Waffen. Das
ist keine Strategie. Das ist absurd.
({6})
Sechster Grund. Trotz des Militäreinsatzes werden
die Rebellen immer stärker. Die Zahl ihrer Angriffe
nimmt zu. Zudem gibt es immer öfter Proteste gegen
MINUSMA. Denn seit kurzem versucht MINUSMA,
überall dort mit Gewalt Pufferzonen einzurichten, wo regierungsnahe Milizen vorrücken. So sollen angeblich
Kämpfe verhindert werden. Viele Malier sehen darin
aber einen Schritt zur De-facto-Spaltung des Landes;
denn Rebellengebiete bleiben so in Separatistenhand.
Bei den Protesten dagegen Anfang des Jahres in Gao
schossen Blauhelme auf die Zivilbevölkerung. Es starben mindestens drei Zivilisten. Soll das der Frieden sein,
der militärisch nach Mali gebracht wird?
({7})
Lassen Sie mich zum Schluss sagen: Es gibt immer
noch Zehntausende malische Flüchtlinge. Viele Menschen hungern. Es gibt also weder eine militärische noch
eine zivile Besserung der Lage. Sehen Sie es endlich ein:
Ihre Strategie in Mali ist gescheitert. Ziehen Sie die Bundeswehr ab!
({8})
Mit der Verlängerung des Einsatzes werden weitere
6 Millionen Euro verpulvert. Ich sage Ihnen: Dieses
Geld wäre bei der humanitären Hilfe, beim Zivilen Friedensdienst, bei der Entwicklungszusammenarbeit wesentlich besser aufgehoben.
Danke für die Aufmerksamkeit.
({9})
Vielen Dank. - Für die Bundesregierung erhält jetzt
der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Ralf Brauksiepe
das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Kollegin Bulmahn hat wichtige Aspekte bereits angesprochen und deutlich gemacht, aus welch guten
Gründen wir uns in Mali in vielfältiger Weise engagieren. Was Sie gerade vorgetragen haben, Herr Kollege,
hat mit der wahren Situation in Mali nicht viel zu tun.
({0})
Worum es geht, sind fragile Staatlichkeit und stockende wirtschaftliche Entwicklung, die an vielen Stellen
Afrikas Probleme bereiten. Wir können dieser Gemengelage nur begegnen sowohl durch eine Stabilisierung der
Sicherheitslage als auch durch die Stärkung der Verantwortung vor Ort, den Aufbau von Kapazitäten ziviler Sicherheitskräfte und durch Hilfe zur Selbsthilfe, natürlich
auch durch Mittel der Entwicklungszusammenarbeit, um
nur einige Handlungsfelder aufzuzeigen. Natürlich sind
wir auch im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit
in Mali aktiv; das ist gut so. Wir brauchen einen vernetzten Ansatz, und genau um den geht es auch hier bei diesem Mandat. Wir beschreiten diesen Weg genau mit unseren internationalen Partnern in Afrika - und auch in
Mali.
Eine weiterhin volatile Sicherheitslage vor allem im
Norden des Landes führte im Zuge der immer noch
schwelenden Auseinandersetzungen immer wieder zu
gewaltsamen Übergriffen mit Todesopfern, und die
Spannungen halten weiter an. Daneben besteht eine terroristische Bedrohung, die nur am Rande Bezug zum
politischen Verhandlungsprozess hat, abstrakt landesweit und eben besonders konkret im Norden des Landes.
Die Kollegin Bulmahn hat die Unterzeichnung des
Friedensabkommens am 15. Mai 2015 in Bamako angesprochen. Das war in der Tat ein wichtiger Schritt auf
dem Weg zu einer politischen Konfliktlösung. Die malische Zentralregierung und Teile der Rebellengruppen
aus dem Norden sind in diesem Rahmen mit Unterstützung maßgeblicher internationaler Akteure zu einem gemeinsamen Ergebnis für ganz Mali gekommen.
Der vielseitige und vernetzte Ansatz internationaler
Organisationen in Mali ist von besonderer Bedeutung.
Es geht um Vernetzung einerseits der verschiedenen
politischen Ansätze - zivil und militärisch -, auf ziviler
Seite natürlich sowohl entwicklungspolitisch als auch diplomatisch, aber es geht eben auch um die verschiedenen Mandate, in denen wir uns einbringen und in denen
wir mit anderen Organisationen und Staaten zusammenarbeiten.
EUTM Mali, EUCAP Sahel Mali und MINUSMA
leisten neben weiteren nationalen und internationalen
Hilfsinitiativen gemeinsam einen wichtigen Beitrag zur
Stabilisierung nicht nur in Mali, sondern in der gesamten
Region. Dieses umfassende Engagement bleibt eine
Grundvoraussetzung für eine Verbesserung der Sicherheitslage in Mali und damit auch für die zur Stabilisierung des Landes und in der Region nötigen Friedensprozesse.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben unser Engagement bei EUTM Mali zu Beginn des Jahres ausgeweitet und damit ein deutliches Signal gesetzt. Und
wenn es um die VN-Friedensmission MINUSMA und
um unsere Verlängerung des Mandats geht, dann ist das
eben auch ein wichtiger, ein bedeutender Teil dieses Stabilisierungsprozesses in Mali und in der gesamten Region.
Und, liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben das
Thema ja oft, wenn es um Defizite geht, die vorhanden
sind, und um Fortschritte, die es gibt, die Frage: Was davon hat eigentlich mit unserem Einsatz zu tun? Viele
Probleme, die es in Afrika gibt, haben nichts mit dem
Einsatz der internationalen Gemeinschaft zu tun. Nach
den friedlich verlaufenen freien und demokratischen
Präsidentschafts- und Parlamentswahlen verfügt Mali
seit dem Jahr 2013 aber wieder über eine demokratisch
legitimierte Regierung, die sich den Reform-, Aufbauund Aussöhnungsprozess als wichtiges Ziel gesetzt hat.
Mit dem vorliegenden Mandat unterstützen wir genau
mit unseren europäischen und internationalen Partnern
diesen politischen Prozess und kommen der von uns angenommenen und gelebten sicherheitspolitischen Verantwortung für die Region nach.
Das ist eben genau unser Beitrag, zu dem wir stehen
und den wir vor allem im Interesse der Menschen dieses
Landes - nicht in irgendeinem europäischen Interesse fortsetzen wollen. Darum geht es.
({1})
Der Einsatz im Rahmen von MINUSMA bleibt Teil
eines umfassenden Engagements unseres Landes für Mali.
Wir beteiligen uns daran auch mit dem Einsatz von Krisenpräventionsmitteln, mit der Entwicklungszusammenarbeit, mit dem Ausstattungshilfeprogramm der Bundesregierung und mit der Ausbildung von Polizei- und
Sicherheitskräften im Rahmen der EU- und VN-Missionen. Dieser integrierte multidimensionale Charakter von
MINUSMA spielt eine bedeutende Rolle, ebenso wie die
Vernetzung unseres nationalen politischen, gesellschaftlichen, auch zivil angelegten Engagements.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit der Verlängerung der deutschen Beteiligung an EUTM Mali ist bereits ein wichtiger Schritt vollzogen worden. Durch die
weitere Beteiligung unserer Soldatinnen und Soldaten an
MINUSMA machen wir einen weiteren Schritt in
Richtung eines verstärkten Engagements im Sinne von
Sicherheit und Stabilität in Mali und in der gesamten
Region. Deswegen bitte ich Sie herzlich um die Unterstützung des Antrags der Bundesregierung.
Vielen Dank.
({2})
Vielen Dank. - Für Bündnis 90/Die Grünen erhält
jetzt Dr. Frithjof Schmidt das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Gäste! Um es noch einmal klar zu sagen: Das
Eingreifen Frankreichs im Januar 2013 und das Zurückdrängen der Islamisten, die aus dem Norden auf
die Hauptstadt Bamako vorgerückt sind, war richtig und
notwendig. Wir können uns alle noch gut daran erinnern,
dass die Menschen in den befreiten Orten gefeiert und
getanzt haben. Das war keine Inszenierung; das war
echt. Es war auch richtig, dann unter dem Mandat der
Vereinten Nationen eine Mission im Land einzurichten.
Es ist gut, dass sich Deutschland daran beteiligt.
({0})
Diese UN-Mission hat zwar ganz maßgeblich zur Stabilität in großen Teilen des Landes beigetragen, und Frau
Bulmahn hat zu Recht darauf hingewiesen, was dort an
zivilem Aufbau und Engagement geleistet wird - das ist
ganz wesentlich -, aber klar ist auch: Dauerhafter Frieden ist noch nicht erreicht worden. Da dürfen wir nichts
schönreden. In den letzten zwei Jahren hat es immer
wieder schwere Rückschläge gegeben. Noch letzte Woche gab es im Norden schwere Kämpfe zwischen konkurrierenden bewaffneten Gruppen, und mehrere Zehntausend Menschen sind gerade vor diesen Kämpfen
geflohen und suchen den Schutz der UNO und die Hilfe
des UNHCR.
Die UN-Blauhelme sind schon mehrfach zwischen
die Fronten geraten. Sie haben in den letzten zwei Jahren
schon fast 50 Tote zu beklagen. Das heißt, dies gilt derzeit als einer der gefährlichsten UN-Einsätze. Das sollten wir auch klar sagen, wenn wir fordern, die Bundeswehr soll an einem solchen Einsatz teilnehmen. Das ist
ein sehr gefährlicher Einsatz.
({1})
Aber er trägt auch entscheidend dazu bei, die Voraussetzungen für eine politische Lösung der Konflikte im
Land zu schaffen, und darum geht es: eine dauerhafte
politische Lösung zu erreichen. Es gibt eben nicht nur
den Konflikt zwischen der Zentralregierung im Süden
und den Tuareg im Norden, sondern auch Konflikte zwischen den verschiedenen bewaffneten Gruppen im Norden. Es ist die zentrale Aufgabe, sie zusammenzubringen. Ich finde es absolut unsinnig, die Einbeziehung der
Zivilgesellschaft in Friedensprozesse gegen den Versuch
der UNO auszuspielen, in Algier diese bewaffneten
Gruppen zusammenzubringen und so Frieden zu stiften.
