Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
begrüße Sie alle herzlich und möchte Sie zunächst mit
dem erfreulichen Umstand vertraut machen, dass in der
vergangenen Woche die Vizepräsidentin Claudia Roth
ihren 60. Geburtstag gefeiert hat,
({0})
über die sich die Glückwünsche des ganzen Hauses ergießen. Ähnliches gilt sicher für den Kollegen Dr. Egon
Jüttner, der gestern seinen 73. Geburtstag gefeiert hat
und dem ich ebenfalls herzlich gratulieren möchte.
({1})
Wir müssen ein Mitglied des Gremiums gemäß
§ 10 a des Finanzmarktstabilisierungsfondsgesetzes
sowie gemäß § 16 des Restrukturierungsfondsgesetzes, also des Finanzmarktgremiums, wählen. Die SPDFraktion schlägt vor, für den ausscheidenden Kollegen
Dr. Carsten Sieling den Kollegen Christian Petry als
Mitglied des Gremiums zu berufen. Stimmen Sie dem
zu, auch im Bewusstsein der damit verbundenen Implikationen für einen Bundesstaat, auf dessen Personalentscheidung wir gar keinen Einfluss haben? - Das ist
offensichtlich der Fall. Dann ist der Kollege Petry als
Mitglied des Finanzmarktgremiums gewählt.
Interfraktionell ist vereinbart worden, die Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführten
Punkte zu erweitern:
ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen
der CDU/CSU und SPD:
Aktuelle Prognose des IWF - Perspektiven
für Wirtschaft und Wettbewerbsfähigkeit
Deutschlands
({2})
ZP 2 Weitere Überweisung im vereinfachten Verfahren
({3})
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Cornelia Möhring, Sigrid Hupach, Matthias W.
Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Entgeltgleichheit gesetzlich durchsetzen
Drucksache 18/4933
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({4})
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({5})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Federführung strittig
ZP 3 Weitere abschließende Beratung ohne Aussprache
({6})
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Energie ({7}) zu dem Antrag der Abgeordneten Christian Kühn ({8}), Dr. Julia
Verlinden, Oliver Krischer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Heizkosten sparen - Energiewende im Gebäudebereich und im Quartier voranbringen
Drucksachen 18/575, 18/2715
ZP 4 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion
DIE LINKE:
Haltung der Koalitionsfraktionen zur Freigabe der NSA-Selektorenliste im Hinblick auf
mögliche Ausspähungen von Wirtschaft und
Politik
ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Sahra Wagenknecht, Dr. Diether Dehm,
Andrej Hunko, Alexander Ulrich und der Fraktion DIE LINKE
Für ein öffentliches sozial-ökologisches Zukunftsinvestitionsprogramm in Europa
Drucksache 18/4932
Präsident Dr. Norbert Lammert
ZP 6 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Energie ({9}) zu dem Antrag der Abgeordneten Oliver Krischer, Dr. Julia Verlinden,
Annalena Baerbock, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Europarechtskonforme Regelung der Industrievergünstigungen auf stromintensive Unternehmen im internationalen Wettbewerb
begrenzen und das EEG als kosteneffizientes
Instrument fortführen
Drucksachen 18/291, 18/515
ZP 7 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:
Haltung der Bundesregierung zur Änderung
der Klimaschutzziele im Bereich alter Kohlekraftwerke
Dabei soll von der Frist für den Beginn der Beratungen, soweit erforderlich, abgewichen werden.
Die Tagesordnungspunkte 21 - hier geht es um die
abschließende Beratung des Bilanzrichtlinie-Umsetzungsgesetzes - und 26 - abschließende Beratung eines
Ersten Gesetzes zur Änderung des Bundesjagdgesetzes
- sowie 33 g - hier geht es um die Beratung eines Antrags mit dem Titel „Bußgeldumgehung bei Kartellstrafen verhindern - Gesetzeslücke schließen“ - werden abgesetzt.
Schließlich mache ich noch auf zwei nachträgliche
Ausschussüberweisungen im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam:
Der am 6. März 2015 ({10}) überwiesene
nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Ausschuss für Arbeit und Soziales ({11}) zur Mitberatung überwiesen werden:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neubestimmung des Bleiberechts und der Aufenthaltsbeendigung
Drucksachen 18/4097, 18/4199
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({12})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Haushaltsausschuss gemäß § 96 der GO
Der am 27. März 2015 ({13}) überwiesene
nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({14}) zur Mitberatung überwiesen werden:
Erste Beratung des von den Abgeordneten
Arnold Vaatz, Erika Steinbach, Elisabeth
Winkelmeier-Becker, weiteren Abgeordneten
und der Fraktion der CDU/CSU sowie den Abgeordneten Dr. Rolf Mützenich, Frank Schwabe,
Dr. Johannes Fechner, weiteren Abgeordneten
und der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Rechtsstellung
und Aufgaben des Deutschen Instituts für
Menschenrechte ({15})
Drucksache 18/4421
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({16})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
Ich frage Sie, ob Sie auch mit diesen Änderungen und
Vereinbarungen einverstanden sind? - Das ist offensichtlich der Fall. Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das
so beschlossen.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 4 auf:
Eidesleistung des Wehrbeauftragten
Der Deutsche Bundestag hat in seiner 76. Sitzung am
18. Dezember 2014 Herrn Dr. Hans-Peter Bartels zum
Wehrbeauftragten gewählt. Gemäß § 14 Absatz 4 des
Gesetzes über den Wehrbeauftragten des Deutschen
Bundestages leistet der Wehrbeauftragte vor dem Bundestag den in Artikel 56 des Grundgesetzes vorgesehenen Eid.
Herr Wehrbeauftragter, ich bitte Sie, zur Eidesleistung zu mir zu kommen.
({17})
Ich darf Sie bitten, den in der Verfassung vorgesehenen
Eid zu leisten.
Dr. Hans-Peter Bartels, Wehrbeauftragter des
Deutschen Bundestages:
Ich schwöre, dass ich meine Kraft dem Wohle des
deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden, das Grundgesetz und die Gesetze
des Bundes wahren und verteidigen, meine Pflichten gewissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegen jedermann
üben werde. So wahr mir Gott helfe.
Sie haben den in der Verfassung vorgesehenen Eid geleistet. Ich wünsche Ihnen für die vom Deutschen Bundestag übertragene Aufgabe Geduld, Hartnäckigkeit, Erfolg, und ich freue mich auf die Zusammenarbeit bei
dieser wichtigen, bedeutenden Aufgabe. Alles Gute!
({0})
Wenn die Unterstützung des Wehrbeauftragten durch
den Deutschen Bundestag ähnlich eindrucksvoll ausfällt
Präsident Dr. Norbert Lammert
wie die Gratulationscour - woran ich keinen Zweifel
habe -, dann steht einer erfolgreichen Arbeit erkennbar
nichts im Wege.
Damit kommen wir nun zum Tagesordnungspunkt 5:
Abgabe einer Regierungserklärung durch die
Bundeskanzlerin
zum Gipfel Östliche Partnerschaft am
21./22. Mai 2015 in Riga, zum G-7-Gipfel am
7./8. Juni 2015 in Elmau und zum EUCELAC-Gipfel am 10./11. Juni 2015 in Brüssel
Hierzu liegen drei Entschließungsanträge der Fraktion Die Linke und ein Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklärung 96 Minuten vorgesehen. - Dazu sehe ich keinen
Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Im Übrigen bitte ich darum - da wir den Wehrbeauftragten für eine beachtlich lange Amtszeit gewählt
haben -,
({1})
dass wir die Gratulationscour - ich habe mehrere einzelne Abgeordnete gesehen, die noch nicht persönlich
gratuliert haben ({2})
in einer etwas diskreteren Form nach dieser Debatte gegebenenfalls fortsetzen. - Vielen Dank.
Frau Bundeskanzlerin, Sie haben das Wort.
({3})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor
fast genau sechs Jahren haben die Europäische Union
und ihre östlichen Nachbarn - Ukraine, Moldau, Georgien, Weißrussland, Armenien, Aserbaidschan - gemeinsam eine neue Partnerschaft mit dem Ziel begründet,
ihre Beziehungen, wie es in der Prager Gipfelerklärung
vom 7. Mai 2009 formuliert wurde, auf eine neue Ebene
zu bringen. Heute Abend beginnt in Riga das bereits
vierte Gipfeltreffen der Östlichen Partnerschaft. Es steht
unter völlig anderen Vorzeichen als das letzte Treffen im
November 2013 in Wilna; denn in der Zwischenzeit
wurden wir Zeugen der völkerrechtswidrigen Annexion
der Krim durch Russland. Wir wurden Zeugen einer
massiven Destabilisierung der Ostukraine. Wir wurden
Zeugen davon, wie die europäische Friedensordnung
nachhaltig infrage gestellt wurde. Um es gleich zu Beginn klar zu sagen: Nicht zuletzt auch unter diesen Umständen ist die Idee der Östlichen Partnerschaft wichtiger
denn je.
({0})
Mit ihr werden wir unsere Nachbarn auf ihrem Weg zu
demokratischen und rechtsstaatlichen Gesellschaften
weiterhin unterstützen.
