Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Nehmen Sie bitte Platz. Die Sitzung ist eröffnet.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich begrüße Sie
herzlich.
Wie Sie wissen und auch miterlebt haben, ist gestern
der Kollege Hans-Peter Bartels als Wehrbeauftragter des
Deutschen Bundestages vereidigt worden. Er hat deshalb
sein Bundestagsmandat niedergelegt. Für ihn ist die Kollegin Dr. Karin Thissen nachgerückt, die ich im Namen
des Hauses herzlich begrüßen möchte.
({0})
Wir freuen uns auf die Zusammenarbeit, Frau Thissen.
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 27 a und 27 b
auf:
a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Tarifeinheit ({1})
Drucksache 18/4062
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales ({2})
Drucksache 18/4966
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
({3})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Jutta
Krellmann, Klaus Ernst, Ulla Jelpke, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Tarifautonomie stärken - Streikrecht verteidigen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Beate
Müller-Gemmeke, Kerstin Andreae,
Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Solidarität im Rahmen der Tarifpluralität
ermöglichen - Tarifeinheit nicht gesetzlich
regeln
Drucksachen 18/4184, 18/2875, 18/4966
Über den Gesetzentwurf der Bundesregierung werden
wir später namentlich abstimmen, sodass sich bitte all
diejenigen, die noch nicht im Plenum sind, aber diese
Ansagen verfolgen, darauf einrichten mögen, dass diese
namentliche Abstimmung vermutlich in gut einer Stunde
stattfindet.
Es gibt eine interfraktionelle Vereinbarung, für diese
Aussprache 60 Minuten vorzusehen. Darf ich fragen, ob
darüber Einvernehmen besteht? - Das ist der Fall. Dann
haben wir das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile der Bundesministerin Andrea Nahles das Wort.
({4})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Ein Betrieb - ein Tarifvertrag: Dieser
Grundsatz hat in Deutschland eine lange Tradition und,
wie ich finde, eine gute.
({0})
60 Jahre lang hat unser Land von der Tarifeinheit profitiert. 60 Jahre lang haben sich die Gewerkschaften von
einer Idee leiten lassen: Gemeinsam sind wir stärker als
gegeneinander. Über Jahrzehnte führte die Tarifeinheit
dazu, dass Gewerkschaften und Arbeitgeber ihre jeweiligen Interessen durchsetzen und dabei doch immer auch
den Ausgleich im Blick behalten konnten. Dieser Ausgleich ist ein echter Standortvorteil für Deutschland.
({1})
Was wir seit 2010, seit der geänderten Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichtes zur Tarifeinheit, beobachten, macht vielen Menschen Sorgen. Arbeitgeber
und der Deutsche Gewerkschaftsbund haben sich sofort
gemeldet und die Bundesregierung direkt nach dieser
Gerichtsentscheidung aufgefordert, die Tarifeinheit per
Gesetz wiederherzustellen. Beide Seiten wollen die
Tarifeinheit; denn sie wissen um den Wert des sozialen
Friedens in den Betrieben. Beide Seiten wollen die Tarifeinheit, weil sie Tarifkollisionen vermeiden wollen;
denn Tarifkollisionen gefährden die Funktionsfähigkeit
der Tarifautonomie.
({2})
Deswegen haben wir vereinbart, hier eine Lösung vorzulegen.
Unsere Aufgabe als Gesetzgeber ist es, das Funktionieren der Tarifautonomie sicherzustellen und der Sozialpartnerschaft Raum und Regeln zu geben. Für uns ist
klar: Das Koalitionsrecht und das Streikrecht tasten wir
nicht an.
({3})
Die Tarifparteien bleiben uneingeschränkt in der Verantwortung „zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und
Wirtschaftsbedingungen“, wie es das Grundgesetz in Artikel 9 festlegt.
({4})
Manchmal muss gekämpft und manchmal muss gestreikt werden; auch wenn es am Ende immer einen
Kompromiss geben muss, ist dies notwendig. In der Geschichte der Bundesrepublik haben wir immer wieder
gesehen, dass Gewerkschaften nicht nur für ihre Mitglieder gestreikt haben, sondern auch, um gesellschaftlichen
Fortschritt zu erreichen.
Gesellschaftlicher Fortschritt und soziale Errungenschaften kommen eben nicht von alleine. Streiks und Arbeitskämpfen haben wir zu verdanken, dass wir Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, Arbeitszeitverkürzung
und Gesundheitsschutz, Weiterbildung und ganz moderne Ansätze zur Bewältigung der demografischen Herausforderungen haben. Und deswegen steht das Streikrecht überhaupt nicht in Rede, um es ganz klar zu sagen.
({5})
Die Tarifautonomie ist allerdings gleichfalls nicht irgendetwas, sondern sie ist ein wichtiges Verfassungsgut.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, in diesem Zusammenhang möchte ich die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zitieren:
Die Tarifautonomie ist darauf angelegt, die strukturelle Unterlegenheit der einzelnen Arbeitnehmer
beim Abschluss von Arbeitsverträgen durch kollektives Handeln auszugleichen und damit ein annähernd gleichgewichtiges Aushandeln der Löhne
und Arbeitsbedingungen zu ermöglichen.
Dieser vom Bundesverfassungsgericht klar beschriebene Gedanke des kollektiven Handelns wird ad absurdum geführt, wenn die streikmächtigen Berufsgruppen
ihr Streikrecht nur für sich selbst einsetzen und nicht
zum Wohle der gesamten Belegschaft.
({6})
Mit dem Tarifeinheitsgesetz setzen wir genau hier an.
Tarifeinheit stärkt die Grundlagen gewerkschaftlicher
Interessenvertretung in Deutschland. Tarifeinheit stärkt
die Tarifautonomie. Mehr kann die Politik aber nicht tun.
Es sind die Sozialpartner, die mit ihren Rechten eben
auch verantwortlich umgehen müssen.
Und deswegen freue ich mich, dass die Tarifauseinandersetzung bei der Bahn nun - wenn auch spät - zumindest auf dem richtigen Gleis ist. Das ist genau im Sinne
der Tarifeinheit, das ist der Sinn unseres Gesetzes: Wir
setzen auf Kooperation und Einigung, meine Kolleginnen und Kollegen.
({7})
Ich möchte auf den Vorwurf eingehen, wir wollten
mit dem Gesetz zur Tarifeinheit kleine Gewerkschaften
wegräumen. Diese Behauptung hat weder Hand noch
Fuß. Schauen wir zum Beispiel einmal auf die GDL: Die
Gewerkschaft der Lokführer gibt es seit 1867.
({8})
Sie ist eine der ältesten Gewerkschaften überhaupt in
Deutschland. Wer würde heute behaupten, sie habe
60 Jahre Tarifeinheit nicht gut überstanden, meine lieben
Kolleginnen und Kollegen?
({9})
Die Tarifeinheit läuft nicht auf das Ende für kleine
Gewerkschaften und Berufsverbände hinaus.
({10})
Viele zeigen doch seit Jahrzehnten, wie es gut laufen
kann mit der Kooperation. Was der Deutsche Beamtenbund und Verdi zusammen tun, das ist doch ein gutes
Beispiel. Ihre Tarifgemeinschaft funktioniert und nutzt
beiden. Das kann auf der Basis dieses Gesetzes genauso
weitergehen. Sie sind gemeinsam stärker als gegeneinander. Das ist der entscheidende Punkt, und das hat über
Jahrzehnte funktioniert.
({11})
Darum vollenden wir mit dem heutigen Gesetz auch
unser Vorhaben, der Tarifautonomie wieder Raum zu geben und die Sozialpartnerschaft in Deutschland zu stärken. Mit dem Tarifpaket, mit dem Mindestlohn haben
wir an diesem Ziel gebaut; mit der Tarifeinheit schließen
wir diesen wichtigen Bau für diese Legislaturperiode ab.
Wir halten damit Wort.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben ein sorgfältig erarbeitetes, breit diskutiertes und breit getragenes
Gesetz vorgelegt.
({12})
Es basiert auf dem Prinzip der Subsidiarität, und es fußt
auf dem demokratischen Mehrheitsprinzip. Denn Vorrang hat immer: Gewerkschaften und Arbeitgeber einigen sich untereinander ohne staatliches Eingreifen, aber
unter Einhaltung demokratischer Regeln. Das ist der
Vorschlag, den wir unterbreiten. Es zeigt, dass wir Vertrauen haben in unsere Institutionen und Traditionen, in
Kooperation und Kompromissfähigkeit, Koalitionsfreiheit und Verantwortung.
({13})
Darum geht es.
Vielen Dank.
({14})
Für die Fraktion Die Linke erhält nun der Kollege
Klaus Ernst das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Frau Ministerin, ich habe den Eindruck, Sie haben eben Tante Nahles’ Märchenstunde eingeläutet.
Schon der Titel Ihres Gesetzentwurfs ist purer Etikettenschwindel.
({0})
Es geht Ihnen nicht darum, dass in einem Betrieb nur
noch ein Tarifvertrag gilt, also um die Tarifeinheit. Wenn
Sie das wirklich wollten, dann müssten Sie die Regelungen bei der Leiharbeit und bei den Werkverträgen ändern.
({1})
Sie müssten den Betriebsräten mehr Rechte geben, wenn
Betriebe verlagert und Tarifverträge ausgehebelt werden.
Sie müssten die Verbände an die Kandare nehmen, die
keine Tarifbindung wollen. Aber das, was Sie hier machen, das ist ein Skandal!
({2})
Alles bleibt, wie es ist. Sie ändern überhaupt nichts!
Es kümmert Sie nicht, dass die Menschen ohne Tarifverträge arbeiten. Das ist eine Täuschung der Öffentlichkeit, meine Damen und Herren.
({3})
Wenn Sie alles das, was ich eben angesprochen habe,
wirklich wollen, dann sorgen Sie endlich für entsprechende Regelungen. Machen Sie Ihre Hausaufgaben,
Frau Nahles!
({4})
- Ja, Sie regen sich auf, aber diskutieren Sie das lieber in
Ihren eigenen Reihen.
Was will das Gesetz wirklich? Das Gesetz sieht eine
Einschränkung des Streikrechts kleiner Gewerkschaften
vor. Das ist es, was Sie hier vorlegen, Frau Nahles! Ich
möchte den Kollegen Detlef Hensche zitieren, den früheren Vorsitzenden der IG Medien:
Das Gesetz zielt nach Inhalt und Begründung unübersehbar auf die Aktivität streikfähiger und
streikbereiter Berufsverbände. Sie sollen rechtlich
diszipliniert und ruhiggestellt, ja um ihre Existenzberechtigung gebracht werden.
Das ist es, was Sie vorlegen, und nichts anderes, Frau
Nahles.
({5})
Sie sind natürlich nicht so dumm, im offenen Kampf
einfach das Streikrecht einzuschränken; das ist doch
klar. Sie machen es anders. Sie sagen: Der Tarifvertrag
einer kleinen Gewerkschaft gilt nicht, wenn eine größere
Gewerkschaft einen Tarifvertrag abgeschlossen hat.
Streiks wären dann aber unzulässig, weil ein Streik nur
dann rechtlich zulässig ist, wenn er der Erzielung eines
Tarifvertrags gilt. Da die kleinere Gewerkschaft aber
keinen Tarifvertrag abschließen kann, ist der Streik automatisch unzulässig. Das ist der Trick, mit dem Sie die
Öffentlichkeit täuschen, Frau Nahles. Genau so ist es!
({6})
Ihre Regierung gibt das inzwischen sogar zu. Ich
möchte Ihre Staatssekretärin zitieren - es war sehr erhellend, was Frau Kramme gesagt hat -:
Die Prüfung eines Streiks durch ein Gericht kann
ergeben, dass dieser unverhältnismäßig sein kann,
soweit ein Tarifvertrag erzwungen werden soll, dessen Inhalte evident nicht zur Anwendung kommen.
So in der Süddeutschen Zeitung. - Damit schränken Sie
das Streikrecht ein, und das weiß auch jeder.
({7})
Mich ärgert ganz besonders, dass die Sozialdemokraten dies wissen. Einige von Ihnen sind Gewerkschafter,
die ich seit 20, 30 Jahren kenne.
({8})
Ich weiß doch, wie ihr diskutiert habt. Ich kann nicht
verstehen, dass die SPD da mitmacht. Mein Gott, das ist
ein Trauerspiel, was die SPD in dieser Republik abzieht.
Ein Trauerspiel!
({9})
Dabei wäre die Sache ganz einfach.
Herr Kollege Ernst, lassen Sie eine Zwischenfrage
zu?
Ja, selbstverständlich.
Das ist ja ganz hervorragend.
Wer wagt es, Rittersmann oder Knapp?
Bitte schön, Frau Kollegin Stamm-Fibich.
Herzlichen Dank, dass Sie mir die Zwischenfrage erlauben, bevor es ganz emotional wird. - Wie ich annehme, gehören Sie und ich der gleichen Gewerkschaft
an, nämlich der IG Metall, und ich glaube, wir sind auch
Mitglied im gleichen Bezirk in Bayern. Ich kann die
ganze Aufregung nicht ganz verstehen, da gerade die
Gewerkschaft, der wir beide angehören, uns heute zur
Seite steht und sagt: Jawohl, das ist gut, was ihr tut.
Wollen Sie jetzt behaupten, dass die IG Metall die
kleinen Gewerkschaften zerstört? Das möchte ich gern
wissen.
({0})
Herzlichen Dank für diese Frage. Ich bin geradezu
dankbar dafür; denn das gibt mir Gelegenheit, eine
zweite Rolle dieses Gesetzes zu erläutern. Dieses Gesetz
spaltet den DGB.
({0})
Ich möchte Ihnen das auch begründen. Dieses Gesetz
spaltet den DGB; denn eine große Gewerkschaft, nämlich Verdi, lehnt es in Bausch und Bogen ab.
({1})
Nun sage ich Ihnen noch etwas zu meiner Gewerkschaft, der IG Metall. Ich weiß, dass sich der Vorstand
der IG Metall in dieser Frage auf dünnem Eis bewegt,
weil viele Funktionäre und viele Mitglieder der IG Metall das ganz anders sehen, als dies die IG Metall nach
außen darstellt, meine Damen und Herren. Das ist die
Wahrheit.
({2})
Ich sage Ihnen noch etwas: Dass ausgerechnet die
SPD ein Gesetz macht und sich auf den DGB beruft - Wie ich sehe, haben Sie sich wieder hingesetzt, Frau
Kollegin. Gut, dann höre ich mit der Antwort auf und
fahre einfach fort.
Dabei ist alles ganz einfach. Wie war der Spruch? Ein
Blick ins Gesetz erleichtert die Rechtsfindung. Dann
schauen wir uns doch Artikel 9 Absatz 3 Grundgesetz
einmal an:
Das Recht, zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Vereinigungen
zu bilden, ist für jedermann und für alle Berufe gewährleistet.
Für alle Berufe, auch für Lokführer, Piloten und Ärzte.
Was muss man da eigentlich noch groß diskutieren? Das
steht doch ganz einfach dort drin.
({3})
Es geht weiter:
Abreden, die dieses Recht einschränken oder zu behindern suchen, sind nichtig, hierauf gerichtete
Maßnahmen sind rechtswidrig.
Genau eine solche Maßnahme führen Sie hier durch,
meine Damen und Herren.
({4})
Im Übrigen: Dass Sie uns trotz dieser eindeutigen
Formulierung im Grundgesetz ein solches Gesetz vorlegen, ist eigentlich eine Zumutung. Ich möchte einen Vergleich bringen, damit deutlich wird, was Sie hier machen. Ich weiß nicht, ob sich der eine oder andere für
Skisport interessiert. Da gibt es einen Parallelslalom.
({5})
Da fahren zwei gleichzeitig los, und wer der Schnellere
ist, hat gewonnen. Was Sie aber machen, würde bedeuten: Es wird nach dem Zieleinlauf geprüft,
({6})
welcher Skifahrer eigentlich im größeren Skiverband ist.
Wer Mitglied im größeren Verband ist, gewinnt automatisch; der andere braucht gar nicht erst anzutreten. Genau
das ist Ihr Gesetz, und genau deshalb sagen wir: Das widerspricht dem Grundgesetz und hat mit der Realität in
unserem Lande nichts zu tun.
Ganz zum Schluss: Unser Grundgesetz hat ein Prinzip
- ich habe einmal nachgeschaut -: 36-mal steht in unserem Grundgesetz das Wort „Freiheit“. 36-mal! Mit dem,
was Sie hier tun, schränken Sie nicht nur das Streikrecht
ein. Sie schränken auch einen wesentlichen Grundsatz
unserer Verfassung ein: die Freiheit. Genauso wie es die
Freiheit gibt, einen Beruf auszuüben, ein Gewerbe zu betreiben, haben die Arbeitnehmer auch das Recht, sich
dort zu organisieren, wo sie wollen, und dann müssen sie
auch dieselben Rechte haben - in der einen und in der
anderen Gewerkschaft.
({7})
Nächster Redner ist der Kollege Karl Schiewerling
für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Warum legen wir dieses Gesetz vor? In Deutschland bezog man sich 56 Jahre lang
auf den früheren Präsidenten des Bundesarbeitsgerichtes, Herrn Nipperdey, zur Tarifeinheit.
({0})
Es hat in dieser ganzen Zeit nur fünf Gerichtsentscheide
zu Konflikten gegeben, und diese Gerichtsentscheide haben sich auf Herrn Nipperdey bezogen. Es war klar: In
einem Betrieb soll ein Tarifvertrag für ein und dieselbe
Personengruppe, für ein und dieselbe Berufsgruppe gelten.
({1})
Nach der Aufgabe dieser Position durch das Bundesarbeitsgericht 2010 wurde es aus Sicht der Tarifpartner,
des DGB und der BDA, notwendig, dem Wunsch, dass
in Zukunft weiterhin in einem Betrieb ein Tarifvertrag
für ein und dieselbe Personengruppe gilt, eine rechtliche
Grundlage zu geben. Dabei war allen Beteiligten im
Rahmen dieses Prozesses seit 2010 klar, dass wir zwar
einen solchen Schritt versuchen können, wir ihn aber
nicht - ebenso wenig die Zusammenarbeit in den Betrieben - befehlen können. Deswegen hat dieser Gesetzentwurf, wie er jetzt vorliegt, das eigentliche Ziel, Frieden
in den Betrieb hineinzubringen und Stufen zu schaffen,
wie man sich bei unterschiedlicher Auffassung verständigen kann.
({2})
Meine Damen und Herren, mit diesem Gesetzentwurf
spalten wir nicht, mit diesem Gesetzentwurf einen wir,
({3})
und mit diesem Gesetzentwurf schaffen wir Strategien,
die Gewerkschaften in einem Betrieb anwenden können,
um gemeinsame Positionen zum Wohle der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, der Belegschaft zu vertreten.
({4})
Artikel 9 Absatz 3 unserer Verfassung sichert den
Bürgerinnen und Bürgern das Recht zu, Berufsgewerkschaften zu gründen, Gewerkschaften für einen Betrieb,
für eine Fläche, für eine Branche. Dieses hohe Freiheitsgut darf auf keinen Fall angetastet werden!
({5})
Auf der anderen Seite aber steht ein anderes Gut. Das ist
das hohe Gut des Betriebsfriedens, ein hohes Kulturgut,
das uns in Deutschland 65 Jahre Frieden und Wohlstand
gebracht hat.
({6})
Die hohe Prosperität unseres Landes geht auf diese
Übereinkunft zurück.
Mit dem Gesetz, das heute zur Verabschiedung vorliegt, geht es nicht darum, Wege zu finden, wie man
kleine Gewerkschaften vor die Tür setzt, sondern darum,
Treppen zu bauen, wie man sich innerhalb eines Betriebes verständigen kann - ohne dass das Gesetz befielt,
wie das zu erfolgen hat. Deswegen greift dieses Gesetz
auch nicht in das Streikrecht ein und schreibt auch Lösungsmechanismen nicht zwingend vor, sondern bietet
Lösungen an, eröffnet Wege.
({7})
Es ist Aufgabe der Tarifpartner, diese Wege zu gehen,
zum Wohle der Belegschaft und zum Wohle des Betriebes.
({8})
Die Ursache dieses Gesetzes sind also nicht Streiks,
die im Augenblick stattfinden. Ich freue mich mit allen
Beteiligten, dass offensichtlich jetzt endlich bei der
Deutschen Bahn eine Schlichtung möglich ist. Aber dieses Gesetz regelt diese Schlichtung nicht, sondern es ist
Aufgabe der Tarifpartner, dies zu tun, und sie wählen
auch ihre Leute aus, mit denen sie das machen wollen.
Es tut mir leid, aber ich muss den Hinweis geben: Ich
habe mich gestern Abend, als ich die Nachrichten sah,
schon sehr gewundert, dass einer der Schlichter, Herr
Ramelow, seine Schlichtung damit beginnt, dass er erst
einmal einen anderen, der Beteiligter in der Schlichtung
ist, heftig beschimpft.
({9})
Ich glaube nicht, dass das ein Weg ist, den man gehen
kann. Herr Ramelow hatte auch kein Recht, zu behaupten - wie er es gestern Abend im Fernsehen getan hat -,
es ginge bei dem heute zu verabschiedenden Tarifeinheitsgesetz um die Bekämpfung einer Gewerkschaft.
({10})
Damit irrt er sich. Ich finde es nicht klug - ich sage das
mal sehr vorsichtig, aus Sicht der Politik -, in dieser
Form Schlichtungen zu beginnen. Ich wünsche nur, dass
dies kein Hindernis sein wird, zu einem guten Ergebnis
zu kommen.
({11})
Was regelt das Gesetz? Das Gesetz regelt zunächst
einmal in einem ersten Teil, dass die Gewerkschaften die
Möglichkeit haben, sich untereinander abzustimmen,
wer eventuell für welche Berufsgruppe zuständig ist eine jahrzehntelange Praxis, die sich bewährt hat, die auf
das Prinzip der Tarifeinheit zurückgeht und auch hilft,
diese zu organisieren. Mit diesem Gesetz beschreiben
wir dies als einen wichtigen Weg.
({12})
Das Zweite: Es besteht die Möglichkeit, gemeinsam
zu verhandeln und gemeinsam Tarifverträge abzuschließen, wie es zum Beispiel im öffentlichen Dienst oder bei
Journalisten üblich ist. Im Falle von zwei Gewerkschaften, die für dieselben Berufsgruppen Tarifverträge abschließen wollen, kann unter dem Dach einer Organisation - zum Beispiel des DGB - eine Übereinstimmung
erzielt und eine gemeinsame Position organisiert werden.
Ich halte dies für einen vernünftigen und klugen Weg.
Ein Eingriff in das Streitrecht erfolgt nicht. Sollte am
Ende der Tage, wenn alle Einigungsversuche nicht greifen, der Streik einer kleineren Gewerkschaft wirklich als
unverhältnismäßig angesehen werden, was in der Geschichte der Rechtsprechung zu Tarifgesetzen in Deutschland oft vorgekommen ist - die Gerichte haben dann gesagt, ein Streik sei nicht angemessen -, dann wäre das
überhaupt keine neue Entwicklung in diesem Rechtsgebiet.
({13})
Ob das so kommt, werden auch in Zukunft die Gerichte zu entscheiden haben. Im Lichte der Auswirkungen der rechtlichen Grundlagen und der Rahmenbedingungen, unter denen ein solcher Streik stattfindet,
werden sie darüber zu urteilen haben, ob er gerechtfertigt ist oder nicht. Es geht aber auf keinen Fall darum,
kleine Gewerkschaften auszuschließen und ins Streikrecht einzugreifen.
({14})
Es geht darum, das Ganze zu einem guten Miteinander
in den Betrieben zu führen.
({15})
Schauen wir nun auf den weiteren Weg dieses Gesetzentwurfs. Wir warten mit Gelassenheit ab, was sich da
jetzt tut. Da wir wussten, dass es darauf ankommt, eine
verfassungskonforme Regelung zu finden, legen wir
eine solche vor. Ich weiß aber auch - das ist angekündigt
worden -, dass es zu einem Verfahren kommen wird. Ich
kann mich nur über alle die wundern, die sagen, das sei
nicht verfassungskonform. In den Anhörungen zu diesem Gesetzentwurf im Deutschen Bundestag wurden die
unterschiedlichsten Positionen dargelegt.
({16})
- Herr Kollege, Sie waren überhaupt nicht da.
({17})
Diese unterschiedlichsten Positionen werden abzuwägen
sein.
Wir sehen dem mit Gelassenheit entgegen und bleiben dabei: Uns geht es um die Koalitionsfreiheit, die in
Artikel 9 unserer Verfassung geregelt ist, und es geht uns
um den Betriebsfrieden. Letztendlich geht es um Demokratie, um Freiheit und um Prosperität in unserem Land.
({18})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun der
Kollege Hofreiter das Wort.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ein Tarifeinheitsgesetz, also ein Gesetz, das
sich mit der Tarifautonomie beschäftigt, sollte eigentlich
das hohe Gut der Tarifautonomie schützen;
({0})
denn die Tarifautonomie ist ein zentraler Bestandteil unserer sozialen Marktwirtschaft.
Jetzt schauen wir doch einmal ins Grundgesetz hinein. Da gibt es den Artikel 9 Absatz 3. Darin ist ganz
klar geregelt, dass für jedermann gewährleistet ist, Vereinigungen zu bilden, und zwar für alle Berufsgruppen.
Darin steht überhaupt nichts davon, dass es pro Betrieb
nur eine Gewerkschaft geben soll.
({1})
Frau Ministerin und Herr Vorredner, Sie reden hier
immer nur davon, dass das Streikrecht und die Koalitionsfreiheit nicht eingeschränkt werden sollen. Man
muss einfach einmal in den Gesetzentwurf hineinschauen. Das stimmt schlichtweg nicht. Sie wollen das
Streikrecht und die Koalitionsfreiheit einschränken.
({2})
Es hat auch eine gewisse Logik, dass Sie das Streikrecht
und die Koalitionsfreiheit einschränken wollen. Warum
hat das eine gewisse Logik? Das ist ganz einfach: Wenn
Sie das nicht einschränken wollen würden, dann würde
Ihr Tarifeinheitsgesetz komplett ins Leere laufen. Was ist
nämlich das Ziel des Ganzen? Sie wollen bestimmte
Streiks von kleineren Gewerkschaften verunmöglichen.
Das ist das Ziel dieses Gesetzentwurfs.
({3})
Man muss sich einfach einmal die Geschichte dieses
Gesetzentwurfs anschauen. Bei der sogenannten Tarifeinheit, die wir über 60 Jahre hatten, gab es ein anderes Prinzip. Es war nämlich nicht so, dass in den vergangenen 60 Jahren das Prinzip Ihres Tarifeinheitsgesetzes,
nämlich das Mehrheitsprinzip, gegolten hat. Der Effekt
der alten Tarifeinheit war, dass letztendlich die spezielleren Gewerkschaften, insbesondere sogenannte christliche Gewerkschaften, das Tarifniveau nach unten ziehen
konnten. Jetzt, unter der neuen Regelung, können kleinere Gewerkschaften das Tarifniveau insgesamt nach
oben ziehen. Da verstehe ich, dass die Arbeitgeber, da
verstehe ich, dass der Wirtschaftsflügel versucht, diese
Möglichkeit einzuschränken.
({4})
Es ist logisch, dass sie dagegen kämpfen, dass das Tarifniveau nach oben gezogen wird; ich habe volles Verständnis dafür. Aber wofür ich überhaupt kein Verständnis habe, ist, dass die SPD da mitmacht,
({5})
dass der Arbeitnehmerflügel der CDU da mitmacht. Was
fällt Ihnen eigentlich ein? Wir haben jetzt die Situation,
dass das Tarifniveau wieder nach oben gezogen wird.
({6})
Und wer steht an vorderster Front und sorgt dafür, dass
das Tarifniveau nicht mehr nach oben gezogen wird? Die
SPD steht an vorderster Front. Schämen Sie sich eigentlich nicht für dieses Verhalten?
({7})
Dann kommt auch noch hinzu, dass das Gesetz das
Gegenteil von Tarifeinheit bewirkt.
({8})
Was bewirkt dieses Gesetz denn, so wie es gestaltet ist?
Sie wissen ganz genau, dass „ein Betrieb“ nicht leicht zu
definieren ist. Die DB AG zum Beispiel besteht nach Ihrem Gesetz aus 300 Betrieben. Wozu führt das? Die Gewerkschaften kämpfen natürlich verbissen darum, in jedem einzelnen Teilbetrieb die größere Gewerkschaft zu
sein. Das heißt, Sie verschärfen den Tarifkonflikt noch;
denn die Gewerkschaften versuchen, in jedem einzelnen
Teilbetrieb möglichst groß zu werden. Den Effekt haben
wir gesehen: Wir hatten neun Streiks der GDL. Diese
neun Streiks haben Sie als Große Koalition mit der Ankündigung des vorliegenden Gesetzes verschärft und
deshalb mit zu verantworten.
({9})
Stehlen Sie sich doch nicht einfach aus der Verantwortung, und tun Sie nicht so, als wenn Sie nichts damit zu
tun hätten! Man muss mit einer gewissen Verwunderung
feststellen, dass der Vorstand der DB AG und Herr
Weselsky vernünftiger sind als die Vertreter der Großen
Koalition.
({10})
Wir wissen natürlich nicht hundertprozentig, ob es
verfassungswidrig ist. Ich selbst bin kein Jurist; aber ich
habe keinen unabhängigen Juristen getroffen, der gesagt
hat: Dieses Gesetz ist verfassungskonform. - Das Beste,
was sie sagen konnten, war: Ich bin mir nicht hundertprozentig sicher, ob es verfassungswidrig ist. - Ich
meine: Wo sind wir denn? Wir verabschieden hier Gesetze,
({11})
bei denen man sich nicht hundertprozentig sicher ist,
({12})
ob sie verfassungswidrig sind.
({13})
Jetzt kann man sagen, die Union hat darin Übung: die
Erbschaftsteuer von Karlsruhe kassiert,
({14})
die Vorratsdatenspeicherung von Karlsruhe kassiert,
beim Betreuungsgeld sieht es auch schlecht aus, es wird
wahrscheinlich auch von Karlsruhe kassiert. Ja, wie sieht
es denn aus mit der Verfassungstreue der Union?
({15})
Was ist denn da eigentlich los bei der Union? Wieso machen Sie denn so was?
Dieses Gesetz - das ist so was von eindeutig - ist antisolidarisch, es schadet dem Betriebsfrieden, es schadet
der Solidarität in den Betrieben, es ist verfassungswidrig.
Herr Kollege.
Deswegen: Lehnen Sie es ab! Zumindest jeder einzelne Jurist hier im Parlament muss das Gesetz ableh10236
nen; denn er weiß, was da drinsteht und was es mit unserer Verfassung macht.
({0})
Bernd Rützel ist der nächste Redner für die SPDFraktion.
({0})
Herr Dr. Hofreiter, Sie haben wohl übersehen, dass
dieses Tarifeinheitsgesetz einer Forderung des Deutschen Gewerkschaftsbunds entspricht.
({0})
Wenn Sie das nicht glauben, können Sie es in einem
Kommentar im Handelsblatt nachlesen; er ist noch gar
nicht so alt.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wenn jeder sein eigenes Süppchen kocht und
dieses auch noch alleine isst, dann bleiben all diejenigen
hungrig, die das nicht können oder um die sich niemand
kümmert.
({1})
Deshalb haben vor über 70 Jahren - es war noch Krieg,
es war am 18. März 1945 in Aachen, im bereits befreiten
Aachen - 80 Männer und Frauen die Einheitsgewerkschaft gegründet. Der legendäre Aufruf „Schafft die Einheit!“ war ursprünglich gedacht - das gilt bis heute - zur
Überwindung der weltanschaulichen und politischen
Spaltung der Gewerkschaftsbewegung. Standesunterschiede zwischen Arbeitern und Angestellten sollten
keine Rolle mehr spielen. Ein Betrieb, eine Gewerkschaft - das war die Devise.
({2})
Dies galt - das kann man nicht wegdiskutieren 65 Jahre lang, bis 2010. Über sechs Jahrzehnte hat diese
Tarifeinheit unser Land stark gemacht.
({3})
In den Betrieben haben die Stärkeren für die Schwächeren gekämpft. Sie haben gestritten, sie haben gestreikt,
und - das ist wichtig - die Betriebe konnten sich nach einem Tarifkonflikt - so schlimm er auch gewesen sein
mag - immer wieder befrieden und ihrem Geschäft
nachgehen. Dieser Befriedungsprozess ist ganz wichtig.
Wir haben heute von der Bundesministerin Andrea
Nahles bereits gehört - Karl Schiewerling hat es auch
gesagt -, wie wichtig er ist.
Es gab schon immer viel Verständnis für Streiks. Das
ist auch heute noch so, und das ist auch gut so. Das ist
ein Grundrecht. Es ist verbrieft. Dieses Grundrecht - Artikel 9 Absatz 3 Grundgesetz - werden wir niemals angreifen, auch wenn das hundertmal erzählt wird; das ist
falsch. Es ist für uns wichtig.
({4})
Als das Bundesarbeitsgericht 2010 in seiner Rechtsprechung vom Grundsatz der Tarifeinheit abgerückt ist,
freute sich vielleicht so mancher darüber und meinte,
dass er nun sein eigenes Süppchen kochen kann, vielleicht nach dem Motto: Zeigen wir denen mal, wo der
Hammer hängt. - Viele Forderungen der Gewerkschaften und der Verbände mögen vielleicht berechtigt sein.
Die Gewerkschaften haben Bestand; einige gibt es seit
über hundert Jahren. Die GDL zum Beispiel ist die älteste Gewerkschaft,
({5})
und das ist auch gut so. Sie ist stark, und das ist auch gut
so. Aber die Entsolidarisierung innerhalb der Gewerkschaftsbewegung hilft niemandem. Die hilft nicht den
Unternehmen, die hilft nicht der Bevölkerung, und die
hilft schon gar nicht den abhängig Beschäftigten.
({6})
Ich bin ganz sicher, dass unser Gesetz dazu beiträgt
- das ist wichtig; das ist heute schon ein paarmal gesagt
worden -, dass es wieder mehr Tarifgemeinschaften geben wird, dass man sich zusammentut,
({7})
dass es klare Zuständigkeiten gibt und geklärt wird, wer
denn für wen verhandelt, und dass kleinere Gewerkschaften Tarifverträge nachzeichnen können, so wie sie
das schon jahrzehntelang erfolgreich getan haben. Erst
wenn das alles nicht fruchtet, man sich nicht einigen
kann und mehrere Tarifverträge in einem Betrieb für die
gleiche Beschäftigtengruppe gelten,
({8})
dann wird die Mehrheit eines Betriebes - das ist nämlich
auch die Mehrheit der Menschen, die hinter einer Gewerkschaft stehen - entscheiden, welcher Tarifvertrag
gilt.
Lieber Klaus Ernst, unser Tarifeinheitsgesetz ist kein
Allheilmittel. Aber es ist auch nicht der Weltuntergang.
Wir haben das Tarifautonomiestärkungsgesetz beschlossen. Wir haben den Mindestlohn eingeführt. Wir haben
die Allgemeinverbindlichkeit verbessert. Wir haben die
Regelungen im Arbeitnehmer-Entsendegesetz ausgeweiBernd Rützel
tet. Die jetzt an das Tarifeinheitsgesetz gerichteten Forderungen sind, glaube ich, teilweise überspannt. Aber
ich freue mich auf die Debatte nach der Sommerpause,
wenn wir das gemeinsam angehen.
Zum Schluss möchte ich noch Folgendes anmerken:
Es wird immer wieder gesagt: Das greift ins Streikrecht
ein. Und: Die Koalitionsfreiheit ist in Gefahr. - Nichts
davon ist der Fall. Die Verfassungsressorts, Innenministerium und Justizministerium, das Bundeskanzleramt,
die Sachverständigen in der Anhörung, wie der ehemalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts Papier, haben die Verfassungsfestigkeit unseres Tarifeinheitsgesetzes bescheinigt.
({9})
Was über sechs Jahrzehnte in Deutschland gut war,
kann jetzt nicht schlecht sein.
Vielen Dank.
({10})
Jutta Krellmann ist die nächste Rednerin für die Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Als Linke und als Gewerkschafterin bin ich
empört darüber,
({0})
dass ausgerechnet mit der SPD die Einschränkung von
Streikrecht auf den Weg gebracht wird.
({1})
Ich finde es nicht in Ordnung, sich jetzt hinter dem DGB
zu verstecken. Sie sitzen hier, nicht der DGB.
({2})
Sie haben hier zu entscheiden, niemand anderes. Sich
hinter dem DGB zu verstecken, ist nicht in Ordnung.
Teilweise die gleichen Leute, die vor ein paar Jahren den
DGB und seine Einzelgewerkschaften noch als Dinosaurier bezeichnet haben und dafür gesorgt haben, dass Gewerkschaften geschwächt werden,
({3})
tun jetzt so, als wäre es das Wichtigste überhaupt, das
jetzt mit dem DGB gemeinsam zu tun. Das alles, was Sie
da machen, ist nicht in Ordnung. Das ist eine reine
Farce.
({4})
- Sie können sich melden und mir eine Frage stellen. Ich
werde sie gern beantworten.
({5})
Im Sozial- und Erziehungsbereich kämpfen derzeit
Zehntausende in Tarifgemeinschaft mit den Gewerkschaften Verdi und GEW um neue Tarifverträge. Das ist
normal. Dazu braucht man kein Tarifeinheitsgesetz.
({6})
Bei der Post wehren sich die Beschäftigten mit
Streiks gegen Lohndumping. Denn ihre Verträge sollen
nur dann entfristet werden, wenn sie zu DHL Delivery
gehen und damit niedrigere Löhne akzeptieren. Denen
hilft ein Tarifeinheitsgesetz überhaupt nichts.
({7})
Ob in der Pflege, bei Amazon oder in den Kitas: Die
Leute haben die Schnauze voll und wollen für ihre
Rechte uneingeschränkt streiken. Uneingeschränkt! Die
Bundesregierung wollte mit Niedriglöhnen, Leiharbeit,
Befristungen und Hartz IV die Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer in den Betrieben einschüchtern, uns disziplinieren.
({8})
Das klappt nicht. Als Gewerkschafterin sage ich Ihnen:
Hören Sie endlich auf, einseitige Desinformation zu verbreiten und Stimmung gegen Streikende zu machen. Das
gilt für die Bahn und die Post.
({9})
Frau Nahles, Ihr Vorschlag für ein Tarifeinheitsgesetz
hat schon jetzt dazu beigetragen, das Klima im Land zu
vergiften.
({10})
Dabei wissen Sie ganz genau, dass hier nur noch jeder
Zweite überhaupt unter einen Tarifvertrag fällt. Wir erwarten, dass Sie OT-Mitgliedschaften verbieten und die
Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen endlich
noch weiter stärken.
({11})
Wenn es Ihnen gelingt, Ihr Tarifeinheitsgesetz durchzupeitschen, dann wird das der Anfang einer Reihe von
Verschlechterungen von Arbeitnehmerrechten sein.
Diese werden in der Folge kommen. Deshalb erwarte ich
von allen Gewerkschafterinnen und Gewerkschaftern,
die hier im Bundestag vertreten sind, egal ob SPD oder
CDU/CSU, dass Sie bei der namentlichen Abstimmung
mit Nein stimmen werden - gegen dieses Gesetz.
({12})
Stimmen Sie gegen dieses gewerkschaftsfeindliche Gesetz! Denn das, was hier passiert, ist eine absolute Katastrophe.
({13})
Stephan Stracke ist nun für die CDU/CSU-Fraktion
der nächste Redner.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Die Tarifautonomie ist ein hohes Gut. Sie zielt
darauf, dass die Koalitionen selbst und eigenverantwortlich die Wirtschafts- und Arbeitsbedingungen aushandeln. Sie sind für die Ordnung des Arbeitslebens zuständig. Wir gehen mit diesem hohen Gut nicht leichtfertig
um, sondern verantwortungsbewusst. Verantwortungsbewusstes Umgehen heißt, dass wir den gesetzlichen Rahmen des Tarifvertragsrechts um das Element der Tarifeinheit ergänzen. Jetzt gilt ein Nebeneinander von
Tarifverträgen für die gleichen Arbeitsgruppen. Früher
galt jahrzehntelang der Grundsatz: ein Betrieb, ein Tarifvertrag. Das war ein Grundpfeiler des deutschen Tarifrechts.
Herr Kollege Ernst, ich darf einmal aus einer Pressemitteilung zitieren:
Das Bundesarbeitsgericht hat einen Grundpfeiler
des deutschen Tarifrechts gekippt. Die Politik muss
jetzt umgehend reagieren und die Gesetzeslücke
schließen.
Dieses Zitat stammt aus einer Pressemitteilung von Ihnen, Herr Ernst, vom 23. Juni 2010.
({0})
Damals waren Sie Vorsitzender der Linken. Sie haben
damals die Tarifeinheit als Grundpfeiler des deutschen
Tarifrechts bezeichnet, zu Recht.
({1})
Ich darf weiter zitieren - ich bitte Matthäus Strebl
schon jetzt um Entschuldigung -:
Es darf nicht sein, dass etwa sogenannte Christliche
Gewerkschaften Gefälligkeitstarifverträge für ein
paar wenige abschließen und der ganze Betrieb darunter leiden muss. Das gefährdet den innerbetrieblichen Frieden und kann ganze Belegschaften spalten.
({2})
Ja, richtig. Genau deswegen machen wir die Tarifeinheit:
weil es um die Verteilungsgerechtigkeit in den Betrieben
geht, Herr Ernst.
({3})
Herr Kollege Stracke, darf Herr Kollege Ernst eine
Zwischenfrage stellen?
Ja.
Herr Kollege Stracke, es freut mich, dass Sie dies zitieren. Denn das gibt mir die Gelegenheit, den Unterschied
({0})
zwischen dem, was bis 2010 galt, und dem, was jetzt
gilt, aufzuzeigen. Aber das stört Sie offensichtlich nicht.
Was galt bis 2010? Bis 2010 galt der Tarifvertrag, der
von einer Hausgewerkschaft in dem jeweiligen Betrieb
abgeschlossen wurde. Die Rechtsauffassung ging davon
aus, dass die Hausgewerkschaft sozusagen näher am Betrieb war, und er galt auch dann, wenn es in dem Betrieb
einen weiteren Tarifvertrag einer größeren Gewerkschaft, zum Beispiel einen Flächentarifvertrag der IG
Metall, gab. Das heißt, ein Tarifvertrag einer kleineren
Gewerkschaft, der unterhalb des Niveaus eines anderen
lag, galt - und das ist der Unterschied -, ohne dass sich
die größere Gewerkschaft wehren konnte. Die große IG
Metall musste akzeptieren, dass eine Gewerkschaft ihre
Tarife unterbot und diese, obwohl sie schlechter waren,
für alle galten. Die Mitglieder selber konnten nicht entscheiden, in welche Gewerkschaft sie gehen wollten. Es
galt immer der Tarifvertrag der Gewerkschaft, die näher
am Betrieb war.
Was gilt seit 2010? Seit 2010 gilt das, was eigentlich
logisch richtig wäre. Wir sind durchaus für die Herstellung der Tarifeinheit, aber nicht mit einem Tarifvertragsgesetz, das dazu führt, dass der Tarifvertrag der einen
Gewerkschaft nicht mehr gilt. Das ist der Unterschied.
({1})
Genau das wollen Sie jetzt aber machen.
Habe ich noch eine Minute, Herr Präsident?
Nein, eigentlich nicht.
Okay. - Diesen Unterschied müssen Sie zur Kenntnis
nehmen. Wir wollen, dass das einzelne Mitglied selber
entscheiden kann, in die Gewerkschaft zu gehen, die
seine Interessen besser vertritt. Das ist alles.
({0})
Lieber Kollege Ernst, ich will Ihre Frage beantworten, und am besten lasse ich Sie selber antworten. Auch
hierzu gibt es eine Pressemitteilung von Ihnen, und zwar
vom 4. Juni 2010.
({0})
Ich zitiere:
Das Bundesarbeitsgericht will einen Grundpfeiler
des deutschen Tarifrechts kippen.
Das war vor der Entscheidung.
Die Initiative der DGB-Gewerkschaften kommt daher zum richtigen Zeitpunkt.
({1})
Im Weiteren führen Sie aus:
Die Initiative des DGB sieht dagegen vor, dass nur
der Tarifvertrag der mitgliederstärkeren Gewerkschaft zur Geltung kommt.
({2})
Das war Ihre Position 2010. Und jetzt stellen Sie sich
hin und vertreten etwas anderes. Das zeigt, wie Sie denken. Sie können sich wieder setzen. - Sie distanzieren
sich also von Ihrer eigenen Haltung. Das ist sehr bezeichnend.
Und weiter: Jetzt darf ich auf den 23. Juni zurückspringen. Ihre Pressemitteilungen sind ein Quell der
Freude.
({3})
Zitat:
Die Bundesregierung muss jetzt umgehend die vom
Bundessozialgericht aufgezeigte Gesetzeslücke
schließen.
Das haben wir, wenn auch nicht umgehend, hinbekommen; das tun wir hiermit.
Dazu hat der DGB einen entsprechenden Vorschlag
vorgelegt. Die Bundesregierung ist gut beraten, sich
diesen Vorschlag zu eigen zu machen, ansonsten
macht sie sich zum Drahtzieher der Lohndrücker
und Belegschaftsspalter.
Das haben Sie 2010 gesagt, Herr Ernst.
({4})
Genau das ist der Grund, warum wir sagen: Wir wollen nicht Eliten Schlüsselpositionen bei der Verteilung
von Betriebsvermögen und dessen, was erwirtschaftet
worden ist, verschaffen, sondern wir wollen eine faire
Verteilung des Erwirtschafteten.
({5})
Das ist das Prinzip, das wir umsetzen wollen.
Sie predigen immer, gerade unsere Kollegen der SPD
müssten Rückgrat zeigen. Heute reden Sie ganz anders.
Heute reden Sie genau denen das Wort, die Sie damals
als Lohndrücker und Belegschaftsspalter bezeichnet haben.
({6})
Ich finde, das ist keine konsequente Haltung. Das hat
nichts mit seriöser Politik zu tun. Wollen Sie, Herr Ernst,
denn nicht als ernsthafter Politiker wahrgenommen werden?
({7})
- Bitte schön.
Nein, nein. So reizvoll das jetzt ist - wir haben uns zu
Beginn darauf verständigt, eine 60-minütige Debatte zu
führen. Das werden wir unter Berücksichtigung der angemeldeten Redezeit ohnehin nicht mehr realisieren
können. Ich bitte um Nachsicht, dass ich jetzt, so reizvoll
sich das auch aus der Perspektive des Präsidiums darstellt,
({0})
eine Fortsetzung dieses Dialogs nicht erlaube.
({1})
Bitte, Herr Kollege.
Das muss ich zur Kenntnis nehmen, finde es aber bedauerlich, Herr Präsident.
({0})
Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen, dann
wird auch die Süddeutsche Zeitung bemüht. Es wird zitiert, dass es sich um eine Einschränkung des Streikrechts handele. Ich darf Ihnen hierzu aus dem Gesetzentwurf vorlesen. In der Begründung steht - Zitat -:
Die Regelungen zur Tarifeinheit ändern nicht das
Arbeitskampfrecht. Über die Verhältnismäßigkeit
von Arbeitskämpfen, mit denen ein kollidierender
Tarifvertrag erwirkt werden soll, wird allerdings im
Einzelfall im Sinne des Prinzips der Tarifeinheit zu
entscheiden sein. Der Arbeitskampf ist Mittel zur
Sicherung der Tarifautonomie. Der Arbeitskampf
dient nicht der Sicherung der Tarifautonomie, soweit dem Tarifvertrag, der mit ihm erwirkt werden
soll, eine ordnende Funktion offensichtlich nicht
mehr zukommen würde, weil die abschließende
Gewerkschaft keine Mehrheit der organisierten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Betrieb haben würde.
Das ist die Gesetzesbegründung. Sie behaupten jetzt,
dass die Situation gänzlich neu wäre. Aber seit Dezember 2014 liegt dieser Gesetzentwurf auf dem Tisch. Ich
kann es nachvollziehen: Wer nicht lesen kann und will,
der ist natürlich nicht im Vorteil.
({1})
- Liebe Frau Kollegin, Sie haben um entsprechende
Nachhilfe vonseiten der Bundesregierung nachgesucht
und gebeten, dass man erklärt und vorgelesen bekommt,
was tatsächlich im Gesetzentwurf steht.
({2})
Es gibt keine Regelung zum Arbeitskampfrecht. Die
sehen wir gerade nicht vor. Vielmehr muss der Arbeitskampf weiterhin verhältnismäßig sein. Es ist Aufgabe
der Arbeitsgerichte, zu bewerten, ob dies der Fall ist.
Maßgebend ist dabei der Zeitpunkt des Tarifabschlusses.
Hier muss die jeweilige Gewerkschaft sicherstellen, dass
sie die relative Mehrheit im Betrieb hat. Alles andere ist
eine Aufgabe der Gerichte, insbesondere die Berücksichtigung der Verhältnismäßigkeit. Es ist also eine Mär,
die hier erzählt wird, und Sie tun etwas, das einem Trauerspiel gleicht: Sie ziehen etwas hoch und bezeichnen es
als Einschränkung der Freiheit, aber das ist nicht der
Fall.
Mit diesem vorgelegten Tarifeinheitsgesetz sorgen
wir dafür, dass der Grundsatz „ein Betrieb, ein Tarifvertrag“ nach dem betrieblichen Mehrheitsbegriff wieder
Geltung erreicht. Das ist gut, weil wir damit denjenigen,
die ihre Schlüsselpositionen ausnutzen wollen, einen
wirksamen Riegel vorschieben. Ich halte das im Sinne
des Betriebsfriedens für richtig.
Deswegen bedanke ich mich ganz herzlich für die
Aufmerksamkeit und bitte um Zustimmung zu diesem
Gesetz.
Herzliches Dankeschön.
({3})
Die Kollegin Müller-Gemmeke hat nun das Wort für
die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Es ist schon irgendwie absurd: Am
Mittwoch, nach den Sitzungen der Ausschüsse, will es
keiner der Kollegen auf den Gängen so recht gewesen
sein. Das mit der gesetzlichen Tarifeinheit stand halt so
im Koalitionsvertrag. Sogar von der CDU hört man
nachdenkliche und kritische Töne.
({0})
Die SPD hingegen wird wohl nachher das Gesetz geschlossen unterstützen. Das ist und bleibt für mich nicht
nachvollziehbar.
({1})
Wir Grünen stehen bei diesem Thema weder auf der
Seite der großen Gewerkschaften noch auf der Seite der
kleinen Gewerkschaften. Vielmehr stehen wir ganz eindeutig auf der Seite der Verfassung.
({2})
Deshalb lehnen wir die gesetzliche Tarifeinheit strikt ab.
({3})
Die Gründe: Erstens. Für uns ist das Gesetz ganz klar
ein Angriff auf das Streikrecht. Bei der Anhörung zum
Gesetzentwurf wurde ja auch munter über das Streikrecht diskutiert. Manche forderten sogar unverblümt
noch weitere, größere Einschnitte in das Streikrecht. Das
ging mir persönlich ziemlich unter die Haut; denn das
Streikrecht ist ein hohes Gut. Es ist das einzige Mittel,
damit Gewerkschaften auf Augenhöhe Tarifverträge verhandeln können. Natürlich kann ein Streik zukünftig als
nicht verhältnismäßig beurteilt werden, wenn später ein
Tarifvertrag verdrängt wird. Das habe ich ja mittlerweile
auch auf Papier, also schwarz auf weiß. Damit ist ganz
klar: Beim Streikrecht wird die Öffentlichkeit ganz bewusst getäuscht. Das geht überhaupt nicht.
({4})
Zweitens. Die Tarifpluralität, die Tarifvielfalt, steht in
unserer Verfassung; denn jedermann und jede Berufsgruppe hat das Recht, sich in Gewerkschaften zu organisieren und Tarifverträge zu verhandeln. Auch das Bundesarbeitsgericht hat 2010 entschieden, dass der Zwang
zur Tarifeinheit mit Artikel 9 Absatz 3 Grundgesetz
nicht vereinbar sei. Dennoch soll jetzt dieses Grundrecht, dieses Freiheitsrecht, per SPD-Gesetz eingeschränkt werden.
({5})
Wir Grünen nehmen aber die Koalitionsfreiheit ernst;
denn sie gehört immerhin zu den Grundprinzipien unserer Demokratie.
({6})
Drittens. Das Gesetz verschärft den Kampf um Mitglieder. Auf eine Kleine Anfrage dazu hat das Ministerium lapidar geantwortet, es sei „nicht ungewöhnlich,
dass eine Gewerkschaft durch eine attraktive Tarifpolitik
versucht, Mitglieder zu gewinnen“. Hallo? Wie blauäugig kann man eigentlich sein? Wenn sich die Politik einmischt und anfängt, zwischen erwünschten und nicht erwünschten Gewerkschaften zu unterscheiden, und per
Gesetz Tarifverträge verdrängt, dann befeuert das natürlich zwangsläufig die Konkurrenz zwischen den Gewerkschaften. Mit der gesetzlichen Tarifeinheit gefährden Sie die vielen bisherigen Kooperationen, und es
entsteht nicht Solidarität, sondern Häuserkampf. Nehmen Sie das endlich zur Kenntnis.
({7})
Und viertens. Das Gesetz ist und bleibt handwerklich
schlecht. Wenn ein Gesetz so tief in die Tarifautonomie
eingreift, dann müssten Sie zumindest für Rechtssicherheit sorgen. Das Gegenteil ist aber der Fall. Professor
Däubler hat das bei der Anhörung wunderbar auf den
Punkt gebracht. Er sagte: Das Gesetz ist ein Beschäftigungsprogramm für Juristen, Rechtsanwälte, Richter,
Gewerkschaften und Kommentatoren. - Das ist leichtfertig; denn das Gesetz provoziert vielfältige neue
Rechtsstreitigkeiten. Verantwortung sieht anders aus.
({8})
Sehr geehrte Regierungsfraktionen, auch wir Grünen
fordern von allen Gewerkschaften Solidarität und Kooperation. Aber beides lässt sich nicht verordnen und
schon gar nicht gesetzlich erzwingen. Das ist auch nicht
Aufgabe der Politik, sondern Aufgabe der Gewerkschaften. Wenn Sie das alles nicht überzeugt, dann hören Sie
doch zumindest auf Heiner Geißler; denn er bezeichnet
das Gesetz als eine „Frechheit“. Dem schließen wir uns
voll und ganz an.
Vielen Dank.
({9})
Ralf Kapschack ist der nächste Redner für die SPDFraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Zuschauer! Es gibt eine alte Journalistenweisheit,
die lautet: Recherche macht die schönste Geschichte kaputt.
({0})
Ich habe den Eindruck, diese Weisheit hat auch in diesem Hohen Hause eine Menge Anhänger, vor allen
Dingen bei der Opposition. In der Debatte über das Tarifeinheitsgesetz ist von der Opposition immer wieder
behauptet worden, auch in der heutigen Diskussion, der
Gesetzentwurf sei verfassungswidrig, weil er massiv in
das Streikrecht eingreife.
({1})
Ich finde es schon bemerkenswert, mit welcher
Selbstsicherheit Linke und Grüne diese Frage schon beantwortet haben. Es gibt in unserem Staat ein klares Verfahren, wie Verfassungswidrigkeit festgestellt wird,
nämlich allein vom Verfassungsgericht in Karlsruhe und
nirgendwo sonst.
({2})
Die Behauptung, die Regierung habe bewusst einen verfassungswidrigen Gesetzentwurf vorgelegt, wäre wirklich eine Beleidigung, wenn man sie ernst nähme. Das
tue ich aber nicht.
Die Anhörung Anfang des Monats hat für mich gezeigt: Dieses Gesetz ist sehr wohl mit der Verfassung
vereinbar. Der Gesetzgeber nutzt jetzt seinen Spielraum,
nicht mehr und nicht weniger. Man muss diese Argumente ja nicht unbedingt teilen; aber man sollte sie wenigstens zur Kenntnis nehmen.
({3})
Zum Eingriff in das Streikrecht gab es bei der Anhörung einen, wie ich finde, bemerkenswerten Beitrag des
Vertreters der Arbeitsrichter, Herrn Vetter. Die Arbeitsgerichte entscheiden ja über die Zulässigkeit und über
die Verhältnismäßigkeit von Streiks. Herr Vetter hat ausgeführt, dass seine Kolleginnen und Kollegen Arbeitsrichter auch in Zukunft kaum zustimmen werden, wenn
versucht wird, einen Streik per einstweiliger Verfügung
zu verbieten. Insofern kann von einem massiven Eingriff
in das Streikrecht überhaupt nicht die Rede sein.
({4})
Die Grundbotschaft dieses Gesetzes ist: Ein Betrieb,
ein Tarifvertrag. - Das galt bis 2010. So wird sichergestellt, dass zwei Personen für die gleiche Arbeit nicht unterschiedlich entlohnt werden, nur weil sie verschiedenen Gewerkschaften angehören. Es wird auch in Zukunft
ohne Probleme möglich sein, dass Gewerkschaften ihre
Zuständigkeit abstimmen und gemeinsam einen Tarifvertrag verhandeln. Insofern ist dieses Gesetz eine Aufforderung zur Kooperation
({5})
und nicht zum Kampf von Gewerkschaften gegeneinander. Deshalb ist dieses Gesetz eben keine Schwächung
der Gewerkschaften; sonst wäre die große Mehrheit im
Deutschen Gewerkschaftsbund nicht dafür,
({6})
und sonst hätte auch der Chef des DGB, Reiner
Hoffmann, das in der Anhörung nicht noch einmal ausdrücklich betont.
({7})
Richtig ist aber auch: Wer für Tarifeinheit ist, muss
sich auch dafür einsetzen, dass die Flucht von Unternehmen aus Tarifverträgen ein Ende hat.
({8})
Denn das ist das Gegenteil von „Ein Betrieb, ein Tarifvertrag“. Das ist: Ein Betrieb, kein Tarifvertrag.
Herr Kollege, lassen Sie eine Zwischenfrage zu?
Aber selbstverständlich.
Vielen Dank, Herr Kollege, für die Zulassung der
Zwischenfrage. - Würden Sie mir recht geben, dass
Streiken nicht unbedingt ein Selbstzweck ist? Man
streikt nicht, um zu streiken, sondern ein Streik hat einen
bestimmten Sinn und einen Zweck, nämlich einen Lohntarif auszuhandeln. Wenn eine Gewerkschaft nicht die
Mehrheit hat, wird sie auch keinen Lohntarif aushandeln
können, und dann wird ein Streik zwangsläufig immer
unverhältnismäßig sein, weil er gar nicht dazu geeignet
ist, einen Lohntarif herbeizuführen. Wenn ich also nicht
für den Lohn verhandeln kann, weil ich nicht die Mehrheit hinter mir habe, kann ich am Ende nicht streiken. Ist
es nicht so?
Das ist das, was ich eben mit „Recherche macht die
schönste Geschichte kaputt“ meinte. Ich verlasse mich
da weniger auf Spekulation und auf mein Gefühl, sondern mehr auf das, was die Praktiker sagen.
({0})
Ich habe Ihnen eben berichtet, was der Vertreter der Arbeitsrichter, der, glaube ich, besser Bescheid weiß als wir
beide zusammen, gesagt hat. Die Arbeitsgerichte werden
auch in Zukunft sehr zurückhaltend sein, was das Verbot
von Streiks angeht. Ich glaube, da sollten wir einmal abwarten, was passiert, und nicht im Vorhinein eine Apokalypse heraufbeschwören.
({1})
Ich würde aber gerne noch meinen Gedanken zu Ende
führen. Ich habe gesagt: Wer für Tarifeinheit ist, muss
auch die Flucht aus Tarifverträgen stoppen. Die Unterstützung für das Tarifeinheitsgesetz durch die Arbeitgeberverbände wäre glaubwürdiger, wenn mit der gleichen
Energie gegen die Flucht aus bestehenden Tarifverträgen
gearbeitet würde.
({2})
Stattdessen wird immer mehr Unternehmen die Mitgliedschaft ohne tarifpolitische Verpflichtung ermöglicht. Deshalb wollen wir - auch mit der Neuregelung
der Allgemeinverbindlichkeitserklärung von Tarifverträgen im vergangenen Jahr - erreichen, dass das Arbeitsleben
wieder gemeinsam mit Gewerkschaften und Arbeitgebern
gestaltet wird. Auch das gehört zur neuen Ordnung auf
dem Arbeitsmarkt, die wir dringend brauchen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({3})
Nächster Redner ist der Kollege Rudolf Henke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Es scheint hoch herzugehen,
ob recherchiert wird oder nicht recherchiert wird. Von
Schmarotzern und Spaltern war die Rede. Lieber
Stephan, ich finde, man muss bei der Sprache zurückhaltend sein, wenn man sagt: „Wir lassen das Streikrecht
unangetastet“, wenn man sagt, Frau Ministerin: Wir lassen die Koalitionsfreiheit unangetastet. - Dann darf hier
aber auch kein Klima entstehen, in dem denen, die von
der Koalitionsfreiheit Gebrauch machen, unterstellt
wird, sie seien Spalter und Schmarotzer. Dann geht es
schon gar nicht, wie ich finde, dass jemand aus der
Union die Sprache der Kommunisten übernimmt.