Es ist doch eine ganz unsinnige Diskussion, die da aufgemacht wurde.
({2})
Ohne die Präsenz und Vermittlung der UNO wird
kein Frieden in Mali zu erreichen sein. Es gibt die Hoffnung, dass wir dort Fortschritte machen können. Denn
die UNO hat es geschafft, den Friedensprozess zu initiieren, und die Verhandlungen um einen Waffenstillstand
und den Friedensvertrag in Algier waren langwierig und
schwierig, aber jetzt ist ein neuer großer Schritt in die
richtige Richtung gelungen. Die Rebellenorganisation
CMA, die sehr wichtig ist und sich bisher nicht beteiligt
hatte, hat jetzt erklärt, dass sie dem Friedensvertrag beitreten wird, der schon im Mai zwischen anderen Gruppen geschlossen wurde. Das ist ein weiterer ganz wichtiger Schritt nach vorne in dieser sehr gefährlichen Lage,
die immer wieder so viele Opfer fordert.
Auch dieser Friedensvertrag ist sicher nicht perfekt,
aber er ist ein richtiger Schritt in die richtige Richtung.
Jetzt geht es um seine Umsetzung. Auch das wird ohne
die UNO und ihre Präsenz nicht gehen.
Deshalb möchte ich an die Adresse der Kolleginnen
und Kollegen von der Linken noch einmal deutlich sagen: Ein Abzug der UNO in dieser Situation wäre auch
das Ende all dieser Friedenshoffnungen für lange Zeit.
Das zu fordern, ist unverständlich, und es ist übrigens
auch unverantwortlich.
({3})
Es gibt die Chance auf dauerhaften Frieden in Mali.
Wer diese Chance nutzen will, der muss diese UN-Mis10512
sion unterstützen und verlängern. Deswegen werbe ich
für die Zustimmung zu diesem Mandat.
Danke für die Aufmerksamkeit.
({4})
Vielen Dank. - Letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt ist die Kollegin Julia Obermeier, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Europäische Marineschiffe haben vergangenes Wochenende mehr als 4 000 Flüchtlinge aus Seenot
gerettet. Am Samstag haben allein die Fregatte „Hessen“
und der Versorger „Berlin“ 1 400 Menschen - darunter
145 Kinder - an Bord genommen. Etwa jeder dritte
Flüchtling, der im Mittelmeer gerettet wird, kommt aus
Mali. Weniger bekannt ist: 30 bis 40 Prozent der Flüchtlinge verhungern und verdursten auf dem Weg durch die
Sahara. Allein 270 000 Malier sind auf der Flucht: rund
140 000 in den Nachbarstaaten und 90 000 innerhalb
Malis.
Die Menschen fliehen vor Armut und Gewalt. Das
Pro-Kopf-Einkommen liegt bei 600 Euro im Jahr. Etwa
die Hälfte der Menschen lebt in Armut. Viele Malier finden keine Arbeit und keine Perspektive für sich und ihre
Familie.
Auch ist die Sicherheitslage im Norden Malis nach
wie vor beunruhigend. Das ist auch deswegen so wichtig, weil im Norden Malis eine der drei Hauptrouten
durch die Sahara beginnt, auf denen der gesamte afrikanische Drogen-, Menschen- und Waffenhandel stattfindet. Deshalb macht es auch für uns in Deutschland einen
Unterschied, ob die Zugänge durch die Sahara von halbwegs funktionierenden staatlichen Strukturen kontrolliert werden oder ob hier Warlords, Schleusern und
Kriminellen Tür und Tor geöffnet ist. Deshalb engagieren wir uns in Mali.
({0})
Wir tun dies auf mehreren Ebenen: mit Diplomatie,
mit Entwicklungszusammenarbeit und mit Sicherheitspolitik. Deutschland beteiligt sich an mehreren militärischen Missionen der internationalen Gemeinschaft: an
der europäischen Ausbildungsmission EUTM Mali, an
der Polizeimission EUCAP und auch an der VN-Mission
MINUSMA, über die wir heute beraten.
MINUSMA verfolgt wichtige Ziele: Sicherheit und
Stabilität in Mali zu fördern und Zivilpersonen zu schützen. Ja, das deutsche Engagement im Rahmen der Gesamtoperation MINUSMA ist vergleichsweise klein,
aber es ist sinnvoll. Mit MINUSMA leisten wir einen
Beitrag, den politischen Dialog und die nationale Aussöhnung zu fördern. Wir fördern auch die Wiederherstellung der staatlichen Autorität im gesamten Land.
Zudem unterstützt das Auswärtige Amt bereits seit
zwei Jahren das malische Versöhnungsministerium bei
den Bemühungen um ein Friedensabkommen. Mittlerweile haben sich die malische Regierung und mehrere
Rebellengruppen auf ein Friedensabkommen verständigt, dem am 20. Juni nun auch die wichtigen Rebellengruppen aus der Tuareg-Region in Nordmali zustimmen
werden.
Deutschland ist auch in der Entwicklungszusammenarbeit in Mali tätig, und zwar als viertgrößter Geldgeber
weltweit. Dabei fördern wir Dezentralisierung und gute
Regierungsführung sowie die Wasserversorgung. Wir
geben Flüchtlingen Starthilfe und steigern die Erträge
der Landwirtschaft. Durch Bewässerungsprojekte können 70 000 Bauern im Binnendelta des Niger pro Jahr
rund 130 000 Tonnen Reis ernten.
Wenn ich an Mali denke, denke ich auch immer an
den Truppenbesuch von Staatssekretär Markus Grübel
im Jahr 2014, den ich begleiten durfte. Dort haben wir
unter anderem die Bundeswehrsoldaten am Ausbildungsstandort Bapho besucht. Dort haben uns die Kinder der malischen Soldaten sehr herzlich empfangen.
({1})
Für diese Kinder wie für alle Bewohner Malis macht unser Engagement einen Unterschied - und auch für uns in
Deutschland. Deshalb unterstützen wir den Antrag der
Bundesregierung.
Vielen Dank.
({2})
Vielen Dank, Frau Kollegin Obermeier. - Damit sind
wir am Ende dieser Debatte. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 18/5053 an die in
der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich habe vergessen, Ihnen einen schönen guten Abend
zu wünschen. Zu unseren Besuchern aus Mali auf der
Tribüne - sie gehen gerade - sage ich: Bonne soirée à
vous. - Au revoir.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 13 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Uwe
Kekeritz, Katharina Dröge, Claudia Roth ({0}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abgeordneten Heike Hänsel, Niema Movassat,
Wolfgang Gehrcke, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion DIE LINKE
Wirtschaftspartnerschaftsabkommen mit der
Westafrikanischen Wirtschaftsunion dem
Bundestag zur Abstimmung vorlegen
Drucksache 18/5096
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung ({1})
Vizepräsidentin Claudia Roth
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. - Ich höre und
sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Uwe Kekeritz von Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen
und Kollegen! Ich stelle Ihnen jetzt kurz einen Antrag
vor, der mit Ihrer Hilfe hoffentlich demnächst obsolet
sein wird. Mit dem Antrag beschreiten wir nicht die übliche traditionelle thematische Auseinandersetzung zwischen Koalition und Opposition. Es geht vielmehr um
das Verhältnis der Verfassungsorgane zueinander, um
unser Demokratieverständnis als Abgeordnete und darum, ob wir unsere verfassungsgemäßen Pflichten, die
uns die Wähler und Wählerinnen übertragen haben,
wahrnehmen oder nicht. Das ist keine Lappalie, sondern
eine entscheidende Frage.
({0})
Demnächst muss das Wirtschaftsabkommen mit der
Staatengemeinschaft ECOWAS ratifiziert werden. Doch
wer soll darüber entscheiden? Soll darüber das Kabinett
entscheiden oder das Parlament? Letztlich hat die Regierung dem Abkommen im EU-Ministerrat schon zugestimmt. Da es sich aber ohne Zweifel um ein gemischtes
Abkommen handelt - daran hat auch die Regierung
keinen Zweifel -, muss darüber nochmals abgestimmt
werden: hier im Bundestag.
Leider sieht das die Bundesregierung anders. Sie will
nochmals darüber abstimmen, aber nur im Kabinett. Dadurch werden aber unsere parlamentarischen Beteiligungsrechte ausgehöhlt. Das entspricht auch nicht dem
Geist des Lissabon-Vertrags. Darin steht ganz klar:
Gemischte Abkommen verlangen eine zweite nationale
Abstimmung. - Ich sage: Das kann nur im Parlament
sein.
({1})
Wir haben diesbezüglich schon mehrere rechtliche
Bewertungen eingeholt. Wir wie auch Präsident
Lammert warten jetzt seit drei Monaten auf eine Bewertung durch das Justizministerium. Aber die Bewertung
kommt komischerweise nicht, obwohl sie schon lange
fertig ist. Hier blockiert offensichtlich ein machtpolitisches Faktum im Kanzleramt die Freigabe der Bewertung. Was dahintersteckt, ist Ihrer Interpretation überlassen.
Erinnern Sie sich eigentlich noch an die Auseinandersetzung zum Thema „Beteiligungsrechte des Parlaments
in EU-Angelegenheiten“? Es ist nicht nur eine Schande,
dass das Gericht in Karlsruhe der Regierung sagen
musste, wie die Beteiligungsrechte des Parlaments zu
bewerten sind. Es ist und bleibt ein Skandal, dass die
Mehrheit im Parlament bereit war, ihre Rechte, aber
auch Pflichten an die Regierung abzutreten. Wir Abgeordnete haben kein Recht, uns aus der Verantwortung,
die wir durch unsere Wahl angenommen haben, zu stehlen.
({2})
Es stellt sich die Frage, ob sich die Mehrheit des Parlaments auch in diesem Fall wieder ihrem Auftrag, Verantwortung zu übernehmen, einfach verweigert.
Welche Konsequenzen könnte es haben, wenn
Freihandelsverträge mit Afrika hier nicht verhandelt
werden? Was passiert eigentlich mit TTIP, CETA, TiSA
und anderen? Warum sollte über diese hier abgestimmt
werden, obwohl jeder von Ihnen schon in seinem Wahlkreis erklärt hat: TiSA und CETA sind überhaupt kein
Problem. Darüber wird doch hinterher im Parlament
abgestimmt. Damit sind die demokratischen Grundbedingungen erfüllt. - Sie sind gerade dabei, sich auf einen anderen Weg zu machen.