Gute Nachbarschaft bedeutet für uns zum einen, unseren Partnern politische Annäherung und wirtschaftliche
Integration anzubieten. Wir wollen, dass dies zu mehr
Rechtsstaatlichkeit, mehr Arbeitsplätzen und mehr
Wohlstand führt. Wir wollen helfen, den Alltag der Menschen in diesen Ländern zu verbessern. Gute Nachbarschaft verbinden wir zum anderen mit dem Anspruch,
uns zu gemeinsamen Werten und Prinzipien zu bekennen. Dazu gehören Demokratie und freie Marktwirtschaft, Menschenrechte und gute Regierungsführung. Es
ist mir wichtig, diesen Anspruch in Riga noch einmal zu
unterstreichen.
Seit dem letzten Gipfeltreffen im November 2013 haben wir - trotz schwieriger Rahmenbedingungen - konkrete Fortschritte in der Zusammenarbeit mit unseren
östlichen Partnern erzielt. Das belegen besonders anschaulich die Assoziierungsabkommen mit der Ukraine,
mit Georgien und mit Moldau. Durch diese Abkommen
ermöglichen wir einerseits eine gegenseitige Marktöffnung - auch wenn diese mit langen Übergangsfristen
verbunden sind -, andererseits ist in den Abkommen
eine Annäherung an die Standards der Europäischen
Union verankert, und zwar durch die Stärkung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, durch einen besseren
Schutz der Menschenrechte und durch die Angleichung
technischer Standards und der gesamten Verwaltungspraxis. Seit vergangenem Herbst werden wichtige Elemente der Assoziierungsabkommen vorläufig angewendet. Dies hat dazu geführt, dass die Exporte Georgiens
und Moldaus in die Europäische Union bereits deutlich
angestiegen sind, aus Georgien zum Beispiel um 12 Prozent.
Für alle Partnerstaaten gilt, dass die Assoziierungsabkommen wichtige Impulse für den innenpolitischen Reformprozess geben. Das wiederum ist Voraussetzung für
mehr Investitionen, für die Modernisierung der Wirtschaft und damit natürlich auch für stärkeres Wirtschaftswachstum.
Unser Ziel bleibt es, dass wir die Assoziierungsabkommen vollständig umsetzen. Ich freue mich daher besonders, dass der Bundestag und der Bundesrat hierfür
mit großer Mehrheit ihre Zustimmung erteilt haben. Damit hat Deutschland das parlamentarische Ratifizierungsverfahren noch vor dem heute beginnenden Gipfel
abschließen können. Die Teilnahme des ukrainischen
Parlamentspräsidenten Groysman an der Plenarsitzung
des Deutschen Bundestages Ende März hat gezeigt, dass
dies auch von unseren östlichen Nachbarn - in diesem
Fall der Ukraine - als wichtiges politisches Signal wahrgenommen wird.
Jetzt geht es darum, dass die Partnerstaaten ihrerseits
die notwendigen Reformen umsetzen, die dann für die
Implementierung des Assoziierungsabkommens nötig
sind. Das wird an vielen Stellen noch erhebliche Anstrengungen erfordern: bei der Stärkung der staatlichen
Leistungsfähigkeit, bei der Korruptionsbekämpfung, bei
der Verbesserung der Wirtschaftsstruktur und bei der
Verbesserung des Justizwesens. Visaerleichterungen
zum Beispiel sind nur dann möglich, wenn hierfür alle
vorgesehenen Voraussetzungen erfüllt sind.
Die Europäische Kommission ist in einem jüngst vorgelegten Bericht zu dem Schluss gekommen, dass Georgien und die Ukraine bereits große Anstrengungen unternommen haben, dass diese Anstrengungen aber noch
nicht ausreichen und es noch einiges zu verbessern gilt.
Die Europäische Kommission wird daher Ende des Jahres erneut - das ist etwas Besonderes; normalerweise
macht sie das nur einmal im Jahr - über die Fortschritte
berichten. Das gibt beiden Ländern die Möglichkeit, bis
dahin noch einen entscheidenden Schritt voranzukommen. Denn es geht ja darum, unseren Partnern zu helfen,
die Reformen, zu denen sie sich verpflichtet haben, auch
wirklich umzusetzen. Deutschland bietet hierfür seine
Unterstützung an, ebenso wie die Europäische Union
insgesamt, und das in vielen, vielen Bereichen.
Meine Damen und Herren, es sind drei Elemente, die
die Haltung Deutschlands zur Östlichen Partnerschaft
leiten. Erstens. Die Östliche Partnerschaft ist kein Instrument der Erweiterungspolitik der Europäischen Union.
Wir dürfen deshalb auch keine falschen Erwartungen
wecken, die wir dann später nicht erfüllen können. Das
müssen wir - ich tue das auch - unseren östlichen Partnern in aller Offenheit deutlich machen.
Zweitens. Uns ist bewusst, dass wir es mit höchst unterschiedlichen Partnerstaaten zu tun haben. Nicht nur
die Entwicklungsperspektiven sind verschieden, sondern
auch die gegenseitigen Erwartungen an eine Zusammenarbeit mit der Europäischen Union. Wir respektieren die
Entscheidung Armeniens, dass sie neben intensiveren
Beziehungen zur Europäischen Union auch eine engere
wirtschaftliche Bindung an Russland suchen und der
Eurasischen Wirtschaftsunion beitreten wollen. Wir respektieren auch die Entscheidung Aserbaidschans, das
derzeit keine Assoziierung mit der Europäischen Union
anstrebt und das im Übrigen auch keine Rolle für sich in
der Eurasischen Wirtschaftsunion sieht.
Wir sind trotz aller offenkundigen Differenzen auch
bereit, die Zusammenarbeit mit Weißrussland zu intensivieren. Es liegt an Weißrussland selbst, hierfür die nötigen Voraussetzungen zu schaffen. Das gilt vorneweg für
die Wahrung der Menschenrechte. Wichtige Gradmesser
hierfür werden der Umgang mit den politischen Gefangenen und die Präsidentschaftswahlen im November
sein.
({1})
Wir brauchen also - das ist unsere Erfahrung - für die
verschiedenen Partnerstaaten individuell ausgestaltete
Angebote. Die Östliche Partnerschaft bietet hierfür einen
wichtigen gemeinsamen Rahmen.
Drittens. Die Östliche Partnerschaft richtet sich gegen
niemanden, insbesondere nicht gegen Russland. Ich
werde es deshalb wieder und wieder sagen: Es ging nicht
und es geht nicht um ein Entweder-oder zwischen einer
Annäherung an die Europäische Union einerseits und
dem russischen Wunsch nach einer engeren Partnerschaft mit diesen Ländern andererseits. Deshalb sind und
bleiben wir da, wo zum Beispiel Sorgen über die Vereinbarkeit von Freihandelszonen vorgetragen werden, bereit, über diese Sorgen zu sprechen. Die Bundesregierung sagt immer und immer wieder auch, dass die
Europäische Union diese Gespräche führen wird - sie
führt sie im Übrigen im Augenblick mit Russland -, und
wir werden sie sehr konstruktiv begleiten.
Aber - auch das werde ich wieder und wieder sagen -:
Es ist und bleibt die souveräne Entscheidung unserer östlichen Partnerstaaten, wenn sie sich den Werten der
Europäischen Union annähern wollen. Niemand hat das
Recht, ihnen diesen selbstgewählten Weg zu verstellen.
({2})
Ein Denken in Einflusssphären nehmen wir im Europa
des 21. Jahrhunderts nicht hin.
Das gilt unverändert auch für die Lage in der Ukraine.
Für die Wiederherstellung des Rechts in diesem so geplagten Land werden wir noch viel Geduld und einen
langen Atem brauchen. Wir haben diese Geduld und diesen langen Atem. Das Maßnahmenpaket von Minsk
weist uns den richtigen Weg. Deutschland wird - der
Bundesaußenminister genauso wie ich - hier weiter die
Verhandlungen begleiten, und das Normandie-Format
zusammen mit Frankreich behält seine Bedeutung.
Die Entwicklung in der Ukraine ist auch der Grund,
weshalb wir uns am 7. und 8. Juni in Schloss Elmau als
Gruppe der Sieben und nicht der Acht treffen werden.
Russland wird, wie schon im vergangenen Jahr in Brüssel, nicht dabei sein; denn genauso, wie wir dies für die
Östliche Partnerschaft anstreben, verstehen wir die G 7
bereits heute als eine Gemeinschaft der Werte. Dazu gehört, dass wir uns gemeinsam für Freiheit, Demokratie
und Rechtsstaatlichkeit einsetzen. Dazu gehört, dass wir
das Völkerrecht und die territoriale Integrität der Staaten
achten.