({0})
Wenn es einer Gewerkschaft erlaubt ist, ihre gewerkschaftlichen Aufgaben und Ziele durch einen Tarifvertrag zu verwirklichen, zu dessen Abschluss der Arbeitgeber notfalls durch Streik veranlasst werden soll, dann
kann der Arbeitgeber einem solchen Streik die Legitimität nicht dadurch nehmen, dass er sich anderweitig
Dritten gegenüber verpflichtet oder verpflichtet hat, einen solchen Tarifvertrag nicht abzuschließen. - Das ist
ein Satz, der vom 1. Senat des Bundesarbeitsgerichts
am 4. Mai 1955 gesprochen wurde, Aktenzeichen
1 AZR 493/54. Das war nach der Entscheidung von
Nipperdey. Dieser Satz belegt, dass die Tarifpluralität
der Normalfall ist, und zwar nach der Beurteilung des
Bundesarbeitsgerichtes seit 1955. Tarifpluralität herrscht
natürlich seit langer Zeit. Sie gibt es bereits so lange,
dass sie zur gewerkschaftlichen Tradition Deutschlands
gehört.
Wir als Marburger Bund gehören zu den Organisationen, von denen gesagt wird: Ihr habt eine Schlüsselrolle
inne; ihr nehmt euch mehr heraus. - Wir haben eigenständig Tarifverträge mit Rehakliniken abgeschlossen.
Wo war das Problem? Wir haben gemeinsam mit der
DAG verhandelt und dann später Verdi gebeten, Tarifverträge für uns zu machen. Das Ergebnis war über
lange Zeit gut. Aber dann ist irgendwann ein Punkt gekommen, an dem man beim Wechsel vom Bundesangestelltentarifvertrag auf den Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst gesagt hat: Schluss jetzt damit! - Man hat
gesagt: Wir nehmen den Ärzten - auf ihr Berufsleben
betrachtet - 100 000 Euro weg. - Daraufhin hat man sich
gewehrt. Man hat sich das Grundgesetz genau angeschaut und die Bestätigung gefunden, dass es kein
Schmarotzertum und keine Spalterei ist, wenn man ein
Grundrecht wahrnimmt. Natürlich hat man die Möglichkeit, sich auf die Koalitionsfreiheit zu berufen. Die Koalitionsfreiheit besagt: Jedermann und alle Berufe können Einfluss auf die Gestaltung ihrer Tarifverträge
nehmen. Jedermann und alle Berufe haben das Recht, zu
streiken, wenn es denn notwendig ist.
({1})
Ich finde, es ist besser, zu gemeinsamen Lösungen zu
kommen. Aber gemeinsame Lösungen setzen Vertrauen
und Freiwilligkeit voraus. Wenn diese Freiwilligkeit
nicht gegeben ist, dann leben wir unter einem Zwang.
Das ist doch das Problem.
({2})
Natürlich hat Tarifgemeinsamkeit einen hohen Wert.
Aber sie ist wertlos, wenn sie erzwungen wird. Sie wird
erzwungen, wenn man zu einem Tarifvertrag nur dann
kommen kann, wenn man sich mit der Mehrheit einverstanden erklärt.
({3})
Weil die Koalitionsfreiheit ein verbrieftes Grundrecht ist
- genauso wie die Religionsfreiheit, die Meinungsfreiheit, die Versammlungsfreiheit, das Post- und Fernmeldegeheimnis sowie die Freizügigkeit -, kann man dieses
Grundrecht doch nicht, verehrte Frau Ministerin, unter
Mehrheitsvorbehalt stellen.
({4})
Wo kommen wir denn hin, wenn wir ein Grundrecht unter Mehrheitsvorbehalt stellen? Ein Grundrecht unter
Mehrheitsvorbehalt ist ein Grundrecht nach Gusto der
Mehrheit. Aber Grundrechte stehen allen Menschen in
gleicher Weise zu, ob sie Minderheiten sind, ob sie
Schmarotzer oder Spalter sind, ob sie Mitglied bei der
CDU, den Grünen oder Kommunist sind. Grundrechte
stehen allen Menschen in gleicher Weise zu.
({5})
Deswegen kann man sie nicht unter Mehrheitsvorbehalt
stellen.
({6})
Wer sie unter Mehrheitsvorbehalt stellt, der schafft sie
ab.
Lieber Kollege Henke.
- Ja - Insofern, liebe Kolleginnen und Kollegen,
möchte ich mich - das ist mir wichtig, weil ich dich, lieber Stephan, zu hart angegangen bin -, vor diesem Haus
für die Entgleisung, die mir am Anfang unterlaufen ist,
bei dir in aller Form entschuldigen.
({0})
Das alles ist mir ein bisschen durchgegangen. Das liegt
auch daran, dass ich in einer CDU-Dokumentation über
den MSB Spartakus von 1978 - ich bin halt aus dieser
Zeit - Folgendes gelesen habe:
Das Streikrecht ist insofern kein Recht, das den
Werktätigen in der DDR fehlt, sondern ist eine mit
der Errichtung der Arbeiter- und Bauernmacht historisch überholte Form des Kampfes der Arbeiterklasse für ihre Interessen.
Weil ich dieses Denken immer für falsch gehalten habe,
fange ich an, schon auf Spuren dieses Denkens hochallergisch zu reagieren.
({1})
Ich entschuldige mich in aller Form dafür.
Aber für unser freies Deutschland muss gelten: Ein
Grundrecht darf nicht unter Mehrheitsvorbehalt gestellt
werden.
({2})
Deswegen, liebe Kolleginnen und Kollegen in der
Union, machen Sie es wie ich: Stimmen Sie gegen dieses
Gesetz.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
({3})
Lieber Kollege Henke, Ihr Beitrag in dieser Debatte
und der 50-prozentige Redezeitzuschlag durch den amtierenden Präsidenten sind ein schöner Beleg dafür, dass
in diesem Haus Minderheitenrechte nicht unter Mehrheitsvorbehalt stehen.
({0})
Nun hat der Kollege Wilfried Oellers für die CDU/
CSU-Fraktion das Wort.
({1})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wie
Sie gerade gemerkt haben, wird dieses Thema natürlich
auch in unserer Fraktion intensiv diskutiert; auch dort
gibt es durchaus unterschiedliche Meinungen. Die Diskussion ist insgesamt sehr intensiv; schließlich haben
wir es mit einem sehr wichtigen Thema zu tun.
Ich möchte kurz erwähnen, dass mein Vorredner nicht
die Sprache des Kollegen der Linken, des Herrn Ernst,
übernommen hat, sondern er hat lediglich zitiert und entsprechende Widersprüche in seinen Diskussionsbeiträgen aufgezeigt. Ich denke, das geschah in sehr beeindruckender Weise, und es war auch gut, dass das in diesem
Haus einmal klargestellt wird.
({0})
Die Diskussion ist schon weit fortgeschritten. Ich
möchte sie auf einige Kernpunkte reduzieren. Betonen
möchte ich dabei insbesondere, dass es bei diesem Gesetz darum geht, die Solidarität der Belegschaft in den
Betrieben zu stärken und die Befriedungsfunktion und
die Ordnungsfunktion, die der Grundsatz der Tarifeinheit mit sich bringen soll, auch zu erfüllen. Die klare
Botschaft, die von diesem Gesetz ausgeht, heißt eigentlich nur: Einigt euch.
({1})
Das ermöglicht dieses Gesetz auch.
({2})
Es kann nicht zu viel verlangt sein, dass man bei Kollisionen einen entsprechenden Einigungsaufruf formuliert.
({3})
Dieser Aufruf darf auch präventiv erfolgen.
Zu betonen ist ja auch, dass die Auflösung dieser Tarifkollisionen durch den Grundsatz der Tarifeinheit eben
nur subsidiär gilt. Dadurch wird wieder deutlich, dass
den Möglichkeiten Raum gelassen wird, die Kollisionen
untereinander zu regeln. Sie wissen alle, was im Gesetz
steht: dass man selber Zuständigkeiten abstimmen kann,
dass man auch Tarifgemeinschaften bilden kann, dass
unterschiedliche Gewerkschaften mit dem Arbeitgeber
gleiche Tarifverträge abschließen. All diese Möglichkeiten gibt es, und sie werden natürlich heute schon genutzt; das ist richtig. Aber auch das zeigt, dass die Ansätze, die das Gesetz enthält, richtig sind.
({4})
Es muss auch festgehalten werden, dass die letztliche
Überprüfung, ob ein Streik verhältnismäßig ist oder
nicht, weiterhin den Gerichten obliegt. Diese werden wie
bisher sehr sorgfältig abwägen und dabei alle Umstände
berücksichtigen.
Lassen Sie mich kurz auf einige Bedenken eingehen,
die hier geäußert wurden:
Ein Punkt war die Befürchtung, das Gesetz werde die
bisherigen Kooperationen infrage stellen. In meinen Augen ist eher das Gegenteil der Fall: Kooperationen werden weiterhin möglich sein. Meine Vorhersage ist, dass
es die Gewerkschaften eher nicht auf eine Auszählung
ihrer Mitglieder in den Betrieben ankommen lassen werden, sondern dass sie sich im Konfliktfall zusammensetzen und einigen werden. Das ist genau das, was wir
möchten.
({5})
Wenn es allerdings - auch das gebe ich zu bedenken tatsächlich einmal dazu kommen sollte, dass eine bisherige Kooperation auf der Grundlage dieses Gesetzes aufgekündigt wird, dann muss man sich schon einmal die
Frage stellen, inwieweit die bisherige Zusammenarbeit
aufrichtig war.
Ein weiterer Punkt war die Sorge, dass es zu einem
Kampf der Gewerkschaften um Mitglieder kommen
wird. Ich habe eigentlich immer gedacht, die Gewerkschaften wären über viele Mitglieder froh. Wenn das Gesetz tatsächlich dazu aufrufen würde, neue Mitglieder zu
werben, müsste das doch eigentlich im Interesse der Gewerkschaften sein.
Ein anderer Punkt war die Befürchtung, dass die
Spartengewerkschaften untergehen könnten. Diese Problematik sehe ich, ehrlich gesagt, nicht. Alle Spartengewerkschaften sind vor 2010 gegründet worden, also bei
Geltung des Grundsatzes der Tarifeinheit, und sie bestehen bis heute. Deswegen kann der Grundsatz der Tarifeinheit sicherlich nicht dazu führen, dass Spartengewerkschaften untergehen.
Ich möchte noch einiges zur Verfassungsmäßigkeit
sagen, da auch dies angesprochen worden ist. Ja, die Tarifautonomie ist in Artikel 9 Absatz 3 des Grundgesetzes
geregelt. Allerdings gibt es keinen Schrankenvorbehalt,
zumindest nicht nach der Formulierung des Grundgesetzes. Man muss jedoch auch festhalten, dass kein Grundrecht schrankenlos ist und dass jedes Grundrecht immer
im Lichte der anderen Grundrechte ausgelegt werden
muss. Genau dies hat das Bundesverfassungsgericht im
Hinblick auf Artikel 9 Absatz 3 des Grundgesetzes in
der Vergangenheit gemacht. Ich darf aus einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahre
1995 zitieren:
Das Grundrecht der Koalitionsfreiheit bedarf der
Ausgestaltung durch die Rechtsordnung, soweit es
die Beziehungen zwischen Trägern widerstreitender
Interessen zum Gegenstand hat.
Das heißt, das Bundesverfassungsgericht hat dem Gesetzgeber die Ausgestaltung des Grundrechts nach Artikel 9 Absatz 3 ins Aufgabenbuch geschrieben. Hierauf
haben auch mehrere Sachverständige in der Anhörung
hingewiesen.
Einen Augenblick, Herr Kollege. - Darf ich die Kolleginnen und Kollegen, die der Debatte erkennbar nicht
folgen, wohl aber auf die namentliche Abstimmung warten, Frau Kollegin Künast und andere, bitten, die Gespräche am Rande des Plenums fortzusetzen, aber nicht
demonstrativ mittendrin? Das, finde ich, geht ein bisschen zu weit.
({0})
Herr Kollege Oellers.
Ich darf das Bundesverfassungsgericht insoweit weiterhin anführen, als eben diese Ausgestaltung im Lichte
und unter Berücksichtigung des Gemeinwohls und der
Wiederherstellung gestörter Paritäten erfolgen kann.
Deswegen hat das Bundesverfassungsgericht eindeutig
geschrieben, dass eine Ausgestaltung des Artikels 9 Absatz 3 des Grundgesetzes durchaus möglich ist.
({0})
Dass es natürlich in der Frage der Verfassungsmäßigkeit unterschiedliche Ansichten gibt, haben wir nicht nur
heute erlebt, sondern das haben wir auch in der öffentlichen Anhörung erlebt. Aber ich möchte auch betonen,
dass es in der öffentlichen Anhörung vehemente Befürworter dieses Gesetzes gab. Das soll hier nicht unterschlagen werden.
Ich möchte zum Abschluss kurz erwähnen, dass der
Verfassungsmäßigkeit des Gesetzentwurfes seitens der
verschiedenen Ressorts, also auch des BMAS, und des
Bundesrates zugestimmt worden ist. Im Ergebnis verabschieden wir heute, denke ich, kein verfassungswidriges
Gesetz. Ich bitte daher ebenfalls um Zustimmung.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({1})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Tarifeinheit.
({0})
- Wir haben noch eine Abstimmung durchzuführen, be-
vor es an die Urnen geht. Insofern besteht kein Anlass
zur Panik. - Der Ausschuss für Arbeit und Soziales emp-
fiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf
der Drucksache 18/4966, den Gesetzentwurf der Bun-
desregierung auf Drucksache 18/4062 anzunehmen. Ich
bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wol-
len, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich der Stimme? - Damit ist der Gesetzentwurf
in zweiter Beratung mit großer Mehrheit gegen die Stim-
men der Opposition und einzelne Stimmen aus den Rei-
hen der CDU/CSU-Fraktion angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung.
Wir stimmen nun über den Gesetzentwurf auf Verlan-
gen der Fraktion Die Linke namentlich ab. Ich darf die
Schriftführerinnen und Schriftführer bitten, die vorgese-
henen Plätze einzunehmen. - Sind alle Plätze an den Ur-
nen besetzt? - Das ist offensichtlich der Fall. Dann er-
öffne ich die Abstimmung über den Gesetzentwurf.
Ist ein Mitglied des Hauses im Saal, das seine Stimm-
karte noch nicht abgegeben hat? - Das ist nicht der Fall.
Dann schließe ich die Abstimmung und bitte die Schrift-
führerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu
beginnen. Das Ergebnis der Abstimmung wird Ihnen
später bekannt gegeben. 1)
Ich weise darauf hin, dass es eine ganze Reihe von
persönlichen Erklärungen zur Abstimmung gegeben hat,
die wir, wie üblich, dem Protokoll beifügen.2)
Wir setzen die Abstimmung zu den Beschlussempfehlungen des Ausschusses für Arbeit und Soziales auf der
Drucksache 18/4966 fort.
Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der
Fraktion Die Linke auf der Drucksache 18/4184 mit dem
Titel „Tarifautonomie stärken - Streikrecht verteidigen“.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist die Beschlussempfehlung mit den Stimmen der Koalition angenommen.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe c
seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf der Drucksache
18/2875 mit dem Titel „Solidarität im Rahmen der Tarifpluralität ermöglichen - Tarifeinheit nicht gesetzlich regeln“. Wer stimmt dieser Beschlussempfehlung zu? Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Auch hier ist
mit der gleichen Mehrheit wie zuvor gegen die Stimmen
der Opposition die Beschlussempfehlung angenommen.
Damit sind wir am Ende dieses Tagesordnungspunktes.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 28 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Bekämpfung von Doping im Sport
Drucksache 18/4898
Überweisungsvorschlag:
Sportausschuss ({1})
Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Gesundheit
1) Ergebnis Seite 10249 C
2) Anlagen 2 und 3
Präsident Dr. Norbert Lammert
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 96 Minuten vorgesehen. - Ich sehe keinen Widerspruch. Also können wir so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Bundesinnenminister Thomas de Maizière.
({2})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wettstreit
gibt es nicht nur in Tarifkonflikten; auch im Sport bewegt Wettstreit viele Millionen Menschen. Großer Sport
begeistert uns alle. Gute Sportler sind Vorbilder in unserer Gesellschaft. Wir sind auch ein bisschen stolz, wenn
unsere Sportler auf dem Siegerpodest oben stehen.
({0})
Der Spitzensport in Deutschland wird zu einem erheblichen Teil mit Steuermitteln gefördert. Deswegen
haben wir alle einen Anspruch darauf, dass der Spitzensport und die Wettkämpfe ohne manipulative Einflüsse
bleiben. Wir wollen, dass sich jeder darauf verlassen
kann, dass Sportwettbewerbe fair verlaufen. Wir wollen
überall ehrlichen Sport. Wir haben uns in der Koalition
deswegen darauf verständigt, dass wir dieses Ziel einerseits mit der Bekämpfung von Doping und andererseits
mit dem Kampf gegen Spielmanipulation verfolgen werden.
Mit dem heute vorgelegten Entwurf eines Gesetzes
zur Bekämpfung von Doping im Sport machen wir den
ersten Schritt. Dieser Gesetzentwurf ist kurz, klar, hart
und wirksam. Mein Kollege Maas wird in seiner Rede
den Schwerpunkt auf das Strafrecht legen. Deswegen
will ich als Sportminister einige Anmerkungen machen.
Wir lassen die Sportverbände und die Nationale Anti
Doping Agentur, NADA, bei der Bekämpfung von Doping nicht allein. Ich will das an drei Punkten deutlich
machen:
Erstens. Wir schaffen Regelungen zum Informationsaustausch zwischen staatlichen Ermittlungsbehörden
und der Nationalen Anti Doping Agentur. Das klingt irgendwie selbstverständlich; aber weil die NADA eine
privatrechtliche Stiftung ist, ist es nötig, den Informationsaustausch zwischen ihr und den staatlichen Ermittlungsbehörden zu regeln. Mit der neuen Regelung geben
wir der NADA die Möglichkeit, einfacher und besser an
die Informationen zu kommen, die sie für ihre Arbeit
braucht. Gerichte und Staatsanwälte sollen der NADA
von sich aus Auskünfte und Hinweise geben können,
wenn das für die Bekämpfung von Doping erforderlich
ist. Damit helfen wir der NADA bei den Ermittlungen
und unterstützen ihre Arbeit für einen sauberen Sport.
Zweitens. Wir beseitigen Zweifel am Datenschutz in
unserem Kontrollsystem. Die NADA braucht Daten der
Sportler, beispielsweise um Listen über ihre Kontrollen
zu führen. Wir beseitigen jetzt Bedenken, die es darüber
gibt, ob eine Einwilligung des Sportlers dafür ausreicht,
und schaffen eine eigene Regelung, eine eigene Rechtsgrundlage, die das Dopingkontrollsystem auch beim
Thema Datenschutz absichert.
Drittens - dieser Punkt ist mir besonders wichtig das klare Bekenntnis zur Schiedsgerichtsbarkeit der
Sportverbände. Wir stellen mit dem Gesetzentwurf erstmals klar, dass die Sportgerichtsvereinbarungen von
Sportverbänden mit den Sportlern grundsätzlich zulässig
sind. Wir regeln, dass die Schiedsgerichte rechtsstaatlichen Anforderungen genügen müssen, und gehen damit
auf Bedenken ein, die es wegen ihrer Zusammensetzung
oder wegen des Grundsatzes der Öffentlichkeit gegeben
hat und die auch das Oberlandesgericht München in seiner Entscheidung zum Fall Pechstein angesprochen hat.
Wir wollen, dass Streitigkeiten zwischen Sportlern
und Sportverbänden auch weiterhin vor ein einheitliches
Sportgericht kommen. Wenn ein Sportler gedopt wird,
muss das harte und schnelle Konsequenzen haben, insbesondere kurz vor Wettkämpfen. Das Strafrecht ist
langsamer als das Sportrecht. Wir wollen aber auch keinen Flickenteppich von Dopingsperren. Mit den Regelungen der WADA, der internationalen Antidopingorganisation, haben wir zwar ein gemeinsames Regelwerk.
Das muss aber auch einheitlich ausgelegt werden, und
ohne die Schiedsgerichte wäre das nicht mehr gewährleistet. Einzelfallentscheidungen nationaler Gerichte mit
unterschiedlichen Ergebnissen würden an ihre Stelle treten. Ich möchte mir keinen Spitzensport vorstellen, in
dem sich Sportler miteinander messen, die in einigen
Ländern wegen Dopings gesperrt sind, in anderen aber
nicht.
({1})
Was wir brauchen, sind schnelle, einheitliche und vor allem international bestandskräftige Entscheidungen. Deswegen ist es richtig - das teilen wir ausdrücklich mit
dem Deutschen Olympischen Sportbund -, weiterhin auf
die Sportgerichtsbarkeit zu setzen. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf stärken wir die Schiedsgerichte, ohne
die Reformen zu vergessen, die es dort allerdings auch
braucht.
({2})
Meine Damen und Herren, das Doping werden wir
mit diesen Maßnahmen nicht vollständig beseitigen. Wie
in anderen Bereichen der Kriminalität ist das auch hier
nicht möglich. Wir schärfen aber die Instrumente zur Bekämpfung des Dopings im Sport. Das sind wir vor allem
den ehrlichen Sportlerinnen und Sportlern schuldig.
Genauso wichtig wie die Bekämpfung des Dopings
ist der Kampf gegen Spielmanipulation; ich habe es eingangs gesagt. Dort haben wir es teilweise mit weltweit
operierenden Täternetzwerken der organisierten Kriminalität zu tun. Diese Kriminellen wollen die Leistungen
von Athleten und den fairen Wettkampf mit Geld kaufen.
Sie versuchen, Schiedsrichter zu Komplizen ihres kriminellen Geschäftsmodelles zu machen oder in anderer
Weise auf den Ausgang von Wettbewerben Einfluss zu
nehmen. Wir wollen vorhersehbare und gekaufte sichere
Siege und sichere Niederlagen verhindern.
Es ist etwas anderes, was den Sport ausmacht: Außenseiter, die über sich hinauswachsen, Abende, an denen es
Überraschungen gibt, Augenblicke einer Niederlage genauso wie Momente des aufrechten Glücks. Wir sagen
deshalb heute auch den Spielmanipulationen den Kampf
an. Deshalb habe ich mit meinem Kollegen Maas vereinbart, dass wir noch vor der Sommerpause Formulierungen für neue Vorschriften gegen Spielmanipulationen
vorlegen werden.
({3})
Wir werden den Regelungsauftrag aus der Koalitionsvereinbarung damit vollständig umsetzen.
({4})
- Frau Abgeordnete Künast, natürlich ist da Druck im
Kessel. Bei beiden Themen ist Druck im Kessel:
({5})
beim Kampf gegen Doping und beim Kampf gegen
Spielmanipulationen.
({6})
- Jetzt sage ich Ihnen einmal, wer diesen Druck im Kessel macht: wir selbst, weil wir es für wichtig halten, dass
wir jetzt nach jahrelanger Diskussion in beiden Bereichen zu Ergebnissen kommen.
({7})
Das machen wir für die Sportler, für die Zuschauer und
für alle, die Freude am ehrlichen Sport haben.
({8})
- Sie können ja gleich vortragen, wie Sie die Integrität
des Sportes schützen wollen - bei bisheriger Rechtslage
ohne eine Verschärfung. Da bin ich dann gespannt.
({9})
Ich möchte in diesem Zusammenhang als Letztes ein
Wort zur Olympiabewerbung sagen.
({10})
Wir haben das von Anfang an diskutiert. Es gibt Leute,
die sagen - das will ich gerne auch einigen Sportlerinnen
und Sportlern sagen, die in den letzten Tagen Bedenken
geäußert haben -: Na ja, wenn ihr ein Gesetz macht, das
vielleicht schärfer ist als anderswo, schadet ihr vielleicht
der Olympiabewerbung, schadet ihr vielleicht deswegen,
weil manche Länder in der Abstimmung beim IOC vielleicht deswegen nicht für Hamburg/Deutschland stimmen, weil hier das Anti-Doping-Gesetz besonders scharf
ist. - Diese Frage wird nicht so offen formuliert, wie ich
sie jetzt stelle, aber vielleicht klammheimlich gedacht.
Da sage ich: Dem muss man hart entgegentreten!
({11})
Wenn wir glauben, uns würde die Ausrichtung der
Olympischen Spiele deswegen übertragen, weil wir irgendwie nicht ganz sauber, nicht ganz fair im Verfahren
oder in irgendeiner Weise sind, haben wir sowieso verloren.
({12})
Das, was andere Staaten möglicherweise tun, können wir
sowieso nicht und wollen wir auch nicht. Deswegen sind
ein scharfes Anti-Doping-Gesetz und ein scharfes Gesetz gegen Spielmanipulationen und eine blitzsaubere,
erstklassige Bewerbung die einzig richtige und eine gute
Vorbereitung für eine erfolgreiche Olympiabewerbung
von Hamburg/Deutschland für das Jahr 2024. Deswegen
bitte ich um Unterstützung.
({13})
André Hahn ist der nächste Redner für die Fraktion
Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Für die Linke steht fest: Doping gefährdet die
Gesundheit. Nun kann man Menschen, wenn sie denn
volljährig sind, nicht verbieten, ihre Gesundheit zu gefährden; aber wir können und wir müssen aufklären,
nicht zuletzt im Hinblick auf Doping im Sport, ähnlich
wie beim Gebrauch von Alkohol, Nikotin oder anderen
legalen Drogen.
({0})
Für die Linke steht auch fest: Doping im Sport, um
sich gegenüber anderen Sportlerinnen und Sportlern einen Wettbewerbsvorteil zu verschaffen, gefährdet nicht
nur die Gesundheit, sondern ist auch eine Gefahr für den
Sport als solchen und für die Werte, die durch ihn in die
Gesellschaft transportiert werden. Hier geht es nicht um
das Recht auf Selbstschädigung, hier geht es um Betrug.
({1})
Seit 1990 hat es diverse Initiativen und Maßnahmenkataloge gegen Doping im Sport gegeben. Sie alle waren
nur bedingt erfolgreich. Deshalb muss aus Sicht der Linken endlich entschlossen gehandelt werden,
({2})
um Doping im Sport deutlich wirksamer zu bekämpfen,
als das bislang der Fall war. Es ist höchste Zeit, dass
endlich etwas passiert.
({3})
Wir haben - das ist bekannt - bereits im August 2014
einen Antrag mit Eckpunkten für ein Anti-Doping-Gesetz vorgelegt, welcher am 6. November hier im Bundestag beraten und in die Ausschüsse überwiesen wurde.
Nunmehr hat auch die Bundesregierung ihren lange angekündigten Gesetzentwurf vorgelegt. Er muss sich
nicht nur am Antrag der Linken, sondern auch an den
von der Koalition selbst gesetzten Zielen messen lassen.
Die Linke unterstützt im Grundsatz den vorliegenden
Gesetzentwurf; das schließt natürlich nicht aus, dass es
im Zuge der Ausschussberatungen noch an einigen Stellen Änderungen geben muss und vermutlich auch geben
wird. Positiv bleibt festzuhalten: Viele Punkte aus unserem Antrag sind im Regierungsentwurf berücksichtigt
worden; das begrüßen wir ganz ausdrücklich.
({4})
Aber es gibt auch einige Defizite. So halten wir unsere Forderung, dass Ärztinnen und Ärzten, die nachweislich an Dopinganwendungen beteiligt waren, die
Approbation entzogen werden kann, nach wie vor für
sachgerecht. Gleiches gilt für unsere Forderung, Regelungen für den Schutz von Whistleblowern zu schaffen;
denn ohne interne Informationen sind Dopingstrukturen
und deren Hintermänner häufig gar nicht aufzuklären.
({5})
Wir bleiben auch bei unserem Vorschlag, eine unabhängige Ombudsstelle einzurichten, an die sich Sportlerinnen und Sportler, Trainerinnen und Trainer sowie Eltern
wenden können, um qualifizierte Informationen über
Dopingprävention zu erhalten, aber auch um konkrete
Dopingverdachtsfälle mitzuteilen und um Hilfe zu bitten.
Im Mittelpunkt der Diskussionen in den Ausschüssen
werden sicher das generelle Verbot des Eigendopings
von Leistungssportlern sowie die Frage einer möglichen
Strafverfolgung bei Erwerb und Besitz von Dopingmitteln zum Zwecke des Selbstdopings stehen. Der Justizminister wird sich dazu gleich noch äußern. Wir als
Linke befürworten durchaus verschärfte Sanktionen für
Spitzensportlerinnen und Spitzensportler, die Dopingmittel benutzen, um sich einen unlauteren Vorteil im
sportlichen Wettbewerb zu verschaffen.
Für diesen Sportbetrug sollen bei Wiederholungstätern künftig neben Geldstrafen auch Freiheitsstrafen verhängt werden können. Aus unserer Sicht - ich habe das
schon an anderer Stelle gesagt - sollte sich die Höhe der
Geldbußen nach den Einnahmen richten, die man direkt
oder auch mittelbar durch den Sport erzielt hat. Das
würde also bedeuten, dass von Sportart zu Sportart je
nach Gehalt, Siegprämien und Werbeverträgen unterschiedlich hohe Strafen festgelegt werden können.
Von dem Gesetz wären nach Angaben der Bundesregierung rund 7 000 Sportlerinnen und Sportler in Deutschland
betroffen. Das ist ein klar definierter Personenkreis, und
das ist auch durchaus richtig so. Der vorliegende Gesetzentwurf zielt hinsichtlich der strafrechtlichen Regelungen
ganz bewusst auf die Dopinganwendung im Hochleistungssport, nicht aber auf gesundheitliche Gefährdungen
durch die Einnahme verbotener Substanzen wie zum
Beispiel Anabolika in Fitnessstudios. Das kann weder in
einem Gesetz geregelt noch wirksam kontrolliert werden. Zugleich aber sollten wir an alle Freizeitsportlerinnen und -sportler appellieren, auf Dopingmittel zu verzichten.
({6})
Gerade deshalb ist es erforderlich, dass man - vielleicht nicht zwingend in diesem Gesetz, aber zumindest
begleitend - geeignete Präventionsmaßnahmen entwickelt, fördert und letztlich natürlich auch umsetzt. Dazu
gehören zum Beispiel Aufklärung im Jugend- und Nachwuchssport über die Wirkung von anabolen Stereoiden,
Nahrungsergänzungsmitteln und sporttypischen Aufbaupräparaten und die entsprechende Aus- und Weiterbildung der in diesem Bereich tätigen Personen wie Trainern usw.
Ein weiterer Aspekt ist mir wichtig: Wir dürfen nicht
nur mit neuen Strafen drohen, sondern müssen auch offen über die Ursachen von Doping im Sport reden, über
Strukturen und Rahmenbedingungen, über den bestehenden Leistungsdruck, über die Motive, Ängste und
Zwänge. Nur dann wird der Sport weiterhin positive
Werte wie die Erhaltung von Gesundheit, Leistungsbereitschaft, Fairness und Teamgeist verkörpern, nur dann
werden sich Breiten- und Spitzensport gegenseitig befördern können, und nur dann wird der Sport jene gesellschaftliche Bedeutung erlangen, von der wir alle - auch
hier im Bundestag - immer wieder reden oder gelegentlich auch träumen.
({7})
Ich möchte abschließend noch auf zwei Punkte eingehen, die besonders in der öffentlichen Diskussion sind:
Ein Problem ist die im Gesetzentwurf vorgesehene uneingeschränkte Besitzstrafbarkeit von Dopingmitteln bei
Spitzensportlern. Hier teile ich die Bedenken von wichtigen Vertretern der Athleten wie dem Diskus-Olympiasieger Robert Harting. Was ist zum Beispiel, wenn ein
Sportler auf dem Weg zum Training ein Asthmamittel
für seine Frau aus der Apotheke holt
({8})
- Moment bitte! -, das einen Wirkstoff enthält, der auf
der Dopingliste steht, und in eine Kontrolle gerät? Das
ist natürlich ein konstruierter Fall, aber er ist auch nicht
völlig unrealistisch. Deshalb plädieren wir dafür, nicht
allein auf den Besitz abzustellen, sondern stattdessen
- ähnlich wie bei der Rechtsprechung im Betäubungsmittelbereich - den Besitz nicht geringer Mengen unter
Strafe zu stellen. Das ist eine Differenzierung, die wir
gerne vornehmen möchten.
({9})
Ich lege großen Wert - das will ich hier noch einmal
betonen - auf den Sachverstand des Deutschen Olympischen Sportbundes. Beim vorliegenden Gesetzentwurf
sehe ich anders als der DOSB jedoch keine Beeinträchtigung oder gar Aushöhlung der Sportgerichtsbarkeit. Beides kann aus meiner Sicht durchaus nebeneinander funktionieren. Die Verbände können bei Dopingvergehen
weiterhin die in ihren Regeln vorgesehenen Wettkampfsperren aussprechen, und bei gravierenden Verstößen
oder bei Wiederholungstätern kann künftig zusätzlich
auch die Staatsanwaltschaft tätig werden.
Das ist im Übrigen auch keine Doppelbestrafung;
denn schon heute wird ein Fußballprofi bei einer Tätlichkeit gemäß Regelwerk mit der Roten Karte vom Platz
gestellt und von seinem Verband entsprechend gesperrt,
und darüber hinaus kann dennoch eine Strafanzeige wegen Körperverletzung erfolgen und kann die Staatsanwaltschaft tätig werden. Diese Möglichkeit ist da, und
das Gleiche kann aus unserer Sicht künftig auch im Dopingbereich erfolgen.
Ich füge noch hinzu: Die Sportgerichtsbarkeit allein
löst auch nicht alle Probleme. Ein Sportler wird zum
Ende seiner Karriere von Sperren nicht mehr sonderlich
beeindruckt, da er seine Laufbahn ohnehin beenden will.
Hier ist es eine Erhöhung der Hürde für den Einsatz von
Dopingmitteln, wenn man auch strafrechtliche Konsequenzen zu fürchten hat.
Ob es wirklich klug ist - das ist meine letzte Bemerkung -, die umstrittenen Athletenvereinbarungen gerade
über das Anti-Doping-Gesetz zu regeln und hier eine
rechtliche Grundlage zu schaffen, werden wir in den
Ausschüssen noch zu diskutieren haben. In diesem Bereich gibt es bisher mehr Fragen als Antworten. Dennoch sage ich: Der Gesetzentwurf ist ein Schritt in die
richtige Richtung. Wir freuen uns auf die anstehenden
Beratungen.
Herzlichen Dank.
({10})
Bevor ich dem Justizminister das Wort erteile, gebe
ich das von den Schriftführerinnen und Schriftführern
ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung
über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Tarifeinheit bekannt: abgegebene Stimmen 590. Mit Ja haben gestimmt 448, mit Nein
haben gestimmt 126. Es gab 16 Enthaltungen. Damit ist
der Gesetzentwurf angenommen.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 586;
davon
ja: 444
nein: 126
enthalten: 16
Ja
CDU/CSU
Stephan Albani
Katrin Albsteiger
Peter Altmaier
Dorothee Bär
Thomas Bareiß
Norbert Barthle
Günter Baumann
Manfred Behrens ({0})
Veronika Bellmann
Sybille Benning
Dr. André Berghegger
Ute Bertram
Peter Beyer
Steffen Bilger
Clemens Binninger
Peter Bleser
Dr. Maria Böhmer
Norbert Brackmann
Klaus Brähmig
Michael Brand
Dr. Reinhard Brandl
Helmut Brandt
Dr. Ralf Brauksiepe
Dr. Helge Braun
Heike Brehmer
Ralph Brinkhaus
Gitta Connemann
Alexandra Dinges-Dierig
Alexander Dobrindt
Michael Donth
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Hansjörg Durz
Iris Eberl
Dr. Bernd Fabritius
Hermann Färber
Uwe Feiler
Dr. Thomas Feist
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Dirk Fischer ({1})
Dr. Maria Flachsbarth
Thorsten Frei
Dr. Astrid Freudenstein
Dr. Hans-Peter Friedrich
({2})
Michael Frieser
Dr. Michael Fuchs
Hans-Joachim Fuchtel
Alexander Funk
Ingo Gädechens
Dr. Thomas Gebhart
Alois Gerig
Eberhard Gienger
Cemile Giousouf
Josef Göppel
Ursula Groden-Kranich
Hermann Gröhe
Klaus-Dieter Gröhler
Michael Grosse-Brömer
Astrid Grotelüschen
Markus Grübel
Manfred Grund
Monika Grütters
Dr. Herlind Gundelach
Fritz Güntzler
Olav Gutting
Christian Haase
Florian Hahn
Jürgen Hardt
Gerda Hasselfeldt
Matthias Hauer
Mark Hauptmann
Dr. Matthias Heider
Helmut Heiderich
Mechthild Heil
Frank Heinrich ({3})
Mark Helfrich
Jörg Hellmuth
Michael Hennrich
Ansgar Heveling
Christian Hirte
Robert Hochbaum
Thorsten Hoffmann
({4})
Karl Holmeier
Franz-Josef Holzenkamp
Margaret Horb
Charles M. Huber
Anette Hübinger
Erich Irlstorfer
Andreas Jung
Dr. Franz Josef Jung
Xaver Jung
Dr. Egon Jüttner
Bartholomäus Kalb
Hans-Werner Kammer
Steffen Kampeter
Steffen Kanitz
Alois Karl
Anja Karliczek
Bernhard Kaster
Volker Kauder
Dr. Stefan Kaufmann
Roderich Kiesewetter
Dr. Georg Kippels
Volkmar Klein
Jürgen Klimke
Axel Knoerig
Jens Koeppen
Markus Koob
Carsten Körber
Hartmut Koschyk
Kordula Kovac
Michael Kretschmer
Dr. Günter Krings
Rüdiger Kruse
Bettina Kudla
Dr. Roy Kühne
Günter Lach
Andreas G. Lämmel
Katharina Landgraf
Ulrich Lange
Barbara Lanzinger
Dr. Silke Launert
Dr. Katja Leikert
Dr. Philipp Lengsfeld
Philipp Graf Lerchenfeld
Präsident Dr. Norbert Lammert
Dr. Ursula von der Leyen
Antje Lezius
Ingbert Liebing
Matthias Lietz
Dr. Carsten Linnemann
Patricia Lips
Wilfried Lorenz
Dr. Claudia Lücking-Michel
Dr. Jan-Marco Luczak
Daniela Ludwig
Karin Maag
Yvonne Magwas
Thomas Mahlberg
Gisela Manderla
Hans-Georg von der Marwitz
Andreas Mattfeldt
Stephan Mayer ({5})
Reiner Meier
Dr. Michael Meister
Jan Metzler
Maria Michalk
Dr. Mathias Middelberg
Dietrich Monstadt
Karsten Möring
Marlene Mortler
Elisabeth Motschmann
Dr. Gerd Müller
Stefan Müller ({6})
Dr. Philipp Murmann
Michaela Noll
Helmut Nowak
Dr. Georg Nüßlein
Julia Obermeier
Florian Oßner
Dr. Tim Ostermann
Henning Otte
Ingrid Pahlmann
Martin Patzelt
Dr. Martin Pätzold
Dr. Joachim Pfeiffer
Sibylle Pfeiffer
Eckhard Pols
Thomas Rachel
Kerstin Radomski
Alexander Radwan
Alois Rainer
Eckhardt Rehberg
Katherina Reiche ({7})
Lothar Riebsamen
Dr. Heinz Riesenhuber
Johannes Röring
Dr. Norbert Röttgen
Erwin Rüddel
Albert Rupprecht
Anita Schäfer ({8})
Dr. Wolfgang Schäuble
Andreas Scheuer
Jana Schimke
Norbert Schindler
Tankred Schipanski
Christian Schmidt ({9})
Gabriele Schmidt ({10})
Ronja Schmitt ({11})
Patrick Schnieder
Nadine Schön ({12})
Dr. Ole Schröder
Dr. Kristina Schröder
({13})
Bernhard Schulte-Drüggelte
Uwe Schummer
Armin Schuster ({14})
Christina Schwarzer
Detlef Seif
Reinhold Sendker
Dr. Patrick Sensburg
Bernd Siebert
Thomas Silberhorn
Johannes Singhammer
Jens Spahn
Dr. Frank Steffel
Dr. Wolfgang Stefinger
Albert Stegemann
Peter Stein
Sebastian Steineke
Johannes Steiniger
Christian Freiherr von Stetten
Gero Storjohann
Max Straubinger
Thomas Stritzl
Thomas Strobl ({15})
Lena Strothmann
Michael Stübgen
Dr. Peter Tauber
Antje Tillmann
Astrid Timmermann-Fechter
Dr. Hans-Peter Uhl
Dr. Volker Ullrich
Arnold Vaatz
Thomas Viesehon
Michael Vietz
Volkmar Vogel ({16})
Sven Volmering
Christel Voßbeck-Kayser
Kees de Vries
Marco Wanderwitz
Nina Warken
Kai Wegner
Albert Weiler
Marcus Weinberg ({17})
Dr. Anja Weisgerber
Peter Weiß ({18})
Sabine Weiss ({19})
Karl-Georg Wellmann
Waldemar Westermayer
Kai Whittaker
Peter Wichtel
Annette Widmann-Mauz
Heinz Wiese ({20})
Elisabeth WinkelmeierBecker
Oliver Wittke
Dagmar G. Wöhrl
Barbara Woltmann
Tobias Zech
Heinrich Zertik
Emmi Zeulner
Gudrun Zollner
SPD
Niels Annen
Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Heike Baehrens
Ulrike Bahr
Heinz-Joachim Barchmann
Dr. Katarina Barley
Doris Barnett
Klaus Barthel
Bärbel Bas
Dirk Becker
Uwe Beckmeyer
Lothar Binding ({21})
Burkhard Blienert
Willi Brase
Dr. Karl-Heinz Brunner
Martin Burkert
Dr. Lars Castellucci
Petra Crone
Bernhard Daldrup
Dr. Daniela De Ridder
Dr. Karamba Diaby
Sabine Dittmar
Martin Dörmann
Elvira Drobinski-Weiß
Siegmund Ehrmann
Dr. h. c. Gernot Erler
Petra Ernstberger
Saskia Esken
Karin Evers-Meyer
Dr. Johannes Fechner
Dr. Fritz Felgentreu
Dr. Ute Finckh-Krämer
Christian Flisek
Gabriele Fograscher
Dr. Edgar Franke
Ulrich Freese
Sigmar Gabriel
Martin Gerster
Angelika Glöckner
Ulrike Gottschalck
Kerstin Griese
Michael Groß
Uli Grötsch
Wolfgang Gunkel
Bettina Hagedorn
Rita Hagl-Kehl
Ulrich Hampel
Sebastian Hartmann
Dirk Heidenblut
Hubertus Heil ({22})
Gabriela Heinrich
Marcus Held
Wolfgang Hellmich
Heidtrud Henn
Gustav Herzog
Gabriele Hiller-Ohm
Petra Hinz ({23})
Thomas Hitschler
Matthias Ilgen
Christina Jantz
Frank Junge
Josip Juratovic
Thomas Jurk
Oliver Kaczmarek
Johannes Kahrs
Christina Kampmann
Gabriele Katzmarek
Ulrich Kelber
Marina Kermer
Arno Klare
Lars Klingbeil
Dr. Bärbel Kofler
Daniela Kolbe
Birgit Kömpel
Anette Kramme
Dr. Hans-Ulrich Krüger
Helga Kühn-Mengel
Christian Lange ({24})
Dr. Karl Lauterbach
Steffen-Claudio Lemme
Burkhard Lischka
Gabriele Lösekrug-Möller
Hiltrud Lotze
Dr. Birgit Malecha-Nissen
Katja Mast
Dr. Matthias Miersch
Susanne Mittag
Bettina Müller
Detlef Müller ({25})
Michelle Müntefering
Dr. Rolf Mützenich
Dietmar Nietan
Thomas Oppermann
Mahmut Özdemir ({26})
Aydan Özoğuz
Markus Paschke
Christian Petry
Detlev Pilger
Sabine Poschmann
Joachim Poß
Florian Post
Achim Post ({27})
Dr. Wilhelm Priesmeier
Dr. Sascha Raabe
Dr. Simone Raatz
Martin Rabanus
Mechthild Rawert
Stefan Rebmann
Dr. Carola Reimann
Dr. Martin Rosemann
René Röspel
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Michael Roth ({28})
Susann Rüthrich
Johann Saathoff
Annette Sawade
Dr. Hans-Joachim
Schabedoth
Axel Schäfer ({29})
Präsident Dr. Norbert Lammert
Dr. Nina Scheer
Marianne Schieder
Udo Schiefner
Dr. Dorothee Schlegel
Ulla Schmidt ({30})
Matthias Schmidt ({31})
Dagmar Schmidt ({32})
Carsten Schneider ({33})
Ursula Schulte
Swen Schulz ({34})
Ewald Schurer
Stefan Schwartze
Andreas Schwarz
Dr. Carsten Sieling
Norbert Spinrath
Svenja Stadler
Sonja Steffen
Peer Steinbrück
Dr. Frank-Walter Steinmeier
Christoph Strässer
Kerstin Tack
Claudia Tausend
Michael Thews
Dr. Karin Thissen
Franz Thönnes
Carsten Träger
Rüdiger Veit
Ute Vogt
Dirk Vöpel
Gabi Weber
Andrea Wicklein
Dirk Wiese
Waltraud Wolff
({35})
Gülistan Yüksel
Dagmar Ziegler
Stefan Zierke
Dr. Jens Zimmermann
Manfred Zöllmer
Brigitte Zypries
Nein
CDU/CSU
Cajus Caesar
Klaus-Peter Flosbach
Dr. Stephan Harbarth
Dr. Heribert Hirte
Dr. Hendrik Hoppenstedt
Uwe Lagosky
Carsten Müller
({36})
Sylvia Pantel
Heiko Schmelzle
Carola Stauche
Dr. Johann Wadephul
Ingo Wellenreuther
Klaus-Peter Willsch
SPD
Kirsten Lühmann
DIE LINKE
Dr. Dietmar Bartsch
Herbert Behrens
Karin Binder
Matthias W. Birkwald
Christine Buchholz
Roland Claus
Sevim Dağdelen
Wolfgang Gehrcke
Nicole Gohlke
Annette Groth
Dr. Gregor Gysi
Heike Hänsel
Inge Höger
Andrej Hunko
Sigrid Hupach
Ulla Jelpke
Susanna Karawanskij
Kerstin Kassner
Katja Kipping
Jan Korte
Katrin Kunert
Caren Lay
Sabine Leidig
Ralph Lenkert
Michael Leutert
Stefan Liebich
Dr. Gesine Lötzsch
Thomas Lutze
Birgit Menz
Cornelia Möhring
Niema Movassat
Norbert Müller ({37})
Dr. Alexander S. Neu
Thomas Nord
Harald Petzold ({38})
Richard Pitterle
Martina Renner
Dr. Petra Sitte
Kersten Steinke
Dr. Kirsten Tackmann
Azize Tank
Dr. Axel Troost
Kathrin Vogler
Halina Wawzyniak
Harald Weinberg
Birgit Wöllert
Jörn Wunderlich
Hubertus Zdebel
({39})
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Marieluise Beck ({40})
Volker Beck ({41})
Agnieszka Brugger
Ekin Deligöz
Katja Dörner
Harald Ebner
Dr. Thomas Gambke
Matthias Gastel
Kai Gehring
Katrin Göring-Eckardt
Britta Haßelmann
Bärbel Höhn
Uwe Kekeritz
Maria Klein-Schmeink
Tom Koenigs
Sylvia Kotting-Uhl
Stephan Kühn ({42})
Christian Kühn ({43})
Markus Kurth
Monika Lazar
Steffi Lemke
Dr. Tobias Lindner
Peter Meiwald
Irene Mihalic
Özcan Mutlu
Dr. Konstantin von Notz
Omid Nouripour
Friedrich Ostendorff
Cem Özdemir
Lisa Paus
Tabea Rößner
Claudia Roth ({44})
Corinna Rüffer
Manuel Sarrazin
Elisabeth Scharfenberg
Ulle Schauws
Dr. Gerhard Schick
Dr. Frithjof Schmidt
Dr. Wolfgang StrengmannKuhn
Hans-Christian Ströbele
Markus Tressel
Jürgen Trittin
Dr. Julia Verlinden
Doris Wagner
Beate Walter-Rosenheimer
Enthalten
CDU/CSU
Maik Beermann
Wolfgang Bosbach
Uda Heller
Alexander Hoffmann
Hubert Hüppe
Andrea Lindholz
Dr. Andreas Nick
Tino Sorge
SPD
Hilde Mattheis
Andreas Rimkus
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Anja Hajduk
Dieter Janecek
Kordula Schulz-Asche
Dr. Valerie Wilms
Das Wort hat nun der Bundesminister der Justiz,
Heiko Maas.
({45})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Am heutigen Tage schlagen wir ein
neues Kapitel im Kampf gegen das Doping auf.
({0})
- Ja, richtig: Endlich schlagen wir ein neues Kapitel auf. Leistungssportler, die in Zukunft dopen, sind nicht Menschen, die nur eine lässliche Sünde begehen, sondern
Straftäter. Das ist ein Schritt, der nötig ist; denn die Geschichte der Dopingbekämpfung ist mittlerweile zwar
lang, aber bedauerlicherweise keine Erfolgsgeschichte.
Immer wieder wurde und wird manipuliert, getäuscht
und auch betrogen. Das geht vor allen Dingen zulasten
der ehrlichen Sportlerinnen und Sportler. Aber im Ergebnis werden wir alle getäuscht: die Veranstalter, die
Sponsoren und Millionen von Zuschauern. Deshalb
finde ich - das ist der Grund dafür, dass wir uns nach
vielen Jahren der Diskussionen dazu entschlossen haben,
diesen Gesetzentwurf vorzulegen -: Der Staat darf das
nicht länger hinnehmen. Dazu ist der Sport mittlerweile
viel zu wichtig für unsere Gesellschaft.
({1})
Es geht auch nicht nur darum, Sportlerinnen und
Sportler vor ihrer gesundheitlichen Selbstschädigung zu
bewahren; es geht vor allen Dingen auch darum, Betrug
zu ahnden.
({2})
Denn Doping ist nichts anderes als eine Spezialform des
Betruges. Betrug ist ohnehin schon strafbar. Wenn man
sich vor Augen führt, dass es im Leistungs- und Profisport mittlerweile um Millionen-, teilweise um Milliardenbeträge geht, etwa bei den Fernsehgeldern, dann
erkennt man: Das ist eine Dimension, bei der das Strafrecht durchaus ein geeignetes Instrument ist, das man
zur Hilfe nehmen kann, um die Missstände, die es dort
gibt, anzugehen.
Die deutschen Sportvereine haben 28 Millionen Mitglieder. Für Kinder und Jugendliche ist Sport Gott sei
Dank nach wie vor - ich hoffe, dass es noch lange so
bleibt - die Freizeitbeschäftigung Nummer eins. Sport
erzielt die höchsten Einschaltquoten, erzielte auch die
höchste Einschaltquote, die jemals im deutschen Fernsehen gemessen wurde, nämlich 86 Prozent. Sport steht für
Werte wie Fair Play, Chancengleichheit und Teamgeist.
Aber, meine Damen und Herren, all das ist durch Doping
gefährdet. Doping ist sozusagen die Negation aller Werte
des Sports. Auch dagegen richtet sich unser Gesetzentwurf. Wir wollen den Verfall dieser Werte durch dopende Sportler stoppen.
({3})
Doping bedeutet eben das Gegenteil: Erfolg um jeden
Preis, ohne gleiche Chancen, ohne Fairness, ohne Rücksicht auch auf die eigene Gesundheit. Ich finde, wenn
unsere Gesellschaft zulässt, dass Regeln immer wieder
gebrochen werden, wenn wir unfähig bleiben, den Regelbruch zu stoppen, und wenn Menschen erleben, dass
Betrug und Manipulation einfach zum Erfolg führen,
dann gefährdet das nicht nur den Sport, sondern dann
steht, wie ich finde, mehr auf dem Spiel: Es geht um das
Rechtsbewusstsein in unserem Land. Wir dürfen nicht
zulassen, dass es in Mitleidenschaft gezogen wird. Auch
deshalb ist dieses Gesetz so wichtig.
Meine Damen und Herren, es geht bei dem Gesetz im
Wesentlichen um drei Punkte, die ich hervorheben
möchte:
Erstens. Das Selbstdoping wird strafbar, und wir führen die sogenannte uneingeschränkte Besitzstrafbarkeit
ein. Wer als Leistungssportler dopt, der handelt kriminell. In Zukunft drohen nicht mehr nur die Sperren der
Verbände, sondern auch Ermittlungsverfahren und Geldstrafen oder im Extremfall sogar eine Haftstrafe. Die
Strafbarkeit des Selbstdopings wird an der einen oder
anderen Stelle immer wieder in Zweifel gezogen. Ich
will Ihnen ehrlich sagen: Das kann ich nicht verstehen.
Denn ich frage mich: Wer, wenn nicht der dopende
Sportler, sozusagen der Profiteur des ganzen Geschäftes,
muss denn Ziel einer strafrechtlichen Verfolgung sein?
Schon jetzt ist es strafbar, wenn man mit nicht geringen
Mengen erwischt wird. Der eigentliche Profiteur des Dopings, nämlich der betrügende Sportler, der anschließend
Preisgelder erhält und Werbeverträge abschließt, der also
seine Einnahmen durch Betrug außerordentlich erhöht,
soll schadlos davonkommen? Das kann ich nicht verstehen. Deshalb ist das Selbstdoping das zentrale Element
dieses Gesetzentwurfs. Genau diesen Punkt müssen wir
umsetzen, um die Betrüger im Sport endlich dranzukriegen.
({4})
Auch die uneingeschränkte Besitzstrafbarkeit ist
wichtig und richtig. Ich will auf das Argument, das Sie
eben angesprochen haben, eingehen, weil das sozusagen
der Klassikerfall ist: das Asthmaspray der Ehefrau oder
des Kindes. Zum Thema „Asthma im Leistungssport“
könnte man jetzt wirklich viel erzählen; darauf will ich
verzichten. Aber ich will zumindest darauf hinweisen:
Im Gesetzentwurf steht, dass lediglich das Mitsichführen
von Dopingmitteln noch nicht strafbar ist; es muss auch
nachgewiesen werden, dass es in der Absicht mit sich
geführt wird,
({5})
es nicht der Frau zu bringen, sondern es selber zur Leistungssteigerung und Wettbewerbsverzerrung zu nutzen.
Deshalb ist der klassische Asthmafall eben kein Fall, der
gegen die uneingeschränkte Besitzstrafbarkeit in Stellung gebracht werden kann.
({6})
Meine Damen und Herren, das Gesetz erfasst nicht
nur den deutschen Spitzensport, nicht nur die in
Deutschland Trainingskontrollen unterliegenden Sportler, die, deren erhebliche Einnahmen in ihrem Sport ihr
Einkommen darstellen; auch für ausländische Spitzensportler, die bei uns Dopingmittel oder Dopingmethoden
anwenden, gilt das Strafrecht. Also - an all diejenigen,
die diesbezüglich verunsichert waren - gleiches Recht
für alle und nicht nur für die, die in Deutschland trainieren.
Ein zweiter Punkt, der wichtig ist - Herr de Maizière
hat das zumindest schon angedeutet -: Das Gesetz wird
die Strafbarkeit des Handelns der Helfer und Hintermänner weiter verschärfen. Kein Sportler - zumindest ist mir
keiner bekannt - braut sich im Keller in einer Drogenküche seine eigene Dopingsubstanz. Es sind vielmehr organisierte Untergrundlabore, Dopingdealer, um die es geht;
ein blühender Geschäftszweig. Deshalb werden wir
- das kommt in dem Gesetzentwurf zum Ausdruck - das
gesamte Treiben dieser Branche unter Strafe stellen, also
das Herstellen, das Handeltreiben, das Veräußern und
das Abgeben von Dopingmitteln.
({7})
In schweren Fällen - bedauerlicherweise zeigt uns die
Geschichte des Dopings, dass es diese Fälle in der Vergangenheit gegeben hat -, wenn zum Beispiel Dopingmittel an Kinder und Jugendliche abgegeben werden,
droht den Dealern sogar eine Freiheitsstrafe von bis zu
zehn Jahren. Das ist ebenfalls ein wichtiger Aspekt unseres Gesetzentwurfs.
Der dritte Punkt, der mir wichtig ist - man muss es erwähnen, um Missverständnisse auszuräumen, die in der
öffentlichen Debatte immer wieder entstehen, Dinge, die
nicht wahrer werden dadurch, dass sie immer wiederholt
werden -: Wir stärken mit dem Gesetz die Sportverbände im Kampf gegen das Doping. In Zukunft sollen
nämlich die Gerichte und die Staatsanwaltschaften ihre
Informationen über Dopingtäter an die Nationale Anti
Doping Agentur übermitteln können.
Außerdem stärken wir die Schiedsgerichtsbarkeit; das
ist schon erwähnt worden. Es gab in der Vergangenheit
dort erhebliche rechtliche Unsicherheiten. Dadurch, dass
wir dazu eine Regelung ins Gesetz aufnehmen, ist jetzt
klargestellt: Grundsätzlich ist es in Ordnung, dass Sportler vor einem Wettkampf vereinbaren, dass die Schiedsgerichte zuständig sind. Wenn es dann tatsächlich zu einem Dopingfall kommt, ist klar, dass das sportinterne
Sanktionssystem greifen wird. Das ist letztlich ein wichtiger Punkt für die Verbände und ihre Organisationen.
Gerade daran wird besonders deutlich, dass wir den
Kampf gegen das Doping auch deshalb verschärfen, weil
wir die Rolle der Verbände stärken wollen und auch
staatliche Mittel nutzen wollen, um das Doping zu bekämpfen.
Ich finde auch, wir haben es uns nicht leicht gemacht
mit diesem Gesetzentwurf; das kann man nun wirklich
nicht sagen. Ich weiß gar nicht, wie lange die Politik bereits über dieses Thema diskutiert. Vielleicht - so empfinde ich das - hat sie auch zu lange gezögert, diesen
Schritt zu gehen. Aber ich bin froh, dass wir uns jetzt
dazu entschlossen haben.
({8})
Ich bin mir auch absolut sicher - darüber braucht
mich niemand zu belehren -, dass das Strafrecht kein
Allheilmittel ist, um gesellschaftliche Probleme zu lösen. Es ist lediglich das letzte Mittel. Ich bin aber genauso davon überzeugt, dass gerade beim Doping das
Strafrecht seinen Zweck erfüllen kann. Denn Täter handeln hier weder spontan noch aus irgendwelchen ideologischen Motiven. Sie handeln sehr überlegt und auch
sehr berechnend. Gerade bei solchen potenziellen Straftätern kann die drohende Strafe abschreckende Wirkung
haben und damit einen Rechtsbruch verhindern. Auch
darum geht es.
Viele Sportlerinnen und Sportler unterstützen unseren
Gesetzentwurf
({9})
und haben das öffentlich deutlich gemacht.
({10})
Es gibt auch welche, die ihn nicht unterstützen.
({11})
Es ist gut, dass man offen darüber diskutieren kann.
Aber ich würde einfach darum bitten, sich mit den Argumenten der einen und der anderen auseinanderzusetzen.
({12})
Ein Argument, das eben eingeführt wurde, ist das sogenannte Negativdoping. Negativdoping besteht darin,
dass man nicht selber dopt, sondern seinem Konkurrenten etwas unterjubelt, der dann bei einem Dopingtest
auffällt und aus dem Verkehr gezogen wird. Es wird jetzt
so getan, als sei das die große Gefahr, als könnte man
durch die uneingeschränkte Besitzstrafbarkeit plötzlich
Missbrauchsgefahren Tür und Tor öffnen.
({13})
- Wohl wahr ist auch, dass das auch jetzt schon strafbar
ist.
({14})
Wohl wahr ist auch, dass man schon jetzt jemandem Dopingmittel in die Tasche schieben kann, wenn man das
unbedingt will; denn das sind auch schon nicht geringe
Mengen.
({15})
Es ist völliger Blödsinn, zu behaupten, das sei eine
neue Gefahr. So etwas ist auch jetzt schon strafbar. Deshalb wird das nicht dazu führen, dass dieses Gesetz nicht
sinnvoll ist oder dass wir in irgendeiner Weise Gefahren
im Sport entstehen lassen, die es so nicht gibt und die
nicht verantwortbar wären. Ganz im Gegenteil: Das Gesetz ist bitter notwendig. Es ist bedauerlich, dass dieses
Gesetz notwendig geworden ist, aber es war auch überfällig. Es ist gut, wenn wir den Kampf gegen das Doping
jetzt auf die Art und Weise verschärfen und zusammen
mit dem Sport fortführen.
Schönen Dank.
({16})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun der
Kollege Mutlu das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als grüne
Bundestagsfraktion - das gilt auch für die grünen Landtagsfraktionen überall im Land - setzen wir uns für einen
sauberen und fairen Sport ein. Wir lehnen - wie sicherlich alle in diesem Hause - Doping im Sport konsequent
ab. Aber wir sind dennoch der Auffassung, dass der vorgelegte Gesetzentwurf weder in seiner Konstruktion
überzeugend ist noch das Problem des Dopings in seiner
Vielfalt angehen kann.