Der Antrag wandert nun in die Ausschüsse. Damit besteht für jeden genug Zeit, über seine parlamentarischen
Pflichten und Rechte einmal nachzudenken. Lassen Sie
sich von Ihren Fraktionsvorsitzenden bitte schön nicht
den Schneid abkaufen. Es geht um die Funktionsfähigkeit des Parlaments, aber auch um die Rolle, die Sie in
diesem Parlament wahrnehmen müssen. Auch die Regierung hat die hervorragende Chance, darüber nachzudenken. Um diesen Antrag und weitere Konsequenzen
einfach zu vermeiden, sollte sie dem Bundestag die Abstimmung ermöglichen.
Ansonsten werden wir das Bundesverfassungsgericht
erneut anrufen. Ich bin davon überzeugt, dass das Bundesverfassungsgericht ganz im Sinne der Stärkung der
Beteiligungsrechte des Parlaments entscheiden wird.
Wir werden die Abstimmung über diesen Antrag notfalls
auch namentlich machen.
Ich danke Ihnen.
({3})
Vielen Dank, Kollege Uwe Kekeritz. - Nächster Redner ist Herr Huber für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Während wir hier institutionelle
Debatten führen, und zwar nicht erst seit gestern, sterben
woanders Menschen.
Ich möchte kurz auf die allgemeine Wahrnehmung
des afrikanischen Kontinents, zugegebenermaßen außerhalb dieses Hauses, eingehen. Wenn in Westafrika Ebola
ausbricht, bricht in Ostafrika der Tourismus zusammen.
Wenn mich jemand anspricht und sagt: „Herr Huber, ich
freue mich, dass Sie sich für Afrika einsetzen, das ist ein
tolles Land“, dann sage ich: „Ja, das ist ein Kontinent,
der hat 54 Länder, aber ansonsten stimmt alles.“ Geografisch liegen wir sehr nahe an Afrika. Von Dakar nach
Dschibuti bzw. nach Mombasa fliegt man siebeneinhalb
Stunden. Im Vergleich dazu: Von hier nach Portugal
fliegt man in drei Stunden. Das fällt den wenigsten Menschen auf.
Wenn es heißt: „Herr Huber, was sprechen die denn
für eine Sprache in Afrika? Die sprechen Dialekte, nicht
wahr?“, dann sage ich: „Ja, die sprechen Sprachen, denn
in Afrika hat man sich schon untereinander verständigt,
bevor die Kolonialmächte aufgetaucht sind.“ Meine
Damen und Herren, es mag provokativ klingen, diesen
Ansatz bzw. diese Analyse an Sie zu kommunizieren,
aber das ist die landläufige Wahrnehmung Afrikas.
Wenn wir ehrlich sind: Wir haben angefangen, Afrika
wirtschaftlich wahrzunehmen, als die Chinesen kamen.
Als die Chinesen kamen, hieß es: „Auf einmal sind die
Chinesen da, was machen denn die Chinesen in Afrika?“
Den Chinesen sind die Inder und die Brasilianer gefolgt.
Wenn Sie jetzt schauen, dann sehen Sie, dass auch die
Türken dort sind. Alle Leute sind da. Die Amerikaner sagen: „Wir beteiligen uns am afrikanischen Boom.“ Die
Chinesen sagen: „Wir werden Afrika einen Kredit von
1 Billion zur Verfügung stellen.“ Ich frage mich: Wo
bleiben wir mit all diesen Debatten? Wie ist unsere
wahre Größe in Afrika? Ist die Größe, die wir hier im
Parlament diskutieren, tatsächlich auf dem Kontinent
real?
Wir wissen um Krisen und um Armut auf dem Kontinent, aber die wenigsten wissen im Zusammenhang mit
dem, was ich vorhin gesagt habe, dass es in Nigeria zu
einem Wirtschaftswachstum von 5,8 Prozent gekommen ist, trotz Ebola und Boko Haram, und zwar bei sinkenden Preisen auf dem extraktiven Sektor, sprich bei
sinkenden Erlösen aus dem Ölverkauf, von dem das
Land zum großen Teil lebt, und auf dem nichtextraktiven
Sektor, was auf eine Diversifizierung der Wirtschaft hindeutet. Die Diversifizierung der Wirtschaft ist eines der
wichtigsten Elemente, auf das wir - so glaube ich - bei
Ländern, die Probleme haben, hinweisen müssen.
Ich mache kurz einen Schwenk nach Ostafrika. In
Ostafrika, genauer gesagt in Äthiopien, hatten wir 2011
eine Inflationsrate von 40 Prozent. Wenn Sie nur ein
bisschen ein Volkswirtschaftler sind, dann können Sie
sich ausrechnen, was man für Importe zu zahlen hat.
Dieses Land hat binnen kürzester Zeit viel erreicht.
Heute beträgt zum Beispiel in Äthiopien die Inflationsrate 7 Prozent.
Ich möchte Ihnen in Anbetracht dieser ganzen
Krisenszenarien absichtlich eine positive Entwicklung
kommunizieren, um klarzustellen und Ihnen klarzumachen, wie wichtig die wirtschaftliche Entwicklung dieser
Länder ist. Wenn wir hier versuchen, Diskussionen lange
hinauszuzögern, dann denke ich nicht, dass dies im
Sinne der Afrikaner ist. Ich weiß nicht, welchen
Eindruck die malischen Kollegen gewonnen hätten,
wenn sie diese Diskussion über das Verfassungsgericht
etc. verfolgt hätten. Wir führen hier Grabenkämpfe, der
Kontinent steht unter einem demografischen Druck. Bis
zum Jahr 2050 werden wir eine Verdoppelung der Bevölkerungszahl haben. Dann sind wir bei über 2 Milliarden, und 50 Prozent der Menschen werden Jugendliche
unter 18 Jahren sein.
Afrika: Was das Investitionsklima und die Investitionen anbelangt, so hat sich die Situation stark verbessert.
Unter den weltweit zehn Ländern, die - was das Investitionsklima anbelangt - signifikante Verbesserungen erreicht haben, sind sieben afrikanische Länder. Ich denke,
dass es Zeit ist, aus diesem Hause heraus nicht nur Meldungen darüber hinauszusenden, was es an Afrika und
an dem Dialog mit Afrika - sei es wirtschaftlich oder
kulturell - auszusetzen gibt. Vielmehr müssen wir an die
Wirtschaft das Signal senden, dass wir in Afrika aktiv
sein können, dass wir erwartet werden und dass wir auch
aktiv sein müssen.
Wie gesagt, der afrikanische Kontinent steht unter
massivem ökonomischen Druck. Wer glaubt, dass es nur
darum geht, dass jeder Afrikaner jeden Tag eine Schale
Reis essen will, und dass die Jugend Afrikas sagt: „Wir
sind damit zufrieden, dass ihr in Europa super lebt, dass
bei euch alles hipp und cool ist, dass ihr tolle Autos und
gut gekleidete Mädchen habt“, der irrt. Der Mensch
funktioniert überall auf der Welt gleich. Wir alle kennen
den Spruch: Der Mensch lebt nicht vom Brot allein. Das sagen auch die afrikanischen Jugendlichen.
Lagos wird 2050 40 Millionen Einwohner haben. Ich
habe auch einmal Daressalam, die größte Stadt Tansanias, besucht. Ich kenne zwar die aktuelle Zahl nicht,
aber auch dort wird sich die Bevölkerungszahl sicherlich
verdoppeln. Es gibt zudem den Klimawandel. Wir reden
über Handelshemmnisse, einseitigen Handel und die
Übervorteilung afrikanischer Länder sowie den Abbau
von Importzöllen. Ich nenne Ihnen ein Beispiel. Wir haben endlose Debatten über Hühnerschenkel und Milchpulver geführt. Zur Klimaposition ist Folgendes zu sagen: Die Menschen in Afrika besitzen keine neuen
Autos. Wenn Sie Addis Abeba in Äthiopien oder Accra
in Ghana besuchen, dann stellen Sie fest, dass Sie eine
Atemmaske brauchen, weil die alten Autos keine Katalysatoren haben. Gleichzeitig wollen wir die Afrikaner
encouragieren, die Klimaziele zu erfüllen. Wie passt das
zusammen? Wenn die Importzölle wie geplant abgebaut
werden, dann können sich die Afrikaner neue Autos leisten. Dann kann man in den genannten Städten wieder
frei atmen.
({0})
Sie können natürlich beispielhaft auf die Hühnerschlegel und das Problem verweisen, dass es keine funktionierende Energieversorgung in Afrika gibt. Dazu kann
ich nur sagen: Die normale Bevölkerung kauft keine eingefrorenen Hühnerschlegel im Supermarkt. Der Supermarkt ist das Einkaufszentrum für die Reichen, während
der Markt das Einkaufszentrum für die normale Bevölkerung ist. Diese kauft ganze Hühner und schlachtet sie
daheim und nimmt keine Hühnerschlegel mit, die aus
China oder der Europäischen Union kommen.
Südafrika ist ein Produzent von Steinkohle. Wir haben ein Exportverbot in Bezug auf Steinkohlekraftwerke, weil wir der Meinung sind, dass solche KraftCharles M. Huber
werke dem Klima schaden. Das ist zwar richtig, aber die
Südafrikaner werden dann solche Kraftwerke aus China
importieren. Diese sind zwar billiger, werden aber wahrscheinlich unseren Umweltstandards erst recht nicht gerecht. Des Weiteren gebe ich zu bedenken: Wie können
wir den Südafrikanern, die unter einem eklatanten Energiemangel leiden, die Energiegewinnung durch solche
Kraftwerke verbieten, wenn wir weiterhin solche Kraftwerke betreiben?
Das Ansehen einer Kultur, das Ansehen von Menschen anderer Hautfarbe hängt stark mit der Performance der Länder auf ökonomischer Ebene zusammen.