({3})
Das Vorgehen Russlands in der Ukraine ist damit
nicht in Einklang zu bringen. Solange sich Russland
nicht zu den grundlegenden Werten des Völkerrechts bekennt und danach handelt, ist für uns eine Rückkehr zum
Format der G 8 nicht vorstellbar; denn nur wenn wir als
G 7 überzeugend für unsere gemeinsamen Werte einstehen, können wir überzeugend auch auf internationaler
Bühne Verantwortung übernehmen. Wie nötig dies ist,
führt uns nicht zuletzt die Vielzahl internationaler Krisen
vor Augen: die Lage in der Ukraine, im Nahen und Mittleren Osten, die Bedrohung durch den internationalen
Terrorismus, die Ebolaepidemie in Westafrika, um nur
wenige Beispiele zu nennen. Wir werden uns beim G-7Gipfel eng darüber abstimmen, wie wir gemeinsam auf
die großen außen- und sicherheitspolitischen Herausforderungen reagieren können.
Das Treffen in Elmau ist aber weit mehr als akute Krisendiplomatie. Wir müssen als G 7 vorausschauend hanBundeskanzlerin Dr. Angela Merkel
deln und Verantwortung für die Zukunft übernehmen.
Unser Ziel als deutsche G-7-Präsidentschaft ist es, auf
diesem Weg konkrete Fortschritte zu erzielen. Das gilt
für die Post-2015-Ziele zur nachhaltigen Entwicklung,
das gilt für die Entwicklungsfinanzierung, und das gilt
für ein zukünftiges globales Klimaabkommen, das Ende
des Jahres in Paris beschlossen werden soll. Hierzu wollen wir als G 7 - ich sage allerdings: das sind schwierige
Verhandlungen - deutliche Signale der Unterstützung
senden.
Ich möchte drei weitere Beispiele herausgreifen, die
veranschaulichen, dass unser Schwerpunkt auf den langfristigen und globalen Herausforderungen liegt. Erstens.
Wir wollen im Rahmen der G 7 dazu beitragen, Frauen
zu stärken und die Stärkung von Frauen besser als bislang zu nutzen.
({4})
Wenn weltweit mehr Frauen aktiv am Wirtschaftsleben
teilhaben, nutzt das allen. Hier gibt es Defizite in den Industrieländern genauso wie in den Entwicklungsländern.
Das reduziert Armut und Ungleichheit, das fördert Innovation und Wachstum, und das nützt dem gesellschaftlichen Zusammenhalt.
Eine wichtige Voraussetzung hierfür ist, dass mehr
Mädchen und Frauen eine berufliche Qualifizierung bekommen. Das gilt nicht nur, aber insbesondere in den
Entwicklungsländern. Wir wollen es Frauen zudem
leichter machen, den Weg in die unternehmerische
Selbstständigkeit zu gehen. Überall auf der Welt müssen
wir beobachten, dass Frauen weitaus seltener zu Gründern werden als Männer. Das wollen und - ich denke das müssen wir ändern.
({5})
Der Zugang zu Finanzierungsmöglichkeiten - so hat es
uns die OECD noch einmal aufgearbeitet - und zu Netzwerken ist hierfür besonders wichtig, aber er ist heute
strukturell schlechter als für Männer.
Zweitens. Wir wollen weltweit die Gesundheitssysteme stärken. Die Ebolaepidemie ist eine schreckliche
Heimsuchung für die von ihr betroffenen Menschen, und
sie ist hoffentlich so etwas wie ein Weckruf für uns alle.
Jedenfalls habe ich zusammen mit meinem Kollegen aus
Ghana und der Ministerpräsidentin Norwegens den Generalsekretär der Vereinten Nationen gebeten, ein Konzept zu entwickeln, wie Gesundheitskrisen in Zukunft
effektiver bewältigt werden können, als das bislang der
Fall ist.
({6})
Ich habe in dieser Woche auch die Versammlung der
Weltgesundheitsorganisation besucht. Sowohl die Weltgesundheitsorganisation als auch die Weltbank werden
eine zentrale Rolle bei den Vorschlägen spielen, die wir
machen werden, um in Zukunft besser auf solche Epidemien und Pandemien reagieren zu können.
Im Rahmen der G 7 wollen wir außerdem daran arbeiten, dass lebensrettende Antibiotika ihre Wirksamkeit
behalten. Der gerade beschlossene Aktionsplan der
Weltgesundheitsorganisation ist hierfür ein wichtiger
Schritt. Das Bundeskabinett hat vor wenigen Tagen auch
eine nationale Strategie beschlossen. Wir wollen beim
G-7-Gipfel darüber sprechen, was zusätzlich noch getan
werden kann. Hier geht es vor allen Dingen um gleiche
Standards zwischen den G-7-Ländern beim Umgang mit
Antibiotika und um die Wechselwirkungen zwischen
Mensch und Tier.
Drittens. Wir wollen den weltweiten Handel stärken.
Damit schaffen wir Impulse für die Erholung der Weltwirtschaft, für nachhaltiges Wachstum und für Beschäftigung. Auf globaler Ebene steht dabei weiterhin die
Welthandelsorganisation im Zentrum unserer Bemühungen. Es bleibt unser Ziel, die Doha-Runde so rasch wie
möglich abzuschließen. Das wird nicht einfach, aber wir
halten es für möglich. Gleichzeitig wollen wir bei den bilateralen und regionalen Handelsvereinbarungen zügig
vorankommen. Das gilt aus europäischer Sicht vor allem
für die Abkommen der Europäischen Union mit den G-7Partnern Japan, Kanada und den Vereinigten Staaten von
Amerika; jetzt ist bald der EU-Japan-Gipfel, und auch
mit den anderen beiden Staaten sind wir in Verhandlungen. Unser gemeinsames Ziel bleibt es, bis Ende 2015
den politischen Rahmen für ein Transatlantisches Freihandelsabkommen festzulegen.
Eine Stärkung des Freihandels erfordert auch eine
bessere Umsetzung sozialer und ökologischer Standards,
insbesondere in internationalen Lieferketten.
({7})
Das furchtbare Unglück in der Textilfabrik Rana Plaza in
Bangladesch vor zwei Jahren hat uns dies auf schreckliche Art vor Augen geführt. Ich setze mich dafür ein, dass
die Opfer und ihre Familien endlich vollständig entschädigt werden. Das werden wir zu einem Thema machen.
Ich halte es für ein Unding, dass das noch nicht erfolgt
ist.
({8})
Ich möchte mich bei dem Entwicklungsminister Gerd
Müller und der Arbeitsministerin Andrea Nahles bedanken, dass sie auch zu den Fragen der Lieferketten einen
intensiven Dialog geführt haben. Wir haben das mit den
internationalen Gewerkschaften gemacht und mit vielen
anderen.
({9})
Unser Ziel sind menschenwürdige Arbeitsbedingungen weltweit. Deshalb machen wir uns für eine bessere
Prävention stark, also für die Stärkung von Arbeitssicherheit und Arbeitsschutz. Wie weit wir bei den konkreten Verhandlungen kommen, kann man noch nicht
ganz genau absehen.
Dies alles steht unter dem Motto des G-7-Gipfels „An
morgen denken. Gemeinsam handeln.“ Davon sollten
sich nicht nur die Regierungen der G-7-Staaten ange10038
sprochen fühlen. Gemeinsam handeln bedeutet für mich
vielmehr auch, gemeinsam mit der Zivilgesellschaft zu
handeln. Wir haben deshalb in den vergangenen Tagen
und Wochen viel mit Wissenschaftlern, mit Nichtregierungsorganisationen, mit Vertretern von Wirtschaft und
Gewerkschaften gesprochen. Zum Beispiel waren am
vergangenen Montag Teilnehmer des Jugendgipfels zu
Gast, die mehrere Tage hier in Deutschland verbracht
haben: 54 Jugendliche aus 19 Ländern, die uns ihre Vorstellungen für eine Welt der Zukunft deutlich gemacht
haben.
Gemeinsam handeln, das heißt für mich auch, gemeinsam mit internationalen Partnern zu handeln. Deswegen haben wir Gäste nach Elmau eingeladen. Dazu
gehören die Chefs der großen internationalen Organisationen, allen voran der Generalsekretär der Vereinten
Nationen, und auch weitere Staats- und Regierungschefs. Wir wollen in zwei Sitzungen drei große Themen
besprechen. Wir wollen das Thema „Terroristische Bedrohung“ besprechen - der neu gewählte nigerianische
Präsident, der tunesische Präsident und der Ministerpräsident des Irak haben zugesagt, zu kommen -, und wir
wollen das Thema „Nachhaltige Entwicklungsziele“, das
im September in New York eine Rolle spielen wird, und
das Thema „Gesundheit“ mit der liberianischen Präsidentin, mit dem äthiopischen Ministerpräsidenten und
dem Präsidenten des Senegal besprechen.
Eines ist für mich ganz klar: Insbesondere der Dialog
mit den afrikanischen Staaten ist von zentraler Bedeutung. Wir wissen, dass die Zusammenarbeit mit Afrika
intensiviert werden soll. Deshalb wird es im Herbst dieses Jahres einen Gipfel mit afrikanischen Staaten und der
EU geben, um über die Bekämpfung der Ursachen der
Flüchtlingsbewegungen zu sprechen.