({0})
Statt den Ursachen beizukommen, legen Sie die strafrechtliche Axt an die Symptome. Uns Grüne geht es
nicht um die Symptome, sondern um die konsequente
und konkrete nachhaltige Beseitigung der Ursachen des
Dopings. Dafür ist das Strafrecht nicht geeignet.
({1})
Wir lesen Monat für Monat in den Medien über Dopingfälle. Was ändert sich im Sport? Ziehen die Verbände Konsequenzen? Leider nicht! Als Paradebeispiel
kann der Fall von Lance Armstrong genannt werden.
Nicht einmal dieser riesige Dopingskandal hat zu einem
echten und ernsthaften Umdenken im Profiradsport geführt. Seit einigen Monaten stehen auch die Mannschaftssportarten im Fokus der Fachmedien.
({2})
In Frankreich und Kanada wird über das Doping im
Rugby geredet. In den USA findet eine Debatte über
American Football statt. Ich bin der Auffassung, dass
auch in Deutschland diese Diskussion fällig ist, besonders im Bereich des Amateur- und Profifußballs.
Schauen wir doch einmal genau hin: Es fängt damit
an, dass Fußballer die 90 Minuten auf dem Feld inzwischen nur noch mit starken Schmerzmitteln durchhalten
können. Ist das Spielmanipulation? Ist das Verfälschung
des Ergebnisses? Warum nicht? Sicherlich! Ich frage
mich auch: Was ist das für ein Sport, in dem Sportler
vorsorglich zu starken Medikamenten und Schmerzmitteln greifen müssen, damit sie überhaupt die 90 Minuten
im Wettkampf bestehen können? Wer behauptet, dass
Doping im Fußball aufgrund der Komplexität der Bewegungen keine Rolle spielt, der behauptet schlichtweg
Unfug.
Wir alle wissen: Doping und ähnliche Manipulationen
im sportlichen Wettbewerb - wir haben es vorhin gehört gefährden den Sport und die Integrität des Sports. Auch
deshalb ist und muss der Kampf gegen Doping eine der
zentralen Aufgaben von uns, aber auch des Sports und
der Sportverbände sein. In diesem Sinne ist Ihr Gesetzentwurf zur Bekämpfung des Dopings meiner Ansicht
nach weder stimmig noch zielführend.
({3})
Ich möchte das dadurch verdeutlichen, dass ich den
Kampf gegen Doping mit der seit Jahren überfälligen
Reform der Leistungssportförderung verknüpfe, die derzeit in Arbeit ist. Auf der einen Seite wissen wir, dass
Doping in erster Linie eine Folge des gigantischen Leistungs- und Erfolgsdrucks im Sport ist. Auf der anderen
Seite wollen Sie, Herr de Maizière, Fördermechanismen
für den Spitzensport noch stärker auf Medaillen und Erfolg ausrichten.
({4})
Das passt nicht zusammen.
({5})
Denn wenn wir davon ausgehen, dass im internationalen
Spitzensport Doping nicht die Ausnahme, sondern eher
die Regel ist, dann wird die einseitige Ausrichtung der
Sportförderung auf Medaillen und Erfolg auch in unserem Land nicht für weniger, sondern für mehr Doping
sorgen. Das ist die traurige Realität, die die Minister
- einer von Ihnen ist noch anwesend - wahrnehmen und
ernst nehmen sollten.
({6})
Meine Damen und Herren, es ist doch eine Binsenwahrheit, dass der Griff zum Strafrecht stets - wenn
überhaupt - nur der letzte Schritt sein sollte. Ich will
stichpunktartig auf einige kritikwürdige Punkte eingehen.
Stichwort „Besitzstrafbarkeit“: Dieses Instrument ist
schon beim Cannabis gescheitert. Warum sollte es beim
Doping funktionieren?
({7})
Stichwort „Verbot des Selbstdopings“: Das Verbot des
Selbstdopings berührt das verfassungsrechtlich geschützte Recht auf Selbstbeschädigung. Wir vermissen
eine Abwägung, warum gerade Sportlerinnen und Sportler im Spitzensport im Gegensatz zu allen anderen Sportlern bzw. Menschen ihre eigene Gesundheit nicht gefährden dürfen sollen.
Stichwort „Fairness im Sport“: Welches verfassungsrechtliche Schutzgut stellt Fairness im Sport dar? Ihr
Versuch, Fairness im Sport per Gesetz strafrechtlich
schützen zu wollen, ähnelt dem Versuch, Pudding an die
Wand des Bundestages zu nageln. Das wird weder dem
Pudding noch der Fairness nützen.
({8})
Auch bei den Vorschlägen aus den Ländern müssen
wir genau hinschauen. Die Einführung einer Kronzeugenregelung beispielsweise lehnen wir ab.
Gestatten Sie mir noch eine Bemerkung zu den Bürgerrechten der Athletinnen und Athleten. Für uns gelten
die Bürgerrechte auch für Athletinnen und Athleten. Mit
Ihrem Gesetzentwurf schaffen Sie im Endeffekt den gläsernen Athleten. Auch das können wir nicht gutheißen.
({9})
Meine Damen und Herren, statt das Strafrecht zu bemühen, müssen wir uns insbesondere mit der Leistungsspirale im Sport und den eigentlichen Ursachen des Dopings auseinandersetzen. Dazu gehört auch der Wille,
die Dopingvergangenheit unseres Landes, und zwar in
Ost und West, lückenlos aufzuarbeiten. Ich nenne nur
das Stichwort „Freiburg“. Insofern sollten wir umfassender an die Sache herangehen.
Lassen Sie uns in diesem Zusammenhang auch über
Sportbetrug und Spielmanipulation reden.
({10})
Der Herr Minister hat es zwar gerade angekündigt, aber
ich verstehe nicht, warum es nur Ankündigungen gibt,
statt schon zur Tat zu schreiten. Denn Sportbetrug und
Spielmanipulation sind eines der Kernprobleme des Dopings. Wir meinen deshalb, dass Sportbetrug zwingend
als Tatbestand eingeführt werden soll.
Ich komme zum Schluss. Der Zweck des Anti-Doping-Gesetzes ist insbesondere auf den Schutz des wirtschaftlichen Wettbewerbs des Sports vor unlauterer Manipulation auszurichten. Denn im kommerziellen Sport
werden Milliarden umgesetzt. Es geht nicht um die
olympische Idee und sportliche Ideale, sondern um
knallharten Profit. Deshalb sollten wir versuchen, das in
unserer Arbeit und in der Gesetzgebung abzubilden, statt
nur das Strafrecht zu bemühen und den Blick einseitig
auf die Sportlerinnen und Sportler zu richten.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
({11})
Vielen Dank, Kollege Mutlu. - Schönen guten Morgen von mir, liebe Kolleginnen und Kollegen und auch
Ihnen, unseren Gästen!
Der nächste Redner in der Debatte ist Reinhard
Grindel für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Bei dem Gesetzentwurf geht es im Kern vor allem um
eine Frage: Reicht es beim Kampf gegen Doping aus, allein auf die Sportgerichtsbarkeit zu setzen, oder brauchen wir, gerade wenn es um den dopenden Sportler
geht, dazu auch die Mittel des Strafrechts?
Wir müssen es schon ernst nehmen, dass der DOSB
unsere Gesetzesinitiative ablehnt und damit sagt: Wir
brauchen das Strafrecht nicht. Lasst uns das Dopingproblem mit unseren Mitteln lösen, den Mitteln des Sportrechts. Ist also im Großen und Ganzen alles in Ordnung?
({0})
In diesem Zusammenhang wird meines Erachtens
eine Studie der Deutschen Sporthochschule und der
Sporthilfe in der Öffentlichkeit viel zu wenig beachtet.
Im Rahmen dieser Studie ist in einem streng anonymisierten Verfahren Spitzensportlern die entscheidende
Frage gestellt worden: Greifen Sie regelmäßig zu Dopingmitteln? - Mit Nein antworteten 53,4 Prozent, mit
Ja 5,9 Prozent, keine Antwort gaben 40,7 Prozent. Angesichts solcher Zahlen kann man wohl eher nicht davon
reden, dass alles in Ordnung ist. Ein so großes Dunkelfeld darf sich der deutsche Sport nicht leisten. Deshalb
müssen wir, auch mit den Mitteln des Strafrechts, den
Kampf gegen das Selbstdoping von Sportlern mit aller
Entschiedenheit führen.
({1})
Die zweite, vor allem von Strafrechtsprofessoren vorgetragene Kritik lautet: Ihr schafft mit der Integrität des
sportlichen Wettbewerbs ein völlig neues Rechtsgut, das
im Strafrecht nichts verloren hat. - Was völlig übersehen
wird, auch von Ihnen, Frau Künast, in Ihrem heutigen
Aufsatz: Wir kennen seit langem den Schutz des wirtschaftlich fairen Wettbewerbs, wie ihn § 299 des Strafgesetzbuches regelt. Wir diskutieren über einen neuen
§ 299 a - Bekämpfung der Korruption im Gesundheitswesen -, mit dem wir das Vertrauen der Patienten in die
Integrität heilberuflicher Entscheidungen auch mit den
Mitteln des Strafrechts schützen wollen. Ist es da so abwegig, auch die Integrität des sportlichen Wettbewerbs
und das Vertrauen der Menschen darauf zu schützen?
({2})
An dieser Stelle kommt es auf die gesellschaftliche
Bedeutung des Sports an. Wo sind denn die Integrationskräfte in unserer Gesellschaft, die für Zusammenhalt und
ein Stück Heimat sorgen? Kirchen, Gewerkschaften und
Parteien verlieren Mitglieder. Bei den Sportvereinen ist
die Zahl trotz einer negativen demografischen Entwicklung stabil, im Fußball steigt sie sogar. Wo versammeln
sich noch ältere und jüngere Menschen, Frauen und
Männer, Ärmere und Besserverdienende, Menschen mit
und ohne Migrationshintergrund? Es ist beim Sport.
Glauben wir tatsächlich, dass sich unsere Gesellschaft
positiv entwickelt, wenn wir nur noch auf digitale soziale Netzwerke setzen? Sind es in Wahrheit nicht unsere
Vereine, vor allem die Sportvereine, bei denen wirklich
soziale Kompetenzen vermittelt werden? Warum setzen
sich denn die höchsten Repräsentanten unseres Landes
dafür ein, dass Olympische Spiele oder eine Fußballeuropameisterschaft in Deutschland stattfinden? Weil
von einem solchen Leuchtturmprojekt eine große Strahlkraft, eine große Anziehungskraft ausgeht, die gerade
Kinder und Jugendliche motivieren wird, Sport in Vereinen zu betreiben.
({3})
Aber all das wird scheitern, wenn die Menschen, gerade die jungen Menschen, den Glauben an Fairness im
Sport, den Glauben an die Zufälligkeit des Ergebnisses,
an die Lauterkeit unserer Spitzensportler verlieren. Wer
als dopender Sportler an den Fundamenten des Sports
rüttelt, wer das mit Füßen tritt, woran vor allem junge
Menschen glauben, der muss eben nicht nur aus dem
sportlichen Wettbewerb ausgeschlossen werden, sondern
der und seine möglichen Hintermänner müssen auch die
volle Härte des Rechtsstaats spüren, weil wir nur so die
Integrität und die Integrationskraft des Sports bewahren
können. Das ist das Kernanliegen unseres Gesetzentwurfs.
({4})
Die Integrität des sportlichen Wettbewerbs wird nicht
nur von Doping, sondern auch von Spielmanipulation
bedroht. CDU/CSU und SPD haben deshalb in ihrem
Koalitionsvertrag verankert:
Doping und Spielmanipulationen zerstören die
ethisch-moralischen Werte des Sports … Deshalb
werden wir weitergehende strafrechtliche Regelungen beim Kampf gegen Doping und Spielmanipulation schaffen.
Ich bin Ihnen, Herr Minister de Maizière, dankbar,
dass Sie angekündigt haben, dass wir hier Initiativen erwarten dürfen. Lieber Herr Kollege Maas, es wäre auch
nicht verkehrt gewesen, wenn Sie sich dem hier am Rednerpult angeschlossen hätten.
({5})
Ich gehe davon aus, dass Sie das tun werden. Um es
ganz klar zu sagen: Wir möchten, dass der Koalitionsvertrag eins zu eins umgesetzt wird, ein Anliegen, das
Sie, Herr Maas, auch bei anderer Gelegenheit immer
wieder einfordern.
Ich sage noch einmal: Wer die Integrität des sportlichen Wettbewerbs schützen will, muss das auch tun,
wenn es um Spielmanipulation geht. Auch die bedroht
unseren Sport.
({6})
Nun werden schon vor der ersten Lesung unseres Gesetzentwurfs Sammelklagen angedroht, was immer man
darunter verstehen mag. Via FAZ wird uns von den
Leichtathleten Betty Heidler und Robert Harting mitgeteilt - ich zitiere -:
Die uneingeschränkte Besitzstrafbarkeit löse bei
Athleten erhebliche Ängste aus, sich trotz Fehlens
jeder Dopingabsicht strafbar zu machen … Zudem
müsse die Doping-Absicht zur Voraussetzung einer
strafgerichtlichen Verurteilung gemacht werden.
({7})
Frau Heidler sei Jurastudentin, ist in der FAZ zu lesen.
Dann wird sie den Spruch kennen: Ein Blick ins Gesetz
erleichtert die Rechtsfindung.
({8})
Wenn sie das tun würde, würde sie in § 3 des Anti-Doping-Gesetzes auf eine klare Regelung stoßen: Die Besitzstrafbarkeit setzt voraus, dass der Erwerb oder Besitz
des Dopingmittels zum „Zwecke des Dopings“ erfolgt.
({9})
Es kommt also nicht nur auf die Verwirklichung des objektiven Tatbestandes an, sondern auch auf die des subjektiven Tatbestands. Folglich heißt es in der Begründung des Anti-Doping-Gesetzes:
Das Verbot erfasst nur die Fälle, in denen die Sportlerin oder der Sportler beabsichtigt, das Dopingmittel ohne medizinische Indikation bei sich anzuwenden oder anwenden zu lassen, um sich in einem
Wettbewerb des organisierten Sports einen Vorteil
zu verschaffen.
Also ist die Forderung, die die beiden Sportler via
FAZ transportieren, bereits erfüllt. Ich muss schon sagen:
Wenn man so massiv die Politik angreift, wie das die
Athleten tun, muss man sich vorher, finde ich, ein bisschen kundig machen, was wirklich im Gesetz steht.
({10})
Ich will nicht verschweigen, dass man an der Beteuerung der beiden Athleten zweifeln kann, man sei ja für
einen entschiedenen Antidopingkampf, wenn man liest,
wie sie Sportgerichtsbarkeit und Strafgerichte in ihrer
Stellungnahme gegeneinander ausspielen. Da heißt es in
der Stellungnahme: Wir verstehen nicht, weshalb die
Politik der verbandsrechtlichen Sportgerichtsbarkeit
hilft. - Ich sage: Wer die Integrität des sportlichen Wettbewerbs schützen will, der muss die Sportgerichtsbarkeit
stärken.
({11})
Ein des Dopings überführter Sportler muss sofort aus
dem Wettbewerb genommen werden. Deshalb ist der
Grundsatz des Strict Liability zwingend nötig. Wenn im
Körper des Sportlers Dopingmittel gefunden werden,
dann gilt das als Anscheinsbeweis mit der Folge des sofortigen Ausschlusses vom Wettbewerb. Da kann man
doch nicht zwei oder drei Jahre auf ein Strafurteil warten
und zusehen, wie einer mit unfairen Mitteln Titel um
Titel erringt. Dieser Zusammenhang ist doch naheliegend.
({12})
Wir schaffen deshalb für Schiedsvereinbarungen und
Schiedsgerichte eine klare gesetzliche Grundlage und
kommen damit Erwartungen der Gerichte im Fall
Pechstein nach. Wir sollten die Hinweise von Experten
ernst nehmen und im Ausschuss darüber reden, ob wir
die Rechtsgrundlage möglicherweise nicht im Anti-Doping-Gesetz, sondern in der Zivilprozessordnung schaffen, weil es bei Streitigkeiten eben nicht nur um Doping,
sondern auch um Ablösesummen von Sportlern oder den
Streit um Nominierungen für sportliche Großveranstaltungen geht.
Ich will einmal auf eines hinweisen: Wir sind vor wenigen Wochen mit dem Sportausschuss beim CAS in
Lausanne gewesen. Dort haben uns führende Repräsentanten - alle Fraktionen waren ja bei der Reise vertreten versichert, dass es beim CAS zu entscheidenden Reformen kommen wird, die klarmachen, dass der CAS unabhängig und nicht verbändeabhängig ist. Damit wird auch
Bedenken von deutschen Gerichten Rechnung getragen.
Zum Schluss will ich noch mal auf die Athletin Betty
Heidler zurückkommen und ihr Plädoyer in der FAZ. Sie
sagt dort - und meint das wohl offensichtlich ernst -,
dass unser Anti-Doping-Gesetz sich negativ auf die jüngere Generation auswirken werde:
Kinder und Jugendliche werden sich eher für Hobbysport entscheiden als sich in den Testpool aufnehmen lassen.
Gemeint ist der Testpool, der die Voraussetzung dafür
ist, dass man überhaupt Adressat dieses Anti-DopingGesetzes ist. Wir wollen ja nicht den Freizeitläufer beim
Berlin-Marathon in den Blick nehmen, weil der nicht geeignet ist, die Integrität des Sports zu bedrohen,
({13})
sondern eben den Spitzenathleten, dem gerade die jungen Menschen nacheifern.
({14})
- Frau Künast, Sie zeigen in Ihrem Aufsatz in der FAZ,
dass Sie wenig begriffen haben, worum es hier geht.
({15})
Es ist natürlich ein gravierender Unterschied, ob Sie jemanden haben, der als Spitzensportler durch Doping
Wettbewerbe beeinflusst,
({16})
auf die Millionen von Menschen schauen, oder ob ein
Hobbysportler Nahrungsergänzungsmittel nimmt mit
Substanzen, die man nicht nehmen darf.
({17})
Das ist doch ein ganz zentraler Unterschied. Sie haben
einfach - das müssen Sie einmal zugeben - den ganzen
Ansatz unseres Anti-Doping-Gesetzes nicht verstanden.
({18})
Das ist leider das Problem.
({19})
- Mir zuhören, Herr Mutlu. Das wäre schon ein erster
Schritt. Dann würde man auch ohne Schmerzmittel - um
das zu sagen - jede Ihrer Reden gut überstehen können.
({20})
Ich will jetzt, Frau Präsidentin, mit vollem Ernst noch
einen Schlussgedanken zu diesem Zitat von Frau Heidler
formulieren.
Aber einen kurzen Gedanken.
Ja. - Wir wollen, dass gerade in den Jugendstützpunkten - hier geht es um junge Menschen -, in denen sich
entscheidet, ob aus jungen begabten Athleten Spitzensportler werden, gute Präventionsarbeit geleistet wird.
Wir wollen, dass sich Jugendliche für den Spitzensport
entscheiden, gerade weil sie wissen, dass es hier in
Deutschland sauber und sportlich fair zugeht, dass am
Ende der Beste gewinnt und nicht der mit den skrupellosesten Ärzten im Hintergrund.
Ein letzter Gedanke: Herr Harting lässt sich mit den
folgenden Worten zitieren - das muss man sich wirklich
auf der Zunge zergehen lassen -:
Die Welt ist genervt vom deutschen Anti-DopingKampf.
({0})
Dazu kann ich nur sagen: Hoffentlich ist die Welt genervt;
({1})
denn Weltmeister im Antidopingkampf zu sein, ist vielleicht noch ein bisschen wichtiger, als Weltmeister im
Diskuswurf zu sein.
Herzlichen Dank.
({2})
Vielen Dank, Reinhard Grindel. - Nächster Redner in
der Debatte: Frank Tempel für die Linke.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Die Bekämpfung von Doping im Sport ist
offensichtlich ein gemeinsames politisches Ziel aller
Fraktionen im Deutschen Bundestag. Dabei geht es, wie
gehört, um Fairness und Chancengleichheit im sportlichen Wettbewerb. Und es geht um die Glaubwürdigkeit
und Vorbildfunktion des Sports, insbesondere des Spitzensports. Es geht natürlich auch um wirtschaftliche
Faktoren, wenn letztendlich aufgrund von Doping Fördermittel, Gehälter oder Prämien bezogen werden und
nicht dopende Sportler deswegen keinen Zugang zu diesen Einnahmen haben. Aber der absolut vorrangigste
Zweck - ich hoffe wirklich, dass das alle so sehen - ist
nicht der wirtschaftliche Aspekt, sondern der Schutz der
Gesundheit von Sportlerinnen und Sportlern,
({0})
und das, Herr Grindel, eben nicht nur im Leistungssport.
Neu im Katalog der Maßnahmen ist das Unter-Strafe
Stellen von Selbstdoping, also die Strafanzeige für dopende Sportler im Wettbewerb des organisierten Sports.
In etwas abgeschwächter Form ist diese Forderung auch
im Antrag meiner Fraktion, der Linken, enthalten. Wer
meine Forderungen in der Drogenpolitik kennt, weiß,
dass ich erhebliche Zweifel an der generalpräventiven
Wirkung von Verboten habe, also Zweifel daran, dass
ein Verbot wirklich hilft, die Situation zu verbessern,
also in diesem Fall die Dimensionen des Dopings im
Sport zu verringern. An dieser Stelle richte ich ein Dankeschön an meine Fraktion dafür, dass ich diese Zweifel
hier äußern darf, dass ich diesen Aspekt in die Debatte
einbringen darf. Natürlich haben viele Sportlerinnen und
Sportler Angst vor Kriminalisierung, und die Linke
nimmt diese Angst ernst, und zwar ohne Arroganz, Herr
Grindel. Wir arbeiten mit den Sportlern zusammen und
nicht über ihre Köpfe hinweg.
({1})
Es geht im Gegensatz zum Cannabisgebrauch nicht
nur um eine potenzielle gesundheitliche Gefährdung des
Sportlers, sondern eben auch um das Erlangen von Vorteilen zum Nachteil anderer. Auch darüber müssen wir in
der Debatte diskutieren.
Es geht grundsätzlich - das halte ich für genauso
wichtig - um den Stellenwert des Sports in unserer Gesellschaft. Sehr schnell kann der Eindruck entstehen,
dass der Kampf gegen Doping ein Thema des Spitzensports ist. Das ist aber falsch. Der Kampf gegen Doping
muss sehr viel breiter angelegt werden; und spätestens
da wird uns das Strafrecht nicht mehr helfen. Ein
Straftatbestand für Spitzensportler ist schnell beschlossen; aber gegen die Dopingnormalität im Breitensport
werden ganz andere Anstrengungen notwendig sein.
({2})
Der gedopte Radsportler wird in der Öffentlichkeit
schnell mit Verachtung und Enttäuschung überhäuft und
ist nun wohl bald auch ganz offiziell kriminell. Wie aber
sieht es im Breitensport aus? Wer hat da eigentlich noch
das Wissen, was Doping ist? Besuchen Sie einmal zu
Hause die Fitnessstudios, und schauen Sie sich an, was
dort passiert: Für die einen ist der Proteinshake bereits
Doping; für die anderen sind all die verschiedenen Kapseln, Pillen und Tröpfchen, die es dort in sehr großer Anzahl und Auswahl gibt, völlig normal. Wer sich ein wenig informiert, weiß, dass man über das Internet und
über das Ausland ganz schnell Mittelchen beziehen
kann, die versprechen, dass der gewünschte leistungssteigernde Effekt noch schneller eintritt.
Kaum einer weiß aber, was diese Mittelchen tatsächlich alles bewirken. Es reicht, wenn auf der Verpackung
steht: „schnellere Fettverbrennung“, „schnellerer Muskelaufbau“, „schnellere Regeneration“, und schon wird
das Zeug gekauft. Damit wird viel Geld verdient. Ganz
schnell geht es nicht mehr nur um Nahrungsergänzungsprodukte - das Ganze übrigens oft ohne Altersbeschränkung. Vielleicht steht noch auf der Verpackung, dass die
angegebene Dosierung nicht überschritten werden darf.
Warum? - Das steht nicht drauf. Aus einigen Gesprächen beim Training weiß ich allerdings, dass auch dieser
Hinweis oft ignoriert wird; denn vielleicht hilft viel ja
doch viel, und die Zeitschriften sind voll von verlockenden Vorher-nachher-Bildern, gerade jetzt, im Frühjahr.
Doping, so der Eindruck, ist nur ein Phänomen des
Profisports. Nein, der Kampf gegen Doping ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Das ist in allererster Linie eine Frage der Prävention, eine Frage der Aufklärung
und Bildung, auch bei Marathonläufern.
({3})
Die Linke fordert deswegen wesentlich stärkere Anstrengungen in diesen Bereichen.
Die Einigkeit hier im Bundestag bei der Bekämpfung
des Dopings wird sich auch in den Fragen von Aufklärung und Prävention fortsetzen müssen, selbst wenn es
vielleicht Geld kostet. In der Fortsetzung eines Anti-Doping-Gesetzes müssen geeignete Programme gefunden
werden, die den gesundheitsfördernden Charakter des
Sports wieder stärken und die Akzeptanz des Dopings
zurückdrängen. Die Werte müssen sich wieder so verändern, dass ein durchtrainierter Freizeitsportler oder Marathonläufer nicht mehr gefragt wird, was er einnimmt,
sondern, wie oft er trainiert. Das ist die Integrität des
Sports.
({4})
Vielen Dank, Frank Tempel. - Nächste Rednerin in
der Debatte: Dagmar Freitag für die SPD.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Deutschland bekommt ein Anti-Doping-Gesetz. Das ist
gut so aus vielerlei Gründen, aber vor allen Dingen auch
wegen der sportpolitischen Vorgeschichte unseres Landes in Sachen Doping. Ich danke an dieser Stelle insbesondere den beteiligten Ministerien. Justizminister
Heiko Maas hat schon zu Beginn seiner Amtszeit deutlich gemacht, dass ihm dieses Gesetzesvorhaben ein besonderes Anliegen ist. Dank auch an die Kolleginnen
und Kollegen der Union für die Unterstützung.
({0})
Wir bekommen ein Anti-Doping-Gesetz. Wir wissen:
Es gibt viele, die lange auf ein solches Gesetz gewartet
haben, und bekanntlich andere, die genauso lange versucht haben, es zu verhindern, bis heute übrigens, und
zwar mit fadenscheinigen bis hin zu absurden Argumenten, die auch durch ständige Wiederholung nicht wirklich besser werden. Das mittlerweile zu einer gewissen
Berühmtheit gelangte Asthmaspray ist ein Beispiel dafür.
Nach rund zwei Jahrzehnten wirklich zäher Diskussionen vor allem mit Vertretern des organisierten Sports
haben sich die Befürworter einer Dopingbekämpfung,
die durch rechtsstaatliche Instrumente unterstützt wird,
gegen jene durchgesetzt, die glauben machen wollen, der
Sport könne das Problem alleine lösen. Nach dieser Vorgeschichte muten öffentliche Vorwürfe, dieser Gesetzentwurf werde per Dekret durchgepeitscht, geradezu
verzweifelt an. Ich empfehle an dieser Stelle etwas mehr
Gelassenheit, man könnte auch sagen: etwas mehr
Sportsgeist.
Zukünftig werden sich also dopende Sportler nicht
nur vor der Sportgerichtsbarkeit verantworten müssen,
sondern können auch von staatlichen Ermittlungen und
Sanktionen betroffen sein; denn die dopenden Sportler
sind - wie mehrfach erwähnt - diejenigen, die sich Vorteile verschaffen. Sie gelangen unverdient nicht nur zu
Ruhm und Ehre, sondern auch zu Preisgeldern und
Sponsorenverträgen. Leidtragende dieser Machenschaften sind die sauberen Athletinnen und Athleten. Sie werden um fast alles betrogen, für das sie jahrelang hart trainiert haben: um den unvergleichlichen Moment der
Siegerehrung in einem voll besetzten Stadion, das Abspielen der Nationalhymne, Prämien, Werbeverträge.
Natürlich gibt es einen weiteren ganz großen Verlierer, nämlich den Sport als Kulturgut in seiner ganzen
Vielfalt, mit all seinen positiven Facetten und Eigenschaften sowie seinen Werten wie Chancengleichheit
und Fairness.
({1})
Der Sport und andere haben sich lange eingeredet,
den Dopingsumpf mit ihren eigenen Mitteln bekämpfen
zu können. Wie wir wissen, waren sie nicht erfolgreich.
Daher ist schon seit Jahren über die Einführung eines
entsprechenden Gesetzes diskutiert worden. Ein erster
echter Anlauf hat dieses Problem im Jahre 2007 nicht
beseitigen können; das wissen wir. Schon damals waren
wir dem erbitterten Widerstand der Sportorganisationen
ausgesetzt. Aber die Zeiten haben sich geändert. Wir haben mehr Unterstützung aus dem Sport und auch, Frau
Künast, von Sportlerinnen und Sportlern - ja, von Sportlerinnen und Sportlern, die sich ganz offensichtlich
keine Sorgen um bestimmte Grenzwerte machen, möglicherweise weil sie es nicht müssen.
Jetzt also liegen umfassendere Maßnahmen auf dem
Tisch. Die Kernelemente sind genannt: Verbot von
Selbstdoping und die uneingeschränkte Besitzstrafbarkeit von Dopingsubstanzen.
Warum, bitte, sollte man Anabolika, Wachstumshormone und andere hochwirksame Medikamente oder
Substanzen ohne jegliche medizinische Indikation zu
Hause im Schrank liegen haben, wenn nicht zu Dopingzwecken?
Dieser Gesetzentwurf, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist ein Signal einer Null-Toleranz-Politik, die ihren
Namen auch verdient. Und das Gesetz wird nach rechtsstaatlichen Prinzipien die unbestritten schnellere Sportgerichtsbarkeit flankieren und ergänzen
({2})
und nicht - wie von interessierter Seite immer wieder
betont wird - beeinträchtigen.
Manchmal ist es geradezu erschreckend - der Kollege
Grindel hat es erwähnt -, wie wenig Sachkenntnis bei
denjenigen vorhanden ist, die einen Konflikt zwischen
Sportgerichtsbarkeit und staatlichen Gerichten herbeireden wollen,
({3})
die offensichtlich nicht einmal den juristisch bedeutsamen Unterschied zwischen Fahrlässigkeit und Vorsatz zu
kennen scheinen
({4})
oder die ernsthaft behaupten, der Sport müsse künftig
vor dem Verhängen von Sanktionen den Ausgang eines
Strafverfahrens abwarten.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch mit Blick auf
andere Länder ist ein klarer Kurs gegen diese Seuche des
Sports ein ganz starkes Signal. Eines sollte man nämlich
nicht unterschätzen - auch darauf ist hingewiesen worden -: Man schaut schon darauf, wie Gesetzgeber und
Regierung in Deutschland in Sachen Dopingbekämpfung agieren. Wir haben die Nationale Anti Doping
Agentur deshalb finanziell deutlich gestärkt. Auch sie
kann ihrer Arbeit besser nachgehen als in der Vergangenheit.
Mit diesem Maßnahmenpaket im Rücken appelliere
ich auch an alle, die auf internationaler Ebene Gespräche
führen: Werben Sie dafür, dass dort ähnlich konsequent
agiert wird, wie wir das jetzt in Deutschland tun.
({5})
Damit greifen wir im Übrigen eine völlig berechtigte
Forderung von Athletinnen und Athleten auf, die natürlich manchmal geradezu daran verzweifeln, wenn sie sehen, wie lax in anderen Ländern auf dieser Welt mit diesem Problem umgegangen wird.
Wir sind also zuversichtlich - Herr Minister de
Maizière hatte das auch angesprochen -, auch mit Blick
auf unsere Olympiabewerbung, auf unsere Bewerbung
um die Durchführung der Olympischen und der Paralympischen Sommerspiele in Deutschland, mit diesem
Gesetz auf internationaler Ebene punkten zu können.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Athleten sind selber
dafür verantwortlich, ob sie zu Dopingsubstanzen greifen oder nicht. Heutzutage weiß jeder Spitzenathlet, jede
Spitzenathletin, jeder Breitensportler durch unzählige
Informations- und Präventionsmaßnahmen nicht nur,
dass Doping Betrug ist, sondern auch, dass es zu
schwersten gesundheitlichen Schäden führen kann.
Auch in Deutschland hat Doping verheerende Spuren
hinterlassen.
Ich denke, es ist unsere gemeinsame Aufgabe, alles
dafür zu tun, diesen Antidopingkampf zu einem Erfolg
werden zu lassen. Deshalb sind wir entschlossen, nicht
länger nur die Hintermänner, sondern auch den dopenden Sportler selber zur Rechenschaft zu ziehen. Denn
wir reden hier nicht über Kavaliersdelikte. Wir reden
über Betrug im sportlichen Wettbewerb, wo bislang
mancher Athlet nach einer zweijährigen Sperre gut erholt und mindestens in alter sportlicher Stärke wieder ins
Geschehen um Medaillen und Topplatzierungen eingegriffen hat - fast so, als sei nichts geschehen.
Wir haben aber auch im Blick, dass Eltern ihre Kinder
mit gutem Gewissen zu einem leistungsorientierten Training schicken können wollen und dass die Vorbildwirkung erfolgreicher Sportler für junge Menschen mit dem
klaren Bekenntnis zu einem sauberen Sport in unserem
Land einhergeht.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, heute ist die erste
Lesung dieses Gesetzentwurfs. Im Sportausschuss wird es
dazu in Kürze eine mehrstündige öffentliche Anhörung
geben. Danach werden - auch das ist im parlamentarischen Verfahren üblich - die Fraktionen in den mitberatenden Ausschüssen und im federführenden Sportausschuss darüber beraten, ob es möglicherweise zu
ergänzenden Änderungsanträgen kommt.
({6})
- Man kann über eine sportspezifische Kronzeugenregelung reden, Herr Kollege Schmidt; danke für die Anregung. Damit stoßen Sie bei mir auf offene Ohren, vielen
Dank.
Abschließend, liebe Kolleginnen und Kollegen,
würde ich mich persönlich wirklich sehr freuen, wenn
die Diskussion wenigstens in der restlichen Zeit in etwas
weniger aufgeregten Bahnen verlaufen würde als in den
vergangenen zwei Jahrzehnten.
({7})
- Wie schon gesagt, Frau Künast, ein bisschen mehr
Sportsgeist. Das hilft immer.
Vielen Dank.
({8})
Vielen Dank, Dagmar Freitag. - Nächste Rednerin:
Renate Künast für Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Mich irritiert, dass sich diejenigen, die hier wegen jedes Wortes der Kritik beleidigt sind
({0})
- ein bisschen waren Sie schon beleidigt -, hier hinstellen und beklagen, man würde den Unterschied zwischen
Fahrlässigkeit und Vorsätzlichkeit nicht kennen. Auch
Sie haben ihn nicht definiert, meine Liebe.
({1})
Ich finde, Sie haben schon ein bisschen beleidigt gewirkt.
Frau Freitag, weil Sie erklärt haben, der federführende Ausschuss würde dazu eine Anhörung machen
und danach könnten alle Mitglieder, auch die des mitberatenden Ausschusses, sehen, was noch verändert werden könne, darf ich Ihnen als Kollegin Ausschussvorsitzende sagen:
({2})
Ich wünsche mir, dass Ihre Reaktion auf meine Bitte,
eine gemeinsame Anhörung durchzuführen - so etwas
ist hier Brauch - nicht einfach ein Nein und der Hinweis
ist, dass Sie auch nicht bereit sind, die Sitzung um eine
Stunde zu verschieben, weil da schon etwas anderes sei. Mir wurde signalisiert, die Mitglieder des Rechtsausschusses seien im Sportausschuss nicht erwünscht.
({3})
Wenn Sie über Vorsatz, Fahrlässigkeit und das Strafgesetzbuch diskutieren wollen - das hätte man auch im
Rechtsausschuss machen können -, dann würde ich
mich freuen, wenn Sie die Mitglieder des Rechtsausschusses in die Diskussion einbeziehen würden und da
kooperativ wären. Dann diskutiert es sich auch einfacher, sowohl sportpolitisch als auch rechtspolitisch.
({4})
Herr Grindel, ein Satz von Ihnen, auch wenn ich mit
dem, was Sie sagen, nicht immer einverstanden bin, hat
mich schon beeindruckt. Sie haben gesagt: Ein so großes
Dunkelfeld darf sich der deutsche Sport nicht leisten. Da sind wir einer Meinung. Ich finde, dass das Wort
„Sportbetätigung“ nicht nur den Spitzensport, sondern
auch den Breitensport einschließt, der zur Förderung der
Gesundheit beiträgt und Freude macht. Herr Grindel, Sie
haben es angeführt: Sport schafft Gemeinschaft, egal ob
die Menschen in Berlin an der Schlossstraße stehen und
Boule spielen, ob sie Fußball oder Volleyball spielen
oder eben skaten gehen. All das schafft Gemeinsamkeit.
Sich sportlich zu betätigen, ist nicht nur gesund, sondern
macht auch persönlich Freude und schafft soziale Kontakte.
Wenn das der Fall ist, dann sollten wir genau schauen:
Was regeln wir? Ist dafür das Strafgesetzbuch das richtige Instrument? Ist es richtig, sich nur auf den Spitzensportler zu fokussieren? Ich persönlich glaube, dass
nicht nur die Spitzensportlerinnen und Spitzensportler,
von denen zumindest die Fußballer, wie es Özcan Mutlu
sagt, Schmerz- und Eisgel brauchen, um die 90 Minuten
überhaupt zu überstehen, Vorbilder sind. Die meisten
denken sicherlich: Bis dorthin komme ich sowieso nicht. Sind nicht vielmehr die Breitensportler das Vorbild?
Wenn das so ist, müssen wir uns sehr genau überlegen,
was wir wie regeln.
({5})
Ich will ein paar Punkte herausgreifen. Ich meine, wir
müssen uns als Erstes fragen: Wie funktioniert Rechtspolitik? Ich denke, dass ein neues Strafrecht den Kern
der Rechtspolitik betrifft. Dabei stellt sich die Frage:
Was regeln wir eigentlich? Wir müssen uns überlegen,
ob diese Regelung, die einen Straftatbestand formuliert,
tatsächlich legitim ist, also dem Rechtsgüterschutz dient.
Ich will jemanden zitieren, der Ihnen nicht fremd ist,
Winfried Hassemer, früherer Richter am Bundesverfassungsgericht, der einmal in einem Sondervotum geschrieben hat:
Der Strafgesetzgeber ist in der Wahl der Anlässe
und der Ziele seines Handelns nicht frei; er ist beschränkt auf den Schutz elementarer Werte des
Gemeinschaftslebens …, auf die Sicherung der
Grundlagen einer geordneten Gesellschaft … und
die Bewahrung wichtiger Gemeinschaftsbelange …
Danach muss eine Strafnorm nicht nur ein legitimes
Ziel der Allgemeinheit verfolgen, das Grund und
Rechtfertigung für die strafgesetzliche Einschränkung der bürgerlichen Freiheit ist. Es muss sich
zudem um einen wichtigen Belang, um einen elementaren Wert, um eine Grundlage unseres Zusammenlebens handeln.
In § 1 Ihres Gesetzentwurfes steht: Die Fairness und
Chancengleichheit bei Sportwettbewerben ist zu sichern. Schön, gut, richtig. Aber sind Fairness und Chancengleichheit im Sport wirklich die elementaren Werte unseres Gesellschaftslebens, die elementaren, ordnenden
Prinzipien? Ich meine, nein.
({6})
Fairness im Sport zu schützen ist kein Fall fürs Strafgesetzbuch. Das betrifft nicht nur die Fairness, sondern
auch die Integrität, das Image und das Ansehen. Das
schützen wir auch in anderen Lebensbereichen nicht.
Die Beispiele, die Sie, Herr Grindel, genannt haben,
waren viel wirtschaftsbezogener als der Begriff der Fairness an dieser Stelle. Ich meine, dass bezüglich des
Fairnessbegriffes nicht Staatsanwalt und Polizei als Allererste das Wort haben sollten, sondern dass ein dopingfreier fairer Sport Aufgabe des Sports selbst ist.
({7})
- Na ja, auch da kann man Druck machen. Es wäre ja
das erste Mal, dass wir Leute wie Armstrong jahrzehntelang die Berge herauffahren lassen, ohne von ihnen Dopingproben zu nehmen.
({8})
Wenn wir dann sagen, dass es an dieser Stelle gescheitert
ist, dann könnte man Regeln für die Schiedsgerichtsbarkeit aufstellen, ohne zusätzliche Straftatbestände.
Herr Tempel hat auf einen anderen Bereich hingewiesen, nämlich auf die leistungssteigernden Mittel, die unsere Jugendlichen in diesen Muckibuden nehmen. Insbesondere Jungen glauben, nur wenn sie muskulös
aussehen, seien sie toll. Ein Irrtum - Jugendschutz, Aufklärung und Auflösung solcher Buden sind nötig. Die
Polizei sagt: In diesen Buden stehen eigentlich mehrere
Apotheken. - Ich glaube, dass es um diese Vorbilder
geht, um Menschen, die meinen, dass man mit diesen
und jenen Mitteln anders aussieht und besser sein kann.
Dann reden Sie über die Gesundheit der Sportlerinnen
und Sportler. Ja, klar, die Gesundheit von Menschen ist
schützenswert. Aber wie kommen wir eigentlich dazu,
dass wir den Erwerb und Besitz von Stoffen, die für alle
anderen Sportmuffel oder meinetwegen Marathonläufer
erlaubt, legal und nicht rezeptpflichtig sind, über Doping
für den Spitzensport und Wettbewerb strafbar machen?
Ich habe damit rechtliche Probleme. Ich meine nicht die
Dopingkontrolle und den Ausschluss von Wettbewerben.
Ich habe damit Probleme, dass wir Stoffe mit dem Aspekt der Gesundheit je nach Person unterschiedlich beurteilen.
({9})
Ich meine, meine Damen und Herren, dass wir zu einem Sonderstrafrecht kommen, das so nicht zu rechtfertigen ist. Sie können es der NADA überlassen, zu definieren, wer der Trainingskontrolle unterliegt. Nur: Sind
dann Dinge strafbar, die vorher nicht strafbar waren?
({10})
Die Redezeit.
Ich möchte noch einen letzten Satz sagen.
Erlauben Sie eine Zwischenfrage des werten Kollegen Grindel?
({0})
Ja.
Ich käme nie auf die Idee, mich zu melden, um auf
den Ablauf von Redezeit hinzuweisen, Frau Präsidentin.
Nein, nie.
Das könnte sich auch einmal gegen mich selbst richten.
Frau Kollegin Künast, ich unternehme noch einmal
einen Versuch. In diesem Gesetzentwurf wird die Einnahme von Dopingsubstanzen bei Breitensportlern wie
bei Spitzensportlern völlig gleich behandelt. Sie ist natürlich von dem Recht auf Selbstschädigung als Ausdruck der allgemeinen menschlichen Handlungsfreiheit
umfasst. Sind Sie bereit, nach dem Studium des Gesetzentwurfs, mir zuzustimmen, dass das nicht der entscheidende Punkt ist? Die Selbstschädigung mag gesundheitlich bedenklich sein, sie ist aber verfassungsrechtlich
zulässig. Das entscheidende Rechtsgut, um das es hier
geht, ist die Integrität des sportlichen Wettbewerbes, die
Ausstrahlung auf Millionen von Menschen. Sie haben
die wirtschaftliche Bedeutung angesprochen. Auch wir
bewegen im Sport Milliardenbeträge. Sind Sie nicht
doch bereit, sich dem Gedanken etwas zu nähern, dass
ein Lance Armstrong in seiner Zeit und in seiner Sportart
oder ein Olympiasieger
({0})
als Vorbild für Kinder und Jugendliche - auch in ihrer
wirtschaftlichen Bedeutung für den Sport - etwas anderes ist als ein normaler Freizeitläufer beim Berlin-Marathon?
({1})
Natürlich ist das etwas anderes. Spätestens beim Berlin-Marathon stellen Sie aber fest, dass da auch andere
als Fritz Krause oder Fritz Kuhn mitlaufen. Da laufen
auch berühmtere Menschen mit, zum Beispiel die afrikanischen Läufer.
Ich gebe auch zu, dass Sie nicht alles beim Doping
strafbar machen. Ich habe aber gerade versucht, auszuführen, dass Fairness im Sport, auf die Sie rekurrieren,
für mich kein Regelungsgegenstand des Strafgesetzbuches sein kann. Ich wollte auch sagen, dass Sie mir zu
unbestimmt sind, wenn Sie von erheblichem Umfang
von Geld sprechen. Dann haben Sie gesagt, dass Sie aus
Fairnessgründen, damit es praktikabel ist, die rechtliche
Rolle der Verbände stärken wollen. Da stellt sich mir die
Frage: Wo haben wir in anderen Straftatbeständen zum
Beispiel die Rolle der Umweltverbände gestärkt? Das
sind lauter rechtliche Fragen. Ich glaube, dass Sie sich
mit der Regel auf das Glatteis begeben. Wir wären besser beraten, wenn wir über eine Schließung der Lücken
im Sportbetrug reden würden. Da gibt es Ansatzpunkte.
Die anderen finanziellen Interessen, die Beantwortung
der Frage der Dopingkontrolle und der Frage, wer ausgeschlossen wird, sind meines Erachtens eine Aufgabe des
großen internationalen Wirtschaftszweiges Sport selbst.
Ich fasse zusammen: Wir sollten Regelungen im
Strafgesetzbuch auf den Kern dessen reduzieren, was
vertretbar und vergleichbar ist. Lassen Sie uns kein Sonderrecht schaffen, sondern nur eine Regelung in Bezug
auf Sportbetrug. Ich bin gerne bereit, über alle diese
Punkte zu diskutieren, aber dann bitte schön in einer gemeinsamen Anhörung, Frau Freitag.
({0})
Vielen Dank, Renate Künast. - Herr Grosse-Brömer,
Ihre Kollegen haben länger überzogen.
({0})
- Doch, das kann ich beweisen. ({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, halten Sie sich bitte an
die Redezeiten. Wir haben noch zig Punkte auf der Tagesordnung.
({2})
Ich erteile jetzt Stephan Mayer von der CDU/CSUFraktion das Wort.
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Ich werde alles daransetzen, die Redezeit einzuhalten. - Sehr verehrte Kolleginnen! Sehr geehrte Kollegen! Ich bin fest davon überzeugt, dass der Entwurf eines Anti-Doping-Gesetzes
eine gute und wichtige Grundlage für die Verbesserung
und die Erweiterung des Kampfes gegen die Hydra Doping ist. Ich bin auch der Überzeugung, dass es wichtig
ist, Fragen stellen zu können. Sowohl vor der Einbringung eines Gesetzentwurfs als auch im parlamentarischen Verfahren muss es erlaubt sein, Fragen zu stellen
und Bedenken anzubringen.
Von der heutigen Debatte muss das klare Signal ausgehen: Wir als Deutscher Bundestag sind uns einig, dass
es in Deutschland null Toleranz gegenüber Doping gibt. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf setzen wir die Vereinbarung des Koalitionsvertrags konsequent um. Wir
haben uns darauf verständigt, dass wir weitergehende
strafrechtliche Regelungen zur Bekämpfung des Dopings, aber auch zur Bekämpfung der Spielmanipulation
schaffen; dazu möchte ich später noch etwas mehr sagen. Der Ansatz, dass man gegen das Milliardengeschäft
der Spiel- und Sportwettenmanipulationen konsequent
vorgeht, ist mindestens ebenso wichtig wie das Anti-Doping-Gesetz.
({0})
Stephan Mayer ({1})
Die Zeiten sind vorbei, in denen man den Sport, zum
Beispiel den Fußball, als schönste Nebensache der Welt
bezeichnete. Der Sport, vor allem der Spitzensport, ist
mittlerweile ein gesellschaftliches Phänomen, das nicht
mehr wegzudenken ist. In einer Gesellschaft wie der
unsrigen, die immer heterogener wird, in der Partikularinteressen eine immer größere Rolle spielen und in der
es immer schwieriger wird, einen Großteil der Gesellschaft hinter bestimmten gesellschaftlichen Ereignissen
und Phänomenen zu versammeln, kommt dem Sport, sowohl dem Breitensport als auch dem Spitzensport, aus
meiner Sicht in vielerlei Hinsicht eine eminent wichtige
Rolle zu.
Es kann nicht bestritten werden, dass in einer sehr
medial geprägten Gesellschaft wie der deutschen bzw.
der westeuropäischen Vorbilder im Bereich des Spitzensports für unsere Jugend, für Heranwachsende, aber auch
für die Gesellschaft insgesamt ausgesprochen wichtig
sind; denn nach diesen Vorbildern richten sich Millionen
von Menschen in Deutschland. Deswegen kann man die
Hydra Doping nicht einfach dem organisierten Sport
überlassen. Ich bin der festen Überzeugung: Hier darf
der Staat nicht wegschauen.
({2})
Es ist wichtig, dass wir uns an einen Dreiklang aus
Prävention, Kontrolle und Sanktionen halten. Prävention
muss betont und ausgebaut werden. Kontrolle und Sanktionen spielen eine wichtige Rolle. Eine Verschärfung
des Strafrechts für 7 000 Spitzensportler mag durchaus
angebracht sein, aber ich bin der Überzeugung, dass es
zu kurz gesprungen ist, wenn man erwartet, dass man
nur mit Mitteln des Strafrechts die Hydra Doping wirklich effektiv bekämpfen kann.
({3})
Wir brauchen einen großen Instrumentenkasten. Wir
müssen uns neben dem wichtigen Anti-Doping-Gesetz
mit Sicherheit auch intensiver darüber austauschen, was
wir insbesondere im Bereich der Prävention noch machen können. Ich bin der Meinung, dass wir durchaus
stolz darauf sein können, dass es uns gelungen ist, der
Nationalen Anti Doping Agentur im Haushalt 2015 mehr
als 6,3 Millionen Euro zur Verfügung zu stellen.
({4})
- Da kommt der Einwand „Das reicht aber nicht!“ Ich
möchte ja gar nicht sagen, Sie hätten nicht recht. Es mag
sein, dass dies noch nicht reicht, aber es ist ein schöner
Schritt, wenn man seitens des Bundes den Ansatz für die
NADA von 2014 - da waren es noch 3,3 Millionen Euro auf 2015 fast verdoppelt.
Ich möchte dazusagen, dass bei aller Klage über unzureichende strafrechtliche Möglichkeiten, den Dopingsündern zu Leibe zu rücken, die Finanzierung der
NADA in den letzten Jahren ein Trauerspiel war. Wie
sich dabei die Wirtschaft und die Länder ins Gebüsch
geschlagen haben, war wirklich unwürdig.
({5})
- Ja, ich bin durchaus dieser Meinung, Frau Künast. Sie
sehen ja, es gibt gar nicht so viele Kontroversen. Es gibt
durchaus auch Überschneidungen. Ich bin auch der Meinung, dass die Wirtschaft hier noch mehr tun kann, dass
vor allem aber auch die Länder noch stärker gefordert
sind.
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, die
Sportgerichtsbarkeit ist ein scharfes Schwert. Ich bin
nach wie vor der festen Überzeugung: Man kann dem
einzelnen Sportler - dem Spitzensportler - nichts
Schlimmeres antun, als ihn nicht in die Lage zu versetzen, seinen Spitzensport, von dem er ja häufig lebt, der
häufig seine Existenz- und Lebensgrundlage ist, weiter
auszuüben. Nach dem neuen WADA-Code ist schon
beim ersten Vergehen eine vierjährige Sperre angesagt.
Das bedeutet, um dies einmal klar und offen zu sagen,
für viele Spitzensportler das Ende der Karriere. Wenn jemand vier Jahre lang an keinem Wettkampf mehr teilnehmen kann, dann kann er an sich einpacken.
Das Drohpotenzial der Sportgerichtsbarkeit ist aus
meiner Sicht schon sehr groß. Es darf nicht unterschätzt
werden, und ich denke, wir müssen aufpassen - auch im
laufenden Diskussionsprozess bezüglich dieses Gesetzentwurfes -, dass wir die Sportgerichtsbarkeit nicht aushöhlen. Der Strict-liability-Grundsatz, der anders ist als
im Strafrecht und klar besagt, dass jeder Sportler sofort
dran ist und eine vierjährige Sperre aufgebrummt bekommt, unabhängig davon, ob ihm die persönliche
Schuld des Dopings nachgewiesen werden kann - allein
das Vorhandensein der Dopingsubstanzen in seinem
Körper genügt, um ihn vier Jahre lang zu sperren -, ist
aus meiner Sicht schon ein sehr, sehr scharfes und
schneidendes Schwert. Deshalb wird, denke ich, intensiv
darauf zu achten sein, wie sich das Verhältnis zwischen
Sport- und Strafgerichtsbarkeit weiter entwickelt.
Ich bin auch der festen Überzeugung, dass der entscheidende Schutzzweck dieses Gesetzes die Fairness,
die Chancengleichheit und die Integrität des Sports sein
müssen. Es gibt aber auch noch offene Fragen, und diese
müssen gestellt werden, zum Beispiel, was den Täterkreis betrifft. Ist es angezeigt, wenn es um strafrechtliche
Sanktionsmechanismen geht, die vom Staat aus betrieben werden, dass der Täterkreis nicht vom Staat, sondern
allein dadurch bestimmt wird, welcher Sportler einem
Nationalkader angehört und welcher nicht? Man überlässt es nach diesem Gesetz also den Verbänden, festzulegen, wer überhaupt tauglicher Täter sein kann. Das ist
eine offene Frage, über die wir noch sprechen müssen.
Auch die Frage, welche Einnahmen überhaupt einen
erheblichen Umfang darstellen, die dann zur Strafbarkeit
führen, muss, denke ich, näher erörtert werden. Sehr umfassend ist bereits über die Schiedsgerichtsklausel gesprochen worden, über den ominösen § 11. Ich habe
Verständnis für das Ansinnen bzw. den Wunsch des or10264
Stephan Mayer ({6})
ganisierten Sports, dass man diese Schiedsgerichtsklausel schafft, insbesondere im Lichte der beiden Urteile
des Landgerichts München und des Oberlandesgerichts
München vom 15. Januar 2015 zur Causa Pechstein. Ich
bin aber auch der Meinung, dass man sich schon noch
intensiv ansehen muss, ob die Vorgaben, die die beiden
Gerichte in ihrem Urteil bzw. Zwischenurteil gemacht
haben, insbesondere, was die Ausgestaltung des Internationalen Sportgerichtshofes, des CAS, betrifft, wirklich
erfüllt sind. Ich höre es ja gern, wenn es heißt, der CAS
sagt zu, er werde alle Auflagen erfüllen; aber insbesondere dazu, was das Recht auf den gesetzlichen Richter
und die Ausgewogenheit bei der Besetzung der Richter
beim CAS anbelangt, habe ich noch Fragen.
({7})
Ich habe darauf hingewiesen, dass es ein guter und wichtiger Gesetzentwurf ist, der uns jetzt für die weitere Debatte vorliegt. Es gibt noch offene Fragen. Wichtig ist
mir, dass wir uns intensiv auch der Schaffung strafrechtlicher Regelungen zur Bekämpfung der Spielmanipulationen annehmen. Dafür gibt es meines Erachtens einen
sehr tauglichen Gesetzentwurf der Bayerischen Staatsregierung, dem man nähertreten sollte. In diesem Sinne
sollten wir die weitere Debatte konstruktiv und sachlich
führen.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({8})
Vielen Dank, Stephan Mayer. - Nächste Rednerin:
Dr. Eva Högl für die SPD.
({0})
Liebe Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es freut
mich sehr, dass wir hier zur ersten Lesung des Entwurfs
eines Anti-Doping-Gesetzes zusammengekommen sind,
womit wir - auch das möchte ich einmal sagen - einer
langjährigen Forderung der SPD-Bundestagsfraktion
nachkommen. Dieses Gesetz, liebe Kolleginnen und
Kollegen, wird ein Meilenstein für einen sauberen und
fairen Spitzensport.
Ich möchte meine Rede beginnen mit einem Dankeschön, und zwar mit einem Dankeschön an all diejenigen, die sich unermüdlich engagiert haben, seit mittlerweile zwei Jahrzehnten, für ein Anti-Doping-Gesetz und
gegen Doping.
({0})
Ich möchte allen voran auch einmal unserer geschätzten
Kollegin Dagmar Freitag ganz herzlich Danke schön sagen,
({1})
weil ich weiß, liebe Dagmar - und das wissen wir alle -,
dass du dich seit zwei Jahrzehnten wie keine andere,
aber mit vielen anderen zusammen für einen sauberen
Sport engagierst. Es ist ganz besonders dein Verdienst,
dass wir heute die erste Lesung des Entwurfs eines AntiDoping-Gesetz haben; dafür ein Dankeschön.
Zu danken ist auch den beiden Bundesministern. Der
Bundesminister des Innern und der Bundesminister der
Justiz haben einen wirklich hervorragenden Entwurf
vorgelegt.
({2})
- Dank gehört auch zu einer guten Kultur des gemeinsamen Diskutierens hier.
({3})
Deswegen finde ich es wichtig, mit einem Dank zu beginnen.
({4})
Ich möchte dem Eindruck widersprechen, dass wir
hier etwas machen und diskutieren, ohne Vertreterinnen
und Vertreter des Sports einzubeziehen. Wir haben dieses Anti-Doping-Gesetz mit vielen Sportlerinnen und
Sportlern, mit vielen Sportverbänden diskutiert. Das,
was wir heute vorlegen, ist auch mit Sportlerinnen und
Sportlern ausreichend debattiert; denn die haben wie
kein anderer ein Interesse daran, dass wir einen sauberen
Sport bekommen.
({5})
- Ich danke auch der Opposition, lieber Herr Hahn, dass
wir gemeinsam und konstruktiv hier über ein Anti-Doping-Gesetz sprechen.
({6})
Es ist schon viel gesprochen worden. Ich möchte aber
noch einmal betonen - weil es ja um den Gesetzeszweck
geht, darum, warum wir für den Sport das Strafrecht
brauchen -, dass insbesondere der Leistungssport eine
Vorbildfunktion hat wie kein anderer. Der Sport motiviert Menschen, sich selber sportlich zu betätigen oder
ihren Idolen nachzueifern. Der Leistungssport motiviert
den Breitensport und uns alle.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sportlerinnen und
Sportler, die dopen, missbrauchen diese Vorbildfunktion.
Sie verraten die gesellschaftlichen Werte, die mit dem
Sport einhergehen und die der Sport verkörpert, wie
Fairness und Teamgeist. Deswegen ist es unsere Aufgabe, hier auch regelnd einzugreifen; denn wenn angesichts gedopter Sportlerinnen und Sportler die Botschaft
lautet: „Motivation und Training reichen nicht aus. Nicht
wer sich anstrengt, kommt aufs Siegertreppchen, sondern nur wer dopt, kann seine Ziele erreichen“, dann ist
das eine Gefahr für den Sport.
Ich will ganz offen sagen: Für mich persönlich zeigt
das Beispiel Tour de France - Lance Armstrong ist
schon genannt worden - doch, wie, wenn gedopt wird,
nicht nur das Interesse am Sport, sondern auch die Vorbildfunktion verloren geht, man irgendwann keine Lust
mehr hat, zuzuschauen oder mitzufiebern. Deswegen
sind wir, der Gesetzgeber, gefragt.
({7})
Liebe Frau Künast, wir brauchen das Strafrecht. Ich
gehöre wirklich zu denjenigen - wie viele andere in diesem Hause -, die ganz klar der Auffassung sind, die in
dem Zitat von Herrn Hassemer zum Ausdruck kommt:
Das Strafrecht ist die Ultima Ratio. - Wir machen es uns
ja nicht leicht mit dem Strafrecht, sondern haben über
das Thema Doping Jahrzehnte sorgfältig miteinander
diskutiert. Aber wir müssen doch zur Kenntnis nehmen,
dass es trotz umfassender Kampagnen, trotz Maßnahmen der Sportverbände, trotz der vielen Initiativen der
letzten Jahre und Jahrzehnte nicht möglich war, Doping
im Spitzensport vollständig und letztlich effektiv zu bekämpfen. Der Grund war meiner Meinung nach sicherlich auch, dass den dopenden Sportlerinnen und Sportlern eben keine strafrechtlichen Konsequenzen drohen,
sondern nur der Ausschluss aus den Wettkämpfen. Deswegen ist es notwendig und richtig, dass wir, um die Integrität des Sports zu schützen, auch zum Strafrecht greifen. Wir signalisieren damit - und das ist eine wichtige
Botschaft für den gesamten Sport -: Wer dopt, landet
nicht auf dem Siegertreppchen, sondern gegebenenfalls
auch im Gefängnis. - Ja, das ist eine harte Strafe; aber
das ist angebracht und richtig an dieser Stelle.
Zwei Bemerkungen noch: Der Sport ist damit nicht
aus der Verantwortung heraus. Wir übernehmen nicht die
Verantwortung für den Sport, sondern wir stärken den
Sport dadurch, dass wir die Schiedsgerichte stärken. Wir
stärken auch die Verbände; sie werden durch die Ergänzung des Strafrechts auch in ihren eigenen Maßnahmen
gestärkt.