Wir haben erlebt, dass das Selbstbewusstsein junger
Menschen in unserem Land, die aus dem asiatischen
Raum, aus Indien oder der Türkei kommen, dadurch gestiegen ist, dass sich ihre Ursprungsländer wirtschaftlich
entwickelt haben. Das gilt natürlich auch für die afrikanischstämmige deutsche Bevölkerung. Ich möchte Sie
bitten, weder den Wirtschaftsdialog noch die Entwicklung und die Stärkung des Selbstbewusstseins der Menschen in Afrika und in der afrikanischen Diaspora zu
blockieren. Entlassen Sie Afrika als Patienten aus dem
Krankenhaus!
Denken Sie bitte an Ihre Redezeit.
Ich komme zum Ende. - Bislang ist Afrika ein Patient, der zwischen Intensivstation und Freigang im Garten in Begleitung eines Arztes zu sehen ist. Afrika will
sich wirtschaftlich emanzipieren. Ich denke, wir müssen
eine Debatte über wirtschaftliche Kooperation nicht
komplizieren.
Vielen Dank.
({0})
Nächste Rednerin zum Thema „Wirtschaftspartnerschaftsabkommen mit der Westafrikanischen Wirtschaftsunion dem Bundestag zur Abstimmung vorlegen“
ist Heike Hänsel für die Linke.
({0})
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Ich musste mich jetzt gerade doch dagegen wehren, dass ich nicht ganz von Ihnen, Herr Huber,
ins Koma geredet werde. Ich muss sagen: Bei dieser
Plauderrede muss man Ihnen einmal die Frage stellen,
ob Sie den Ernst der Lage eigentlich erkannt haben und
sich als Parlamentarier selbst ernst nehmen; denn wir
sprechen hier von nichts weniger als von unseren Beteiligungsrechten in Fragen und Angelegenheiten der Europäischen Union. Wir kämpfen natürlich dafür, dass die
Bundesregierung nicht eigenmächtig anfängt, wie sie es
in vielen Bereichen getan hat, was zum Beispiel den Zugang zu Dokumenten betrifft, unsere Beteiligungsrechte
zu beschneiden.
({0})
Deswegen sind wir heute hier. Die Handelsabkommen sind ganz klar als gemischte Abkommen zu sehen,
werden jetzt aber umgedeutet, um die Ratifikation im
Parlament zu umgehen. Damit werden auch die politischen Debatten hierzu umgangen, die aber bitter nötig
sind bei den Themen, die wir hier auf der Tagesordnung
haben. Genau deswegen haben wir die Initiative der
Grünen unterstützt und einen gemeinsamen Antrag hier
eingebracht. Wir sind auf einem guten Weg, wie ich
sehe.
({1})
Ich möchte aber etwas zu dem Inhalt und dazu sagen,
woran wir das festmachen. Es geht um die Ratifikation
der Wirtschaftspartnerschaftsabkommen mit Westafrika, der sogenannten EPAs. Diese könnten das TTIP
für Afrika werden. Deswegen ist ihre Bedeutung auch so
enorm.
Es geht jetzt um den Abbau von Schutzzöllen, die
sehr wichtig für den Aufbau eigener Industrien in den
afrikanischen Ländern wären, aber auch von Exportzöllen für Rohstoffe. Die EU hat ein großes Interesse daran,
weiterhin billig und noch ungehinderter an diese Rohstoffe zu kommen, die Ausbeutung voranzutreiben und
auch die Abhängigkeiten dadurch zu vertiefen. Wir sprechen im Grunde von einer neokolonialen Politik, die
jetzt über diese Handelsabkommen festgeschrieben werden soll. Das lehnen wir ab. Darüber wollen wir diskutieren, und das wollen wir im Parlament dokumentieren.
({2})
Im Rahmen dessen haben wir im Moment auch die
afrikanischen Länder im Fokus, weil nämlich sehr viele
Flüchtlinge aus den afrikanischen Ländern kommen und
teilweise elendig im Mittelmeer ertrinken.
({3})
Ich höre immer von der Bundesregierung, auch von
Entwicklungsminister Müller - er ist heute nicht da -,
gebetsmühlenartig: Wir wollen die Fluchtursachen bekämpfen. - Was sind denn die Fluchtursachen in den
afrikanischen Ländern? Die Fluchtursachen sind, dass
sie die eigenständige, selbstbestimmte Entwicklung
nicht gegen die Interessen zum Beispiel der EU und
nicht gegen die Handelspolitik der EU durchsetzen können. Ich halte es für verlogen, wenn Entwicklungsminister Müller weiterhin von der Bekämpfung von Fluchtursachen spricht, aber nicht Stellung bezieht und sich
eindeutig gegen diese Wirtschaftspartnerschaftsabkommen positioniert.
({4})
Für uns ist es deswegen sehr wichtig, dass wir diese
Abkommen hier vorgelegt bekommen. Da wundert es
mich doch schon, dass man hier so lapidar darüber hinweggeht. Der wissenschaftliche Dienst des britischen
Parlaments hat ganz klar festgestellt, dass es sich um ge10516
mischte Abkommen handelt. Nicht nur Bundestagspräsident Lammert, sondern auch viele andere haben gesagt:
Wir müssen darüber hier im Parlament abstimmen. Da
kann ich von Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen von
der SPD und der CDU, eigentlich nichts anderes erwarten, als dass wir hier überparteilich an einem Strang ziehen; denn es geht darum, dass das Parlament die Bundesregierung kontrollieren soll.
({5})
Das sind unsere Aufgaben. Wenn Sie hier nicht zustimmen, dann brauchen Sie eigentlich gar nicht mehr
im Parlament vorbeizuschauen.
({6})
Vielen Dank, Frau Kollegin Hänsel. - Letzter Redner
in dieser Debatte ist Dr. Sascha Raabe für die SPD.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Liebe Frau Hänsel, Ihre Angst kann ich
Ihnen nehmen. Auch Sie wissen, dass wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten uns natürlich immer für
eine starke Parlamentsbeteiligung einsetzen.
({0})
Sie wissen, wie der vorliegende Antrag und die heutige Debatte zustande gekommen sind - wir beide sind ja
im selben Ausschuss -: Ich habe bereits im Oktober letzten Jahres beim Entwicklungsministerium schriftlich angefragt, ob das Wirtschaftspartnerschaftsabkommen mit
der Westafrikanischen Wirtschaftsunion, wenn es von
der EU als gemischtes Abkommen eingestuft wird, dem
Parlament zur Ratifikation vorgelegt wird. Daraufhin hat
mir im Oktober 2014, Herr Staatssekretär Fuchtel, das
Ministerium schriftlich versichert: Wenn es ein gemischtes Abkommen ist, wird es dem Parlament zur Ratifikation vorgelegt.
Ich glaube, wir alle im Entwicklungsausschuss waren
überrascht, als Staatssekretär Silberhorn wenige Wochen
später sagte: Ja, dieses Abkommen ist zwar als gemischt
eingestuft; aber nur die Bundesregierung wird es ratifizieren. - Ich betreibe hier im Bundestag seit 2002 auch
Handelspolitik: Ich wusste gar nicht, dass es diese Möglichkeit gibt. Und deswegen habe ich daraufhin den Wissenschaftlichen Dienst des Deutschen Bundestages gebeten, ein Gutachten zu erstellen, das klärt, ob eine
solche Ratifizierung möglich ist. Der Antrag von Grünen
und Linken bezieht sich auf das Gutachten, das ich in
Auftrag gegeben habe. Insofern können Sie mir abnehmen, dass auch wir von der SPD diese Frage sehr ernst
nehmen.
Dieses Gutachten kommt zu dem Schluss - er entspricht eigentlich auch meiner Überzeugung -, dass Artikel 59 Absatz 2 Grundgesetz recht eindeutig in der
Frage ist, ob Verträge, die politische Beziehungen regeln, der Ratifikation durch ein Bundesgesetz bedürfen.
Ein Bundesgesetz kann natürlich nur der Gesetzgeber,
das Parlament, und nicht die Regierung erlassen.
Auch ich habe in den letzten Wochen und Monaten
gemeinsam mit Kollegen meiner Fraktion Gespräche mit
zwei Verfassungsjuristen geführt, die uns beraten. Sie
sind im Kern zu dem gleichen Ergebnis wie ich gekommen. Handelsverträge können heute nämlich nicht mehr
als rein gemeinschaftliche Politik betrachtet werden.
Aufgrund der politischen Bedeutung muss trotz der
Übertragung auf die EU-Ebene im Parlament beraten
und beschlossen werden.
Ich kann Ihnen, Herr Kekeritz, aber eine gute Nachricht übermitteln. Ich habe viele Gespräche mit unseren
Ministern geführt. Ich habe am Dienstag dieser Woche
von Sigmar Gabriel ein Schreiben bekommen, in dem er
sich persönlich dafür einsetzt, dass der Bundestag auf jeden Fall einen Beschluss darüber fassen soll, der die Regierung bindet, ob sie ratifiziert oder nicht. Ich finde, das
ist schon einmal ein erster wichtiger Schritt, weil wir damit hier im Bundestag eine Debatte verbunden mit einem Votum, das die Regierung bindet, führen würden.
Eine solche Debatte wünschen Sie zu Recht.
Ein Wermutstropfen ist dabei gleichwohl, dass das
Grundgesetz so eine Lösung aus meiner Sicht leider
nicht vorsieht. Dort steht nämlich, dass die Ratifikation
in Form eines Bundesgesetzes erfolgen muss und nicht
durch einen einfachen Beschluss des Bundestages. Ein
solcher Beschluss wäre auch deshalb eine schwächere
Lösung, weil der Bundesrat nur durch die Verabschiedung eines Gesetzes beteiligt wird. Es tut mir leid, wenn
das Ganze jetzt ein bisschen fachjuristisch daherkommt.
Aber wenn wir diesen Antrag ernst nehmen, dann müssen wir diese Feinheiten hier diskutieren.
Richtig ist aber auch, dass die Regierung ihre Auffassung natürlich nicht aus Boshaftigkeit vertritt; vielmehr
gibt es Verfassungsressorts, in denen Beamte mit einer
anderen rechtlichen Auffassung arbeiten. Ich sage wohlgemerkt: eine andere Auffassung, als ich persönlich sie
habe. Ich würde mir wünschen, Herr Staatssekretär
Fuchtel, dass Sie mit dem federführenden Minister, mit
Herrn Müller, noch einmal sprechen, dass wir uns noch
einmal zusammensetzen, bevor dieser Antrag im Ausschuss beraten wird und bevor er im Plenum zum zweiten Mal behandelt wird. Wir sollten auch noch einmal
mit dem Justizministerium reden.