Es ist vollkommen klar: Wenn wir nachhaltige Antworten auf die drängenden globalen Herausforderungen
unserer Zeit finden wollen, dann müssen wir als Europäer und natürlich auch Deutschland mit allen Regionen
der Welt eng zusammenarbeiten. Deshalb werde ich am
10. und 11. Juni, also nur wenige Tage nach dem G-7Gipfel, am Gipfeltreffen der Europäischen Union mit
den 33 Staaten Lateinamerikas und der Karibik in Brüssel teilnehmen.
Europa und Lateinamerika sind seit Jahrhunderten
eng miteinander verbunden. Wir teilen ein reiches kulturelles und historisches Erbe. Europa und Lateinamerika
werden auch wirtschaftlich immer wichtiger füreinander.
Die Europäische Union ist für Lateinamerika und die
Karibik der zweitgrößte Handelspartner. Im vergangenen
Jahrzehnt hat sich unser Handelsvolumen verdoppelt.
Bei den Direktinvestitionen liegt die Europäische Union
noch vor den USA an erster Stelle. Wir erkennen die
Fortschritte an, die in der Region bei der Armutsbekämpfung, bei der Förderung von Demokratie und friedlicher Konfliktlösung erzielt wurden.
Enge und freundschaftliche Beziehungen zu den Staaten Lateinamerikas und der Karibik sind für uns von großer strategischer Bedeutung. Bei unserem gemeinsamen
Gipfeltreffen in Brüssel wollen wir deshalb neue Impulse für die politische, wirtschaftliche, wissenschaftliche und kulturelle Zusammenarbeit setzen. Die EULateinamerika-Stiftung in Hamburg ist hierfür ein besonders sichtbares Element. Dass sie nach Hamburg
kommt, dafür haben wir lange gekämpft. Deshalb wird
sich die Bundesregierung jetzt auch dafür einsetzen, dass
die Stiftung sobald wie möglich zu einer internationalen
Organisation aufgewertet wird.
({10})
Ganz im Zentrum der Beratungen am 10. und 11. Juni
werden jedoch die gemeinsamen globalen Herausforderungen stehen; denn auch bei der Förderung von nachhaltiger Entwicklung, beim Klimaschutz und bei der
Bekämpfung des internationalen Terrorismus sind Lateinamerika und die Karibik für Europa wichtige Partner.
Deshalb freue ich mich besonders, dass wir bei vielen
Themen direkt an die Diskussionen und auch an die Ergebnisse des G-7-Gipfels anknüpfen können.
Meine Damen und Herren, in einer sich immer
schneller verändernden globalisierten Welt können wir
unsere Werte nur behaupten und unsere Interessen nur
wirksam vertreten, erfolgreich nur dann sein, wenn wir
für die gemeinsamen Herausforderungen auch gemeinsame Antworten über Länder und Kontinente hinweg
entwickeln. Dafür werde ich mich, dafür wird sich die
ganze Bundesregierung mit ganzer Kraft einsetzen: im
Rahmen der Partnerschaft mit unseren östlichen Nachbarn, im Rahmen der G-7-Präsidentschaft und in der Zusammenarbeit zwischen Europa, Lateinamerika und der
Karibik.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({11})
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Kollegen Gregor Gysi für die Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe
geahnt, Frau Bundeskanzlerin, dass wir von Ihnen keine
einzige Äußerung zum Spionageskandal, der langsam zu
einer Staatskrise wird, hören werden.
({0})
- Ich wusste, dass Sie sagen würden: „Es ist kein
Thema“, Herr Kauder. Aber das stimmt nicht. Bei allen
Treffen, zu denen sie fährt, findet sie Leute, die abgehört
worden sind; insofern ist das ein Thema, kann ich nur sagen.
({1})
Wir haben schon vor längerer Zeit festgestellt, dass die
NSA Deutschland komplett ausforscht. Die behandeln
uns immer noch wie ein besetztes ehemaliges FeindesDr. Gregor Gysi
land. Ich sage Ihnen klipp und klar: Das dürfen wir uns
nicht länger bieten lassen!
({2})
Darunter ist übrigens auch eine gravierende Wirtschaftsspionage. Nun hat sich herausgestellt, dass der BND für
die NSA und sich selbst Abertausende rechtswidrige
Handlungen beging.
({3})
Die deutsche Wirtschaft ist davon betroffen, europäische
Regierungen sind davon betroffen, die EU-Kommission
ist davon betroffen. Die Mär, dass das Ganze der Terrorismusbekämpfung dienen soll, ist damit widerlegt vielleicht ein kleiner Anteil; aber der ganze Rest ist politische und Wirtschaftsspionage. Das ist beim besten Willen nicht hinnehmbar, und es ist strafbar.
({4})
Ich sage Ihnen auch, Frau Bundeskanzlerin: Sie zeigen viel zu wenig Rückgrat gegenüber der US-Administration.
({5})
Willfährigkeit und Duckmäusertum führen zu Verachtung. Was wir brauchen, ist jedoch Respekt. Respekt ist
die Grundlage, um eine Freundschaft aufzubauen. Anders funktioniert das nicht.
({6})
Wir haben höchstwahrscheinlich eine tiefe Schuld gegenüber europäischen Partnern auf uns geladen. Frau
Bundeskanzlerin, diesmal können Sie sich nicht mit
Schweigen aus der Affäre ziehen. Ich gehe davon aus,
dass der Kanzleramtschef, seine Vorgänger und auch Sie
unter Eid im Untersuchungsausschuss aussagen müssen.
Wir brauchen Aufklärung und Klarheit; es wird höchste
Zeit.
({7})
Im Übrigen hat der frühere Bundesinnenminister
Friedrich - passen Sie auf, Herr Kauder! - der deutschen
Wirtschaft versprochen, dass die US-Spionage in der
Wirtschaft aufhört. Das war offenkundig falsch. Deshalb
ist die Wirtschaft zutiefst enttäuscht, auch von Ihnen,
Frau Bundeskanzlerin.
({8})
Schließlich könnten Sie
Seit dem Zwei-plus-Vier-Vertrag ist
der Besatzungsstatus Deutschlands letztlich beendet.
Deutschland ist ein souveränes Land.
({0})
Wir und kein anderer haben zu entscheiden, mit welchen Geheimdiensten wir wie zusammenarbeiten.
({1})
Wenn es gegenseitig keine Spionage geben soll, dann
haben Sie das auch durchzusetzen.
({2})
Aber nun komme ich zum G-7-Treffen.
({3})
Da wollen Sie ja über den Klimaschutz reden. Ich darf
Ihnen mal sagen: Ohne Russland und vor allen Dingen
ohne China sind Gespräche zum Klimaschutz ziemlich
albern; die bringen nichts. Allerdings gibt es eine
Chance, dass man sich jetzt selbst mit China verständigen kann. Wissen Sie auch, warum? Weil die Luft in Peking so schlecht geworden ist, und die Luft macht nicht
halt vor dem Politbüro, auch nicht vor dem Partei- und
Staatschef. Sie wissen ja: Wenn es die Menschen selbst
betrifft, werden sie gelegentlich einsichtig. Also, ich
kann nur hoffen, dass wir in dieser Menschheitsfrage
endlich etwas erreichen.
Aber wie kommen Sie eigentlich darauf, dass sieben
Staats- und Regierungschefs Weltpolitik machen könnten? Wie kommen Sie eigentlich darauf, dass Sie die
UNO ersetzen dürften? Wie kommen Sie eigentlich darauf, dass sich diese Staaten anmaßen könnten, für alle
anderen Staaten zu entscheiden? Das ist völlig indiskutabel. Deshalb wird es einen sehr breit angelegten Protest
dagegen geben, und ich meine auch: zu Recht.
({4})
Außerdem ist selbst das G-7-Treffen gar nicht in der
Lage, Weltpolitik zu machen; denn es ist die internationale Finanzwelt, die bestimmt, was dort geschieht. Wir
haben kein Primat der Politik mehr. Selbst die Union
müsste doch daran interessiert sein, dass wir wieder ein
Primat der Politik herstellen, dass nicht die Banken bestimmen, was Sie machen, sondern Sie wieder eine
Chance haben, zu bestimmen, was die Banken machen.
Aber davon sind wir zurzeit meilenweit entfernt.
({5})
Frau Bundeskanzlerin, Sie sind die Vorsitzende beim
G-7-Treffen. Da frage ich Sie mal: Warum hatten Sie
nicht den Mumm, Herrn Putin einzuladen? Dass die
Grünen so naiv sind, zu glauben, dass man in der Friedens- und Außenpolitik vorankomme, indem man ein
ständiges Mitglied des UN-Sicherheitsrates, eine Veto10040
macht im Sicherheitsrat, eine Atomwaffenmacht, das
militärisch stärkste und größte Land Europas, Russland,
zu isolieren versuche, mag zum Teil mit deren Jugend
zusammenhängen; aber Sie können das nicht ernsthaft
glauben, Frau Bundeskanzlerin. Das ändert aber nichts
daran, dass Kritik an Putin und seiner Regierung notwendig ist.
