Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 6/11/2015

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz. Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich begrüße Sie alle herzlich. Besonders gerne hätte ich jetzt den Kollegen Ströbele begrüßt, um ihm zu seinem 76. Geburtstag nachträglich zu gratulieren. Ich schlage vor, wir holen das nach, falls und sobald er persönlich auftritt. Dann müssen wir noch eine Wahl eines Vertreters der Bundesrepublik Deutschland zur Parlamentarischen Versammlung des Europarates durchführen. Hierzu schlägt die Fraktion Die Linke vor, den Kollegen Harald Petzold als Nachfolger für die Kollegin Martina Renner als persönliches stellvertretendes Mitglied des Kollegen Andrej Hunko zu berufen. Können Sie dem zustimmen? - Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist der Kollege Petzold als persönliches stellvertretendes Mitglied gewählt. Darüber hinaus haben wir noch ein Mitglied und ein stellvertretendes Mitglied des Beirats für Fragen des Zugangs zur Eisenbahninfrastruktur, also des Eisenbahninfrastrukturbeirats, zu wählen. Hier schlägt die CDU/CSU-Fraktion vor, für den Kollegen Eckhardt Rehberg den Kollegen Hans-Werner Kammer als ordentliches Mitglied und den Kollegen Matthias Lietz als persönliches stellvertretendes Mitglied des Kollegen Kammer zu berufen. - Ich stelle auch hierzu keinen Widerspruch fest. Also ist der Kollege Kammer als ordentliches und der Kollege Lietz als persönliches stellvertretendes Mitglied des Eisenbahninfrastrukturbeirats gewählt. Es gibt eine interfraktionelle Vereinbarung, die Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern: ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen der CDU/CSU und SPD: Aktueller VN-Bericht - Menschenrechtsverletzungen in Eritrea stoppen ({0}) ZP 2 Überweisungen im vereinfachten Verfahren a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Steffi Lemke, Nicole Maisch, Harald Ebner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Wilderei und illegalen Artenhandel stoppen Drucksache 18/5046 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit ({1}) Innenausschuss Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Beate Walter-Rosenheimer, Dr. Franziska Brantner, Katja Dörner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Kinder- und Jugendhilfe - Beteiligungsrechte stärken, Beschwerden erleichtern und Ombudschaften einführen Drucksache 18/5103 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ZP 3 Weitere abschließende Beratung ohne Aussprache ({2}) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Konstantin von Notz, Luise Amtsberg, Volker Beck ({3}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zu dem Vorschlag einer EU-Datenschutzverordnung KOM({4}) 11 hier: Stellungnahme gegenüber der Bundesregierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 des Grundgesetzes Hohes Schutzniveau im Rat und im Trilog sicherstellen Drucksache 18/5102 Präsident Dr. Norbert Lammert ZP 4 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion DIE LINKE: Ehe für alle Dabei soll von der Frist für den Beginn der Beratungen, soweit erforderlich, abgewichen werden. Der Tagesordnungspunkt 21 - hier geht es um die abschließende Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung der internationalen Rechtshilfe bei der Vollstreckung von freiheitsentziehenden Maßnahmen - und der Tagesordnungspunkt 29 - Antrag zur Entwicklungsfinanzierung vor dem Hintergrund universeller Nachhaltigkeitsziele - werden heute abgesetzt. Schließlich mache ich noch auf eine nachträgliche Ausschussüberweisung im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam: Der am 22. Mai 2015 ({5}) überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Ausschuss Digitale Agenda ({6}) zur Mitberatung überwiesen werden: Erste Beratung des von den Abgeordneten Renate Künast, Dr. Konstantin von Notz, Nicole Maisch, weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Bundesdatenschutzgesetzes - Verbesserung der Transparenz und der Bedingungen beim Scoring ({7}) Drucksache 18/4864 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({8}) Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Ausschuss Digitale Agenda Ich frage Sie, ob Sie mit diesen zwischen den Fraktio- nen vereinbarten Veränderungen einverstanden sind. - Das ist offensichtlich der Fall und damit so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 3 a und 3 b auf: a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Entlastung insbesondere der mittelständischen Wirtschaft von Bürokratie ({9}) Drucksache 18/4948 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Energie ({10}) Innenausschuss Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Finanzausschuss Ausschuss Digitale Agenda b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Thomas Gambke, Kerstin Andreae, Dieter Janecek, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Bürokratie gezielt abbauen statt Stillstand manifestieren Drucksache 18/4693 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Energie ({11}) Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Finanzausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 96 Minuten vorgesehen. ({12}) - Den Zwischenruf „Wir haben alles versucht“, um das etwas zu straffen, nehme ich mit besonderem Respekt zur Kenntnis und komme heute Nachmittag auf den Vorschlag zurück. - Dann ist das jedenfalls so vereinbart. Ich eröffne die Aussprache und erteile zunächst der Parlamentarischen Staatssekretärin Iris Gleicke das Wort. ({13})

Iris Gleicke (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000687

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Wirtschaftspolitik der Bundesregierung zielt ab auf mehr Wachstum, mehr Beschäftigung sowie mehr Innovationen. Das geht nur mit mehr öffentlichen und mit mehr privaten Investitionen in Deutschland. Wir stellen deshalb in großem Umfang zusätzliche Mittel für Infrastruktur, Bildung und Forschung zur Verfügung. Vor allem der Städtebau und die Bereiche Digitales und Energie profitieren davon. Ein ganz wichtiger Beitrag zu mehr öffentlichen Investitionen ist auch der neu geschaffene Fonds für kommunale Investitionen in Höhe von 3,5 Milliarden Euro. Zusammengerechnet kommen wir in dieser Legislaturperiode auf ein Paket für kommunale Investitionen von über 15 Milliarden Euro. Zudem schafft die Bundesregierung die notwendigen Rahmenbedingungen, die es unseren privaten Unternehmen ermöglichen, mehr zu investieren und neue Wachstumsfelder zu erschließen. Der Abbau von unnötiger Bürokratie ist hier ein wichtiger Punkt. Deshalb bringen wir auf Initiative unseres Bundeswirtschaftsministers Sigmar Gabriel hin die größte Entlastung der Wirtschaft von unnötigen Bürokratiekosten in der Geschichte der Bundesrepublik auf den Weg, und das ist erst der Auftakt. ({0}) Wir sprechen hier über 744 Millionen Euro pro Jahr, die unsere Unternehmen nun in Forschung und Entwicklung stecken können, in die Digitalisierung ihrer Prozesse, in die Internationalisierung ihres Geschäftsmodells und in die Qualifizierung ihrer Beschäftigten. Es geht hier nicht um Kleinigkeiten, sondern um reale Kostensenkungen, die insbesondere für Gründer und junge Unternehmen wie ein Konjunkturprogramm wirken können, das aber nicht viel kostet. Wir entlasten die Wirtschaft, ohne unseren ausgeglichenen Haushalt zu gefährden. ({1}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, über Bürokratieabbau wird immer viel geredet, in der Sache konkret getan wird jedoch meist nur wenig, vor allem dann nicht, wenn es an das Eingemachte geht und wenn man möglicherweise selbst betroffen ist. Klar ist, dass wir zwischen notwendiger und nicht notwendiger Bürokratie unterscheiden müssen. Jeder funktionierende Rechtsstaat ist auf eine gut funktionierende Verwaltung angewiesen, die dem Allgemeinwohl dienende Gesetze umsetzt, also auf eine effiziente Bürokratie. Unvermeidlich sind Vorschriften, wenn sie dazu dienen, demokratisch festgelegten Allgemeinwohlbelangen Geltung zu verschaffen und damit Mensch und Natur zu schützen. Der Mindestlohn und auch das notwendige Korrelat, die Kontrolle seiner Einhaltung, sind hierfür ein gutes Beispiel; denn der Rechtsstaat, der Gesetze erlässt, auf deren Einhaltung er nicht pocht, verlöre seine Legitimation. ({2}) Wer hier über mehr Bürokratie klagt, dem sage ich: Arbeitnehmerrechte sind weder Wachstumshemmnisse noch überflüssige Bürokratie, ({3}) und Lohnpflichten stellen keinen Erfüllungsaufwand dar. Unnötig jedoch sind übertriebene Buchführungs-, Aufzeichnungs- und Meldepflichten, zu niedrige Schwellenwerte oder ein nicht zu rechtfertigender Erfüllungsaufwand. Die Auflagen müssen insbesondere für kleine Unternehmen verhältnismäßig sein. Unverhältnismäßige Vorschriften sind wir mit dem Bürokratieentlastungsgesetz angegangen. Bei unserem Bürokratieentlastungsgesetz haben wir vor allem unsere mittelständische Wirtschaft, Existenzgründer und wachsende Unternehmen im Blick. Es ist ein wichtiger Beitrag für die neue Gründerzeit, die wir als Ziel im Koalitionsvertrag vereinbart haben. Die klassische Gründerzeit war die Industrialisierung Europas. Damals entstanden viele Unternehmen wie Siemens, Borsig, Daimler, Thyssen und Krupp. Das liegt lange zurück. Um unsere großen Herausforderungen zu meistern, insbesondere den digitalen Wandel, brauchen wir aber auch heute wieder neue Impulse. Sie kommen häufig von jungen, dynamischen Unternehmen, die ihr Geld und ihre Ressourcen dafür brauchen, ihre Ideen in Geschäftsmodelle umzusetzen. Größere finanzielle Spielräume und insbesondere eine verbesserte Wagniskapitalfinanzierung sind deshalb so wichtig. Unser Ziel ist es, erstens mehr Wachstumsunternehmen an die Börse zu bringen. Dafür wird heute Nachmittag der Startschuss für die neue vorbörsliche Plattform Deutsche Börse Venture Network gegeben werden. Zweitens werden wir die öffentlichen Mittel für die Wagniskapitalfinanzierung deutlicher erhöhen. Dazu legen wir einen Wachstumsfonds mit einem Volumen von 500 Millionen Euro auf. Die KfW steigt nach langer Pause wieder mit 400 Millionen Euro in die Venture-Capital-Finanzierung ein. ({4}) Drittens wollen wir die steuerlichen Rahmenbedingungen für Wagniskapital verbessern. Ein zentrales Thema sind dabei die Verlustvorträge bei Anteilseignerwechsel. Der Finanzminister und der Wirtschaftsminister haben vereinbart, hier für Verbesserungen zu sorgen. Viertens werden wir mit unserem Bürokratieentlastungsgesetz Existenzgründern und jungen Unternehmen mehr Raum für die wichtigen Dinge geben. Sie sollen sich auf ihre Geschäftstätigkeit konzentrieren und nicht auf Formulare. ({5}) Zu den wesentlichen Inhalten des Gesetzentwurfs gehört deswegen, dass künftig mehr kleine Unternehmen als bisher von Bilanzierungspflichten befreit werden. Sie sollen länger einfachere Aufzeichnungspflichten nutzen dürfen. Dazu werden die einschlägigen Grenzbeträge für Umsatz und Gewinn um jeweils 20 Prozent auf 600 000 bzw. 60 000 Euro steigen. Vor allem auch Existenzgründer werden spürbar entlastet. Dazu werden die Schwellenwerte in verschiedenen Wirtschaftsstatistikgesetzen und in der Intrahandelsstatistik angehoben. Es werden erstmals Meldeschwellen in der Umweltstatistik eingeführt. Ein kraftvolles Signal für weniger Bürokratie ist auch die sogenannte „One in, one out“-Regelung. Sie ist ein Kernstück unserer verschiedenen Initiativen. Sie gilt bereits ab dem 1. Juli 2015. „One in, one out“ besagt: Wo zusätzlicher Erfüllungsaufwand durch neue Gesetze und Verordnungen entsteht, muss an einer anderen Stelle eine Belastung wegfallen. Das gab es noch nie in Deutschland. „One in, one out“ heißt aber nicht, dass die Politik aufhört, zu gestalten. Wir werden die Vorhaben des Koalitionsvertrages umsetzen. „One in, one out“ heißt jedoch, dass die Ministerien verpflichtet sind, nicht immer nur auf die neue Regelung zu schauen. Sie müssen das Gesamtsystem im Blick haben und überlegen, wo Bürokratie entfallen kann. In diesem Zusammenhang stärken wir den Normenkontrollrat, dem ich bei dieser Gelegenheit für seine exzellente Arbeit danken möchte. ({6}) Ich weiß, dass Herr Ludewig sowie seine Mitstreiterinnen und Mitstreiter nicht immer einfache Zeitgenossen für uns sind. Sie sind jedoch unerlässlich für die Selbstvergewisserung von Politik. Auch die anderen Eckpunkte werden wir rasch umsetzen. So werden wir beispielsweise die Umsetzung der neuen europäischen Vergaberichtlinien in das neue Recht nutzen, um öffentliche Beschaffungen einfacher und anwenderfreundlicher zu gestalten. ({7}) Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, dieses Gesetz verschafft insbesondere den Gründerinnen und Gründern und jungen Unternehmen in unserem Land mehr Luft zum Atmen. Weitere Erleichterungen, beispielsweise im Steuerrecht, könnten dazu einen zusätzli10378 chen Beitrag leisten. Das werden wir jedenfalls im Blick behalten. Bürokratieabbau muss aber auch und vor allem auf europäischer Ebene stattfinden. Hier setzt sich Sigmar Gabriel zusammen mit seinen Ministerkollegen für eine starke europäische Agenda für eine bessere Rechtsetzung ein. Die EU-Kommission hat zentrale Elemente in ihre Mitteilung zur besseren Rechtsetzung aufgenommen. Beim Bürokratieabbau genau wie bei allen anderen Maßnahmen, mit denen wir wichtige Zukunftsinvestitionen in unserem Land ermöglichen, dürfen wir nicht lockerlassen. In einer Zeit, in der sich die Wirtschaft gut entwickelt, die Beschäftigung Rekordwerte erreicht und die Löhne steigen, geben wir den Unternehmen mehr Spielraum. In diesem Sinne werbe ich auch bei diesem Vorhaben um Ihre Unterstützung. Wir handeln hier vor allem im Interesse unserer mittelständischen Wirtschaft und ihrer Beschäftigten. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({8})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort erhält nun der Kollege Michael Schlecht für die Fraktion Die Linke. ({0})

Michael Schlecht (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004144, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Damen und Herren! Bürokratie ist bei vielen ein nicht besonders beliebtes Wort. Das ist verständlich; man hat schon manche unangenehme Erfahrung gesammelt. Bürokratieabbau hört sich da schon besser an. Deshalb behandelt anscheinend die Große Koalition dieses Thema auch hier in der Kernzeit im Parlament und beglückt das Parlament mit 96 Minuten Beratungszeit. Offensichtlich fehlen ihr andere wichtige populäre Themen zur Gestaltung unserer Gesellschaft, die sie eigentlich hier einbringen und stattdessen behandeln könnte. ({0}) Bemerkenswert an dem ganzen Vorgang ist, dass das wichtigste Vorhaben der Bundesregierung zum Bürokratieabbau gar nicht im Gesetz steht; vielmehr hat das Kabinett es bereits in seine interne Geschäftsordnung, in einer Art von Selbstverpflichtung, aufgenommen. Es geht um die sogenannte „One in, one out“-Regelung, nach der bei einer zusätzlichen bürokratischen Belastung durch ein neues Gesetz eine zwingende Entlastung für Unternehmen vorzusehen ist. Ich werde noch darlegen, wo da die Problematik ist. Es ist aber, finde ich, sehr befremdlich, dass unter Umgehung des Parlaments eine relativ weitreichende Norm für Gesetzesinitiativen geschaffen wird. Das einzig Positive an dieser sogenannten untergesetzlichen Regelung ist, dass jede andere Regierung diesen Unfug per Kabinettsbeschluss gleich wieder abschaffen könnte. Zumindest das ist positiv daran. Mit der „One in, one out“-Regelung entscheidet nicht mehr Sach- und Fachpolitik über Sinnhaftigkeit von gesetzlichen Regelungen, sondern das Gebot, dass die Kostenbelastung der Unternehmen nicht durch Regelungstatbestände - auch wenn sie sinnvoll sind - erhöht werden darf. Witzig oder bemerkenswert ist auch, dass für die Kontrolle dieser Regel extra Bürokratie geschaffen wird. Ein Staatssekretärsausschuss soll über den Bürokratieabbau wachen. Er soll zukünftig den ressorteigenen Bürokratieauf- und -abbau und den anderer Ressorts - da ist ein relativ kompliziertes Verfahren vorgesehen kontrollieren. Es ist wirklich schon kabarettreif, dass unter dem Titel „Abbau von Bürokratie“ erst einmal staatliche Bürokratie aufgebaut wird. Das muss man sich schon einmal auf der Zunge zergehen lassen. ({1}) Besonders interessant ist, welche Auswirkungen von dieser sogenannten Bürokratiebremse auf künftige Gesetzgebungsvorhaben nun ausgehen werden. Ist etwa eine Erweiterung der Mitbestimmung für Betriebsräte nicht mehr möglich, weil sie die Kosten für Unternehmen erhöht? Sind weitere Maßnahmen der Teilhabe von Menschen mit Behinderung überhaupt irgendwie auszugleichen? Man merkt, da entwickeln sich schon sehr perfide Fragestellungen, die mit diesem Prinzip verbunden sind. Man muss davon ausgehen, dass damit etwa die Einführung des Equal-Pay-Grundsatzes für die Leiharbeit, das Entgeltgleichheitsgesetz oder die Revision der Arbeitsstättenverordnung - das sind ja alles Dinge, die nach meinem Kenntnisstand die Große Koalition irgendwie noch auf ihrer Agenda hat - für die restliche Legislaturperiode wohl komplett beerdigt sind. Denn sinnvoll konstruierte derartige Regelungen würden natürlich immer zu ein bisschen mehr Bürokratieaufwand für die Unternehmen führen. Da es aber kaum Möglichkeiten gibt, sie zu kompensieren, also dafür zu sorgen, dass woanders Bürokratie nach der „One in, one out“-Regelung abgebaut wird, muss man davon ausgehen, dass jegliche Reformpolitik in der Arbeitswelt durch die Regierung faktisch aufgekündigt worden ist. Ich finde, es ist schon ein Skandal, dass man mitten in der Legislaturperiode im Grunde das Ende der Regierungstätigkeit erklärt. ({2}) Man muss sich schon auf der Zunge zergehen lassen, was man in einem trojanischen Pferd, das hier Bürokratieabbau heißt, so alles verpacken kann. Das muss man erst einmal zustande bringen. Man war sehr kreativ. Zumindest dieses Lob muss ich an dieser Stelle aussprechen. ({3}) Hätte es diese Regelung bereits vor der Einführung des Mindestlohns gegeben, wäre sie - das muss man sich ja fragen - vielleicht sogar gescheitert; es wurde nämlich behauptet - ich will das gar nicht bestätigen -, dass der durch die Einführung des Mindestlohns verursachte Erfüllungsaufwand bei immerhin 9,6 Milliarden Euro liegt. Ich bezweifle, dass das so ist; aber so hat es die Regierung nun einmal verkündet. Stünden wir heute vor der gleichen Aufgabe, müsste die Bundesregierung nach ihrer eigenen Selbstverpflichtung Bürokratie in dieser Größenordnung abbauen, um den Mindestlohn einführen zu können. Ich behaupte einmal, wir können froh sein, dass der Mindestlohn so, wie er ist - wir hätten uns einiges mehr gewünscht -, durchgesetzt worden ist, bevor diese Regelung geschaffen worden ist. Wie gesagt, ich befürchte für die verbleibende Legislaturperiode Schlimmes. Ich finde, es droht unserem Land und auch uns hier eine ziemliche Zumutung. Dem, wie da verfahren wird, kann man in der Tat nicht zustimmen. ({4}) Eigentlich ist die Idee, Bürokratie abzubauen, nicht verkehrt; man muss es nur richtig machen. Ich verrate Ihnen, wie Sie millionenfach Jubelstürme auslösen können: Schaffen Sie zum Beispiel das Bürokratiemonster Hartz IV ab. Das wäre eine wirkliche Reform. ({5}) Ein Freund von mir, der alleinstehend ist, rutschte vor Jahren in Hartz IV ab. Er hat mir damals seinen Antrag auf Hartz IV gezeigt: Das gesamte Formular hatte 16 Seiten, in denen seine persönlichen Tatbestände akribisch erhoben werden sollten. Wer Kinder hat oder eine besondere Ernährung benötigt oder gar noch mit jemandem zusammenlebt, bekommt gleich noch ein paar Seiten Fragebogen dazu. Die durchschnittliche Akte eines Hartz-IV-Haushalts bei der Agentur für Arbeit ist etwa 650 Seiten dick. Was ist das für ein Bürokratieunfug, der dort betrieben wird! ({6}) Heinrich Alt, Vorstandsmitglied der Bundesagentur für Arbeit, kritisiert das auch. Er geht auf aus seiner Sicht vermutlich sehr lebensnahe Dinge ein. Ich zitiere: Es kann nicht unsere Aufgabe sein, sich mit DINNormen von Schuhen und Einlagen zu beschäftigen und darauf zu achten, dass nicht die falschen Schuhe die richtigen Einlagen haben … Das ist anscheinend die bürokratische Wirklichkeit, mit der sich die Arbeitsagentur zum Teil herumschlagen muss, und das müsste endlich beseitigt werden. ({7}) Noch schlimmer ist die Situation für Aufstockerinnen und Aufstocker. Wer regelmäßig ein Einkommen hat und aufstocken will, muss in jedem Bewilligungszeitraum einen ganzen Wust an Formularen ausfüllen. Alle sechs Monate sind das neben dem Weiterbildungsantrag auch noch Arbeitgeberbogen, zusätzliches Einkommensformular usw. Ist es eigentlich die Schuld von Aufstockerinnen und Aufstockern, dass die Jobcentermitarbeiterinnen und -mitarbeiter angesichts dieses Bürokratiewustes überlastet sind? Mit Sicherheit nicht. Das müsste abgeschafft werden. ({8}) Das hätte vor allen Dingen auch einen ökonomischen Effekt. Frau Staatssekretärin, Sie haben in Ihrer Rede so getan, als nähmen Sie hier eine ganz tolle Entlastung vor. Diese Entlastung beliefe sich nach Ihren Berechnungen gerade einmal auf 700 Millionen Euro. Wenn Sie die Bürokratie bei Hartz IV wirklich beseitigen würden, könnten Sie Bürokratiekosten von effektiv sage und schreibe 5 Milliarden Euro abbauen. Das wäre in der Tat ein Fortschritt. Der eigentliche Bürokratieskandal sind nicht bestimmte Rechnungslegungsfristen oder -vorschriften für einzelne Unternehmer, sondern gerade solcher Unfug wie Hartz IV. Hinzu kommen sämtliche sozialpolitischen Verwerfungen und das, was damit an unsäglicher Bürokratie praktiziert wird. ({9}) Die Bundesregierung will mit diesem Gesetz kleinen und mittleren Unternehmen helfen - es ist immer löblich, wenn man Leuten helfen will, auch kleinen und mittleren Unternehmen -, aber sie kommt über ein paar Verzierungen wirklich nicht hinaus. Ich will das einmal runterbrechen: Hilft man Unternehmen wirklich damit, dass man sie um sage und schreibe 1,3 Stunden pro Monat für eine Meldung über Ausfuhren und Einfuhren entlastet? Hilft man Sparkassen, Volksbanken etc. wirklich damit, dass man sie bei der Kundenbetreuung um eine halbe Minute, also 30 Sekunden, je Kunde entlastet? In solchen Spitzfindigkeiten bewegt sich das Gesetz. Ich finde, das ist wirklich aberwitzig. Hilft man Existenzgründerinnen und -gründern, wenn man sie von Pflichten, über Statistik zu berichten, entlastet, die sich, nominal bewertet, auf gerade mal 190 Euro im Jahr belaufen? Es ist alles lächerlich, was dort an Vorschlägen gemacht wird, und es ist, wie gesagt, eigentlich abenteuerlich, dass damit hier in der Kernzeit das Parlament 96 Minuten beschäftigt werden soll. ({10}) Die größte Entlastung, nämlich ungefähr 500 Millionen Euro, soll das Gesetz schaffen, indem es die ordentliche Buchführung erst ab einem Umsatz von 600 000 Euro und nicht, wie bisher, ab 500 000 Euro vorschreibt. Auch das finde ich ziemlich abstrus. Jeder Unternehmer mit mindestens 500 000 Euro Umsatz macht als ordentlicher Kaufmann eine Rechnungslegung mit Bilanz und Gewinn-und-Verlust-Rechnung, allein schon deshalb, damit er weiß, wo er ökonomisch steht und damit er nicht plötzlich von seinen Zahlen überrascht wird. Wer es nicht freiwillig macht, dem sollte man gesetzlich einen Fingerzeig geben und ihn, zumindest dann, wenn er 500 000 Euro Umsatz hat, dazu anhalten. Das ist schon eine Fürsorgepflicht. Deswegen finde ich es abstrus, diese Grenze zu erhöhen. ({11}) Das Hauptproblem der Inhaber kleiner und mittlerer Unternehmen liegt sowieso nicht in der ausufernden Bürokratie. Fragen Sie doch mal einen Handwerker! Ich höre an erster Stelle immer: Heute ist es so schwierig geworden, gut bezahlte Aufträge zu bekommen, die dann auch schnell bezahlt werden, vor allem bei der öffentlichen Hand. - Da gibt es manchmal ziemlich lange Fris10380 ten, bis bezahlt wird. Sie klagen vor allen Dingen auch, dass sie von der öffentlichen Hand kaum noch Aufträge bekommen. Das ist kein Wunder in Zeiten, in denen in der Kasse vieler Kommunen Ebbe herrscht. In den Schulen lässt man die Toiletten lieber vergammeln, als dass man Geld ausgibt und einen Handwerker, einen Maler, einen Klempner beauftragt, etwas in Ordnung zu bringen. Auch noch so viele gestrichene Vorschriften bringen keine Aufträge für die mittelständischen Unternehmen. Deswegen: Wenn man für mittelständische und kleine Unternehmen wirklich etwas tun will, dann muss man dafür sorgen - das ist das Entscheidende -, dass sie wieder mehr Aufträge bekommen, und dann muss man die Binnennachfrage stärken. Legen Sie ein groß dimensioniertes Zukunftsinvestitionsprogramm auf, und geben Sie nicht nur diese Kleckerbeträge - unter einem gesamtwirtschaftlichen Blickwinkel -, die Sie hier immer stolz vor sich hertragen! Legen Sie ein Zukunftsinvestitionsprogramm von 100 Milliarden Euro auf! Damit kann vieles geregelt werden. Das hätte dann auch den Nebeneffekt, dass viele kleine und mittlere Unternehmen wieder Aufträge bekommen und vor allen Dingen auch zügig bezahlt werden. ({12}) Sorgen Sie endlich dafür, dass die Löhne in Deutschland wieder richtig steigen! Schaffen Sie andere Rahmenbedingungen für gewerkschaftliches Handeln in der Tarifpolitik! Das heißt: Leiharbeit muss weg, Befristungen müssen anders geregelt werden; denn mit Leiharbeitern und befristet Beschäftigten lässt sich nicht besonders gut streiken. So lassen sich auch nicht die notwendigen Lohnerhöhungen durchsetzen. Da besteht mittelbar Handlungsbedarf. Da muss etwas geschehen. Es gibt gegenüber dem Jahr 2000 in Deutschland eine Lohnlücke von mindestens 14 Prozent. Das entspricht einer Nachfrage von ungefähr 100 Milliarden Euro. Würden wir diese Lücke schließen, würde es in jedem Jahr eine um 100 Milliarden Euro höhere Binnennachfrage geben, und davon - das sage ich Ihnen - würden vor allen Dingen auch kleine und mittlere Unternehmen profitieren. ({13}) Damit könnten wir auch für diesen Personenkreis etwas machen und eine wirklich anständige Wirtschaftsförderung betreiben. Bürokratieabbau ist sinnvoll, wenn er im Interesse der Menschen ist. Aber so, wie Sie das hier betreiben, vor allen Dingen mit Ihrer „One in, one out“-Regel, ist es sehr kontraproduktiv ({14}) und, wie gesagt, führt eher zum Ende der Reformpolitik für diese Legislaturperiode. Ich danke Ihnen. ({15})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Michael Fuchs ist der nächste Redner für die CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Michael Fuchs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003531, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Kollege Schlecht, ich habe selten eine Rede gehört, in der wie in Ihrer gerade mit so viel Kunstfertigkeit für mehr Bürokratie gekämpft wurde. ({0}) Es scheint so zu sein, dass die Linke wieder einmal vorhat, die Bürokratie in Deutschland zu verstärken. ({1}) Ansonsten fiel Ihnen nichts anderes ein als die Forderung, noch mehr Geld auszugeben. ({2}) Wir sind stolz darauf, dass der Bundesfinanzminister es geschafft hat, dass wir endlich einen ausgeglichenen Haushalt haben. Das ist ein Wert an sich; für den haben wir gekämpft. Das ist genau das Richtige, statt andauernd zusätzliche Programme aufzulegen, wie Sie es immer gemacht haben. Das wurde ja schon früher in der DDR versucht. Nichts hat es gebracht. Das ist einer der Gründe, weswegen die DDR damals pleitegegangen ist. ({3}) - Das tut Ihnen weh, ich weiß das; aber damit müssen Sie leben. ({4}) Bei kaum einem Projekt gehen Reden und Handeln so auseinander wie beim Bürokratieabbau. In Sonntagsreden kommt der Bürokratieabbau immer wieder vor. Es wird bei neuen Gesetzesvorhaben davon gesprochen, dass wir dringend Bürokratie abbauen müssen. Aber wenn man dann am Ende des Tages hinschaut, stellt man fest, dass wir nicht allzu weit gekommen sind. Es gibt viel Kreativität, was neue Gesetze angeht, aber wenig Hoffnung, dass das dann auch zu einem echten Bürokratieabbau führt. Das läuft nicht so, wie wir uns das wünschen. Bürokratie ist ein Riesenproblem; das sollten wir wissen. Der Normenkontrollrat hat festgestellt, dass allein im Zeitraum von Juli 2013 bis Juni 2014 über 9,2 Milliarden Euro an neuen Bürokratiekosten aufgebaut wurden. ({5}) Man lasse sich das bitte einmal auf der Zunge zergehen! Das ist völlig unproduktiv. Diese 9,2 Milliarden Euro fehlen der Wirtschaft an allen Ecken und Enden. Das wäre, nebenbei gesagt, ein wunderbares Investitionsprogramm, wenn man 9,2 Milliarden Euro zusätzlich freisetzen könnte. Dem Normenkontrollrat muss man sehr dankbar sein, dass er uns ständig auf diese Probleme aufmerksam macht. Er muss ein Stachel im Fleisch des Parlaments sein. Das finde ich auch in Ordnung so. Bürokratie hat große Schäden verursacht und verursacht sie nach wie vor. Junge Unternehmen trauen sich nicht in den Markt hinein, weil sie Angst vor der Bürokratie haben. Die Benachteiligung betrifft aber besonders kleinere mittelständische Unternehmen, weil diese eben keine riesige Rechtsabteilung haben, die sich mit all diesen bürokratischen Maßnahmen beschäftigen kann. Bürokratie führt außerdem zu Lähmungserscheinungen in ganzen Volkswirtschaften. Das kann man am allerbesten an Italien beobachten. Italien hat die schlimmste Bürokratie in ganz Europa. Dort ist die Wirtschaft auch dementsprechend lahm. Umso wichtiger ist es, dass wir heute nicht nur über Bürokratieabbau reden, sondern das Thema auch konkret angehen. Der heute vorliegende Gesetzentwurf ist ein Schritt in die richtige Richtung. Drei Punkte will ich dabei hervorheben: Erstens. Die Anhebung der Schwellenwerte für Meldepflichten von Existenzgründern von 500 000 Euro auf 800 000 Euro im Bereich der Wirtschafts- und Umweltstatistik halte ich für richtig. Ein Gründer - ich selbst war einmal einer - sollte sich in der ersten Phase seines Unternehmens mehr mit dem Markt und mit dem Erwirtschaften von Gewinnen beschäftigen, als die ganze Zeit Statistiken auszufüllen. ({6}) Zweitens. Wir wollen beim Steuerrecht einiges verändern. Der Gesetzentwurf sieht einzelne Entlastungen vor: bei den Mitteilungspflichten für den Kirchensteuerabzug, eine erhöhte Lohnsteuerpauschalierungsgrenze für kurzfristig Beschäftigte und eine Vereinfachung beim Lohnsteuerabzug. Meine Damen und Herren, machen wir uns nichts vor: Das ist kein Quantensprung. Es ist nicht so, dass wir damit schon gewaltige Veränderungen erreicht hätten, aber gerade im Steuerrecht sind die Beharrungskräfte besonders intensiv. 70 Prozent der Bürokratiepflichten, die wir den Unternehmen auferlegen, entstehen im Steuerrecht. Da haben wir also noch einen weiten Weg zu gehen. Mir fällt dazu auch noch das eine oder andere ein: Gerade bei den kleinen Unternehmen verursacht die Aufzeichnungspflicht, die bei geringwertigen Wirtschaftsgütern besteht, erhebliche Bürokratie. ({7}) Da könnte man ansetzen und überlegen, ob man die Abschreibungsgrenze für geringwertige Wirtschaftsgüter etwas anheben könnte. ({8}) Diese liegt momentan bei 410 Euro. Aber ich könnte mir durchaus vorstellen, eine Grenze von 600 bis 800 Euro einzuführen. ({9}) Das würde erhebliche Bürokratie in den Unternehmen abbauen. ({10}) Auf der anderen Seite bedeutet es für den Staat eigentlich nur eine Verschiebung. Denn wenn die Abschreibung in einem Jahr erfolgt, dann ist im nächsten Jahr nichts mehr abzuschreiben; dann zahlt der Unternehmer im nächsten Jahr mehr Steuern. Insofern stellt das keine gewaltige Änderung dar. ({11}) Angesichts der niedrigen Zinsen halte ich das auch für notwendig. Wir werden mit dem Bundesfinanzminister noch einmal darüber zu sprechen haben. ({12}) Aber ich habe es auch noch nicht aufgegeben, an eine wirkliche Steuervereinfachung zu glauben. Denn bei dem, was wir bis jetzt gemacht haben, handelt es sich immer nur um Marginalien. Da wurde immer nur so ein bisschen an einer Stelle angepackt. - Diese Hoffnung habe ich also noch nicht ganz aufgegeben. Ich habe immer noch die Worte des estnischen Präsidenten Ilves, den ich vor zwei Tagen auf dem Wirtschaftstag des Wirtschaftsrates der CDU gehört habe, in den Ohren. Er sagte, in Estland könne man eine Steuererklärung in fünf Minuten fertigstellen. Das wäre ja ein Ziel für uns. ({13}) Es wäre wirklich eine Aufgabe, die wir uns gemeinsam stellen könnten, zu überlegen, wie wir die Steuererklärungen so vereinfachen, dass auch so etwas bei uns möglich ist. ({14}) Der dritte Punkt, den ich für gut halte, betrifft die neue „One in, one out“-Regelung. Herr Schlecht, auch wenn Sie es nicht ganz verstanden haben: Sie macht schon Sinn. Vor allen Dingen macht sie deswegen Sinn, weil sie zumindest dazu führt, dass sich jeder einmal überlegen muss: Was passiert denn da? Und: Wie kann ich es denn auf der anderen Seite abbauen? - Allein der Druck, der dadurch entsteht, ist schon positiv. Nur, das wollen Sie ja nicht; das ist ja bekannt. Ich halte es für richtig, dass wir auf all die neuen Gesetze, die jetzt noch kommen, diese Regelung anwenden. Mir wäre es am allerliebsten, wir hätten ein rückwirkendes Inkrafttreten. Stellen Sie sich einmal vor, wir würden das jetzt rückwirkend beim Mindestlohn machen. Das würde schon Wirkung zeigen. ({15}) Das wäre doch eine gute Idee. Ich meine, wir sollten in jedem Fall dafür sorgen, dass wir durch diese „One in, one out“-Regelung nun in eine Phase kommen, wo bei jedem neuen Gesetzesvorhaben geprüft wird: Wie können wir ein anderes Gesetz so verändern, dass wir weniger Bürokratie haben? Ich bin vor allen Dingen dem Staatsminister Helge Braun sehr dankbar, der sich um dieses Gesetz bemüht hat und für den das ein Herzensanliegen war. Ich denke, lieber Helge, das hast du gut gemacht. Dir gebührt unser Dank dafür. ({16}) Die „One in, one out“-Regelung wird in der nächsten Zeit Veränderungen schaffen. Auch dazu zitiere ich noch einmal den estnischen Präsidenten. Er sagte vor zwei Tagen: Wir haben mittlerweile gesetzlich geregelt, dass die Daten von jedem Bürger nur einmal vom Staat gespeichert werden dürfen und die Bürger dann nie mehr nach ihren persönlichen Daten gefragt werden dürfen. - Wenn der Staat die Daten also einmal hat, kann er sie anschließend nicht noch einmal nachfragen. Das könnten wir zum Beispiel als Regelung auch bei uns einführen. Wir haben eine Reihe von Gesetzen gemacht, die schwierig sind. Seien wir uns bitte im Klaren darüber, dass die Regelungen, die wir beim Mindestlohn eingeführt haben, so nicht umsetzbar sind. Die Bundeskanzlerin hat am selben Abend gesagt, dass man an dieses Thema noch einmal herangehen wird. Das halte ich auch für richtig. Frau Nahles ist gefordert, eine Regelung zu finden, die weniger Bürokratie verursacht. Ich denke auch, dass wir das schaffen können. Niemand redet beim Mindestlohn über die 8,50 Euro. Die stellt auch keiner mehr infrage. Die Bürokratie aber, die damit verbunden ist, stellen wir infrage. Es stört mich auch ganz gewaltig, dass wir mittlerweile 1 600 bewaffnete Zöllner in die Bäckereien und Metzgereien schicken, um die Einhaltung des Mindestlohns zu kontrollieren. ({17}) - Das gibt es! Ich habe es schon selbst erlebt. Herr Ernst, Sie können mit mir ja einmal zu einer Metzgerei gehen. Wir sollten uns darüber im Klaren sein, dass wir keine Regelungen treffen sollten, welche die Unternehmen gewaltig belasten.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege Fuchs, der Kollege Ernst möchte gerne, bevor er mit Ihnen eine Metzgerei aufsucht, mit einer Zwischenfrage die Bedingungen klären. Können wir das hier schnell erledigen?

Dr. Michael Fuchs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003531, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Das soll er gerne haben.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Bitte schön.

Klaus Ernst (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003753, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Fuchs, ich bin der Auffassung, dass Sie sich entschuldigen sollten. Sie haben eben Staatsbeamte der Bundesrepublik Deutschland als bewaffnete Söldnertruppe bezeichnet.

Dr. Michael Fuchs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003531, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Das habe ich nicht gesagt, sondern ich habe „Zöllner“ gesagt!

Klaus Ernst (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003753, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ich denke, das geht einen Schritt zu weit. ({0}) Es handelt sich hier um Gesetze, die wir hier im Hause beschlossen haben. Wir haben eine Steuerfahndung, die dafür zuständig ist, den Mindestlohn zu überwachen. Diese als bewaffnete Söldnertruppe zu bezeichnen, ist ein Schlag ins Gesicht der Leute, welche die Gesetze zu überwachen haben, die Sie mit Ihrer Truppe hier beschlossen haben. Das ist ein unglaublicher Vorgang! ({1})

Dr. Michael Fuchs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003531, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Ernst, Sie sollten besser zuhören! Ich habe „bewaffnete Zöllner“ gesagt. Und das ist der Fall. Es sind bewaffnete Zöllner, die in die Metzgereien oder Bäckereien fahren, um die Mindestlohnregelungen zu überprüfen. ({0}) Wenn Sie das sehen wollen, können Sie es selber überprüfen. Das ist auch keine Beleidigung der Zöllner. Sie machen ihren Job, und sie müssen diese Aufgaben erledigen. ({1}) Ich kritisiere aber, dass wir dafür über 80 Millionen Euro jährlich ausgeben. Die könnten wir besser bei der Polizei unterbringen, denn da gibt es mehr Probleme. ({2}) Meine Damen und Herren, bringen wir unseren Unternehmerinnen und Unternehmern genügend Vertrauen entgegen! Passen wir auf, dass wir das Misstrauen nicht so schüren, dass der eine oder andere sagt, er mache es nicht mehr, er habe keine Lust mehr dazu, und sich aus dem Bereich des Unternehmertums verabschiedet! Glauben wir an die Kraft und Kreativität von Markt und Wettbewerb, oder geben wir lieber der Kontrolle den Vorzug? Haben wir noch den Mut zu Innovation und Fortschritt, oder wollen wir den Istzustand zementieren? Ich bin überzeugt: Unsere Unternehmerinnen und Unternehmer haben in der Geschichte der Bundesrepublik und der Geschichte der sozialen Marktwirtschaft unser Vertrauen immer gerechtfertigt, und sie haben unser Land entscheidend weitergebracht, vor allen Dingen der Mittelstand. Wir müssen ihnen auch in Zukunft die Spielräume geben, die notwendig sind, damit sie ihren Unternehmergeist entfalten können. Dies sollte uns bei allen in der Zukunft anstehenden Gesetzgebungsverfahren leiten, und dafür müssen wir sorgen, damit die Unternehmer auch ernsthaft entlastet werden. ({3})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort erhält nun die Kollegin Kerstin Andreae für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Kerstin Andreae (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003493, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Staatssekretärin! Wir kritisieren gar nicht, was im Gesetz steht. Entlastungen und Erleichterungen bei Meldepflichten, Grenzbeträgen und Schwellenwerten sind richtig. Eine Entlastung der Wirtschaft um 744 Millionen Euro pro Jahr, von der Sie gesprochen haben, ist auch richtig. Das alles kritisieren wir nicht. Aber wir kritisieren, was nicht drinsteht. Sie hätten viele Möglichkeiten. Wenn Sie sagen, dass es der erste Schritt ist, dann hoffe ich auf die Beratungen nach der ersten Lesung. Wir stellen ja einen eigenen Antrag zur Debatte. Darin sind Vorschläge. Nehmen Sie sie mit auf. Dann kommen Sie einen deutlichen Schritt weiter. ({0}) Der Normenkontrollrat spricht von 200 bis 300 Milliarden Euro Belastung pro Jahr. In Relation zu 200 bis 300 Milliarden sind 744 Millionen Euro nicht wirklich viel. Sie haben ja auch in den ersten anderthalb Jahren deutlich Bürokratie aufgebaut. Sie haben fast 2 000 neue Verordnungen auf den Weg gebracht. Jetzt wird Ihnen selber ein bisschen mulmig. Jetzt nenne ich Ihnen einmal ein erstes Beispiel und mache damit auch gleich einen ersten „One out“-Vorschlag. „One in, one out“ kann ja durchaus positiv sein: Die Pkw-Maut für Ausländer ist das erste Beispiel. ({1}) Lassen Sie sie einfach, machen Sie etwas anderes, dann haben Sie ein „One out“ und Möglichkeiten zu einem neuen „One in“. Finanziell ist die Maut ja ein Desaster. Sie sprechen von Einnahmen in Höhe von 500 Millionen Euro. Unsere Studie hat errechnet, dass sie maximal 140 Millionen Euro einbringt. Demgegenüber stehen laut Normenkontrollrat 164 Millionen Euro Verwaltungskosten und 32 Millionen Euro für Kontrollen. Selbst wenn wir Ihre 500 Millionen Euro nehmen, dann haben wir 200 Millionen Euro Verwaltungs- und Kontrollkosten. Dazu sagt der Normenkontrollrat in seiner üblichen Bescheidenheit und in seiner diplomatischen Form, er habe „gegenüber dem Ressort seine Bedenken hinsichtlich der Relation zwischen dem anfallenden Erfüllungsaufwand und den zu erwartenden Einnahmen geäußert“. Temperamentvoll geht zwar anders, aber sie sagen ganz klar: Das ist Unfug. Lasst diese CSU-Maut! ({2}) Wir haben noch einen Vorschlag für „One out“, betreffend das Mehrwertsteuersystem. Sie haben in der letzten Legislatur den Unfug mit den Hotelübernachtungen, der sogenannten Mövenpick-Steuer, gemacht: 7 Prozent für Übernachtungen, 19 Prozent für Frühstück - hochkompliziert. Auf gepressten Fruchtsaft wird eine Mehrwertsteuer in Höhe von 19 Prozent fällig, auf pürierten Fruchtsaft - das musste ich auch lernen - in Höhe von 7 Prozent, für den Arbeitsesel werden 7 Prozent fällig, für den Hausesel 19 Prozent - eine weitere Unterscheidung gibt es, ob er tot und lebendig ist -, für Currywurst zum Mitnehmen 7 Prozent, für Vor-Ort-Verzehr 19 Prozent. Wann endlich fangen Sie an, das Mehrwertsteuersystem zu reformieren? Wann endlich fangen Sie damit an? ({3}) Dass Gesetzestexte verständlich und für alle Bürgerinnen und Bürger nachvollziehbar sein sollen, ist manchmal ein Fernziel, aber sie sollten doch wenigstens logisch sein. Das sind sie hier nicht. Überhaupt ist im Bereich der Steuervereinfachung einiges zu tun. Herr Fuchs, man muss ehrlicherweise zur Steuergesetzgebung auch sagen: Es ist der Versuch, auf der einen Seite Gerechtigkeit herzustellen und den Anliegen, die an uns als Gesetzgeber herangetragen werden, gerecht zu werden und auf der anderen Seite ein einfaches und verständliches Steuersystem zu schaffen. Die Steuererklärung auf dem Bierdeckel ist zu Recht überhaupt nicht goutiert worden, weil niemandem eingeleuchtet hat, was daran gerecht sein soll, drei Steuersätze auf alles zu erheben und dann alles laufen zu lassen. Ein bisschen mehr Anforderungen sollten wir an das Steuersystem stellen, zum Beispiel, dass es auch gerecht besteuert. Diesen Anspruch sollten wir haben, aber es spricht nichts gegen Steuervereinfachungen. ({4}) Sie sagen, Sie würden jetzt etwas für die Existenzgründer machen. Da wollen wir mal genauer hinschauen. Wir haben in Deutschland eine Gründungsmisere. Es gibt nach wie vor große Hemmnisse, sich selbst als kleiner Gründer, als kleine Gründerin auf den Weg zu machen. Die von Sigmar Gabriel eingesetzte Expertenkommission hat Ihnen ja mitgegeben, dass der Abbau bürokratischer Hemmnisse für Gründer eine der wesentlichen Innovationsbedingungen für Deutschland ist. Ich bin mal gespannt, was Sie dann tatsächlich machen. Wir haben Ihnen vorgeschlagen, Lotsen einzuführen und die Idee von One-Stop-Shops weiterzuentwickeln, dass also ein Gründer von einem Lotsen durch unser System geführt wird und er sich nicht selbst bei sämtlichen Stellen melden muss. Überlegen Sie, wie Sie die Arbeitsstättenverordnung etwas smoother gestalten können. Überlegen Sie, ob Gründer unbedingt von Anfang an eine monatliche Umsatzsteuervoranmeldung vornehmen müssen. Da gäbe es einiges zu tun, um einem Gründer Luft und Raum zu geben, seine Ideen zu entwickeln, anstatt gleich mit der deutschen Bürokratiekeule zu kommen und ihn damit zu erschlagen. Sie alle haben gesagt, dass entsprechende Regelungen im Gesetzestext stehen. Ehrlich gesagt: Wir haben sie nicht gefunden. Das steht da nicht drin. Wenn wir uns hier darauf einigen können, dass dies die erste Lesung ist und sich bis zur zweiten Lesung noch etwas verändert, dann ist das wunderbar. Wir machen in unserem Antrag Vorschläge, wie man dem Gründungsgeschehen in Deutschland Raum geben kann. Ich hoffe sehr, dass Sie da den einen oder anderen Vorschlag übernehmen. ({5}) Jetzt zum Zankapfel Mindestlohn. Für uns ist der Mindestlohn nicht zu diskutieren. Ich bin froh - wir hatten ja auch zugestimmt -, dass wir jetzt in Deutschland den Mindestlohn haben. Wir haben aber an einer Stelle immer Kritik geübt, und zwar haben wir gefragt, warum die Dokumentationspflicht beim Mindestlohn, die nun mal auch Bürokratie nach sich zieht, weil die Unternehmen aufschreiben müssen, wann ein Arbeitnehmer angefangen und aufgehört hat zu arbeiten, bis zu einem Einkommen des Beschäftigten von 2 958 Euro pro Monat besteht. Das entspricht im Falle des Mindestlohns einer Arbeitszeit von 348 Stunden im Monat, ungefähr 15 pro Werktag. Der Vorschlag war: Setzen Sie doch die Einkommensgrenze herunter. Dann erfassen Sie immer noch jeden Einzelnen, der Anspruch auf Mindestlohn hat; aber Sie entlasten an einer Stelle, an der Bürokratie wirklich unnötig ist. Diese Bürokratie ist im wahrsten Sinne des Wortes nicht nötig. Ihre Bundeskanzlerin ({6}) hat am 21. Januar 2015 gesagt: „Wir schauen uns das jetzt drei Monate an …“ - Dazu steht aber nichts in Ihrem Gesetzentwurf. Ich bin gespannt, ob Sie es sich wirklich mal anschauen, ob Sie wirklich sagen: Ja, an der Stelle können wir entlasten, ohne auch nur einen Deut am Mindestlohn zu rütteln. - Wir werden nicht zulassen, dass Sie am Mindestlohn rütteln. Aber wenn Sie unnötige Bürokratie abbauen, haben Sie uns an Ihrer Seite. ({7}) Schließlich will ich, weil meine Redezeit abgelaufen ist, ganz kurz unsere Forderungen benennen: eine Steuergutschrift für Forschungs- und Entwicklungsausgaben kleiner Unternehmen einführen, Möglichkeiten für junge Asylsuchende schaffen, ihre Ausbildung hier mit einem sicheren Status durchzuführen, E-Government konsequent einführen, die Grenze für die Abschreibung geringwertiger Wirtschaftsgüter auf 1 000 Euro anheben, Sozialausgaben so auszahlen, dass das Ganze an einem Tag terminiert ist, im Sinne eines One-Stop-Shops eine einzige Anlaufstelle für Gründerinnen einführen. Ja, es gäbe viel zu tun. Ich hoffe, dass wir in der Debatte hier ein Stück weiterkommen. Wir haben viele Vorschläge für „One out“, aber wir haben auch viele Vorschläge für „One in“. Vielen Dank. ({8})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Für die SPD-Fraktion hat jetzt Andrea Wicklein das Wort. ({0})

Andrea Wicklein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003659, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bürokratie durchdringt unser Leben. Egal ob wir einen Kredit oder Pflegeleistungen für unsere Eltern beantragen, eine Firma gründen oder einen Baum fällen wollen, ob wir Fördermittel oder BAföG in Anspruch nehmen oder eine Wohnung mieten wollen - alles hat mit Bürokratie zu tun. Fast jedes neue Gesetz, das wir beschließen, schafft neue Bürokratie. Es erfordert in seiner Durchführung Verwaltungsaufwand, Kontrollaufwand oder Beantragungsaufwand, Informations- oder Nachweispflichten. Egal, ob wir den Mindestlohn einführen, höhere Standards für Lebensmittel oder Vorschriften für Arbeitsstätten oder den Schutz von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern erlassen - alles ist mit Bürokratie verbunden. Bürokratie ist notwendig; denn Gerechtigkeit in unserem Land erfordert klare Regeln und Vorgaben. ({0}) Wir sollten uns deshalb, bevor wir von Bürokratieabbau sprechen, den hohen Stellenwert von notwendiger Bürokratie bewusst machen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bin sehr froh, dass wir heute die Gelegenheit haben, über die Themen „überflüssige Bürokratie“ und „bessere Rechtsetzung“ im Plenum zu prominenter Zeit zu sprechen. Das ist ein gutes Signal; denn es zeigt, dass der Deutsche Bundestag die Bürgerinnen und Bürger und die Unternehmerinnen und Unternehmer ernst nimmt, wenn sie bestimmte Regelungen oder deren Vollzug als Belastung empfinden: nämlich dann, wenn Anträge zu kompliziert oder zu lang und von Einzelnen kaum noch zu bewältigen sind oder aber Berichts- und Informationspflichten zu viel Arbeitsund Lebenszeit in Anspruch nehmen - oder auch, wenn Gesetze zu schwer verständlich sind und in ihrer Umsetzung einen zu hohen Verwaltungsaufwand erfordern. Genau darum geht es heute bei der Einbringung des Bürokratieentlastungsgesetzes. ({1}) Wir freuen uns sehr, dass der Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel mit frischem Wind dieses Thema, welches schon in der letzten Großen Koalition eine hohe Priorität für uns hatte, nach vorne bringt. Er hat 21 konkrete Vorhaben vorgelegt, von denen heute mehrere im Gesetzentwurf stehen. Der Bürokratieabbau hat mit dem vorliegenden Gesetzentwurf neuen Schub bekommen, und wir sind an dieser Stelle ganz an der Seite unseres Wirtschaftsministers. ({2}) Wir freuen uns insbesondere über das Entlastungsvolumen, das erreicht werden konnte. Davon werden gerade der Mittelstand und Start-ups profitieren. Die Schwellenwerte für Buchführungs- und Aufzeichnungspflichten sowie für Meldepflichten für Existenzgründer und junge Unternehmen werden angehoben. Damit wird der Aufwand für rund 150 000 Unternehmen reduziert. Hinzu kommen weitere Vereinfachungen beim Lohnsteuerabzug für Ehegatten bzw. Lebenspartner und eine Anhebung der Pauschalisierungsgrenze für kurzfristig Beschäftigte. Mit dem jetzt vorliegenden Gesetzentwurf werden wir unsere Wirtschaft um rund 744 Millionen Euro im Jahr entlasten. ({3}) Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, darüber hinaus hat die Bundesregierung weitere Vorschläge beschlossen, die nicht mit diesem Gesetz geregelt werden müssen; wir haben heute schon viel darüber gehört. Wichtig ist auch aus meiner Sicht die „One in, one out“Regelung, weil sie die Bundesregierung verpflichtet, dann, wenn durch neue Regelungen Belastungen für die Wirtschaft aufgebaut werden, an anderer Stelle Belastungen abzubauen. Deshalb kann ich die Kritik der Grünen und der Linken an dieser Stelle nicht verstehen. Die Bürokratiebremse ist in Wahrheit ein Riesenerfolg. Das wissen auch Sie und sollten ihn nicht kleinreden. ({4}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, mir ist es an dieser Stelle wichtig, noch über einen anderen Punkt zu reden, den die SPD-Fraktion sehr gerne mit dem vorliegenden Gesetzentwurf geregelt hätte. Es handelt sich um die steuerliche Behandlung geringwertiger Wirtschaftsgüter. Die SPD-Bundestagsfraktion sieht bei der Anpassung der Schwellenwerte einen dringenden, längst überfälligen Handlungsbedarf. ({5}) Wer sich als Selbstständiger ein Diensthandy, einen Farblaserdrucker oder einen Bürostuhl kauft, übersteigt schnell den bisherigen Schwellenwert von 410 Euro netto. Nur bis zu dieser Höhe, die übrigens seit Jahrzehnten unverändert ist, ist es aktuell möglich, Wirtschaftsgüter im Jahr der Anschaffung vollständig abzuschreiben. Wir schlagen deshalb eine deutliche Anhebung der Schwellenwerte für die sofortige Abschreibung geringwertiger Wirtschaftsgüter ({6}) und gleichzeitig die Abschaffung der Poolabschreibung vor. Das würde zu einer steuerlichen Entlastung führen und gleichzeitig eine substanzielle Vereinfachung der Buchführung mit sich bringen und damit die Unternehmen in mehrfacher Hinsicht deutlich entlasten. ({7}) Leider gibt es da noch den Widerstand vom Bundesfinanzminister. Ich hoffe, dass er noch einlenkt. An dieser Stelle möchte ich ganz herzlich meinem Kollegen Helmut Nowak von der CDU/CSU-Fraktion für die gute Zusammenarbeit danken. Wir sind uns einig, dass in diesem Punkt dringender Handlungsbedarf besteht. ({8}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, die SPD wird in der Koalition beim Abbau unnötiger Bürokratie entschlossen die nächsten Schritte gehen. Wir sind dazu in regem Austausch mit Gewerkschaften, Wohlfahrtsverbänden und Vertretern der Wirtschaft. Wir brauchen auch dabei das Engagement der Bürgerinnen und Bürger. Bringen Sie sich ein! Machen Sie Vorschläge, wie wir gemeinsam weiter vorankommen! Ich bin sicher, diese Anstrengungen lohnen sich. ({9})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nächster Redner ist für die Bundesregierung der Staatsminister Helge Braun.

Not found (Gast)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Welcher Bürger und welcher Unternehmer kennt die Situation nicht? Man unterschreibt ein Formular, und als letzter Satz steht unten drunter: Ich bestätige hiermit, alle Angaben vollständig und richtig gemacht zu haben. - Nicht nur den, der dabei vorsätzlich Betrugsabsichten hat, sondern auch den rechtschaffenen Bürger oder Unternehmer beschleicht dabei manchmal ein laues Gefühl, weil die Regeln, die Anforderungen, die dem Formular zugrunde liegen, so kompliziert sind, dass er nur hoffen kann, alles richtig gemacht zu haben, aber es nicht ganz genau weiß. Deshalb ist es ein Kernanliegen von Politik, dass die Regeln, die Gesetze, die Verordnun10386 gen, die wir beschließen, einfach für den Bürger und für den Unternehmer anwendbar und verständlich sind. Das ist kein Nebenthema von Politik, sondern bessere Rechtsetzung ist ein Kernthema guter Politik. Deshalb widmet sich die Bundesregierung diesem mit großer Hingabe. ({0}) Im Jahr 2006 hat die Große Koalition unter der Kanzlerschaft von Angela Merkel den Normenkontrollrat gegründet und gesetzlich verankert. Jetzt, wieder in einer Großen Koalition, können wir sagen: Wir haben seit 2006 - auf der rechtlichen Grundlage des Normenkontrollratsgesetzes, aber auch darüber hinaus bei der Entwicklung unserer statistischen Methoden gemeinsam mit dem Statistischen Bundesamt - die Methoden der Bürokratiemessung und die unabhängige Kontrolle der Daten, die wir produzieren, so weit entwickelt, dass wir dabei methodisch Weltmarktführer geworden sind. Viele Länder schauen auf uns und lernen von uns, wie man Bürokratie transparent macht - und auch, wie man welche abbaut. ({1}) Wir haben in der aktuellen Legislatur ein neues Arbeitsprogramm. Wir haben einen Eckwertebeschluss gefasst und jetzt das Bürokratieentlastungsgesetz auf den Weg gebracht, das konkrete Abbauschritte in der Größenordnung - es ist gesagt worden - von 744 Millionen Euro enthält. Aber wir entwickeln auch die Methodik des Bürokratieabbaus weiter: Die Bürokratiebremse - ein Wort, das ich bevorzuge gegenüber der eher englischen Wendung „One in, one out“ - ist ein zentrales Element dieser methodischen Weiterentwicklung. Dass die Linken damit ein Problem haben, verstehe ich gut; denn hinter „One in, one out“, hinter der Bürokratiebremse steht der Grundgedanke, dass die Wirtschaft, dass die Unternehmen, dass die Unternehmer Zeit brauchen für das Wesentliche - Zeit für ihre Kunden, Zeit für die Ausbildung von Azubis, Zeit für die Entwicklung neuer Produkte - und weniger Zeit aufwenden sollten für das Ausfüllen von Formularen und dem Nachkommen von Berichtspflichten. ({2}) Weil wir Unternehmer entlasten wollen, haben wir beschlossen, dass wir in dieser Legislaturperiode keine Steuern erhöhen und trotzdem keine Neuverschuldung machen. Dazu tritt jetzt, dass wir als Bundesregierung ein Versprechen abgeben. Natürlich ist der Bundestag frei, nach unserem Kabinettsbeschluss das zu beschließen, was er für richtig hält. Aber wir als Bundesregierung stehen Ressort für Ressort zu dem Ziel, dass wir, wenn wir selber Gesetze initiieren, im gleichen Umfang Erfüllungsaufwand abbauen wollen, wie wir an anderer Stelle welchen aufbauen. Das heißt im Klartext: Durch von uns motivierte Gesetze wird es in Zukunft, ab dem 1. Juli, keine neue Bürokratie in Deutschland geben. Das ist ein gutes Signal für die deutsche Wirtschaft. ({3}) Eine häufig geäußerte Kritik an dieser Bürokratiebremse ist, dass wir die Eins-zu-eins-Umsetzung europäischer Regeln ausgenommen haben. Das heißt aber nicht automatisch, dass wir uns nicht auch auf der europäischen Ebene bemühen. Ganz im Gegenteil: Zwar ist in den letzten Monaten und Jahren durch die Probleme der Euro-Zone und durch andere EU-außenpolitische Fragen das Thema „Bürokratie in Europa“ vielleicht ein bisschen in den Hintergrund getreten; aber wenn wir einmal schauen, was die Menschen im Hinblick auf die Zukunft Europas bewegt, dann sehen wir: Einer der zentralen Kritikpunkte ist, wie wir im Europawahlkampf und auch sonst immer wieder gehört haben, dass Europa eher zu viel regelt als zu wenig. Deshalb hat Deutschland gemeinsam mit anderen Staaten, die das ähnlich sehen, im Zuge der Bildung der neuen Kommission zahlreiche Vorschläge gemacht, wie wir auch in Europa Bürokratie reduzieren können. Der Vizepräsident Frans Timmermans hat jetzt selbst ein Konzept vorgelegt, das ebenfalls mehr Kontrolle und ein mit mehr Rechten ausgestattetes Kontrollgremium vorsieht. Das Ganze wird gerade kritisch im Europäischen Parlament diskutiert. Ich kann für die Bundesregierung sagen - ich hoffe, ich habe dabei die Unterstützung des ganzen Hauses -, dass wir uns wünschen, dass zumindest das, was Frans Timmermans zum Bürokratieabbau in Europa vorgeschlagen hat, umgesetzt wird. Es darf gerne mehr sein, aber sicher nicht ein Jota weniger. ({4}) Wir gehen nicht nur die Regelungsvorhaben der Bundesregierung durch, um zu schauen, an welchen Stellen wir Bürokratie abbauen können, sondern wir befragen auch Bürger und Unternehmen. In diesem Jahr befragen wir über 7 000 Bürger und über 3 000 Unternehmen nach der praktischen Bürokratiewirkung in wichtigen Lebenslagen, zum Beispiel bei der Einstellung eines Mitarbeiters oder bei der Anmeldung eines neugeborenen Kindes. Wir wollen wissen, was Unternehmer und Bürger im Alltag wirklich belastet. Mit diesem Lebenslagenkonzept schließen wir eine Lücke. Bisher haben wir im Wesentlichen auf die Kosten geschaut. Durch diese Befragung erfahren wir nun mehr über den Zeitaufwand, über die gefühlte Bürokratie und über die Dauer von Verfahren. Wir schauen also unter diesen Gesichtspunkten auf unsere neuen Gesetzentwürfe. Damit sind wir - ich habe es gesagt - Weltmarktführer. Jeder Spiegelstrich eines neuen Gesetzes wird haargenau bilanziert. Dafür können wir dem Statistischen Bundesamt nur dankbar sein. Dass dieses Vorgehen Erfolge zeitigt, wird daran deutlich, dass wir den Bürgern in Deutschland im letzten Jahr quasi 8 Millionen Stunden Zeit zurückgegeben haben. Ich glaube, das ist eine gute Botschaft, auch wenn wir im Bereich der Wirtschaft noch große Aufgaben vor uns haben. ({5}) Es ist noch viel zu tun. Meine Kollegin Frau Gleicke hat es eingangs angesprochen: Eine Gruppe, die uns bei diesem Bürokratieentlastungsgesetz besonders am Herzen liegt, sind die jungen Unternehmen. Wir diskutieren über die Gründungskultur in unserem Land und darüber, wie wir es schaffen können, dass mehr Menschen den Mut haben, ein Unternehmen aufzubauen. Wir können feststellen, dass diese Unternehmen, gerade wenn es um Hoch- und Spitzentechnologie geht, viele Menschen einstellen, sehr große Erfolge erzielen und in Krisenzeiten wesentlich stabiler sind als andere. Deshalb müssen wir den Gründergeist in Deutschland fördern. Dieses Bürokratieentlastungsgesetz sieht vor - wir sind alle Gesetze durchgegangen -, dass junge Unternehmen in den ersten drei Jahren nach Möglichkeit von Berichtspflichten entlastet werden. Wir haben aber auch festgestellt, dass man jungen Unternehmen nicht alle Berichtspflichten ersparen kann. Die Berichtspflichten, die wir ihnen ersparen können, ersparen wir ihnen jedoch. Zum Schluss möchte ich noch einen Vorschlag unterbreiten, einen Vorschlag, der nicht in diesem Gesetzentwurf stehen kann, weil er nicht allein vom Bundestag beschlossen werden kann. Zur Umsetzung dieses Vorschlags brauchen wir die Unterstützung der Länder und der Kommunen. Das können wir nur gemeinsam schaffen. Wir schlagen vor, dass wir uns auf allen staatlichen Ebenen auf das Prinzip verständigen, dass junge Unternehmen, wenn sie in den ersten drei Jahren hinsichtlich der verbleibenden Berichtspflichten Fehler machen, beraten und nicht bestraft werden. Das wäre, glaube ich, ein wichtiger Schritt zur Verbesserung der Gründungskultur in Deutschland. Ich bedanke mich bei Ihnen allen für die Unterstützung beim Bürokratieabbau. Wir haben viel getan, aber es ist auch noch viel zu tun. ({6})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Thomas Gambke ist der nächste Redner für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Dr. Thomas Gambke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004037, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wer hat als Bürger nicht schon mal gestöhnt beim Ausfüllen einer Lohnsteuererklärung oder beim Anmelden des Autos? Auch Unternehmen melden immer wieder zurück: Bürokratieabbau steht auf Platz Nummer eins oder zwei der Dinge, die wir als Politiker im Auge haben sollten. Insofern ist dieses Gesetz sehr wichtig; das ist schon gesagt worden. Eine Debattenzeit von 96 Minuten ist angesichts der Bedeutung dieses Themas durchaus gerechtfertigt, Herr Schlecht. Wir müssen aber fragen: Ist das, was uns hier vorgelegt wurde, genug? Ist das ambitioniert genug, wenn man den Bürokratieabbau als so wichtiges Ziel beschreibt? Diesbezüglich melde ich ernsthafte Zweifel an. ({0}) In den letzten Jahren wurden Bürokratiekosten von immerhin 12 Milliarden Euro abgebaut. Der Herr Staatssekretär hat es erwähnt: Der Normenkontrollrat hat dabei eine wichtige Rolle gespielt; denn die Messbarkeit, die der Normenkontrollrat herstellt, ist eine wichtige Voraussetzung, um Veränderungsprozesse zu begleiten. Aber Messbarkeit alleine, Herr Staatssekretär, ist nicht genug. Sie müssen sich - jetzt wende ich mich an die Große Koalition - auch Ziele setzen, und zwar ambitionierte Ziele. Aber die setzen Sie sich nicht. In der letzten Großen Koalition gab es das 25-Prozent-Bürokratieabbauziel. Jetzt gibt es überhaupt kein Ziel mehr. Das ist doch beschämend. Diese „One in, one out“-Regelung, die gut klingt und sicher auch ein vernünftiger Ansatz ist, ist nichts anderes als Rosstäuscherei. Der Kollege Fuchs hat dies mit seinen Ausführungen sehr schön gezeigt. Herr Dobrindt sagt: Grüß Gott! Aber die Maut wird aus die Regelung herausgenommen. - Sie haben entschieden, dass alle Gesetze bis zum Sommer dieses Jahres nicht unter die „One in, one out“-Regelung fallen. Das ist doch eigentlich eine Täuschung. Sie täuschen den Bürger und uns. ({1}) Sie haben jetzt, praktisch als Entlastung, Ihr Bürokratieabbaugesetz vorgelegt. Wir wollen fair sein: Es ist nicht schlecht. Es sind richtige Elemente dabei. Überflüssige Berichts- und Statistikpflichten werden abgeschafft. Am Ende soll eine Entlastung von rund 750 Millionen Euro stehen. Auch wenn ich die präzise Angabe von 744 Millionen Euro etwas anzuzweifeln wage, möchte ich sagen: Das ist ein guter Ansatz. Aber schöpfen Sie das Potenzial aus? Ich war von dieser Debatte wirklich überrascht. Ich hatte etwas ganz anderes vorbereitet, nämlich auch die Behandlung des Themas „Geringwertige Wirtschaftsgüter“. Dazu gibt es einen Antrag von uns. Dem brauchen Sie eigentlich nur zuzustimmen. Das kann mit drei Federstrichen gemacht werden. Herr Kollege Fuchs, ich bin 1990 kaufmännischer Werkleiter geworden und habe mich mit dem viel zu niedrigen Abschreibungsbetrag von damals 800 DM, der aus dem Jahre 1964 stammt, gequält. Mehr als 50 Jahre gibt es diese Schwelle schon. Wir fordern, sie auf 1 000 Euro anzuheben. Schaffen Sie außerdem endlich die Poolabschreibung ab! Steuerberater sagen dazu, sie sei ein Arbeitsbeschaffungsprogramm. ({2}) Gerade die kleinen und mittleren Unternehmen, die Sie ja anführen, fragen sich: Soll ich eine Poolabschreibung oder eine Einmalabschreibung vornehmen? Was ist günstiger? - Gerade kleine und neu gegründete Unternehmen werden hier gequält. ({3}) Aber Sie stellen sich hier hin und sagen: Herr Schäuble will das nicht. - Es geht doch nur um Liquidität. Sie sprechen immer von den sprudelnden Steuerquellen. Ja, dann handeln Sie doch auch einmal entsprechend! ({4}) Ich war, wie gesagt, schon etwas verwirrt, dass Sie diesen Vorschlag nicht umsetzen. Herr Fuchs, wir Grüne werden ja oft kritisiert. ({5}) Wir werden kritisiert für unseren Ruf nach Kontrollen. Aber ökologische und soziale Rahmensetzungen erfordern Transparenz, und Transparenz erfordert schlicht und einfach, dass man auch Kontrollen durchführt. Sonst funktioniert das nicht; das wissen wir. Wenn es um Bürokratie geht, steht an erster Stelle das Finanzministerium. An zweiter Stelle steht das Justizministerium. Dann folgt das Gesundheitsministerium, dann das Wirtschaftsministerium, und ganz zum Schluss kommen das Umwelt- und das Arbeitsministerium; so ist es. Wenn lamentiert wird, dass ökologische und soziale Rahmensetzungen überbordende Bürokratie erfordern, so entspricht dies schlicht und einfach nicht den Tatsachen. ({6}) Vom Finanzministerium wurde über eine Gelangensbestätigung entschieden - nur die Unternehmen werden wissen, was das bedeutet -, ein Monster, das zurückgenommen werden müsste. Herr Schäuble hat es fertiggebracht, bei der nahezu einzigen Änderung im Bereich der Mehrwertsteuer, die übrigens das Europäische Parlament an uns herangetragen hat, eine Ausnahme zu schaffen, und zwar für Holzrückpferde. ({7}) - Für Holzrückpferde, Herr Heil; das sollten Sie sich einmal ansehen. - Auch Hörbücher sind ausgenommen. Hier hat man noch weiter differenziert und noch mehr Bürokratie geschaffen. Gehen Sie endlich zu Ihrem Finanzminister, reden Sie mit ihm über die heutige Situation, und beschließen Sie Maßnahmen, die Sie umsetzen können und dann auch umsetzen sollten! Bei Selbstständigen - wir haben es gesagt - muss man genau hingucken. Hier ist noch viel Raum für Entlastung vorhanden. Allein eine Änderung bei den geringwertigen Wirtschaftsgütern soll nach Aussage des DIHK rund 350 Millionen Euro bringen. Wenn Sie sich hier also ambitionierte Ziele setzen, dann sind wir dabei, und wenn Sie sie umsetzen wollen, dann sind wir auch dabei. Reden Sie jetzt nicht, sondern handeln Sie! ({8}) - Nein.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich erteile dem Kollegen Hubertus Heil für die SPDFraktion das Wort. ({0})

Hubertus Heil (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003142, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es gibt diesen schönen Satz: Wenn es nicht notwendig ist, ein Gesetz zu machen, dann ist es nicht notwendig, ein Gesetz zu machen. ({0}) - Herr Kollege Grosse-Brömer ist belesen und weiß, dass er von Montesquieu ist. ({1}) Genau da liegt das Problem. Dieser schöne, einfache Satz ist Gegenstand von Streitigkeiten, wenn es darum geht, zu entscheiden, was notwendig ist. Es ist in einem politischen Wettstreit aber auch vernünftig, darüber zu debattieren, welche Gesetze notwendig sind: Ist es notwendig, ein Pkw-Maut-Gesetz zu machen, oder nicht? Ist es notwendig, die Vorratsdatenspeicherung durchzuführen, oder nicht? Ist es notwendig, einen Mindestlohn einzuführen, oder nicht? Das wird im demokratischen Wettstreit immer auch Gegenstand von Diskussionen sein. Wir müssen uns nicht die Frage stellen, ob es notwendig ist, dass der Gesetzgeber Regeln setzen darf, sondern wir müssen die Frage stellen, ob sie verhältnismäßig sind. Ist es überbordende Bürokratie? Drückt diese Bürokratie die Menschen an die Wand? Nimmt sie den Unternehmerinnen und Unternehmern Spielräume? Oder gibt es auch Regelungen, die vernünftig sind? Wenn man Befürworter eines starken und handlungsfähigen Rechtsstaates ist - ich bin das -, dann kommt man nicht umhin, festzustellen, dass sich der Rechtsstaat selbst ad absurdum führen würde, wenn er einen Wust an Regeln aufbaut, den keiner mehr überblicken kann, an dem die Menschen verzweifeln und der in der Realität von den Menschen nicht mehr ernst genommen wird. Sie sagen: „Das sind so viele Regeln, dass ich das gar nicht mehr nachvollziehen kann“, und fragen sich, ob sie das überhaupt noch ernst nehmen sollen. Für unser demokratisches Gemeinwesen ist der Abbau unnötiger Bürokratie ein notwendiger Schritt, um die Handlungsfähigkeit und die Akzeptanz demokratischer Politik in unserem Rechtsstaat zu stärken. ({2}) Das gilt in besonderem Maße in Bezug auf die Wirtschaft in unserem Land. Wer mit Unternehmerinnen und Unternehmern redet - mit kleinen und mittleren zumal und fragt, wo der Schuh drückt, der erfährt, dass sich die Hubertus Heil ({3}) Prioritäten in vielen Bereichen binnen Jahresfrist oder auch innerhalb von Jahrzehnten ändern. Topthemen sind heute die Fachkräftesicherung und die Frage, wie es mit den Energiepreisen und der Energiesicherheit weitergeht. Ein Dauerbrenner seit vielen Jahren und Jahrzehnten ist aber das Klagen über bürokratische Belastungen. Die Relation - mein Vorredner von den Grünen hat sie zu Recht genannt - dürfen wir an dieser Stelle nicht verschweigen. Ungefähr 70 Prozent der Bürokratie, mit der kleine und mittlere Unternehmen in diesem Land zu kämpfen haben, ist Steuerbürokratie. Darauf komme ich gleich noch einmal. Kollege Fuchs, diese Relation müssen wir im Blick behalten. Wir müssen über alles und auch über alle Bereiche reden. Auch die Sozialdemokraten stellen sich nicht schützend vor unnötige Bürokratie. Wir müssen darüber reden, was sozusagen der Schwerpunkt dessen ist, was Unternehmen - vor allen Dingen auch Existenzgründer und junge Unternehmer - belastet. Deshalb ist dieser Gesetzentwurf heute ein Anfang und ein wesentlicher Schritt in dieser Legislaturperiode. Er reiht sich ein bisschen - Herr Kollege Braun und Frau Kollegin Gleicke haben darauf hingewiesen - in eine Tradition der letzten Großen Koalition ein. Damals ist der Normenkontrollrat geschaffen worden, der den Gesetzgeber natürlich nicht ersetzen kann, der aber die Regierung und vor allem das Parlament bei der Frage beraten kann, ob Gesetze in Bezug auf den Erfüllungsaufwand verhältnismäßig ausgestaltet sind. Bei aller Skepsis, die es damals bei der Etablierung dieses Normenkontrollrates gegeben haben mag, sind wir inzwischen alle miteinander froh, dass es ihn gibt. Er sagt manchmal auch Dinge, die einem nicht schmecken, weil man politisch anderer Meinung ist. Aber es ist vernünftig, sich das anzuhören und sich als Parlamentarier bei der Formulierung von Gesetzentwürfen ständig zu fragen, ob es wirklich notwendig ist, das so auszugestalten, oder ob es an der einen oder anderen Stelle nicht eine Nummer kleiner geht. Die Mittelstandsgesetze und der Normenkontrollrat als Ergebnis der letzten Großen Koalition sind auch verantwortlich dafür, dass wir jetzt diese Diskussion führen. Viele Vorschläge des Normenkontrollrates hat Bundesminister Sigmar Gabriel aufgenommen, und es lässt sich sehen, was wir an dieser Stelle schaffen. Noch einmal: Ich behaupte nicht, dass das das Ende der Fahnenstange ist, aber allein durch den Abbau von Statistik-, Buchführungs- und Aufzeichnungspflichten können wir die Unternehmen in diesem Land nach Bestätigung des Normenkontrollrates jährlich um 744 Millionen Euro entlasten. Das ist ein Stück Investitionsanreiz in diesem Land - wenn Sie so wollen, ein Konjunkturstimulus -, ohne dass wir in die Haushaltskasse greifen müssen. Das ist ein vernünftiger Schritt. ({4}) Wir entlasten vor allen Dingen Existenzgründer und junge Unternehmen von statistischen Meldepflichten. Ich gebe zu: Auch in diesem Bereich kann und muss man mehr machen. Wir haben beispielsweise über die Rahmenbedingungen für Existenzgründungen und für das Wachstum junger Unternehmen insgesamt zu reden, Stichwort „Wagniskapitalgesetz“. Ich finde, auch in diesem Bereich ist das Bundesfinanzministerium mit in der Verantwortung, dass wir vorankommen. Aber immerhin: Der Abbau von Statistikpflichten hilft den Unternehmerinnen und Unternehmern, vor allem den jungen Leuten, die sich in die Selbstständigkeit aufgemacht haben, ganz konkret. Des Weiteren ist die bereits angesprochene Bürokratiebremse nach dem Prinzip „One in, one out“ vorgesehen. Herr Kollege Braun, ich nehme an, dass man diesen Anglizismus deshalb verwendet, weil die Regelung aus Kanada stammt. Ich gebe zu: Wir müssen damit Erfahrungen sammeln. Denn ich glaube, dass in vielen Ministerien erst durch die Praxis deutlich wird, was das tatsächlich bedeutet. Es ist sehr anspruchsvoll, in jedem Ressort darauf zu achten, dass man für jedes neue Gesetz den Erfüllungsaufwand ermittelt und ihn bei bestehenden Gesetzen entsprechend reduziert, und zwar möglichst im selben Politikfeld. Das ist eine Selbstverpflichtung der Regierung - das steht außer Frage -; es hat für den Gesetzgeber keinen Verfassungsrang. Aber es wird hochspannend, zu sehen, was demnächst daraus an Gesetzesvorlagen der Regierung erwächst. Wir werden das jedenfalls im Blick behalten. Ich finde, das ist ein sehr spannender Ansatz, der nach vorne weist. Manche wünschen sich eine rückwirkende Geltung. Das ist bei Dingen, die man nicht mag, politisch verständlich. Ob die Pkw-Maut dauerhaft Bestand hat, entscheidet wahrscheinlich nicht die „One in, one out“-Regelung, die, wie gesagt, nicht rückwirkend wirkt. Die Pkw-Maut ist jetzt Gegenstand der Diskussion auf europäischer Ebene. Das Ergebnis bleibt abzuwarten. Wir haben mit dem Prinzip etwas etabliert, was sich sehen lassen kann. Ich bin sehr gespannt, wie es in der Praxis funktioniert. ({5}) Im Zusammenhang mit dem Gesetzentwurf müssen wir uns auch mit der Frage der geringwertigen Wirtschaftsgüter befassen. Ich stelle in dieser Debatte fest, dass bis auf die Linken, die dazu offensichtlich keine Meinung haben, alle Fraktionen übereinstimmend der Meinung sind, dass in diesem Bereich eine Anpassung notwendig ist. So habe ich die Einlassungen des Kollegen Fuchs verstanden, und die Kollegin Andreae hat es ebenso ausgeführt wie die Kollegin Wicklein aus meiner Fraktion, der ich übrigens sehr dankbar dafür bin, dass sie sich seit vielen Jahren intensiv um das Thema kümmert. Sie alle haben völlig recht. 1964 war das Referenzjahr für die Möglichkeit, geringwertige Wirtschaftsgüter mit damals 800 D-Mark - das entspricht etwa 400 Euro abzusetzen. Eine Änderung in diesem Bereich könnte tatsächlich auf einen Schlag einen Stimulus für Investitionen geben. Das ist nämlich zurzeit unser Hauptthema. Wir setzen ganze Kommissionen ein, die sich mit der Hubertus Heil ({6}) Frage befassen, wie wir die öffentlichen, aber auch vor allen Dingen die privatwirtschaftlichen Investitionen in Deutschland unterstützen. Wir können und müssen hier etwas tun. Es ist richtig, dass es sich gesamtwirtschaftlich rechnet, wenn wir an dieser Stelle ein bisschen lockerlassen. Deshalb ist meine Bitte in der heutigen ersten Lesung, dass wir uns im Gesetzgebungsverfahren diesen konkreten Punkt vornehmen und sagen: Wir können und müssen an dieser Stelle ein bisschen lockerlassen. - Die SPD-Fraktion reicht auch der Unionsfraktion dazu die Hand. Wir werden das auch im Rahmen der Anhörung miteinander zu diskutieren haben. ({7})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege.

Hubertus Heil (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003142, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich komme zum Schluss, Herr Präsident. - Ich hatte am Anfang gesagt: Wenn ein Gesetz nicht notwendig ist, ist ein Gesetz nicht notwendig. Wir werden weiter darüber streiten, welche Gesetze notwendig sind. Es geht um Freiraum für Bürgerinnen und Bürger und für die Wirtschaft in diesem Land. Deshalb ist es ein ehrenwertes Anliegen, und ich finde, dass wir heute einen großen Schritt nach vorne gehen. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Helmut Nowak hat nun das Wort für die CDU/CSUFraktion. ({0})

Helmut Nowak (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004364, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auf gigantische 200 Milliarden bis 300 Milliarden Euro jährlich schätzt der Nationale Normenkontrollrat die gesamte durch gesetzliche Auflagen verursachte Kostenbelastung der Unternehmen in Deutschland. Das wurde bereits angesprochen. Allein etwa 43 Milliarden Euro, so das Statistische Bundesamt, entfallen im Jahr 2015 auf Regelungen der Bundesebene. Über 17 000 Einzelregelungen gelten derzeit für Unternehmen und Bürger. Keine Frage, ein hochentwickeltes staatliches Gemeinwesen wie die Bundesrepublik Deutschland benötigt eine gut ausgebaute Bürokratie. Dennoch müssen wir uns fragen, ob wir nicht hin und wieder zu viel des Guten tun. Unternehmer und Freiberufler sollen sich doch in erster Linie um ihre Unternehmung kümmern und nicht so sehr um die Befriedigung der Statistik. Angesichts der Unzahl an Berichtspflichten und Meldungen, die bereits kleine Firmen heute zu bewerkstelligen haben, lässt sich durchaus nachvollziehen, dass viele Menschen in unserem Land schlicht keine Lust haben, sich selbstständig zu machen. Sicher sind wir uns darüber einig: Ein Land wie Deutschland benötigt eine leistungsfähige, schnell arbeitende, transparente und vor allem serviceorientierte Bürokratie. Alles andere wäre zweifelsohne ein Standortnachteil. In einer Welt, die zunehmend vernetzter arbeitet, in der das Internet und digitale Datenverarbeitung Standortentscheidungen von Unternehmen - möglicherweise auch zu unseren Ungunsten - erleichtern, können wir es uns schlicht nicht leisten, Unternehmen und Unternehmer mit unnötigen bürokratischen Belastungen zu beschweren und damit auch ihre Kreativität einzuschränken. Wir müssen aufpassen, dass wir neben hohen Lohnund Energiekosten nicht auch noch überbordende Bürokratiekosten produzieren. Die Wichtigkeit des Themas Bürokratie und Bürokratiekosten dringt zunehmend auch international in den Vordergrund. Auf europäischer Ebene hat sich die neue Kommission unter Jean-Claude Juncker eine schlankere Verwaltung zum Ziel gemacht. Dass die bessere Rechtsetzung und der Bürokratieabbau direkt beim ersten Vizepräsidenten der Kommission, Frans Timmermans, angesiedelt wurden, ist sicherlich positiv. Denn das bedeutet ja auch für uns gegebenenfalls weniger Bürokratie. Juncker hat recht, wenn er sagt: Nicht jedes Problem in Europa ist ein Problem der EU. - Ölkännchen, Duschköpfe und Fahrtenschreiber sind Paradebeispiele europäischer Regelungsfantasie. In diesem Zusammenhang freut es mich außerordentlich, dass Edmund Stoiber seine höchst erfolgreiche Arbeit in Brüssel als Sonderberater für bessere Rechtsetzung fortsetzen kann. ({0}) Immerhin hatten die Vorschläge seiner Kommission ein Entlastungsvolumen von 41 Milliarden Euro. 33 Milliarden Euro davon konnten zwischen 2006 und 2012 tatsächlich schon als Entlastung verzeichnet werden. ({1}) In Deutschland muss es uns künftig gelingen, die Erfüllungsaufwandskosten für neue Gesetze noch frühzeitiger zu erkennen. Hilfreich wäre hierzu, wenn die belastbaren Zahlen zum Erfüllungsaufwand gesetzgeberischer Entscheidungen kurzfristig nach dem Kabinettsbeschluss über den Normenkontrollrat zu uns kämen, wenn wir als Abgeordnete auch Zahlen vom NKR bekämen, die bereits den zusätzlichen Erfüllungsaufwand enthalten, der durch unsere Gesetzentwürfe entsteht. Zur Politik gehört, dass man Dinge gestalten und verändern möchte. Zur Grundlage jeder politischen Entscheidung gehört aber meines Erachtens auch, dass man über die Kosten seiner eigenen Wünsche und Entscheidungen unterrichtet ist. Außerdem wäre eine spätere Überprüfung nach Beendigung des parlamentarischen Verfahrens auf Grundlage der korrekten Kostenbasis wesentlich genauer. Wir wollen die Wirtschaft von unnötiger Bürokratie befreien. Das Bürokratieentlastungsgesetz der Bundesregierung setzt an der richtigen Stelle an. Ein Schwerpunkt dieses Gesetzes ist die Entlastung insbesondere kleiner und mittlerer Unternehmen sowie von Existenzgründern. So werden mehr kleine Firmen als bisher von Buchführungs- und Aufbewahrungsfristen befreit, was allein Einsparungen in Höhe von - dies wurde schon mehrfach gesagt - über 700 Millionen Euro bringen wird. Existenzgründer sollen von Mitteilungs- und Meldefristen entlastet werden. Hier ist eine effektive Entlastung notwendig. Ich freue mich besonders, dass für diesen Kreis spürbare Entlastungen vorgenommen werden. Entlastungen bedeuten dabei nicht - das klang hier auch schon an -, dass Standards abgebaut oder notwendige Kontrollen verringert werden müssen. Überhaupt bedeutet Bürokratieabbau nicht, wie so häufig vorgehalten, ein Weniger an staatlichem Schutz für Arbeitnehmer, Umwelt oder im Rahmen von Sicherheitsvorschriften. Wenn wir hier über Bürokratieabbau sprechen, dann meinen wir ein Weniger an überflüssiger oder gänzlich überholter Bürokratie. Übrigens: Wenn wir derzeit bei anderen Ländern in Europa den Abbau von bürokratischen Hemmnissen fordern, um die Wirtschaft anzukurbeln, dann bleibt anzumerken, dass es nicht unbedingt nachvollziehbar ist, dass wir im Koalitionsvertrag zwar ein quantitatives Kostenabbau- oder Kostenbegrenzungsziel auf europäischer Ebene für richtig halten, uns selbst aber national ein solches Ziel für diese Wahlperiode noch nicht gegeben haben. ({2}) Seit 2006 gab es in Deutschland immerhin Bürokratieabbau in einer Größenordnung von 12 Milliarden Euro für die Wirtschaft. Lassen Sie uns diesen erfolgreichen Weg weitergehen. Einen wichtigen Schritt in die richtige Richtung geht die Bundesregierung auch mit der Einführung der „One in, one out“-Regelung oder Bürokratiebremse. Kern dieses Ansatzes ist es, in gleichem Maße Belastungen abzubauen, wie durch neue Regelungsvorhaben zusätzlich entstehen. Das Ziel der Bundesregierung ist dabei, den Anstieg von Belastungen dauerhaft zu begrenzen, ohne politisch gewollte Maßnahmen zu behindern. Auch andere europäische Länder gehen diesen Weg. Italien, Frankreich, Spanien, Litauen und Portugal haben die „One in, one out“-Regelung schon übernommen. Großbritannien will sogar gleich zwei alte Gesetze abschaffen, wenn ein neues eingebracht wird. Manche reden sogar vom Wegfall von drei, allerdings mit tausend Ausnahmen. Um es vorwegzusagen: Meines Erachtens ist „One in, one out“ bei genauerem Hinsehen kein Allheilmittel, trotzdem ein wichtiger Schritt in Richtung Vermeidung eines Bürokratieaufbaus. Gleichzeitig wollen wir aber auch versuchen, unnötige Bürokratie abzubauen. Einer aktuellen Studie vom Mai 2015 über „Bürokratie im deutschen Mittelstand“ zufolge ist nur 1 Prozent der 400 befragten Mittelständler der Meinung, dass sie 2014 einen Rückgang der Bürokratie feststellen konnten, während 70 Prozent eine Zunahme beklagen. 96 Prozent halten die Anzahl der Gesetze und Verordnungen insgesamt für zu hoch, 65 Prozent beklagen die schlechte Verständlichkeit von Gesetzen. 73 Prozent fordern eine Verbesserung der Zusammenarbeit von staatlichen Behörden und Unternehmen. Da ist auch der neue Ansatz der Bundesregierung und des Koordinators für Bürokratieabbau, Staatsministers Helge Braun, zu begrüßen, nämlich direkt bei den Betroffenen, den Bürgerinnen und Bürgern und Firmen, zu fragen: Wo ist Bürokratie besonders unangenehm, nervig und überflüssig? Nicht zuletzt nach vielen Gesprächen mit Unternehmen und Verbänden weiß ich, dass für die meisten Betroffenen die im Bürokratieentlastungsgesetz aufgegriffenen Themen wichtige Probleme der Wirtschaft adressieren. Gleichzeitig wird aber auch von fast allen Spitzenverbänden der deutschen Wirtschaft bemängelt, dass die hohe Dichte an bürokratischen Regelungen und der damit verbundene Kostenaufwand weitere Entlastungsschritte notwendig machen. Hierzu gehören beispielsweise die Rücknahme der sogenannten Vorfälligkeit und eine Verringerung der Anforderung an Aufbewahrungspflichten und viele weitere sinnvolle Vorschläge, die wir uns vielleicht in den nächsten Monaten noch einmal vornehmen sollten. Ich persönlich mache kein Geheimnis daraus, dass ich mir noch weiter gehende Vereinfachungen wünsche. Ich werbe daher bei jeder Gelegenheit - wirklich bei jeder Gelegenheit - nachdrücklich um die Anhebung der Pauschbeträge auf 1 000 Euro bei der Abschreibung für geringwertige Wirtschaftsgüter bei gleichzeitiger vollständiger Abschaffung der Poolabschreibung. ({3}) Inflationsbereinigt müssten es sogar 1 200 Euro sein. Das wäre ein deutliches Signal an alle Unternehmen in Deutschland, zumal die Anpassung des Pauschbetrages schon seit über einem halben Jahrhundert aussteht. Wenn Sie heute zum Beispiel ein Smartphone erwerben, müssen Sie dieses über fünf Jahre und damit über eine deutlich längere Spanne abschreiben, als Sie das Handy überhaupt gebraucht haben. Das entspricht weiß Gott nicht der Lebenswirklichkeit. Die Abschaffung der Poolabschreibung würde auch die komplette Führung von Sachanlagekonten und Listen überflüssig machen, also eine echte Bürokratieentlastung für alle Unternehmen. Ich bin sicher, dass dies mein Konterpart aufseiten unseres Koalitionspartners genauso sieht. An dieser Stelle noch einmal herzlichen Dank für die konstruktive Zusammenarbeit, liebe Frau Kollegin Wicklein, die ich mit Ihnen gerne auch künftig weiterführen möchte. ({4}) Verehrte Kolleginnen und Kollegen, zusammenfassend stelle ich fest: Der von der Bundesregierung vorgelegte Entwurf eines Bürokratieabbaugesetzes ist für die Betroffenen gut. Er führt in die richtige Richtung und ist daher zu begrüßen. Wir sollten ihn sogar gemeinsam noch ein Stück besser machen ({5}) und die Erhöhung des Pauschbetrages für GWGs auf 1 000 Euro unter Wegfall der Poolabschreibung in der parlamentarischen Befassung noch mit aufnehmen. ({6}) Das wäre eine echte Win-win-Situation: Bürokratiekostenentlastung nach Schätzung des DIHK von circa 385 Millionen Euro - diese Zahl wurde hier schon genannt -, die dann für Investitionen frei würden, und zwar ohne Verringerung der Steuereinnahmen. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ({7})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Matthias Heider. ({0})