Es geht hier ja nicht um die Frage, ob wir für oder gegen dieses Abkommen sind; diese Frage behandeln wir
später. Ich denke, in dieser Frage kann man je nach Parteizugehörigkeit zu Recht verschiedene Positionen vertreten. Aber wir alle als Parlamentarier müssten ja, ob
wir der CDU, der CSU, der Linken, den Grünen oder der
SPD angehören, ein Interesse daran haben, dass die Parlamentsrechte stark bleiben.
Wir schaffen womöglich ein Präjudiz für die Zukunft;
({1})
denn wir betreten Neuland. Wenn wir als Parlament erstmals zulassen würden, dass die Ratifikation eines gemischten Handelsabkommens nur auf Regierungsebene
erfolgt, kann es passieren, dass bei späteren Abkommen
eine ähnliche Einstufung vorgenommen wird. Das können wir alle nicht wollen.
Ich sage aber auch ganz klar: Die Angst, was CETA
und TTIP betrifft, kann man sicherlich nehmen. CETA
und TTIP - das haben die Regierung und der federführende Minister Sigmar Gabriel ganz klar gesagt - werden ganz sicher dem Bundestag zur Ratifikation vorgelegt.
({2})
Ich bin Sigmar Gabriel auch dankbar - Sie wissen,
dass ich nicht immer einer Meinung mit meinem Wirtschaftsminister bin, auch wenn ich der SPD angehöre -,
dass er in Brüssel als einer der wenigen Minister einer
europäischen Regierung ganz klar sagt: Ich möchte, dass
diese Abkommen in Brüssel als gemischte Abkommen
eingestuft werden. Ich möchte, dass das Parlament darüber debattiert und beschließt. - Da brauchen wir,
glaube ich, keine Angst zu haben. Aber wir dürfen nicht
nur an CETA und TTIP denken, sondern wir müssen
auch an die anderen Abkommen denken. Deswegen ist
es, glaube ich, richtig und wichtig, dass wir im Kern am
Ende parteiübergreifend zu einer Lösung kommen und
die Verfassungsressorts überzeugen, dass die Ratifikation möglichst hier im Bundestag erfolgen soll. Ich
denke, Parlamentsrechte sollen stark bleiben.
({3})
Ich glaube, es ist gut, dass wir uns hier auch generell
über Handelsabkommen beraten. Als Entwicklungspolitiker wissen wir, dass Entwicklung nur durch fairen und
gerechten Handel möglich ist. Deswegen werden wir
hier sicherlich auch noch die Debatte führen, ob das Abkommen mit der Westafrikanischen Wirtschaftsunion in
der jetzigen Form geeignet ist oder nicht und wie man es
gegebenenfalls verbessern kann. Im Prozess ist es im
Augenblick so, dass ja noch nicht einmal alle Vertragspartner unterzeichnet haben. Erst wenn das geschieht,
kommt es ins Europäische Parlament und danach zu uns,
sodass durchaus noch ein bisschen Zeit wäre.
Ich möchte aber an der Stelle noch eine Sache anmerken, Herr Staatssekretär: Es gibt bereits das Abkommen
mit den karibischen Staaten. Das ist seit sechs Jahren
noch nicht ratifiziert, weil man wohl immer gewartet hat,
bis die Abkommen mit den afrikanischen Staaten verhandelt sind. Ich möchte Sie bitten, dass da jetzt keine
Fakten geschaffen werden und keine Ratifikation durch
die Regierung erfolgt, bevor wir die Grundsatzfrage geklärt haben. Ich glaube, dass wir dann auf einem vernünftigen Weg sind, wenn wir das hier ganz sachlich
miteinander bereden.
In diesem Sinne bin ich auch dankbar, dass der Antrag uns die Gelegenheit gibt, darüber zu beraten. Die
SPD wird dann als Gesamtfraktion, nachdem wir das
noch einmal juristisch geprüft und bewertet haben, entscheiden müssen, wie wir zu dem Antrag stehen. Ich
hoffe, dass er dann durch Regierungshandeln erledigt
sein wird und die Ratifikation bei gemischten Abkommen generell hier im Bundestag stattfindet, so wie das
Artikel 59 Absatz 2 Satz 1 Grundgesetz aus meiner Sicht
vorsieht.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
({4})
Vielen Dank, Sascha Raabe. - Damit schließe ich die
Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/5096 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Ich sehe, Sie sind
damit einverstanden. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf:
Beratung des Antrags der Bundesregierung
Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter
deutscher Streitkräfte an der „United Nations
Interim Force in Lebanon“ ({0}) auf
Grundlage der Resolution 1701 ({1}) vom
11. August 2006 und nachfolgender Verlängerungsresolutionen des Sicherheitsrates der
Vereinten Nationen, zuletzt Resolution 2172
({2}) vom 26. August 2014
Drucksache 18/5054
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({3})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss gemäß § 96 der GO
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. - Ich höre und
sehe keinen Widerspruch. Ich meine, da hat ja noch nie
jemand widersprochen, wenn ich danach fragte. Diese
Frage könnten wir eigentlich auch weglassen, oder? Ich höre also keinen Widerspruch. Dann ist das jetzt so
beschlossen.
({4})
Ich eröffne die Aussprache. Niels Annen hat als Erster das Wort für die SPD.
({5})
Einen schönen guten Abend, Frau Präsidentin! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Es ist schon erstaunlich, dass die Situation im Süden des Libanon heute relativ ruhig und stabil ist; denn noch 2006 war dieser Teil
des Landes erbittert umkämpft. Das ist ein Verdienst von
UNIFIL. Als nach dem Krieg zwischen Israel und der
Hisbollah 2006 das UN-Mandat für UNIFIL verabschiedet wurde, konnte allerdings niemand von uns voraussehen, dass es zu einem brutalen Krieg in Syrien kommen
würde, der mittlerweile ins fünfte Jahr geht und der den
Konflikt zwischen der Hisbollah und Israel so ein bisschen in Vergessenheit hat geraten lassen. Heute kämpfen
wesentliche Teile der Hisbollah im syrischen Bürgerkrieg, und die Aufmerksamkeit für diesen Konflikt hat
sich auch geografisch verschoben. Der Libanon leidet
wie kein zweites Land unter den enormen Belastungen
dieses Krieges. Wir haben auch in diesem Hause darüber
diskutiert: 4,2 Millionen Einwohner beherbergen mittlerweile über 1 Million Flüchtlinge aus Syrien. Deshalb unterstützen wir den Libanon seit 2012 mit rund 250 Millionen Euro.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, bekanntlich haben
die libanesischen Behörden die Errichtung von neuen
Flüchtlingslagern offiziell nicht zugelassen. Deswegen
verteilen sich die Flüchtlinge heute auf private Unterkünfte und provisorische Zeltlager und leben dort unter
schwierigen, zum Teil auch skandalösen hygienischen
Bedingungen.
Die Hisbollah wiederum, die der große Protagonist
dieses Krieges war, hat die Vereinbarung von Baabda
aus dem Jahr 2012 gebrochen, die alle libanesischen Akteure auf eine Politik der Nichteinmischung in Syrien
verpflichtete. Diese Politik der Nichteinmischung ist bis
heute die offizielle Politik der libanesischen Regierung.
Mit diesem Bruch der Vereinbarung stellt die Hisbollah
nicht nur das labile, sehr schwierige und komplexe
Gleichgewicht des Landes auf eine harte Bewährungsprobe, sie provoziert darüber hinaus sunnitische Extremisten, den Kampf in den Libanon hineinzutragen. Wer
die Berichte verfolgt, weiß, dass dies keine theoretische
Debatte ist. Vielmehr findet das wirklich statt. Im Libanon sterben fast täglich Menschen, und das Land leidet
unter dieser Belastung.
Die Sicherheitslage insgesamt, nicht nur im Libanon,
verschärft sich. Ich glaube, wir müssen auch in den
nächsten Wochen und Monaten mit entsprechenden Vorfällen rechnen. So finden seit Mitte 2014 Kampfhandlungen in der Grenzregion zwischen Syrien und dem
Libanon statt. Wir beobachten das sorgfältig und ausführlich. Insbesondere im Norden der Bekaa-Ebene hat
sich die Lage zugespitzt. Das terroristische Bedrohungspotenzial ist seitdem deutlich gestiegen. Die Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit bindet einen Großteil
der Kräfte der libanesischen Armee, die dafür weiterhin
die Unterstützung aller politischen Akteure in dem Land
benötigt. Schätzungen gehen davon aus, dass die dschihadistischen Kräfte, von denen ich gesprochen habe, im
Nordosten der Bekaa-Ebene etwa über 3 000 gut ausgerüstete und ausgebildete Kämpfer verfügen.
Gerade vor diesem Hintergrund muss man auch mit
einer gewissen Genugtuung feststellen, dass es die libanesischen Streitkräfte in den letzten Jahren mit Unterstützung aller Parteien im Libanon geschafft haben, ihre
Handlungsfähigkeit und Einsatzfähigkeit deutlich zu
verbessern. Die immer wieder drohende Spaltung entlang konfessioneller Linien konnte bisher, meine sehr
verehrten Damen und Herren, verhindert werden.
Gleichwohl wissen wir - das muss man offen sagen -,
dass das keine neutrale Armee ist. Sie ist nicht frei von
politischen Einflüssen. Immer wieder gibt es auch Probleme bei der Benennung von wichtigen Kommandeuren; entsprechende Auseinandersetzungen werden auf
höchster Regierungsebene im Libanon ausgetragen.