Es ist richtig, dass wir zwischen Amateur- und Freizeitsportlern auf der einen Seite und Spitzensportlern auf
der anderen Seite differenzieren. Hier sind Sie inkonsequent, liebe Frau Künast, weil Sie einerseits sagen, wir
bräuchten das Strafrecht gar nicht, und uns andererseits
vorwerfen, dass wir den Breitensport nicht einbeziehen.
Wir beziehen den Breitensport bewusst nicht ein, weil
wir der Auffassung sind, dass es ganz entscheidend auf
die Vorbildfunktion des Spitzensports ankommt.
({8})
Noch ein allerletzter Punkt: Wer sagt, dass dieser Gesetzentwurf nicht ausreichend ist, weil wir das eigentlich
international regeln müssen, der geht auch einen Schritt
zu kurz. Wir wollen in Deutschland damit anfangen; wir
beginnen hier. Wir wollen, wie es eben so schön hieß,
Weltmeister im Kampf gegen Doping werden, und deswegen würde ich mich freuen, wenn wir dafür ein Vorbild auf internationaler Ebene werden.
Wir werden gute Beratungen haben und noch in diesem Jahr ein gutes Anti-Doping-Gesetz auf den Weg
bringen.
Herzlichen Dank.
({9})
Nachdem sie sich jetzt bedankt hat, bedanke ich mich
auch bei der Rednerin, bei Eva Högl. - Als nächster
Redner kommt jetzt Dieter Stier für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Mit dem vorgelegten Entwurf eines Gesetzes zur Bekämpfung von Doping im
Sport legen wir unsere Stoßrichtung zugunsten eines dopingfreien Sports deutlich fest.
Doping ist heutzutage keine bittere Pille mehr, sondern ein hochgradig präzisiertes und auf molekularbiologische Prozesse abgestimmtes System von körperlichen
Leistungssteigerungen. Das Wettrennen um die Zeit hat
zugenommen. Immer neue Dopingsubstanzen werden in
Kellerlaboren schneller produziert und in Umlauf gebracht, als irgendeine Antidopingagentur sie auf Verbotslisten setzen kann.
Unumwunden ist zunächst festzustellen, dass der
heute vorliegende und von uns in erster Lesung zu beratende Entwurf eines Anti-Doping-Gesetzes eines der
wichtigsten sportpolitischen Vorhaben der Großen Koalition ist.
({0})
In Deutschland gibt es bislang kein eigenständiges
Gesetz gegen Doping, stattdessen wurde eine Reihe von
Antidopingnormen in verschiedenen Grenzen, die zum
Teil Strafen und Ermittlungen durch Behörden vorsehen,
für sehr sinnvoll und auch ergiebig erachtet. Das sehr
engmaschige Dopingkontrollsystem mit Trainings- und
Wettkampfkontrollen stellt bisher ein wirkungsvolles Instrument zur Bekämpfung von gezielter Leistungsmanipulation dar. 2007 wurde das Arzneimittelgesetz reformiert, welches das Doping und dessen Verbot in den
staatlichen Rechtsbereich hineinbrachte. Das geschah
auch deshalb, um den massiven Dopingvorfällen der
letzten Jahre Einhalt zu gebieten.
Der NADA-Code, der WADA-Code und entsprechende Antidopingkonzepte und Präventionsprogramme
kosten hinsichtlich eines Fair Plays in unserem Sport
viel Schweiß und Geld. Deutschland beteiligt sich mit
immensen jährlichen Summen - das ist Ihnen bekannt auch finanziell an der Dopingbekämpfung. Intensive und
systematische Bemühungen auf der einen Seite und in
den Medien offensichtlich nicht einzudämmende Do10266
pingskandale auf der anderen Seite kennzeichnen den
Iststand.
Wie bereits viele Vorredner deutlich machten, sind es
auch für mich weniger die generellen Vorbehalte als
vielmehr die komplexen rechtlichen Detailfragen an den
Scharnierstellen dieses Gesetzentwurfs, die mich umtreiben. Hier müssen wir Antworten finden. Dies muss sich
natürlich auch auf die Zeit auswirken, die für ein gründliches parlamentarisches Verfahren notwendig ist.
Wir müssen das Gesetzesvorhaben an seinem Ziel bemessen, der Integrität des Sports zur Geltung zu verhelfen. Diesbezüglich möchten wir, die CDU/CSU-Bundestagsfraktion, deutlich machen, dass eine Integrität nicht
dadurch hergestellt wird, dass jeder Sportler mit einem
bloßen Strafmaß überzogen wird. Das zu schützende
Rechtsgut muss klar definiert sein, die Rechtsfolgen
müssen ableitbar sein und das Verfahren für einen funktionierenden Sport muss auch praxistauglich sein.
Wir kennen dabei die Herausforderungen. Es beginnt
bei der Auswahl der Athleten und geht über die Art der
Kontrolle, die Qualität der Durchführung, die Festlegung
der Analysemethoden und das Ergebnismanagement bis
hin zur Sanktionierung. Wir haben das Problem der eindeutigen Nachweisbarkeit von bestimmten Dopingsubstanzen. Die Tatfeststellung ist oft schwierig, und die
Strafverfolgung ist nicht immer problemlos. Hinzu kommen auch internationale Vorbehalte, die, auch wenn sie
unser Rechtsempfinden selbst sensibel berühren, in der
Waagschale zu berücksichtigen sind. Warum sollte
Deutschland gegenüber seinen Athleten mit Vollzugsstrenge vorgehen, während in anderen Ländern die gesteuerte Regulierung von Epo - ob durch Xenongas oder
Blutdoping - Tagesgeschäft zu sein scheint?
Das Institut für Biochemie der Deutschen Sporthochschule Köln stellt fest, dass die Epo-Produktion durch
gezielte Dopingmaßnahmen innerhalb von 24 Stunden
um den Faktor 1,6 - auf 160 Prozent - gesteigert werden
kann: mehr Blutkörperchen im Körper, mehr Sauerstoff
auf der Laufbahn. In der medialen Berichterstattung
zeigt man mit dem Finger auf jene Länder, die diesen Effekt offensichtlich kennen. Meine Damen und Herren,
Sotschi hat uns gezeigt, was eine auf 160 Prozent gesteigerte Epo-Produktion für die Medaillentabelle bedeuten
kann.
Viele Rechtsgutachten und Stellungnahmen haben
den Entscheidungsprozess hin zum jetzigen Entwurf des
Gesetzes begleitet. Es gibt Bedenken und skeptische
Meinungen hinsichtlich der Durchschlagskraft eines solchen Gesetzes, aber auch seiner juristischen Haltbarkeit.
Ich spreche mich deutlich dafür aus, einen sauberen
Sport und ehrliche Leistung auch gesetzlich zu untermauern; aber es muss uns fernliegen, Ermittlungsverfahren gegen jedermann heraufzubeschwören. Wir dürfen
das Augenmaß gegenüber den Athletinnen und Athleten
- sie sind nun einmal die Adressaten dieses Gesetzes nicht verlieren.
Ein abschließendes Ja zu diesem Gesetz begründet
sich für mich vor allem in einem Punkt: Wir liefern mit
dem Gesetz ein sportpolitisches Zeichen, damit bei uns,
aber auch im Ausland unmissverständlich feststeht: Der
Gegner im Kampf gegen Doping im Spitzensport hat
starke Muskeln, aber wir kämpfen mit härteren Bandagen. Doping muss ein Ende haben.
Im jetzigen Entwurf des Anti-Doping-Gesetzes haben
wir uns, auch vor dem Hintergrund des Koalitionsvertrages, darauf geeinigt, zwei Dinge sinnlogisch miteinander
zu verbinden: Auf der einen Seite soll Doping strafrechtlich stärker verfolgt werden, auf der anderen Seite gilt
es, der Spielmanipulation entgegenzutreten. Beides wollen wir gemeinsam im Gesetzgebungsverfahren zu einem Ziel führen.
({1})
Ein grundsätzliches Problem der Dopingverfolgung
bleibt, dass über das, was verboten ist, nicht immer zeitgerecht Klarheit geschaffen werden kann. Darüber gilt es
nachzudenken; da gilt es, abzuwägen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, einige von Ihnen
wissen, dass ich selbst Erfahrungen im Pferdesport sammeln durfte, im Übrigen eine Sportart, die seit vielen
Jahren in nicht unerheblichem Maße mit Höchstleistungen und einer nicht geringen Medaillenausbeute zum
Ansehen unseres Landes beigetragen hat. Hier haben wir
es zum Beispiel nicht nur mit einem Athleten, dem Reiter, dem Fahrer, dem Voltigierer, zu tun, sondern es zählt
auch der vierbeinige Kamerad zum Team.
Nun stellen Sie sich einmal vor - ich greife mir einfach
mal den Kollegen Mutlu von der Opposition heraus -,
({2})
der Kollege Mutlu würde ähnlich erfolgreich reiten wie
ich,
({3})
aber würde mir den Sieg im Wettbewerb neiden und es
dadurch kundtun, dass er nachts durch die Stallgasse mit
den Pferden geht, meinem Pferd ein Mittel mit einer verbotenen Substanz in die Futterkrippe gibt
({4})
oder es ihm auf anderem Wege hilfreich verabreicht. Im
Falle einer beim kommenden Wettbewerb stattfindenden
Medikationskontrolle würde natürlich ich und nicht der
Kollege zur Verantwortung gezogen. - Ich habe mich
aus der Sicht eines Pferdesportlers diesbezüglich gefragt, wie wir uns hier die gesetzliche Regelung genau
vorstellen. Auch die Beweisführung wird hier nicht einfach sein; das gilt auch für die Feststellung der Täterkreise.
Um bei diesem Beispiel zu bleiben: Die Deutsche
Reiterliche Vereinigung sieht beispielsweise keine Begründung dafür, die Schiedsgerichtsbarkeit als fragwürdig anzusehen. Die Unterschrift unter der AthletenDieter Stier
vereinbarung, verbunden mit der Zustimmung zur
Schiedsgerichtsbarkeit, erfolgt hier weniger unter Druck
als vielmehr in dem klaren Wissen, worauf man sich dabei einlässt. Mit anderen Worten: Es stehen zwei Dinge
gegenüber, nämlich die verfassungsrechtlichen Bedenken hinsichtlich der Schiedsgerichtsbarkeit auf der einen
Seite und die bessere Praktikabilität der Schiedsgerichtsbarkeit auf der anderen Seite. Im Laufe der kommenden
Beratungen wird sich also zeigen müssen, wie es uns
hier gelingt, beides so miteinander zu verbinden, dass
damit in keinem Falle eine Athletenkarriere durch einen
fünf Jahre währenden Strafprozess auf zweifelhafte
Weise zerstört wird. Wir dürfen nicht vergessen - so banal es auch klingen mag -: In der Vergangenheit wurden
benutzte Substanzen in einem Müsliriegel und in Zahnpasta nachgewiesen.
Bitte nicht die Redezeit vergessen.
Ich komme zum Ende, liebe Frau Präsidentin. Gestatten Sie mir noch einen Satz. - Da wir Sportpolitiker ja
gelegentlich als sehr feinsinnige Menschen gelten,
({0})
möchte ich abschließend den Bogen von diesem Gesetzentwurf zu Friedrich Schiller spannen
({1})
und einen Vergleich bemühen: Das Gießen eines Gesetzes gestaltet sich in der Tat wie das Gießen von Schillers
Glocke. Wir wollen keine Missklänge, wir wollen nichts
Halbherziges, wir wollen eine Gesamtform mit klarer
Tonalität
Und wir wollen zum Ende kommen.
({0})
- als Ausdruck von Fairness und einer unteilbaren Integrität des Sportes.
Frau Präsidentin, ich danke Ihnen für die Zugabe.
({0})
Ach ja, ich habe mich auch mal im Reitverein herumgetrieben.
Vielen Dank, Herr Kollege Stier. Aber eine Bemerkung muss ich doch zurückweisen: Natürlich würde
Mutlu Ihren Pferdchen nie etwas antun. - Ich gehe davon aus, Herr Mutlu.
({0})
Nächste Rednerin in der Debatte: Michaela
Engelmeier für die SPD.
({1})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bevor ich zu
dem wirklich Wichtigen an diesem Vormittag komme
und ebenfalls über das Anti-Doping-Gesetz rede, erlauben Sie mir eine Vorbemerkung. Frau Künast, ich fand
es schon erstaunlich, dass Sie uns gerade vorgeworfen
haben, dass wir nicht gemeinsam mit Ihnen die Anhörung durchführen wollten. Das erste Mal habe ich von
Ihrem Ansinnen, das gemeinsam zu machen, vor einer
Woche gehört. Da hatten wir unter den Obleuten im
Sportausschuss schon einvernehmlich beschlossen, dass
wir diese Anhörung am 17. Juni durchführen. Unter dem
Gesichtspunkt, dass das ein besonders öffentlichkeitswirksames Thema ist, finde ich das schon ein bisschen
schwierig, was Sie gerade gesagt haben.
({0})
Sie sind aber herzlich eingeladen zu der Anhörung am
17. Juni.
({1})
- So ist das eben. Manchmal hat man wichtigere Termine im Leben.
Sport hat eine große Bedeutung für die Gesellschaft.
Im Sport werden Werte wie Fairness, Teamgeist und
Einsatzbereitschaft gelebt. Sport ist Bildung, Integration
und fördert gesellschaftliche Vielfalt.
Frau Engelmeier, erlauben Sie eine Zwischenfrage
- die haben Sie provoziert - von Frau Künast?
Sie hat ja auch gerade provoziert.
Egal, wer das provoziert hat, aber die Wahrheit muss
raus. - Mein Ausschusssekretariat hat bei dem des Sportausschusses angefragt, weil wir gehört haben, dass dieser Ausschuss schon über den 17. Juni als Anhörungstermin redet, bevor das Ganze hier überhaupt besprochen
wurde.
({0})
- Natürlich können die Obleute das beschließen. Ich
kann aber als Vorsitzende des Ausschusses für Recht und
Verbraucherschutz - und in dessen Zuständigkeit fällt
das Strafgesetzbuch - bei Ihnen anfragen, weil es üblicherweise nicht möglich ist, dass mitberatende Ausschüsse eine eigene Anhörung machen. Da ist dann als
Antwort gekommen: Das ist nicht zu verschieben. Außerdem hat mich, ehrlich gesagt, erreicht: Wir sind da
auch nicht erwünscht.
Wenn die Bereitschaft besteht, freue ich mich; dann
wird auch Frau Engelmeier sich dafür einsetzen. Ich
sage Ihnen nur: Ich wollte zu dem Zeitpunkt der Anhörung nicht im Adlon Tee trinken, sondern der Rechtsausschuss hat gleichzeitig eine Anhörung, zu der schon eingeladen ist; das überschneidet sich um eine Stunde. Ich
sehe mit Freuden, dass wir jetzt in der Lage sind, die
Termine aufeinander abzustimmen.
Danke.
({1})
Frau Künast, das mag ja so sein. Aber in der Obleutebesprechung waren alle vier Fraktionen anwesend, und
wir haben das da einstimmig beschlossen. Uns hat tatsächlich erst vor einer Woche Ihr Ansinnen erreicht, eine
gemeinsame Anhörung durchzuführen. Da waren die
Einladungen aber schon verschickt.
({0})
Jetzt ist Frau Engelmeier dran.
Ich denke, jetzt ist alles gesagt. Wir freuen uns, wenn
Sie kommen, auch eine Stunde später; die Anhörung
dauert ja ein bisschen. Ich denke, da werden wir noch einen gemeinsamen Weg finden.
({0})
- Ja, ich bin unglaublich verkniffen, Frau Künast. Ich
trinke zum Frühstück immer Essig.
({1})
Sportlerinnen und Sportler sind Idole. Nicht zuletzt ist
Sport ein bedeutender Wirtschaftsfaktor in Deutschland.
Damit das so bleibt, müssen wir für den Schutz des
Sports etwas tun. Doping hingegen ist Betrug. Doping
zerstört den sportlichen Wettbewerb und verhindert Fairness sowie Chancengleichheit und gefährdet die Gesundheit von Sportlerinnen und Sportlern. Aus diesem
Grund haben wir im Koalitionsvertrag verankert, dass
weitergehende strafrechtliche Regelungen beim Kampf
gegen Doping und Manipulationen im Sport geschaffen
werden müssen, und wir halten Wort.
Das Ziel, das wir mit dem Gesetz verfolgen, macht
deutlich, dass es sich beim Anti-Doping-Gesetz um ein
Schutzgesetz handelt. Das Anti-Doping-Gesetz ist ein
Schutzgesetz, weil es zum einen die Integrität sportlicher
Wettbewerbe und zum anderen die Gesundheit der Spitzensportler und Spitzensportlerinnen schützt. Die Werte,
die wir mit dem Anti-Doping-Gesetz verbinden, sind
Fairness, Chancengleichheit und Gesundheit. Doping
gefährdet die ethisch-moralischen Werte des Sports. Doping gefährdet die Vorbildfunktion des organisierten
Sports. Wir hatten übrigens nie vor, mit diesem Gesetz
die Autonomie des organisierten Sports anzugreifen. Sie
bleibt erhalten, weil wir die sportinterne Dopingbekämpfung mit dem Anti-Doping-Gesetz insgesamt unterstützen und die Sportgerichtsbarkeit nicht infrage stellen.
Neben der gesellschaftlichen Bedeutung kommt dem
Sport aber auch eine ökonomische Bedeutung zu. Diese
Bedeutung wird durch unser Anti-Doping-Gesetz auf
zweifache Weise geschützt. Sie wird zum einen geschützt, weil der organisierte Sport jährlich sehr viel
Geld in Form von öffentlichen Fördermitteln erhält und
wir Politikerinnen und Politiker unsere Verantwortung
darin sehen und sicherstellen, dass diese Gelder zielführend eingesetzt werden. Zum anderen ist der sportliche
Wettbewerb auch von Sponsoren und Preisgeldern geprägt. Eine nachträgliche Aberkennung von Siegen und
Preisgeldern schadet in der Regel nicht nur den jeweiligen Sportlern, sondern auch dem Wettbewerb und eventuell einer gesamten Sportart. Ich nenne nur das Stichwort - es ist heute schon mehrfach gefallen - „Tour de
France“.
Daher ist es für mich ein Erfolgsmodell, dass es uns
mit unserem Gesetzentwurf gelungen ist, zum ersten
Mal eine Rechtsgrundlage verschiedener Maßnahmen
im Kampf gegen Doping zu bündeln. Wir halten also
Wort und sorgen für Verbesserungen der sportlichen
Rahmenbedingungen. Schritt eins ist das Anti-DopingGesetz, und Schritt zwei, Herr Grindel, wird das Gesetz
für die Integrität und gegen Spielmanipulation im Sport
sein.
Wir schaffen die Erweiterung der bisherigen im Arzneimittelgesetz geregelten strafrechtlichen Verbote, und
wir erfassen auch die Dopingmethoden. Wir schaffen ein
neues strafbewehrtes Verbot des Selbstdopings, das erstmals die gezielt dopenden Leistungssportler in organisierten Sportwettbewerben erfasst, und wir erweitern die
Aufgaben der Nationalen Anti Doping Agentur. Um alle
Anregungen und Bedenken, die wir in der vergangenen
Woche am Montag bei einer Veranstaltung der SPDBundestagsfraktion mit Sportlern und mit Vertretern aus
der Wissenschaft erhalten haben, aufzunehmen, laden
wir noch einmal herzlich ein. Am 17. Juni wird eine öffentliche Anhörung des Sportausschusses durchgeführt.
Diese werden wir im Anschluss bewerten.
Aber eines steht schon fest: Mit Blick auf die deutsche, auf die Hamburger Olympia- und paralympische
Bewerbung ist unser Anti-Doping-Gesetz ein QualitätsMichaela Engelmeier
siegel, ja geradezu ein großer Pluspunkt, der uns im internationalen Wettstreit hinsichtlich dieser Sportgroßveranstaltung zugutekommen kann.
Frau Kollegin.
Ja, ich bin sofort fertig.
Ja, wirklich.
Ich schließe meine Rede mit meiner Einladung an den
organisierten Sport und an alle, die hier sitzen, an alle
Fraktionen: Kämpfen Sie gemeinsam mit uns gegen Doping und Manipulationen im Sport.
Ich danke Ihnen.
({0})
Danke, Frau Engelmeier. - Ich begrüße auf unserer
Tribüne, also an einem für ihn ungewöhnlichen Ort, unseren Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung aus dem Allgäu.
({0})
Letzte Rednerin in der Debatte: Karin Strenz für die
CDU/CSU-Fraktion.
({1})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Thomas Hicks, ein amerikanischer Läufer, gewann bei den Olympischen Spielen 1904 die Goldmedaille im Marathonlauf. Er war, wie immer man es auch
nennen mag, ein Wegbereiter für das Dopen im Sport.
Ein Schluck Brandy, verfeinert mit Strychnin - das ist
ein Stoff, den wir heute auf der Dopingliste führen -,
verhalf ihm zu überragender Leistung und letztendlich
zum Sieg. Damals gab es noch keine klaren Regeln und
Richtlinien in Bezug auf die Definition und Einnahme
von Dopingmitteln. So durfte er am Ende seine Medaille
behalten. Das ist lange her.
Lassen Sie mich den Blick auf die heutige Zeit richten. Ben Johnson, Lance Armstrong, Jan Ullrich - sie
waren namhafte Spitzensportler, die weltweit ein hohes
Ansehen für ihre wirklich herausragenden sportlichen
Leistungen genossen. Für viele, gerade für die jüngere
Generation, waren sie Idole, sportliche Helden. Sie klebten ihre Poster an die Wände ihrer Kinderzimmer und saßen stundenlang vor den Bildschirmen, um ihre Lieblingssportler anzufeuern. Sie trugen ihre Trikots, um die
Erfolgsgeschichte ihres sportlichen Schwarms intensiv
zu begleiten und zu leben.
Jedes Kind hat den Wunsch, einmal in die Fußstapfen
seines ganz persönlichen Idols zu treten. Auch diese drei
Sportler verkörperten das mitreißende Gefühl, dass tatsächlich jeder Einzelne das schaffen kann, was sie sich
selbst mit enormer Kraftanstrengung und zielstrebiger
Disziplin erarbeitet haben. Sie waren wahre Vorbilder
für die Gesellschaft und wichtige Botschafter ihrer jeweiligen Länder.
Doch jede dieser drei Sportlerkarrieren erlebte einen
fatalen Wendepunkt, der die Fassade dieser Spitzensportler krachend zusammenfallen ließ. Sie produzierten
Schlagzeilen wie „Radstars als Lügner überführt“, „Kein
Ende beim Doping in Sicht“ und „Doping raubt dem
Sport seinen Stellenwert“. Solche Schlagzeilen brauchen
wir nicht.
Es ist unstrittig, dass Doping die Integrität des Sports
in einem enormen Ausmaß belastet. Die Sportlerinnen
und Sportler, die dem Versuch der Steigerung ihrer körperlichen Leistungsfähigkeit durch die Einnahme unerlaubter Substanzen nicht widerstehen konnten, schaden
nicht nur dem Image unserer erfolgreichen Sportgeschichte, nein, sie gefährden damit vor allem auch ihre
eigene Gesundheit und ihr Leben, und davon haben wir
nur eins.
Diesem Defizit muss zweifellos entschieden entgegengewirkt werden. Es ist oberste Prämisse, den Spitzensport als Visitenkarte Deutschlands in der Welt vor
nicht hinnehmbaren Entwicklungen und Einflüssen zu
bewahren. Die effektive Bekämpfung des Dopings im
Sport ist vor diesem Hintergrund schon seit langem ein
wichtiges Bestreben des Parlaments. Johnson, Armstrong
und Ullrich wurden durch die Aberkennung ihrer Titel
und eine Sperre für die Teilnahme an diversen Sportveranstaltungen für unterschiedliche Zeiträume entsprechend sanktioniert.
Über eines müssen wir uns im Klaren sein: Wer dopt,
betrügt. Wer in Deutschland bewusst täuscht und dadurch einen entscheidenden Vorteil durch seine unethischen Handlungen gewinnt, wird je nach Straftatbestand
im Rahmen des Strafgesetzbuches geahndet.
Verschiedene gesetzgeberische Schritte zur Dopingbekämpfung sind in den letzten Jahren auf den Weg gebracht worden. Doch wollen wir Doping im Sport weitestgehend zum Erliegen bringen - und das ist unser
Anspruch -, gilt es, weitere Lücken zu schließen.
Daher bin ich über den Entwurf der Bundesregierung,
über den wir heute debattieren, sehr dankbar. Mit dem
Gesetz zur Bekämpfung von Doping im Sport gehen wir
einen großen Schritt in die richtige Richtung und können
künftig verstärkt die Gewähr für einen sauberen Sport
leisten. Die existierenden Sanktionsinstrumente sollen
mit dem neuen Anti-Doping-Gesetz nachhaltig unterstützt werden.
({0})
Die immense Neuregelung dieses speziellen Bereichs
hilft nicht nur, die Gesundheit der Sportler in erheblichem Maße zu schützen, sondern sie fördert den Schutz
der Gerechtigkeit und des Gleichheitsstrebens bei natio10270
nalen und internationalen Wettbewerben. Außerdem
bringt es uns einen großen Schritt weiter, die Integrität
unseres Sportes zu garantieren.
Gleichwohl ist die öffentliche Anhörung, die am
17. Juni vorgesehen ist, von erheblicher Bedeutung;
denn wir benötigen ein konsensorientiertes Gesetz, das
von allen Seiten getragen und unterstützt wird. Ich bin
mir sehr sicher, dass wir damit die unabdingbaren Faktoren Prävention, Kontrolle und Sanktionen in eine optimale Form bringen werden. Wenn der Gesetzentwurf
aber von möglichst allen Fraktionen getragen werden
soll, dann sollte man auch die Fairness und Toleranz haben, eine solche Sitzung gemeinsam mit dem Rechtsausschuss durchzuführen und sie möglichst um eine Stunde
zu verschieben.
({1})
Es steht uns gut zu Gesicht, Fairness vorzuleben,
wenn wir Fairness einfordern. Das wird auch bei unseren
Nachwuchssportlern einen entsprechend starken Eindruck hinterlassen, da diese Veranstaltung öffentlich ist.
Ich möchte mich an dieser Stelle bei all den Sportlern
und bei denjenigen, die sie trainieren, ebenso wie bei den
Familien bedanken, die den Breitensport unterstützen.
Mein Dank gilt all denen, die den Mut nicht aufgegeben
haben und darauf vertrauen, dass es auch Spitzensportler
gibt, die nicht im Nachhinein als Lügner oder als Dopingfall enttarnt werden. Denn wir brauchen auf lange
Sicht Vorbilder dieser Art.
Ich wünsche allen Sportlerinnen und Sportlern bei
den anstehenden Spielen, wo auch immer auf dieser
Welt, dass sie erfolgreich zurückkommen und dass sie
weiterhin Vorbilder bleiben, die unsere Jugend braucht.
Herzlichen Dank.
({2})
Vielen Dank, Frau Kollegin Strenz. - Ich schließe die
Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 18/4898 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.
Ich wünsche allen Sport- und Fußballfans morgen
Nachmittag aufregende 90 Minuten. Nicht wahr, Volker?
({0})
- Man muss schon etwas tun.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 29 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten
Renate Künast, Dr. Konstantin von Notz, Nicole
Maisch, weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur
Änderung des Bundesdatenschutzgesetzes Verbesserung der Transparenz und der Bedingungen beim Scoring ({1})
Drucksache 18/4864
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({2})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz ({3})
Federführung strittig
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich bitte die Kollegen und Kolleginnen, die Plätze
einzunehmen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Rednerin in der
Debatte gebe ich Renate Künast für Bündnis 90/Die
Grünen das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Es geht um Scoring-Verfahren. Tatsache ist, dass die Scoring-Verfahren, die heutzutage überall eine Rolle spielen, erheblichen Einfluss auf
das Alltags- und Geschäftsleben von Verbraucherinnen
und Verbrauchern haben. Sie entscheiden nämlich, zu
welchen Konditionen - wenn überhaupt - man einen
Kredit von einer Bank bekommt, ob und zu welchen Bedingungen der Mobilfunkvertrag abgeschlossen wird
und ob wir beim Einkauf im Internet per Rechnung oder
per Vorkasse bezahlen müssen - um nur einige wenige
Beispiele zu nennen.
Der Deutsche Bundestag hat vor einigen Jahren eine
Änderung vorgenommen. Was ist der Status quo, was
passiert hier eigentlich? Es ist so, dass beim Scoring
Auskunfteien - die bekannteste ist die Schufa, sie ist
aber bei weitem nicht die einzige - wirklich massenhaft
Daten von Verbrauchern erheben, benutzen, bewerten
und in Relation zueinander stellen, von denen die meisten Verbraucher gar nichts wissen oder ahnen. Dann
werden damit Geschäfte gemacht. Die Daten werden
verkauft, zum Beispiel an Banken oder Onlineshops,
wenn diese wissen möchten, zu welchen Konditionen sie
Verträge mit einer gewissen Person eingehen.
Heute ist es so, dass wir theoretisch nach der Rechtslage das Recht haben, uns einmal im Jahr eine Auskunft
zu holen. Das Tragische für die, die es tun, ist nur, dass
sie sehr viel Papier erhalten, aber gar nicht verstehen,
was darin steht. Diese Art der Auskunft ist ohne Wert,
weil sie nicht verständlich ist und weil man nicht weiß,
wie ein bestimmter Score-Wert überhaupt zustande
kommt und welche Auswirkungen er hat. Man weiß
nicht, ob die Wohnadresse zählt oder ob man im Internet
etwas falsch gemacht hat. Man kann sich nicht gegen die
Erhebung wehren, um den Score-Wert in Zukunft zu verändern.
An dieser Stelle setzen wir mit unserem Gesetzentwurf an. Wir wollen nachbessern und dafür sorgen, dass
das Scoring-Verfahren in Zukunft für die Verbraucher
transparent und nachvollziehbar ist. Es muss möglich
sein, zu intervenieren und sich gegen das Scoring zu
wehren, statt wie bisher alle Daten preisgeben und sein
gesamtes Leben offenlegen zu müssen.
Was wollen wir ändern? Es sind sechs Punkte.
Erstens wollen wir, dass in Zukunft diskriminierende
Daten nicht mehr über die Bonität entscheiden dürfen.
Was sind diskriminierende Daten? Zum Beispiel, dass
man in der sogenannten falschen Straße wohnt, die ein
negatives Image hat, wobei dann auf eine schlechte Bonität geschlossen wird. Das betrifft auch die Postleitzahl.
Das nennt man Geo-Scoring.
Wir wollen auch, dass das Geschlecht keine Rolle
mehr spielen darf und dass soziale Netzwerke nicht mehr
ausgewertet werden dürfen. Warum? Wenn Kommunikation heute im Netz durch Social Media stattfindet,
werden diese komplett ad absurdum geführt. Wenn man
weiß, dass ständig einer auswertet und man bei sämtlichen Verträgen, die man schließen will, ein negatives
Scoring bekommt, möglicherweise für ein Verhalten, das
man selber gut findet, dann hat das einen negativen Effekt; denn man weiß nicht, wer da wie auswertet. Also:
Diskriminierungsgeeignete Daten sollen nicht mehr über
die Bonität entscheiden dürfen.
({0})
Zweitens. Mit unseren persönlichen Daten werden
Geschäfte gemacht und Score-Werte erhoben. Wir finden, dass dann dazu gehört, dass jährlich von den Auskunfteien aktiv informiert wird. Es ist eine Bringschuld
und keine Holschuld. Diese Information muss jährlich
erfolgen und kostenlos sein.
({1})
Nach der ersten Mitteilung kann man sich überlegen,
ob man einen Zugangscode für ein Internetportal haben
will, um die Werte abzurufen, oder die Information per
Post möchte.
Drittens. Wir wollen Klarheit über die Datenrelevanz
und die konkrete Speicherdauer. In Zukunft soll man
auch Informationen über die einzelnen Daten, ihre Gewichtung und darüber erhalten, wie lange sie gespeichert
werden, damit man weiß, wann sie bei der Gewichtung
wieder herausfallen. Ich finde, das ist unser gutes Recht;
denn es geht ja um unsere Daten.
({2})
Wir wollen - viertens -, dass Unternehmen, die die
Daten sammeln und weitergeben, uns vorab informieren.
Wir wollen - fünftens - eine bessere Aufsichtskontrolle. Die Datenschutzbehörden sollen verpflichtet werden, die Einhaltung datenschutzrechtlicher Vorschriften
einmal pro Jahr zu kontrollieren, um auch tatsächlich
Überwachung zu gewährleisten.
Wir wollen - sechstens - eine zeitgenaue Löschung
von negativen Einträgen, und zwar nicht erst nach zwölf
Monaten. Wenn man erkannt hat, dass zu löschen ist,
soll auf den Tag genau gelöscht werden; denn es kann ja
sein, dass wir nächste Woche einen Mobilfunk- oder
Kreditvertrag abschließen wollen. Was falsch ist, muss
weg und kann ja wohl im digitalen Zeitalter gelöscht
werden.
({3})
Meine Damen und Herren, dass unser Gesetzentwurf
richtig ist, zeigen viele Beispiele.
Das zeigt die Tatsache, dass die Verbraucherschutzminister der Länder gerade in der letzten Woche mit
16 : 0 einen ähnlichen Beschluss mit ähnlichen Kernpunkten und Forderungen gefasst haben.
Das zeigt ein Gutachten, das ja noch vom alten Verbraucherschutzministerium in Auftrag gegeben und
Ende letzten Jahres veröffentlicht wurde. Darin wurde
nämlich auch gesagt, dass die alte Datenschutznovelle
von 2009 Lücken aufweist, nämlich dass die Transparenz des Scoring-Verfahrens immer noch unzureichend
ist und dass die Qualität der genutzten Daten wirklich
überprüfbar sein muss.
Dass das alles wichtig und von Bedeutung ist, zeigt
sich natürlich auch daran - Herr Staatssekretär Kelber
sitzt ja hier -, dass das Bundesministerium der Justiz und
für Verbraucherschutz dies zum Anlass genommen hat,
ein Symposium zu veranstalten, um das Ganze zu unterstützen.
Unser Gesetzentwurf kommt zu einem Zeitpunkt, an
dem in Brüssel noch über die Datenschutzverordnung
verhandelt wird. Trotzdem ist er meines Erachtens richtig; denn danach kommt der Trilog zwischen Kommission, Rat und Europäischem Parlament. Ich meine, es ist
richtig, dass wir Flagge zeigen, bevor das Verfahren auf
der Ratsebene im Juni abgeschlossen wird, dass wir
deutlich machen, dass wir mehr wollen, als dort von den
anderen 27 Mitgliedstaaten im Augenblick verhandelt
wird, dass wir mindestens aber die Möglichkeit offenhalten wollen, darüber im Trilog zu reden und notfalls
national weiter gehende Regeln festzulegen. Unser Gesetzentwurf ist richtig, weil es nie falsch ist, zu einem
frühen Zeitpunkt und nicht erst in einem Jahr Gesetze zu
beraten, von denen man schon weiß, dass man sie
braucht. Die Not ist groß bei den Menschen. Bei denen,
die viel Geld haben, herrscht keine Not, aber bei anderen
tatsächlich. Deshalb ist es richtig, dass wir jetzt diese
Vorlage diskutieren und in einer Anhörung zu ihrer genaueren Ausgestaltung kommen.
({4})
Vielen Dank, Renate Künast. - Nächster Redner
- schon wieder -: der Kollege Stephan Mayer. - Sie
müssen heute viel arbeiten.
({0})
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen! Sehr geehrte Kollegen! Ich bin zwar nicht der
erste Redner hier im Bundestag, der folgendes Zitat erwähnt, aber es passt aus meiner Sicht sehr gut auf den
Gesetzentwurf. Baron de Montesquieu sagte einmal:
Wenn es nicht notwendig ist, ein Gesetz zu erlassen, ist es notwendig, kein Gesetz zu erlassen.
Dieses Zitat passt deshalb sehr gut, weil dieser Gesetzentwurf, den die Grünen hier einbringen, überflüssig
ist. Er ist aber nicht nur überflüssig, sondern er ist aus
meiner Sicht auch kontraproduktiv. Sie verteufeln,
meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen von den
Grünen, das Scoring.
({0})
Das klingt natürlich auch furchtbar abenteuerlich,
furchtbar mysteriös. Um was geht es beim Scoring?
Beim Scoring geht es darum, dass eine Wahrscheinlichkeit berechnet wird, mit der der Kunde, mit der der Kreditnehmer, mit der der Mobilfunkkunde die Rechnungen
begleicht, die er zu bezahlen hat. Ich glaube, das ist doch
das Normalste auf der Welt. Wenn Sie, Frau Kollegin
Künast, mir 10 Euro leihen wollen
({1})
oder wenn ich Sie frage, ob Sie mir 10 oder 50 Euro leihen, dann werden Sie sich im Vorfeld erkundigen: Hat
der Kollege Mayer eine gute Bonität? Ist der säumig?
Begleicht der seine Schulden?
({2})
Es ist doch völlig logisch und natürlich, dass Unternehmen wissen wollen, mit welcher Wahrscheinlichkeit
ein Kunde das bezahlt, was er kauft, oder ob er die Mobilfunkrechnung monatlich begleicht bezüglich des Vertrages, den er eingegangen ist.
Scoring ist also kein Teufelswerk, sondern Scoring ist
aus meiner Sicht unerlässlich und essenziell für das
Funktionieren unseres Wirtschafts- und Handelslebens.
So möchte ich einmal in Erinnerung rufen: Allein im
Jahr 2013 wurden in Deutschland Waren im Wert von
insgesamt 19 Milliarden Euro auf Rechnung gekauft.
Weil Sie, Frau Kollegin Künast, immer darauf hinweisen, die Leute würden diskriminiert, sie würden mit
einem negativen Wert, einer negativen Bonität in Misskredit gebracht, möchte ich auf Folgendes hinweisen:
Nach Auskunft der Schufa haben über 97 Prozent aller
Verbraucherinnen und Verbraucher in Deutschland eine
positive Bonität. Das ist eine gute Nachricht, eine schöne
Nachricht. Der überwiegende Teil der Verbraucherinnen
und Verbraucher erfüllt seine Mobilfunkverträge und
seine weiteren Dauerschuldverhältnisse, bezahlt aber
auch die Waren, die er auf Rechnung kauft, vollkommen
pünktlich und vollumfänglich. Es ist also beileibe nicht
so, dass, wie Sie es hier darstellen, ein Großteil der Verbraucherinnen und Verbraucher unter Generalverdacht
gestellt und diskriminiert wird. Das Gegenteil ist der
Fall.
Dieses Scoring, diese Wahrscheinlichkeitsberechnung
ist sogar im Sinne der Verbraucherinnen und Verbraucher. Wie müssten Unternehmen reagieren, wenn
Auskunfteien diesen Score-Wert nicht an Handelsunternehmen weitergeben dürften? Sie müssten den Zahlungsausfall, der sich dann häufiger einstellen würde, auf
die Preise und damit auf die zu über 97 Prozent redlichen Verbraucher umlegen. Dass es diese Möglichkeit
des Scorings gibt, ist also im Sinne aller redlichen Verbraucher, die ihre Schulden begleichen.
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, es
gibt seit dem 1. April 2010 ein sehr umfangreiches Informations- und Auskunftsrecht. Davon machen mehrere
Zehntausende Bundesbürger Gebrauch, indem sie sich
einmal im Jahr - kostenlos wohlgemerkt - von den Auskunfteien ihren persönlichen Score-Wert, ihre Bonität
mitteilen lassen. Sie, Frau Kollegin Künast, fordern jetzt,
dass es eine Bringschuld gebe. Sie wollen also, dass die
Auskunfteien gesetzlich verpflichtet werden, einmal im
Jahr alle Verbraucherinnen und Verbraucher, alle Erwachsenen in Deutschland und darüber hinaus über
ihren Score-Wert zu informieren. Ich bin der festen
Überzeugung: Den überwiegenden Teil der Bürger interessiert das gar nicht,
({3})
weil sie überhaupt keine Probleme haben. Sie bekommen den Kredit, den sie wollen, dürfen die Ware, die sie
kaufen wollen, auf Rechnung kaufen, erhalten den Mobilfunkvertrag, den sie wollen. Es haben nämlich, wie
gesagt, über 97 Prozent eine positive Bonität.
({4})
Sie erwähnten einen weiteren Aspekt, nämlich dass
die Löschungsfristen gesetzlich definiert werden müssten. Sie sprechen hier von sieben Jahren. Schon heute
beträgt die Löschungsfrist bei einer Restschuldbefreiung
lediglich drei Jahre. Also spätestens nach drei Jahren
muss diese Information nach § 35 Absatz 2 Satz 2 Nummer 4 des Bundesdatenschutzgesetzes getilgt werden.
Herr Kollege, erlauben Sie - - Sie sind so groß. Ich
muss regelrecht an Ihnen vorbeischauen.
So lang.
Ja, Entschuldigung. - Erlauben Sie eine Zwischenfrage oder Bemerkung?
Selbstverständlich, sehr gerne.
Herr Kollege Mayer, vielen Dank, dass Sie meine
Frage zulassen. - Sie haben gesagt, diese Löschfrist von
drei Jahren sei ausreichend. Deshalb möchte ich Sie Folgendes fragen: Wie Sie wissen, bekommt man mit einer
negativen Bonität zum Beispiel keinen Mobilfunkvertrag. Was war der längste Zeitraum, währenddessen Sie
in den letzten Jahren ohne Ihr Handy ausgekommen
sind?
Ich danke Ihnen sehr herzlich für die Frage. - Ich
möchte erst einmal anmerken, dass es einen Unterschied
zwischen Größe und Länge gibt.
({0})
- Nein, das ist schon wichtig.
Groß gewachsen.
Die Frage ist berechtigt. Natürlich ist der Großteil unserer erwachsenen Bundesbürger auf einen Mobilfunkvertrag angewiesen. Es gibt aber auch - das wissen Sie andere Möglichkeiten, um sich ein Handy zu besorgen,
als bloß über einen langfristigen Mobilfunkvertrag. Man
kann sich Prepaidhandys zulegen. Wenn man eine Prepaidkarte kauft, wird keine Anfrage bei einer Auskunftei
gestellt. Da kommt es nicht auf die Bonität an. Wenn Sie
hier also insinuieren, allein durch die Möglichkeit der
Abfrage der Bonität bei einer Auskunftei würde einem
bestimmten Teil der Bevölkerung - wie gesagt, über
97 Prozent der Verbraucherinnen und Verbraucher sind
redlich und haben eine positive Bonität - die Möglichkeit genommen, einen Mobilfunkvertrag abzuschließen,
muss ich dazu sagen: Das stimmt einfach nicht. Ich
möchte sogar in Zweifel ziehen, dass es so ist, dass ein
Mobilfunkunternehmen sich bei einem negativen ScoreWert, bei einer negativen Bonität automatisch weigert,
einen Mobilfunkvertrag abzuschließen. Aber selbst
wenn dem so wäre - hypothetisch -, bestünde immer
noch die Möglichkeit, dass sich derjenige oder diejenige
ein Prepaidhandy zulegt. Dieser Einwand geht also aus
meiner Sicht völlig ins Leere.
({0})
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen,
ebenso ins Leere geht der Hinweis der Grünen im Gesetzentwurf, dass man doch endlich gesetzlich normieren müsse, dass Auskunfteien nicht auf Daten aus sozialen Netzwerken oder Internetforen zugreifen. Nennen
Sie mir eine Auskunftei, die dies tut! Ich habe mich erkundigt: Es gibt keine einzige Auskunftei in Deutschland, die auf Daten aus sozialen Netzwerken oder Internetforen zugreift bzw. dies plant. Ihre Forderung ist also
vollkommen überflüssig.
({1})
Genauso überflüssig ist Ihre Forderung, gesetzlich zu
verbieten, dass man Daten, die Staatsangehörigkeit, Geschlecht, Sexualleben oder eine mögliche Behinderung
betreffen, verwendet. Auch dem ist nicht so. Keine Auskunftei in Deutschland nutzt solche Daten oder hat vor,
solche Daten zu nutzen. Sie entfachen mit Ihrem Gesetzentwurf eine Scheindebatte, die jeglicher Grundlage entbehrt.
Der Gesetzentwurf ist aber nicht nur überflüssig, wie
ich eben ausgeführt habe, sondern aus meiner Sicht auch
kontraproduktiv, kontraproduktiv vor allem vor dem
Hintergrund der aktuellen Debatte über die DatenschutzGrundverordnung. Das ist mir schon sehr wichtig; denn
wir sind nun in der Endphase der Verhandlungen bezüglich eines sehr wichtigen Rechtsinstruments auf
europäischer Ebene, nämlich der Vollharmonisierung
des Datenschutzrechts in 28 Mitgliedsländern, in denen
500 Millionen Menschen leben.
({2})
Den vorliegenden Gesetzentwurf jetzt zu verabschieden,
wäre eben deshalb kontraproduktiv, weil er schon in wenigen Monaten obsolet wäre. Es ist geplant, während der
Luxemburger Ratspräsidentschaft bis Ende des Jahres
die Datenschutz-Grundverordnung endgültig unter Dach
und Fach zu bringen. Spätestens dann wäre das Bundesdatenschutzgesetz erneut zu novellieren,
({3})
weil wir es der neuen Datenschutz-Grundverordnung anpassen müssten. Erlangte diese Verordnung sogar Allgemeingültigkeit, bedürfte es einer gesetzlichen Regelung
in Deutschland gar nicht mehr; sie wäre nämlich überflüssig.
({4})
Ein weiterer Punkt, bei dem Sie absolut ins Leere
schießen: Sie wollen, dass die Bundesregierung in einer
Rechtsverordnung die näheren Anforderungen an das
wissenschaftlich anerkannte mathematisch-statistische
Verfahren der Auskunfteien festlegt. Da gehen Sie wirklich an die Kronjuwelen der Auskunfteien.
({5})
Dieses mathematisch-statistische Verfahren ist ein hoch
schützenswertes Betriebs- und Geschäftsgeheimnis der
Auskunfteien. Ich halte es für vollkommen verfehlt, dass
Sie nun so weit gehen und der Bundesregierung auferle10274
Stephan Mayer ({6})
gen wollen, Anforderungen an die Auskunfteien zu stellen, wie sie dieses Verfahren durchzuführen haben.
({7})
Um es klar zu sagen: Wenn Ihr Gesetz in der vorliegenden Fassung in Kraft treten würde, dann wäre in Zukunft der Kauf auf Rechnung in Deutschland unmöglich;
denn Sie beabsichtigen des Weiteren, dass jeder Bundesbürger vor der Berechnung der Wahrscheinlichkeitswerte über die vorgesehene Nutzung seiner Daten
schriftlich unterrichtet wird. Sie müssten also bei jeder
Neuberechnung des Score-Werts, wenn also neue Daten
beispielsweise von einem Bankinstitut oder einer Versicherung eingehen, jeden Bundesbürger darüber informieren, dass sich nun sein Score-Wert bzw. seine Bonität
möglicherweise ändert. Dies muss auch noch dokumentiert werden. Sie würden einen Bürokratie- und Dokumentationswust entfachen, der unvorstellbar wäre. Die
Folge wäre: Es würde kein Handelsunternehmen in
Deutschland mehr geben, das Waren auf Rechnung verkaufte. Entweder müsste man immer bar zahlen - das ist
mit Sicherheit nicht im Sinne der Verbraucherinnen und
Verbraucher -, oder die Unternehmen müssten das Risiko eingehen, die Waren ohne Wahrscheinlichkeitsberechnung herauszugeben. Viele Unternehmen würden
das aber insbesondere bei hochpreisigen Waren nicht
machen.
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, dieser Gesetzentwurf ist wirklich überflüssig. Er ist aber,
wie ich ausgeführt habe, nicht nur überflüssig, sondern
auch kontraproduktiv. Allein dass jährlich Informationen
an alle Bundesbürger gegeben werden müssten, führte
bei der Schufa zu einem Kostenaufwand in Höhe von
40 Millionen Euro. Das ist meines Erachtens in jeder
Hinsicht übermäßig. Deswegen kann ich Ihnen nur den
wohlgemeinten Rat geben, den Gesetzentwurf in der
Schublade verschwinden zu lassen. Er hat es aus meiner
Sicht in keiner Weise verdient, weiter intensiv und ernsthaft debattiert zu werden.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({8})
Vielen Dank, Stephan Mayer. - Nächster Redner in
der Debatte: Harald Petzold für die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Besucherinnen und Besucher auf den Besuchertribünen! Es wird Sie möglicherweise nicht überraschen: Meine Fraktion, die Linke, unterstützt den Gesetzentwurf von Bündnis 90/Die Grünen zur Änderung
des Bundesdatenschutzgesetzes im Sinne einer Verbesserung der Transparenz und der Bedingungen beim Scoring und wird ihm zustimmen. Das sage ich in dieser
Eindrücklichkeit nicht deswegen, weil wir plötzlich alle
unsere Bedenken gegen das Scoring abgelegt hätten,
sondern weil ich fest davon überzeugt bin, dass wir angesichts der gegenwärtigen gesetzlichen Situation unbedingt eine Gesetzesänderung brauchen, die gegenüber
der jetzigen Praxis Transparenzfortschritte bringt. Entsprechende Maßnahmen hat Frau Künast hier ja genannt.
Ich halte sie für unverzichtbar.
({0})
Frau Künast hat ebenfalls dargestellt, was Scoring bedeutet. Ich kann es mir ersparen, das zu wiederholen. Sie
kennen möglicherweise alle die Broschüre des Unabhängigen Landeszentrums für Datenschutz in SchleswigHolstein zum Verbraucher-Scoring, in dem beispielhaft
dargestellt wird, wie solche Scores zustande kommen.
Es findet sich da etwa das Beispiel eines Arbeitnehmers,
der eine Wohnung in der Nähe eines etwas schmuddeligen Bahnhofsviertels bezogen hat, weil er von dort rasch
zu seinem Arbeitsplatz kommt. Die Wohnortwahl hat
nichts damit zu tun, ob er kreditwürdig ist, ob er über ein
festes Einkommen verfügt oder nicht, er braucht einfach
jeden Tag die Bahn und hat sich aus Praktikabilitätsgründen dafür entschieden, in dieses Viertel zu ziehen. Für
seinen Score war diese Entscheidung aber das reinste
Gift. Denn für diesen wandelte er sich von einem fleißigen Arbeitnehmer in einen zwielichtigen Zeitgenossen.
Ich kann allen, auch den Besucherinnen und Besuchern,
nur empfehlen, sich diese Broschüre einmal zu besorgen
und anhand der Tabellen, die darin veröffentlicht sind,
nachzuschauen, welchen Score jeder einzelne von uns
kriegen würde. Sie würden sich möglicherweise wundern.
Wir als Linke sagen, bei einem solchen automatisierten und standardisierten Bewertungsverfahren geht der
Mensch als Individuum verloren. Und dagegen sprechen
wir uns natürlich konsequent aus.
({1})
Denn im schlimmsten Fall wird dem betroffenen Menschen damit sein Leben lang ein Stempel aufgedrückt,
gegen den er sich nicht wehren kann und auf dessen Zustandekommen - Frau Künast hat das hier dargestellt wir keinen Einfluss haben. Deswegen kann ich auch den
Soziologen nur zustimmen, die sagen, Scoring werde
zum Instrument für soziale Deprivation.
Spätestens dieses Argument der Entbürgerlichung,
verehrte Kolleginnen und Kollegen von der Union, die
durch das Scoring hier eingeleitet wird, müsste bei Ihnen
zu der Überlegung führen, dass es vielleicht doch sinnvoll wäre, hier eine Veränderung hinzubekommen. Wenn
Sie schon uns und Bündnis 90/Die Grünen nicht glauben, dann werfen Sie bitte noch einmal einen Blick in
die auch von Frau Künast schon erwähnte Analyse
„Scoring nach der Datenschutz-Novelle 2009 und neue
Entwicklungen“. Sie enthält eine Analyse der rechtlichen Grundlagen und eine empirische Untersuchung. In
ihr wird klar und deutlich gesagt, wie wichtig ein klarer
Rechtsrahmen für das Scoring ist. Meine Fraktion jedenfalls nimmt die Ergebnisse dieser Studie sehr ernst. Wir
sagen, es darf nicht sein, dass jemand zu Unrecht ein
Harald Petzold ({2})
Darlehen nicht erhält, eine Wohnung nicht anmieten
kann oder im Versandhandel nicht auf Rechnung bestellen kann.
Auch auf die Konsequenzen im gegenwärtigen europäischen Diskussionsprozess hat Frau Künast hingewiesen. Ich möchte auf die Staatssekretärin im Bundesministerium des Innern, Frau Rogall-Grothe, verweisen,
die gesagt hat:
Wir haben in Deutschland für das Kreditscoring
sehr viel speziellere Regelungen, als sie derzeit in
der EU diskutiert werden. Das neue EU-Recht wird
aber das deutsche Recht ersetzen. Daher müssen
wir darauf achten, dass wir unser bisheriges Datenschutzniveau erhalten.
Auch dem ist nichts hinzuzufügen.
({3})
Langer Rede kurzer Sinn - diese Studie bestätigt: Der
Gesetzentwurf von Bündnis 90/Die Grünen geht in die
richtige Richtung. Wir brauchen ein Verbot von Personenprofilen. Auskunftsverfahren, die nicht auf relevante
individuelle und zweckgebundene Daten setzen, sondern
Aussagen allein aufgrund statistischer Daten, Wahrscheinlichkeiten oder diskriminierender Daten errechnen, müssen unterbleiben. Wir brauchen Regelungen,
die die Auskunfteien dazu verpflichten, endlich für
Transparenz zu sorgen. Der Verbraucher hat ein Recht
darauf, bei einer Selbstauskunft mehr zu erfahren als den
tagesaktuellen Score. Die Auskunfteien müssen Rechenschaft ablegen, welche Faktoren den Score wie beeinflussen und an wen welcher Score weitergegeben wird.
Das betrifft sowohl die Einzeldaten als auch die Berechnungsformeln als auch die konkreten Werte. Wir wollen,
dass auf Geoscoring verzichtet wird. Wir wollen, dass
auf die sogenannte Schufa-Auskunft verzichtet wird.
In diesem Sinne müssten wir uns alle, wenn wir die
Ergebnisse dieser Studie ernst nehmen, verpflichtet fühlen, politisch zu handeln.
Vielen Dank.
({4})
Vielen Dank, Harald Petzold. - Der nächste Redner in
der Debatte ist Gerold Reichenbach für die SPD.
({0})
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Werte Kolleginnen
und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Ich glaube, am Ende ist es, außer vielleicht bei der
Linkspartei, unumstritten, dass wir so etwas wie Scoring
brauchen, eine Vorhersage - Kollege Mayer hat es ausgeführt - für diejenigen, die Waren oder Dienstleistungen auf dem Markt anbieten, der sie entnehmen können,
ob denn der Kunde überhaupt solvent ist.
Scoring gab es schon immer. Ich darf aus dem hessischen Datterich zitieren: „Lisettche, kannst Du für mich
anschreibe?“ - „Nee, für dich net.“ - Das war sozusagen
ein Scoring, das früher stattfand. Nun haben wir heute
nicht mehr solche direkten Beziehungen, weil wir vieles
über das Internet und anderweitig abwickeln. Auch bei
Kreditverträgen ist es ja sinnvoll, dass der jeweilige Geschäftspartner einem nicht sofort persönlich etwas vorschreibt.
Allerdings - das kennen wir auch; ich glaube, das erleben wie ich die meisten auch in ihren Wahlkreisbüros
oder in den Bundestagsbüros - werden immer wieder
Fälle bekannt, wonach etwa jemandem - Sie haben es
geschildert - ein Handyvertrag verwehrt wurde, nur weil
er beispielsweise in einem bestimmten Gebiet wohnt.
Meiner eigenen Mitarbeiterin aus Neukölln ist das einmal passiert: Ihr teilte ein Versandhandel mit, sie könne
nicht auf Rechnung, sondern nur gegen Vorkasse oder
per Nachname bestellen, weil ihre Anschrift eine bestimmte Postleitzahl beinhaltete. Da muss man, glaube
ich, etwas tun.
Das Bundesministerium der Justiz hat deshalb nach
der Änderung im Bundesdatenschutzgesetz 2009 eine
Studie in Auftrag gegeben und dieses evaluiert. Auch
der Staatssekretär hat darauf hingewiesen: Natürlich gibt
es die eine oder andere Stelle, bei der wir über bestimmte Probleme nachdenken müssen. Aber das betrifft
nicht nur einen Punkt, sondern eine breite Palette an
Punkten. Aber einfach so wie Sie, Frau Künast, zu sagen: „Da ist ein Problem. Supi! Wir Grünen haben dafür
sofort eine Lösung“, funktioniert nicht,
({0})
insbesondere dann nicht, Frau Künast, wenn die Lösung
gleich neue Probleme produziert.
({1})
Es ist richtig, dass das Recht auf Auskunft bislang
von relativ wenigen wahrgenommen wird. Eigentlich
gilt ja der Rechtsgrundsatz: Wenn jemand Rechteinhaber
ist, in diesem Fall ein Auskunftsrecht hat, dann hat er
sich zunächst einmal selbst um die Wahrnehmung dieses
Rechts zu kümmern. Das ist aber bei den Auskunfteien
nicht so einfach. Schließlich weiß ich nicht, wer alles
meine Daten hat und wer welche Daten an wen weitergegeben hat.
({2})
Jedenfalls muss ich mich aktiv an diese Stellen wenden;
das ist richtig. Die Statistik zeigt auch: Ein Großteil der
Betroffenen - das geht aus der Auswertung der Studie
hervor - wünscht sich eine eher aktive Rolle derjenigen,
die ihre Daten haben.
Schauen wir uns einmal das Verhältnis an: Die Zahl
derjenigen, die Daten über Dritte abfragen, die also von
den Auskunfteien wissen wollen: „Ist derjenige, mit dem
ich ein Geschäftsverhältnis eingehen möchte, solvent
und zahlungswillig?“, ist sehr viel höher als die Zahl
derjenigen - sie liegt noch nicht einmal bei 5 Prozent -,
die von den Auskunfteien gerne wissen möchten: „Welche Werte habt ihr von mir?“. Dieses Wissen wäre ja die
Voraussetzung dafür, gegebenenfalls den einen oder anderen Wert - auch das kommt vor -, der falsch ist, korrigieren zu lassen. Das zeigen die Berichte der Ombudsleute, die in diesem Bereich tätig sind, etwa bei der
Schufa, oder auch die Studie selbst.
Dann kommen die Grünen mit einem Vorschlag um
die Ecke, der übrigens gar nicht neu ist, Frau Künast.
({3})
- Frau Künast, immer erst einmal zuhören. Danach können Sie dazwischenrufen. Das würde dazu führen, dass
der Zwischenruf nicht so danebengeht wie der gerade
von Ihnen gemachte.
({4})
Wir haben damals in der Enquete-Kommission „Internet und digitale Gesellschaft“ die Idee, die Sie verfolgen,
nämlich sich direkt informieren zu lassen - damals lief
das unter dem Stichwort „Datenbrief“ -, breit diskutiert.
Wenn Sie sich den Bericht der Enquete ansehen - er ist
nicht nur für die letzte Legislaturperiode geschrieben
worden -, dann werden Sie feststellen, dass darin die kritische Betrachtung überwiegt, und zwar mit Recht. Sie
produzieren dadurch nämlich neue Probleme, egal welche Ihrer Lösungen man betrachtet.
Das erste Problem ergibt sich mit der von Ihnen vorgeschlagenen Internetlösung, gemäß der man den Betroffenen nur einmal mitteilen müsste, dass sie ihre Daten demnächst im Internet abrufen können. Zunächst
einmal fragen fast ein Drittel auf dem schriftlich-postalischen Weg nach; das zeigt zum Beispiel der Bericht der
Schufa. Aber auch wenn wir Ihre Internetlösung nähmen, gäbe es ein Problem: Wir produzieren damit nämlich eine neue Zusammenführung von Daten. Und Datenpools - wir erleben es gerade beim Bundestag ziehen natürlich das große Interesse krimineller Organisationen auf sich,
({5})
die gerne an Daten herankommen würden, an die sie gar
nicht herankommen dürfen.
({6})
- Hören Sie doch endlich einmal zu.
({7})
Wenn Sie nicht zuhören wollen, dann lesen Sie sich anschließend noch einmal den Teil aus dem Bericht der Enquete-Kommission durch. Das sind nur zehn Seiten. Das
ist nicht so viel.
({8})
Das zweite Problem, das sich aus Ihren Vorschlägen
ergeben würde, ist: Wenn schriftlich zugestellt würde,
müsste immer regelmäßig sichergestellt werden, dass die
postalische Zustellung der sensiblen Daten, die von einer
Auskunftei oder von anderen stammen, auch den Dateninhaber erreicht,
({9})
sonst organisieren Sie nämlich Datenbruch und Datenschutzverletzung per systematisch eingebautem Fehler.
Wir wissen doch: Die Grünen werden die Ersten sein,
die sagen: Bei der heutigen Post wie auch bei anderen
Postzustellungsunternehmen kann man die Fiktionalität
der richtigen Zustellung gar nicht mehr annehmen. Wann
gilt denn das Argument?