Dr. Matthias Heider (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004051, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Ich will zum Schluss der Debatte gar nicht erst versuchen, alle guten Argumente, die genannt worden sind, zu wiederholen. Sie sind in meinen Augen völlig unstrittig. Wir wissen alle, dass die Erwartungen des Mittelstandes und der Familienunternehmen in Deutschland an dieses Gesetz und an die folgenden Gesetze hoch sind. Alle Fraktionen dieses Hauses betonen immer wieder gerne, dass der Mittelstand das Rückgrat der deutschen Wirtschaft sei. Angesichts der Regelungsdichte in Deutschland, die auch aus den verschiedenen Anträgen hier im Hause spricht, bin ich mir nicht so ganz sicher, wie ernst es der einen oder anderen Fraktion mit diesem Vorhaben wirklich ist. Die Regelungsdichte ist so hoch, dass die Bereitschaft, Unternehmer in diesem Land zu bleiben oder zu werden, inzwischen relativ gering geworden ist. Wenn Sie einmal hier im eigenen Haus schauen wollen: Was sagt Ihnen die Zahl 14 838? Genau, das ist die Anzahl der Drucksachen, die wir in der letzten Legislaturperiode hier produziert haben. ({0}) Es ist nicht so, als wären wir nicht auf diese Informationen angewiesen, aber unter diesen Drucksachen sind einige Hundert Gesetze und Gesetzesänderungen, die wir hier verabschiedet haben. Meine Damen und Herren, der Parameter guter Gesetzgebung bemisst sich nicht allein in der Bewertung der Quantität. Wichtig ist die Qualität. Wichtig ist das, was an Kosten verursacht wird. Wichtig ist die Abschätzung der Folgen. Bei der Abschätzung der Kosten haben wir mit dem Standardkostenmodell eine Methode, mit der wir relativ gut ermitteln können, wie die Belastung der Wirtschaft ist. Aber was ist eigentlich mit der Folgenabschätzung? Schauen wir heute noch genug darauf? Das ist gerade für Unternehmen, die beispielsweise in der Gründungsphase sind, besonders wichtig. Wenn bei der Mittelstandsvereinigung der CDU vor kurzem in Berlin über 400 junge Unternehmer, Gründer und Interessierte zusammenkommen und feststellen, dass die Zugangsvoraussetzungen zum Markt der digitalen Wirtschaft bei uns so schlecht sind wie in keinem anderen EU-Land, dann ist das ein Alarmzeichen, das wir ernst nehmen sollten. ({1}) Die Zukunft unseres Wirtschaftsstandortes hängt davon ab, ob wir es schaffen, ein positives Gründungsklima zu erzeugen, ob wir Menschen dafür begeistern können, mit ihren Ideen für Arbeitsplätze und für Unternehmensgründungen zu sorgen. Deshalb müssen wir an dem Abbau der bürokratischen Hürden arbeiten. Estland macht es uns beispielsweise vor. Dort ist eine Unternehmensgründung online in weniger als 20 Minuten möglich. Ich wage kaum, zu sagen, wie lange das hier in Deutschland dauert. Neben den Dokumentations- und Informationspflichten, über die wir schon gesprochen haben, sind es gerade auch die praktischen Probleme, die den Arbeitsalltag erschweren. In Deutschland werden jährlich ungefähr 2,9 Milliarden Tonnen Güter per Lkw auf den Straßen transportiert. In Nordrhein-Westfalen und in BadenWürttemberg sitzt eine Anzahl von großen Anlagen- und Maschinenbauern, die zum Teil wirklich große und schwere Maschinen produzieren. Wenn diese eine solch große Maschine auf die Reise zum Kunden bringen müssen, dann stehen sie in aller Regel vor dem Problem, dass die nächste Autobahnbrücke, die sie benutzen wollen, überhaupt nicht mehr für eine solche Gewichtsklasse zugelassen ist. Das bedeutet, sie müssen auf Bundes- und Landstraßen ausweichen. Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen in diesem Zusammenhang - da Sie immer wieder die Maut ansprechen -: Wir gehören nicht zu denjenigen, die sagen, wir müssten keine nutzergestützte Mitfinanzierung der Straßen haben. Wir gehören auch nicht zu denjenigen, die sagen, eine halbe Milliarde Euro sei wenig Geld, sondern wir gehören zu denjenigen, die sagen, dass wir auch diejenigen an den Kosten beteiligen müssen, die als auswärtige Teilnehmer am Straßenverkehr durch Deutschland fahren. ({2}) Sie müssen einen Beitrag zu diesen Kosten leisten. ({3}) Wenn die Unternehmen dann die Landstraßen benutzen, stehen sie vor dem Problem, dass sie von jeder einzelnen Gebietskörperschaft der 20 Kreise und kreisfreien Städte, durch die sie fahren müssen, die Genehmigung brauchen. Wenn die 16. oder die 17. Gebietskörperschaft aus welchen Gründen auch immer dem Lkw-Transport nicht zustimmt, dann fangen sie in Deutschland mit dem ganzen Verfahren wieder von vorn an. Meine Damen und Herren, auch das ist ein Beispiel dafür, wie Bürokratie in Deutschland funktioniert. Ein anderes kleines Beispiel ist, dass wir in Deutschland für Lastkraftwagen immer noch das Samstagsfahrverbot während der Ferienzeit haben. Die meisten Urlauber fahren freitags in den Urlaub. Samstags sind die Autobahnen meist leerer als in der Woche. Das ist ein Grund dafür, auch über dieses Verbot nachzudenken. ({4}) Es schmerzt, wenn man die vielen kleinen Beispiele sieht. Noch mehr schmerzt es, wenn man die großen Beispiele wie den Anlagenbau ansieht mit den Umweltauflagen und anlagespezifischen Auflagen, die erteilt werden; all das ist nicht dazu angetan, den Wirtschaftsstandort Deutschland attraktiv zu machen. Meine Damen und Herren, eines muss man fairerweise sagen: Ein Großteil unserer Arbeitsvorlagen kommt inzwischen aus Brüssel; Staatsminister Braun hat dies bereits angesprochen. Vorgaben, die in deutsches Recht zu transformieren sind, sind der Quell manchen Übels. Ich will Ihnen gar nicht alle bekannten Beispiele nennen. Nur ein Beispiel ist die Richtlinie des Rates zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über vor dem Führersitz angebrachte Umsturzvorrichtungen für land- und forstwirtschaftliche Schmalspurzugmaschinen auf Rädern. Allein der Titel ist schon lang. Die mehreren Hundert Seiten, die diese Richtlinie umfasst, sind sicherlich nur eingeschränkt lesenswert. Die Verordnung zur Einfuhr von Karamellbonbons enthält übrigens über 25 000 Worte. Die amerikanische Unabhängigkeitserklärung kommt mit 300 Worten aus. Ein weiteres Beispiel ist die EG-Maschinen-Richtlinie mit Hinweispflichten betreffend die sichere Benutzung von Rolltreppen. All dies gibt uns Fragezeichen bei der Bürokratie auf. 21 000 EU-Verordnungen und Richtlinien gibt es, niedergeschrieben in 24 Amtssprachen. Sie füllen ganze Regalreihen von Bibliotheken und verursachen einen jährlichen Aufwand in Höhe von 124 Milliarden Euro in der Europäischen Union. Ob das sein muss und ob das nicht im Rahmen der Folgenabschätzung berücksichtigt werden kann? Unsere Bitte an Brüssel lautet, dass dort etwas zur Entlastung der Unternehmen und der Bürger in Europa getan wird. ({5}) Lassen Sie mich ein anderes Beispiel nennen. Hier können gerade Sie von der Fraktion der Grünen zeigen, dass Sie es mit der Entlastung des Mittelstandes in Deutschland ernst meinen. Bei den vielfältigen Zulassungsvorschriften, die bei den Freihandelsabkommen angeglichen werden und zu weniger Aufwand führen sollen, können Sie beweisen, dass Sie dahinterstehen. ({6}) Das ist ein Beispiel, das belegt, wie Sie konkret zur Beseitigung von Bürokratie beitragen können. Da haben Sie uns an Ihrer Seite. Da werden wir Sie nach allen Kräften unterstützen. ({7}) Ob der heutige Tag bei der Bürokratieentlastung eine Sternstunde des Parlaments ist, entscheiden Sie und ich nicht heute. Das wird die Zukunft zeigen. Wir werden das bei der Gesetzgebung prüfen müssen. Wir werden uns den Erfüllungsaufwand genauer ansehen müssen. Hoffen Sie bitte nicht darauf, dass das Bundesverfassungsgericht im Rahmen der Normenkontrolle unsere Gesetze wegen des Erfüllungsaufwands aufhebt. In Karlsruhe werden nur Rechtsverletzungen geprüft. Wir müssen den Anspruch an unsere Arbeit haben, nachhaltige Gesetze zu verabschieden. Dieser Anspruch muss für uns jeden Tag in diesem Haus gelten. ({8}) Lassen Sie uns diese Chance nutzen! Lassen Sie uns die Wirtschaft entlasten, sie von unnötigen Regelungen befreien und für ein investitionsfreundliches Klima in Deutschland sorgen! Das ist unsere Aufgabe. Wir als Union werden unseren Beitrag dazu leisten. Herzlichen Dank. ({9})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 18/4948 und 18/4693 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Also sind die Überweisungen so beschlossen. Dann rufe ich nun den Tagesordnungspunkt 4 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Brigitte Pothmer, Luise Amtsberg, Ekin Deligöz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN In die Zukunft investieren - Asylsuchende auf ihrem Weg in Arbeit und Ausbildung unterstützen Drucksache 18/5095

Not found (Mitglied des Präsidiums)

Ausschuss für Arbeit und Soziales ({0}) Innenausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Haushaltsausschuss Auch hierzu ist eine Aussprachedauer von 96 Minuten vorgesehen. - Ich erkenne keinen Widerspruch. Dann ist das so vereinbart. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der Kollegin Katrin Göring-Eckardt für die Antragsteller.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003132, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Wir sprechen heute über die Verbesserungen beim Arbeitsmarktzugang von Flüchtlingen, von Ausbildung statt Abschiebung. Wir hatten in der Sitzung unserer Bundestagsfraktion am letzten Dienstag Leoluca Orlando, den Bürgermeister von Palermo, zu Gast. Wie Sie wissen, ist Süditalien eine der strukturschwächsten Regionen. Die Arbeitslosenquote liegt dort bei 21 Prozent. Insbesondere die Jugendarbeitslosigkeit ist sehr hoch. Bis Anfang Juni waren schon 103 Menschen per Boot über das Mittelmeer in griechische und italienische Hoheitsgewässer gelangt. Der Bürgermeister von Palermo, der vor Ort wirklich eine riesige Leistung erbringen muss, hat zum Thema Flüchtlinge einen Satz gesagt, den ich von vielen deutschen Politikern gerne hören möchte: Es gibt kein Flüchtlingsproblem, sondern ein Problem im Umgang mit Flüchtlingen. ({0}) Deutschland macht sich seine Probleme im Umgang mit Flüchtlingen selbst. Die deutschen Probleme im Umgang mit Flüchtlingen stammen eigentlich noch aus dem Jahr 1993 mit der Einführung der Drittstaatenregelung und des Asylbewerberleistungsgesetzes. Aus diesem Geist stammt das gescheiterte Dublin-Regime - das gibt inzwischen auch der Bundesinnenminister zu -, das Italien und Griechenland mit den Mittelmeerflüchtlingen alleinlässt. Aus eben diesem Geist stammen auch die arbeitsmarktpolitischen Beschränkungen. Die Flüchtlinge könnten ja Arbeitsplätze wegnehmen, Probleme machen oder gar einen dauerhaften Aufenthalt hier erlangen. Wir müssen uns endlich von diesem Geist lösen. Wir sind längst weiter in dieser Republik. ({1}) Dafür reicht es nicht, den Zugang zu Arbeit auf dem Papier zu öffnen, wenn dann doch ein bayrischer Landrat diesen Zugang verweigern kann. Es braucht Deutschkurse von Anfang an, das heißt Zusagen des Bundes für diese Deutschkurse, es braucht Zugang zu Sprache, damit tatsächlich Arbeit aufgenommen werden kann; denn Arbeit und Sprachkenntnisse sind die Garanten für gutes Zusammenleben in unserem Land. Das wollen wir, das müssen wir auch wollen. Dafür legen wir heute unsere Vorschläge vor. ({2}) Das Erste ist, dass wir mehr Berater in den Arbeitsagenturen verlangen; denn die Bundesregierung hat sich zwar mit Mühen bei der Arbeitserlaubnis bewegt, aber sie hat vergessen, die Arbeitsverwaltung auch mitwachsen zu lassen. Das bedeutet, dass diese Integration nur sehr bedingt stattfinden kann. Nur dann, wenn es direktes Engagement vor Ort gibt, das an vielen Stellen da ist, das alleine aber nicht hilft, und wenn genug Personal vorhanden ist, kann es gelingen, eine wirkliche Struktur aufzubauen. Wir fordern Sprachkurse, und zwar für alle Schutzsuchenden vom ersten Tag an. Eine größere Hürde für den Zugang zum Arbeitsmarkt für Flüchtlinge als die fehlenden Sprachkenntnisse gibt es nicht. Ehrlich gesagt, was das Goethe-Institut weltweit macht, wollen wir hier in Deutschland doch nicht verweigern. Das ist doch völlig unvernünftig, das versteht doch niemand. ({3}) Es ist so: Asylsuchende und Geduldete sind bislang von all diesen Angeboten ausgeschlossen. Sie sind es zum Teil monatelang, sie sind es zum Teil sogar jahrelang; denn das Bundesamt hat nach wie vor nicht ausreichend Personal, trotz aller Bemühungen, die da unternommen worden sind. Wir müssen uns vor Augen halten: Wir haben im Moment einen Antragsstau von 200 000 Asylanträgen. Da geht es um Menschen, die Monate warten, um angehört zu werden. Gleichzeitig werden Monate verschwendet, um sich hier einzuleben und wirklich hier anzukommen. Das ist und bleibt doch absurd. Wir lassen Potenziale verkümmern. Warum eigentlich? ({4}) Es geht weiterhin um die Anerkennung ausländischer Abschlüsse, die unbürokratisch laufen muss. Es geht darum, dass wir nach- und weiterqualifizieren. Auch dafür braucht es Geld. Das ist allerdings wirklich gut investiertes Geld, gerade angesichts des Fachkräftemangels. ({5}) Wir und Sie stehen dabei an der Seite der Unternehmen, des Handwerks, der IHK, die zu Recht fordern, dass Flüchtlinge während der Ausbildung vor einer Abschiebung geschützt sind. Dass dem immer noch nicht so ist, ist und bleibt absurd. ({6}) Da will ich Ihnen mit ein paar Zitaten helfen: „Den Flüchtlingen, die in unserem Land Zuflucht suchen, sollten wir eine Perspektive geben.“ - Das fordert der Präsident des Deutschen Industrie- und Handelskammertags, Eric Schweitzer, und setzt sich deshalb dafür ein, dass es einen schnelleren Arbeitsmarktzugang und einen humanitären Ausbildungsaufenthalt gibt. Erwerbstätigkeit ab Erteilung der Duldung ohne Vorrangprüfung, das fordert der Präsident des BDA, Ingo Kramer. Der Chef des InstiKatrin Göring-Eckardt tuts der deutschen Wirtschaft in Köln, Michael Hüther, erklärt: Besonders problematisch ist es, wenn Flüchtlinge mit negativem Asylbescheid für einen Wechsel in die Arbeitsmigration ({7}) erst wieder ausreisen müssen, um einen Visumantrag zu stellen. Warum wird der Statuswechsel nicht einfach hier vor Ort ermöglicht? Hier wäre der Schulterschluss mit der Wirtschaft nicht nur angebracht, er wäre vernünftig, und er würde tatsächlich allen helfen. ({8}) Deswegen erwarte ich Bewegung, und zwar von allen und auf allen Seiten. In diesen Tagen wird zwischen Bund und Ländern weiter verhandelt. Sie müssen hier endlich liefern. Ich erwarte aber vor allem auch echte Bewegung von der SPD. Rhetorisch sind die Sozialdemokraten immer an der Spitze der Bewegung. Wenn es um die Verbesserung der Lage der Auszubildenden geht, überbieten sich die Ministerpräsidenten der SPD in Forderungen. Einen entsprechenden Gesetzentwurf aus dem Hause von Frau Nahles gibt es nicht. ({9}) Sigmar Gabriel schafft es sogar, in Flüchtlingsfragen Opposition und Regierung in einer Person zu sein. Das muss man erst einmal hinkriegen. Angesichts von Schlagzeilen wie „Sigmar Gabriel fordert rasche Lösung“ oder „Sigmar Gabriel fordert einen Aufstand der Zuständigen“ frage ich: Ja, liebe Leute, wer ist denn zuständig? Zuständig ist ja wohl die Bundesregierung. ({10}) Zuständig sind damit der Vizekanzler dieser Bundesregierung und das Bundesarbeitsministerium. Die zuständige Ministerin stellt die SPD. Dass das Wirtschaftsministerium sich nicht um das schert, was die Vertreter der Wirtschaft sagen, das ist wirklich ein Armutszeugnis. Hören Sie auf mit dem Gedröhne, und handeln Sie endlich. Hier lohnt es sich einmal, zu kämpfen, und zwar richtig. ({11}) Ja, alle Beteiligten müssen an einen Tisch, und dazu gehört es, dass die Kommunen endlich nicht mehr am Katzentisch sitzen. Dazu gehört es, dass diejenigen, die die Hauptlast tragen und die es in den allermeisten Fällen wirklich gut machen, auch tatsächlich einbezogen werden. Dass Sie es immer noch nicht geschafft haben, die Zusage vom letzten Jahr umzusetzen und die Gesundheitskarte auf den Tisch zu legen, auch das ist ein Armutszeugnis, und es schafft nicht gerade Vertrauen, nicht zwischen Bund und Ländern, nicht, was die Bürgerinnen und Bürger angeht, die sich da engagieren. Diese Zusage müssen Sie einhalten, weil es um das geht, was die Flüchtlinge am allermeisten brauchen, nämlich Gesundheitsschutz. Vielleicht sollten Sie einmal auch nur ein paar Tage mit denen mitgehen, die in den Kommunen Unterkünfte suchen, die sich darum kümmern, Traumaexperten zu finden, die Leute einspannen, die ehrenamtlich Sprachkurse anbieten. ({12}) Ich kann nur sagen: Wenn das so weitergeht, dann vergeigen wir das, was wir eigentlich zu Recht „nationale Aufgabe“ nennen. Solange man dieses Problem nicht versteht und solange man die Flüchtlinge immer noch als Problem versteht, hat man leider das Problem insgesamt nicht verstanden. Bewegen Sie sich, und zwar richtig. Gerade wenn es um den Zugang zu Sprache, zum Arbeitsmarkt und zu Gesundheit geht - darum geht es jetzt und hier -, können Sie handeln, und zwar schnell. ({13})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Für die CDU/CSU-Fraktion erhält nun Sabine Weiss das Wort. ({0})

Sabine Weiss (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004187, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Ja, Frau GöringEckardt, es ist richtig: Die Integration der zu uns kommenden Menschen als Asylsuchende und Flüchtlinge in Gesellschaft und Arbeit ist von höchster Bedeutung. Ja, es ist richtig: Spracherwerb und Anerkennung beruflicher Qualifikation sind wichtig; denn sie sind die Grundlage für eine erfolgreiche Integration. Deshalb bin ich froh, dass wir dieses wichtige Thema heute diskutieren. In der letzten Woche haben Sie, Frau Pothmer, in der Presse schon ordentlich für Ihren Antrag getrommelt. Da enthielt er allerdings noch konkrete Finanzforderungen von insgesamt 520 Millionen Euro. Heute wird uns dagegen ein eher weichgespülter Antrag präsentiert, in dessen Begründung nur noch von einem jährlich dreistelligen Millionenbetrag für die Sprachförderung die Rede ist. Möglicherweise ist Ihnen mittlerweile bewusst geworden, dass Sie von der aktuellen Entwicklung längst eingeholt sind. ({0}) Konkret: Heute Abend wird im Kanzleramt das Thema Asyl- und Flüchtlingspolitik gemeinsam mit allen Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten der Bundesländer - das ist der richtige Weg - beraten. ({1}) Sabine Weiss ({2}) Wir wissen - auch das müssen Sie uns nicht sagen -, dass die weltweiten Flüchtlingsströme noch nie so groß waren wie jetzt. Wir wissen auch, dass immer mehr Menschen auf dem Weg nach Europa sind. Sie wollen in Sicherheit leben und wollen fern von Bürgerkriegen und Krisen eine sichere Existenz. Aber die für uns als Zielland vieler Flüchtlinge entstehenden Herausforderungen müssen eben Bund, Länder und Kommunen gemeinsam stemmen. Das Konzept dazu wird heute im Kanzleramt abgestimmt. Dabei werden Maßnahmen für alle Flüchtlinge, Asylsuchende und Geduldete verabredet. Es geht dabei um ein ganzes Bündel von Maßnahmen: Sprachkurse, Fragen der Bildung und Berufsvorbereitung, Arbeitsmarktintegration, Unterbringung, Gesundheitsversorgung und Personalausstattung der beteiligten Behörden. Aber schauen wir uns nun einige Forderungen aus Ihrem Antrag etwas genauer an. Thema Sprachkurse. Sprachkurse gibt es bereits für unterschiedliche Zielgruppen. Mittel dafür sind bis Ende 2016 eingestellt. Die Ministerin hat für die Zeit danach bereits weitere Mittel beantragt und setzt sich darüber hinaus auch für ein Bundesprogramm Sprachkurse ein. ({3}) Auch im Bundeskanzleramt werden heute Abend zusätzliche Finanzmittel für Sprachkurse ein wichtiges Thema sein. Im Übrigen - das als deutlicher Hinweis von meiner Fraktion - kann nicht verlangt werden, dass Sprachund Integrationskurse für alle Menschen, ungeachtet ihrer sicheren Bleibeperspektive, vom ersten Tag ihres Aufenthaltes an angeboten werden. ({4}) Ein Beispiel: Es gab im Jahre 2014 rund 60 000 Asylbewerber vom Balkan, die zu 99 Prozent keine sichere Bleibeperspektive in Deutschland erhalten. Sprachkurse machen aber nur Sinn für die Menschen, die hier auf Dauer leben werden. Dies entscheidet sich eben nicht gleich am ersten Tag, sondern das braucht Zeit. Thema „Qualifikation und Bildungsabschlüsse“. Die zügige Anerkennung beruflicher Qualifikation ist Sache der Länder. Im Kanzleramt wird auch heute wieder gemeinsam mit diesen über die Stellenaufstockung in den zuständigen Behörden und deren adäquate personelle Ausstattung verhandelt. ({5}) Im Übrigen hilft zum Beispiel das Bundesprogramm zur frühen Kompetenzanerkennung von Flüchtlingen, Möglichkeiten zur Berufsanerkennung zu erschließen und zu begleiten - und das ist nur ein Programm von vielen. Die Überprüfung und Anerkennung von beruflichen Qualifikationen sollten außerdem sehr sorgfältig betrieben werden. Das braucht Zeit. Ich möchte - das am Rande bemerkt - beispielsweise nicht von einem Zahnarzt behandelt werden, der in Wahrheit nicht den notwendigen Berufsabschluss hat. Es ist also eben kein reflexhaft populistisches Handeln gefragt, sondern es geht um Rechtssicherheit für potenzielle Arbeitgeber und deren Kunden, aber auch für die künftigen Arbeitnehmer selbst. Wir wollen nicht, dass Arbeitgeber Zuwanderer und Flüchtlinge nicht oder nicht mehr einstellen, weil sie Stress, Haftungsfragen, Rechtsunsicherheit und zusätzliche Belastungen fürchten. Denn da gäbe es letztlich nur Verlierer. Lassen Sie mich aber noch auf einige Aspekte mit Blick auf die Entwicklungspolitik eingehen. In der Entwicklungspolitik wird im Zusammenhang mit der wachsenden Zahl von Flüchtlingen und Asylsuchenden immer wieder über die Bekämpfung von Fluchtursachen gesprochen. Damit ist nachhaltige Entwicklungspolitik gemeint, also eine Politik, die die wirtschaftlichen und sozialen Lebensbedingungen der Menschen in ihren Herkunftsländern so stärkt, dass der Druck abnimmt, das eigene Heimatland zu verlassen. Dazu gehört auch, dafür zu sorgen, dass sich die gebildeten und ausgebildeten Menschen nicht alle auf den Weg zu uns machen müssen, sondern eine Chance erhalten, sich in ihren eigenen Ländern eine auskömmliche Lebensgrundlage zu schaffen. Damit werden dann auch wieder die Heimatländer, die Herkunftsländer gestärkt. ({6}) Es gibt viele Länder, in denen durch die Abwanderung Fachkräftemangel entstanden ist: Mehr als ein Drittel der in Südafrika ausgebildeten Ärzte verlässt das Land wegen einer Arbeit im Ausland. In Kenia herrscht Ärztemangel, weil kenianische Ärzte nach Großbritannien auswandern. In Simbabwe bricht das Gesundheitssystem zusammen, während 18 000 Krankenschwestern aus Simbabwe im Ausland arbeiten. Mehr als 20 Prozent der Hochschulabsolventen in Mosambik und Angola gehen nach der Ausbildung ins Ausland und stehen für den nachhaltigen Aufbau in ihren Heimatländern nicht zur Verfügung. All das kann nicht in unserem Interesse sein. ({7}) Deshalb brauchen wir einen ausgewogenen Ansatz für den Umgang mit dem Zustrom von Menschen aus dem Ausland. Ein solcher Ansatz muss die Interessen aller betroffenen Menschen wahren, organisatorisch und finanziell von den zuständigen Stellen umsetzbar sein und negative Rückwirkungen auf die Herkunftsländer vermeiden. Jetzt noch einmal abschließend: Ein solches Konzept für Deutschland wird heute beim Flüchtlingsgipfel besprochen. Nicht allein der Bund ist hier in der Pflicht und Verantwortung, sondern alle Akteure. Auch die Länder und die Kommunen müssen gleichgerichtet mitziehen. Und da sind wir dann als Parlamentarier auch in diesem Hause auf allen Ebenen gefragt. Deshalb ist der Antrag der Grünen aus meiner bzw. aus unserer Sicht - abgesehen von inhaltlicher Kritik einfach überflüssig und an dieser Stelle nicht sinnvoll. Sabine Weiss ({8}) ({9}) Lassen Sie uns also gemeinsam mit den Bundesländern den Einsatz des Bundeskanzleramtes unterstützen und dafür in der Gesellschaft - jeder in seiner Region, in seinem Wahlkreis - werben. An dieser Stelle möchte ich die Gelegenheit nutzen und es nicht versäumen, Dank an die vielen Menschen überall in Deutschland auszusprechen, die sich ehrenamtlich mit ganzem Herzen um alle Belange der Flüchtlinge und Asylsuchenden kümmern. ({10}) Ich denke, da spreche ich auch im Namen meiner Kolleginnen und Kollegen. Dieses Engagement ist mit keinem Geld zu bezahlen. Herzlichen Dank. ({11})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nächste Rednerin ist die Kollegin Sabine Zimmermann für die Fraktion Die Linke. ({0})

Sabine Zimmermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003869, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Weiss, ich weiß nicht, woher Sie die Gewissheit nehmen, dass heute Abend beim Kanzleramtsgipfel etwas herauskommen wird. Ich bin mir gar nicht so sicher, dass sich die Regierung bewegen und den Kommunen mehr finanzielle Unterstützung - vor allen Dingen in den Bereichen Unterbringung und Gesundheit - geben wird. Denn da gibt es große Probleme. Wenn Sie sich das vor Ort anschauen würden, würden Sie auch wissen, dass es so ist. ({0}) - Nein, ich glaube eher nicht, dass Sie die Realität kennen. ({1}) Meine Damen und Herren, Menschen kommen aus Not nach Deutschland. Viele von ihnen beantragen Asyl, weil es für sie lebensgefährlich ist, in ihre Heimatländer zurückzukehren. Das gilt auch für Mohamed Moussa aus Syrien. Der schreibt in seiner Geschichte: Ich bin 41 Jahre alt. … Ich bin Kardiologe. Ich bin wegen des Kriegs in Syrien nach Deutschland gekommen. Ich hatte einen sehr guten Job in Syrien, deswegen habe ich nie daran gedacht, nach Deutschland zu gehen. … Und so habe ich es … gemacht. Weil es keinen anderen Weg gab. Er ist verheiratet und hat vier Kinder. Seine Kinder und die restliche Familie sind noch in Jordanien. Er ist der Erste, der jetzt hierherkommt, und er hofft, dass seine Familie bald nachkommen wird. Viele verlassen schweren Herzens ihre Heimat und begeben sich auf eine gefährliche Reise. Nach vielen Umwegen in Deutschland angekommen, beantragen sie Asyl, wollen ein neues Leben beginnen und durch ihrer Hände Arbeit ihren Lebensunterhalt verdienen. Sie stellen dann aber fest, dass ganz hohe Hürden vor ihnen liegen. Wir alle hier im Saal sollten uns vielleicht einmal für einen Moment in ihre Lage versetzen und darüber nachdenken, wie es für uns wäre, wenn wir in der gleichen Situation Hilfe und Unterstützung bräuchten. ({2}) Es braucht Gesetze und Regelungen, die denjenigen Menschen, die bei uns Schutz, Zuflucht und eine neue Heimat suchen, helfen und sie nicht weiter ausgrenzen. Genau deshalb fordert die Linke bei der Aufnahme von Flüchtlingen eine Integration von Beginn an. Das, was jetzt hier geschieht, sollte nicht stattfinden. Wir brauchen auch eine ehrliche Debatte. Wir können davon ausgehen, dass der größte Teil der Menschen, deren Asylantrag bewilligt wurde oder die geduldet sind, dauerhaft in Deutschland bleiben wird. Wir als Linke sagen: Unterstützung und Solidarität ist das Gebot der Stunde, meine Damen und Herren! ({3}) Wir sagen, dass die Menschen, die hierherkommen, eine große Bereicherung für uns sind. Sie bringen viele unterschiedliche Kenntnisse, Erfahrungen und Fähigkeiten mit. Wir alle gemeinsam müssen eine Willkommenskultur schaffen, damit Nachbarn miteinander leben und nicht wie Fremde nebeneinander. Lassen Sie mich nun zum Arbeitsmarkt kommen. Ende letzten Jahres wurden zwar einige rechtliche Hürden für den Zugang zum Arbeitsmarkt abgesenkt - so weit, so gut -, aber leider nur abgesenkt und nicht beseitigt. Das ist schlecht, und dazu hätte ich mir einiges mehr im Antrag von den Kolleginnen und Kollegen der Grünen gewünscht. Vieles geht in die richtige Richtung. Das unterstützen wir. Dazu haben auch wir im Januar einen Antrag vorgelegt. Das Arbeitsverbot wurde nicht abgeschafft, es wurde nur die Frist von neun auf drei Monate abgesenkt. Aber leider ist die Realität immer noch eine andere. Denn es besteht weiter die sogenannte Vorrangprüfung, das heißt: Wenn ein Flüchtling arbeiten will und einen konkreten Arbeitsplatz in Aussicht hat, muss die Arbeitsagentur oder das Jobcenter in den ersten 15 Monaten seines Aufenthaltes prüfen, ob es nicht andere EU-Bürgerinnenund -Bürger gibt, die diese Arbeit auch machen können. Diese Regelung führt faktisch in die Nichtarbeit, so die verantwortlichen Arbeitsvermittler. Das ist nicht hinnehmbar, meine Damen und Herren. ({4}) Sabine Zimmermann ({5}) Aber selbst für diejenigen, bei denen die rechtlichen Einschränkungen nicht greifen, gestaltet sich die Suche nach einem Arbeitsplatz oder einer Ausbildung sehr schwierig. Es gibt Unwägbarkeiten und Stolpersteine. Wie sieht es konkret aus? Natürlich muss der erste Schritt das Erlernen der deutschen Sprache sein. Aber wir wissen: Nur eine Minderheit der Asylsuchenden bekommt die Möglichkeit, einen Sprachkurs zu machen. Zu den Integrationskursen des Bundes haben sie grundsätzlich gar keinen Zugang. Die Bundesregierung muss dafür sorgen, dass es endlich ausreichend Angebote und ein Recht auf einen Sprachkurs gibt, meine Damen und Herren. ({6}) Hinzu kommt bei vielen eine unsichere Perspektive. Sie wissen oft lange nicht, ob sie wirklich bleiben dürfen. Sie alle können sich doch vorstellen, dass man, wenn man von Abschiebung bedroht ist, in ständiger Angst und ständiger Verzweiflung lebt. Wir fordern deshalb schnelle und faire Asylverfahren und ein großzügiges Bleiberecht für langjährig Geduldete. Es darf doch nicht sein, dass die Menschen, die aus großer Not zu uns kommen, hier dauerhaft in der Schwebe und in Unsicherheit gehalten werden. Ein großes Problem sind auch die unzureichenden Verfahren zur Anerkennung der Qualifikationen und Berufsabschlüsse. Wir sagen: Diese Verfahren müssen frühzeitig ansetzen und leichter zugänglich sein. ({7}) Auch die Kosten von nicht selten über 1 000 Euro für Gebühren und Übersetzungen sind für viele Betroffene eine große Hürde. Sie muss abgeschafft werden. ({8}) Völlig unverständlich ist mir auch, dass Menschen, die in Ausbildung sind, abgeschoben werden können. Hier ist eine Änderung der Rechtslage überfällig. Das kann man doch nicht so lange hinnehmen. ({9}) Meine Damen und Herren, leider muss ich an dieser Stelle ein bitteres Fazit ziehen: Diese Bundesregierung ist weit davon entfernt, Asylsuchenden und Geflüchteten einen uneingeschränkten Zugang zum Arbeitsleben in Deutschland zu gewähren, von einem sicheren Bleibestatus ganz zu schweigen. Deshalb kann ich Ihnen sagen, dass meine Fraktion keine Ruhe geben wird, dass wir weiter Druck machen werden, bis sich die Verhältnisse so geändert haben, dass man mit Fug und Recht sagen kann, dass es menschenwürdige Bedingungen für Asylbewerberinnen und Asylbewerber gibt. Sie können lachen, aber so ist es. Das ist für mich ein Zeichen, dass Sie das nicht ernsthaft wollen. Danke schön. ({10})

Peter Hintze (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000907

Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abgeordneten Daniela Kolbe, SPD-Fraktion. ({0})

Daniela Kolbe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004079, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Geschätzte Kolleginnen und Kollegen! Vor fast genau einem Jahr stand ich hier und habe zu genau diesem Thema eine Rede gehalten, damals zur ersten Lesung des Entwurfs eines Gesetzes zur Aufhebung des Arbeitsverbotes für Asylsuchende und Geduldete. Unser Ziel war damals, Geflüchteten eine möglichst frühzeitige Teilhabe an unserer Gesellschaft durch Integration auf dem Arbeitsmarkt zu ermöglichen und die oft jahrelange erzwungene Untätigkeit von Geduldeten zu beenden. Ich denke, wir alle waren in den letzten Tagen in Unterkünften für Asylsuchende; wir wissen, dass genau das das Schlimmste ist. ({0}) Die Menschen wollen eigentlich keine Sozialleistung haben, sie wollen für ihre Familien sorgen und arbeiten. Mit diesem Gesetz haben wir ihnen das ermöglicht. Es ist gut für die Betroffenen, es ist gut für die Unternehmen und für die Gesellschaft. Wir haben also eine ganz klare Win-win-win-Situation geschaffen. ({1}) Heute, ein Jahr später, stehe ich hier an der gleichen Stelle und muss mich mit Blick auf den Antrag der Grünen und das, was Katrin Göring-Eckardt jetzt gerade und Frau Pothmer via Welt gesagt haben, des Vorwurfs erwehren, die Bundesregierung sei auf diesem Feld untätig. So ein Quatsch! ({2}) Was haben wir innerhalb dieses Jahres erreicht? Sehr viel. Innerhalb eines Jahres haben wir die grundsätzlichen Voraussetzungen dafür geschaffen, dass Asylsuchende überhaupt arbeiten können. Das Gesetz ist erst im November letzten Jahres verabschiedet worden und im Dezember in Kraft getreten. Erst seitdem können Geduldete und Asylsuchende nach drei Monaten Arbeit aufnehmen. Nach 15 Monaten besteht auch keine Vorrangprüfung mehr, sondern nur noch die Gleichwertigkeitsprüfung - was vollkommen in Ordnung ist, um Ausbeutung zu verhindern. ({3}) Jetzt muss ich sagen: Ich bin sehr oft, ja ständig bei meiner BA, im Jobcenter und frage, ob das mit der Vorrangprüfung ein Problem ist. Ich bekomme da andere Antworten als Sie. ({4}) Wenn es nach meiner Fraktion ginge, könnten wir die Frist von 15 Monaten gerne noch streichen. Aber das ist nicht der Punkt. Die vorhandene gesetzliche Grundlage ist wirklich gut. ({5}) Wir müssen noch an der Umsetzung arbeiten - gar keine Frage -, aber wir haben da Ende letzten Jahres einen Riesenschritt gemacht. ({6}) Früher, das heißt vor einem halben Jahr, gab es ein De-facto-Arbeitsverbot. Jetzt gibt es den Wunsch der gesamten Gesellschaft: Leute, die ihr hierherkommt und Asyl sucht, geht arbeiten! - Das ist ein grundsätzlicher Paradigmenwechsel in der Flüchtlingspolitik, den wir, die Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten, erkämpft und erstritten haben und in den Koalitionsvertrag hineinverhandelt haben, und wir haben ihn umgesetzt. ({7}) Mir ist an der Stelle ein Punkt sehr wichtig: Auch wenn der Zugang zum Arbeitsmarkt für Flüchtlinge ökonomisch und sozial äußerst sinnvoll ist, reden wir beim Thema Asyl über ein Grundrecht; wir unterscheiden im Asylrecht nicht danach, ob jemand gut oder schlecht ausgebildet ist, sondern danach, ob er oder sie verfolgt ist oder nicht. Das wird so bleiben, und das ist auch gut so. ({8}) Gleichzeitig ist es so: Wenn die Menschen einmal da sind, dann sollen sie ihre Fähigkeiten und Fertigkeiten - das, was sie mitbringen - in unsere Gesellschaft einbringen können. Frau Pothmer hat recht, wenn sie in der Welt sagt - das steht auch im Antrag -, dass wir die Rahmenbedingungen noch verbessern müssen, damit die Menschen tatsächlich arbeiten können. Es liegt auf der Hand, welche Punkte da anzugehen sind und auch schon angegangen werden: Vermittlung von Sprachkenntnissen, Anerkennung der Abschlüsse sowie Beratung und Vermittlung. Das sehen wir auch so. ({9}) Man muss kein Experte sein, um das zu erkennen. Das wurde schon vor längerem erkannt: Die Bundesagentur für Arbeit hat bereits Anfang 2014 ein Pilotprojekt auf den Weg gebracht. Es heißt „Early Intervention“. Da arbeiten BA und BAMF an sechs Standorten zusammen. Man fragt sich jetzt vielleicht: Warum die BA? Für Feinschmecker: Es ist, wie alles in Deutschland, kompliziert. Für Asylsuchende ist die Bundesagentur für Arbeit zuständig; sie gehören also zum Rechtskreis des SGB III. Wenn sie anerkannt worden sind, sind die Jobcenter im Rechtskreis des SGB II zuständig. Es ist schon ganz spannend, was wir da mit Menschen veranstalten, die zu uns kommen. Das wäre durchaus eine Diskussion wert. Die BA fragt erst einmal: Was bringt ihr mit? Wir wissen das nämlich gar nicht so genau. Angesichts des Paradigmenwechsels vor einem halben Jahr müssen wir hier tatsächlich noch viel verändern. Wir wissen heute nicht, welche Ausbildung Flüchtlinge mitbringen. Sie werden derzeit nur sporadisch gefragt, ob sie freiwillig angeben möchten, welche Ausbildung sie haben. Im Rahmen von „Early Intervention“ wird danach gefragt, und dann wird direkt in die intensive Vermittlung eingestiegen. Wir müssen uns solche Angebote anschauen, sie verstetigen und erweitern. Das ist genau der Weg, den wir gehen. Wir können aus den Zwischenergebnissen von „Early Intervention“ lernen. Es gibt eine Zwischenevaluation, die man sich einmal anschauen kann. Das Thema der Vorrangprüfung steht da nicht im Mittelpunkt. Ein anderes Thema wird dort ganz massiv angesprochen, nämlich die Frage der flächendeckenden Bereitstellung von Deutschkursen. Das ist der zentrale Punkt, wenn es darum geht, die Menschen wirklich vermitteln zu können. ({10}) - Genau: Macht es doch! - Da sind wir auch dran. Es geht einerseits um die Öffnung der Integrationskurse, das heißt: Grundspracherwerb, damit ich mich draußen verständigen kann, im Leben zurechtkomme. Im Bundesministerium des Innern wird derzeit über die Öffnung der Integrationskurse debattiert. Es ist aus meiner Sicht überfällig, dass auch Asylsuchende Zugang zu Integrationskursen bekommen. ({11}) Über die Details wird noch debattiert - das ist auch in Ordnung -, aber ich denke, die Öffnung wird kommen. Zweiter Punkt. Wir brauchen mehr Ressourcen für berufliche Sprachkurse. Ich denke, wir alle hier im Hause unterstützen die Forderung von Andrea Nahles, mehr Ressourcen zur Verfügung zu stellen, sodass die Ärzte Ärztedeutsch und die Ingenieure Ingenieurdeutsch lernen können. Das ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe und gut investiertes Geld. ({12}) Wir haben übrigens - das war eben auch ein Vorwurf - die Asylsuchenden bereits bei der gesetzlichen Regelung der assistierten Ausbildung mit bedacht. ({13}) Auch asylsuchende junge Menschen haben Zugang zu assistierter Ausbildung; das ist ein ganz wichtiger Punkt. In Bezug auf das Bleiberecht sind wir in der Diskussion, um einen gesicherten Aufenthalt für junge Geduldete zu schaffen, wenn sie eine Ausbildung machen. ({14}) Wir tun hier jede Menge. Sie sehen: Es ist beileibe nicht so, dass wir untätig wären, sondern der Zug ist in Bewegung, und zwar genau in die richtige Richtung. ({15}) Sie können sich darauf verlassen, dass wir auch weiterhin Dampf machen werden. ({16})

Peter Hintze (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000907

Frau Kollegin, apropos Bewegung. Auf Parlamentsdeutsch gesagt: Die Redezeit ist leider abgelaufen. ({0})

Daniela Kolbe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004079, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Das stimmt.

Peter Hintze (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000907

- aber versuchen Sie, zum Schluss zu kommen. ({0})

Daniela Kolbe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004079, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Gut. - Was soll ich sagen? ({0}) Der Zug ist auf dem richtigen Gleis, und er wird ans Ziel kommen. Sie können uns gerne dabei begleiten. Ich denke, dass Sie viel Gelegenheit haben werden, uns Applaus zu spenden; denn eigentlich machen wir genau das, was Sie in Ihrem Antrag fordern. ({1}) Das ist Regierungshandeln oder Regierungsverhandeln. Von daher: Gerne auch Applaus von Ihrer Seite. ({2})

Peter Hintze (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000907

Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abgeordneten Brigitte Pothmer, Bündnis 90/Die Grünen. Bitte schön.

Brigitte Pothmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003823, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sehr verehrte Frau Weiss, Ihre Rede hat vor allen Dingen eines dokumentiert: Die CDU ist in dieser Frage immer noch Teil des Problems und nicht Teil der Lösung. ({0}) Wenn Sie hier sagen, die Integration von Asylbewerbern und Flüchtlingen sei eine Aufgabe von Bund, Ländern und Kommunen, dann müssen Sie uns erklären, warum dann die Kommunen bei diesem Gipfel nicht einmal am Katzentisch sitzen. ({1}) Wenn sowohl Sie als auch Frau Kolbe hier sagen: „Es ist doch alles gut“, ({2}) dann frage ich Sie, Frau Kolbe: Warum fordert dann Ihre eigene Ministerin ein Sonderprogramm? Hat sie ihre Rolle nicht verstanden? Sie ist nicht Opposition, sie ist Regierung. ({3}) Sie soll keine Forderungen an sich selber stellen, sie soll machen, verdammt noch mal! ({4}) Das, was wir Ihnen mit unserem Antrag vorlegen, ist auch ein Investitionsprogramm in die Zukunft. Wir wollen in die Asylbewerberinnen und Asylbewerber investieren. Wir wollen sie unterstützen, damit sie einen Zugang zu Ausbildung und Arbeit finden. ({5}) Das ist gut für die Menschen, die vor Krieg, Elend und Verfolgung flüchten, das ist aber auch gut für die Gesellschaft in Deutschland. ({6}) Es kann doch nicht nur darum gehen, dass die Menschen hier überleben. Sie müssen hier ankommen, sie müssen leben. Wenn sie hier leben wollen, dann gehört dazu, dass sie hier arbeiten und hier ihren Lebensunterhalt verdienen, ({7}) und die Grundvoraussetzung dafür ist die deutsche Sprache. ({8}) Wir müssen die Sprachkurse allen, aber auch allen Asylbewerberinnen und -bewerbern von Anfang an zur Verfügung stellen, und zwar unabhängig von der Bleibeperspektive, liebe Frau Weiss. ({9}) Frau Kolbe, Sie sagen hier, dass wir doch schon so viel geschafft haben. Ja, wir haben den erleichterten Arbeitsmarktzugang. Aber dieser Arbeitsmarktzugang läuft doch ins Leere für diejenigen, die keinen Sprachkurs machen, die kein Deutsch sprechen. ({10}) Auch bei der Anerkennung beruflicher Abschlüsse muss unheimlich viel nachgesteuert werden: Immer noch arbeiten die Asylbewerberinnen und Asylbewerber unter ihrem Qualifikationsniveau. Das ist schlecht für die Menschen, aber auch schlecht für uns hier in Deutschland. Also: Da gibt es unheimlich viel zu tun. ({11}) Wenn die Asylbewerber immer noch monatelang auf einen Termin im Jobcenter warten, dann bleibt der Wunsch, hier einen Arbeitsplatz zu finden, doch ein frommer Wunsch. Deswegen müssen wir da sehr, sehr viel tun. Unter den Flüchtlingen - das wissen Sie - sind viele Fachkräfte. Die BA hat herausgefunden, dass ungefähr die Hälfte eine akademische Ausbildung oder eine Berufsausbildung hat. Bei dem Modellprojekt „Early Intervention“ - das kein Modellprojekt bleiben darf - haben 40 Prozent der Teilnehmer einen Hochschulabschluss und weitere 25 Prozent eine Berufsausbildung. Die Wirtschaft - Frau Göring-Eckardt hat es gesagt - hat längst erkannt, dass hier ein enormes Potenzial ist. Wenn alles so gut ist, wie es hier dargestellt wird, warum gibt es dann die Forderung der IHKs, warum gibt es dann die Forderung des Arbeitgeberverbandes, hier wirklich dringend etwas zu tun? ({12}) Ich frage Sie, warum diese Behörde, die immer so zurückhaltend ist, die Bundesagentur für Arbeit, mit massiven Forderungen, da Verbesserungen herbeizuführen, an die Öffentlichkeit geht. Sie weiß, es kommt darauf an, die Flüchtlinge früh und schnell zu unterstützen. Natürlich kostet das Geld, aber ich sage Ihnen: Das ist wirklich eine gute Investition in die Zukunft. Die Investition in Fähigkeiten und Fertigkeiten zahlt sich mehrfach aus. Ich sage Ihnen etwas, Frau Weiss: Diese Investition zahlt sich sogar aus, wenn die Flüchtlinge in ihre Heimatländer zurückkehren. Sie von der Union sind doch diejenigen, die immer, auch jetzt in Ihrer Rede, sagen: Wir müssen die Bedingungen in den Herkunftsländern so gestalten, dass die Menschen da nicht rausgedrängt werden. ({13}) Ja, aber es hilft doch, wenn sie dann in ihre Länder zurückkehren mit neuen Kontakten, mit neuen Qualifikationen. ({14}) Dann können sie mittun und die Bedingungen dort verbessern. ({15}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Welt ist nicht gerecht: Meine Redezeit ist gleich abgelaufen. ({16}) Lassen Sie mich Folgendes -

Peter Hintze (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000907

Darf ich mal kurz korrigieren: Sie war schon abgelaufen. ({0}) Aber es gibt ja rhetorische Tricks. Sie dürfen noch weiter sprechen.

Brigitte Pothmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003823, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Lassen Sie mich bitte noch sagen: Deutschland hat einmal schwer versagt: als es um die Integration von Gastarbeiterinnen und Gastarbeitern und ihren Kindern ging. Das ist uns teuer zu stehen gekommen, dafür zahlen wir noch heute, sozial und ökonomisch. ({0}) Lassen Sie uns diesen Fehler nicht wiederholen! ({1}) Stimmen Sie unserem Antrag zu, unterstützen Sie unsere Forderungen! Danke schön. ({2})

Peter Hintze (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000907

Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abgeordneten Jutta Eckenbach, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Jutta Eckenbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004265, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Pothmer, als ich gerade Ihre Rede gehört habe und auch die Äußerungen von Frau Göring-Eckardt, habe ich mich gefragt: Wo waren Sie eigentlich in den letzten Monaten, als wir etwas getan haben? Haben Sie sich weggeduckt? Sie kommen heute mit einem Antrag und mit einer Pressemitteilung, Frau Pothmer, die eigentlich wieder nichts anderes macht, als die Welt - Sie machen sie sich sowieso sehr einfach - in Gut und Böse einzuteilen: Die Grünen sind bei Ihnen die Guten, und wir sind alle die Bösen. ({0}) Nein, das werden wir nicht mitmachen. ({1}) Wir waren in der Vergangenheit gut, und wir sind auch heute gut. Eines vorweg, was mich die ganze Zeit wirklich wahnsinnig geärgert hat. - Wenn Sie mir zuhören würden, könnten Sie an dieser Stelle auch noch etwas lernen; denn Ihre Anträge weisen immer wieder aus, dass Sie bestimmte Dinge vielleicht nicht verstehen. Das gilt für Frau Göring-Eckardt, das gilt genauso für Frau Pothmer; aber der Blick aufs Telefon ist im Moment, glaube ich, wichtiger. Machen wir uns in dieser Frage doch mal eines klar: Wenn ein Flüchtling Deutschland erreicht hat, kommt er in ein Aufnahmelager. Er hat vieles durchlebt, ist unter Umständen traumatisiert oder wurde von der Familie weggerissen. Und dann? Dann belegen wir ihn mit Sprachkursen und der Forderung, eine Arbeit aufzunehmen. - Das alleine soll reichen? Nein, das reicht bei Gott nicht. Deswegen werden wir Ihre Forderung - Sprachkurse von Anfang an - nicht aufgreifen. Es geht immer darum, den einzelnen Menschen zu stabilisieren, ihn mitzunehmen, damit er seine Fachkenntnisse hier einbringen kann. Darum geht es. Ich will noch einen Punkt ansprechen, den wir deutlich anders sehen als Sie - der DIHK und der Deutsche Städtetag sehen das übrigens genauso wie wir -: Wir sollten für die Menschen, die ein Bleiberecht haben und für viele Jahre in Deutschland sind, besser Sorge tragen und sie als Fachkräfte ausbilden. Ich will das, was die Kollegin Sabine Weiss vorhin gesagt hat, deutlich unterstreichen: Wir unterstützen die Forderung - das wird auch beim heute Abend stattfindenden Flüchtlingsgipfel mit Vertretern des Bundes und der Länder herauskommen -, dass wir auch dafür Sorge tragen müssen, dass die Menschen in ihren Heimatländern unterstützt werden. Es darf nicht erneut dazu kommen, dass uns der Außenminister des Kosovo davor warnt, die Menschen hierzulassen, weil das Kosovo sonst ausblute. Das wollen wir nicht. Das will ich in aller Deutlichkeit für die CDU/CSU-Fraktion sagen. ({2}) Lassen Sie mich auf das hinweisen, was wir alle miteinander bereits auf den Weg gebracht haben; denn es ist ja nicht so, dass wir nichts getan haben. Seit 2009 ist es für geduldete Migranten einfacher, eine duale Ausbildung aufzunehmen. Rechtliche Hürden wurden damals abgebaut und Perspektiven eröffnet: Mit einer Ausbildung und einer qualifizierten Beschäftigung können sie leichter eine Aufenthaltserlaubnis erhalten. 2012 wurde mit dem sogenannten Anerkennungsgesetz ein Rechtsanspruch auf eine Gleichwertigkeitsprüfung der im Ausland erworbenen Berufsqualifikation geschaffen. 2014 wurde das Arbeitsverbot für Asylsuchende auf drei Monate beschränkt. ({3}) Mit all dem sind wir - das ist heute Morgen schon gesagt worden - auf dem richtigen Weg, Frau Pothmer. Aktuell wird unter der Federführung des Innenausschusses über Änderungen im Bleiberecht diskutiert. Auch das ist eine wichtige Frage, wenn wir über geduldete Jugendliche und unbegleitete jugendliche Flüchtlinge in Deutschland reden. An dieser Stelle möchte ich deutlich machen, dass vieles aufgrund der heutigen Gesetzgebung bereits möglich ist. Dabei sind drei Stadien zu unterscheiden: Erstens. Das Asylverfahren ist noch nicht abgeschlossen: Solange sich Asylsuchende im Asylverfahren befinden, darf der Aufenthalt nicht beendet werden. Eine Abschiebung muss nicht befürchtet werden. Zweitens. Eine Anerkennung als Asylberechtigter ist erfolgt oder ein subsidiärer Schutzstatus wurde durch das Bundesamt für Migration anerkannt: Dann kann die Ausbildung ebenso uneingeschränkt fortgesetzt werden. Drittens. Wenn dies nicht gegeben ist, gibt es immer noch die Möglichkeit, unter Bezugnahme auf das Aufenthaltsgesetz eine Duldung aus dringenden persönlichen Gründen zu erwirken, um einen Aufenthalt bis zum Ende der Ausbildung zu ermöglichen. Sie sehen, meine Damen und Herren von den Grünen und den Linken: Bereits heute erhalten die Auszubildenden und die Ausbildungsbetriebe die Sicherheit, dass die Investition in die Berufsausbildung nicht vergebens ist. Wir müssen an die Arbeitgeber appellieren; denn sie sollten sich noch ein wenig deutlicher für diese Menschen einsetzen und sie befähigen, eine Ausbildung zu absolvieren. Ich will gar nicht abstreiten, dass es Verbesserungsmöglichkeiten gibt, dass es noch weitere Verbesserungen geben muss. In dem Antrag der Grünen wird gefordert, das Erlernen der deutschen Sprache sofort zu ermöglichen. Ich habe gerade schon einmal versucht, unsere Meinung dazu deutlich zu machen: Erst einmal muss der Status geklärt werden. Die Menschen müssen stabilisiert werden. Das Erlernen der deutschen Sprache ist das Wichtigste überhaupt; aber es geht auch darum, beim Erlernen der deutschen Sprache auf die spezifischen Besonderheiten einzugehen. Das ist ganz wichtig; denn wir müssen die Fachkräfte befähigen, in ihren Berufen tätig zu sein. Sie sollten nicht irgendeinen Beruf aufnehmen müssen. In der Tat ist es richtig, dass die Menschen arbeiten gehen wollen. Ich möchte aber nicht, dass ein Mediziner in irgendeinem Landschaftsgartenbaubetrieb tätig ist. Nichts gegen Landschaftsgärtner, aber der Mediziner muss als Mediziner eingesetzt werden können. Auch die Pflegerin muss als Pflegerin eingesetzt werden können. Auch sie sollte nicht irgendeinen Beruf aufnehJutta Eckenbach men müssen. Die Bedingung dafür ist, dass wir das entsprechende Programm der BA stärken. ({4}) Das sollten wir in aller Ruhe machen. Das bedeutet Zeit, das bedeutet Geduld, und das wird nicht von heute auf morgen gehen. Die Welt ist nicht einfach, Frau Pothmer. Die Welt ist etwas komplizierter. Wir können sie uns in Deutschland auch nicht einfach stricken. Manches bedarf Zeit. Qualifizierung braucht Zeit, und die müssen wir uns auch nehmen. Lassen Sie mich noch auf eines eingehen - ich denke, auch das ist eine wichtige Geschichte, die wir hier angehen müssen -: Wir müssen immer den Handlungsbedarf sehen und reagieren. Wir haben heute Abend eine große Runde mit den Ländern. Ich habe jetzt schon zweimal die Frage gehört: Warum sind die Kommunen nicht eingeladen? Wenn Sie unser Föderalismussystem kennen ({5}) - ich denke, Sie sind lange genug dabei, und Sie kennen es mittlerweile -, dann wissen Sie, dass der Bund in dieser Sache natürlich mit den Ländern verhandelt. Hier will ich auf eines hinweisen: Es wäre ganz toll, wenn auch die Bundesländer, und zwar alle Bundesländer, die 500 Millionen Euro, die der Bund zur Verfügung gestellt hat, an die Kommunen weitergeben würden. ({6}) Das ist nämlich nicht in allen Bundesländern so. Dann kämen wir vor Ort an dieser Stelle weiter. ({7}) Zum Zweiten. Die Bundesländer engagieren sich ja. Ich will deutlich machen, dass es zwei Bundesländer gibt, die von sich aus auch eigene Sprachkurse anbieten. Auch das ist etwas, was wir benötigen: Gemeinsamkeiten von Kommunen, Ländern und Bund. Wir werden nicht alles zentral regeln können. Denn ansonsten würden wir an dieser Stelle dem Föderalismus in Deutschland nicht mehr gerecht werden. Ich glaube, das wollen auch Sie nicht; denn das würde vieles aushebeln. Sie können also etwas machen. Sie können es in den Ländern machen. Sie können es auch und gerade in Nordrhein-Westfalen machen. Insofern sind wir darauf gespannt, was kommt. Es ist vorhin von einem Zug die Rede gewesen; Frau Kolbe hat davon gesprochen. Ich denke, Sie sind mit Ihrem Antrag letztendlich auf dem Abstellgleis gelandet. ({8}) Wir sind da weiter. Wir werden Sie überholen, und das wird sich schon morgen herausstellen. Ich danke Ihnen recht herzlich für Ihre Aufmerksamkeit. ({9})

Peter Hintze (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000907

Als nächster Rednerin erteile ich der Abgeordneten Sevim Dağdelen, Fraktion Die Linke, das Wort. ({0})

Sevim Dağdelen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003746, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Frau Kollegin, Sie meinten, Sie würden uns überholen. Ich meine, das ist tatsächlich eine Ansage, auf die ich schon seit zehn Jahren, seitdem ich Mitglied des Bundestages bin, warte. Insofern möchte ich kurz anmerken: Zu Beginn Ihrer Rede meinten Sie, die Grünen würden die Welt in Gut und Böse einteilen. Das Problem ist doch, dass es gerade Ihre Schwesterpartei und Ihr Koalitionspartner, die CSU, ist, die die Welt in Gut und Böse einteilt, gerade in Flüchtlingsfragen, und mit dazu beiträgt, dass es in diesem Land teilweise eine Stimmung gibt, die wirklich flüchtlingsfeindlich und damit auch menschenfeindlich ist. ({0}) Ich möchte Ihren Partner Horst Seehofer zitieren, der - neben NPD und AfD - den Spruch von sich gegeben hat, dass Deutschland nicht das Sozialamt der Welt ist. Ich finde wirklich, das ist nicht nur schändlich, sondern auch wahrheitswidrig, meine Damen und Herren. Laut UNHCR gibt es in Deutschland gerade einmal 5 Flüchtlinge pro 1 000 Einwohner. Ich wiederhole: 5 Flüchtlinge auf 1 000 Einwohnerinnen und Einwohner hier in Deutschland! In Malta sind es 18, in Slowenien 24, im Libanon 260. Aber Sie erzeugen hier durch solche Parolen Stimmung. Das ist schändlich. Sie sollten endlich damit aufhören! Hören Sie auf, Pegida und AfD hinterherzurennen! ({1}) Meine Kollegin ist, was den grünen Antrag betrifft, schon auf einige Kritikpunkte im Hinblick auf die verbliebenen Beschränkungen beim Zugang zum Arbeitsmarkt eingegangen. Ich finde, dass der grüne Antrag zwar in die richtige Richtung geht, hier aber etwas zu kurz springt. ({2}) - Ja. - Für die Linke gilt das Prinzip der gleichen Rechte. Wir machen keine Ausnahmen bei Arbeit und Beschäftigung. Wir unterstützen allerdings die Forderungen des grünen Antrags. ({3}) - Ja, natürlich. Wir machen es auch besser, Herr Kollege; lesen Sie sich unsere Anträge durch. ({4}) Wir stimmen auch nicht im Bundesrat einer Verschärfung des Asylrechts zu und kommen dann mit solchen Anträgen im Bundestag. ({5}) Trotzdem unterstützen wir Ihre Forderungen. Aber Sie müssen eben auch ergänzt werden - Kritik sollte hier erlaubt sein -, damit das Recht auf Arbeit eben nicht von migrationspolitischen Erwägungen abhängig gemacht wird. Wir fordern ein gleiches Recht auf Arbeit von Beginn an. Das beinhaltet eben auch die Abschaffung der sogenannten Vorrangprüfung; meine Kollegin hat es gesagt. Daneben fordert die Linke die Abschaffung der Beschäftigungsverbote, die die Ausländerbehörden gegenüber Personen mit einer Duldung erteilen können. ({6}) Dabei unterstellen die Behörden, dass deren Abschiebung aus Gründen scheitere, die sie selbst zu vertreten hätten, zum Beispiel, weil sie die für die Abschiebung notwendigen Papiere nicht besorgen würden. Oder ihnen wird - zumeist eben auch völlig haltlos - unterstellt, dass sie nur wegen des Sozialhilfebezugs nach Deutschland eingereist seien. Ich frage mich wirklich: Was ist das für ein Wahnsinn? Erst durch das Arbeitsverbot werden die Betroffenen nämlich zwangsweise zu Empfängerinnen und Empfängern von staatlichen Transferleistungen. ({7}) Die Gemeinnützige Gesellschaft zur Unterstützung Asylsuchender e. V. führt hier ein sehr interessantes Beispiel aus Ostwestfalen an - gerade die CDU/CSU sollte hier einmal gut zuhören -: Frau K. ist türkische Staatsangehörige. Sie hat eine Duldung und lebt seit zwölf Jahren in Deutschland. In ihrer Duldung steht: „Beschäftigung nur mit Zustimmung der Ausländerbehörde … gestattet“. Sie hat eine Stelle in der Gastronomie gefunden und beantragt die Arbeitserlaubnis. Doch diese wird ihr verwehrt. Sie sei ja ausreisepflichtig, und eine Arbeitserlaubnis würde dem zuwiderlaufen und zu einer Aufenthaltsverfestigung führen. - So wird sie sich eben trotzdem noch in Deutschland aufhalten, aber arbeiten darf sie nicht. Das bringt auf den Punkt, wie absurd das im Ausländerrecht geregelt ist. Das muss sich ändern. Die Vorrangprüfung und die Beschäftigungsverbote gehören einfach abgeschafft. Ich bin froh, dass Sie gesagt haben: Der Zug hat sich in Bewegung gesetzt. Aber noch mehr würde ich mich freuen, wenn der Zug endlich einmal auf die Zielgerade einbiegen und sich nicht nur im Schneckentempo in Bewegung setzen würde. ({8}) Wir wollen auch die Wohnortverpflichtungen in Flüchtlingsunterkünften und die Einschränkungen der Bewegungsfreiheit durch die Residenzpflicht wirklich umfassend aufheben. Ich glaube nämlich, das ist eines der Integrationshemmnisse für viele Flüchtlinge in Deutschland. Ich möchte auch noch darauf aufmerksam machen, dass wir als Linke es ablehnen, Menschen nur nach ihren Qualifikationen zu bewerten und gerade im Rahmen der Flüchtlings- bzw. Migrationspolitik zu sagen: Sie sind für die deutsche Wirtschaft nützlich; deshalb ist es in Ordnung und muss etwas in der Gesetzgebung geschehen. - Wir sind vielmehr der Auffassung, dass das nur den Nützlichkeitsrassismus fördert und Wasser auf die Mühlen von Pegida ist, in deren Zehnpunkteprogramm auch steht: Fachkräfte sind willkommen, aber der Rest soll draußen bleiben. Das ist eine erschreckende Logik, und ich fordere dazu auf, einfach einmal darüber nachzudenken, welche Auswirkungen man mit so einer Logik hier in Deutschland vielleicht mitbefördert. ({9}) Zuletzt möchte ich auf eine Initiative zum Zeichen gegen Rassismus und Menschenfeindlichkeit und für einen grundsätzlichen Wandel in der Flüchtlingspolitik der Bundesregierung und der Europäischen Union aufmerksam machen. Wir freuen uns, dass es am 20. Juni 2015 eine entsprechende Veranstaltung geben wird, und ich hoffe, an diesem Tag viele Menschen um 13 Uhr am Oranienplatz zu einer Demonstration bis zum Brandenburger Tor anzutreffen - es wird viele Redebeiträge von Flüchtlingsverbänden und Musik geben -, um ein starkes Zeichen zu setzen. Ich hoffe, dass sich auch die CDU/CSU das anschauen kann. Sie, Frau Kollegin, sind herzlich willkommen. Dann können Sie sich vielleicht ein anderes Bild machen. ({10})

Peter Hintze (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000907

Als nächster Rednerin erteile ich der Abgeordneten Kerstin Griese, SPD-Fraktion, das Wort. ({0})

Kerstin Griese (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003440, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Frau Kollegin Dağdelen, wirklich ärgerlich und auch schädlich für diese Debatte ist, ({0}) dass Sie so tun, als sei dieses ganze Land rassistisch und flüchtlingsfeindlich. Das stimmt nicht. ({1}) Wir haben so viel ehrenamtliches Engagement in den Städten, vor Ort, quer durch alle Vereine, Parteien, politische Richtungen und Kirchengemeinden. Es gibt so viel Engagement für Flüchtlinge wie noch nie. Wir haben eine komplett andere Situation als vor 20 Jahren, und ich bin sehr dankbar dafür, dass das so ist. ({2}) Es hilft der Sache nicht, das Gegenteil zu behaupten. Natürlich ist noch nicht alles gut. Vieles kann noch besser werden. Aber wir haben in den letzten Monaten in diesem Bereich so viel verbessert wie noch nie. Wir haben das in dieser Koalition geschafft. Manchmal hat es mich auch gewundert, dass wir es zusammen geschafft haben. ({3}) Wir haben die Arbeitserlaubnis erleichtert, die Residenzpflicht abgeschafft und das Asylbewerberleistungsgesetz verbessert. Wir haben wirklich viel verändert, und wir sind für alle Anregungen dankbar, was man noch mehr tun kann. Für die Flüchtlinge muss noch mehr getan werden - dazu kommen wir noch -, aber so zu tun, als gäbe es nur Rückschritte, ist komplett falsch und hilft der Sache und vor allen Dingen den Flüchtlingen überhaupt nicht. ({4}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, in diesem Jahr werden 400 000 Menschen aus schwerster Not zu uns kommen und bei uns Asyl beantragen. Unser Land will und soll eine Willkommenskultur zeigen. Das kostet Geld. Deshalb ist es gut, dass es heute Abend im Kanzleramt ein Gespräch darüber gibt, wie die Leistungen für Flüchtlinge, für Asylbewerber finanziert werden können. Der Bund hat bereits jeweils 500 Millionen Euro zusätzlich für dieses und noch einmal für nächstes Jahr zur Verfügung gestellt. Auch das ist nicht „nichts“, sondern es ist eine ganze Menge. Aber ich sage auch ganz klar: Es reicht noch nicht aus. Die Situation in den Kommunen zeigt, dass der Bund noch weiter und noch mehr unterstützen muss. ({5}) In der Frage, was eine gelingende Integration ausmacht - darum geht es nämlich -, geht es um drei Bereiche: Gesundheit - dieser Bereich wäre eine eigene Debatte wert -, Sprache und Integration durch Arbeit. Wir konzentrieren uns gerade bewusst auf die Themenfelder Sprache und Arbeit, die auch zusammengehören. Denn gerade nach einer Flucht mit traumatischen Erlebnissen ist es zur Stabilisierung sehr wichtig, hier einen Arbeitsplatz zu finden, soziale Kontakte zu haben, Wertschätzung zu erleben. Oft hilft das dabei, schlimme Erfahrungen zu verarbeiten. Die Grünen fokussieren sich in ihrem Antrag und in der Debatte auf 1 000 neue Stellen bei der Bundesagentur für Arbeit. Das klingt erst einmal gut. Ein Sofortprogramm klingt nach Aktivität. Manchmal nutzt das mehr denjenigen, die laut danach rufen, als denen, für die es sein soll. Ich glaube, wir müssen erst einmal die vorhandenen Aktivitäten besser vernetzen und unterstützen, und wir brauchen eindeutig mehr Mittel für den Spracherwerb. ({6}) Dass wir einen Fachkräftemangel haben, ist schon angesprochen worden. Wir brauchen Menschen, die bei uns leben und arbeiten wollen. Wir brauchen ihre Kenntnisse und Fähigkeiten, und wir brauchen sie mit ihren Familien. Wir wollen sie in dem Willen und Wunsch, rasch Arbeit zu finden, unterstützen, damit sie nicht auf staatliche Leistungen angewiesen sind. Es ist durchaus ein Fortschritt in der Debatte, dass neben den humanitären Argumenten, die mir sehr sympathisch sind und die ich immer in den Vordergrund stelle, jetzt auch ökonomische hinzukommen und die großen Unternehmen, das Handwerk, der Mittelstand und die Arbeitgeberverbände sich für Flüchtlinge engagieren. Die Wirtschaftswoche hat neulich sogar getitelt, „Manager wollen sich um die Flüchtlingspolitik kümmern“, und ein großer Automobilkonzern hat einer Landeshauptstadt Geld für die Einrichtung eines „WelcomeFonds“ gespendet und Flüchtlingsprojekte unterstützt. Diese Aktivitäten helfen, die Stimmung in unserem Land und die Situation der Flüchtlinge zu verbessern. Ich unterstütze das ausdrücklich. ({7}) Ich bin froh, dass jetzt auch die Arbeitgeberverbände eine rasche Integration von Flüchtlingen in den Arbeitsmarkt fordern und dass sie fordern, dass junge Menschen, die hier eine Ausbildung machen, ein Bleiberecht bekommen, damit sicher ist, dass sie sie auch abschließen können. Denn das alles zeigt, dass Flüchtlinge in unserem Land als Bereicherung und Chance erfahren werden. Das ist der Wandel, in dem wir uns befinden, und das ist eine gute und richtige Entwicklung, die wir unterstützen wollen. ({8}) Wir haben schon einiges zur Unterstützung getan. Wir haben die Arbeitserlaubnis nach drei Monaten statt wie früher nach einem Jahr ermöglicht. Wir haben eingeführt, dass die Vorrangprüfung nach kurzer Zeit wegfällt. Die Residenzpflicht haben wir übrigens völlig abgeschafft, Frau Kollegin. Da waren Sie noch im falschen Film; das war veraltet. ({9}) Wir haben im Bereich der Sprachkurse dafür gesorgt, dass die Mittel für die Integrationskurse um 25 Millionen Euro auf 269 Millionen Euro erhöht werden. Das sind wichtige Schritte, aber es muss noch mehr folgen. Es gibt die Sprachkurse, die berufsbezogene Deutschkenntnisse vermitteln, und wir unterstützen ausdrücklich die Forderung von Ministerin Andrea Nahles, dass wir hier mehr Geld brauchen. Wir brauchen ein Anschlussprogramm, ein eigenständiges Bundesprogramm, mit dem die Sprachförderung zur Integration in den Arbeitsmarkt weitergeführt und verbessert wird. Wir brauchen aber auch eine bessere Vernetzung. Denn oft scheitert es an den Schnittstellen. Vielen fehlt der grundständige Sprachkurs; sie brauchen gerade diesen zuerst. Wir müssen zudem die richtig guten Förderprojekte zur Vermittlung in Arbeit, die es bereits gibt, weiterführen und unterstützen. In meinem Heimatbundesland Nordrhein-Westfalen hat die Bundesagentur für Arbeit 32 zusätzliche Vermittlungsfachkräfte eingestellt, die die Potenziale der Flüchtlinge erkennen und sie auf den Arbeitsmarkt vorbereiten sollen. Das ist ein richtig guter praktischer Schritt. ({10}) Sie arbeiten zusammen mit den Bleiberechtsnetzwerken, die eine sehr erfolgreiche Quote haben. Dadurch können tatsächlich viele Menschen vermittelt werden. Meine Kollegin Daniela Kolbe hat schon das Modellprojekt „Early Intervention“ vorgestellt, das ein Beispiel für gelingende Integration durch Spracherwerb, durch Anerkennung der Abschlüsse und durch Vermittlung in Arbeit ist. Wir haben das Förderprogramm „Integration durch Qualifizierung“, das schon seit 2005 daran arbeitet, Menschen mit Migrationshintergrund in Arbeit zu bringen. Auch das ist ein wichtiger Schritt. Ich führe das auf, um deutlich zu machen: Das müssen wir verstetigen, das müssen wir fortführen, das müssen wir auch besser koordinieren. Ich wünsche mir, dass heute Abend im Kanzleramt auch darüber gesprochen wird. Denn wichtig ist, dass eine Jobvermittlung in Zukunft nicht an der Dublin-Regelung scheitern darf. Ein Ausbildungsplatz darf nicht am Aufenthaltsstatus scheitern. Und eine Arbeitsmöglichkeit darf nicht an fehlenden Sprachkenntnissen scheitern. Da wollen und müssen wir noch mehr tun. ({11}) Ein letzter Punkt, der auch dazu gehört und mir am Herzen liegt, ist die Betreuung, Unterbringung und Versorgung unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge. Das sind oft Jugendliche, das sind oft junge Männer, die dringend mehr Unterstützung brauchen. Ich bin sehr froh, dass Bundesfamilienministerin Manuela Schwesig das Programm „Willkommen bei Freunden“ aufgelegt hat, um sich dieser Gruppe, um die man sich bisher viel zu wenig gekümmert hat, anzunehmen und ihr eine Perspektive zu geben, sie zu begleiten und möglichst in eine Ausbildung zu vermitteln. ({12}) Es liegen viele Chancen darin, dass Menschen zu uns kommen. Wir arbeiten daran, ihre Situation zu verbessern. Ich appelliere noch einmal eindeutig an die Runde heute Abend im Kanzleramt: Wir brauchen dafür mehr Geld: mehr Geld für Sprachkurse, für die Unterstützung der Kommunen, für die Fortführung der erfolgreichen Projekte zur Arbeitsvermittlung. Wir brauchen eine gemeinsame Kraftanstrengung von Bund, Ländern, Kommunen und Zivilgesellschaft, damit wir ein Land sind, das Menschen willkommen heißt und ihnen eine Chance gibt - eine Chance auf gute Arbeit und gutes Leben. Vielen Dank. ({13})

Peter Hintze (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000907

Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abgeordneten Andrea Lindholz, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Andrea Lindholz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004342, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren Kollegen! Natürlich müssen anerkannte Flüchtlinge, die in Deutschland Schutz erhalten und dauerhaft bei uns bleiben, schnell integriert werden. Allerdings muss man ganz klar zwischen Asylbewerbern im Allgemeinen und anerkannten Flüchtlingen unterscheiden. Ihr Antrag blendet diese zentrale Herausforderung der Asylpolitik wie immer aus und verallgemeinert, anstatt klar zu trennen. Asyl dient nach wie vor ausschließlich und in erster Linie dem Schutz von verfolgten Menschen und nicht der Anwerbung von Fachkräften. ({0}) Mehr als die Hälfte aller Asylanträge in Deutschland wird derzeit von Menschen gestellt, die aus dem Westbalkan stammen, obwohl diese Anträge seit Jahren zu nahezu 100 Prozent als offensichtlich unbegründet abgelehnt werden. Im letzten halben Jahr wurden dreimal mehr Asylbewerber vom Westbalkan registriert - dreimal mehr! - als syrische Kriegsflüchtlinge. Nur rund 15 Prozent aller Asylbewerber stammen aus Syrien. Seit dem Ausbruch des Krieges haben über 100 000 syrische Flüchtlinge hier in Deutschland Schutz gefunden. Im Gegensatz zu den Asylbewerbern aus dem Westbalkan, die nicht auf der Flucht sind, suchen sie Schutz vor Krieg und Verfolgung. Die Flüchtlinge aus dem Westbalkan sind auf der Suche nach Arbeit. Viele geben das in den Befragungen auch ganz offen zu. Dass sie auf der Suche nach Arbeit sind, ist auch nachvollziehbar, das ist auch nichts VerAndrea Lindholz werfliches, aber die Regelungen hierfür sind nicht im Asylrecht zu suchen. ({1}) Aktuell sind rund zwei Drittel aller Asylbewerber also nicht schutzbedürftig. Diese abgelehnten Asylbewerber brauchen, so leid es mir tut, keine Integrationshilfen, sondern sie müssen zügig ausreisen. ({2}) Das ist kein Populismus, sondern die ganz klare gesetzliche Rechtslage. ({3}) Wir müssen unser Asylrecht konsequent durchsetzen und abgelehnte Asylbewerber ausweisen und abschieben. Wir riskieren ansonsten die öffentliche Zustimmung für unser Asylsystem. Die vielen aussichtslosen Anträge binden Ressourcen. Wir brauchen diese Ressourcen für die Versorgung der Flüchtlinge, damit diejenigen, die wirklich unsere Hilfe benötigen, Hilfe bekommen und damit die Verfahren schneller erledigt werden können. Wir wecken damit aber auch Hoffnungen in den Herkunftsländern, die wir nicht wecken dürfen. Der im Antrag geforderte Statuswechsel für Asylbewerber zum Beispiel würde einen massiven Fehlanreiz setzen und die Verfahren noch mehr in die Länge ziehen. Es ist nicht unsere Aufgabe, zu prüfen, aus welchem Grund jemand ein Recht hat, zu uns zu kommen. Mich haben in dieser Woche im Bundestag 25 junge Asylbewerber aus einer Berufsschule meines Wahlkreises mit ihren Lehrern besucht. Auf meine Frage, woher sie kommen und wer schon einen Bescheid hat, haben drei von ihnen - syrische Flüchtlinge - geantwortet, bereits einen positiven Bescheid erhalten zu haben. Ein junger Mann hatte einen Duldungsstatus. Alle anderen haben noch auf ihren Bescheid gewartet, auch diejenigen aus den Westbalkanstaaten. ({4}) Die durchschnittliche Verfahrensdauer ist noch zu lang. Sie beträgt laut Statistik sieben Monate, in der Realität geht sie noch darüber hinaus. Auch die Zahl hinsichtlich des Rückstandes ist korrekt. Hieran müssen wir in erster Linie arbeiten. Das ist das aktuell größte Problem für unser Asylsystem, aber auch für die Menschen, die zu uns kommen. Es ist wichtig, dass sie schnell wissen und Sicherheit bekommen, ob sie bleiben dürfen oder nicht. Es ist nicht richtig, dass sie eine Ausbildungsklasse besuchen und nicht wissen, ob sie bleiben dürfen. ({5}) Es ist nicht richtig, dass sie Deutsch lernen, dass sie sich Hoffnungen machen und dann vielleicht zurückgeschickt werden. Hier müssen wir ansetzen. Wir müssen schnellere Entscheidungen treffen. Ich hoffe, dass das mit den neuen Stellen im BAMF gelingt: 2 000 weitere Stellen sind zugesagt. Das wird seine Wirkung zeigen. Das ist wichtig für die Asylbewerber, für die Kommunen und auch für die Herkunftsländer. ({6}) Natürlich, liebe Kolleginnen und Kollegen, bin auch ich und sind auch wir dafür, dass den tatsächlich Schutzbedürftigen, wie zum Beispiel den syrischen Flüchtlingen, den Schülern, die mich am Montag im Bundestag besucht haben, schnell und unbürokratisch geholfen wird. Wir dürfen aber auch nicht vergessen, dass sich nach wie vor über 50 Millionen Menschen auf der Flucht befinden. Dieses Problem werden wir nicht alleine mit Geld und mit Personal lösen. Wir müssen auch für Verbesserungen in den Herkunftsländern und in den Anrainerstaaten sorgen. Hier ist die ganze Europäische Union und nicht nur Deutschland gefordert. ({7}) Auch ich möchte, dass die jungen Menschen aus dem Westbalkan, die in dieser Woche bei mir im Bundestag waren, wissen, woran sie sind, dass wir sie vor Ort aufklären, welche, Frau Kollegin, legale Möglichkeit es gibt, um nach Deutschland zu kommen und hier zu arbeiten oder eine Ausbildung aufzunehmen. Wir haben diese Möglichkeiten. ({8}) Dann setzen sie auch keine Hoffnungen in aussichtslose Asylverfahren. Wenn ein Unternehmen wie Daimler Fachkräfte sucht, dann sollte es erst einmal die legalen Einreisemöglichkeiten für Fachkräfte aus dem Ausland nutzen. Das geltende Arbeitsmigrationsrecht für Hochqualifizierte und für Fachkräfte aus Drittstaaten wurde vor zwei Jahren massiv ausgeweitet. Wir haben 70 Mangelberufe definiert, um den Branchen, die tatsächlich unter einem Fachkräftemangel leiden, die Anwerbung von Fachkräften auch aus Nicht-EU-Staaten zu erleichtern. Zudem stellte Deutschland im letzten Jahr rund 90 Prozent aller Blauen Karten aus der EU aus. Es ist doch nicht so, dass es keine Möglichkeit gibt, zu uns zu kommen. Erzählen Sie uns das doch nicht immer! Das ist schlicht falsch. Wir müssen zwischen berechtigten Asylbewerbern und Arbeitsuchenden trennen, für die es andere Möglichkeiten und Wege gibt, zu uns zu kommen. ({9}) Ich möchte auf einen anderen Aspekt eingehen. Laut Studie des DGB liegt die Jugendarbeitslosigkeit in Deutschland trotz des Rekordniveaus der Beschäftigung bei 300 000. So viele junge Menschen in Deutschland sind ohne Arbeitsplatz. Von denen spricht in der Zwischenzeit kein Mensch mehr. ({10}) In vielen freizügigkeitsberechtigten EU-Staaten wie Spanien, Frankreich und Italien ist die Jugendarbeitslosigkeit nach wie vor extrem hoch. Deutschland muss daher nach wie vor erst hier bei uns, danach in Europa und dann im Rest der Welt nach Arbeitskräften suchen. Das hat nichts mit der Frage zu tun, wer einen Asylanspruch hat und wem wir auf diesem Weg zügig helfen. ({11}) Ich wehre mich dagegen, dass Sie alle, die zu uns kommen, in einen Topf schmeißen. Ich wehre mich auch dagegen, dass die Wirtschaft hier nicht differenziert und aus meiner Sicht teilweise falsche Forderungen erhebt und suggeriert, man hätte keine Möglichkeit, Asylbewerber auf legalem Wege bei sich arbeiten zu lassen.

Peter Hintze (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000907

Frau Kollegin, es gibt vom Kollegen Rossmann aus der SPD-Fraktion den Herzenswunsch nach einer Zwischenfrage. Wollen Sie sie zulassen?

Andrea Lindholz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004342, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich möchte gern den einen Aspekt noch abhandeln. Dann können Sie Ihre Zwischenfrage stellen.

Peter Hintze (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000907

Dann ist aber Ihre Redezeit um.

Andrea Lindholz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004342, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich dachte, die Zwischenfrage stoppt die Redezeit.

Peter Hintze (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000907

Ja, aber wenn sie um ist, dann gibt es nichts mehr zu stoppen. ({0})

Andrea Lindholz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004342, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Dann rede ich jetzt zu Ende. - Asylbewerber und Flüchtlinge haben bei uns bereits viele Möglichkeiten. Der Besuch einer Schule, einer Berufsschule oder auch einer Universität ist bei uns erlaubnisfrei möglich. Nur in Deutschland gibt es mit § 60 a Aufenthaltsgesetz für Geduldete die Möglichkeit, die Ausweisung aufgrund einer laufenden Ausbildung auszusetzen. Nicht einmal im liberalen Schweden gibt es diese Möglichkeit. Ihre Forderung im Antrag unter Punkt 8 ist damit überflüssig. Wir haben im letzten Jahr die Residenzpflicht eingeschränkt, wir haben den generellen Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt nach drei Monaten erleichtert. Mit dieser relativ zügigen Erteilung der Arbeitserlaubnis schaffen wir zwar auf der einen Seite Verbesserungen, aber auf der anderen Seite müssen wir uns immer wieder vor Augen halten, dass das auch migrationspolitische Anreize setzt, zu uns zu kommen. Ich halte die Forderung, dass man hier vom ersten Tag an arbeiten darf, migrationspolitisch schlicht für einen Fehlanreiz. Allein jetzt schon wird jeder dritte Asylantrag in der EU in Deutschland gestellt. Warum ist das denn so? Wir haben nach wie vor die besten Bedingungen. Deshalb höre ich mir von der Kollegin von der Linken nur ungern diesen im Übrigen unqualifizierten Vorwurf an, Deutschland sei nicht aufnahmefreundlich, Deutschland oder auch Bayern oder die CDU oder die CSU seien am Ende auch nicht zuwanderungsfreundlich. Das ist völliger Blödsinn und geht an dem vorbei, was wir in den letzten Monaten und Jahren in diesem Bereich schon für die Menschen getan haben. ({0}) Im Übrigen treten Sie auch das Engagement der vielen Bürgerinnen und Bürger in diesem Land, die sich für die Asylbewerber engagieren, mit Ihrer Rede ({1}) - es ist empörend, was Sie vorhin gesagt haben - mit Füßen, und ich hätte von Ihnen erwartet, dass Sie sich dafür entschuldigen. Das war wirklich eine Unverschämtheit. ({2}) Ich wünsche dem Gipfel bei der Kanzlerin heute viel Erfolg. Ich bedanke mich bei den Kolleginnen und Kollegen der SPD ganz ausdrücklich für die gute Zusammenarbeit auch im Bereich der Innenpolitik. Ich weiß, dass wir in den kommenden Monaten weiterhin für die Menschen, die zu uns kommen, gute Regelungen schaffen werden und dass wir für eine gute Politik und auch für eine gute Integrationspolitik stehen. Vielen Dank. ({3})

Peter Hintze (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000907

Eine Kurzintervention des Kollegen Dr. Rossmann.

Dr. Ernst Dieter Rossmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003211, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Liebe Frau Kollegin, dem Engagement, das Sie in die Rede gelegt haben und wofür Sie viel Zustimmung aus dem ganzen Hause bekommen werden, wollte ich an einer Stelle Unterstützung geben: Tatsächlich ist es so, dass wir uns über die jugendlichen Arbeitslosen in Portugal, in Griechenland und anderswo Gedanken machen. Aber man wird dieser Bundesregierung nicht vorwerfen wollen, dass sie sich nicht mindestens genauso viele Gedanken um die 300 000 jungen Menschen machte, die bei uns ohne Arbeit sind. Sonst würden wir vergessen machen, was wir mit der Allianz für Aus- und Weiterbildung und mit den Engagements, die Frau Wanka und andere in ihren Häusern für mehr Berufsorientierung und mehr Qualifizierung usw. zeigen, tun. Ich finde, wir dürfen das nicht befördern, indem wir selbst etwas als Angriff formulieren, was tatsächlich nicht auf die Praxis dieser Regierung zutrifft. Diese Regierung nimmt dies engagiert in den Blick, und sie engagiert sich mit vielen konkreten Maßnahmen für die jungen Menschen, die bei uns noch ohne Ausbildung und ohne berufliche Perspektive sind. Vielleicht können wir dies zusammen festhalten, statt heute auf eine falsche Weise Fronten aufzubauen, die tatsächlich nicht da sind. Das zu sagen, war mir wichtig. Damit wollte ich Sie nicht angreifen; ich wollte nur noch einmal das EngageDr. Ernst Dieter Rossmann ment auch für diese 300 000 Jugendlichen deutlich herausstellen. ({0})

Peter Hintze (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000907

Bitte schön, Frau Kollegin Lindholz.

Andrea Lindholz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004342, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich möchte mich ganz herzlich für die Klarstellung bedanken. ({0})

Peter Hintze (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000907

So, der Koalitionsfrieden ist hergestellt. ({0}) Nächster Redner ist der Kollege Dr. Matthias Bartke, SPD-Fraktion. ({1})

Dr. Matthias Bartke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004248, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Meldung ist noch frisch, aber sie war absehbar: Seit Jahresbeginn haben mehr als 100 000 Menschen die gefährliche Flucht über das Mittelmeer nach Europa gewagt. Die meisten von ihnen kommen aus dem Nahen Osten und aus Afrika. Der Anstieg der Zahlen ist dramatisch und stellt uns vor neue Herausforderungen. Es geht um Tausende persönliche Schicksale, tausendfach um Zukunft und Hoffnung; Frau Zimmermann, ich fand, dass Sie das durchaus anschaulich dargelegt haben. Deswegen dürfen wir uns von dem Flüchtlingsstrom gefordert fühlen. Aber wir müssen gleichzeitig klarstellen, dass wir nicht überfordert sind. ({0}) Seit Beginn unserer Regierungszeit haben wir daher schon eine ganze Reihe von Maßnahmen ergriffen, um Länder und Kommunen bei der Versorgung und der Integration von Flüchtlingen zu unterstützen. Geld spielt dabei eine ganz wesentliche Rolle. Deswegen erhalten die Länder 2015 und 2016 einen höheren Anteil an den Einnahmen aus der Umsatzsteuer. Dieser Anteil beträgt jeweils 500 Millionen Euro. Außerdem haben wir die Zahl der Personalstellen beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 2014 und 2015 um 750 aufgestockt. Weitere 750 Stellen wurden im Nachtragshaushalt 2015 bewilligt. Es ist ein erster Erfolg, dass dies bereits zu einer deutlichen Verkürzung der Asylverfahren geführt hat. Aber Asylverfahren sind das eine, ein Dach über dem Kopf ist das andere. Mit Veränderungen im Baurecht haben wir deshalb dafür gesorgt, dass Flüchtlingsunterkünfte schneller zur Verfügung stehen. Diese Veränderung ging auf eine Bundesratsinitiative meiner Heimatstadt Hamburg zurück. Hinzu kommt: Die Bundesanstalt für Immobilienaufgaben überlässt Flächen zur Unterbringung von Flüchtlingen künftig mietfrei. Das spart Kommunen und Ländern jährlich weitere 25 Millionen Euro. Mit dem Bundesprogramm „Willkommen bei Freunden“ unterstützen wir - Frau Griese hat darauf hingewiesen gemeinsam mit der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung die Kommunen dabei, junge Flüchtlinge willkommen zu heißen. Das alles sind Maßnahmen, die Flüchtlingen hier in Deutschland bessere Bedingungen bieten. Das allein reicht jedoch nicht aus. Voraussetzung dafür, dass die Flüchtlinge auch in unserer Gesellschaft ankommen, ist das Erlernen der deutschen Sprache. Deshalb haben wir die Integrationskurse zum Spracherwerb nachhaltig gestärkt. ({1}) Im parlamentarischen Verfahren zum Bundeshaushalt 2014 konnten wir die Mittel hierfür um 40 Millionen auf 244 Millionen Euro erhöhen und im Haushalt 2015 verstetigen. Über den Nachtragshaushalt konnten wir die Mittel um weitere 25 Millionen Euro erhöhen. ({2}) Die Sprache ist Ausgangspunkt, um im Alltag mit Mitmenschen zusammenzukommen. Das gilt auch und ausdrücklich für Asylbewerber. Wir haben die Mittel für die Sprachförderung massiv aufgestockt. Das ist doch, meine Damen und Herren von der Linken, nicht „nichts“; das ist schon sehr, sehr viel. Aber es stimmt: Das Erlernen der Sprache bleibt nur ein erster Schritt. Teilhabe an der Gesellschaft funktioniert bei uns ganz wesentlich über Beschäftigung. In den vergangenen Monaten habe ich an dieser Stelle mehrfach Reden zum Abbau der Langzeitarbeitslosigkeit gehalten. Ich habe dabei immer wieder betont, dass Arbeit hilft, soziale Ausgrenzung zu vermeiden. Zwischen Langzeitarbeitslosen und Flüchtlingen gibt es jedoch einen wesentlichen Unterschied. Bei Langzeitarbeitslosen ist die Vermittlung in Arbeit so wichtig, damit sie der Gesellschaft nicht verloren gehen. Bei Flüchtlingen hingegen ist sie so wichtig, um sie in die Gesellschaft überhaupt erst zu integrieren. Es war uns deswegen ein zentrales Anliegen, den Arbeitsmarktzugang für Asylbewerber und Geduldete schon früher als bisher zu ermöglichen. Wir haben uns damit durchgesetzt. Asylbewerber und Geduldete können sich nun schon nach drei Monaten um einen regulären Job bewerben. Nach 15 Monaten Aufenthalt entfällt außerdem die Vorrangprüfung, ob nicht ein deutscher Staatsbürger oder EU-Bürger die Stelle besetzen könnte. Ich sage dazu: Wenn es nach mir ginge, könnten wir das noch einmal deutlich reduzieren. ({3}) Durch die Verkürzung der Geltungsdauer des Arbeitsverbots sowie die Lockerung der Vorrangprüfung und der Residenzpflicht wird der Zugang zum Arbeitsmarkt für Flüchtlinge erleichtert; Frau Kolbe hat zutreffend darauf hingewiesen. Der schnellere Zugang zum Arbeitsmarkt und die große Anzahl an Flüchtlingen stellen uns nun vor neue Aufgaben. Wir müssen deutlich mehr Asylbewerber bei der Arbeitsmarktintegration unterstützen. Liebe Kolleginnen und Kollegen von Bündnis 90/ Die Grünen, an dieser Stelle setzt Ihr Antrag durchaus zu Recht an. Er nimmt zu Recht auf laufende Maßnahmen Bezug. Dazu gehört das Projekt „Early Intervention“, das hier schon mehrfach - so auch in Ihrem Antrag - erwähnt wurde. Hier wird erprobt, wie eine schnelle, qualitativ hochwertige Arbeitsmarktintegration von qualifizierten Asylbewerbern gelingen kann. Das Projekt ist im Januar 2014 gestartet und zeitigt bereits Erfolge. Ich stimme Ihnen hier ausdrücklich zu. Mit vielen Ihrer Forderungen, die auch aus dem Projekt resultieren, rennen Sie daher bei uns durchaus offene Türen ein. ({4}) Nicht umsonst bin ich in meiner Rede schon mehrfach auf Sprachkenntnisse zu sprechen gekommen. Obwohl wir die Mittel für Integrationskurse zum Spracherwerb bereits deutlich erhöhen konnten, wird deutlich, dass die Mittel zukünftig nicht ausreichen werden. ({5}) Auch die berufsqualifizierenden Kurse bei der Bundesagentur für Arbeit müssen ausgebaut werden. Unsere Arbeitsministerin Andrea Nahles hat diesen Bedarf erkannt und wird sich für die Bereitstellung der Mittel einsetzen. Asylsuchende und Geduldete, die mit hoher Wahrscheinlichkeit lange Zeit in Deutschland bleiben, sollten von Beginn an die Möglichkeit zum Spracherwerb und zu berufsqualifizierenden Angeboten haben. ({6}) Ich freue mich, dass wir mit dem Nachtragshaushalt für Integrationskurse einen Schritt in diese richtige Richtung unternommen haben. ({7}) Auch im Hinblick auf Jugendliche und ihre Ausbildung sehen wir keinen Dissens. Jugendliche und junge Erwachsene sollten meines Erachtens unabhängig von ihrem Asylverfahren eine berufliche Ausbildung aufnehmen und beenden können. Dabei ist es nur konsequent, auch nach Beendigung der Ausbildung einen sicheren Aufenthaltsstatus zu bieten. Ich freue mich, dass Sie mit Ihrem Antrag unserem Handeln Nachdruck verleihen. ({8}) Es liegt in unser aller Interesse, Flüchtlinge bei uns willkommen zu heißen und ihnen die besten Startmöglichkeiten zu bieten. Deswegen werden wir auch in den nächsten Monaten unsere Anstrengungen hierfür fortsetzen. Ich danke Ihnen. ({9})

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000305

Vielen Dank. - Als nächster Redner hat Herr Dr. Pätzold von der CDU/CSU-Fraktion das Wort. ({0})

Dr. Martin Pätzold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004373, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Auf Antrag von Bündnis 90/Die Grünen debattieren wir heute die Frage, wie es gelingen kann, Flüchtlinge schneller in Arbeit und Ausbildung zu bringen. Es ist - angesichts der emotionalen Debatte, die hier im Haus geführt wurde -, wie ich glaube, sehr wichtig, dass wir darüber sachlich diskutieren. Dafür ist es notwendig, dass wir uns mit den Zahlen derer beschäftigen, die nach Deutschland gekommen sind und hier Asyl beantragt haben. Im letzten Jahr waren es knapp über 200 000 Menschen. Die Schutzquote derer lag bei 31,5 Prozent; das heißt, die Wahrscheinlichkeit, hierbleiben zu können und eine Perspektive zu haben, lag ungefähr bei jedem Dritten vor. Die größte Gruppe kam mit 41 000 Personen aus Syrien. Bei diesen lag die Schutzquote bei 90 Prozent. Wenn man die Bilder aus den Nachrichten kennt und wenn man weiß, was dort vor Ort passiert, dann ist es keine große Überraschung, dass die Zahl mittlerweile sogar gegen 100 Prozent tendiert. Für Serben, die zweitgrößte Personengruppe mit 27 000 Anträgen, lag die Schutzquote bei 0,2 Prozent; jeder Fünfhundertste hatte somit eine Bleibeperspektive. Wenn man die gesamten Westbalkanstaaten betrachtet, dann kann man von einer Schutzquote von 1 bis 2 Prozent ausgehen. Das heißt also, jeder Hundertste bis Fünfzigste hat eine Perspektive, hierbleiben und sich in die Gesellschaft integrieren zu können und auch perspektivisch hier arbeiten zu dürfen und natürlich arbeiten zu müssen; denn wir wollen die Menschen über Arbeit integrieren. Wenn wir uns die Zahlen in den ersten Monaten anschauen - wir haben gehört, dass knapp 100 000 Flüchtlinge bisher schon nach Deutschland gekommen sind, davon mehr als die Hälfte aus den Westbalkanstaaten -, dann müssen wir die Diskussion sehr ehrlich führen. Wenn es darum geht, diese Zahlen nicht nur sachlich vorzutragen, sondern auch zu schauen, wie die Situation vor Ort ist, dann möchte ich in Richtung von Frau Zimmermann von der Fraktion Die Linke sagen, dass sich unsere Abgeordneten vor Ort natürlich die Einrichtungen ansehen. Meine Kollegin Frau Weiss schaut sich nicht nur in ihrem Wahlkreis die Einrichtungen an und redet mit den Menschen vor Ort, sondern sie macht seit 23 Jahren auch ein Projekt auf den Philippinen, mit dem sie versucht, die Entwicklung vor Ort zu unterstützen. Deshalb ist sie genau die falsche Person, die Sie kritisieren, weil sie sich angeblich nicht für die Flüchtlinge vor Ort interessiere und nicht mit den Menschen rede. ({0}) Weil wir uns für die Themen vor Ort interessieren, ist auch ein Großteil unserer Abgeordneten direkt gewählt. Das gilt für mich nicht. Aber man muss auch noch Ziele im Leben haben. Trotz allem habe ich mir am 27. Mai dieses Jahres alle sechs Einrichtungen, in denen Flüchtlinge in Lichtenberg untergebracht sind, angeschaut. Insgesamt sind dort knapp 2 000 Personen untergebracht. Auch hier gilt, dass über die Hälfte von ihnen, knapp 1 200, aus den Westbalkanstaaten kommen, deren Bleibeperspektive überschaubar ist. Aber immer mehr kommen mittlerweile aus Syrien und dem Irak. Wenn man sich mit diesen Personen unterhält, merkt man, dass sie gern in ihrem Heimatland geblieben wären, aber durch die Situation vor Ort hier eine neue Heimat suchen und natürlich auch - da haben Sie vollkommen recht - arbeiten möchten. Das zeigt uns, dass wir als Gesellschaft die Verantwortung haben, Integration vernünftig zu gestalten. Ich komme aus einem Ostberliner Wahlkreis, wo die Debatten über dieses Thema am Anfang nicht immer einfach waren. Deshalb bin ich sehr glücklich darüber, dass durch die Diskussionen hier im Bundestag und auch in der Öffentlichkeit mittlerweile sehr sachlich darüber gesprochen wird, ({1}) wie man Flüchtlingen helfen kann, und dass die Gesellschaft vor Ort, die Vereine vor Ort, die Träger vor Ort und auch die politischen Parteien Verantwortung tragen und bereit sind, zu helfen, dass es einen großen gesellschaftlichen Konsens gibt, die Integration zu gestalten. Was haben wir bisher getan? Man muss sich ja immer die Entwicklung ansehen. Wir als Bundesgesetzgeber haben noch im Jahr 2013 die Möglichkeit geschaffen, bereits nach neun Monaten eine Arbeit aufzunehmen, natürlich nur, wenn zuvor eine Vorrangprüfung stattgefunden hat. Ich höre aber von meinen Akteuren vor Ort, dass das in der Praxis kein Problem darstellt. Wir, die Koalitionsfraktionen, haben im letzten Jahr dafür gesorgt, dass diese Frist auf drei Monate verkürzt wird. Wir als Gesetzgeber haben also eine Entwicklung aufgenommen und entsprechend gehandelt. Ich fand das sehr wichtig und richtig. Jetzt ist der Antrag der Grünen eingebracht worden. Ich glaube, er verfolgt das Ziel, eine aus ihrer Sicht wichtige gesellschaftliche Debatte in Gang zu bringen. Der Fokus ist ein etwas anderer als der, den meine Fraktion hat; aber auch in diesem Antrag sind sehr vernünftige Forderungen enthalten. Ich verweise in diesem Zusammenhang auf den darin angesprochenen Punkt „Anerkennung von Qualifikationen“. Auch auf meiner Besichtigungstour am 27. Mai 2015 wurde mir deutlich: Das ist relativ klar formuliert und einfach beschrieben; aber wenn es in der Praxis darum geht, dass Menschen, die aus Syrien oder dem Irak geflohen sind, keine Urkunden darüber haben, dass sie ein Studium absolviert haben, entsteht im Zusammenhang mit unserer deutschen Bürokratie das nicht ganz einfach zu lösende Problem, wie man diese Qualifikationen anerkennt. Ich will deutlich sagen: Ich finde es schon wichtig, dass es für alles Urkunden gibt. Das ist sehr deutsch, sehr bürokratisch und sehr klar. Aber es gibt auch vor Ort viele Personen, die versuchen, zu helfen und Brücken zu bauen. In der Praxis wird geschaut, dass man zu Lösungen kommt; aber das dauert natürlich seine Zeit. Das, was Sie in Ihrem Antrag formulieren, sind Punkte, die in der Praxis zum Teil umgesetzt werden. Das Asylrecht ist nicht dazu da, zu entscheiden, wer qualifizierter ist und deswegen eine bessere Perspektive hat, in der Bundesrepublik Deutschland zu bleiben. Das Asylrecht ist geschaffen worden, um Menschen eine neue Heimat zu geben, die Schutz brauchen. Dafür wird sich die CDU/CSU-Fraktion weiter einsetzen. Vielen Dank. ({2})

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000305

Vielen Dank. - Als nächster Redner hat Dr. Diaby von der SPD-Fraktion das Wort. ({0})

Dr. Karamba Diaby (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004259, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! 1 Milliarde Euro zusätzlich vom Bund an die Länder für die Aufnahme und Integration von Flüchtlingen, bis zu 2 000 neue Stellen beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge für zügige Asylverfahren, Veränderungen im Baurecht, um schnell Unterkünfte zur Verfügung zu stellen, die Öffnung des Arbeitsmarkts nach drei Monaten für Asylbewerberinnen, Asylbewerber und Geduldete, die Abschaffung der Residenzpflicht, um Asylbewerbern und Geduldeten endlich Bewegungsfreiheit im Lande zu ermöglichen, ein neues Bundesprogramm „Willkommen bei Freunden“ für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, ein reformiertes Asylbewerberleistungsgesetz mit dem Grundsatz „Geld- statt Sachleistungen“ - liebe Kolleginnen und Kollegen, diese Auswahl von bereits erfolgten und begonnenen Maßnahmen macht deutlich: Wir sind längst dabei, uns vom alten Geist der Abschottung und der Abwehr im Asylrecht zu verabschieden. ({0}) Wir befinden uns mitten in einer neuen Phase, in der wir die Potenziale der Geflüchteten in den Blick nehmen und ihnen Chancen eröffnen. Liebe Kolleginnen und Kollegen der Grünen, Sie schreiben in Ihrem Antrag: Der Bundestag fordert die Bundesregierung auf, ein Konzept zu entwickeln, das Flüchtlinge auf ihrem Weg in Arbeit und Ausbildung unterstützt … ({1}) Ganz ehrlich: Entweder haben Sie nicht besonders gut aufgepasst, was in den letzten Monaten alles auf den Weg gebracht wurde, oder Sie versuchen, das sensible Thema der Asylpolitik für sich zu nutzen. Ich bin der Meinung: Dieses Themenfeld eignet sich nicht für Parteitaktik. ({2}) Ich habe in den letzten Jahren die Erfahrung gemacht, dass das Themenfeld „Migration und Asyl“ der Aufklärung, der Argumente und sachlicher Arbeit bedarf. Ich bin dankbar, dass wir nicht die Debatte der 90er-Jahre wiederholen und dass wir aktuell einen parteiübergreifenden Konsens haben.