Vor zwei Jahren hat sich Saudi-Arabien bereit erklärt,
zu einer wesentlichen militärischen Stärkung der libanesischen Streitkräfte beizutragen. Im April dieses Jahres
traf die erste große Waffenlieferung ein. Sie hat dazu
beigetragen, dass Sicherheitsoperationen erfolgreich
durchgeführt wurden und die libanesische Armee weiterhin eine stabilisierende Funktion einnehmen kann. Und
auch die Bundeswehr, meine Damen und Herren, leistet
durch Ausbildung einen Beitrag dazu, dass die libanesischen Streitkräfte diese Aufgabe bewältigen können. Der
Einsatz im Rahmen der militärischen Ausbildungshilfe
ist deswegen keine technische, sondern eine hochpolitische Frage. Diese Hilfe findet statt, und sie ist ein wichtiger Teil des hier zu diskutierenden Mandates.
Trotz der Verlagerung der Kampfhandlungen an die
syrisch-libanesische Grenze - ich habe davon gesprochen - bleibt die Stabilisierung der Waffenstillstandsvereinbarung zwischen der Hisbollah und Israel von allergrößter Bedeutung, auch in politischer Hinsicht. Wir
erinnern uns vielleicht ein wenig an die Situation im
Jahre 2006: Ein großer Teil der libanesischen Infrastruktur - nicht nur Infrastruktur der Hisbollah im Süden des
Landes, sondern Infrastruktur im gesamten Land - ist ja
von den israelischen Angriffen zerstört oder in Mitleidenschaft gezogen worden. Deswegen war die Waffenstillstandsvereinbarung für die Menschen im Libanon
insgesamt von großer Bedeutung. Ohne UNIFIL hätten
wir heute eine andere Situation.
({0})
Ohne UNIFIL hätten wir auch nicht das, was wir gemeinhin den Drei-Parteien-Mechanismus nennen, nämlich einen Streitschlichtungsmechanismus, bei dem zwar
die beiden Seiten aus politischen Gründen - die beiden
Staaten erkennen sich ja gegenseitig nicht an, und es gibt
weiterhin einen Kriegszustand - nicht direkt, aber doch
indirekt miteinander reden. Bei der Markierung der vereinbarten Waffenstillstandslinie, der sogenannten Blue
Line - davon konnte ich mich persönlich überzeugen -,
leistet die Bundeswehr, leisten die Soldatinnen und Soldaten hochprofessionelle Arbeit, ebenso wie in der Maritimen Task Force. Und für diese nicht nur komplexe,
sondern auch gefährliche Arbeit gilt den Soldatinnen
und Soldaten unser aller Dank.
({1})
Dennoch, meine sehr verehrten Damen und Herren,
kann sich aus den immer noch anhaltenden Spannungen
jederzeit wieder ein Konflikt, möglicherweise sogar ein
Krieg entwickeln. Wir haben im Januar einen Zwischenfall gehabt, als ein Hisbollah-Konvoi von den israelischen Streitkräften mit einer Rakete angegriffen wurde.
Sechs Kämpfer und ein iranischer Offizier kamen dabei
ums Leben. Zehn Tage später starben zwei israelische
Soldaten nach einem Vergeltungsangriff, der wiederum
mit Artilleriefeuer aus Israel beantwortet wurde. Ein
spanischer UNIFIL-Soldat hat dort sein Leben verloren.
Trotz dieser dramatischen Zuspitzung haben die Konfliktlösungsmechanismen der UNIFIL am Ende funktioniert. Damit sie auch in Zukunft funktionieren, meine
sehr verehrten Damen und Herren, bitte ich um Zustimmung für dieses Mandat. Eines sollte uns doch in dieser
Debatte einen: Einen weiteren Krieg kann sich diese Region nicht leisten.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
({2})
Vielen Dank, Niels Annen. - Nächste Rednerin in der
Debatte: Sevim Dağdelen für die Linke.
({0})
Verehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen
und Kollegen! Die Bundesregierung feiert sich für den
Einsatz der Bundesmarine im Rahmen der UNIFIL-Mission vor der Küste des Libanon.
({0})
Mit 150 Bundeswehrsoldaten und einer verstärkten Ausbildung der Marine des Libanon soll der Waffenschmuggel in den Libanon unterbunden werden.
({1})
- Ja. - In den zehn Jahren wurden dann auch keine Waffen gefunden.
({2})
Aber fragen Sie sich nicht manchmal, ob die Bundeswehr hier nur Teil eines absurden Theaters ist? Denn ihre
Kontrollen kann sie ja nur auf Anforderung der Libanesen unternehmen. Fragen Sie sich nicht manchmal, ob
dies der Grund ist, warum außer ein paar Zigaretten nie
etwas gefunden wurde? - Aber lassen wir solche störenden Gedanken beiseite und nehmen wir einmal an, die
Bundeswehr ist so erfolgreich - wie Sie es ja immer sagen -, dass sich keiner mehr traut, Waffen zu schmuggeln. Im Libanon müssten in der Folge auch immer weniger Waffen in den Händen der Konfliktparteien zu
finden sein. Aber das trifft leider nicht zu; denn während
die Bundeswehr die Vordertür des Libanon bewacht,
steht die Hintertür an der Grenze zu Syrien sperrangelweit offen.
({3})
War Ziel der Mission, den Waffenschmuggel an die
Hisbollah zu unterbinden, so darf sie getrost als gescheitert gelten.
({4})
Die Hisbollah gilt mittlerweile als eine der am besten bewaffneten Kräfte in der Region. Wer hier dann noch von
einem Erfolg des Einsatzes fabuliert, muss sich doch
wirklich fragen lassen, ob er nicht nach dem Motto vorgeht: Dabei sein ist alles, das Ergebnis nichts.
({5})
Und selbiges gilt für die islamistischen Terrormilizen im
Libanon; denn diese sind mittlerweile auch bis an die
Zähne bewaffnet und warten laut eigener Aussage nur
auf grünes Licht aus Saudi-Arabien, um endlich loszuschlagen.
Muss es Ihnen nicht auch zu denken geben, dass,
während die Bundesmarine vor der Küste des Libanon
dümpelt, Ihr eigener NATO-Verbündeter Türkei mit seinem autoritären Staatspräsidenten Erdogan verdeckt
Waffen an islamistische Terroristen liefert, die natürlich
auch in den Libanon gelangen? Wenn Sie den Waffenschmuggel unterbinden wollen: Warum schweigen Sie
dann eigentlich zu den Waffenlieferungen der türkischen
Regierung mithilfe des türkischen Geheimdienstes an
die islamistischen Verbände?
({6})
Ich finde, es ist Zeit, dass Sie in diesem Punkt Ihr
Schweigen brechen und endlich Antworten geben oder
wenigstens begründen, warum dieses Schweigen so
lange dauert.
Statt immer mehr Auslandseinsätze der Bundeswehr
zu fordern, die im Übrigen von der Mehrheit der Bevölkerung abgelehnt werden, müssen wir nach unserer Auffassung zivil helfen. Wir müssen zum einen syrische
Flüchtlinge aus dem Libanon übernehmen. Ein Viertel
der Bevölkerung des Libanon sind mittlerweile Flüchtlinge. Was dagegen die Bundesregierung hier bisher veranstaltet hat, ist eigentlich nur beschämend,
({7})
wenn man sich nur einmal diese Kontraste vor Augen
führt. Der Libanon braucht zudem zivile Hilfe, auch damit nicht noch mehr Menschen mit saudischem Geld für
die Terrorgruppen der al-Qaida vor Ort eingekauft werden können.
Deshalb meine Bitte: Hören Sie endlich auf, die
Bevölkerung hinters Licht zu führen! Wer die Vordertür
bewacht und sich auch noch dafür feiert, während die
Waffen durch die Hintertür hereingetragen werden,
macht sich im besten Falle lächerlich, meine Damen und
Herren. Dieser Auslandseinsatz der Bundeswehr simuliert Handeln, folgt aber geopolitischen Motiven. Denn
das Vorhaben, Waffenschmuggel zu unterbinden, ist
komplett gescheitert. Die Kräfte vor Ort sind stärker
denn je. Deshalb sagen wir: Wir lehnen diesen Einsatz
ab.
({8})
Vielen Dank, Frau Kollegin. - Nächster Redner in der
Debatte für die Bundesregierung: Dr. Ralf Brauksiepe.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Entwicklungen im Nahen und Mittleren Osten erfordern leider unverändert unsere besondere Aufmerksamkeit. Der Kollege Annen hat es, wie ich finde, mit seinem Satz sehr treffend auf den Punkt gebracht: „Einen
weiteren Krieg kann sich diese Region nicht leisten.“ So ist es eben; denn die Konflikte in der Region, der
Vormarsch der Terrororganisation IS und große Flüchtlingsströme bereiten der internationalen Gemeinschaft
- und damit auch uns - weiterhin große Sorgen.
Heute geht es insbesondere um den Libanon und damit um ein Land, das im Schatten des syrischen Bürgerkriegs steht und extrem unter der Last des Flüchtlingsstroms leidet. Bis heute leistet UNIFIL einen besonderen
Beitrag zur Stabilisierung der Region. De facto ist sie ein
ganz entscheidender Stabilitätsfaktor, und das, obwohl
UNIFIL ursprünglich als reine Beobachtungsmission gedacht war. Sie machte im Jahr 2006 den dauerhaften
Waffenstillstand zwischen Israel und dem Libanon erst
möglich, wenngleich die Situation in der Grenzregion
zwischen den beiden Ländern nach wie vor volatil ist.
Im letzten Mandatszeitraum kam es leider - der Kollege Annen hat zu Recht darauf hingewiesen - auch wieder zu gewaltsamen Zwischenfällen an der Grenze mit
Israel. Nur aufgrund der schnellen Klärung des Sachverhalts durch die Vereinten Nationen konnte eine gefährliche Eskalation vermieden werden. Libanon und Israel
- das ist der entscheidende Punkt, Kolleginnen und Kollegen - erkennen eben beide die stabilisierende Rolle
von UNIFIL an und begrüßen die Unterstützung der internationalen Gemeinschaft für diese VN-Mission. Die
schon angesprochenen Drei-Parteien-Gespräche sind
weiterhin das einzige Forum, in dem Israel und der Libanon unter Ägide der Vereinten Nationen miteinander
sprechen. Hier zeigt sich sehr deutlich, welche grundlegende Rolle UNIFIL weiterhin für die Stabilität in der
Region spielt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir reden hier ja
nicht über das Abkommen eines Staates mit Rebellengruppen, sondern wir reden - das ist für uns ganz klar über zwei Völkerrechtssubjekte, Israel und den Libanon,
die vieles trennt, aber als einzige die Überzeugung eint,
dass UNIFIL einen wichtigen Beitrag zur Stabilisierung
der Region leistet. Die Vereinten Nationen stehen dahinter, die Völkerrechtssubjekte Israel und Libanon stehen
dahinter. Wie abseitig muss man eigentlich stehen, liebe
Kolleginnen und Kollegen, um hier daran etwas auszusetzen und das dann auch noch politisch bekämpfen zu
wollen?