Vor kurzem haben wir den 70. Jahrestag der Befreiung von der Nazidiktatur und des Endes des Zweiten
Weltkrieges gefeiert. Ich finde, es hätte sich gehört, dass
viele, auch westliche Staatsoberhäupter und Regierungschefs - auch Sie, Frau Bundeskanzlerin - an der traditionellen Feier zu diesem 70. Jahrestag am 9. Mai in Moskau teilgenommen hätten.
({6})
Ich sage Ihnen auch, warum: 27 Millionen Sowjetbürger
haben ihr Leben im Kampf gegen Hitler verloren, und
sie haben unsere Ehrung verdient. Dabei bleibe ich.
({7})
Frau Bundeskanzlerin, immerhin waren Sie wenigstens
einen Tag später da und haben gemeinsam mit Putin einen Kranz am Grabmal des Unbekannten Soldaten niedergelegt und auch ein Gespräch geführt.
Ich sage Ihnen: Deeskalation und die Aufhebung der
Sanktionen gegenüber Russland bedeuten Friedenspolitik. Beides liegt im Interesse des ukrainischen und des
russischen Volkes, im Interesse ganz Europas und auch
in unserem Interesse. Wenn Sie denken, die Zuspitzung
zwischen der Ukraine und Russland nütze der Ukraine,
Herr Vaatz, dann zeigt sich, dass Sie von Außenpolitik
gar nichts verstehen. Das muss ich Ihnen einmal ganz
klar sagen.
({8})
Deeskalation liegt übrigens auch im Interesse unserer
Wirtschaft. Diese Interessen und nicht die Interessen der
USA haben maßgebend zu sein.
Beim G-7-Gipfel und danach beim EU-CELAC-Gipfel wird es ja - Sie haben darüber gesprochen - auch um
die Östliche Partnerschaft und damit ebenfalls um den
Ukraine-Konflikt gehen. Am 28. Juni 2015 sollen Assoziierungsabkommen der EU mit der Ukraine, mit Moldawien und mit Georgien unterzeichnet werden. Es handelt
sich hierbei um drei souveräne Staaten. Seit einem Vierteljahrhundert sind sie nicht mehr Bestandteil der Sowjetunion, und Sie haben völlig recht, Frau Bundeskanzlerin: Diese drei Staaten haben das souveräne Recht,
Abkommen mit der EU zu schließen. Es darf aber nie
wieder passieren, dass auch die EU-Kommission wie bei
der Ukraine eine Alternative daraus macht und sagt: entweder mit Russland oder mit uns. Sie haben gesagt, Sie
seien dafür. Alle drei Staaten brauchen gute Beziehungen zur Europäischen Union, aber auch gute Beziehungen zu Russland, und genau dafür müssen wir uns einsetzen. - Das haben Sie gesagt, und ich habe das mit
Wohlwollen zur Kenntnis genommen.
({9})
Wir dürfen aber eins nicht vergessen: Die Ukraine ist
auch in einer tiefen wirtschaftlichen und sozialen Krise.
Die Ukraine hat größere Schulden als Griechenland; ich
sage das nur mal.
Die Bundesregierung macht gegenüber Südeuropa die
gleiche falsche Politik wie mit der Agenda 2010 in
Deutschland. Wieder wird von der Ukraine verlangt,
Renten zu kürzen, die Löhne zu senken und die öffentliche Daseinsvorsorge zu privatisieren. Das ist der falsche
Weg. Wissen Sie, was die Leute nicht verstehen? Sie
verstehen nicht, wieso eigentlich nicht die Oligarchen
des Landes, sondern die Rentnerinnen und Rentner und
die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer für die Krise
bezahlen müssen. Das ist nicht akzeptabel, und zwar in
keinem Land - weder in der Ukraine noch in Russland
noch in anderen Ländern. Das ist auch unverantwortlich.
({10})
Minsk II hat einen fragilen Friedensprozess ausgelöst,
der von allen Seiten umgesetzt werden muss. Das bedeutet aber, dass die NATO aufhören sollte, in Polen und in
den baltischen Staaten die militärischen Muskeln spielen
zu lassen. Wenn die NATO ihre Provokationen einstellt,
dann haben wir auch viel bessere Voraussetzungen dafür,
von Russland zu verlangen, die Manöver, die ich abenteuerlich finde, ebenfalls einzustellen. Wir brauchen
jetzt doch keine gegenseitige Hochrüstung. Wohin soll
das denn führen? Wir brauchen Abrüstung und Deeskalation, und dafür müssen Sie stehen, Frau Bundeskanzlerin.
({11})
Sie haben über die geplanten Freihandelsabkommen
gesprochen und sie nur gewürdigt. Sie haben nur die
Chancen betont und gehen auf die Kritik daran überhaupt nicht ein. Es geht ja mindestens um vier Abkommen: um TTIP zwischen der EU und den USA, um
CETA zwischen der EU und Kanada, um TPP zwischen
den USA und Ostasien und um das Dienstleistungsabkommen TiSA zwischen 23 Staaten in Europa, USA, Lateinamerika und Asien. Überall geht es um den unbegrenzten Zugang der Finanzkonzerne zu den Daten der
Bürgerinnen und Bürger. Den Datenschutz könnten wir
dann abschreiben. Das ist überhaupt nicht hinnehmbar.
Die USA wollen erreichen, dass Unternehmen, die in
einem anderen Land Dienstleistungen anbieten, dort keinen Firmensitz mehr benötigen. Das würde bedeuten,
dass dann auch das europäische Recht für sie nicht mehr
gilt. Wo soll das Ganze enden?
Die öffentliche Daseinsvorsorge soll privatisiert werden, und zwar vom Gesundheitswesen über den Verkehr,
den Handel, die Energie und die Telekommunikation bis
hin zur Bildung. Dann soll auch noch vereinbart werden
- Sie machen das alles ja geheim; man ist immer auf die
Informationen angewiesen, die man bekommt -, dass
eine Privatisierung nie mehr rückgängig gemacht werden darf. Dann soll auch noch Standstill vereinbart werden. Das heißt, dass soziale, gesundheitliche und ökologische Standards eingefroren und nicht mehr erhöht
werden dürfen. Sie machen damit jede vernünftige Veränderung in der Politik unmöglich.
Ich sage es noch einmal: Es gibt auch schwere Kritik
an der Investitionsschutzklausel. Ich will Ihnen sagen,
was sie bedeutet: Ein amerikanischer Konzern kommt
nach Deutschland, begründet seinen Sitz. Zu diesem
Zeitpunkt gibt es eine Rechtslage. Danach wählen die
Bürgerinnen und Bürger eine vernünftige Bundesregierung, sagen wir mal: eine mit Linken.
({12})
- Herr Kauder, Sie dürfen sich schon darauf freuen.
({13})
Ich würde Sie gerne einmal als Oppositionsführer erleben; aber ob Sie das können, weiß ich nicht. Wir werden
es erleben. Aber wie dem auch sei! Das ist jetzt gar nicht
mein Problem.
Mein Problem ist ein anderes. Wenn diese vernünftige
Bundesregierung mehr Mitbestimmung und etwas höhere Steuern beschließen würde, dann würden die Konzerne sagen: Nein, das verstößt gegen das Verbot von
Investitionshemmnissen. - Sie machen eine Politik in
diese Richtung unmöglich. Das ist zutiefst undemokratisch und darf nicht passieren.
({14})
Ich sage Ihnen ganz klar: Auch die Schiedsgerichte
sind ein Skandal. Die deutschen Unternehmen müssen
den Gerichtsweg gehen, die amerikanischen machen das
über ein Schiedsgericht; mit Geld und drei Advokaten
kriegen die alles geregelt. Ich kann nur sagen: Das ist absurd.
({15})
Dann kommt hinzu, dass plötzlich Lebensmittel erlaubt
werden dürfen, die bei uns verboten sind, und zwar aus
guten Gründen.
({16})
Nicht einmal das Reinheitsgebot für Bier - ich bitte die
Bayern: Sie müssen doch wenigstens darauf achten bliebe unter diesen Bedingungen erhalten.
({17})
Deshalb sind wir gegen diese Abkommen und meinen,
das ist der falsche Weg.
Den Gipfel der EU mit der Gemeinschaft der Lateinamerikanischen und Karibischen Staaten in Brüssel
finde ich auch spannend. Wissen Sie was, Frau Bundeskanzlerin: Sie werden dort lauter Staats- und Regierungschefs treffen, die immer eigenständiger und selbstbewusster werden. Es gibt dort auch viele linke
Regierungen, die aus diesem ganzen neoliberalen Mist
herauswollen und endlich Hunger und Elend überwinden
und beseitigen wollen. Aber da ist noch etwas: Die USA
spielen in Lateinamerika täglich eine geringere Rolle.
({18})
Zum Beispiel hat China zum Teil schon die USA als
stärksten Handelspartner abgelöst. Dadurch werden die
lateinamerikanischen Staaten jeden Tag unabhängiger.
({19})
Wissen Sie, was ich für einen Skandal halte: Kolumbien
ist inzwischen unabhängiger von den USA als Deutschland. Ich finde, das sollten Sie ändern, liebe Frau Bundeskanzlerin.