({10})
Dann, wenn Sie etwas auf dem Postweg machen wollen,
ist es plötzlich kein Argument mehr.
({11})
Das heißt, Sie produzieren neue Datenprobleme.
({12})
Sie produzieren unter Umständen auch neue Probleme
im Datenschutz für die Betroffenen, wenn die SchufaAuskunft mit den entsprechenden Daten dann nicht mehr
im richtigen Stockwerk ankommt, sondern eines tiefer.
({13})
Ein dritter Punkt - jetzt wird es abstrus, mit Verlaub -:
Ein Großteil dessen, was wir hier verhandeln - Herr
Kollege Mayer und die anderen haben doch recht -, wird
in der Datenschutz-Grundverordnung behandelt werden.
({14})
Der Rat will jetzt im Juni zum Abschluss kommen. Dann
gehen wir in den Trilog. Was ist denn das für ein Selbstverständnis von Parlamentariern, wenn man hier eine
Gesetzesänderung machen will, von der wir genau wissen, dass sie gar nicht so lange Bestand haben wird,
({15})
nur um zu signalisieren: „Bitte verhandelt doch im Sinne
des Gesetzes, das wir hier haben“? - Das ist doch schon
fast Slapstick, Frau Künast. Das hat mit einem ordentlichen parlamentarischen Verfahren nichts zu tun.
({16})
Wir werden uns der Problematik nicht verweigern.
Aber eine Lösung, auch wenn Sie sie noch so lautstark
anpreisen, die mehr Probleme aufwirft als löst, werden
wir so garantiert nicht akzeptieren.
({17})
Vielen Dank, Herr Kollege Reichenbach. - Wir haben
uns hier erkundigt. Sie haben Stirnrunzeln ausgelöst mit
Ihrem hessischen Zitat aus dem Datterich. Ich möchte
die Kollegen darüber aufklären: Es handelt sich um eine
Lokalposse von Ernst Elias Niebergall, der vor 200 Jahren geboren worden ist.
({0})
Darf ich eine Kurzintervention machen?
Ja, Sie dürfen eine Kurzintervention machen.
Was Sie sagten, werte Frau Präsidentin, ist völlig richtig. In der Kurzintervention möchte ich das noch ergänzen: Der Datterich ist dadurch bekannt geworden, dass
in ihm viele kluge Sätze stehen, zum Beispiel der politisch sehr kluge Satz: Wir werden es zwar nimmer erleben, aber Sie werden sehen. - Mit anderen Worten: Wir
werden es zwar nicht mehr erleben, aber Sie werden sehen.
Vielen herzlichen Dank. - Es gehört auch dazu: Wenn
wir kurz vor Pfingsten stehen, kann ein bisschen Geist
nicht schaden.
Marian Wendt ist der nächste Redner in der Debatte
für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Wir debattieren hier heute Kosmetik. Wir debattieren Kosmetik; denn mit der aktuellen Regelung im
Bundesdatenschutzgesetz besteht heute bereits ein europaweit einzigartig hohes Niveau beim deutschen Datenschutz. Weiterhin wird das Bundesdatenschutzgesetz
nach Abschluss der Verhandlungen im Europäischen Rat
am 30. Juni und dem darauffolgenden Trilog durch die
Datenschutz-Grundverordnung hinfällig werden; es wird
abgelöst. Die Änderungen, die der Bundestag jetzt vornehmen soll, lassen sich also mit Recht als Kosmetik bezeichnen; denn sie hätten eine überaus kurze Halbwertszeit und würden nicht zu einem verbesserten
Datenschutzniveau in Deutschland führen.
({0})
Die Forderung, Gewichtung und Verfahren zur Bestimmung von Scoring-Werten offenzulegen, ist hanebüchen. Demnächst verlangen die Grünen wahrscheinlich
auch die Herausgabe der Rezepte von Cola und Pepsi.
({1})
Dass diese gerade die Geschäftsgrundlage von Auskunfteien sind, ignorieren Sie dabei.
Ihre grundsätzliche Forderung, dass es sich bei
Scoring-Werten nicht um willkürliche Werte handeln
darf, ist jedenfalls längst erfüllt. Es stellt sich sowieso
die Frage, warum denn überhaupt eine Bank oder eine
Firma Dienstleistungen einer Auskunftei in Anspruch
nehmen würde, wenn es sich bei den Ergebnissen um
willkürliche Werte handeln würde.
Der bürokratische Wust - das haben die Kollegen bereits erwähnt -, den der von Ihnen vorgesehene Informationszwang mit sich brächte, ist schwer abzuschätzen.
Allein in den Datenbanken der Schufa sind 66,5 Millionen natürliche Personen verzeichnet. Diese Massen
rechtssicher über Scores und vorgehaltene Daten zu informieren, erhöht die ohnehin massiven Bürokratiekosten, von den Zustellungserfordernissen ganz zu schweigen. Vor allen Dingen innovative junge Unternehmen
haben es dadurch noch schwerer, in den Markt einzutreten. Das schadet dem Wettbewerb. Wir wollen eigentlich
nicht nur Politik für die Großen machen, sondern vor allen Dingen auch für junge Start-ups, die diese Daten einfach nutzen können.
Auch Ihre Forderung nach dem Verbot der Benutzung
sogenannter nicht bonitätsrelevanter Daten geht an der
Realität vorbei. Es ist nicht klar, welchen Anreiz Auskunfteien überhaupt haben sollten, irrelevante Daten bei
der Bonitätsprüfung zu verwenden. Irrelevante Daten
verschlechtern das Produkt, das Auskunfteien verkaufen,
nämlich die Aussage über die Bonität eines Kunden.
Eine weitere regulatorische Einengung des Scorings
macht also die Beurteilung eher schlechter und nicht
besser. Das ist für die Menschen eine negative Entwicklung; denn von einer fairen Beurteilung der Kreditwürdigkeit hängt eine Menge ab. Aus informationswirtschaftlicher Sicht ist heute unbekannt, welche Daten
morgen bonitätsrelevant sein könnten. Daher ist auch
das Verbot der Erfassung vermeintlicher nicht bonitätsrelevanter Daten nachteilig.
Grundsätzlich ist hier einmal festzuhalten: ScoringUnternehmen sind keine windigen Datenkraken. Sie erfüllen eine Schlüsselfunktion, indem sie ihre Einschätzung als Dienstleistung anbieten und somit ermöglichen,
dass Banken überhaupt Kredite unter fairen Bedingungen gewähren können. Ihre Arbeit ist wichtig für das
Funktionieren der Volkswirtschaft und damit für jeden
Verbraucher. Eine Verschlechterung der Datenbasis bedeutet in der Folge eine Verschlechterung der Bewertungen. Dies macht Kredite insgesamt teurer, da das persönliche Risiko des Kreditnehmers weniger abschätzbar
wird.
Eine einhellige Forderung nach Verschärfung des Datenschutzrechts in Bezug auf Scoring, wie Sie es darstellen, gibt es darüber hinaus auch gar nicht. Beispielsweise
schreibt der Hessische Datenschutzbeauftragte, dass eine
breitere Datenbasis Scoring-Ergebnisse verbessert. Er
warnt vor einer Überregulierung und einer damit einhergehenden Verringerung der Score-Qualität. Auch hier
haben wir die Fachwelt also hinter uns.
Der vorliegende Gesetzentwurf macht also die Situation nicht besser: weder für die Verbraucher noch für die
Unternehmen.
Lassen Sie mich diese Debatte noch zum Anlass nehmen, allgemein etwas zum Thema Datenschutz zu sagen.
Mir ist wichtig, noch einmal zwei Dinge festzustellen:
Erstens. Die Illusion, wir könnten auf nationaler
Ebene ein strenges Datenschutzrecht durchsetzen und
wären damit die Insel der Glückseligen, ist schlicht naiv.
Unternehmen aus anderen Ländern, in denen das Datenschutzrecht weniger streng ist, nehmen den Platz der
dann verdrängten deutschen Unternehmen ein. Die gibt
es dann schlicht nicht mehr, und wir haben mit unseren
gutgemeinten Ideen bei der Regulierung dann gar keinen
Einfluss mehr. Herr Steinbrück hat recht, wenn er sagt:
Lieber 25 Prozent von X als 45 Prozent von nix! - Die
Idee der Datenschutz-Grundverordnung, ein Level
Playing Field in Europa zu schaffen, ist da der einzig
richtige und zielführende Ansatz.
Zweitens. Mir ist auch wichtig, noch einmal festzustellen, dass das Datenschutzverständnis aus den 1980erJahren mit Datensparsamkeit und Löschzwängen für die
heutige Realität nicht geeignet ist. Der Kollege Lars
Klingbeil von der SPD hat im Handelsblatt richtigerweise ein „Ende der angstgetriebenen Datendebatte“ gefordert. Wir müssen aufpassen, dass wir die Menschen
nicht durch eine Debatte über Datensparsamkeit noch
mehr verängstigen. Vielmehr müssen wir uns fragen:
Was kann helfen, damit erhobene Daten richtig und sinnvoll verwendet werden?
Meine Kollegen aus der CDU/CSU-Fraktion und ich
werden in den künftigen Beratungen nicht aus taktischen
Erwägungen gegen den vorliegenden Gesetzentwurf argumentieren, sondern aus drei guten Gründen:
Erstens. Wir verzichten auf Überregulierung, die Verbrauchern und der Wirtschaft Schaden zufügen würde.
Zweitens. Selbst wenn weitere Regulierung der richtige Weg wäre, würden wir mit der Umsetzung Ihres
Gesetzentwurfes nur Kosmetik betreiben; denn die
Datenschutz-Grundverordnung wird das Bundesdatenschutzgesetz ablösen. Damit wird es keine nationale Regelung geben. Das ist ein großer Fortschritt für
Deutschland und Europa.
Drittens. Es braucht eine moderne Auffassung von
Datenschutz, sonst werden uns die Entwicklungen überrollen. Wenn deutsche und europäische Unternehmen im
Bereich der Informationswirtschaft erfolgreich sein sollen, dann können sie das nicht mit einem Datenschutzverständnis aus den Zeiten des Volkszählungsurteils der
1980er-Jahre.
In diesem Sinne werden wir uns in die Beratungen
mit Ihnen begeben. Wir freuen uns auf die künftige Debatte, auch zur Datenschutz-Grundverordnung. Ich wünsche Ihnen allen ein frohes und gesegnetes Pfingstfest.
Vielen Dank.
({2})
Für die SPD-Fraktion hat der Kollege Hakverdi das
Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Bevor wir uns detailliert mit Scoring und Auskunfteien
beschäftigen, ist mir die richtige grundsätzliche politische Einordnung des Themas wichtig.
Auskunfteien betreiben mit Scoring eine Art Profilbildung. Scoring-Agenturen oder Auskunfteien, wie die
Schufa, Creditreform, infoscore, Bürgel, Arvato - um
nur einige zu nennen -, bilden Konsumentenprofile auf
der Grundlage gesammelter Daten. Mit diesen Profilen
treffen sie Aussagen darüber, ob Verbraucherinnen und
Verbraucher in der Zukunft ihrer Zahlungspflicht nachkommen oder eben nicht.
Die beiden Themen - Daten sammeln und den Menschen berechnen - sind im Rahmen der Debatte um Big
Data die beiden zentralen Themen. „Wissen ist Macht,
und Wissen über Menschen bedeutet Macht über diese
Menschen“, schreibt Juli Zeh. Da stellt sich die Frage,
wie viel Macht wir Auskunfteien über Bürgerinnen und
Bürger heute und in Zukunft einräumen wollen. Diese
Macht der Auskunfteien bekommen die Bürgerinnen
und Bürger immer häufiger zu spüren, wenn sie sich die
Frage stellen: Bekomme ich einen Kredit zum Bau eines
Eigenheimes? Bekomme ich einen Kredit, um mich
selbstständig zu machen? Klappt ein Kauf auf Rechnung? Oder: Kann ich einen Handyvertrag abschließen?
Die Auskunfteien sind insbesondere im wachsenden
Internethandel stets präsent. Sie sind die ständigen Beobachter unserer wirtschaftlichen Aktivitäten. Bei vielen
dieser Aktivitäten ist die Auskunft der Schufa oder einer
anderen Auskunftei heutzutage obligatorisch. Ohne Auskunft kein Vertrag. Jährlich werden 250 bis 300 Millionen Auskünfte erteilt - mehr als 1 Million Auskünfte an
jedem Werktag.
Seit der Novelle des Bundesdatenschutzgesetzes im
Jahr 2009 unterliegen Auskunfteien bestimmten gesetzMetin Hakverdi
lichen Regelungen. Diese wurden nun im Rahmen einer
Studie evaluiert. Die Ergebnisse wurden vorgestern, am
Mittwoch dieser Woche, im Rahmen eines Symposiums
breit diskutiert. Aus der Evaluation ergeben sich für
mich folgende Fragen für die weitere Rechtsentwicklung:
Erstens. Wie wird die Datenqualität bei Auskunfteien
gesichert? In einer repräsentativ durchgeführten Befragung geben knapp 25 Prozent der Menschen an, dass die
zugrundeliegenden Daten qualitativ mangelhaft seien.
Mit anderen Worten: Die gespeicherten Informationen
waren falsch - 25 Prozent!
Zweitens. Problematisch ist auch die Verwendung der
Wohngegend bei der Ermittlung der Kreditwürdigkeit eines Menschen, das sogenannte Geo-Scoring. Eine Richterin oder ein Krankenpfleger, die bzw. der in meinem
Wahlkreis in Wilhelmsburg, Neuwiedenthal oder Bergedorf-West lebt, ist nach diesem Verfahren weniger kreditwürdig als eine Richterin oder ein Krankenpfleger, die
bzw. der in Hamburg-Blankenese wohnt. Das klingt absurd, ist aber gelebte Praxis beim Scoring.
({0})
Dieses Geo-Scoring ist heute bei 50 Prozent der Auskünfte das ausschlaggebende Kriterium.
Drittens. Problematisch ist ferner der Umgang mit
Menschen, die durch ein Insolvenzverfahren eine Restschuldbefreiung erlangt haben. Der Gesetzgeber verspricht diesen Menschen die Chance auf einen wirtschaftlichen Neustart. Dieses Versprechen des
Gesetzgebers wird aber von den Auskunfteien versperrt,
da Auskunfteien trotz Restschuldbefreiung die historischen Daten bei der Ermittlung der Kreditwürdigkeit
weiterhin berücksichtigen.
({1})
Hier müssen wir etwas tun, wenn wir es mit den Zielen
unseres privaten Insolvenzverfahrens ernst meinen.
Viertens. Ein weiteres großes Problem ist die Auskunftspraxis der Dateien. Die Menschen empfinden
diese als unzureichend und nicht nachvollziehbar. Wir
müssen sicherstellen, dass Bürgerinnen und Bürger eine
verständliche Auskunft über ihre Einstufung bei einer
Auskunftei bekommen. Wir müssen auch sicherstellen,
dass die Bürgerinnen und Bürger wirksame Rechte bekommen, um unberechtigte Eintragungen zu löschen.
Fünftens und letztens. Alter, Geschlecht und Religion
dürfen bei der Beurteilung der Kreditwürdigkeit auch in
Zukunft keine Rolle spielen. Auch sensible Daten wie
Gesundheitsdaten müssen von Gesetzes wegen für die
Ableitung von Scores verboten bleiben.
Was ist aber mit Daten aus den sozialen Netzwerken,
die mit intelligenten Algorithmen ausgewertet werden
können? Die Firma Kreditech macht diese Daten zur
Grundlage ihrer Bewertung, zurzeit noch außerhalb
Deutschlands. Ich bin besorgt, dass die rechtlichen Mauern, die das deutsche Recht kennt, durch die europäische
Datenschutz-Grundverordnung eingerissen werden
könnten. Wichtiger als Änderungen des deutschen Datenschutzrechts ist für mich die Rechtsentwicklung auf
der europäischen Ebene.
({2})
Die Bundesregierung muss dafür sorgen, dass die hohen Standards, die das deutsche Recht bereits heute
kennt und in Zukunft noch weiterentwickeln wird, nicht
durch die Datenschutz-Grundverordnung ausgehebelt
werden!
({3})
Die schärfsten nationalen Gesetze nützen nichts, wenn
die Hürden einer harmonisierten Datenschutz-Grundverordnung diese nicht kennen.
Wir sind gut beraten, unsere aktuelle Aufmerksamkeit
auf Europa, auf Brüssel zu richten. Die europarechtlichen Auswirkungen sind in dem von den Grünen vorgelegten Gesetzentwurf leider nicht hinreichend berücksichtigt. Dieses wichtige Thema verdient aber, dass wir
uns genug Zeit nehmen, um dann eine Gesetzesänderung
auf den Weg zu bringen. Ich freue mich deshalb auf eine
vertiefte Debatte.
Vielen Dank.
({4})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/4864 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Federführung ist
jedoch strittig. Die Fraktionen der CDU/CSU und SPD
wünschen Federführung beim Innenausschuss, die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen wünscht Federführung
beim Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz.
Ich lasse zuerst abstimmen über den Überweisungsvorschlag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen: Federführung beim Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag?
- Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Überweisungsvorschlag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen und der Fraktion Die Linke abgelehnt.
Ich lasse nun abstimmen über den Überweisungsvorschlag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD: Federführung beim Innenausschuss. Wer stimmt für diesen
Überweisungsvorschlag? - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich? - Der Überweisungsvorschlag ist mit den
Stimmen der CDU/CSU-Fraktion und der SPD-Fraktion
gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 30 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Reform des Wohngeldrechts und zur Änderung
des Wohnraumförderungsgesetzes ({0})
Drucksache 18/4897 ({1})
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit ({0})
Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 der GO
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Florian Pronold.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Seit 2008 sind in den Städten Berlin, Hamburg, Frankfurt und München die Warmmieten zwischen
25 und 48 Prozent angestiegen. In ganz Deutschland haben sich die durchschnittlichen Warmmieten seit diesem
Zeitraum im Durchschnitt um 11 Prozent erhöht. Seit
2008 ist das Wohngeld nicht mehr angepasst worden.
Das bedeutet, dass immer mehr Menschen in die Sozialhilfe fallen und nicht mehr in die Berechtigung von
Wohngeld kommen. Dadurch geraten viele Familien und
viele Ältere in eine schwierige Situation.
Unser Ziel ist, dass durch diese Wohngeldreform insbesondere Menschen mit geringen, mit mittleren Einkommen, die oft hart arbeiten, sich aber mit dem niedrigen Einkommen die Miete nicht mehr leisten können, in
ihrer angestammten Wohnung bleiben können.
({0})
Deswegen ist es an der Zeit, dass wir hier nach sechs
Jahren endlich die notwendige Anpassung vornehmen
und die Entwicklung der Warmmieten berücksichtigen.
Insgesamt werden zukünftig 870 000 Haushalte Anspruch auf Wohngeld haben. 324 000 Haushalte werden
erstmals oder wieder diesen Anspruch haben. Besonders
wichtig finde ich, dass wir damit insgesamt
90 000 Haushalte aus dem Bereich der Sozialhilfe holen.
Es ist auch eine Frage der Würde, dass Menschen, die
hart arbeiten, nicht aufs Amt gehen müssen, sondern sich
Wohnung und Leben leisten können.
({1})
Die wichtigsten Stufen, die wir bei der Wohngeldreform einbauen, sind die Anpassung der Tabellenwerte an
die Einkommens- und Mietentwicklung - sie erhöhen
sich durchschnittlich um 39 Prozent - und die Anpassung der Miethöchstbeträge, um auf die unterschiedlichen Entwicklungen in unserem Land zu reagieren. In
ländlichen Bereichen und in manchen Städten entwickeln sich die Mieten natürlich ganz anders als in den
Hotspots. Deswegen erfolgt insbesondere auch eine Anpassung der Mietstufen.
Die Zahlen, die wir jetzt erst vom Statistischen Bundesamt bekommen haben und die wir im Laufe der Beratungen noch einbringen werden, zeigen, dass es hier gerade in den letzten Jahren dramatische Entwicklungen
gegeben hat. Es ist vielleicht ganz positiv, dass sich zukünftig weitere Großstädte in der höchsten Mietstufe befinden werden; Köln, Mainz und Düsseldorf kommen
neu hinzu. Insgesamt bedeutet dies, dass wir passgenauer darauf reagieren, was in den einzelnen Regionen
los ist. Das ist auch eine ganz wichtige Voraussetzung.
({2})
Wir haben auch darauf geachtet, dass die Warmmieten stärker abgebildet werden. Dies geht in die Tabellenwerte ein. Daneben gab es auch eine umfangreiche Debatte über die Heizkostenkomponente. Bund und Länder
geben zukünftig jedes Jahr insgesamt über 700 Millionen Euro zusätzlich für das Wohngeld aus. Mit diesem
Wohngeld leisten wir einen Beitrag für bezahlbares
Wohnen in Deutschland.
Die Anpassung des Wohngeldes passt mit all den anderen Maßnahmen zusammen, die wir in der Großen
Koalition in diesem Zusammenhang beschlossen haben:
mit der Mietpreisbremse, mit den abgesenkten Mietkappungsgrenzen in angespannten Wohnungsmärkten, mit
dem, was wir im Bündnis für bezahlbares Wohnen und
Bauen machen, und mit den 120 Millionen Euro, die wir
gestern für studentisches Wohnen beschlossen haben.
Wir bewahren die Heimat der Menschen, indem wir dafür sorgen, dass sie in ihrer angestammten Wohnung
bleiben können. Wenn das Einkommen nicht ausreicht,
unterstützen wir sie ein Stück weit.
Was den Gesetzentwurf angeht, ist dies heute ein guter Tag für 870 000 Haushalte in der Bundesrepublik
Deutschland.
Herzlichen Dank.
({3})
Das Wort hat die Kollegin Heidrun Bluhm für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich denke, es ist gut, dass sich die Bundesregierung nach sehr langer Abstinenz endlich wieder einmal
dem Thema Wohngeld politisch zuwendet.
({0})
Offenbar war die Dringlichkeit - Herr Pronold hat das
am Anfang seiner Ausführungen eben ja auch gesagt nicht mehr zu ignorieren. Jetzt liegt also ein Gesetzentwurf zur Reform des Wohngeldes vor, der tatsächlich
den Anspruch einer Reform hat. Ich denke aber, ich
werde hier in meiner Analyse widerlegen, dass es sich
tatsächlich um eine Reform handelt.
({1})
Der Entwurf der Bundesregierung beginnt mit folgendem Einleitungssatz:
Das Wohngeld muss regelmäßig hinsichtlich der
Entwicklung der Einkommen und der Wohnkosten
überprüft werden, um die Leistungsfähigkeit als sozialpolitisches Instrument der Wohnungspolitik zu
erhalten.
Im Referentenentwurf hieß es aber noch: Das Wohngeld
muss regelmäßig angepasst werden.
({2})
Dort steht nur ein anderes Wort; aber ich finde, das ist
sehr verräterisch. Ich würde mich freuen, wenn Vertreter
der Koalition, die nach mir sprechen werden, dazu vielleicht etwas sagen würden. Es reicht nämlich nicht, nur
zu überprüfen, wie es jetzt im Gesetzentwurf steht.
({3})
Das besagt überhaupt nichts.
({4})
Das Wohngeld muss sich den sich ändernden Lebensumständen regelmäßig anpassen. „Regelmäßig“ muss
eben bedeuten, dass in Echtzeit und nicht nur alle fünf
oder sechs Jahre - je nach den Farben der Koalition oder
der Kassenlage - überprüft wird. „Anpassen“ muss bedeuten, dass man sich an den tatsächlich aktuellen
Wohn- und Lebenshaltungskosten der betroffenen Menschen ausrichtet.
Die Menschen, die Wohngeld beziehen müssen, sind
aus Sicht der Linken keine Almosenempfänger, sondern
sie haben im Sozialstaat einen Anspruch darauf, in der
Gesellschaft sozialpolitisch verantwortlich mitgenommen zu werden, und zwar verlässlich und wirksam.
({5})
Dass dies seit 2009 nicht mehr passiert ist, hat dazu
geführt, dass die dem Wohngeld zugedachte sozialpolitische Wirkung immer weiter abgeschmolzen ist. Immer
mehr wohngeldbeziehende Haushalte sind in Armut geraten - das sagt auch der Paritätische Wohlfahrtsverband
in einem Bericht von 2015 -, weil sie einen immer größer werdenden Anteil ihres Einkommens für Wohnkosten aufwenden mussten. Im Gesetzentwurf heißt es, dass
sich die Wohnkostenbelastung armutsgefährdeter Haushalte innerhalb von nur drei Jahren, von 2010 bis 2013,
von 35,1 Prozent auf 39,4 Prozent erhöht hat. Die Entwicklung ist seitdem nicht stehen geblieben. Wir haben
jetzt Mitte 2015; es ist schon wieder einige Zeit ins Land
gegangen.
Die Wohngelderhöhung 2016 bewirkt lediglich - so
steht es auch im Gesetzentwurf selbst - eine Wiederherstellung des Wohngeldleistungsniveaus von 2009. Eine
wirkliche Wohngeldreform müsste aber progressiv darauf hinwirken, dass wohngeldbeziehende Haushalte
jetzt und künftig nicht mehr als 30 Prozent ihres Haushaltsnettoeinkommens für Wohnkosten aufwenden müssen.
({6})
Das ist im Übrigen unsere zentrale Forderung, die wir
auch nicht müde werden immer wieder hier vorzutragen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es mag ja sein, dass
der Gesetzentwurf gut gemeint ist; aber er ist rückwärtsgewandt, er macht eine Rolle rückwärts. Der Hauptmangel dieses Gesetzesvorhabens ist nämlich: Es arbeitet lediglich in der Vergangenheit Versäumtes auf und gleicht
es aus, bietet aber keine tragfähige Option für die Zukunft, weil eine Dynamisierung des Wohngeldes, wie sie
die Linke seit langem fordert, nicht vorgesehen ist.
Der nächste Mangel: Bei Inkrafttreten der Wohngeldreform zum 1. Januar 2016 sind die vorgesehenen Mietstufen schon wieder einige Jahre alt. Die Datenbasis, auf
der dieses Gesetz beruht, stammt aus 2013. Das bedeutet
aber auch: Wenn einigen Wohngeldempfängern durch
die Wohngelderhöhung nominell mehr Geld für das Bestreiten ihrer Wohnkosten gezahlt wird, dann wird dieses
Geld nur an die Vermieter und die Energieversorger
durchgereicht. Die Erhöhung hält also die Armutsspirale
nur für einen kurzen Moment an; danach setzt sich die
Abwärtsbewegung fort, und das bis 2020. Das ist mit
diesem Gesetz von vornherein so angelegt; denn für
2016 will der Bund insgesamt noch 358 Millionen Euro
Wohngeld bereitstellen und diesen Betrag dann bis 2019
schrittweise auf 300 Millionen Euro absenken. Ich frage
mich, mit welcher Wirtschafts-, Preis- oder auch Einkommensprognose Sie diese Absenkung begründen wollen.
2019 soll erneut geprüft werden. Wenn wir alle dann
feststellen - ich sage Ihnen heute schon, dass es so kommen wird -, dass wiederum ein Missverhältnis zwischen
Wohnkosten und Wohngeld, wie wir es heute beklagen,
besteht, dann werden wir nach einer Überprüfung wieder
ein Jahr lang brauchen, bis wir zu einer solchen Novelle
kommen, um die Abwärtsspirale beim Leistungsniveau
des Wohngeldes für die nächsten fünf Jahre aufzuhalten.
Das ist doch nicht wirklich fair; das ist keine gute Sozialpolitik.
({7})
Ein weiterer Mangel dieser Gesetzesnovelle ist das
Fehlen sowohl einer Heizkosten- als auch einer Klimakomponente. Zwar gibt der Entwurf vor, die Kosten der
Warmmiete zu berücksichtigen, aber er tut es nicht wirklich; denn die Heizkosten haben einen anderen Verlauf
genommen als die allgemeine Preis- und Mietenentwicklung. Wir müssen endlich zugeben, dass der DMB recht
hat, wenn er eine Klimakomponente fordert.
Meine Damen und Herren, meine fünf Minuten Redezeit sind schon wieder um. Ich muss also zum Ende
kommen. Insofern kündige ich Ihnen an, dass wir im
Laufe des Gesetzgebungsverfahrens eine eigene Vorlage
zur sozialpolitisch gerechten Wohnraumversorgung und
-finanzierung mit einer völlig anderen Systematik einbringen werden; denn dieses Gesetz ist leider keine Reform.
({8})
Für die CDU/CSU-Fraktion hat der Kollege Volkmar
Vogel das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr verehrten Gäste! Wohnen ist für uns eine soziale Frage. Ich glaube, wir in der Großen Koalition sind
uns der Verpflichtung bewusst, auch in Zukunft dafür zu
sorgen, dass die Menschen in unserem Land eine menschenwürdige und bezahlbare Wohnung haben.
({0})
Da ist das Wohngeld sicherlich ein geeignetes Mittel.
Aber ich sage bewusst: Es ist ein geeignetes Mittel und
nicht das Allheilmittel. Denn machen wir uns nichts vor:
Das Wichtigste an dieser Stelle sind zum einen vernünftige Löhne und Renten und zum anderen bezahlbarer
Wohnraum für die Menschen.
Neben dem Wohngeld ist ein weiterer wichtiger
Punkt, dass auch in Zukunft, wie gerade gesagt, bezahlbarer Wohnraum zur Verfügung steht. Dabei stehen aus
meiner Sicht vier Dinge im Mittelpunkt: Wir müssen
weiterhin die Voraussetzungen dafür schaffen, dass
Wohnungsbau möglichst einfach durchführbar ist. Wir
müssen die Wohnungsbaukosten stabilisieren, damit sie
nicht explodieren und auf die Mieten umgeschlagen werden. Wir müssen zielgerichtet den Wohnungsbau fördern. Wir müssen - auch das ist richtig - soziale Härten
abmildern oder helfen, sie zu vermeiden.
Wohnungsbau zu ermöglichen, ist eine Gemeinschaftsaufgabe, an der Bauherren und Investoren genauso beteiligt sind wie wir als Bund, aber natürlich
auch die Länder und Gemeinden. Ich glaube, es ist ein
richtiger Ansatz, dass wir mit dem Bündnis für bezahlbares Wohnen und Bauen alle Akteure an einen Tisch
gebracht haben und dass wir, wenn die entsprechenden
Ergebnisse im Bündnis vorliegen, dafür sorgen, dass
diese von allen betroffenen Ressorts der Bundesregierung umgesetzt werden, also nicht nur vom Ressort für
Bauen und Umwelt, sondern auch von den Ressorts für
Recht, Wirtschaft und Finanzen.
Wir wollen die Wohnungsbaukosten stabilisieren. Es
gibt die Baukostensenkungskommission, die sich mit
den Standards beschäftigt und die auch die ordnungsrechtlichen Vorgaben auf den Prüfstand stellt. Am Ende
des Tages sollten wir ein Moratorium dahin gehend vereinbaren, dass wir in Bezug auf das Ordnungsrecht keine
weiteren nicht zwingend notwendigen Verschärfungen
vornehmen, sondern darauf achten, dass die Kosten insgesamt im Rahmen bleiben.
({1})
Wir wollen den Wohnungsbau fördern. Wir haben in
der Großen Koalition dafür gesorgt, dass die Mittel für
die Städtebauförderung auf 700 Millionen Euro aufgestockt werden. Das ist ein großer Erfolg. Auch der Tag
der Städtebauförderung hat bundesweit gezeigt, dass wir
damit auf dem richtigen Weg sind.
({2})
Natürlich brauchen wir hier die Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern. Ich muss an dieser Stelle deutlich sagen: Jeder Euro für die soziale Wohnraumförderung, den der Bund zur Verfügung stellt, muss in den
Ländern eins zu eins in die soziale Wohnraumförderung
fließen. Denn das Problem, vor dem wir stehen, ist, dass
wir nicht genügend sozialen Wohnraum zur Verfügung
haben, was die Situation insgesamt verschärft.
Aber wir brauchen auch in anderen Bereichen weiterhin Förderinstrumente, die dazu beitragen, die Kosten in
den Griff zu bekommen. Ich bin nach wie vor der Meinung, dass wir in Regionen, wo die Mietpreisbremse
wirksam wird oder wo Wohnungsmangel herrscht, über
eine befristete steuerliche Förderung reden sollten, begrenzt auf die jeweilige Region und natürlich auch zeitlich begrenzt. Das ist ein Thema, mit dem wir uns auseinandersetzen müssen. Ebenso sollten wir an die Leute
mit kleinem Geldbeutel denken, wenn es darum geht, ihnen zu ermöglichen, Geld für Wohneigentum anzusparen. Hier ist meiner Meinung nach die Anpassung der
Wohnungsbauprämien und der Arbeitnehmersparzulage
ein Thema, das auf die Tagesordnung gehört.
Wir haben 2 Milliarden Euro für das CO2-Gebäudesanierungsprogramm bereitgestellt. Auch das hilft, die
Kosten im Griff zu behalten, wenngleich ich ein bisschen traurig bin, dass es zwischen Bund und Ländern
keine Vereinbarung zu den steuerlichen Abschreibungsmöglichkeiten für energetische Sanierung gibt. Ich
glaube, das ist die Aufgabe von uns allen. Denn auch die
Grünen und die SPD sind in den Ländern in Regierungsverantwortung. Wir sollten schauen, dass wir hier mit
den Ländern übereinkommen.
({3})
Aber nichtsdestotrotz: Am Ende des Tages wird es
immer soziale Härten geben, die wir abmildern müssen.
({4})
Da ist das Wohngeld ein geeignetes Instrument. Natürlich müssen die Länder für den sozialen Wohnungsbau
sorgen; das ist ihre Aufgabe. Wenn wir über das Wohngeldgesetz reden, sollten wir § 39 beachten. Danach hat
die Bundesregierung die Pflicht zur Vorlage eines Berichts über die Entwicklung des Wohngeldes und der
Mieten. Wir sollten diesen § 39 ergänzen um eine Berichtspflicht der Länder gegenüber dem Bund, was ihre
Aktivitäten im Bereich Wohnungsbau, insbesondere sozialer Wohnungsbau, betrifft.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, mit der vorliegenden Novelle leisten wir einen wichtigen Beitrag
Volkmar Vogel ({5})
dazu, dass die Menschen weiterhin sozial sicher in ihren
Wohnungen leben können. Das hilft insbesondere einkommensschwachen Haushalten, vor allen Dingen Familien mit wenig Geld. Deswegen ist es richtig, dass wir
diese Novelle jetzt auf den Weg bringen. Ich bitte Sie,
mit dazu beizutragen, dass wir in der Beratung unter
Durchführung einer Anhörung zügig vorankommen und
dann die Novelle verabschieden, damit ab dem Jahre
2016 die notwendigen finanziellen Mittel für die Menschen zur Verfügung stehen können.
({6})
Ich glaube, das ist eine gute Botschaft hier am Freitag
vor Pfingsten. Deswegen lassen Sie mich Ihnen eine
schöne Pfingstzeit wünschen und dass auch möglichst
jeder etwas vom Heiligen Geist abbekommt.
Danke schön.
({7})
Das Wort hat der Kollege Christian Kühn für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Danke. - Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter
Staatssekretär Florian Pronold, Frau Ministerin
Hendricks hat hier in der Regierungsbefragung im März
zum Wohngeld gesagt: Wohnen ist ein Grundbedürfnis,
und dieses Grundbedürfnis muss für alle Menschen in
Deutschland bezahlbar sein.
({0})
Das ist ein toller Satz. Ich glaube, in diesem Parlament
wird dem jede Fraktion zustimmen. Aber ohne eine Dynamisierung des Wohngeldes, ohne eine Wiedereinführung des Heizkostenzuschusses und ohne eine Klimakomponente im Wohngeld bleiben dies leider leere
Worte. Sie lösen das Versprechen des bezahlbaren Wohnens in Deutschland ohne diese Punkte beim Wohngeld
eben nicht ein. Ihre Wohngeldnovelle bleibt deswegen
einfach unterambitioniert, und sie ist, wie ich finde, für
Sozialdemokraten ein bisschen kraftlos.
({1})
Herr Pronold, Sie haben gesagt, dass es eine Frage der
Würde ist - vielleicht könnten die Kollegen der SPD zuhören -, dass Menschen nicht mehr in die Grundsicherung abrutschen. Die Wohngeldnovelle, die wir heute
hier beraten, ist doch eine Rutschbahn in die Grundsicherung. Ohne Dynamisierung nehmen Sie Tausende
von Menschen in den nächsten Jahren mit auf diese
Rutschbahn. Sie werden aus dem Wohngeld langsam herausfallen und wieder in die Grundsicherung abrutschen.
Ich glaube, es ist falsch, dass Sie den großen Konstruktionsfehler, dass das Wohngeld nicht dynamisiert ist,
nicht reparieren. Dies hat, finde ich, mit sozialer Gerechtigkeit, mit einer Politik, die ich mir für das Wohngeld
wünsche, nämlich mit einer strukturellen Stärkung des
Wohngeldes, überhaupt nichts zu tun.
({2})
Dass Frau Hendricks in der Regierungsbefragung für
diese Politik noch Verständnis äußert, kann ich mir nur
damit erklären, dass sie sehr lange Finanzpolitikerin war
und die Wohnungspolitik bei ihr anscheinend noch nicht
so viel Aufmerksamkeit gefunden hat.
({3})
Es ist bereits gesagt worden: Die letzte Anpassung
war 2009. Sechs Jahre lang gab es keine Anpassung. Ich
finde, das ist ein Skandal angesichts dessen, was wir auf
den Wohnungsmärkten in Deutschland in den letzten
Jahren erlebt haben. Aber es gab nicht nur keine Anpassung in den letzten sechs Jahren, sondern es gab unter
Schwarz-Gelb eine eiskalte Kürzung, indem der Heizkostenzuschuss gestrichen wurde. Wenn ich mir die Verwerfungen auf den Wohnungsmärkten in Deutschland
anschaue, wenn ich mir anschaue, dass die Bruttowarmmieten seitdem im Durchschnitt um 9 Prozent gestiegen
sind, dann glaube ich, dass dieser Gesetzentwurf völlig
unterambitioniert ist. Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, führen das Wohngeld letztlich auf dem
Niveau von Schwarz-Gelb weiter.
({4})
Ich glaube, damit begegnen Sie den Herausforderungen,
die wir heute auf den Wohnungsmärkten haben - Herr
Pronold hat sie beschrieben -, nicht. Sie haben sie nicht
im Blick.
({5})
- Stellen Sie einfach eine Zwischenfrage, Herr Vogel,
dann nehme ich gerne dazu Stellung.
Ohne eine Dynamisierung - ich blicke jetzt einmal in
die Zukunft - wird die nächste Wohngeldanpassung,
wenn wir diesen Rhythmus beibehalten, vielleicht 2021
sein. Bis dahin werden die Wohnkosten und das Wohngeld weiter auseinanderdriften. Das kann nicht Anliegen
einer sozialen Wohnungspolitik sein. Angesichts Ihrer
Wohnungspolitik muss ich sagen, dass Sie bei den sozialen Fragen des Wohnens versagen.
({6})
Dass Sie trotz sprudelnder Steuereinnahmen den
Heizkostenzuschuss angesichts gestiegener Energiekosten in den letzten Jahren nicht wieder einführen,
Christian Kühn ({7})
finde ich dramatisch. Das hätten Sie tun können. Diese
Spitze der sozialen Härte hätten Sie beseitigen können.
Das haben Sie nicht gemacht. Das finde ich sehr traurig.
Dass Sie aber auch nicht die Kraft haben, einen innovativen Gedanken ins Gesetz zu bringen, zeigt diese
Wohngeldnovelle. Die Klimakomponente fürs Wohngeld haben Sie in Ihren Nationalen Aktionsplan geschrieben. Diese finden Sie alle irgendwie gut, aber hier
legen Sie einen Gesetzentwurf vor, in dem sie nicht enthalten ist. Dies wäre ein innovativer Gedanke, wie man
Klimaschutz und Bauen miteinander verzahnen kann.
Ich bin es leid, Herr Pronold, dass seitens des Ministeriums immer nur darüber geredet wird, wie man Umweltpolitik und Baupolitik bzw. Klimaschutz und Bauen
miteinander verbinden kann. Jetzt hätten Sie das umsetzen können, aber Sie haben es nicht getan. Damit zeigen
Sie, dass Sie es auch gar nicht können, weder beim Klimaschutz noch mit einer innovativen Baupolitik.
({8})
Wohnen ist ein Grundbedürfnis, das für alle Menschen bezahlbar sein muss. Wenn Sie es wirklich ernst
meinen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union
und der SPD, dann lassen Sie uns in den Beratungen die
Fehler dieser Wohngeldnovelle korrigieren. Lassen Sie
uns gemeinsam einen Heizkostenzuschuss einführen.
Lassen Sie uns dafür sorgen, dass wir bei der Klimakomponente vorankommen, und lassen Sie uns den großen
Konstruktionsfehler des Wohngelds beheben, indem wir
das Wohngeld in Zukunft dynamisieren, es dadurch fit
machen und dafür sorgen, dass alle Menschen in
Deutschland bezahlbaren Wohnraum haben können. Das
sollte kein leeres Versprechen bleiben, sondern Realität
werden.
Danke.
({9})
Das Wort hat die Kollegin Ulli Nissen für die SPDFraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Lieber Herr Kühn, es ist immer toll, aus
der Opposition heraus Anträge zu stellen und Forderungen zu erheben. Was machen die wunderbaren Grünen in
Hessen? Haben sie mit der CDU zusammen die Kündigungssperrfrist verlängert? Leider nein. In der Opposition lassen sich leicht schöne Forderungen stellen.
({0})
In den letzten Jahren sind - das ist schon erwähnt
worden - in vielen Städten die Mieten kräftig gestiegen,
und die hohen Heizkosten haben zu einer starken Belastung vieler Mieterhaushalte geführt. Wie und wo wir
wohnen, bestimmt einen wichtigen Teil unseres Alltags,
unseres Umfelds und damit auch unsere Lebensqualität.
Wir wollen, dass unsere Städte lebenswert bleiben und
dass in den Quartieren nicht nur gut oder schlecht verdienende Personen wohnen, sondern dass sie alle eine
Chance haben, dort zu leben.
Die hohen Wohnkosten haben in vielen Fällen dafür
gesorgt, dass Menschen ihr angestammtes soziales Umfeld verlassen mussten. Davon waren insbesondere
Rentnerinnen und Rentner betroffen.
„Bezahlbares Wohnen“ ist das Stichwort, unter dem
sich viele unserer Vorhaben zusammenfassen lassen. Um
dies zu ermöglichen, muss man an vielen Stellschrauben
ansetzen. Aber leider kann der Bundestag nicht an allen
drehen.
Ganz wichtig ist - darin sind wir uns sicherlich alle
einig -, dass mehr bezahlbare Wohnungen gebaut werden. Wir wissen aber auch, dass der Bund in diesem
Punkt wenig machen kann. Der Föderalismus setzt uns
leider enge Grenzen.
Die Gründe für Mietsteigerungen sind vielfältig. Neben knappem Wohnraum tragen auch Entmietungsversuche von Miethaien, wie wir es gerade in Frankfurt in der
Wingertstraße 21 oder ganz aktuell - darüber ist heute
berichtet worden - in der Keplerstraße erleben, dazu bei.
Ich danke der Nachbarschaftsinitiative NordendBornheim-Ostend, die sich intensiv gegen Vertreibungen
wehrt. Sie haben meine volle Unterstützung.
({1})
Heute geht es um eine Stellschraube, an der wir als
Bund drehen können: das Wohngeld. Die letzte Wohngeldreform trat am 1. Januar 2009 in Kraft. Leider ist unter der Regierungszeit von CDU/CSU und FDP keine
Anpassung erfolgt. Deshalb ist es gut, dass wir jetzt unter Rot-Schwarz die Wohngeldreform auf den Weg bringen, eine Reform, auf die die Menschen schon lange gewartet haben.
Ich freue mich über die Berücksichtigung der Bruttowarmmiete und die Neufestsetzung der Mietstufen, wobei wir in den höheren Bereichen eine überproportionale
Anhebung vorgenommen haben. Damit wurde der starke
Anstieg der Mieten in den betroffenen Städten mit besonders hohem Mietniveau besonders berücksichtigt.
Als Frankfurter Bundestagsabgeordnete kenne ich diese
Problematik vor Ort sehr genau.
Wichtig ist aber auch - das wurde bisher noch nicht
angesprochen -: Wir müssen die einkommensschwachen
Haushalte darüber informieren, dass sie Wohngeldansprüche haben. Lassen Sie uns alle daran arbeiten.
Das Wohngeld kann seine Aufgabe, ein angemessenes, familiengerechtes Wohnen sicherzustellen, nur dann
erfüllen, wenn die Rahmenbedingungen für die Berechnung des Wohngelds öfter angepasst werden. Das haben
die Grünen und die Linken angesprochen, und darin bin
ich ganz auf Ihrer Seite. Ich gehe aber davon aus, dass
meine lieben Kolleginnen und Kollegen von der CDU/
CSU intensiv daran mitarbeiten. Denn auch ihnen liegen
die Menschen sehr am Herzen.
({2})
Mein Dank gilt dem Ministerium. Ihnen allen danke
ich für die Zusammenarbeit, und auch von mir: Schöne
Pfingsttage! Alles Gute!
({3})
Das Wort hat die Kollegin Sylvia Jörrißen für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Am 18. März dieses Jahres hat unsere Bundesregierung
die Novelle für die Anpassung des Wohngeldes beschlossen. Für meine Fraktion begrüße ich dies sehr. Mit
diesem Gesetzentwurf erneuern wir einen der zentralen
Bausteine des bezahlbaren Wohnens, das der Großen
Koalition sehr am Herzen liegt.
Seit 1971, als das Gesetz das erste Mal in Kraft trat,
sorgt es dafür, dass die Schwächsten unserer Gesellschaft bei ihrem Lebensunterhalt unterstützt werden und
nicht durch steigende Wohnkosten zu einem Umzug gezwungen werden. Damit erhält das Gesetz die sozialen
Gemeinschaften, die unsere Gesellschaft so stark machen.
({0})
Aufgrund sich verändernder Wohnungsmärkte musste
dieses Gesetz in den letzten 45 Jahren immer wieder angepasst und auf die Höhe der Zeit gebracht werden.
Auch heute haben wir genau dies wieder im Sinn. Nach
der letzten Änderung 2009 bedarf es einer erneuten Anpassung an die Mieten- und Einkommensentwicklung,
zum Wohle der Menschen in unserem Land.
({1})
Die Wohngeldnovelle wird ab 2016 fast 900 000
Haushalte effektiv unterstützen. Der Staatssekretär hat
die Zahlen gerade schon genannt. Darunter sind 324 000
Antragsberechtigte, die durch diese Reform erstmals
oder wieder einen Anspruch erhalten.
({2})
90 000 Haushalte, die heute nur Grundsicherung beziehen, werden Wohngeld erhalten. Bei vielen anderen
werden wir die Haushaltsbudgets entlasten und so die
Kaufkraft steigern. Ein Zweipersonenhaushalt wird
durchschnittlich um über 70 Euro monatlich entlastet
werden.
({3})
Die Novelle sorgt aber nicht nur für eine allgemeine
Erhöhung des Wohngeldes, sie geht vor allem auf die regionalen Unterschiede im Wohnungsmarkt ein. Wir alle
wissen, dass die Mieten in unserem Land nicht überall in
gleichem Maße steigen. In meiner Heimat, in Hamm, ist
die Zunahme der Wohnkosten nur gering, aber in einigen
Ballungsgebieten sind die Mieten für viele Familien und
Rentner nicht mehr bezahlbar.
Uns sind diese Umstände bewusst, und deswegen
wird diese Novelle insbesondere auch auf die regionalen
Unterschiede eingehen. Wir sorgen damit dafür, dass
sich Familien in den Städten den gleichen Wohnraum
leisten können wie außerhalb der großen Ballungsräume.
So verhindern wir erzwungenen Umzug.
({4})
Lassen Sie mich an einem Fallbeispiel die Wirkung
der Novelle verdeutlichen: Eine Rentnerin in Hamburg
zahlt eine Kaltmiete von 500 Euro, das ist nicht unrealistisch. Heute bezieht sie neben ihrer Rente Leistung aus
der Grundsicherung. Da ihre Miete den bisherigen Miethöchstbetrag überschreitet, hat sie keinen Anspruch auf
Wohngeld. Ab 2016 profitiert sie davon, dass Hamburg
in eine höhere Mietenstufe gestuft wird und die Miethöchstbeträge steigen. Sie hat zukünftig einen Wohngeldanspruch und ist damit nicht mehr auf Grundsicherung angewiesen. Im Ergebnis hat sie zudem jeden
Monat eine spürbare Entlastung im Portemonnaie.
Oder aber wir nehmen eine Familie mit schulpflichtigen Kindern. Das Haushaltsbudget ist knapp, da nur ein
Elternteil arbeitet. Diese Eltern müssen sich jetzt keine
Gedanken mehr darüber machen, wie sie ihren Kindern
erklären, dass sie ihre Freunde verlassen müssen, nur
weil die Familie die Miete nicht mehr bezahlen kann.
({5})
Aber das ist nicht alles. Mit der Verbreiterung der Antragsberechtigung für das Wohngeld entlasten wir zusätzlich die Kommunen bei den Ausgaben für die
Grundsicherung; denn viele, die bisher Hilfe der Grundsicherung bezogen haben, werden nun Wohngeld erhalten. Damit sinken die Ausgaben unserer Städte und Gemeinden. Auch das begrüße ich ausdrücklich.
({6})
Einen weiteren wichtigen Punkt unserer Novelle sehe
ich im Bürokratieabbau. Wir entlasten die Bürger nicht
nur finanziell, sondern sorgen gleichzeitig dafür, dass
das Beantragen des Wohngeldes einfacher wird.
Ich denke, dass wir im nächsten Jahr, wenn diese Novelle in Kraft tritt, alle gemeinsam sehr stolz darauf sein
können, was wir erreicht haben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich am
Ende noch auf einen Punkt eingehen, der in der Stellungnahme des Bundesrates von den Ländern gewünscht
wird, nämlich eine verbindliche, regelmäßige Überprüfung und Anpassung des Wohngeldes. Ich denke, dass
dies nicht unbedingt erforderlich ist, da der Gesetzentwurf bereits eine Evaluierung und einen Wohngeld- und
Mietenbericht, der von der Bundesregierung im Jahr
2019 vorgelegt werden soll, vorsieht. Aber auch wir
haben einen Wunsch an die Länder: dass sie ihrer Verantwortung für den geförderten Wohnungsbau nachkommen und die hierfür zur Verfügung gestellten Kompensationsmittel auch zweckgebunden einsetzen.
({7})
Denn mit der Schaffung von zusätzlichem bezahlbaren
Wohnraum ist den Menschen am Ende mehr geholfen als
mit der Erhöhung des Wohngeldes. Vielleicht schaffen
wir es ja, uns unsere Wünsche gegenseitig zu erfüllen.
({8})
Der Kollege Ulrich Hampel hat für die SPD-Fraktion
das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wohnen muss bezahlbar bleiben, und zwar für
alle Menschen in unserem Land. Gerade in den Ballungsräumen wird es für die Menschen mit geringerem
Einkommen immer schwieriger, die stark steigenden
Mieten zu bezahlen. Mit dem Wohngeld soll verhindert
werden, dass Menschen aufgrund von Mietsteigerungen
ihre Wohnung und damit ihr angestammtes Umfeld verlassen müssen und die soziale Mischung einer Stadt in
Schieflage gerät. In den vergangenen fünf Jahren ist der
Kreis der Anspruchsberechtigten deutlich zurückgegangen. Verantwortlich hierfür ist die schwarz-gelbe Vorgängerregierung, die die notwendigen Anpassungen des
Wohngeldes an die Entwicklung der Einkommen und
der Warmmieten unterlassen hat.
({0})
Mit der jetzt auf den Weg gebrachten Wohngeldreform
wird der Kreis der Anspruchsberechtigten wieder erheblich ausgeweitet, und die Berechtigten erhalten auch
wieder deutlich mehr Geld.
({1})
Um dies zu erreichen, werden wir die entsprechenden
Tabellenwerte um durchschnittlich 39 Prozent erhöhen.
Damit soll neben dem Anstieg der Bruttokaltmieten und
der Einkommen auch der Anstieg der warmen Nebenkosten, somit insgesamt der Bruttowarmmieten, berücksichtigt werden. Nachdem unter Schwarz-Gelb die Heizkostenkomponente gestrichen wurde, werden also jetzt
die Heizkosten wieder in die Berechnung einbezogen.
Sie sind ein wichtiger Bestandteil der Wohnkosten. Es
kann und darf nicht sein, dass Familien mit Kindern frieren müssen, nur weil sie die Heizkosten nicht bezahlen
können.
({2})
Deshalb ist die Betrachtung der Bruttowarmmiete bei
der Berechnung des Wohngeldes genau der richtige Ansatz. Der Gesetzentwurf sieht außerdem eine regionale
Staffelung der Miethöchstbeträge vor, sodass die Menschen in Regionen mit stark steigenden Mieten entsprechend stärker vom Wohngeld profitieren. Damit soll beispielsweise einkommensschwächeren Familien in
unserem Land ermöglicht werden, überall unabhängig
vom jeweiligen Mietniveau etwa gleich große Wohnungen anmieten zu können.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit dem vorgelegten Gesetzentwurf wird die Leistungsfähigkeit des
Wohngeldes deutlich erhöht. Die Stärkung des Wohngeldes ist gerade in den Ballungsgebieten auch städtepolitisch von großer Bedeutung, um der räumlichen
Spaltung der sozialen Gruppen in einer Stadt entgegenzuwirken. Gemeinsam mit der Mietpreisbremse trägt das
Wohngeld dazu bei, dass die Menschen in ihrem Kiez
wohnen bleiben können und eben nicht verdrängt werden. Wir helfen mit der Erhöhung des Wohngeldes
vielen Haushalten mit Einkünften knapp oberhalb des
Existenzminimums, damit diese eben nicht in die Grundsicherung abrutschen.
({3})
Union und SPD haben im Koalitionsvertrag vereinbart, die Leistungen des Wohngeldes zu verbessern. Mit
dem vorliegenden Gesetzentwurf setzen wir dieses Vorhaben um und unterstützen damit knapp 870 000 Haushalte in unserem Land. Ich danke Frau Bundesministerin
Barbara Hendricks und ihrem Hause für den vorgelegten
Gesetzentwurf und freue mich auf die parlamentarischen
Beratungen.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit und wünsche Ihnen frohe Pfingsten und ein herzliches Glückauf.
({4})
Das Wort hat der Kollege Artur Auernhammer für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Frei nach Karl Valentin - es ist
schon vieles gesagt worden, aber noch nicht von jedem möchte auch ich die Entscheidungen zum Wohngeld loben. Wenn wir über das Wohngeld und eine Reform des
Wohngeldrechts sprechen, dann ist dies auch immer
Ausdruck unserer gesellschaftlichen Überzeugung, für
welche CSU und CDU gemeinsam stehen. Deutschland
ist eine soziale Marktwirtschaft. Wir verfahren nach dem
Prinzip „Die Starken schultern die Schwachen“.
Über 750 000 Haushalte sind derzeit in Deutschland
auf Wohngeld angewiesen. Warum ist das so? In den
letzten Jahren sind die Verbraucherpreise im Durchschnitt um 10 Prozent gestiegen, die Ausgaben für
Wohnraum aber wesentlich stärker. Die Ausgaben für
das Wohnen und die Ausgaben für Lebensmittel gingen
auseinander wie eine Schere. Wer ist besonders betroffen? Die Bezieher kleiner Renten, Einpersonenhaushalte, Haushalte mit kleinen Einkommen und vor allem
auch unsere Bürgerinnen und Bürger in den jüngeren
Bundesländern.
Deutschland ist ein Sozialstaat. Aus den eben genannten Umständen resultiert der gesellschaftliche Auftrag an
den Gesetzgeber, für soziale Gerechtigkeit zu sorgen.
({0})
Vom Wohngeld profitieren die Mitbürger, die ein zu
geringes Einkommen erhalten. Dieser Personenkreis ist
angewiesen auf die Beihilfe zur Miete. Die Wirkung:
Die sozialstaatliche Leistung wertet das eigene Einkommen auf und entlastet die Familien. Der Empfänger profitiert von dieser finanziellen Absicherung und erhält
eine höhere soziale Sicherung. Das heißt auch immer:
mehr Teilhabe an der Gesellschaft. Das ist gerade in unserer Zeit, in der wir viel über Teilhabe an der Gesellschaft reden, wichtig. Es darf nicht zu sozialen Konflikten kommen. Wir müssen für die Bürgerinnen und
Bürger in unserem Land ein gutes Wohnumfeld gewährleisten.
({1})
Ich erlaube mir, die Frage zu stellen: Wer trägt die
Kosten für das Wohngeld?
({2})
Das Geld, das wir ausgeben, muss irgendwo erwirtschaftet werden. Das unterscheidet die Oppositionsfraktionen
von den Regierungsfraktionen: Wir müssen das Geld,
das wir ausgeben, erwirtschaften. Der wirtschaftliche Erfolg Deutschlands wird von den Kaufleuten, den Landwirten, den Krankenschwestern, den Angestellten, den
Facharbeitern, den Mittelständlern, ja, von allen Menschen hier erwirtschaftet. So fließt Geld in die Sozialkassen - für unser Gemeinwohl. Ich glaube, das sollten wir
an dieser Stelle belohnen.
({3})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition,
ich weiß, dass Sie sehr viel mehr Geld ausgeben möchten. Aber wir stehen in der Verantwortung, dieses Geld
zuerst zu erwirtschaften.
({4})
Es ist gesagt worden, man solle den Heizkostenzuschuss wieder einführen. Wir haben die Heizkosten beim
Wohngeld berücksichtigt. Ich wundere mich, dass gerade Vertreter von Parteien, die Plakate gedruckt haben,
auf denen stand, der Liter Benzin solle 5 D-Mark kosten,
jetzt einen Heizkostenzuschuss fordern. Wir sollten auf
Energieeffizienz, also das Einsparen von Energie, Wert
legen. Auch diesen Aspekt dürfen wir hier nicht vergessen.
({5})
Herr Staatssekretär Pronold hat angeführt, dass wir
sehr unterschiedliche Wohnsituationen haben. Eine
Wohnung in München-Schwabing oder in Berlin-Prenzlauer Berg ist wesentlich teurer und wesentlich kostspieliger in der Finanzierung als zum Beispiel eine Wohnung
im niederbayerischen Land, im ländlichen Raum oder in
den neuen Ländern. Diesen Aspekt müssen wir beim
Wohngeld berücksichtigen. Wir sollten ihn bei unseren
politischen Entscheidungen ständig vor Augen haben,
genauso wie die Entwicklung der ländlichen Räume.
Ich danke Ihnen fürs Zuhören und wünsche Ihnen
schöne Pfingsttage. Vielen Dank.
({6})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 18/4897 ({0}) an die in der Tages-
ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt
es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der
Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 31 a und 31 b auf:
a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht der Bundesregierung über den Stand
des Ausbaus der Kindertagesbetreuung für
Kinder unter drei Jahren für das Berichtsjahr 2014 und Bilanzierung des Ausbaus
durch das Kinderförderungsgesetz ({1})
Drucksache 18/4268
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({2})
Innenausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit
Haushaltsausschuss
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend ({3})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Diana
Golze, Matthias W. Birkwald, Nicole
Gohlke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Ausbau und Qualität in der Kinderbetreuung vorantreiben
Vizepräsidentin Petra Pau
- zu dem Antrag der Abgeordneten
Dr. Franziska Brantner, Katja Dörner, Kai
Gehring, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Qualität in der frühkindlichen Bildung
fördern
Drucksachen 18/2605, 18/1459, 18/4368
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Parlamentarische Staatssekretärin Caren Marks.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn wir
den Blick auf die vergangenen Jahre zurückwerfen, dann
können wir heute feststellen: Beim Ausbau der frühkindlichen Bildung, Betreuung und Erziehung von Kindern
unter drei Jahren hat sich in Deutschland wirklich eine
Menge getan. Seit dem Krippengipfel 2007 ist viel passiert. Die Dynamik des Ausbaus war und ist - das spüren
wir überall in den Kommunen - enorm. Man stelle sich
vor: Die Zahl der Betreuungsplätze hat sich seit 2008
fast verdoppelt. Ich spreche hier von fast 300 000 zusätzlichen Betreuungsplätzen in sechs Jahren. Das belegt der
heute zu debattierende sogenannte fünfte KiföG-Bericht,
wie ich finde, sehr eindrucksvoll. „Wind unter den Segeln“ brachte vor allem der Rechtsanspruch, den Kinder
ab dem vollendeten ersten Lebensjahr haben.
Dieser Ausbau war und ist ein riesengroßer Kraftakt
und Erfolg, und zwar aller politischen Ebenen, des Bundes, der Länder und vor allem der Kommunen, der
Träger von Einrichtungen und natürlich auch der Fachkräfte. Mein Dank gilt allen, die daran mitgewirkt haben.
Ein ganz besonderer Dank gilt den Erzieherinnen und
Erziehern, die mehr Anerkennung für ihre sehr wertvolle
Arbeit verdienen.