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000305

Herr Diaby, lassen Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Pothmer zu?

Dr. Karamba Diaby (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004259, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nein. Ich möchte gerne mein Konzept erst einmal zu Ende bringen; dann können wir diskutieren. ({0}) Ja, wir sind gefordert, aber nicht überfordert. Für die SPD-Fraktion ist klar: Gute Asylpolitik gelingt nur mit einer dauerhaften und substanziellen Beteiligung des Bundes. Wir brauchen weiterhin eine sinnvolle Verantwortungsteilung zwischen Bund und Ländern. Mit großen Erwartungen blicken wir auf die Ergebnisse des heutigen Treffens im Kanzleramt. Es muss den Durchbruch bringen. Aus meiner Sicht brauchen wir endlich eine Öffnung der Integrationskurse, und wir brauchen eine Bleibeperspektive für Auszubildende. ({1}) Zehn Jahre Integrationskurse in Deutschland, das ist die Erfolgsgeschichte unseres Einwanderungsgesetzes. Sie läuteten den Paradigmenwechsel ein, hin zu einem echten Angebot des Staates. Diese Kurse sind das wichtigste staatlich geförderte Angebot für Einwandernde. Seit der Einführung der Integrationskurse vor zehn Jahren haben sage und schreibe 1 Million Menschen an diesen Kursen teilgenommen. Das ist ein Erfolg. ({2}) Sie alle absolvieren 600 Stunden Deutschunterricht und 60 Stunden Orientierungskurs. Mehr als zwei Drittel schließen den Kurs erfolgreich ab. Es klingt abgedroschen, aber es stimmt: Sprache ist die Eintrittskarte für Teilhabe an Arbeit und gesellschaftlichem Leben. Ich weiß aus meiner eigenen Erfahrung, wovon ich rede. Daher brauchen wir die Öffnung der Integrationskurse für Asylsuchende und Geduldete. ({3}) Bislang bieten einzelne Bundesländer wie mein Bundesland Sachsen-Anhalt und Berlin unter anderem Sprachkurse für Asylsuchende auf freiwilliger Basis an. Sie sind ein voller Erfolg. Es muss aber klar gesagt werden: Der Spracherwerb darf nicht vom Zufall abhängen oder auf Ehrenamtliche abgewälzt werden. ({4}) Hier muss der Bund seinen Beitrag leisten. Damit ist auch eine substanzielle Entlastung der Länder und Kommunen verbunden. Das verstehe ich unter moderner Integrationspolitik. Wir müssen Geflüchteten den Aufstieg ermöglichen. Ich meine damit Aufstieg durch Bildung. Wir müssen ihnen Chancen bieten, ihre Fähigkeiten und Talente zu entfalten, sich einzubringen, und ihnen den Weg öffnen, Teil dieser Gesellschaft zu werden. Das ist nicht nur menschenrechtlich geboten, sondern auch volkswirtschaftlich vernünftig. ({5}) Meine Damen und Herren, zu einer fairen und vernünftigen Asylpolitik zählt die Bleibeperspektive für jugendliche Asylsuchende in Ausbildung. Kirchen, Gewerkschaften und Arbeitgeber fordern zu Recht ein sicheres Aufenthaltsrecht für die jugendlichen Asylsuchenden und Geduldeten, die eine Ausbildung beginnen können. Die Arbeitgeber brauchen hier Rechtssicherheit. Die SPD-Fraktion meint: Wir brauchen für diese Jugendlichen einen sicheren Aufenthaltsstatus für die Dauer der Ausbildung und darüber hinaus für eine anschließende Arbeitssuche. Daneben sollten wir auch über pragmatische Ausnahmen nachdenken. Es ist ein Paradox: Wir reden über Konzepte zur Lösung des Fachkräftemangels und darüber, wie wir Menschen aus Drittstaaten anwerben können. Gleichzeitig aber schieben wir Asylbewerber ab, die mit gesuchten Qualifikationen kommen. Hier brauchen wir pragmatische Lösungen. ({6}) Werte Kolleginnen und Kollegen, alle diese Maßnahmen machen deutlich, dass wir uns auf einem guten Weg befinden - hin zu einem Paradigmenwechsel unseres Asylrechtes: weg von Abwehr und hin zu einer modernen Willkommenskultur. ({7}) Lassen Sie uns diesen Weg weitergehen, indem wir die Potenziale der Geflüchteten in den Blick nehmen und ihnen Chancen eröffnen. Danke schön. ({8})

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000305

Vielen Dank. - Als letzter Redner in dieser Debatte hat Kai Whittaker von der CDU/CSU-Fraktion das Wort. ({0})

Kai Whittaker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004443, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Werte Kollegen! Ich kann den verzweifelten Versuch der Kolleginnen Göring-Eckardt und Pothmer verstehen, hier den Eindruck zu erwecken, als hätten wir in der Großen Koalition in den letzten Monaten nichts getan. ({0}) Die Vorredner haben aber schon einige Punkte aufgegriffen. Ich weiß, dass sie das nicht so gerne hören. Deshalb wiederhole ich es einmal. Wir haben es in den letzten zwölf Monaten geschafft, dass Flüchtlinge bereits nach drei Monaten Arbeit aufnehmen dürfen. Sie dürfen nach spätestens 15 Monaten frei ihren Beruf wählen. Dort, wo es Fachkräftemangel gibt, können sie es sogar sofort. Sie dürfen nach drei Monaten in Deutschland wohnen, wo sie wollen. Und wir werden den Kommunen in den nächsten zwei Jahren mit über 1 Milliarde Euro zusätzlich unter die Arme greifen. Darüber hinaus gibt der Bund zusätzlich 40 Millionen Euro für Sprach- und Integrationskurse aus. Ich finde, dass man wirklich nicht sagen kann, dass wir die Hände untätig in den Schoß gelegt haben. Vielmehr haben wir als Bund unsere Hausaufgaben gemacht. ({1}) Wenn ich mir Ihren Antrag so anschaue, bekomme ich den Eindruck, dass Sie es nicht wirklich ernst meinen. Werte Kollegen von den Grünen, ich weiß, es bereitet Ihnen eine diebische Freude, von diesem Pult aus zu betonen, dass Sie in mehr Bundesländern regieren als die Union. ({2}) Offensichtlich aber wissen Sie nicht, wie Sie mit dieser Verantwortung umgehen sollen. Die allermeisten Punkte, die Sie in Ihren Antrag geschrieben haben, können Sie in den Ländern schon längst umsetzen. ({3}) Ob es um Sprachkurse, Netzwerkarbeit, Beratung oder Betreuung geht, das alles ist Sache der Länder. Stattdessen laden Sie Ihre Verantwortung beim Bund ab. ({4}) Der Bund ist für das Asylverfahren zuständig, die Länder sind für die Flüchtlinge da. Dass das auch geht, sieht man an den Bundesländern Bayern und BadenWürttemberg. Ich bin wirklich unverdächtig, ein großer Anhänger des grünen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann zu sein; das trifft allerdings auch auf die Bundestagsfraktion der Grünen zu. Kretschmann macht genau das, was Sie fordern, nämlich zielgruppenspezifische Sprachkurse auf Kosten des Landes anzubieten. Ich empfehle den grünen Landespolitikern anderswo, einen Besuch im - das hat Jürgen Trittin, glaube ich, vor zwei Jahren ganz charmant formuliert - „Waziristan“ der Grünen abzustatten. Wahrscheinlich trauen sie sich nicht, dorthin zu fahren. Es könnte eine unangenehme Begegnung mit der Realität werden.

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000305

Herr Whittaker, die Kollegin Pothmer hat die Bitte nach einer Zwischenfrage.

Kai Whittaker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004443, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Der Kollegin Pothmer kann ich keinen Wunsch abschlagen. - Bitte schön. ({0})

Brigitte Pothmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003823, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege Whittaker, das kann Sie noch teuer zu stehen kommen. ({0}) Herr Kollege Whittaker, unser Antrag ist mit dem Titel „In die Zukunft investieren - Asylsuchende auf ihrem Weg in Arbeit und Ausbildung unterstützen“ überschrieben. Da haben wir es im Wesentlichen mit bundespolitischen Kompetenzen zu tun. Wenn Sie hier sagen, der Bund habe seine Hausaufgaben gemacht, dann müssen Sie uns hier einmal erklären, warum die Bundesagentur für Arbeit ein 15-seitiges Papier mit dem Titel „Herausforderung und Handlungsempfehlungen: Humanitäre Zuwanderer in Ausbildung und Arbeit bringen“ vorgelegt hat. Die Bundesagentur für Arbeit sieht erheblichen Handlungsbedarf. Sie selber ist mit der Forderung an die Öffentlichkeit getreten, 1 000 Stellen zusätzlich einzurichten, weil wir in den Jobcentern und bei den Agenturen einen Flaschenhalseffekt haben und weil es unheimlich viel Nachsteuerungsbedarf gibt, zum Beispiel in der Frage der Anerkennung von ausländischen Qualifikationen. Ich könnte diese Liste weiter fortsetzen. Nehmen Sie doch bitte einmal zur Kenntnis, dass es nicht nur die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ist, sondern dass es darüber hinaus die Bundesagentur für Arbeit ist, dass es die Arbeitgeberverbände sind und dass es die IHK und die Handwerkskammern sind, die einen erheblichen Handlungsbedarf sehen. Stellen Sie nicht fest, dass Sie mit Ihrer Auffassung zunehmend einsam werden? ({1})

Kai Whittaker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004443, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin Pothmer, ich finde eher, dass es sehr einsam um Ihre Fraktion geworden ist. Sie haben letzte Woche in der Medienlandschaft groß verkündet, dass Sie 1 000 neue Stellen für die BA schaffen wollen, um dieses Problem zu beheben. In Ihrem Antrag steht davon nichts mehr. ({0}) Insofern mache ich mir um meine Einsamkeit keine Sorgen, Frau Kollegin Pothmer. ({1}) Ich nehme Ihren Antrag auch deshalb nicht wirklich ernst, Frau Kollegin, weil ich glaube, dass es eher ein Showeffekt ist, den Sie versuchen hier zu platzieren. Es ist ja nicht so, dass die Flüchtlinge erst seit Sonntag in dieses Land kommen. Wir diskutieren dieses Thema seit über einem Jahr, und - andere Kollegen haben das schon gesagt - es gibt keine einfachen Antworten. Aber Sie zetteln für heute eine Debatte an und schaffen es gerade einmal zwei Tage vorher, in Ihrer eigenen Fraktion zu klären, was Sie überhaupt wollen, um einen Antrag im Bundestag zu stellen, ({2}) und das an einem Tag, an dem der Flüchtlingsgipfel von Bund und Ländern stattfindet. Ich kann nichts anderes darin erkennen als den verzweifelten Versuch Ihrer Bundestagsfraktion, mit diesem Thema in den Medien zu landen. Die Opposition scheint manchmal zu vergessen, dass wir hier Politik machen und keine Theatervorstellungen geben. Das ist eine freundliche Erinnerung Ihres Parteifreundes - ich hoffe, er ist noch Ihr Parteifreund - Joschka Fischer. Das hat er von diesem Pult aus einmal gesagt. Ich nehme Ihren Antrag aus einem dritten Grund nicht ernst. Ihr Showantrag geht an der Realität vorbei. Was ist das Hauptproblem dafür, dass Asylbewerber keinen Job finden bzw. Schwierigkeiten bei der Jobsuche haben? ({3}) Vor kurzem wurde eine Bertelsmann-Studie veröffentlicht, in der ganz klar steht, dass die Asylverfahren zu lange dauern. Letztes Jahr betrug die durchschnittliche Wartezeit circa sieben Monate. Diese Wartezeit ist nicht hinnehmbar. Deswegen haben wir beim letzten Flüchtlingsgipfel vereinbart, 2 000 neue Stellen im Bundesamt für Migration und Flüchtlinge zu schaffen. Damit verdoppeln wir fast das Personal in diesem Amt, um diesen unsäglichen Wartestau zu beseitigen. Dazu steht in Ihrem Antrag nichts. Das ist enttäuschend. In Ihrem Antrag schweigen Sie zu einem weiteren Thema, das Ihnen unangenehm ist, nämlich zu der Frage, wie wir Wirtschaftsflüchtlinge so schnell wie möglich in ihre Heimatländer zurückbringen können. Die Deutschen - das nehme ich in meinem Wahlkreis wahr; das wird sicherlich vielen Kollegen hier genauso gehen sind sehr offen und extrem hilfsbereit gegenüber den Flüchtlingen, die Schreckliches erlebt haben. Sie engagieren sich wirklich aufopferungsvoll als Sprachlehrer, als Integrationshelfer oder sind einfach nur da. Diese Haltung der Bürger könne sich aber ändern, wenn die Probleme, die durch den großen Zustrom von Asylbewerbern entstanden seien, nicht gelöst würden. Dieser bemerkenswerte Satz stammt nicht von mir, sondern vom grünen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann, nachzulesen in der Zeit vom 19. September letzten Jahres. Wer mit den Menschen spricht, wird merken, dass dieser Satz wahr ist. Die Menschen in diesem Land sehen sehr wohl den Unterschied zwischen Wirtschaftsflüchtlingen und aus humanitären Gründen Geflüchteten. Sie wissen genau, wer dringend Hilfe braucht und wer nicht. Deshalb wäre es ein starkes Signal von Ihnen, liebe Grünen, wenn Sie hier im Deutschen Bundestag und im Bundesrat Ihre Blockadehaltung endlich aufgäben, damit wir alle Balkanstaaten endlich zu sicheren Herkunftsländern erklären können. ({4}) Aber das wollen Sie nicht hören. Das passt nicht in Ihre heile Flüchtlingspolitik. ({5}) Stattdessen ist es einfacher, sich hierhinzustellen und uns als Union zu verunglimpfen. Aber ganz so einfach ist es eben nicht. Wir als Union haben schon nach dem Zweiten Weltkrieg die Flüchtlingspolitik neu begründet. ({6}) Ich zitiere: Jede Art von Selbsthilfe soll größtmögliche Förderung erfahren, damit die Heimatvertriebenen in freizügiger Weise am Wirtschafts- und Gesellschaftsleben teilnehmen können. Das stand so im CDU-Wahlprogramm von 1949. Da waren Sie von den Grünen, wie man sagt, noch Quark im Schaufenster. ({7}) Deshalb heißen wir übrigens „Union“ und nicht „Partei“: Wir haben es als politische Kraft verstanden, Menschen als Union zusammenzubringen und nicht als Partei zu spalten. Es war eben die Union, die dafür gesorgt hat, dass nach dem Zweiten Weltkrieg 8 Millionen Flüchtlinge und Heimatvertriebene eine neue Heimat in Westdeutschland gefunden haben. ({8}) Heute reden wir von 400 000 Flüchtlingen. Es ist deshalb schon, wie ich finde, eine Ironie der Geschichte, wenn Sie uns vorwerfen, dass wir nichts von Flüchtlingspolitik verstehen. ({9}) Dazu fällt mir und meinen Kollegen der CDU/CSUFraktion wirklich nichts mehr ein. Sie nutzen diese Debatte schlicht und ergreifend zur Effekthascherei, für eine billige Schlagzeile in der Zeitung. Dafür sind wir nicht zu haben. Danke schön. ({10})

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000305

Vielen Dank. - Damit, liebe Kolleginnen und Kollegen, schließe ich die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 18/5095 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 5 auf: Beratung des Berichts des Petitionsausschusses ({0}) Bitten und Beschwerden an den Deutschen Bundestag Die Tätigkeit des Petitionsausschusses des Deutschen Bundestages im Jahr 2014 Drucksache 18/4990 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für diese Aussprache 60 Minuten vorgesehen. Gibt es dazu Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen. Ich werde die Aussprache eröffnen, sobald die Kolleginnen und Kollegen ihre Plätze eingenommen haben. Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hat die Ausschussvorsitzende Kersten Steinke das Wort. ({1})

Kersten Naumann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003197, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter! Petitionsausschuss - das klingt zunächst nicht nach spannender Politik, sondern eher nach verstaubter Verwaltungsarbeit. Aber ich kann Ihnen versichern: Weder unser Ausschuss noch unsere Arbeit sind verstaubt. Es ist arbeitsintensiv und spannend, aber auch herausfordernd. Das hat seine Gründe. Wir Abgeordnete bekommen immer ganz aktuell und direkt zu sehen, wie sich die vom Bundestag beschlossenen Gesetze auf die Bürgerinnen und Bürger auswirken und wo sich bei Bundesbehörden Verwaltungsfehler einschleichen. Hier Abhilfe zu schaffen, ist unser Ziel. Zunächst ein paar Zahlen und Beispiele. Im Berichtsjahr 2014 wurden 15 325 Bitten und Beschwerden eingereicht; das waren 525 mehr als 2013. Mehr als ein Drittel aller Petitionen gingen auf elektronischem Wege beim Petitionsausschuss ein. Zudem konnten im Berichtsjahr gut 18 000 Petitionen abschließend behandelt werden. Die höhere Zahl hat mit dem Überhang aus dem Wahlperiodenwechsel zu tun. Der Petitionsausschuss wird täglich - neben Bitten zur Gesetzgebung, die 45 Prozent aller Petitionen ausmachen - mit Einzelschicksalen von Menschen konfrontiert, die zwischen die Mühlsteine der Bürokratie geraten sind und nicht mehr ohne fremde Hilfe herauskommen. Stellen Sie sich einmal Folgendes vor: Sie befinden sich seit August 2012 in der Ausbildung und beantragen für sich Kindergeld nach dem Bundeskindergeldgesetz, da Ihr Vater verstorben ist und Ihre Mutter unbekannten Aufenthaltes ist. Sie benötigen dieses Geld als Waise und Alleinstehende ohne Einkommen dringend für Ihren Lebensunterhalt. Sie beantragen es bei der zuständigen Familienkasse an Ihrem Wohnort. Dann kommt endlich der Bescheid - nach sieben Monaten -, eine Ablehnung. Sie legen Widerspruch ein. Dem wird nach einem weiteren Monat stattgegeben, aber Sie erhalten kein Geld. Sie rufen an, Sie werden vorstellig, Sie telefonieren, werden vertröstet, rufen wieder an und erhalten die Auskunft, dass diese Familienkasse gar nicht zuständig ist, sondern eine andere. Das geht über ein weiteres Jahr so. Schließlich wenden Sie sich an den Petitionsausschuss des Landtages. Der ist nicht zuständig und schickt die Petition an den Petitionsausschuss des Deutschen Bundestages. Dieser holt eine Stellungnahme des zuständigen Ministeriums ein, und siehe da, die Stellungnahme des Ministeriums ist sehr eindeutig: Alle Voraussetzungen für den Bezug von Kindergeld sind erfüllt. Endlich, nach fast zwei Jahren, erhalten Sie 2014 rückwirkend bis 2012 Ihr Kindergeld. Es ist schlimm, dass es solche Fälle gibt, aber es ist gut, dass es den Petitionsausschuss gibt und dass wir in einem solchen Fall auch helfen konnten. ({0}) Etwa 10 Prozent aller Anliegen wurde direkt und unkompliziert entsprochen. Weiteren 28 Prozent der Petenten konnte mit Rat, Auskunft oder Materialien geholfen werden. 5 Prozent aller Petitionen wurden an die Bundesregierung überwiesen mit der Bitte um Abhilfe. Wenn wir helfen können, dass Bürgerinnen und Bürger zu ihrem Recht kommen, dann ist das für uns eine große Motivation, aber zugleich auch Ansporn, weiterhin für die Petentinnen und Petenten unser Bestes zu geben. Den Spitzenplatz unter den Gesamteingaben nimmt, wie auch in den Jahren zuvor, das Ressort Arbeit und Soziales mit 3 175 Vorgängen ein, also mit etwa 21 Prozent aller Eingaben. Wie in den Vorjahren lag der Schwerpunkt in diesem Bereich bei den Eingaben zur Grundsicherung für Arbeitsuchende, so zum Beispiel zur Höhe der Regelbedarfssätze und deren Berechnung. Im Bereich des Arbeitsrechts gab es zahlreiche Eingaben, die die Abschaffung der Leiharbeit oder zumindest die Anpassung des Arbeitslohns verlangten. Zu dieser Thema10416 tik passte auch die zum 1. Januar 2015 beschlossene Einführung des Mindestlohns, der von vielen Petentinnen und Petenten unterstützt wurde. Kritisiert wurden hingegen die ebenfalls beschlossenen Ausnahmen. Es ist also abzusehen, dass uns die Auswirkungen des Mindestlohns in der nächsten Zeit weiter beschäftigen werden. Ein weiterer großer Teil der Beschwerden an das Bundesministerium für Arbeit und Soziales mit 1 393 Eingaben entfiel auf den Bereich der gesetzlichen Rentenversicherung. Eine Vielzahl dieser Petitionen befasste sich mit den Auswirkungen der zum 1. Juli 2014 in Kraft getretenen Rentenreform. ({1}) Dies spiegelte sich auch in den auf den Internetseiten des Petitionsausschusses veröffentlichten Petitionen wider, die rege diskutiert wurden, so zum Beispiel zur abschlagsfreien Rente nach 45 Jahren Erwerbstätigkeit oder zur Abschaffung der Abschläge bei Erwerbsminderungsrenten. Ebenfalls sehr oft kritisierten Bürgerinnen und Bürger aus den ostdeutschen Bundesländern die unterschiedliche Rentenanpassung in Ost und West. ({2}) Auf dem zweiten Platz der Bundesressorts mit den meisten Eingaben folgt das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz mit 1 730 Eingaben, also circa 11 Prozent. Hier ging es vorrangig um zahlreiche Petitionen zum Mietrecht, in denen gesetzliche Änderungswünsche vorgetragen wurden, die sowohl die Mieter- als auch die Vermieterseite betrafen, oder Beschwerden, in denen es um den Abschluss von Verträgen im Internet und deren Folgen geht, wie missbräuchliche Abmahnungen oder illegale Downloads. Meine sehr verehrten Damen und Herren, neben seinen 27 regulären Sitzungen hat der Ausschuss zwölf Berichterstattergespräche mit den einzelnen Ministerien geführt, um Lösungen für schwierige Fälle zu finden. Themen in den Gesprächen waren unter anderem Petitionen zu Visaangelegenheiten, zur Erstattung der Aufwandsentschädigung für ehrenamtliche Betreuer oder zu Regelungen der Altersrente. Hervorzuheben sind ferner die vier öffentlichen Sitzungen, in denen elf Petitionen zur Einzelberatung aufgerufen wurden. Hierbei ging es unter anderem um die Abschaffung von Hartz-IV-Sanktionen, die Stabilisierung der Künstlersozialkasse, die Vergütung von Logopäden oder das Transatlantische Freihandelsabkommen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, am Montag, also am 15. Juni, feiern wir ein Jubiläum. Vor zehn Jahren hat der damalige Ausschuss einstimmig den Modellversuch „öffentliche Petitionen“ beschlossen. Seitdem können Bürgerinnen und Bürger Petitionen im Internet veröffentlichen, online unterstützen oder mitdiskutieren. Unser Internetportal ist inzwischen klarer Spitzenreiter bei den Internetangeboten des Deutschen Bundestages. Ein Beleg dafür sind die 1,8 Millionen registrierten Nutzerinnen und Nutzer auf der Internetseite unseres Ausschusses und über 500 000 Mitzeichnungen bei 436 im vergangenen Jahr veröffentlichten Petitionen. Dabei ging es unter anderem um die Reform der Pflegeversicherung auf der Grundlage eines neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs mit über 176 000 Unterstützerinnen und Unterstützern oder auch um die Abschaffung der Intensiv- und Massentierhaltung bis 2020 mit über 98 000 Mitzeichnungen. Trotz dieser beeindruckenden Zahl bei den öffentlichen Petitionen sieht sich der Ausschuss seit einiger Zeit mit einer Konkurrenzsituation konfrontiert. Petitionsplattformen von privaten Anbietern im Internet werden immer populärer und führen zu Missverständnissen bei Bürgerinnen und Bürgern, aber auch bei den Medien; denn diese Art von Petitionen können nicht vom Bundestag anerkannt und bearbeitet werden. Natürlich kann jedermann öffentlich auf einer von ihm gewählten Plattform eine Petition starten und zu Unterschriftenaktionen aufrufen. Ich finde, das ist auch gut so: wenn Menschen sich zusammentun, um sich gemeinsam für etwas einzusetzen. Dafür sind Kampagnen und soziale Netzwerke auch da. Was uns aber wichtig ist: Man darf sie nicht mit unserer Arbeit, dem parlamentarischen Petitionswesen gemäß dem Grundgesetz, verwechseln. Denn: Nur beim Deutschen Bundestag kann der Petent oder die Petentin von einer mehrfachen Sicherheit ausgehen: Erstens. Die Petition wird offiziell entgegengenommen und der Eingang bestätigt. Zweitens. Die Petition wird sorgfältig geprüft. Drittens. Das Parlament fällt eine demokratische, abschließende Entscheidung. Nicht zuletzt werden die Daten der Einreicher und Nutzer geschützt und nicht wie auf einigen Plattformen - durch Verarbeitung oder Weitergabe als Finanzierungsquelle der Plattform genutzt. Außerdem empfinde ich es als wichtig, dass weder eine Eigen- noch Fremdbewerbung für andere Petitionen oder kommerzielle Produkte erfolgt. ({3}) Ausdrücklich darauf hinweisen möchte ich aber auch, dass alle Bearbeitungsschritte unabhängig von der Zahl der Unterstützerinnen und Unterstützer stattfinden. Ob es sich um eine Einzelpetition handelt oder ob die Petition 20 oder 120 000 Unterstützerinnen und Unterstützer hat: Eine sorgfältige Bearbeitung ist beim Petitionsausschuss des Bundestages garantiert. ({4}) Hier bitte ich Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, um Ihre Unterstützung, in Ihren Wahlkreisen für Klarheit und Aufklärung zu sorgen. Sie werden es nicht glauben: Wir freuen uns, wenn Sie uns mit noch mehr Arbeit versorgen. ({5}) Werte Kolleginnen und Kollegen, abschließend möchte ich mich noch bei denjenigen bedanken, ohne die wir als Ausschussmitglieder dem enormen Arbeitspensum hilflos ausgeliefert wären und die hinter den Kulissen für uns tätig sind. Ein herzlicher Dank geht an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Ausschussdienstes, der Abgeordneten und der Fraktionen. ({6}) Bedanken möchte ich mich aber auch bei meinen Ausschusskolleginnen und -kollegen. Wir sind eine tolle Mannschaft: Bei uns wird gestritten, auch einmal gelacht, um Lösungen gerungen und die Meinung des Gegenübers respektiert. Dafür möchte ich mich ganz herzlich bedanken. Lassen Sie uns weiter so arbeiten! ({7}) Weil Petitionsausschussmitglieder stets und ständig an Petitionen denken und versuchen, Abhilfe zu schaffen, hoffe ich auch, mit meiner Rede einer Petentin wenigstens ein wenig gerecht geworden zu sein, deren Petition lautete: „Der Deutsche Bundestag möge beschließen, dass die erste politische Amtssprache im Deutschen Bundestag Hochdeutsch ist.“ ({8}) Trotzdem sollten wir den Hinweis von Christian Morgenstern beherzigen, der schrieb: Beim Dialekt fängt die gesprochene Sprache erst an. Doch wir beim Petitionsausschuss haben es auch schriftlich mit Dialekten zu tun. So wissen wir mittlerweile auch, was „Prüttsucht“ und „Spökenkiekerei“ sind. ({9}) Aber ich kann Ihnen versichern: Wir beim Petitionsausschuss lesen weder im Kaffeesatz, noch können wir die Zukunft voraussagen. Wir halten uns an die Tatsachen und wollen die Zukunft nicht voraussagen, sondern sie mit unseren Entscheidungen positiv beeinflussen. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({10})

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000305

Ganz herzlichen Dank, Frau Kollegin Steinke. Ich sage ausdrücklich herzlichen Dank dafür, dass Sie auch noch einmal so klar und deutlich beschrieben haben, welches Privileg und welches wichtige Recht in unserer Verfassung verankert ist: dass jeder Bürger, jede Bürgerin in unserem Land eine Petition an den Deutschen Bundestag stellen kann und dass auch jede Petition wirklich sorgfältig bearbeitet wird und auch beantwortet wird. Das ist eine Errungenschaft, die wir, glaube ich, alle zu schätzen wissen, die aber leider nicht oft genug unterstrichen und hervorgehoben wird. Deshalb sage auch ich ausdrücklich Danke an alle Kolleginnen und Kollegen, die diese wichtige Arbeit leisten. ({0}) Als nächster Redner in der Debatte hat Andreas Mattfeldt von der CDU/CSU-Fraktion das Wort. ({1})

Andreas Mattfeldt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004108, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ja, wir haben es gehört: Die Arbeit im Petitionsausschuss ist eine herausragende für unser Parlament. Tagtäglich dürfen wir uns als Mitglieder in immer wieder neue Themenbereiche einarbeiten und hineindenken, wie ich es in dieser Vielfalt in keinem anderen Ausschuss erlebe. Wenn ich als Abgeordneter den Bürgern in ganz vielen Fällen direkt und häufig persönlich helfen kann, ist dies wohl die schönste und auch befriedigendste Aufgabe, die man in unserem Parlament als Abgeordneter erleben darf. Bürger aus allen - allen! - Wahlkreisen unserer Republik wenden sich mit ihren Petitionen an uns Abgeordnete, damit wir ganz konkret ihr Anliegen persönlich zur Kenntnis nehmen und - das wird natürlich erwartet - in ihrem Sinne lösen. Dies gelingt nicht immer, aber, wie wir eben von der Kollegin Steinke gehört haben, viel häufiger, als man denken mag. Es ist eben die Bürgernähe, die die Arbeit dieses Ausschusses auszeichnet. Sie haben es gesagt, Frau Präsidentin: Jedermann ({0}) hat das Recht, wie es in Artikel 17 des Grundgesetzes geschrieben steht, sich mit einer Petition an die Abgeordneten des Deutschen Bundestages zu wenden. ({1}) Wir Abgeordneten erfahren so aus erster Hand, wo sprichwörtlich der Schuh drückt, und erhalten auch Impulse für die Gesetzgebung. Gerade weil wir aus allen Wahlkreisen der Republik Petitionen erhalten, würde ich mich freuen, wenn die Arbeit des Ausschusses ein wenig mehr gewürdigt würde, als dies manches Mal der Fall ist. ({2}) Es ist sicherlich ein Fortschritt, dass wir die Debatte über den Bericht des Petitionsausschusses im Anschluss an die Debattenkernzeit führen und nicht, wie ich es auch schon erlebt habe, zu später Stunde. Allerdings sage ich auch in aller Deutlichkeit, dass eine Debatte, in der es um die Anliegen der Bürgerinnen und Bürger geht, in die morgendliche Kernzeit gehört, ({3}) um deutlich zu machen, dass die Menschen im Mittelpunkt des politischen Handelns dieses Hauses stehen. ({4}) 61 Petitionen erhielt der Deutsche Bundestag im Jahr 2014 durchschnittlich pro Werktag. Insgesamt waren es 15 325 Eingaben. Bei so vielen Petitionen muss man natürlich einiges an Arbeit leisten, um den Durchblick nicht zu verlieren. Damit wir die zahlreichen Petitionen trotzdem bewältigen können, legen sich unser Ausschussdienst und unsere Mitarbeiter bei der Vorbereitung mächtig ins Zeug. Deshalb steht an dieser Stelle unser Dank für die ausgezeichnete Arbeit unseres Ausschussdienstes, unserer Mitarbeiter, die unermüdlich, häufig weit über die Erfüllung eines normalen Arbeitsvertrages hinaus, für die Menschen bei uns im Land im Einsatz sind. ({5}) Viele dieser Petitionen machen uns sehr nachdenklich; denn oftmals enthalten sie nämlich nicht nur rein fachliche Anmerkungen oder Kritikpunkte. Häufig schildern Betroffene ihre persönlichen Schicksale und wenden sich nahezu hilfesuchend an ihr Parlament. Als ein besonderes Beispiel möchte ich hier eine Petition erwähnen, in der berechtigterweise moniert wurde, dass es nicht angehen könne, dass ehemalige Mitarbeiter der Stasi beim Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes arbeiten, obwohl dies bereits seit vielen Jahren bekannt ist. Meine Damen und Herren, es darf doch nicht sein, dass Opfer der Stasi, die unsere Jahn-Behörde aufsuchen, nunmehr 25 Jahre nach der Wiedervereinigung immer noch Angst haben müssen, in der Stasiunterlagenbehörde ihren früheren Peinigern über den Weg zu laufen. ({6}) Wir Koalitionäre finden, dass die Forderung dieses Petenten mehr als berechtigt ist. Daher haben wir die Kulturstaatsministerin aufgefordert, diesem Missstand umgehend entgegenzuwirken. Sie sehen hieran: Der Petitionsausschuss ist weit mehr als nur der Kummerkasten des Deutschen Bundestages. ({7}) Allerdings möchte ich kritisch anmerken, dass eine Vielzahl der Petitionen politisch motiviert ist und von bezahlten Mitarbeitern von Verbänden eingereicht wird. Viele Eingaben sind inhaltsgleich zu parallel stattfindenden Bundestagsdebatten. Deshalb sage ich ganz deutlich: Der jeweilige Fachausschuss des Bundestages ist der richtige Ort, um solche Themen zu behandeln - nicht der Petitionsausschuss. Leider - diese Kritik kann ich Ihnen nicht ersparen, meine verehrten Kolleginnen und Kollegen von der Opposition - benutzen Sie den Petitionsausschuss zuweilen gerne als Spielball für parteitaktische Spielchen. ({8}) Der Petitionsausschuss ist aber kein Ort für Spielchen, und damit wird uns Zeit und Energie geraubt, die wir den Bürgern und ihren Anliegen widmen sollten. Meine Damen und Herren, lassen Sie mich abschließend Folgendes klarstellen - das ist von Frau Steinke schon gesagt worden, aber es kann gar nicht oft genug gesagt werden -: Bei uns im Petitionsausschuss macht es keinen Unterschied, ob es sich um eine Einzel- oder eine Massenpetition handelt. Man hört und liest nahezu ausschließlich von Massenpetitionen mit Tausenden von Mitzeichnungen, sodass in der Öffentlichkeit allzu leicht der Eindruck entsteht, dass eine Petition nur dann überhaupt erfolgreich sein kann, wenn sie möglichst viele Unterstützer findet. Dem ist - auch Frau Steinke hat das gesagt - definitiv nicht so. Vom Petitionsausschuss wird jede Petition angenommen, geprüft und beschieden. Das ist uns wichtig. Herzlichen Dank an alle Fraktionen für die gute, sachlich und menschlich angenehme Zusammenarbeit! Danke schön. ({9})

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000305

Vielen Dank. - Als nächste Rednerin hat Kerstin Kassner von der Fraktion Die Linke das Wort. ({0})

Kerstin Kassner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004324, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie mich zuerst einmal die potenziellen und tatsächlichen Petenten, also die Bürgerinnen und Bürger, ansprechen. Hier und heute geht es um die Möglichkeit und das verbriefte Recht, eine Petition zu allen interessierenden Themen, die mit der Bundespolitik zu tun haben, einzureichen. Natürlich ist das in Worte gegossene Politik, Kollege Mattfeldt. Es ist ganz klar, dass natürlich all das, was politisch relevant ist, was den Menschen am Herzen liegt, in eine Petition einfließt. Das ist einmal mehr, einmal weniger anspruchsvoll; aber es muss immer ernst genommen werden. Wir haben uns verpflichtet, alle Petitionen gleichzubehandeln, und das machen wir auch so. ({0}) Wenn ich mir die öffentlich debattierten Petitionen ansehe, dann stelle ich fest: Sie sprechen sehr deutlich dafür, dass es tatsächlich um relevante politische Themen geht, nämlich zum Beispiel um die Reform der Pflegeversicherung, die Abschaffung der Massen- und Intensivtierhaltung, die wohnortnahe Versorgung mit Hebammen, den einheitlichen Umsatzsteuersatz auf Lebensmittel, die Kennzeichnung von Echtpelzprodukten, die Reform hinsichtlich Hartz IV, was die Sanktionen betrifft, oder die Kostenerstattung bei Cannabismedikamenten. Das sind alles Themen, die viele Bürger tatsächlich bewegen und berühren. Deshalb haben sie auch mindestens 50 000 Unterstützer, wurden von uns öffentlich diskutiert und mit mehr oder weniger breiter Medienresonanz verfolgt. Ich wünschte mir aber, dass noch viel mehr Petitionen, deren Themen für die Bürgerinnen und Bürger ebenfalls wichtig sind, im Petitionsausschuss diskutiert und somit von den Bürgern nachvollzogen werden könnKerstin Kassner ten. Deshalb wünsche ich mir eine öffentliche Debatte. Das wäre auch ohne Probleme möglich. Denn wir nennen dort keine Namen, wir nennen dort keine Firmen, sondern wir reden über die Inhalte, um die es geht. Deshalb könnte sehr viel mehr öffentlich debattiert werden. ({1}) Das würde auch dazu beitragen, dem Anspruch der Transparenz gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern, den unser Parlament haben sollte, gerecht zu werden. Also: Machen wir uns dafür stark! ({2}) Ich möchte den Dank an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Ausschusses, den Frau Steinke ausgesprochen hat, gerne wiederholen. Es sind vom Ausschusssekretariat im vergangenen Jahr 70 000 Schriftstücke versandt worden. Wir wissen, es gab 15 325 Petitionen. Das heißt, dass zu jeder Petition mehrere Schriftvorgänge auf den Weg gebracht werden mussten. Das ist eine gewaltige Leistung. Schönen Dank an alle Mitarbeiter der Fraktionen, die für Petitionen zuständig sind, aber auch an die Fachpolitiker! Ohne sie würden wir die vielfältigen Themen gar nicht behandeln können. Es geht dabei wirklich um das Leben in seiner ganzen Breite. Natürlich weiß man nicht über jedes einzelne Thema selbst Bescheid, sondern muss sich Hilfe holen. Also: Kollegen, habt vielen Dank für eure Unterstützung! ({3}) Abschließend möchte ich auf die Ausschussdrucksache 18/4990 aufmerksam machen; das ist der Bericht des Petitionsausschusses für das Jahr 2014. Er ist sozusagen ein Parcoursritt durch alle Politikfelder. Wenn Sie sich dafür interessieren, welche Themen man noch aufgreifen könnte, dann schauen Sie bitte in diese Drucksache. Es gibt viele Politikfelder, die noch beackert werden müssen. Das lohnt sich im Interesse der Bürgerinnen und Bürger ganz sicher. Es gibt vielfältige Themen - bis hin zur Farbe der Parkscheibe an den Autos. Dort sollte man, so die Petition, buntere Farben benutzen. Es gab auch eine sehr interessante Einschätzung, die ich Ihnen nicht ersparen möchte. Auf Seite 79 steht nämlich: Zum Bereich des Wetterdienstes wurden im Jahr 2014 keine Petitionen eingereicht. Der Ausschuss konnte somit erfreut feststellen, dass die Bürgerinnen und Bürger mit dem Wetter im Jahr 2014 weitestgehend zufrieden waren. ({4})

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000305

Damit, liebe Kollegin, müssen Sie zum Schluss kommen.

Kerstin Kassner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004324, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ja. - Ich möchte mich sehr herzlich bei allen bedanken. Es ist wirklich eine sehr gute und kollegiale Arbeit in unserem Petitionsausschuss, und ich denke, das sind wir den Bürgerinnen und Bürgern auch schuldig. Vielen Dank. ({0})

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000305

Vielen Dank. - Als nächste Rednerin hat die Kollegin Martina Stamm-Fibich von der SPD-Fraktion das Wort. ({0})

Martina Stamm-Fibich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004413, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Der Petitionsausschuss ist nicht nur ein sehr arbeitsaufwendiger Ausschuss, sondern er bietet vor allem auch ein sehr spannendes Arbeitsumfeld, und das oft jenseits der großen Politik. Gerade das macht diesen Ausschuss so besonders. Der Petitionsausschuss ist das verfassungsrechtlich verankerte Sprachrohr zwischen Politik und Bürgern. Diese Funktion ist extrem wichtig, gerade in einer Zeit, in der die Zahl komplexer globaler Fragen zunimmt. Oft sind diese Fragen so kompliziert, dass sie mit einfachen Worten nicht zu beantworten sind. Kein Wunder, dass so Politikverdrossenheit entsteht! Wenn ich nicht verstehe, wo mein Geld hinkommt, dann werde auch ich ärgerlich. Gerade hier liegt die Bedeutung des Petitionsausschusses. Wir als Mitglieder dieses Ausschusses müssen zuhören, und zwar vor allem denen, die keine große Lobby hinter sich haben. Wir müssen die Sorgen und Nöte der Bürgerinnen und Bürger ernst nehmen, die sonst zu leicht überhört werden. Das ist für mich die eigentliche Bedeutung des Petitionsausschusses, und deshalb liegt mir die Arbeit so sehr am Herzen. Scherzhaft wurde ich vor kurzem in einem Interview als „Kümmertante“ bezeichnet. Ich denke, mein Gesprächspartner hatte recht; denn wir kümmern uns sehr gerne und mit viel Engagement um die Anliegen der Bürgerinnen und Bürger. Im Petitionsausschuss sammeln wir keine Stimmen, wir suchen Lösungen. ({0}) Als Mitglied im Ausschuss für Gesundheit habe ich es auch im Petitionsausschuss vor allem mit den Petitionen aus dem Gesundheitsbereich zu tun. 2014 gab es im Gesundheitsbereich rund 28 Prozent mehr Petitionen als 2013. Insgesamt 1 531 Petitionen richteten sich an das Bundesministerium für Gesundheit. Die hohe Zahl erklärt sich durch die zwei Gesetze, die wir im letzten Jahr beschlossen haben. Petitionen sind aber weit mehr als Reaktionen auf Gesetzesvorhaben. Sie drücken das aus, was Bürger erle10420 ben, sie zeigen Grenzen, an die Bürger stoßen, und die Alternativen auf, die sie sich für bestimmte Situationen wünschen. Im Bereich der Gesundheit sind es vor allem zwei Themen, bei denen viele Bürgerinnen und Bürger der Schuh drückt. Zum einen sind es die Beiträge zur gesetzlichen Krankenversicherung. 363 Petitionen beinhalteten im Jahr 2014 die Beiträge zur GKV. Häufig wenden sich freiwillig gesetzlich Versicherte, die selbstständig sind, an uns. Viele der Selbstständigen haben ein zu geringes Einkommen, um die hohen Beiträge der freiwilligen Krankenversicherung zahlen zu können. Sie fordern deshalb, dass die Beiträge nach dem tatsächlichen Einkommen berechnet werden. Aktuell gibt es hier eine Mindestbemessungsgrenze. Neben den Beiträgen zur GKV zeichnen sich zum anderen auch im Bereich der Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherungen Probleme ab. So wurde in einer Petition die Zuzahlung zu einem elektrischen Rollstuhl gefordert. Aus einer persönlichen Notlage heraus fordert die Petentin, dass die Ungleichbehandlung von mittelbarem und unmittelbarem Behinderungsausgleich generell abgeschafft werden muss. Auch mittelbare Hilfsmittel, wie der genannte Rollstuhl, sollten es den Betroffenen ermöglichen, so normal wie möglich am Leben teilzuhaben - so die Forderung der Petentin. Insgesamt haben sich 77 Bürgerinnen und Bürger an uns gewandt, die Probleme mit Zuzahlungen in der GKV hatten. Besonders spannend sind für mich die Petitionen aus dem Bereich der Arzneimittel. Im Fokus der Kritik steht dabei oft die Substitution, also die Pflicht, Originalpräparate durch Generika zu ersetzen. Am 15. Juni, also am kommenden Montag, beschäftigt sich der Petitionsausschuss in einer öffentlichen Anhörung mit dem Thema Substitution. In der Petition fordert die Deutsche Parkinson Vereinigung, dass die Indikation Parkinson auf die sogenannte Substitutionsausschlussliste gesetzt wird. Verehrte Kolleginnen und Kollegen, Sie sehen, die Arbeit des Petitionsausschusses ist vielfältig, aber manchmal auch sehr kleinteilig. Ohne die engagierten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Ausschussdienstes wäre die Flut an Petitionen für uns nicht zu bewältigen. Ich danke ihnen für die gute Zusammenarbeit. ({1}) Nur wenn wir uns gemeinsam kümmern, können wir die besten Lösungen für die Petenten finden. Herzlichen Dank. ({2})

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000305

Vielen Dank. - Als nächste Rednerin hat die Kollegin Corinna Rüffer vom Bündnis 90/Die Grünen das Wort.

Corinna Rüffer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004390, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste auf den Tribünen! Ich schließe mich dem an - das ist im Jahresbericht nachzulesen -: Mit Petitionen kann man sehr viel erreichen. Da sind zum Beispiel die vielen Petitionen, die fordern, endlich das Leid der vergessenen Kinder anzuerkennen, die in Einrichtungen der Behindertenhilfe und in Psychiatrien unermessliches Leid erlitten haben. Wenn die Länder sich jetzt endlich zu bewegen scheinen, in dieser Frage ihrer Verantwortung gerecht zu werden, dann auch aufgrund eines gemeinsamen Beschlusses der Abgeordneten im Petitionsausschuss. Zu verdanken sind die meisten Erfolge in allererster Linie den engagierten Bürgerinnen und Bürgern und Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Ausschussdienstes. ({0}) Wenn wir im Ausschuss immer so engagiert debattieren würden, wie es gestern Morgen auf einmal möglich war, könnten wir uns auch selber auf die Schulter klopfen. Aber im Rückblick auf das letzte Jahr und die letzten Monate kann ich nur sagen: An uns, liebe Kolleginnen und Kollegen, liegen die Erfolge leider nicht immer. Denn der Lust der Bürgerinnen und Bürger auf Mitsprache, Mitwirkung und Veränderung steht viel Verzagtheit entgegen, Verzagtheit der Koalitionsabgeordneten, dieses Engagement aufzunehmen und Fehler zu korrigieren. Um es deutlich zu sagen: In der heutigen Debatte herrschen verkehrte Verhältnisse. Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union und der SPD, haben wieder zwei Drittel der Redezeit. Aber im Ausschuss bekommen Sie, abgesehen von der wirklich erfreulichen Sitzung gestern, zu selten den Mund auf. ({1}) In der Regel jagen wir im Schweinsgalopp in 30 Minuten durch 30 Petitionen. Die Petitionen sind Ihnen im Schnitt also 60 Sekunden wert. ({2}) - Wir sagen die ganze Zeit etwas. Das können wir uns einmal angucken. Für viele Bürgerinnen und Bürger ist der Petitionsausschuss wie eine Laterne, die Licht ins Dunkel des Behörden- und Paragrafendschungels bringen kann. ({3}) Die Kolleginnen und Kollegen der SPD bräuchten dort vor allen Dingen eine Laterne, um sich festzuhalten. Regelmäßig mittwochmorgens dürfen wir erleben, wie die SPD umfällt und sich widerstandslos von eigenen Grundsätzen verabschiedet. Petitionen zu Pflege, Gesundheit und Arbeitsmarktpolitik, mit denen Bürgerinnen und Bürger sozialdemokratische Kernanliegen formulieren, werden von sozialdemokratischen Abgeordneten oft im Minutentakt und diskussionslos beiseitegewischt. Wir würden im Ausschuss gerne häufiger oder zumindest ab und an eine Begründung dafür finden, warum berechtigte Petitionen abgelehnt werden. ({4}) Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD - die Union schimpft gerade mehr, obwohl sie gar nicht angesprochen ist -, was ist das für ein Verständnis von Demokratie und Parlamentarismus, wenn Sie auf eine Petition, mit der Hunderttausende von Bürgerinnen und Bürgern die Bundesregierung auffordern, Konsequenzen aus dem NSA-Skandal zu ziehen, nur antworten - ich zitiere sinngemäß -: Mal ganz ehrlich, daran können wir doch sowieso nichts ändern. Warum machen wir uns eigentlich die Arbeit? Es ist doch Sinn und Zweck des Petitionsausschusses, Regierungshandeln zu kontrollieren und zu korrigieren. Sie wissen schon, dass auch Abgeordnete der Regierungskoalition nicht verpflichtet sind, zu allem Ja und Amen zu sagen, was ihre Minister verbocken. Wenn die Merkel-Raute zum Symbol für Bewegungslosigkeit und Stillstand in diesem Land geworden ist, dann ist der Bremsklotz das Symbol für die Tätigkeit der Koalition im Petitionsausschuss. ({5}) Die Liste von Petitionen - jetzt sollten vor allem auch diejenigen zuhören, die nicht immer dabei sind -, die von der Koalition nicht entschieden, sondern immer wieder geschoben werden, wird länger und länger. Es ist wirklich leichter, einen Pudding an die Wand zu nageln, als die Koalitionsabgeordneten im Ausschuss zu Entscheidungen zu bewegen. ({6}) Wir alle wollen doch nicht den Petitionsausschuss wieder in die muffige Ecke des Kummerkastens drängen: Die Leute sollen bei Mutti ihr Herz ausschütten, aber mit Konsequenzen ist nicht zu rechnen. Jetzt kommen Sie mir nicht damit, dass Sie Fortschritte im Bereich der Barrierefreiheit in der Pipeline haben. Es ist wirklich peinlich, dass wir in diesem Bereich noch nicht weitergekommen sind. Ich sage Ihnen ganz deutlich: Wir können das von unserer Seite aus heute entscheiden. Das ist überhaupt kein Problem. Aber darüber hinaus steht eine substanzielle Weiterentwicklung des Petitionsrechts an. Warum nicht generell öffentliche Ausschusssitzungen? ({7}) Es ist ziemlich absurd, dass mehr als 90 Prozent aller öffentlichen Petitionen in nichtöffentlicher Sitzung beraten werden. ({8}) Lassen Sie uns hier im Plenum über bedeutende Petitionen debattieren. Lassen Sie uns die öffentliche Petition zu einer offenen Petition weiterentwickeln, sodass die Bürgerinnen und Bürger gemeinsam Gesetzentwürfe erarbeiten können. Dann können wir sie in den Fachausschüssen und auch nachher hier im Plenum beraten. Das wäre ein echter Fortschritt. Lassen Sie uns bessere Zugänge schaffen für diejenigen, die sich nicht routiniert im Netz bewegen, für Menschen mit geringem Einkommen, mit niedrigem Bildungsniveau und für alte Menschen. Solche Reformen wären die richtige Antwort auf die zunehmende Politikverdrossenheit, von der wir alle ein Lied singen können.

Johannes Singhammer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002800

Frau Kollegin Rüffer, auch bei einer großzügigen Bemessung der Redezeit müssen Sie zum Schluss kommen.

Corinna Rüffer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004390, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich komme zum Ende. - Die Menschen möchten sich einbringen. Das beweist jede Petition, die uns erreicht. Geben wir ihnen bitte mehr Möglichkeiten, als es heute der Fall ist. Vielen Dank. ({0})

Johannes Singhammer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002800

Für die CDU/CSU-Fraktion spricht jetzt der Kollege Paul Lehrieder. ({0})

Paul Lehrieder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003799, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Zuschauerinnen! Liebe Zuschauer! Sehr geehrte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Petitionsausschusses hier auf der Regierungsbank, auch von mir vorab ein herzliches Wort des Dankes. Ich habe mich bemüht, eine sehr harmonische Rede aufzusetzen, aber, liebe Frau Kollegin Rüffer, ich muss gleichwohl anfangen, Sie zu korrigieren. An die Damen und Herren Zuschauer, die die Kollegin Rüffer nicht so gut kennen wie wir, sage ich: Sie ist eigentlich viel netter. ({0}) So wie heute - sie hat hier versucht, zu polarisieren - ist sie zum Glück im Ausschuss ganz selten. Liebe Frau Kollegin Rüffer, wenn im Ausschuss Schweigen im Walde herrscht, dann liegt das oft genug daran, dass wir unsere Petitionen sehr gründlich vorbereitet haben und unsere Meinung gefestigt haben, aber von der Opposition kein Wort dazu kommt, warum und weshalb über welche Petition so nicht abgestimmt werden soll. ({1}) Frau Rüffer, wir sind auf eine Wortmeldung von Ihnen, von den Grünen oder von den Linken noch nie eine Antwort schuldig geblieben. Das Schweigen im Walde betrifft also, wenn wir tatsächlich harmonisch eine Petition verabschieden, uns beide. Ich freue mich auf die nächste Sitzung des Petitionsausschusses am kommenden Mittwoch. Da werden Sie wieder viel netter sein. ({2}) - Sie wollen etwas fragen.

Johannes Singhammer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002800

Ich entnehme Ihrer zustimmenden Geste, Herr Kollege Lehrieder, dass Sie mit einer Zwischenfrage der Kollegin Rüffer einverstanden sind.

Paul Lehrieder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003799, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Selbstverständlich.

Corinna Rüffer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004390, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Lehrieder, ich schätze Sie auch sehr. ({0})

Paul Lehrieder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003799, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Das war schon mal gut. Bisher stimmt alles.

Corinna Rüffer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004390, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich schätze alle Kollegen, die im Petitionsausschuss sind. Aber das ist nicht der Punkt. Ich nenne einmal ein Beispiel: Es ist wirklich schwierig, über kritische Petitionen zu diskutieren, wenn sie schlicht nicht auf der Tagesordnung stehen. Ich hatte gestern Berichterstattung zu fünf Petitionen. Vier dieser Petitionen sind geschoben worden. Würden Sie mir nicht zustimmen, dass das ein Problem sein könnte?

Paul Lehrieder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003799, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Liebe Frau Kollegin Rüffer, herzlichen Dank für die Einlassung. Natürlich ist es oft so, dass noch Sachverhalte oder neue Erkenntnisse bei der Bearbeitung einer Petition oder bei der Vorbereitung einer Sitzung des Petitionsausschusses auftauchen und dass es deshalb der Petent verdient, dass wir die Petition, bevor wir eine vorschnelle Entscheidung treffen, schieben, um unserem gesamten Ausschuss die Wissensmehrung, auch im Interesse der Opposition, zu ermöglichen. ({0}) Also, Frau Kollegin Rüffer, eine Verschiebung hat sachliche und vernünftige Gründe. Das zeugt von einem verantwortungsvollen Umgang mit den Petitionen, den wir uns angewöhnt haben und den Sie in vielen Fällen sicherlich gut mitmachen. - Bitte bleiben Sie noch stehen, ich bin mit meiner Antwort noch nicht ganz fertig. Bitte glauben Sie uns: Die Petitionen sind bei uns in der Großen Koalition in guten Händen. Wir machen das richtig. Das hat nichts mit einem Pudding, den man an die Wand nageln kann, zu tun. Sie dürfen uns dabei gerne weiterhin kritisch begleiten. Ich freue mich schon auf die nächste Sitzung. - So, jetzt dürfen Sie sich setzen. ({1}) Meine Damen und Herren, wir treffen uns hier zum ersten Mal in der 18. Legislaturperiode, um den Jahresbericht 2014 des Petitionsausschusses vorzustellen. Nach der Bundestagswahl 2013 änderte sich natürlich auch die Zusammensetzung des Ausschusses, sodass diese Beratung eines Jahresberichtes heute für einige Kolleginnen und Kollegen die erste ist. Sie konnten sich bereits ein Bild über die sehr arbeitsreiche, aber auch über die Fraktionsgrenzen hinweg äußerst angenehme und sehr kollegiale Zusammenarbeit im Petitionsausschuss machen. Das betrifft unseren Koalitionspartner von der SPD. Das betrifft aber auch Sie, Frau Steinke, und die ganzen Kollegen der Linkspartei, aber auch die Kollegin Rüffer und den Kollegen Meiwald von den Grünen. Im Großen und Ganzen mögen wir uns sehr viel mehr, als es hier den Anschein hat. Im Vergleich zu den meisten anderen Ausschüssen des Bundestages findet die Arbeit des Petitionsausschusses bedauerlicherweise nach wie vor eher fernab der öffentlichen Wahrnehmung statt. Ich will nicht verhehlen, Frau Kollegin Rüffer: Oft ist das auch gut so. Oft enthält eine Petition wirklich sensible und personenbezogene Daten. Dabei kann der Petent völlig zu Recht darauf vertrauen, dass wir seine Daten vertraulich behandeln und sie nicht coram publico erörtern oder auf dem Marktplatz herumtragen. ({2}) Unsere Tätigkeit ist gleichwohl nicht weniger wichtig. Im Gegenteil: Kaum eine Institution innerhalb des politischen Systems der Bundesrepublik setzt sich mit den Befindlichkeiten innerhalb der Bevölkerung so intensiv auseinander. Nirgendwo sonst können Bürger auf so direkte Weise ihre Anliegen dorthin tragen, wo Entscheidungen getroffen werden: in den Deutschen Bundestag. Meine Damen und Herren, wir alle bezeichnen uns als Abgeordnete. Abgeordnet: Das heißt, wir sind von den Bürgern aus unseren Wahlkreisen hier nach Berlin entsandt, um zum einen gute Gesetze und gute Arbeit in den Ausschüssen zu machen, aber um zum anderen natürlich auch die Sorgen und Nöte der Menschen in unseren Wahlkreisen, in unserer Heimat mit nach Berlin zu nehmen und sie als Abgeordnete einer vernünftigen Lösung zuzuführen. Das Vertrauen der Menschen rechtfertigen wir auch durch die Arbeit im Petitionsausschuss, um als Seismograf der Befindlichkeit unserer Bevölkerung kritikwürdige Gesetze, kritikwürdige Entscheidungen, aber auch kritikwürdiges Verwaltungshandeln zu korrigieren. Bevor meine Zeit zu Ende ist - lieber Herr Präsident, die Uhr läuft heute wieder sehr schnell -, darf ich auf einige aktuelle Beispiele hinweisen. ({3}) - Lieber Kollege Birkwald, das stimmt. - Ich will ein paar aktuelle Beispiele aufgreifen, damit sich die Menschen vorstellen können, welche Themen wir behandeln; von den Kollegen wurden bereits Beispiele aus dem Petitionsausschuss genannt. In einer Petition vor einigen Jahren wurde gefordert, die Kindererziehungszeiten bei der Rentenberechnung von Frauen, deren Kinder vor dem 1. Januar 1992 geboren wurden, von einem Jahr auf drei Jahre zu erhöhen. Wir haben diese Petition dem zuständigen Bundesministerium für Arbeit und Soziales zur Erwägung überwiesen, weil wir hier eine Ungleichbehandlung sahen. Diese Petition hat sinngemäß Eingang in die Koalitionsverhandlungen gefunden. Wir haben zum 1. Juli 2014 die sogenannte Mütterrente eingeführt, mit der die Erziehungsleistung von Vätern und Müttern, deren Kinder vor dem 1. Januar 1992 geboren wurden, ({4}) mit einem zusätzlichen Entgeltpunkt berücksichtigt wurde. ({5}) - Herr Kollege Kurth, bitte stellen Sie eine Frage. Ich habe nur noch 40 Sekunden Redezeit. - Ich will nicht behaupten, dass allein der Petitionsausschuss die Mütterrente auf den Weg gebracht hat. Aber wir haben konstruktiv daran mitgewirkt, dass hier mehr Gerechtigkeit für Mütter von Kindern, die vor dem 1. Januar 1992 geboren worden sind, entstehen konnte. ({6}) Der nächste Punkt betrifft die Prostitution. Die Forderung, Bordellwerbung auf öffentlichen Plätzen und auf öffentlichen Veranstaltungen zu verbieten, betrifft das Prostitutionsgesetz, dessen Neuregelung wir derzeit in sehr konstruktiven und sehr leidenschaftlichen Diskussionen mit unserem Koalitionspartner erarbeiten. Aus diesem Grund hat der Petitionsausschuss empfohlen, die Petition der Bundesregierung und damit dem zuständigen Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend zu überweisen, was wir getan haben. Ich begrüße die in die Arbeit vertiefte Frau Staatssekretärin Caren Marks und darf gleichzeitig die Gelegenheit nutzen, mich für die gute Präsenz von Mitgliedern der Bundesregierung auf der Regierungsbank sehr herzlich zu bedanken. Oft genug müssen wir uns mit euch anlegen und einen Staatssekretär vorladen, wenn ihr nicht sofort das macht, was der Petitionsausschuss will. Manchmal müssen wir gemeinsam mit unserer Regierung dicke Bretter bohren. Aber in vielen Fällen konnten wir gemeinsam und konstruktiv eine gute Lösung erreichen. Ich darf mich bei der Regierung, bei den Ausschussmitarbeitern und auch bei den Kolleginnen und Kollegen bedanken und wünsche Ihnen noch einen schönen Tag. Ich freue mich auf die weiterhin harmonische, konstruktive und nette Zusammenarbeit, Frau Kollegin Rüffer. ({7})

Peter Hintze (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000907

Es herrscht also eine ausgesprochen angenehme Atmosphäre. ({0}) Deshalb erteile ich jetzt das Wort der Kollegin Birgit Wöllert für die Fraktion Die Linke. ({1})

Birgit Wöllert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004446, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuschauerinnen und Zuschauer und Zuhörerinnen und Zuhörer! Zu Anfang sei gleich gesagt, dass es eine spannende Arbeit in diesem Petitionsausschuss ist, weil es eine Arbeit ist, die durch die Breite aller Politikfelder reicht. Als Abgeordnete, die auch in einer Stadtverordnetenversammlung und in einem Kreistag tätig ist, schätze ich es sehr, diese Breite der Politik oftmals auch in der politischen Bewertung zu haben. Das sei vorausgeschickt. Ganz interessant finde ich, dass das Bundesministerium für Arbeit und Soziales deutlich auf Platz eins der Liste der Petitionen liegt, gefolgt von dem Bundesministerium für Gesundheit auf Platz vier, das auch eine recht hohe Anzahl von Petitionen betrifft. Soziale Fragen - ich zähle diese einmal zusammen -, sind somit mit einem hohen Anteil Gegenstand von Petitionen. Ich denke, das ist eine Widerspiegelung dessen, was gesamtgesellschaftlich diskutiert wird. Das halte ich für sehr wichtig, und deshalb möchte ich dies an zwei ganz konkreten Beispielen näher ausführen. Wir hatten insgesamt elf öffentliche Petitionen in vier Sitzungen. Davon waren 36 Prozent aus dem Bereich des Ministeriums für Gesundheit. Spitzenreiter bei den öffentlichen Petitionen war die Petition zur Reform der Pflegeversicherung auf der Grundlage eines neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs, an der sich 176 523 Menschen beteiligt haben. Ich finde, das ist eine tolle Form, seine eigenen Angelegenheiten selbst in die Hände zu nehmen. ({0}) Worum ging es dabei? Es ging um ein neues Verständnis von Pflegebedürftigkeit. Ich bin immer für eine konstruktive Arbeit. Harmonisch muss sie nicht immer sein, das sind wir auch sonst nicht alle, ({1}) und das unterscheidet uns als Opposition von der Koalition. ({2}) Eine nur harmonische Opposition erübrigt sich eigentlich. ({3}) Was heißt das im Einzelnen? Der Hilfebedarf der Menschen ist ganzheitlich und unter Einbeziehung von seelischen, geistigen und körperlichen Einschränkungen zu beurteilen. Seit 2009 liegen dazu Ergebnisse von verschiedenen Sachverständigen vor. Nun will die Bundesregierung laut Koalitionsvertrag den Pflegebedürftigkeitsbegriff erst 2017 wirklich auf die Tagesordnung bringen. Das geht den Petentinnen und den Petenten zu langsam, und ich sage: zu Recht. ({4}) Die Betroffenen haben einfach nicht so lange Zeit. Ihnen rennt die Zeit buchstäblich davon, und wir Politikerinnen und Politiker haben da einfach schneller zu sein. Wenn Expertinnen und Experten sich in eigener Sache zu Wort melden, geben sie auch immer gute Hinweise, wie etwas finanziert werden kann. Es ist nämlich ein Märchen, dass immer nur gefordert und nicht gesagt wird, wie das bezahlt werden kann. Auch das zeigte sich in der öffentlichen Anhörung. Ich sage noch einmal recht herzlichen Dank dafür, dass alle, die sich diesen öffentlichen Anhörungen stellen, mit einer solchen Sachkompetenz gut vorbereitet dorthin kommen. ({5}) Beispiel zwei: Sicherstellung der flächendeckenden wohnortnahen Versorgung mit Hebammenhilfe. Mit 88 512 Unterschriften lag diese Petition auf Platz drei, hinter der Massentierhaltung. Hier ging es erstens um Sofortmaßnahmen für die Hebammen wegen der Haftpflichtversicherung und zweitens darum, Voraussetzungen zu schaffen, dass Hebammen ohne Einschränkung bei normalen Geburten der Nachsorge und der Hilfe bei Beschwerden ihrer Arbeit gut nachkommen können. Es ist leider nicht gesetzlich gesichert - es wird auch mit dem neuen Gesetz, dessen Entwurf wir im Rahmen der zweiten und dritten Beratung unter Tagesordnungspunkt 6 verabschieden werden, nicht gesichert sein -, dass Hebammen künftig eine Absicherung haben.

Johannes Singhammer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002800

Frau Kollegin Wöllert, als erfahrene Parlamentarierin wissen Sie, dass jede Redezeit einmal ein Ende hat.

Birgit Wöllert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004446, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ich kann nur noch sagen: Ich habe das jetzt auf den Weg gebracht. Die Sache läuft. Liebe Petentinnen und Petenten, bleiben Sie weiterhin so fleißig, und sorgen Sie dafür, dass der Bundestag so viel Arbeit wie möglich hat. Sie haben durchaus Möglichkeiten, hier mitzuwirken. Vielen Dank. ({0})

Johannes Singhammer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002800

Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Simone Raatz für die SPD. ({0})

Dr. Simone Raatz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004380, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Mitarbeiter des Petitionsausschusses! Einige meiner Vorredner haben das schon gesagt: Der Petitionsausschuss ist sehr arbeitsintensiv. Frau Steinke und Herr Mattfeldt haben bestimmte Zahlen genannt. Alleine 2014 habe ich als Berichterstatterin für die Themenbereiche Energie, Innen- und Netzpolitik sowie Bildung und Forschung etwa 250 Petitionen bearbeitet. Nun wurde der Ruf von einigen nach noch mehr Arbeit laut. Ich bin mir nicht sicher, ({0}) ob wir das dann noch bewältigen können. Ich finde, dass schon 250 Petitionen ausreichend sind, wenn man sie ordentlich bearbeiten möchte. Wenn es sich um wichtige Anliegen handelt, stehen wir Abgeordnete im Petitionsausschuss natürlich bereit, um alles ordentlich zu bearbeiten. Unter den 250 Petitionen gab es viele interessante, die ein Nachjustieren auf politischer Ebene erforderlich machten. Da viele allgemeine Sachverhalte bereits erwähnt wurden, möchte ich auf ein Beispiel näher eingehen. Sie alle kennen sicher die Wäscheetiketten in ihrer Kleidung. Haben Sie diese auch schon einmal aus Ihrer Kleidung entfernt - wenn nicht, sollten Sie dies tun und gesehen, dass manche Wäscheetiketten ein Innenleben haben? Warum diese Frage? Weil genau dieses Innenleben der Etiketten Bürger in unserem Land beschäftigt und sie dazu eine Petition an den Deutschen Bundestag gerichtet haben. Denn in den Etiketten befindet sich häufig ein Chip, der sogenannte RFID-Chip, der Radiofrequenz-Identifikations-Chip. Dieser dient den Unternehmen der Warenverfolgung und der Inventur. Aber er verbleibt nach dem Verkauf weiterhin im Kleidungsstück. Das fiel einem Petenten auf und machte ihn stutzig. Er forderte daher in seiner Petition die automatische Deaktivierung und Entfernung des Chips nach dem Kauf des Kleidungsstücks. Warum? Bisher können Kunden über diesen Chip, ohne dass sie etwas davon wissen, im Umkreis von etwa einem Kilometer identifiziert werden. Damit wäre es zum Beispiel möglich, Bewegungsprofile zu erstellen, das Kaufverhalten zu analysieren und damit individuelle Werbebotschaften zu platzieren, und das alles mit handelsüblichen Lesegeräten. Das mag manchem gefallen. Ich persönlich würde es sympathisch finden, wenn man mir das eine oder andere anbieten würde. ({1}) Manche, wie dieser Petent, möchten das aber nicht. In der Sitzung des Petitionsausschusses waren wir uns daher parteiübergreifend einig, dass hier Handlungsbedarf besteht. Frau Rüffer, da waren wir einer Meinung und haben gemeinsam gestimmt. Unterschiedliche Meinungen im Petitionsausschuss dürfen und müssen möglich sein. Ich gebe Ihnen dahin gehend recht, dass eine intensivere Diskussion über manche Punkte wünschenswert wäre. Vielleicht kommen wir noch dahin. Ich wünsche es mir jedenfalls auch. Solche RFID-Chips sollten - das war der Wunsch des Petenten - beim Verkauf deaktiviert bzw. entfernt werden. Um das zu erreichen, haben wir die Petition folgendermaßen behandelt: Erstens. Diese Petition haben wir zur Erwägung an die Bundesregierung überwiesen. Das ist immerhin das zweithöchste Votum, welches der Petitionsausschuss vergeben kann. Zweitens haben wir ein Berichterstattergespräch mit den zuständigen Ministerien in die Wege geleitet, um ganz konkret klären zu lassen, was getan werden muss, um dieser Petition gerecht zu werden. Ein bisschen ernüchtert waren wir nach dem Gespräch; denn wir mussten feststellen, dass auch die Mitarbeiter in den zuständigen Ministerien über relativ wenig technisches Know-how bezüglich dieser Chips verfügten und darum keine genauen Aussagen treffen konnten, wie die Verwendung und Einsetzbarkeit zukünftig zu regeln ist. Das macht die Entscheidung im Petitionsausschuss nicht unbedingt einfacher. Aber - und darauf kommt es an - die zuständigen Ministerien BMWi und BMI haben jetzt den Auftrag, sich intensiver mit der Thematik zu befassen, rechtliche Klarheit zur Nutzung der RFID-Chips zu schaffen und zukünftig eine automatische Deaktivierung der Chips zu gewährleisten. Damit hat der Petent mit seiner Petition auf ein allgemeines Problem aufmerksam gemacht und uns als Petitionsausschuss zum Handeln aufgefordert. Damit und mit der Reaktion, die ich gerade beschrieben habe, machen wir doch deutlich, dass Petitionen sehr erfolgreich zum Ziel geführt werden können, es also auch sinnvoll ist, sich mit dem Anliegen an uns zu wenden. Um auf den Chip zurückzukommen: Im Moment sind die zuständigen Ministerien am Zug. Konkret bedeutet das, dass die Ministerien spätestens bis Ende des Jahres einen Bericht darüber vorlegen müssen, was sie diesbezüglich veranlasst haben. Das Beispiel zeigt eben, dass wir die Anliegen von Petenten natürlich ernst nehmen und jedes Anliegen behandelt wird. Meine Kolleginnen und Kollegen haben es schon hier erwähnt. Wenn möglich, werden wir die Anliegen zu einer guten Lösung führen, und wir haben das in der Vergangenheit schon getan. Darum kann man von Verzagtheit, Frau Rüffer, hier eher nicht sprechen. ({2}) Das war ein Beispiel von vielen. Im vorliegenden Jahresbericht sind weitere aufgeführt.

Johannes Singhammer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002800

Frau Kollegin Dr. Raatz, darf ich auch Sie an die Redezeit erinnern?

Dr. Simone Raatz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004380, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich komme zum Schluss, und zwar mit einem Dankeswort. - Alle anderen haben gedankt; daher möchte auch ich jetzt danken. ({0}) Da diese Themenvielfalt alleine nicht zu bearbeiten ist, gilt mein Dank an dieser Stelle all jenen, die es ermöglichen, dass dieses Instrument der direkten Demokratie funktioniert. Das sind alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Ausschussdienstes und der Fraktionen, die eigenen wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sowie die Kolleginnen und Kollegen des Ausschusses. Ich jedenfalls freue mich auf die weitere Zusammenarbeit. ({1})

Johannes Singhammer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002800

Darf ich generell an die Kolleginnen und Kollegen appellieren, die Redezeiten nicht als ungefähre Richtgröße zu empfinden, sondern als präzise Abmachung zwischen den Geschäftsführern? Ich erteile in diesem Sinne das Wort dem Kollegen Peter Meiwald für Bündnis 90/Die Grünen.

Peter Meiwald (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004351, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank, Herr Präsident. - Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wieder einmal ist die Zahl der Eingaben deutlich gestiegen. Das ist auch das, was wir uns wünschen. Wir wollen artikulationsstarke, wir wollen partizipierende Bürger, wir wollen auch zwischen den Wahltagen Menschen, die Anteil an unserem parlamentarischen Verfahren nehmen. Erfreulich ist - das ist schon angeklungen - der angenehme menschliche Umgang im Ausschuss. Erfreulich ist auch - Herr Kollege Lehrieder hat es gesagt - die Unterstützung durch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Ausschusses und der Fraktionen. Doch wir wollen heute auch den Blick darauf werfen, was eigentlich hinter den Petitionen steckt und welcher Art die Petitionen sind, die wir Mittwoch für Mittwoch bearbeiten. Es wird schnell deutlich: Das Petitionswesen wird immer wieder von tragischen Einzelfällen bestimmt. Es handelt sich bei den Petenten um Menschen, bei denen man wirklich lange überlegt, wie man ihnen im Einzelfall helfen kann. Es gibt andererseits aber auch die Menschen, die das Petitionswesen als sachkundige Bürger im Sinne eines politischen Korrektivinstruments nutzen. Das ist auch gut so. Auch wenn es viele positive Beispiele für diese Nutzung gibt, so ist das Bemühen leider oftmals vergeb10426 lich. Es wird viel zum Nachdenken angeregt - Kollege Mattfeldt hat es gesagt, und das ist wohl wahr -, aber wir stellen immer wieder fest, dass es dabei bleibt, dass man nachdenkt, aber am Ende sagt: Diese Alarmsignale nehmen wir wahr, aber wir können die Lage nicht ändern, die Petition lässt diese Konsequenz nicht zu. Vielleicht ein paar Beispiele dazu. Manchmal gibt es ein gesetzgeberisches Problem - Corinna Rüffer hat das angesprochen -, aber keine Möglichkeit, sich innerhalb der Koalition zu einigen. Dann belässt man es dabei. Als Beispiel nenne ich die vermurkste EEG-Reform aus dem letzten Jahr. Es gibt immer wieder Bürgerinnen und Bürger, die sich darüber beklagen, wie ungerecht die Lastenverteilung der EEG-Umlage zwischen finanzstarken Unternehmen und weniger finanzstarken Bürgerinnen und Bürgern ist. Es geht darum, zu schauen, wie man zu einer gerechteren Verteilung kommen kann. Viele Petitionen mahnen das an und beklagen, dass die EEG-Reform nicht zu dieser Gerechtigkeit geführt hat. Wenn man sich das anschaut, stellt man fest: Am Ende des Tages kommen wir nicht zu Voten, die die Regierung auffordern, etwas zu verändern. Es gelingt uns nicht, uns gemeinsam darauf zu einigen, diesem Anliegen der Bürgerinnen und Bürger Nachdruck zu verleihen. ({0}) - Das ist sicherlich auch Teil der Demokratie und auch eine Frage von Mehrheiten. - Aber natürlich würden wir uns wünschen, dass wir diesen Seismografen der Bürgergesellschaft manchmal etwas besser zum Ausdruck bringen könnten. ({1}) Ein anderes Beispiel, das ich noch kurz erwähnen möchte - es wird immer wieder vorgebracht -, ist die Frage der Krankenversicherung; es ist von den Kolleginnen Stamm-Fibich und Wöllert schon angesprochen worden. Da gibt es einen enormen Handlungsbedarf. Unser zweigliedriges Krankenversicherungssystem ist überholt, vorgestrig, bürokratisch, im Einzelfall oftmals ungerecht. Zu dieser Einschätzung kommen wir oft gemeinsam. Wir schlagen immer wieder vor, die Petition der Bundesregierung als Material zu überweisen, um eine Bürgerversicherung einzuführen. Das Ministerium könnte mit Vorschlägen dieser Art wahrscheinlich schon heute seine Bürowände pflastern. Aber die Überweisungsvorschläge, die wir machen, bringen die Petition nicht in das Ministerium, weil sie im Ausschuss blockiert werden. Ich sage das, um zu unterstreichen, was Kollegin Rüffer meinte. Es gibt da viele Dinge, wo wir noch Verbesserungsbedarf haben. Auch wenn das Petitionswesen als solches noch Reformen vertragen könnte - das ist schon angesprochen worden -: Wenn wir das, was wir schon können, nutzen würden, könnten wir für die Bürgergesellschaft einiges mehr tun, als wir bisher getan haben. Ich freue mich darauf, daran in den nächsten Jahren konstruktiv weiterzuarbeiten, auch im Ringen um die besten Lösungen. Natürlich gibt es in einer Demokratie Mehrheitsverhältnisse; das ist völlig klar. Aber ich glaube, wir sollten gemeinsam daran weiterarbeiten. Herzlichen Dank. ({2})

Johannes Singhammer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002800

Die Kollegin Antje Lezius spricht jetzt für die CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Antje Lezius (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004341, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor einem Jahr durfte ich hier im Plenum eine Rede aus Sicht eines Neumitglieds des Petitionsausschusses halten. Heute rede ich zu Ihnen als jemand, die schon viele Erfahrungen sammeln durfte. Dazu gehört die sehr gute Zuarbeit der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Ausschussdienstes, die die vielen Petitionen und Eingaben mit Bravour meistern. Herzlichen Dank an dieser Stelle! ({0}) Nicht unerwähnt lassen möchte ich auch die gute und konstruktive Zusammenarbeit in der Arbeitsgruppe der CDU/CSU. Vielen Dank an meine Kolleginnen und Kollegen! Natürlich auch an meine Mitarbeiter hier an dieser Stelle ein herzliches Dankeschön! Erfreulich ist zudem die hohe Zahl an Petitionen, denen abgeholfen werden konnte. Bei 1 743 wurde dem Anliegen entsprochen, und bei 5 130 Petitionen erfolgte die Erledigung bereits durch Auskunft oder Verweisung. Zudem hat der Ausschuss etliche Anliegen und Anregungen mit Mehrheit aufgenommen und an die Bundesregierung überwiesen - immerhin 982. Die Erfolgsaussichten einer Petition lassen sich nicht an der Anzahl der Unterstützer messen, sondern es geht um die Berechtigung des Anliegens. In der Öffentlichkeit wird dies teilweise anders gesehen. Ich begrüße natürlich, dass Petitionen auf der Internetseite des Bundestages oder in Schriftform mitgezeichnet werden können. Es tut gut, zu wissen, welche breite Basis manche Auffassungen haben. Nur wird eine Idee nicht dadurch richtiger, dass viele sie vertreten. Diese Erfahrung bestätigte sich in den öffentlichen Sitzungen zu den Themen TTIP oder Arbeitslosengeld-IISanktionen. Die Vielfalt macht gerade den Reiz dieses Ausschusses aus. Ich bin immer wieder angenehm überrascht und erfreut, dass sich so viele Menschen auf diesem Wege Gedanken machen über unsere Gesellschaft und darüber hinaus über die Probleme der Welt. Das ist für mich aktive Bürgerbeteiligung. ({1}) Die Eingaben reichen von der Idee, direkt vor dem Reichstagsgebäude einen Kinderspielplatz zu errichten, bis hin zur Forderung nach mehr Entwicklungshilfe. Von regional bis global ist also alles dabei. Es freut mich auch, dass Petitionen aus meinem Wahlkreis kommen, zum Beispiel der Vorschlag, die Legislaturperiode des Bundestags auf fünf Jahre zu verlängern, ein Vorschlag, den ich für sehr unterstützenswert halte. Mein Bundesland, Rheinland-Pfalz, liegt bei der Anzahl der Petitionen pro 1 Million Einwohner allerdings auf dem letzten Platz. ({2}) Dabei sind wir doch eigentlich ein ideenreiches Land. Meine Kollegin Corinna Rüffer, die aus Trier kommt, wird mir hierin, glaube ich, zustimmen. Vielleicht müssen wir noch mehr für das Petitionsrecht werben. Ich bin im Rahmen der Öffentlichkeitsarbeit des Bundestages gerne auch persönlich dabei, wie demnächst auf der renommierten Buchmesse in Frankfurt am Main oder beim Tag der offenen Tür hier im Bundestag. Mir wird dann immer bewusst, wie aufgeschlossen die Menschen doch für unsere Ausschussarbeit sind. Viele Petitionen haben einen sehr persönlichen Bezug. Manch ein Petent schüttet sein Herz aus. Dies sind teils bedrückende Erfahrungen, besonders wenn es um gesundheitliche Probleme oder Schicksalsschläge geht. Der mit 21 Prozent der Eingaben größte Posten betrifft den Bereich Arbeit und Soziales, den ich als Mitglied des Fachausschusses hier hauptsächlich bearbeite. Bei vielen Eingaben merkt man, dass auch ein guter Sozialstaat, den wir, objektiv betrachtet, haben und für den wir dankbar sein dürfen, keine Garantie für Lebensglück sein kann. Bei diesen Petitionen gilt es für uns Parlamentarier auch, Professionalität zu wahren und den Petenten jenseits aller emotionalen Aufwallungen ernst zu nehmen. Ein Beispiel ist eine Petition, bei der der Petent zu seiner Arbeitslosenhilfe zusätzlich eine Unfallrente von mehreren Tausend Euro erhielt, dies aber nicht angab. Bei allem Verständnis für schwierige Situationen fehlt mir das Verständnis für meine Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, die die Forderung des Petenten, nichts zurückzahlen zu müssen, unterstützten. Ich wünsche mir, dass wir weiterhin alle gemeinsam die Petenten ernst nehmen und auch einmal den Mut zeigen, eine Petition einstimmig abzuschließen, wenn die konkrete Idee nicht durchführbar oder die Forderung unberechtigt ist, selbst wenn das Grundanliegen in den Augen der Opposition unterstützenswert erscheint. Das hat jede Petentin, jeder Petent, die bzw. der sich die Mühe macht, eine Petition einzureichen, verdient. Ich freue mich auf die weitere kollegiale Zusammenarbeit im Ausschuss. Vielen Dank. ({3})

Johannes Singhammer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002800

Für die SPD spricht jetzt die Kollegin Annette Sawade. ({0})

Annette Sawade (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004223, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Frau Vorsitzende Steinke! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Ausschussdienstes! Liebe Besucherinnen und Besucher auf der Besuchertribüne! Da es sehr viele jugendliche Besucherinnen und Besucher sind, sage ich Ihnen nur: Sie alle dürfen eine Petition einreichen. Es gibt da keine Altersgrenze. Also: Fröhlich voran! ({0}) Vor knapp einer Woche, am vergangenen Samstag, habe ich den Petitionsausschuss am Stand des Deutschen Bundestages beim Evangelischen Kirchentag in Stuttgart vertreten. Ich kam mit vielen Bürgerinnen und Bürgern ins Gespräch, die mich zu vielen Anliegen befragten, die eigentlich fast alle petitionsreif waren. Dass es so etwas gibt, also die Möglichkeit, Petitionen einzureichen, wussten allerdings leider die wenigsten. Es ging um Themen wie Asylverfahren, Betreuung von Flüchtlingen, aber auch Fragen zur Maut. Darum habe ich einfach einen Werbeblock für das Verfahren der Petition beim Deutschen Bundestag eingelegt. ({1}) Nicht, dass wir nicht genügend zu tun hätten - es wurde ja schon gesagt; die Zahlen sprechen eine andere Sprache -, aber für mich ist der Petitionsausschuss der direkte Weg der Bürgerinnen und Bürger zum Gesetzgeber und zur Regierung. Herzliche Bitte: Nicht alles schlechtreden. Wir können und müssen noch vieles verbessern; aber wir möchten auch, dass der Petitionsausschuss als Organ noch mehr anerkannt und in die Öffentlichkeit getragen wird. Da hilft keine Pauschalkritik, sondern nur konstruktive Kritik; und darum bitte ich. ({2}) - Wir bemühen uns darum. Es gilt außerdem - auch das ist mir wichtig -, die Unterschiede zu anderen öffentlichen Petitionsplattformen aufzuzeigen. Sie haben zurzeit gewaltigen Zulauf, sie haben aber im Gegensatz zu einer Petition an unseren Petitionsausschuss keinen Einfluss auf die Gesetzgebung. Deshalb war ich sehr froh, die Chance auf dem Deutschen Evangelischen Kirchentag nutzen zu können, mit einigen Vorurteilen aufzuräumen. Viele der Menschen waren wirklich überrascht, wie niedrig die Hürden für das Einreichen einer Petition beim Deutschen Bundestag tatsächlich sind. Alle können Petitionen per Brief, per Fax, per E-Mail, per Postkarte oder elektronisch, wie schon gesagt, über die Website des Petitionsausschusses einreichen. Damit dürfte sich auch die hohe Zahl der 2014 eingereichten Petitionen erklären. Es wurde bereits gesagt, 15 325 Petitionen wurden eingereicht: Bitten, Beschwerden, Anregungen, Hinweise an die Bundespolitik und ganz konkrete Probleme einzelner Menschen. Immerhin wurde auch erwähnt: Es gibt insgesamt 1,8 Millionen Nutzerinnen und Nutzer der Internetseite des Petitionsausschusses. Das vom Gesetzgeber gewollte Recht, diese aus meiner Sicht sehr wichtige Form der politischen Partizipation, wird also von den Bürgerinnen und Bürgern sichtlich angenommen. Es kann und muss aber auch - das gehört zur Wahrheit dazu - noch vieles verbessert werden. Zwei Beispiele möchte ich nennen: Erstens wünschen sich viele Petentinnen und Petenten eine schnellere Bearbeitung ihrer Eingaben. Sieht man sich die Zahl der eingegangenen Petitionen an und bedenkt man, dass wir auch welche aus den vorangegangenen Wahlperioden zu bearbeiten hatten, wird einem klar, dass es oftmals nicht möglich ist, sie schneller zu bearbeiten. Es gibt aber schon Vorschläge, das beim nächsten Legislaturperiodenwechsel zu ändern. Manchmal ist, zum Beispiel, wenn es um Asylverfahren, um Dublin-II-Verfahren geht, Eile geboten. Ich habe in meinem Wahlkreis den Fall eines solchen Dublin-IIVerfahrens gehabt. Ich konnte helfen; aber da mussten wir wirklich sehr schnell arbeiten. Den Menschen ist nämlich nur geholfen, wenn man rasch agiert. Zweitens stehen wir - das wurde auch schon erwähnt vor der Aufgabe, das Petitionsrecht stetig weiterzuentwickeln und zu verbessern. Dazu gehört es, die Beschlüsse des Petitionsausschusses in einer verständlichen und adressatengerechten Sprache anzubieten. Auch gehört dazu, die Beteiligungsrechte der Menschen mit Behinderungen zu stärken, zum Beispiel über das Angebot einer barrierefreien Internetseite oder - daran arbeiten wir durch die Übersetzung von öffentlichen Beratungen in Gebärdensprache. Das würden wir gerne weiterführen. ({3}) Wir als SPD-Fraktion haben im Januar ein Positionspapier verabschiedet, in dem es um diese Probleme geht. Nächste Woche feiern wir ein Jubiläum; wir haben nämlich vor zehn Jahren öffentliche und Onlinepetitionen - ein Dank geht hier auch an die Staatssekretärin Lösekrug-Möller, die damals maßgeblich daran beteiligt war - eingeführt; das war auch eine sehr große Verbesserung. Sehr geehrte Frau Vorsitzende, liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben unser erstes gemeinsames Jahr, denke ich, sehr gut hinbekommen. Getreu der Losung des Evangelischen Kirchentages „damit wir klug werden“ würde ich mich freuen, wenn wir auch weiterhin unsere Offenheit gegenüber den Themen, die über den Petitionsausschuss tagtäglich an uns herangetragen werden, bewahren. Und ich würde mich freuen, wenn wir weiterhin kollegial zusammenarbeiten und auch überfraktionell zu guten Beschlüssen kommen, die dem Wohle der Petentinnen und Petenten dienen. Uns fehlt dazu - das möchte ich an dieser Stelle einfach noch einmal sagen - wirklich nicht der Mut. ({4}) Mein Dank gilt auch den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Ausschussdienstes und natürlich ebenso unseren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in den Büros, die ganz viel Vorarbeit leisten. Ansonsten könnten wir dieses gewaltige Pensum an Petitionen, die wir jedes Jahr bearbeiten, nicht bewältigen. Noch einmal vielen Dank. ({5})

Johannes Singhammer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002800

Die Kollegin Christel Voßbeck-Kayser spricht jetzt für die Unionsfraktion. ({0})

Christel Voßbeck-Kayser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004434, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! 15 325 Petitionen im vergangenen Jahr zeigen, dass die Bürger ihre Grundrechte kennen und von ihnen auch immer wieder Gebrauch machen. Bei diesen Eingaben handelt es sich um Themen aus allen Bereichen des täglichen Lebens, bei denen Bürger durch Gesetze direkt betroffen sind, sich benachteiligt oder eingeschränkt sehen bzw. fühlen. Ich möchte daher einmal drei Anliegen vortragen, wo wir zu unterschiedlichen Ergebnissen gekommen sind. Das erste Anliegen bezog sich darauf, durch die Einrichtung einer Schlichtungsstelle Qualitätsstandards in unseren Pflegeheimen sicherzustellen. Das war eine gute Anregung. Für uns im Petitionsausschuss war da die Frage: Brauchen wir so eine Schlichtungsstelle, oder reichen die vorhandenen Instrumente bzw. Gesetze aus? Gibt es ausreichende Prüfinstanzen bzw. Ansprechpartner? Beim Prüfverfahren wurde festgestellt, dass es aufgrund des Pflege-Weiterentwicklungsgesetzes, des Pflege-Neuausrichtungs-Gesetzes, durch die rechtlichen Vorschriften der Länder in Bezug auf die Heimaufsicht sowie durch die Heimbeiräte in den Pflegeheimen viele Ansprechpartner und Mittler gibt, die hier, wenn man es so nennen will, als Schlichtungsstelle zur Verfügung stehen und sich auch mit Regelungen bezüglich Qualitätsstandards befassen. Da diese Regelungen rechtlich verbindlich sind, können sie auch nicht auf ein Schiedsverfahren reduziert werden. Daher konnten wir diesem Anliegen nicht entsprechen. Beim zweiten Anliegen, das ich schildern möchte, geht es darum, die Pflegedokumentation auf ein nötiges Maß zu reduzieren. Mit der Effizienz der Pflegedokumentation - sowohl in der ambulanten als auch in der stationären Pflege - befasst sich die Bundesregierung bzw. das Bundesministerium für Gesundheit seit gerauChristel Voßbeck-Kayser mer Zeit; denn wir alle wollen, dass die Zeit für die Pflege am Bett von Pflegebedürftigen und nicht am Schreibtisch verbracht wird. ({0}) Aufgrund der Tatsache, dass am Thema Pflegedokumentation aktuell gearbeitet wird, hat der Petitionsausschuss diese Petition als Material an das Bundesministerium für Gesundheit überwiesen. So stellen wir sicher, dass Anregungen, welche in und mit einer Petition eingehen, in den Prozess eines Gesetzgebungsverfahrens mit aufgenommen werden können. Bürgerinnen und Bürger können auf diesem Weg direkt an Prozessen der Gesetzgebung mitwirken. Dies nenne ich gelebte Demokratie. ({1}) Beim dritten Anliegen ging es um die Berechnung einer Erwerbsminderungsrente, welche - das gab der Petent/die Petentin an - falsch berechnet worden sei. Der Petitionsausschuss - so ist das Verfahren - holte im Rahmen des Prüfverfahrens eine Stellungnahme beim zuständigen Versicherungsamt ein. Bei der Überprüfung dieses Anliegens beim zuständigen Versicherungsamt wurde der Fehler bei der Berechnung der Erwerbsminderungsrente aufgedeckt. Er wurde seitens des Versicherungsamtes sofort korrigiert, und zwar auch rückwirkend. So konnte der Frau bereits im Prüfverfahren bei ihrem Anliegen geholfen werden. ({2}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, das waren drei Beispiele mit unterschiedlichen Ergebnissen aus dem vergangenen Jahr. Auch wenn den Anliegen nicht immer entsprochen werden konnte, so entspricht es unserem demokratischen Selbstverständnis, sich jeder Eingabe und damit jedem Anliegen eines Bürgers anzunehmen. Jede dieser Eingaben wird sachgerecht geprüft, und das Ergebnis bzw. die Entscheidung wird dem Bürger mit einer ausführlichen Begründung erklärt. 15 325 Petitionen gab es im Jahr 2014. Das sind über 60 Eingaben täglich. Für diese Zahl an Eingaben und deren Bearbeitung braucht es motivierte Menschen. Deshalb an dieser Stelle auch von mir ein herzliches Dankeschön allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Ausschussdienstes, der Fraktionen und der Abgeordnetenbüros für diese Arbeit! Sie alle unterstützen uns Abgeordnete in großartiger Weise bei der Bearbeitung von Petitionen. Gemeinsam kümmern wir uns mit Engagement und Herzblut um diese Eingaben und um die Anliegen von Bürgern und Bürgerinnen. Ich danke für dieses gemeinsame Engagement und freue mich auf unsere weitere Zusammenarbeit. ({3})

Johannes Singhammer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002800

Für die SPD spricht jetzt der Kollege Stefan Schwartze. ({0})