({20})
Lateinamerika hat, wie gesagt, entscheidende politische Veränderungen erlebt. Ich bin froh, dass es endlich
zu einem Handschlag zwischen dem amerikanischen und
dem kubanischen Präsidenten gekommen ist. Wir müssen den Kalten Krieg hinter uns lassen; die Blockadezeit
muss endlich überwunden werden.
({21})
Frau Bundeskanzlerin, haben Sie doch einfach einmal
den Mut und besuchen Sie - bei aller Kritik - einfach die
Perle der Karibik, die schöne Insel Kuba. Was meinen
Sie, was das für eine Geste wäre, wenn Sie das machten!
({22})
Lassen Sie mich zum Schluss einen Satz sagen: Wir
sind wichtig - ich weiß -, die USA sind selbstverständlich wichtig - ich weiß -, Russland ist auch wichtig,
China wird immer wichtiger. Aber bitte unterschätzen
Sie nicht die Bedeutung und Relevanz
({23})
von Afrika, Asien und Lateinamerika.
({24})
Danke schön.
({25})
Thomas Oppermann ist der nächste Redner für die
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Viele bezweifeln, dass der G-7-Gipfel noch das richtige Format
ist, um die Probleme dieser Welt zu lösen. Als die G 7
vor 40 Jahren von Valéry Giscard d’Estaing und Helmut
Schmidt gegründet wurde, da waren die Teilnehmer
noch die wirtschaftlich stärksten Länder der Welt. Das
ist heute nicht mehr uneingeschränkt der Fall. Als nach
der Lehman-Pleite Antworten auf die internationale
Finanzkrise gesucht wurden, da war nicht die G 7, sondern die G 20 das richtige Gremium.
Aber so wünschenswert es auch wäre, wenn die G 20
weiter an Bedeutung gewänne, so behält die G-7-Runde
für Deutschland doch eine ganz entscheidende Bedeutung; denn alle G-7-Partner agieren auf einem gemeinsamen Fundament. Was uns mit den USA, mit Kanada, mit
Japan, mit Frankreich, Italien und Großbritannien verbindet, sind die Werte Freiheit, Demokratie und Herrschaft des Rechts.
({0})
Nur auf der Grundlage dieser Werte können wir die großen globalen Herausforderungen wie Klimawandel,
wirtschaftliche Not, Flüchtlings- und Hungerkatastrophen oder Bedrohung durch den islamistischen Terrorismus bewältigen. Deshalb ist die wichtigste Botschaft,
die von diesem Gipfel in Elmau ausgehen muss:
Deutschland denkt nicht national, Deutschland handelt
nicht alleine, sondern Deutschland agiert an der Seite
seiner Partner, um die großen Probleme dieser Zeit zu
meistern.
({1})
Das G-7-Treffen findet - darauf hat die Bundeskanzlerin schon hingewiesen - nach 15 Jahren jetzt zum
zweiten Mal ohne Russland statt. Das ist bedauerlich,
aber es ist unvermeidlich; denn mit der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim und mit der offenkundigen
militärischen Unterstützung der Separatisten in der Ostukraine hat Wladimir Putin die europäische Friedensordnung infrage gestellt. Da kann man nicht einfach zur
Tagesordnung übergehen und so tun, als sei nichts gewesen.
({2})
Gleichwohl können wir kein Interesse an einer Isolation Russlands haben. Langfristig muss es darum gehen,
zurückzufinden zu den guten und freundschaftlichen Beziehungen. Aber klar ist auch: Wir werden nur dann die
Sanktionen aufheben, wenn das Minsker Abkommen
umgesetzt wird. Russland muss seinen großen Einfluss
auf die Separatisten nutzen, damit die Waffenruhe eingehalten wird und der Abzug der Waffen sichergestellt ist.
Auch der Westen sollte dabei bleiben, keine Waffen in
die Ukraine zu liefern.
({3})
Die Konfliktparteien in der Ukraine brauchen nicht mehr
Waffen; sie brauchen einen politischen Dialog, um wieder Frieden herzustellen.
In diesem Zusammenhang möchte ich dem Haushaltsausschuss dafür danken, dass er gestern den Beschluss gefasst hat, 10 Millionen Euro für die 4 000 zum
Teil unter ganz kläglichen Verhältnissen lebenden ehemaligen sowjetischen Kriegsgefangenen bereitzustellen.
Ich glaube, das ist eine ganz wichtige Geste, die zeigt:
Trotz aller grundlegenden Meinungsverschiedenheiten,
die wir im Augenblick mit Russland haben, wissen wir
und vergessen wir nicht, welche ungeheuren Opfer
Russland im Zweiten Weltkrieg hat erbringen müssen.
({4})
Ich möchte mich auch bei Volker Kauder ganz herzlich
dafür bedanken, dass in dieser Frage so schnell eine Verständigung zwischen den Fraktionen möglich gewesen
ist.
({5})
- Lieber Kollege Bartsch, das ist natürlich nur eine
kleine Geste.
({6})
Aber ich finde 70 Jahre nach dem Ende des Zweiten
Weltkrieges diese kleine Geste überzeugender als den
Aufruf von Gregor Gysi an die Bundeskanzlerin, an einer imperial anmutenden Militärparade in Moskau teilzunehmen.
({7})
Lieber Gregor Gysi, was haben Sie sich als Pazifist
eben eigentlich dabei gedacht?
({8})
Das hat mich an unsere Gedenkstunde zum Ende des
Zweiten Weltkrieges erinnert. Als Professor Winkler
hier ausgerufen hat: „Nie wieder dürfen wir Deutschen
zum Nachteil und auf dem Rücken unserer osteuropäischen Nachbarn Entscheidungen zu deren Lasten treffen
oder über deren Schicksal bestimmen“,
({9})
hat sich in Ihrer Fraktion keine Hand zum Beifall gerührt.
({10})
Außenpolitisch bzw. geopolitisch sind Sie in Ihrer Fraktion über den Stand der Breschnew-Doktrin noch nicht
hinausgekommen.
({11})
Das ist leider so.
Aber das größte Problem ist nicht die Fraktion Die
Linke. Das größte Problem auf der Welt ist im Augenblick die Tatsache, dass 50 Millionen Menschen auf der
Flucht sind, um ihr Leben zu retten und eine Heimat zu
finden.
({12})
Nur ein ganz geringer Teil von diesen Flüchtlingen
kommt hier bei uns in Europa an. Deshalb erwarten die
G-7-Partner zu Recht, dass wir bei dem Flüchtlingsdrama im Mittelmeer und im Nahen Osten nicht nur zuschauen, sondern Verantwortung übernehmen.
({13})
Im wichtigsten Punkt haben wir jetzt zum Glück eine
Wende eingeleitet. Die humanitäre Seenotrettung steht
wieder an erster Stelle. Ich freue mich, dass sich jetzt
auch Schiffe der Bundesmarine daran beteiligen und
schon über 1 000 Menschen das Leben gerettet haben.
Ich möchte den Soldaten von hier aus unseren ganz herzlichen Dank aussprechen.
({14})
Es kann nicht sein, dass sich nur vier oder fünf Länder in
Europa um die Flüchtlinge kümmern. Was wir brauchen,
ist eine solidarische Flüchtlingsaufnahme in ganz Europa.
({15})
Die Vorschläge der EU-Kommission sind mutig. Sie
sind ein richtiger Schritt. Das Europäische Parlament hat
darüber gestern mit großem Zuspruch diskutiert. Ich
finde, der G-7-Gipfel ist eine gute Gelegenheit, auch unserem Partner Großbritannien zu sagen, dass er hier
nicht außen vor bleiben kann.
({16})
Ich halte es für beschämend, dass es in Europa Regierungen gibt, die meinen, sie hätten mit dem Flüchtlingsdrama im Mittelmeer nichts zu tun.
({17})
Die Tatsache, dass jetzt noch mehr Flüchtlinge aus
Jordanien und dem Libanon nach Europa kommen, hat
einen ganz einfachen Grund: Das UNO-Flüchtlingswerk
muss die Nahrungsrationen kürzen, weil es nicht genügend Geld hat. Geldmangel der UN ist ein Grund für
weitere Flüchtlinge. Deutschland hat seinen Beitrag im
letzten Jahr geleistet und dafür gesorgt, dass keine
Flüchtlingslager geschlossen werden mussten. Jetzt
müssen wir dafür sorgen, dass sich weitere Länder an
der Finanzierung der Flüchtlingsversorgung beteiligen.
({18})
Auch darüber sollte auf dem G-7-Gipfel gesprochen
werden.
Natürlich müssen wir Schlepperbanden gezielt bekämpfen. Aber am Wichtigsten ist es natürlich, daran zu
arbeiten, dass die Fluchtursachen beseitigt werden. Lieber Herr Minister Müller, Sie sind einer der ganz wenigen, möglicherweise der einzige Minister für wirtschaftliche Zusammenarbeit, der im Augenblick einen so
kräftigen Etatzuwachs hat: 8,3 Milliarden Euro mehr bis
2019. Ich habe die klare Erwartung, dass wir diese Mittel
schwerpunktmäßig zur Beseitigung der Ursachen der
Flucht von Menschen einsetzen, die keine Arbeit, keine
Perspektive und keinen Schutz haben.