({0})
Der Ausbau geht weiter. Mit dem Gesetz zur weiteren
Entlastung von Ländern und Kommunen stockt der
Bund das bestehende Sondervermögen „Kinderbetreuungsausbau“ auf 1 Milliarde Euro auf. Wir erhöhen die
Bundesmittel zur Deckung der Betriebskosten 2017 und
2018 um jeweils 100 Millionen Euro; denn es geht nicht
nur um Plätze. Es geht auch um gute Kinderbetreuung.
Deshalb ist die Beteiligung an den Betriebskosten wichtig.
Eltern brauchen vor Ort ein bedarfsgerechtes Betreuungsangebot, ein Angebot, das ihnen hilft, Familienleben und Beruf miteinander zu vereinbaren. Das ist gerade auch für Alleinerziehende ganz besonders wichtig.
Gute Kinderbetreuung bedeutet vor allem, dass die Kinder im Mittelpunkt stehen. Sie hilft Kindern dabei, sich
bestmöglich zu entwickeln und zu entfalten. Wir wollen,
dass alle Kinder gleiche Chancen von Anfang an haben.
Kitas haben einen durchaus großen Anteil daran. Auch
wenn es schwarz auf weiß belegt ist, dass der Ausbau
nicht zu einer Absenkung der Qualität beispielsweise
beim Personalschlüssel geführt hat: Es bleibt weiterhin
viel zu tun, wenn wir flächendeckend hohe Qualität im
Sinne frühkindlicher Bildung für alle sicherstellen wollen.
({1})
Es gibt noch Versorgungslücken, und es gibt Aufholbedarf bei der Qualität. Und die Eltern haben eine eindeutige Position dazu: 88 Prozent der Eltern halten die Verbesserung der Qualität in der Kindertagesbetreuung für
wichtig.
Das aktuelle dritte Investitionsprogramm des Bundes,
das wir in der Regierungskoalition aufgelegt haben, ist
auch ein Investitionsprogramm für Qualität. Neu ist,
dass mit dem Geld Ausstattungsinvestitionen gefördert
werden können, Investitionen in Bewegungsräume, Küchen oder barrierefreie Plätze. Zudem fördert der Bund
nicht nur Ausstattungsinvestitionen, sondern unterstützt
mit wichtigen Bundesprogrammen direkt die Qualität. In
den Schwerpunktkitas „Sprache & Integration“ fördern
wir die sprachliche Bildung im Kitaalltag. Im Programm
„Lernort Praxis“ wird die Zusammenarbeit der Kitas mit
Schulen gestärkt. Und wir haben das Förderprogramm
„Betriebliche Kinderbetreuung“ neu aufgelegt, ein Programm, mit dem wir Unternehmen - von klein bis groß dabei unterstützen, Plätze neu einzurichten. Und ab
nächstem Jahr wird es ein neues 100-Millionen-EuroProgramm geben, um zum Beispiel die Betreuung in
Randzeiten besser abzudecken.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben schon einiges erreicht
und einiges neu angestoßen. Eine bedarfsdeckende gute
Kinderbetreuung in Deutschland erreichen wir nur, wenn
alle politischen Ebenen an einem Strang ziehen. Daher
freut es mich, dass Bundesfamilienministerin Schwesig
gemeinsam mit den zuständigen Ministern der Länder,
mit Vertreterinnen und Vertretern der Kommunen im
November letzten Jahres einen Prozess zur Entwicklung
gemeinsamer Qualitätsziele für die Kindertagesbetreuung verabredet hat. Diese Verabredung ist der Auftakt
für einen gemeinsamen Fahrplan „Kita-Qualität“.
Das Thema „frühkindliche Bildung“ muss gesamtgesellschaftlich ganz oben auf der Agenda stehen. Das ist
eben nicht nur ein Thema der Familienpolitik.
({2})
Frühkindliche Bildung - das kann man ohne Wenn und
Aber sagen - ist auch harte Standortpolitik. Viele Unternehmen haben zum Glück längst verstanden, dass gute
und verlässliche Kinderbetreuung wichtig ist, wenn sie
gute Fachkräfte an sich binden wollen.
Herzlichen Dank.
({3})
Das Wort hat der Kollege Norbert Müller für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Und insbesondere möchte ich jetzt die noch
zu Zehntausenden streikenden Kitaerzieherinnen und
Kitaerzieher grüßen, die für eine Aufwertung ihrer Berufe - Sozialarbeiterinnen, Sozialarbeiter, Kitaerzieherinnen, Kitaerzieher - eintreten, die eine hervorragende
Arbeit für viel zu wenig Geld machen und die hoffentlich auch nach Pfingsten kraftvoll weiter streiken und
- wie ich auch hoffe - den Verband der kommunalen Arbeitgeber zu einem Einlenken bewegen können. Die
Linke steht an ihrer Seite.
({0})
Sehr geehrte Frau Staatssekretärin Marks, Sie feiern
Ihre Erfolge. Das sei Ihnen gegönnt. Feste soll man ja
bekanntlich feiern, wie sie fallen. Aber ich möchte Ihnen
einen Rat geben - Sie haben es in Ihrer Rede selbst anklingen lassen -: Lassen Sie den Sekt im Schrank
({1})
- oder auch das Wasser -, und lassen Sie uns da, wo die
Probleme sind, anfangen! Kommen wir dahin, dass Kitaausbau und -qualität einen deutlichen Sprung nach vorn
machen! Die Erfolge sind bei Weitem nicht so groß, wie
Sie sie hier dargestellt haben.
({2})
Es fehlen 185 000 Plätze, und die Plätze, die wir in
den letzten Jahren ausgebaut haben, haben eine - sagen
wir es einmal freundlich - höchst unterschiedliche Qualität in der Betreuung. Den Ausbau so, wie er in den vergangenen Jahren geschehen ist - bei allen Erfolgen, die
es gegeben hat -, haben Sie zwar durch den Bund unterstützt, aber er ist im Wesentlichen auf dem Rücken der
Kommunen, der Länder und der Beschäftigten, die in
den Kitas arbeiten, geleistet worden. Dazu möchte ich
Ihnen vier Punkte sagen.
Erstens. Ein Mehr an Kitaplätzen bedeutet nun einmal
nicht, dass die Qualität der Plätze dem entspricht, was
wir uns alle vorstellen. Stichwort hierzu ist eine spürbare
Absenkung des Betreuungsschlüssels, und zwar flächendeckend. Er ist in vielen Kindertagesstätten in vielen
Ländern viel zu hoch. Stichwort ist ferner ein kostenfreies Mittagessen für die Kinder oder überhaupt ein
Mittagessen, das wir ja in vielen Betreuungseinrichtungen überhaupt nicht haben. Stichwort ist eine Ertüchtigung der baulichen Substanz. Da haben wir einige
Schritte getan, aber auch da ist noch viel zu tun. Und
schließlich ist am Ende ein weiteres Stichwort die Aufwertung der Berufe.
Sie wollen nicht über ein Kita-Qualitätsgesetz sprechen. Deswegen werden Sie unseren Antrag dazu hier
heute ablehnen. Wir haben beantragt - nichts weiter als
das -, dass sich der Bund in die Spur begibt, ein KitaQualitätsgesetz zu verabschieden, das genau diese
Punkte anpackt. Aber genau diese Punkte - die Grünen
sind in eine ähnliche Richtung gegangen - wollen Sie
eben bundesrechtlich nicht vereinheitlichen, und Sie
wollen da auch keine weiteren Schritte gehen. Das ist
sehr bedauerlich.
Zweitens. Der Ausbau der Kitaplätze geht einher mit
einem massiv erhöhten Personalbedarf. Das ist richtig.
Die Bundesregierung spricht hier in ihrem Bericht von
„pädagogisch Tätigen“ und eben nicht von „Erzieherinnen und Erziehern“. Warum ist das so? Weil nach Angaben der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft von
522 000 Beschäftigten in den Kitas 354 000 Erzieherinnen und Erzieher sind und der Rest eben nicht vollwertig
ausgebildete Erzieherinnen und Erzieher, sondern Vertreter anderer Berufe sind, schlechter qualifiziert,
schlechter bezahlt. Damit kann gute Qualität in frühkindlicher Bildung nicht funktionieren. Wir brauchen
beste Ausbildung, wir brauchen in den Kitas durchgängig Erzieherinnen und Erzieher, die in diesem Beruf
auch ausgebildet worden sind, und nicht anderes Personal mit schlechterer Ausbildung.
({3})
Drittens - hier sind wir bei dem Anliegen der derzeit
streikenden Erzieherinnen und Erzieher -: Verdi und die
GEW streiken für eine deutlich höhere Eingruppierung.
Das ist auch berechtigt, weil wir - das geht auch aus Ihrem Bericht hervor - inzwischen ganz andere Anforderungen an diesen Beruf haben, weil wir inzwischen unter
Kitaerzieherinnen und -erziehern nicht mehr die verstehen, die auf die Kinder aufpassen, damit sie nicht weglaufen und nicht zu Schaden kommen. Vielmehr haben
sie einen pädagogischen Auftrag; sie haben einen Auftrag, der bedeutet, dass frühkindliche Bildung am Ende
mehr mit Bildung als mit Betreuung zu tun hat.
Dieser Berufszweig, der noch immer überwiegend ein
Frauenberuf ist, soll für die Gesellschaft geöffnet werden; der Zugang soll breiter werden. Auch Männer sollen sich für diesen Beruf stärker interessieren. Das heißt,
wir brauchen hier eine vernünftige Entlohnung. Das geht
eben nur, wenn am Ende die Berufe aufgewertet werden
und deutlich mehr Geld bei den Erzieherinnen und Erziehern bleibt.
({4})
Viertens. Wir alle sprechen lieber von „frühkindlicher
Bildung“ als von „Kinderbetreuung“. An diesem Punkt
begegnet uns eine Entwicklung, die aktuell die Republik
umtreibt: Warum müssen Eltern Geld, teilweise viel
Geld, für die Erfüllung ihres Rechtsanspruchs auf frühkindliche Bildung ihrer Kinder zahlen? Bundesweit gibt
es die Forderung, die Elternbeiträge für Kindertageseinrichtungen abzuschaffen. Wir als Linke halten diese Forderung für berechtigt. Wir wissen, dass das nicht von
heute auf morgen geht. Aber wir finden, wir sollten uns
darauf als Fernziel verständigen. Wenn es um Bildung
geht, dann dürfen Elternbeiträge für Kitas nicht mehr erhoben werden.
({5})
Norbert Müller ({6})
Ich fasse zusammen: Der Ausbau der Kitaplätze, die
Verbesserung des Betreuungsschlüssels durch massive
Neueinstellungen, die Verbesserung der Qualität frühkindlicher Bildung sowie die Aus- und Weiterbildung
und die Abschaffung der Elternbeiträge, diese Prozesse
müssen parallel angegangen werden. Das alles kostet
Geld. Damit kommen wir zum Kern des Problems. Im
Jahre 2011 gab die gesamte öffentliche Hand 17,3 Milliarden Euro oder 0,6 Prozent des BIP für Kindertagesbetreuung aus. Selbst die OECD geht davon aus, dass
der Gesamtbedarf bei etwa 26 Milliarden Euro liegen
würde - die OECD erhebt ähnliche Forderungen wie wir -,
um wenigstens das Versorgungsniveau Frankreichs oder
der skandinavischen Länder zu erreichen. Das Deutsche
Kinderhilfswerk hat heute 5 Milliarden Euro mehr pro
Jahr gefordert, die allein der Bund in die Hand nehmen
soll, um diese Ziele zu erreichen.
Wir brauchen hier den Einstieg des Bundes in die Personalkostenfinanzierung. Wir brauchen eine viel breitere
Beteiligung. Das muss mehr sein als im Wesentlichen
nur die Übernahme der Investitionskosten - das haben
wir jetzt -, damit der Kitaausbau und die Qualitätsverbesserung eben nicht mehr auf dem Rücken der Länder
und Kommunen und am Ende auf dem Rücken der
schlecht entlohnten Beschäftigten ausgetragen wird.
Vielmehr ist hier der Bund in der Pflicht. Er hat den
Rechtsanspruch erlassen; das war gut und richtig.
({7})
Kollege Müller, bitte achten Sie auf Ihre Redezeit.
Aber die Konsequenzen dürfen dann nicht nur halbherzig gezogen werden, sondern man muss da ein bisschen mehr Butter bei die Fische geben.
In diesem Sinne: Vielen Dank.
({0})
Für die CDU/CSU-Fraktion hat der Kollege Marcus
Weinberg das Wort.
({0})
Vielen Dank. - Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Herr Müller, ich muss Ihnen widersprechen: Frau Marks hat völlig recht. Die Kindertagesbetreuung der letzten Jahre ist eine Erfolgsgeschichte, angefangen bei Frau von der Leyen, die diese Entwicklung
in Gang gesetzt hat, über Ministerin Schröder bis hin zur
heutigen Ministerin, Frau Schwesig. Diese Erfolgsgeschichte wird übrigens auch in dem Bericht dokumentiert. Darauf möchte ich gerne in zwei oder drei Punkten
eingehen.
Es ist das Ansinnen der Großen Koalition, diese drei
Säulen der Familienpolitik - Geld, Zeit und Infrastruktur weiter auszubauen. Das Thema Infrastruktur ist in erster
Linie mit dem Ausbau der Kindertagesbetreuung verbunden.
({0})
Mit Blick auf den aktuellen Bericht sind für uns zwei
Dinge wichtig. Das Erste ist die Frage der Quantität. Das
Zweite ist die Frage der Qualität; zum Thema Kostenfreiheit und zu Ihren Ideen komme ich gleich noch. Da
haben wir - das hat Frau Marks schon dargestellt - in der
Anzahl der betreuten Kinder mit einem Anstieg von
17,6 Prozent auf 32,3 Prozent deutliche Fortschritte zu
verzeichnen. Damit geht natürlich immer eine stärkere
Nachfrage einher; denn ein Angebot schafft eine Nachfrage. Der Betreuungsbedarf liegt bei über 41 Prozent.
Es ist zu vermuten, dass diese Zahl noch weiter steigen
wird. Wir als Bund werden unseren Teil dazu beitragen,
die Kommunen und Länder dabei zu unterstützen, diesen
Ausbau voranzutreiben; schließlich ist dies primär deren
Aufgabe.
Ich komme auf den zweiten Punkt zu sprechen, nämlich auf die Qualität. Da stimmt Ihre Aussage nicht ganz.
Wenn so viele Kitas mit Milliarden von Euro gebaut
oder ausgebaut werden, ist immer die Gefahr gegeben,
dass das zulasten der Qualität geht. Keiner von uns will
nur eine Kindertagesbetreuung; wir alle wollen eine gute
Kindertagesbetreuung. Aber wir müssen und dürfen feststellen, dass dieser rasche Ausbau nicht zulasten der
Qualität gegangen ist.
Schauen wir uns den Betreuungsschlüssel an: Am
Stichtag 1. März 2014 betreute eine Vollzeitkraft durchschnittlich 4,1 Kinder; 2012 lag diese Zahl noch bei
4,5 Kinder. Aber die Aufgabe für die nächsten Jahre
wird es sein, die Zahl der betreuten Kinder zu senken.
Nun kann man über einen Betreuungsschlüssel von 1 : 3
oder 1 : 4 diskutieren; dies sind Zahlen, die in der Bertelsmann-Studie oder von der OECD genannt werden.
Ich wäre froh, wenn wir ein Verhältnis von 1 : 4 schaffen
würden. Ich sage aber auch ganz deutlich: Da muss man
sich anschauen, was die Länder machen.
Damit kommen wir zu Ihrem Punkt: Kostenfreiheit.
Man kann sagen: Das alles muss kostenfrei sein.
({1})
Aber Sie müssen dabei Abstufungen machen. Wenn die
Kostenfreiheit zulasten der Qualität umgesetzt wird,
dann habe ich damit meine Probleme.
({2})
Ich möchte, dass wir zunächst einmal Qualitätsstandards
festlegen.
Außerdem müssen wir Folgendes berücksichtigen,
Herr Bundestagsabgeordneter: Gutverdienende Bundestagsabgeordnete könnten möglicherweise einen höheren
Marcus Weinberg ({3})
Beitrag leisten, wenn damit sichergestellt ist, dass die
Qualität der Kinderbetreuung insgesamt hoch ist.
({4})
Ich glaube, man sollte hier ganz genau in Erwägung
ziehen - jetzt rede ich hier schon wie ein Linker -, dass
die Reichen und Wohlvermögenden eine gewisse Zeit
lang mehr schultern können als diejenigen, die ein geringes oder gar kein Einkommen haben. Hier muss man
sehr genau abwägen, was man eigentlich will.
Herr Weinberg, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung der Kollegin Hein?
Ein Frage von Frau Hein doch immer.
Vielen Dank, dass Sie die Frage zulassen. - Herr
Weinberg, ich habe in meiner Zeit als Landespolitikerin
viele Jahre den Bereich Kinderbetreuung in meinem
politischen Profil gehabt. Sie haben vorhin wiederholt
darauf hingewiesen - auch die Staatssekretärin hat es gesagt -: Die Qualität und die Personalstandards haben
sich nicht verschlechtert. - Sie sind nicht schlechter geworden, das stimmt. Sie sind aber auch nicht besser geworden. Aber wir haben ein Gefälle zwischen Ost und
West. Ich muss sagen: Im Osten haben wir heute einen
Personalschlüssel, der im Durchschnitt bei 1 : 12 liegt.
Er war einmal deutlich besser, nämlich Anfang der
1990er-Jahre. Damals gab es Vorwürfe aus den alten
Bundesländern, dass wir uns den Luxus der flächendeckenden Kinderbetreuung leisten. Im Zuge dieser Vorwürfe sind die Betreuungsschlüssel schlechter geworden. Nun kann ich auch für den Osten sagen, dass die
Qualität der Kinderbetreuung unter dem schlechteren
Betreuungsschlüssel nicht gelitten hat, dass das Aufrechterhalten dieser Qualität aber auf dem Rücken der
Erzieherinnen und Erzieher ausgetragen wird.
Ich möchte Sie fragen, ob Sie angesichts dessen nicht
finden - es sind ja neue Aufgaben hinzugekommen -,
dass die Arbeit der Erzieherinnen und Erzieher und aller
in diesem Bereich Tätigen deutlich aufgewertet werden
muss. Unterstützen Sie aus diesem Grunde auch die Aufwertungskampagne, die derzeit läuft?
Vielen Dank für die Frage. Damit geben Sie mir zusätzliche Redezeit; denn zur Beantwortung kann ich das
sagen, was ich eh noch formulieren wollte.
Zur Frage nach dem Betreuungsschlüssel: Das ist natürlich eine abstrakte Größe. Was sich hinter einem Betreuungsschlüssel von 1 : 4,1 verbirgt, kann in Hamburg
anders sein als in einer ländlichen Region mit einer anderen Bevölkerungsstruktur. Ich finde nur eines wichtig
- das hat auch Frau Marks gesagt -: dass wir hinsichtlich
Standards Einvernehmen erzielen. Dass die Minister zusammenkommen, um Standards zu definieren, ist der
richtige Weg.
Ich sage Ihnen zur Verantwortung der Länder - Sie
hatten ja in einem Bundesland politische Verantwortung -:
In Hamburg haben wir im Krippenbereich einen Schlüssel von 1 : 5,6, in Bremen von 1 : 3,1. Ich erwarte von
den Verantwortlichen in den Ländern, dass sie dafür sorgen, dass die Qualitätsstandards deutlich verbessert werden.
Jetzt komme ich zur Aufgabengestaltung der Erzieherinnen. Die Aufgabenstruktur der Erzieherinnen ist mit
der vor 30 Jahren nicht mehr vergleichbar: Zu ihren Aufgaben gehören Inklusion, Integration, Sprachförderung,
Betreuung heterogener Lerngruppen. Die Erzieherinnen
stehen gerade im urbanen Milieu vor neuen Herausforderungen. Deswegen ist es richtig, dass die Erzieherinnen dieses thematisieren und auch mit einem Streik für
die Berücksichtigung ihrer Interessen werben.
({0})
Trotzdem, wenn ich diese Einschränkung machen
darf, ist es so - das ist der Appell, den wir als Bundespolitiker heute äußern sollten -: Mit Blick auf die Folgewirkungen, insbesondere mit Blick auf das, was Familien momentan leisten, rate ich dringend, dass beide
Seiten - die Gewerkschaften wie die Arbeitgeber schnellstmöglich zusammenkommen und eine Lösung
finden. Der Erzieherberuf wurde vom Einkommen her
aufgewertet. Aber er hat noch nicht das Niveau erreicht,
das er erreichen sollte. Ich sage aber: Das Ganze liegt in
der Verantwortung der Kommunen. Es liegt nicht in unserer Verantwortung, weil die Kommunen entscheiden
müssen, wie sie ihre Mittel einsetzen.
({1})
Einen Appell möchte ich noch an Sie richten: Beide
Seiten sollten jetzt dringend aufeinander zugehen; denn
wir erleben momentan, dass viele Familien nicht mehr
wissen, wie sie ihre Kinder betreuen sollen. Alles andere
würde die Akzeptanz der Vorhaben der Erzieher schmälern. Wir haben alle befürwortet, dass sich die Erzieher
für ihre Interessen einsetzen. Das ist eine Initiative, bei der
alle Eltern, Väter und Mütter, sagen: Es ist richtig so. Man sollte aber auch sehen, dass die Folgewirkungen für
die Familien irgendwann dramatisch sind.
({2})
Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Bewertung der
Ergebnisse und das, was man damit erzielt hat. Ich will
einige Zahlen nennen, weil sie darstellen, wie sich das
Ganze auf die Erwerbstätigkeit ausgewirkt hat. Der Anteil erwerbstätiger Mütter mit minderjährigen Kindern
ist von 2006 bis 2011 von 60,6 Prozent auf über 65 Prozent gestiegen. Bemerkung: Wir reden zu Recht über die
Leistungsträger der Gesellschaft, also die Alleinerziehenden. Wir werden jetzt richtigerweise auch den Entlastungsbeitrag erhöhen. Aber zentral war für die Alleinerziehenden der Ausbau der Kindertagesbetreuung, weil
sie nur so Beruf und Familie kombinieren können. Auch
hier gilt unser Leitprinzip: Wir wollen den Familien
Marcus Weinberg ({3})
mehr Wahlfreiheit ermöglichen. Die ist in den letzten
Jahren deutlich besser geworden.
Über 100 000 Mütter mit Kindern zwischen einem
und drei Jahren wären ohne die Betreuungsmöglichkeiten nicht erwerbstätig. Die Kinderbetreuung verringert
das Armutsrisiko aller Familien mit Kindern bis zwölf
Jahren deutlich, und zwar um über 7 Prozentpunkte. Die
Kindertagesbetreuung wirkt in Bezug auf die finanzielle
Stabilität, auf die ökonomische Sicherheit der Familien.
Einige Punkte, die Sie angesprochen haben, müssen
immer wieder richtiggestellt werden; das ist zwar anstrengend, aber man macht es ja gerne. Noch einmal:
Der Bund beteiligt sich demnächst mit 945 Millionen
Euro an den Betriebskosten der Kindertagesstätten; das
ist fast 1 Milliarde Euro. Ich als Familienpolitiker bin
überzeugt, dass das richtig ist. In ordnungspolitischer
Hinsicht sind wir nach langer Überlegung diesen Schritt
gegangen, weil Kinderbetreuung eine wichtige nationale
Aufgabe ist. Aber es kann nicht sein, dass wir demnächst, so wie Sie das jetzt fordern, auch die Gehälter
der Erzieherinnen und Ähnliches übernehmen. Dies ist
originäre Aufgabe der Länder, und dabei sollte es auch
bleiben.
({4})
Weil uns das Thema Kinderbetreuung so wichtig ist,
haben wir mit dem dritten Investitionsprogramm „Kinderbetreuungsfinanzierung“ deutlich nachgesteuert. Auch
aus den Mitteln für Zukunftsinvestitionen in Höhe von
7 Milliarden Euro enthält das zuständige Ministerium
zusätzlich 100 Millionen Euro, um spezielle Forderungen abzudecken, Stichwort „Randzeiten“, Stichwort
„Schichtarbeiten“ und Ähnliches. Wir werden in der
Großen Koalition gemeinsam genau überlegen, wie wir
diese Mittel gut und richtig einsetzen.
Unterm Strich kann man sagen: Der Ausbau der Kinderbetreuung ist eine Erfolgsgeschichte. In Bezug auf
die Quantität werden wir den Prozess begleiten. In Bezug auf die Qualität - das wird die Aufgabe der nächsten
Epoche sein - werden wir die Qualitätsstandards verbessern. Es muss klar sein: Die wichtige Aufgabe von Erzieherinnen und Erziehern muss anerkannt werden, nicht
nur finanziell, sondern auch gesellschaftlich. Das haben
wir immer wieder angemahnt und formuliert. In den
letzten Monaten gab es in diesem Bereich deutliche Fortschritte.
Die Länder müssen ihre Verantwortung übernehmen;
aber in Ihren Anträgen bleibt die Verantwortung der
Länder unberührt. Die Bedarfssteuerung muss sich sinnvollerweise an den Gegebenheiten vor Ort orientieren;
denn eine Kita im urbanen Milieu, etwa in Hamburg, hat
andere Vorgaben oder Probleme als eine Kita in einer
ländlichen Region, zum Beispiel in Bayern, wo sowieso
alles gut ist.
({5})
Der Bund wird die Länder beim Ausbau der Kinderbetreuung weiterhin unterstützen, weil wir dies als einen
Kern des Ausbaus der Infrastruktur sehen.
Ich hoffe, dass alle Kinder gemeinsam mit ihren Familien schöne Pfingsten feiern können. Denjenigen, die
am Wochenende noch in Abstiegsnöten sind, wünsche
ich guten Erfolg.
Danke.
({6})
Das Wort hat die Kollegin Dr. Franziska Brantner für
die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Der Streik der Erzieherinnen und Erzieher
spiegelt das wider, was im vorliegenden Bericht beschrieben wird. Die Zahlen wurden heute noch nicht genannt - ich finde sie sehr beeindruckend -: 70 Prozent
aller befragten Erzieherinnen und Erzieher sagen, dass
die gesellschaftliche Anerkennung für ihren Beruf zu gering ist. 70 Prozent! 60 Prozent von ihnen sagen, dass sie
mit der Bezahlung unzufrieden sind. Ich finde, diese
Zahlen sollten einem wirklich zu denken geben. So überrascht es nicht, dass die Erzieherinnen und Erzieher
streiken - berechtigterweise.
({0})
Bei einem Bahnstreik wechseln wir auf andere Verkehrsmittel; bei der Kita ist das schwierig. Man kann die
Person, der wir täglich unsere Kinder anvertrauen, nicht
so leicht auswechseln. Daran wird auch deutlich, dass es
sich um besondere Menschen handelt. Wir vertrauen ihnen unsere Kinder an, denen wir unglaublich viel Bedeutung beimessen, weil sie das Liebste sind, was wir haben.
Die Anforderungen an die Erzieherinnen und Erzieher sind in den letzten Jahren gestiegen. In diesem Zusammenhang sind Inklusion, Sprachförderung, aber auch
digitale Bildung zu nennen. Wir haben zu Recht sehr
hohe Ansprüche, eben weil es um unsere Kinder geht.
({1})
Aber das spiegelt sich nicht auf dem Gehaltsscheck der
Erzieherinnen und Erzieher wider. Das ist der erste
Punkt: Die Frage nach dem guten Arbeitgeber Kita.
Der zweite Punkt ist die Anzahl der Betreuungsplätze.
Es fehlen immer noch 184 000 Plätze, vor allen Dingen
in Westdeutschland. Diese Zahl wird noch steigen; denn
mit dem Angebot steigt die Nachfrage. Wir brauchen
aber auch flexiblere Öffnungszeiten; denn es gibt viele
Eltern, die keinen Nine-to-five-Job haben, die keine
klassischen Arbeitszeiten haben. Vor allen Dingen Alleinerziehende brauchen hier Unterstützung. Aber keine
Angst: Wir wollen keine 24-Stunden-Kita, sondern eine
Kita, in die die Kinder früher gebracht werden und dafür
auch früher abgeholt werden können.
({2})
Wir brauchen außerdem eine Verbesserung der Betreuungsqualität. Ich bin Herrn Weinberg übrigens dankbar, dass er gerade Bremen mit seinem Betreuungsschlüssel von 1: 1,3 erwähnt hat. Nach acht Jahren in
grüner Verantwortung steht damit dieses Bundesland
- nicht Bayern, das gerade so beklatscht wurde - am
besten da. Unter extrem schwierigen Haushaltsbedingungen hatte dort die frühkindliche Bildung Priorität.
Das ist grüne Politik in Ländern, wo Grüne regieren; das
möchte ich hier noch einmal unterstreichen.
({3})
Im Bericht steht, dass sich die Situation nicht verschlechtert hat. Aber sie ist eben noch weit entfernt von
dem, was uns die Experten empfehlen. Dort haben wir
noch sehr viel Luft nach oben. Es ist bundesweit unterschiedlich. Ich möchte noch einmal appellieren, sich zu
vergegenwärtigen, dass es doch nicht sein kann, dass in
Deutschland die Chancen von Kleinkindern davon abhängen, in welchem Bundesland, in welcher Stadt sie
aufwachsen, sondern dass wir einen bundesweit einheitlichen Qualitätsanspruch brauchen, der garantiert, dass
jedes Kind nicht nur das Recht auf einen Betreuungsplatz, sondern auch das Recht auf einen guten Betreuungsplatz hat. Das muss der Anspruch sein.
({4})
Es gibt dazu eine Arbeitsgruppe der Länder. Mich würde
interessieren, wann wir darüber einmal einen Bericht bekommen und erfahren, wie es dort weitergeht.
({5})
- Wir fragen auch gerne unsere Senatorinnen; mit denen
sind wir im Austausch.
Aber es ist klar, dass es bei den Verhandlungen um
Geld geht. Ich glaube, darum braucht man gar nicht
lange herumzureden. Ich möchte noch einmal erwähnen,
dass übrigens der Hauptbatzen an Geld unter SchwarzGelb geflossen ist - das waren 5,4 Milliarden Euro - und
dass die Gelder im Vergleich dazu jetzt ziemlich gering
sind. Wir haben schon häufig darüber gestritten, ob es
fast 1 Milliarde Euro ist oder ob es 550 Millionen Euro
sind. Es ist aber auf jeden Fall nicht adäquat und reicht
nicht aus.
({6})
Eigentlich ist es wirklich traurig, dass unter einer
schwarz-roten Koalition weniger Geld für diesen Bereich zur Verfügung steht als unter einer schwarz-gelben.
Die zusätzlichen 100 Millionen Euro von den 10 Milliarden Euro sind ein Tropfen auf den heißen Stein. Wir
brauchen wesentlich mehr. Herr Weinberg, wenn ich Sie
richtig verstanden habe, war das gerade eine Absage an
den Vorschlag von Herrn Gabriel, neu zu strukturieren,
wie die Gelder verteilt werden. Wir fanden den Vorschlag durchaus interessant, zu schauen, wie man langfristig sicherstellen kann, dass Gelder vom Bund in die
Kitas fließen; das wird wahrscheinlich geschehen müssen. Darüber sollte nachgedacht werden. Schade, dass
bisher vieles dazu sofort abgesagt wurde.
Zuletzt möchte ich kurz auf die Bertelsmann-Studie
hinweisen, die uns deutlich gemacht hat, dass sich Investitionen in die frühkindliche Bildung besonders lohnen.
Diese Studie hatte eine schlechte Nachricht: Der Bildungserfolg in Deutschland hängt vom sozialen Status
des Elternhauses ab. Das war zwar keine neue, aber weiterhin eine schlechte Nachricht. Die Studie hatte aber
auch eine gute Nachricht. Sie besagt, dass diese Ungerechtigkeit durch eine gute Frühförderung, etwa in einer
hochwertigen Kita, ausgeglichen werden kann. Die Kita
ist sozusagen ein Aufzug nach oben, der vielen Kindern
einen ganz anderen Zugang zu unserer Gesellschaft ermöglicht.
({7})
Wir brauchen also mehr und flexible Betreuungsplätze,
eine gute Qualität dieser Plätze sowie eine gute und gerechte Bezahlung der Erzieherinnen und Erzieher; das
sollte uns das Ganze wert sein.
An Sie gerichtet, liebe CDU/CSU: Es gab vor zehn
Tagen eine Umfrage in der Welt, bei der die Mehrheit Ihrer Wählerinnen und Wähler, 54 Prozent, gesagt hat, sie
sähe die Mittel für das Betreuungsgeld lieber in die Qualität der Kitas investiert. Unter den Unionswählern, die
Eltern sind, liegt dieser Anteil sogar noch höher: bei
60 Prozent. Bei allen anderen Parteien war dieser Anteil
natürlich wesentlich höher. Ich finde, dieser Wunsch der
Eltern ist absolut zu berücksichtigen. Sie wünschen sich
eine gute Qualität der Betreuung. Daran sollten wir uns
orientieren.
Ich danke Ihnen.
({8})
Das Wort hat der Kollege Sönke Rix für die SPDFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Es ist ja immer schön, wenn wir über Dinge sprechen,
bei denen wir eine Erfolgsgeschichte zu verzeichnen haben. Wir alle - egal welcher Fraktion wir angehören; alle
hier vertretenen Parteien tragen in den Ländern Verantwortung; das Ganze ist ja ein gemeinsames Projekt von
Bund und Ländern - können stolz darauf sein, dass wir
solch immense Steigerungen im Bereich der Betreuungsplätze haben. Das kann man an dieser Stelle einmal sagen.
Das ist auch kein, sage ich mal, Dollpunkt in der
Form, dass man jetzt sagt: Aber jetzt, wegen der Regierung, ist es eigentlich gar nicht gut. - Ich finde, das ist
auch einen Dank wert, vor allen Dingen an die Kommunen vor Ort, die mit unseren Gesetzen umgehen müssen,
einen Dank wert an diejenigen, die in den Kindertagesstätten arbeiten, und an die gesamten Träger, die in dem
Bereich unterwegs sind, weil sie auf unsere Anforderungen eingehen und die Angebote machen, die wir politisch wollen. Diesen herzlichen Dank sollte, glaube ich,
das ganze Haus hier aussprechen.
({0})
9,4 Milliarden Euro, 87 Prozent Zuwachs in diesen
Bereichen, bei U 3 liegt die Quote bei 32,3 Prozent, wir
haben über 74 Prozent mehr pädagogisches Personal:
Das alles ist geschehen, seitdem die letzte Große Koalition diese Maßnahmen auf den Weg gebracht hat. Ich
glaube, das sind Zahlen, die sich ganz eindeutig sehen
lassen können.
Natürlich besagt der Bericht auch, dass wir noch Defizite haben, dass noch nicht alles erfüllt ist. Deshalb
sind wir dabei, mit den doch manchmal bescheidenen
Mitteln - wir als Fachpolitiker wünschen uns doch alle
mehr Mittel für unsere Bereiche; aber wir haben als
Große Koalition wieder zusätzliches Geld in die Hand
nehmen können -, auf die Defizite, auf die der Bericht
aufmerksam macht, einzugehen. Fast 1 Milliarde Euro
mehr im System, ich glaube, auch das ist etwas, worauf
wir stolz sein können.
({1})
Jetzt zu den Punkten, die wir hier gerade diskutiert
haben. Ein Punkt ist die Forderung nach einem Qualitätsgesetz des Bundes. Das hört sich zunächst einmal gut
an, weil „Qualität“ ein positiv behafteter Begriff ist. Wer
will nicht mehr Qualität in Kindertagesstätten? Das ist ja
keine Frage. Die Frage ist allerdings, ob es immer automatisch besser ist, wenn der Bund etwas allein macht.
Eine Aufgabe wird nicht immer dann am besten wahrgenommen, wenn der Bund allein zuständig ist und die
Werte und Normen festlegt; vielmehr birgt das auch eine
Gefahr.
Insofern ist dieses Qualitätsgesetz umstritten, auch innerhalb der einzelnen Parteien und Fraktionen, ich
glaube, auch zwischen Bund und Ländern - zu Recht und auch in den Fachverbänden. Die Diakonie beispielsweise sieht so etwas sehr kritisch, während die AWO es
begrüßt. Wir dürfen also nicht so tun, als ob dieses Gesetz jetzt etwas ist, was aus der Szene heraus ganz besonders gefordert wird und womit wir, nur weil wir auf
der Bundesebene die Standards festlegen, automatisch
bessere Standards haben.
Es gibt dabei nämlich eine Gefahr: Wir haben in Teilen - wir haben es gerade gehört: in Bremen - einen hohen Personalstandard, in anderen Bundesländern aber einen niedrigeren Personalstandard. Nun glauben wir doch
nicht, dass, wenn wir uns mit den Ländern zusammensetzen, alle automatisch den Standard nach oben angleichen wollen. Die Linken und die Grünen sind doch mit
verantwortlich in den Ländern. Es ist ja nicht so, dass
dieses Gesetz automatisch nur am Bund scheitert, sondern es scheitert auch an der erforderlichen Zustimmung
der Länder.
({2})
Wir sollten die Länder nicht aus der Verantwortung entlassen; denn hier liegt eine Aufgabe der Länder.
Umso richtiger - auch weil wir wissen, dass wir als
Bund die Länder ruhig ab und zu das ein oder andere
Mal schütteln sollten - ist die Initiative der Familienministerin, die gesagt hat: Setzen wir uns zusammen, und
entwickeln wir gemeinsame Standards. - Das ist genau
der richtige Weg: Bund und Länder gemeinsam und
nicht einfach der Bund von oben verordnend.
({3})
Zweiter Bereich: Beitragsfreiheit. Ich möchte vor einer Sache warnen: davor, Beitragsfreiheit gegen Qualität
zu stellen. Ich glaube, das sollten wir nicht tun. Nicht automatisch ist in den Bereichen, wo das richtige Ziel - die
Beitragsfreiheit - verfolgt wird, die Qualität schlechter.
({4})
- Ich habe gar nicht gesagt, dass Sie das gesagt haben,
Herr Kollege. Ich sage es nur allgemein. Ich glaube, dass
wir nicht der Versuchung nachgeben sollten, zu sagen,
dass all diejenigen, die Beitragsfreiheit als Ziel formulieren, deshalb für eine schlechtere Qualität wären und umgekehrt. Beides muss möglich sein.
Aber wir müssen uns ehrlich machen: Jeder Euro
kann nur einmal ausgegeben werden. Deshalb ist es richtig, dass wir Dinge auch schrittweise angehen und nicht
alles auf einmal fordern. Aber das ist vielleicht manchmal die Aufgabe der Opposition: alles auf einmal zu fordern.
Der dritte Bereich, der uns im Moment sehr stark beschäftigt, ist die Aufwertung von Erziehungs- und Sozialberufen. Wir erleben aktuell einen Tarifkonflikt. Da
macht es sich nicht besonders gut, wenn Bundestagsabgeordnete, Bundesminister oder Bundespolitiker sich
ganz konkret in diese Auseinandersetzung einmischen.
Aber wir können auch nicht so tun, als ob der Streik,
der da gerade stattfindet, die Tarifauseinandersetzung,
die da gerade stattfindet, nicht auch etwas mit dem zu
tun hat, was wir sonst in anderen Reden alle gemeinsam
immer fordern: Wir fordern doch immer die Aufwertung
von Erziehungs- und Sozialberufen, wir fordern höhere
Löhne in Sozial- und Erziehungsberufen. Von daher
kann der Streik, kann diese Auseinandersetzung auch
nicht vollkommen an uns vorbeigehen. Deshalb finde
ich es nur richtig, wenn man an der ein oder anderen
Stelle auch Solidarität, wenn auch nicht unbedingt mit
den konkreten Forderungen, und auch Gesprächsbereitschaft zeigt und sagt: Ja, eure Ziele sind auch unsere
Ziele. - Der Erziehungs- und Sozialdienst muss aufgewertet werden.
({5})
Bei dem Streik geht es ja nicht nur um eine höhere
Eingruppierung - darüber wird in den Tarifverhandlungen konkret gesprochen -; vielmehr zeigt die Debatte
auch, dass andere Themen besprochen werden, um die es
bei uns in Zukunft gehen wird.
Ich denke zum Beispiel an die Frage, warum Frauen
immer noch über 20 Prozent weniger verdienen als Männer. Wir alle wissen, welche Gründe das hat. Ein konkreter Grund ist die Lohndiskriminierung. Ein anderer
Grund ist, dass viele Frauen in Teilzeit arbeiten. Sie wollen zwar lieber in Vollzeit arbeiten, haben aber noch kein
Rückkehrrecht. Deshalb werden wir in Angriff nehmen,
dass es ein Recht zur Rückkehr von Teilzeit in Vollzeit
gibt. Das wird übrigens ganz besonders auch den Erzieherinnen und Erziehern helfen, weil bei ihnen Teilzeitarbeit sehr ausgeprägt ist. Eine weitere Begründung für
den Lohnunterschied ist, dass viele Frauen eher im Bereich der Sozial-, Gesundheits- und Erziehungsdienste
tätig sind. Deshalb gehört den Erzieherinnern und Erziehern unsere Solidarität für die grundsätzlichen Forderungen, die sie aufstellen.
Wir hoffen, dass sich die Arbeitgeber und die Arbeitnehmer gemeinsam an einen Tisch setzen und zu einer
vernünftigen Lösung kommen.
Herzlichen Dank.
({6})
Das Wort hat die Kollegin Bettina Hornhues für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr geehrte Damen und Herren! Der 1. August 2013 ist
ein Meilenstein in der Familienpolitik und der Startschuss für einen massiven Ausbau des Kinderbetreuungsangebots in Deutschland. Mit dem von da an geltenden Rechtsanspruch hat jedes Kind ab dem vollendeten
ersten Lebensjahr fortan Anspruch auf Förderung in
Kindertageseinrichtungen und in der Kindertagespflege.
Knapp zwei Jahre nach der Novellierung des Kinderförderungsgesetzes hat sich bereits vieles positiv entwickelt. Dies kann ich nicht nur als Politikerin, sondern
auch als Mutter von drei Kindern bewerten. Ich erinnere
mich nur zu gut an die Schwierigkeiten, die es noch einige Jahre vor dem Rechtsanspruch bei der Suche nach
einem passenden Betreuungsangebot für die unter dreijährigen Kinder gab.
({0})
Als meine Kinder in diesem Alter waren, gab es meistens lediglich Spielkreise an zweieinhalb Vormittagen.
Seit 2013 hat sich die Lage deutlich verbessert - der
CDU sei Dank.
Seit März 2014 wurde fast ein Drittel der Kinder unter drei Jahren in einer Kindertageseinrichtung oder in
der öffentlich geförderten Kindertagespflege betreut. In
den letzten Jahren ist die Betreuungsquote bei den unter
Dreijährigen bereits immens gestiegen, und mit dem
fortlaufenden Ausbau des Betreuungsangebotes werden
bald noch weitere Plätze zur Verfügung stehen.
Ferner zeigen uns die Zahlen schon heute, dass die Eltern mit der Betreuungssituation vor Ort in der Regel zufrieden sind. Die meisten hatten keine Schwierigkeiten
bei der Platzsuche. Bereits 58 Prozent der Eltern, also
mehr als die Hälfte, hatten bereits sechs Monate nach der
Geburt ihres Kindes eine Platzzusage. Somit konnten sie
ihrem Wiedereinstieg ins Erwerbsleben in Ruhe entgegensehen.
Ich weiß natürlich auch, dass dies von Kommune zu
Kommune stark variieren kann und dass die Bundesländer unterschiedliche Ausgangssituationen bei der Einführung des Rechtsanspruchs hatten. Auch heute noch
sind zwischen den Regionen innerhalb der Länder - sei
es in der Stadt oder im ländlichen Raum - große Unterschiede in der Betreuungssituation auszumachen. Das
wird eine Aufgabe sein, der wir uns als Nächstes stellen
müssen.
Wir dürfen aber nicht nur die Bundesländer vergleichen, sondern müssen auch das Betreuungsangebot in
den Kommunen bedarfsgerecht fördern und weiter ausbauen und dabei den spezifischen Bedarf der vor Ort lebenden Familien berücksichtigen. Dabei wird der Bund
die Länder und die Kommunen auch weiterhin tatkräftig
unterstützen.
In vielen Bundesländern ist der Betreuungsbedarf
aber noch nicht erfüllt, obwohl die Betreuungsmittel bereitstehen. So zeigt eine Übersicht über den Abruf der
Mittel aus dem Bundesinvestitionsprogramm, dass von
insgesamt 580 Millionen Euro ganze 120 Millionen
Euro noch nicht abgerufen worden sind. Hier haben einige Länder also noch ihre Hausaufgaben zu machen.
Da wir gerade bei Hausaufgaben sind: Frau Brantner,
Sie sprachen gerade meinen Wahlkreis Bremen an und
stellten fest, dass der Betreuungsschlüssel dort toll sei.
Die Betreuungsquote, für die in Bremen eine Sozialsenatorin, die Ihrer Partei angehört, Verantwortung trägt,
liegt aber lediglich bei 26,9 Prozent. Hier müssen noch
Hausaufgaben gemacht werden.
({1})
Nach dem Grundgesetz haben die Länder die Pflicht und
die Verantwortung, den U-3-Ausbau und ein bedarfsgerechtes Angebot zur Erfüllung des Rechtsanspruches zu
gewährleisten und zu finanzieren. Klar ist auch: Jede
Stadt und jede Gemeinde muss ihren Bedarf an Betreuungsplätzen selbst ermitteln.
Mir liegt bei dieser Debatte noch ein anderer Aspekt
am Herzen; denn der Erfolg beim Ausbau der Kinderbetreuung ist für mich vor allem auch ein Fortschritt im
Hinblick auf die bessere Vereinbarkeit von Familie und
Beruf. Wenn wir jetzt nicht nur über den Ausbau der
Kinderbetreuung, sondern auch über die Qualität sprechen, sind wir schnell bei den Rahmenbedingungen in
den Kindertageseinrichtungen. Ein entscheidendes Kriterium für eine bessere Vereinbarkeit von Familie und
Beruf sind für mich dabei die Öffnungszeiten der Kitas.
In einer Arbeitswelt, in der Arbeitnehmer erhöhten Anforderungen ausgesetzt sind, immer mobiler und flexibler zu werden, müssen auch passende, flexible Betreuungsangebote für die Kinder zur Verfügung stehen.
Natürlich muss trotz alledem das Wohl des Kindes im
Vordergrund stehen, aber wir müssen eben auch dafür
Sorge tragen, dass erwerbstätige Mütter - dabei denke
ich gerade an Alleinerziehende und an Frauen, die im
Schichtdienst arbeiten - Beruf und Familie miteinander
vereinbaren können. Diesen Frauen müssen wir es durch
gute Rahmenbedingungen ermöglichen, am Erwerbsleben teilzunehmen und während dieser Zeit ihre Kinder
flexibel und gut betreut zu wissen.
({2})
Wenn wir über Betreuungszeiten und Öffnungszeiten
von Kindertageseinrichtungen sprechen, müssen wir die
Sache noch weiter denken. Ich würde mir wünschen,
dass wir in diesem Zusammenhang auch über den Übergang von der Betreuung der ganz Kleinen hin zur Betreuung der Grundschulkinder sprechen. Denn für viele
Eltern tauchen mit der Einschulung der Kinder leider
wieder neue Betreuungshürden auf.
({3})
Damit Familien beim Übergang der Kinder in die
Grundschule nicht wieder vor den gleichen Problemen
stehen, sollten wir zukünftig nach einer ganzheitlichen
Lösung suchen.
({4})
Denn das heißt für mich fortschrittliche und zukunftszugewandte Familienpolitik.
Ich wünsche Ihnen sonnige Pfingsttage.
Herzlichen Dank.
({5})
Der Kollege Paul Lehrieder hat zum Abschluss dieser
Debatte für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Danke, Frau Präsidentin, dass Sie den krönenden Abschluss dieser Debatte angekündigt haben. - Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen! Liebe
Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren auf den Besuchertribünen! Es wurde von den Vorrednern bereits
mehrfach ausgeführt: Eine gute Kinderbetreuung - ich
denke, da sind wir uns alle einig - ist die beste Investition in die Zukunft eines Landes, einer Gesellschaft.
({0})
Bildung beginnt bereits in der Kita und schafft nicht nur
Chancengleichheit für unsere Kinder, sondern stellt bereits zu diesem frühen Zeitpunkt die Weichen für die
weitere Entwicklung der Kinder. Daher bin ich Ihnen,
liebe Kolleginnen und Kollegen von den Linken und den
Grünen, Herr Müller und Frau Brantner, sehr dankbar,
dass Sie mit Ihren beiden diesbezüglichen Anträgen
- Frau Brantner, Sie müssen aufpassen; Sie dürfen nicht
so viel schwätzen ({1})
einen Beitrag dazu leisten, dass das Thema der frühkindlichen Betreuung und Bildung in dem Maße in der öffentlichen Diskussion wiederzufinden ist, wie es ihm gebührt.
Die Thematik des quantitativen, aber auch qualitativen Ausbaus der Kindertagesstätten wird uns in den
kommenden Jahren intensiv beschäftigen und eine zentrale Rolle in der Familienpolitik in unserem Lande spielen - so wie sie in den letzten Jahren schon eine zentrale
Rolle gespielt hat. Kollege Weinberg hat bereits völlig
zu Recht auch auf die Vorgängerinnen der jetzigen Familienministerin, Frau Schwesig, hingewiesen: Ursula von
der Leyen und Kristina Schröder. Frau Staatssekretärin,
ich bitte Sie, unser Lob an die Ministerin auszurichten.
Wir stehen hier in einer guten Tradition und haben den
beschrittenen Weg jetzt auch in der Großen Koalition
konsequent fortgesetzt. Herzlichen Dank an unseren
Koalitionspartner, die SPD, dass wir das so harmonisch
gemeinsam auf den Weg bringen konnten!
({2})
Ich danke aber auch unserem Haushälter Alois
Rainer, den ich in unseren Reihen sehe. Du hast immer
ein offenes Ohr für unsere Anliegen und sorgst gemeinsam mit der Kollegin von der SPD dafür, dass wir genügend Reibung zwischen Daumen und Zeigefinger haben,
wenn es um kindliche und familiäre Belange geht. Dafür
herzlichen Dank! Wie gesagt: Mach weiter so! Wir brauchen dich auch in den nächsten Monaten, bei den Beratungen des Haushalts 2016, wieder ganz heftig.
({3})
- So viel Zeit muss sein.
Allerdings - das wird Sie wundern - bin ich teilweise
anderer Ansicht als Sie, die Kollegen von der Opposition.
({4})
- Ich komme schon noch zu Ihnen, Herr Müller. Warten
Sie nur ab!
({5})
Ihr Vorwurf, der Bund habe sich nur geringfügig an
der Finanzierung des Ausbaus der Kinderbetreuung beteiligt, geht fehl. Neben der größten kommunalen EntlasPaul Lehrieder
tung durch die Übernahme der Kosten der Grundsicherung im Alter - das haben manche schon vergessen, aber
es ist tatsächlich so - und bei Erwerbsminderung sowie
der Entlastung bei der Eingliederungshilfe im Rahmen
des Bundesteilhabegesetzes sorgt der Bund weiter für
leistungsfähige Kommunen: Mit dem Gesetz zur weiteren Entlastung von Ländern und Kommunen ab 2015
und zum quantitativen und qualitativen Ausbau der Kindertagesbetreuung stockt der Bund das Sondervermögen
„Kinderbetreuungsausbau“ um 550 Millionen Euro auf
rund 1 Milliarde Euro auf. Zudem erhalten die Länder in
den Jahren 2017 und 2018 weitere 100 Millionen Euro
zur Finanzierung der Betriebskosten für den Ausbau
weiterer Betreuungsplätze.
Mit dieser Entlastung, liebe Kolleginnen und Kollegen, leistet der Bund also sehr wohl seinen Beitrag zu einem gesicherten finanziellen Fundament
({6})
- Sie müssen eine Frage stellen, Frau Brantner; sonst
geht es zulasten meiner Zeit -,
({7})
um den wachsenden Bedarf an qualitativ guter Kindertagesbetreuung zu decken, und das obwohl - das sage ich
ganz deutlich - der Betreuungsausbau hin zu einem bedarfsgerechten Angebot originäre Aufgabe der Länder
ist. Herr Müller, nach Ihren Ausführungen werden wir
als Bayern sehr wohl auf unsere Thüringer Nachbarn
schauen und beobachten, was in Thüringen unter einem
Ministerpräsidenten Bodo Ramelow in den nächsten
Jahren an Verbesserungen im Kitabereich durchgeführt
werden wird. Wir werden in wenigen Jahren, Herr
Müller, sicherlich eine Bestandsaufnahme machen und
schauen, was in Thüringen gut gelaufen ist.
({8})
- Ja, das hat historische Gründe; Sie wissen, warum das
so ist; mit Verlaub. - Wir werden schauen, wie die qualitative und quantitative Betreuung in Thüringen weiter
verbessert wird. Ich bin gespannt; wir werden sicher
noch darüber debattieren.
Herr Müller, vielleicht eins noch, weil ich gerade so
schön bei Ihnen bin:
({9})
Sie haben vorhin ausgeführt, Sie wünschten, dass die Erzieherinnen nach Pfingsten noch möglichst lange streiken.
({10})
Das wünsche ich nicht. Ich wünsche, dass die Betreuerinnen und die Kinderpflegerinnen möglichst bald wieder arbeiten können; denn ich kenne sehr viele engagierte Erzieherinnen, die sich darauf freuen, mit ihren
Kindern zu arbeiten.
({11})
Wir möchten ein vernünftiges Ergebnis. Wir möchten
zufriedene Erzieherinnen, zufriedene Eltern und zufriedene Kinder. Per se sagen, Arbeit sei Teufelswerk, kann
nur jemand, der als Student vielleicht noch nicht im Berufsleben gestanden hat.
({12})
Es gibt viele erfüllte Erzieherinnen. Ich wünsche,
dass für die Erzieherinnen ein gutes Ergebnis erzielt
wird, dass nicht nur die ideelle, sondern auch die materielle Wertschätzung dieses wichtigen Berufes der
Frauen und Männer, denen wir das Wichtigste unserer
Gesellschaft, unsere Kinder, anvertrauen, in den nächsten Tagen und Wochen möglichst konsensual gelingt, damit nicht nach Pfingsten noch zu lange gestreikt werden
muss.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit, wünsche
Ihnen schöne Pfingstfeiertage, Gottes Segen und eine
schöne sitzungsfreie Zeit.
Danke.
({13})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/4268 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend auf Drucksache 18/4368. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion Die
Linke auf Drucksache 18/2605 mit dem Titel „Ausbau
und Qualität in der Kinderbetreuung vorantreiben“. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt
dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der CDU/CSU-Fraktion und
der SPD-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion Die
Linke bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/1459 mit
dem Titel „Qualität in der frühkindlichen Bildung fördern“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitions10298
Vizepräsidentin Petra Pau
fraktionen gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke
und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 32 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Sabine Zimmermann ({1}), Klaus
Ernst, Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Fünf-Punkte-Programm zur Bekämpfung
und Vermeidung von Langzeiterwerbslosigkeit
Drucksachen 18/3146, 18/4967
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Dr. Matthias Bartke für die SPD-Fraktion.
({2})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Zuschauerinnen und Zuschauer auf der
Tribüne! Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles hat im
November vergangenen Jahres ihr Konzept zum Abbau
der Langzeitarbeitslosigkeit vorgelegt. Es liegt in der
Natur eines solchen Konzeptes, dass es noch keinen bis
ins Detail ausgeführten Plan enthält. Aber eines hat die
Bundesarbeitsministerin bereits mit der Veröffentlichung
erreicht: Sie hat all jene Menschen, die schon länger als
ein Jahr arbeitslos sind, wieder prominent auf die
Agenda gesetzt. Auch die beiden Oppositionsparteien
haben im Nachgang dazu jeweils einen Antrag zum
Thema Langzeitarbeitslosigkeit eingebracht. Ich möchte
Ihnen sagen: Ich stimme mit den Inhalten Ihrer Anträge
nicht überein, aber ich freue mich, dass auch Sie das
Thema auf der Agenda halten. Ministerin Nahles hat
Langzeitarbeitslosigkeit wieder ins Bewusstsein der
Politik geholt. Das kann man nicht unterschätzen. Schon
seit mehreren Jahren ist konstant etwa 1 Million Menschen länger als ein Jahr ohne Job. Das ist 1 Million zu
viel.
({0})
Am Montag hat die Anhörung zu unserem Konzept
und zu den beiden Oppositionsanträgen stattgefunden.
Die Einschätzungen der Sachverständigen haben uns in
unserem Konzept bestätigt.
({1})
Ich möchte stellvertretend die Stellungnahme der Arbeiterwohlfahrt zitieren:
Dank der Initiative aus dem Bundesarbeitsministerium ({2}) wird heute nach Jahren der Kürzungen und Einschränkungen wieder konkret über eine
Weiterentwicklung der Beschäftigungsförderung
sowie über eine Integration von Teilhabe als eigenes Ziel diskutiert.
Es war einhellige Meinung, dass Vermittlungsbemühungen in den ersten Arbeitsmarkt nicht für alle Arbeitslose eine Lösung bedeuten. Es gibt einen Teil von
Langzeitarbeitslosen, für den öffentlich geförderte Beschäftigung eine neue Perspektive eröffnet. Deswegen
bekämpfen wir Langzeitarbeitslosigkeit auch mit einem
Bündel von Instrumenten, die individuell angepasst sind.
({3})
Welche Schritte machen wir nun also genau? Wir werden flächendeckend Zentren für Aktivierung, Beratung
und Chancen einrichten. Das Programm „Perspektive
50plus“ hat uns gezeigt, dass eine intensive Betreuung
verbunden mit einer Arbeitsmarkt- und Gesundheitsförderung Erfolge bei der Integration in Arbeit produziert.
Künftig soll dieser Ansatz nicht nur für ältere Langzeitarbeitslose, sondern für alle Langzeitarbeitslosen gelten.
Einen weiteren Schritt machen wir mit dem ESF-Programm zur Eingliederung von Langzeitarbeitslosen. Die
Gewinnung und Beratung von Arbeitgebern wird hier
eine gewichtige Rolle spielen. Damit begegnen wir der
relativ geringen Bereitschaft von Betrieben, Langzeitarbeitslose einzustellen, und wir helfen, Vorurteile zu
überwinden. Schon im November wurde die Förderrichtlinie veröffentlicht, und auch die Zuwendungsbescheide
sind inzwischen alle verschickt. Es kann also losgehen.
Den nächsten Schritt machen wir ebenfalls noch dieses Jahr. Das Bundesprogramm „Soziale Teilhabe am
Arbeitsmarkt“ gibt Antwort auf die Frage, was wir denen anbieten wollen, die partout keine Beschäftigungsmöglichkeit finden. Mit 100 Prozent Lohnkostenzuschüssen werden wir Arbeitsverhältnisse ermöglichen,
die sonst nicht zustande kämen. Auch für dieses Programm liegt die Förderrichtlinie bereits vor. Durch den
Nachtragshaushalt haben wir die Verpflichtungsermächtigung für drei Jahre geschaffen. Das war nicht leicht,
aber wir haben es geschafft. Danke, liebe Haushälter!
({4})
Auch mit der Gesundheitsförderung werden wir einen
Schritt tun, der uns weiter nach vorne bringt. 40 Prozent
der SGB-II-Leistungsbezieher haben schwerwiegende
gesundheitliche Einschränkungen. Trotzdem waren die
speziellen gesundheitlichen Bedürfnisse bisher kein elementarer Bestandteil einer Integrationsstrategie. Das
werden wir ändern.
({5})
Es ist am Ende völlig egal, ob die Krankheit Grund oder
Folge der Langzeitarbeitslosigkeit war. Wichtig ist nur,
dass wir mit Prävention und Gesundheitsversorgung Abhilfe schaffen. Denn eines ist klar: Nur wer gesund ist,
kann auch wirklich gut arbeiten.
All diese Schritte wurden in der Anhörung am
Montag durch die Sachverständigen ausdrücklich begrüßt.
Dass auch wir zur Finanzierung gern den Passiv-Aktiv-Tausch eingesetzt hätten, ist hinlänglich bekannt.
Die Linke fordert in ihrem Antrag eine Sonderabgabe
für Arbeitgeber. Ganz abgesehen davon, dass eine Sonderabgabe in der Form verfassungsrechtlich außerordentlich problematisch ist, ist diese Forderung in ihrer
Allgemeinheit auch völlig deplatziert.
Überdies fordern Sie die Einrichtung von 200 000 öffentlich geförderten Stellen für Langzeitarbeitslose.
Nach Einschätzung des IAB gibt es in der Tat etwa
100 000 bis 200 000 Langzeitarbeitslose, die nur noch
sehr wenig Chancen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt
haben. Wenn Sie ausschließlich für diese eine öffentlich
geförderte Beschäftigung gefordert hätten, dann wäre
das zumindest eine in sich konsistente Forderung gewesen. Das machen Sie aber nicht. Nach Ihrem Antrag
kommt jeder Einzelne der 1 Million Langzeitarbeitslosen für die Stellen in Betracht. Ich sage Ihnen: Das ist arbeitsmarktpolitischer Nonsens. Damit schaffen Sie Mitnahmeeffekte ohne Ende.