Stefan Schwartze (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004150, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Zuhörerinnen und Zuhörer! Sehr geehrte Zuschauer! ({0}) Ich möchte mich ganz herzlich für die gute Zusammenarbeit in den letzten Jahren bedanken. Ich möchte an dieser Stelle aber auch einen kleinen Einschub machen. Liebe Corinna Rüffer, liebe Fraktion der Grünen, für lebendige Debatten im Ausschuss habe ich eine ganz revolutionäre Idee. ({1}) Wenn Sie anderer Meinung sind als die Mehrheit, dann begründen Sie diese Meinung, werben Sie für Ihre Argumente, und dann kommen wir in die Diskussion. ({2}) Beschränken Sie sich nicht immer nur auf zwei, drei Tagesordnungspunkte von über 30. ({3}) - Also, zu einer Debatte gehört das gesprochene Wort und kein begleitender Brief. Das ist an dieser Stelle doch eine gute parlamentarische Übung. ({4}) Ganz besonders bedanken möchte ich mich an dieser Stelle bei den Regierungsvertretern, allen voran Gabriele Lösekrug-Möller, für die gute Zusammenarbeit, die wir pflegen, und dafür, dass wir im Sinne der Petenten dort sehr oft nach Lösungen suchen und um Lösungen ringen. Wie sehr sich die Zusammenarbeit geändert hat, hat sich gerade in diesem Jahr noch einmal gezeigt, als wir das erste Mal in einer öffentlichen Beratung zwei Bundesminister zu Gast hatten: Sigmar Gabriel und Hermann Gröhe. Auch für diese Zusammenarbeit ganz herzlichen Dank. ({5}) sowie der Abg. Kersten Steinke [DIE LINKE]) Für die Intensivierung der Zusammenarbeit gibt es aber auch einen guten Grund - er ist eben schon genannt worden -, nämlich den zehnten Geburtstag der öffentlichen Petitionen, der Onlinepetitionen, der öffentlichen Beratungen dieses Ausschusses. ({6}) Die Entscheidung dafür war ein Volltreffer. Sie machte aus dem Petitionsausschuss - neben seiner wichtigen Rolle als Anwalt der Bürgerinnen und Bürger - ein In10430 strument der direkten Demokratie auf Bundesebene. Es war eine Initiative der damaligen Koalition aus SPD und Grünen; und nicht allen Fraktionen hat es gefallen, den Petitionsausschuss aus der Ecke mit den vielen verstaubten Akten herauszuholen. Während öffentliche Petitionen beim Bundestag ihren zehnten Geburtstag feiern, gibt es seit einiger Zeit immer mehr private Petitionsplattformen. Sie bieten eine gute Möglichkeit, bei Aktionen Gleichgesinnte zu finden. Ich bin für Beteiligung. Ich finde es gut, wenn Menschen sich gemeinsam für ein Anliegen einsetzen. Ich habe auch selbst schon auf einer solchen privaten Plattform die Proteste gegen Pegida unterstützt. Aber nur Petitionen, die sich an den Bundestag wenden, können vom Bundestag bearbeitet werden. Sollten Sie sich also beschweren wollen oder Anregungen zu Gesetzen haben, schauen Sie genau hin, wohin Sie Ihre Beschwerden oder Anregungen schicken! Beschweren Sie sich dort, wo Sie auch Antworten bekommen, wo diejenigen sitzen, die etwas verändern können, wo Sachkunde und Zuständigkeit gegeben sind! Wenden Sie sich direkt ans Parlament! ({7}) Lassen Sie mich einen Blick in die Zukunft wagen: Wohin entwickelt sich unser Petitionsrecht? Ich sehe gute, verständliche Informationen über das Recht auf eine Petition für jeden und jede. Ich sehe Informationen in einer Sprache, die alle verstehen, unabhängig davon, welchen Bildungsstand sie haben, ob sie unsere Sprache erst erlernen oder aufgrund einer Behinderung Leichte Sprache benötigen. Übrigens: Die SPD bereitet eine Information über das Petitionsrecht in Leichter Sprache vor. Ich sehe Schulen, die über Petitionen informieren, und Kinder und Jugendliche, die beim Deutschen Bundestag Petitionen einreichen. Ich sehe einen starken Petitionsausschuss, der bei den Petitionen stets die Menschen und ihre berechtigten Anliegen und nicht den Koalitionsvertrag im Sinn hat. ({8}) Ein Beispiel unserer Arbeit hat mich besonders bewegt - ich begleite diese Menschen seit fünf Jahren -: Es geht um das Schicksal der ehemaligen sowjetischen Kriegsgefangenen, das von unsäglichem, unfassbarem Leid geprägt ist. Sie wurden unter unmenschlichen Umständen in Lagern untergebracht. Es waren umzäunte Felder ohne Infrastruktur. Auf diesen Feldern hockten die Menschen sich selbst überlassen. Ihr Tod durch Hunger und Krankheit war das Ziel der Unterbringung in diesen Lagern. Zwei Drittel der Gefangenen überlebten diese Hölle nicht. Für die Überlebenden gab es niemals eine Entschädigung oder eine Anerkennung für das erlittene Leid. Es ist eine Schande, dass es 70 Jahre gedauert hat, dieses Unrecht anzuerkennen. Jetzt, nachdem der Beschluss zur Anerkennung getroffen wurde und vom Haushaltsausschuss im Rahmen des Nachtragshaushalts Geld bereitgestellt wurde, sind wir in der Verantwortung, die Mittel möglichst schnell den Opfern zugutekommen zu lassen. Mein Dank gilt dem Verein Kontakte-Kontakty, ohne dessen unermüdlichen Einsatz wir nicht zu dieser Lösung gekommen wären. Danken möchte auch ich noch einmal den Kollegen aller Fraktionen. Danken möchte ich den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Ausschussdienstes für ihre hervorragende Arbeit. Danken möchte ich auch den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Abgeordneten und der Fraktionen. Denn wir alle wissen: Jeder Abgeordnete ist nur so gut wie sein Büro, das ihm zuarbeitet. ({9}) Mein ganz besonderer Dank gilt den Petentinnen und Petenten. Ohne sie wüssten wir oft nicht oder viel zu spät, wo die Probleme in dieser Gesellschaft liegen. Vielen Dank. ({10})

Johannes Singhammer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002800

Abschließender Redner in dieser Aussprache ist der Kollege Günter Baumann für die CDU/CSU. ({0})

Günter Baumann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003035, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn man als Letzter sprechen darf, kann man vielleicht die Gelegenheit nutzen, einen Strich unter die Debatte zu ziehen. Ich möchte das mit wenigen Sätzen tun. Ich möchte zunächst allen ganz herzlich danken. Ich denke, es war eine gute Diskussion, und die Bürgerinnen und Bürger, die zugeschaut haben, haben mitbekommen: Es gibt einen Petitionsausschuss, an den ich mich wenden kann, und dort bemühen sich Abgeordnete aller Fraktionen, etwas für mich zu bewegen. - Das betrifft auch das große Thema, dass wir darum werben, dass die Bürgerinnen und Bürger zu uns kommen. Eines fand ich allerdings sehr schade: Kollegin Rüffer, Ihre Rede war am Thema vorbei. ({0}) Ich sage Ihnen eines: Die CDU/CSU-Fraktion hat gestern extra den Kollegen Mattfeldt für seine heutige Rede weichgespült; das haben Sie ja sicher alle gemerkt. ({1}) - Das haben wir gemacht. - Aber Kollegin Rüffer, Ihre Rede war einfach falsch. ({2}) Sie selbst wissen es besser. Sie wissen, dass wir gemeinsam mit den Obleuten aller Fraktionen um Lösungen ringen und auch immer einen Weg finden. Da können Sie nicht sagen, dass Sie nicht zu Wort kommen. Wenn wir in einer Stunde 35 Petitionen schaffen wollen, können wir im Ausschuss nicht über Petitionen, die vorher bereits die Abgeordneten, die Arbeitsgruppe und die Obleuten beraten haben, die also relativ klar sind, erst noch lange diskutieren, bevor abgestimmt wird. Sie, Frau Kollegin Rüffer, haben dann, wenn Sie zu einem von dem der Koalition abweichenden Votum kommen, die Pflicht, dies zu begründen. ({3}) Aber Sie haben kein Votum begründet. Wenn Sie anderer Meinung sind, dann müssen Sie einen Antrag auf Einzelausweisung gemäß 8.2.2 unserer Verfahrensregeln stellen. ({4}) - Entschuldigung, ansonsten ist Ihnen bisher nichts eingefallen. - Wenn Sie zu jeder Petition gerne etwas sagen wollen, dann müssen Sie nur beim Präsidenten beantragen, die Beratungszeit des Ausschusses von einer Stunde auf drei Stunden zu verlängern. ({5}) Dann können wir das gerne tun. Aber so ist es jetzt nicht möglich. ({6}) Kollegin Rüffer, ich erinnere noch einmal daran, dass wir in schwierigen Fällen gemeinsame Briefe geschrieben haben, zum Beispiel den mit vier Unterschriften an alle Bundesländer, als es um die behinderten Kinder ging. Das haben wir gemeinsam gemacht. Dass Sie die Arbeit heute derart negativ darstellen, das ist einfach schade. ({7}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich wollte meinen Redebeitrag eigentlich anders beginnen als alle anderen heute. Ich wollte nicht all denen danken, denen schon gedankt worden ist. Vielmehr wollte ich den Petenten danken, die mit großem Vertrauen zu uns kommen, die sich bei uns mit ihren Bitten und Beschwerden aufgehoben fühlen und uns seit 2006 konstant jedes Jahr etwa 15 000 bis 18 000 Petitionen schicken. Das ist eine stolze Zahl. Nun muss man wissen: Die Zahl der Petitionen ist konstant geblieben, obwohl die Zahl der Mitbewerber und anderer Anlaufstellen ständig gestiegen ist. Es gibt mehr Ombudsmänner und Ombudsfrauen, es gibt Beauftragte in allen möglichen Bereichen, die für die Belange der Bürgerinnen und Bürger da sind, und es gibt, wie schon erwähnt, viele Internetplattformen. All das nimmt zu. Trotzdem wird jedes Jahr eine konstant hohe Zahl von Petitionen bei uns eingebracht. Das zeigt: Die Bürgerinnen und Bürger haben Vertrauen zu uns. Das macht uns froh. Darauf kann man stolz sein. An dieser Stelle möchte ich auch unseren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, allen Abgeordneten und natürlich dem Ausschussdienst ganz herzlich danken für die Arbeit, die geleistet worden ist. ({8}) Ohne die sachkundige und fachliche Zuarbeit des Ausschussdienstes würde uns manche Entscheidung sehr schwer fallen. Ich bitte den Ausschussdienst, nicht über uns zu schimpfen, wenn wir nicht jedes Votum von ihm übernehmen. Oft haben wir eine andere Meinung. Aber trotzdem ist die Recherche des Ausschussdienstes für uns die Grundlage, wie wir mit einer Thematik umgehen. Die Erfolgszahlen sind genannt worden. Wir liegen bei über 40 Prozent positiv erledigter Eingaben. Das kann sich sehen lassen. Wenn man bedenkt, wie hoch die Prozentzahlen bei Gerichtsverfahren sind, dann stellt man fest: Wir sind ein ganzes Stück besser. Ich schlussfolgere daraus, dass die Bürgerinnen und Bürger uns akzeptieren, zu uns kommen und unseren Rat und unsere Hilfe annehmen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, leider steht unser Ausschuss nicht jeden Tag in der Öffentlichkeit. Es ist nicht ganz einfach, mehr Werbung für unsere Arbeit zu machen, weil wir relativ geräuschlos die Berge auf unseren Schreibtischen abarbeiten und erfolgreich sind. Die Frage ist immer, wie wir es schaffen, ohne große Schlagzeilen etwas bekannter zu werden. Frau Sawade hat bereits erwähnt: Wir nutzen Messen und den Tag der Ein- und Ausblicke. Trotzdem sollten wir gemeinsam überlegen, was man noch tun kann, um an die Bürger heranzukommen und ihnen zu sagen: „Jawohl, es gibt uns. Bitte, kommt zu uns!“ ({9}) Ich möchte ein Thema noch einmal ansprechen, auch wenn es schon genannt wurde, weil es mir sehr am Herzen liegt. Für uns in der CDU/CSU-Fraktion ist es eindeutig: Jede Petition ist gleichwertig. Wir wollen uns um jede Petition intensiv kümmern. Egal ob eine Bürgerin mit unleserlicher Handschrift uns ihr Problem schildert oder eine gut vernetzte Internetgemeinschaft mit 100 000 Unterschriften uns ihr Problem darlegt: Jedermann hat das Recht, eine Petition einzureichen. Wir kümmern uns um jedermann in gleichem Maße. Kollegin Kassner, Sie forderten mehr Öffentlichkeit bei den ganzen Beratungen. Der Bundestag hat eine Geschäftsordnung, die eindeutig sagt - § 69 -: Ausschüsse tagen nicht öffentlich. Das hat gute Gründe: Da ist zum einen der Datenschutz, und wir wollen nicht - das gibt es manchmal; das kennen wir auch -, dass die berühmten Fensterreden gehalten werden. Wir wollen ein Problem abarbeiten, und das ist in nichtöffentlicher Sitzung wesentlich besser möglich. Wir können in Ausnahmefällen Öffentlichkeit beschließen - das machen wir auch, viermal im Jahr, am nächsten Montag wieder -; aber generell, fast jede Sitzung öffentlich zu machen, dies wollen wir einfach nicht. Das ist nicht das, was der Petent eigentlich von uns will. ({10}) Ich glaube, das Wichtigste für jeden von uns, der sich mit einer Petition befasst, ist, dass wir erkennen: Ist das ein menschlich schweres Schicksal eines Bürgers, der an zig anderen Stellen gescheitert ist und jetzt zu uns kommt - da müssen und wollen wir uns reinknien -, oder ist das ein Petent, der tagesaktuell ein Geschehen aufgreift, das vielleicht schon in den Fachausschüssen irgendwo beraten wird? Wichtig für uns ist einfach, dass wir die Wertigkeit erkennen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich wollte noch zum Abschluss ein Beispiel aus der letzten Zeit bringen, und zwar hatten wir eine Petentin, die ihren Lebensgefährten in Afghanistan verloren hat. Beide hatten vorher ein Testament gemacht, dass die Versicherung und andere Gelder an die Lebensgefährtin gehen sollten. Die rechtliche Lage war dann aber so, dass die Lebensgefährtin nichts bekommen hat; das Geld ging an die Eltern. Das war rechtlich alles sauber. Wir hätten eigentlich nichts machen können. Wir haben aber gesagt: „Nein, so geht das nicht, wir wollen das anders haben“, und haben die Verteidigungsministerin aufgefordert, mit Mitteln aus dem Härtefallfonds, der ja vorhanden ist, dieser Frau zu helfen. Es tut wirklich gut, wenn dann ein Brief der Petentin kommt, in dem sie sich für das Geld bedankt, das sie bekommen hat. Auch wir brauchen ja manchmal Anerkennung und ein lobendes Wort. Hier haben wir wirklich eine Lösung für ein schweres Schicksal gefunden. ({11}) Meine Damen und Herren - Herr Präsident, wenn Sie mir noch ein paar Sekunden gestatten -, es kam das Thema „schnelle Bearbeitung“. Wir wollen die Petitionen schnell bearbeiten. Wir schaffen manche Petitionen in vier, fünf Monaten; es gibt aber auch welche, deren Bearbeitung Jahre dauert. Wir haben diese Woche eine behandelt, die sechs Jahre alt war. Wenn man dann nachschaut, stellt sich heraus, dass sie in manchem Büro sogar mehrere Jahre lag. Deswegen wäre es gut, als Erstes zu schauen: Was liegt in unserem eigenen Büro noch im Schreibtischkasten? Das kann jeder Mitarbeiter im Ausschuss selbst einmal tun. Das Zweite ist: Für uns geht Gewissenhaftigkeit vor. Wenn wir viel Zeit brauchen für Stellungnahmen, dann nehmen wir uns die auch; ansonsten wollen wir die Petitionen schnell bearbeiten. Ein berühmtes Beispiel haben wir jetzt schon das zehnte Jahr auf dem Tisch: Das sind meine geliebten Antennengemeinschaften. ({12}) Hier haben wir ja mit großer Mehrheit ein Votum gefasst, das bis heute nicht umgesetzt ist. Wir haben wiederholt Gespräche mit der GEMA geführt, auch letzte Woche wieder. Ich denke, wir werden irgendwann auf einem guten Weg sein. Also: Wir können an Problemen manchmal auch sehr lange dranbleiben - im Interesse der Petenten, nicht um uns selbst zu beschäftigen. Ich wünsche uns weiterhin viel Erfolg und Gespür für die Arbeit. Vielen Dank. ({13})

Johannes Singhammer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002800

Damit schließe ich die Aussprache, nicht ohne zu erwähnen, dass fast kein Redner es versäumt hat, Dank für die Mitarbeiter auszusprechen, die Außerordentliches geleistet haben, worauf sie auch stolz sein können. ({0}) Ich rufe jetzt die Zusatzpunkte 2 a und 2 b auf: a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Steffi Lemke, Nicole Maisch, Harald Ebner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Wilderei und illegalen Artenhandel stoppen Drucksache 18/5046 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit ({1}) Innenausschuss Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Beate Walter-Rosenheimer, Dr. Franziska Brantner, Katja Dörner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Kinder- und Jugendhilfe - Beteiligungsrechte stärken, Beschwerden erleichtern und Ombudschaften einführen Drucksache 18/5103 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe niemanden, der nicht einverstanden wäre. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Vizepräsident Johannes Singhammer Ich rufe die Tagesordnungspunkte 30 a bis 30 i sowie Zusatzpunkt 3 auf. Es handelt sich dabei um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist. Tagesordnungspunkt 30 a: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit ({2}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Baukulturbericht 2014/15 der Bundesstiftung Baukultur und Stellungnahme der Bundesregierung Drucksachen 18/3020, 18/4850 Der Ausschuss empfiehlt, in Kenntnis der Unterrichtung eine Entschließung anzunehmen. Wer für diese Beschlussempfehlung stimmt, den bitte ich um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? Damit ist diese Beschlussempfehlung mit den Stimmen von CDU/CSU und SPD sowie der Fraktion der Linken bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen. Tagesordnungspunkt 30 b: Beratung der Dritten Beschlussempfehlung und des Berichts des Wahlprüfungsausschusses zu Einsprüchen gegen die Gültigkeit der Wahl zum 8. Europäischen Parlament am 25. Mai 2014 Drucksache 18/5050 Bevor ich die Beschlussempfehlung des Wahlprüfungsausschusses sowie einen Änderungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zur Abstimmung stelle, erteile ich dem Vorsitzenden des Ausschusses, dem Kollegen Dr. Johann Wadephul, das Wort zur Berichterstattung. - Bitte schön.

Dr. Johann Wadephul (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004182, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident, dafür danke ich Ihnen sehr herzlich. Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nachdem der Kollege Baumann die mangelnde Bekanntheit des Petitionsausschusses bedauert hat, kann ich nur sagen: Was soll ich da erst sagen? Ich nutze daher die voraussichtlich letzte Gelegenheit in dieser Wahlperiode, mit der der Wahlprüfungsausschuss Ihre Aufmerksamkeit erheischen kann. Dieser Ausschuss hat eine große Bedeutung. Der Parlamentarische Staatssekretär beim Bundesminister des Innern hat zu Recht darauf hingewiesen, dass viele Kollegen aus dem Europäischen Parlament möglicherweise mit einer gewissen Spannung jetzt auf uns blicken. Ich will den Damen und Herren Berichterstattern ganz herzlich für ihre Arbeit danken, aber insbesondere natürlich den Mitarbeitern des Sekretariats. Es sind - Herr Kollege Beck, das wird hier nicht immer so deutlich - zahlreiche Akten zu sichten, der Sachverhalt ist umfassend aufzuarbeiten, und es sind schwierige Rechtsfragen zu prüfen. Wir sind stolz darauf, dass wir innerhalb eines Jahres nach der Europawahl diese Arbeit seitens des Deutschen Bundestages abschließen konnten. Einen ganz herzlichen Dank allen, die daran aktiv mitgewirkt haben. Wie schon bei der Prüfung der Bundestagswahl ging es auch bei der Prüfung der Europawahl um eine Fülle von Einspruchsgegenständen, wenngleich keiner der 109 Wahleinsprüche im Ergebnis aus unserer Sicht begründet war. Dies liegt daran, dass ein Wahleinspruch nur dann begründet ist, wenn er einen Wahlfehler benennt, der entweder Einfluss auf die Sitzverteilung hatte oder das subjektive Wahlrecht der den Einspruch einlegenden Person beim Wahlakt verletzte. Den Einsprüchen ließen sich derartige Fehler aus Sicht des Ausschusses nicht entnehmen. Ich möchte betonen, dass der Wahlprüfungsausschuss jedem behaupteten Wahlfehler sorgfältig nachgegangen ist. Wie bei der Prüfung der Bundestagswahl haben wir den Bundesminister des Innern, den Bundeswahlleiter und die Landeswahlleiterinnen und Landeswahlleiter um Stellungnahmen gebeten und diese einbezogen. In nur einem Fall, der früh bekannt wurde, hat es einen nachweisbaren Wahlfehler gegeben. Es ging um eine mehrfache Stimmabgabe. Ein vermutlich vielen von Ihnen bekannter Journalist bekundete schon am Wahlabend in einer Sendung der ARD, ({0}) die demnächst übrigens ihren Moderator verliert, dass er seine Stimme zweimal abgegeben hatte. Einmal wählte er in einem deutschen Wahllokal und einmal in einem italienischen. Dieser Fall hat viele Bürgerinnen und Bürger dazu veranlasst, einen Wahleinspruch einzulegen, und einen vormaligen Präsidenten des Bundesverfassungsgerichtes zu der im Spiegel veröffentlichten Überlegung veranlasst, dass möglicherweise die ganze Europawahl unwirksam sein könnte. Dieser Auffassung ist der Wahlprüfungsausschuss nicht gefolgt. Denn es hat über diese eine Person hinaus keine weitere Person gegeben, von der nachgewiesen ist, dass sie ihre Stimme mehrfach abgegeben hat. Es wird für Sie schnell nachvollziehbar sein, dass eine einzige Person das Wahlergebnis nicht entscheidend wird verändert haben können. Gleichwohl hat dies den Ausschuss veranlasst, Ihnen allen, liebe Kolleginnen und Kollegen, eine Prüfbitte an die Bundesregierung vorzulegen, in der es darum geht, wie national oder auf Unionsebene für die Besitzer einer Staatsangehörigkeit mehrerer EU-Mitgliedstaaten die faktisch bestehende - rechtlich zwar verbotene - Möglichkeit einer mehrfachen Stimmenabgabe in ähnlicher Weise unterbunden werden kann, wie es für Unionsbürger ohne doppelte Staatsangehörigkeit, die sich dafür entscheiden, statt im Heimatstaat in ihrem EU-Wohnsitzstaat zu wählen, bereits vorgesehen ist. Auch bei der Europawahl haben wir uns mit der Frage des Wahlrechts für Menschen mit Behinderung befasst. Auch hier haben wir eine zweite Prüfbitte an die Bun10434 desregierung formuliert; ich bitte Sie herzlich um Ihre Zustimmung dazu. Wir wollen die Bundesregierung bitten, zu prüfen, welche Änderungserfordernisse sich für das deutsche Wahlrecht aus der EU-Behindertenrechtskonvention ergeben können, und zwar insbesondere in Bezug auf die Aufhebung einzelner benannter Wahlrechtsausschlüsse und die Barrierefreiheit im Wahlrecht und in den Wahllokalen. Neben den genannten Themen hat der Wahlprüfungsausschuss erneut typische Einspruchsgegenstände beraten, wie sie bei jeder Wahlprüfung behandelt werden: zu spät oder nicht zugestellte Briefwahlunterlagen, die repräsentative Wahlstatistik und den Identitätsnachweis im Wahllokal. Ich will nicht verschweigen, dass die Umstände bei der Delegiertenwahl und der Kandidatenaufstellung der AfD von einigen Einspruchsführern heftig kritisiert worden sind. Das hat den Ausschuss dazu veranlasst, vereinzelte verbesserungsfähig anmutende Vorgänge äußerst umfangreich und gründlich zu prüfen. Im Ergebnis haben wir jedoch keine mandatsrelevanten Wahlfehler erkannt. Die Europawahl verlief, soweit wir sie beurteilen, im Ergebnis rechtskonform. Ich bitte Sie daher sehr herzlich um Ihre Zustimmung zur Dritten Beschlussempfehlung. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({1})

Johannes Singhammer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002800

Vielen Dank dem Kollegen Wadephul und allen Mitgliedern des Ausschusses. Wir kommen dann zur Abstimmung, und zwar zunächst über den Änderungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf der Drucksache 18/5120. Wer stimmt für diesen Änderungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Dieser Änderungsantrag ist mit den Stimmen von CDU/ CSU und SPD gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke abgelehnt. Wer stimmt nun für die Beschlussempfehlung des Wahlprüfungsausschusses? Ich bitte um ein Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist damit einstimmig angenommen. Wir kommen nun zu den Tagesordnungspunkten 30 c bis 30 i. Es handelt sich um die Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses. Tagesordnungspunkt 30 c: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({0}) Sammelübersicht 190 zu Petitionen Drucksache 18/4953 Wer stimmt dafür? Den bitte ich um ein Handzeichen. Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist die Sammelübersicht 190 einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 30 d: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({1}) Sammelübersicht 191 zu Petitionen Drucksache 18/4954 Wer stimmt dafür? Den bitte ich um ein Handzeichen. Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Diese Sammelübersicht ist damit mit Stimmen von CDU/CSU und SPD gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke bei Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen angenommen. Tagesordnungspunkt 30 e: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({2}) Sammelübersicht 192 zu Petitionen Drucksache 18/4955 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 192 ist damit mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen. Tagesordnungspunkt 30 f: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({3}) Sammelübersicht 193 zu Petitionen Drucksache 18/4956 Wer dafür stimmt, den bitte ich um ein Handzeichen. Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 193 ist damit mit allen Stimmen dieses Hauses angenommen. Tagesordnungspunkt 30 g: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({4}) Sammelübersicht 194 zu Petitionen Drucksache 18/4957 Wer dafür stimmt, den bitte ich um ein Handzeichen. Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist die Sammelübersicht 194 mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke angenommen. Tagesordnungspunkt 30 h: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({5}) Sammelübersicht 195 zu Petitionen Drucksache 18/4958 Wer dafür stimmt, den bitte ich um ein Handzeichen. Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 195 ist damit mit den Stimmen von CDU/ CSU und SPD gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen.

Not found (Mitglied des Präsidiums)

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({0}) Sammelübersicht 196 zu Petitionen Drucksache 18/4959 Wer dafür stimmt, den bitte ich um das Handzeichen. Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 196 ist damit mit den Stimmen von CDU/ CSU und SPD gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke und von Bündnis 90/Die Grünen angenommen. Zusatzpunkt 3: Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Konstantin von Notz, Luise Amtsberg, Volker Beck ({1}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zu dem Vorschlag einer EU-Datenschutzverordnung KOM({2}) 11 hier: Stellungnahme gegenüber der Bundesregierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 des Grundgesetzes Hohes Schutzniveau im Rat und im Trilog sicherstellen Drucksache 18/5102 Wer für diesen Antrag stimmt, den bitte ich um ein Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Antrag ist damit mit den Stimmen von CDU/ CSU und SPD gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke abgelehnt. Damit haben wir diesen Teil abgeschlossen. Ich rufe jetzt den Zusatzpunkt 4 auf: Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion DIE LINKE Ehe für alle Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hat die Kollegin Caren Lay von der Fraktion Die Linke das Wort. ({3})

Caren Lay (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004088, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Über 62 Prozent der Iren haben bei einer Volksabstimmung Ja zu gleichgeschlechtlichen Ehen gesagt ({0}) ausgerechnet im erzkatholischen und konservativen Irland. Das ist ein wunderbares Ergebnis und ein Riesenerfolg für die Lesben- und Schwulenbewegung, zu dem wir auch aus dem Deutschen Bundestag ganz herzlich gratulieren. ({1}) Das Schönste ist, dass dieses Ergebnis die Debatte darüber in ganz Europa neu entfacht hat. Es wird höchste Zeit, dass auch die Bundesregierung sich bewegt und die Ehe für Lesben und Schwule endlich ohne Wenn und Aber öffnet. ({2}) Das ist natürlich für die Große Koalition, insbesondere für die Union, ein unangenehmes Thema. ({3}) Sie hat in den letzten Wochen zu Recht viel Hohn und Spott für ihre verstaubten und fadenscheinigen Argumente geerntet. Ich habe mich gestern sehr geärgert, dass Sie uns im Ausschuss verweigert haben, noch vor der Sommerpause eine Anhörung zu unserem Gesetzentwurf und zum Gesetzentwurf der Grünen durchzuführen. Aber wenn Sie geglaubt haben, damit bekommen Sie das Thema geschoben, haben Sie sich geschnitten: Genau deswegen haben wir die heutige Aktuelle Stunde beantragt. ({4}) Die Union blockiert das Vorhaben mit Rücksicht auf ihre konservative Wählerschaft. Den Vogel hat Frau Kramp-Karrenbauer abgeschossen, die tatsächlich sinngemäß sagte: Wenn die Homoehe kommt, dann kommen auch Inzest und Polygamie. ({5}) Das ist eine handfeste Beleidigung von Lesben und Schwulen. Sie ist völlig unakzeptabel. ({6}) Getoppt wird dies nur noch vom Vatikan: Einer seiner Sprecher sagte laut Presseberichten, das Ergebnis in Irland sei eine Niederlage für die Menschheit. Auch wenn es den einen oder anderen überraschen mag: Ich wurde katholisch erzogen, und vor dem Hintergrund kann ich, glaube ich, sagen: Lieber Vatikan, mit einer etwas weniger dogmatischen Interpretation der Bibel würden wir alle besser fahren, und der Kirche würden nicht so viele junge Menschen davonlaufen. ({7}) Weniger Verbohrtheit und weniger Dogmatismus: Das würde auch der Union guttun. Ich glaube, dass Ihre Wählerschaft deutlich weiter ist als Sie selbst. Das belegen auch alle Umfragen. Diese konservative Haltung fällt Ihnen auf die Füße. Keine der 15 größten deutschen Städte wird noch von der CDU regiert. In Dresden hat sich am Wochenende - Gott sei Dank, kann ich sagen Ihre Hoffnung auf einen CDU-Bürgermeister zerschlagen. ({8}) Mit dieser hinterwäldlerischen Politik locken Sie niemanden mehr hinter dem Ofen hervor. Es wird endlich Zeit, das zu ändern. ({9}) Ich bin fest davon überzeugt: Auch in Deutschland würde jedes Referendum für die Ehe für alle haushoch gewonnen. Das ist ein weiteres Argument dafür, auch in Deutschland endlich Volksbegehren auf Bundesebene zu ermöglichen. ({10}) 65 Prozent der Deutschen haben in der letzten Umfrage angegeben, sie seien für die Ehe für alle, ja sogar 58 Prozent, also eine satte Mehrheit, der CDU/CSUWähler. Nur bei der AfD sind die Homophoben noch in der Mehrheit. Aber das können wir uns nicht zum Vorbild nehmen. ({11}) Das Beste ist: Die Ehe für alle tut niemandem weh. Auch die Ehe von Frau Kramp-Karrenbauer wird nicht dadurch beschädigt, dass die Lesben und Schwulen in der Nachbarschaft jetzt auch einen Trauschein bekommen. Also, geben Sie Ihren Widerstand dagegen endlich auf! ({12}) Ein beliebtes und aus meiner Sicht das einzig wirklich ernstzunehmende Argument der Gegnerinnen und Gegner ist, die Ehe für alle würde dem Grundgesetz widersprechen. Ich lese dort allerdings nirgends, dass mit dem Schutz der Ehe nur der Schutz der Heteroehe gemeint ist. Vielmehr lese ich in Artikel 3 Absatz 1: „Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.“ Übersetzt heißt das für mich: Wer Lesben und Schwulen die gleichen Rechte verweigert, der verletzt den Gleichheitsgrundsatz. Es wird endlich Zeit, die Ehe für alle einzuführen. ({13}) Die Bundesregierung verheddert sich im Klein-Klein. Hinter den Kulissen wird heftig gerungen, in welchen Einzelgesetzen die eingetragene Lebenspartnerschaft an die Ehe angepasst werden soll. Da frage ich mich: Warum so kompliziert? Ich glaube, die Zeiten, in denen wir ein Sondergesetz für Lesben und Schwule brauchten, sind vorbei. Lassen Sie uns die Ehe endlich für Lesben und Schwule öffnen. Damit wird der Grundsatz „Ehe für alle“ am einfachsten und am schnellsten umgesetzt. ({14}) Wir haben als Linke - darauf möchte ich abschließend hinweisen - schon vor längerem einen Gesetzentwurf dazu vorgelegt. Im Bundesrat wird eine ähnliche Initiative morgen hoffentlich eine Mehrheit finden. Ich weiß, liebe SPD, Sie haben es mit diesem Koalitionspartner schwer. Es gibt eine kurzfristige Lösung: Geben Sie die Abstimmung darüber einfach frei! Eine rot-rot-grüne Mehrheit im Bundestag gibt es auch bei diesem Thema rechnerisch schon längst. ({15}) Wenn wir die Abstimmung freigeben, bin ich sicher, dass auch der eine oder andere Unionspolitiker dazu beitragen würde, dass eine Regenbogenallianz zustande kommt und die Ehe für alle endlich auch in Deutschland Realität wird. Vielen Dank. ({16})

Johannes Singhammer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002800

Für die CDU/CSU hat jetzt das Wort die Kollegin Elisabeth Winkelmeier-Becker. ({0})

Elisabeth Winkelmeier-Becker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003865, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuhörer! In der aktuellen Debatte sind für mich drei Überlegungen wichtig. Erstens. Mein Menschenbild differenziert nicht nach sexueller Orientierung. Gleiche Würde und gleiche Anerkennung folgen daraus unmittelbar und zwingend. ({0}) Dass diese Selbstverständlichkeit lange in Abrede gestellt worden ist, dass es noch lange nach der Geltung des Grundgesetzes einen § 175 StGB gegeben hat, wirkt auch heute noch verletzend. ({1}) Eine offizielle, dauerhafte und vielleicht auch gesegnete Verbindung von zwei Menschen, die füreinander einstehen, hat ihren Wert, unabhängig von der Frage der sexuellen Orientierung und auch unabhängig von der Frage, ob diese Verbindung auch auf Familiengründung ausgelegt ist oder nicht. ({2}) Deshalb habe ich mich vor drei Jahren zusammen mit zwölf anderen Kollegen in der Union für eine steuerliche Gleichstellung von Lebenspartnerschaften eingesetzt. Das hat damals nicht jedem gefallen. Das hat auch nicht auf Anhieb geklappt. Aber es hat in unserer Partei eine Diskussion ausgelöst, die in der Union und darüber hinaus in der Gesellschaft einiges bewirkt hat. ({3}) Zweitens. Wir haben den weiteren Abbau von Ungleichheiten gerade auf den Weg gebracht. In dem Zusammenhang werden wir natürlich auch Ihren Gesetzentwurf weiter bearbeiten und eine Sachverständigenanhörung dazu durchführen. Da wird überhaupt nicht irgendeiner Diskussion oder Auseinandersetzung aus dem Weg gegangen, sondern die beiden Dinge werden zusammengefügt. ({4}) - Weil es mit einer anderen schon bereits vereinbarten Sachverständigenanhörung kollidierte. - Wie gesagt, der andere Gesetzentwurf zum selben Thema ist auf dem Weg. Daher macht es Sinn, das zusammenzuführen. Das ist der Grund. ({5}) Was dann noch bleibt, ist in der Tat eine Teilfrage der Adoption, weil Lebenspartner ein Kind nicht gleichzeitig adoptieren können, sondern nur nacheinander. Darauf möchte ich kurz eingehen. Wenn der Staat für ein Kind neue Eltern sucht, dann ist es ganz normal, dass auf das Einkommen der Eltern, auf ihre Gesundheit, auf die verfügbare Zeit, die sie für das Kind haben, und auf ihr Alter - sie sollten nicht älter als 40 Jahre sein - geschaut wird. Wenn es an einem dieser Punkte nicht optimal läuft, dann wird es schon schwierig mit der Adoption. Mir leuchtet jetzt nicht ein, warum das Einkommen und das Alter der potenziellen Eltern eine Rolle spielen dürfen, aber nicht die Frage, ob ein Kind Vater und Mutter bekommt. Ich weiß, dass Kinder auch in gleichgeschlechtlichen Partnerschaften geliebt und umsorgt werden; ({6}) teilweise werden sie als Pflegekinder dorthin gegeben. Ein guter Vater, eine gute Mutter zu sein, hängt nicht von der sexuellen Orientierung ab. ({7}) Gleichzeitig habe ich Lebenserfahrung als Mutter von drei Kindern und Großmutter eines Enkelkindes sowie als langjährige Familienrichterin. Für mich war immer klar, dass Vater und Mutter eine eigenständige Bedeutung haben, die sich ergänzt. Der zweite Vater ersetzt eben nicht die Mutter, und die zweite Mutter ersetzt nicht den Vater. Deshalb betreiben wir, wenn sich Eltern trennen, doch den ganzen Aufwand, damit das Kind den Kontakt auch zu dem anderen Elternteil erhält. ({8}) In der letzten Wahlperiode haben wir uns um die Verbesserung der Rechte nichtehelicher Väter bemüht. Auch das war doch von dem Gedanken getragen, dass es für das Kind von Anfang an wichtig ist, Kontakt zum Vater zu haben. ({9}) Deshalb ist für mich klar, dass das bei der Adoption eine Rolle spielen muss. Für mich ist aber auch klar, dass dieser Aspekt genau wie die anderen, Alter, Einkommen usw., im Einzelfall in der Abwägung zurücktreten kann. Klare Beispiele wären Pflegekinder oder Kinder aus der Verwandtschaft. Jetzt haben wir die Sukzessivadoption. Sie führt, wenn auch auf Umwegen, zumindest zu praktikablen Ergebnissen. Mir ist kein anderer Fall bekannt. Ich appelliere: Vielleicht sollten wir von beiden Seiten nicht zu viel Wert auf die Frage legen, ob das im Gesetz geregelt ist oder untergesetzlich nur in der Verwaltungspraxis, wie das auch für die anderen Kriterien gilt. Drittens. Ich komme zu den Begriffen. Zunächst: Ich finde den Begriff „Homo-Ehe“ unterirdisch, diskriminierend und unwürdig. ({10}) Ich kann nachvollziehen, dass es gerade nach der Vorgeschichte eine besondere emotionale Bedeutung hätte, den Begriff der Ehe auch auf Lebenspartnerschaften anzuwenden. Auf der anderen Seite hat aber nicht erst unsere Rechtsordnung den Begriff der Ehe erfunden. Er hat eine lange kulturgeschichtliche Vorgeschichte, auch eine religiöse Vorprägung. Damit wird durchgängig die offizielle Verbindung von Frau und Mann gemeint. ({11}) - Auch da, Herr Beck, immer Mann und Frau. ({12}) Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil aus dem Jahr 2002 zum Lebenspartnerschaftsgesetz und auch seither immer wieder von der Verschiedengeschlechtlichkeit als einem Wesensmerkmal der Ehe gesprochen und davon, dass der Gesetzgeber die wesentlichen Strukturprinzipien beachten muss, die sich aus der Anknüpfung des Artikels 6 Grundgesetz an die vorgefundene Lebensform der Ehe ergeben. ({13}) Deshalb habe ich meine Zweifel, dass wir diesen Begriff der Ehe einfach hernehmen und umdefinieren können. ({14}) Man muss auch sagen: Eine begriffliche Unterscheidung ist nicht mit einer Diskriminierung gleichzusetzen. Das darf man nicht verwechseln. Bei der Einführung der Lebenspartnerschaft war diese Unterscheidung klar gewollt. Lesen Sie doch bitte die Reden von Herta Däubler-Gmelin oder Margot von Renesse nach. Auch Sie, Herr Beck, haben damals gesprochen und waren geradezu enthusiasmiert.

Johannes Singhammer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002800

Frau Kollegin Winkelmeier-Becker, darf ich Sie an die Redezeit erinnern? ({0})

Elisabeth Winkelmeier-Becker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003865, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich komme sofort zum Ende. - Aber ich wollte doch noch das Glücksgefühl, das Sie damals ausgedrückt haben, erwähnen. Sie haben damals von den vielen Festen gesprochen, die zu feiern wären. Genauso ist es doch auch gekommen, und zwar unter Geltung dieses Gesetzes und noch darüber hinaus. ({0}) Deshalb ist mein Vorschlag: Reden wir über eine weitere Aufwertung und bessere Wertschätzung des Begriffs der Lebenspartnerschaft. Darüber sollten wir diskutieren. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({1})

Johannes Singhammer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002800

Der Kollege Dr. Anton Hofreiter spricht jetzt für Bündnis 90/Die Grünen.

Dr. Anton Hofreiter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003772, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben in diesen Tagen eine große Chance: Wir können erreichen, dass Homosexuellen mehr entgegengebracht wird als nur duldende Toleranz, nämlich wirklicher Respekt für die Unterschiedlichkeit menschlichen Lebens und echte Gleichberechtigung für verschiedene Lebensentwürfe. Ich sage Ihnen eines - dabei wende ich mich auch an meine Vorrednerin -: Alles andere als echte rechtliche Gleichberechtigung von Homosexuellen ist Diskriminierung, nicht mehr und nicht weniger. ({0}) Doch leider erleben wir, auch gerade eben wieder, nur die Fortführung eines bizarren Schauspieles: Die Kolleginnen und Kollegen von der Union sind gegen die echte Gleichstellung von Lesben und Schwulen. Aber sie können und wollen offensichtlich nicht so richtig sagen, warum eigentlich. Also drucksen sie herum wie gerade auch in der Rede. Sie drucksen herum wie ihre Parteivorsitzende im Wahlkampf 2013. So ist das eben, wenn man offensichtlich selber weiß, dass man im Unrecht ist. ({1}) Was sollte der Staat, was sollte denn unsere Gesellschaft dagegen haben, wenn zwei Menschen Verantwortung füreinander übernehmen und das verbindlich machen wollen? Auch auf die Religion können Sie sich nicht wirklich berufen. Ich darf zitieren: Für mich ergibt sich aus zentralen biblischen Geboten der Impuls zu einer Öffnung der Kirche gegenüber gleichgeschlechtlichen Partnerschaften. Das sagt nicht Volker Beck, das sagen nicht wir, sondern das sagt einer der höchsten christlichen Repräsentanten unseres Landes, der Ratsvorsitzende der EKD, Herr Bedford-Strohm. Das sollten Sie aus den Parteien, die das Christliche sogar im Namen tragen, sich wirklich zu Herzen nehmen. ({2}) Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, manche von Ihnen argumentieren ja, mit der Ehe für alle würde die Familie gefährdet. Können Sie mir irgendwie erklären, wie es mein Recht beeinflussen könnte, meine Freundin zu heiraten, wenn unser Kollege Volker Beck oder unser Kollege Jens Spahn das Recht hätten, ihren Freund zu heiraten? Nein, das können Sie eben nicht erklären, denn das hat keinerlei Einfluss. Das stimmt einfach nicht. ({3}) Die Ehe für alle ist eben kein Nullsummenspiel. Wenn Sie allen das Recht zur Eheschließung geben, nehmen Sie doch den Heterosexuellen nichts weg. Einzig die Schlange vor den Standesämtern wird vielleicht ein kleines bisschen länger. Ist das so schlimm? ({4}) Nein, liebe Gegner der Ehe für alle von der Union, Ihr Widerstand gegen die Öffnung basiert doch nicht auf Argumenten oder auf Werten. Seien wir doch einmal ehrlich: Im Kern geht es um Ressentiments und um Vorurteile, um Vorurteile gegen Lesben und Schwule. Das wollen Sie natürlich nicht so offen sagen, erst recht nicht in einer solchen Debatte, aber das rutscht Ihnen immer wieder raus. ({5}) Annegret Kramp-Karrenbauer ist sich nicht zu schade, Homosexualität, Inzest und Polygamie in einen Topf zu werfen. ({6}) Bei der CSU - das war erst gestern wieder im Fernsehen zu beobachten - gibt es sogar manche, die homosexuelle Beziehungen minderwertig finden. Es ist genau diese muffige Geisteshaltung, die überhaupt nicht mehr zu unserem offenen und modernen Land passt. ({7}) Seien wir doch einmal ehrlich: Da war es ehrlicher, als so mancher Konservative offen homophob war. Homosexuelle Liebespaare erst mit Inzest zu vergleichen und dann zu behaupten, das hätte nichts mit Homophobie zu tun, ist nicht nur bigott, das ist wirklich verlogen. ({8}) Schauen Sie sich die Umfragen an. Es gibt viele Umfragen, die zeigen: 65 Prozent, manchmal auch 70 oder 75 Prozent der Bürgerinnen und Bürger sind weiter als Sie. Die Mehrheit im Bundesrat ist längst weiter als Sie. Ich bin mir verdammt sicher: Die Mehrheit hier im Bundestag ist auch weiter als Sie. Sie vertreten doch längst nicht mehr die Wertehaltung einer Mehrheit bei uns. Sie sind doch selbst längst eine fundamentalistische Minderheit in diesem Zusammenhang. ({9}) Schauen wir uns das einmal an: In einer pluralen und freien Gesellschaft haben Sie überhaupt kein Recht, der Mehrheit diese Wertvorstellung aufzuzwingen. ({10}) Sie müssen nicht einmal Ihre Meinung ändern. Geben Sie einfach die Abstimmung frei, und dann schauen wir einmal, welche Mehrheit es hier im Deutschen Bundestag gäbe. ({11}) Aber Sie stellen dieses Recht einfach darüber. Sie wollen Fraktionsgehorsam, Sie wollen Parteigehorsam, das ist Ihnen offensichtlich wichtiger. Aber warum? Es stellt sich die spannende Frage: Warum machen Sie das eigentlich? Eine Ihrer stellvertretenden Bundesvorsitzenden hat selbst zugegeben, dass Sie in ein paar Jahren diese Position räumen. Mit anderen Worten: Das Ganze hat nichts mit Ihren Werten zu tun, sondern es geht eher darum, bei der sogenannten konservativen Klientel noch ein paar Punkte zu sammeln, vielleicht auch noch ein paar Punkte bei der AfD zu sammeln. Das ist doch das Einzige, worum es Ihnen da geht. ({12}) Stellen Sie Ihr Interesse am Machterhalt und Ihr Parteiinteresse nicht weiter über die Liebe vieler Menschen und über die Bereitschaft und den Wunsch vieler Menschen, füreinander einzustehen. Das ist nämlich nicht christlich, das ist maximal schäbig. Deshalb appelliere ich an Sie: Geben Sie die Abstimmung frei, dann sehen wir, wer bzw. welche Wertvorstellung hier die Mehrheit hat. Vielen Dank. ({13})

Johannes Singhammer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002800

Der Kollege Johannes Kahrs spricht jetzt für die SPD. ({0})

Johannes Kahrs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003157, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Diese Debatte ist keine neue, sondern eine, die wir hier häufiger führen. Diese Debatte zeichnet sich dadurch aus, dass Linke, SPD und Grüne eine Position vertreten, CDU/CSU eine andere. ({0}) Wir können diese Debatte noch lange weiterführen. Da ich zurzeit in einer Koalition mit der CDU/CSU bin und man sich in einer Koalition - freundschaftlich verbunden den einen oder anderen Rat geben kann, glaube ich sagen zu dürfen, dass es für die Union auf Dauer besser wäre, wenn sie sich einer Entwicklung, die seit 1998 andauert, nicht weiter in den Weg stellt, ({1}) weil ich einfach glaube, dass die gesellschaftliche Entwicklung nicht nur über sie hinweggeht, sondern der Union auch irgendwann schadet. ({2}) Es gibt Diskussionen, die man führen kann, in denen man sich inhaltlich streiten kann. Aber inzwischen haben zwölf Länder in Europa die Ehe geöffnet. Wenn man sieht, dass außerhalb von Europa selbst solche Länder wie Brasilien, Uruguay und Argentinien ({3}) - das habe ich noch zu Europa gezählt ({4}) die Ehe geöffnet haben und deutlich weiter sind als Sie, meine Damen und Herren von der Union, fragt man sich, wie Sie noch gegen eine Öffnung der Ehe argumentieren können. Die konservative Regierung in Großbritannien hat die Zeichen der Zeit erkannt und hat die Ehe geöffnet. Man könnte hämisch behaupten: gerade weil sie konservativ ist und die Ehe schätzt. Angesichts der Tatsache, dass selbst Länder, in denen Konservative regieren, die Ehe geöffnet haben, gibt es keine inhaltliche Begründung für eine Nichtöffnung der Ehe. Ich gebe zu, dass Sie, Frau Kollegin Winkelmeier-Becker, wirklich tapfer argumentieren, und das über Jahre hinweg. Respekt! Es ist in Ihrer Fraktion sicherlich nicht einfach. Schließlich kenne ich den einen oder anderen Ihrer Kollegen. Dafür gebührt Ihnen höchster Respekt. ({5}) Trotzdem müssen Sie alle, meine Damen und Herren von der Union, zur Kenntnis nehmen, dass die Lesben und Schwulen in diesem Land auf das Schauspiel, das seit 1998 andauert, keine Lust mehr und dafür kein Verständnis mehr haben und der Meinung sind, dass das, was in Uruguay, Brasilien, Argentinien, Slowenien, Spanien, Frankreich, Irland und Südafrika möglich ist, auch in Deutschland möglich sein müsste. ({6}) Unter uns: Ich habe als Hamburger sehr viele Freunde, die Mitglied in der Union sind. Diese sind schwer geknickt. Es gibt gerade unter Schwulen und Lesben sehr viele - ich weiß auch nicht, warum -, die sehr konservativ sind. Diese würden Sie, meine Damen und Herren, gerne wählen. ({7}) - Natürlich muss das nicht sein. Aber man kann einmal daran erinnern. ({8}) Weil Sie, meine Damen und Herren von der Union, diesen potenziellen Wählern vor jeder Wahl rechts und links eine herunterhauen und ihnen mitteilen, dass sie nicht gleichberechtigt sind, und deutlich machen, dass Sie als Union weiterhin bereit sind, sie zu diskriminieren, und zwar aus dem Grund, dass Frau Merkel ein bestimmtes Bauchgefühl hat, glaube ich, dass nichts daraus wird, sie vom Gegenteil zu überzeugen. Aber was Sie vertreten, ist in der Sache falsch. Es gibt keine Argumente gegen eine Öffnung der Ehe. Ich könnte sehr viel dazu sagen, warum es richtig ist, Schwule und Lesben gleichberechtigt zu behandeln. Ich glaube, das versteht jeder hier. Ich verweise auf das Grundgesetz und auch auf unseren Koalitionsvertrag, in dem steht, dass wir Diskriminierung abbauen wollen. Die Frage, die sich mir stellt, lautet: Warum in aller Herrgotts Namen machen Sie es nicht? ({9}) Die Antwort macht die Sache so peinlich. Wenn Sie in der Union über die Öffnung der Ehe abstimmen würden, dann würde die Mehrheit sogar zustimmen. Ihre Wähler sind jedenfalls mehrheitlich für die Öffnung der Ehe. Was Sie antreibt, sind rein taktische Erwägungen. Das hat nichts mit inneren Überzeugungen zu tun. Es hat nichts damit zu tun, dass Sie davon überzeugt sind, dass Lesben und Schwule diskriminiert sein müssen. Es liegt vielmehr daran, dass Sie sich in den letzten Jahren sehr stark bewegt haben, von rechtskonservativ bis in die Mitte. Sie sind inzwischen für die doppelte Staatsbürgerschaft sowie für die Gleichberechtigung der Frau und für Frauenquoten. Sie haben Atomkraftwerke abgeschaltet und die Wehrpflicht abgeschafft. Sie bejubeln sogar die Einführung des Mindestlohns. All das, was die Union tut, führt dazu, dass sich ein Großteil ihrer Stammwähler fragt: Warum soll ich diesen komischen Verein eigentlich noch wählen? - Mit dem, was Strauß, Dregger und selbst noch Roland Koch vertreten haben, haben Sie nichts mehr zu tun. Dazu haben wir tapfer beigetragen. Wir sind gerne weiterhin bereit, solche Beiträge zu leisten. Aber dass Sie es nun an Lesben und Schwulen auslassen, weil Sie rechte und konservative Wähler nicht verlieren wollen, ist unanständig; das geht nicht. ({10}) Das muss ein Ende haben. Das muss auch Frau Merkel begreifen; denn sie ist verantwortlich. Frau Merkel bremst. Das nehmen wir ihr persönlich übel. Deswegen: Geben Sie die Abstimmung frei! ({11})

Johannes Singhammer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002800

Nächster Redner ist der Kollege Helmut Brandt, CDU/CSU. ({0})

Helmut Brandt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003727, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Überhaupt nicht, Herr Beck. - Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kahrs, das Pult ist heil geblieben. Ihre Handkantenschläge waren genauso wenig überzeugend wie Ihre Rede. ({0}) Seitdem die Iren diesen Volksentscheid durchgeführt haben, wird diese Debatte wieder - leider nicht sachlich, sondern hysterisch - geführt. Anders kann man das nicht bezeichnen, auch das nicht, was Sie heute hier abliefern. ({1}) Das ist aber dieses Themas gar nicht würdig. Ich weiß auch nicht, ob Sie wollen - das Thema der Aktuellen Stunde lautet „Ehe für alle“ -, dass sich die Leute in dieser Art und Weise artikulieren. Ich frage mich: Hätten wir heute diese Debatte auch, wenn die Iren so wie die Kroaten abgestimmt hätten? Die Kroaten haben 2013 genau das gegenteilige Ergebnis in der Volksabstimmung erzielt, nämlich eine Ablehnung. ({2}) Sie führen immer wieder an, dass angeblich bei Umfragen, die es geben mag, die Mehrheit der Bevölkerung für diese Gleichstellung ist. Dazu muss ich sagen: Ich habe erhebliche Zweifel. ({3}) Die Zweifel habe ich auch deswegen, weil ich seit diesem Entscheid in Irland - wahrscheinlich auch die anderen Kolleginnen und Kollegen - eine Vielzahl von Zuschriften bekommen habe, die genau den gegenteiligen Eindruck erwecken. Dann kommt es so weit, Herr Beck, dass es Leute gibt, die mir schreiben, dass sie sogar Angst haben, offen einzuräumen, für die Beibehaltung der Ehe zu sein, weil sie sonst automatisch von Leuten wie Ihnen, Herr Beck, in eine rechte, homophobe oder welche Ecke auch immer geschoben werden. Sie diskriminieren diese Leute, die ihre Meinung zum Ausdruck bringen wollen, nicht umgekehrt. ({4}) - Ich weiß, dass Sie, Herr Beck und Herr Kahrs, gerne dazwischenrufen. Aber nicht der, der am lautesten schreit, hat recht. ({5}) - Bei Ihnen stimmt es in dem Fall genau nicht, dass Sie recht haben. Man sollte diese Debatte ohne diese Emotionen und mit Sachlichkeit führen. ({6}) Da wir unter uns sind, wie Sie, Herr Kahrs, gesagt haben: Ich stehe ganz eindeutig dafür, die Ehe in der jetzigen Form beizubehalten und nicht für gleichgeschlechtliche Paare zu öffnen. ({7}) Deshalb, Frau Lay, empfinde ich die Debatte auch keineswegs als unangenehm. Ich bin froh, dass ich dieses Bekenntnis hier frank und frei abgeben kann. Ich hoffe, dass das auch in Zukunft weiter möglich sein wird. ({8}) Es mag auch sein, dass es keine Legaldefinition für den Begriff der Ehe gibt, aber - das hat die Kollegin Winkelmeier-Becker schon ausgeführt - es gibt ({9}) eine Historie, und es gibt viele Gründe kultureller und religiöser Art, die zu dem Ehebegriff geführt haben, so wie wir und ich ihn verstehen. ({10}) Das hängt natürlich auch damit zusammen - man kann das drehen und wenden, wie man will -, dass die klassische Ehe von Mann und Frau, wenn auch nicht immer - leider -, in der Regel dazu führt, dass man sich fortpflanzt. ({11}) - Wer hat das gerufen? Sie schämen sich dafür, ja? Ich möchte Sie bitten, sich dafür zu entschuldigen. Den Zwischenruf „Und was ist mit der Bundeskanzlerin?“ bei dieser Aussage halte ich für eine Unverschämtheit. Ich bitte, zu prüfen, ob das nicht gerügt werden muss. ({12}) Es gibt eben diesen Unterschied, und es gibt das, was ich hochhalten möchte. ({13}) Jetzt kommen diese Drohungen und auch die Falschaussagen, die ich auch von Ihrer Seite, meine Damen und Herren, heute wiederholt in diesem Raum gehört habe. ({14}) Wenn Sie der saarländischen Ministerpräsidentin Dinge in den Mund legen, die sie so nicht gesagt hat, dann halte ich das für eine Frechheit. ({15}) Ich möchte mit der gleichen Deutlichkeit sagen, dass ich ihre Aussage unterstütze, dass nämlich immer überlegt werden muss, wo das Ende einer möglichen Entwicklung ist. Darauf hinzuweisen, ist, glaube ich, legitim. ({16}) Lassen Sie mich zum Schluss aus einer Zuschrift eines Wählers Folgendes zitieren: „Auch Iren können irren.“ Ich glaube, sie haben sich geirrt. ({17})

Johannes Singhammer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002800

Ich möchte darauf hinweisen, dass zwar immer Zwischenrufe gemacht werden können, nach unserer Geschäftsordnung allerdings nicht von der Regierungsbank. ({0}) Wenn ein Regierungsmitglied Zwischenrufe machen möchte, dann kann es dieses tun: als Abgeordneter, aber nicht von der Regierungsbank. Das ist unsere Vereinbarung. ({1}) Nächster Redner ist der Kollege Harald Petzold für die Fraktion Die Linke. ({2})

Harald Petzold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004374, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Liebe Besucherinnen und Besucher! Lieber Kollege Brandt, natürlich sollen Sie hier im Deutschen Bundestag Ihre Meinung sagen können ({0}) und auch für Ihre Positionen werben können. Darum geht es doch gar nicht. Es geht nur darum, dass Sie zum Beispiel den Kolleginnen und Kollegen in Ihrer eigenen Fraktion und den Kolleginnen und Kollegen in der SPDFraktion, die offensichtlich eine ganz andere Meinung als die Spitzen ihrer eigenen Fraktionen haben - der Kollege Kahrs hat es ja hier dargestellt -, die Möglichkeit einräumen, hier für ihre Position zu werben und dementsprechend dann auch abstimmen zu können. ({1}) Deswegen auch von meiner Seite zu Beginn meiner Rede in der Aktuellen Stunde zum Thema „Ehe für alle“ die Forderung: Geben Sie diese Abstimmung frei. Wenn Sie das nicht wollen, dann lassen Sie einen Volksentscheid zu dieser Frage zu. Dann werden Sie sehen, dass Sie die Meinungsführerschaft in der Gesellschaft mit Ihren Positionen, was die Ehe anbelangt, leider verloren haben. Ich sage Ihnen auch klar und deutlich: Die Umfragen belegen vor allen Dingen, dass es für junge Leute eine ganz zentrale Frage von Gerechtigkeit in dieser Gesellschaft ist, dass es keine Diskriminierung mehr gibt und dass Respekt für alle Lebensweisen bekundet wird und dass niemand mehr ausgegrenzt und diskriminiert wird. Das sollten wir zur Kenntnis nehmen. Dem sollten Sie sich hier im Bundestag endlich öffnen. ({2}) Als meine Fraktion am Anfang dieser Woche diese Aktuelle Stunde beantragt hat, war ich mir nicht sicher, ob das zum gegenwärtigen Zeitpunkt tatsächlich das optimale Mittel ist, mit dem Gegenstand umzugehen. ({3}) Der Kollege Jens Spahn hat sich sinngemäß in der Presse geäußert: Was im katholischen Irland möglich ist, sollte doch auch bei uns möglich sein. ({4}) Das war überhaupt nicht aufgeregt oder hysterisch, sondern das ist einfach richtig. ({5}) Ihr Generalsekretär Peter Tauber hat auf seiner Facebook-Seite eine Umfrage initiiert, die eine überwältigende Mehrheit für die Öffnung der Ehe gebracht hat. Ich finde, das ist überhaupt nicht hysterisch. Das ist legitim, und es hat Sie sozusagen mit der gesellschaftlichen Realität konfrontiert. ({6}) Die Berliner CDU hat angekündigt, dass sie in dieser Frage einen Mitgliederentscheid herbeiführen will. Was ist daran hysterisch? Es ist einfach ein legitimes und demokratisches Mittel. Es wird Ihnen zeigen, dass in Berlin - der Kollege Luczak wird mich wahrscheinlich bestätigen - inzwischen viel weiter gedacht wird als in der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. ({7}) Leider gibt es die „Oberbremser“ in der Union wie Frau Kramp-Karrenbauer, Herrn Kauder oder Herrn de Maizière, diesmal getarnt als Bedenkenträger. Ich muss sagen: Das, was Frau Kramp-Karrenbauer gesagt hat - egal ob das jetzt richtig zitiert worden ist oder nicht -, ({8}) Harald Petzold ({9}) ist den sogenannten besorgten Bürgern viel näher als einem tatsächlichen, sachlichen Austausch über diese Thematik in der Gesellschaft. ({10}) - Genau, das war blanke Hysterie. Ich sage Ihnen voraus: Es ist ein sinnloser Abwehrkampf, den Sie hier führen. Nicht nur die Umfragen in Deutschland belegen das, sondern auch die Politik in vielen anderen Ländern. Der Kollege Kahrs hat sie aufgezählt. Ich könnte die Aufzählung ergänzen. Zu dieser Aufzählung gehören Länder, von denen man es nie im Leben für möglich gehalten hätte: Tschechien, Slowenien ({11}) - Südafrika, genau - und eben auch das katholische Irland. Dazu kommen 36 Bundesstaaten der USA. Wir erwarten zu Beginn des Sommers eine Entscheidung des Supreme Court der USA. Wir sind fest davon überzeugt, dass die Ehe gleichgeschlechtlicher Paare auch in den USA als verfassungsgemäß beurteilt wird. Und dann werden Sie sehen, verehrte Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU: Der Kaiser ist nackt. ({12}) Da können Sie machen, was Sie wollen. Sie haben kein sachliches Argument mehr gegen die Öffnung der Ehe. ({13}) Deswegen sage ich Ihnen: Lassen Sie sich von den Kolleginnen und Kollegen in Ihrer Fraktion, die bei den vergangenen CSDs Grußworte gehalten haben, doch einfach einmal erzählen, wie das ist, wenn man für seine Position ausgebuht wird. ({14}) Sie können nicht beantworten, warum Sie nicht die Gunst der Stunde nutzen. Die Kanzlerin würde von den Teilnehmerinnen und Teilnehmern der CSDs auf Händen getragen. Ich befürchte sogar, die Mehrheit meiner eigenen Anhänger wäre darunter. Aber das wäre mir recht, damit Sie endlich Ihre Position ändern. Nutzen Sie die Gunst der Stunde, die neuen Mehrheiten in der Gesellschaft. Wenn Sie eine Bewegung schon nicht mehr verhindern können, dann sehen Sie wenigstens zu, dass Sie an ihre Spitze kommen, und öffnen Sie die Ehe für gleichgeschlechtliche Partnerschaften. Vielen Dank. ({15})

Johannes Singhammer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002800

Nächster Redner ist der Kollege Dr. Karl-Heinz Brunner, SPD. ({0})

Dr. Karl Heinz Brunner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004256, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr verehrter Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! Verehrte Zuhörerinnen und Zuhörer! Im Vorgriff auf diese Aktuelle Stunde habe ich überlegt, ob ich den Einstieg in meine Rede über den Begriff „Vorurteile“ wählen soll, aber, Kollege Brandt, nach Ihrem Wortbeitrag hier in diesem Hohen Hause fällt mir dies deutlich leichter. ({0}) Ich sage dies deshalb, weil ich, wie eine Kollegin der Grünen, am vergangenen Wochenende in Kiew war, als die ukrainischen Schwulen und Lesben versucht haben, als ein Häufchen Aufrechter im Land eine Gay Pride Parade - nicht bunt, nicht mit irgendwelchen Federboas, sondern ganz anständig - als Demonstration für Menschenrechte durchzuführen, ({1}) und ich zusammen mit den 250 Demonstrantinnen und Demonstranten von rund 1 000 Polizisten bewacht werden musste, um überhaupt an einem öffentlichen Platz fernab des Zentrums stehen zu können, während ein Mob von vorurteilsgeprägten Rechten versucht hat, auf die Menschen einzuschlagen. Dass ich in meinem Alter noch so schnell laufen kann, wenn man verfolgt wird, hat mich gewundert. ({2}) Nach diesem Eindruck kehrt man dann nach Deutschland zurück - man hat überlebt, weil man nicht verprügelt wurde; der Kollege Beck hat vor ein paar Jahren leider nicht das Glück gehabt, so schnell laufen zu können, ({3}) und kein Postamt gefunden, wo er sich verstecken konnte - und denkt sich: Schön zu wissen, dass wir in Deutschland sind, dass es keine Gefahr für Leib und Leben gibt, dass es hier eine Mehrheitsgesellschaft gibt, die Minderheiten respektiert. Ironischerweise hatte ich gedacht, dass ich nach meiner Rückkehr am Montag als Erstes einen Brief vorfinden würde mit dem Inhalt: Schön, dass du wieder gesund zurück bist. Schön, dass du dich für die Rechte der Schwulen eingesetzt hast. Schön, dass du hier etwas tust. - Was lag stattdessen auf dem Tisch? Ein Schreiben eines angehenden Priesters, der sich wohl so wie die Teilnehmer des Shitstorms der letzten Wochen durch die Mitunterzeichnung des Aufrufs im Spiegel provoziert fühlte und der die Homo-Ehe, wie er sie bezeichnete, mit den Rassegesetzen der Nazis und Ähnlichem verglich. Normalerweise und eigentlich schmeiße ich solchen Mist sofort in den Papierkorb. Aber angesichts dieser Penetranz, auch der Penetranz, mit der in unserer Region in letzter Zeit Leserbriefe geschrieben werden, war ich der Meinung: Nein, wir müssen endlich sagen, was die Mehrheit der Menschen denkt, was sie will, was richtig und anständig ist. ({4}) Anständig ist die Ehe für alle, anständig ist nicht Diskriminierung. Doch das ist in diesem Lande nicht immer Realität. Wenn man sich einmal anschaut, wie man sich auf den Sportplätzen, auf den Schulhöfen dieses Landes oder in manchen Familien heute noch sehr oft verhält, wo der Begriff „schwule Sau“ als nett und schick angesehen wird und blöde Kommentare, die unter die Gürtellinie zielen, nur Schmunzeln hervorrufen, dann weiß man: Bei uns besteht zwar keine Gefahr für Leib und Leben, aber Gefahr für die Seele und Psyche von jungen Menschen. ({5}) Weil dies nicht gut ist, weil wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten dies erkannt haben und weil das in diesem Land nicht sein darf, haben wir im Koalitionsvertrag vereinbart - ich habe es ausgedruckt, damit man nicht sagt, es stehe etwas anderes drin -: Wir werden darauf hinwirken, dass bestehende Diskriminierungen von gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaften und von Menschen aufgrund ihrer sexuellen Identität in allen gesellschaftlichen Bereichen beendet werden. Punkt! ({6}) Deshalb verstehe ich manche der Aufregungen und manche Ablehnung der Ehe für alle aus folgenden Gründen überhaupt nicht: Erstens. Noch bestehende bürokratische Unterschiede zwischen Ehe und Lebenspartnerschaften sind künstlich und willkürlich. Zweitens. Gestatten Sie mir den Gebrauch des Begriffes: Früher hatten wir Rosa Listen. Heute haben wir mit dem Stempel „Lebenspartnerschaftsurkunde“ den Vermerk, anhand dessen jeder draußen weiß, welch sexuelle Orientierung der Mieter, der Eröffner eines Bankkontos oder von etwas anderem hat. Dies geht jedoch niemanden etwas an - weder den Staat noch andere. ({7}) Drittens. Ich bin der festen Überzeugung, dass Politik führen und Richtung weisen muss. Sie muss Farbe bekennen sowie Motor der Gleichstellung sein. Nicht zuletzt wollen wir Verträge - auch den Koalitionsvertrag - ernst nehmen; nicht nur bei der Maut. Deshalb sage ich: Setzen wir den Koalitionsvertrag um nicht mehr, auch nicht weniger. Beenden wir - so, wie wir es vereinbart haben - Diskriminierungen in allen gesellschaftlichen Bereichen. Das Folgende sage ich an den Kollegen Kauder gerichtet. Liebe Frau Winkelmeier-Becker, teilen Sie es ihm - genauso wie der Kanzlerin - mit. Ich bin mir sicher und kann Ihnen mit der Kollegin Sütterlin-Waack, die immer noch aufrecht und standhaft auf diesem Gebiet arbeitet, versprechen: Wir kriegen die Ehe für alle sehr schnell hin! ({8}) Beenden wir also die unterschiedliche Behandlung zwischen Lebenspartnerschaft und Ehe. Geben wir den Kindern in unserer Gesellschaft Geborgenheit. Die Kinder brauchen Familien. Sie brauchen sie nicht nur am Sonntag, sondern von Montag bis Sonntag, die ganze Woche über. Dort, wo Kinder sind, muss auch eine Familie sein. Dabei ist es egal, ob zwei Frauen, zwei Männer oder eine Frau und ein Mann die Eltern sind: Kinder brauchen Geborgenheit. ({9}) Ich glaube, lieber Herr Kauder und liebe Zauderer in der Union: Wir wären der Zustimmung der Mehrheit der Deutschen und dieses Hauses gewiss. Wäre es nicht schön, wenn wir das hinbekämen? Vielen herzlichen Dank. ({10})

Johannes Singhammer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002800

Der Kollege Volker Beck spricht jetzt für Bündnis 90/ Die Grünen.

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es geht in dieser Debatte nicht um juristisches Klein-Klein, sondern um eine Grundsatzfrage. Es geht um gesellschaftlichen Respekt gegenüber einer Minderheit. „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren.“ - Das ist Artikel 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Wer gleiche Rechte verweigert, verweigert auch gleiche Würde. ({0}) So nehmen die Lesben und Schwulen in Deutschland diese Debatte wahr. Sie nehmen diesen Menschen mit Ihrem harten Festhalten an einer Minderheitsmeinung und der Geiselnahme des gesamten deutschen Parlamentes für Ihre Position die Würde, die Anerkennung und Volker Beck ({1}) den Respekt, den sie verdient haben und den die Verfassung auch für sie so will. ({2}) Was führen Sie dafür ins Feld? Die Kanzlerin sagt: Ich tue mich mit der völligen Gleichstellung schwer. Im Präsidium der CDU soll sie es ein bisschen näher ausgeführt und gesagt haben, es gebe einen Unterschied zwischen der Ehe, die zwischen Mann und Frau geschlossen wird, und der Lebenspartnerschaft von zwei Menschen gleichen Geschlechts. ({3}) - Ja, da hat sie recht! - Und wie ist das mit den Unterschieden im demokratischen Rechtsstaat? Lesen Sie einmal Artikel 3 Grundgesetz. Unser Grundgesetz weiß um die Verschiedenheit der Menschen. Es zählt sogar ganze Litaneien von Kategorien auf, nach denen man die Menschen in Gruppen unterscheiden kann, und sagt dann: Diese Unterscheidungen dürfen keine Abstriche bei der Gleichheit vor dem Gesetz rechtfertigen. Im demokratischen Rechtsstaat ist es so, dass Sie Ungleiches nur dann ungleich behandeln dürfen, wenn Sie dafür ein legitimes Ziel haben und wenn diese Ungleichbehandlung erforderlich und angemessen bezogen auf das Ziel ist. Dies sagt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte im Rahmen ständiger Rechtsprechung. Das sagt auch das Bundesverfassungsgericht so. Es ist eben nicht so, wie Ihre Leute in den Talkshows immer erzählen, dass man Gleiches gleich und Ungleiches ungleich behandeln müsse. Das Gegenteil ist der Fall. Gleiches muss man nicht gleich behandeln. Das ist schon gleich. ({4}) Ungleiches muss man gleich behandeln, wenn man keinen guten Grund hat, unterschiedliche Rechte an die Differenz zu knüpfen. ({5}) Das ist Demokratie, das ist Rechtsstaatlichkeit, und das ist eine Politik des Respekts. Die geht Ihnen leider vollkommen ab. Dann wird mit der Tradition und der Geschichte oder gar der Religion argumentiert; mein Fraktionsvorsitzender hat schon das richtige Zitat gebracht. Was gibt die Tradition als Rechtsquelle her bei den Menschenrechten von Lesben und Schwulen? Bis 1969 wurde Homosexualität unter erwachsenen Männern mit dem Strafrecht verfolgt. 50 000 Männer haben ihre Existenz in dieser Republik bis 1969 verloren aufgrund von strafrechtlicher Verfolgung nach § 175 Strafgesetzbuch. Ist es dann in einer solchen Rechtssituation von Relevanz, was 1949 jemand zu dieser Frage im Zivilrecht gedacht hat? Das war eine Frage, die gar nicht denkbar war, nicht diskutabel. Deshalb: Das Eherecht verändert sich, wie wir in die Gesellschaft und zu den Menschen schauen. Das Verfassungsgericht hat es doch schon längst gemacht. Aber immer gegen Sie. In den 90er-Jahren hat das Verfassungsgericht in der Entscheidung zum Kindschaftsrecht gesagt: Auch Kinder in nichtehelichen Lebensgemeinschaften bilden mit ihren Eltern eine Familie, und zwar eine Familie nach Artikel 6 des Grundgesetzes. 2013 hat das Bundesverfassungsgericht das Gleiche im Urteil zur Sukzessivadoption über die lebenspartnerschaftliche Familie gesagt. Wenn sich die Familie in Artikel 6 GG wandeln kann, dann kann sich die Ehe in Artikel 6 GG genauso wandeln. ({6}) Sie müssen mir schon einmal erklären, warum ausgerechnet in der deutschen Verfassung, die eigentlich als Negation auf die Barbarei des Nationalsozialismus geschrieben wurde, stehen soll, dass man eine Minderheit nachhaltig diskriminieren soll? Wenn das in anderen demokratischen Verfassungen - in Südafrika, Argentinien, Uruguay, in den USA und den Niederlanden, in Spanien, Portugal, Irland, Dänemark - überall anders ist, müssen Sie mir das einmal erklären. Der Wortlaut gibt gar nichts her. Sie behaupten aber, diese Art von Menschenverachtung gegenüber der homosexuellen Minderheit sei in unsere Verfassung eingeschrieben. Das kann historisch nicht der Fall sein. Das ist vom Wortlaut her nicht der Fall, und das gibt auch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes nicht her. Ganz im Gegenteil: Das Verfassungsgericht hat jeden Schritt zur Gleichberechtigung seit 2005 selber auf den Weg bringen müssen. Gehen Sie voran. Beenden Sie die Geiselhaft der Mehrheit des Deutschen Bundestages und des Bundesrates. Lassen Sie den Respekt, den unsere Bevölkerung gegenüber der lesbischen und schwulen Minderheit hat, endlich in einem Gesetzesbeschluss zum Ausdruck kommen. Geben Sie die Ehe frei. ({7})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Volker Beck. - Einen schönen Tag von meiner Seite, Ihnen und den Gästen auf der Tribüne! Nächster Redner, dem ich zu seiner Eheschließung gratulieren möchte, ist Dr. Stefan Kaufmann für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Stefan Kaufmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004065, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen, insbesondere von den Linken! Das Ziel, das Sie mit der heutigen Debatte verfolgen, ist klar: Sie wollen uns, Sie wollen die Union vorführen. Dabei ist es kein Geheimnis, dass es in dieser Union unterschiedliche Positionen zum Thema „Ehe für alle“ gibt. Das kann auch in einer großen Volkspartei gar nicht anders sein. Sie wissen auch, dass Sie derzeit in der Sache mit dieser Debatte überhaupt nichts erreichen. Am Ende provozieren Sie mögli10446 cherweise sogar mehr Widerstand, als Ihnen um der Sache willen lieb sein müsste. ({0}) Die ersten Redebeiträge haben schon gezeigt, wie emotional diese Debatte geführt wird: hier im Plenum, aber auch draußen in der Bevölkerung. Mein dringender Wunsch wäre daher, dass wir auf beiden Seiten die Debatte erst einmal versachlichen, Emotionen herunterfahren, Verletzungen vermeiden. ({1}) Vor Ihnen steht jemand, der in Partei und Gesellschaft für eine Öffnung der Ehe wirbt. ({2}) Ja, es verletzt, wenn von manchen Gegnern der Eindruck erweckt wird, der Weg von der Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtlich Liebende zu anderen unerwünschten Verbindungen sei nicht weit. Ja, es verletzt, wenn Sätze in Mails oder Diskussionen mit den Worten beginnen: „Ich habe ja nichts gegen Homosexuelle, aber …“ Dann folgt häufig: „… müsst ihr das immer zum Thema machen?“, „… jetzt ist auch mal genug mit Gleichstellung“, „… es ist halt nicht normal.“ - Doch auf der anderen Seite verletzt es genauso, wenn eine unglückliche oder vielleicht auch unbedachte Äußerung eines Kollegen, der ehrlich um eine Position bei diesem Thema ringt, in einem Shitstorm aus der Community endet. ({3}) Das gilt im Übrigen auch für die mitunter aggressive Rhetorik von Kollegen aus der Opposition. ({4}) Apropos „normal“: Ja, es ist nur eine Minderheit, die gleichgeschlechtlich liebt - nach Schätzungen bis zu 5 Prozent. Aber zu dieser Minderheit gehören allein in Deutschland - wenn Sie mal rechnen - bis zu 4 Millionen Menschen. Diese 4 Millionen Menschen haben Eltern, Geschwister, Verwandte, Kollegen und Freunde, die mit ihnen fühlen und solidarisch sind. Das erklärt vielleicht auch, warum diese gesellschaftliche Debatte so schwierig ist und so emotional geführt wird. Ja, am Ende mag es in rechtlicher Hinsicht nur um eine Begrifflichkeit gehen. Doch wenn man in Formularen oder Bewerbungen wahrheitsgemäß „verpartnert“ angibt, weiß eben jede Behörde oder jeder Arbeitgeber sofort, wie man liebt; Herr Brunner hat darauf hingewiesen. Viele wollen eben nicht sagen, dass sie verpartnert sind. Sie wollen sagen, dass sie verheiratet sind, dass sie Ehepartner sind. ({5}) Sie wollen das, was sie verbindet, Ehe nennen, weil sie Ehe in ihrem Alltag erleben, weil das, was sie Tag für Tag leben, für sie, ihre Familie und Freunde Ehe ist. ({6}) Worum geht es denn in diesen Verbindungen? Es geht um Verlässlichkeit, Vertrauen und Verantwortung. Das ist der Kern der Ehe: gelebte Verantwortung. Nun haben viele Kritiker einer Eheöffnung Sorge, dass die Ehe als Institution entwertet wird; darum geht es im Kern in dieser Debatte. Aber ist nicht genau das Gegenteil der Fall? Wird das Institut der Ehe nicht vielmehr gestärkt? Sicher, eine gleichgeschlechtliche Ehe kann nie auf eigene leibliche Kinder ausgerichtet sein. Wer nun die Ehe vor diesem Hintergrund als eine ausschließliche Verbindung von Mann und Frau definiert, hat die Kulturgeschichte und die Tradition, ja sogar die entsprechend geprägte Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auf seiner Seite. Das, meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, müssen wir in dieser Debatte ernst nehmen - auch wenn es in Umfragen klare Mehrheiten für eine Öffnung der Ehe gibt. Im Übrigen wollen wir auch nicht vergessen: Wir haben in den letzten 15 Jahren viel erreicht. Die Entwicklung in Gesellschaft, Partei und Fraktion habe ich als Betroffener in den letzten 15 bzw. 6 Jahren hautnah miterlebt. Gewiss: Die Union war hierbei nicht die treibende Kraft. Aber es ist das Verdienst der Union, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass wir der Diskussion nicht aus dem Weg gegangen sind. Wir haben die konservativen, die traditionell ausgerichteten Bürgerinnen und Bürger bei dieser Debatte mitgenommen. ({7}) Dieser Aspekt kam mir in der bisherigen Debatte zu kurz. Lassen Sie mich dabei nur das Beispiel der Debatte um eine Gleichstellung im Steuerrecht auf dem Bundesparteitag in Hannover nennen. Sie war eine zentrale Wegmarke, die bei vielen in der Partei einen Prozess des Umdenkens ausgelöst hat. Am Ende haben etliche Kolleginnen und Kollegen aus Überzeugung jene Wählerinnen und Wähler mitgenommen, die noch Probleme mit der Vorstellung hatten, dass gleiche Liebe auch gleiche Rechte und gleiche Pflichten mit sich bringen soll. ({8}) Die Tatsache, lieber Kollege Beck, dass Großdemos wie in Frankreich bei uns in Deutschland ausbleiben, zeigt, dass hierzulande Toleranz und Akzeptanz mittlerweile von weiten Teilen der Bevölkerung verinnerlicht werden. ({9}) Dennoch, meine Damen und Herren, beschäftigt viele Menschen die Frage: Wird hier nicht Ungleiches gleich behandelt? Da ist für mich entscheidend: Es wird niemandem etwas weggenommen; es wird kein Kind weniger geboren und keine Ehe weniger geschlossen. ({10}) Daher ist für mich kein Widerspruch zu Artikel 6 des Grundgesetzes zu erkennen; denn am besonderen Schutz der Familie wird nicht gerüttelt. Welchen Geschlechts die Partner einer Ehe zu sein haben, regelt das Grundgesetz nicht. Zum Adoptionsrecht. Hier geht es nicht um das Recht oder um einen Anspruch adoptionswilliger Paare, auch nicht bei Heterosexuellen. Es geht ausschließlich um die Frage, ob gleichgeschlechtliche Paare in eine Einzelfallprüfung einbezogen werden sollen oder nicht. Es geht also in der Tat um das Kind und dessen Wohl, um das Recht des Kindes auf die besten Eltern. ({11}) Ich komme zum Schluss. Im Übrigen geht es auch nicht darum, am Sakrament der Ehe zu rütteln. Aber es muss das Recht des säkularen Staates sein, eine eigene diskriminierungsfreie Definition der Ehe gesetzlich festzuschreiben. ({12}) Ich bitte Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, herzlich darum: Debattieren wir dieses Thema offen und sachlich, und beschädigen wir das Anliegen nicht durch falsch verstandene Hau-Ruck-Aktionen wie diese Debatte heute. ({13}) Nehmen wir uns die Zeit für die notwendige Diskussion, und freuen wir uns, dass die Institution Ehe und die mit ihr verbundenen Werte geradezu eine Renaissance erleben. Dafür sollten wir dankbar sein. Danke sehr. ({14})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Dr. Kaufmann. - Nächster Redner ist Sönke Rix für die SPD-Fraktion. ({0})

Sönke Rix (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003830, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es gehört zu dieser Debatte dazu, darauf hinzuweisen, dass wir in den letzten Jahren viel erreicht haben. Ich glaube, das muss man an dieser Stelle einmal sagen. Die jetzige Situation hat mit der Diskriminierung, die es in den vergangenen Jahrzehnten gegeben hat, natürlich wenig zu tun. Wir haben erreicht, dass es eingetragene Lebenspartnerschaften gibt. Wir haben eine Verbesserung im Steuerrecht erreicht. Wir haben durchaus auch dazu beigetragen, dass die gesellschaftliche Akzeptanz von schwulen und lesbischen Paaren viel größer geworden ist. Es gibt Menschen, über die man früher gesagt hat, sie würden sich in der Öffentlichkeit nie trauen, zuzugeben oder zu sagen, dass sie als Mann mit einem Mann oder als Frau mit einer Frau zusammenleben, die sich das heute trauen. In diesen Bereichen haben wir viel erreicht. Aber das haben wir politisch auch immer unterstützt. Das haben wir auch immer mit politischen Maßnahmen flankiert. Von daher sollten wir nicht aufhören, diesen Weg weiterzugehen, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({0}) Der gesellschaftliche Wandel und die damit verbundene Zustimmung, dass ein Mann mit einem Mann oder eine Frau mit einer Frau zusammenleben kann, kommen nicht von ungefähr. Deshalb frage ich ganz leise und vorsichtig in Richtung Union: Warum kann diese Diskriminierung nicht aufgehoben werden? Wir haben vorhin gehört: Es ist keine Diskriminierung. ({1}) Man hat versucht, anhand verschiedener Argumente darzulegen, dass es eigentlich keine Diskriminierung ist. Aber es ist doch so: Wenn ich einer Minderheit etwas vorenthalte, worauf sie laut Grundgesetz, laut unserer Wertvorstellung, eigentlich ein Recht hat, dann ist das eine Diskriminierung; denn ich entkoppele sie von ihrem Recht. Deshalb müssen wir diese Diskriminierung beenden, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({2}) Gerade wenn man dieses Thema in Bürgersprechstunden oder bei Veranstaltungen diskutiert, dann sind es häufig nicht nur die - in Anführungsstrichen - „betroffenen Menschen“, die zu mir kommen und sagen: „Jetzt schafft endlich die Ehe für alle“, sondern es sind auch die Angehörigen oder Freunde dieser Personen, die sagen: Ich fühle doch, dass mein Sohn, meine Tochter, mein Freund, meine Freundin, mein Bruder, meine Schwester noch diskriminiert wird. Sie fragen mich: Warum diskriminiert ihr ihn noch? Er will doch einfach nur heiraten. Er will mit seinem Partner deutlich das zeigen, was seine Eltern durch eine Heirat gezeigt haben, nämlich dass sie Verantwortung füreinander übernehmen wollen. - Diesen Wert sollten wir unterstützen. ({3}) - Ja, diesen Wert sollten wir unterstützen. Aber wir enthalten ihnen ihr Recht vor, und sie fühlen sich dadurch diskriminiert. Laut einer Untersuchung ist es immer noch so, dass sich über zwei Drittel der Betroffenen am Arbeitsplatz, in Vereinen, in Verbänden, in der Öffentlichkeit, in der Schule oder an der Universität diskriminiert fühlen. Es ist auch so, dass „Du schwule Sau“ immer noch ein Schimpfwort ist. Es ist auch immer noch so, dass diesen Menschen mit Vorbehalten begegnet wird. Wenn wir sagen, die Schwulen und Lesben haben ein Recht weniger, nämlich das Recht, zu heiraten, dann unterstützen wir diese Vorbehalte und heben sie eben nicht auf. ({4}) Deshalb ist meine ganz dringende Bitte: Nehmen wir das ernst, was an Akzeptanz weit über die Grenzen eines Teils dieses Hauses und weit über die Grenzen der gesellschaftlichen Mehrheit hinaus vorhanden ist. Wir müssen anerkennen, dass die Akzeptanz des heiligen Begriffs - wenn man das an dieser Stelle sagen darf - „Ehe für alle“ mittlerweile weit in die Kreise vorgedrungen ist, in denen wir das früher nicht für möglich gehalten haben. Es wurde vorhin angesprochen: Einer der höchsten christlichen Repräsentanten der evangelischen Kirche streitet dafür. In der katholischen Kirche wird darüber diskutiert. Es ist auch gut, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass bei Ihnen darüber diskutiert wird. Ich wünsche mir: Nehmen Sie die Argumente der Menschen ernst, die sich diskriminiert fühlen. Suchen Sie das Gespräch mit ihnen. Sagen Sie endlich: Ja, wir wollen diese Diskriminierung aufheben. Wir wollen nicht, dass ihr euch diskriminiert fühlt. Wir wollen für euch die gleichen Rechte, deshalb geben wir die Abstimmung im Bundestag frei. Wir wollen, dass keiner diskriminiert werden kann wegen seiner Haltung zu diesem Thema. Herzlichen Dank. ({5})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Herr Kollege Rix. - Nächster Redner: Alexander Hoffmann für die CSU/CDU-Fraktion. ({0})

Alexander Hoffmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004304, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Geschätzte Kolleginnen und Kollegen! Aufgabe der Politik ist es, einen gesellschaftlichen Wandel zu begleiten. Es ist aber nicht Aufgabe der Politik, die Gesellschaft zu verändern. ({0}) Gestatten Sie mir, dass ich unter dieser Überschrift drei Aspekte aus der Debatte herausgreife: Zunächst einmal ist ein gesellschaftlicher Wandel spürbar. Er war spürbar, und er ist es noch - zum Glück, sage ich da. Gleichgeschlechtliche Partnerschaften sind in unserer Gesellschaft eine Selbstverständlichkeit geworden, sie sind in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Diese gleichgeschlechtlichen Partnerschaften verfügen mittlerweile - auch: glücklicherweise - über eine Vielzahl von Rechten. Wenn man das einmal juristisch betrachtet, sind eigentlich noch zwei Punkte offen: die Frage der Volladoption und die Frage der Bezeichnung als Ehe. ({1}) Dann wieder der Blick auf die Rolle der Politik: Aufgabe der Politik ist es, diesen Wandel auch weiter zu begleiten; aber die Politik sollte sich davor hüten, in emotionalen Debatten wie heute, die ideologisch geführt werden, Gräben aufzuwerfen. ({2}) Da sage ich Ihnen ganz offen, Herr Beck, Herr Hofreiter, Frau Lay: Wenn Sie meinen, dass Sie dieses Thema so befördern können, dann halte ich Ihnen entgegen: Ich bezweifle, dass Sie so ein guter Sachwalter der Interessen von Homosexuellen sind, ({3}) und ich frage Sie, wo eigentlich Ihr Verständnis für die Meinungsfreiheit ist. ({4}) Wenn man - das ist der zweite Aspekt - die Befürworter der Begrifflichkeit „Ehe“ auch für gleichgeschlechtliche Partnerschaften fragt, warum, dann kommt oft als Antwort: Wir wollen eine gleiche Rechtsstellung. Wenn man dann erklärt, dass wir heute eigentlich bis auf die von mir benannten Punkte glücklicherweise weitestgehend Gleichstellung haben - bis hin zur Sukzessivadoption und zum Ehegattensplitting -, dann sind es die allerwenigsten, die an dieser Forderung festhalten. Liebe Kolleginnen und Kollegen, blicken wir nun einmal auf die beiden offenen Posten - so will ich es mal nennen -: Zunächst einmal zur Frage der Volladoption. ({5}) Wenn man mit Adoptionssachbearbeitern von Jugendämtern spricht, dann bekommt man die Bestätigung, dass diese Frage eine praktische Relevanz nicht flächendeckend in der Bundesrepublik hat. Aber in den Großstädten spielt sie vereinzelt tatsächlich eine Rolle. Man bekommt aber - das muss man der Ehrlichkeit halber dazusagen - auch die Information, dass sich die Praxis zu helfen weiß mit der, ich will es mal benennen, versetzten Sukzessivadoption. Wichtig ist mir nur, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass wir die Debatte von der richtigen Seite beginnen; denn die Debatte, auch um die Gleichstellung im Adoptionsrecht, muss immer mit der Überschrift „Wohl des Kindes“ beginnen. ({6}) Sie darf eben nicht beginnen mit dem Drang der Selbstverwirklichung der Adoptionswilligen - egal ob verheiratet, alleinstehend oder verpartnert. Dann müssen wir uns, liebe Kolleginnen und Kollegen, vor Augen führen, dass genau unter dieser Überschrift „Wohl des Kindes“ dem Grunde nach jeden Tag in Deutschland Personen diskriminiert werden. Adoptionswilligen wird gesagt: Es gibt keine Möglichkeit, weil die sozialen Verhältnisse zu schlecht sind, weil die Wohnverhältnisse mangelhaft sind, weil die Adoptiveltern vielleicht zu alt sind oder die Vereinbarkeit von Beruf und Familie bei ihnen nicht so gegeben ist wie bei anderen Antragstellern. ({7}) Nun - das ist der letzte Gesichtspunkt, den ich ins Feld führen möchte - die Auseinandersetzung mit der Begrifflichkeit „Ehe“: Ich bin der festen Überzeugung, dass eine offene Gesellschaft sich nicht durch oberflächliche Gleichmacherei auszeichnet, ({8}) sondern sie zeichnet sich dadurch aus, dass wir Verschiedenes auch verschieden bezeichnen: Männer sind Männer, Frauen sind Frauen. ({9}) Das ist in der Anrede und das ist im Vornamen oftmals schon erkennbar. ({10}) Meine Damen, meine Herren, eine Ehe zwischen Mann und Frau und eine gleichgeschlechtliche Partnerschaft sind etwas Unterschiedliches, schon aus biologischen Gründen. ({11}) Weil immer wieder das Bundesverfassungsgericht bemüht wird, sage ich Ihnen: Das bestätigt auch das Bundesverfassungsgericht. Deswegen will ich mit zwei Zitaten des Bundesverfassungsgerichts schließen. ({12}) - Auch dort wurde diese Entscheidung zitiert, Herr Beck. Sie können es nachlesen. Das Bundesverfassungsgericht spricht von einem „Gebot, die Ehe als Lebensform zwischen einem Mann und einer Frau zu schützen“. Es verwendet den folgenden Satz - ich zitiere -: Zum Gehalt der Ehe, wie er sich ungeachtet des gesellschaftlichen Wandels und der damit einhergehenden Änderungen ihrer rechtlichen Gestaltung bewahrt und durch das Grundgesetz seine Prägung bekommen hat, gehört, dass sie die Vereinigung eines Mannes mit einer Frau zu einer auf Dauer angelegten Lebensgemeinschaft ist … Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({13})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Danke, Alexander Hoffmann. - Der letzte Redner in dieser Debatte: Marcus Weinberg für die CDU/CSUFraktion. ({0})

Marcus Weinberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003861, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Liebe Kolleginnen und Kollegen! Viele Menschen in diesem Land schauen auf die heutige Debatte. Sie fragen sich: Welche Position hat man? Wie argumentiert man inhaltlich? Sie fragen aber auch: Wie offen ist man für andere Argumente? Viele Menschen in diesem Land fragen auch: Sind der Deutsche Bundestag und die Abgeordneten des Deutschen Bundestages in der Lage, eine kulturell gut angelegte Debatte zu führen? Ich war heute Morgen um 6.23 Uhr in großer Sorge - nicht, weil ich Johannes Kahrs angeblickt hätte; ich kenne Johannes aus Hamburg gut -, ({0}) weil ich mich gefragt habe, ob es uns in der heutigen Debatte gelingen wird, zu beweisen, dass wir uns mit den in der Öffentlichkeit momentan diskutierten Punkten ernsthaft auseinandersetzen. Ich möchte den Rednern, allen voran Sönke Rix, danken, die in dieser Debatte deutlich gemacht haben, dass es für uns in den nächsten Wochen und Monaten darauf ankommt, diese Debatte weiterzuführen. Sie haben heute feststellen können, dass es bei der Union verschiedene Positionen gibt. Über diese verschiedenen Positionen haben wir geredet. Ich sage Ihnen noch etwas: Ich bin stolz darauf, dass wir in der Union eine offene Debatte über diese verschiedenen Positionen führen. ({1}) - Lieber Johannes, das mag daran liegen, dass wir als große Volkspartei breite Schichten der Gesellschaft abbilden müssen. ({2}) Marcus Weinberg ({3}) Ich glaube, das ist gut so. Lieber Sönke, heute haben Elisabeth Winkelmeier-Becker, Stefan Kaufmann und ich gesprochen, drei Vertreter der sogenannten W 13, also der „Wilden 13“, die damals für die steuerliche Gleichstellung gekämpft haben. Ich bitte darum, egal welche Position man hat, Folgendes zu berücksichtigen - das wurde schon angesprochen -: Intoleranz kann man nicht mit Intoleranz bekämpfen. ({4}) Ich habe ebenso wie viele andere Kolleginnen und Kollegen in den letzten Wochen gemerkt, wie sehr man durch einen Shitstorm verletzt werden kann, der entsteht, weil man eine etwas andere Position vertritt. Ich glaube, es wird in den nächsten Wochen und Monaten darauf ankommen, bei diesem Thema eine vernünftige Debattenkultur an den Tag zu legen. Jetzt zu vier Punkten, die aus meiner Sicht wichtig sind: Der erste Punkt ist der Stand der Gleichstellung. Die Menschen in einer Lebenspartnerschaft haben wie die Menschen in einer Ehe entschieden, nicht nur freiwillig füreinander Verantwortung zu übernehmen, sondern sich auch rechtlich verbindlich verpflichtet, füreinander einzustehen. Sie übernehmen Verantwortung - mit Rechten und Pflichten. Das Wertesystem unserer Gesellschaft - das ist an dieser Stelle ganz klar definiert - beruht auf genau dieser Verantwortungsübernahme mit Fürsorge und Beistand. Daher ist es wichtig und richtig, dass der Staat diese Verantwortungsübernahme fördert. Wenn Partner füreinander Verantwortung übernehmen, darf kein Unterschied gemacht werden, gleich ob es sich um Mann und Frau, Frau und Frau oder Mann und Mann handelt. Es muss eine Gleichstellung geben, unabhängig von der sexuellen Orientierung. Eingetragene Lebensgemeinschaften werden mittlerweile in fast allen Bereichen, die die Partner untereinander betreffen, materiell-rechtlich mit der Ehe gleichgestellt, ({5}) und zwar im Erbrecht, im Steuerrecht und in anderen Rechtsfragen. Dafür haben sich auch bei uns in der Union damals viele starkgemacht. ({6}) Ungleichbehandlung und Bevormundung müssen abgestellt werden. Das heißt für uns - damit komme ich zum zweiten entscheidenden Punkt, den ich ansprechen möchte; er wurde vorhin ebenfalls schon angesprochen -, dass wir in der Diskussion über die Vergangenheit in der Bundesrepublik Deutschland Folgendes berücksichtigen müssen: Der Umgang mit Homosexuellen in der Bundesrepublik Deutschland ist ein schwarzer Fleck in der deutschen Geschichte. ({7}) Als Bundestagsabgeordnete haben wir die Verantwortung, dafür zu sorgen, dass diese Geschichte aufgearbeitet wird und die Betroffenen rehabilitiert werden. ({8}) Ich glaube, im Herbst wird es an der Zeit sein, ein konkretes Gesetzesvorhaben dazu zu initiieren. Dritter Punkt: Alleinstellungsmerkmal. Zwischen Ehe und eingetragener Lebenspartnerschaft gibt es rechtlich nur noch zwei Unterschiede; sie wurden angesprochen. Die Unterschiede betreffen das Recht zur Adoption und den expliziten Schutz der Ehe durch das Grundgesetz. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sieht die Ehe als eine Verbindung von Mann und Frau an; das ist in Europa eine seit Jahrhunderten geltende Selbstverständlichkeit. ({9}) Das ist tatsächlich ein Alleinstellungsmerkmal: Die Ehe unterscheidet sich von der eingetragenen Lebenspartnerschaft dadurch, dass es die Möglichkeit gibt, Kinder zu bekommen - die Möglichkeit. ({10}) Ich finde es übrigens verwerflich, wenn man Personen, die keine Kinder haben, haben wollen oder bekommen können, vorwirft - ({11}) - Nein. - In diesem Zusammenhang halte ich das für diffamierend. Ich warne davor, solche Vergleiche - auch vonseiten der Regierungsbank - weiter anzustellen. ({12}) Kinder profitieren von der Verbindlichkeit der Beziehung ihrer Eltern. Es ist grundsätzlich im Interesse von Kindern, in einer stabilen Partnerschaft ({13}) ihrer leiblichen Eltern beiderlei Geschlechts aufzuwachsen. Marcus Weinberg ({14}) Die Tatsache, dass die Verbindungen zwischen Mann und Frau und zwischen zwei gleichgeschlechtlichen Partnern hier unterschiedlich sind, ist nicht diskriminierend, sondern völlig wertneutral; denn zwischen diesen rechtlichen Verbindungen ist zu unterscheiden. Zweiter Punkt: Adoption. Ich finde es in diesem Zusammenhang sehr wichtig, dass wir uns darüber austauschen - Frau Winkelmeier-Becker hat das angesprochen -, wie wir das Adoptionsrecht verändern können; ({15}) dabei geht es unter anderem um die Personen, die zu alt oder zu arm sind oder gewisse Vorgaben nicht erfüllen. Dann möchte ich aber auch ganz offen darüber diskutieren, dass die weibliche und die männliche Rollenkonstellation für Kinder nicht unerheblich ist, ({16}) sondern es ist soziologisch, pädagogisch und psychologisch schon wichtig, insbesondere mit Blick auf die Entwicklungspsychologie, dass auch diese Rollenkonstellation betrachtet wird. ({17}) Hier sind wir übrigens erst am Anfang, auch in der Forschung. Deswegen wird dies bei möglichen Änderungen des Adoptionsrechts, über die man ja diskutieren kann, berücksichtigt. ({18}) Grundsätzlich möchte ich zum Schluss betonen, dass man diese Diskussion mit Verständnis für die jeweils andere Sicht führen sollte. Es kann nicht sein, dass Politikerinnen und Politiker, die nicht eins zu eins dem Mainstream folgen, mit Häme und Intoleranz konfrontiert werden. Ich bin bzw. wir sind der Meinung, dass man in dieser Sache unterschiedlicher Auffassung sein kann und dass man darüber diskutieren sollte, ohne zu diskriminieren, insbesondere nicht mit Blick auf die sexuelle Orientierung. Wir in der Union führen diese Debatten, wie in der Vergangenheit so auch in Zukunft. Auf diese Diskussion freue ich mich. ({19}) Das mag möglicherweise ein Unterschied zwischen der offenen Diskussionskultur innerhalb einer großen Volkspartei und denjenigen sein, die meinen, alles schon zu wissen. Vielen Dank. ({20})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Herr Weinberg. - Damit ist die Aktuelle Stunde beendet. ({0}) Wie ich sehe, findet jetzt ein Platzwechsel statt. Ich bitte Sie, ihn zügig zu vollziehen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 6 a und 6 b auf: a) - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stärkung der Versorgung in der gesetzlichen Krankenversicherung ({1}) Drucksache 18/4095 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit ({2}) Drucksache 18/5123 - Bericht des Haushaltsausschusses ({3}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung Drucksache 18/5124 b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Gesundheit ({4}) - zu dem Antrag der Abgeordneten Birgit Wöllert, Sabine Zimmermann ({5}), Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Wohnortnahe Gesundheitsversorgung durch bedarfsorientierte Planung sichern - zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Harald Terpe, Maria Klein-Schmeink, Kordula Schulz-Asche, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Gesundheitsversorgung umfassend verbessern - Patienten und Kommunen stärken, Strukturdefizite beheben, Qualitätsanreize ausbauen - zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Harald Terpe, Maria Klein-Schmeink, Elisabeth Scharfenberg, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Mehr Transparenz der Selbstverwaltung im Gesundheitswesen Drucksachen 18/4187, 18/4153, 18/1462, 18/5123 Zum Gesetzentwurf der Bundesregierung liegen ein Änderungsantrag und ein Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke vor. Vizepräsidentin Claudia Roth Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 60 Minuten vorgesehen. - Ich höre und sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. ({6}) Noch einmal: Die Debatte über die Ehe für alle ist beendet. Jetzt geht es um ein anderes Thema, nämlich um die Krankenversicherung. Ich eröffne die Debatte und gebe das Wort dem Bundesminister Hermann Gröhe. ({7})