({19})
Deshalb muss ein großer Teil dieser Mittel in Afrika eingesetzt werden. Wirtschaftliche Entwicklung, fairer
Handel und sicherheitspolitische Zusammenarbeit, das
gehört zusammen, und das sollte auch die Botschaft der
G 7 sein.
({20})
Der G-7-Gipfel ist auch ein Anlass zum Nachdenken
über unser Verhältnis zu den Vereinigten Staaten. Der
Irakkrieg, Guantánamo und die NSA-Affäre haben in
den letzten Jahren dazu geführt, dass das Ansehen der
USA in Deutschland gesunken ist. Amerika wird zunehmend skeptischer betrachtet. Die Entfremdung in Teilen
der Bevölkerung wächst, und sie verstärkt auch die Kritik an gemeinsamen Projekten wie dem Freihandelsabkommen. Ich sage: Wir dürfen nicht den Fehler machen,
uns auseinanderdividieren zu lassen; denn die USA bleiben Europas wichtigster Bündnispartner. Die weltweiten
Krisen erfordern, dass wir zusammenarbeiten und dass
wir uns auf unser gemeinsames Wertefundament besinnen.
({21})
Zu diesen Werten gehört ohne Zweifel auch der Grundsatz, dass die Ausübung jeglicher Staatsgewalt - dazu
gehört für mich ganz besonders die Tätigkeit der Geheimdienste - an Recht und Gesetz gebunden ist.
({22})
Wenn es jetzt den begründeten Verdacht gibt, dass die
NSA die Kooperation mit dem BND genutzt haben
könnte, um private Unternehmen und befreundete Regierungen in Europa auszuspähen, so wäre dies jedenfalls mit Recht und Gesetz in Deutschland nicht vereinbar.
({23})
Sollte sich dies als wahr erweisen, würde das nicht
nur das Vertrauen in den Verbündeten beschädigen, sondern vor allem auch das Vertrauen in den eigenen Nachrichtendienst. Ein Dienst, in dem solche Vorgänge nicht
unverzüglich an die Behördenleitung, an das Kanzleramt
und an das für die Kontrolle zuständige parlamentarische
Gremium gemeldet werden, führt ein Eigenleben, das
ihm in einem demokratischen Rechtsstaat nicht zusteht.
({24})
Ein Nachrichtendienst, der beschränkende Gesetze missachtet, ist kein Schutz für die Menschen, sondern eine
Gefahr für die Demokratie, und schon deshalb müssen
wir diese Vorgänge genau aufklären,
({25})
übrigens auch im Interesse der Mitarbeiter unserer Sicherheitsbehörden. Die allermeisten Mitarbeiter leisten
eine ungemein wertvolle Arbeit für unser Gemeinwesen.
Ich finde, an deren Loyalität zu Recht und Verfassung
bestehen nicht die geringsten Zweifel. Sie dürfen nicht
für die Fehler einiger in Mithaftung genommen werden.
({26})
Ich bin zuversichtlich, dass die Aufklärung im parlamentarischen Untersuchungsausschuss und im Parlamentarischen Kontrollgremium gelingt. Wir werden die
Fakten klären, die Ergebnisse bewerten und daraus die
richtigen Konsequenzen ziehen. Das ist die richtige Reihenfolge. Aber ich bin mir schon jetzt sicher, dass wir
ein neues BND-Gesetz brauchen.
Die Bürger und Bürgerinnen akzeptieren Nachrichtendienste. Aber dabei müssen sie sich auf zwei Dinge
verlassen können, nämlich erstens darauf, dass der
Schutz ihrer Privatsphäre respektiert wird und sie nicht
vom eigenem Auslandsnachrichtendienst ausgespäht
werden, und zweitens darauf, dass der BND im Rahmen
klarer gesetzlicher Vorgaben unter effektiver exekutiver
und parlamentarischer Kontrolle unsere Sicherheit gewährleistet und uns mit dem Sammeln von Informationen vor Anschlägen schützen kann.
Wir alle wissen: Ein effektiver Schutz ist heute wichtiger denn je; denn wir erleben eine völlig neue Form der
Bedrohung. Mehrere Hundert junge Deutsche, mehrere
Tausend junge Europäer ziehen in den Krieg im Nahen
Osten und beteiligen sich an Terrorakten. Sie können jederzeit zurückkommen. Auf diese Internationalisierung
des Terrors dürfen wir nicht mit einer Renationalisierung
und Abschottung unserer Nachrichtendienste antworten.
Das wäre der falsche Weg.
({27})
Wir brauchen auch in Zukunft eine Zusammenarbeit mit
der NSA; aber sie muss auf klaren rechtlichen Grundlagen geschehen.
Schwierige Themen tragen schwierige Entscheidungen in eine Koalition. Aber auch wenn etwas kompliziert
ist, kann man es lösen. Das haben wir in den vergangenen Wochen immer wieder geschafft.
({28})
Wir haben uns in etlichen nicht ganz einfachen Punkten
geeinigt, zum Beispiel bei der Entlastung der Alleinerziehenden und beim Abbau der kalten Progression. Wir
haben ein Maßnahmenpaket gegen Wohnungseinbrüche
geschnürt. Auch bei einem so schwierigen Thema wie
der Vorratsdatenspeicherung haben wir uns geeinigt.
Ich bin ganz sicher: Wir werden uns in den nächsten
Wochen auch in der Frage einigen, wie wir die Kommunen in Deutschland bei der Aufnahme von Flüchtlingen
stärker entlasten. Ich freue mich jedenfalls darüber, dass
diese Koalition den festen Willen hat und ohne Einschränkungen bereit ist, die Aufnahme von Flüchtlingen
in Deutschland so zu organisieren, dass wir eine Spaltung der Gesellschaft verhindern. Daran lassen Sie uns
gemeinsam arbeiten.
({29})
Nächster Redner ist der Kollege Anton Hofreiter für
die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Sehr geehrte Frau Kanzlerin,
({0})
wir haben von Ihnen heute wieder einmal eine typische
Regierungserklärung gehört, so eine schöne Ankündigungsrede.
({1})
Sie haben viele Themen kurz gestreift: die Klimakrise,
die Finanzierung der Entwicklungszusammenarbeit, die
Gefahr eines postantibiotischen Zeitalters und die mangelnde Fairness der ökonomischen Globalisierung. Sie
haben viele Probleme der Welt auf die Tagesordnung des
G-7-Gipfels in Elmau gesetzt.
({2})
Sie sind die Kanzlerin der Tagesordnung, Frau
Merkel. Daran besteht kein Zweifel.
({3})
So eine Tagesordnung schreiben Sie bestimmt nach bestem Wissen und Gewissen, wie Sie es selbst ausdrücken.
Ich finde, dieser Satz verkörpert, wofür Sie stehen: Sie
ersetzen die Tat durch den Vorsatz, den Inhalt durch die
Überschrift und die Politik durch PR. Egal wenn nichts
passiert; Hauptsache, es sieht irgendwie schön aus.
({4})
Die reale Welt braucht aber reale Politik, Frau
Merkel. Daran müssen Sie sich messen lassen, und genau dabei fallen Sie durch. Ob bei den entscheidenden
Zukunftsfragen, beim Datenschutz, bei einer gerechten
Globalisierung, beim Klimaschutz oder bei der Energiewende: Überall herrschen Stillstand, Apathie und
Gleichgültigkeit. Die Probleme der Welt sind echt, aber
Ihre Politik ist nicht echt.
({5})
Nach bestem Wissen und Gewissen, Frau Merkel?
Seien wir ehrlich: Sie wissen es doch viel besser. Sie
wissen doch, dass der Klimaschutz in Deutschland
stockt, dass unsere Daten nicht sicher sind,
({6})
dass die Ungleichheit zunimmt und unsere Autos nicht
sauberer werden. Das wissen Sie sehr wohl. Warum handeln Sie dann nicht endlich?
Bisher ist es Ihnen oft gelungen, die Fassade aufrechtzuerhalten und die Arbeit nur vorzutäuschen. Aber nach
zehn Jahren Wind und Wetter aus der echten Welt bekommt die schönste Fassade Risse. Morsches Gebälk
kommt zum Vorschein.
({7})
Ein tiefer Riss in dieser Fassade stammt aus dem
Jahr 2013. Erinnern Sie sich? Damals war Wahlkampf.
Im Jahr 2013 ist die reale Welt in Form von Edward
Snowden in die Merkel-Welt eingebrochen. Das war natürlich total unangenehm; denn Sie hatten die Republik
doch so schön eingelullt. Aber dann kam die reale Welt
zum Vorschein, und was taten Sie? Sie schickten einen
Gaukler namens Pofalla. Und was haben Sie den Gaukler Pofalla sagen lassen? Sie haben den Gaukler Pofalla
die schönen Worte an die Deutschen richten lassen: Die
Amerikaner haben uns den Abschluss eines No-Spy-Abkommens angeboten.