({6})
Aber diejenigen, die solche Arbeitsplätze wirklich nötig
hätten, bekommen sie dann nicht.
Die einzige Vorgabe, die Sie in Ihrem Antrag machen,
ist: Es soll ein Stundenlohn von mindestens 10 Euro gezahlt werden. - Geht’s noch? Die Entlohnung von öffentlich geförderter Beschäftigung soll deutlich über
dem gesetzlichen Mindestlohn liegen? Das kann doch
nicht Ihr Ernst sein.
({7})
Oder haben Sie im letzten halben Jahr vergessen, Ihren
Antrag an die aktuelle Rechtslage anzupassen?
({8})
Aber lassen Sie mich zu einem versöhnlichen Schluss
kommen, meine Damen und Herren. Wir mögen die Beratung des Antrags heute abschließen. Ich verspreche Ihnen aber, dass die Langzeitarbeitslosigkeit auch weiterhin ganz oben auf unserer Agenda stehen wird.
Ich danke Ihnen.
({9})
Das Wort hat die Kollegin Sabine Zimmermann für
die Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Lieber Kollege Bartke, ich schätze Sie ja sehr,
aber: Sie haben nicht gesagt, wie viele Menschen Ihr
Programm erreichen soll; dazu haben Sie keine einzige
Zahl genannt. Vielleicht liegt es daran, dass Sie sich dafür schämen. Es sind nämlich nicht mehr als 43 000 Personen. Bei 1 Million langzeitarbeitslosen Menschen ist
das doch ein bisschen wenig.
({0})
Falls Sie alle es vergessen haben sollten - das gilt im
Besonderen für meinen Kollegen Matthias Zimmer -:
Wir haben in Deutschland 1 054 315 langzeitarbeitslose
Menschen. Ihre Zahl nimmt entgegen Ihrer Behauptung
kaum ab. Es sind Männer und Frauen, die ihren Arbeitsplatz verloren haben, weil ihr Betrieb dichtgemacht
wurde, weil der Arbeitsplatz wegrationalisiert wurde
oder weil man ihnen schlicht und einfach gesagt hat: Für
euch haben wir keinen Platz in der Arbeitswelt. - Viele
von ihnen hatten im ersten Monat und vielleicht sogar
im ersten Jahr noch Hoffnung, einen neuen Arbeitsplatz
zu finden. Aber irgendwann kam die große Enttäuschung. Man sagte ihnen: „Sie sind zu alt“, „Ihre Qualifikation reicht nicht aus“, ja sogar, und das nicht selten,
„Sie sind überqualifiziert“, und irgendwann resignieren
viele dieser Menschen. Was für ein Armutszeugnis für
dieses reiche Land!
({1})
Wir fordern für diese Menschen nicht irgendwelche
sozialpolitischen Maßnahmen, sondern wir fordern:
Schluss mit der dauerhaften gesellschaftlichen Ausgrenzung! So kann es nicht weitergehen, meine Damen und
Herren.
({2})
Denn dauerhafte unfreiwillige Erwerbslosigkeit heißt
Armut per Gesetz. Viele verlieren dann auch den Glauben an die Demokratie, und sie gehen nicht mehr wählen. Das müsste Ihnen eigentlich die letzte Wahl in
Bremen vor 14 Tagen mit einer Wahlbeteiligung von
50 Prozent gezeigt haben. Mit anderen Worten heißt das:
Jeder Zweite klinkt sich aus, und das in Stadtbezirken, in
denen die Langzeiterwerbslosigkeit dominiert, wo inzwischen Generationen von Hartz IV abhängig sind und
Kinder keinerlei gleichberechtigten Zugang zu Bildung
haben. Von Chancengleichheit kann hier keine Rede
sein. Das ist unsozial.
({3})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie geben immer
damit an, dass Sie in den zurückliegenden vier Jahren erreicht haben, dass 2 Millionen mehr Arbeitsplätze in der
Statistik stehen, und Sie behaupten, dass die Zahl der Erwerbslosen gefallen ist. Aber Sie verschweigen, ohne rot
zu werden, dass die Zahl der Langzeitarbeitslosen seit
2011 unverändert bei 1 Million stagniert.
Wenn Sie auf die Pläne und Maßnahmen der Arbeitsministerin schauen, müssen Sie zugeben, dass sie wirklich nichts Neues enthalten, auch wenn Sie, Kollege
Bartke, das als neu verkaufen. Statt effektive Programme
für diejenigen aufzulegen, die es am nötigsten haben,
Sabine Zimmermann ({4})
kleckert die Ministerin ein bisschen hier und ein bisschen da. Ihre Schmalspurförderung aus dem Hause
Nahles löst die grundsätzlichen Probleme nicht, sondern
verschleppt sie nur.
({5})
Die berufliche Weiterbildung ist nach den Hartz-Gesetzen völlig eingebrochen. Wir alle hier wissen: Da
müssen wir ran; denn Qualifikation ist das A und O, um
auf dem Arbeitsmarkt bestehen zu können. Aber dafür
müssen Sie Geld in die Hand nehmen.
({6})
Die Linke hat ein Fünf-Punkte-Programm vorgelegt,
das ich Ihnen wärmstens ans Herz lege und einmal richtig zu lesen empfehle, Kollege Bartke. Drei Punkte will
ich Ihnen verraten:
Erstens. Wir brauchen einen Rechtsanspruch auf Weiterbildung, das heißt mehr Unterstützung und mehr Geld
in diesem Bereich. Damit wird auch die Position von Erwerbslosen gestärkt, und sie stehen nicht ständig als
Bettler und Bittsteller im Jobcenter.
({7})
Zweitens. Wir brauchen eine individuelle Vermittlung. Das Prinzip „Vermittlung auf Augenhöhe“ muss
das Grundprinzip in den Jobcentern werden. Dazu
braucht es aber mehr und besser geschultes Personal.
Vor allen Dingen muss Schluss sein mit den Sanktionen.
({8})
Drittens. Wir brauchen einen öffentlich geförderten
Beschäftigungssektor mit sozialversicherungspflichtiger,
gemeinwohlorientierter und ordentlich bezahlter Arbeit.
Regeln Sie endlich den Passiv-Aktiv-Transfer! Damit
würden Sie Arbeit statt Arbeitslosigkeit finanzieren.
({9})
Meine Damen und Herren der Koalition, Sie dürfen
sich nicht wundern, wenn man Ihnen unterstellen muss,
dass Sie ein Interesse daran haben, Millionen von Menschen in Arbeitslosigkeit und in Hartz IV zu halten. Sie
wollen wohl ein abschreckendes Beispiel für diejenigen
schaffen, die noch in Arbeit sind.
({10})
Das ist zynisch, sozial ungerecht und brandgefährlich für
die Demokratie.
Ich wünsche Ihnen schöne Pfingsten und empfehle
Ihnen, den Antrag richtig zu lesen.
Danke schön.
({11})
Vielen Dank. - Als nächster Redner hat Professor
Matthias Zimmer von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich war
durchaus bereit, im Geiste pfingstlicher Vorfreude das
Gemeinsame zu betonen, Frau Kollegin Zimmermann,
bis ich dann Ihren letzten Satz gehört habe. Zu behaupten, dass wir ernsthaft die Arbeitslosigkeit nutzen, um
Druck auf die arbeitenden Menschen auszuüben, ist eine
Unverschämtheit. Das stimmt nicht.
({0})
Wenn ich das genau beobachte, sowohl bei der SPDFraktion als auch bei unserer Fraktion, glaube ich, dass
wir uns in den letzten Jahren - das gilt auch für die Grünen und für die Linken - sehr einhellig des Themas
Langzeitarbeitslosigkeit angenommen haben. Wir haben
das mit einem ganz anderen Ansatz als dem getan, mit
dem wir heute Morgen das strittige Thema Tarifeinheit
diskutiert haben.
Wir alle sind der Meinung: Langzeitarbeitslosigkeit
ist ein großes Problem, dem wir politisch begegnen müssen. - Wir streiten uns über den richtigen Weg dazu.
Noch einmal im Geiste der pfingstlichen Vorfreude und
der Friedfertigkeit will ich konzedieren, dass ich zumindest in zwei Punkten Ihres Antrages Ihrer Meinung bin.
Der erste Punkt ist die Forderung nach einer sozialen
Vergabepraxis. Das finde ich vollkommen in Ordnung.
Das finde ich richtig; das ist ein richtiger Ansatz. Der
zweite Punkt ist die bessere Evaluation der arbeitsmarktpolitischen Instrumente. Auch das findet unsere ungeteilte Zustimmung an dieser Stelle.
Ansonsten zeigt Ihr Antrag aber durchaus die unterschiedlichen Perspektiven, mit denen auf das Thema
Langzeitarbeitslosigkeit zugegangen wird. Ich habe
nicht den Eindruck, dass die Schaffung eines zweiten
Arbeitsmarkts mit 200 000 Beschäftigten der Weisheit
letzter Schluss ist. Frau Zimmermann, in Ihrem Antrag
schreiben Sie, dass Sie für diese öffentlich geförderte
Beschäftigung einen Stundenlohn von 10 Euro fordern;
der Kollege Bartke hat es erwähnt. Ich bin nicht der Meinung, dass man damit reguläre Arbeitsplätze nicht verdrängt.
({1})
Ich glaube, genau das passiert dann.
Es war für mich auch nicht logisch zu erklären, warum Sie dort 10 Euro fordern, bis ich mir überlegt habe:
Im Grunde genommen geht es Ihnen an der Stelle lediglich darum, Ihre alte Forderung nach einem Mindestlohn
von 10 Euro hintenherum auf dem Rücken von Langzeitarbeitslosen wieder einzuführen. Dafür sind die Langzeitarbeitslosen zu schade und das Thema zu wichtig.
({2})
Wir hatten zu Ihrem Fünf-Punkte-Programm eine Anhörung. Diese Anhörung hat gezeigt, dass sich die aktiDr. Matthias Zimmer
vierende Arbeitsmarktpolitik der letzten Jahre bewährt
hat. Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung
hat bestätigt, dass die Grundausrichtung der aktivierenden Arbeitsmarktpolitik den Arbeitsmarkt beflügelt und
zum Abbau der Sockelarbeitslosigkeit beigetragen hat.
Hier wurde uns vom IAB-Vertreter auch bestätigt, was
wir bereits in den vergangenen Debatten haben anklingen lassen: Bei den arbeitsmarktpolitischen Instrumenten sind an der einen oder anderen Stelle Nachjustierungen durchaus sinnvoll. Hier sind vor allem die
Stichworte „professionelles Fallmanagement“, „Profiling“,
„ganzheitliche Lösungen“, „Intensivberatung“, „Coaching“
und „rechtsübergreifende Lösungen“ gefallen. Diese
Punkte hatten wir als Union im Rahmen der zurückliegenden Arbeitsmarktgespräche verfolgt. Bundesministerin
Nahles hat diese Punkte auch in ihrem Eckpunktepapier
zur Langzeitarbeitslosigkeit im letzten Jahr aufgegriffen.
In der Anhörung wurde von Sachverständigen unterstrichen - auch diesen Punkt vermisse ich in Ihrem Antrag -: Arbeitsmarktpolitik ist als ein Faktor beim Abbau
der Langzeitarbeitslosigkeit zu verstehen. Aber die Arbeitsmarktpolitik alleine wird den Abbau nicht leisten
können. Wir müssen nicht nur regionale Unterschiede
berücksichtigen und den Arbeitgeber-Service marktnah
aufstellen, sondern wir müssen vor allen Dingen auch
Präventionsmaßnahmen im Bildungs- und Gesundheitsbereich verstärken. Arbeitsmarktpolitik - das haben uns
mehrere Sachverständige gesagt - ist nicht die Lösung,
die für sich alleine stehen kann. Das ist die Schwachstelle, die Ihr Antrag aus meiner Sicht aufweist. Das hat
auch die Sachverständigenanhörung gezeigt.
Ich habe an dieser Stelle bereits mehrfach dafür plädiert, dass wir uns erstens die arbeitsmarktpolitischen Instrumente noch einmal grundsätzlich anschauen sollten.
Schließlich haben wir erste valide Rückmeldungen aus
der Praxis dazu erhalten, wie die Reform der arbeitsmarktpolitischen Instrumente aus dem Jahr 2011 wirkt.
Hier - das müssen wir klar sagen - zeigt sich mittlerweile der Bedarf einer gewissen Nachjustierung. Das haben auch einige Sachverständige in der Anhörung deutlich gemacht.
Ich würde zweitens auch noch einmal für eine Entfristung der Fördermaßnahmen werben wollen. Die Fördergrenze von 24 Monaten innerhalb von fünf Jahren erweist sich in der Praxis doch als zu starr. Das haben uns
einige Sachverständige so auch bestätigt und mit Beispielen unterlegt.
({3})
- Die eigenen Leute haben das nicht mitbekommen
({4})
und klatschen deswegen nicht.
Drittens werbe ich dafür, dass wir uns die Problematik der Schnittstellen zwischen den Sozialgesetzbüchern
noch einmal genau anschauen. Einige Sachverständige
in der Anhörung haben uns das nahegelegt. Ein Anfang
wäre beispielsweise, die Leistungen nach § 45 SGB III,
also die sozialpädagogische Betreuung oder die Vermittlung beruflicher Kenntnisse, in die Förderung sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung zu integrieren. Somit könnten wir den Langzeitarbeitslosen dann auch
aufeinander abgestimmte Förderungen aus einer Hand
ermöglichen und den Fallmanagern bürokratische Umwege ersparen.
Meine Damen und Herren, wir tun, wenn wir in die
Pfingsttage gehen, glaube ich, gut daran, für die weiteren
Beratungen, was die Gesetzgebungsarbeit angeht, auf
das Kommen des Heiligen Geistes und die Erleuchtung,
die er bringt, zu hoffen - Erleuchtung, die ich bei Ihrem
Antrag schmerzlich vermisse. Deswegen werden wir ihn
auch ablehnen.
Ich wünsche Ihnen frohe Feiertage.
({5})
Als nächste Rednerin in der Debatte hat Brigitte
Pothmer von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das
Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lieber
Herr Bartke, angesichts der Zusammenfassung der Anhörung, die Sie hier vorgetragen haben, habe ich wirklich den Eindruck, dass Sie das Prinzip der selektiven
Wahrnehmung zur Perfektion getrieben haben. Meine
Zusammenfassung sähe jedenfalls ganz anders aus.
Wenn ich nicht gleich von Verriss rede, dann ist das eigentlich auch nur der pfingstlichen Vorfreude geschuldet. Aber mindestens schwere Enttäuschung war da
schon zu spüren.
({0})
Meine Damen und Herren, Sie wissen doch alle, dass
wir in der Politik für Langzeitarbeitslose einen richtigen
Paradigmenwechsel bräuchten. Die Strategie der schnellen Vermittlung ist gescheitert. Wir haben eine Integrationsquote von 13 Prozent. Davon werden allein 30 Prozent in Leiharbeit vermittelt. Die wenigen, die vermittelt
werden, stehen innerhalb kürzester Zeit wieder vor der
Tür. Vor diesem Hintergrund brauchen wir jetzt wirklich
eine völlig andere Politik für Langzeitarbeitslose.
({1})
Wissen Sie, Herr Bartke, worin die Enttäuschung besteht? Die Enttäuschung besteht darin, dass Frau Nahles
trotz dieser Erkenntnisse etwas vorschlägt, was schon in
der Vergangenheit nicht funktioniert hat. Sie schafft Sonderprogramme für wenige, für 43 000 Langzeitarbeitslose. Ich erinnere daran, dass auch Frau von der Leyen
ein Sonderprogramm aufgelegt hatte: das Programm
„Bürgerarbeit“ für 33 000 Langzeitarbeitslose. Jetzt wird
ein anderes Programm aufgelegt. Aber das ändert nichts
an den Bedingungen, unter denen die Jobcenter für die
Masse arbeiten. Im Gegenteil: Das führt sogar dazu, dass
sich die Bewegungsspielräume der Jobcenter weiter reduzieren. Und das sage nicht nur ich. Herr Bartke und
Herr Zimmer, Ihre eigenen Leute gehen doch inzwischen
auf die Barrikaden und fordern Sie auf, dieses Programmhopping endlich zu lassen.
({2})
Nehmen wir einmal das Beispiel ESF-Programm. Das
Programm ist mit einem so hohen Aufwand und mit einer Extrastruktur verbunden, dass die Jobcenter noch
nicht einmal die Plätze in Anspruch genommen haben,
die Sie ihnen angeboten haben. Angesichts dessen können
Sie doch nicht von einem Erfolg reden. 33 000 Plätze
standen zur Verfügung. 24 000 sind nur beantragt worden. Herr Bartke, Sie haben kein Wort dazu gesagt.
Nehmen wir als Beispiel das Programm „Soziale Teilhabe am Arbeitsmarkt“. Dieses Programm ist in der Anhörung regelrecht verrissen worden: Zusätzlichkeit, Wettbewerbsneutralität, öffentliches Interesse - alle Experten
wissen, dass das zu Arbeitsplätzen führt, die sehr weit
weg sind vom ersten Arbeitsmarkt. Dabei geht es doch
nicht um sinnstiftende Beschäftigung, sondern maximal
um Beschäftigungstherapie.
Sie bieten Arbeitsplätze an, die mit der Arbeitsmarktwirklichkeit nichts zu tun haben und wundern sich am
Ende, dass diese Plätze nicht zur Integration in den ersten Arbeitsmarkt führen. Mit beiden Programmen wurde
nichts Neues gewagt. Sie binden erhebliche Mittel und
verringern die Bewegungsspielräume der Jobcenter. Sie schütteln den Kopf. Wenn Sie mir nicht glauben,
dann hören Sie doch wenigstens, was Senator Günthner
aus Bremen dazu sagt. Er bezeichnet das, was Ihre
Ministerin da macht, als grotesk, Herr Bartke.
Vielleicht schauen Sie sich auch einmal den Antrag
aus NRW an, der demnächst in den Bundesrat eingebracht werden soll. Ich zitiere einfach einmal aus dem
Antrag: Die zwei Programme „reichen … bei Weitem
nicht aus“. Ich zitiere weiter: „Die zur Verfügung stehenden Mittel sind“ weniger als „ein Tropfen auf den heißen
Stein“. Ich zitiere weiter: „Sehr viele Langzeitarbeitslose
werden … keine, oder nur eine unzureichende Förderung erhalten“. Deswegen fordern NRW und die anderen
Länder einen sozialen Arbeitsmarkt mit einem PassivAktiv-Transfer.
({3})
Sie fordern mehr Mittel für diesen unterfinanzierten Bereich, Planungssicherheit und mehr Weiterbildung.
Nichts davon ist in Ihrem Programm enthalten. Ich sage
es noch einmal: Wenn Sie mir nicht glauben, dann glauben Sie doch wenigstens Ihren eigenen Leuten. Hören
Sie endlich auf mit diesem Programmhopping.
({4})
Ich will jetzt doch noch ein paar Worte zu dem Antrag
der Linken sagen - Frau Zimmermann, ich habe es
schon im Ausschuss gesagt -: Ihr Antrag enthält etliche
Punkte, die wir für richtig halten. Das wissen Sie; ich
will das nicht wiederholen, aber doch sagen: Ich bin, was
Ihre Vorschläge zur Ausgestaltung des sozialen Arbeitsmarktes angeht, enttäuscht. Damit sind Sie auch aus meiner Sicht wirklich auf dem Holzweg - also, nicht, was
den PAT angeht, aber Sie sprechen von Zusätzlichkeit.
Wir wissen doch, dass das alles Quatsch mit Soße ist.
Frau Kollegin.
Ich komme sofort zum Schluss. - 10 Euro pro Stunde
sind nun wirklich nicht angemessen. Ich bitte Sie: Korrigieren Sie Ihren Antrag.
({0})
So, wie er jetzt vorliegt, können wir ihm nicht zustimmen, sondern müssen ihn ablehnen.
Ich danke Ihnen.
({1})
Vielen Dank. - Als nächste Rednerin hat Jutta
Eckenbach von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Meine
Damen und Herren auf der Zuschauertribüne! An einem
Freitagnachmittag tagt der Bundestag noch immer. Wir
befassen uns mit einem ganz wichtigen Thema. Seit
2011 haben wir feststellen müssen, dass es trotz der guten Konjunktur, trotz voller Auftragsbücher, trotz Fachkräftemangels, trotz aller Bemühungen und bestehender
Hilfen, trotz der vielen Programme und trotz der enormen Summen, die wir mittels der Eingliederungshilfe
zur Verfügung gestellt haben, Aufnahmegrenzen beim
Arbeitsmarkt gibt.
Gerade in diesen Wochen diskutieren wir über mehrere neue Maßnahmen zum Abbau des harten Kerns der
Langzeitarbeitslosigkeit. In der Ausschussanhörung haben wir die Meinungen von Sachverständigen gehört.
Vorschläge zum Passiv-Aktiv-Transfer oder auch zu den
Instrumenten scheinen sich auf den ersten Blick zu ähneln. Wenn wir aber die Vorschläge genauer ansehen, erkennen wir gravierende Unterschiede. Gerade die Linke
macht - das hat sich heute noch einmal bestätigt - in all
ihren Anträgen - nicht nur in dem heute vorliegenden
Antrag - eine ideologisch geprägte Grundhaltung deutlich;
({0})
denn das Prinzip des „Förderns und Forderns“ lehnen
Sie ab.
({1})
Dass in dieser Anhörung die seit 2005 eingeschlagene
Grundrichtung befürwortet wurde, konnten wir von fast
allen Sachverständigen immer wieder hören. Das ist
nicht die erste Anhörung gewesen, bei der uns dies bestätigt wurde. Sowohl der Rückgang der Arbeitslosigkeit
insgesamt als auch der Abbau der Langzeitarbeitslosigkeit im Besonderen sind neben der guten Konjunktur auf
das Fördern und Fordern zurückzuführen. Die Dosis
beim Fördern und Fordern ist entscheidend, und zwar in
jedem Einzelfall. Die richtige Dosis wird leider noch
nicht in allen Fällen erreicht. Aber ich kann Ihnen für die
CDU/CSU-Fraktion sagen, dass die richtige Dosis das
Ziel ist, das wir erreichen wollen.
Sie reduzieren die Ursachen der Langzeitarbeitslosigkeit auf fehlende Arbeitsplätze und ökonomische Gründe;
so steht es in Ihrem Antrag, meine Damen und Herren
von der Linken. Das ist so pauschal und oberflächlich,
dass es fast schon an Fahrlässigkeit grenzt. Ich kann
diese ideologische Haltung überhaupt nicht teilen. Wollen Sie allen Ernstes in den aktuellen Zeiten mit guter
Konjunktur den betroffenen langzeitarbeitslosen Menschen vorgaukeln, sie wären aus konjunkturellen Gründen arbeitslos? Ich bin sicher: Die Menschen fühlen sich
von Ihnen nicht ernst genommen. Die Gründe für Langzeitarbeitslosigkeit sind gravierend und vielschichtig.
Die Zusammenhänge haben wir in diesem Hause schon
oft deutlich gemacht. Irgendwann müssten Sie als Linke
das auch erkennen. Sie sollten mit Ihren Anträgen nicht
immer wieder eine ideologische Debatte anstoßen und
sagen: 10 Euro pro Stunde geben wir den Menschen. Wir
beschäftigen sie auf einem sozialen Arbeitsmarkt. - Damit ist das Ganze dann für Sie erledigt. Das wird so nicht
funktionieren.
({2})
Bei nahezu der Hälfte der langzeitarbeitslosen Menschen liegen Vermittlungshemmnisse vor, die in erster
Linie in ihrer Person begründet sind. Sie leiden unter
langer Arbeitslosigkeit und haben psychosoziale Probleme als Folge der Langzeitarbeitslosigkeit.
({3})
Hinzu kommt die lange Arbeitslosigkeit mit fehlender
Weiterbildung und lückenhaftem aktuellen Wissen im
ursprünglichen Beruf.
({4})
Auch das ist uns von den Sachverständigen in der Anhörung immer wieder deutlich gemacht worden.
Nun gestatten Sie mir noch kurz ein Wort zum PAT,
der auch in der Anhörung immer wieder für Aufmerksamkeit gesorgt hat. Ich schließe mich in Anbetracht
meiner Redezeit, die langsam zu Ende geht, dem an, was
Professor Zimmer für die CDU/CSU-Fraktion deutlich
gemacht hat. Ich glaube, dass der PAT noch nicht ausgereift ist. Ich kann mir PAT allerdings gerade für Nordrhein-Westfalen vorstellen, Frau Pothmer. Lassen Sie
uns das doch einmal auf Landesebene ausprobieren! Das
wäre doch etwas. Gehen Sie doch im Land NordrheinWestfalen, genauso wie es das Land Baden-Württemberg getan hat, einmal darauf ein und sagen Sie: Ja, wir
probieren das als Modellversuch aus. - Dann wären wir
ein Stückchen weiter, hätten Ergebnisse und könnten
diese Ergebnisse hier auch einbringen und kämen dann
vielleicht zu einer vernünftigen Regulierung.
({5})
Ansonsten müssten wir - und das wollen wir - an die
Instrumente herangehen und diese stärker personenbezogen ausrichten. Wir wollen die Menschen über ein Stufensystem - Stichwort: „arbeitgebernah“ - in den ersten
Arbeitsmarkt vermittelt sehen. Sie sollen nicht im sozialen Arbeitsmarkt enden.
Noch ein Wort zu Thüringen. Mich hat sehr bewegt,
dass es in Thüringen große Verbände ablehnen, an Ihrem
PAT in Thüringen teilzunehmen, weil er so unausgegoren ist,
({6})
dass es nicht funktionieren wird.
Ich wünsche Ihnen allen ein wunderschönes Pfingstfest. Ich hoffe, dass wir irgendwann einmal zu Potte
kommen - wie man das im Ruhrgebiet sagt - und im
Bundestag nicht immer weitere Schleifen drehen müssen, dass wir den Arbeitslosen wirklich helfen,
({7})
dass wir zu einer guten Einigung mit der SPD kommen.
Ich habe heute manche Dinge schon sehr wohlwollend
zur Kenntnis genommen. Ich hoffe sehr, dass wir dann
im Interesse der Langzeitarbeitslosen auch ein gutes Programm verabschieden können. Ein frohes Pfingstfest!
Alles Gute und ein paar ruhige Tage!
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({8})
Vielen Dank. - Als nächster Redner hat Michael
Gerdes von der SPD-Fraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer
auf den Tribünen! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Langzeitarbeitslosigkeit ist ohne Frage die größte Herausforderung in der Arbeitsmarktpolitik. Ich will von
vornherein sagen: Die wenigsten Langzeitarbeitslosen
- das hört man ja auch hier wieder heraus - sind selber
schuld, dass sie arbeitslos sind. Sie haben zwar oft
Schuldgefühle, aber sie haben sich das nicht selbst zuzuschreiben.
({0})
Wir dürfen diese Aufgabe nicht vernachlässigen, und
Ministerin Nahles und ihr Haus gehen mutig voran. Das
vorliegende Konzept enthält viele gute Schritte, um die
Unterstützung für langzeitarbeitslose Menschen effektiver
und nachhaltiger zu machen. In der Anhörung - heute
schon viel zitiert - am vergangenen Montag gab es von
den geladenen Experten viel Zustimmung zu unseren
Maßnahmen aus dem BMAS.
Positiv hervorheben möchte ich, dass einzelne Programmteile bereits in der Umsetzung sind. Auch das
ESF-Programm wurde durchaus positiv gesehen. Es bewegt sich was.
({1})
Von manchen Sachverständigen wurde allerdings das
zur Verfügung stehende Finanzvolumen für Eingliederungsmaßnahmen bemängelt. Dieser Kritik müssen wir
uns durchaus stellen.
Ich möchte jedoch dagegenhalten: Der Anfang ist gemacht. Die Betroffenen werden sich jedenfalls freuen,
auch wenn Mitglieder des Hauses gerade gesagt haben,
dass es sich dabei zum Teil um Beschäftigungstherapie
handelt. Losgelöst von einzelnen Maßnahmen finde ich
es besonders wichtig, dass Langzeitarbeitslosigkeit wieder ehrlich debattiert wird und auf unserer Agenda eine
zentrale Rolle einnimmt.
Wir können nicht hinnehmen, dass sich Arbeitslosigkeit verfestigt. Unsere Gesellschaft definiert sich über
Erwerbsarbeit. Wer ohne Job ist, hat nicht nur wenig
Geld zum Leben, es fehlt auch je nach Dauer der Arbeitslosigkeit an Anerkennung, Sinnstiftung und Gesundheit. Arbeitslosigkeit stigmatisiert, grenzt aus. Das
müssen wir als Gesellschaft ernst nehmen und verhindern. Dazu müssen wir an einem Strang ziehen.
Es kommt nicht nur auf Maßnahmen der öffentlichen
Hand an. Auch die Wirtschaft ist gefragt. In diesem
Punkt begrüße ich besonders die Stellungnahme der
BDA, wonach Arbeitgeber ihre Personalpolitik stärker
auf Langzeitarbeitslose ausrichten sollen.
({2})
Als Abgeordneter aus dem Ruhrgebiet kenne ich die
Ausmaße und Folgen langer Arbeitslosigkeit durchaus.
Mehr als 300 000 Menschen in Nordrhein-Westfalen
gelten als langzeitarbeitslos. Fast zwei Drittel von ihnen
sind länger als zwei Jahre ohne Arbeit. Nach wie vor
kämpfen wir mit dem Strukturwandel und mit der Arbeitsmarktdynamik. Gerade in den letzten zehn Tagen
haben gleich zwei Unternehmen in meinem Wahlkreis
strukturelle Veränderungen bzw. Standortschließungen
angekündigt. Jeder wegfallende Arbeitsplatz tut weh,
und selbstverständlich hoffe ich, dass die betroffenen
Arbeitnehmer neue Jobs finden werden. Der Ruf aus
NRW nach mehr öffentlich geförderter Beschäftigung ist
vor diesem Hintergrund zumindest nachvollziehbar.
Gleichzeitig müssen aber reguläre Jobs das oberste Ziel
bleiben.
Wir wissen alle: Langzeitarbeitslosigkeit ist komplex.
Sie hat viele Gesichter. Die Gruppe derer, die ohne Arbeit sind, ist äußerst heterogen. Besonders schwierig ist
die Situation für Geringqualifizierte, Ältere und Frauen
mit Kindern unter drei Jahren. Somit müssen auch die
Hilfen vielfältig und flexibel sein. Was für eine Alleinerziehende mit Kleinkind richtig ist, kann für einen Arbeitsuchenden über 50 das völlig falsche Angebot sein. Hier
muss passgenau unterstützt werden.
({3})
- Ja, wir sind dabei. - Dazu braucht es Zeit und Nachdruck. Die Verbesserung der Betreuungsrelation in den
Jobcentern ist ein erster Schritt, der absolut begrüßenswert ist.
({4})
Ohnehin ist der Vermittlungsprozess für Fallmanager
und Betroffene ein Weg, auf dem viele Hürden genommen werden müssen. Wer seine Situation nicht alleine
verbessern kann, braucht materielle Förderung sowie intensive soziale Betreuung und Begleitung. Je nach Fall
- auch das haben wir schon gehört - müssen die Fachkräfte vor Ort auch Aktivitäten einfordern dürfen, etwa
wenn es um die Stärkung der eigenen Verantwortung
und die Ausweitung von Fähigkeiten geht, um eben die
persönlichen Chancen zu verbessern.
Das Ziel unserer Politik ist klar definiert: Wir wollen
einerseits Langzeitarbeitslosigkeit abbauen, andererseits
wollen wir sie verhindern. Letzteres geht nur mit Prävention. Wir setzen auf Bildung und Qualifizierung.
({5})
Gerade in Zeiten von Industrie 4.0 und Arbeiten 4.0 gibt
es immer weniger Jobs für Ungelernte. Wir müssen es
schaffen, dass niemand ohne Berufsausbildung, geschweige denn ohne Schulabschluss bleibt. Es gilt, Menschen beschäftigungsfähig zu machen. Wir müssen Potenziale wecken, insbesondere bei Geringqualifizierten,
Frauen, Älteren und Migranten.
Eine wichtige Frage in diesem Zusammenhang ist die
Teilhabe von Menschen mit Behinderung am künftigen
Arbeitsleben.
({6})
Sie dürfen bei diesem Prozess nicht die Verlierer werden.
Weiterbildung darf im Übrigen keine Frage des Geldes sein. Man muss sie sich leisten können.
({7})
Als Vertreter der SPD befürworte ich das Modell der Arbeitsversicherung, über die Beschäftigte zukünftig einen
Rechtsanspruch auf geförderte Weiterbildung erhalten
könnten. Unser Konzept ist schlüssig, das der Linken
ideologisch.
Herzlichen Dank und Glück auf!
({8})
Vielen Dank. - Als nächster Redner hat Matthäus
Strebl von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Wir sprechen heute über die Problematik Langzeitarbeitslosigkeit, die bedauerlicherweise
weiterhin aktuell ist. Dazu haben wir schon eine ganze
Reihe von Zahlen gehört.
Wir sollten uns bei diesem Thema stets bewusst sein,
dass Langzeitarbeitslosigkeit oft zu finanzieller und vor
allem zu sozialer Ausgrenzung führt. 1 Million Menschen, die seit mindestens einem Jahr arbeitslos sind, ist
eine zu hohe Zahl. Bereits im vergangenen November
hatten wir in diesem Hohen Hause darüber gesprochen,
und wir waren uns einig: Der Abbau der Langzeitarbeitslosigkeit in Deutschland ist eine wichtige Herausforderung, der wir uns stellen müssen und der wir uns stellen
werden. Diese Aufgabe geht jetzt das Ministerium für
Arbeit und Soziales mit uns gemeinsam an.
Wir sollten uns nicht damit zufriedengeben, dass wir
trotz der letzten Finanz- und Wirtschaftskrise - ich darf
an die Jahre 2008 und 2009 erinnern - heute mit fast
43 Millionen Beschäftigten in Deutschland eine gute Arbeitsmarktsituation haben. Gleichwohl stagniert die Zahl
der Langzeitarbeitslosen seit 2009 wie festbetoniert.
Langzeitarbeitslose haben meistens mehrere Hemmnisse, die die Arbeitsaufnahme erschweren. Ich nenne
hier die gesundheitlichen Einschränkungen, Suchtprobleme, Schulden und wenig gefestigte Familienstrukturen. Es gibt sicher mehrere Gründe. Für diese Menschen
müssen wir eine individuelle Betreuung und Lösungen
bieten.
Auch wenn die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in
den Jobcentern eine hervorragende Arbeit leisten, gibt es
natürlich Verbesserungsbedarf, wie bereits genannt worden ist. Arbeitsmarktpolitische Instrumente müssen stetig angepasst und verbessert werden. Auch eine angemessene Kontaktdichte muss festgelegt werden. Das
Profiling und die Gespräche in Jobcentern müssen individuell und einzelfallbezogen sein. Hier müssen finanzielle Mittel für effektive Programme eingesetzt werden.
Ausschließlich höhere Ausgaben zu fordern, reicht eben
nicht aus.
Von Langzeitarbeitslosigkeit sind besonders Geringqualifizierte, ältere Menschen, Alleinerziehende und
Behinderte betroffen. Insbesondere Bedarfsgemeinschaften mit Kindern haben ein erhöhtes Risiko, von
Langzeitarbeitslosigkeit betroffen zu sein. Unsere Aufgabe ist es, zu verhindern, was häufig für ganze Familien
gilt: einmal Hartz IV, immer Hartz IV. Hier müssen die
flankierenden Maßnahmen einsetzen, damit eine Arbeitsaufnahme nicht an mangelnder Kinderbetreuung
scheitert.
({0})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich begrüße
deshalb das Bundesprogramm „Soziale Teilhabe am Arbeitsmarkt“, mit dem insbesondere Langzeitarbeitslose
in einer Bedarfsgemeinschaft mit Kindern besonders gefördert werden. Damit erhalten nicht nur die erwerblosen
Eltern eine gezielte Förderung, sondern es dient auch
dazu, das Vorleben von sogenannten Sozialhilfekarrieren
weitestgehend zu reduzieren.
In Ihrem Antrag fordern Sie von der Fraktion Die
Linke die Errichtung eines auf Dauer angelegten öffentlich geförderten Arbeitsmarktes mit 200 000 Stellen. Öffentlich geförderte Beschäftigung und Arbeitsgelegenheiten halte ich für eine sinnvolle Idee für Menschen, die
Alltagsstrukturen wieder neu erlernen und an den Arbeitsmarkt herangeführt werden müssen. Gleichwohl
dürfen öffentliche Beschäftigung und Arbeitsgelegenheiten nicht in Konkurrenz und im Wettbewerb zu privaten Unternehmen stehen. Auch sollten Langzeitarbeitslose nicht dauerhaft in diese Programme verlagert
werden. Bestehende Arbeitsplätze dürfen nicht durch öffentlich geförderte Beschäftigung verloren gehen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, der Antrag
der Linken beinhaltet viele Ideen. Einige, wie die Abschaffung der Sanktionen, haben wir schon wiederholt
gehört. Und diesbezüglich werden wir wohl immer unterschiedlicher Auffassung sein. Mir bleibt aber die
Frage der Finanzierung Ihres Fünf-Punkte-Programmes
unbeantwortet. Dazu gehört auch die von Ihnen geforderte Entlohnung von 10 Euro pro Stunde, während der
Mindestlohn in Deutschland bei 8,50 Euro liegt, wie wir
alle wissen. Diese Erklärung bleiben Sie uns schuldig.
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, wir
müssen uns gemeinsam der Langzeitarbeitslosigkeit annehmen. Das Konzept des Bundesministeriums ist ein
erster, wichtiger Schritt in die richtige Richtung. Das
Fünf-Punkte-Programm der Linken überzeugt mich
nicht. Deswegen lehne ich es ab.
Ich bedanke mich recht herzlich für die Aufmerksamkeit.
({1})
Vielen Dank. - Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Soziales zu dem Antrag der
Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn
Fraktion Die Linke mit dem Titel „Fünf-Punkte-Programm zur Bekämpfung und Vermeidung von Langzeiterwerbslosigkeit“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/4967, den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 18/3146 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Wer stimmt dagegen? - Das ist die Linke. Damit ist die
Beschlussempfehlung mit den Stimmen der Koalition
und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gegen die
Stimmen der Linken angenommen worden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe jetzt den
Zusatzpunkt 7 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Haltung der Bundesregierung zur Änderung
der Klimaschutzziele im Bereich alter Kohlekraftwerke
Wenn die Kolleginnen und Kollegen die Plätze eingenommen haben, können wir gleich mit der Debatte beginnen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin in der
Aktuellen Stunde hat Bärbel Höhn vom Bündnis 90/Die
Grünen das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir sind uns sicher nicht in allen Punkten einig. Deswegen fange ich mit einem Punkt an, in dem wir uns,
glaube ich, einig sind. Die Energiewende und der Klimaschutz sind Riesenprojekte, die absolut wichtig sind. Die
Energiepolitik zum Beispiel ist die Basis für unsere
Wirtschaft. Der Klimaschutz ist natürlich deshalb notwendig, weil das Klima die Basis unseres Lebens zerstören könnte, wenn wir nicht darauf achten. Bei so großen
Projekten aber gilt: Wir brauchen Planungssicherheit
und Verlässlichkeit. Genau an dieser Planungssicherheit
und Verlässlichkeit hat es in dieser Woche gefehlt.
({0})
Was da passiert ist, meine Damen und Herren, zeugte
von jämmerlichem Eigeninteresse. Deswegen war diese
Woche eine schwarze Woche für die Energiewende und
eine schwarze Woche für den Klimaschutz.
({1})
Nehmen wir als Beispiel Bayerns Ministerpräsidenten
Seehofer.
({2})
- In den letzten Tagen und sonst auch oft war er kein
„guter Mann“. Unter seinen Kapriolen hat mittlerweile
ganz Deutschland zu leiden; das muss man so sagen. Bei
der letzten Kapriole hat er sich nicht einmal getraut, selber zu reden, sondern er hat seine Wirtschaftsministerin
vorgeschickt, die dann gesagt hat: Die Stromtrasse SuedLink soll lieber durch die Nachbarländer gehen. - Das ist
unverantwortlich, und das ist unsolidarisch. Das ist eine
Drückebergerstrategie, die wir so nicht durchgehen lassen dürfen; denn dann gefährden wir die gesamte Energiewende.
({3})
Es gab auch ehrliche Versuche von Vizekanzler
Gabriel, der mit der Klimaabgabe ein interessantes Instrument ins Spiel gebracht hat.
({4})
- Ach, da ist er ja! Okay.
({5})
- Ich kann nicht wie die Pferde nach hinten gucken. Ich
gucke meistens nach vorn.
Die Klimaabgabe ist ein intelligentes Instrument - gar
keine Frage -, vor allen Dingen, wenn es um alte Braunkohlenkraftwerke geht, die einen hohen Ausstoß an CO2
haben. Dagegen müssen wir etwas tun. Aber, Herr
Minister Gabriel, dieser Vorschlag einer Klimaabgabe ist
jeden Tag mehr geschreddert worden. Das Ende vom
Lied ist, dass Braunkohlenkraftwerke weiterhin am Netz
bleiben und weiter die Luft verschmutzen können. Man
sieht: Diese Bundesregierung macht keine gute Klimapolitik. - Ich sehe gerade, dass Kollege Schulze sehr zustimmend nickt. Warum ist das passiert? Das ist passiert,
weil gerade CDU/CSU-Kollegen, die Fuchsens, die
Pfeiffers und Co., aber auch die Laschets aus NordrheinWestfalen, den Bundeswirtschaftsminister angegriffen
haben, und zwar in einer Herzensangelegenheit der Sozialdemokraten.
({6})
Das war keine Herzensangelegenheit der CDU/CSU.
Wenn Laschet jetzt versucht, der SPD die Wähler wegzuschnappen, indem er sich zum Oberkumpel der Braunkohlenkraftwerke macht, dann ist das populistisch und
langfristig auch nicht gut. Das ist einfach nur zu kritisieren.
({7})
Und wer hat zu dem ganzen Thema geschwiegen?
Das war die Kanzlerin. Vorher hat sie den Plan zur Klimaabgabe abgesegnet, aber am Ende macht sie den
Mund nicht auf und hebt auch nicht den Finger. Das darf
nicht sein. Immerhin war diese Kanzlerin einmal Umweltministerin, sie war die sogenannte Klimaqueen, aber
davon ist nichts übrig geblieben. Ein solches Vorgehen
ist einer Regierung nicht würdig.
({8})
Dabei hat die Woche gar nicht so schlecht begonnen.
Der Petersberger Klimadialog fand statt, und Dialog ist
immer gut. Aber beim Klimaschutz nützt es nichts, wenn
man nur darüber spricht. Am Ende nützt es dem KlimaBärbel Höhn
schutz nur, wenn CO2 reduziert wird. Hier leistet die
Bundesregierung zu wenig. Wir wollen mehr sehen.
({9})
Warum wollen wir hier mehr sehen? Wir wollen mehr
sehen, weil wir uns ein großes Ziel gesetzt haben:
40 Prozent weniger CO2 bis 2020 in Deutschland. Das
ist wichtig; denn es geht um die Glaubwürdigkeit dieser
Bundesregierung im internationalen Kontext. Wenn
Deutschland die Klimaziele nicht erreicht, dann werden
ganz viele andere Länder sagen: Ja, dann brauchen wir
auch nicht mehr so viel zu tun.
Unsere Glaubwürdigkeit ist unglaublich viel Geld
wert. Zwei in dieser Bundesregierung wissen das: Das
sind die Kanzlerin und der Vizekanzler, beide waren
nämlich mal Umweltminister. Deshalb appelliere ich an
Sie: Sorgen Sie dafür, dass Technologie entwickelt wird,
die in die Zukunft weist, die CO2 reduziert, die erneuerbare Energien, Energieeffizienz und Elektromobilität
nach vorne bringt. Das sind die Produkte, die auf der
Welt nachgefragt werden. Das sind die Produkte, die Arbeitsplätze schaffen. Sagen Sie den Menschen in den
Braunkohlegebieten die Wahrheit, nämlich dass Braunkohle nicht die Zukunft ist.
({10})
Seien Sie mutig, und machen Sie langfristige Politik!
Danke.
({11})
Vielen Dank. - Als nächster Redner hat Dr. Andreas
Lenz von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin
bereits gestern auf den bayerischen Vorschlag in Bezug
auf die Energiewende ausführlich eingegangen.
({0})
Es war zwar gestern nicht Thema, und es ist auch heute
nicht Thema, aber ich möchte betonen, dass aus bayerischer Sicht ein konstruktiver, lösungsorientierter Vorschlag vorliegt, der zu einer Lösung des Problems führen
wird.
({1})
Man muss sich die Stellungnahme zum Netzentwicklungsplan in Gänze anschauen. Darin sind Vorschläge
zur Erdverkabelung, zur Nutzung bestehender Trassen
usw. enthalten. Frau Höhn sagte bereits, dass das Thema
wichtig ist. Es ist ein gesamtgesellschaftliches Thema,
deshalb muss man auch in der gesamten Bandbreite darüber sprechen, seine Tragweite erkennen und verantwortlich darüber diskutieren.
2015 ist ein wichtiges Jahr für den Klimaschutz; Sie
erwähnten es ebenfalls. Im Dezember findet der Weltklimagipfel in Paris statt. Ziel ist es, ein international verbindliches Abkommen zu erreichen. Ebenso finden die
Konferenz für die so wichtigen globalen nachhaltigen
Entwicklungsziele in New York sowie der G-7-Gipfel
auf Schloss Elmau im schönen Oberbayern statt. Bei all
diesen Konferenzen geht es auch und gerade um den Klimaschutz. Allein die Anzahl der internationalen Konferenzen zeigt: Klimaschutz kann nur international funktionieren, oder, wie es Angela Merkel beim Petersberger
Klimadialog sagte: Klimaschutzanstrengungen fallen
leichter, wenn wir wissen, dass die Partner in der Welt
das gleiche Ziel verfolgen.
({2})
Aber auch national müssen wir Anstrengungen unternehmen, und dies tun wir. Wir stehen zu unserem nationalen Klimaschutzziel von 40 Prozent CO2-Minderung
bis 2020. Alles andere wäre ein falsches Signal an unsere Partnerländer und würde an unserer Glaubwürdigkeit zweifeln lassen.
Wir stehen also ausdrücklich zu den nationalen und
europäischen Klimaschutzzielen, und dazu muss auch
der Strombereich einen Beitrag leisten.
({3})
- Dem Klima, Herr Krischer, ist es allerdings egal, in
welchem Bereich die CO2-Einsparungen erfolgen,
({4})
und dem Klima hilft es auch nichts, wenn die deutsche
CO2-Bilanz aufgebessert wird und sich im Gegenzug die
der europäischen Nachbarn verschlechtert.
({5})
Das wäre nämlich bei den derzeitigen Vorschlägen jedenfalls teilweise der Fall.
({6})
Deswegen sind diese Vorschläge nicht automatisch zu
verwerfen, aber man muss sich dieser Wahrheit schon
stellen.
({7})
Eine klug aufgestellte Kapazitätsreserve kann dabei zur
CO2-Minderung beitragen. Das Ziel der Versorgungssicherheit kann so mit dem Ziel der CO2-Minderung
kombiniert werden. In Süddeutschland sind hierfür auch
langfristig besonders effiziente sowie umweltverträgliche Gaskraftwerksblöcke unerlässlich.
Dabei brauchen wir natürlich auch weitere Ideen, wie
CO2-Einsparpotenziale genutzt werden können. So kann
beispielsweise auch die Kraft-Wärme-Kopplung einen
noch stärkeren Beitrag zur CO2-Einsparung leisten.
({8})
Natürlich kostet das auch Geld, aber es macht eben auch
Sinn. Gerade dem Wärmebereich müssen wir hinsichtlich der CO2-Diskussion einen höheren Stellenwert einräumen.
In der EU haben wir bereits ein Emissionshandelssystem. Wir alle wissen, dass dieses momentan nicht die
notwendigen CO2-Einsparziele erreicht. Wir schieben
hier sozusagen immer noch den Überschuss an Zertifikaten, der aus der Finanz- und Wirtschaftskrise entstanden
ist, vor uns her.
Anfang Mai konnte mit der Einigung zur Marktstabilitätsreserve ein erster Erfolg erzielt werden. Durch das
sogenannte Backloading werden CO2-Zertifikate vorübergehend vom Markt genommen. So entsteht wieder
ein wirkungsvoller Anreiz, CO2-Emissionen zu senken.
Je früher also die Marktstabilitätsreserve kommt, desto
besser.
Ich habe es angesprochen: Es ist auch wichtig, auf internationaler Ebene voranzukommen. Natürlich muss
Deutschland Vorbild sein, aber auch große Emittenten
wie die USA oder China müssen ihrer Verantwortung in
der Welt gerecht werden. So emittiert China an einem
Tag 29 Millionen Tonnen CO2 - wohlgemerkt: an einem
Tag! Wir sprechen in Deutschland von 22 Millionen
Tonnen im Jahr. Hoffnung macht allerdings, dass China
angekündigt hat, ab 2016 ein Emissionshandelssystem
einzurichten.
Wir werden auch weiterhin die Schwellen- und Entwicklungsländer beim Kampf gegen den Klimawandel
unterstützen. Deutschland hat seine Ausgaben für den
internationalen Klimaschutz seit 2005 auf gut 2 Milliarden Euro im Jahr 2013 vervierfacht. Die Dekarbonisierung, eine kohlenstoffarme Gesellschaft ist und bleibt
ein Megathema, auch im Sinne der Ressourcenschonung
und Ressourcensicherung.
Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.
Ich komme zum Schluss. - Klimaschutz gelingt allerdings nur gemeinsam, national wie international.
Schauen wir also gemeinsam, dass wir die nationalen
und die internationalen Ziele erreichen!
Herzlichen Dank und schöne Pfingsten.
({0})
Als nächste Rednerin hat Eva Bulling-Schröter von
der Fraktion Die Linke das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr geehrter Herr Minister, Ende März haben wir schon
gestaunt, als aus Ihrem Hause der Vorschlag für einen
Klimabeitrag der ältesten Kohlekraftwerke in den Büros
eintrudelte. Wir haben dazu gesagt: intelligenter Vorschlag, findet unsere Anerkennung, auch wenn wir - das
wissen Sie ja - den gleichzeitigen Beschnitt bei der
KWK nicht akzeptiert haben. Dann haben wir in den Büros Wetten abgeschlossen, wie lange Herr Gabriel durchhalten wird.
({0})
Fast acht Wochen hat er durchgehalten gegen den Widerstand aus der CDU/CSU, seiner SPD und der IG BCE.
Herr Gabriel, Sie haben den Fehler gemacht, der Kohleindustrie genau das abzuverlangen, was sie dem Klima
schuldet, nicht mehr und auch nicht weniger. Im Kompromiss innerhalb der Koalition wird das dann plattgemacht, und es kommt am Ende nichts dabei heraus.
({1})
Nach acht Wochen ist der Minister nun eingeknickt, er
hat seinem schönen Instrument die nordrhein-westfälischen Zähne gezogen. RWE und Eon sagen Danke
schön.
Es geht hier und heute darum, wie lange die großen
Energiekonzerne noch durchgefüttert werden sollen. Wir
wissen es: Irgendwann verabschieden sie sich dann geschickt aus der Verantwortung und hinterlassen uns verwüstete Landschaften und verockerte Flüsse. All das
müssen am Ende die Menschen zahlen, noch Generationen nach uns; es wird bereits diskutiert. Da sagen wir:
Das machen wir nicht mit.
({2})
Dieses kurzsichtige Handeln, meine Damen und Herren
Kohlelobbyisten, bezahlen Ihre und unsere Kinder und
Enkel; sie werden die Kosten der Renaturierung, der
Entgiftung von Trinkwasser und vor allem die Folgen
des Klimawandels tragen. Das dürfen wir einfach nicht
zulassen!
({3})
Jetzt zum Klimabeitrag. Der nun vorgelegte Minibeitrag ist um ein Viertel geschrumpft; dafür wird bei der
Kraft-Wärme-Kopplung etwas draufgelegt: 1,5 Milliarden Euro statt 1 Milliarde Euro jährlich. Ob das genügt,
um die KWK aus der Agonie zu holen, wissen wir noch
nicht, auch nicht, ob mit der KWK der Beschnitt des
Klimabeitrags wettgemacht werden kann; denn das
funktioniert nur, wenn alte, mit Steinkohle befeuerte
Kraft-Wärme-Kopplungs-Anlagen durch neue GasEva Bulling-Schröter
KWK ersetzt werden. Das wäre zu hoffen, ist aber
höchst optimistisch gerechnet, sage ich mal, und in der
derzeitigen Marktsituation total unsicher. Damit sind
auch die 4 Millionen Tonnen CO2-Einsparung, die dadurch erreicht werden sollen, momentan reine Spekulation. Der Verkehrsbereich soll weitere 2 Millionen Tonnen auffangen, 1 Million im Schienenverkehr, 1 Million
durch Elektro-Lkws.
({4})
Wir wissen noch nicht, wie das bis 2020 zu schaffen ist;
die Koalition weiß es auch nicht. Das sind also wirkliche
Luftbuchungen.
Jetzt stehen wir wahrscheinlich wieder vor der Diskussion über die Klimaschutzlücke, wie wir das 40-Prozent-Ziel erreichen wollen mit dem nun aufgeweichten
Klimaschutzbeitrag, der die Stromwirtschaft erst recht
ausnimmt. Ausdrücklicher noch als zuvor will die Bundesregierung nun auch Stilllegungen von uralten Kohlemeilern vermeiden. Ich frage Sie: Bis wann soll das dann
eigentlich passieren? Sogar das RWE-Kraftwerk
Weisweiler Block E von 1965 - wird jetzt 50 Jahre alt und Block F von 1967 - wird in zwei Jahren 50 Jahre alt wollen Sie am Tropf halten, indem Sie den Transport
von Kohle über 150 Kilometer belohnen. Da sagen wir:
Das ist wirklich Unfug.
({5})
Die Menschen, die von dem notwendigen Strukturwandel in den Kohleregionen betroffen sind, hätten von
vornherein besser abgeholt werden müssen. Ich sage
mal, das hat auch die SPD versäumt. Deshalb ist der Widerstand nun auch so groß. Der Wandel muss aber beschleunigt werden; das ist klar. Ich denke, da muss noch
wesentlich mehr getan werden. Wir reden zwar schon;
bloß, es braucht jetzt auch Handlungen. Die Braunkohlenindustrie muss endlich einen angemessenen Beitrag
zum Klimaschutz leisten.
({6})
Es gibt eine Studie des Wirtschaftsministeriums, die
von Ihnen immer noch zurückgehalten wird; diese hätten
wir gerne. Darin steht, dass im Bereich der erneuerbaren
Energien 230 000 Arbeitsplätze neu geschaffen werden
können. Das ist in etwa so viel, wie seit 1990 im Braunund Steinkohlentagebau weggefallen sind. Es gibt also
neue Chancen.
Zum Schluss komme ich noch zur KWK. Die Leute
wollen wissen, wann das KWK-Gesetz kommt. Auch
hier geht es um Arbeitsplätze, und es geht um die Stadtwerke. Ich muss das jetzt nicht durchdeklinieren.
Sie, liebe Frau Kollegin, müssen zum Schluss kommen.
Und wenn ich jetzt höre, dass die CDU die Kohle an
die KWK binden will, muss ich sagen: Das finde ich
vollkommen irrsinnig. Hier muss schnellstens etwas getan werden. Diese offensichtliche Bindung der beiden
muss aufgehoben werden. Die KWK ist wichtig, und
hier muss auch etwas getan werden.
({0})
Als nächster Redner hat Bernd Westphal von der
SPD-Fraktion das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Die Energiewende ist das Megaprojekt - global, aber vor allem auch national. Deutschland steht dabei im Fokus der Betrachtung.
Wir haben die große Chance, unseren Industriestandort zu modernisieren. Es ist dem Wirtschaftsminister
Sigmar Gabriel zu verdanken, dass wir die Energiewende vom Kopf auf die Füße gestellt haben. Mit der
10-Punkte-Energie-Agenda haben wir eine gute Basis
für ein strukturiertes Vorgehen.
({0})
Klar ist aber auch, dass das energiepolitische Zieldreieck
aus Versorgungssicherheit, Umweltverträglichkeit und
Bezahlbarkeit gleichberechtigt gilt.
Mit den nationalen Klimaschutzzielen haben wir uns
als größte Volkswirtschaft Europas mit dem höchsten
Energieanteil sehr ehrgeizige Ziele gesetzt. Die Treibhausgasemissionen sollen bis 2020 national um 40 Prozent gegenüber 1990 reduziert werden. Das ist zehn
Jahre früher als in der gesamten Europäischen Union.
Fakt ist: Alle Sektoren müssen ihren Beitrag leisten. Das
gilt für die Landwirtschaft, für die privaten Haushalte,
für die Industrie, für das Gewerbe, für den Handel, für
den Verkehr und natürlich auch für die Stromerzeugung.
Deren Anteil hat übrigens dazu beigetragen, dass wir
heute dort stehen, wo wir sind. Das ist ein erheblicher Beitrag der Braunkohlenindustrie auch in diesem Bereich.
({1})
Hätten wir CCS, dann wären wir in diesem Bereich
schon viel weiter.
({2})
In unserem Land steigt jedoch der Bedarf an fossiler
Energie. Das liegt an dem früheren Abschalten einiger
Kernkraftwerke. Dies führt aufgrund der notwendigen
CO2-Reduzierung zu einer verschärften Umsetzungsproblematik für die Betreiber fossiler Kraftwerke. Der
Erhalt von sicheren Kraftwerkskapazitäten bei gleichzeitigem Ausstieg aus der Kernenergie und aus der Braun10310
kohle ist mit hohen Risiken verbunden. Die Braunkohle
ist Garant für Versorgungssicherung und Preisstabilität.
Deshalb ist das kurzfristig nicht zu realisieren.
({3})
Trotz aller Schwierigkeiten werden wir in Deutschland die Reduktion bis 2020 sichern. Dabei bin ich mir
durchaus bewusst, dass wir das natürlich nicht mit
Scheuklappen machen dürfen. Wir dürfen jetzt nicht im
Affekt handeln und unüberlegte Dinge tun, die weiterführende Folgen haben. Deswegen nehmen wir die aktuellen Sorgen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer aus der Bergbau- und Energiewirtschaft sehr ernst,
und wir haben uns immer offen für den Dialog gezeigt.
Wir müssen bei unserem Handeln immer die Auswirkungen auf Energiepreise und auf Arbeitsplätze im Auge
behalten. Das nennen wir bei der SPD „soziale Verantwortung“.
({4})
Ebenso müssen Kapazitäten für die Stromerzeugung
und -verteilung jederzeit zur Verfügung stehen. Engpässe kann sich Deutschland als Industriestandort nicht
leisten. Wenn wir die Industrie, das Handwerk, den Handel und das Gewerbe aus dem Land treiben, dann wird
das für das Klima nichts bringen.
({5})
Wichtig ist, dass wir auch weiterhin Vorreiter bei der
Energiewende und Technologieführer bleiben. Nur so
können wir anderen Ländern als Vorbild dienen. Die
Energiewende wird aber nur dann als gutes Beispiel taugen und global Nachahmer finden, wenn wir unsere Industrie und den Mittelstand, die für Wertschöpfung sorgen und Arbeits- und Ausbildungsplätze zur Verfügung
stellen, nicht verlieren. Auch Strukturbrüche in den
Braunkohlenrevieren müssen wir verhindern. Hier geht
es um Strukturwandel ohne sozialen Kahlschlag.
Mit dem Kabinettsbeschluss am 3. Dezember letzten
Jahres wurde der Fahrplan für das weitere Vorgehen bei
der CO2-Reduzierung beschlossen.
({6})
Damit sollen die Klimaschutzziele erreicht werden. Ich
bin mir sicher, dass die Gespräche des Wirtschaftsministers mit allen Akteuren, die in den letzten Wochen sehr
intensiv geführt worden sind, auch zielführend waren.
Erste Modelle liegen auf dem Tisch. Diese werden wir
genau überprüfen. Dazu gehört aber auch Offenheit für
neue Technologien, eine Offenheit für technische Intelligenz, zum Beispiel im Hinblick auf die Steuerung von
Gebäudeheizungen oder -kühlungen, mehr KWK, mehr
Mobilität oder den Einsatz von CO2 als Rohstoff bei der
Herstellung von Methan. All das sind neue Technologien, die man nutzen kann, um die CO2-Emissionen zu
reduzieren.
Das Verknüpfen von Einsparungen beim Energieverbrauch, der Erhalt von sicheren Kraftwerkskapazitäten
und der Ausbau der erneuerbaren Energien sind für das
Gelingen der Energiewende von entscheidender Bedeutung. Wir werden uns weiterhin für das Erreichen der
Klimaschutzziele einsetzen.
({7})
Dabei geht es nicht um Kohleausstieg, sondern um die
Reduzierung der CO2-Emissionen. Herr Minister, Sie
können auf dem von mir beschriebenen Weg mit unserer
Unterstützung rechnen.
Herzlichen Dank.