({0})
Das ist schon etwas, womit man sich weit außerhalb der
internationalen Gemeinschaft positioniert.
({1})
Ich muss es hier für die ganz große Mehrheit des Hauses nicht extra betonen: Wir feiern uns hier für nichts,
sondern wir sind dankbar dafür, dass wir erfolgreich hier
einen Beitrag leisten können. Wer hier mehrmals die
Frage der sogenannten Hintertür aufwirft, der muss sich
fragen, was er da denn machen will. Wir wollen nicht an
die Hintertür. Wir sind froh, dass wir erfolgreich an einem international mandatierten Einsatz teilnehmen können, der dafür gesorgt hat, dass diese Region nicht mehr
durch Waffenlieferungen über See weiter destabilisiert
werden kann. Wer noch etwas anderes will, soll es sagen.
Wir stehen zu diesem Mandat und zu dem, was wir im
Rahmen dieses Mandats erfolgreich geleistet haben,
liebe Kolleginnen und Kollegen.
({2})
Wir beteiligen uns seit dem Jahr 2006 am Marineeinsatzverband von UNIFIL. Dazu gehört sowohl die
Unterstützung der libanesischen Regierung bei der Überwachung der seeseitigen Grenzen des Landes als auch
der Ausbau der Fähigkeiten der libanesischen Marine.
Dazu gehört auch, dass die deutschen Soldatinnen und
Soldaten diese Herausforderung professionell und souverän meistern. Hierfür, insbesondere auch für die herausragende Arbeit der letzten Jahre, liebe Kolleginnen
und Kollegen, verdienen sie unseren Dank.
Fast täglich finden auf der Korvette „Erfurt“ Ausbildungsvorhaben mit den libanesischen Kräften oder den
internationalen Partnern auf See statt. Es wird gute
Arbeit geleistet, und sie hat politische Erfolge erzielt.
Das liegt im Interesse der Menschen in dieser schwer gebeutelten Region. Das ist es, worum es geht, worum es
uns auch politisch geht.
({3})
Trotz aller Erfolge bleiben weiterhin große Herausforderungen bestehen. Die libanesische Marine alleine
ist eben noch nicht in der Lage, ihre Seegrenzen selbstständig zu überwachen. Neben dem unverändert hohen
Ausbildungsbedarf im Bereich der Instandsetzung fehlen
Schiffe und Boote für die libanesische Marine, und der
technische Zustand der verfügbaren Einheiten bleibt verbesserungswürdig. An diesen Defiziten gilt es, gezielt zu
arbeiten.
Gerade wegen der schwierigen Lage im Nahen Osten
ist die Stabilität des Libanon ein ganz wichtiger BestandParl. Staatssekretär Dr. Ralf Brauksiepe
teil einer nachhaltigen und dauerhaften Friedensentwicklung in der Region. Die Vereinten Nationen wollen diesen Einsatz, und auch die beiden Konfliktparteien, die
Staaten Libanon und Israel, wollen diesen Einsatz. Es
geht jetzt darum, den Libanon, der durch die seit vier
Jahren andauernde Flüchtlingskrise besonders stark belastet ist, zu unterstützen. Das wollen sowohl die libanesische als auch die israelische Regierung.
Gerade durch unseren vielfältigen und erfolgreichen
Einsatz bei UNIFIL werden wir als vertrauenswürdiger
Partner in der Region geachtet und geschätzt. Das ist
auch für die Zukunft wichtig. Deswegen bitte ich Sie namens der Bundesregierung um Ihre Unterstützung für
den vorliegenden Antrag, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Vielen Dank.
({4})
Vielen Dank, Kollege Brauksiepe. - Nächster Redner
in der Debatte: Omid Nouripour für Bündnis 90/Die
Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die
Kollegin Dağdelen hat einige richtige Punkte angesprochen, über die man noch reden muss. Es gibt viel zu
viele Waffen im Libanon, das ist völlig richtig. Es gibt
im Libanon viel zu viel Waffenschmuggel über Land,
auch das ist richtig. Es gibt große Bedenken in Bezug
auf die Position mancher Offizieller oder ganzer Institutionen in der Türkei, wenn es um die Ausrüstung und die
Ausbildung von Dschihadis in Syrien geht. Das hat natürlich eine riesengroße Auswirkung auf den Libanon;
das ist völlig richtig.
Frau Kollegin Dağdelen, Sie haben gerade das Bild
bemüht: Wir bewachen die Vordertür, während durch die
Hintertür die Waffen reinkommen. Ich frage mich: Wie
viele Tausende Soldaten wollen Sie eigentlich vor die
Hintertür stellen, damit sie zugeht? Ich frage mich, ob
Sie die Vordertür jetzt auch noch aufmachen wollen; das
ist nämlich die zentrale Frage.
({0})
- Nein, das ist nicht nur unsere Aufgabe. Auch Sie müssen irgendwann einmal erklären, wie Sie Probleme lösen
wollen. Sie können nicht einfach immer nur erklären,
was nicht geht.
({1})
Bei allem Richtigen, was Sie beschrieben haben, bin
ich, ehrlich gesagt, für jeden Beitrag dankbar, durch den
versucht wird, den Waffenschmuggel in den Libanon ein
Stück weit zu verhindern.
Wir reden jetzt über eine Mission, die sich im neunten
Jahr befindet.
({2})
Man könnte denken, das ist Routine. In diesen Zeiten im
Nahen Osten eine erfolgreiche Friedensmission durchzuführen, die von beiden Konfliktparteien gewünscht und
akzeptiert wird, ist alles, nur nicht Routine. Auch deswegen kann ich nur sagen: Dieser Einsatz ist zurzeit etwas
sehr Besonderes.
Es gibt im Übrigen noch zwei weitere Aspekte, die zu
berücksichtigen sind, wenn man über UNIFIL spricht,
über die Sie aber kein Wort verloren haben, Frau Kollegin.
Das eine ist die Überwachung des Waffenstillstandes
sowie die Deeskalation an der Grenze zwischen Libanon
und Israel. Das ist von beiden Seiten auch so erwünscht.
Ich erinnere nur daran, dass ohne den Einsatz von
UNIFIL gerade im maritimen Bereich der Krieg im
Jahre 2006 nicht beendet worden wäre. Auch das sollte
man zur Kenntnis nehmen.
({3})
Es gibt noch einen zweiten Aspekt, nämlich Ausbildung und Stärkung der libanesischen Armee. Jeder Beitrag zur Stabilisierung des Libanon ist ein wichtiger, gerade in Zeiten, in denen die Hisbollah nicht mehr nur,
wie damals, gegen Israel kämpft. Die Hisbollah hat
heute ein anderes regionales Selbstverständnis und verletzt mit dem Einsatz in Syrien Tag für Tag den Friedensvertrag von Taif, und das alles im Lichte der großen
regionalen Auseinandersetzung zwischen Saudi-Arabien
und Iran, die in gegenseitiger Paranoia sehr viel Benzin
auf das Feuer in der Region gießen. Die beiden genannten Aufgaben dürfen wir nicht vergessen: Die Grenzüberwachung gehörte schon zur klassischen Mission. Es
gab Anfang dieses Jahres bewaffnete Auseinandersetzungen zwischen Israel und der Hisbollah: Sechs Hisbollah-Kämpfer und zwei israelische Soldaten sind gestorben; auch ein spanischer UNIFIL-Soldat verlor bei
einem durchaus gefährlichen Einsatz sein Leben. Das
heißt, wir reden über einen manifesten, weiterhin existierenden Konflikt, den man mit diesem Einsatz eindämmt.
Das darf man einfach nicht vergessen.
Die Bedeutung der zweiten Aufgabe liegt darin, dass
es nur eine einzige staatliche Institution im Libanon gibt,
die überkonfessionell Vertrauen in der Bevölkerung genießt. Das ist die Armee. Jeder Beitrag zur Stärkung der
Armee ist ein Beitrag zur Zurückdrängung der Milizen
der Hisbollah auf der einen Seite und der Milizen, die
Sie vorhin völlig zu Recht kritisiert haben, auf der anderen Seite. Deshalb finde ich, dass es sich durchaus lohnt,
sich zu freuen, dass es vorangeht, wenn auch mit wahnsinnig langsamen Schritten und wenn das auch nur ein
kleiner Beitrag ist.
({4})
Wir müssen natürlich alles dafür tun, dass der syrische Bürgerkrieg nicht übergreift und auch den Libanon
in den Strudel nach unten reißt.
({5})
Dafür müssen wir humanitäre Hilfe leisten. Es ist schon
sehr problematisch, dass bisher erst 20 Prozent der
Mittel, die die Vereinten Nationen als nötig veranschlagt
haben, geflossen sind. Es ist nämlich ein Riesenproblem,
dass mittlerweile für 70 Prozent der Flüchtlinge die Zahl
der Mahlzeiten pro Tag reduziert werden musste. Es ist
auch ein Riesenproblem, dass viele Kinder nicht mehr
zur Schule gehen können, weil den Familien das Geld
ausgeht. Die Wasserversorgung stellt ein immenses Problem für die Kommunen im Libanon dar, die Stromversorgung kollabiert. All das ist katastrophal.
Wir müssen helfen, indem wir Flüchtlinge aufnehmen; auch da haben Sie recht. Wir müssen aber auch dabei helfen, dass das Land politisch auf die Beine kommt
und dass die Institutionen auf die Beine kommen.
UNIFIL ist ein kleiner, aber sehr wichtiger Beitrag dazu.
Mit Militär löst man die Probleme im Libanon nicht primär; aber ohne militärischen Beitrag würde eine wichtige Institution im Land nicht stärker, sondern schwächer. Deshalb wird meine Fraktion der Verlängerung des
Mandates für diesen Einsatz zustimmen.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit und für die
Geduld.