Hermann Gröhe (Minister:in)

Politiker ID: 11002666

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Umfragen belegen: Die Menschen in unserem Land vertrauen dem Gesundheitswesen. Sie wissen: Bei Krankheit, bei Pflegebedürftigkeit, bei einem Unfall werden sie gut versorgt. Dies gilt dank eines solidarischen Gesundheitswesens unabhängig vom Einkommen und unabhängig vom Wohnort. ({0}) Wir spüren aber auch, dass sich die Menschen Sorgen machen, ob das so bleibt, ob der medizinische Fortschritt also auch weiterhin für alle zur Verfügung steht und bezahlbar bleibt. Deswegen ist es wichtig, dass wir den wirklichen Patientennutzen zum entscheidenden Maßstab des Fortschritts in diesem Bereich machen. Die Menschen haben auch die Sorge, ob auch dies gilt: unabhängig vom Wohnort eine gute Versorgung zu finden. Damit bin ich bei einem zentralen Thema, nämlich der Versorgung im ländlichen Raum und der Frage, ob es gelingt, auch hier eine gute ambulante und Krankenhausversorgung sicherzustellen. Ich komme gerade von einem Gespräch mit der NRW-Landrätekonferenz. Da war das natürlich ein Thema, und das ist auch längst nicht mehr nur ein Thema in den noch wenigen Gebieten mit einer manifestierten Unterversorgung, sondern kluge Kommunalpolitikerinnen und -politiker schauen auf das Durchschnittsalter der niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte und bedenken die Sorgen, die mancher hat, einen Praxisnachfolger zu finden, ({1}) und prüfen, wie es in zehn Jahren aussehen wird und wo sie dann stehen werden, wenn es ihnen nicht gelingt, mehr Niederlassungen zu ermöglichen. Wir stellen mit dem Versorgungsstärkungsgesetz, über das wir heute entscheiden, wichtige Weichen, um unser Gesundheitswesen fit für die Zukunft zu machen: ({2}) Erstens. Wir stärken die Versorgung im ländlichen Raum. Zweitens. Wir stärken die Rechte der Patientinnen und Patienten. Drittens. Wir stärken Innovation in der Versorgung. Zum Ersten. Ich habe erwähnt, dass den Kommunalpolitikern nicht nur die Unterversorgung Sorgen macht. Deswegen ist es richtig, dass wir den Kassenärztlichen Vereinigungen mit diesem Gesetzentwurf die Möglichkeit einräumen, mit Versorgungsstrukturfonds überall im Land Anreize für eine Niederlassung zu schaffen. Das zeigt, dass wir es mit dem Leitbild der niedergelassenen Ärztin bzw. des niedergelassenen Arztes als Rückgrat der ambulanten Versorgung ernst meinen. Solche Anreize in unterversorgten Gebieten werden durch Strukturfonds bereits heute geschaffen, und zwar so, dass es vor Ort dann auch passt. Einmal ist es ein Stipendium, das mit der Verpflichtung verbunden ist, später als niedergelassene Ärztin bzw. als niedergelassener Arzt in einem konkreten Raum tätig zu werden. In einem anderen Fall sind das Hilfen bei der Niederlassung und bei der Übernahme einer Praxis. Das können aber auch Vergütungsanreize bei besonders nachgefragten Tätigkeiten sein, etwa bei Hausbesuchen in Räumen mit großen Entfernungen. Solche Möglichkeiten wird es zukünftig überall in unserem Land geben. Überall werden Strukturfonds die Möglichkeit schaffen, solche tatsächlichen Niederlassungsanreize zu schaffen. Das ist ein klares Bekenntnis zur Freiberuflichkeit und zur Selbstverwaltung, das mit der Erwartung verbunden ist, dass der Sicherstellungsauftrag konkret umgesetzt wird. ({3}) Wir tragen auch dem Umstand Rechnung, dass junge Medizinerinnen und Mediziner zunehmend sagen: Wir wollen mehr Formen gemeinschaftlicher Berufsausübung. Deswegen sieht unser Gesetzentwurf verbindliche Reformen zur Unterstützung von Praxisnetzwerken und mehr Möglichkeiten für Medizinische Versorgungszentren - beispielsweise auch bestehend aus einer Arztgruppe, zum Beispiel den Hausärzten - vor. Schließlich - um nur beispielhaft Dinge zu erwähnen stärken wir die Weiterbildung im Bereich der Allgemeinmedizin und auch - einem Änderungsantrag der Koalitionsfraktionen zufolge - im Bereich der grundversorgenden Fachärzteschaft durch eine entsprechend attraktivere Gestaltung der Weiterbildungsstellen. Wer über Unterversorgung redet, muss auch über Überversorgung reden. Das hat die Gemüter in den letzten Wochen natürlich erhitzt. Da ist manches gesagt worden, was - mit Verlaub - schlichter Unsinn war. Wer etwa gegen Bedarfsplanung und Feststellung von Überversorgung polemisiert, der muss auch bekennen, wer in diesem Land die Verantwortung für die Bedarfsplanung trägt. Das ist nämlich die Selbstverwaltung. Deswegen beauftragen wir sie - die Kritik aus diesem Bereich ernst nehmend -, diese Bedarfsplanung bis Ende 2016 zu überprüfen und gegebenenfalls neu festzulegen. Auch bei einer Überversorgung oberhalb von 140 Prozent werden wir keineswegs vom Rasenmäher sprechen und auch keine zentralistischen Vorgaben aus Berlin machen, sondern vor Ort muss in Zulassungsausschüssen entschieden werden, ob eine aufgegebene Praxis weiter erforderlich ist. Dann bleibt sie selbstverständlich erhalten. Kein Angebot, das wirklich nötig ist, wird gestrichen, sondern vor Ort wird entschieden. Wenn wir aber nicht einen moderaten und an der Versorgungswirklichkeit orientierten Abbau der Überversorgung angehen, dann werden wir nicht erfolgreicher gegen drohende Unterversorgung sein. ({4}) Zum Zweiten. Wir stärken die Rechte der Patientinnen und Patienten. Das war das nächste Aufregerthema: die Terminservicestellen. Die Debatte war insofern typisch, als wir schnell dabei sind, zwischen Alarmismus alles ist schrecklich - und Schönfärberei - es gibt gar kein Problem - hin und her zu pendeln. Tatsache ist: Wir sind in der Versorgung mit Facharztterminen besser als viele unserer Nachbarn. Tatsache ist aber auch: Es ist keine kleine Minderheit der gesetzlich Versicherten, die immer wieder klagt, dass sie zu lange auf einen Termin warten muss. Selbstverständlich schränkt eine Terminservicestelle nicht die Freiheit der Arztwahl ein. Das ist purer Unsinn. Wer zu seiner Ärztin und seinem Arzt gehen will und dafür eine längere Wartezeit in Kauf nimmt, dem ist dies unbenommen. Wer aber Hilfe braucht, hat in Zukunft einen verlässlichen Ansprechpartner, der für die Vermittlung eines Facharzttermins in zumutbarer Entfernung oder, wenn das nicht möglich ist, auch für eine fachärztliche Untersuchung oder Behandlung im Krankenhaus Sorge trägt. Es wird viel lamentiert und manche Anzeige geschaltet. Die fixen Sachsen haben es einfach gemacht, und siehe da: Es funktioniert, sogar ohne dass wir es vorgeschrieben haben. Deswegen bin ich sicher: Schon bald wird diese Stärkung der Patientenrechte in diesem Land selbstverständlich sein. ({5}) Um Patientenrechte geht es auch, wenn wir mit einem strukturierten Zweitmeinungsverfahren für besonders mengenanfällige Operationen in Zukunft sicherstellen - damit das klar ist -: Eine notwendige Operation wird durchgeführt. In manchen Fällen ist es aber klug, wenn sich ein besonders qualifizierter Kollege bzw. eine Kollegin ein Bild macht und eine Zweitmeinung mit besonderer Expertise zur Verfügung stellt, und zwar nicht als Verpflichtung, sondern als Angebot, auf das die Patientin und der Patient hinzuweisen ist. Auch das ist eine Stärkung von Patientenrechten. Schließlich geht es um die Stärkung der Innovation. Wir sind eine älter werdende Gesellschaft. Mehrfacherkrankungen und chronische Erkrankungen fordern verstärkt das Zusammenspiel über Sektorengrenzen in unserer Gesundheitsversorgung. Wir haben zu lange Mauern zwischen den Sektoren gebaut. Wir müssen jetzt Brücken bauen. Das wird die Aufgabe eines Innovationsfonds sein, der gerade die sektorübergreifende Versorgung ermöglicht, befördert, Anreize schafft und mit einer entsprechenden Versorgungsforschung begleitet und damit einen Beitrag dazu leistet, unser Gesundheitswesen fit zu machen. Das Letztgenannte ist ein Beispiel dafür - das sage ich angesichts der Debatte in den letzten Tagen -, dass wir keineswegs als Große Koalition einfach abstrakt mehr Geld in irgendein System geben. Vielmehr sind unsere Reformen, ob es um Prävention, Krankenhausreformen oder E-Health geht, stets mit Anregungen und Incentives für eine Modernisierung unseres Gesundheitswesens verbunden, das heute das Vertrauen der Menschen in diesem Land hat, es aber auch zukünftig verdient. Dafür stellen wir heute wichtige Weichen. Ich bitte Sie um Zustimmung zu dem Gesetzentwurf. ({6})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Hermann Gröhe. - Nächste Rednerin: Birgit Wöllert für die Linke. ({0})

Birgit Wöllert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004446, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuschauerinnen und Zuschauer auf der Tribüne! Sie haben drei Schwerpunkte genannt, Herr Minister. Lassen Sie uns zunächst einmal fragen, wie es tatsächlich mit der nachhaltigen Versorgung in allen Teilen unseres Landes aussieht und was am Ende bei Ihrem Gesetz herauskommt. Es geht nämlich nicht um ein Weiter-so, sondern darum, die Gesundheitsversorgung überall zu sichern. Sie ist aber nicht mehr überall gesichert. Lassen Sie mich kurz etwas zu Ihrem Ziel und Ihrer Problemstellung sagen. Sie beziehen sich darauf, dass wir mit dem GKV-Finanzstruktur- und Qualitäts-Weiterentwicklungsgesetz, also dem Gesetz zur gesetzlichen Krankenversicherung, im Januar 2014 nachhaltige Strukturen geschaffen haben, die eine bessere Versorgung ermöglichen. Ich frage mich: Ist das Ignoranz oder Wunschdenken? Die Spitzenverbände der Krankenkassen sagen für 2016 eine Steigerung der Beitragssätze um 0,1 oder 0,2 Prozentpunkte voraus, die diesmal nur von den Versicherten zu tragen ist. 0,1 Prozentpunkte sind 1,2 Milliarden Euro. Das können Sie ausrechnen. Bis 2019 werden gar Steigerungen um 0,5 bis 1 Prozentpunkte prognostiziert. Vielen Dank auch, dass jetzt die Versicherten ihre Strukturen selbst finanzieren müssen, und das auch noch mit zweifelhaftem Erfolg. ({0}) Zweiter Punkt: Terminservicestellen. Diese hat die Linke seit 2010 gefordert. Das ist völlig okay. Auch ich finde, dass die Sachsen flink waren. Sie haben das seit Ende vergangenen Jahres. Das war in der Presse und heute früh im Morgenmagazin Thema. Im Gegensatz zu dem Kollegen von der FDP, der gestern bei den Fachärz10454 ten meinte, dass das gar nicht nötig sei und - darauf haben sie ja angespielt - die freie Arztwahl einschränke, haben die Patientinnen und Patienten bewiesen, dass sie viel Grips haben. Sie haben nämlich vorher beim Arzt ihres Wunsches nachgefragt und sind nicht gleich zur Terminservicestelle gelaufen. Die Sachsen waren auch noch so klug, das an die Überweisung eines Hausarztes oder einer Hausärztin zu binden, der die Dringlichkeit - sie wird in drei Kategorien eingeteilt - zu entnehmen ist. Danach bemisst sich die Schnelligkeit der Vermittlung. Das ist eine durchaus vernünftige Regelung. Das muss ich an dieser Stelle sagen. Wo ich ins Grübeln komme, ist, dass das bei den Fachärzten auf einmal gemeinsam mit der AOK geht; denn es gibt eine zusätzliche Honorierung. Das lässt mich nachdenken. ({1}) Drittens: Abbau von Überversorgung. Man kann es ja wirklich fast schon nicht mehr hören. Wer legt eigentlich fest, wann über- und unterversorgt ist? Wir brauchen uns doch gar nicht über 110 oder 140 Prozent zu unterhalten. Es muss endlich eine vernünftige Grundlage für eine ordentliche Bedarfsplanung hergestellt werden. ({2}) Dazu gehört die Infrastruktur. Neben Alter und Geschlecht sind ferner zu berücksichtigen die Sozialstruktur der Bevölkerung und die Morbidität. Ich nenne Ihnen ein Beispiel aus Potsdam. Potsdam hat eine Überversorgung an Kinderärztinnen und Kinderärzten; sie haben einen Versorgungsgrad von 163,3 Prozent. Trotzdem wird den jungen Frauen bei der Schwangerenberatung gesagt: Besorgen Sie sich im Umland von Potsdam eine Kinderärztin oder einen Kinderarzt, bevor Ihr Kind geboren wird. Sie bekommen sonst keinen rechtzeitig für die Früherkennungsuntersuchung. - Wie geht denn das zusammen? Gar nicht. Dazu steht in Ihrem Gesetzentwurf aber nicht viel. Nächster Punkt: Zweitmeinungsverfahren. Das ist erstens jetzt schon möglich, und zweitens reduzieren Sie das im Gesetz auf bestimmte notwendige, mengenanfällige Operationen. Das heißt, Sie schränken es ein. Wir wollen aber grundsätzlich ein Zweitmeinungsverfahren bei schweren Erkrankungen. Zum Beispiel muss eine Patientin oder ein Patient auch bei einer Chemotherapie oder bei radiologischen Therapien eine Zweitmeinung einholen können. Warum denn eigentlich hier nicht? Ein Zweitmeinungsverfahren nur zur Kostenreduzierung ist an dieser Stelle falsch. ({3}) Das Nächste sind die spezialisierten Behandlungszentren für Menschen mit Behinderung. Da sagen wir: Ja, bei besonderen Bedarfen. Aber wir werden genau schauen, ob Sie gleichzeitig vorantreiben, was schon längst überfällig ist, nämlich den barrierefreien Ausbau der gesundheitlichen Versorgung, damit die Zugänge für alle Menschen gesichert sind. Auf deren Kosten darf das nicht gehen. ({4})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Frau Kollegin, Sie denken an die Redezeit?

Birgit Wöllert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004446, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ich komme sofort zum Schluss. - Warum enthalten wir uns nun doch bei Ihrem Gesetzentwurf? ({0}) Ein paar kleine Pünktchen sind enthalten, bei denen ich noch Hoffnung habe - ich bin mir da aber nicht sicher -, zum Beispiel die Strukturfonds und der Innovationsfonds. Wir werden sehen - wir werden das sehr kritisch begleiten -, ob das wirklich in die Versorgungsforschung und in neue Versorgungsformen fließt. Denn Sie haben den Kreis derjenigen, wer sich alles aus dieser Kasse bedienen können soll, ja schon wieder erweitert. Vielen Dank. ({1})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Danke, Frau Kollegin Wöllert. - Nächster Redner für die SPD ist Dr. Karl Lauterbach. ({0})

Prof. Dr. Karl Lauterbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003797, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Zunächst einmal zögere ich ein bisschen mit meiner Kritik, Frau Wöllert. Ich habe nämlich mit Genugtuung gehört - das findet meine Zustimmung -, dass Sie sich enthalten wollen. Das ist ein wichtiger Schritt nach vorne, dafür danke ich Ihnen. ({0}) - Nein, die Enthaltung war sachlich begründet, und das muss man anerkennen. - Aber ich möchte auf die von Ihnen beklagte fehlende Parität eingehen. Dass wir mit diesem Gesetz den Zusatzbeitrag in der Größenordnung von einem Zehntel Beitragssatzpunkt im nächsten Jahr erhöhen müssen, bedeutet für den klassischen Rentner im Durchschnitt 1 Euro pro Monat. Wäre der Zusatzbeitrag paritätisch gezahlt worden, hätte das eine Nettodifferenz von 50 Cent ausgemacht. ({1}) So sehr ich es für richtig halte, zur Parität zurückzukehren - das ist auch langfristig ein sozialdemokratisches Ziel -, so darf man doch nicht den Eindruck erwecken, als ob es hier zu hohen Zusatzbeiträgen käme. Wir verbessern die Versorgung in vielen Bereichen. Wir vereinfachen viele bürokratische Verfahren. Wir bilden mehr Hausärzte aus. Wir erleichtern die Einrichtung von Medizinischen Versorgungszentren. Wir regeln den Anspruch auf ein Zweitmeinungsverfahren. Wir verkürzen die Wartefristen für einen Termin beim Facharzt. Im Rahmen des Entlassmanagements gibt es eine neue Leistung für diejenigen, die aus dem Krankenhaus entlassen werden und keine sofortige Anschlussbehandlung haben. All diese neuen Leistungen bauen wir auf, und zwar für 1 Euro für den Durchschnittsrentner im Monat. Ich glaube, diese Investitionen sind das wert. Wir stehen hier für eine Verbesserung der Versorgung. ({2}) Ich glaube, dass das Gesetz seinen Namen verdient. Es ist tatsächlich ein Gesetz der Versorgungsstärkung. Dabei wird an vielen Stellschrauben gleichzeitig gedreht, und zwar auf eine unbürokratische Art, die gleichzeitig sehr wirksam ist. Das Gesetz halte ich auch handwerklich für gelungen. Ich will dafür ein paar Beispiele bringen. Wir haben die Bedarfsplanung - wo ist ein Bedarf gedeckt, und wo ist er nicht gedeckt? - angepasst. Wir machen die Bereiche kleinräumiger. Was nutzt - sage ich einmal - ein zu 100 Prozent gedeckter Bedarf, wenn der Bezirk so groß ist, dass es Unter- und Überversorgung nebeneinander gibt, wenn ein Stadtteil total überversorgt und ein anderer Stadtteil unterversorgt ist? Das ist das bisherige Problem. Betrachten wir einmal ganz Deutschland als Versorgungsbereich: Dabei würde festgestellt, dass die Versorgung bei 100 Prozent läge und es kein Problem gäbe. Die Tatsache, dass wir die Versorgungsbereiche kleiner machen, wird zu einer Veränderung bei den Arztsitzen führen. Das ist im Prinzip das, was wir hier wollen. Diese Art von Bedarfsplanung ist aus meiner Sicht ein wesentlicher Schritt nach vorne, den wir immer gefordert haben. Wir machen die Bezirke, in denen der Versorgungsbedarf gemessen wird, kleiner. ({3}) Ich glaube, dass die Vermittlung eines Arzttermins innerhalb der Vier-Wochen-Frist durch die Terminservicestellen ein wichtiger Schritt zum Abbau der Zweiklassenmedizin ist. Es ist klar: Der Privatversicherte bekommt den Facharzttermin immer sofort. Er ist ein gern gesehener Gast bei fast jedem Facharzt und wird leider oft auch mit Leistungen behandelt, die er gar nicht benötigt. Für denjenigen aber, der noch keinen Arztkontakt hatte, der aber wegen einer Erkrankung, die er nicht einschätzen kann, in Sorge ist, ist der erste Facharzttermin oft von größter Bedeutung. Diesen sollte er innerhalb von vier Wochen bekommen. Wenn dieser Termin im ambulanten Sektor nicht angeboten werden kann, muss man auch ins Krankenhaus ausweichen können, was zum Beispiel in Sachsen nach wie vor nicht der Fall ist. Wie gesagt: Das ist ein wesentlicher Schritt nach vorne, ein Schritt in Richtung Abbau der Zweiklassenmedizin. Wir haben den Kommunen die Möglichkeit gegeben, selbst Medizinische Versorgungszentren einzurichten. Diese Zentren können auch so aufgebaut sein, dass dort Hausärzte und nicht nur Facharztgruppen zusammenarbeiten. Das ist sehr viel leichter gestaltbar und leichter organisierbar. Auch das ist ein wesentlicher Schritt in Richtung einer besseren hausärztlichen Versorgung. Hinzu kommen die Ausbildungsangebote, die wir für Hausärzte und versorgungsnahe Fachärzte geschaffen haben. Sie haben auch die Tausende von Stellen gar nicht erwähnt, die wir schaffen, um für eine bessere Hausarztausbildung zu sorgen. ({4}) Wir führen Chronikerprogramme für Menschen mit Rückenleiden und Depressionen ein, zwei große Volkskrankheiten, von denen immer mehr Menschen betroffen sind. Bisher gibt es in Deutschland keine evidenzbasierte Chronikerversorgung. Die Einführung dieser Programme ist aus meiner Sicht ebenfalls handwerklich gut gemacht. Wir führen das Zweitmeinungsverfahren ein. Man kann zwar sagen: Das ist überall notwendig. Aber wir fangen mit den Krankheiten an, bei denen wir wissen, dass es sich um mengenanfällige Leistungen handelt. Übrigens, Frau Wöllert, bei der Krebsversorgung wird die Zweitmeinung auch jetzt schon bezahlt. Wenn Sie im Rahmen einer Chemotherapie oder einer onkologischen Untersuchung eine Zweitmeinung benötigen, wird auch jetzt schon die Zweimeinung bezahlt. ({5}) Es gibt andere Bereiche, in denen es nicht so ist, aber Ihr Beispiel war hier nicht zielführend. Zum Abschluss - ich sehe, meine Redezeit ist schon abgelaufen -: Man darf nicht vergessen, dass wir die Hochschulambulanzen fördern. Die Hochschulambulanzen versorgen in Deutschland zum Teil die schwersten und die teuersten Fälle, machen im Durchschnitt mit diesen Fällen aber immer einen Verlust. Das heißt, wir bestrafen in Deutschland im Moment eine Struktur, auf die wir dringend angewiesen sind. Auch das beseitigen wir. Ich könnte das breit ausführen. Meine Kolleginnen werden das tun; ich werde es nicht. Ich sage: Ich könnte. Ich weiß, dass ich das nicht darf. Nichtsdestotrotz schließe ich mit meinem letzten Satz: Es ist ein Gesetz, das ich wie folgt bezeichnen würde: Das ist nicht eine spektakuläre umstrittene Maßnahme, die jeder kapiert und an der man sich reiben kann - ich weiß nicht, woran ich jetzt konkret denke -, sondern es ist ein Gesetz mit vielen Einzelmaßnahmen, die in der Fachwelt unumstritten sind und die wir gegen die Lobbywiderstände im System durchsetzen konnten. Ich danke für die Aufmerksamkeit und bitte um Zustimmung. ({6})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Karl Lauterbach. - Nächste Rednerin: Maria Klein-Schmeink für die Grünen.

Maria Klein-Schmeink (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004072, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Viel hilft nicht immer viel. Ich glaube, das ist in der vorangegangenen Rede sehr deutlich geworden. Man kann viele, viele Detailregelungen auf einem Haufen schaffen, nämlich ein Gesetz mit fast 180 Änderungen, und trotzdem den Weg verlieren und die eigentlichen Aufgaben, die es zu bewältigen gilt, nicht angehen. Genau das ist mit diesem Versorgungsstärkungsgesetz passiert. ({0}) Das will ich Ihnen ganz deutlich machen. Was ist die zentrale Herausforderung, die wir in unserem Gesundheitswesen haben? Wir haben einen demografischen Wandel zu bewältigen. Wir haben heute die Situation, dass 20 Prozent aller Versicherten 80 Prozent aller Leistungen abfragen, und das ist die Gruppe der Älteren und der mehrfach Erkrankten. Genau diese Gruppe wird sich in den nächsten 15 Jahren ungefähr verdoppeln. ({1}) Das ist die große Herausforderung, die wir zu bewältigen haben, und ich finde kaum eine Regelung, die dem hier gerecht wird. Das ist das eine. ({2}) Zweitens. Genau diese Gruppe braucht nicht ein Mehr an einzeln agierenden Hausärzten oder Fachärzten, sondern sie braucht etwas anderes: Sie braucht gut abgestimmte Behandlungswege, sie braucht örtliche Strukturen, die leicht erreichbar sind, sie braucht Gesundheitsberufe, Ärzte, Krankenhäuser, die gut miteinander kooperieren und den Behandlungsweg für diese Patienten abstimmen und ein Geflecht schaffen, auf das sich die Patienten verlassen können, in dem sie gut aufgehoben sind und gut behandelt werden. ({3}) Auch das wäre eine Aufgabenstellung, die wir angehen müssten. ({4}) Was tun Sie dagegen, dass wir in Deutschland Weltmeister im Besuch einer Arztpraxis sind, dass uns in dieser Arztpraxis dann aber gerade einmal acht Minuten zur Verfügung gestellt werden? Auch das muss sich ändern. Ich sehe keine einzige Regelung, die in diese Richtung gehen würde. Das ist genau die Grundkritik, die wir an diesem Gesetz haben: Wir geben hier nicht die Antworten, die eigentlich notwendig wären, um unser Gesundheitssystem zukunftsfest zu machen und dafür zu sorgen, dass die Patientinnen und Patienten die Behandlung und die Unterstützung finden, die sie in Zukunft brauchen werden. Wenn wir uns die Einzelregelungen ansehen, die alle genannt worden sind, dann stellen wir schnell fest: Sie klingen gut. Aber was steht tatsächlich dahinter? Es gab ein Landärztegesetz. Was ist tatsächlich in Bewegung gesetzt worden, um mehr Ärzte in den ländlichen Raum und in die unterversorgten Gebiete zu bekommen? Mit Ihrer Bedarfsplanung, wie Sie sie jetzt angelegt haben, werden Sie das nicht erreichen. Einen Auftrag an den G-BA zu vergeben, der schon vor zwei Jahren nicht in der Lage war, eine vernünftige Planung hinzubekommen, ist nicht die Lösung des Problems. Da müssen wir weitergehen, und das wissen Sie eigentlich auch. ({5}) Der Sachverständigenrat hat Ihnen deutlich ins Stammbuch geschrieben, was zu tun wäre. Wir müssten die Grundlagen dafür legen, dass wir eine sektorübergreifende Planung schaffen könnten, sodass wir die ambulante und die stationäre Versorgung und den Pflegebereich gemeinsam bedenken und vor Ort Lösungen schaffen könnten, um die Versorgung zu verbessern. In einen solchen Weg müssten wir investieren. Da reicht es nicht, ein kleines Töpfchen mit einem Volumen von 300 Millionen Euro bereitzustellen, mit dem Sie dann neue Versorgungsmodelle anschieben wollen. Da brauchen wir mehr. Rot-Grün hat schon vor zehn Jahren einen viel größeren Topf bereitgestellt, um neue Versorgungsformen voranzubringen. Genau das hätte es nun auch gebraucht. ({6}) Sie reden davon, die Belange von Patienten besser zu berücksichtigen. Eine der zentralen Gruppen, die schlecht versorgt sind in unserem ansonsten guten Gesundheitswesen, sind die Menschen mit Behinderung. Was haben Sie hier getan? Von 180 Regelungen beziehen sich gerade einmal fünf auf diese Personengruppe. Etliches von dem, was wir in unserem Antrag aufzeigen, haben Sie nicht berücksichtigt. ({7}) Ich hoffe, dass wir bei den nächsten Gesetzen weiterkommen und dass Sie dann einige unserer Anregungen aufnehmen. Aber nun klafft auch hier eine große Lücke. Sie gehen viel zu kleine Schritte. Wir müssten mehr tun, um zum Beispiel Barrierefreiheit tatsächlich zu realisieren.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Auch die Redezeit!

Maria Klein-Schmeink (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004072, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Zum Schluss will ich durchaus ein versöhnliches Wort sagen. Der Druck, den wir mit unseren vielen Kleinen Anfragen im Bereich der Psychotherapie ausgeübt haben, hat immerhin dazu geführt, dass Sie den Mut geMaria Klein-Schmeink funden haben, tatsächlich in neue Versorgung zu investieren ({0}) und die Richtlinien so zu erweitern, dass wir zu einer Akutsprechstunde und zu ganz neuen Formen der wohnortnahen Versorgung kommen. Wir haben nun die Chance, die elend langen Wartezeiten zu reduzieren. Ich gestehe Ihnen zu, dass das eine Verbesserung ist. Aber viele andere Sachen gehen uns in der Tat nicht weit genug. ({1})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Maria Klein-Schmeink. - Der nächste Redner: Jens Spahn für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Jens Spahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003638, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im Grunde geht es bei diesem Gesetz - genauso wie bei einigen anderen, über die wir in den letzten Jahren beraten haben - um die Frage, wie wir in Zukunft die medizinische bzw. die ärztliche Versorgung im ländlichen Raum sowie in bestimmten Stadtteilen sicherstellen können. Dass es dabei auch um bestimmte Stadtteile geht, geht oft unter. Ein Beispiel: In Berlin-Charlottenburg gibt es die meisten Kinderärzte, aber in Marzahn die meisten Kinder. Ähnliches gilt für viele andere Städte. Es gibt große Unterschiede in der Versorgung innerhalb der Städte, aber vor allem auch im Vergleich zum ländlichen Raum. Wenn wir sehen, dass ein Großteil der Hausärzte im Schnitt 55 Jahre und älter ist, dann wissen wir, was in fünf, zehn oder zwölf Jahren passiert, wenn diese Ärzte ihre Praxen aufgeben: Sie suchen Nachfolger, finden aber keine. Wenn wir heute die Weichen nicht richtig stellen, dann wird es schwierig mit der ärztlichen Versorgung im ländlichen Raum. Deswegen ist dieses Gesetz - in Fortsetzung weiterer Gesetze, die wir zuvor verabschiedet haben - eines der wichtigsten Gesetze für die Infrastruktur im ländlichen Raum. ({0}) Dazu braucht es - das muss man ehrlich zugeben; das haben Sie ebenfalls anerkannt - einen Instrumentenkasten. Es wird nicht die eine Maßnahme, nicht den einen Hebel geben, den man umlegen muss, und dann sind die Probleme gelöst. Man könnte denken, dass es mehr Ärzte auf dem Land geben würde, wenn nur die Bezahlung besser sein würde. Aber Geld alleine löst das Problem offenkundig nicht. In Mecklenburg-Vorpommern ist die Kassenärztliche Vereinigung gar nicht mehr in der Lage, all das Geld an die Ärzte auszuschütten. Man könnte als Hausarzt dort richtig gut verdienen. Trotzdem lassen sich derzeit viel zu wenige Hausärzte in Mecklenburg-Vorpommern nieder. Das zeigt: Es geht nicht nur um Geld, sondern auch um Rahmenbedingungen und Arbeitsbedingungen. Deswegen geht es in diesem Gesetz auch um folgende Fragen: Was ist mit dem Notdienst? Hat der Hausarzt auf dem Land zwei-, dreimal Notdienst am Wochenende, während sein Kollege in einer großen Stadt nur einmal im halben Jahr Notdienst leisten muss? ({1}) Es geht außerdem um die Frage der vernetzten Zusammenarbeit. Wir fördern Praxisnetze sowie die Zusammenarbeit von ambulanter und stationärer Versorgung, von niedergelassenen Ärzten und Krankenhäusern in der Versorgung. Es geht auch um die Zusammenarbeit mit anderen Gesundheitsberufen. So können entsprechend ausgebildete Pflegekräfte Routinehausbesuche machen und dabei Blutdruck messen und Verbände anlegen, um die Ärzte zu entlasten und durch diese Art der Zusammenarbeit die Versorgung zu verbessern. Dieses Bündel an Maßnahmen macht den Wert des Gesetzes aus. Wenn man ehrlich ist, suchen Sie doch nur das Haar in der Suppe, das es Ihnen ermöglicht, abzulehnen; denn Sie wissen genau, dass vieles von dem, was wir vorhaben, gut und richtig ist. ({2}) Ich will zwei Themen aufgreifen, die bereits genannt wurden. Das eine ist die Zeit des Wartens auf einen Facharzttermin. Wir alle wissen aus den Debatten vor Ort: Das ist mit Abstand das größte Aufregerthema im deutschen Gesundheitswesen. Natürlich kann ich darauf verweisen, dass man beispielsweise in Schweden und Holland sechs, acht oder sogar zwölf Monate auf einen Facharzttermin warten muss. Man vergleicht sich aber nicht mit den Schweden und den Holländern, sondern mit dem Nachbarn, der Beamter ist und übermorgen einen Termin hat, weil er privat versichert ist. In diesem Vergleich - der eine hat einen Termin in zwei Tagen, der andere muss wochenlang warten - liegt zu Recht ein großes Aufregungspotenzial. Deswegen - ich hoffe, das hat die Ärzteschaft nach anfänglichen Widerständen auch erkannt - gibt es ein gemeinsames Interesse aller im Gesundheitswesen Verantwortlichen, von Ärzten, von uns in der Politik und von allen anderen, die mitgestalten, dass wir dieses Aufregerthema endlich abräumen, indem wir den Patienten ein verlässliches Angebot machen und ihnen einen verlässlichen Ansprechpartner bieten, an den sie sich wenden können, wenn sie die Überweisung zu einem Facharzt haben. Das ist eine Servicestelle, die sie über Telefon oder über eine App erreichen können - auch das wird in Zukunft möglich sein -, um zeitnah einen Termin zu bekommen, um die Versorgung besser zu organisieren oder eine Behandlung im Krankenhaus möglich zu machen. Dem Patienten ist es am Ende, wenn er dringend einen Arzt braucht, egal, welcher Arzt ihn behandelt. Er will zeitnah einen Arzt in der Nähe haben, egal ob er im Krankenhaus ist oder ob es ein niedergelassener Arzt ist. Genau diesem Interesse des Patienten tragen wir mit unserer Regelung Rechnung. Das wissen eigentlich auch Sie, und das könnten Sie an der Stelle einmal würdigen. ({3}) Jetzt zur Zweitmeinung, Frau Kollegin Wöllert, weil Sie das angesprochen haben. Sie sagten, es gehe nur um Kostenreduktion. ({4}) Da vergessen Sie einen wichtigen Aspekt. Was nützt es Ihnen als Patient, wenn Sie qualitativ super operiert wurden - wir sehen richtigerweise auch eine Ergebnisqualität bei Operationen und Behandlungen im Krankenhaus vor -, diese Operation aber unnötig war? Jede Operation ist auch immer eine potenzielle Gefährdung des Patienten. Deswegen geht es bei diesem Thema nicht nur um Kostenreduktion. Im Gegenteil: Es geht um eine gute Behandlung des Patienten, und es geht darum, ihn vor unnötigen Gefahren zu bewahren. Deswegen ist die Regelung, die wir vorsehen, nämlich ein strukturiertes Zweitmeinungsverfahren anzubieten, insbesondere in den Bereichen, bei denen man vermuten darf, dass es auch ökonomische Interessen für mehr Behandlungen und Operationen gibt, ein wichtiges Angebot für den Patienten, ihn zu schützen. Auch das sollten Sie nicht kleinreden. ({5}) Sie haben gerade spannenderweise auf die Kostensteigerung hingewiesen; das ist etwas Neues für die Linke. Sie haben gerade zum ersten Mal in einer gesundheitspolitischen Debatte, wenn ich einmal die letzten zwölf Jahre, die ich überblicken kann, nehme, erkannt, dass Mehrausgaben irgendjemand bezahlen muss. Sie haben zum ersten Mal gemerkt, dass, wenn man zusätzliches Geld für die Versorgung ausgibt, das natürlich am Ende irgendjemand bezahlen muss. ({6}) Ich gratuliere jedenfalls zu der Erkenntnis. Die haben wir bisher von der Linkspartei in diesem Hohen Haus noch nicht vernommen. ({7}) Sie fordern nur immer mehr Leistungen, mehr Ausgaben, immer mehr, mehr, mehr; aber damit, dass das jemand bezahlen muss, haben Sie sich bisher nicht beschäftigt. Insofern gratuliere ich zu diesem Schritt. Ja, Sie haben recht: Natürlich führt das, was wir nach unserem GKV-Versorgungsverstärkungsgesetz tun, im Moment im Krankenhausbereich, in der Palliativversorgung zu Mehrausgaben. Aber mit diesen Mehrausgaben - das haben wir gerade für dieses Gesetz dargelegt, und das werden wir in den nächsten Wochen auch für die Krankenhäuser diskutieren - wollen wir vor allem Strukturen verändern. Wir wollen dahin kommen, dass wir Schritt für Schritt die Versorgung effizienter machen und sie da, wo es noch Lücken gibt, besser machen. Meine feste Überzeugung ist, dass Sie, wenn Sie nicht einfach nur mehr Geld in das System geben, sondern die Ausgaben mit Strukturveränderungen verknüpfen und am Ende eine effizientere und bessere Versorgung des Patienten hinbekommen, dann auch Akzeptanz bei den Versicherten haben, wenn diese ein wenig mehr bezahlen müssen; denn in Wahrheit wissen die Menschen doch - wir sollten es ihnen jedenfalls ehrlich sagen; Sie tun das leider nicht immer -, dass es, wenn wir in einer älter werdenden Gesellschaft eine gute, hochwertige Gesundheitsversorgung wollen, in den nächsten Jahren teurer wird. Ich habe den Eindruck, die Menschen sind bereit, das zu bezahlen, wenn wir es ihnen ehrlich sagen und wenn wir ihnen vor allem erklären können, wofür wir dieses Geld ausgeben. Genau das tun wir mit den entscheidenden Weichenstellungen in diesem Gesetz. Schön, dass Sie das endlich erkannt haben. ({8})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Herr Kollege, war das jetzt das Schlusswort?

Jens Spahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003638, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein, ich habe noch ein bisschen.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Ja, Sie haben noch ein paar Sekunden. Ich frage Sie, ob Sie eine Zwischenfrage oder -bemerkung zulassen wollen.

Jens Spahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003638, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Na klar.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Dann bitte, Frau Klein-Schmeink.

Maria Klein-Schmeink (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004072, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sie sprachen gerade davon, dass es in der Bevölkerung und bei den Versicherten große Akzeptanz dafür gibt, dass man mehr Geld bezahlen muss, wenn man auch in Zukunft gut versorgt sein will. Ich glaube, das würden hier im Raum alle bestätigen. Aber diese Akzeptanz hängt sehr eng damit zusammen, dass man das Gefühl hat, dass es auf der einen Seite gerecht zugeht und auf der anderen Seite alles getan worden ist, dass die Versorgung auch in Zukunft gut sein wird. Dazu gehört unter anderem, dass die Versorgungseinrichtungen gut erreichbar sind. Die Große Koalition hat gesetzlich geregelt, dass sämtliche Kostensteigerungen im Gesundheitswesen allein von den Versicherten zu tragen sind; das war eine grundlegende Veränderung. Deshalb wird es in relativ kurzer Zeit zu deutlich höheren Zusatzbeiträgen kommen, die nur von den Versicherten zu zahlen sind. Halten Sie das durch, und werden Sie in der Lage sein, bis Ende der Wahlperiode genau diesen Weg zu gehen? Sind Sie sicher, dass Sie gemeinsam mit Ihrem Koalitionspartner durchsetzen wollen, dass es Kostensteigerungen bis zu 1,5 Prozent nur zulasten der Versicherten geben wird? Oder kommt es am Ende nicht doch zu Leistungseinschränkungen? Werden Sie also nicht mehr den Mut haMaria Klein-Schmeink ben, das, was notwendigerweise zu tun ist, tatsächlich durchzusetzen?

Jens Spahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003638, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Diese Frage war trotz ihrer Länge in gewisser Weise eine Suggestivfrage.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Auch das ist erlaubt.

Jens Spahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003638, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Auch das ist erlaubt; das stimmt. - Ich will trotzdem versuchen, darauf einzugehen. Schließlich bringen Sie diese Gedanken immer wieder vor. Wir haben die Kassen mit der Finanzierungsreform, die wir im letzten Jahr durchgeführt haben, wieder in einen Preiswettbewerb miteinander eintreten lassen. Dieser Wettbewerb hat es möglich gemacht, dass seit 1. Januar letzten Jahres etwa 20 Millionen Deutsche weniger Beitrag zahlen als vorher. ({0}) Der Wettbewerb der Kassen untereinander hat dazu geführt, dass die Kassen einen niedrigeren Beitrag genommen haben, nämlich nur den, den sie tatsächlich brauchten. Ja, wir haben den Arbeitgeberanteil festgeschrieben. Wir haben damit übrigens fortgesetzt, was Rot-Grün 2004 richtigerweise schon einmal gemacht hat. Dieses Vorgehen ergab sich aus der Erkenntnis, dass steigende Lohnnebenkosten die Arbeit in Deutschland verteuern, dass also auch steigende Gesundheitskosten, die in einer älter werdenden Gesellschaft zwangsläufig sind, den Faktor Arbeit und damit die Schaffung von Arbeitsplätzen in Deutschland teurer machen. Es war ein Kompromiss - wie gesagt, so etwas gab es schon unter Rot-Grün -, zu sagen: Wir schreiben zur betriebswirtschaftlichen Planbarkeit für die Unternehmen den Arbeitgeberanteil fest - im Moment sind es 7,3 Prozent - und lassen die künftigen Kostensteigerungen in den Zusatzbeitrag einfließen, der dem Wettbewerb ausgesetzt ist und dadurch nach unten reguliert werden soll. Wie man damit in Zukunft umgeht, wird eine der großen Fragen der Gesundheitspolitik werden; da haben Sie recht. Wir nutzen diese Legislatur, in der wir noch Überschüsse und Rücklagen haben, um genau die Strukturveränderungen im Krankenhausbereich, in der flächendeckenden Versorgung, in der Zusammenarbeit von ambulanter und stationärer Versorgung herbeizuführen, über die wir gerade diskutiert haben. Wir wollen mit dem zusätzlichen Geld effizientere Strukturen schaffen, um im nächsten Schritt - das wird sicherlich ein Thema ab 2016/2017 werden, auch in der programmatischen Auseinandersetzung, die dann zu führen ist - darüber zu reden - das werden wir alle tun müssen -, wie wir künftige Kostensteigerungen finanzieren. Ich glaube nicht, dass es richtig ist, am Ende alle Kostensteigerungen beitragsfinanziert zu decken. Man wird über andere Modelle reden müssen. Der Krankenversicherungsbeitrag wird nach allen Hochrechnungen irgendwann in den nächsten zehn Jahren den Rentenversicherungsbeitrag überholen. Spätestens dann wird es ganz andere politische Debatten geben. Aber es ist schön, dass Sie diese Frage stellen. Das macht nämlich deutlich, dass Forderungen nach immer mehr nicht angezeigt sind, sondern dass es im Kern darum gehen muss, das Geld effizient auszugeben. Helfen Sie bei der Umsetzung dieses Gesetzes mit. Suchen Sie nicht das Haar in der Suppe, wie Sie es gerade getan haben, um zu begründen, warum Sie bei der Abstimmung mit Nein stimmen. Helfen Sie jetzt mit, Versorgung effizienter zu machen, und bringen Sie sich dann, und zwar jenseits Ihres Schlagworts, das Sie bei dieser Gelegenheit immer verwenden, in der Finanzierungsdebatte in dem Wissen ehrlich ein, dass steigende Beiträge die Arbeit in Deutschland teurer machen. 2016, 2017, 2018, wenn wir all diese Debatten wieder führen werden, geht es darum, wie wir Gesundheit in Deutschland in Zukunft finanzieren wollen. Denn eines ist sicher - dabei bleibe ich -: Eine gute, qualitativ hochwertige Versorgung wird in einer älter werdenden Gesellschaft Geld kosten. Die Menschen wüssten das, wenn wir es ihnen häufiger ehrlich sagen würden. ({1})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Herr Kollege Spahn. - Nächster Redner: Harald Weinberg für die Linke. ({0})

Harald Weinberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004186, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst ein Wort zu Herrn Lauterbach und zu Herrn Spahn: Es ist ja eine schöne Rechnung, die Sie da angestellt haben. Aber wenn man sich die Gesetzesvorhaben insgesamt anschaut - das hat Ihnen ja auch der GKV-Spitzenverband, also der Spitzenverband der gesetzlichen Krankenversicherungen, schon vorgerechnet -, dann muss man sagen, dass der Zusatzbeitrag von jetzt durchschnittlich 0,8 Prozent relativ zügig auf etwa 1,8 Prozent steigen wird. Dann reden wir nicht über einen Betrag in der Größenordnung von 50 Cent, Herr Lauterbach, sondern über einen Betrag von 50 Euro. ({0}) Da ist man durchaus in einer ganz anderen Region, und das ohne Überlastungsausgleich und ohne Parität. Ich möchte noch einmal auf das GKV-Versorgungsstärkungsgesetz insgesamt eingehen und es kurz bewerten. Es ist ja ähnlich wie bei der Echternacher Springprozession: drei Schritte nach vorne, zwei zurück. Man kann das an ein paar Beispielen deutlich machen. Erstens. Praxisstilllegungen in überversorgten Regionen; das macht ja erst einmal Sinn. Wir waren zunächst bei einem Wert von 110 Prozent Überversorgung, dann haben die Ärzteverbände gegen Praxisstillegungen op10460 poniert, und am Ende ist dann ein Wert von 140 Prozent herausgekommen. Das heißt also, das Vorhaben ist sozusagen reduziert worden. Zweitens. Ein geregeltes Zweitmeinungsverfahren - davon war schon die Rede - ist eigentlich eine gute Sache. Aber es bleibt nach wie vor die Frage: Warum eigentlich nur bei mengenmäßig relevanten Eingriffen, also bei Eingriffen, bei denen man im Wesentlichen die Ökonomie im Blick hat? Warum will man dies im Prinzip eher wie eine Kostendämpfungsmaßnahme anwenden? Drittens. Die Nutzenbewertung von Medizinprodukten ist ebenfalls eine gute Sache; aber es stellt sich die Frage: Warum nur bei teuren und neuen Produkten und nicht bei allen Hochrisikoprodukten in diesem Bereich? ({1}) Letzter Punkt: Regelungen zur Haftung von Hebammen. Die Folgebehandlungskosten aus der Haftpflicht herauszunehmen, ist ebenfalls nur halb gut. Eine grundlegende Lösung in Form eines Härtefallfonds oder eines Haftungsfonds für alle Gesundheitsberufe wäre deutlich besser. Fazit insgesamt: Jeweils drei Schritte vor, zwei zurück, aber immerhin in Teilen durchaus in die richtige Richtung. Das erkennen wir an. Deswegen haben wir für uns gesagt: Wir werden uns bei der Abstimmung über dieses Gesetz enthalten. Vielen Dank. ({2})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Danke, Herr Kollege. - Nächste Rednerin: Hilde Mattheis für die SPD. ({0})

Hilde Mattheis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003588, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich kann ja verstehen, dass die Opposition ein Problem damit hat, wie der Kollege Spahn sagte, das Haar in der Suppe zu finden, oder, wie ich es sagen würde, uns zu diesem guten Versorgungsqualitätsgesetz zu beglückwünschen; denn dieses Gesetz, verehrte Kollegin, verdient wirklich den Namen, den es trägt: GKV-Versorgungsstärkungsgesetz. ({0}) Ich glaube, dass die Bevölkerung mitbekommt, was wir in diesem Gesetz regeln: dass es nämlich darum geht, in unterversorgten Gebieten Anreize zu setzen, damit ein Arzt dort hinkommt, und auch eine neue Bedarfsplanung aufzulegen, und zwar eine Bedarfsplanung, die nicht nur Köpfe zählt, sondern bei der es darum geht, die Lebenssituation der Menschen zu erfassen, den demografischen Wandel und die sozialen Strukturen zugrunde zu legen. Ich kann Ihnen sagen, werte Kollegin: Würden Sie dieses Gesetz vorlegen, könnten Sie vor lauter Kraft gar nicht laufen. ({1}) Ich bin froh, dass die Linke anerkennt, was wir in dieser Richtung Richtiges machen und dass wir nicht nur die Bedarfsplanung im Auge haben. Wir müssen auch Anreize für junge Ärzte setzen, zum Beispiel indem sie, wenn sie sich fünf Jahre in einem unterversorgten Gebiet niederlassen, einen Vorteil haben. Ja, es ist richtig, solche Anreize zu schaffen oder nach dem Vorbild der Kompetenzzentren in Baden-Württemberg und anderen Bundesländern zu sagen: Lasst uns doch die jungen Leute, die Medizin studieren, für den Hausarztberuf begeistern. - Was uns darüber hinaus besonders am Herzen liegt, ist, die Entlassung aus den Krankenhäusern zu verbessern. ({2}) Es ist nicht hinzunehmen, dass Menschen, die zum Wochenende oder in schwierigen Situationen entlassen werden, zur Apotheke laufen müssen, sich bei den Heilmitteln umtun müssen usw.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Frau Kollegin, erlauben Sie eine Zwischenfrage?

Hilde Mattheis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003588, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich würde gerne weiterreden. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Gut.

Hilde Mattheis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003588, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

An diesen Schwerpunkten erkennt die Bevölkerung, welche Versorgungsverbesserung das Gesetz mit sich bringt. ({0}) Wir haben auch vereinbaren können, dass es bei der pflegerischen Übergangsversorgung einen Leistungsanspruch gibt. Wenn Menschen - und der demografische Wandel beschäftigt uns ja alle - noch nicht nach Hause gehen können, aber keine Einstufung in eine Pflegestufe haben, wird es demnächst eine Leistungshinterlegung geben. Auch das Zweitmeinungsrecht wurde schon vielfach angesprochen. Was ist daran falsch? Es sichert die Patientinnen- und Patientenrechte. Das Gesetz wird durch Folgendes durchgängig bestimmt: Es werden Versorgungsstrukturen verbessert, die Patientenrechte gestärkt und Innovationen unterstützt. Dazu zählt auch die Finanzierungsseite; darüber werden wir mit Sicherheit eine Debatte führen müssen. Karl Lauterbach hat unsere Haltung schon angedeutet. Ich kann nur sagen: Parität ist ein wichtiges Ziel für uns Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten. ({1}) Wir werden mit dem Krankenhausreformpaket und mit allem, was wir im Bereich Prävention und zum Thema „Palliativmedizin und Hospiz“ machen, die nächsten Bausteine setzen. Ich darf auch ein kleines Lob aussprechen; es kommt uns nicht immer deutlich von den Lippen. Ich glaube, für die Bevölkerung haben wir mit diesem Gesetz und mit dem, was wir noch in harter Arbeit auf den Weg bringen werden, eine wichtige Grundlage in Bezug auf Versorgungssicherheit und Versorgungsqualität geschaffen. Wir werden diesem Gesetz nicht nur mit ganzem Herzen und vollster Überzeugung zustimmen, sondern es auch in die Wahlkreise tragen. Sie werden ja in den Wahlkreisen mit genau diesen Fragen bombardiert. In Zukunft werden Sie Antwort geben können: Ja, der Hausarzt bleibt in einem unterversorgten Gebiet. Das unterstützen wir; er kommt dahin. Ja, wir werden mit Blick auf die Ausbildung eine Reform hinbekommen. - Alle diese Fragen werden Sie dann beantworten können. Vielleicht können Sie auch einfach sagen: Diese Koalition hat auch ein klein wenig Gutes gemacht. Ich danke Ihnen für Ihre Enthaltung. ({2})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Danke, Hilde Mattheis. - Die nächste Rednerin: Elisabeth Scharfenberg für Bündnis 90/Die Grünen.

Elisabeth Scharfenberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003835, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Herr Minister! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Das Gesetz, dessen Entwurf heute zur Abstimmung steht, soll die gesundheitliche Versorgung bedarfsgerecht und flächendeckend sicherstellen. Ich denke, das ist eine Herausforderung, der wir uns unbedingt stellen müssen. Wir alle werden älter. Es wird mehr Menschen mit mehreren Erkrankungen gleichzeitig geben. Das Gesundheitssystem muss sich den geänderten Bedürfnissen und auch den Ansprüchen der Patientinnen und Patienten in Bezug auf mehr Lebensqualität anpassen. Da sehe ich nicht - so wie Sie - die Ärzte ganz vorne, sondern die Gesundheitsberufe. Menschen mit chronischen Erkrankungen, multimorbide Menschen brauchen neben medizinischer Behandlung auch Hilfen zum Leben. Sie brauchen Präventionsmaßnahmen sowie aktivierende Maßnahmen, die den Krankheitsverlauf verlangsamen und die Lebensqualität erhöhen. Das leisten nicht allein die Ärzte. Besonders die Pflege muss hier eine viel größere Rolle spielen. ({0}) Die Pflege ist nahe dran an den Menschen, und sie bleibt auch bei ihnen. Sie kann den Pflegebedarf am besten einschätzen. Das sollte sie auch eigenständig tun. Sie sollte auch bestimmte ärztliche Tätigkeiten ausüben dürfen. Dazu bedarf es besserer Kooperationen zwischen den Angehörigen der verschiedenen Gesundheitsberufe. Mit dem Standesdünkel muss jetzt endlich Schluss sein. Es braucht endlich Substitution statt Delegation. Die Pflege kann nämlich viel mehr, als sie darf. Es braucht eine angemessene Ausbildung, um kooperativ und verantwortlich handeln zu können. Das Gesetz zur Zusammenlegung der Pflegeausbildungen - dabei werden Altenpflege, Krankenpflege und Kinderkrankenpflege zusammengeführt - ist hier genau das falsche Signal. ({1}) Inhalte aus drei Ausbildungen werden in der gleichen Zeit vermittelt, die früher für eine Ausbildung vorhanden war. Dabei wird zwangsläufig Wissen auf der Strecke bleiben. In einer alternden Gesellschaft brauchen wir aber spezifisches Wissen. Das schafft auch endlich Augenhöhe mit den Ärzten. ({2}) Es findet sich auch eine Regelung zur Versorgung mit Hebammenhilfe im Gesetzentwurf. Das klingt zunächst folgerichtig; denn in Ihrem Koalitionsvertrag behaupten Sie: Die Sicherstellung einer flächendeckenden Versorgung mit Geburtshilfe ist uns wichtig. Was Sie dann aber vorschlagen, wird keine flächendeckende Versorgung mit Geburtshilfe sicherstellen, Ihr Ziel in allen Ehren. Die Haftpflichtprämien für Hebammen sollen durch den sogenannten Regressverzicht gesenkt werden. Dazu sollen Kranken- und Pflegekassen künftig die Behandlungskosten für Kinder mit Geburtsschäden nicht mehr bei der Hebamme oder ihrer Versicherung einfordern können. Dadurch könnten die Versicherungen tatsächlich Kosten einsparen, um die 20 Prozent. Das sind genau die 20 Prozent, um die die Haftpflichtprämie zum 1. Juli steigen wird. Sie verkleinern diese ohnehin schon nicht sehr üppige Einsparung weiter. Wenn ein Geburtsschaden grob fahrlässig verursacht wurde, können die Kassen ihre Behandlungskosten für ein geschädigtes Kind weiterhin zurückfordern. Was wird nun passieren? Das liegt doch auf der Hand. Die Kassen werden in jedem Fall alles daransetzen, der betreffenden Hebamme grobe Fahrlässigkeit nachzuweisen. Damit steigen die Anwaltskosten und der Verwaltungsaufwand. Die Haftpflichtprämien für Hebammen werden so jedenfalls nicht gesenkt. Der Regressverzicht bringt überhaupt nichts, er ist eine reine Alibimaßnahme. Das hat die wichtige Arbeit der Hebammen wirklich nicht verdient. Vielen Dank. ({3})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Kollegin Scharfenberg. - Nächste Rednerin: Karin Maag für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Karin Maag (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004104, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Scharfenberg, ich glaube, für die Hebammen werden wir mit diesem Gesetz mehr tun, als wir ursprünglich erwarten konnten. Ich bin sicher, dass die Hebammen in Deutschland vernünftig und gerecht behandelt werden. ({0}) Der Schwerpunkt dieses Gesetzentwurfs liegt aber nicht bei den Hebammen. Uns war wichtig, Deutschland im Hinblick auf die ärztliche Versorgung zukunftsfest zu machen. Das ist uns mit dem Versorgungsstärkungsgesetz absolut gelungen. Wir haben den guten Entwurf des Ministeriums im parlamentarischen Verfahren weiter verbessert. Wir haben Patienten, Kassen, Körperschaften und Verbände um ihre Meinung gebeten. Wir haben diskutiert, Argumente eingebracht, abgewogen, verworfen und aufgenommen. Ich denke, wir haben einen runden Gesetzentwurf geschaffen. Die Aufregerthemen, die hier schon genannt wurden, wurden geglättet. Wir haben dem G-BA aufgegeben, die Bedarfsfragen lebensnah, arztgruppenspezifisch und kleinräumig weiterzuentwickeln. ({1}) Wir sind bei der Überversorgung zur Kannregelung zurückgekehrt und verlangen erst ab einem Versorgungsgrad von 140 Prozent, dass der Zulassungsausschuss einen Arztsitz nicht nachbesetzt. Das verhindert vor allem unnötige Bürokratie - das war uns wichtig - beim Zulassungsausschuss. ({2}) Falls eine Nachbesetzung ansteht, Herr Weinberg, werden weiterhin 12 000 Praxen von den Zulassungsausschüssen auf ihre Versorgungsrelevanz hin überprüft. Ich glaube also, wir haben einen wunderbaren Kompromiss gefunden. ({3}) Gelungen ist uns auch die Abwägung bei der ambulanten spezialfachärztlichen Versorgung. Hier war mir die Zusammenarbeit von ambulant und stationär tätigen Rheumatologen ein gutes Beispiel. So stelle ich mir übrigens innovative Gesundheitspolitik vor. Mit dem Verzicht auf die schwere Verlaufsform bei onkologischen und rheumatischen Erkrankungen können Patienten jetzt auch nach Auslaufen einer Übergangsregelung weiter in der ambulanten spezialfachärztlichen Versorgung - sektorenübergreifend übrigens, Frau Klein-Schmeink ({4}) versorgt werden. Zu den Terminservicestellen haben wir das Wesentliche herausgearbeitet. Wir haben selbstverständlich Wert darauf gelegt, dass gute regionale Ideen - das Land Sachsen wurde als Beispiel genannt - umgesetzt werden, was eine zügige Terminvergabe angeht. Das ist uns sehr willkommen. Jedenfalls erhalten jetzt alle Patienten - unabhängig ob privat oder gesetzlich versichert - innerhalb von vier Wochen einen Facharzttermin. Bei allem war uns eine Botschaft ganz wichtig: Der Patient steht immer im Mittelpunkt. Die Patienten - darauf will ich hinweisen - profitieren von diesem Gesetz, zum Beispiel durch neue, innovative Versorgungsformen. Wir führen einen Innovationsfonds ein, mit dem wir außerhalb der Regelversorgung 300 Millionen Euro jährlich für die Förderung sektorenübergreifender Versorgungsformen und für die Versorgungsforschung einsetzen. Die Patienten mit schweren und komplexen Krankheitsbildern profitieren davon, dass wir die Hochschulambulanzen öffnen. Der Zugang zur Spitzenmedizin wird den Patienten dadurch erheblich erleichtert. Es geht nicht nur um Teilhabe, sondern auch um eine qualitativ hochwertige Behandlung. Neue Methoden, bei denen Medizinprodukte mit hoher Risikoklasse zum Einsatz kommen, werden systematisch einem fristgebundenen Bewertungsverfahren unterzogen. Wir gehen damit den guten Weg weiter, den wir mit dem AMNOG eingeschlagen haben. Die Patienten profitieren auch vom Entlassmanagement. Krankenhäuser können jetzt bei der Entlassung die Arzneimittel verschreiben, die Heil- und Hilfsmittel verordnen, die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung selber ausstellen. Die Suche nach dem niedergelassenen Arzt am Freitagnachmittag nach der Entlassung aus dem Krankenhaus hat für unsere Patienten jetzt ein Ende. Ich glaube, schon allein das ist ein zentraler Fortschritt. ({5}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Patienten können die Verbesserungen nur dann nutzen, wenn es weiterhin den Arzt vor Ort gibt. Wir werden aber nur dann ärztlichen Nachwuchs gewinnen, wenn wir das berufliche Umfeld mit den Vorstellungen der Studenten und der jungen Ärzte von der eigenen Work-Life-Balance in Einklang bringen und Regulierungen nur dort vornehmen, wo sie notwendig sind, sie also auf das ausdrücklich Notwendige begrenzen. Wir haben die Rahmenbedingungen extrem verbessert: Es wird mindestens 7 500 zusätzliche Stellen im Rahmen der Weiterbildung in der Allgemeinmedizin geben; das wurde genannt. Die fachärztliche Grundversorgung liegt uns genauso am Herzen; hier sind es 1 000 zusätzliche Stellen. Die Angst vor Regressen ist zwar eher ein psychologisches Hemmnis, weil schon in der Vergangenheit 98 Prozent der Ärzte nicht in Regress genommen wurden; aber wir haben die bundeseinheitlichen Vorgaben für die WirtschaftlichKarin Maag keitsprüfung aufgegeben. Es wird regionale Vereinbarungen geben. Frau Klein-Schmeink, wir entlasten die Ärzte, indem wir die delegierte ärztliche Leistung qualifizierter Fachkräfte erstmals gesondert vergüten. Das heißt, wir geben den Ärzten die Zeit für das Gespräch mit den Patienten zurück. ({6}) Viele der jungen Ärzte wollen im Team arbeiten. Fachgleiche MVZs sind möglich. Wir sichern die Vergütung für anerkannte Praxisnetze. Auch dort wird der Teamgedanke gefördert. Ich bin zutiefst davon überzeugt, Frau KleinSchmeink, dass uns ein ausnehmend gutes Gesetz gelungen ist, das Ausdruck einer zukunftsgerichteten Gesundheitspolitik ist. Danke schön. ({7})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Frau Kollegin Maag. - Nächster Redner in der Debatte: Dirk Heidenblut für die SPD. ({0})

Dirk Heidenblut (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004295, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Liebe Zuhörerinnen! Liebe Zuhörer! Nein, sofort werden wir mit diesem Gesetz die unverantwortlich langen Wartezeiten im Bereich der Psychotherapie natürlich nicht abschaffen. Aber das Gesetz zeigt den absehbaren Zeitraum auf, in dem das gelingen kann. Das liegt daran, dass wir in konsequenter Abarbeitung unseres Koalitionsvertrages an ganz vielen Stellen zeitgleich anpacken, um die Frage des Bedarfs in den Griff zu bekommen. Vor dem Hintergrund kann ich nur sagen: Hier machen wir viel, und das wird auch viel bewirken. Da bin ich mir ganz sicher. ({0}) - Ja, ich will gerne zugeben, dass das zugestanden wurde. Ich will nur drei Aspekte nennen. Zunächst nehmen wir den Bedarf in Angriff, der natürlich eines der Kernprobleme ist. Auch wenn immer wieder gesagt wird: „Na ja, das hatten wir ja schon einmal versucht“ - den Versuch darf man nicht aufgeben. Ich bin mir ganz sicher: An dieser Stelle wird das funktionieren, weil alle begriffen haben: Gerade im Bereich Psychotherapie gibt es ausreichend Expertise. Jeder weiß, dass der Bedarf für diesen Bereich nie ordentlich ermittelt worden ist. Da müssen wir heran, das muss angepasst werden. Wir geben auch vor, wie wir es wollen, nämlich an Sozial- und Morbiditätsstruktur orientiert, und das Ganze auch noch kleinräumig. ({1}) Wir nehmen die Psychotherapie-Richtlinie in Angriff. Auch das ist wichtig; denn natürlich kann man auch im Bereich der Leistungserbringung noch eine Menge bewirken. Wir werden - ich will nur einen Punkt aufgreifen - Sprechstunden einrichten, um die Akutversorgung deutlich besser in den Griff zu bekommen. Wir wollen, dass derjenige, der akut etwas hat, einen schnellen Zugang zu Hilfe erhält. Wir wollen auch die Therapie steuern. Es ist doch nur folgerichtig, zu sagen: Wenn die Richtlinie geändert ist, dann müssen entsprechende Änderungen bei den Terminservicestellen vorgenommen werden. Denn es kann doch nicht sein, dass ich in der Sprechstunde erfahre, ich bekomme eine Therapie, aber dann dauert es wieder sechs Monate. Nein, auch hier muss geregelt sein, dass eine Therapie nach vier Wochen begonnen werden kann. Es ist völlig richtig, dass wir auch an dieser Stelle handeln. ({2}) Last, but not least: Wir verändern auch die Arbeitsmöglichkeiten direkt in den Praxen; denn wir schaffen gerade im Psychotherapiebereich deutlich bessere Anstellungsverhältnisse, sodass zum Beispiel die Möglichkeit besteht, sich für Jobsharing zu entscheiden. Das wird für die Patientinnen und Patienten viel bringen, weil das mehr Kapazität schafft. Aber es wird auch - die Work-Life-Balance wurde angesprochen - den Berufseinstieg erleichtern. Das wird dazu führen, dass mehr Menschen Zugang zu diesem Beruf finden. - Wir haben also in zwei Bereichen hervorragende Ansätze gefunden. Vor diesem Hintergrund kann ich nur sagen: Wir schaffen mit diesem Gesetz gerade im Bereich der Psychotherapie sehr gute Möglichkeiten, endlich zuzupacken. Wir erwarten vom G-BA, dass das alles schnell, zügig und zielgerichtet und im Sinne der Patientinnen und Patienten umgesetzt wird. ({3}) Auch wenn viel manchmal nicht viel hilft, eines ist klar: Nix hilft gar nix, und Nein ist am Ende nix. Danke schön. ({4})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Herr Kollege Heidenblut. - Nächster Redner: Reiner Meier für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Reiner Meier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004350, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit dem GKV-Versorgungsstärkungsgesetz liegt uns heute ein ausgewogenes Gesamtpaket vor. Für uns von der Union steht eines fest: Der freiberufliche Arzt ist und bleibt eine zentrale Säule der gesundheitlichen Versorgung in unserem Land. ({0}) - Auch im Krankenhaus. Wir haben erreicht, dass Arztpraxen in überversorgten Gebieten künftig erst bei einem Versorgungsgrad von 140 Prozent aufgekauft werden sollen. Das ist auch richtig; denn mit dieser Regelung lassen wir der Selbstverwaltung die notwendigen Handlungsspielräume und fokussieren den Blick auf die stark überversorgten Regionen. Dabei bleibt es auch weiterhin bei den geltenden Ausnahmen, die einen Praxisaufkauf ausschließen. Hierzu ist schon viel gesagt und auch geschrieben worden. Deshalb möchte ich mich nur auf einen Punkt konzentrieren. Künftig gibt es eine Privilegierung für junge Ärzte, die nach dem Studium fünf Jahre lang in einem unterversorgten Gebiet arbeiten. Möchte ein solcher Arzt eine Praxis weiterführen, so darf diese nicht aufgekauft werden. Dadurch machen wir die ärztliche Tätigkeit in unterversorgten Regionen deutlich attraktiver; ({1}) denn die Entscheidung, die Ballungszentren zu verlassen, wird dadurch nicht zu einer Einbahnstraße. Im Gegenteil: Ein junger Arzt, der weiß, dass er sich mit einer Tätigkeit auf dem Land seine Bewegungsfreiheit nicht nur erhält, sondern sogar verbessert, wird viel eher bereit sein, die Großstadt zu verlassen. Keine Ungleichbehandlung sollte es allerdings bei der Bereinigung der ärztlichen Vergütung geben. Wir meinen, dass ein gerechter Modus weder Ärzte, die am Selektivvertrag teilnehmen, noch Ärzte, die am Kollektivvertrag teilnehmen, bevorzugen darf; das haben wir im Ausschuss übrigens auch deutlich gemacht und zu Protokoll gegeben. Meine Damen und Herren, leider gibt es in Deutschland Regionen, in denen der ambulante Bereich die Versorgung derzeit nicht vollständig gewährleisten kann. ({2}) Hierfür - jetzt komme ich zu Ihnen - erfüllen Krankenhäuser seit Jahren eine wichtige Versorgungsfunktion. Aus diesem Grund haben Krankenhäuser in unterversorgten Gebieten künftig einen Anspruch auf Zulassung zur ambulanten Behandlung - solange und soweit es erforderlich ist. Unser Leitbild bleibt aber auch weiterhin die Versorgung durch den niedergelassenen Arzt. Wir haben deshalb eine verpflichtende Überprüfung der Zulassung, alle zwei Jahre, eingeführt. ({3}) Das verschafft einerseits den Krankenhäusern genügend Planungssicherheit und andererseits den Ärzten faire Bedingungen für die Niederlassung in einer solchen Region. Auch das Entlassmanagement verbessern wir. Wir verzahnen den ambulanten und den stationären Bereich. Dazu haben wir die Möglichkeit der Krankenhäuser ausgeweitet, dem Patienten bei der Entlassung die notwendigen Leistungen zu verordnen, und zwar so lange, bis der ambulante Bereich die Nachsorge übernehmen kann. Zudem verbessern wir an dieser Stelle die Kooperation zwischen Kranken- und Pflegeversicherung. Besonders Patienten, die zum Wochenende entlassen werden, eröffnen wir dadurch einen reibungsloseren Übergang in die ambulante Weiterversorgung. Lassen Sie mich abschließend noch kurz zum Innovationsfonds kommen. Meine Damen und Herren, Innovation ist keine Frage von Sektoren oder Einrichtungen, sondern von Fortschritt und Nutzen für den Patienten. Es kommt deshalb nicht mehr darauf an, wer eine Innovation vorschlagen darf, sondern wie gut die Innovation ist. Bei der Gestaltung des Förderverfahrens haben wir uns für höhere Transparenz und Objektivität eingesetzt. So gibt ein Expertenbeirat zu jedem Vorhaben eine Empfehlung ab, die der Innovationsausschuss berücksichtigen muss. Von der Empfehlung darf der Ausschuss nur dann abweichen, wenn er dies schriftlich ausführlich begründet. Dieses Verfahren sichert, dass die Förderentscheidung stets transparent und nachvollziehbar ist. Darüber hinaus muss jedes aus dem Innovationsfonds geförderte Vorhaben zum Beispiel im Internet veröffentlicht werden. Ich bin überzeugt, dass der Innovationsfonds ein wirksames Instrument sein wird, das schon in kurzer Zeit zahlreichen Patienten spürbare Verbesserungen bringen wird. Meine Damen und Herren, Henry Ford hat einmal gesagt: Zusammenkommen ist ein Beginn, zusammenbleiben ist ein Fortschritt, zusammenarbeiten ist Erfolg. In diesem Sinne darf ich mich bei den Kolleginnen und Kollegen im Gesundheitsausschuss für die konstruktiven, zumeist auch zielführenden Beratungen bedanken und Sie heute um die Zustimmung zu diesem Gesetzentwurf bitten. Vielen Dank. ({4})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Herr Kollege Meier. - Die letzte Rednerin in dieser Debatte: Sabine Dittmar für die SPD. ({0})

Sabine Dittmar (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004261, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Gesetzentwurf zum GKV-Versorgungsstärkungsgesetz hat in den parlamentarischen Beratungen mit 56 Änderungsanträgen den letzten Schliff bekommen, sodass wir heute ein Gesetz vorlegen, das die Rahmenbedingungen für eine Sicherstellung der flächendeckenden ärztlichen Versorgung weiter flexibilisiert und entbürokratisiert, den Zugang zur mediziniSabine Dittmar schen Versorgung verbessert, das Leistungsangebot für Versicherte erweitert und mit dem Innovationsfonds neuen sektorenübergreifenden Versorgungsmodellen und der Versorgungsforschung einen neuen Schub verleiht. Kolleginnen und Kollegen, als ich 1987 mein Medizinstudium begann, war mir sehr schnell klar, dass ich als Allgemeinärztin arbeiten möchte. ({0}) Leider entscheiden sich heute immer weniger junge Ärztinnen und Ärzte für den Hausarztberuf. In vielen Regionen spüren wir diesen Mangel, genauso wie auch Defizite in der fachärztlichen Versorgung. Deshalb war es mir so wichtig, dass wir im GKV-Versorgungsstärkungsgesetz der Förderung der Weiterbildung einen neuen Impuls geben. ({1}) Die Anzahl der zu fördernden Stellen im Bereich der Allgemeinmedizin erhöhen wir um 50 Prozent auf 7 500. Außerdem haben wir, was ebenfalls sehr wichtig ist, eine Vergütung entsprechend einer tarifvertraglichen Vergütung im Krankenhaus vorgegeben. Weitere 1 000 Stellen für grundversorgende Fachärzte kommen hinzu. Für mich war es ein besonders wichtiges Anliegen, die Qualität und Attraktivität der Weiterbildung zu verbessern. Viele weiterzubildende Ärztinnen und Ärzte fühlen sich in der Praxis draußen alleingelassen. Ihnen fehlt die Rückkoppelung, der Austausch mit anderen, wie er im klinischen Bereich üblich ist. Deshalb war es richtig, die Möglichkeit zu eröffnen, 5 Prozent der Fördersumme für die Unterstützung von Einrichtungen zu verwenden, die genau diesen Austausch ermöglichen. ({2}) Die bei Universitäten angesiedelten Kompetenzzentren, wie wir sie aus Baden-Württemberg oder Hessen kennen, sind dafür ganz sicher ein Vorbild. Auch die Rahmenbedingungen für die ambulante Tätigkeit haben wir weiter flexibilisiert und den Bedürfnissen angepasst; dazu ist schon einiges gesagt worden. Wir wissen, dass die jungen Ärztinnen und Ärzte im Team arbeiten wollen, geregelte Arbeitszeiten haben möchten, dass die Work-Life-Balance eine große Rolle für sie spielt. Diesen Wünschen kommen wir entgegen, indem wir kooperative Versorgungsformen, medizinische Versorgungszentren und Praxisnetze weiter stärken und entbürokratisieren. ({3}) All dies ist aber vergebliche Liebesmüh - das habe ich in der ersten Lesung schon betont -, wenn es uns nicht gelingt, die Medizinstudentinnen und Medizinstudenten für die ambulante ärztliche Tätigkeit zu begeistern. ({4}) Ich bin froh, dass es am 8. Mai 2015 endlich zu einem ersten Treffen der Gesundheits- und Wissenschaftsminister von Bund und Ländern kam und der Startschuss für den „Masterplan Medizinstudium 2020“ gefallen ist; denn es ist dringend notwendig, dass wir die Zulassungskriterien anpassen und die Studieninhalte versorgungsorientierter gestalten. Lassen Sie mich abschließend auf einen weiteren Punkt eingehen, in den ich sehr viel Herzblut stecke und über den heute schon viel diskutiert wurde. Die Sachverständigen in der Anhörung und der Sachverständigenrat haben unisono auf diesen Punkt hingewiesen. Es geht um die Weiterentwicklung der Bedarfsplanung. Eine Bedarfsplanung, die den realen Versorgungsplan abbildet, ist das zentrale Steuerungselement, wenn es um die gerechte Verteilung von Ärztinnen und Ärzten geht. Die derzeitige Bedarfsplanung wird diesem Anspruch nicht gerecht. Aus diesem Grund ist es richtig, dass wir den G-BA beauftragen, bis Ende 2016 die Bedarfsplanung zu überarbeiten und dabei die Faktoren Sozial- und Morbiditätsstruktur und Demografie verstärkt zu berücksichtigen. Natürlich ist es auch notwendig, dass wir sektorenübergreifend planen. Dafür haben die Länder mit § 90 a SGB V - gemeinsames Landesgremium - bereits ein Instrument an der Hand. Dieses Instrument nutzen sie aber nicht so, wie sie es nutzen könnten; auch das ist in der Anhörung angesprochen worden. Wir werden einen Blick darauf haben. Notfalls muss man bei § 90 a SGB V nachjustieren, um die Wirkung zu verbessern. Wichtig ist, dass wir jetzt einen ersten Schritt unternehmen. Ich teile den Pessimismus der Opposition nicht. ({5}) Ich glaube, wir kommen ein gutes Stück voran. Ich bin davon überzeugt, dass wir heute einen guten Gesetzentwurf zur Abstimmung vorlegen. Es geht um ein Gesetz, das den Versicherten, den Patientinnen und Patienten draußen wirklich nützt. Ich danke für die Aufmerksamkeit. ({6})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Frau Kollegin Dittmar. - Ich schließe die Aussprache. Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Stär- kung der Versorgung in der gesetzlichen Krankenversi- cherung. Zu dem Gesetzentwurf liegt uns eine persönli- che Erklärung nach § 31 unserer Geschäftsordnung von Rudolf Henke vor.1) Der Ausschuss für Gesundheit empfiehlt unter Buch- stabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/ 5123, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 18/4095 in der Ausschussfassung anzuneh- men. Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Linken auf Drucksache 18/5125 vor, über den wir zuerst abstimmen werden. Wer stimmt für diesen Änderungsantrag? - Wer 1) Anlage 2 Vizepräsidentin Claudia Roth stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Änderungsantrag ist bei Zustimmung der Linken, bei Gegenstimmen von CDU/CSU und SPD und bei Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen abgelehnt. Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen. Sie haben es gesehen: CDU/CSU und SPD haben dafür gestimmt, die Grünen haben dagegen gestimmt, und die Linken haben sich enthalten. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist bei Zustimmung von CDU/CSU und SPD, bei Gegenstimmen vom Bündnis 90/Die Grünen und bei Enthaltung der Linken angenommen. Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 18/5126. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Entschließungsantrag ist abgelehnt. Es gab Zustimmung von den Linken, Enthaltung vom Bündnis 90/Die Grünen und Gegenstimmen von CDU/CSU und SPD. Wir setzen die Abstimmung über die Beschlussempfehlungen des Ausschusses für Gesundheit auf Drucksache 18/5123 fort. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 18/4187 mit dem Titel „Wohnortnahe Gesundheitsversorgung durch bedarfsorientierte Planung sichern“. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung des Ausschusses? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung des Ausschusses ist angenommen. Zugestimmt haben CDU/CSU und SPD, abgelehnt haben die Linken, und enthalten haben sich Bündnis 90/Die Grünen. Unter Buchstabe c empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/4153 mit dem Titel „Gesundheitsversorgung umfassend verbessern - Patienten und Kommunen stärken, Strukturdefizite beheben, Qualitätsanreize ausbauen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen. Zugestimmt hat die Große Koalition, also CDU/CSU und SPD, Gegenstimmen gab es von den Grünen und Enthaltung von den Linken. Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe d seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/1462 mit dem Titel „Mehr Transparenz der Selbstverwaltung im Gesundheitswesen“. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen. Zugestimmt haben CDU/CSU und SPD, und es gab Gegenstimmen vom Bündnis 90/Die Grünen und von den Linken. Damit haben wir die Gesundheitspolitik für heute geschafft. Ich danke den Gesundheitspolitikerinnen und -politikern recht herzlich und lade sie ein, hierzubleiben, wenn wir über das Thema „Exportüberschüsse abbauen“ reden. Ansonsten bitte ich, die Plätze zu tauschen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Michael Schlecht, Klaus Ernst, Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Exportüberschüsse abbauen - Wende in der Lohnpolitik einleiten Drucksache 18/4837 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Energie ({0}) Finanzausschuss Ausschuss für Arbeit und Soziales Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Ich höre viel, aber keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort an Michael Schlecht für die Linken. ({1})

Michael Schlecht (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004144, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Die deutsche Wirtschaft verkaufte 2014 Waren und Dienstleistungen im Wert von 190 Milliarden Euro mehr ans Ausland, ({0}) als sie aus dem Ausland bezog. Das ist der viel gefeierte Exportüberschuss, der manche mit großem Stolz erfüllt. ({1}) Was bedeutet das aber real? Sitzt Deutschland nun auf einem großen Geldsack? Nein. Das bedeutet nur, dass sich das Ausland bei Deutschland weiter verschuldet hat. 2014 lieh Deutschland dem Ausland weitere 190 Milliarden Euro, um deutsche Waren zu kaufen. Der Geldsack besteht aus nichts anderem als aus Forderungen an das Ausland. Nimmt man den Leistungsbilanzüberschuss, in dem zusätzlich Einkommens- und Vermögensübertragungen berücksichtigt werden, hinzu, dann betrug der Überschuss im letzten Jahr sogar 220 Milliarden Euro. Selbst das Riesenreich China kam nur auf 115 Milliarden Euro. Auch das ist für einige vermeintlich ein großer Erfolg, aber das hat nur die Verschuldung des Auslandes gegenüber Deutschland erhöht. ({2}) Seit dem Jahr 2000 haben sich die deutschen Exportüberschüsse auf mittlerweile 1,8 Billionen Euro summiert, weil es seit 2000 kein einziges Jahr mit einem DeMichael Schlecht fizit gegeben hat. Am Ende dieses Jahres werden es 2 Billionen Euro sein. Das sind 2 000 Milliarden Euro, die Deutschland ans Ausland verliehen hat, um seinen Export zu finanzieren. Ursache für diese ungleiche Entwicklung ist die desaströse Lohnentwicklung hier in Deutschland. Im Vergleich zum Jahr 2000 sind die Reallöhne heute kaum höher als damals. Das ist in allen anderen Ländern anders. Dort hat es zumindest halbwegs anständige Lohnerhöhungen gegeben. ({3}) Die Binnennachfrage hier in Deutschland wurde in diesen 15 Jahren stranguliert. Damit wuchsen die Importe viel schwächer als die Exporte, die durch das Lohndumping - vor allen Dingen in den Jahren 2000 bis 2010 - auch noch zusätzlich gestärkt worden sind. Deshalb gibt es diese Auseinanderentwicklung. Wie nachhaltig ist das Ganze? ({4}) Gar nicht. Wirtschaftsminister Gabriel - wir haben das hier mehrfach erlebt - und andere halten Exportüberschüsse weiterhin für unverzichtbar. Das heißt nur, dass erstens die Schulden des Auslandes bei uns dauerhaft weiter gesteigert werden und dass er zweitens dem Ausland nie die Chance geben will, die Schulden, die es bei uns hat, an uns zurückzuzahlen. Gabriel ist letztlich bereit, die Waren und Dienstleistungen im Wert von demnächst 2 Billionen Euro dem Ausland eines Tages faktisch zu schenken. Wenn es nämlich nie die Möglichkeit gibt, dass das Ausland seine Schulden zurückzahlt, dann wird es am Ende irgendeine Form von Schuldenstreichung geben, und das ist nichts anderes, als dass man es dem Ausland im Grunde genommen schenkt. Damit dieser Handel vernünftig - ohne Schenkungsmaßnahmen - funktioniert, müsste Deutschland eigentlich Defizite im Außenhandel machen, um die Verschuldung des Auslandes bei uns zu senken. Dann würde endlich auch die Situation beendet, dass Deutschland unter seinen Verhältnissen lebt. Das ist ja der eigentliche Skandal, der mittlerweile kaum noch bekannt ist. ({5}) Die eigentlichen Ursachen für die Verschuldung zum Beispiel in Griechenland - liegen sehr deutlich bei uns hier in Deutschland. Auch wenn die deutsche Regierung den Griechen und anderen Sozial- und Lohnkürzungen ohne Ende aufherrscht, werden die Schulden dieser Länder damit nicht beseitigt. Notwendig ist ein Ende der unfairen deutschen Wirtschaftspolitik, die mittlerweile zuweilen imperialistische Züge trägt. ({6}) Im Übrigen verstößt die Bundesregierung mit dem beständigen Leistungsbilanzüberschuss gegen deutsches Gesetz. Das Stabilitätsgesetz von 1967 schreibt nämlich einen langfristig ausgeglichenen Außenhandel vor. Die damaligen Autoren - Schiller und Franz Josef Strauß, ({7}) den manche von der rechten Seite hier ja kennen - verstanden damals noch etwas von Wirtschaft. ({8}) Das sind Kenntnisse, die auf der rechten Seite des Hauses mittlerweile in weiten Teilen verloren gegangen sind. Dabei wäre die Lösung so einfach: massive Reallohnerhöhungen durch Stärkung der Gewerkschaften, bessere Bedingungen für Tarifauseinandersetzungen, Verbot der Leiharbeit und massives Zurückdrängen des Missbrauchs von Werkverträgen und der Befristungen. Es ist nämlich vollkommen klar: Mit Menschen, die unter solchen Verhältnissen arbeiten müssen, lassen sich keine besonders guten Streiks führen oder zumindest Streikdrohungen aufbauen, die eine Voraussetzung für vernünftige Lohnerhöhungen sind. ({9}) Mit einem massiven Investitionsprogramm von 100 Milliarden Euro könnten öffentliche Investitionen zur Stärkung der Binnennachfrage durchgeführt werden. Dazu gehört im Übrigen auch, dass in den Auseinandersetzungen um die Erzieher und Sozialberufe den Kolleginnen und Kollegen in diesen Berufen eine deutliche Aufwertung ihrer Arbeit zugestanden wird. Das alles stützt die Konjunktur, schafft Jobs, macht Menschen wohlhabender, steigert die Importe und beseitigt auf Dauer den unhaltbaren Zustand, dass Deutschland den Banker der Welt spielt, was immer mit der Gefahr verbunden ist, dass das Geld nicht zurückgezahlt wird und praktisch alles verschenkt wird. Kommt es nicht zu einer Umkehr, dann wird der Tag kommen, an dem die anderen Länder aufwachen, sich wehren und eines Tages eine Troika einsetzen, die die Aufgabe haben wird, die deutsche Wirtschaftspolitik zu überwachen, damit in Deutschland der verheerende Außenhandelsüberschuss endlich durch eine massive Stärkung der Binnennachfrage abgebaut wird. Aber so weit muss es nicht kommen. Es besteht die Chance, dass es vorher ein Einsehen gibt und es zu einer anderen Wirtschaftspolitik kommt. Wir werden uns jedenfalls nach wie vor massiv dafür einsetzen. Danke schön. ({10})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Herr Kollege Schlecht. - Nächster Redner in der Debatte: Dr. Andreas Lenz für die CDU/CSUFraktion. ({0})

Dr. Andreas Lenz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004339, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Schlecht, die gute Nachricht zu Beginn Ihrer Rede: Die Daten, die Zahlen und Fakten, die Sie genannt haben, stimmen. Die Einordnung fällt aber etwas unterschiedlich aus. Sie als Linke fordern in Ihrem Antrag: Exportüberschüsse abbauen. Die deutschen Außenhandelsüberschüsse führen laut Ihrem Antrag zu einer beständig anwachsenden Verschuldung anderer Länder, insbesondere der Euro-Partner. Lassen Sie mich eines gleich zu Beginn sagen: Für die Staatsverschuldung eines Landes ist immer nur die jeweilige Regierung verantwortlich und sonst niemand. ({0}) Unsere Außenhandelsüberschüsse sind ein Zeichen der hohen Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft. Sie kritisieren dies. Deutsche Unternehmen, darunter zahlreiche kleine und mittelständische Unternehmen, sind in vielen Bereichen Weltmarktführer, und zwar nicht wegen ihres angeblichen Lohndumpings, sondern wegen ihrer qualitativ hochwertigen Produkte. Darauf können wir stolz sein. ({1}) Von der deutschen Wettbewerbsfähigkeit profitieren im Übrigen auch die anderen EU-Länder. 58 Prozent aller deutschen Importe stammen aus den EU-Mitgliedstaaten. Das schafft Beschäftigung und Wohlstand nicht nur bei uns, sondern auch in den anderen EU-Ländern. Es lässt sich überdies feststellen, dass der Anteil der deutschen Exporte an Länder außerhalb der Euro-Zone zunehmend wächst. So beträgt der Anteil der Handelsüberschüsse außerhalb der Euro-Zone 156 Milliarden Euro, also 72 Prozent. Es schadet also nicht, auch hier eine europäische Perspektive einzunehmen. Die EuroZone als Ganzes betrachtet konnte sogar einen Handelsbilanzüberschuss erzielen. Es muss auch noch einmal betont werden, dass die Kommission für Deutschland gerade keine zukunftsund stabilitätsgefährdenden Ungleichgewichte festgestellt hat. Deutschland hat 2014 einen Handelsbilanzüberschuss von 7,7 Prozent. Der Grenzwert liegt bei 6 Prozent. ({2}) Es handelt sich laut Kommission zwar um Ungleichgewichte, aber nicht um exzessive Ungleichgewichte. Sie fragen zudem in Ihrem Antrag, warum die Kommission Außenhandelsdefizite anders behandelt als Überschüsse. Das liegt daran, meine Damen und Herren, dass das eine Überschüsse und das andere Defizite sind. Im Übrigen wäre es wohl besser, die Maastricht-Kriterien strenger zu überprüfen, als sich auf außenwirtschaftliche Ungleichgewichte zu fokussieren. Sie meinen - so heißt es wörtlich in Ihrem Antrag -, dass der deutsche Außenhandelsüberschuss die zentrale Ursache für die anhaltende Euro-Krise sei. Das kann doch nicht Ihr Ernst sein. Hier verkennen Sie wieder einmal ganz gehörig Ursache und Wirkung. Die Staatsschuldenkrise in einigen Ländern des EuroRaums ist hausgemacht. Strukturreformen und Eigenverantwortung sind der Schlüssel zur Überwindung der Krise. Gerade die EZB-Politik, also auch die solidarische Haltung der Euro-Partner und die Euro-Rettungspolitik, trägt im Übrigen massiv zur Erhöhung des deutschen Außenhandelsüberschusses bei. Der Euro verlor durch die EZB-Zinspolitik im letzten Jahr über 10 Prozent seines Wertes. Dadurch wird natürlich die Preisattraktivität deutscher Waren im Ausland gesteigert. Ebenso trägt der niedrige Ölpreis zu geringeren Importausgaben und dadurch natürlich auch zu höheren Überschüssen bei. Das Jahresgutachten des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Lage betont im Übrigen ausdrücklich, dass keine Maßnahmen ergriffen werden sollten, die allein darauf abzielen, den deutschen Leistungsbilanzüberschuss zu reduzieren. Vielleicht lesen Sie sich das auch einmal durch. Sie schreiben - und Sie sagten es auch gerade -, dass Deutschland gegen das Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft von 1967 verstößt. Professor Feld, Leiter des Walter-Eucken-Instituts an der Uni Freiburg, wähnt hingegen Deutschland so nah am magischen Viereck aus hoher Beschäftigung, angemessenem Wirtschaftswachstum, stabilem Preisniveau und außenwirtschaftlichem Gleichgewicht wie noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik. Es handelt sich also wieder einmal um einen Versuch der Geschichtsfälschung durch Sie. ({3}) Sie bemängeln in Ihrem Antrag die zu geringe Binnennachfrage. Wir hatten 2014 einen Bruttolohnzuwachs von 3,2 Prozent und einen Reallohnzuwachs von 1,6 Prozent. Das ist die größte Zunahme seit 2010. Auch die verfügbaren Einkommen sind erheblich gestiegen. Die Zahl der Beschäftigten steigt in 2015 voraussichtlich um 170 000. Damit stehen wir vor einem erneuten Beschäftigungsrekord. 2015 werden 42,8 Millionen Menschen erwerbstätig sein. Das sind so viele wie noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik. Auch darauf können wir stolz sein. Mehr als 3,5 Millionen Menschen haben seit 2005 einen sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplatz aufgenommen. Deutschland hat im Hinblick auf die Europa2020-Ziele in den Bereichen Beschäftigung, Bildung und Armutsbekämpfung alle Zielwerte übererfüllt. So lag die Erwerbstätigenquote für die 20- bis 64-Jährigen mit 78,1 Prozent in 2004 deutlich über der Zielmarke von 75 Prozent. Die Zahl der Langzeitarbeitslosen ist zwischen 2008 und 2012 um 40 Prozent gesunken. Besonders stark stieg dabei der Anteil der Beschäftigung von ausländischen Mitbürgern. Diese trugen im letzten Jahr zu annähernd 40 Prozent des Beschäftigungswachstums bei, im Übrigen ganz ohne Einwanderungsgesetz. Für dieses Jobwunder brauchen wir auch weiterhin einen flexiblen und aufnahmefähigen Arbeitsmarkt. Trotz der hohen Flexibilität unseres Arbeitsmarktes stieg das Vertrauen in die Jobsicherheit auf ein Rekordniveau. 91 Prozent der Arbeitnehmer halten ihren Arbeitsplatz für sicher. Flexibilität und Vertrauen müssen also kein Gegensatz sein. Mit Ihrem Antrag würden wir all das für die Menschen in Deutschland Erreichte aufs Spiel setzen. Deshalb lehnen wir ihn ab. Herzlichen Dank. ({4})

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000305

Vielen Dank. - Als nächster Redner hat Dr. Strengmann-Kuhn von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort.

Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003888, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist wirklich erschreckend, wie stark die wirtschaftliche Kompetenz der Union in den vergangenen Jahren gesunken ist. ({0}) Ich habe selten so viel ökonomischen Unsinn in einer Rede gehört wie gerade eben. Deswegen will ich versuchen, das Problem der außenwirtschaftlichen Ungleichgewichte zu beschreiben. ({1}) In der Tat steht es ja nicht grundlos im Stabilitäts- und Wachstumsgesetz der damaligen Großen Koalition. Man muss sich vorstellen, was passiert, wenn man permanent mehr produziert als konsumiert - das heißt außenwirtschaftliches Ungleichgewicht -, für eine Firma, für eine Person oder für einen Landwirt. Es ist ökonomisch nicht gesund, wenn man mehr produziert, als man selber konsumieren kann. Man scheffelt immer nur mehr Vermögen, aber das macht nur dann Sinn, wenn man das Vermögen irgendwann wieder aufbraucht und in Konsum umsetzt. Dauerhafter Überschuss ist ökonomisch nicht sinnvoll, und er ist nicht gut für eine Volkswirtschaft. Das sollten Sie einsehen. Der zweite Punkt ist, dass man auch die andere Seite betrachten muss. Wenn wir einen Überschuss haben, dann geht es rechnerisch gar nicht anders, als dass es auf der anderen Seite ein genauso hohes Defizit gibt. Deswegen müssten in der Europäischen Union die Grenzen für Überschuss und Defizit eigentlich gleich hoch sein, weil es rein rechnerisch auch das Gleiche ist. Aber mit dem Rechnen haben Sie offensichtlich Schwierigkeiten. Weil Vermögen auf der einen Seite immer das Defizit auf der anderen Seite ist, bedeutet das: Wenn wir hier Vermögen aufbauen und dafür bei den anderen ein Defizit entsteht, also mehr konsumiert als produziert würde, dann ist das ein Problem, das Sie auch mit Blick auf Griechenland kritisieren. Die Menschen in Griechenland haben über ihre Verhältnisse gelebt, während wir unter unseren Verhältnissen gelebt haben. Die Folge eines Defizits ist Verschuldung. Unsere Güter werden dadurch bezahlt, dass anderswo Schulden aufgehäuft werden. Insofern hat Herr Schlecht recht, wenn er sagt, dass dies eine der Ursachen der Krise ist, in der wir uns im Moment befinden. Auf diese Problematik haben wir schon des Öfteren in Anträgen hingewiesen. Ich muss allerdings sagen, dass ein reiner Fokus auf die Löhne zu einfach ist. ({2}) Die Betrachtung muss hier breiter ausfallen. Es ist sicherlich richtig: Die Ausweitung des Niedriglohnsektors ist ein Problem. Das war zwar ein Ziel der Agenda 2010. Aber man muss deutlich sagen: Das war ein Fehler. ({3}) Das ist, wie gesagt, nur eine von mehreren Ursachen. Im Zusammenhang mit der Agenda 2010 sage ich: Die Flexibilisierung war durchaus richtig. Viele wichtige Leute in der Fraktion, etwa der damalige sozialpolitische Sprecher, der vorne sitzt, haben schon damals einen Mindestlohn gefordert. Der damalige Umweltminister hatte parallel zur Einführung der Agenda 2010 einen Mindestlohn gefordert. Auch unser Parteivorsitzender in der Zeit der rot-grünen Regierung, Reinhard Bütikofer, hat damals einen Mindestlohn gefordert. Das wäre eine notwendige flankierende Maßnahme zur Agenda 2010 gewesen. Auch bei der Deregulierung sind wir ein Stück zu weit gegangen. Wir haben in den letzten Jahren viele Vorschläge vorgelegt, wie man diese Deregulierung nicht komplett zurückdreht, sondern sie verbessert. Deswegen haben wir sowohl die Einführung des Mindestlohns als auch das Tarifautonomiestärkungsgesetz unterstützt. Das waren beides Forderungen, die wir seit Jahren erheben. ({4}) Wir sind dabei noch lange nicht am Ende. Wir sind für die Abschaffung der sachgrundlosen Befristung. Wir sind für Maßnahmen gegen den Missbrauch von Werkverträgen. Aber am Beispiel Leiharbeit kann man den Unterschied zwischen uns Grünen und Ihnen von der Linksfraktion deutlich machen. Wir halten die Leiharbeit für ein wichtiges Instrument, um den Unternehmen mehr Flexibilität zu ermöglichen. Sie wollen die Leiharbeit abschaffen. Wir wollen Flexibilität ermöglichen. Gleichzeitig aber müssen Leih10470 arbeiter fair bezahlt werden. Das heißt Equal Pay ab dem ersten Tag, nicht erst, wie es die Große Koalition vorhat, nach neun Monaten. Equal Pay muss ab dem ersten Tag gelten, verbunden mit dem Flexibilitätsbonus. Dann wäre es ein vernünftiges und flexibles Instrument mit entsprechender sozialer Sicherheit. ({5}) Es fehlen in Ihrem Antrag ganz viele wichtige Punkte.

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000305

Herr Strengmann-Kuhn, lassen Sie eine Zwischenfrage zu?

Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003888, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja, gerne.

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000305

Bitte.

Alexander Ulrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003858, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Kollege Strengmann-Kuhn, Sie haben eben am Beispiel Leiharbeit den Unterschied zwischen Bündnis 90/Die Grünen und der Linken dargestellt. Ich frage Sie: Worin bestünde denn der Unterschied zwischen uns, wenn all das, was Sie als Vorteil bezeichnen, durch sachlich begründete Befristungen möglich wäre? Läge dann nicht der Unterschied darin, dass diejenigen, die unter einen Tarifvertrag fielen, eine vernünftige, gleiche Bezahlung erhielten? ({0})

Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003888, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich möchte jetzt ein Stück weit grundsätzlich werden. Erinnern wir uns an den Arbeitsmarkt in Deutschland vor 15 oder 20 Jahren. Dieser Arbeitsmarkt war einer der am stärksten regulierten Märkte in Europa mit den entsprechenden Problemen. Deswegen war, wie gesagt, die Flexibilisierung an dieser Stelle richtig. Es war auch vernünftig, verschiedene Möglichkeiten der Flexibilisierung einzuführen. Das gilt auch für Befristungen, die unseres Erachtens begründet werden müssen. Deswegen fordern wir die Abschaffung der sachgrundlosen Befristung. Auch die Leiharbeit kann sowohl für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer als auch für die Unternehmen eine gute Wahl sein. Das hängt von der ökonomischen Situation und auch von der Person ab. Es gibt durchaus Leiharbeitnehmerinnen und -arbeitnehmer, insbesondere besser verdienende - das gebe ich zu -, die es sehr sinnvoll und auch spannend finden, in verschiedenen Betrieben zu arbeiten. Wie gesagt, diese Tätigkeit muss dann auch entsprechend bezahlt werden. Weil das eher eine höhere Qualifikation erfordert, sagen wir, dass es an dieser Stelle einen Flexibilitätsbonus geben müsste. Nun zu den Punkten, die in Ihrem Antrag fehlen. Da meine Redezeit langsam abläuft, kann ich nur noch Stichworte nennen. Wenn wir die Exportüberschüsse abbauen wollen, dann heißt das nicht, dass wir die Exporte reduzieren wollen, sondern wir wollen die Importe steigern. Das heißt, wir brauchen Umverteilung und in der Tat mehr Nachfrage. Das betrifft aber nicht nur die Löhne, sondern wir müssen insbesondere geringe Einkommen stärken durch bessere Armutsbekämpfung. Wir müssen die Grundsicherung verbessern, wir müssen den Regelsatz erhöhen, und wir müssen die Kinderarmut bekämpfen. Es ist ein Skandal, dass Kinder bei uns immer noch ein Armutsrisiko sind. Wir müssen dafür sorgen, dass sowohl abhängig Beschäftigte als auch Selbstständige von ihrer Arbeit leben können. Das sind Punkte, die neben der Lohnarbeit bewirken, dass durch sie die Nachfrage steigen würde. Wir müssen auf der anderen Seite auch eine Umverteilung am oberen Ende der Skala betrachten. Wir müssen vor allen Dingen hohe Vermögen stärker besteuern. Was in Ihrem Antrag komplett fehlt, ist die europäische Ebene. Darüber könnte ich weitere fünf bis zehn Minuten reden. Wir brauchen eine europäische Koordinierung der Wirtschafts- und Lohnpolitik. Das Europäische Semester und die Punkte, die darin schon enthalten sind und noch verbessert werden könnten, fehlen in Ihrem Antrag komplett. Darüber könnte man noch lange reden. Wenn man dies zusammenfasst, dann würde ich sagen: Die Probleme sind durchaus richtig beschrieben, die Forderungen in Ihrem Antrag sind aber völlig platt. Teilweise wird das Kind mit dem Bade ausgeschüttet.

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000305

Herr Strengmann-Kuhn, Sie müssen zum Schluss kommen.

Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003888, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Zentrale Punkte fehlen. So wird das noch nichts mit der Regierungsfähigkeit, aber das kommt vielleicht noch. ({0})

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000305

Vielen Dank. - Als nächster Redner hat Dr. HansJoachim Schabedoth von der SPD-Fraktion das Wort. ({0})

Dr. Hans Joachim Schabedoth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004394, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Stellen Sie sich einmal folgende Szene vor: Das Kind kommt mit dem Stolz aus der Schule heim, die beste Klassenarbeit geschrieben zu haben, doch die Eltern wollen diesen Stolz nicht teilen. Sie beklagen auch noch, das eigene Kind habe durch seine Spitzenleistung die Messlatte für die Arbeitsleistung aller anderen nach oben verschoben. Nach der Lektüre des vorliegenden Antrags der Linkspartei frage ich mich: Hatten Sie solche Eltern? ({0}) - Trotzdem, damit müssen Sie fertigwerden. - Ihre Sorge finde ich schon ein wenig verwunderlich. Warum sind es ausgerechnet die Exporterfolge der deutschen Wirtschaft, die Sie heute zum Anlass nehmen, um Ihre im Parlamentswochenrhythmus übliche Alarmismussirene erschrillen zu lassen? Was stört Sie an den deutschen Exporterfolgen? Sie behaupten, diese Exportüberschüsse seien maßgeblich auf das Lohndumping in Deutschland zurückzuführen. Das ist nicht nur ein schlechtes Argument, das ist ein sehr schlechtes Argument. Das kann man nicht ernst nehmen, und Sie werden sich schon fragen lassen müssen, ob Sie noch recht bei Trost sind, wenn Sie mit abgebauten Exportüberschüssen eine Wende in der Lohnpolitik einleiten wollen. ({1}) Eine solche Wende gäbe es tatsächlich, und zwar Richtung Südpol. ({2}) Die deutsche Wettbewerbsfähigkeit beruht keineswegs auf Lohndumping. Wer das sagt, der erzählt Unsinn. Gerade die Arbeitskosten in der Exportindustrie liegen in der Spitzengruppe. Die Löhne tun dies auch. Die deutschen Exporterfolge erklären sich durch die Fähigkeit, im Qualitätswettbewerb mit den Konkurrenten besser zu sein. ({3}) Spezialisierte Kundenwünsche können passgenauer erfüllt werden. Im globalen Innovationswettbewerb verfügt die deutsche Wirtschaft über eine fast einmalige Basis an gut ausgebildeten Fachkräften. Wir haben in Deutschland eine breit aufgestellte, mittelständisch geprägte Produktionsbasis, die im internationalen Wettbewerb ihre Innovationsführerschaft und ihre Einzigartigkeit bislang noch - ich komme noch darauf zurück behaupten konnte. ({4}) Deshalb werden gerade in der deutschen exportorientierten Industrie Spitzeneinkommen gezahlt, die sich auch im europäischen Vergleich sehen lassen können. Wieso reden Sie hier von Billiglöhnen? Von Billiglöhnen zu sprechen, ist wirklich dummes Zeug, oder - wenn Sie es höflicher haben wollen - kontrafaktisch. Ich kann den Antragstellern nur in einem Punkt folgen. Es wäre in der Tat keine gute Situation, wenn sich der Wohlstand eines Landes auf Dauer nur auf seine Exporterfolge stützen würde. Stabiles Wachstum und nachhaltige Sicherung des sozialen Fortschritts sowie der ökonomischen und ökologischen Erfolge kann es ohne eine Vitalisierung der Binnennachfrage und hinreichende Investitionen in die soziale und die industrielle Infrastruktur nicht geben. Das ist relativ unstrittig. Der Antrag der Linksfraktion liefert dazu keine Offenbarung, sondern strapaziert eine Binsenweisheit, die zudem mit mangelhaften Schlussfolgerungen behaftet ist. Sie bieten uns nichts, was uns in der Sache weiterhelfen könnte. Sie können doch nicht wirklich erwarten, dass deutsche Politiker dazu aufrufen: Völker dieser Welt, kauft weniger Güter aus deutscher Produktion und deutsche Dienstleistungen, damit unsere Handelsbilanz wieder in Ordnung kommt. ({5}) Sollen wir denn dem deutschen Konsumenten wirklich empfehlen, statt Autos aus der inländischen Produktion lieber die Wagen aus China, Indien oder Griechenland zu kaufen? Wenn sich die deutschen Exporterlöse vermindern, weil beispielsweise die Sanktionen gegen Russland greifen, dann mag das noch in Ihr falsches Konzept passen; denn auch das verändert die Handelsbilanz. Aber was Ihr Votum zur Steigerung der Binnennachfrage betrifft, hätten Sie Ihre Argumente aus schwarz-gelben Regierungszeiten besser den Realitäten von heute angepasst.

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000305

Herr Schabedoth, lassen Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Ernst zu? - Ich will in diesem Zusammenhang nur darauf hinweisen, dass nach jetzigem Stand die Debattenzeit bis 23 Uhr dauert. Ich bitte, das ein bisschen im Blick zu haben, wenn es um die Entscheidung geht, ob eine Zwischenfrage gestellt werden soll oder nicht. Ich glaube, es wäre nicht gut, wenn wir hier um 23 Uhr mit nur noch vier oder fünf Kollegen sitzen würden. Ich bitte, das ein bisschen im Blick zu haben.

Dr. Hans Joachim Schabedoth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004394, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Bei meiner Debattenzeit liege ich bei fünf Minuten. Ich will die mir verbleibenden sechs Minuten nicht ganz ausschöpfen.

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000305

Dann lassen Sie es.

Dr. Hans Joachim Schabedoth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004394, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Aber vielleicht provoziert mich Herr Ernst dazu, meine gesamte verbleibende Redezeit in Anspruch zu nehmen.

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000305

Herr Ernst.

Klaus Ernst (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003753, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Lieber Achim, da wir uns 30 Jahre kennen, bleibe ich beim Du. Vorhin wurde das Stabilitätsgesetz erwähnt. Dieses Gesetz wurde damals nicht von den Linken im Bundestag beschlossen - wir waren damals gar nicht da10472 bei -, sondern von den Sozialdemokraten und der CDU/ CSU einschließlich Herrn Strauß, die offensichtlich in Kenntnis dessen, was ökonomische Ungleichgewichte weltweit und für das jeweilige Land bedeuten, zu dem Ergebnis gekommen sind: Es ist Ziel staatlicher Wirtschaftspolitik, ausgeglichene Handelsbilanzen zu erreichen. - So steht es in diesem Gesetz. Waren all diejenigen, die das Gesetz beschlossen haben, nach deiner Ansicht Trottel? Genau das schließe ich aus deinem Diskussionsbeitrag. Dass in der Exportindustrie die höchsten Löhne gezahlt werden, ist sicherlich unstrittig; so schlau sind wir auch. Aber die Lohnentwicklung in der Bundesrepublik Deutschland hat nach 14 Jahren Stagnation letztendlich dazu beigetragen, dass die Binnennachfrage so gering war, dass wir weniger im Ausland kaufen konnten und die Defizite der anderen Länder verursacht haben. Ein außenhandelswirtschaftliches Gleichgewicht bedeutet doch, dass man so viel importiert, wie man exportiert; das gilt auch für die Leistungsbilanz. Genau das findet in der Bundesrepublik Deutschland nicht statt. Angesichts dessen könnte man zu dem Ergebnis kommen - genau das hat der Kollege Schlecht angesprochen -, dass wir unsere Importe durch eine entsprechende Lohnpolitik so weit befördern müssen, dass wir wieder zu einem wirtschaftlichen Gleichgewicht kommen. Oder bist du der Auffassung, dass dieses Ziel im Stabilitätsgesetz über Bord geworfen werden muss? Dann würde ich die Regierung aber bitten, ein entsprechendes Gesetz einzubringen; denn noch gilt das Stabilitätsgesetz. ({0})

Dr. Hans Joachim Schabedoth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004394, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Kollege Ernst, das Stabilitätsgesetz enthält mehrere Komponenten. Dort steht unter anderem, dass die staatliche Politik Sorge tragen muss, dass Vollbeschäftigung ({0}) und eine auskömmliche Preisstabilität herrschen. Das alles muss man miteinander verbinden. Das macht die Kunst des Regierens aus. Dass man bei einem Parameter unter der Zielmarke liegt und bei einem anderen Parameter darüber, ergibt sich aus der Dynamik des sogenannten magischen Vierecks. Ausgerechnet Sie thematisieren zwar die Leistungsüberschüsse, nicht aber die Tatsache, dass es noch immer 2 Millionen Arbeitslose gibt. Das verwundert mich; denn unsere Leistungen auf dem Arbeitsmarkt hängen auch damit zusammen, dass die Waren, die wir produzieren, internationale Wertschätzung erfahren. So werden die Kapazitäten der deutschen Wirtschaft ausgelastet und Arbeitsplätze in unserem Land gesichert. - Wenn Sie sich wieder hinsetzen, kann ich noch weitere Ausführungen dazu machen. Ich habe noch vier Minuten Redezeit. Kollege Ernst und alle, die zuhören: Starke Gewerkschaften und einsichtsvolle Arbeitgeber haben mit ihren letzten Lohnabschlüssen der Binnenkonjunktur erheblichen Auftrieb verschafft. Das kann man doch wohl sagen. Das relativ stabile Preisniveau hat die Masseneinkommen noch nachfragewirksamer gemacht. Man mag es für ökologisch bedenklich halten, aber die gesenkten Ausgaben für unsere Importe von Erdöl haben die Binnennachfrage zusätzlich belebt, aber die Bilanz verschlechtert. Nicht zuletzt hat der von uns realisierte Mindestlohn Millionen Menschen in diesem Jahr die größte Einkommensverbesserung ihres bisherigen Berufslebens gebracht. Was das millionenfach für den Binnenmarkt bedeutet, dazu will ich nicht wiederholen, was von sozialdemokratischer Seite schon bei vielen anderen Debattenanlässen gesagt worden ist. Aber noch ein Wort zur Belebung der öffentlichen Investitionstätigkeit. Auch in dieser Beziehung gilt eigentlich nie: Genug ist genug. Man kann immer noch mehr tun. Aber was schon getan worden ist, ist mehr als nichts und kann sich jedenfalls sehen lassen. Kritik scheint mir hier nur ratsam, wenn es nach dem Muster geht: Das noch Bessere ist stets der Feind des schon Guten. Das gilt im Übrigen auch für die Einkommen der abhängig Beschäftigten. Sie verdienen wirklich jeden Euro mehr. Aber - das ist meine Mahnung an die Linkspartei - überlassen wir es doch weiterhin den Tarifvertragsparteien, dazu das richtige Maß von Branche zu Branche zu finden. ({1}) Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber ich vertraue hier den Tarifvertragspartnern und ihrer Regulierungskompetenz mehr als jeder Beschlussvorlage der Linkspartei. ({2}) Was an rechtlichen Rahmensetzungen notwendig ist, um die Tarifbindung zu sichern, das werden wir immer wieder gerne, auch ohne Ihre Mahnung, auf die Höhe der Zeit bringen. Vergessen Sie nicht: Jedes Mehr an Einkommen muss irgendwann einmal verdient oder umverteilt werden - das ist alles nicht so einfach -, bevor es nachfragewirksam werden kann und vielleicht auch - auch das ist kein Gesetz - importstimulierend zur Geltung kommen könnte. Der vorliegende Antrag und seine Begründung ignorieren, dass über deutsche Wettbewerbsfähigkeit und Arbeitsplatzsicherheit nicht im Kosten-, sondern im Qualitätswettbewerb entschieden wird. Jeder deutsche Exportverlust schlägt in der europäisch verflochtenen Wirtschaft auf die europäischen Partner zurück. Die Wende in der Lohnpolitik ließe sich dann wohl noch schwerer realisieren. Die eigentlichen Gefahren für den deutschen und europäischen Wohlstand sowie für außenwirtschaftliche Stabilität verkennen Sie. Die liegen darin, dass wir geopolitische Unsicherheiten haben. Das Welthandelsvolumen ist schon seit Anfang dieses Jahres reduziert. Die Bremsspuren merken Sie auch beim deutschen Export. Das ist keine gute Entwicklung. Die von Ihnen so vehement kritisierte aktuelle Exportstärke ergibt sich nie im Selbstlauf. Dazu will ich noch einen Gedanken äußern. Die einzigartige deutsche Wertschöpfungskette zwischen traditionsreichen und zugleich modernen, wissensbasierten Industrien könnte zerreißen. Statt uns über aktuelle Exporterfolge aufzuregen, sollten wir doch lieber gemeinsam darüber nachdenken, wie wir durch das staatliche Engagement, am besten in europäischen Absprachen, die deutsche Leistungsfähigkeit bei der Energiewende ausbauen und besser nutzen können. Es stellt sich auch die Frage: Was muss heute getan werden, um die ökologische und soziale Nachhaltigkeit der industriellen Produktion zu fördern und zu verbessern? Wirtschaftsminister Gabriel muss man dabei nicht zum Jagen tragen. Das wäre auch etwas schwer. ({3}) Er hat zusammen mit den Industriegewerkschaften und den Wirtschaftsverbänden ein Bündnis für Industrie ins Leben gerufen. Ziel dieses Bündnisses ist es, die Wandlungsprozesse der modernen Arbeitswelt so zu fördern und zu gestalten, dass gutes Arbeiten und gutes Leben ein festes Fundament finden, statt zu erodieren. Allen Akteuren ist dabei hoffentlich vor Augen, dass das auch mehr Teilhabe der abhängig Beschäftigten an den Entscheidungsprozessen und an den Produktionsergebnissen bedeutet. Noch hat die deutsche Industrie beste Voraussetzungen, den Klimawandel zu bewältigen, Energie- und Ressourceneffizienz zu steigern, moderne Übertragungsnetze und Infrastrukturen aufzubauen und die gesamte Industriestruktur ökologisch und zukunftstauglich zu machen. Noch ist die deutsche Industrie in der Poleposition bei der Nutzung der Chancen, die uns mit der weiteren Digitalisierung bei der Produktion von Gütern und Dienstleistungen ins Haus stehen. Die aufgelaufenen Investitionsdefizite, die wir alle miteinander zu Recht beklagen, könnten durch nachholendes Engagement noch ausgeglichen werden. Das Ziel, bei der Elektromobilität Antreiber statt Getriebener zu sein, ist immer noch erreichbar - noch. Wer die Arbeitsplätze von morgen sichern will, wer ökonomische mit sozialen und ökologischen Fortschritten verbinden will, der sollte besser nicht über die Exporterfolge der deutschen Wirtschaft jammern. Stattdessen sollten wir alles tun, um unsere wirtschaftliche Leistungsfähigkeit zu erhalten, ({4}) und das nicht nur, um tatsächlich eine Wende in der Lohnpolitik zu ermöglichen, sondern auch, um die europäische Wirtschaft zu stärken - das hängt auch damit zusammen - und in der globalen Wirtschaft als sozial verantwortlicher Akteur gefragt und geschätzt zu bleiben. Diese Chance haben wir. ({5})

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000305

Vielen Dank. - Als letzter Redner in dieser Debatte hat Andreas Lämmel von der CDU/CSU-Fraktion das Wort. ({0})

Andreas G. Lämmel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003796, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Na ja, Herr Schlecht, zumindest habe ich noch keinen Kontakt zur Staatlichen Plankommission gehabt, wo Sie Ihren Vortrag vielleicht hätten halten können. - Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Kollege Schabedoth hat es eigentlich schon deutlich gemacht: Deutschland ist wieder Exportweltmeister. Das ist eine Leistung, auf die wir stolz sein können. Das ist eine Leistung der deutschen Wirtschaft. Daran gibt es erst einmal überhaupt nichts schlechtzureden. ({0}) Man darf nicht vergessen: 25 Prozent aller Arbeitsplätze in Deutschland hängen vom Export ab, Herr Schlecht. Wenn Sie den Export jetzt sozusagen künstlich zurückschrauben wollen, dann müssen Sie eben auch den Arbeitnehmern klarmachen, dass ein paar weniger von ihnen die Möglichkeit haben, arbeiten zu gehen, weswegen sie zu Empfängern staatlicher Transferleistungen werden. Es ist eine widersinnige Rechnung, die Sie hier aufmachen. 340 000 Unternehmen in Deutschland exportieren. Circa 680 000 Unternehmen in Deutschland importieren. Man kann sehen: Das Exportgeschäft umfasst nicht bloß zehn große Konzerne, sondern ist ein Qualitätsmerkmal der breit aufgestellten deutschen Wirtschaft. Die Exportquote unserer Produkte liegt bei ungefähr 40 Prozent. Das heißt, 60 Prozent der bei uns hergestellten Produkte werden im Inland verbraucht, 40 Prozent gehen ins Ausland. Meine Damen und Herren, trotz dieser Exportstärke und obwohl wir wieder Exportweltmeister sind, muss man konstatieren: Der Anteil des deutschen Exports am Welthandel ist rückläufig. Unser Anteil am Welthandel liegt bei 7,8 Prozent, also bei knapp 8 Prozent. Das waren einmal über 11 Prozent, und zwar 1991. Das ist also noch keine 25 Jahre her. ({1}) Man kann sehen: Das Handelsvolumen in der Welt insgesamt dehnt sich immer mehr aus. Obwohl wir Exportweltmeister sind, geht unser Anteil am Welthandel insgesamt zurück. Das Hauptproblem aus meiner Sicht ist eigentlich die Statistik. Wie wird die Statistik denn aufgestellt? Darauf sind Sie überhaupt nicht eingegangen, obwohl Sie meinen, Sie seien Wirtschaftswissenschaftler, Herr Schlecht. Sie wissen natürlich genau, dass die alte Exportstatistik eine Statistik ist, die man vielleicht vor 40 Jahren erfun10474 den hat, als man die Prozesse noch relativ genau beschreiben konnte. Heute gibt es verschiedene Effekte, die in diese Statistik bisher überhaupt nicht eingegangen sind. Das ist zum einen der Globalisierungseffekt. Ich will es einmal an dem sogenannten Veredelungseffekt deutlich machen. Deutschland kauft weltweit Rohstoffe, weil es, wie Ihnen vielleicht bekannt ist, ein relativ rohstoffarmes Land ist. Wir machen daraus Produkte, veredeln diese Rohstoffe sozusagen und verkaufen natürlich zu einem Preis, der höher ist als der, zu dem die Rohstoffe eingekauft worden sind; denn diese Produkte sind ein Ergebnis unserer gesamten Wertschöpfung. Schon gibt es im Prinzip einen Exportüberschuss. So einfach ist die Rechnung. Ich komme auf den sogenannten Intra-Firm Trade zu sprechen. Dabei geht es um die Verrechnung von Leistungen innerhalb von Konzernen. Das wird ja am Beispiel der Flugzeug- oder der Automobilindustrie ganz besonders deutlich. Da werden im Prinzip innerhalb des Konzerns Teile mehrmals über die Grenzen geschickt, in verschiedenen Verarbeitungszuständen, in verschiedenen vormontierten Einheiten. Jedes Mal sind das Leistungen, die in die Exportstatistik eingehen. Der Witz an der ganzen Sache ist dann - das ist die Grundlage für die statistische Berechnung -, dass in dem Land, wo der letzte wesentliche Bearbeitungsgang erfolgte, das Produkt zu 100 Prozent in die Statistik eingeht. In der Automobilproduktion geht sozusagen jedes Fahrzeug, das beispielsweise in Wolfsburg fertiggestellt wird - dabei ist es ganz egal, ob die Plattform aus Bratislava geliefert wird, ob die Teile aus Mladá Boleslav oder aus Spanien kommen -, letztendlich bei uns in die Statistik ein. Schon allein an dieser Behandlung der Austauschprozesse zwischen den einzelnen Ländern können Sie sehen, dass die Statistik in Wirklichkeit nur noch in Teilen aussagekräftig ist. ({2}) Wenn Sie einmal weitergeschaut hätten, Herr Schlecht, dann hätten auch Sie das festgestellt. Aber es geht Ihnen ja nicht darum, eine sachliche Aufklärung zu betreiben, sondern darum, Ihre Parolen zu verkaufen. Das hat Herr Schabedoth eins a seziert. Daran konnte selbst Herr Ernst mit seiner langen Frage nichts mehr ändern. Handel führt insgesamt - es gilt ja, wie Sie wissen: ist der Handel noch so klein, bringt er immer etwas ein - zu steigendem Wohlstand in der Welt; das müssen wir erst einmal festhalten. Deswegen sind wir natürlich auch stark an weltweitem freien Handel interessiert. Nun sagen Sie: Der Exportüberschuss ist maßgeblich auf Lohndumping zurückzuführen. Herr Schabedoth hat schon ausführlich darauf geantwortet. Ich will Ihnen einmal sagen: 53 Prozent der Überschüsse in der Exportstatistik entfallen auf fünf Länder. Welche sind das? Der größte Exportüberschuss wird gegenüber der USA erwirtschaftet - eines der ärmsten Länder der Welt; die werden an den Krediten, die sie uns da geben müssen, fast pleitegehen. Dann kommen an zweiter Stelle das Vereinigte Königreich, an dritter Stelle Frankreich und an vierter Stelle Österreich. Die Vereinigten Arabischen Emirate sind das Land mit dem fünfgrößten Exportdefizit gegenüber Deutschland. Die Länder, die Sie uns einreden wollen - Griechenland, Spanien und Portugal -, fallen in der Exportstatistik überhaupt nicht ins Gewicht, weil deren Handelsvolumen so gering ist. Weil die griechische Wirtschaft so schwach ist, exportiert sie kaum. Das ist doch ein Grund, warum in Griechenland der Staatsbankrott vor der Tür steht. Wenn man sich mehr leistet, als erwirtschaftet werden kann, dann kann man das nur über Kredite finanzieren, aber nur so lange, wie ihnen noch jemand etwas gibt. Insofern steht auch diese Argumentation auf völlig wackligen Beinen. Dann steht in Ihrem Antrag: „Es besteht dringender Handlungsbedarf, die Überschüsse … zu reduzieren.“ Da kommen wir dann wieder auf die DDR. Das heißt also, Sie wollen Quoten verordnen. Sie sagen dann den 340 000 exportierenden Betrieben: Ihr baut jetzt 10 Prozent der Beschäftigten ab; denn ihr müsst euren Export um 10 Prozent reduzieren. - Das ist doch die Logik, die aus Ihrem Antrag resultiert. Das ist so absurd, dass man nur sagen kann: Dass wir diese Anträge hier nun zum wiederholten Mal diskutieren müssen, ist eigentlich vertane Zeit. Vielleicht ist Ihnen eines in der Exportstatistik auch nicht aufgefallen: Wenn Sie sich die genau anschauen, dann werden Sie feststellen, dass der Überschuss zum Beispiel schon deswegen stark schwankt, weil den größten Posten in der Importstatistik Deutschlands die Energieimporte ausmachen, also Gas und Öl. Und mit jeder Preisänderung, ohne dass sich da ganz grundsätzlich etwas ändert, ändert sich zum Beispiel der importierte Wert und der Überschuss wird größer oder kleiner. Insofern ist dieser Antrag überflüssig, ({3}) und wir brauchen, Herr Schlecht, das auch nicht zum fünften Mal zu diskutieren. Ich glaube, wir sind uns hier in der Koalition einig - Herr Schabedoth hat es noch einmal deutlich gemacht -: Wir sind stolz darauf, was in Deutschland geleistet wird, und wir werden alles tun, damit diese Exportkraft erhalten bleibt. Vielen Dank. ({4})

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000305

Liebe Kolleginnen und Kollegen, damit schließe ich die Debatte. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 18/4837 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall, und die Überweisung ist so beschlossen. Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung und Landwirtschaft ({0}) - zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD Gesunde Ernährung stärken - Lebensmittel wertschätzen - zu dem Antrag der Abgeordneten Karin Binder, Caren Lay, Dr. Dietmar Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Gute Lebensmittel für eine gesunde Ernährung - zu dem Antrag der Abgeordneten Nicole Maisch, Friedrich Ostendorff, Harald Ebner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Gute Ernährung für alle Drucksachen 18/3726, 18/3730, 18/3733, 18/5008 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. Gibt es dazu Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin in der Aussprache hat die Kollegin Katharina Landgraf von der CDU/CSU-Fraktion das Wort. ({1}) Warten Sie bitte noch einen Moment, bis alle Kolleginnen und Kollegen Platz genommen haben und Ruhe eingekehrt ist. - Bitte, Frau Landgraf.

Katharina Landgraf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001278, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer auf den Tribünen! Mit Genehmigung der Präsidentin darf ich besonders die Zuhörer aus meinem Wahlkreis begrüßen. Es passiert mir zum ersten Mal, dass Besucher aus meinem Wahlkreis bei einer Rede von mir anwesend sind. Also schön, dass ihr da seid! ({0}) Jetzt zum Thema: Grundsätzliche und umfangreiche Erläuterungen zu dem Debattenthema „gesunde Ernährung“ will ich uns hier ersparen; denn wir haben in diesem Hohen Hause schon mehr als genug darüber diskutiert und auch gestritten. Wir beschließen heute über den Antrag der Koalitionsfraktionen, dem durchaus alle Abgeordneten zustimmen könnten. Denn wir alle wollen - das will jeder auf seine Weise und aus seinem Blickwinkel -, dass stärker auf gesunde Ernährung geachtet und der Wert der Lebensmittel mehr geschätzt wird. Nur der Weg dorthin wird unterschiedlich interpretiert und dementsprechend grundverschieden gestaltet. Meine Damen und Herren, wir als Union wollen das Ziel ganz gewiss nicht auf einer Woge neuer Paragrafen und Verbote erreichen. Verbote sind nicht hilfreich, weder für die Produzenten noch für die Verbraucherinnen und Verbraucher. ({1}) Denn wir alle wissen: Verbote provozieren nur die Kreativität, sie zu umgehen. Außerdem ist Ernährung doch für jeden einzelnen Menschen eine Existenzfrage. Es ist seine persönliche Angelegenheit, die er mit seinem eigenen Verstand erfassen und bewältigen muss. Das gilt auch für die Genussfrage: Es ist gut, wenn man weiß, wie viel man sich gönnen kann, um zum Beispiel auch einmal ohne Reue etwas Süßes zu genießen. Jeder Einzelne sollte also motiviert werden, für sich und seinen Körper das Beste zu tun, und sollte frei entscheiden können, was das ist. Das ist also eine Sache des Bewusstseins und des Wissens. Hier liegt der Handlungsansatz für die Politik. Wir wollen, dass die Bürger freie Entscheidungen für eine gesunde Lebensweise treffen. ({2}) Dazu brauchen wir in unserem Land eine ganz bestimmte Atmosphäre und gesellschaftliche Leitbilder für eine bewusste Lebensführung; denn der Zusammenhang zwischen falscher Ernährung und der Entstehung ernährungsbedingter Krankheiten muss jedem klar sein - in der Öffentlichkeit und besonders auch an den Stammtischen in unserem Land. Diese Kausalität kann in einer großen Vielfalt und allgemeinverständlich in den Medien sowie in Bildung und Erziehung - meinetwegen auch gebetsmühlenartig - dargestellt werden. Dahinter steht nicht nur ein zutiefst humanitäres Anliegen. Es geht dabei auch um klare, berechenbare Fakten, nämlich um die Kosten, die durch ernährungsbedingte Krankheiten entstehen. Diese Kosten sind ein Problem und ein Thema für die gesamte Solidargemeinschaft. Da kann sich niemand wegducken und nichts davon wissen wollen. Wir sprechen da alle an: die Unternehmen der Ernährungswirtschaft insgesamt und jeden Einzelnen, der für sich und andere Verantwortung trägt. Den Krankenkassen wie auch dem gesamten medizinischen und gesundheitlichen Bereich spreche ich da ohnehin ganz bestimmt aus der Seele. Als Landwirtschaftspolitikerin werbe ich für eine nachhaltigere und effizientere Partnerschaft mit der Gesundheitspolitik. ({3}) Da gibt es ja schon vielfältige Kooperationen, zum Beispiel die Strategien der Initiative IN FORM, deren Umsetzung in Arbeitsteilung zwischen dem Landwirtschaftsministerium und dem Gesundheitsministerium realisiert wird. Da laufen zurzeit verschiedene Projekte in entsprechenden Projektphasen. Hier brauchen wir eine Verstetigung, die wir möglicherweise mit einer ent10476 sprechenden Umsetzung des neuen Präventionsgesetzes erreichen können. Ich hoffe, die beiden Staatssekretärinnen haben zugehört. Es handelt sich übrigens um zwei Staatssekretärinnen aus dem Gesundheitsministerium; das möchte ich meinen Besuchern noch sagen. ({4}) Wir brauchen dazu eine permanente Finanzierung der generationsübergreifenden Aufklärungs- und Bildungsarbeit, die dafür notwendig ist. So etwas erwarten alle Partner, die hier aktiv sind. Und deren Zahl ist groß. Eine wichtige Rolle sollte aus meiner Sicht die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung spielen, beispielsweise in der Partnerschaft mit der Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung. Und: Wir sollten bereits jetzt überlegen, in welcher Weise die seit 2008 laufende nationale Strategie zur gesunden Ernährung nach 2017 zu einem gesamtgesellschaftlich getragenen Prozess umgestaltet werden kann. Wir haben mit diesem Antrag einen Kompass, der den Weg zum Ziel klar aufzeigt. Wir fangen nicht bei null an. Wir haben in den Ministerien weit geöffnete Tore für unser gemeinsames Anliegen, die gesunde Ernährung zu stärken und die Lebensmittel mehr wertzuschätzen. Bei der Wertschätzung der Lebensmittel sind wir schon lange auf einem guten Weg, zum Beispiel mit der Aktion „Zu gut für die Tonne“ - übrigens die meistgenutzte App der Bundesregierung. ({5}) Stimmen Sie also, verehrte Kolleginnen und Kollegen, dem Antrag der Koalitionsfraktionen zu. Vielen Dank. ({6})

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000305

Vielen Dank. - Liebe Kolleginnen und Kollegen, als nächste Rednerin hat die Kollegin Karin Binder von der Fraktion Die Linke das Wort. ({0})

Karin Binder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003738, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren auf den Tribünen! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Über die Hälfte der Erwachsenen und jedes siebte Kind in Deutschland sind übergewichtig. Ein knappes Viertel der Erwachsenen und 6 Prozent der Kinder sind sogar von Fettleibigkeit betroffen. Das erkläre ich hier nicht zum ersten Mal. Das sind die Folgen von zu viel Zucker, Fett und Salz, den Lockmitteln der modernen Lebensmittelindustrie. Das Ergebnis sind dicke Profite und dicke Menschen statt gesunde Ernährung. Und das Übergewichtsproblem nimmt unaufhaltsam zu. Damit nehmen auch Krankheitsbilder wie Diabetes Typ 2, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, aber auch soziale Ausgrenzung und psychische Belastungen zu. Ernährungsbedingte Krankheiten kosten das Gesundheitssystem in Deutschland bald 25 bis 30 Milliarden Euro im Jahr. Wir müssen also feststellen: Die hochgepriesenen Maßnahmen der Bundesregierung blieben bisher völlig wirkungslos. Meine Damen und Herren, mit Broschüren und Informationskampagnen werden wir Übergewicht nicht bekämpfen. ({0}) Herr Minister Schmidt, nehmen Sie das Problem endlich ernst. Statt wirksame Maßnahmen durchzusetzen, lädt die Bundesregierung die Schuld bei den Verbraucherinnen und Verbrauchern ab. Man müsse sich nur richtig ernähren und mehr bewegen, so die Haltung im Hause Schmidt. Die Wirklichkeit aber sieht so aus: fröhlich bunte Frühstücksflocken, die zur Hälfte aus Zucker und Fett bestehen; Kinderfruchtjoghurt, der mehr Zucker enthält als eine Limonade, dafür aber gänzlich frei von Früchten ist; für Zwischenmahlzeiten werben Promis für Süßes und Salziges; im Sportverein fördern Softdrink-Hersteller das nächste Jugendturnier. Für Kinder ist es schwer, sich diesen ständigen Verlockungen zu entziehen. Die Schulkantine bietet leider viel zu oft verkochtes Gemüse, Nudelpampe und lauwarme Kartoffeln und - wie Anfang der Woche bei einer Wallraff-Reportage aufgedeckt wurde - verschimmeltes Obst und Gammelfleisch. Dass nach dem Kantinenfrust jede Werbung für Süßes und Fettes verfängt, ist kein Wunder. Kinder stehen auch nicht ohne Grund im Mittelpunkt der Marketingstrategen. Die am Küchentisch der Eltern erlernten Essgewohnheiten behalten wir oft unser Leben lang. Das überträgt sich auf die Auswahl von Produkten und Marken. Deshalb wird heute auch das Essen in der Familie massiv durch Werbebotschaften beeinflusst. Auch wenn die Kinder schon im Bett sind, werden Eltern, Großeltern und ältere Geschwister weiter bearbeitet, den Kleinen doch mal „was Gutes“ zu gönnen. Damit muss Schluss sein! ({1}) Wir müssen Kinder vor Werbung für dickmachende Produkte schützen. Die Ernährung hat bei Minderjährigen enormen Einfluss auf deren Wachstum und ihre geistige Entwicklung. Ausgewogene Ernährung und gesundes Essverhalten spiegeln sich in besseren Schulnoten und besserem sozialem Verhalten wider. Übergewichtige Kinder fallen beim Sport zurück und werden nicht selten gehänselt und ausgegrenzt. Wenn Spitzensportler für Schokocreme und Chips werben, wird Kindern nicht klar, dass ihre Idole falsche Vorbilder sind, ({2}) da sie einen doppelt so hohen Kalorienbedarf haben wie ihre kleinen Fans. Wir dürfen der Zunahme des Übergewichtsproblems gerade bei Kindern nicht tatenlos zusehen. Die Politik hat die Pflicht, einen guten Start ins Leben durch geKarin Binder sunde Ernährung zu ermöglichen. Dazu muss aber auch die Ernährungswirtschaft in die Schranken verwiesen werden. ({3}) Die Ernährungswirtschaft und die Lebensmittelindustrie reden das Problem klein. In einem Brief der Zuckerindustrie wurden wir Abgeordnete jüngst darüber belehrt, warum die Verwendung von weniger Zucker in Lebensmitteln Augenwischerei sei. Zucker würde dann meist nur durch andere Kohlenhydrate wie Stärke oder Mehl ersetzt, und damit bliebe die Kalorienzahl doch fast gleich. Ja, danke! Meine Damen und Herren, da werde ich langsam sauer. Die Linke fordert deshalb: Lebensmittelwerbung, die sich an Kinder und Jugendliche richtet, ist zumindest konsequent einzuschränken. Die Finanzierung einer hochwertigen und flächendeckenden Kita- und Schulverpflegung muss durch den Bund sichergestellt werden. ({4}) Verbindliche Qualitätsstandards für Gemeinschaftsverpflegung müssen definiert werden. Wir fordern, dass die Nährwertampel eingeführt wird, um verbraucherfreundliche und vergleichbare Lebensmittelinformationen hinsichtlich einer gesundheitsorientierten Ernährung zu ermöglichen. ({5}) Und wir müssen die Einflussnahme der Lebensmittelindustrie auf Erziehungs- und Bildungsinhalte unterbinden. ({6}) Das gilt auch für Projekte der Bundesregierung, zum Beispiel für die Plattform Ernährung und Bewegung, peb, bei der die Lebensmittelindustrie am Tisch sitzt und ihre Ansagen macht. Wir sagen: Am Küchentisch, im Klassenzimmer und im Sportverein müssen Eltern, Lehrer und Trainer das Sagen haben und nicht die Lobbyisten. ({7}) Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({8})

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000305

Vielen Dank. - Damit hat jetzt die nächste Rednerin das Wort: Jeannine Pflugradt von der SPD-Fraktion. ({0})

Jeannine Pflugradt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004375, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Frau Landgraf, ich bin der Meinung, wir können hier gar nicht oft genug über gesunde Ernährung reden. Wir unterscheiden uns vielleicht in diesem einen Punkt; aber das ist gar nicht schlimm. ({0}) Jedes sechste Kind zwischen sieben und zehn Jahren gilt in Deutschland als übergewichtig. Das Ernährungsverhalten der Kinder erscheint unausgereift. Vor allem nach der Einschulung geht die Gewichtskurve bei vielen Kindern zu steil nach oben. Eine Studie des RobertKoch-Instituts zeigt, dass ab der ersten Klasse immer mehr Kinder übergewichtig werden. In den Jahren nach der Einschulung steigt der Anteil übergewichtiger Kinder von 9 auf 15 Prozent, und der Anteil adipöser Kinder steigt sogar auf 6,4 Prozent. Die Betroffenen leiden nicht nur unter den schon angesprochenen körperlichen Folgen, sondern oft auch unter seelischen Schwierigkeiten, etwa einem schwachen Selbstwertgefühl oder Mobbing durch Gleichaltrige. Neueste wissenschaftliche Erkenntnisse zeigen, dass der Verzehr von zuckerhaltigen Getränken neben zu wenig Schlaf und Bewegungsmangel eine der Hauptursachen von Übergewicht bei Kindern und Jugendlichen ist. ({1}) In diesem Zusammenhang freue ich mich, dass das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft um Bundesminister Schmidt an der Ausgestaltung eines nationalen Qualitätszentrums für Kita- und Schulernährung arbeitet. Wenn ich richtig informiert bin, soll hierzu Ende Juni, also in wenigen Tagen, ein erster Entwurf vorgelegt werden. ({2}) Ich bin gespannt darauf, wie dieses Zentrum die Vernetzungsstellen Schulverpflegung in ihrer Arbeit ergänzt bzw. unterstützt und welchen Beitrag die Deutsche Gesellschaft für Ernährung leisten kann. Gleichzeitig appelliere ich erneut an alle Bundesländer, ihre Vernetzungsstellen mit eigenen finanziellen Mitteln auszustatten, um eine mögliche Förderung des Bundes nach 2017 zu gewährleisten. ({3}) Ich denke, alle Fraktionen sind sich einig, dass eine ausgewogene Ernährung eine wichtige Basis für ein gutes und gesundes Leben eines jeden Menschen ist. In Deutschland ist in den vergangenen Jahren eine Zunahme von ungesundem Ernährungsverhalten und besonders Bewegungsmangel festzustellen, in deren Folge die Anzahl der übergewichtigen Menschen leider zunimmt. Glauben Sie mir, liebe Kolleginnen und Kollegen, ich weiß, wovon ich spreche, auch wenn man das aufgrund meiner Kleidung heute vielleicht nicht so sieht. ({4}) - Danke, das wollte ich doch nur hören. ({5}) Es ist für uns von besonderer Wichtigkeit, dass gegen den Anstieg ernährungsbedingter Krankheiten aktiv vorgegangen wird, und gerade die Kinder und Jugendlichen müssen besonders in den Fokus gerückt werden. In ihrem Antrag plädieren die Koalitionsfraktionen für verpflichtende Qualitätsstandards bei der Kita- und Schulverpflegung, in öffentlichen Kantinen sowie in Pflegeheimen und Krankenhäusern. Darüber hinaus fordern wir ein Werbeverbot für ungesunde Lebensmittel in Grundschulen und Kitas ({6}) sowie süßigkeitenfreie Kassenzonen in Supermärkten. Das finde ich - hier spreche ich als Mutter - fantastisch. Zudem muss die Wirtschaft mit einer nationalen Reduktionsstrategie für Zucker, Fett und Salz in Fertigprodukten in die Pflicht genommen werden. ({7}) Wir möchten nicht nur ausschließlich an die Verbraucher appellieren, ihr Verhalten zu verändern, sich gesünder und bewusster zu ernähren und sich vor allem auch mehr zu bewegen. Es geht uns vielmehr darum, die Rahmenbedingungen für eine gesunde Ernährung zu verbessern, damit alle Menschen und gerade alle Kinder eine Chance auf ein gutes und gesundes Leben erhalten. Ich begrüße daher auch die Anstrengungen, die im Rahmen des Präventionsgesetzes und einer nationalen Präventionsstrategie unternommen werden, um das Ernährungsverhalten aller Menschen in den Vordergrund eines gesunden Lebensstils zu stellen. ({8}) Um Kindern und Jugendlichen Obst und Gemüse schmackhaft zu machen, hat die Europäische Union 2009 ein Schulobst- und -gemüseprogramm in den Mitgliedstaaten eingeführt. Mit dem Programm werden jährlich europaweit 150 Millionen Euro Gemeinschaftsbeihilfe für die Mitgliedstaaten bereitgestellt. Deutschland stehen davon pro Schuljahr circa 20 Millionen Euro zur Verfügung. Für das laufende Schuljahr hat Deutschland 22,8 Millionen Euro beantragt und auch erhalten. 25 Prozent der Kosten müssen durch die Mitgliedstaaten aufgebracht werden, die restlichen 75 Prozent werden von der Europäischen Union übernommen. Neun Bundesländer - leider nur neun - nehmen derzeit an diesem Programm teil. ({9}) - Genau, ein Riesenjammer ist das. ({10}) Im Januar 2014 legte die Europäische Kommission den Vorschlag für ein neues Schulprogramm vor. Dieser Vorschlag sieht die Zusammenlegung des bisherigen Schulobst- und -gemüseprogramms mit dem Schulmilchprogramm auf Basis der beschlossenen Mittel für das Haushaltsjahr 2014 vor. Leider hat sich bis heute bezüglich einer Entscheidung nichts getan. Das EU-Parlament hat sich zwar vor zwei Wochen erneut für die Zusammenlegung ausgesprochen und fordert auch eine Erhöhung der Mittel für das Schulmilchprogramm auf 100 Millionen Euro, aber noch sind die Mitgliedstaaten sehr weit von einer gemeinsamen Position entfernt. Wie auch immer die Beratungen auf EU-Ebene ausgehen werden: Außer Frage steht, dass separate Anpassungen bei den Programmen gemacht werden müssen, um die geforderte Ernährungsbildung zunehmend im Unterricht zu etablieren. Ich hoffe außerdem, dass die bürokratischen Zugangshürden für diese EU-Programme vereinfacht werden und sich künftig alle Bundesländer daran beteiligen. ({11}) Natürlich können solche Programme nicht allein die Verhältnisse der Menschen und das Verhalten der Kinder bezüglich einer ausgewogenen Ernährung ändern, vor allem, weil sie mit Sicherheit nicht alle erreichen. Möglicherweise initiieren sie aber ein Umdenken, anstelle eines Schokoriegels lieber einmal einen Apfel oder eine Möhre zu essen - nicht immer, aber vielleicht immer öfter. Hier sind kleinere Schritte gefragt, und niemand darf das Gefühl haben, zur gesunden Ernährung gedrängt bzw. gezwungen zu werden. ({12}) Dazu macht unser Koalitionsantrag einen ersten Aufschlag. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({13})

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000305

Vielen Dank. - Als nächste Rednerin hat Nicole Maisch von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort.

Nicole Maisch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003884, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Gäste auf den Tribünen! Papier ist geduldig. Der Antrag, den uns die Koalitionsfraktionen vorgelegt haben, und die bisherige Debatte darüber sind das beste Beispiel. Sie haben sehr viele gute und richtige Sachen aufgeschrieben. Einige der Forderungen würden wir sofort unterschreiben, bei anderen hätte ich jedoch Zweifel. Ich glaube, die Quengelkasse stählt im Zweifelsfall auch mal Mutter und Kind: Wenn man das ein-, zweimal durchgemacht hat, dann hat man vielleicht auch in der Erziehung was erreicht. Das kann ich jetzt so aus meiner Erfahrung sagen; aber darüber kann man ja noch mal reden. Sie haben also sehr viel guten Text geschrieben; aber Ihr Handeln passt überhaupt nicht dazu. Deshalb werden Sie von uns keine Zustimmung zu Ihrem Antrag bekommen. ({0}) Die Ernährungspolitik, die Sie und Ihr Minister hier abfeiern, das ist ein Budenzauber, das ist eine Mogelpackung. Ich will Ihnen das an drei Beispielen belegen. Sie fordern in Ihrem Antrag eine nationale Reduktionsstrategie. Sie fordern die Regierung auf, „eine nationale Strategie zu erarbeiten für die Reduktion von Zucker, Fetten und Salz in Fertigprodukten“. Dieses Anliegen ist richtig. In anderen Ländern hat das auch Erfolge gezeitigt. Allerdings stehen Ihre eigenen Leute null dahinter. Ich hatte das Vergnügen, mit einer Vertreterin der Union bei der Wirtschaftsvereinigung Alkoholfreie Getränke über dieses Thema zu diskutieren. Und wer sagte: „Zuckerreduktion in Limonaden ist der letzte Quark“? Die Vertreterin der CDU. Ich habe das Gleiche mit Ihnen auch im Ausschuss diskutiert, habe den Staatssekretär Bleser gefragt, wie er das denn findet: Reduktion von Salz, Zucker, Fetten in verschiedenen Fertigprodukten? Auch der Staatssekretär sagte: Nein, das sei überhaupt nicht sein Ding, das finde er schlecht. - Da frage ich mich doch: Wenn das bei Ihnen keiner will, warum schreiben Sie das dann in den Antrag? Das passt doch irgendwie nicht zusammen. Das finde ich schon ein bisschen absurd. ({1}) Dabei ist so eine Strategie eigentlich etwas Tolles. Die Finnen haben dadurch, dass sie ihren Salzkonsum reduziert haben, die Anzahl von Herz-Kreislauf-Erkrankungen reduziert. Wir in Deutschland haben ähnliche Erfahrungen gemacht: Sie erinnern sich vielleicht noch an diese widerlich zuckrigen Kindertees, von denen Kleinkinder Karies vorne an den Zähnen bekamen. Da hat man Rezepturen geändert. Das Problem, nämlich der Karies bei Kleinkindern, ging zurück. Da könnte man weitermachen. Aber wenn die rechte Seite des Saals nicht will, dann kann Elvira Drobinski-Weiß die tollsten Sachen in diese Anträge schreiben, es wird nichts Vernünftiges dabei rauskommen. ({2}) Zweites Beispiel: Lebensmittelverschwendung. Da haben Sie das Nichtstun Ihrer eigenen Regierung schon in den Antrag reingeschrieben. Sie schreiben nämlich: Wir bekräftigen die Forderungen aus dem Antrag … - Ihrem Antrag vom 16. Oktober 2012 … Auf Deutsch: Die letzten paar Jahre ist nicht so viel passiert; deshalb schreiben Sie einfach alles, was Sie damals schon gefordert haben, noch einmal in einen Bundestagsantrag. Ich finde das ein bisschen peinlich. Seit 2012 sind jetzt schon einige Jahre ins Land gegangen. Natürlich machen Sie nette Sachen: irgendwelche Restebeutel, die man sich aus dem Restaurant mit nach Hause nehmen kann, und es gibt die Rezepte-App. All das finden wir gut; aber wir erwarten auch, dass Sie sich für das einsetzen, worauf sich der gesamte Bundestag gemeinsam verständigt hat, nämlich verbindliche Ziele zur Abfallreduktion in Gastronomie, in Handel, in Erzeugung und Verarbeitung. Hier haben wir noch nichts gesehen. Hier hat Ihr Minister mehr oder weniger die ganze Sache ausgesessen. Das kann es nicht sein! ({3}) Wir sind bald 10 Milliarden Menschen auf diesem Planeten. Da können wir es uns nicht leisten, gute Lebensmittel wegzuwerfen. Ihr Minister hat hier wenig auf die Kette gekriegt. Das finde ich durchaus kritikwürdig. ({4}) Drittes Beispiel: Schulessen. Ich finde alles, was Sie zum Thema Schulessen aufgeschrieben haben, zumindest diskussionswürdig und das meiste sogar gut. Schulkinder brauchen besseres Essen; das ist ganz klar. Aber in der Realität haben Sie es doch bisher nicht einmal hinbekommen, die Finanzierung der Schulvernetzungsstellen dauerhaft zu sichern. Es gibt einen aktuellen, einstimmigen VSMK-Beschluss, vom 8. Mai 2015, also noch nicht so lange her. Die Länder wollen wissen: Wie soll es weitergehen mit der Finanzierung? Was ist das Förderkonzept? Wie lange ist die Förderdauer? Wie viel Geld gibt es wirklich vom Bund? Bleibt es bei den lächerlichen 15 Prozent, oder wird hier mal ein bisschen mehr Butter bei die Fische gegeben? - Wer so große Reden schwingt über bessere Ernährung, über dicke Kinder, über die Kosten, die durch Fehlernährung auf unser Gesundheitssystem zukommen, der müsste auch einmal ein bisschen mehr Geld lockermachen als die läppischen paar Cents, die Sie pro Schulkind und Jahr ausgeben. ({5}) So kann es nicht bleiben! Da kann man auch nicht erwarten, dass die Opposition hier jubelt, wenn Sie solche Anträge vorstellen. ({6}) Meine Damen und Herren, ich finde dieses Ministerium ist jetzt wirklich nicht mit Themen überfrachtet. Die kniffligen Themen des Verbraucherschutzes haben Sie an die SPD abgeschoben; das heißt, digitale Welt, Finanzen und so weiter macht alles Herr Maas. Die GAPReform ist mehr oder weniger durch. Es sollte also doch möglich sein, dass der Minister während seines Arbeitstages eine vernünftige Ernährungspolitik auf die Reihe kriegt. Es ist jetzt Zeit da, in die Puschen zu kommen, was zu machen; denn die Probleme sind doch da. Wir müssen dafür sorgen, dass jedes Kind in diesem Land vernünftiges Essen in der Schule und in der Kita bekommt. Wenn Sie das hinbekommen, stimme ich Ihren Anträgen, die Sie für diesen Bereich stellen, auch zu. ({7})

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000305

Vielen Dank. - Als nächste Rednerin hat Gitta Connemann von der CDU/CSU-Fraktion das Wort. ({0})

Gitta Connemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003514, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wer von Ihnen war schon einmal in der Alten Pinakothek in München? ({0}) - Ich hätte mir etwas mehr Zustimmung gewünscht. Dort hängt das Gemälde „Das Schlaraffenland“. Es zeigt drei Männer unter einem Baum. Sie öffnen nur den Mund, und schon gibt es Milch, Wein und Fleisch. Essen und Trinken im Überfluss, und zwar für alle - im 16. Jahrhundert erschien dies den Menschen wie das Paradies. Und heute? Für 800 Millionen Menschen auf der Welt bleibt das ein Traum; denn sie hungern. Täglich sterben nach wie vor 10 000 Kinder auf der Welt, weil sie nicht genug zu essen haben. Die Zahl wird kleiner. Wir finden aber, dass kein Kind an Hunger sterben sollte. ({1}) Und hier? In unserem Land gibt es Lebensmittel im Überfluss: gesund, sicher, bezahlbar. Dies verdanken wir ganz leistungsfähigen Landwirten, ganz leistungsfähigen Herstellern und übrigens auch Händlern. ({2}) Wir dürfen sagen: Was für ein Segen ist es, dass wir in diesem Land leben. - Aber spüren wir dies noch? Wohl kaum. Die Zahlen zeigen, dass das Gefühl für den Wert von Lebensmitteln verloren gegangen ist. Beweis gefällig? Jeder Bundesbürger wirft im Jahr 82 Kilogramm Lebensmittel fort. Das bedeutet hochgerechnet auf alle Privathaushalte in Deutschland: 6,7 Millionen Tonnen Lebensmittel. Das ist eine Zahl, die fassungslos macht. Für meine Fraktion, für die CDU/CSU-Fraktion, kann ich sagen: Lebensmittel sind zu gut für die Tonne. ({3}) Wer Lebensmittel wegwirft, verschwendet Nahrung, verschwendet Energie, verschwendet Geld und verschwendet Ressourcen. ({4}) Glücklicherweise hat sich schon einiges getan. Unser Ministerium sorgte mit der Aktion „Zu gut für die Tonne“ für die Initialzündung. Seitdem gibt es nicht nur eine öffentliche Diskussion, sondern erstmalig auch ein Problembewusstsein für dieses Thema, das zuvor von niemandem angefasst worden ist. Auch die Aktion „Restlos genießen“ ist erfolgreich angelaufen. Die Restaurantbesitzer bieten ihren Gästen an, ihre Reste mit nach Hause zu nehmen. All das sind kleine Bausteine, aber es sind Bausteine zur Bekämpfung eines Riesenproblems. An dieser Stelle danke ich unserem Minister Christian Schmidt für seinen Einsatz und dafür, dass er an dieser Stelle nicht lockerlässt. ({5}) Natürlich gibt es noch viel zu tun. Beispiel gefällig? Familienpackungen. Familienpackungen und Singlehaushalte passen einfach nicht zusammen. Da sind Reste vorprogrammiert. Ein Teil muss im Müll landen. Wir brauchen kleinere Verpackungsgrößen für Alleinstehende, gerade bei Frischprodukten. Das Angebot ist mager. Deswegen fordern wir in unserem Antrag die Bundesregierung auf, mit der Wirtschaft zu vereinbaren, dass sie ihr Angebot diesbezüglich verbessert. ({6}) Oder der Preis. Ohne Zweifel ist die Bezahlbarkeit von Lebensmitteln eine soziale Frage. Aber es gibt aus meiner und unserer Sicht einen Unterschied zwischen preiswert und verramschen. ({7}) Ein Beispiel gefällig? In dieser Woche wirbt ein großer Discounter: 400 Gramm Hackfleisch für 1 Euro. Ich sage Ihnen: Das ist pervers. ({8}) Nicht jeder Preiskrieg muss zu Ende geführt werden. Hier steht der Handel in der Verantwortung, aber auch der Verbraucher, der so etwas erwirbt. ({9}) Meine Damen und Herren, es gibt in diesem Haus Fraktionen, die an dieser Stelle gerne nach dem Gesetzgeber rufen, nach künstlichen Mindestpreisen, nach Zusatzsteuern. Die Kollegin Binder hat das eindrucksvoll bewiesen, ({10}) und auch die Kollegin Maisch. Dies lehnen wir ab. Wir schreiben den Menschen nicht vor, was sie in ihren Einkaufswagen legen sollen. ({11}) Der Bürger soll selbst entscheiden, was er isst und wie er isst. Er will das übrigens auch; das hat die Reaktion auf den Veggie-Day eindrucksvoll bewiesen.

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000305

Frau Connemann, lassen Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Maisch zu?

Gitta Connemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003514, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, sehr gerne.

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000305

Bitte.

Nicole Maisch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003884, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Kollegin Connemann, Sie haben gesagt, ich hätte in meiner Rede Mindestpreise und Sondersteuern gefordert. Können Sie belegen, welche Mindestpreise und welche Sondersteuern sowie wann und wo ich das in meiner Rede gesagt haben soll?

Gitta Connemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003514, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich habe nicht gesagt, dass Sie Mindestpreise gefordert haben, ({0}) sondern ich habe gesagt, dass Fraktionen in diesem Haus danach gerufen haben, zum Beispiel die Kollegin Binder, ({1}) und sehr deutlich auf die Preisbildung, aber auch auf gesetzliche Regulierungen eingegangen sind. Ich weise an dieser Stelle nicht nur auf den Veggie-Day hin, sondern auch auf die von Ihnen auf dem letzten Bundesparteitag der Grünen mitbeschlossene Veggie-Steuer. ({2}) - Ich bin noch nicht fertig. - Die Grünen wollen durch diese Besteuerung den Verbrauch von Fleisch reduzieren. Das ist für mich eine Bevormundung und Gängelung, die es in sich hat, liebe Frau Kollegin Maisch. ({3}) Das lehnen wir ab. Wir lehnen auch Strafsteuern auf Zucker, Fett oder Salz ab. Es gibt nämlich kein per se schlechtes Lebensmittel. Die Dosis macht bekanntlich das Gift. ({4}) Hier hilft nur Wissen, Wissen, Wissen; die Kollegin Mortler wird darauf noch eingehen. Dass unsere Bürger staatliche Gängelung ablehnen, zeigte übrigens auch die Diskussion über einen anderen Punkt unseres Antrags: ({5}) über die quengelfreien Kassen ohne Süßigkeiten. Als der Eindruck entstand, wir wollten diese gebieten, war der Gegenwind aus der Bevölkerung sehr groß - übrigens zu Recht; denn auch hier wollen wir Wahlfreiheit. Deshalb plädieren wir für Familienkassen. Süßigkeiten gehören ohne Frage dazu, aber nicht als Lockmittel in jede Warteschlange; denn Kinder greifen zu, ohne nachzudenken. Hier wollen wir Eltern eine echte Alternative bieten, eine Alternative auf freiwilliger Basis. Wir nehmen die Verbraucher ernst. Deshalb lehnen wir als CDU/CSU-Bundestagsfraktion übrigens auch ein Mittel, das hier wiederholt angesprochen wurde, ab: die Ampelkennzeichnung. ({6}) Der Verbraucher ist nicht so dumm, wie Sie ihn immer darstellen. Dass die Ampelkennzeichnung, wie sie in England gelebt wird, am Ende ein Rohrkrepierer ist, zeigt die Tatsache, dass die Europäische Union inzwischen ein entsprechendes Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet hat, und zwar aus zwei Gründen: Der eine Grund ist, dass dies ein Eingriff in den Binnenmarkt ist. Aber das viel wichtigere Argument ist - das ist der andere Grund für die Europäische Union -: Hier findet tatsächlich eine Täuschung des Verbrauchers statt. ({7}) Denn am Ende ist auch das Olivenöl mit Rot gekennzeichnet, und der Verbraucher, der sich etwas Gutes tun will, greift dann vielleicht zu einem anderen Produkt. Oder aber es kommt zu einer anderen Täuschung, wie mir vor kurzem ein Kollege aus England bestätigte. Er sagte: Inzwischen ist es so, dass Lebensmittel mit der Kennzeichnung Rot bei unseren Verbrauchern als lecker gelten. - Das ist eine Fehlsteuerung. Da hilft nur Wissen, Wissen, Wissen, das wir deshalb in den Mittelpunkt unseres Antrags gestellt haben. Wir haben mit dem Bild von Bruegel begonnen. Am Ende ist ein Schlaraffenland auch Synonym für Übermaß und Völlerei. Das Einzige, was an dieser Stelle hilft, ist, den Verbraucher ernst zu nehmen und ihn aufzufordern, ihn darin zu bestärken, sich zu bewegen und sich gesund zu ernähren. Das wollen wir mit diesem Antrag tun. Herzlichen Dank. ({8})

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000305

Vielen Dank. - Als nächste Rednerin hat die Kollegin Elvira Drobinski-Weiß das Wort. ({0})

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000305

Okay. Entschuldigung, das habe ich übersehen.

Karin Binder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003738, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Liebe Frau Kollegin Connemann, ich muss jetzt, glaube ich, eines klarstellen: Weder Öl noch Butter oder sonstige Grundstoffe in Nahrungsmitteln werden einen roten Punkt bekommen; das ist völliger Unsinn. Es geht um heute produzierte Fertiglebensmittel, und es geht um industriell gefertigte Lebensmittel, die viele Bestandteile enthalten, sodass die Menschen nicht mehr wissen, wie viel von was drin ist. Darum geht es, und das soll gekennzeichnet werden, damit man auch bei einem Einkauf, für den man nur wenig Zeit zur Verfügung hat, schnelle Vergleichsmöglichkeiten hat. Deshalb soll es die Angaben zu Nährwerten und eine Kennzeichnung mit den Farben Rot, Gelb und Grün geben. In diesem Parlament soll keine Volksverdummung stattfinden, sondern es soll klar gesagt werden, um was es geht: Es geht um industriell gefertigte Nahrungsmittel. Hier haben die Menschen heute einfach ein Informationsproblem. Darum geht es. ({0}) Ich möchte auch noch einen anderen Punkt ansprechen: Sie haben unter anderem von einer Sondersteuer und von Mindestpreisen gesprochen. Das trifft auf uns überhaupt nicht zu. Die Linke hat in keinem Zusammenhang irgendeine weiter gehende Besteuerung von Lebensmitteln gefordert. Im Gegenteil: Wir wollen, dass die Mehrwertsteuer auf die Schulverpflegung endlich heruntergesetzt wird. Eine Mehrwertsteuer von 19 Prozent auf die Schulverpflegung ist völliger Blödsinn. Es geht uns da eher um die Reduzierung dieser Steuer und nicht um die Erhebung von neuen Steuern. ({1})

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000305

Frau Connemann hat das Wort zur Gegenrede.

Gitta Connemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003514, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin Binder, mir ist bewusst, dass es immer wehtut, sich von Träumen zu verabschieden. Das zeigt auch Ihr jetziges Petitum für die Lebensmittelampel. Dabei betrachten Sie Folgendes nicht: Erstens. Es geht nicht nur um industriell gefertigte Lebensmittel, sondern die Ampel gibt Aufschluss über die Inhaltsstoffe. So viel Ehrlichkeit sollten Sie an dieser Stelle schon zulassen. Zweitens. Sie ignorieren das entsprechende Plädoyer der Europäischen Union vollkommen. Es ist nicht nur meine Wahrnehmung gewesen, sondern auch Ihnen sollte nicht entgangen sein, dass die Europäische Union sehr deutlich gesagt hat, dass hier die Gefahr einer Verbrauchertäuschung besteht. Deswegen hat die Europäische Union - nicht ich - ein Vertragsverletzungsverfahren gegen England eingeleitet. Ich bitte Sie einfach, das zur Kenntnis zu nehmen; denn am Ende bringt es nichts, an Träumen festzuhalten, die sich einfach als falsch erweisen, und das ist unter anderem die Lebensmittelampel. ({0})

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000305

Frau Elvira Drobinski-Weiß von der SPD-Fraktion, Sie haben das Wort. ({0})

Elvira Drobinski-Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003705, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herzlichen Dank. - Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr verehrte Zuschauerinnen und Zuschauer auf den Tribünen! Zu dem Gegenwind in Bezug auf die „quengelfreien“ Kassen: Wir haben hier ganz andere Rückmeldungen bekommen. Uns haben Eltern geschrieben: Wunderbar, endlich können wir jetzt auch einmal in aller Ruhe einkaufen gehen, ohne dass unsere Kleinen uns nerven, dass sie etwas haben wollen. Genauso wie Sie habe auch ich in der letzten Woche Post bekommen, und zwar von der Zuckerwirtschaft. Mit Blick auf die Debatte heute wollte man mich darauf hinweisen, dass auch die Zuckerwirtschaft Initiativen begrüßt, mit denen die Gesundheit verbessert und Übergewicht reduziert wird. Dafür halte man Aufklärung über eine gesunde Lebensweise für wichtig. Außerdem würde man dazu ja auch schon einen Beitrag leisten. Ja, das glaube ich sofort. Sorgen bereitet der Zuckerwirtschaft allerdings unser Vorhaben, mit einer Reduktion von Zucker in Lebensmitteln präventiv tätig zu werden. Aha, wie überraschend! Mir bereitet es eher Sorgen, dass wir trotz der zahllosen Aufklärungs- und Informationskampagnen, die es seit Jahren gibt, den Anstieg chronischer Erkrankungen wie Diabetes - gerade auch bei Kindern und Jugendlichen - immer noch nicht gestoppt haben ({0}) und dass es sehr vielen Menschen nach wie vor schwerfällt, sich ausgewogen und gesund zu ernähren, selbst wenn sie wissen, wie es geht, und es auch wollen. Vielleicht fragen Sie sich auch einmal selbst. Das liegt vor allem daran, dass die Lebensrealität vieler Menschen tagtäglich und beharrlich selbst gegen die besten Vorsätze arbeitet. Das wollen wir ändern. Wir wollen es den Verbraucherinnen und Verbrauchern leichter machen, sich gesund zu ernähren. Wir wollen eben keine Verhaltensvorschriften machen, wie es hier gerade eben schon ausgeführt worden ist, sondern wir wollen die Lebensverhältnisse so gestalten, dass die gesunde Wahl zu einer leichteren Wahl wird. Deswegen fordern wir in unserem Antrag unter anderem auch eine nationale Strategie zur schrittweisen Reduktion von Zucker, Salz und Fetten in Fertiglebensmitteln. ({1}) In anderen Ländern sind damit schon beeindruckende Erfolge erzielt worden. Das wurde bereits angesprochen. In Großbritannien beispielsweise hat die Regierung mit der Lebensmittelwirtschaft vereinbart, den Salzgehalt in verschiedenen Lebensmitteln Schritt für Schritt zu senken. Tatsächlich hat sich der Salzgehalt innerhalb einiger Jahre deutlich verringert, und das Risiko der Bevölkerung für Schlaganfälle und Herzerkrankungen ist um 40 Prozent gesunken, und zwar ohne dem Absatz der Unternehmen zu schaden. In Deutschland hat das Ernährungsministerium vor einigen Jahren schon einen Anfang gemacht. Es hat nämlich mit der Wirtschaft vereinbart, herzschädigende Transfette in Lebensmitteln zu reduzieren. Ergebnis: Der Transfettgehalt in vielen Lebensmitteln ist seitdem gesunken. Es funktioniert also, und es wird auch für Salz und Zucker funktionieren. Wir müssen das Vorhaben nur ehrgeizig genug angehen. Die Zuckerwirtschaft werden wir dafür voraussichtlich nicht gewinnen, aber damit kann ich leben. Hoffnung macht mir dagegen, dass beispielsweise in Großbritannien die Supermarktkette Tesco angefangen hat, den Zuckergehalt in Kindergetränken zu reduzieren. Dort hat offensichtlich jemand die Zeichen der Zeit erkannt. ({2}) In Großbritannien hat man allerdings auch erkannt: Wirklich gut funktioniert das alles langfristig nur, wenn jemand, zum Beispiel ein Ministerium oder eine Behörde, zentral das Zepter in der Hand hält, den Dialog organisiert und für einheitliche Berichte sorgt. Dann sind faire Wettbewerbsbedingungen gegeben; dann machen alle mit. Natürlich wird es mitunter komplex werden. Natürlich werden wir darauf achten müssen, dass nicht nur ein ungünstiger Nährstoff durch einen anderen ersetzt wird, sondern dass ausgewogenere und vollwertigere Nahrungsmittel das Ziel der Reduktionsstrategie sind. Denn es geht nicht allein um Kalorien, sondern um bessere und trotzdem schmackhafte Lebensmittel. ({3}) Natürlich soll es auch weiterhin Schokolade und Limonade geben. ({4}) Aber auf vermeintlich gesundes Müsli für Kinder, das in Wahrheit doppelt so süß ist wie Kekse, oder auf eine Fertigsuppe, die allein den täglichen Salzbedarf deckt, können wir alle sicher gut verzichten. Kurzum: Vor uns liegt eine nicht ganz leichte Aufgabe. Aber ich finde, es ist an der Zeit, sie endlich anzugehen. Vielen Dank. ({5})

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000305

Vielen Dank. Damit ist auch die letzte Sorge um die Schokolade genommen. - Jetzt hat die Kollegin Marlene Mortler von der CDU/CSU-Fraktion das Wort. ({0})

Marlene Mortler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003596, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und vor allem liebe Kollegen! Bundesbildungsministerin Johanna Wanka hat in der Bild am Sonntag das Schulfach Alltagswissen gefordert. ({0}) Auch Grundkenntnisse richtiger Ernährung und im Kochen gehören für sie dazu. Agenturen wie dpa, AFP und KNA griffen die Botschaft auf und streuten sie weit. Ich glaube, das ist gut so. Denn Ministerin Wanka trifft einen wunden Punkt, den unser Antrag behandelt. Auch wenn manches Lifestyle-Magazin neue Essgewohnheiten zum Glaubenssatz erhebt, zeigen Umfragen: Strikt nach Kriterien wie vegan oder weizenfrei ernährt sich nur eine Minderheit. Wir sehen vielmehr die Kenntnisse über gesunde und ausgewogene Ernährung schwinden, und das, während das Angebot an Produkten zunimmt. Immer weniger Menschen wissen, was sie zu sich nehmen, was im Fertigprodukt enthalten ist und was ihr Körper braucht, um gesund oder gar fit zu sein, von Kochkenntnissen ganz zu schweigen. Der englische Koch Jamie Oliver urteilte gar: Kochen ist eine lebenswichtige Fähigkeit, die wir verloren haben. Auch wenn uns das nicht schmeckt: Das kleine Einmaleins gesunder Ernährung wird heute in vielen Familien nicht mehr weitergegeben. Das Ergebnis: Fehlernährung ist inzwischen - wir haben es gehört - ein schwergewichtiges Problem. Während dies Teile der Opposition gar zum Verbotsschwert etwa beim Fleischkonsum greifen lässt, setzen wir auf Aufklären statt Gängeln. ({1}) Mündiger Verbraucher ist niemand von Geburt an. Das muss man erst werden. Deswegen sind mir zwei Forderungen unseres Antrages besonders wichtig. Erste Forderung. Wir brauchen regelmäßige Ernährungsbildung in unseren Schulen. ({2}) Mir ist völlig klar: Schule kann, wie die Präsidentin der Kultusministerkonferenz Kurth auf Wankas Vorstoß gestern konterte, den Eltern nicht alles abnehmen. Das stimmt. Aber dennoch: Was gehört dort auf die Agenda, wenn nicht das Grundlagenwissen über unsere elementarste Lebensgrundlage überhaupt, die Nahrung? Dies gilt umso mehr, wenn dieses Wissen zu Hause niemand mehr vermitteln kann, weil er es im schlimmsten Fall selbst nicht mehr besser weiß. Diese Wissensvermittlung funktioniert in der Schule. Bei uns in Bayern etwa ist Ernährungsbildung fächerübergreifend verankert. Zudem startete im Mai gerade erst wieder das Projekt „Landfrauen machen Schule“. Damit komme ich zur zweiten Forderung des Antrages. Wir müssen Kindern und Jugendlichen die Möglichkeit geben, mehr über den Ursprung ihrer Nahrung zu er10484 fahren. Wissen ist Grundlage für Wertschöpfung und für Wertschätzung. Gerade unsere Bäuerinnen und Bauern haben es verdient, dass man mehr über ihre Arbeit weiß. ({3}) Denn wer weiß heute noch, wie Kartoffeln wachsen und was man braucht, damit ein Acker Früchte trägt? Wer weiß noch, was der Bauer braucht, damit er am Ende den Teller mit guten Produkten füllen kann? Es gibt bereits eine Vielzahl guter Angebote. Wahlweise haben das BMEL, das BMG, das BMBF und das BMU den Hut auf. Das heißt: Unser Ministerium, das BMEL, hat Rückgriff auf renommierte und gute Adressen wie die BLE - ich verkürze hier wegen der Zeit -, das BfR, das BVL, also das Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit, den AID und die DGE, das Gesundheitsministerium auf das RobertKoch-Institut und die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, das Forschungsministerium auf das Deutsche Institut für Ernährungsforschung in PotsdamRehbrücke und das BMU auf das Umweltbundesamt. Deshalb ist abschließend meine Vision für die Zukunft, die Zuständigkeit in einem Ressort zu bündeln. Die Aufgabe lohnt; denn eine gesunde Ernährung sichert national langfristig die Gesundheit unserer Verbraucher, und international ist sie ein Schlüssel zur Nachhaltigkeit ländlicher Entwicklung und zur Ernährungssicherung. Deshalb werbe ich für unseren Antrag. Vielen herzlichen Dank. ({4})

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000305

Vielen Dank. - Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich schließe die Debatte. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Ernährung und Landwirtschaft auf Drucksache 18/5008. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die Annahme des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und SPD auf Drucksache 18/3726 mit dem Titel „Gesunde Ernährung stärken - Lebensmittel wertschätzen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist diese Beschlussempfehlung mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen worden. Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 18/3730 mit dem Titel „Gute Lebensmittel für eine gesunde Ernährung“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist diese Beschlussempfehlung ebenfalls angenommen worden mit den Koalitionsstimmen gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke, bei Enthaltung der Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen. Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/3733 mit dem Titel „Gute Ernährung für alle“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist diese Beschlussempfehlung mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Stimmen der Fraktion Die Linke ebenfalls angenommen worden. ({0}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Katja Keul, Agnieszka Brugger, Katharina Dröge, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Eckpunkte für ein Rüstungsexportkontrollgesetz Drucksache 18/4940 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Energie ({1}) Auswärtiger Ausschuss ({2}) Innenausschuss Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Verteidigungsausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Federführung strittig Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat als erste Rednerin Katja Keul von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Katja Keul (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004067, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Alle, die schon einmal Fragen zu Rüstungsexporten eingereicht haben, kennen die Standardantwort der Bundesregierung. Bei den Sozialdemokraten dürfte die Erinnerung daran noch frisch sein. Für die anderen will ich sie noch einmal verlesen. Die Standardantwort lautet: Über die Erteilung von Genehmigungen für Rüstungsexporte entscheidet die Bundesregierung im Einzelfall und im Lichte der jeweiligen Situation nach sorgfältiger Prüfung unter Einbeziehung außen- und sicherheitspolitischer Erwägungen. Grundlage hierfür sind die „Politischen Grundsätze der Bundesregierung für den Export von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern“ aus dem Jahr 2000 und der „Gemeinsame Standpunkt des Rates der Europäischen Union vom 8. Dezember 2008 betreffend gemeinsame Regeln für die Kontrolle der Ausfuhr von Militärtechnologie und Militärgütern“. Antwortende. Es ist zunächst einmal erfreulich, dass sich bis heute alle Bundesregierungen immer wieder auf die unter RotGrün im Jahr 2000 ins Leben gerufenen Grundsätze berufen. ({0}) Darin steht nämlich viel Richtiges. ({1}) Entscheidend sollen unter anderem die Menschenrechtslage im Empfängerland und die Gefahr innerer Repression sein. Da wir uns alle so wunderbar einig sind, schlagen wir Ihnen heute vor, diese Grundsätze als Gesetz zu beschließen, wie sich das für ein Parlament gehört. ({2}) Es ist als Gesetzgeber unsere Aufgabe, die Rechtsgrundlagen für die Genehmigungsentscheidungen der Exekutive zu schaffen. So machen wir das in allen anderen Bereichen auch. Die Voraussetzungen für eine Baugenehmigung stehen schließlich im Baugesetzbuch und nicht in irgendwelchen freiwilligen Selbstverpflichtungserklärungen. Leider findet sich in den Gesetzen, auf deren Grundlage über Rüstungsexporte entschieden wird, nicht ein einziges Wort zu den Menschenrechten im Empfängerland. Weder das Außenwirtschaftsgesetz noch das Kriegswaffenkontrollgesetz enthalten auch nur den geringsten Hinweis auf die außen- und sicherheitspolitischen Kriterien. Deshalb schlagen wir Grünen Ihnen heute vor, die richtigen und wichtigen Kriterien für Rüstungsexporte aus den Politischen Grundsätzen und auch aus dem Gemeinsamen Standpunkt der EU endlich in das Außenwirtschaftsgesetz und das Kriegswaffenkontrollgesetz aufzunehmen und somit eine klare gesetzgeberische Entscheidung zu treffen, nach der sich die Bundesregierung dann im Einzelfall richten kann. Das gäbe uns zusätzlich die Gelegenheit, das eine oder andere Kriterium zu präzisieren. Ich denke zum Beispiel an den Begriff der Spannungsgebiete. Denn am Ende hilft keine noch so verbindliche gesetzliche Grundlage, wenn diese nicht auch justiziabel ist, das heißt, von Gerichten zu überprüfen ist. Das setzt zwei Dinge voraus: Erstens. Es muss gegen eine erteilte Genehmigung eine Klagebefugnis geben. Klagen kann in der Regel aber nur, wer persönlich in seinen subjektiven Rechten verletzt ist. Da es in Deutschland zwangsläufig niemanden gibt, der von Waffenexporten in seinen subjektiven Rechten verletzt ist, schlagen wir Ihnen den Weg über eine Verbandsklage vor. ({3}) Zweitens. Die erteilten Genehmigungen müssen bekannt gemacht werden, damit man sie überprüfen kann. In dieser Hinsicht hat es in dieser Legislaturperiode durchaus einige kleine Fortschritte gegeben. Die Mitteilungen im Anschluss an die Sitzungen des Sicherheitsrates sind deutlich zeitnäher, als es der jährliche Bericht gewesen ist. Leider geben aber auch diese Mitteilungen nur einen fragmentarischen Einblick in die Genehmigungspraxis, da die Mehrheit der Genehmigungen gar nicht vom Sicherheitsrat selbst, sondern auf der Arbeitsebene bzw. vom Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle erteilt wird. Außerdem sind diese neuen Zwischeninformationen eher als spartanisch zu bezeichnen. Man kann nicht einmal erkennen, ob es sich um Genehmigungen nach dem Außenwirtschaftsgesetz oder nach dem Kriegswaffenkontrollgesetz handelt. Das ist aber wichtig, da zwischen diesen Genehmigungen Monate, wenn nicht Jahre liegen können. Ich will Ihnen ein Beispiel geben: Im Februar 2012 stellte die Firma Krauss-Maffei Wegmann eine Voranfrage für den Verkauf von Kampfpanzern des Typs Leopard an Katar. Der Bundessicherheitsrat beriet darüber im Juli 2012, und Krauss-Maffei Wegmann erhielt anschließend, am 6. August, einen positiven Vorbescheid des Auswärtigen Amtes. Über solche Vorbescheide bekommen wir als Parlament leider überhaupt keine Informationen, obwohl auf deren Grundlage später immer die Genehmigung erteilt wird. Am 6. März 2013, also acht Monate nach dem Vorbescheid, wird man sich handelseinig, und Katar unterschreibt den Kaufvertrag. Am nächsten Tag geht der Antrag beim Wirtschaftsministerium ein, und am 26. März liegt die Genehmigung nach dem Kriegswaffenkontrollgesetz vor. Sie fragen sich, warum das so schnell geht? Kein Problem: Der Sicherheitsrat hatte ja bereits ein Jahr zuvor entschieden - informell, versteht sich. Es findet dann keine weitere Prüfung der außen- und sicherheitspolitischen Kriterien mehr statt. ({4}) Mit der Vorlage der Genehmigung ist der Deal perfekt, und Krauss-Maffei Wegmann macht selbst proaktiv Pressearbeit zu dem Vorgang. Nur die Bundesregierung hält es nach wie vor für angebracht, das Parlament darüber nicht zu informieren. ({5}) Auch im jährlichen Rüstungsexportbericht 2013 taucht dieser Panzerexport im Wert von immerhin 1,8 Milliarden Euro bis heute nicht auf. Angeblich könne man diese Genehmigung nicht aufführen, da der Kaufpreis nicht bekannt sei. Der werde ja immer erst mit der späteren AWG-Genehmigung erfasst, die erst dann erteilt werde, wenn die Lieferung ansteht, also wieder Jahre später. Da sollen wir als Parlament doch wirklich für dumm verkauft werden. ({6}) Immerhin ist der Wert des Geschäfts in dem Antrag des exportierenden Unternehmens angegeben, und er ist außerdem noch in der vorzulegenden Endverbleibserklä10486 rung aufgeführt. Hier muss die Informationspolitik gegenüber dem Parlament noch deutlich nachgebessert werden, und auch das wollen wir in einem Rüstungsexportkontrollgesetz verbindlich festschreiben. ({7}) Das Gesetz soll künftig auch eine echte Endverbleibskontrolle, also sogenannte Post-Shipment-Kontrollen, verbindlich vorschreiben. Die Ressortzuständigkeit wird vom Wirtschaftsministerium auf das Auswärtige Amt übertragen, und der Bundessicherheitsrat, der seit Franz Josef Strauß ohne jede gesetzliche Grundlage existiert, wird aufgelöst. Sie sehen, unsere Eckpunkte enthalten jede Menge guter Vorschläge, mit denen Sie sich die eingangs erwähnte Standardantwort künftig ersparen können. Völlig unbeantwortet bleibt allerdings nach wie vor, was die Bundesregierung eigentlich geritten hat, einem menschenverachtenden Regime wie Katar, für dessen 200 000 Staatsbürger über 1 Million Gastarbeiter als Dienstboten und Bauarbeiter versklavt werden, ausgerechnet 62 deutsche Kampfpanzer zu genehmigen. ({8}) Es bleibt zu hoffen, dass es nicht die gleichen Motive waren wie die der FIFA, dorthin eine Fußballweltmeisterschaft zu vergeben, und hoffen wir, dass die Kampfpanzer nicht gerade gebraucht werden, wenn unsere Sportler dort über den Rasen laufen. Vielen Dank. ({9})

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000305

Vielen Dank. - Als nächster Redner hat Andreas Lämmel das Wort. ({0})

Andreas G. Lämmel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003796, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Frau Keul, die Schlussbemerkung hat wieder einmal Ihren ganzen Redebeitrag völlig entwertet. Ich meine, Sie haben gut begonnen, da Sie noch einmal auf die von Rot-Grün beschlossenen Grundsätze für Rüstungsexporte verwiesen haben, nach denen wir uns heute noch richten. Es hat Sie stolz gemacht und uns auch, dass diese Grundsätze offensichtlich so weise verfasst worden sind, dass sie heute noch Gültigkeit haben können. Deshalb stützt die Bundesregierung ihre Entscheidungen noch auf genau diese Grundsätze, die damals unter rot-grüner Regierung erlassen worden sind. Sie haben vielleicht nicht ganz klar herausgearbeitet, dass jede Rüstungsexportgenehmigung eine Einzelfallentscheidung ist. Es gibt also keine Pauschalgenehmigung, sondern über jeden einzelnen Fall muss beraten werden. Je nach Art des Rüstungsexportantrages muss nach dem Außenwirtschaftsgesetz oder dem Kriegswaffenkontrollgesetz entschieden werden; das Ganze ist aber auf jeden Fall genehmigungspflichtig. Wenn Sie sich mit der Genehmigungspraxis des BAFA auseinandersetzen, dann wissen Sie eigentlich, dass viele Güter, die noch nicht einmal zu den Dual-Use-Gütern gehören und nur im Verdacht stehen, auch militärisch genutzt werden zu können, der Pflicht zur Exportgenehmigung unterliegen und dass viele Unternehmen große Probleme haben, Güter in verschiedene Länder auszuführen. Die Prüfung und die Genehmigung der Ausfuhr von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern unterliegen letztendlich dem Bundessicherheitsrat. Dieser tagt geheim. Den Vorsitz hat die Bundeskanzlerin inne. Ein weiteres Mitglied des Bundessicherheitsrates, der über die Rechtmäßigkeit der Exporte wacht, ist zum Beispiel der Vizekanzler. Er hat in den letzten Monaten bewiesen, dass er für eine etwas restriktivere Genehmigungspraxis ist. Die weiteren Mitglieder des Bundessicherheitsrates sind die Bundesministerinnen und Bundesminister der Verteidigung, des Auswärtigen, des Innern, der Justiz, der Finanzen, der Minister für Wirtschaft und Energie - in diesem Fall der Vizekanzler - sowie der Minister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. Die Aspekte aus all diesen Ministerien fließen letztendlich in die Entscheidung ein. Nicht zuletzt ist der Chef des Bundeskanzleramts zu nennen. Der Regierungssprecher und der Generalinspekteur der Bundeswehr nehmen ebenfalls an den Sitzungen des Bundessicherheitsrates teil. ({0}) Es handelt sich hier also nicht um einen formalen Akt, wie das von Ihnen oft verkürzt dargelegt wird, sondern um ein anspruchsvolles Verfahren. Es besteht kein Anspruch auf Erteilung einer Ausfuhrgenehmigung. ({1}) Auch dazu sagen Sie oft nur die halbe Wahrheit. Tatsächlich sind zahlreiche Gesetze und Vereinbarungen zu beachten, zum Beispiel das Kriegswaffenkontrollgesetz - das haben Sie selbst erwähnt -, das in § 6 eindeutig besagt, dass Genehmigungen zwingend versagt werden müssen, wenn die Gefahr besteht, dass Kriegswaffen bei einer friedensstörenden Handlung, insbesondere bei einem Angriffskrieg, verwendet werden. Das Gesetz enthält also ganz klare Regelungen. Die Regelungen im Außenwirtschaftsgesetz über die Erteilung der Ausfuhrgenehmigung für Rüstungsgüter sind ebenfalls eng gefasst. Es gibt außerdem den Verhaltenskodex der Europäischen Union für Waffenausfuhren, dessen Kriterien ebenfalls in die Entscheidungsfindung einfließen. Letztendlich gibt es die Prinzipien der OSZE zur Regelung des Transfers konventioneller Waffen. Auch diese Prinzipien finden bei der Erteilung einer Ausfuhrgenehmigung ihren Niederschlag. Der Hauptteil der Rüstungsexporte Deutschlands geht in EU-Länder bzw. an NATO-Partner, also in PartnerlänAndreas G. Lämmel der, die in einer gemeinsamen Wertegemeinschaft und Verteidigungsgemeinschaft organisiert sind. Selbst die Genehmigung dieser Exporte wird sehr restriktiv gehandhabt. Wenn Sie dies immer weiter einengen, dann wird das dazu führen, dass kein Antrag mehr gestellt wird, ({2}) weil niemand mehr Lust hat, mehrere Jahre darauf zu warten, dass eine Genehmigung erteilt wird. Dann würden die deutschen Produzenten als unzuverlässig gelten. Wenn sie diesen Ruf erst einmal haben, dann können sie ganz schnell in wirtschaftliche Schwierigkeiten kommen. Die IG Metall hat im letzten Jahr einen langen Brief in Sachen Sicherheits- und Rüstungsindustrie an die Mitte des Deutschen Bundestags geschrieben und deutlich darauf hingewiesen, dass hier Gefahr im Verzug ist, wenn die Restriktionen wesentlich drastischer gefasst werden. ({3}) Sie sollten mit den Gewerkschaftsfunktionären in Ihrer Partei einmal darüber reden, dass viel davon abhängt, ob die Restriktionen zunehmend verschärft werden. Die beiden zentralen Merkmale deutscher Rüstungspolitik sind seit Jahrzehnten konstant. Es ist ein großer Vorteil, dass man sich schon im Vorhinein darauf verlassen kann, dass man nur dann einen Antrag zu stellen braucht, wenn man überhaupt eine Chance hat. Deutsche Rüstungsgüter sind gefragt, weil die Qualität sehr hoch ist. Was für Autos und Elektrogeräte gilt, gilt genauso zum Beispiel für U-Boote, für Schiffe oder für Panzer. Bei den Gewehren scheint es im Moment ein bisschen schwierig zu sein. ({4}) Wir liefern keine Rüstungsgüter in Konfliktgebiete. ({5}) Frau Keul, noch einige Worte zur Mitwirkung des Parlaments bei der Ausfuhrgenehmigung. Wir haben mehrfach in der letzten Legislaturperiode und in dieser Legislaturperiode darüber diskutiert. Zuerst einmal muss man sagen: Das Bundesverfassungsgericht hat klar formuliert, dass die Mitgestaltung des Parlaments bei diesen Entscheidungen eigentlich nicht nötig ist. Deswegen ging die ganze Diskussion darum - das wissen Sie ganz genau -, wie man das Parlament zeitnah besser über die Dinge informieren kann, die im Bundessicherheitsrat genehmigt wurden. Das hat sich in dieser Legislatur deutlich verbessert. Der Rüstungsexportbericht muss viel zeitnaher abgeliefert werden, nämlich vor Beginn der parlamentarischen Sommerpause. Ich bin gespannt, ob Sie in den neuen Bericht noch vor der Sommerpause einen Blick werfen oder ob Sie sich die Lektüre erst danach gönnen. Dann haben wir im Herbst jedes Jahres einen Zwischenbericht für das erste halbe Jahr des laufenden Jahres. Das erhöht die Transparenz über das, was genehmigt worden ist, schon sehr deutlich. Nach jedem dieser Berichte haben wir eine Diskussion hier im Parlament, sodass aus unserer Sicht sich die Transparenz im letzten Jahr deutlich verbessert hat. Abschließend ist zu sagen: Wir brauchen in Deutschland eine intakte Sicherheits- und Verteidigungsindustrie. Die muss wettbewerbsfähig sein, und sie muss weiterhin die Möglichkeit haben, an Spitzentechnologien zu forschen und diese zu entwickeln. Wenn wir nicht mehr den Bedarf in unserem eigenen Lande haben, bleibt letztendlich nur der viel gescholtene Export. Wir haben schon in der vorletzten Debatte gehört, welche Auffassung Sie zur deutschen Exportstärke haben. Deshalb wundert es mich nicht, dass dazu von Ihnen nichts Neues kommt. Ich kann nur sagen: Wir brauchen dieses Gesetz nicht. Wir haben einen Weg zu mehr Transparenz und zu mehr Information des Parlaments beschritten. Ich denke, das ist genau der Weg, den wir auch weiter gehen sollten. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({6})

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000305

Vielen Dank. - Als nächster Redner hat Jan van Aken von der Fraktion Die Linke das Wort. ({0})

Jan Aken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004001, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Oh Mann, Herr Lämmel, Sie haben hier neun Minuten über Waffenexporte geredet. In Ihrer Rede waren so viele Fehler, dass ich mindestens 20 Minuten bräuchte, um die alle aufzuzählen. ({0}) Um nur einmal einen Punkt aufzugreifen: Sie behaupten hier einfach, dass der allergrößte Teil der deutschen Rüstungsexporte in die EU-Länder geht. ({1}) Sie haben überhaupt keine Ahnung. Über 60 Prozent der deutschen Waffenexporte gehen mittlerweile an Länder außerhalb der NATO, ({2}) obwohl in diesen Politischen Grundsätzen steht, dass das die riesengroße Ausnahme sein soll. Über 60 Prozent! Das haben Sie von der CDU verbrochen. ({3}) Jetzt haben die Grünen ihren Antrag zu Waffenexporten vorgelegt, den wir in ungefähr der gleichen Version vor drei Jahren hier schon einmal diskutiert haben. Ich finde, das ist jetzt eine gute Gelegenheit, Bilanz zu ziehen, auch über anderthalb Jahre Tätigkeit des Rüstungsexportministers Gabriel. Der war mit dem Ziel angetreten - das hat er jedenfalls damals gesagt -, deutsche Waffenexporte drastisch zu reduzieren. Er hat im Januar 2014 ein schönes Interview gegeben, woraus ich zitieren möchte. Gabriel sagte wörtlich: … wenn man die Waffen in die falschen Regionen gibt, kann es zu einem Geschäft mit dem Tod werden. … ({4}) Keine Waffen an Länder, in denen Bürgerkrieg herrscht. Auch Unrechtsregimen sollte man keine Waffen verkaufen. Das ist total richtig so. ({5}) Das Problem ist, dass die Realität des Herrn Gabriel leider ganz anders aussieht. Nehmen wir Saudi-Arabien. Ich meine, da sind wir uns doch alle einig, selbst mit Herrn Lämmel, dass das ein Unrechtsstaat ist, oder? Schauen wir uns einmal an, dass unter Herrn Gabriel im Januar 2015, in nur einem Monat, Rüstungsexporte im Wert von 110 Millionen Euro nach Saudi-Arabien genehmigt worden sind - in nur einem Monat an den Unrechtsstaat Saudi-Arabien! Das ist ein schmutziges Geschäft, und das wissen auch Sie von der SPD. ({6}) Nicht einmal die Tatsache, dass dann Anfang des Jahres die Saudis angefangen haben, Krieg zu führen - die bombardieren im Jemen, übrigens auch mit deutschen Waffen -, ({7}) hat dazu geführt, dass die Exporte eingestellt werden. Selbst nach Beginn der saudischen Bombenangriffe im Jemen haben Sie von der SPD und der CDU Rüstungsexporte nach Saudi-Arabien genehmigt. Das ist genau das, was Gabriel „Geschäft mit dem Tod“ genannt hat. Das macht er jetzt jeden Tag: Ein Geschäft mit dem Tod. Ich frage mich immer, ob Sie von der SPD nicht anders wollen oder ob Sie nicht anders können. Ich meine, Frau Merkel regiert ja auch noch mit, und sie ist voll dabei, wenn Waffen verkauft werden sollen, jetzt gerade wieder nach Ägypten. Fakt ist: Im ganzen Jahr 2014 mit dem Rüstungsexportminister Gabriel ist der größte Teil der deutschen Rüstungsexporte in Drittländer gegangen. Acht der zehn Hauptempfängerstaaten sind nicht NATO-Staaten. Das ist die Realität, Herr Lämmel. Der müssen Sie sich einmal stellen. ({8}) Der Punkt ist jedoch: Wenn wir das wirklich ändern wollen, dann brauchen wir endlich klare und einfache Regeln. Änderung geht nicht mit vielem Hin und Her und Wenn und Aber, sondern wir brauchen klare und einfache Verbote. Da bin ich jetzt bei dem Antrag der Grünen. Eines vorweg: Ich bin völlig bei Ihnen, dass wir endlich ein Gesetz zur Kontrolle von deutschen Rüstungsexporten brauchen. Das ist richtig. Was ich aber nicht verstehe, ist: Warum wollen Sie in das Gesetz nur das hineinschreiben, was im Moment sowieso schon gilt? ({9}) Warum wollen Sie nur die Politischen Grundsätze in ein Gesetz überführen? Ich weiß, dass die Politischen Grundsätze Ihnen naheliegen. Sie haben sie selbst vor 15 Jahren mit aufgestellt. Aber die Politischen Grundsätze erlauben, dass sogar Panzer nach Katar geliefert werden, sie erlauben, dass Panzer nach Saudi-Arabien geliefert werden, sie erlauben Exporte an Menschenrechtsverletzer. Das Problem ist doch, dass Rot-Grün damals einen ganz großen Ermessensspielraum in den Politischen Grundsätzen verankert hat. Deswegen sagen wir: Diese Politischen Grundsätze sind heute wie ein großes Scheunentor, durch das weiter und weiter deutsche Waffen in alle Welt geliefert werden. Deswegen reichen uns diese Grundsätze auf gar keinen Fall. ({10}) Ich möchte einmal eine Sache klarstellen. Sie schreiben in Ihrem Antrag, dass die Politischen Grundsätze von allen politischen Lagern akzeptiert werden. Nein, ich akzeptiere diese Grundsätze nicht. Auch die Linke akzeptiert sie nicht, eben weil sie sämtliche Waffenexporte, selbst die nach Katar, selbst die nach SaudiArabien, erlauben. ({11}) Von mir aus können alle Waffenexporte - das wissen Sie - sofort verboten werden.