({8})
Vielen Dank. - Als nächster Redner hat Andreas Jung
von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Kollegin Bärbel Höhn, wir alle sind beim Klimaschutz und bei der Energiewende mit Herzblut und Emotionen bei der Sache. Da das so ist, kann man im Eifer
des Gefechts auch mal wesentliche Tatsachen übersehen,
ob es ein Minister auf der Regierungsbank ist
({0})
- das war die charmante Formulierung, die mir dazu eingefallen ist - oder aber ganz eindeutige Äußerungen der
Bundeskanzlerin im Klimadialog in dieser Woche. Diese
Äußerungen sind mindestens so unübersehbar wie
Sigmar Gabriel auf der Regierungsbank.
({1})
Deshalb will ich hier einfach erwähnen, was sie am
19. Mai, am Dienstag dieser Woche, beim Petersberger
Klimadialog gesagt hat, zu dem die Bundesregierung
eingeladen hatte.
Die Kanzlerin hat sich glasklar zu dem nationalen
Ziel Deutschlands bekannt, die CO2-Emissionen bis
2020 um 40 Prozent zu reduzieren.
({2})
Sie hat gesagt, wir hätten den Ehrgeiz, das zu erreichen.
Sie hat zweitens gesagt, um das zu erreichen, habe
die Bundesregierung ein Aktionsprogramm vorgelegt. In
diesem Aktionsprogramm - so die Bundeskanzlerin seien zusätzliche Maßnahmen in den Bereichen Verkehr,
Gebäude, Stromerzeugung - dazu gehört die Kohle -,
Industrie sowie Abfall- und Landwirtschaft mit konkreten Minderungsbeiträgen enthalten. Das hat sie eindeutig
gesagt. Sie hat dazu gesagt, dass wir noch darum ringen,
aber mit Hochdruck - so ihre Worte - an der Umsetzung
arbeiten, da wir noch nicht am Ziel seien.
Darum geht es: Wir sind im Moment noch nicht am
Ende der Debatte. Sie kommentieren einen Zwischenstand, der gar nicht vorliegt. Ich lade uns alle dazu ein,
uns mit Vehemenz dafür einzusetzen, dass dieses Aktionsprogramm umgesetzt wird, um mit den Maßnahmen
die Klimaschutzziele zu erreichen.
({3})
Darum ringen wir; die Unionsfraktion und die Koalition
stehen dahinter. Darum geht es. Deshalb will ich Ihre
Kritik zurückweisen. Es gab eine klare Stellungnahme.
({4})
Ich will auch sagen, dass sie in diesem Kontext auch
die EU-Ziele angesprochen hat und ganz ausdrücklich
gesagt hat, dass das, was beschlossen wurde, nämlich die
Reduktion der Treibhausgasemissionen um mindestens
40 Prozent bis 2020, eben gerade offenlasse, ob man
über die 40 Prozent hinausgehe. Sie hat da auf das - Zitat - „Wörtchen ‚mindestens‘“ hingewiesen. Diese Dynamik brauchen wir auch in diesem Jahr.
Sie hat auch den Emissionshandel angesprochen und
hat sich klar zu seiner Reformbedürftigkeit bekannt, hat
sich für eine weltweite Transformation zu einer kohlenstofffreien Wirtschaft ausgesprochen und hat bei alldem
die Vorreiterrolle der Bundesrepublik Deutschland unterstrichen.
Insofern bitte ich darum, dass wir bei allem, was wir
diskutieren, die Fortschritte zur Kenntnis nehmen. Diese
Fortschritte gibt es etwa im Bereich der Klimafinanzierung. Auch da hat die Regierung sich klar zu den Verabredungen von Kopenhagen bekannt, die weitgehend
sind. Sie beinhalten, dass 100 Milliarden US-Dollar aus
öffentlichen und privaten Quellen für die Klimafinanzierung international zur Verfügung gestellt werden müssen.
({5})
Die Bundeskanzlerin hat am Dienstag angekündigt, dass
Deutschland den Beitrag, der seit 2005 schon vervierfacht wurde, bis 2020 verdoppeln will. Das sind klare
Worte. Das sind die Taten, auf die Sie hingewiesen haben, und da liefert die Bundesregierung.
({6})
Das alles sind Schritte, die wir in diesem Jahr gehen.
Wir wissen, dass 2015 ein wichtiges Jahr für Nachhaltigkeit und für Klimaschutz ist. Alles ist ausgerichtet auf
die Klimakonferenz in Paris Ende des Jahres. Bis dahin
müssen die Ergebnisse vorliegen; darauf richten sich unsere Anstrengungen. Ich lade Sie dazu ein, dann die Ergebnisse zu kommentieren. Unser Ansporn ist es, hier
Fortschritte zu erreichen. Das 40-Prozent-Ziel muss erreicht werden. Wir haben das Aktionsprogramm, und
wir arbeiten an der Minderung des CO2-Ausstoßes bei
der Stromerzeugung; dazu gehört auch der Klimabeitrag
der Braunkohle.
Vielen Dank.
({7})
Vielen Dank. - Als nächster Redner hat Harald
Petzold von der Fraktion Die Linke das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Liebe Besucherinnen und Besucher auf
den Tribünen! Die Linke steht genauso wie die Grünen,
die die heutige Aktuelle Stunde beantragt haben, für
mehr Klimaschutz.
({0})
Das kann ich auch aus Brandenburger Sicht mit Fug und
Recht sagen. Denn wir haben uns nicht nur aufgrund unseres Anspruchs, im Klimaschutz weiter voranzukommen, in Brandenburg für eine wirkliche Energiewende
eingesetzt. Seit wir dort an der Regierung beteiligt sind,
seit 2009, ist es tatsächlich auch gelungen, neue Akzente, neue Schwerpunkte zu setzen.
({1})
Brandenburg hat in der Energiestrategie den Hauptschwerpunkt eindeutig auf den vorrangigen Ausbau der
erneuerbaren Energien gesetzt und ist seit 2009 dreimal
hintereinander - zumindest die SPD-Kollegen müssten
jetzt mitklatschen - mit dem Leitstern für das Bundesland ausgezeichnet worden,
({2})
das den Ausbau der erneuerbaren Energien am weitesten
vorangebracht hat.
({3})
Das ist ein Fakt, der sich nicht wegdiskutieren lässt und
der deutlich macht, dass Klimaschutz bei uns in Brandenburg großgeschrieben wird.
Zweiter Schwerpunkt der Energiestrategie sind Energieeinsparung und Energieeffizienz. Auch da müssten
die Kolleginnen und Kollegen von der SPD, zumindest
die aus Brandenburg, mitklatschen, weil damit sehr
wichtige Modellprojekte auf den Weg gebracht worden
sind. Ich erinnere an Forst, wo es den Versuch gab, mit
intelligenten Stromzählermodellen ein neues Verbrau10312
Harald Petzold ({4})
cherverhalten anzureizen und auf Energieeinsparung und
effizienteren Umgang zu setzen.
({5})
Der dritte Schwerpunkt ist die Energiespeicherung.
Auch da müssten die Kolleginnen und Kollegen von der
SPD mitklatschen.
({6})
Ich erinnere an „Power to Gas“ und an die Bemühungen
der Gemeinde Feldheim um Unabhängigkeit in der Energieversorgung. All das ist in Brandenburg auf den Weg
gebracht worden.
Ein weiteres Stichwort lautet „Mobilitätswandel“. Und
es gibt regionale Energiekonzepte, die vor allen Dingen
darauf setzen, Potenziale in den Regionen zu ermitteln,
Reserven im Ausbau der erneuerbaren Energien zu erschließen und insbesondere Menschen mitzunehmen auf
dem Weg der Energiewende.
({7})
Damit bin ich bei dem, worum es heute auch gehen
soll, nämlich bei den Vorschlägen, die Herr Wirtschaftsminister Gabriel gemacht hat. Der Kollege Westphal hat
hier gesagt, die Energiepolitik sei wieder vom Kopf auf
die Füße gestellt worden, und er hat dann das strategische Dreieck zitiert. Wir sind der Auffassung, dass mindestens von einem strategischen Viereck geredet werden
muss. Wenn wir nämlich Versorgungssicherheit, Bezahlbarkeit und Umweltverträglichkeit haben wollen, dann
werden wir auch Akzeptanz in der Bevölkerung haben
müssen. Deswegen kann ich alle nur warnen, diesen
wichtigen Punkt zu übersehen.
({8})
Die Art, wie der Wirtschaftsminister seine Vorschläge
in die Öffentlichkeit gebracht hat - ich habe mich von
Anfang an gefragt, ob er das tatsächlich zumindest mit
seinen SPD-Ministerpräsidenten vorher besprochen
hat -,
({9})
macht deutlich, dass wir mit dem Gegenstand Klimaschutz auf der einen Seite und den Sorgen und Existenzängsten der Menschen auf der anderen Seite, egal ob in
Nordrhein-Westfalen oder in der brandenburgischen
Lausitz, nicht verantwortungsvoll umgehen. Denn mit
einer solchen Politik - erst einen Versuchsballon starten
lassen, die Lippen spitzen und dann nicht pfeifen, alles
schrittweise wieder zurücknehmen und im Endeffekt
deutlich machen, dass es eigentlich wieder nur darum
geht, Wirtschaftsinteressen zu bedienen - treiben Sie sowohl die Gegner als auch die Befürworter der Kohlekraftwerke in Scharen auf die Straße. Wir müssen uns
nicht wundern, wenn bei denen der Eindruck entsteht,
dass das eine gegen das andere politisch durchgesetzt
werden soll. Das ist keine verantwortungsvolle Energiepolitik.
({10})
Deswegen sagen wir als Linke: Wir setzen uns dafür
ein, dass nicht so ein Flickwerk betrieben wird. Unser
sinnvoller Alternativvorschlag ist ein präziser und gestalteter Abschaltplan, ist ein nationales Kohleausstiegsgesetz,
({11})
durch das sowohl die Regionen und ihre Einwohnerinnen und Einwohner als auch die Unternehmen und Beschäftigten die benötigte Planungssicherheit bekommen
und in den nächsten Jahren bis 2040 tatsächlich das
letzte Kohlekraftwerk vom Netz gehen kann.
({12})
Das wäre eine klare Alternative zu dem Tohuwabohu,
das die Bundesregierung im Moment anbietet. Dafür
steht die Linke. Ich denke, das wäre ein guter Beitrag
zum Klimaschutz.
Vielen Dank.
({13})
Vielen Dank. - Für die Bundesregierung hat jetzt der
Bundesminister Sigmar Gabriel das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich weiß
nicht, ob es Ihnen aufgefallen ist, aber der Redebeitrag
von Herrn Petzold meinte das präzise Gegenteil von
dem, was Frau Bulling-Schröter vorher für die Linke gesagt hat.
({0})
Frau Bulling-Schröter hat gesagt: Ihr macht viel zu wenig Klimaschutz, ihr müsst viel mehr Braunkohlenkraftwerke abschalten.
({1})
- Herr Petzold, ich kenne Ihre Positionen vor Ort. Vor
Ort in der Lausitz und in Brandenburg sind Sie vorneweg beim Kampf für den Erhalt des Braunkohlentagebaus,
({2})
übrigens aus meiner Sicht aus nachvollziehbaren Gründen.
({3})
- Ich kann nichts dafür, dass Sie vor mir reden. Sie können gerne nach mir reden.
({4})
Sie können hier jede Frage an mich stellen. Ich unterbreche meine Rede sofort. Ich komme zu Ihnen in den
Ausschuss, wo auch immer Sie mit mir diskutieren wollen. Aber ich kann nicht zulassen, dass Sie immer mit
doppelter Zunge sprechen.
({5})
Da finde ich die Positionen der Grünen wesentlich
konsequenter und klarer.
({6})
Bei Ihnen ist es so, dass Sie vor Ort immer erklären, dass
viel zu viel Klimaschutz betrieben wird, und sich hier im
Bundestag Frau Bulling-Schröter hinstellt und sagt: Es
muss viel mehr passieren.
({7})
Zweitens wollte ich auf ein paar Sachverhalte hinweisen.
({8})
- Nun laden Sie mich doch ein. Wenn Sie mit mir debattieren wollen, komme ich herzlich gern. Denn ich halte
etwas von Volksaufklärung und bin gegen Volksverdummung.
({9})
- Ich kann schon verstehen, warum Sie unruhig werden.
Die Frage der Grünen bezieht sich auf die Haltung der
Bundesregierung zur Änderung der Klimaschutzziele im
Bereich der alten Kohlekraftwerke. Die Antwort lautet:
Die Haltung hat sich nicht geändert. Es gibt einen Beschluss des Kabinetts vom 3. Dezember 2014, der klar
besagt, was wir zusätzlich machen müssen - unter anderem ein Beitrag aus der Stromwirtschaft, 22 Millionen
Tonnen CO2 einzusparen -, damit wir das nationale Klimaschutzziel 2020 erreichen.
Jetzt gibt es dazu drei Vorschläge. Den ersten haben
Sie zitiert. Das ist der Vorschlag unseres Hauses zur Einführung eines Klimabeitrags. Es ist überhaupt nicht so,
dass sich der Klimabeitrag geändert hat. Einer der Kritikpunkte war, die prognostizierten Strompreise seien zu
hoch und deswegen sei der Klimabeitrag zu hoch. Da haben wir gesagt: Das ist doch ganz einfach: wenn, dann.
Wenn die Strompreise niedrig sind, kann der Klimabeitrag sinken, steigen die Strompreise, steigt der Klimabeitrag. Das ist ganz logisch. Es gibt überhaupt keine Änderung des Vorschlags.
Es gibt einen zweiten Vorschlag. Wer übrigens glaubt,
der Vorschlag habe zum Inhalt, dass Braunkohlenkraftwerke abgeschaltet werden sollen, der lobt zwar den
Vorschlag, hat ihn aber nicht gelesen. Genau das ist ja
der Streit zwischen den Unternehmen, den Gewerkschaften und uns. Die Unternehmen sagen: Euer Vorschlag
führt zu einer Zwangsstilllegung von Braunkohlenkraftwerken. Wir sagen: Das stimmt gar nicht. Wir wollen
nur in der Merit Order alte ineffiziente Braunkohlenkraftwerke hinter moderne Steinkohlenkraftwerke schieben und damit etwas weniger laufen lassen. Das ist eigentlich der Vorschlag. Wir wollen gar nicht abschalten.
Dazu sagen aber die Unternehmen: Das führt zu einer
Zwangsabschaltung. Das hat sofort Arbeitsplatzverluste
und Strukturabbrüche zur Folge und keinen Strukturwandel.
Ich habe die Debattenbeiträge von Frau Höhn und
von Herrn Krischer immer so verstanden, dass sie wissen, dass man Strukturwandel begleiten muss. Ich habe
die Grünen nie so verstanden, dass ihnen dieses Argument egal ist. Ich finde, es ist doch ganz logisch, dass
man dem Argument nachgehen muss. Man kann nicht
einfach dickfellig sagen: „Jetzt haben wir einen Vorschlag gemacht, unsere Gutachter sagen, dass das alles
kein Problem ist“, und wenn die Unternehmen und die
Gewerkschaften sagen: „Doch, das ist ein Riesenproblem“, antworten, dass uns das nicht interessiert. Vielmehr müssen wir diesem Argument der Unternehmen
und der Gewerkschaften nachgehen. Das geht doch gar
nicht anders. Das machen wir auch.
({10})
Es gibt zwei Alternativvorschläge dazu. Der erste
Vorschlag ist - das wird auch von Ihnen vertreten -, die
Kraft-Wärme-Kopplung kräftig auszubauen; das sei effizient und gut. Dabei gibt es ein Problem: Der Zubau
neuer Kraftwerke auf einem Markt mit Überkapazitäten
führt nicht zur CO2-Reduktion. Es führt vielmehr zu dessen Anstieg und zu einer Zunahme der Stromexporte.
Das ist das Problem bei diesem Vorschlag.
Deswegen sind wir dafür, das anders zu machen: Wir
wollen alte und ineffiziente Steinkohlen-KWK-Kraftwerke stilllegen und stattdessen moderne Gas-KWKKraftwerke bauen. Das wollen wir bezuschussen. Das
führt übrigens zu deutlich höheren KWK-Umlagen. Das
wird uns allen wiederbegegnen, wenn uns der Mittelstand fragt, warum die Abgaben steigen.
({11})
- Dazu komme ich gleich. Ich will nicht weg von der
Braunkohle. So einfach will ich es Ihnen nicht machen,
Herr Krischer, dass ich dazu nichts sage.
Was KWK angeht, muss man wissen, dass man auf einem Markt mit Überkapazitäten nicht einfach weitere
Kraftwerke bauen kann, sondern es geht um die Stilllegung alter Steinkohlen-KWK-Kraftwerke. Sie haben,
glaube ich, gesagt, Sie glauben nicht, dass das möglich
ist. Fahren Sie doch einmal nach Kiel! Das ist das beste
Beispiel dafür. Das Modell Kiel steht dafür Pate.
Das geht nicht unbegrenzt. Ich glaube, dass wir damit
mindestens 4 Millionen Tonnen CO2 einsparen können.
Damit wird die Steinkohle einen nicht unerheblichen
Beitrag leisten. Ich glaube, dass das sinnvoll ist.
Darüber hinaus wird es, glaube ich, schwierig. Die industrielle KWK kann man sicherlich auch noch ausbauen. Es ist nicht so, dass man gar nichts machen kann.
Sie haben die Stadtwerke angesprochen, Frau
Bulling-Schröter. Was wollen wir machen, um die Stadtwerke zu retten? Ich habe es schon zweimal gesagt: Wir
wollen den Bestand an KWK fördern.
({12})
Das haben wir in den Papieren und Vorschlägen festgehalten. Eine Bestandsförderung gibt es nämlich bisher
nicht. Wir wollen gasbetriebene KWK fördern. Deswegen haben die Stadtwerke unseren Vorschlag gelobt. Genau deswegen haben sie ihn als guten Vorschlag bezeichnet.
Jetzt komme ich zu dem dritten Teil des Alternativvorschlags, der lautet - ich übersetze das einmal -: Verzichtet auf den Klimabeitrag! Legt die Braunkohlekraftwerke schrittweise still! Das ist eigentlich das, was die
Grünen immer wollten. Wir werden sehen, ob das möglich ist. Ich kann das noch nicht beantworten.
Festzustellen ist aber: Am 24. November des vergangenen Jahres habe ich die EVUs, auch den BDEW, eingeladen. Ich habe ihnen mitgeteilt, dass wir ein Problem
haben und 22 Millionen Tonnen zusätzlich einsparen
müssen, und ein Gespräch über mögliche Maßnahmen
vorgeschlagen. Die Antwort der EVUs, an der Spitze der
BDEW, war: Wir wollen nicht mit Ihnen darüber
reden. - Es gab eine Verweigerungshaltung der Branche.
({13})
Dann haben wir vorgeschlagen, dass sie Alternativen
vorlegen, damit wir darüber reden können. Daraufhin ist
monatelang nichts passiert. Jetzt liegt seit ungefähr einer
Woche ein Alternativvorschlag vor, der von der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie vorgetragen
wurde. Das halte ich für einen Riesenfortschritt. Übrigens war die IG BCE, anders als die Unternehmen, immer gesprächsbereit.
({14})
Es ist wirklich nicht fair, wie Sie von der Linkspartei
manchmal über sie reden. Die IG BCE hat von Anfang
an gesagt: „Wir haben Angst um die Jobs und vor Strukturbrüchen, aber wir wissen, dass wir das Klimaschutzziel erreichen müssen“ und vorgeschlagen, über Alternativen zu sprechen.
({15})
Vorhin haben Sie die Gewerkschaften verteidigt. Ich
wäre an Ihrer Stelle ein bisschen vorsichtig und würde
mich erst einmal fragen, ob die Reden von vor zwei
Stunden noch mit dem übereinstimmen, was jetzt gesagt
wird.
({16})
- Hören Sie auf! Ich bin wahrscheinlich schon länger in
der IG Metall, als Sie zurückdenken können. Ich weiß,
wovon ich rede, wenn ich über Gewerkschaften spreche.
({17})
Ich hätte zumindest zu dem Tarifeinheitsgesetz heute
Morgen gerne etwas gesagt. Das erspare ich mir jetzt.
({18})
- Nein, die IG Metall ist im Gegensatz zu Herrn Ernst
für das Tarifeinheitsgesetz.
({19})
Die IG BCE schlägt also vor, zu überlegen, wie wir zu
einer schrittweisen Stilllegung von Kraftwerken kommen, damit die Last nicht auf allen Kraftwerken liegt.
Das ist ihr Argument. Ich finde, wir müssen jetzt prüfen,
ob das möglich ist. Aber es ist doch ein Riesenfortschritt, dass wir inzwischen nicht mehr über die Frage
reden, ob wir das erreichen können, sondern dass alle sagen: Ja, wir müssen es erreichen. - Ich finde, das ist aller
Ehren wert. Es ist nichts vom Tisch genommen worden,
sondern Gott sei Dank etwas hinzugekommen.
Mein Angebot ist: Lassen Sie uns im Ausschuss über
diese Fragen reden und sie substanziell prüfen. Denn ich
glaube, dass alle Vorschläge Vor- und Nachteile haben.
Ich halte nach wie vor den bei uns entwickelten Vorschlag
für den volkswirtschaftlich günstigsten. Ich glaube, dass
die Vorschläge, die jetzt dazukommen, am Ende teurer
werden. Aber wenn es mehr kostet, Strukturbrüche zu
vermeiden und das gleiche Ziel zu erreichen, dann bin
ich auch bereit, das mitzutragen.
({20})
Wenn alle der Meinung sind - Frau Höhn hat das auch
gesagt -: Deutschland muss Initiative zeigen, damit andere mitmachen, dann ist dieses Argument richtig. Es
geht schließlich nicht darum, ob wir mit 40 Prozent CO2Einsparung die Welt retten, sondern darum, zu zeigen:
Ambitionierter Klimaschutz ist mit dem volkswirtschaftlichen Wohl vereinbar.
Ich glaube, es gehört auch dazu, dass man Strukturbrüche vermeiden muss. Noch einmal: Ich habe immer
gesagt, dass ich glaube, dass wir gar nicht stilllegen müssen. Die Politik darf aber nicht so arrogant sein, zu sagen: Wir wissen alles besser als die Unternehmen, die
Gewerkschaften und die Betriebsräte. - Ich glaube, dass
wir denen zuhören müssen. Wenn die einen Vorschlag
machen, mit dem dasselbe Ziel erreicht werden kann, der
Vorschlag aber möglicherweise mit höheren Kosten verbunden ist, dann muss man die Vermeidung von Strukturbrüchen und die Begleitung des Strukturwandels gegen die möglicherweise höheren Kosten abwägen.
Noch einmal: Es ist nichts vom Tisch, sondern es ist
etwas Neues auf den Tisch gekommen. Ich bin der IG
BCE sehr dankbar dafür. Die hat dafür gesorgt, dass es
überhaupt so weit gekommen ist. Die Unternehmen hatten sich nämlich verweigert.
Wenn Sie, Frau Höhn, befürchten, dass wir am Ende
einen pflaumenweichen Vorschlag machen, der keine
Substanz hat, und dass wir uns durchmogeln, dann sage
ich Ihnen: Lügen haben kurze Beine. Das bringt gar
nichts. Das ist nicht mein Ziel, auch nicht das Ziel der
Kanzlerin.
Meine Bitte ist: Lassen Sie uns einfach im Ausschuss
weiter reden oder eine Debatte hier oder wo immer Sie
wollen, führen, um zu überprüfen, welcher dieser Vorschläge, die es jetzt gibt, welche Konsequenzen hat. Ich
bin sicher, dass wir noch Bundestagsreden halten werden, in denen wir versuchen werden, zu zeigen, dass wir
unterschiedlicher Meinung sind; aber es könnte sein,
dass wir außerhalb des Plenarsaals sagen: Das ist ganz
gut, wie wir das miteinander machen.
Hier im Raum sitzen doch in Wahrheit die Abgeordneten des Bundestages, die an dem Ziel Klimaschutz ein
Rieseninteresse haben und die sich, solange ich das verfolge - das sind nun auch schon einige Jahre; seit 2005
tue ich das -, immer dafür eingesetzt haben - ich denke
an Herrn Jung und andere -, solche Ziele zu erreichen.
Lassen Sie uns also nicht so tun, als wären wir ganz weit
voneinander entfernt. Es geht eigentlich um die richtigen
Instrumente. Ich finde es eine schöne Entwicklung, dass
wir jetzt nicht nur einen, sondern drei Vorschläge haben.
Jetzt wollen wir einmal schauen, wie wir damit umgehen. Ich finde, man kann eigentlich ganz entspannt in die
Pfingstpause gehen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({21})
Vielen Dank. - Als nächster Redner hat Oliver
Krischer von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das
Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Minister Gabriel, der Pfingstgeist scheint schon
heute auf Sie heruntergekommen zu sein.
({0})
Ich finde es gut, dass Sie uns anbieten, dass wir uns
über verschiedene Instrumente unterhalten. Das tun wir
Grüne. Wir legen Ihnen seit anderthalb Jahren zu diesem
Thema Vorschläge vor. Wir haben versucht, eigene Vorschläge mit Ihnen hier zu diskutieren. Das war alles
nicht möglich. Einmal ehrlich: Ihr Problem sind doch
gar nicht wir Grüne. Ihr Problem sind auch nicht die aus
Brandenburg. Ihr Problem sind doch die auf der rechten
Seite des Hauses. Genau genommen sitzt das Problem
im Moment nicht da. Das ist die energiepolitische Todeszone: Bareiß, Fuchs, Pfeiffer.
({1})
Das sind die, die alles versenken und alles gar nicht wollen. Die sind gar nicht hier. Die wollen gar nicht darüber
reden. Die sagen öffentlich: Wir wollen keinen Kohlebeitrag. - An dieser Stelle - das ist Ihr politisches Problem - drohen Sie, Herr Gabriel, umzukippen.
Sie sind gerade über eines nonchalant hinweggegangen. Ihr Vorschlag ging dahin, 22 Millionen Tonnen einzusparen. Jetzt senken Sie den Beitrag der Kohle auf
16 Millionen Tonnen ab und sagen: Wir wollen etwas
mit der Kraft-Wärme-Kopplung machen. - Den Beitrag
der Kraft-Wärme-Kopplung haben Sie aber schon an einer anderen Stelle verbucht, nämlich bei 70 Millionen
Tonnen. Die Differenz, 48 Millionen Tonnen, kommt
hinzu. Darin ist die Kraft-Wärme-Kopplung enthalten.
Jetzt kommen Sie mit abenteuerlichen Vorschlägen
und bringen den Güterverkehr und die Elektromobilität
ins Spiel. Das ist ein spannendes Zukunftsthema, wird
aber vor 2020 keine Rolle spielen. Das ist eine reine
Luftbuchung, das erinnert an Science Fiction. Das ist
kein seriöser Beitrag zum Klimaschutz.
({2})
Lassen Sie uns ehrlich darüber reden. Wir können
gerne die Debatte darüber führen, ob wir alte Kraftwerksblöcke stilllegen. Damit habe ich als Grüner überhaupt kein Problem. Ich halte es nämlich für völlig
unverantwortlich, dass wir in Deutschland Kraftwerksblöcke haben, die 50 Jahre alt sind. Wenn jemand von
Ihnen so etwas privat im Keller als Heizung hätte, dann
käme sofort der Schornsteinfeger und würde das stilllegen. Bei RWE aber lassen wir das zu.
({3})
Wenn jetzt die Debatte darauf hinausläuft, dass wir uns
über Kraftwerksblöcke unterhalten, dann können wir das
gern tun.
Herr Gabriel, Sie haben gesagt, man solle den Unternehmen zuhören. Ich tue das. Ich habe da viel gehört
- auch von den Gewerkschaften -: von 70 000 Arbeitsplätzen, von 100 000 Arbeitsplätzen. Ich finde es gut,
dass Sie das alles hier nicht wiederholt haben. Das war
unseriöses Untergangsgeschrei, das mit irgendeinem
Kohlebeitrag zum Klimaschutz nichts zu tun hat. Das
muss man an dieser Stelle auch einmal klar sagen.
({4})
Ich hätte mir von der IG BCE und von Verdi gewünscht, dass man einmal über die Frage redet, wo
durch die Braunkohleverstromung Arbeitsplätze vernichtet werden. Der wegen des Emissionshandels künstlich subventionierte billige Braunkohlestrom verdrängt
Strom aus Gaskraftwerken, verdrängt die Kraft-WärmeKopplung - das haben Sie eben selber gesagt - und vernichtet Arbeitsplätze bei Stadtwerken, bei der Produktion von Strom aus erneuerbaren Energien.
({5})
Wenn Gewerkschaften über Arbeitsplätze reden, dann
müssen wir über alle Arbeitsplätze reden; denn die sind
in meinen Augen gleichwertig. Es kann nicht sein, dass
in der Braunkohleindustrie ein Arbeitsplatz wertvoller
ist.
Ich habe in dieser Woche ein Fernsehinterview mit
Peter Terium gesehen. Ich muss offen sagen: Da hat es
mir den Schuh ausgezogen. In diesem Interview hat der
Mann erklärt, dass es keine Atomrückstellungen mehr
gäbe. Im Klartext - ich übersetze das mal -: Die hat er
verzockt. Dann hat er gesagt: Das muss jetzt wieder verdient werden, damit wir die Atomrückstellungen bedienen können. Dazu brauchen wir die Braunkohlekraftwerke. - Da sage ich: Das kann nun wirklich nicht sein.
({6})
Bei der Braunkohleverstromung entstehen auch Altlasten, die in der Bilanz von RWE stehen und die bezahlt
werden müssen. Man kann nicht eine Altlast durch eine
andere bezahlen. Das geht nicht. Das müssen am Ende
die Menschen im rheinischen Revier bezahlen, wenn sie
jahrhundertelang für Pumpkosten oder sonstige Altlasten
aufkommen müssen. Was den Beitrag zur Sicherung der
Rückstellungen für die Kosten der Atomenergie angeht,
müssen wir eine ganz andere Debatte führen. Auch da
würde ich mir konkrete Vorschläge von Ihnen wünschen.
Herr Beckmeyer hat hier in der Fragestunde rumgeeiert.
Es wäre gut, wenn dazu einmal eine Antwort von ihm
käme; denn die Energiekonzerne selber verknüpfen ja
offensichtlich diese Themen. Daher haben wir an der
Stelle noch eine spannende Debatte zu führen.
({7})
Was ich in dieser Woche am allerschlimmsten fand
- das muss ich ganz offen sagen; das geht an die Kollegen der Union -, war, wie sich die Bundeskanzlerin auf
dem Petersberger Klimadialog dargestellt hat: Ich bin
die Weltretterin. Ich gehe nach vorne. Wir in Deutschland wollen den Klimaschutz. - Anderswo vorangehen
und im eigenen Land auf der Bremse stehen, sich nicht
klar bekennen. Ein einziger Satz hätte genügt: Diese
22 Millionen Tonnen müssen von der Kohleindustrie erbracht werden; über das Instrument kann man diskutieren. - All das kommt an dieser Stelle nicht von der Bundeskanzlerin.
({8})
Jemand - das sage ich deutlich -, der auf dieser Welt
Vorreiter sein will, der in Paris, in Elmau und bei allen
anderen Konferenzen vorne stehen will, kann im eigenen
Land nicht hingehen und nur auf der Bremse stehen,
nichts zu den Themen sagen, die eigenen Wadenbeißer
nach vorne schicken, die alles kaputtmachen, oder einen
Braunkohleajatollah wie Armin Laschet, der plötzlich
der größte Retter der Kohle in Nordrhein-Westfalen ist.
Das kann keine CDU-Politik sein.
({9})
Gehen Sie einmal in sich. Reden Sie mit Ihrer Bundeskanzlerin. Wenn Deutschland eine Vorreiterrolle beim
Klimaschutz haben soll, dann wird sich diese Politik ändern müssen.
Herr Kollege Krischer, Sie müssen zum Schluss kommen.
Ich danke Ihnen.
({0})
Als nächster Redner hat Ulrich Petzold von der CDU/
CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Herzlichen Dank. - Frau Präsidentin! Sehr geehrte
Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Minister! Wieder einmal eine Aktuelle Stunde der
Grünen, die keine Sternstunde unseres Parlamentes ist.
Die Kassandrarufe, die wir heute hier wieder hören, sind
schon uralt. Deswegen muss ich ehrlich sagen: Ich hätte
hier wenigstens ein paar Konzepte erwartet,
({0})
nicht nur immer: „Nein“, „Das wollen wir nicht“, „Das
geht nicht“, „Was der Minister jetzt aushandelt, ist der
Untergang des Abendlandes“. Wenn man den heutigen
CO2-Ausstoß immer wieder mit dem in den Jahren 2008/
2009 vergleicht oder die Jahre des wirtschaftlichen Wiederaufbaus nach der Rezession 2008/2009 einrechnet,
dann ergibt sich ein schiefes Bild. Lassen Sie uns doch lieber einmal das Jahr 2014 betrachten und das, was da passiert ist. Zusammengefasst: Im Jahr 2014 sank der Stromverbrauch bei einer wachsenden Wirtschaftsleistung von
1,4 Prozent gegenüber dem Vorjahr um 3,8 Prozent.
({1})
Zugleich sank die Stromerzeugung aus fossilen Energien
- jetzt hören Sie einmal genau zu - gegenüber 2013 um
7 Prozent,
({2})
sodass nur noch etwa die Hälfte der Stromerzeugung aus
fossilen Energieträgern stammt. Der Anteil der erneuerbaren Energien ist im Jahresvergleich trotz sinkender
Einspeisung aus der Wasserkraft von 25 Prozent auf
28 Prozent gestiegen. Entschuldigung, aber das sind
doch Erfolge.
Der sinkende Anteil der Erzeugung aus fossilen Energien schlägt sich auch im um 4,3 Prozent und damit um
41 Millionen Tonnen verringerten CO2-Ausstoß nieder.
2014 wurden in Deutschland von Haushalten, Gewerbe,
Industrie, Verkehr, Land- und Energiewirtschaft nur
noch 912 Millionen Tonnen CO2 emittiert. 1990 lag der
Gesamtausstoß noch bei 1 250 Millionen Tonnen CO2.
Deutschland hat seinen CO2-Ausstoß 2014 gegenüber
1990 also um über 27 Prozent gesenkt.
({3})
Unsere Zuhörer müssen einmal hören, was wir alles geleistet haben.
Wir diskutieren hier darüber, ob Deutschland seinen
CO2-Ausstoß jetzt zusätzlich um 22 oder 16 Millionen
Tonnen pro Jahr absenken soll. Innerhalb eines Jahres
haben wir aber schon eine Minderung um 41 Millionen
Tonnen erreicht. Die Welt schüttelt den Kopf! Haben wir
wirklich so wenig Zutrauen zu uns?
({4})
Bedenken Sie, dass zum Beispiel in Sachsen-Anhalt
die energiebedingten Emissionen seit 1990 um 75 Prozent zurückgegangen sind. Gerade der Bereich Braunkohle hat insbesondere in den neuen Ländern einen sehr
großen Beitrag zum Klimaschutz erbracht.
Ich habe bisher noch nicht den Projektionsbericht
2015 angesprochen, der nun wahrlich nicht von der
Energiewirtschaft bzw. aus unseren Reihen stammt. Er
stellt der Bundesregierung ein wirklich sehr gutes Zeugnis aus.
Wenn die Opposition trotzdem immer noch mit dem Finger auf die Bundesregierung zeigt, zeigt sie mit vier Fingern auf sich selbst.
({5})
Ich erinnere daran, was ich bereits im Oktober letzten
Jahres hier, an gleicher Stelle, über den „Wärmemonitor
Deutschland“ des DIW gesagt habe. Darin wird festgestellt, dass ein Umweltsenator in Bremen, ein Grüner, zu
verantworten hat, dass der Wärmeverbrauch je Quadratmeter Wohnfläche und Jahr in Bremen mit 150,3 Kilowattstunden um 34 Prozent über dem Wärmeverbrauch
je Quadratmeter Wohnfläche in Mecklenburg-Vorpommern liegt. Das bedeutet einen um ein Drittel höheren
Ausstoß von CO2 im Wohnbereich. Bitte geht die Bereiche an, die ihr beeinflussen könnt, und hackt nicht immer auf anderen rum.
({6})
- Bremen habt ihr gerade auf grandiose Weise wieder
gewonnen. Wir wünschen euch viel Freude und viel Erfolg. Tut etwas im eigenen Haus und zeigt nicht immer
nur auf die Bereiche, in denen ihr keine Verantwortung
tragt.
Herzlichen Dank.
({7})
Vielen Dank. - Als nächster Redner hat Klaus
Mindrup von der SPD-Fraktion das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Diese Debatte hat für mich deutlich gemacht,
dass wir den Klimaschutz national sehr ernst nehmen.
Wir wollen uns an die internationalen Vereinbarungen
halten. Wir stehlen uns nicht davon. Das ist ein sehr gutes Signal.
Ich möchte daran erinnern, dass andere das anders gemacht haben: Kanada hat das Kioto-Protokoll damals
mit unterschrieben. Als man festgestellt hat, dass man
die Ziele nicht erreicht, hat man sich nicht stärker angestrengt, sondern das Kioto-Protokoll gekündigt. Das ist
nicht unser Weg. Wir ringen hier gemeinsam um den
richtigen Weg, wie wir die Energiewende hinbekommen
können.
Es ist gut, dass Frau Bundeskanzlerin Dr. Merkel
beim Petersberger Klimadialog gesagt hat, dass es das
Ziel ist, in diesem Jahrhundert zu einer dekarbonisierten
Weltwirtschaft zu kommen, also zu einer Welt, deren
Wirtschaft und Wohlstand nicht mehr auf der Verbrennung von Öl, Gas und Kohle basiert. Deswegen haben
wir uns in Deutschland das Ziel gesetzt, um das Jahr
2050 herum 95 Prozent weniger Kohlendioxyd als 1990
zu emittieren. Im Jahr 2050 werden ungefähr 9 Milliarden Menschen auf dieser Welt leben. Ohne eine andere,
ökologischere Wirtschaftsweise wird die Erde diese Zahl
an Menschen nicht verkraften. Zwischen seriöser Wissenschaft und Politik sind die Gefahren des Klimawandels unstrittig. Dies betrifft nicht nur Inseln im Pazifik.
Auch wir merken in Mitteleuropa und insbesondere in
Deutschland, dass wir immer mehr von Extremwetterereignissen betroffen sind. Es ist daher - das wurde
heute deutlich - das große Verdienst dieser Koalition
und vor allen Dingen von Sigmar Gabriel und Barbara
Hendricks, dass wir eine ehrliche Debatte darüber führen, wie wir das Etappenziel 40 Prozent CO2-Einsparung
bis 2020 erreichen. Das große Ziel der Dekarbonisierung, das Ziel einer nicht fossilen Welt, wollen wir erst
in 40 Jahren erreichen, allerdings in Etappen.
Ich möchte einmal 30 Jahre zurückschauen, um festzustellen, wie es damals aussah. Damals gab es noch
kein Internet und noch nicht die notwendige IT-Technik,
um eine dezentrale erneuerbare Energiewelt zu steuern.
Ich habe mich schon vor 30 Jahren im Vorgängerverband
des Bundesverbandes WindEnergie engagiert. Damals
hatten die Windenergieanlagen eine Leistungskapazität
von 20 Kilowatt. Heute haben moderne Windenergieanlagen an der Küste eine Leistungskapazität von 7,8 Megawatt. Zudem ist die Verfügbarkeit deutlich höher. Was
zeigt das? Innovation und Klimaschutz können Hand in
Hand gehen, wenn wir sie politisch klug steuern und die
Menschen mitnehmen. Dass wir nun mit den Betroffenen darüber diskutieren, wie zusätzliche Einsparungen
von 22 Millionen Tonnen CO2 im Kraftwerkssektor bis
Ende dieses Jahrzehnts zu erreichen sind, ist doch vernünftig; insofern ist die Debatte sinnvoll. Herr Minister
Gabriel hat schon deutlich gemacht, dass es hier verschiedene Varianten gibt. Deshalb will ich dazu nichts
weiter sagen.
Noch ein Hinweis zur Kraft-Wärme-Kopplung. Aus
meiner Sicht brauchen wir bei der Kraft-Wärme-Kopplung mehr Wärmespeicher. Dann können nämlich die
Kraft-Wärme-Kopplungs-Anlagen stromgeführt betrieben werden. Dann sind sie eine wunderbare Ergänzung
zu den erneuerbaren Energien. Das wäre neben dem
Umbau von der Kohle hin zu Erdgas und Kraft-WärmeKopplung ein sinnvolles System. Das sollten wir weiterhin unterstützen.
Herr Krischer hat eben das Thema Verkehr ein bisschen lächerlich gemacht.
({0})
Natürlich macht es Sinn, nicht nur darüber nachzudenken, wie sich die Kohle ersetzen lässt, sondern auch zu
überlegen, wie sich das Importgut Erdöl ersetzen lässt.
({1})
- Hat er dazu etwas aufgeschrieben? Das hat er doch gar
nicht erwähnt. Sie zitieren etwas, was er gar nicht gesagt
hat.
Die grundsätzliche Richtung, Erdöl durch Strom zu
ersetzen, ist jedenfalls vernünftig. Aber der Strom muss
aus erneuerbaren Quellen und zusätzlich zu den bisherigen Planungen gewonnen werden.
Eines stört mich. Damit komme ich zur Kohle zurück.
Ich habe den Eindruck, dass immer nur über die deutsche Kohle diskutiert wird. Eines ist doch klar: Wenn
wir nur deutsche Kohle durch Importkohle und Importstrom ersetzen, dann haben wir davon weder wirtschaftlich noch ökologisch noch sozial etwas.
({2})
- Der Zuruf stimmt. Wir exportieren Strom, was ein Problem ist, weil dieser Strom in unserer Klimabilanz zu
Buche schlägt.
Im Augenblick bin ich über den Export nach Belgien
sehr froh, wo gerade die Atomkraftwerke wegen Haarrissen stillgelegt werden.
({3})
- Doch, sie gehen über die Niederlande. Ein bisschen
vorsichtig! - Die Priorität des Atomausstiegs sollte beibehalten werden.
Zum Abschluss noch eine Überlegung. Es gibt Menschen, die sagen: Klimaschutz funktioniert international
gar nicht. Die Anstrengungen lohnen sich nicht. - Diesen Menschen kann man deutlich sagen: Weltweit wurden noch nie so starke Anstrengungen unternommen wie
heute. Die positiven Signale waren noch nie so deutlich
wie heute. Es gibt ein historisches Beispiel, das belegt,
dass sich international etwas hinbekommen lässt. 1974
wurde das erste Mal vor FCKW gewarnt, weil es das
Ozonloch verursacht. 1987 wurde FCKW im Montrealer
Protokoll weltweit verboten. Jetzt sieht es so aus, dass
sich die Ozonschicht um das Jahr 2050 regeneriert. Der
Einsatz für das Verbot von FCKW hat sich gelohnt. Der
Einsatz für das nicht fossile Zeitalter wird sich ebenfalls
lohnen.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit und wünsche frohe Pfingsten.
({4})
Vielen Dank. - Als nächster Redner hat Dr. KlausPeter Schulze von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Herr Bundesminister!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Treibhausgasemissionen zu reduzieren, ist richtig. Wir stehen natürlich zu den Klimaschutzzielen der Kanzlerin Angela Merkel und der von ihr geführten Bundesregierung. Aber ich bin davon überzeugt,
dass der gleichzeitige Ausstieg aus der Kernkraft und
aus den fossilen Energieträgern nicht möglich ist, da die
erforderlichen Speichertechnologien für die Einspeisung
volatiler Energien noch fehlen. Wir müssen die Stromkosten und die Versorgungssicherheit im Blick behalten;
denn auch bei einer Dunkelflaute will man bei BMW
noch Autos bauen.
Von 1990 bis 2010 haben die CO2-Emissions-Einsparungen in Deutschland 213,6 Millionen Tonnen betragen, davon durch Deindustrialisierung, tiefgreifenden
Strukturwandel und Erneuerung allein in Ostdeutschland
- der Kollege Westphal hat darauf hingewiesen 122,7 Millionen Tonnen; das sind etwa 41,6 Prozent.
Ich glaube, die CO2-Minderungsziele kann man nicht
losgelöst sehen. Man muss sie insgesamt betrachten. Vor
allen Dingen aber müssen wir die Strompreisentwicklung im Auge behalten, und wir müssen meiner Meinung
nach auch die CO2-Emissionen, die wir damit ins Ausland verlagern, berücksichtigen.
Es wird davon gesprochen, die einheimische Braunkohle zeitweilig durch Steinkohle zu ersetzen. Im RuhrDr. Klaus-Peter Schulze
gebiet wird am 31. Dezember 2018 die letzte Steinkohle
aus der Erde geholt. Wir holen zurzeit schon 50 Millionen Tonnen Steinkohle aus Revieren, die nach meiner
Auffassung, was die Umwelt- und Sozialstandards betrifft, äußerst fragwürdig sind. Der Dienstreisebericht
unserer Ausschussvorsitzenden, Frau Höhn, hat eindrucksvoll die Bedingungen im Steinkohlenbergwerk in
Kolumbien beschrieben. Von daher beziehen wir jährlich
immerhin 10 Millionen Tonnen Steinkohle.
({0})
Aber auch der erhöhte Gasbedarf, der immer wieder
angesprochen wird, und die Aussage, dass Gas Kohle ersetzen kann, sind aus meiner Sicht zu hinterfragen. Das
Wuppertal Institut hat 2004 errechnet, dass pro Terajoule
8,7 Tonnen CO2 freigesetzt werden. Wir haben im Jahr
2012 aus Russland 1,4 Millionen Terajoule Gas importiert. Das entspricht einer Emissionsmenge von circa
12,2 Millionen Tonnen CO2.
Im August 2013 ist in der Zeitschrift Wissenschaft
aktuell ein Artikel erschienen, wonach anhand von Messungen über einem großen Gasfeld in Utah festgestellt
worden ist, dass zwischen 6 und 11 Prozent des dort geförderten Gases durch Leckagen in die Atmosphäre abgegeben werden.
Das sind aus meiner Sicht Probleme, die man bei der
Gesamtdiskussion mitberücksichtigen muss.
Wir in der Lausitz - aber ich glaube, das gilt auch für
die Reviere im Ruhrgebiet und in Mitteldeutschland verschließen uns natürlich nicht der Entwicklung und
wissen ganz genau, dass wir nicht noch einmal 150 Jahre
Braunkohlenförderung haben werden. Aber wir - dazu,
denke ich, sind wir den Menschen in diesen Revieren
auch verpflichtet - müssen ihnen einen Zeitrahmen geben, der ein klares Ende definiert, analog dem Ausstieg
aus der Steinkohle im Ruhrgebiet, und wir müssen diesen Strukturwandel auch finanziell begleiten. Denn allein schaffen es diese drei Regionen nicht.
({1})
Deshalb, meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe
Kolleginnen und Kollegen, sollten wir die Diskussionen
weiter versachlichen und auch auf die Erfahrungen der
Kollegen, die vor Ort tätig sind, achten.
Ich will abschließend noch ein Beispiel nennen, weil
ja immer wieder gesagt wird, die erneuerbaren Energien
ersetzten das, was durch die Kohle wegfällt. Ich habe in
meiner Funktion als Bürgermeister gegen die eigene Partei und auch gegen Freunde aus anderen Parteien einen
Windpark durchgesetzt. Der hat in der Errichtung
40 Millionen Euro gekostet. Die Stadt erhält jetzt dafür
72 Euro Grundsteuer pro Jahr. Das bezahlt jeder, der
eine Garage baut, auch. Wenn ich das jetzt ins Verhältnis
zum Kraftwerk Schwarze Pumpe setze, das im Jahr
40 000 Euro Grundsteuer bezahlt, dann kann man sehen,
welches Steueraufkommen daraus noch resultiert. Auch
die finanzielle Situation der Kommunen, die meine Kollegen immer wieder ansprechen, muss in diesem Zusammenhang berücksichtigt werden.
Abschließend wünsche ich uns allen ein schönes
Pfingstfest. Vielleicht schafft es der Heilige Geist, unsere Diskussion zum Klimaschutz zu versachlichen.
Danke.
({2})
Vielen Dank. Wünschen darf man immer. Das hoffen,
glaube ich, wir alle. - Jetzt hat als nächster Redner
Hubertus Heil von der SPD-Fraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Ich empfinde diese Debatte im Gegensatz zum
Kollegen von der Union vielleicht nicht als Sternstunde,
aber als ganz erhellend. Zuerst einmal müssen wir feststellen, dass es hinsichtlich der Ziele in diesem Hohen
Haus keine großen Unterschiede gibt. Wir müssen aufpassen, ob alle dieses Ziel ernst meinen oder ob nur
mantraartig vom 40-Prozent-Ziel gesprochen wird. Aber
ich nehme an, dass niemand heute - das werde auch ich
nicht tun - das 40-Prozent-Ziel infrage stellt. Übrigens
habe ich auch nicht gehört, dass irgendjemand den Kabinettsbeschluss, als Beitrag des Kraftwerkparks 22 Millionen Tonnen CO2 einzusparen, infrage stellt.
Wir alle wissen, dass das Erreichen des Klimaschutzziels, bis zum Jahr 2020 im Vergleich zu 1990 die Emissionen um 40 Prozent zu reduzieren, angesichts der Tatsache, dass wir ein hochindustrialisiertes Land sind, in
dem vielleicht in den vergangenen Jahren bestimmte Anstrengungen nicht im ausreichenden Maße unternommen
wurden, ehrgeizig und ambitioniert ist. Das ist richtig
anstrengend.
Wir haben eine ganze Menge zu tun, nicht nur im
Stromsektor, sondern auch in anderen Sektoren, die
schon beschrieben wurden. Ich glaube übrigens, dass der
Verkehrssektor neben dem Gebäudesektor, dem Wärmesektor und der Landwirtschaft ein unterbelichteter Bereich ist. Darüber, wie schnell da Fortschritte erreichbar
sind, müssen wir reden. Aber ich glaube, das ist möglich.
({0})
Wir haben jetzt, im Jahre 2015, die Situation, dass wir
uns innerhalb von fünf Jahren wirklich anstrengen müssen, diese Ziele zu erreichen. Dafür gibt es Vorschläge
- in Umsetzung dessen, was das Kabinett beschlossen
hat. Ich füge allerdings hinzu - das haben wir immer gesagt -: Keiner dieser Vorschläge ist in Stein gemeißelt,
weil wir nicht in Instrumente, sondern in Lösungen verliebt sind. Das Instrument, das vom BMWi vorgeschlagen wurde, hat ohne Zweifel in vielerlei Hinsicht einen
gewissen Charme, weil es auf bestehenden Systemen
aufbaut, weil es auf den ersten Blick einfach zu organisieren ist und weil es, zumindest für Staat und Stromkunden, möglicherweise ein Vorschlag ist, der sich - wie
sagte der Minister? - eher rechnet als andere Vorschläge.
Hubertus Heil ({1})
Gleichwohl gilt das Versprechen gegenüber den Menschen in den Revieren, im rheinischen Revier, im mitteldeutschen Revier und auch in der Lausitz, dass wir
Strukturbrüche nicht zulassen werden. Meine Damen
und Herren, dass die Menschen, die in diesen Regionen
leben, Strukturwandel schon kennen, steht außer Frage.
({2})
Die Menschen leben ja nicht auf dem Baum, sondern in
der Lausitz, im Mitteldeutschen Revier oder im Rheinischen Revier.
Noch einmal: Strukturbrüche werden wir nicht zulassen. Strukturwandel hat massiv stattgefunden und wird
übrigens auch weiter stattfinden, überhaupt gar keine
Frage. 1990 haben zum Beispiel in Ostdeutschland noch
160 000 Menschen direkt in der Kohle- und Energieförderung gearbeitet, heute sind es 7 000 Menschen. Wenn
das kein Strukturwandel ist, dann weiß ich nicht, was
Strukturwandel ist. In Ostdeutschland sind noch 1990
300 Millionen Tonnen Braunkohle gefördert worden,
jetzt sind es 80 Millionen Tonnen. Das ist Strukturwandel. Er wird außerdem weitergehen, gar keine Frage.
Die spannende Frage ist, ob der vorliegende Vorschlag Dominoeffekte auslöst, die nicht intendiert sind.
Das ist zwischen den Betriebsräten, den Gewerkschaften
und auch den Vertretern aus dem Ministerium umstritten. Ich sage für die SPD-Bundestagsfraktion: Falls nicht
auszuschließen ist, dass es Strukturbrüche gibt, werden
wir uns umso mehr um Alternativen zu kümmern haben.
Ich finde es genauso wie der Minister gut, dass jetzt Vorschläge auf dem Tisch liegen, die noch vor einem halben
oder vor einem Jahr seitens der Unternehmen nicht auf
dem Tisch lagen.
Allerdings müssen wir diese Vorschläge auf die Frage
hin untersuchen, ob sie tatsächlich helfen, CO2 einzusparen, ob sie energiewirtschaftlich Sinn machen, und auch
daraufhin, was ihre Umsetzung kosten wird; denn Klimaschutz, meine Damen und Herren, wird es nicht zum
Nulltarif geben. Das sage ich auch als großer Befürworter der Kraft-Wärme-Kopplung. Sie muss energiewirtschaftlich Sinn machen. Es macht Sinn, dass wir zum
Beispiel in der allgemeinen Versorgung keine Stranded
Investments zulassen und uns deshalb auf den Bestand
fokussieren, und bei der Frage, wo ein Zubau von Anlagen sinnvoll ist, beispielsweise im industriellen Bereich,
sehr genau hinschauen.
Wenn allerdings das, was wir bei KWK mehr machen,
für die KWK-Umlage relevant wird, also auch für den
Strompreis, dann müssen wir, wenn das Sinn macht,
wenn das eine Alternative ist und wenn es hilft, das Ziel
zu erreichen, darüber reden, wie wir an anderer Stelle
möglicherweise eine Entlastung beim Strompreis organisieren. Die Stromsteuer macht aus meiner Sicht ordnungspolitisch nicht immer Sinn. Ihre Einführung war
gut gemeint und wichtig, weil es als Teil der Ökosteuerreform zur Internalisierung externer Kosten beitrug.
Aber wenn der Strom immer grüner wird, ist das nur
noch ein Instrument zur Staats- bzw. Sozialversicherungsfinanzierung. Und dann sollten wir uns Gedanken
machen, wie wir es anders machen können.
({3})
Ich finde, dass wir zumindest darüber nachdenken sollten, falls die KWK-Umlage stärker steigt, an anderer
Stelle Kompensation zu schaffen. Auch das muss, wie
ich finde, in die Überlegung einbezogen werden.
Es ist ja, Herr Minister, darum gebeten worden, Vorschläge zu machen. Das hier ist einer, einer von mehreren.
({4})
Auch das ist, wie gesagt, nicht in Stein gemeißelt. Man
muss es erst analysieren und untersuchen. Aber ich
finde: Zum Gesamtkonzept gehört pragmatisches Handeln zu sittlichen Zwecken. Wir sind nicht in Instrumente verliebt, sondern wir sind in das Gelingen und in
die Ziele verliebt. Das 40-Prozent-Ziel steht. Kein Vorschlag ist vom Tisch, auch noch nicht die Klimaabgabe;
das ist gar keine Frage. Aber wir werden in den nächsten
Wochen miteinander zu reden haben.
({5})
- Ich sage, wenn es Alternativen gibt, bin ich nicht in
diesen Vorschlag verliebt. Der ist nicht in Stein gemeißelt. Das hat der Minister übrigens von Anfang an gesagt, Oliver Krischer. Es ist hier im Hause auch nicht
umstritten gewesen. Es geht um Klimaschutz und nicht
um Ideologie.
Deshalb, meine Damen und Herren, werden wir uns
in den nächsten Wochen daranmachen, die vorhandenen
Vorschläge zu prüfen. Wichtig ist, dass wir in diesem
Jahr entscheiden; denn wir haben neben der Klimadiskussion die Strommarktdesigndebatte zu klären. Wir haben heute übrigens nur am Rande über Trassenausbau
gesprochen. Wir haben noch eine ganze Menge zu leisten, damit die Energiewende nicht nur in Deutschland,
aber auch in Deutschland gelingt zum Nutze unserer
Volkswirtschaft und der Menschen.
Herzlichen Dank.
({6})
Als letzter Redner in der Debatte hat Matern von
Marschall von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Liebe Zuhörer und Zuhörerinnen auf den
Tribünen! Ich bedanke mich bei allen, die die Disziplin
haben, diesen letzten Redebeitrag auch noch abzuwarten, damit wir dann gemeinsam in das Pfingstwochenende gehen können.
Wir haben, wie ich finde, doch eine ziemlich interessante Diskussion gehabt. Ich fand eigentlich nicht, dass
sie langweilig gewesen ist, weil sie weitgehend alle Facetten berührt hat, die zu diesem Thema gehören. Ich
möchte aber zum Abschluss dieser Debatte noch einmal
zitieren, was die Kanzlerin im Zusammenhang mit dem
Petersberger Klimadialog, der Vorlauf für die bedeutenden Verhandlungen in Paris ist, zum Ausdruck gebracht
hat, und zwar hat sie gesagt:
Die Wissenschaft gibt uns eine klare Handlungsempfehlung. Wir müssen in diesem Jahrhundert …
den vollständigen Umstieg auf kohlenstofffreies
Wirtschaften
schaffen. Das ist die ganz entscheidende globale Herausforderung, vor der die Vereinbarungen in Paris und der
Weg dahin nur ein erster Schritt sind. Das ist von außerordentlicher Bedeutung.
Das Ziel, um das es hier geht, liegt in der fernen Zukunft. Das ist typischerweise als ein Nachhaltigkeitsziel
zu begreifen. Mit Nachhaltigkeitszielen müssen wir aber
- das ist heute hier sehr intensiv geschehen - soziale,
wirtschaftliche und ökologische Aspekte verbinden. Der
Kollege Schulze, die Kollegen aus Nordrhein-Westfalen,
diejenigen, die in Braunkohlenrevieren leben oder dort,
wo der Bergbau zu Hause ist, haben das ausführlich dargelegt. Ich glaube aber, es ist schon wichtig, darauf hinzuweisen, dass dieser Strukturwandel, von dem heute die
Rede war, beschleunigt werden muss. Heute werden immer noch über 40 Prozent des Stroms in Deutschland aus
Braunkohle erzeugt. Dieser Strukturwandel ist im Hinblick auf Arbeitsplätze - hier gab es tatsächlich eine Verringerung um 90 Prozent in den letzten Dekaden - beachtlich. Aber mit Blick auf die Emissionen, die von
diesen - das muss man leider sagen - Klimakillern produziert werden, sind wir davon noch sehr weit entfernt.
({0})
Deswegen ist es ganz wichtig, dass wir ernsthaft darüber nachdenken, dass in der Übergangszeit, in der wir
noch fossile Brennstoffe werden nutzen müssen, hocheffiziente Gaskraftwerke ans Netz kommen. Wenn
Irsching, eines der weltweit modernsten Gaskraftwerke,
dazu im Moment nicht genutzt werden kann, dann ist das
eine schlechte Referenz für den Hersteller Siemens, der
in der ganzen Welt solche modernen und effizienten
Kraftwerke bauen könnte.
({1})
Es ist auch in dem Sinne von großer Bedeutung, weil wir
als Vorreiter und Vorbild technologisch wettbewerbsfähig sein sollten. Wettbewerbsfähigkeit gehört ja zu den
Aspekten der Nachhaltigkeit unbedingt dazu. Die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands wird nicht gerade dadurch gestärkt, dass wir an sehr alten und nicht mehr aktuellen und keineswegs nachhaltigen Technologien
festhalten.
({2})
- Die Kollegen von der Union dürfen zwischendurch
gerne auch einmal klatschen.
({3})
- Na ja, der ist ja bekanntermaßen nicht da.
({4})
Ich möchte die Redezeit nicht überstrapazieren
({5})
und die letzten 60 Sekunden, Herr Lenkert, nutzen, um
klarzumachen, dass wir die nächsten Wochen, Monate
und sicher auch noch Jahre dazu nutzen werden, um
fraktionsübergreifend am Ziel einer kohlenstofffreien
Wirtschaft zu arbeiten. Ich bin ziemlich sicher, dass dazu
aus allen Fraktionen weiterhin gute Anregungen kommen werden.
Lieber Herr Kollege Schulze, ich will Ihnen schon
noch sagen, was es mit dem Pfingstwunder auf sich hat.
Das Pfingstwunder besteht nicht nur darin, dass man andere Sprachen sprechen kann, sondern auch, dass man in
der Lage ist, andere Sprachen zu verstehen.
({6})
Das ist, glaube ich, für jeden von uns in seiner jeweiligen Fraktion ganz hilfreich. Ich finde, darauf können wir
uns an diesem Pfingstfest freuen.
Jetzt wünsche ich Ihnen allen schöne Festtage.
({7})
Ganz herzlichen Dank. Ich glaube, wir haben heute
einen ganz guten Schritt gemacht in Richtung gegenseitiges Verstehen. Ich hoffe, das wird so weitergehen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, damit ist die Aktuelle Stunde beendet.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 10. Juni 2015, 13 Uhr, ein.
Ich wünsche Ihnen schöne Pfingsttage. Ich hoffe, Sie
erholen sich.
Die Sitzung ist geschlossen.