({6})
Vielen Dank, Omid Nouripour. - Die letzte Rednerin
heute - voraussichtlich, in dieser Debatte auf jeden
Fall - ist Frau Obermeier von der CSU/CDU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Micheline Lattouf ist eine katholische Ordensschwester. Sie lebt in der libanesischen Stadt Deir
al-Ahmar, 30 Kilometer von der syrischen Grenze entfernt. In einer Winternacht vor drei Jahren klopften die
ersten muslimischen Flüchtlinge aus Syrien an ihre Tür.
Viele trugen nichts als ihre Kleider am Leib. Sie waren
vor Bombenangriffen aus ihrer syrischen Heimat geflohen. Seither sind 8 000 Flüchtlinge in diese Stadt mit
10 000 Einwohnern gekommen. Sie leben in Zeltstädten
und Behelfsunterkünften. Es gibt keine staatliche Hilfe,
keine UN-Organisationen, keine großen NGOs. Die
Hilfe bleibt weitestgehend der Zivilgesellschaft überlassen. Die Ordensschwester Micheline tut alles, was in
ihrer Macht steht. Sie kümmert sich um das Nötigste
- Decken, Wasser, Nahrung -, und sie organisiert Schulunterricht für die syrischen Kinder.
In vielen Städten des Libanon ist die Situation ähnlich. 1,2 Millionen registrierte Flüchtlinge aus Syrien
leben in diesem Land mit 4 Millionen Einwohnern. Der
Libanon hat die weltweit höchste Flüchtlingsquote. Die
Grenzen der Belastbarkeit sind längst überschritten: Das
Wasser ist knapp, die Nahrungsmittelpreise und die
Mieten steigen. Auch die Konkurrenz um die wenigen
Arbeitsplätze nimmt beständig zu. Wir wollen dem
Libanon in dieser schwierigen Situation beistehen. Das
Land darf nicht in den Sog des syrischen Bürgerkriegs
geraten.
({0})
Wir müssen eine weitere Destabilisierung der Region
verhindern!
Deutschland unterstützt den Libanon auf verschiedenen Ebenen, zum Beispiel mit 250 Millionen Euro Entwicklungsmitteln für humanitäre Hilfe, für die Wasserversorgung, für die Unterstützung der Flüchtlinge und
für die Kommunen, die diese Flüchtlinge aufnehmen.
Ohne Hilfe aus dem Ausland könnte der Libanon die
Flüchtlinge nicht versorgen. Es fehlt am Nötigsten, auch
am Essen. Es ist tatsächlich eine Katastrophe, dass dem
Welternährungsprogramm nun die Mittel für die Versorgung der syrischen Flüchtlinge ausgehen. Hier müssen
die internationale Gemeinschaft und die Europäische
Union mehr tun.
Die Versorgung der Flüchtlinge kann aber nur in einem sicheren Umfeld gewährleistet werden. Hierzu leistet die UNIFIL-Mission einen wichtigen Beitrag. Seit
2006 sichern auch unsere Soldatinnen und Soldaten im
Rahmen der maritimen Komponente des Einsatzes die
Seegrenze Libanons. So wird Waffenschmuggel verhindert. Darüber hinaus bilden die Bundeswehrsoldaten die
libanesische Marine aus, damit sie selbst für die Sicherheit der libanesischen Küste sorgen kann. Hierbei hat die
libanesische Marine bereits erkennbare Fortschritte erreicht. Bis zu 300 deutsche Soldatinnen und Soldaten
leisten somit einen wichtigen Beitrag zu dieser Mission.
Unser Kollege Ingo Gädechens betont immer zu
Recht: Die Marine bestreitet als die kleinste Teilstreitkraft der Bundeswehr einen beträchtlichen Teil der Einsätze, ob im Mittelmeer oder am Horn von Afrika.
({1})
Dabei ist die Arbeitsbelastung der Soldatinnen und Soldaten enorm. Daher gilt an dieser Stelle mein Dank und
der Dank der CDU/CSU-Fraktion allen Angehörigen der
Marine, die diese hohe Einsatzbelastung professionell
schultern.
({2})
Die UNIFIL-Mission ist ein Stabilitätsanker für den
Libanon. Wir stehen den Menschen im Libanon bei, sowohl der libanesischen Bevölkerung als auch den
Flüchtlingen aus Syrien.
Die Ordensschwester Micheline setzt sich mit ihrer
Flüchtlingsarbeit für Menschlichkeit und Frieden ein.
Nur in einem stabilen Libanon können ihre und unsere
Hilfe Wirkung entfalten. Dazu leistet die Verlängerung
des UNIFIL-Mandats einen wichtigen Beitrag.
Vielen Dank.
({3})
Vielen Dank, Frau Kollegin Obermeier. - Ich schließe
die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/5054 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Sie sind damit einverstanden. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Halina
Wawzyniak, Jan Korte, Ulla Jelpke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Rechtliche Klarstellung der Vertraulichkeit
von Äußerungen im Internet
Drucksache 18/2015
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({0})
Ausschuss Digitale Agenda ({1})
Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Kultur und Medien
Federführung strittig
Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden1). -
Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Sie sind also da-
mit einverstanden.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/2015 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Federführung ist
jedoch strittig. Die Fraktionen der CDU/CSU und der
SPD wünschen Federführung beim Ausschuss für Arbeit
und Soziales. Die Fraktion Die Linke wünscht Federfüh-
rung beim Ausschuss Digitale Agenda.
Ich lasse zuerst abstimmen über den Überweisungs-
vorschlag der Fraktion Die Linke: Federführung beim
Ausschuss Digitale Agenda. Wer stimmt für diesen
Überweisungsvorschlag? - Wer stimmt dagegen? - Der
Überweisungsvorschlag ist bei Zustimmung von den
Linken und von Bündnis 90/Die Grünen bei Gegenstim-
men von CDU/CSU und SPD abgelehnt.
Ich lasse nun abstimmen über den Überweisungsvor-
schlag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD: Feder-
führung beim Ausschuss für Arbeit und Soziales. Wer
stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? - Wer
stimmt dagegen? - Der Überweisungsvorschlag ist ange-
1) Anlage 3
nommen. CDU/CSU und SPD haben zugestimmt, Linke
und Grüne waren dagegen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 16 a und 16 b auf:
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für die Angelegenheiten
der Europäischen Union ({2}) zu dem
Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD
Das Europäische Semester stärken, besser
umsetzen und weiterentwickeln
Drucksachen 18/4426, 18/5071
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Energie ({3}) zu dem Antrag der Abgeord-
neten Katharina Dröge, Kerstin Andreae,
Manuel Sarrazin, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Nationales Reformprogramm 2015 - Wirt-
schaftspolitische Steuerung in der EU ernst
nehmen und Investitionen stärken
Drucksachen 18/4464, 18/4717
Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden2). Sie sind damit einverstanden.
Tagesordnungspunkt 16 a. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union zum Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD. Der Ausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/5071, den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU
und der SPD auf Drucksache 18/4426 anzunehmen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt
dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen. CDU/CSU und SPD haben dafür
gestimmt, Enthaltungen gab es bei den Grünen, und dagegen waren die Linken.
Tagesordnungspunkt 16 b. Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Wirtschaft und Energie zum Antrag der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Der Ausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/4717, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen auf Drucksache 18/4464 abzulehnen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt
dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung
ist angenommen. CDU/CSU und SPD haben dafür gestimmt, dagegen waren die Grünen, und die Linke hat
sich enthalten.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses ({4}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Dr. Kirsten
Tackmann, Caren Lay, Dr. Dietmar Bartsch, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Steuerfreie Risikoausgleichsrücklage für
Agrarbetriebe ab 2016
Drucksachen 18/3415, 18/4729
2) Anlage 4
Vizepräsidentin Claudia Roth
Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden1). Wie ich sehe, sind Sie einverstanden.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Finanzausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/4729, den Antrag der Fraktion Die Linke auf
Drucksache 18/3415 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Gibt es
Enthaltungen? - Dann ist die Beschlussempfehlung mit
den Stimmen von CDU/CSU, SPD und Grünen und bei
Gegenstimmen der Linken angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf:
Erste Beratung des von den Fraktionen der
CDU/CSU und SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie
über alternative Streitbeilegung in Verbraucherangelegenheiten und zur Durchführung
der Verordnung über Online-Streitbeilegung
in Verbraucherangelegenheiten
Drucksache 18/5089
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz ({5})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss Digitale Agenda
Haushaltsausschuss gemäß § 96 der GO
Auch diese Reden sollen zu Protokoll gegeben wer-
den2). - Auch damit sind Sie einverstanden.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfes auf Drucksache 18/5089 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu
anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 auf:
Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
CSU und SPD
Zugang und Teilhabe ermöglichen - Die Dekade für Alphabetisierung in Deutschland
umsetzen
Drucksache 18/5090
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({6})
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Kultur und Medien
Ausschuss Digitale Agenda
Haushaltsausschuss
Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden3). -
Ich sehe, Sie sind damit einverstanden.
1) Anlage 5
2) Anlage 6
3) Anlage 7
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/5090 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Einverstanden? Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Ute
Bertram, Yvonne Magwas, Michael Kretschmer,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU sowie der Abgeordneten Burkhard
Blienert, Marco Bülow, Martin Dörmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Zukunftsweisende Kulturpolitik im demografischen Wandel - Stärkung der Kultur im
ländlichen Raum
Drucksache 18/5091
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien ({7})
Innenausschuss
Sportausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden4). Ich sehe, Sie sind damit einverstanden.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/5091 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Ja. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Transparenzrichtlinie-Änderungsrichtlinie
Drucksache 18/5010
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({8})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden5). -
Ich sehe, auch damit sind Sie einverstanden.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwur-
fes auf Drucksache 18/5010 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu
anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.
4) Anlage 8
5) Anlage 9
Vizepräsidentin Claudia Roth
Wir sind am Schluss der heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 12. Juni 2015, 9 Uhr,
ein.
Die Sitzung ist geschlossen. Den Rheinland-Pfälzern
und ihren Freundinnen und Freunden wünsche ich noch
einen schönen Ausgang des Abends.