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000305

Lassen Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Keul zu?

Jan Aken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004001, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ja.

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000305

Frau Keul, bitte.

Katja Keul (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004067, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank für die Zulassung der Frage. - Irgendwie sehe ich jetzt doch einen Widerspruch; denn Sie haben am Anfang Ihrer Rede deutlich gemacht, dass die PolitiKatja Keul schen Grundsätze der Bundesregierung gerade nicht eingehalten werden. Darin steht nämlich: In der Regel ist nur an EU- und NATO-Staaten zu exportieren und nur in wenigen Ausnahmefällen überhaupt an Drittstaaten. Wir haben in den letzten Jahren aber erlebt - das ist sowohl im Rüstungsexportbericht 2013 als auch im Rüstungsexportbericht 2014 festgehalten -, dass der Anteil der Exporte in Drittstaaten dermaßen angestiegen ist, dass er heute die Regel ist; dorthin gehen sogar über 50 Prozent der exportierten Waffen. Das zeigt doch deutlich, dass die Politischen Grundsätze der Bundesregierung, wie sie im Jahr 2000 aufgeschrieben worden sind, schlichtweg ignoriert werden. Man bekennt sich zu ihnen zwar, weil sie schön klingen, aber am Ende ignoriert man sie. Das ist der Grund, warum wir sagen: Wir wollen diese Grundsätze gesetzlich verankern, damit ihre Einhaltung endlich eingeklagt werden kann. ({0})

Jan Aken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004001, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Nein, Frau Keul. Sie wissen doch genau, was darin steht. Darin steht: Waffenexporte an Drittstaaten werden nicht genehmigt, es sei denn, dass besondere außen- und sicherheitspolitische Interessen dagegenstehen. - Das heißt, in jedem Einzelfall wird entschieden und in jedem Einzelfall werden diese Grundsätze - leider - tatsächlich eingehalten. Es dürfen sogar Panzer mitten in ein Kriegsgebiet an Menschenrechtsverletzer exportiert werden, wenn die sicherheitspolitischen Interessen im Einzelfall dafürsprechen. Insofern haben Sie recht: Es ist völliger Wahnsinn, dass in der Summe über 60 Prozent der Waffenexporte an Drittstaaten gehen, obwohl diese Grundsätze in jedem Fall eingehalten werden. Ich finde, das ist der Moment, wo wir alle hier uns einmal eingestehen müssen, dass das Prinzip der Politischen Grundsätze, egal ob sie gesetzlich verankert sind oder nicht, nicht funktioniert. Selbst unter Rot-Grün - ich glaube Ihnen, dass Sie die Waffenexporte damals reduzieren wollten - sind die Waffenexporte trotz der Politischen Grundsätze gestiegen. Es funktioniert so einfach nicht. ({0}) Von mir aus können alle Waffenexporte - das wissen Sie alle - sofort verboten werden. Aber ich bin ja halbwegs Realist. Ich glaube, das dauert noch ein paar Jahre. Aber das Mindeste, das wir jetzt durchsetzen müssten, und zwar sofort, sind drei Dinge: Erstens: keine Exporte mehr von Kleinwaffen, keine Sturmgewehre, keine Maschinenpistolen, keine Panzerfäuste. ({1}) Zweitens: klare Regeln, dass es keine Waffenexporte mehr an Menschenrechtsverletzer gibt. Drittens: kein Steuergeld für Waffenexporte, keine Hermesbürgschaften für Waffenexporte. ({2}) Das alles sind Dinge, bei denen ich mich die ganze Zeit frage: Liebe Grünen, warum können Sie sich nicht endlich einmal dazu durchringen, wenigstens Verbote von Kleinwaffenexporten zu fordern. Ich verstehe einfach nicht, warum Sie an diesen wischiwaschiweichen Regelungen aus der Vergangenheit festhalten wollen. Im Übrigen bin ich der Meinung, dass Deutschland überhaupt keine Waffen mehr exportieren sollte; aber das wissen Sie jetzt ja. ({3})

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000305

Als nächster Redner hat Bernd Westphal von der SPD-Fraktion das Wort. ({0})

Bernd Westphal (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004442, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Export von Sicherheits- und Rüstungsgütern bedeutet nicht gleich Krieg. Dieser Export geschieht in Deutschland nach klaren Regeln und hohen Maßstäben. Die Politischen Grundsätze - sie wurden ja eben schon genannt - beruhen auf dem Artikel 26 des Grundgesetzes. Das ist ja auch durch das Bundesverfassungsgericht bestätigt worden. Weiterhin gelten das Außenwirtschaftsgesetz und das Kriegswaffenkontrollgesetz. Jede Exportanfrage wird im Einzelnen überprüft, abgewogen, und erst dann wird entschieden. Eine Genehmigung wird nur dann erteilt, wenn keine Menschenrechtsverletzungen stattfinden und nachgewiesen werden können. Sie wird auch nicht erteilt, wenn Krisen in Empfängerländern sich dementsprechend entwickeln. ({0}) Gerade für Staaten außerhalb der NATO und der EU sind die Regeln besonders streng; denn die Bundesregierung erteilt nur in Ausnahmefällen Genehmigungen für Rüstungsexporte an Drittstaaten ({1}) und betreibt keine Exportpolitik nach wirtschaftlichem Interesse. Bei Entscheidungen über Exporte in sogenannte Drittstaaten sind die im Jahr 2000 beschlossenen Rüstungsexportrichtlinien immer noch Grundlage für das Handeln der Bundesregierung. Frau Keul, ich sage Ihnen: Das hat sich bewährt. Ebenso wurde in den Koalitionsverhandlungen ausdrücklich festgelegt, dass diese Politischen Grundsätze weiterhin verbindlich sind. Es gilt der Grundsatz der Selbstbindung der Verwaltung bei der Anwendung der entsprechenden Regeln des Außenwirtschaftsgesetzes und des Kriegswaffenkontrollgesetzes. Auf den Gemeinsamen Standpunkt der EU für Rüstungsexporte wird in den Politischen Grundsätzen ebenfalls Bezug genommen. Diese sind demensprechend gültig. Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Grünen fordern in ihrem Antrag zudem, dass das Bundeskabinett in Zu10490 kunft alle sensiblen Entscheidungen trifft. Wir vertreten dagegen die Auffassung, dass im Bundessicherheitsrat sowieso alle für eine solche Entscheidung zuständigen Minister vertreten sind. Wofür bedarf es dann bei einer solchen Entscheidung des Gesamtkabinetts? Das ist kein effizientes Regierungshandeln, wenn am Kabinettstisch alle Minister solche Vorlagen behandeln. Was hat zum Beispiel der Landwirtschaftsminister damit zu tun? ({2}) Der Kern des Vorschlags der Grünen besteht in der Forderung nach einem Verbandsklagerecht. Falls dieses eingeführt würde, könnte es in vielen Fällen bei Entscheidungen über Rüstungsexporte zu langwierigen Gerichtsverfahren kommen. Dies wäre zum Beispiel auch bei Entscheidungen der Bündnispartner zur Unterstützung der kurdischen Regionalregierung ein Problem gewesen. Ohne die Waffenlieferungen an die Peschmerga würden wahrscheinlich die vom IS verfolgten Jesiden heute nicht mehr existieren, und das ist nicht unser Ziel. ({3}) Die Bundesregierung hat sich für eine restriktive Politik bei Exporten von Rüstungsgütern ausgesprochen. Dies ist im Koalitionsvertrag fest verankert, und die Zahlen für das erste Halbjahr 2014 unterstreichen dies. Im Berichtszeitraum entfielen circa 60 Prozent - das entspricht einem Wert von 1,2 Milliarden Euro - der Genehmigungen allein auf U-Boote, Fregatten und Patrouillenboote. Ich kann nicht erkennen, dass diese Waffen dort eingesetzt werden können, um zum Beispiel die eigene Bevölkerung zu drangsalieren. ({4}) Bei Exporten sind die legitimen Sicherheitsinteressen eines Empfängerlandes zu berücksichtigen. Boote werden unter anderem zum Schutz von Hoheitsgewässern auf internationalen Seewegen benötigt. Nicht jedes Rüstungsgut trägt automatisch zur Eskalation einer Situation bei oder ist eine potenzielle Bedrohung für die heimische Bevölkerung. Bei den Staaten in der Golfregion handelt es sich um souveräne Staaten mit eigenen außen- und sicherheitspolitischen Interessen. Diese Staaten nehmen ihre legitimen Aufgaben wahr, ihr eigenes Recht und ihr eigenes Land zu schützen, zum Beispiel gegen Terrorismus.

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000305

Lassen Sie eine Zwischenfrage zu, Herr Westphal?

Bernd Westphal (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004442, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja, sicher.

Agnes Malczak (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004106, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen lieben Dank, Herr Kollege Westphal, dass Sie die Frage zulassen. - Sie sprechen ja gerade von den legitimen außen- und sicherheitspolitischen Interessen der Empfängerländer. Jetzt ist es ja so gewesen: Vor ein paar Jahren ist Saudi-Arabien mit Panzern in das Nachbarland Bahrain einmarschiert, um dort den friedlichen Aufstand im Rahmen des Arabischen Frühlings zu unterdrücken. Saudi-Arabien ist ja ein großer Empfänger von deutschen Rüstungsexporten. Halten Sie das für legitime außen- und sicherheitspolitische Interessen, die von deutscher Seite aus mit Rüstungsexporten unterstützt werden sollen? ({0})

Bernd Westphal (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004442, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Das sind nicht unbedingt Panzer. Man muss sich ganz genau angucken, welche Dinge dorthin geliefert werden. Es handelt sich auch um viele Dinge aus dem Sicherheitsbereich. Das kann zum Beispiel ein Zaun mit Sicherheitssystemen sein, der die Grenzen von SaudiArabien schützt, der auch unter den Export von Rüstungs- und Sicherheitsgütern fällt. Es ist sicherlich legitim, solche Dinge an dieses Land zu liefern. ({0}) Im ersten Halbjahr 2014 wurden Einzelausfuhrgenehmigungen für Waren im Wert von 2,2 Milliarden Euro erteilt. Das ist immerhin ein Rückgang um 700 Millionen Euro. Rund zwei Drittel des Gesamtwertes betrafen Genehmigungen für Lieferungen an sogenannte Drittstaaten, vor allem an Israel, Singapur, Südkorea und Brunei. Allein auf die Genehmigung der Lieferung eines U-Bootes nach Israel entfällt zum Beispiel ein Wert von 600 Millionen Euro. Bei den Exportgenehmigungen für Kleinwaffen und Kleinwaffenteilen an Drittländer ist eine erhebliche Abnahme von 18 Millionen Euro auf 1,4 Millionen Euro zu verzeichnen. Mit Ausnahme von Indonesien sank die Zahl der Genehmigungen im Vergleich zum ersten Halbjahr 2013. Der Wert der Genehmigungen war bei den eben genannten Ländern ebenfalls rückläufig. Liebe Kolleginnen und Kollegen, bezüglich der Forderung nach einer ausführlichen Unterrichtung des Parlaments wurden hier schon einige Dinge gesagt. Ich denke, es kommt dem Wunsch des Parlamentes entgegen, dass wir schon jetzt viele Berichte zeitnah bekommen. Der Rüstungsexportbericht wird zeitnah zweimal im Jahr veröffentlicht. Bisher vergingen bis zur Veröffentlichung bis zu eineinhalb Jahre. Die Entscheidung des Bundessicherheitsrates muss innerhalb von zwei Wochen an den Wirtschaftsausschuss des Bundestages berichtet werden. Das ist bereits Praxis. Damit wurde die Geheimhaltungspraxis bei Exporten von deutschen Rüstungsgütern sowie bei Rüstungs- und Beschaffungsprojekten für die Bundeswehr beendet. Deutschland verfolgt nicht das Ziel eines offensiven Verkaufs von Wehrtechnik. Rüstungs- und Verteidigungsgüter werden nicht eingesetzt, um weltweit Konflikte zu erzeugen oder anzuheizen. ({1}) Sie dienen dem Frieden und der Durchsetzung von Menschenrechten, der Sicherheit von Regionen und dem berechtigten Schutz von Menschen. ({2}) Und sie helfen vor allem, geschützte Räume zum Beispiel für den Einsatz von Hilfskräften zu garantieren. ({3}) Das wird weiterhin im Fokus unserer Politik stehen. Vielen Dank. ({4})

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000305

Vielen Dank. - Als nächster Redner hat Helmut Nowak von der CDU/CSU-Fraktion das Wort. ({0})

Helmut Nowak (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004364, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Die Grünen fordern in ihrem Antrag strengere Kontrollen und mehr Transparenz. Dabei ist die Genehmigung von Rüstungsexporten schon heute bis ins Detail geregelt und streng überwacht. Für den gesamten Handlungsprozess bestehen bereits strikte Vorgaben. Das gilt insbesondere für Drittländer. Eine Ausfuhr wird nur in Ausnahmefällen gestattet. ({0}) Im weltweiten Vergleich hat Deutschland seit vielen Jahren die restriktivste Praxis in Bezug auf Genehmigungen bis hin zum letztendlichen Verbleib der Rüstungsgüter, also bis zu der Zeit nach der Nutzung. ({1}) In ihren Entscheidungen richtet sich die Bundesregierung maßgeblich nach den Politischen Grundsätzen der Bundesregierung für den Export von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern. Diese wurden übrigens im Jahr 2000 - das ist schon mehrfach genannt worden von der rot-grünen Regierung beschlossen, und das war auch gut so. Auch die jetzige Koalition bekennt sich im Koalitionsvertrag ausdrücklich zu diesen Dingen. Die darin enthaltenen Genehmigungskriterien für Exporte sind durch Aufnahme als Ermessensleitlinie bereits verbindlich. Sie bedürfen daher keiner weiteren Einbindung in das Gesetz. Als rechtliche Basis dienen der Bundesregierung das Außenwirtschaftsgesetz, die Außenwirtschaftsverordnung und das Gesetz über die Kontrolle von Kriegswaffen. Laut dieser Gesetze bzw. Verordnung wird bei der Ausfuhr aller Rüstungsgüter eine Genehmigung benötigt. Es wird grundsätzlich keine Genehmigung erteilt, wenn auch nur der „hinreichende Verdacht“ besteht, dass die Bevölkerung des Empfängerlandes interner Repression oder sonstiger Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt ist. Zudem wird das Verfahren bei den Genehmigungsprozessen durch den Verhaltenskodex der Europäischen Union für Waffenausfuhren sowie durch die Prinzipien zur Regelung des Transfers konventioneller Waffen der OSZE geregelt. Der Bundessicherheitsrat trifft die abschließende Entscheidung. Wie im Koalitionsvertrag vereinbart, unterrichtet die Bundesregierung den Deutschen Bundestag und damit die Öffentlichkeit. Dadurch wird Transparenz gegenüber Parlament und Bürgerinnen und Bürgern entsprechend den festgelegten Berichtspflichten sichergestellt. Bereits im Frühjahr 2014 stufte das Bundesverfassungsgericht die in diesem Zusammenhang durchgeführte Informationspraxis als verfassungsgemäß ein. Daher sehe ich auch hier keine Anknüpfungspunkte für die gestellten Forderungen. Der Export von Gütern der Sicherheits- und Verteidigungsindustrie in Deutschland ist somit bereits streng geregelt, reglementiert, und die damit einhergehende Informationspraxis ist rechtlich verankert. Insbesondere eine weitere Verschärfung ist daher an dieser Stelle nicht erforderlich. Zusätzliche Restriktionen brächten die deutsche Sicherheitswirtschaft dagegen in eine durchaus prekäre Lage. Schon jetzt müssen die deutschen Unternehmen fürchten, aus der internationalen Sicherheitskooperation verdrängt zu werden, da sie im globalen Ansehen zunehmend an Verlässlichkeit einbüßen. Bei internationalen Rüstungsmessen werben ausländische Hersteller bei der Präsentation ihrer Produkte inzwischen mit „German free“, was bedeuten soll, dass auf deutsche Bauteile und deutsches Know-how verzichtet wurde. Verzichtet wurde deshalb, weil kein Vertrauen mehr in eine langfristig angelegte Zusammenarbeit besteht. Und das, sehr geehrte Damen und Herren, ist eine wirklich besorgniserregende Entwicklung. Die deutsche Rüstungsexportpolitik war immer eine Politik der Selbstbeschränkung. Wir setzen damit internationale Standards und gehen mit gutem Beispiel voran. Alles ist genau und transparent geregelt. In präzisen Einzelfallüberlegungen wird etwa erörtert: Wer erhält die Güter? Zu welchem Zweck? Was passiert mit dem Gerät nach der Nutzungsphase? - Glauben Sie, dass das in irgendeinem anderen Land ähnlich gehandhabt wird? Ich zumindest kenne keines. ({2}) Beschränkungen dürfen aber nicht durch immer weitere Verschärfungen dazu führen, dass bei uns ganze Industriebereiche vernichtet werden. Firmen bekämen nicht mehr genügend Aufträge, Zehntausende Angestellte verlören ihren Arbeitsplatz, was gleichzeitig ein Ende von Entwicklung und Produktion von Sicherheits10492 gütern in Deutschland bedeuten würde, oder die Unternehmen sähen sich gezwungen, ins Ausland abzuwandern. In beiden Fällen gingen damit der dauerhafte Verlust des entsprechenden technischen Know-hows sowie hochqualifizierter Arbeitsplätze einher. Die Folge wäre eine erhebliche Schwächung der außen- und sicherheitspolitischen Handlungsfähigkeit Deutschlands. Wir wären abhängig von Importen und würden somit weniger Kontrolle über unsere eigene nationale Sicherheit besitzen, und dies in einer Zeit, in der Krisen und Kriege mittlerweile direkt vor unserer Haustür stattfinden. Es ist aber eine Kernaufgabe staatlichen Handelns, die Sicherheit seiner Bürger und die seiner Bündnispartner zu garantieren. Hierzu zählen Frieden und Stabilität im Inland sowie eine wirksame Landesverteidigung. Wir dürfen dabei auch nicht übersehen, dass sich viele NATO-Staaten bei der Sicherung ihrer Länder auch auf deutsche Technologie verlassen. Aber auch viele Staaten, die nicht Mitglied des Nordatlantischen Bündnisses sind, vertrauen bei ihrer Landesverteidigung auf deutsches Know-how. Soll Deutschland den anderen Ländern verwehren, sich dafür einzusetzen, ihre Landesgrenzen auch mit deutscher Technologie zu sichern und das Leben, das Hab und Gut der eigenen Bevölkerung zu schützen? Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen, eines ist doch auch klar: Eine noch weitere Beschränkung von Rüstungsexporten bis hin zur totalen Aufgabe, wie sie gefordert wird, würde den weltweiten Handel von Rüstungsgütern in keiner Weise stoppen, nicht einmal quantitativ verändern. Unsere Exporte würden dann lediglich von anderen Ländern übernommen werden, deren Kontrollen und Anforderungen wesentlich geringer ausfallen - von der Berücksichtigung der Menschenrechtslage ganz zu schweigen. Ich sage, mit zusätzlichen Verschärfungen der Gesetzgebung im Bereich der Rüstungsexportkontrolle erreichen wir keines der von Ihnen gewünschten Ziele. Wir wollen unsere wettbewerbsfähigen Unternehmen und Technologien im Inland fördern. Wir wollen bei der Kontrolle von Rüstungsexporten weltweit Standards setzen und mit gutem Beispiel vorangehen. Wir wollen unseren Bürgern eine wirksame Landesverteidigung garantieren. Wir wollen anderen Ländern dieselbe sichere und stabile Landesverteidigung nicht verwehren. Daher ist es, entgegen Ihrem Ansinnen, dringend notwendig, die deutsche Sicherheits- und Verteidigungsindustrie weiterhin nachhaltig zu stärken. Ihrem Antrag können wir deshalb nicht zustimmen. Ich danke Ihnen. ({3})

Ulla Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002019

Vielen Dank. - Nächste Rednerin für die SPD-Fraktion ist die Kollegin Ute Finckh-Krämer. ({0})

Dr. Ute Finckh-Krämer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004273, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer auf den Tribünen! Alle 14 Minuten stirbt auf der Welt ein Mensch durch eine Kugel aus einer Waffe von Heckler & Koch - das hat die „Aktion Aufschrei - Stoppt den Waffenhandel!“ ausgerechnet. Angesichts dessen, was über Jahrzehnte an deutschen Waffen in Umlauf gekommen ist, fürchte ich, dass sie recht hat. Jürgen Grässlin schreibt in seinem Buch Schwarzbuch Waffenhandel, dass täglich im Durchschnitt etwa 2 000 Menschen auf der Welt durch Waffengewalt sterben, die meisten davon - rund 95 Prozent - durch Kleinwaffen. Deswegen ist nicht nur für die SPD, sondern auch für die Organisationen, die sich zu Recht und mit großem Engagement gegen Rüstungsexporte einsetzen, das Thema „Kleinwaffenproliferation und Kleinwaffenexporte“ seit Jahren das entscheidende. An diesem Punkt ist in diesem Jahr tatsächlich etwas passiert: Einerseits gab es eine öffentliche Anhörung im Petitionsausschuss, weil die „Aktion Aufschrei - Stoppt den Waffenhandel!“ eine Petition auf den Weg gebracht hatte, die 90 000 Unterschriften erhalten hat. Zu dieser Anhörung ist Sigmar Gabriel selber gekommen. Er hat ganz deutlich gesagt, dass aus seiner Sicht als Wirtschaftsminister - ich glaube, da hat er für die ganze SPD-Fraktion gesprochen - Waffenexporte kein Mittel der Industrieförderung sind, Rüstungsforschung auch kein Grund dafür ist, Waffenexporte zu genehmigen, sondern dass, wenn überhaupt, nur andere Kriterien - da hat er sich auf die Rüstungsexportrichtlinie bezogen herangezogen werden dürfen. ({0})

Ulla Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002019

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Vogler?

Dr. Ute Finckh-Krämer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004273, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja, gerne.

Ulla Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002019

Bitte schön, Frau Kollegin Vogler.

Kathrin Vogler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004181, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Liebe Kollegin Finckh-Krämer, vielen Dank, dass Sie meine Zwischenbemerkung zulassen. Ich freue mich, dass Sie so ausführlich über die „Aktion Aufschrei Stoppt den Waffenhandel!“ und über die Aktivitäten zur Begrenzung von Kleinwaffenexporten sprechen. Ich würde einfach mal nachfragen wollen: Wie passt es, wenn die SPD hinter diesen Aktivitäten steht und auch der Wirtschaftsminister angeblich alles dafür tun will, dass der Handel mit Kleinwaffen nicht mehr Bestandteil der Wirtschaftspolitik ist, ins Bild, dass der Staatssekretär im Wirtschaftsministerium Uwe Beckmeyer im Februar dieses Jahres, und zwar unmittelbar nach dem Red Hand Day, an dem wir gegen den Einsatz von Kindersoldaten demonstriert haben, im Rahmen einer Reise nach Indien, einem Land, in dem Kinder für gewalttätige AusKathrin Vogler einandersetzungen rekrutiert werden, eine umfangreiche Wirtschaftsdelegation zu Rüstungs- und Sicherheitstechnologien bei sich gehabt hat, in der unter anderem die Firma Heckler & Koch vertreten war? Die Kollegin Parlamentarische Staatssekretärin Brigitte Zypries hat diesen Vorgang in der Fragestunde des Bundestages als Rüstungsförderung „by the way“ bezeichnet. Ist es so, dass die SPD - den Eindruck konnte man auch bei der Rede Ihres Kollegen aus dem Wirtschaftsbereich bekommen - es nach außen hin so darstellt, als ob sie Rüstungsexporte gar nicht so gut findet und wirklich etwas dagegen unternehmen und sie transparenter gestalten will, tatsächlich aber heimlich Wirtschaftsdelegationen zur Förderung des Kleinwaffenhandels in Ländern wie Indien begleitet, und das unmittelbar nach dem Red Hand Day? ({0})

Dr. Ute Finckh-Krämer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004273, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Liebe Kathrin Vogler, das, was Uwe Beckmeyer als Parlamentarischer Staatssekretär macht, basiert nicht auf einem Beschluss der SPD-Fraktion. Insofern wäre ich froh, wenn diese Frage an ihn gerichtet würde und nicht an mich. Was ich referieren kann - das kommt ebenfalls aus dem Wirtschaftsministerium, aber nicht von Uwe Beckmeyer -, sind die neuen „Grundsätze der Bundesregierung für die Ausfuhrgenehmigungspolitik bei der Lieferung von Kleinen und Leichten Waffen, dazugehöriger Munition und entsprechender Herstellungsausrüstung in Drittländer“ vom 18. März dieses Jahres. Darin sind einige der Forderungen aufgegriffen, die von Organisationen wie der „Gemeinsamen Konferenz Kirche und Entwicklung“ oder von der „Aktion Aufschrei Stoppt den Waffenhandel!“ geäußert worden sind - ich zitiere Punkt 6 -: Der Exportgrundsatz „Neu für Alt“ wird grundsätzlich bei Genehmigungen von Kleinen und Leichten Waffen angewendet. Das heißt: staatliche Empfänger von Kleinen und Leichten Waffen haben grundsätzlich eine Verpflichtungserklärung dahingehend abzugeben, dass sie die durch die Neubeschaffung zu ersetzenden Kleinen und Leichten Waffen vernichten. … Die Bundesregierung trägt dafür Sorge, - so geht es weiter im Text dass die Umsetzung des Exportgrundsatzes „Neu für Alt“ sowie dessen Variante „Neu, Vernichtung bei Aussonderung“ - sie wird dazwischen geschildert überwacht wird. Ein weiterer Punkt dieser Grundsätze, die übrigens im Internet auf der Seite des Wirtschaftsministeriums öffentlich zugänglich sind, ist der Punkt 9, bei dem es um die Kennzeichnung von Kleinen und Leichten Waffen geht, weil der Weiterverkauf bzw. die unkontrollierte Weitergabe eines der großen Probleme bei Kleinen und Leichten Waffen ist. Unter Punkt 9 heißt es: Kleine und Leichte Waffen sind mit Kennzeichen zu versehen, die leicht erkennbar, lesbar, dauerhaft und nach Maßgabe der technischen Möglichkeiten wiederherstellbar sind. Die umfassende Kennzeichnung von in Deutschland hergestellten Kleinen und Leichten Waffen wird rechtsverbindlich geregelt und erfolgt unter Berücksichtigung internationaler Verpflichtungen. Unter Punkt 10 heißt es schließlich - hoffentlich wird er sich in Zukunft hilfreich auswirken -: Die Bundesregierung bekräftigt in diesem Zusammenhang, dass überschüssige Kleine und Leichte Waffen im Verantwortungsbereich der Bundeswehr grundsätzlich vernichtet werden.

Ulla Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002019

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Keul?

Dr. Ute Finckh-Krämer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004273, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja.

Ulla Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002019

Bitte schön. - Vielleicht darf ich vorher noch einmal darauf aufmerksam machen, dass die Zwischenfragen oder Zwischenbemerkungen immer kurz und präzise sein sollten, damit eine ebenso kurze und präzise Antwort möglich ist.

Katja Keul (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004067, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich werde das berücksichtigen. - Frau FinckhKrämer, Sie zitieren aus diesem glorreichen Papier. Ich möchte deshalb nachfragen, ob Sie mir einen Punkt nennen können, der in irgendeiner Weise neu ist. Alle diese Punkte, die Sie eben genannt haben - Punkt 6: „Neu für Alt“, Punkt 9: „sind zu kennzeichnen“, Punkt 10: „bekräftigen wir“ -, stehen seit Jahren wortwörtlich so in den Rüstungsexportberichten, einschließlich: „Wir werden keine Waffenlizenzen an Drittstaaten genehmigen“. - Das steht alles wortwörtlich seit Jahren in den Berichten. Wo in diesen Grundsätzen ist auch nur irgendein Komma neu? ({0})

Dr. Ute Finckh-Krämer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004273, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Neu ist zumindest, dass es eine Absichtserklärung der Bundesregierung ist, die in der letzten Legislaturperiode vielleicht nicht ganz so - das hat die SPD in der Opposition zu Recht kritisiert - eingehalten wurde. Jetzt wird sie noch einmal in zehn knappen und präzisen Punkten festgelegt. Letztlich ist es - das kann man so formulieren eine Bekräftigung, dass man die etwas lockerere Genehmigungspraxis der letzten Legislaturperiode nicht mehr haben möchte. Bernd Westphal hat eben schon aus dem Zwischenbericht über die Rüstungsexporte im ersten Halbjahr 2014 zitiert, der im Herbst veröffentlicht wurde. Dort ist gegenübergestellt, wie viele Kleinwaffen im ersten Halbjahr 2013, also unter Schwarz-Gelb, in NATO- bzw. EU10494 Länder oder in Länder außerhalb der EU bzw. NATO und gleichgestellte Länder exportiert wurden. Hier sind die Zahlen drastisch zurückgegangen. Übrigens enthält dieser Bericht in der Anlage eine vollständige Liste über die „Genehmigungen von Kleinwaffen für Drittländer im ersten Halbjahr 2014 ({0})“. Man kann also nachlesen, in welche Länder im ersten Halbjahr 2014 exportiert wurde. Aus meiner persönlichen Sicht ist jede Kleinwaffe, die exportiert wird, eine zu viel. Andererseits haben etliche in diesem Haus - auch von Ihrer Partei, soweit ich weiß - diversen VN-Missionen zugestimmt. In Anlage 7 zu diesem Zwischenbericht sind auch einzelne Exporte in VN-Missionen aufgeführt. Das sollten Sie dann unter Umständen mal intern diskutieren. ({1}) - Eben, genau. Aber wenn man Waffenlieferungen in VN-Missionen akzeptiert, kann man nicht ganz so grundsätzlich argumentieren, wie man das kann, wenn man auch VN-Missionen ablehnt. Was ich noch wichtig finde und was ich allen hier im Raum noch mitgeben möchte: Vorgestern ist das Friedensgutachten 2015 erschienen. Viele von uns, die wir in den zuständigen Ausschüssen sind, haben inzwischen mit den Herausgeberinnen und Herausgebern Gespräche geführt. Der Bundestag ist ja auch ein Gremium, das gelegentlich dazulernt; auch die Bundesregierung lernt gelegentlich dazu. Deswegen möchte ich zum Schluss noch einmal daran erinnern, was im Friedensgutachten in der Stellungnahme der Herausgeberinnen und Herausgeber zu Waffenexporten steht. Sie sagen ganz klar, dass Waffenlieferungen an Konfliktparteien ein ungeeignetes Mittel sind, um Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu verhindern, und sie kommen als Experten für Friedens- und Konfliktforschung zu dem Schluss, dass auch Waffenlieferungen an vermeintliche Stabilitätsanker wie zum Beispiel Saudi-Arabien abzulehnen sind, weil sie zu einer friedlichen Entwicklung der Region nichts beitragen. Ich hoffe, dass wir in einem weiteren Diskurs mit den Expertinnen und Experten, die das Friedensgutachten herausgeben, zu weiteren Erkenntnissen in Bezug auf Waffenlieferungen kommen und dass sich dann noch weitere Änderungen über den Bereich der Kleinwaffen hinaus ergeben. Danke schön. ({2})

Ulla Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002019

Vielen Dank. - Damit sind wir am Ende der Aussprache. Unstrittig ist die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 18/4940 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse. Strittig ist die Federführung. Die Fraktionen der CDU/CSU und SPD wünschen Federführung beim Ausschuss für Wirtschaft und Energie. Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen wünscht die Federführung beim Auswärtigen Ausschuss. Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen abstimmen. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist der Überweisungsvorschlag gegen die Stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen von den übrigen Fraktionen abgelehnt worden. Ich lasse nun abstimmen über den Überweisungsvorschlag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD: Federführung beim Ausschuss für Wirtschaft und Energie. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Überweisungsvorschlag ist mit den Stimmen von CDU/CSUund SPD-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktionen Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf: Beratung des Antrags der Bundesregierung Fortsetzung der deutschen Beteiligung an der internationalen Sicherheitspräsenz in Kosovo auf der Grundlage der Resolution 1244 ({0}) des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen vom 10. Juni 1999 und des Militärisch-Technischen Abkommens zwischen der internationalen Sicherheitspräsenz ({1}) und den Regierungen der Bundesrepublik Jugoslawien ({2}) und der Republik Serbien vom 9. Juni 1999 Drucksache 18/5052 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss ({3}) Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Verteidigungsausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Haushaltsausschuss gemäß § 96 der GO Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich bitte jetzt, die Plätze einzunehmen. Die Kollegin Vogler und die Kollegin Finckh-Krämer können vielleicht draußen weiterreden. - Danke. Ich eröffne die Aussprache. Für die Bundesregierung erhält das Wort Bundesminister Dr. Frank-Walter Steinmeier. ({4})

Dr. Frank Walter Steinmeier (Minister:in)

Politiker ID: 11004167

Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich weiß nicht, ob Sie es alle wissen: Gestern war Tag des Peacekeepers. Wir haben gestern als Bundesregierung neun junge Frauen ausgezeichnet - einige waren bei der Veranstaltung dabei, unter anderem Frau Finckh-Krämer -, die in unterschiedlichen Peacekeeping-Aktionen in der Welt unterwegs sind. Unter ihnen war eine Frau, die vom Podium aus erzählt hat, dass sie vor vielen Jahren bei EULEX, auf dem Balkan, im Kosovo, angefangen hat und heute mit anderen europäischen Richtern dabei ist, im Kosovo das höchste Gericht aufzubauen. Sie hat gesagt, nicht alles sei vollständig, nicht alles so, wie wir uns das wünschen, aber man komme voran. Wenn man sich die verschiedenen Berichte all derjenigen, die in Peacekeeping-Operationen unterwegs waren, auch derjenigen, die auf dem Balkan waren, anschaut, dann kommt einem vieles von dem in Erinnerung, was man schon verdrängt hat: blutige Auseinandersetzungen, Menschenrechtsverletzungen, Instabilität, Krieg und Bürgerkrieg. Das alles ist erst wenige Jahre her. KFOR, eine Operation, über die wir uns hier im Deutschen Bundestag jedes Jahr unterhalten, geht jetzt ins 16. Jahr. Manch einer mag fragen: Wenn das schon 16 Jahre dauert, ist das dann eigentlich noch sinnvoll? Ich will das mit einem eindeutigen Ja beantworten, gerade weil mir noch vor Augen ist, wie es am Anfang war, wie viel Instabilität und Unsicherheit auf dem westlichen Balkan vorhanden war. Ich weiß, was sich verändert hat, seit wir dem westlichen Balkan insgesamt eine europäische Perspektive haben anbieten können. Liebe Kolleginnen und Kollegen, dass viele Staaten in der Region sicherer und stabiler geworden sind, ist eben auch das Verdienst der deutschen Soldatinnen und Soldaten im Rahmen von KFOR. ({0}) Wir wissen, dass positive Entwicklungen in einem Staat des westlichen Balkans stabilisierende Konsequenzen auch für die Nachbarstaaten haben. Das ist in einer ethnisch so eng verflochtenen Region wie dem westlichen Balkan notwendigerweise so. Ich will ausdrücklich sagen: Unsere Soldatinnen und Soldaten haben dazu einen entscheidenden Beitrag geleistet. Dafür gebührt ihnen Dank und unsere ganze Anerkennung. ({1}) Es geht nicht nur um KFOR und den Einsatz der Soldatinnen und Soldaten. Wenn man genauer hinschaut, stellt man fest, dass sich trotz aller Unvollständigkeit und trotz aller Gründe, zu klagen, zwischen den Staaten, die miteinander im Konflikt lagen und nach wie vor unterschiedliche Interessen haben, etwas bewegt. Das wird etwa deutlich, wenn wir auf das Verhältnis zwischen Serbien und Kosovo schauen: Sie bewegen sich mit viel Mühe und Kompromissbereitschaft, jedenfalls von Zeit zu Zeit, aufeinander zu. Sie haben ihr Verhältnis grundlegend neu geregelt. Im Wege der Normalisierungsvereinbarung, die zur Umsetzung ansteht, hat sich die Beziehung zwischen diesen beiden Ländern durchaus verbessert. Das gilt auch für den Norden des Kosovo; ich bin mir sicher, der eine oder andere von Ihnen war vor kurzem dort. Dort gibt es immerhin einheitliche Polizeistrukturen und legitimierte Kommunalverwaltungen. Das ist mehr als ein Schritt nach vorne. Aber es fehlt natürlich noch vieles. Wir reden - ich bin gerade erst dort gewesen - mit den Kosovaren und den Serben über die Einrichtung eines kosovo-serbischen Gemeindeverbandes. Diesbezüglich gibt es noch einige Dinge zu klären. Wir reden darüber, wie die Energieversorgungs- und Telekommunikationsbeziehungen zwischen Serbien und dem Kosovo geregelt werden können. All das ist Gegenstand der Normalisierungsvereinbarung. Das ist aber noch nicht umgesetzt. Wir dürfen nicht nachlassen. Wir dürfen nicht nachlassen in unserem politischen Druck, aber wir dürfen auch nicht nachlassen in unseren Bemühungen, dort Sicherheit und Stabilität zu gewährleisten. Deshalb brauchen wir KFOR nach wie vor. Deshalb bitten wir Sie um die Fortsetzung des Mandats. ({2}) Wir tun das nicht - ich hoffe, das versteht keiner miss - nur aus reinster Nächstenliebe. Europa hat auch eigene Interessen. Wir haben Interesse an einer sicheren und stabilen Nachbarschaft auf dem westlichen Balkan. Weil das so ist, verfolgen wir die Geschehnisse in unterschiedlichen Staaten nicht nur mit Interesse, sondern manchmal auch mit Unruhe. Mit Unruhe verfolge ich in diesen Tagen etwa die Entwicklung in Mazedonien. Ich habe heute Morgen mit EU-Kommissar Hahn gesprochen, der sich redlich bemüht, dort schlichtend zwischen den Streitparteien tätig zu werden. Aber es sind fragile Beziehungen zwischen den verschiedenen ethnischen Gruppen. Der Rückfall des Landes ist jedenfalls nicht ausgeschlossen, wenn die politisch Verantwortlichen ihrer Verantwortung nicht gerecht werden. In der vergangenen Woche schien es so zu sein, als ob wir einen Schritt weiter wären. Es schien so zu sein, dass der Weg hin zu Neuwahlen in einem überschaubaren Zeitraum geebnet ist. Diese Woche haben Gespräche darüber stattgefunden, wie man den Zeitraum bis zum Stattfinden von Neuwahlen so gestaltet, dass alle ethnischen und politischen Gruppierungen bei diesen Wahlen eine faire Chance haben. Diese Gespräche sind gestern nicht gut gelaufen. Ich hoffe, dass wir sie in allernächster Zeit wiederholen können. Ich hoffe auch, dass der Ministerpräsident von Mazedonien weiß: Wer sich auf dem westlichen Balkan auf den Weg nach Europa begibt und hofft, dort anzukommen, der wird diesen Weg nur dann erfolgreich gehen können, wenn er seine Verantwortung zur Wahrung demokratischer und rechtsstaatlicher Strukturen wirklich wahrnimmt. ({3}) Es gibt Licht und Schatten auf dem westlichen Balkan; das hatte ich gesagt. Vorübergehend Licht gab es jedenfalls mit Blick auf Bosnien. Wir hatten dort über viele Jahre eine völlig blockierte innenpolitische Situation. Sie haben gesehen, dass ich versucht habe, gemeinsam mit dem britischen Außenminister eine Initiative zu starten, um die bosnischen Entitäten und die politischen Parteien in Bosnien-Herzegowina wieder miteinander ins Gespräch zu bringen, indem wir sie davon weggebracht haben, die schwierigsten Fragen dieses Gemeinwesens, etwa die Reform der Verfassung, zu Anfang zu lösen, und sie ermutigt haben, sich zunächst einmal den sozioökonomischen Notwendigkeiten zu stellen und ein gemeinsames Reformprogramm auf den Weg zu bringen. Da jedenfalls scheint es Fortschritt zu geben. Ich hoffe, dass die Republik Srpska diesen Prozess nicht erneut blockiert. Dieser Fortschritt wäre jedenfalls eine Voraussetzung dafür, dass der Rückstand, den BosnienHerzegowina auf dem europäischen Weg erlitten hat - auch kraft eigenen Versagens -, nach und nach aufgeholt wird. Mein wichtigstes Beispiel, wenn ich in dieser Region unterwegs bin, ist immer Kroatien. Das Land ist seit Jahren Mitgliedstaat der Europäischen Union. Kroatien ist einen Weg gegangen, der diesem Land nicht leichtgefallen ist. Es gibt Länder wie Montenegro, die auf einem ähnlichen Weg sind und erkannt haben, dass sie sich selbst bewegen müssen, wenn der Zug in Richtung Europa schleuniger fahren soll. Ob das Ganze auch für Serbien gilt, müssen wir sehen. Mit Serbien sind wir zurzeit in intensiven Gesprächen. Serbien wünscht die Eröffnung von Beitrittskapiteln. Der Deutsche Bundestag hat seine Erwartungen dazu geäußert. Wir haben bei unseren letzten Gesprächen in Serbien noch einmal deutlich gemacht, dass ein signifikanter Fortschritt bei der Umsetzung der Normalisierungsvereinbarung für die Regierung eine der Voraussetzungen dafür ist, dass wir der Eröffnung von Beitrittskapiteln tatsächlich zustimmen können. Dieser kurze Überblick über die Situation auf dem westlichen Balkan mag zeigen: Es ist eine Region mit viel Licht und Schatten, eine Region, die weiterhin unsere dringende Aufmerksamkeit verlangt. Verlangt ist aber auch, dass wir unser Bemühen um Sicherheit und Stabilität nicht aufgeben. Dafür brauchen wir KFOR; deshalb noch einmal meine Bitte um Zustimmung. Vielen Dank. ({4})

Ulla Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002019

Vielen Dank. - Nächster Redner ist Dr. Alexander Neu für die Fraktion Die Linke. ({0})

Dr. Alexander S. Neu (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004361, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Damen und Herren! Sehr geehrte Frau Präsidentin! Kanzlerin Merkel wird nicht müde, zu behaupten, Russland habe die europäische Friedensarchitektur zerstört. Am 9. Mai dieses Jahres erklärte Frau Merkel in Moskau: Durch die verbrecherische und völkerrechtswidrige Annexion der Krim hat die Zusammenarbeit … einen schweren Rückschlag erlitten. Hierzu zwei Anmerkungen: Erste Anmerkung. Welche europäische Friedensordnung meint Frau Merkel? Meint sie die Nichtumsetzung der Charta von Paris? Meint sie das Verhindern der Schaffung eines gemeinsamen europäischen Hauses auf ökonomischer und sicherheitspolitischer Grundlage von Lissabon bis Wladiwostok? Beides sind im Übrigen Konzepte, die tatsächlich eine europäische Friedensordnung hätten schaffen können und die vermutlich auch die Konflikte in der Ukraine und in Jugoslawien verhindert hätten. Stattdessen haben wir eine Ausdehnung der NATO und der Europäischen Union und NATO-Kriege auch in Europa - gegen Jugoslawien - gesehen. Der Westen hatte seit 1991 die historische Chance, der Welt die Tauglichkeit seiner eigenen Werte und zivilisatorischen Standards unter Beweis zu stellen. Was geschah? Man versagte. Die Verlockung von Macht und geopolitischen Gewinnen wog schwerer als die friedenspolitische Vernunft. Merkels sogenannte Friedensordnung ist nichts anderes als eine vom Westen diktierte Machtordnung, eine Machtordnung, die nicht mehr funktioniert. ({0}) Zweite Anmerkung. Es geht um Merkels Aussage der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim. Es lässt sich darüber streiten, ob dies eine Annexion oder eine Sezession mit Beitritt zur Russischen Föderation war. Fakt ist: Nimmt man das UN-Völkerrecht, das heißt die UNCharta, ernst, dann war die Aufnahme der Krim in die Russische Föderation völkerrechtswidrig. Fakt ist aber auch: Der Westen nimmt die UN-Charta seit langem selber nicht mehr ernst. ({1}) Die Einmischung des Westens in die inneren Angelegenheiten eines Landes wird zum Normalfall; das ist derzeit besonders in Syrien wieder zu sehen. In Jugoslawien - und später Serbien - wurden bis heute die meisten westlichen Völkerrechtsbrüche begangen. Festzuhalten ist: Die internationale Rechtsordnung wurde nach 1991 durch die westliche Machtordnung ersetzt. Aber: Völkerrechtsbrüche schaffen Präzedenzfälle, und Präzedenzfälle werden genutzt, wenn sich die Machtverhältnisse ändern. Nun verschiebt sich die globale Machtordnung. Das wiedererstarkte Russland nutzt diese Präzedenzfälle, und damit ist der Krim-Fall nicht mehr so eindeutig eine Völkerrechtsverletzung, wie vorgegeben, wenn man Präzedenzfälle als Weiterentwicklung des Völkerrechts begreift, und das wird in der Politikwissenschaft und in der Politik - auch in Deutschland - so formuliert. ({2}) Im Land der Denker und Dichter ({3}) - Denker - hat der deutsche Philosoph Immanuel Kant in seinem berühmten Werk Zum ewigen Frieden die Einmischung in innere Angelegenheiten als kriegsursächlich bezeichnet. In seinen Aufzählungen der Konditionen zur Schaffung des ewigen Friedens fordert Kant - ich zitiere ihn -: Kein Staat soll sich in die Verfassung und Regierung eines andern Staats gewalttätig einmischen. ({4}) Dem ist nichts hinzuzufügen. Die Frage ist doch: Warum durften sich die jugoslawischen Teilrepubliken Slowenien, Kroatien und Bosnien und die serbische Provinz Kosovo gewaltsam von Jugoslawien separieren, also das Selbstbestimmungsrecht gewaltsam über die territoriale Integrität und Souveränität Jugoslawiens stellen? Warum dürfen die Serben das nicht in Kroatien? Warum dürfen die Serben das nicht in Bosnien oder in Nordkosovo? Warum dürfen das die Südosseten, die Abchasen und die Ostukrainer nicht? Warum dürfen die sich nicht selbstbestimmen? Die Antwort ist völkerrechtlich nicht leistbar. Sie ist banal: Es geht um Machtpolitik. Konkret: Der Westen als Sieger des Kalten Krieges bestimmt selbstherrlich, wer ein guter Separatist und wer ein schlechter Separatist und somit Terrorist ist. ({5}) Die guten Separatisten stehen auf der richtigen Seite, nämlich im Westen, und die übrigen halt auf der falschen Seite. Die NATO-geführte KFOR ist für uns der Inbegriff einer neoimperialistischen Politik: von der ProUCK-Kriegspartei über Nacht zur Friedenstruppe mit UN-Mandat. ({6}) - Schauen Sie sich einmal dieses wunderbare Bild an, auf dem alle Ganoven drauf sind: Wesley Clark, SACEUR, sein Stellvertreter Michael Jackson und Hashim Thaci. Das sind alles Ihre Freunde während des Krieges. Das zeigt die große Nähe der NATO und wie sich die NATO für die kosovo-albanische Sezession hergegeben hat. Das ist ein Bild, das tausend Worte spricht. ({7}) Wir, die Linke, fordern ein Ende dieser rechtszerstörenden Doppelstandardpolitik, und daher lehnen wir den KFOR-Antrag ab. Danke. ({8})

Ulla Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002019

Nächster Redner ist Philipp Mißfelder, CDU/CSUFraktion. ({0})

Philipp Mißfelder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003810, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Sehr verehrte Damen und Herren! Liebe Kollegen! Herr Neu, was soll ich dazu sagen? Mir fällt es jetzt wirklich schwer, das, was Sie gesagt haben, einzuordnen. ({0}) Man kann auf manche Argumente von Herrn Gehrcke oder von Herrn Dehm normalerweise ja noch reagieren, aber bei Ihnen fällt es mir jetzt wirklich sehr schwer. Ich möchte Ihnen nur eine Frage stellen - fühlen Sie sich dadurch nicht zu einer Zwischenfrage provoziert, die Sie meinetwegen aber auch stellen können; ich lasse sie zu -: Was ist denn bitte Ihre Alternative zu dem, was Sie gerade vorgetragen haben? Sie tun so, als ob KFOR ein Kampfeinsatz wäre, der einer Invasion gleichkommt. ({1}) - Nein, das ist es nicht. KFOR ist eine friedenssichernde Maßnahme. Wir hätten uns als Unionsfraktion gewünscht, dass wir heute sagen können: Das Mandat endet. - Wir hatten sogar zwischendurch eine Entwicklung, in der es danach aussah. Allerdings hat sich der Balkan - der Minister hat es gerade gesagt - leider in eine andere Richtung entwickelt. Wir haben - ich weiß nicht, ob man darüber berichten darf, aber ich setze das Einverständnis meiner Kollegen voraus - diese Woche im Auswärtigen Ausschuss ausführlich darüber diskutiert. Ich glaube, wir haben in dieser Frage selten so viel Einigkeit gehabt wie in dieser Woche. Denn das, was gerade auf dem Balkan insgesamt passiert - im Kosovo, in Bosnien, aber auch in Mazedonien -, bleibt zehn Jahre hinter einer Entwicklung zurück, die wir eigentlich schon erreicht hatten. Deswegen ist das Mandat weiter notwendig. Ich würde gerne sagen: Es läuft aus. - Aber wir können es uns jetzt nicht leisten, die Soldaten abzuziehen, weil der Gefährdungsgrad nach wie vor gegeben ist. Es stimmt zwar, dass der Charakter des Mandats sich im Laufe der Zeit etwas verändert hat. Aber heute ist die Lage näher an eine Auseinandersetzung, sowohl politisch als auch im negativsten Fall militärisch, gerückt, als wir es vor fünf Jahren vielleicht noch gedacht haben. Was Mazedonien angeht, möchte ich dem Minister beipflichten. Ich finde es richtig, dass die EU sich so stark engagiert. Ich glaube, an dieser Stelle sind tatsächlich auch wir gefordert, weil - das möchte ich als etwas Positives werten - beide Seiten in Mazedonien sehr großen Wert auf gute Beziehungen zu ihren Schwesterparteien - damit meine ich nicht CDU/CSU oder SPD, sondern die europäischen Schwesterparteien - legen. Teilweise wird auch versucht, das zu instrumentalisieren. Was wir als starke Parlamentarier und Parteivertreter dazu beitragen können, ist, glaube ich, die EU-Kommission zu unterstützen, indem wir darauf hinwirken, dass Mazedonien eine Technokratenregierung bekommt und es Neuwahlen unter fairen und rechtmäßigen Bedingungen gibt, um dadurch die Situation etwas abzukühlen. Denn das, was wir vor ein paar Wochen erlebt haben - unabhängig davon, wie das konkret zustande gekommen ist; es gibt viele Verschwörungstheorien und unterschiedliche Ansichten dazu -, war definitiv eine Auseinandersetzung militärischer Art, die entweder durch Terror oder durch so große Verwerfungen innerhalb des Landes entstanden ist, dass man in Mazedonien alarmiert sein muss. Von Aussöhnung ist man sehr weit entfernt. Deshalb werbe ich dafür, dass wir versuchen, möglichst auf die Bildung einer Allparteienregierung hinzuwirken - ich habe gerade von einer Technokratenregierung gesprochen - oder den Prozess einzuleiten, von dem der Minister gesprochen hat, einen Prozess, der dazu führt, dass wieder Stabilität einkehrt. Die Sorge, die ich bei der Forderung nach Neuwahlen habe, ist, dass es dann wieder zu einem gegenseitigen Aufrüsten im Wahlkampf kommt - das meine ich nicht militärisch, sondern medial und rhetorisch -, von dem man nur schwer wieder herunterkommt. Hier muss ich - wir diskutieren ja oft über Griechenland - deutlich sagen: Das Verhalten unseres griechischen NATO-Partners ist an dieser Stelle nicht akzeptabel. ({2}) In einer solchen Phase in dem Namensstreit, in dem die Amerikaner konkrete Lösungsvorschläge gemacht haben - übrigens emotional zulasten der Mazedonier -, jeden Vorschlag immer wieder abzulehnen, halte ich für unverantwortlich. Wenn man mit griechischen Politikern darüber diskutiert, schwingt immer eine Drohung im Raume mit. Sie sagen nämlich: Ihr müsst mit dem Problem dann halt fertig werden, dass die ausländischen Kämpfer, die vom Balkan nach Syrien gezogen sind und jetzt, bestens trainiert und motiviert, aus dem LevanteKampfgebiet zurückkehren, nicht wieder in den Balkan einsickern; wir können dazu nichts beitragen. Natürlich muss Griechenland etwas beitragen, und zwar durch Grenzkontrollen und den Austausch der notwendigen nachrichtendienstlichen Informationen, damit es dort nicht zu einem Terroristenverkehr von A nach B kommt. Insofern müssen wir die Griechen wirklich ermahnen. Denn diese Drohung hat der griechische Verteidigungsminister sogar einmal in einer deutschen Zeitung geäußert. Ich hoffe nicht, dass das der Grund ist, dass diese Auseinandersetzung in Mazedonien stattgefunden hat oder Kämpfer eingesickert sind. Es gibt Hinweise darauf, dass es so sein könnte. Ich schließe an dieser Stelle keine einzige Erklärung aus. Frau Präsidentin, ich werbe für das Mandat und komme zum Schluss meiner Rede. Vielen Dank. ({3})

Ulla Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002019

Vielen Dank. Das ist vorbildlich. - Das Wort hat jetzt die Kollegin Marieluise Beck, Bündnis 90/Die Grünen.

Marieluise Beck-Oberdorf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002624, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Liebe Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wer wie ich wenige Tage, nachdem sich der Albtraum in Srebrenica abgespielt hatte und von der Batteriefabrik in Potocari etwa 7 000 männliche Kinder, junge Männer und auch Frauen aus den Händen von Blauhelmsoldaten in die Wälder entführt und dort ermordet worden sind, vor Ort war, wer das sehr nah miterlebt hat, der kann mit so einfachen Wahrheiten, Herr Neu, wie Sie sie hier dargelegt haben, nicht umgehen. Denn es gibt zwei Seiten. Es gibt einmal das „Nie wieder Krieg“ - da haben Sie recht -, aber die zweite Seite heißt: Nie wieder Opfer. ({0}) Wir müssen uns damit auseinandersetzen, wie wir diese Lehre für uns umsetzen. Denn das ist die zweite Lehre aus der deutschen Geschichte mit der nationalsozialistischen Aggression, mit der wir ganz Europa überzogen haben. Wir beraten seit 1999, also nun zum 16. Mal, dieses KFOR-Mandat. Ich würde trotz der kurzen Zeit darum bitten, dass wir nicht nur auf das Kosovo schauen. Es ist nur ein Teil des Gebietes. Der Westbalkan ist miteinander verbunden. Wir sollten tatsächlich sehr aufmerksam beobachten, dass es in der Region stärker brodelt, als wir es vor 20 Jahren vielleicht für möglich gehalten haben. Wir alle waren davon ausgegangen, dass nach einer Beruhigungsphase und mit dem Ausblick und der Möglichkeit, den Weg nach Europa einzuschlagen, die Staatenbildung und die Institutionenbildung schneller vorangehen würden, dass Gewalt, Hass, Korruption und fehlende Rechtsstaatlichkeit schneller überwunden werden könnten, als es sich dann tatsächlich herausgestellt hat. Es gibt neue Hotspots. Während der Ministerpräsident Serbiens eine EU-orientierte Politik macht, fordert der serbische Präsident das Kosovo für Serbien zurück. In Bosnien-Herzegowina ist die Föderationsregierung gerade wieder zerbrochen. Es gärt in der Republik Srpska, weil Präsident Dodik um sein politisches Überleben kämpft. Mazedonien steuert unter einem Premierminister, der in seiner Politik immer repressiver wird - der Journalismus gerät immer stärker unter Druck -, immer tiefer in die Krise. Es gab die offene, gewalttätige Auseinandersetzung in Kumanovo. Wir wissen bis zum heutigen Tage nicht, was dort wirklich passiert ist. Aber diese Gewalttat wird von vielen Seiten politisch instrumentalisiert, einmal ethnisch oder um die autoritären Strukturen des Regimes noch stärker zu rechtfertigen.

Ulla Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002019

Frau Kollegin Beck, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Neu?

Marieluise Beck-Oberdorf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002624, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja, bitte.

Ulla Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002019

Bitte schön.

Dr. Alexander S. Neu (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004361, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Kollegin Beck, Sie sprachen vorhin von Opfern. Sehen Sie auch die Opfer in der Ostukraine, verursacht durch ukrainisches Militär, zivile Opfer, mehrere Tausend? Sehen Sie die Opfer in Südossetien 2008? Sehen Sie die Opfer im Kosovo, die nach dem NATO-Einmarsch geflüchtet sind? Etwa 250 000 Serbinnen und Serben und Roma sind nach Zentralserbien geflüchtet und konnten bis heute nicht zurückkehren. Sehen Sie auch diese Opfer? Warum plädieren Sie nicht dafür, dass KFOR für ausreichend Sicherheit sorgt, damit auch diese Opfer zurückkehren können?

Marieluise Beck-Oberdorf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002624, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich bin im Augenblick etwas überfordert, diese Verbindung zu sehen. Sie haben vollkommen recht: Opfer müssen im politischen Zusammenhang gesehen werden. Ich habe gerade mit meinem Kollegen darüber gesprochen: das Beispiel Vietnam. Der Einmarsch Vietnams in Kambodscha - er war völkerrechtlich nicht eindeutig gedeckt, nicht durch ein UN-Mandat gedeckt - hat einem unglaublichen Regime wie dem von Pol Pot ein Ende bereitet. Diese Frage können Sie nur noch politisch entscheiden. Das ist die Schwierigkeit, vor der wir als Politiker stehen. Wir müssen die Entscheidungen, die wir gefällt haben, moralisch und ethisch verantworten. Es gibt Recht und Völkerrecht. Es gibt auch eine Unterscheidung von Tätern, Aggressoren und Opfern. Es war Hannah Arendt, die uns mit auf den Weg gegeben hat, dass wir uns vor der Bewertung von Tatsachen nicht wegschleichen können. Das ist der feste Grund, auf dem wir stehen. Dabei brauchen wir dann das Völkerrecht. ({0}) Kommen wir zurück zum Balkan. Die Situation auf dem Balkan ist im Augenblick sehr fragil. Auch EULEX hat es nicht ganz geschafft, sich von diesen schwierigen Verhältnissen frei zu halten. Das politische Problem ist, dass wir gegen die Perspektivlosigkeit der Menschen in der Region ankämpfen, die das Gefühl haben: Wir wissen nicht, ob wir hier eine Zukunft haben. - Das hat etwas mit den Menschen zu tun, die unser Land erreichen. Ich würde schon sagen: 20 Jahre, nachdem auf dem Westbalkan die OSZE, die UN, die EU, viele NGOs und unsere Stiftungen aktiv sind und unterschiedliche Stabilisierungsabkommen in Kraft getreten sind, müssen wir in einen Review-Prozess eintreten, nicht nur für die Politik des Auswärtigen Amtes, sondern auch für unsere Stabilisierungspolitik auf dem Westbalkan. Ich kann nur ganz deutlich sagen: Ich habe mir vor 20 Jahren vorgestellt, dass die Staatenbildung einfacher und schneller vonstatten geht. Ich habe gedacht: Wenn Menschen die Freiheit bekommen, wird der Schub, der dadurch gesellschaftlich entsteht, größer sein. Insofern lernen wir, dass Transformationsprozesse, die vor allen Dingen die Beteiligung der Bürgergesellschaft und damit die Freiheit für zivilgesellschaftliches Engagement von unten brauchen, sehr viel Zeit benötigen. Wir werden das auch in der Ukraine erleben, Herr Kollege Neu. Ich meine nur, uns muss klar sein: Soldaten schaffen keinen Frieden. Aber sie schaffen die Voraussetzungen dafür, dass solche Prozesse überhaupt in Gang kommen; denn unter Gewalt sind solche Prozesse nicht möglich. Deswegen stimmen wir Grüne diesem Mandat zu. Schönen Dank. ({1})

Ulla Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002019

Vielen Dank. - Für die SPD-Fraktion spricht jetzt der Kollege Dirk Vöpel. ({0})

Dirk Vöpel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004433, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Morgen vor genau 16 Jahren hat der Deutsche Bundestag zum ersten Mal die Beteiligung an der NATO-geführten Operation KFOR beschlossen. Nach dem Ende des Kosovokrieges haben wir uns also von Beginn an an dieser multinationalen Mission beteiligt. KFOR ist für die Bundeswehr bisher der längste Einsatz mit dem personell zweitgrößten Auslandskontingent. Zurzeit sind 751 Bundeswehrangehörige vor Ort. Mehr als 125 000 deutsche Soldatinnen und Soldaten haben im Laufe der 16 Jahre im Kosovo ihren Dienst geleistet. Sie haben durch ihren Einsatz wesentlich zur Stabilisierung der gesamten Region beigetragen. Hierfür möchte ich ihnen an dieser Stelle meinen Dank und meine Anerkennung aussprechen. ({0}) Den Erfolg der Mission kann man an der quantitativen Entwicklung des Kräfteansatzes festmachen: Waren zu Beginn noch mehr als 50 000 Soldaten notwendig, um ein sicheres und stabiles Umfeld sowie Bewegungsfreiheit im Kosovo zu gewährleisten, so konnte das Aufgabenspektrum von KFOR einschließlich der ergänzenden Aufgaben bei der Unterstützung des Aufbaus selbsttragender Sicherheitsstrukturen im vergangenen Jahr mit insgesamt etwa 5 000 Soldatinnen und Soldaten abgedeckt werden. Aber auch die politischen Fortschritte bei der Normalisierung der Beziehungen zwischen Kosovo und Serbien geben bei allen Schwierigkeiten einen begründeten Anlass zur Hoffnung, dass hier in Zukunft eine weitere Reduzierung erfolgen kann. Im Zuge der Umsetzung der Normalisierungsvereinbarung vom 19. April 2013 werden Schritt für Schritt die serbischen Parallelstrukturen im Norden Kosovos aufgelöst und in kosovarische Strukturen überführt, und es wird ein einheitlicher Rechtsraum in ganz Kosovo hergestellt. Hierbei wurden bereits wichtige Erfolge erzielt. Solange sich jedoch die Beziehungen zwischen Serbien und Kosovo noch nicht nachhaltig stabilisiert haben, ist eine weitere enge internationale Begleitung notwendig. Nun zum deutschen Beitrag. Die nationale Personalobergrenze für die deutsche Beteiligung an KFOR soll im kommenden Jahr unverändert bei 1 850 Soldatinnen und Soldaten verbleiben. Damit können deutsche Streitkräfte im umfassenden Einsatz- und Fähigkeitsspektrum gemäß den NATO-Anforderungen im zugesagten Umfang für die Operation bereitgestellt werden. Auf mögliche Lageänderungen kann weiterhin angemessen reagiert werden. Mit der Einsatzkompanie KFOR im Rahmen des derzeitigen Kontingents, den deutschen Anteilen am Hauptquartier, insbesondere im Bereich der Aufklärung und mit dem Einsatzlazarett, sowie Teilen der operativen Reserve stellt Deutschland für den KFOR-Einsatz wichtige und von anderen Partnern nur eingeschränkt zur Verfügung gestellte Fähigkeiten. Mit dem seit 2014 gestellten Leiter des NATO Liaison and Advisory Teams besetzt Deutschland einen zentralen und wichtigen Posten in der Begleitung des Aufbaus der kosovarischen Sicherheitskräfte. Über die Beratung der Kosovo Security Force durch die NATO hinaus unterstützt Deutschland deren Aufbau mit Materiallieferungen sowie durch die enge Zusammenarbeit mit dem deutschen KFOR-Kontingent. Zusätzlich werden auf bilateraler Basis die sicherheitspolitischen Instrumente der militärischen Ausbildungshilfe und der bilateralen Jahresprogramme seit 2011 für Kosovo angeboten und intensiv genutzt. Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Lage in der Republik Kosovo ist grundsätzlich ruhig und stabil. Dennoch kann nicht ausgeschlossen werden - meine Vorredner haben einige Punkte angesprochen -, dass ein unerwarteter Zwischenfall, räumlich und zeitlich begrenzt, zu einer Anspannung der Lage vor Ort führen könnte. Deshalb ist die Fortsetzung des Mandats notwendig und sinnvoll. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({1})

Ulla Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002019

Vielen Dank. - Nächster Redner ist Peter Beyer, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Peter Beyer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004010, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist noch gar nicht lange her, Anfang dieses Monats, dass der Papst in Sarajevo war. Er hat von einer Atmosphäre des Kriegs gesprochen. Er hat dies auf die gesamte Weltlage bezogen, aber an diesem Ort, in Sarajevo, kann man dies durchaus auch als eine Mahnung verstehen angesichts der offenen und unterschwelligen Spannungen in der Region des westlichen Balkans. Es ist kein Geheimnis, und wir haben es heute schon häufiger richtigerweise in der Debatte gehört, dass die KFOR-Mission und die Soldatinnen und Soldaten an der Grenze zwischen Kosovo und Serbien erforderlich sind. Sie sind erforderlich für die Sicherheit und die Stabilität. Die Sicherheit und die Stabilität, die die KFOR-Soldatinnen und -Soldaten dort bringen, ermöglichen erst die schwierigen Prozesse, die im Rahmen der Normalisierung des Verhältnisses zwischen Serbien und Kosovo in diesem Spannungsgebiet erforderlich sind. Für ihre wichtige Arbeit, die die Soldatinnen und Soldaten dort leisten, sage ich einen ausdrücklichen und herzlichen Dank. ({0}) Gleichzeitig mahne ich aber auch an: Allzu häufig schauen wir nur „bei Gelegenheit“ auf den westlichen Balkan, zumeist dann, wenn einmal wieder etwas Schlechtes passiert, was uns mit Sorge umtreibt, beispielsweise die drohende massenhafte Auswanderung aus dem Kosovo, unter anderem nach Deutschland. Es ist für uns Zeit, zu erkennen, dass es mit dem bloßen bürokratischen Abarbeiten des Acquis communautaire schon lange nicht mehr alleine getan ist. Dass kein Missverständnis aufkommt: Ich bin schon davon überzeugt, dass es richtig war und nach wie vor richtig ist, eine Einzelbetrachtung bei der Heranführung an die Europäische Union sowie an europäische Standards und Strukturen vorzunehmen. Spätestens jedoch die gewaltsamen Aufstände in Mazedonien im letzten Monat, die heute schon mehrfach in der Debatte angesprochen wurden, sollten uns wachrütteln. Ich will mich nicht an Spekulationen darüber beteiligen, welche Hintergründe und Hintermänner bei den kämpferischen Aufständen in Mazedonien eine Rolle gespielt haben. Für mich steht jedenfalls fest, dass die Akteure eine Erosion der relativen Stabilität in der Region zum Ziel haben; das sollte uns mit Sorge erfüllen. Das ist eine gefährliche Situation. ({1}) Die Europäische Union - ich meine ausdrücklich nicht die Bürokraten in Brüssel, sondern die politische Führung in den einzelnen EU-Mitgliedstaaten - muss erkennen und handeln. Es bedarf des Entwurfs eines in die Zukunft dieser europäischen Region gerichteten politischen, strategischen Regionalplans mit dem Ziel, dauerhaft Stabilität und Sicherheit in der Region zu etablieren. Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang die Gelegenheit nutzen, die fünf EU-Mitgliedstaaten, die noch immer nicht das Kosovo als eigenständigen, souveränen Staat anerkannt haben, aufzurufen, das Versäumte nachzuholen. Durch die Nichtanerkennung wird nicht allein das Kosovo in seiner Entwicklung behindert, sondern auch andere Länder der Region. Ich halte das für die Europäische Union für einen untragbaren, ja beschämenden Zustand, der alsbald zu beenden ist. ({2}) - Ja, da kann man applaudieren. Vielen Dank, Frau Kollegin Beck, das finde ich sehr nett von Ihnen. Das gilt aber natürlich auch für die anderen. Südosteuropa muss als Region wieder mehr in den Fokus unserer Politik gelangen und auf der politischen Prioritätenliste ein ganzes Stück weit nach oben rücken. Natürlich bin ich mir der Überlagerung durch andere Krisengebiete und andere politische Probleme auf der Welt bewusst. Aber es ist unsere Aufgabe, ein stärkeres öffentliches Bewusstsein zu schaffen und zu schärfen. Ich habe die Befürchtung, dass wir sonst zulassen, dass eine Krise mitten in Europa und sehr nahe an den Grenzen zu Deutschland entsteht. Die Folgen wären unabsehbar, und die Kosten - nicht nur finanzieller Art - wären erheblich. Wir beobachten in letzter Zeit verstärkt etwas, das nicht neu ist, sondern - das weiß man, wenn man recherchiert und sich das noch einmal ins Gedächtnis ruft - seit Jahren vorhanden ist. In letzter Zeit rückt verstärkt ins Blickfeld, dass verschiedene Finanzierungsströme den Neubau von Moscheen in Bosnien-Herzegowina, aber auch in anderen Staaten der Region ermöglichen. Diese Geldströme kommen aus Saudi-Arabien, den Emiraten, dem Iran, dem Irak, auch aus der Türkei. Wir hören in letzter Zeit mehrfach davon, dass es Geldprämien dafür gibt, dass Frauen Kopftücher tragen und dass sich Männer lange Bärte wachsen lassen. Zudem gibt es Geld für den Besuch von Moscheen. Radikale Islamisten des sogenannten „Islamischen Staats“ rekrutieren junge Muslime im Kosovo und in anderen Ländern der Region. In den letzten zwei Jahren kamen allein aus dem Kosovo über 200 Foreign Fighters. Das ist eine bedrohliche Situation. Die Versprechungen des „Islamischen Staats“ fallen auf den Nährboden von 70 Prozent Jugendarbeitslosigkeit im Kosovo. Es entsteht ein radikaler Islam in Europa. Wir, die Europäer, müssen uns angesichts dieser Entwicklung fragen, warum wir es eigentlich nicht schaffen, diesen jungen Frauen und Männern eine attraktive Perspektive in ihrem eigenen Land, eingebunden in euroatlantische Strukturen, anzubieten. Damit komme ich zur Visaliberalisierung. Ich weiß, dass das in der Diskussion problematisch gesehen wird. Aber es handelt sich um eine Ungerechtigkeit. Das Kosovo ist das einzige Land in der Region, mit dem es noch keine Visafreiheit gibt. Ich werbe dafür, dass wir uns noch einmal damit befassen. Die Kriterien der Roadmap sind allesamt vom Kosovo erfüllt worden. Abschließend will ich noch einen Gedanken in die Debatte einführen, den wir in der Westbalkan-Runde der Unionsfraktion in der letzten Zeit ventiliert haben. Wir haben uns darüber Gedanken gemacht, ob wir KFOR nicht in Strukturen regionaler Verantwortung weiterentwickeln sollen. Wir haben die Idee, ein regionales, NATO-geführtes Hauptquartier mit einer revolvierenden Kommandoführung zu etablieren. Das soll nichts anderes heißen, als dass die Länder der Region Stück für Stück zunehmend mehr eigene Verantwortung für die Sicherheit und Stabilität in der gesamten Region übernehmen. Ich denke, das ist eine Idee, die es wert ist, weiter diskutiert und verfolgt zu werden. Das muss unser Ziel sein. Ich danke Ihnen. ({3})

Ulla Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002019

Vielen Dank. - Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Florian Hahn, CDU/CSUFraktion. ({0})

Florian Hahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004048, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Entwicklungen in den letzten Jahren in der Region sind, optimistisch gesehen, ein Beispiel dafür, dass die Europäische Union eine große Anziehungskraft ausstrahlt und wichtige Impulse im Land und in der Region setzt. Ohne die Aussicht, Verhandlungen über einen Beitritt im Falle Serbiens oder eine Assoziierung im Falle des Kosovo aufzunehmen, wäre es nie zum Durchbruch in den Gesprächen zwischen Serbien und Kosovo gekommen. Vor allem Serbien als EU-Beitrittskandidat muss sich jetzt erst recht an den angestrebten Zielen messen lassen und alles in seiner Macht Stehende tun, um eine nachhaltige Stabilisierung im Norden des Kosovo zu unterstützen. Der serbischen Regierung ist auch ganz klar, dass ein Gelingen ihrer Kandidatur wesentlich vom Dialog zwischen Belgrad und Pristina abhängt. Das haben wir ihr klargemacht. Neben den zahlreichen positiven Entwicklungen muss aber auch ganz klar gesagt werden: Die Lage in der Republik Kosovo ist zwar grundsätzlich ruhig und stabil; allerdings bleibt das Eskalationspotenzial im serbisch dominierten Norden des Kosovo weiterhin hoch. Leider erkennen Serbien und auch fünf EU-Mitgliedsländer die staatliche Unabhängigkeit des Kosovo nach wie vor nicht an. Das ist sehr verdrießlich. Der Kollege Peter Beyer hat das zu Recht gesagt. Auch der Zwischenfall am 24. Mai erinnert an alte Zeiten im Kosovo. Unbekannte haben eine EULEX-Patrouille beschossen. Es kam zu Schäden an den geschützten Fahrzeugen mit fünf Insassen, darunter im Übrigen auch ein deutscher Polizist. Diese Insassen konnten Gott sei Dank unverletzt das Auto verlassen. Es sind solche Rückschläge, die uns zeigen, wie wichtig eine weitere Präsenz der KFORTruppen ist. Auch die Situation im angrenzenden Mazedonien - darüber wurde ebenfalls schon gesprochen - hat das Potenzial, die gesamte Region zu destabilisieren, da die Bevölkerungsgruppen über die Landesgrenzen hinweg ethnisch eng miteinander verbunden sind. Die schweren Kämpfe nahe der Grenze zum Kosovo im letzten Monat haben gezeigt, dass wir unerwartete Zwischenfälle, die zu einer Anspannung der Lage führen, nicht ausschließen können. Die internationale Truppenpräsenz von KFOR bleibt deshalb so lange nötig, bis die Sicherheitsorgane Kosovos, gegebenenfalls unterstützt durch die EU-Mission EULEX, im Kosovo ein sicheres und stabiles Umfeld aufrechterhalten können. Wir wissen, dass unsere militärische Unterstützung und unsere sicherheitspolitische Arbeit nur nachhaltig sein können, wenn wirtschaftliche Kooperation und Entwicklungszusammenarbeit den Weg flankieren. Kosovo leidet zum einen noch immer unter der historischen Unterentwicklung aus der osmanischen Zeit und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, aber auch unter den Folgen der ökonomischen Marginalisierung unter dem Milosevic-Regime. Die Wirtschaftsentwicklung kann nicht mit dem überdurchschnittlichen Bevölkerungswachstum mithalten. Die Auswirkungen sind verheerend, und das bekommen auch wir in Deutschland deutlich zu spüren. Die Flüchtlingswelle aus dem Kosovo hat sich mit 28 000 Asylbewerbern allein Anfang 2015 um das Sechzehnfache im Vergleich zum Vorjahr vergrößert. In einer Zeit, in der Europa Ziel von Hundertausenden notleidenden Menschen aus Kriegs- und Krisengebieten des Nahen Ostens und Afrikas ist, liegt es auf der Hand, dass Deutschland diese Welle der Einwanderer aus dem Kosovo und aus dem gesamten Balkan nicht auch noch schultern kann. Wir müssen uns verstärkt daranmachen, den Menschen in ihrer Heimat eine Perspektive zu bieten. Bundesminister Dr. Müller hat deshalb bei seiner Reise auf den Balkan betont, dass die Ursachen für die Flucht aus dem Herkunftsland noch intensiver bekämpft werden müssen. Hierfür gibt es bereits Zusagen von über 25 Millionen Euro allein im Jahre 2015. Wenn wir also über die KFOR-Mission debattieren, ist uns klar, dass dieses Mandat neben unserem entwicklungspolitischen Engagement für die Region ausschlaggebend ist. Es ist viel zu früh, den Kosovo und Serbien auf sich allein zu stellen. Wir müssen die Länder auf ihrem ehrgeizigen Weg in die EU weiter unterstützen. Das KFOR-Mandat muss ein weiteres Mal verlängert werden. Um auf den Debattenbeitrag von Frau Beck einzugehen: Wir müssen weiterhin für ausreichend Luft im Kosovo sorgen. Herzlichen Dank. ({0})

Ulla Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002019

Vielen Dank. - Damit schließe ich die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 18/5052 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe, das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf: Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Halina Wawzyniak, Dr. Petra Sitte, Jan Korte, weiteren Abgeordneten und der Fraktion DIE LINKE sowie den Abgeordneten Tabea Rößner, Dr. Konstantin von Notz, Renate Künast, weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Aufhebung des Achten Gesetzes zur Änderung des Urheberrechtsgesetzes ({0}) Drucksache 18/3269 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz ({1}) Drucksache 18/4987 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Martin Dörmann, SPD-Fraktion. ({2})

Martin Dörmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003517, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das heute in Rede stehende Leistungsschutzrecht für Presseverleger wurde in der vergangenen Wahlperiode von der schwarz-gelben Koalition beschlossen. Wie Sie wissen, hat damals die SPD-Bundestagsfraktion gegen das Gesetz gestimmt, ({0}) wie ich finde, aus guten Gründen. Union und SPD haben hier also eine gegensätzliche Auffassung. Dies ist der Hintergrund dafür, dass wir uns im Koalitionsvertrag zunächst darauf verständigt haben, die Wirkung des Gesetzes zu überprüfen. Eine Evaluierung soll darüber Aufklärung bringen, wie das Gesetz wirkt und welche Konsequenzen hieraus gezogen werden müssen. Da wir uns in der Großen Koalition auf dieses Verfahren verständigt haben, werden wir den vorliegenden Gesetzentwurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ablehnen, durch den die Aufhebung dieses Gesetzes bereits jetzt herbeigeführt würde. ({1}) - Es handelt sich um einen gemeinsamen Gesetzentwurf der Oppositionsfraktionen. Dennoch möchte ich die heutige Debatte dafür nutzen, hier noch einmal darzulegen, warum die SPD-Fraktion dem Leistungsschutzrecht von Anfang an skeptisch gegenüberstand und die getroffene gesetzliche Regelung für problematisch hält. ({2}) Ich will zunächst in Erinnerung rufen, was die Ausgangslage der seinerzeitigen Debatte war. Wir alle leben in einer veränderten Medienwelt. Abos und Auflagen von Tageszeitungen gehen zurück. Das Anzeigengeschäft im Printbereich ist teilweise sogar dramatisch eingebrochen. Praktisch alle namhaften Titel haben gleichzeitig umfangreiche Internetportale aufgebaut, die bislang ganz überwiegend kostenlos genutzt werden können. Auch das Anzeigengeschäft ist stark in den Onlinebereich abgewandert, ohne dass hierdurch in der Regel aber bereits schwarze Zahlen geschrieben werden. Um auch in Zukunft guten Journalismus finanzieren zu können, werden deshalb nach und nach Bezahlangebote etabliert; denn gute Recherche kostet Geld, und Journalistinnen und Journalisten müssen für ihre kompetente und für die Gesellschaft immanent wichtige Arbeit angemessen entlohnt werden. Bezahlangebote werden sich aber nur dann auf Dauer durchsetzen können, wenn Urheberrechte gewahrt und journalistische Inhalte nicht von Dritten ohne Erlaubnis umfangreich genutzt werden. Nun gibt es im Netz die sogenannten News-Aggregatoren und Harvester. Sie sammeln die Inhalte anderer und bieten diese als eigene Dienstleistungen an, ohne von den Rechteinhabern die Erlaubnis dafür zu haben. Gemeint sind hier nicht die Suchmaschinen, die nur einige kurze Textschnipsel nutzen, sondern Plattformen, die illegal ganze Artikel verwenden. Gegen diese Rechtsverstöße in jedem Einzelfall erfolgreich vorzugehen, hat sich für die Verlage als schwierig erwiesen; denn Gerichte verlangen für jeden Artikel eine komplexe Darstellung der Rechtekette. Das hat viele Prozesse aus Sicht der Verlage unwirtschaftlich gemacht. Es geht also im Kern nicht darum, dass es an Rechten fehlt, sondern darum, dass die Rechtsdurchsetzung oftmals so schwierig ist, dass diese Rechte ins Leere zu laufen drohen. Gerade auch von Verlagsprotagonisten für ein Leistungsschutzrecht wurde uns übrigens bestätigt, es gehe im Kern um eine bessere Rechtsdurchsetzung bereits bestehender Urheberrechte. Die SPD-Bundestagsfraktion hat sich, wie übrigens auch der Bundesrat, deshalb dafür eingesetzt, Lösungen zu suchen, die eine bessere Rechtsdurchsetzung ermöglichen. Damit hätten wir uns viele Folgeprobleme des jetzt diskutierten Gesetzes erspart. Die schwarz-gelbe Koalition ist einen anderen Weg gegangen. Nach vielen Pirouetten zu Beginn hat man sich letztendlich entschieden, ein Leistungsschutzrecht zu zimmern, das im Wesentlichen auf Suchmaschinenbetreiber ausgerichtet ist, eigentlich namentlich auf Google. Wir haben das stets für einen falschen Ansatz gehalten; denn Suchmaschinen üben eine wichtige Lotsenfunktion im Netz aus. Sie bündeln und strukturieren nämlich die dort vorhandenen vielfältigen Informationen und machen sie so für die Nutzerinnen und Nutzer besser zugänglich. Zugleich profitieren gerade auch die Zeitungsportale; denn es werden zusätzliche Leser auf ihre Seiten gelenkt, durch die sich höhere Anzeigeneinnahmen erzielen lassen. Die beinahe monopolartige Stellung der Suchmaschine von Google ist allerdings dann ein Problem, wenn die Platzierung von Suchergebnissen nicht nach objektiven Kriterien erfolgt, sondern womöglich von den Geschäftsinteressen des Unternehmens mitbestimmt wird. Deshalb ist es der richtige Weg, dass nun im Rahmen der aktuellen Bund-Länder-Kommission zur Medienkonvergenz darüber nachgedacht wird, ob und in welcher Form es einer Regulierung von Suchmaschinen bedarf, um Transparenz und Diskriminierungsfreiheit zu sichern. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das beschlossene Leistungsschutzrecht hat aus meiner Sicht bislang vor allem neue Rechtsunsicherheiten produziert, die nun übrigens gerichtlich geklärt werden müssen. ({3}) Fakt ist jedenfalls, dass Google nicht, wie eigentlich beabsichtigt, an Presseverlage zahlt, sondern diese zunächst ausdrücklich eingewilligt haben, dass Google verlinken kann, ohne dafür zu zahlen. Stand heute hat das Gesetz also aus meiner Sicht keines seiner Ziele erreicht, sondern vor allem dafür gesorgt, dass einige Anwälte wahrscheinlich noch auf Jahre hinaus ein sicheres Einkommen haben. ({4}) Von daher bin ich sehr gespannt, was die von der Koalition vereinbarte Evaluierung ergibt. ({5}) Herzlichen Dank. ({6})

Ulla Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002019

Vielen Dank. - Für die Fraktion Die Linke spricht jetzt die Kollegin Wawzyniak. ({0})

Halina Wawzyniak (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004185, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Es ist schon eine Weile her, dass wir hier über den gemeinsamen Gesetzentwurf von Linken und Bündnis 90/Die Grünen zur Abschaffung des Leistungsschutzrechtes für Presseverleger diskutiert haben. Seit der ersten Lesung hat sich nichts geändert. Ich könnte Ihnen also noch einmal erklären, dass das Leistungsschutzrecht mehr schadet als nützt. Ich könnte Ihnen auch noch einmal erklären, warum dieses Leistungsschutzrecht nur Geschäftsmodelle der Verlage schützt und nicht die eigentlichen Urheberinnen und Urheber. Ich könnte Ihnen auch noch einmal erklären, warum Suchmaschinen Verlagen nicht schaden, sondern nützen, weil ihnen damit Nutzerinnen und bares Geld zugeführt werden. All das könnte ich noch einmal erzählen, und ich habe ernsthaft das Gefühl, dass ich Ihnen das tatsächlich noch einmal erklären muss. ({0}) Denn anstatt zu schauen, was aufgrund dieses Gesetzes wirklich abläuft, scheint gerade die Union für alle Argumente unzugänglich zu sein, sich die Finger in die Ohren zu stecken und zu sagen: Lalala, ich hör’ dich nicht. Man denkt sogar daran, diese Idee auch noch auf europäischer Ebene einzuführen. ({1}) - Das ist Schwachsinn; das hat auch die Anhörung, die wir im Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz durchgeführt haben, allen vor Augen geführt. Die Mehrheit der anwesenden Sachverständigen hat dargelegt, warum das Leistungsschutzrecht für Presseverleger schädlich ist. Mehrere Sachverständige machten darauf aufmerksam, dass das Gesetz so ungenau formuliert ist, dass erst Gerichte klären müssen, was eigentlich genau drinsteht. ({2}) Diese rechtliche Klärung kann dann gut zehn Jahre dauern. ({3}) Im schnelllebigen digitalen Bereich sind zehn Jahre eine halbe Ewigkeit, und schon in der kurzen Zeit, in der das Leistungsschutzrecht nun gilt, hatte es verheerende Auswirkungen auf den Markt. Elf Start-ups mussten bereits wegen der Leistungsschutzregelung in Deutschland aufgeben, erklärte Professor Spindler in der Anhörung. Wie viele werden das in zehn Jahren sein?, frage ich Sie, die Sie ja so innovationsfreundlich sein wollen. Währenddessen schaut Google seelenruhig zu, wie Konkurrenz bereits im Keim erstickt wird. Aber Hauptsache, der Axel-SpringerVerlag kann Geld dafür verlangen, dass Nutzerinnen und Nutzer auf seine Webseiten geleitet werden. Die Absurdität des Leistungsschutzrechts für Presseverleger brachte Professor Malte Stieper auf den Punkt: Kleinste Textausschnitte sollen lizenzpflichtig sein, aber die komplette Veröffentlichung eines Artikels an einer Litfaßsäule wäre erlaubt. - Das ist nun wirklich absurd. ({4}) Nun hat auch Spanien versucht, mit einem Leistungsschutzrecht für Presseverleger aktiv zu werden. Was ist passiert? Google hat Google News in Spanien eingestellt. Die Nutzerzahlen der Onlinemedien brachen derart ein, dass dieselben Verlage, die zuerst darum gebeten hatten, das Leistungsschutzrecht einzuführen, jetzt darum betteln, dass es wieder abgeschafft wird. Auch hierzulande scheint man sich der Leistung, die Google erbringt, bewusst zu sein; sonst hätte man Google kaum von der Lizenzzahlung ausgenommen. - Nach alledem möchte ich jetzt genau wissen: Was nehmen Suchmaschinen den Verlagen eigentlich weg? Nichts! Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht. Mir reicht das alles aus, um das Leistungsschutzrecht sofort, und zwar mit der Abstimmung, abzuschaffen. ({5}) Ich brauche keine weitere Evaluation, auf die Union und SPD laut ihrem Koalitionsvertrag noch warten wollen. Die Große Koalition erweist sich als Bollwerk gegen Innovation und für Rechtsunsicherheit. Es wird aber die Zeit kommen, wo auch Sie merken, dass das Leistungsschutzgesetz Unsinn ist. Je eher, desto besser! ({6}) Denn ein derart innovationsfeindliches Gesetz, das nur Rechtsunsicherheit schafft und nichts an der Lage von Urheberinnen und Urhebern verbessert, hat nichts anderes verdient als ein schnelles Ende. Wenn Sie mir nicht glauben, dann lesen Sie im Bericht der Monopolkommission „Herausforderung digitale Märkte“ die Randnummer 287. Auch dort steht, dass das nicht mit gesetzgeberischen Maßnahmen, sondern mit Wettbewerb geht. Deshalb stimmen Sie heute einfach zu! ({7})

Ulla Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002019

Vielen Dank. - Nächster Redner für die CDU/CSUFraktion ist Ansgar Heveling. ({0})

Ansgar Heveling (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004056, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn ich zu wählen hätte zwischen einem Land mit einer Regierung, aber ohne Zeitung, und einem Land mit Zeitung, aber ohne Regierung, dann würde ich mich für das Land ohne Regierung entscheiden. Auf diese prägnante Formel brachte der dritte Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika, Thomas Jefferson, sein Verständnis der Bedeutung von Zeitungen für die Demokratie. Heute würden dem Hauptverfasser der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung wahrscheinlich die Tränen in den Augen stehen, sollte er sich die Situation des Zeitungsmarktes in den Vereinigten Staaten von Amerika anschauen. Die USA sind zwar noch nicht ganz ein Land ohne Zeitungen; aber das Zeitungssterben in der Fläche ist dort evident. Wir wollen kein Land ohne Zeitungen sein. Deshalb haben wir zum Schutz von Presseerzeugnissen ein Leistungsschutzrecht für Presseverlage eingeführt. Wir haben ein Recht und keine Rechtunsicherheit geschaffen. Mit „wir“ meine ich in der Tat die christlich-liberale Koalition der letzten Wahlperiode. Allerdings hat der Bundesrat mit einer anderen politischen Färbung dieses Gesetz in der letzten Wahlperiode gebilligt. ({0}) Zunächst ist festzustellen, dass das Leistungsschutzrecht für Presseverlage in diesen Wochen spannende Entwicklungen erlebt. Schauen wir zum einen nach Österreich. Dort wird das Parlament noch vor der Sommerpause die Einführung eines Leistungsschutzrechtes für Presseverlage beschließen. Das Gesetz orientiert sich explizit an der deutschen Regelung. Allerdings werden bei der Formulierung des Schutzgegenstandes sowie bei den einzuräumenden Verwertungsrechten teilweise sogar viel weiterreichende Ansätze als das deutsche Vorbild vorgeschlagen. ({1}) Zum anderen blicken wir nach Brüssel. Der für den digitalen Binnenmarkt zuständige EU-Kommissar Günther Oettinger denkt über die Einführung eines europäischen Leistungsschutzrechtes nach. Neben Deutschland hat auch Spanien bereits ein Leistungsschutzrecht eingeführt. In Spanien hat Google daraufhin seinen Newsdienst abgeschaltet. Diese Reaktion ist gerade ein Argument für die Einführung eines EU-weiten Leistungsschutzrechtes; denn in der europaweiten Dimension könnte es sich Google sicherlich nicht leisten, seinen Newsdienst einfach abzuschalten. In der EU-weiten Synopse können wir also feststellen, dass Deutschland mit der Einführung des Leistungsschutzrechtes eine Vorreiterrolle übernommen hat. Auch deshalb werden wir den hier vorliegenden Gesetzentwurf der Oppositionsfraktionen heute ablehnen. Aber bleiben wir noch einen Moment bei Google: Eric Schmidt, Google-Chef, verlautbarte vor kurzem, er fühle eine „moralische Verantwortung, um Nachrichten beim Überleben zu helfen, ohne die die Demokratie leiden würde“. Das klingt nachgerade etwas zynisch. Würde Herr Schmidt tatsächlich die Bedeutung von Medien für die Demokratie und Meinungsvielfalt anerkennen, die im Übrigen in Deutschland Verfassungsrang hat, könnte er auch das Leistungsschutzrecht als geltende Gesetzeslage akzeptieren. Stattdessen streut Google nun in einer auf drei Jahre befristeten Initiative 150 Millionen Euro über die europäische Verlagslandschaft als Geschenk aus und ignoriert gleichzeitig geltendes Recht. Google könnte mit den Verlagen ohne Weiteres die nötigen Lizenzen abschließen, aus deren Einnahmen die Verlage dann in digitale Innovation investieren könnten. So aber setzt sich Google einfach über geltendes Recht hinweg. Aber auch aus weiteren Gründen werden wir dem vorliegenden Gesetzentwurf nicht zustimmen. Zum einen steht die Evaluierung des Leistungsschutzrechtes durch die Bundesregierung noch aus. Diese haben wir vereinbart, und das werden wir abwarten. Zum anderen ist im Laufe des Sommers zu erwarten, dass die Entscheidung der Schiedsstelle beim Deutschen Patent- und Markenamt über den dort vorgelegten Tarif der VG Media erfolgen wird. Dies ist im Übrigen der für Verwertungsgesellschaften übliche Weg einer Tarifveröffentlichung. Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit der Einführung des Leistungsschutzrechtes für Presseverlage haben wir eine ordnungspolitische Entscheidung getroffen. Diese Entscheidung stellen wir als CDU/CSU nicht infrage. ({2}) In seiner knapp zweijährigen Daseinsgeschichte steht das Leistungsschutzrecht für Presseverleger noch am Anfang seiner Entwicklung und Durchsetzung. Es ist nicht untypisch im Urheberrecht, dass einzelne Aspekte eines Gesetzes streitbehaftet sind. Deswegen müssen wir die Klärung einzelner Rechtsbegriffe im Rahmen von Schieds- und Gerichtsverfahren abwarten. Das ist der natürliche Gang der Dinge. Auch die stattgefundene Anhörung im Rechtsausschuss hat differenzierte Ergebnisse erbracht. Diese Ergebnisse sprechen aber aus unserer Sicht in keiner Weise dafür, das Leistungsschutzrecht für Presseverlage aufzuheben. Die Entwicklungen rund um das Leistungsschutzrecht werden wir weiter mit Spannung und Interesse verfolgen. Den vorliegenden Gesetzentwurf werden wir heute ablehnen. Vielen Dank. ({3})

Ulla Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002019

Vielen Dank. - Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen spricht jetzt Tabea Rößner.

Tabea Rößner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004138, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Das schwarz-gelbe Leistungsschutzrecht muss weg“, ({0}) dieser Satz kommt nicht von mir - könnte er aber auch -, sondern vom ehemaligen SPD-Kanzlerkandidaten Peer Steinbrück. Der Mann hatte zwar nicht immer recht, aber hier schon. Das Leistungsschutzrecht für Presseverlage ist ein so haarsträubender und kontraproduktiver Blödsinn, dass es besser gestern als heute abgeschafft gehört. ({1}) Nichts, was sich die Union und vor allem die Großverlage von dem Leistungsschutzrecht versprochen haben, ist eingetreten. Es floss kein Geld, kein Cent, schon gar nicht an die Urheberinnen und Urheber. Stattdessen haben die Verlage unter dem Druck der schwindenden Klickzahlen ausgerechnet Google eine Art Gratislizenz erteilt und damit das Leistungsschutzrecht endgültig ad absurdum geführt. Gleichzeitig streitet sich die Verwertungsgesellschaft VG Media mit Google vor Gericht. Andere, kleinere Aggregatoren wie Rivva haben ihren Dienst vorsichtshalber stark eingeschränkt. Aus der ITWirtschaft hört man, dass Unternehmen in Deutschland wegen der unsicheren Rechtslage keine neuen Ideen für Content-Verwertung austesten wollen. Ein Hang zur Besserwisserei liegt mir völlig fern; aber es ist schon unglaublich, dass alles, aber auch wirklich alles, wovor wir bei der Einführung gewarnt haben, wahr geworden ist: Innovationsbremse, Rechtsunsicherheiten und eine Stärkung der großen Anbieter zulasten der kleinen. Das Leistungsschutzrecht schafft das Gegenteil vom Versprochenen, und diesen gesetzgeberischen Bumerang wollen Sie ernsthaft beibehalten. Jetzt kommen Sie von der Koalition wieder mit dem Argument, dass wir die Evaluation abwarten sollten; Herr Dörmann hat es eben auch gesagt. Ich bin wirklich kein ungeduldiger Mensch; aber auf die Evaluation warten wir jetzt schon seit anderthalb Jahren vergebens. Seien wir doch ehrlich: Evaluieren ist doch nichts anderes als ein Euphemismus für großkoalitionäres Aussitzen. ({2}) Was genau soll denn überhaupt evaluiert werden? Die Fakten liegen doch auf dem Tisch. Wenn etwas nicht nützt, sondern nur schadet, dann braucht man es nicht. Das sagt einem doch der gesunde Menschenverstand. ({3}) Falls der bei Ihnen nichts gilt - das würde einiges erklären -, dann überzeugen die Experten Sie ja vielleicht. Sowohl in einem Fachgespräch des Ausschusses Digitale Agenda als auch in der Anhörung zu unserem Gesetzentwurf im Rechtsausschuss wurde von der deutlichen Mehrheit der Experten die Abschaffung des Gesetzes gefordert - nebenbei bemerkt: auch von Sachverständigen, die die Koalition eingeladen hatte -, von den unzähligen kritischen Stellungnahmen im Vorfeld einmal ganz abgesehen. Ich fasse also zusammen: Die Fakten sprechen gegen das Leistungsschutzrecht, der Menschenverstand tut es, die Experten tun es, im Übrigen auch der Bundesrat; das können Sie in einer Entschließung des Bundesrates gerne nachlesen. Wir wollen es nicht. Die Verlage nutzen es nicht. Also: Korrigieren Sie einen großen Fehler und schaffen Sie dieses Unglück endlich ab! ({4}) Ich wende mich auch direkt an Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen der SPD. Heute müssen Sie Flagge zeigen. In der vergangenen Legislaturperiode waren Sie noch sehr geschlossen gegen das Leistungsschutzrecht. Und nun? Es hat sich nichts an den Tatsachen geändert; aber es braucht keinen Propheten, um zu wissen, dass Sie auch heute leider nicht das Richtige tun werden. Mit Verweis auf den Koalitionsvertrag und die Evaluation akzeptieren Sie das Leistungsschutzrecht. Wie schon bei der Vorratsdatenspeicherung sagen Sie auch hier vorher das eine und machen dann doch das andere. Wie fühlt es sich eigentlich an, der netzpolitische Dackel der Union zu sein? ({5}) Ich präsentiere Ihnen ein allerletztes Argument gegen das Leistungsschutzrecht. Heute Morgen haben wir in diesem Haus passenderweise über den Bürokratieabbau diskutiert. Ich denke, der gesamte Prozess rund um Snippets, Verwertungsgesellschaften, Anhörungen, rechtliche Unklarheiten, Klagen und Gegenklagen hat gezeigt: Sie sollten heute unserem Gesetzentwurf zustimmen und für etwas weniger Bürokratie und Wahnsinn in diesem Land sorgen. Vielen Dank. ({6})

Ulla Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002019

Vielen Dank. - Nächster Redner ist Dr. Volker Ullrich, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Volker Ullrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004427, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Schutz des geistigen Eigentums ist Ausprägung der Eigentumsgarantie des Grundgesetzes und damit ein wesentliches Strukturmerkmal unserer Wirtschaftsordnung. Das Leistungsschutzrecht für Presseverlage wurde nach langen und zugegebenermaßen intensiven Debatten im Jahr 2013 eingeführt, um im sensiblen Bereich der Presse und Verlage die Urheberschaft von Texten zu sichern und journalistische Arbeit zu würdigen. Dabei geht es um mehr als nur den Schutz rein wirtschaftlicher Belange. Ein demokratisches und freiheitliches Gemeinwesen muss ein lebendiges Interesse an einer funktionierenden Presselandschaft haben, welche die Vielfalt der Meinungen bündelt und durch die Wahrnehmung öffentlicher Kontrolle zur Meinungsvielfalt und Pluralität beiträgt. Eine solche Presselandschaft ist allerdings nicht zum Nulltarif zu haben. Qualität kostet, und eine gute journalistische Arbeit hat zu Recht ihren Preis. Es ist nicht gerecht, wenn diejenigen, die mit hohem Aufwand eine Leistung erbringen, mit ansehen müssen, wie andere davon profitieren, ohne dass der Urheber selbst an der Verwertung beteiligt wird. ({0}) Daher ist den Herstellern das Recht eingeräumt worden, ihre Presseerzeugnisse zu gewerblichen Zwecken zugänglich zu machen. Suchmaschinen sollen nach Bezahlung diese Presseerzeugnisse nutzen können, Überschriften und Textausschnitte sind frei. Diese Erwägung folgt damit anderen Vermarktungsmustern im Bereich des geistigen Eigentums. Diese grundsätzlichen Überlegungen zur Einführung des Leistungsschutzrechtes im Jahr 2013 waren richtig. Sie sind es auch heute noch. ({1}) Ich möchte nicht verschweigen, dass das Leistungsschutzrecht zum Zeitpunkt der Verabschiedung umstritten war und wir auch heute eine kontroverse Debatte führen. Es gibt auch hörenswerte Gründe, die eine andere Richtung aufzeigen können. Jedenfalls spricht gegen das Leistungsschutzrecht nicht, dass offene Rechtsbegriffe existieren. Die Klärung unbestimmter Rechtsbegriffe ist Kernaufgabe der Rechtsprechung. Die Gerichte klären die konkrete Reichweite und die Grenzen des Leistungsschutzrechts anhand von Einzelfällen unter Betrachtung aller Einzelheiten. Das ist gelebte Gewaltenteilung. Deswegen spricht im Ergebnis nichts dafür, jetzt schon Ihrem Gesetzentwurf zu folgen. Wir haben uns im Koalitionsvertrag darauf verständigt, dass die Wirksamkeit des Leistungsschutzrechts in dieser Periode evaluiert wird. Aber diese Evaluation ist nicht beendet. ({2}) Es sind Gerichtsverfahren und Schiedsverfahren anhängig. Diese sollten wir abwarten. Wir sollten uns mit diesem Thema befassen und die Erkenntnisse berücksichtigen. Erst klug überlegen, dann handeln, das ist der Kern verantwortungsvoller Politik. ({3}) Wie auch immer diese ergebnisoffene Evaluation am Ende des Tages ausgehen wird: Die Union steht zum Schutz des geistigen Eigentums als grundsätzliches Ordnungsprinzip. Wir stehen zu einem modernen und tauglichen Urheberrecht im digitalen Zeitalter. Deswegen werden wir für heute Ihren Gesetzentwurf ablehnen. Vielen Dank. ({4})

Ulla Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002019

Vielen Dank. - Damit sind wir am Ende der Debatte angekommen. Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen zur Aufhebung des Achten Gesetzes zur Änderung des Urheberrechtsgesetzes. Der Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/4987, den Gesetzentwurf der Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/3269 abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung mit den Stimmen der CDU/CSU-Fraktion und der SPDFraktion gegen die Stimmen der Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen abgelehnt, und mit dieser Ablehnung entfällt laut unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf: Beratung des Antrags der Bundesregierung Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der Multidimensionalen Integrierten Stabilisierungsmission der Vereinten Nationen in Mali ({0}) auf Grundlage der Resolution 2100 ({1}) und 2164 ({2}) des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen vom 25. April 2013 und 25. Juni Drucksache 18/5053 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss ({3}) Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Verteidigungsausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss gemäß § 96 der GO Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann sind Sie damit einverstanden. Bevor ich nun der Kollegin Bulmahn das Wort gebe, möchte ich die Gäste aus Mali auf der Tribüne ganz herzlich begrüßen, darunter zwei Mitglieder des Parlaments in Mali, die unserer Diskussion hier folgen. Herzlich willkommen! ({4}) Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Edelgard Bulmahn. ({5})

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000305, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Heute Mittag hatte ich ein hochinteressantes Gespräch mit der malischen Delegation. Ein Teil der Delegation nimmt jetzt an unserer Debatte teil. Die Delegation besucht Deutschland, um sich über den deutschen Föderalismus zu informieren, über die Art und Weise, wie wir Macht- und Aufgabenteilung zwischen Bund, Ländern und Kommunen in unserem Land organisiert haben und wie die Verwaltungen tätig sind. Ich freue mich sehr, dass wir die Möglichkeit haben, von unseren Erfahrungen hier etwas mitzuteilen. Ich hoffe sehr, dass dieser Besuch für Sie alle ein sehr ertragreicher und erfolgreicher wird. ({0}) Vor gut einem Monat hatten meine Kollegin Bärbel Kofler, noch ein weiterer Kollege und ich die Möglichkeit, Mali selbst zu besuchen, auf Einladung des Präsidenten des malischen Parlaments. Das Ziel dieses Besuches waren Verhandlungen und Gespräche über eine engere Zusammenarbeit zwischen dem malischen Parlament und dem deutschen Parlament, um das malische Parlament auch in der Verbesserung seiner Arbeitsbedin10508 gungen und damit auch der Arbeitsmöglichkeiten zu unterstützen. In den Gesprächen, die wir in Mali mit Regierungsvertretern - darunter mit dem Premierminister -, mit vielen Parlamentarierinnen und Parlamentariern, aber auch mit Vertretern unterschiedlicher politischer Gruppen und mit zivilen Organisationen geführt haben, wurde immer wieder deutlich, wie groß die Hoffnung der Menschen in Mali auf den Friedensprozess ist und wie wichtig auch die Unterstützung ist, die wir von unserer Seite aus in Mali leisten. Wenn man die Situation heute vergleicht mit dem Mali am Abgrund, 2013, dann kann man sagen, dass in den letzten zweieinhalb Jahren wirklich Erstaunliches, viel erreicht worden ist. Es gibt zwar immer noch große Herausforderungen, vor denen Mali steht - sowohl das Parlament als auch die Menschen -, aber es gibt auch enorme Fortschritte: die weitgehende Wiederherstellung der territorialen Integrität des Staates, die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen - also die Rückkehr zur demokratischen Ordnung -, eine deutliche Verbesserung der Sicherheitslage, das Waffenstillstandsabkommen von Kidal, aber vor allen Dingen auch der Friedensprozess von Algier, der Abschluss des Vertrages für Frieden am 15. Mai und die Bereitschaft und die Ratifizierung, die jetzt am 20. Juni durch die Gruppen auch noch geleistet werden wird, die diesen Friedensvertrag bisher nicht unterschrieben haben. Das sind gewaltige Fortschritte, die in den letzten zweieinhalb Jahren erreicht werden konnten. Wir haben von deutscher Seite aus diese gewaltigen Fortschritte unterstützt - und werden dies auch weiter tun - durch die Bereitstellung von Entwicklungszusammenarbeit, durch die Unterstützung des Landes in seiner kulturellen, wirtschaftlichen und auch sozialen Entwicklung. Meine sehr geehrten Damen und Herren, all das wäre nicht möglich gewesen ohne die militärische Intervention von Frankreich und ohne die VN-Mission MINUSMA. ({1}) Deshalb ist Mali auch ein Beispiel dafür, dass eine apodiktische Ablehnung jeglicher militärischer Einsätze - ich rede über VN-Missionen - oder ein apodiktisches Gegenüberstellen von zivilen Missionen, zivilen Hilfestellungen und Interventionen und militärischen der Sache nicht gerecht wird. Sicher sind zivile Hilfestellung und Unterstützung, ziviles Krisenmanagement immer besser, wenn es diese Möglichkeit noch gibt; aber manchmal brauchen wir auch ein militärisches Eingreifen, damit wir überhaupt erst einmal wieder politische Verhandlungen führen können und ein politischer Prozess beginnen kann. ({2}) MINUSMA ist eine VN-Mission, die erstens eine militärische Komponente enthält, um die Sicherheitslage weiter zu stabilisieren und die Bevölkerung zu schützen, die zweitens aber auch eine starke zivile und entwicklungspolitische Seite hat: ({3}) indem die Mission die Umsetzung des Vertrages von Algier unterstützt, indem die Dezentralisierung, die in diesem Vertrag niedergelegt worden ist, unterstützt wird, indem der politische Dialog, die nationale Aussöhnung, unterstützt wird und indem dafür Sorge getragen wird, dass die Menschenrechte beachtet werden. Ich glaube, dass dieser Einsatz, dass diese Mission und das, was wir zusätzlich tun, zeigen, wie wichtig es ist, dass wir bei einer wirklich massiven Krise in einem Land, bei Bürgerkrieg oder bürgerkriegsähnlichen Verhältnissen, einen multidimensionalen Ansatz wählen - wir können das auch einen kohärenten Ansatz nennen -, der neben dem militärischen Einsatz auch die zivilen Elemente umfasst. Ich finde es schade, dass wir in den Debatten oft nur über die militärische Mission sprechen, aber nicht über die zivile Hilfe und Unterstützung, die wir gleichzeitig leisten. ({4}) Wir müssen auch in diesem Parlament ganzheitlich denken und ganzheitlich agieren. Wir sollten den gesamten Umfang der Missionen inklusive der Hilfestellungen betrachten. Dann, glaube ich, wird deutlich, wie wichtig es ist, dass wir uns engagieren, dass wir außenpolitisch mehr Verantwortung übernehmen; denn so können wir wirklich dazu beitragen, die Lebensverhältnisse in den Ländern zu verbessern. So können wir den Menschen eine neue Perspektive geben. So können wir sie dabei unterstützen, diese Perspektive zu entwickeln. Deshalb ist es richtig, dass wir uns neben dem militärischen Einsatz im Rahmen von MINUSMA auch an politischen und sozialen und auch an Programmen zur Förderung der wirtschaftlichen Entwicklung beteiligen. Wir unterstützen im Übrigen auch das Parlament, weil das Parlament eine ganz erhebliche Verantwortung besitzt. Es hat eine wichtige Aufgabe und eine erhebliche Bedeutung für gutes Regieren in einem Land. Gelegentlich vergessen wir als Parlamentarier das. Dabei müssten wir das aus eigener Erfahrung sehr gut wissen. Deshalb will ich an dieser Stelle die Bedeutung der Zusammenarbeit zwischen dem Deutschen Bundestag und dem Parlament in Mali unterstreichen. Diese Zusammenarbeit bezieht sich nicht nur auf die Zusammenarbeit zwischen den nationalen Parlamenten, sondern wir unterstützen Mali auch bei dem Aufbau und der Weiterentwicklung regionaler Parlamente und Verwaltungen. Damit unterstützen wir das Land mit Blick auf eine gute Regierungsführung. ({5}) Gute Regierungsführung ist die entscheidende Voraussetzung dafür, dass ein Land eine friedliche und staEdelgard Bulmahn bile Entwicklung nimmt. Wie wichtig das ist, hat gerade erst eine Umfrage gezeigt, die morgen den VN zur Kenntnis gegeben wird. Nach dieser Umfrage sagen 70 Prozent der Bevölkerung Malis, dass die Sicherheitslage in Mali, dass friedliche, stabile Verhältnisse für sie eine ganz große Bedeutung haben. Knapp 50 Prozent sagen, dass ihnen die Arbeitslosigkeit, die soziale Entwicklung insgesamt große Sorgen bereiten. Deshalb unterstreiche ich zum Schluss noch einmal, wie wichtig es ist, dass wir den kohärenten Ansatz, den wir gewählt haben, fortsetzen. Die kulturelle Zusammenarbeit gehört im Übrigen auch dazu: Deutschland unterstützt Mali bei der Restaurierung der wunderbaren Bibliothek von Timbuktu. Auch das gehört dazu, weil das ein wichtiger Teil der Geschichte und Tradition Malis ist.

Ulla Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002019

Bei allem Engagement, Frau Bulmahn, Sie müssen zum Schluss kommen.

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000305, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich plädiere deshalb ausdrücklich dafür, dieser Mission zuzustimmen. Wenn Sie das Land besuchen, werden Sie selbst erleben, wie wichtig das ist. - Da geht mir das Herz über, Frau Präsidentin. Ich hoffe, Sie sehen es mir nach. - Ich bitte Sie sehr, der Fortsetzung dieser Mission zuzustimmen, weil das für die Menschen in Mali von ungeheurer Bedeutung ist. Vielen Dank. ({0})

Ulla Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002019

Vielen Dank. - Für die Fraktion Die Linke spricht jetzt der Kollege Niema Movassat. ({0})

Niema Movassat (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004114, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich muss Ihnen sagen: Wir diskutieren hier über einen Bundeswehreinsatz in Mali, und es ist, wenn ich es richtig sehe, niemand vom Auswärtigen Amt da. Das überrascht mich schon ein bisschen, weil es natürlich dazugehört, dass auch das Auswärtige Amt bei der Debatte im Parlament dabei ist. ({0}) Ich muss sagen: Die Bilanz dieses Einsatzes der Bundeswehr ist schlecht. Der erste Grund dafür ist, dass das Zivile zu kurz kommt. Eigentlich soll der Einsatz in Mali ein Musterbeispiel für den vielgepriesenen vernetzten Ansatz aus Bundeswehr, Polizeiausbildern und zivilen Maßnahmen sein. Aber wo sind die deutschen zivilen Beiträge im Rahmen von MINUSMA? Ich sehe bloß Militär: ({1}) Bundeswehrsoldaten, die andere Soldaten ins Einsatzgebiet fliegen und französische Kampfflugzeuge auftanken, daneben Bundeswehrsoldaten, die malische Soldaten ausbilden. Die Probleme in Mali werden so nicht gelöst. Schon deshalb ist der Einsatz abzulehnen. ({2}) Der zweite Grund: Die Ursache für den Dauerkonflikt im Land wird nicht angepackt. Armut und Perspektivlosigkeit im Norden Malis sind die Gründe dafür, dass sich junge Menschen den Separatisten und Islamisten anschließen. Diese locken mit Einkommen; da machen 100 Euro Sold schon den Unterschied. Übrigens: Den Islamisten geht es wiederum weniger um den Glauben als vielmehr um die attraktiven Handels- und Schmugglerrouten. Der Militäreinsatz ändert nichts an diesen Konfliktursachen. ({3}) Die Probleme Malis lassen sich nur lösen, wenn die Armut, vor allem im Norden, bekämpft wird. Dritter Grund für die schlechte Bilanz: Es gibt keinen echten Dialog in Mali. Seit Jahren fordert die malische Zivilgesellschaft einen nationalen Dialogprozess. Dieser wurde aber immer wieder hintertrieben. Auch die Versöhnungskommission bleibt hinter den Erwartungen der Zivilgesellschaft zurück. Die Friedensverhandlungen in Algier sind von militärischer Logik bestimmt. ({4}) Dort dürfen mit der malischen Regierung nur die Gruppen verhandeln, die Waffen haben. Wer keine Waffen hat, sitzt nicht am Tisch - also die gesamte Zivilgesellschaft. Wie soll es da eine nachhaltige Lösung geben? Ein vierter Grund: Der wichtigste Partner, die ehemalige Kolonialmacht Frankreich, spielt ein falsches Spiel. Es geht ihr um die reichen Rohstoffvorkommen und um die wichtige geostrategische Lage. Die Rettung der Zivilbevölkerung war nie das primäre Ziel der Intervention. Frankreichs Interesse zeigt sich auch anhand der eigenen Militäroperation mit 3 000 Soldaten, von der wir fast nichts wissen. Dazu hat Frankreich Mali ein Militärabkommen aufgedrückt, das dessen Souveränität mit Füßen tritt. Trotzdem kooperiert Deutschland auch weiterhin militärisch mit Frankreich - ein Unding. ({5}) Fünfter Grund für das Scheitern: Die Strategie des Einsatzes ist unlogisch. Bundeswehrsoldaten unterstützen die malische Regierung, um gegen die MNLA-Rebellen zu kämpfen. Diese Rebellen wiederum werden von Frankreich unterstützt und von Saudi-Arabien mit Waffen beliefert. Mit Frankreich ist Deutschland verbündet, an Saudi-Arabien liefert Deutschland Waffen. Das ist keine Strategie. Das ist absurd. ({6}) Sechster Grund. Trotz des Militäreinsatzes werden die Rebellen immer stärker. Die Zahl ihrer Angriffe nimmt zu. Zudem gibt es immer öfter Proteste gegen MINUSMA. Denn seit kurzem versucht MINUSMA, überall dort mit Gewalt Pufferzonen einzurichten, wo regierungsnahe Milizen vorrücken. So sollen angeblich Kämpfe verhindert werden. Viele Malier sehen darin aber einen Schritt zur De-facto-Spaltung des Landes; denn Rebellengebiete bleiben so in Separatistenhand. Bei den Protesten dagegen Anfang des Jahres in Gao schossen Blauhelme auf die Zivilbevölkerung. Es starben mindestens drei Zivilisten. Soll das der Frieden sein, der militärisch nach Mali gebracht wird? ({7}) Lassen Sie mich zum Schluss sagen: Es gibt immer noch Zehntausende malische Flüchtlinge. Viele Menschen hungern. Es gibt also weder eine militärische noch eine zivile Besserung der Lage. Sehen Sie es endlich ein: Ihre Strategie in Mali ist gescheitert. Ziehen Sie die Bundeswehr ab! ({8}) Mit der Verlängerung des Einsatzes werden weitere 6 Millionen Euro verpulvert. Ich sage Ihnen: Dieses Geld wäre bei der humanitären Hilfe, beim Zivilen Friedensdienst, bei der Entwicklungszusammenarbeit wesentlich besser aufgehoben. Danke für die Aufmerksamkeit. ({9})

Ulla Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002019

Vielen Dank. - Für die Bundesregierung erhält jetzt der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Ralf Brauksiepe das Wort. ({0})

Dr. Ralf Brauksiepe (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003055

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Kollegin Bulmahn hat wichtige Aspekte bereits angesprochen und deutlich gemacht, aus welch guten Gründen wir uns in Mali in vielfältiger Weise engagieren. Was Sie gerade vorgetragen haben, Herr Kollege, hat mit der wahren Situation in Mali nicht viel zu tun. ({0}) Worum es geht, sind fragile Staatlichkeit und stockende wirtschaftliche Entwicklung, die an vielen Stellen Afrikas Probleme bereiten. Wir können dieser Gemengelage nur begegnen sowohl durch eine Stabilisierung der Sicherheitslage als auch durch die Stärkung der Verantwortung vor Ort, den Aufbau von Kapazitäten ziviler Sicherheitskräfte und durch Hilfe zur Selbsthilfe, natürlich auch durch Mittel der Entwicklungszusammenarbeit, um nur einige Handlungsfelder aufzuzeigen. Natürlich sind wir auch im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit in Mali aktiv; das ist gut so. Wir brauchen einen vernetzten Ansatz, und genau um den geht es auch hier bei diesem Mandat. Wir beschreiten diesen Weg genau mit unseren internationalen Partnern in Afrika - und auch in Mali. Eine weiterhin volatile Sicherheitslage vor allem im Norden des Landes führte im Zuge der immer noch schwelenden Auseinandersetzungen immer wieder zu gewaltsamen Übergriffen mit Todesopfern, und die Spannungen halten weiter an. Daneben besteht eine terroristische Bedrohung, die nur am Rande Bezug zum politischen Verhandlungsprozess hat, abstrakt landesweit und eben besonders konkret im Norden des Landes. Die Kollegin Bulmahn hat die Unterzeichnung des Friedensabkommens am 15. Mai 2015 in Bamako angesprochen. Das war in der Tat ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu einer politischen Konfliktlösung. Die malische Zentralregierung und Teile der Rebellengruppen aus dem Norden sind in diesem Rahmen mit Unterstützung maßgeblicher internationaler Akteure zu einem gemeinsamen Ergebnis für ganz Mali gekommen. Der vielseitige und vernetzte Ansatz internationaler Organisationen in Mali ist von besonderer Bedeutung. Es geht um Vernetzung einerseits der verschiedenen politischen Ansätze - zivil und militärisch -, auf ziviler Seite natürlich sowohl entwicklungspolitisch als auch diplomatisch, aber es geht eben auch um die verschiedenen Mandate, in denen wir uns einbringen und in denen wir mit anderen Organisationen und Staaten zusammenarbeiten. EUTM Mali, EUCAP Sahel Mali und MINUSMA leisten neben weiteren nationalen und internationalen Hilfsinitiativen gemeinsam einen wichtigen Beitrag zur Stabilisierung nicht nur in Mali, sondern in der gesamten Region. Dieses umfassende Engagement bleibt eine Grundvoraussetzung für eine Verbesserung der Sicherheitslage in Mali und damit auch für die zur Stabilisierung des Landes und in der Region nötigen Friedensprozesse. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben unser Engagement bei EUTM Mali zu Beginn des Jahres ausgeweitet und damit ein deutliches Signal gesetzt. Und wenn es um die VN-Friedensmission MINUSMA und um unsere Verlängerung des Mandats geht, dann ist das eben auch ein wichtiger, ein bedeutender Teil dieses Stabilisierungsprozesses in Mali und in der gesamten Region. Und, liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben das Thema ja oft, wenn es um Defizite geht, die vorhanden sind, und um Fortschritte, die es gibt, die Frage: Was davon hat eigentlich mit unserem Einsatz zu tun? Viele Probleme, die es in Afrika gibt, haben nichts mit dem Einsatz der internationalen Gemeinschaft zu tun. Nach den friedlich verlaufenen freien und demokratischen Präsidentschafts- und Parlamentswahlen verfügt Mali seit dem Jahr 2013 aber wieder über eine demokratisch legitimierte Regierung, die sich den Reform-, Aufbauund Aussöhnungsprozess als wichtiges Ziel gesetzt hat. Mit dem vorliegenden Mandat unterstützen wir genau mit unseren europäischen und internationalen Partnern diesen politischen Prozess und kommen der von uns angenommenen und gelebten sicherheitspolitischen Verantwortung für die Region nach. Das ist eben genau unser Beitrag, zu dem wir stehen und den wir vor allem im Interesse der Menschen dieses Landes - nicht in irgendeinem europäischen Interesse fortsetzen wollen. Darum geht es. ({1}) Der Einsatz im Rahmen von MINUSMA bleibt Teil eines umfassenden Engagements unseres Landes für Mali. Wir beteiligen uns daran auch mit dem Einsatz von Krisenpräventionsmitteln, mit der Entwicklungszusammenarbeit, mit dem Ausstattungshilfeprogramm der Bundesregierung und mit der Ausbildung von Polizei- und Sicherheitskräften im Rahmen der EU- und VN-Missionen. Dieser integrierte multidimensionale Charakter von MINUSMA spielt eine bedeutende Rolle, ebenso wie die Vernetzung unseres nationalen politischen, gesellschaftlichen, auch zivil angelegten Engagements. Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit der Verlängerung der deutschen Beteiligung an EUTM Mali ist bereits ein wichtiger Schritt vollzogen worden. Durch die weitere Beteiligung unserer Soldatinnen und Soldaten an MINUSMA machen wir einen weiteren Schritt in Richtung eines verstärkten Engagements im Sinne von Sicherheit und Stabilität in Mali und in der gesamten Region. Deswegen bitte ich Sie herzlich um die Unterstützung des Antrags der Bundesregierung. Vielen Dank. ({2})

Ulla Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002019

Vielen Dank. - Für Bündnis 90/Die Grünen erhält jetzt Dr. Frithjof Schmidt das Wort.

Dr. Frithjof Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004145, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste! Um es noch einmal klar zu sagen: Das Eingreifen Frankreichs im Januar 2013 und das Zurückdrängen der Islamisten, die aus dem Norden auf die Hauptstadt Bamako vorgerückt sind, war richtig und notwendig. Wir können uns alle noch gut daran erinnern, dass die Menschen in den befreiten Orten gefeiert und getanzt haben. Das war keine Inszenierung; das war echt. Es war auch richtig, dann unter dem Mandat der Vereinten Nationen eine Mission im Land einzurichten. Es ist gut, dass sich Deutschland daran beteiligt. ({0}) Diese UN-Mission hat zwar ganz maßgeblich zur Stabilität in großen Teilen des Landes beigetragen, und Frau Bulmahn hat zu Recht darauf hingewiesen, was dort an zivilem Aufbau und Engagement geleistet wird - das ist ganz wesentlich -, aber klar ist auch: Dauerhafter Frieden ist noch nicht erreicht worden. Da dürfen wir nichts schönreden. In den letzten zwei Jahren hat es immer wieder schwere Rückschläge gegeben. Noch letzte Woche gab es im Norden schwere Kämpfe zwischen konkurrierenden bewaffneten Gruppen, und mehrere Zehntausend Menschen sind gerade vor diesen Kämpfen geflohen und suchen den Schutz der UNO und die Hilfe des UNHCR. Die UN-Blauhelme sind schon mehrfach zwischen die Fronten geraten. Sie haben in den letzten zwei Jahren schon fast 50 Tote zu beklagen. Das heißt, dies gilt derzeit als einer der gefährlichsten UN-Einsätze. Das sollten wir auch klar sagen, wenn wir fordern, die Bundeswehr soll an einem solchen Einsatz teilnehmen. Das ist ein sehr gefährlicher Einsatz. ({1}) Aber er trägt auch entscheidend dazu bei, die Voraussetzungen für eine politische Lösung der Konflikte im Land zu schaffen, und darum geht es: eine dauerhafte politische Lösung zu erreichen. Es gibt eben nicht nur den Konflikt zwischen der Zentralregierung im Süden und den Tuareg im Norden, sondern auch Konflikte zwischen den verschiedenen bewaffneten Gruppen im Norden. Es ist die zentrale Aufgabe, sie zusammenzubringen. Ich finde es absolut unsinnig, die Einbeziehung der Zivilgesellschaft in Friedensprozesse gegen den Versuch der UNO auszuspielen, in Algier diese bewaffneten Gruppen zusammenzubringen und so Frieden zu stiften. Es ist doch eine ganz unsinnige Diskussion, die da aufgemacht wurde. ({2}) Ohne die Präsenz und Vermittlung der UNO wird kein Frieden in Mali zu erreichen sein. Es gibt die Hoffnung, dass wir dort Fortschritte machen können. Denn die UNO hat es geschafft, den Friedensprozess zu initiieren, und die Verhandlungen um einen Waffenstillstand und den Friedensvertrag in Algier waren langwierig und schwierig, aber jetzt ist ein neuer großer Schritt in die richtige Richtung gelungen. Die Rebellenorganisation CMA, die sehr wichtig ist und sich bisher nicht beteiligt hatte, hat jetzt erklärt, dass sie dem Friedensvertrag beitreten wird, der schon im Mai zwischen anderen Gruppen geschlossen wurde. Das ist ein weiterer ganz wichtiger Schritt nach vorne in dieser sehr gefährlichen Lage, die immer wieder so viele Opfer fordert. Auch dieser Friedensvertrag ist sicher nicht perfekt, aber er ist ein richtiger Schritt in die richtige Richtung. Jetzt geht es um seine Umsetzung. Auch das wird ohne die UNO und ihre Präsenz nicht gehen. Deshalb möchte ich an die Adresse der Kolleginnen und Kollegen von der Linken noch einmal deutlich sagen: Ein Abzug der UNO in dieser Situation wäre auch das Ende all dieser Friedenshoffnungen für lange Zeit. Das zu fordern, ist unverständlich, und es ist übrigens auch unverantwortlich. ({3}) Es gibt die Chance auf dauerhaften Frieden in Mali. Wer diese Chance nutzen will, der muss diese UN-Mis10512 sion unterstützen und verlängern. Deswegen werbe ich für die Zustimmung zu diesem Mandat. Danke für die Aufmerksamkeit. ({4})

Ulla Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002019

Vielen Dank. - Letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt ist die Kollegin Julia Obermeier, CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Julia Bartz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004249, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Europäische Marineschiffe haben vergangenes Wochenende mehr als 4 000 Flüchtlinge aus Seenot gerettet. Am Samstag haben allein die Fregatte „Hessen“ und der Versorger „Berlin“ 1 400 Menschen - darunter 145 Kinder - an Bord genommen. Etwa jeder dritte Flüchtling, der im Mittelmeer gerettet wird, kommt aus Mali. Weniger bekannt ist: 30 bis 40 Prozent der Flüchtlinge verhungern und verdursten auf dem Weg durch die Sahara. Allein 270 000 Malier sind auf der Flucht: rund 140 000 in den Nachbarstaaten und 90 000 innerhalb Malis. Die Menschen fliehen vor Armut und Gewalt. Das Pro-Kopf-Einkommen liegt bei 600 Euro im Jahr. Etwa die Hälfte der Menschen lebt in Armut. Viele Malier finden keine Arbeit und keine Perspektive für sich und ihre Familie. Auch ist die Sicherheitslage im Norden Malis nach wie vor beunruhigend. Das ist auch deswegen so wichtig, weil im Norden Malis eine der drei Hauptrouten durch die Sahara beginnt, auf denen der gesamte afrikanische Drogen-, Menschen- und Waffenhandel stattfindet. Deshalb macht es auch für uns in Deutschland einen Unterschied, ob die Zugänge durch die Sahara von halbwegs funktionierenden staatlichen Strukturen kontrolliert werden oder ob hier Warlords, Schleusern und Kriminellen Tür und Tor geöffnet ist. Deshalb engagieren wir uns in Mali. ({0}) Wir tun dies auf mehreren Ebenen: mit Diplomatie, mit Entwicklungszusammenarbeit und mit Sicherheitspolitik. Deutschland beteiligt sich an mehreren militärischen Missionen der internationalen Gemeinschaft: an der europäischen Ausbildungsmission EUTM Mali, an der Polizeimission EUCAP und auch an der VN-Mission MINUSMA, über die wir heute beraten. MINUSMA verfolgt wichtige Ziele: Sicherheit und Stabilität in Mali zu fördern und Zivilpersonen zu schützen. Ja, das deutsche Engagement im Rahmen der Gesamtoperation MINUSMA ist vergleichsweise klein, aber es ist sinnvoll. Mit MINUSMA leisten wir einen Beitrag, den politischen Dialog und die nationale Aussöhnung zu fördern. Wir fördern auch die Wiederherstellung der staatlichen Autorität im gesamten Land. Zudem unterstützt das Auswärtige Amt bereits seit zwei Jahren das malische Versöhnungsministerium bei den Bemühungen um ein Friedensabkommen. Mittlerweile haben sich die malische Regierung und mehrere Rebellengruppen auf ein Friedensabkommen verständigt, dem am 20. Juni nun auch die wichtigen Rebellengruppen aus der Tuareg-Region in Nordmali zustimmen werden. Deutschland ist auch in der Entwicklungszusammenarbeit in Mali tätig, und zwar als viertgrößter Geldgeber weltweit. Dabei fördern wir Dezentralisierung und gute Regierungsführung sowie die Wasserversorgung. Wir geben Flüchtlingen Starthilfe und steigern die Erträge der Landwirtschaft. Durch Bewässerungsprojekte können 70 000 Bauern im Binnendelta des Niger pro Jahr rund 130 000 Tonnen Reis ernten. Wenn ich an Mali denke, denke ich auch immer an den Truppenbesuch von Staatssekretär Markus Grübel im Jahr 2014, den ich begleiten durfte. Dort haben wir unter anderem die Bundeswehrsoldaten am Ausbildungsstandort Bapho besucht. Dort haben uns die Kinder der malischen Soldaten sehr herzlich empfangen. ({1}) Für diese Kinder wie für alle Bewohner Malis macht unser Engagement einen Unterschied - und auch für uns in Deutschland. Deshalb unterstützen wir den Antrag der Bundesregierung. Vielen Dank. ({2})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Frau Kollegin Obermeier. - Damit sind wir am Ende dieser Debatte. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 18/5053 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich habe vergessen, Ihnen einen schönen guten Abend zu wünschen. Zu unseren Besuchern aus Mali auf der Tribüne - sie gehen gerade - sage ich: Bonne soirée à vous. - Au revoir. Ich rufe Tagesordnungspunkt 13 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Uwe Kekeritz, Katharina Dröge, Claudia Roth ({0}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abgeordneten Heike Hänsel, Niema Movassat, Wolfgang Gehrcke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Wirtschaftspartnerschaftsabkommen mit der Westafrikanischen Wirtschaftsunion dem Bundestag zur Abstimmung vorlegen Drucksache 18/5096 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({1}) Vizepräsidentin Claudia Roth Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Ausschuss für Wirtschaft und Energie Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. - Ich höre und sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Uwe Kekeritz von Bündnis 90/Die Grünen.

Uwe Kekeritz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004066, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Ich stelle Ihnen jetzt kurz einen Antrag vor, der mit Ihrer Hilfe hoffentlich demnächst obsolet sein wird. Mit dem Antrag beschreiten wir nicht die übliche traditionelle thematische Auseinandersetzung zwischen Koalition und Opposition. Es geht vielmehr um das Verhältnis der Verfassungsorgane zueinander, um unser Demokratieverständnis als Abgeordnete und darum, ob wir unsere verfassungsgemäßen Pflichten, die uns die Wähler und Wählerinnen übertragen haben, wahrnehmen oder nicht. Das ist keine Lappalie, sondern eine entscheidende Frage. ({0}) Demnächst muss das Wirtschaftsabkommen mit der Staatengemeinschaft ECOWAS ratifiziert werden. Doch wer soll darüber entscheiden? Soll darüber das Kabinett entscheiden oder das Parlament? Letztlich hat die Regierung dem Abkommen im EU-Ministerrat schon zugestimmt. Da es sich aber ohne Zweifel um ein gemischtes Abkommen handelt - daran hat auch die Regierung keinen Zweifel -, muss darüber nochmals abgestimmt werden: hier im Bundestag. Leider sieht das die Bundesregierung anders. Sie will nochmals darüber abstimmen, aber nur im Kabinett. Dadurch werden aber unsere parlamentarischen Beteiligungsrechte ausgehöhlt. Das entspricht auch nicht dem Geist des Lissabon-Vertrags. Darin steht ganz klar: Gemischte Abkommen verlangen eine zweite nationale Abstimmung. - Ich sage: Das kann nur im Parlament sein. ({1}) Wir haben diesbezüglich schon mehrere rechtliche Bewertungen eingeholt. Wir wie auch Präsident Lammert warten jetzt seit drei Monaten auf eine Bewertung durch das Justizministerium. Aber die Bewertung kommt komischerweise nicht, obwohl sie schon lange fertig ist. Hier blockiert offensichtlich ein machtpolitisches Faktum im Kanzleramt die Freigabe der Bewertung. Was dahintersteckt, ist Ihrer Interpretation überlassen. Erinnern Sie sich eigentlich noch an die Auseinandersetzung zum Thema „Beteiligungsrechte des Parlaments in EU-Angelegenheiten“? Es ist nicht nur eine Schande, dass das Gericht in Karlsruhe der Regierung sagen musste, wie die Beteiligungsrechte des Parlaments zu bewerten sind. Es ist und bleibt ein Skandal, dass die Mehrheit im Parlament bereit war, ihre Rechte, aber auch Pflichten an die Regierung abzutreten. Wir Abgeordnete haben kein Recht, uns aus der Verantwortung, die wir durch unsere Wahl angenommen haben, zu stehlen. ({2}) Es stellt sich die Frage, ob sich die Mehrheit des Parlaments auch in diesem Fall wieder ihrem Auftrag, Verantwortung zu übernehmen, einfach verweigert. Welche Konsequenzen könnte es haben, wenn Freihandelsverträge mit Afrika hier nicht verhandelt werden? Was passiert eigentlich mit TTIP, CETA, TiSA und anderen? Warum sollte über diese hier abgestimmt werden, obwohl jeder von Ihnen schon in seinem Wahlkreis erklärt hat: TiSA und CETA sind überhaupt kein Problem. Darüber wird doch hinterher im Parlament abgestimmt. Damit sind die demokratischen Grundbedingungen erfüllt. - Sie sind gerade dabei, sich auf einen anderen Weg zu machen. Der Antrag wandert nun in die Ausschüsse. Damit besteht für jeden genug Zeit, über seine parlamentarischen Pflichten und Rechte einmal nachzudenken. Lassen Sie sich von Ihren Fraktionsvorsitzenden bitte schön nicht den Schneid abkaufen. Es geht um die Funktionsfähigkeit des Parlaments, aber auch um die Rolle, die Sie in diesem Parlament wahrnehmen müssen. Auch die Regierung hat die hervorragende Chance, darüber nachzudenken. Um diesen Antrag und weitere Konsequenzen einfach zu vermeiden, sollte sie dem Bundestag die Abstimmung ermöglichen. Ansonsten werden wir das Bundesverfassungsgericht erneut anrufen. Ich bin davon überzeugt, dass das Bundesverfassungsgericht ganz im Sinne der Stärkung der Beteiligungsrechte des Parlaments entscheiden wird. Wir werden die Abstimmung über diesen Antrag notfalls auch namentlich machen. Ich danke Ihnen. ({3})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Kollege Uwe Kekeritz. - Nächster Redner ist Herr Huber für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Charles M. Huber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004308, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr verehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Während wir hier institutionelle Debatten führen, und zwar nicht erst seit gestern, sterben woanders Menschen. Ich möchte kurz auf die allgemeine Wahrnehmung des afrikanischen Kontinents, zugegebenermaßen außerhalb dieses Hauses, eingehen. Wenn in Westafrika Ebola ausbricht, bricht in Ostafrika der Tourismus zusammen. Wenn mich jemand anspricht und sagt: „Herr Huber, ich freue mich, dass Sie sich für Afrika einsetzen, das ist ein tolles Land“, dann sage ich: „Ja, das ist ein Kontinent, der hat 54 Länder, aber ansonsten stimmt alles.“ Geografisch liegen wir sehr nahe an Afrika. Von Dakar nach Dschibuti bzw. nach Mombasa fliegt man siebeneinhalb Stunden. Im Vergleich dazu: Von hier nach Portugal fliegt man in drei Stunden. Das fällt den wenigsten Menschen auf. Wenn es heißt: „Herr Huber, was sprechen die denn für eine Sprache in Afrika? Die sprechen Dialekte, nicht wahr?“, dann sage ich: „Ja, die sprechen Sprachen, denn in Afrika hat man sich schon untereinander verständigt, bevor die Kolonialmächte aufgetaucht sind.“ Meine Damen und Herren, es mag provokativ klingen, diesen Ansatz bzw. diese Analyse an Sie zu kommunizieren, aber das ist die landläufige Wahrnehmung Afrikas. Wenn wir ehrlich sind: Wir haben angefangen, Afrika wirtschaftlich wahrzunehmen, als die Chinesen kamen. Als die Chinesen kamen, hieß es: „Auf einmal sind die Chinesen da, was machen denn die Chinesen in Afrika?“ Den Chinesen sind die Inder und die Brasilianer gefolgt. Wenn Sie jetzt schauen, dann sehen Sie, dass auch die Türken dort sind. Alle Leute sind da. Die Amerikaner sagen: „Wir beteiligen uns am afrikanischen Boom.“ Die Chinesen sagen: „Wir werden Afrika einen Kredit von 1 Billion zur Verfügung stellen.“ Ich frage mich: Wo bleiben wir mit all diesen Debatten? Wie ist unsere wahre Größe in Afrika? Ist die Größe, die wir hier im Parlament diskutieren, tatsächlich auf dem Kontinent real? Wir wissen um Krisen und um Armut auf dem Kontinent, aber die wenigsten wissen im Zusammenhang mit dem, was ich vorhin gesagt habe, dass es in Nigeria zu einem Wirtschaftswachstum von 5,8 Prozent gekommen ist, trotz Ebola und Boko Haram, und zwar bei sinkenden Preisen auf dem extraktiven Sektor, sprich bei sinkenden Erlösen aus dem Ölverkauf, von dem das Land zum großen Teil lebt, und auf dem nichtextraktiven Sektor, was auf eine Diversifizierung der Wirtschaft hindeutet. Die Diversifizierung der Wirtschaft ist eines der wichtigsten Elemente, auf das wir - so glaube ich - bei Ländern, die Probleme haben, hinweisen müssen. Ich mache kurz einen Schwenk nach Ostafrika. In Ostafrika, genauer gesagt in Äthiopien, hatten wir 2011 eine Inflationsrate von 40 Prozent. Wenn Sie nur ein bisschen ein Volkswirtschaftler sind, dann können Sie sich ausrechnen, was man für Importe zu zahlen hat. Dieses Land hat binnen kürzester Zeit viel erreicht. Heute beträgt zum Beispiel in Äthiopien die Inflationsrate 7 Prozent. Ich möchte Ihnen in Anbetracht dieser ganzen Krisenszenarien absichtlich eine positive Entwicklung kommunizieren, um klarzustellen und Ihnen klarzumachen, wie wichtig die wirtschaftliche Entwicklung dieser Länder ist. Wenn wir hier versuchen, Diskussionen lange hinauszuzögern, dann denke ich nicht, dass dies im Sinne der Afrikaner ist. Ich weiß nicht, welchen Eindruck die malischen Kollegen gewonnen hätten, wenn sie diese Diskussion über das Verfassungsgericht etc. verfolgt hätten. Wir führen hier Grabenkämpfe, der Kontinent steht unter einem demografischen Druck. Bis zum Jahr 2050 werden wir eine Verdoppelung der Bevölkerungszahl haben. Dann sind wir bei über 2 Milliarden, und 50 Prozent der Menschen werden Jugendliche unter 18 Jahren sein. Afrika: Was das Investitionsklima und die Investitionen anbelangt, so hat sich die Situation stark verbessert. Unter den weltweit zehn Ländern, die - was das Investitionsklima anbelangt - signifikante Verbesserungen erreicht haben, sind sieben afrikanische Länder. Ich denke, dass es Zeit ist, aus diesem Hause heraus nicht nur Meldungen darüber hinauszusenden, was es an Afrika und an dem Dialog mit Afrika - sei es wirtschaftlich oder kulturell - auszusetzen gibt. Vielmehr müssen wir an die Wirtschaft das Signal senden, dass wir in Afrika aktiv sein können, dass wir erwartet werden und dass wir auch aktiv sein müssen. Wie gesagt, der afrikanische Kontinent steht unter massivem ökonomischen Druck. Wer glaubt, dass es nur darum geht, dass jeder Afrikaner jeden Tag eine Schale Reis essen will, und dass die Jugend Afrikas sagt: „Wir sind damit zufrieden, dass ihr in Europa super lebt, dass bei euch alles hipp und cool ist, dass ihr tolle Autos und gut gekleidete Mädchen habt“, der irrt. Der Mensch funktioniert überall auf der Welt gleich. Wir alle kennen den Spruch: Der Mensch lebt nicht vom Brot allein. Das sagen auch die afrikanischen Jugendlichen. Lagos wird 2050 40 Millionen Einwohner haben. Ich habe auch einmal Daressalam, die größte Stadt Tansanias, besucht. Ich kenne zwar die aktuelle Zahl nicht, aber auch dort wird sich die Bevölkerungszahl sicherlich verdoppeln. Es gibt zudem den Klimawandel. Wir reden über Handelshemmnisse, einseitigen Handel und die Übervorteilung afrikanischer Länder sowie den Abbau von Importzöllen. Ich nenne Ihnen ein Beispiel. Wir haben endlose Debatten über Hühnerschenkel und Milchpulver geführt. Zur Klimaposition ist Folgendes zu sagen: Die Menschen in Afrika besitzen keine neuen Autos. Wenn Sie Addis Abeba in Äthiopien oder Accra in Ghana besuchen, dann stellen Sie fest, dass Sie eine Atemmaske brauchen, weil die alten Autos keine Katalysatoren haben. Gleichzeitig wollen wir die Afrikaner encouragieren, die Klimaziele zu erfüllen. Wie passt das zusammen? Wenn die Importzölle wie geplant abgebaut werden, dann können sich die Afrikaner neue Autos leisten. Dann kann man in den genannten Städten wieder frei atmen. ({0}) Sie können natürlich beispielhaft auf die Hühnerschlegel und das Problem verweisen, dass es keine funktionierende Energieversorgung in Afrika gibt. Dazu kann ich nur sagen: Die normale Bevölkerung kauft keine eingefrorenen Hühnerschlegel im Supermarkt. Der Supermarkt ist das Einkaufszentrum für die Reichen, während der Markt das Einkaufszentrum für die normale Bevölkerung ist. Diese kauft ganze Hühner und schlachtet sie daheim und nimmt keine Hühnerschlegel mit, die aus China oder der Europäischen Union kommen. Südafrika ist ein Produzent von Steinkohle. Wir haben ein Exportverbot in Bezug auf Steinkohlekraftwerke, weil wir der Meinung sind, dass solche KraftCharles M. Huber werke dem Klima schaden. Das ist zwar richtig, aber die Südafrikaner werden dann solche Kraftwerke aus China importieren. Diese sind zwar billiger, werden aber wahrscheinlich unseren Umweltstandards erst recht nicht gerecht. Des Weiteren gebe ich zu bedenken: Wie können wir den Südafrikanern, die unter einem eklatanten Energiemangel leiden, die Energiegewinnung durch solche Kraftwerke verbieten, wenn wir weiterhin solche Kraftwerke betreiben? Das Ansehen einer Kultur, das Ansehen von Menschen anderer Hautfarbe hängt stark mit der Performance der Länder auf ökonomischer Ebene zusammen. Wir haben erlebt, dass das Selbstbewusstsein junger Menschen in unserem Land, die aus dem asiatischen Raum, aus Indien oder der Türkei kommen, dadurch gestiegen ist, dass sich ihre Ursprungsländer wirtschaftlich entwickelt haben. Das gilt natürlich auch für die afrikanischstämmige deutsche Bevölkerung. Ich möchte Sie bitten, weder den Wirtschaftsdialog noch die Entwicklung und die Stärkung des Selbstbewusstseins der Menschen in Afrika und in der afrikanischen Diaspora zu blockieren. Entlassen Sie Afrika als Patienten aus dem Krankenhaus!

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Denken Sie bitte an Ihre Redezeit.

Charles M. Huber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004308, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich komme zum Ende. - Bislang ist Afrika ein Patient, der zwischen Intensivstation und Freigang im Garten in Begleitung eines Arztes zu sehen ist. Afrika will sich wirtschaftlich emanzipieren. Ich denke, wir müssen eine Debatte über wirtschaftliche Kooperation nicht komplizieren. Vielen Dank. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Nächste Rednerin zum Thema „Wirtschaftspartnerschaftsabkommen mit der Westafrikanischen Wirtschaftsunion dem Bundestag zur Abstimmung vorlegen“ ist Heike Hänsel für die Linke. ({0})

Heike Hänsel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003763, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich musste mich jetzt gerade doch dagegen wehren, dass ich nicht ganz von Ihnen, Herr Huber, ins Koma geredet werde. Ich muss sagen: Bei dieser Plauderrede muss man Ihnen einmal die Frage stellen, ob Sie den Ernst der Lage eigentlich erkannt haben und sich als Parlamentarier selbst ernst nehmen; denn wir sprechen hier von nichts weniger als von unseren Beteiligungsrechten in Fragen und Angelegenheiten der Europäischen Union. Wir kämpfen natürlich dafür, dass die Bundesregierung nicht eigenmächtig anfängt, wie sie es in vielen Bereichen getan hat, was zum Beispiel den Zugang zu Dokumenten betrifft, unsere Beteiligungsrechte zu beschneiden. ({0}) Deswegen sind wir heute hier. Die Handelsabkommen sind ganz klar als gemischte Abkommen zu sehen, werden jetzt aber umgedeutet, um die Ratifikation im Parlament zu umgehen. Damit werden auch die politischen Debatten hierzu umgangen, die aber bitter nötig sind bei den Themen, die wir hier auf der Tagesordnung haben. Genau deswegen haben wir die Initiative der Grünen unterstützt und einen gemeinsamen Antrag hier eingebracht. Wir sind auf einem guten Weg, wie ich sehe. ({1}) Ich möchte aber etwas zu dem Inhalt und dazu sagen, woran wir das festmachen. Es geht um die Ratifikation der Wirtschaftspartnerschaftsabkommen mit Westafrika, der sogenannten EPAs. Diese könnten das TTIP für Afrika werden. Deswegen ist ihre Bedeutung auch so enorm. Es geht jetzt um den Abbau von Schutzzöllen, die sehr wichtig für den Aufbau eigener Industrien in den afrikanischen Ländern wären, aber auch von Exportzöllen für Rohstoffe. Die EU hat ein großes Interesse daran, weiterhin billig und noch ungehinderter an diese Rohstoffe zu kommen, die Ausbeutung voranzutreiben und auch die Abhängigkeiten dadurch zu vertiefen. Wir sprechen im Grunde von einer neokolonialen Politik, die jetzt über diese Handelsabkommen festgeschrieben werden soll. Das lehnen wir ab. Darüber wollen wir diskutieren, und das wollen wir im Parlament dokumentieren. ({2}) Im Rahmen dessen haben wir im Moment auch die afrikanischen Länder im Fokus, weil nämlich sehr viele Flüchtlinge aus den afrikanischen Ländern kommen und teilweise elendig im Mittelmeer ertrinken. ({3}) Ich höre immer von der Bundesregierung, auch von Entwicklungsminister Müller - er ist heute nicht da -, gebetsmühlenartig: Wir wollen die Fluchtursachen bekämpfen. - Was sind denn die Fluchtursachen in den afrikanischen Ländern? Die Fluchtursachen sind, dass sie die eigenständige, selbstbestimmte Entwicklung nicht gegen die Interessen zum Beispiel der EU und nicht gegen die Handelspolitik der EU durchsetzen können. Ich halte es für verlogen, wenn Entwicklungsminister Müller weiterhin von der Bekämpfung von Fluchtursachen spricht, aber nicht Stellung bezieht und sich eindeutig gegen diese Wirtschaftspartnerschaftsabkommen positioniert. ({4}) Für uns ist es deswegen sehr wichtig, dass wir diese Abkommen hier vorgelegt bekommen. Da wundert es mich doch schon, dass man hier so lapidar darüber hinweggeht. Der wissenschaftliche Dienst des britischen Parlaments hat ganz klar festgestellt, dass es sich um ge10516 mischte Abkommen handelt. Nicht nur Bundestagspräsident Lammert, sondern auch viele andere haben gesagt: Wir müssen darüber hier im Parlament abstimmen. Da kann ich von Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD und der CDU, eigentlich nichts anderes erwarten, als dass wir hier überparteilich an einem Strang ziehen; denn es geht darum, dass das Parlament die Bundesregierung kontrollieren soll. ({5}) Das sind unsere Aufgaben. Wenn Sie hier nicht zustimmen, dann brauchen Sie eigentlich gar nicht mehr im Parlament vorbeizuschauen. ({6})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Frau Kollegin Hänsel. - Letzter Redner in dieser Debatte ist Dr. Sascha Raabe für die SPD. ({0})

Dr. Sascha Raabe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003614, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Liebe Frau Hänsel, Ihre Angst kann ich Ihnen nehmen. Auch Sie wissen, dass wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten uns natürlich immer für eine starke Parlamentsbeteiligung einsetzen. ({0}) Sie wissen, wie der vorliegende Antrag und die heutige Debatte zustande gekommen sind - wir beide sind ja im selben Ausschuss -: Ich habe bereits im Oktober letzten Jahres beim Entwicklungsministerium schriftlich angefragt, ob das Wirtschaftspartnerschaftsabkommen mit der Westafrikanischen Wirtschaftsunion, wenn es von der EU als gemischtes Abkommen eingestuft wird, dem Parlament zur Ratifikation vorgelegt wird. Daraufhin hat mir im Oktober 2014, Herr Staatssekretär Fuchtel, das Ministerium schriftlich versichert: Wenn es ein gemischtes Abkommen ist, wird es dem Parlament zur Ratifikation vorgelegt. Ich glaube, wir alle im Entwicklungsausschuss waren überrascht, als Staatssekretär Silberhorn wenige Wochen später sagte: Ja, dieses Abkommen ist zwar als gemischt eingestuft; aber nur die Bundesregierung wird es ratifizieren. - Ich betreibe hier im Bundestag seit 2002 auch Handelspolitik: Ich wusste gar nicht, dass es diese Möglichkeit gibt. Und deswegen habe ich daraufhin den Wissenschaftlichen Dienst des Deutschen Bundestages gebeten, ein Gutachten zu erstellen, das klärt, ob eine solche Ratifizierung möglich ist. Der Antrag von Grünen und Linken bezieht sich auf das Gutachten, das ich in Auftrag gegeben habe. Insofern können Sie mir abnehmen, dass auch wir von der SPD diese Frage sehr ernst nehmen. Dieses Gutachten kommt zu dem Schluss - er entspricht eigentlich auch meiner Überzeugung -, dass Artikel 59 Absatz 2 Grundgesetz recht eindeutig in der Frage ist, ob Verträge, die politische Beziehungen regeln, der Ratifikation durch ein Bundesgesetz bedürfen. Ein Bundesgesetz kann natürlich nur der Gesetzgeber, das Parlament, und nicht die Regierung erlassen. Auch ich habe in den letzten Wochen und Monaten gemeinsam mit Kollegen meiner Fraktion Gespräche mit zwei Verfassungsjuristen geführt, die uns beraten. Sie sind im Kern zu dem gleichen Ergebnis wie ich gekommen. Handelsverträge können heute nämlich nicht mehr als rein gemeinschaftliche Politik betrachtet werden. Aufgrund der politischen Bedeutung muss trotz der Übertragung auf die EU-Ebene im Parlament beraten und beschlossen werden. Ich kann Ihnen, Herr Kekeritz, aber eine gute Nachricht übermitteln. Ich habe viele Gespräche mit unseren Ministern geführt. Ich habe am Dienstag dieser Woche von Sigmar Gabriel ein Schreiben bekommen, in dem er sich persönlich dafür einsetzt, dass der Bundestag auf jeden Fall einen Beschluss darüber fassen soll, der die Regierung bindet, ob sie ratifiziert oder nicht. Ich finde, das ist schon einmal ein erster wichtiger Schritt, weil wir damit hier im Bundestag eine Debatte verbunden mit einem Votum, das die Regierung bindet, führen würden. Eine solche Debatte wünschen Sie zu Recht. Ein Wermutstropfen ist dabei gleichwohl, dass das Grundgesetz so eine Lösung aus meiner Sicht leider nicht vorsieht. Dort steht nämlich, dass die Ratifikation in Form eines Bundesgesetzes erfolgen muss und nicht durch einen einfachen Beschluss des Bundestages. Ein solcher Beschluss wäre auch deshalb eine schwächere Lösung, weil der Bundesrat nur durch die Verabschiedung eines Gesetzes beteiligt wird. Es tut mir leid, wenn das Ganze jetzt ein bisschen fachjuristisch daherkommt. Aber wenn wir diesen Antrag ernst nehmen, dann müssen wir diese Feinheiten hier diskutieren. Richtig ist aber auch, dass die Regierung ihre Auffassung natürlich nicht aus Boshaftigkeit vertritt; vielmehr gibt es Verfassungsressorts, in denen Beamte mit einer anderen rechtlichen Auffassung arbeiten. Ich sage wohlgemerkt: eine andere Auffassung, als ich persönlich sie habe. Ich würde mir wünschen, Herr Staatssekretär Fuchtel, dass Sie mit dem federführenden Minister, mit Herrn Müller, noch einmal sprechen, dass wir uns noch einmal zusammensetzen, bevor dieser Antrag im Ausschuss beraten wird und bevor er im Plenum zum zweiten Mal behandelt wird. Wir sollten auch noch einmal mit dem Justizministerium reden. Es geht hier ja nicht um die Frage, ob wir für oder gegen dieses Abkommen sind; diese Frage behandeln wir später. Ich denke, in dieser Frage kann man je nach Parteizugehörigkeit zu Recht verschiedene Positionen vertreten. Aber wir alle als Parlamentarier müssten ja, ob wir der CDU, der CSU, der Linken, den Grünen oder der SPD angehören, ein Interesse daran haben, dass die Parlamentsrechte stark bleiben. Wir schaffen womöglich ein Präjudiz für die Zukunft; ({1}) denn wir betreten Neuland. Wenn wir als Parlament erstmals zulassen würden, dass die Ratifikation eines gemischten Handelsabkommens nur auf Regierungsebene erfolgt, kann es passieren, dass bei späteren Abkommen eine ähnliche Einstufung vorgenommen wird. Das können wir alle nicht wollen. Ich sage aber auch ganz klar: Die Angst, was CETA und TTIP betrifft, kann man sicherlich nehmen. CETA und TTIP - das haben die Regierung und der federführende Minister Sigmar Gabriel ganz klar gesagt - werden ganz sicher dem Bundestag zur Ratifikation vorgelegt. ({2}) Ich bin Sigmar Gabriel auch dankbar - Sie wissen, dass ich nicht immer einer Meinung mit meinem Wirtschaftsminister bin, auch wenn ich der SPD angehöre -, dass er in Brüssel als einer der wenigen Minister einer europäischen Regierung ganz klar sagt: Ich möchte, dass diese Abkommen in Brüssel als gemischte Abkommen eingestuft werden. Ich möchte, dass das Parlament darüber debattiert und beschließt. - Da brauchen wir, glaube ich, keine Angst zu haben. Aber wir dürfen nicht nur an CETA und TTIP denken, sondern wir müssen auch an die anderen Abkommen denken. Deswegen ist es, glaube ich, richtig und wichtig, dass wir im Kern am Ende parteiübergreifend zu einer Lösung kommen und die Verfassungsressorts überzeugen, dass die Ratifikation möglichst hier im Bundestag erfolgen soll. Ich denke, Parlamentsrechte sollen stark bleiben. ({3}) Ich glaube, es ist gut, dass wir uns hier auch generell über Handelsabkommen beraten. Als Entwicklungspolitiker wissen wir, dass Entwicklung nur durch fairen und gerechten Handel möglich ist. Deswegen werden wir hier sicherlich auch noch die Debatte führen, ob das Abkommen mit der Westafrikanischen Wirtschaftsunion in der jetzigen Form geeignet ist oder nicht und wie man es gegebenenfalls verbessern kann. Im Prozess ist es im Augenblick so, dass ja noch nicht einmal alle Vertragspartner unterzeichnet haben. Erst wenn das geschieht, kommt es ins Europäische Parlament und danach zu uns, sodass durchaus noch ein bisschen Zeit wäre. Ich möchte aber an der Stelle noch eine Sache anmerken, Herr Staatssekretär: Es gibt bereits das Abkommen mit den karibischen Staaten. Das ist seit sechs Jahren noch nicht ratifiziert, weil man wohl immer gewartet hat, bis die Abkommen mit den afrikanischen Staaten verhandelt sind. Ich möchte Sie bitten, dass da jetzt keine Fakten geschaffen werden und keine Ratifikation durch die Regierung erfolgt, bevor wir die Grundsatzfrage geklärt haben. Ich glaube, dass wir dann auf einem vernünftigen Weg sind, wenn wir das hier ganz sachlich miteinander bereden. In diesem Sinne bin ich auch dankbar, dass der Antrag uns die Gelegenheit gibt, darüber zu beraten. Die SPD wird dann als Gesamtfraktion, nachdem wir das noch einmal juristisch geprüft und bewertet haben, entscheiden müssen, wie wir zu dem Antrag stehen. Ich hoffe, dass er dann durch Regierungshandeln erledigt sein wird und die Ratifikation bei gemischten Abkommen generell hier im Bundestag stattfindet, so wie das Artikel 59 Absatz 2 Satz 1 Grundgesetz aus meiner Sicht vorsieht. Ich danke für die Aufmerksamkeit. ({4})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Sascha Raabe. - Damit schließe ich die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 18/5096 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf: Beratung des Antrags der Bundesregierung Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der „United Nations Interim Force in Lebanon“ ({0}) auf Grundlage der Resolution 1701 ({1}) vom 11. August 2006 und nachfolgender Verlängerungsresolutionen des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen, zuletzt Resolution 2172 ({2}) vom 26. August 2014 Drucksache 18/5054 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss ({3}) Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Verteidigungsausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss gemäß § 96 der GO Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. - Ich höre und sehe keinen Widerspruch. Ich meine, da hat ja noch nie jemand widersprochen, wenn ich danach fragte. Diese Frage könnten wir eigentlich auch weglassen, oder? Ich höre also keinen Widerspruch. Dann ist das jetzt so beschlossen. ({4}) Ich eröffne die Aussprache. Niels Annen hat als Erster das Wort für die SPD. ({5})

Niels Annen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003732, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Einen schönen guten Abend, Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist schon erstaunlich, dass die Situation im Süden des Libanon heute relativ ruhig und stabil ist; denn noch 2006 war dieser Teil des Landes erbittert umkämpft. Das ist ein Verdienst von UNIFIL. Als nach dem Krieg zwischen Israel und der Hisbollah 2006 das UN-Mandat für UNIFIL verabschiedet wurde, konnte allerdings niemand von uns voraussehen, dass es zu einem brutalen Krieg in Syrien kommen würde, der mittlerweile ins fünfte Jahr geht und der den Konflikt zwischen der Hisbollah und Israel so ein bisschen in Vergessenheit hat geraten lassen. Heute kämpfen wesentliche Teile der Hisbollah im syrischen Bürgerkrieg, und die Aufmerksamkeit für diesen Konflikt hat sich auch geografisch verschoben. Der Libanon leidet wie kein zweites Land unter den enormen Belastungen dieses Krieges. Wir haben auch in diesem Hause darüber diskutiert: 4,2 Millionen Einwohner beherbergen mittlerweile über 1 Million Flüchtlinge aus Syrien. Deshalb unterstützen wir den Libanon seit 2012 mit rund 250 Millionen Euro. Liebe Kolleginnen und Kollegen, bekanntlich haben die libanesischen Behörden die Errichtung von neuen Flüchtlingslagern offiziell nicht zugelassen. Deswegen verteilen sich die Flüchtlinge heute auf private Unterkünfte und provisorische Zeltlager und leben dort unter schwierigen, zum Teil auch skandalösen hygienischen Bedingungen. Die Hisbollah wiederum, die der große Protagonist dieses Krieges war, hat die Vereinbarung von Baabda aus dem Jahr 2012 gebrochen, die alle libanesischen Akteure auf eine Politik der Nichteinmischung in Syrien verpflichtete. Diese Politik der Nichteinmischung ist bis heute die offizielle Politik der libanesischen Regierung. Mit diesem Bruch der Vereinbarung stellt die Hisbollah nicht nur das labile, sehr schwierige und komplexe Gleichgewicht des Landes auf eine harte Bewährungsprobe, sie provoziert darüber hinaus sunnitische Extremisten, den Kampf in den Libanon hineinzutragen. Wer die Berichte verfolgt, weiß, dass dies keine theoretische Debatte ist. Vielmehr findet das wirklich statt. Im Libanon sterben fast täglich Menschen, und das Land leidet unter dieser Belastung. Die Sicherheitslage insgesamt, nicht nur im Libanon, verschärft sich. Ich glaube, wir müssen auch in den nächsten Wochen und Monaten mit entsprechenden Vorfällen rechnen. So finden seit Mitte 2014 Kampfhandlungen in der Grenzregion zwischen Syrien und dem Libanon statt. Wir beobachten das sorgfältig und ausführlich. Insbesondere im Norden der Bekaa-Ebene hat sich die Lage zugespitzt. Das terroristische Bedrohungspotenzial ist seitdem deutlich gestiegen. Die Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit bindet einen Großteil der Kräfte der libanesischen Armee, die dafür weiterhin die Unterstützung aller politischen Akteure in dem Land benötigt. Schätzungen gehen davon aus, dass die dschihadistischen Kräfte, von denen ich gesprochen habe, im Nordosten der Bekaa-Ebene etwa über 3 000 gut ausgerüstete und ausgebildete Kämpfer verfügen. Gerade vor diesem Hintergrund muss man auch mit einer gewissen Genugtuung feststellen, dass es die libanesischen Streitkräfte in den letzten Jahren mit Unterstützung aller Parteien im Libanon geschafft haben, ihre Handlungsfähigkeit und Einsatzfähigkeit deutlich zu verbessern. Die immer wieder drohende Spaltung entlang konfessioneller Linien konnte bisher, meine sehr verehrten Damen und Herren, verhindert werden. Gleichwohl wissen wir - das muss man offen sagen -, dass das keine neutrale Armee ist. Sie ist nicht frei von politischen Einflüssen. Immer wieder gibt es auch Probleme bei der Benennung von wichtigen Kommandeuren; entsprechende Auseinandersetzungen werden auf höchster Regierungsebene im Libanon ausgetragen. Vor zwei Jahren hat sich Saudi-Arabien bereit erklärt, zu einer wesentlichen militärischen Stärkung der libanesischen Streitkräfte beizutragen. Im April dieses Jahres traf die erste große Waffenlieferung ein. Sie hat dazu beigetragen, dass Sicherheitsoperationen erfolgreich durchgeführt wurden und die libanesische Armee weiterhin eine stabilisierende Funktion einnehmen kann. Und auch die Bundeswehr, meine Damen und Herren, leistet durch Ausbildung einen Beitrag dazu, dass die libanesischen Streitkräfte diese Aufgabe bewältigen können. Der Einsatz im Rahmen der militärischen Ausbildungshilfe ist deswegen keine technische, sondern eine hochpolitische Frage. Diese Hilfe findet statt, und sie ist ein wichtiger Teil des hier zu diskutierenden Mandates. Trotz der Verlagerung der Kampfhandlungen an die syrisch-libanesische Grenze - ich habe davon gesprochen - bleibt die Stabilisierung der Waffenstillstandsvereinbarung zwischen der Hisbollah und Israel von allergrößter Bedeutung, auch in politischer Hinsicht. Wir erinnern uns vielleicht ein wenig an die Situation im Jahre 2006: Ein großer Teil der libanesischen Infrastruktur - nicht nur Infrastruktur der Hisbollah im Süden des Landes, sondern Infrastruktur im gesamten Land - ist ja von den israelischen Angriffen zerstört oder in Mitleidenschaft gezogen worden. Deswegen war die Waffenstillstandsvereinbarung für die Menschen im Libanon insgesamt von großer Bedeutung. Ohne UNIFIL hätten wir heute eine andere Situation. ({0}) Ohne UNIFIL hätten wir auch nicht das, was wir gemeinhin den Drei-Parteien-Mechanismus nennen, nämlich einen Streitschlichtungsmechanismus, bei dem zwar die beiden Seiten aus politischen Gründen - die beiden Staaten erkennen sich ja gegenseitig nicht an, und es gibt weiterhin einen Kriegszustand - nicht direkt, aber doch indirekt miteinander reden. Bei der Markierung der vereinbarten Waffenstillstandslinie, der sogenannten Blue Line - davon konnte ich mich persönlich überzeugen -, leistet die Bundeswehr, leisten die Soldatinnen und Soldaten hochprofessionelle Arbeit, ebenso wie in der Maritimen Task Force. Und für diese nicht nur komplexe, sondern auch gefährliche Arbeit gilt den Soldatinnen und Soldaten unser aller Dank. ({1}) Dennoch, meine sehr verehrten Damen und Herren, kann sich aus den immer noch anhaltenden Spannungen jederzeit wieder ein Konflikt, möglicherweise sogar ein Krieg entwickeln. Wir haben im Januar einen Zwischenfall gehabt, als ein Hisbollah-Konvoi von den israelischen Streitkräften mit einer Rakete angegriffen wurde. Sechs Kämpfer und ein iranischer Offizier kamen dabei ums Leben. Zehn Tage später starben zwei israelische Soldaten nach einem Vergeltungsangriff, der wiederum mit Artilleriefeuer aus Israel beantwortet wurde. Ein spanischer UNIFIL-Soldat hat dort sein Leben verloren. Trotz dieser dramatischen Zuspitzung haben die Konfliktlösungsmechanismen der UNIFIL am Ende funktioniert. Damit sie auch in Zukunft funktionieren, meine sehr verehrten Damen und Herren, bitte ich um Zustimmung für dieses Mandat. Eines sollte uns doch in dieser Debatte einen: Einen weiteren Krieg kann sich diese Region nicht leisten. Ich danke für die Aufmerksamkeit. ({2})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Niels Annen. - Nächste Rednerin in der Debatte: Sevim Dağdelen für die Linke. ({0})

Sevim Dağdelen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003746, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Verehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Die Bundesregierung feiert sich für den Einsatz der Bundesmarine im Rahmen der UNIFIL-Mission vor der Küste des Libanon. ({0}) Mit 150 Bundeswehrsoldaten und einer verstärkten Ausbildung der Marine des Libanon soll der Waffenschmuggel in den Libanon unterbunden werden. ({1}) - Ja. - In den zehn Jahren wurden dann auch keine Waffen gefunden. ({2}) Aber fragen Sie sich nicht manchmal, ob die Bundeswehr hier nur Teil eines absurden Theaters ist? Denn ihre Kontrollen kann sie ja nur auf Anforderung der Libanesen unternehmen. Fragen Sie sich nicht manchmal, ob dies der Grund ist, warum außer ein paar Zigaretten nie etwas gefunden wurde? - Aber lassen wir solche störenden Gedanken beiseite und nehmen wir einmal an, die Bundeswehr ist so erfolgreich - wie Sie es ja immer sagen -, dass sich keiner mehr traut, Waffen zu schmuggeln. Im Libanon müssten in der Folge auch immer weniger Waffen in den Händen der Konfliktparteien zu finden sein. Aber das trifft leider nicht zu; denn während die Bundeswehr die Vordertür des Libanon bewacht, steht die Hintertür an der Grenze zu Syrien sperrangelweit offen. ({3}) War Ziel der Mission, den Waffenschmuggel an die Hisbollah zu unterbinden, so darf sie getrost als gescheitert gelten. ({4}) Die Hisbollah gilt mittlerweile als eine der am besten bewaffneten Kräfte in der Region. Wer hier dann noch von einem Erfolg des Einsatzes fabuliert, muss sich doch wirklich fragen lassen, ob er nicht nach dem Motto vorgeht: Dabei sein ist alles, das Ergebnis nichts. ({5}) Und selbiges gilt für die islamistischen Terrormilizen im Libanon; denn diese sind mittlerweile auch bis an die Zähne bewaffnet und warten laut eigener Aussage nur auf grünes Licht aus Saudi-Arabien, um endlich loszuschlagen. Muss es Ihnen nicht auch zu denken geben, dass, während die Bundesmarine vor der Küste des Libanon dümpelt, Ihr eigener NATO-Verbündeter Türkei mit seinem autoritären Staatspräsidenten Erdogan verdeckt Waffen an islamistische Terroristen liefert, die natürlich auch in den Libanon gelangen? Wenn Sie den Waffenschmuggel unterbinden wollen: Warum schweigen Sie dann eigentlich zu den Waffenlieferungen der türkischen Regierung mithilfe des türkischen Geheimdienstes an die islamistischen Verbände? ({6}) Ich finde, es ist Zeit, dass Sie in diesem Punkt Ihr Schweigen brechen und endlich Antworten geben oder wenigstens begründen, warum dieses Schweigen so lange dauert. Statt immer mehr Auslandseinsätze der Bundeswehr zu fordern, die im Übrigen von der Mehrheit der Bevölkerung abgelehnt werden, müssen wir nach unserer Auffassung zivil helfen. Wir müssen zum einen syrische Flüchtlinge aus dem Libanon übernehmen. Ein Viertel der Bevölkerung des Libanon sind mittlerweile Flüchtlinge. Was dagegen die Bundesregierung hier bisher veranstaltet hat, ist eigentlich nur beschämend, ({7}) wenn man sich nur einmal diese Kontraste vor Augen führt. Der Libanon braucht zudem zivile Hilfe, auch damit nicht noch mehr Menschen mit saudischem Geld für die Terrorgruppen der al-Qaida vor Ort eingekauft werden können. Deshalb meine Bitte: Hören Sie endlich auf, die Bevölkerung hinters Licht zu führen! Wer die Vordertür bewacht und sich auch noch dafür feiert, während die Waffen durch die Hintertür hereingetragen werden, macht sich im besten Falle lächerlich, meine Damen und Herren. Dieser Auslandseinsatz der Bundeswehr simuliert Handeln, folgt aber geopolitischen Motiven. Denn das Vorhaben, Waffenschmuggel zu unterbinden, ist komplett gescheitert. Die Kräfte vor Ort sind stärker denn je. Deshalb sagen wir: Wir lehnen diesen Einsatz ab. ({8})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Frau Kollegin. - Nächster Redner in der Debatte für die Bundesregierung: Dr. Ralf Brauksiepe. ({0})

Dr. Ralf Brauksiepe (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003055

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Entwicklungen im Nahen und Mittleren Osten erfordern leider unverändert unsere besondere Aufmerksamkeit. Der Kollege Annen hat es, wie ich finde, mit seinem Satz sehr treffend auf den Punkt gebracht: „Einen weiteren Krieg kann sich diese Region nicht leisten.“ So ist es eben; denn die Konflikte in der Region, der Vormarsch der Terrororganisation IS und große Flüchtlingsströme bereiten der internationalen Gemeinschaft - und damit auch uns - weiterhin große Sorgen. Heute geht es insbesondere um den Libanon und damit um ein Land, das im Schatten des syrischen Bürgerkriegs steht und extrem unter der Last des Flüchtlingsstroms leidet. Bis heute leistet UNIFIL einen besonderen Beitrag zur Stabilisierung der Region. De facto ist sie ein ganz entscheidender Stabilitätsfaktor, und das, obwohl UNIFIL ursprünglich als reine Beobachtungsmission gedacht war. Sie machte im Jahr 2006 den dauerhaften Waffenstillstand zwischen Israel und dem Libanon erst möglich, wenngleich die Situation in der Grenzregion zwischen den beiden Ländern nach wie vor volatil ist. Im letzten Mandatszeitraum kam es leider - der Kollege Annen hat zu Recht darauf hingewiesen - auch wieder zu gewaltsamen Zwischenfällen an der Grenze mit Israel. Nur aufgrund der schnellen Klärung des Sachverhalts durch die Vereinten Nationen konnte eine gefährliche Eskalation vermieden werden. Libanon und Israel - das ist der entscheidende Punkt, Kolleginnen und Kollegen - erkennen eben beide die stabilisierende Rolle von UNIFIL an und begrüßen die Unterstützung der internationalen Gemeinschaft für diese VN-Mission. Die schon angesprochenen Drei-Parteien-Gespräche sind weiterhin das einzige Forum, in dem Israel und der Libanon unter Ägide der Vereinten Nationen miteinander sprechen. Hier zeigt sich sehr deutlich, welche grundlegende Rolle UNIFIL weiterhin für die Stabilität in der Region spielt. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir reden hier ja nicht über das Abkommen eines Staates mit Rebellengruppen, sondern wir reden - das ist für uns ganz klar über zwei Völkerrechtssubjekte, Israel und den Libanon, die vieles trennt, aber als einzige die Überzeugung eint, dass UNIFIL einen wichtigen Beitrag zur Stabilisierung der Region leistet. Die Vereinten Nationen stehen dahinter, die Völkerrechtssubjekte Israel und Libanon stehen dahinter. Wie abseitig muss man eigentlich stehen, liebe Kolleginnen und Kollegen, um hier daran etwas auszusetzen und das dann auch noch politisch bekämpfen zu wollen? ({0}) Das ist schon etwas, womit man sich weit außerhalb der internationalen Gemeinschaft positioniert. ({1}) Ich muss es hier für die ganz große Mehrheit des Hauses nicht extra betonen: Wir feiern uns hier für nichts, sondern wir sind dankbar dafür, dass wir erfolgreich hier einen Beitrag leisten können. Wer hier mehrmals die Frage der sogenannten Hintertür aufwirft, der muss sich fragen, was er da denn machen will. Wir wollen nicht an die Hintertür. Wir sind froh, dass wir erfolgreich an einem international mandatierten Einsatz teilnehmen können, der dafür gesorgt hat, dass diese Region nicht mehr durch Waffenlieferungen über See weiter destabilisiert werden kann. Wer noch etwas anderes will, soll es sagen. Wir stehen zu diesem Mandat und zu dem, was wir im Rahmen dieses Mandats erfolgreich geleistet haben, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({2}) Wir beteiligen uns seit dem Jahr 2006 am Marineeinsatzverband von UNIFIL. Dazu gehört sowohl die Unterstützung der libanesischen Regierung bei der Überwachung der seeseitigen Grenzen des Landes als auch der Ausbau der Fähigkeiten der libanesischen Marine. Dazu gehört auch, dass die deutschen Soldatinnen und Soldaten diese Herausforderung professionell und souverän meistern. Hierfür, insbesondere auch für die herausragende Arbeit der letzten Jahre, liebe Kolleginnen und Kollegen, verdienen sie unseren Dank. Fast täglich finden auf der Korvette „Erfurt“ Ausbildungsvorhaben mit den libanesischen Kräften oder den internationalen Partnern auf See statt. Es wird gute Arbeit geleistet, und sie hat politische Erfolge erzielt. Das liegt im Interesse der Menschen in dieser schwer gebeutelten Region. Das ist es, worum es geht, worum es uns auch politisch geht. ({3}) Trotz aller Erfolge bleiben weiterhin große Herausforderungen bestehen. Die libanesische Marine alleine ist eben noch nicht in der Lage, ihre Seegrenzen selbstständig zu überwachen. Neben dem unverändert hohen Ausbildungsbedarf im Bereich der Instandsetzung fehlen Schiffe und Boote für die libanesische Marine, und der technische Zustand der verfügbaren Einheiten bleibt verbesserungswürdig. An diesen Defiziten gilt es, gezielt zu arbeiten. Gerade wegen der schwierigen Lage im Nahen Osten ist die Stabilität des Libanon ein ganz wichtiger BestandParl. Staatssekretär Dr. Ralf Brauksiepe teil einer nachhaltigen und dauerhaften Friedensentwicklung in der Region. Die Vereinten Nationen wollen diesen Einsatz, und auch die beiden Konfliktparteien, die Staaten Libanon und Israel, wollen diesen Einsatz. Es geht jetzt darum, den Libanon, der durch die seit vier Jahren andauernde Flüchtlingskrise besonders stark belastet ist, zu unterstützen. Das wollen sowohl die libanesische als auch die israelische Regierung. Gerade durch unseren vielfältigen und erfolgreichen Einsatz bei UNIFIL werden wir als vertrauenswürdiger Partner in der Region geachtet und geschätzt. Das ist auch für die Zukunft wichtig. Deswegen bitte ich Sie namens der Bundesregierung um Ihre Unterstützung für den vorliegenden Antrag, liebe Kolleginnen und Kollegen. Vielen Dank. ({4})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Kollege Brauksiepe. - Nächster Redner in der Debatte: Omid Nouripour für Bündnis 90/Die Grünen.

Omid Nouripour (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003881, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Kollegin Dağdelen hat einige richtige Punkte angesprochen, über die man noch reden muss. Es gibt viel zu viele Waffen im Libanon, das ist völlig richtig. Es gibt im Libanon viel zu viel Waffenschmuggel über Land, auch das ist richtig. Es gibt große Bedenken in Bezug auf die Position mancher Offizieller oder ganzer Institutionen in der Türkei, wenn es um die Ausrüstung und die Ausbildung von Dschihadis in Syrien geht. Das hat natürlich eine riesengroße Auswirkung auf den Libanon; das ist völlig richtig. Frau Kollegin Dağdelen, Sie haben gerade das Bild bemüht: Wir bewachen die Vordertür, während durch die Hintertür die Waffen reinkommen. Ich frage mich: Wie viele Tausende Soldaten wollen Sie eigentlich vor die Hintertür stellen, damit sie zugeht? Ich frage mich, ob Sie die Vordertür jetzt auch noch aufmachen wollen; das ist nämlich die zentrale Frage. ({0}) - Nein, das ist nicht nur unsere Aufgabe. Auch Sie müssen irgendwann einmal erklären, wie Sie Probleme lösen wollen. Sie können nicht einfach immer nur erklären, was nicht geht. ({1}) Bei allem Richtigen, was Sie beschrieben haben, bin ich, ehrlich gesagt, für jeden Beitrag dankbar, durch den versucht wird, den Waffenschmuggel in den Libanon ein Stück weit zu verhindern. Wir reden jetzt über eine Mission, die sich im neunten Jahr befindet. ({2}) Man könnte denken, das ist Routine. In diesen Zeiten im Nahen Osten eine erfolgreiche Friedensmission durchzuführen, die von beiden Konfliktparteien gewünscht und akzeptiert wird, ist alles, nur nicht Routine. Auch deswegen kann ich nur sagen: Dieser Einsatz ist zurzeit etwas sehr Besonderes. Es gibt im Übrigen noch zwei weitere Aspekte, die zu berücksichtigen sind, wenn man über UNIFIL spricht, über die Sie aber kein Wort verloren haben, Frau Kollegin. Das eine ist die Überwachung des Waffenstillstandes sowie die Deeskalation an der Grenze zwischen Libanon und Israel. Das ist von beiden Seiten auch so erwünscht. Ich erinnere nur daran, dass ohne den Einsatz von UNIFIL gerade im maritimen Bereich der Krieg im Jahre 2006 nicht beendet worden wäre. Auch das sollte man zur Kenntnis nehmen. ({3}) Es gibt noch einen zweiten Aspekt, nämlich Ausbildung und Stärkung der libanesischen Armee. Jeder Beitrag zur Stabilisierung des Libanon ist ein wichtiger, gerade in Zeiten, in denen die Hisbollah nicht mehr nur, wie damals, gegen Israel kämpft. Die Hisbollah hat heute ein anderes regionales Selbstverständnis und verletzt mit dem Einsatz in Syrien Tag für Tag den Friedensvertrag von Taif, und das alles im Lichte der großen regionalen Auseinandersetzung zwischen Saudi-Arabien und Iran, die in gegenseitiger Paranoia sehr viel Benzin auf das Feuer in der Region gießen. Die beiden genannten Aufgaben dürfen wir nicht vergessen: Die Grenzüberwachung gehörte schon zur klassischen Mission. Es gab Anfang dieses Jahres bewaffnete Auseinandersetzungen zwischen Israel und der Hisbollah: Sechs Hisbollah-Kämpfer und zwei israelische Soldaten sind gestorben; auch ein spanischer UNIFIL-Soldat verlor bei einem durchaus gefährlichen Einsatz sein Leben. Das heißt, wir reden über einen manifesten, weiterhin existierenden Konflikt, den man mit diesem Einsatz eindämmt. Das darf man einfach nicht vergessen. Die Bedeutung der zweiten Aufgabe liegt darin, dass es nur eine einzige staatliche Institution im Libanon gibt, die überkonfessionell Vertrauen in der Bevölkerung genießt. Das ist die Armee. Jeder Beitrag zur Stärkung der Armee ist ein Beitrag zur Zurückdrängung der Milizen der Hisbollah auf der einen Seite und der Milizen, die Sie vorhin völlig zu Recht kritisiert haben, auf der anderen Seite. Deshalb finde ich, dass es sich durchaus lohnt, sich zu freuen, dass es vorangeht, wenn auch mit wahnsinnig langsamen Schritten und wenn das auch nur ein kleiner Beitrag ist. ({4}) Wir müssen natürlich alles dafür tun, dass der syrische Bürgerkrieg nicht übergreift und auch den Libanon in den Strudel nach unten reißt. ({5}) Dafür müssen wir humanitäre Hilfe leisten. Es ist schon sehr problematisch, dass bisher erst 20 Prozent der Mittel, die die Vereinten Nationen als nötig veranschlagt haben, geflossen sind. Es ist nämlich ein Riesenproblem, dass mittlerweile für 70 Prozent der Flüchtlinge die Zahl der Mahlzeiten pro Tag reduziert werden musste. Es ist auch ein Riesenproblem, dass viele Kinder nicht mehr zur Schule gehen können, weil den Familien das Geld ausgeht. Die Wasserversorgung stellt ein immenses Problem für die Kommunen im Libanon dar, die Stromversorgung kollabiert. All das ist katastrophal. Wir müssen helfen, indem wir Flüchtlinge aufnehmen; auch da haben Sie recht. Wir müssen aber auch dabei helfen, dass das Land politisch auf die Beine kommt und dass die Institutionen auf die Beine kommen. UNIFIL ist ein kleiner, aber sehr wichtiger Beitrag dazu. Mit Militär löst man die Probleme im Libanon nicht primär; aber ohne militärischen Beitrag würde eine wichtige Institution im Land nicht stärker, sondern schwächer. Deshalb wird meine Fraktion der Verlängerung des Mandates für diesen Einsatz zustimmen. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit und für die Geduld. ({6})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Omid Nouripour. - Die letzte Rednerin heute - voraussichtlich, in dieser Debatte auf jeden Fall - ist Frau Obermeier von der CSU/CDU-Fraktion. ({0})

Julia Bartz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004249, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Micheline Lattouf ist eine katholische Ordensschwester. Sie lebt in der libanesischen Stadt Deir al-Ahmar, 30 Kilometer von der syrischen Grenze entfernt. In einer Winternacht vor drei Jahren klopften die ersten muslimischen Flüchtlinge aus Syrien an ihre Tür. Viele trugen nichts als ihre Kleider am Leib. Sie waren vor Bombenangriffen aus ihrer syrischen Heimat geflohen. Seither sind 8 000 Flüchtlinge in diese Stadt mit 10 000 Einwohnern gekommen. Sie leben in Zeltstädten und Behelfsunterkünften. Es gibt keine staatliche Hilfe, keine UN-Organisationen, keine großen NGOs. Die Hilfe bleibt weitestgehend der Zivilgesellschaft überlassen. Die Ordensschwester Micheline tut alles, was in ihrer Macht steht. Sie kümmert sich um das Nötigste - Decken, Wasser, Nahrung -, und sie organisiert Schulunterricht für die syrischen Kinder. In vielen Städten des Libanon ist die Situation ähnlich. 1,2 Millionen registrierte Flüchtlinge aus Syrien leben in diesem Land mit 4 Millionen Einwohnern. Der Libanon hat die weltweit höchste Flüchtlingsquote. Die Grenzen der Belastbarkeit sind längst überschritten: Das Wasser ist knapp, die Nahrungsmittelpreise und die Mieten steigen. Auch die Konkurrenz um die wenigen Arbeitsplätze nimmt beständig zu. Wir wollen dem Libanon in dieser schwierigen Situation beistehen. Das Land darf nicht in den Sog des syrischen Bürgerkriegs geraten. ({0}) Wir müssen eine weitere Destabilisierung der Region verhindern! Deutschland unterstützt den Libanon auf verschiedenen Ebenen, zum Beispiel mit 250 Millionen Euro Entwicklungsmitteln für humanitäre Hilfe, für die Wasserversorgung, für die Unterstützung der Flüchtlinge und für die Kommunen, die diese Flüchtlinge aufnehmen. Ohne Hilfe aus dem Ausland könnte der Libanon die Flüchtlinge nicht versorgen. Es fehlt am Nötigsten, auch am Essen. Es ist tatsächlich eine Katastrophe, dass dem Welternährungsprogramm nun die Mittel für die Versorgung der syrischen Flüchtlinge ausgehen. Hier müssen die internationale Gemeinschaft und die Europäische Union mehr tun. Die Versorgung der Flüchtlinge kann aber nur in einem sicheren Umfeld gewährleistet werden. Hierzu leistet die UNIFIL-Mission einen wichtigen Beitrag. Seit 2006 sichern auch unsere Soldatinnen und Soldaten im Rahmen der maritimen Komponente des Einsatzes die Seegrenze Libanons. So wird Waffenschmuggel verhindert. Darüber hinaus bilden die Bundeswehrsoldaten die libanesische Marine aus, damit sie selbst für die Sicherheit der libanesischen Küste sorgen kann. Hierbei hat die libanesische Marine bereits erkennbare Fortschritte erreicht. Bis zu 300 deutsche Soldatinnen und Soldaten leisten somit einen wichtigen Beitrag zu dieser Mission. Unser Kollege Ingo Gädechens betont immer zu Recht: Die Marine bestreitet als die kleinste Teilstreitkraft der Bundeswehr einen beträchtlichen Teil der Einsätze, ob im Mittelmeer oder am Horn von Afrika. ({1}) Dabei ist die Arbeitsbelastung der Soldatinnen und Soldaten enorm. Daher gilt an dieser Stelle mein Dank und der Dank der CDU/CSU-Fraktion allen Angehörigen der Marine, die diese hohe Einsatzbelastung professionell schultern. ({2}) Die UNIFIL-Mission ist ein Stabilitätsanker für den Libanon. Wir stehen den Menschen im Libanon bei, sowohl der libanesischen Bevölkerung als auch den Flüchtlingen aus Syrien. Die Ordensschwester Micheline setzt sich mit ihrer Flüchtlingsarbeit für Menschlichkeit und Frieden ein. Nur in einem stabilen Libanon können ihre und unsere Hilfe Wirkung entfalten. Dazu leistet die Verlängerung des UNIFIL-Mandats einen wichtigen Beitrag. Vielen Dank. ({3})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Frau Kollegin Obermeier. - Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 18/5054 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Sie sind damit einverstanden. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Halina Wawzyniak, Jan Korte, Ulla Jelpke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Rechtliche Klarstellung der Vertraulichkeit von Äußerungen im Internet Drucksache 18/2015 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales ({0}) Ausschuss Digitale Agenda ({1}) Innenausschuss Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Ausschuss für Wirtschaft und Energie Ausschuss für Kultur und Medien Federführung strittig Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden1). - Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Sie sind also da- mit einverstanden. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 18/2015 an die in der Tagesordnung aufge- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Federführung ist jedoch strittig. Die Fraktionen der CDU/CSU und der SPD wünschen Federführung beim Ausschuss für Arbeit und Soziales. Die Fraktion Die Linke wünscht Federfüh- rung beim Ausschuss Digitale Agenda. Ich lasse zuerst abstimmen über den Überweisungs- vorschlag der Fraktion Die Linke: Federführung beim Ausschuss Digitale Agenda. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? - Wer stimmt dagegen? - Der Überweisungsvorschlag ist bei Zustimmung von den Linken und von Bündnis 90/Die Grünen bei Gegenstim- men von CDU/CSU und SPD abgelehnt. Ich lasse nun abstimmen über den Überweisungsvor- schlag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD: Feder- führung beim Ausschuss für Arbeit und Soziales. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? - Wer stimmt dagegen? - Der Überweisungsvorschlag ist ange- 1) Anlage 3 nommen. CDU/CSU und SPD haben zugestimmt, Linke und Grüne waren dagegen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 16 a und 16 b auf: a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({2}) zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD Das Europäische Semester stärken, besser umsetzen und weiterentwickeln Drucksachen 18/4426, 18/5071 b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Energie ({3}) zu dem Antrag der Abgeord- neten Katharina Dröge, Kerstin Andreae, Manuel Sarrazin, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Nationales Reformprogramm 2015 - Wirt- schaftspolitische Steuerung in der EU ernst nehmen und Investitionen stärken Drucksachen 18/4464, 18/4717 Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden2). Sie sind damit einverstanden. Tagesordnungspunkt 16 a. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union zum Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/5071, den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD auf Drucksache 18/4426 anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen. CDU/CSU und SPD haben dafür gestimmt, Enthaltungen gab es bei den Grünen, und dagegen waren die Linken. Tagesordnungspunkt 16 b. Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Energie zum Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/4717, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/4464 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen. CDU/CSU und SPD haben dafür gestimmt, dagegen waren die Grünen, und die Linke hat sich enthalten. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses ({4}) zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Kirsten Tackmann, Caren Lay, Dr. Dietmar Bartsch, wei- terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Steuerfreie Risikoausgleichsrücklage für Agrarbetriebe ab 2016 Drucksachen 18/3415, 18/4729 2) Anlage 4 Vizepräsidentin Claudia Roth Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden1). Wie ich sehe, sind Sie einverstanden. Wir kommen zur Abstimmung. Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/4729, den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 18/3415 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Gibt es Enthaltungen? - Dann ist die Beschlussempfehlung mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und Grünen und bei Gegenstimmen der Linken angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf: Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie über alternative Streitbeilegung in Verbraucherangelegenheiten und zur Durchführung der Verordnung über Online-Streitbeilegung in Verbraucherangelegenheiten Drucksache 18/5089 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz ({5}) Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Energie Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft Ausschuss für Tourismus Ausschuss Digitale Agenda Haushaltsausschuss gemäß § 96 der GO Auch diese Reden sollen zu Protokoll gegeben wer- den2). - Auch damit sind Sie einverstanden. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfes auf Drucksache 18/5089 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 auf: Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/ CSU und SPD Zugang und Teilhabe ermöglichen - Die Dekade für Alphabetisierung in Deutschland umsetzen Drucksache 18/5090 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({6}) Innenausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Energie Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Kultur und Medien Ausschuss Digitale Agenda Haushaltsausschuss Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden3). - Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. 1) Anlage 5 2) Anlage 6 3) Anlage 7 Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 18/5090 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Einverstanden? Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Ute Bertram, Yvonne Magwas, Michael Kretschmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Burkhard Blienert, Marco Bülow, Martin Dörmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Zukunftsweisende Kulturpolitik im demografischen Wandel - Stärkung der Kultur im ländlichen Raum Drucksache 18/5091 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Kultur und Medien ({7}) Innenausschuss Sportausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Energie Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für Tourismus Haushaltsausschuss Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden4). Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 18/5091 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Ja. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 auf: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Transparenzrichtlinie-Änderungsrichtlinie Drucksache 18/5010 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({8}) Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Ausschuss für Wirtschaft und Energie Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden5). - Ich sehe, auch damit sind Sie einverstanden. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwur- fes auf Drucksache 18/5010 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. 4) Anlage 8 5) Anlage 9 Vizepräsidentin Claudia Roth Wir sind am Schluss der heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 12. Juni 2015, 9 Uhr, ein. Die Sitzung ist geschlossen. Den Rheinland-Pfälzern und ihren Freundinnen und Freunden wünsche ich noch einen schönen Ausgang des Abends.