Sie wollten beruhigen, Lösungen vortäuschen und
verschleiern. Ihre Botschaft sollte sein: Wir haben alles
im Griff. - Doch es war eine falsche Fährte, eine Fährte,
wie sie ein Geheimdienst nicht besser hätte legen können. Es war Trickserei. So geht es nicht, Frau Merkel.
({8})
Denn an der Beendung der Massenüberwachung waren
Sie gar nicht interessiert. Es sollte nie ein No-Spy-Abkommen geben. Die Amerikaner hatten es nie angeboten.
Ihr Kanzleramt hat die Öffentlichkeit getäuscht, hinter die Fichte geführt oder, wie man es landläufig auch
nennt, schlichtweg gelogen. Und Sie haben es zugelassen. Sie sind schließlich die Kanzlerin. Deshalb vermute
ich, dass Sie Einfluss auf Ihr Kanzleramt haben. Vielleicht haben Sie es sogar selbst veranlasst. Ist es das, was
Sie mit bestem Wissen und Gewissen meinen?
Ihr Gewissen ist Ihre Sache, Frau Merkel. Ihr Wissen
war allerdings schon damals deutlich besser als Pofallas
Gauklerspiel.
({9})
Der belegte E-Mail-Verkehr legt nahe, dass Sie ganz genau wussten, dass es dieses Abkommen nie geben
würde. Frau Merkel, es war alles nur ein faules Ei aus
Ihrer PR-Abteilung.
({10})
Frau Merkel, Sie hätten heute die Gelegenheit gehabt,
sich zu äußern. Eine Entschuldigung bei den Bürgerinnen und Bürgern wäre angesichts dieser Täuschung das
Mindeste; sie wäre angemessen.
({11})
Stattdessen imitieren Sie Helmut Kohl und versuchen,
die Probleme auszusitzen. Das lassen wir nicht zu, Frau
Merkel. Der BND hat der NSA jahrelang geholfen, deutsche und europäische Unternehmen und europäische
Nachbarn auszuspionieren. Gegen diese Realität hilft
keine PR, Frau Merkel.
({12})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, das
hat rein gar nichts mit dem Schutz vor Terror zu tun. Erst
täuschen Sie die Wählerinnen und Wähler, und jetzt versuchen Sie, sie mit ihrer Angst vor Terroranschlägen einzuschüchtern. Das ist im Kern wirklich unanständig.
Frau Merkel, Sie untergraben auch die Legitimität der
Geheimdienste, des Rechtsstaats und am Ende unserer
Demokratie, wenn Sie jetzt nicht endlich aufklären.
({13})
Dieses Untergraben der Legitimität gefährdet am
Ende unser aller Sicherheit; denn wir brauchen eine
funktionierende Zusammenarbeit, und wir brauchen eine
rechtsstaatliche, verlässliche Zusammenarbeit.
({14})
Aber was wir nicht brauchen, ist, nach Ihrer marktkonformen Demokratie, auch noch die geheimdienstkonforme Demokratie. Es kann doch nicht wirklich Ihr
Ernst sein, Frau Merkel, was Sie da zulassen. Legen Sie
endlich die Selektorenlisten auf den Tisch!
({15})
Sie haben noch am 11. Mai in Bremen versprochen,
dass selbstverständlich alle Unterlagen dem BND-Untersuchungsausschuss zugeleitet werden. Sie selbst haben
gesagt: Selbstverständlich wird alles zugeleitet. Stimmt das jetzt, oder stimmt es nicht?
({16})
Offensichtlich hat das Versprechen nicht einmal drei
Tage gehalten. Wo sind jetzt die Selektorenlisten, wo
sind die Unterlagen, die der Untersuchungsausschuss
fordert? Halten Sie sich in diesem Fall an Ihre eigenen
Worte, und legen Sie die Unterlagen endlich vor!
({17})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, dieses Jahr ist auch
entscheidend für den Klimaschutz und die globale Gerechtigkeit. Mit den Konferenzen zur Entwicklungsfinanzierung und zu den Nachhaltigkeitszielen der UN
sowie der Klimakonferenz in Paris werden Weichen für
die nächsten Jahrzehnte gestellt. In Ihrem Videopodcast
haben Sie, Frau Merkel, angekündigt, dass die Globalisierung jetzt fair und gerecht gestaltet werden soll. Wieder eine schöne Überschrift. Sie werden sich ganz
bestimmt nach bestem Wissen und Gewissen dafür einsetzen.
Aber können wir irgendetwas davon erwarten? Ich
fürchte, nein. Erinnern Sie sich noch an 2007? Da gab es
schon einmal einen Gipfel in Deutschland, den G-8-Gipfel in Heiligendamm. Im Vorfeld haben Sie eine schöne
Rede gehalten. Diese Rede hat den Titel getragen: „Globalisierung fair gestalten“. Was ist aus dieser Überschrift
gefolgt? Es ist immerhin schon viele Jahre her. Ich kann
es Ihnen sagen: Finanztransaktionsteuer - gibt es nicht;
verbindliche Arbeitsmarkt- und Sozialstandards - nicht
mit Frau Merkel; harte Regeln für die Banken - Pustekuchen; 0,7-Prozent-Ziel für die Entwicklungszusammenarbeit - kein Plan vorhanden.
({18})
An Ihren Slogans und Überschriften ist genauso viel
dran wie an der schönen Show Ihres damaligen Gauklers
Herrn Pofalla, es ist schlichtweg gar nichts dran.
({19})
Fragen Sie sich manchmal, ob seitdem für die Näherinnen in Bangladesch irgendetwas an ihren Lebensumständen besser geworden ist? Es ist richtig, dass diese
Menschen Entschädigungen bekommen. Aber es ist
doch noch viel wichtiger, dass man dafür sorgt, dass es
zu solchen Unglücken gar nicht erst kommt. Ist irgendetwas besser geworden, seit Sie zum letzten Mal eine solche Rede gehalten haben? Nein, nichts ist besser geworden für die Näherinnen, und wir fürchten, dass auch Ihre
jetzige Rede wieder konsequenzlos bleibt und auch diesmal nichts besser wird für die Näherinnen in Bangladesch.
({20})
Fragen Sie sich eigentlich, ob die Risiken der globalen Finanzwelt kleiner geworden sind, seit Sie viele
schöne Reden gehalten haben? Auch hier lautet die Antwort Nein. Die Risiken sind nicht kleiner geworden.
Oder nehmen wir die brutale Ungleichheit, die viel mit
einer fairen und gerechten Globalisierung zu tun hat.
Nein, auch die brutale Ungleichheit in der Welt ist kein
bisschen kleiner geworden. Nächstes Jahr wird das
reichste 1 Prozent der Menschen genauso viel besitzen
wie alle übrigen 99 Prozent zusammen.
Schützen Sie diejenigen besser, die zu Hunderttausenden vor Krieg, Armut und Vertreibung fliehen? Nein, der
Großteil des Mittelmeers bleibt immer noch eine Todeszone, und humanitäre Visa gibt es immer noch nicht.
Frau Merkel, Ihre Rede enthält wunderbare Überschriften, sie enthält schöne Worte, aber an der Realität ändert
sich nichts. Seit zehn Jahren verbessert sich die Realität
nicht. Da können Sie noch so oft schöne Worte wie die
von fairer Globalisierung finden. Handeln Sie endlich!
Verändern Sie die Realität! Dafür sind Sie zur Kanzlerin
gewählt.
({21})
Frau Merkel, Sie sprechen von einem guten Signal,
das vom Petersberger Klimadialog ausgehen müsse. Ein
gutes Signal. Es kann sein, dass Sie in Signalen und
Symbolen denken. Wir erwarten beim Klimaschutz aber
nicht Signale und Symbole, wir erwarten beim Klimaschutz längst Taten; denn Taten müssen den Worten folgen, nicht nur immer weitere schöne Worte.
({22})
Aber was passiert pünktlich zum Auftakt des Petersberger Klimadialogs? Sie weichen die CO2-Einsparziele
Ihres Energieministers auf. Mit dem Verbrennen der dreckigen Braunkohle reißen Sie alle selbst gesteckten
Klimaziele und heizen die Erde weiter auf. Sie lassen
unentwegt die Kohle- und Atomideologen aus der
Unionsfraktion und aus Bayern die Energiewende sabotieren. Ihre Bundestagsfraktion hat Minister Gabriel so
lange in die Kniekehlen getreten, bis er eingeknickt ist.
({23})
Ihr Ministerpräsident Seehofer wütet gegen den Netzausbau, der die Grundlage für den Atomausstieg ist. Sie
versprechen zusammen mit Frankreich einen besseren
Emissionshandel. Aber es sind doch Ihre Parteifreunde
von der CDU, die in Brüssel im Europaparlament genau
das verhindern, was Sie hier versprechen. Das darf doch
nicht wahr sein!
({24})
Was tun Sie, Frau Merkel? Sie schreiben nach bestem
Wissen und Gewissen schöne Überschriften für diese
falsche Politik. Die Merkel-Union ist längst zu einer Bedrohung für das Klima geworden.
({25})
Sie gefährden dadurch, dass Sie nicht handeln, sondern
immer nur schöne Worte sagen, die Lebensgrundlagen
für uns alle; Sie gefährden dadurch die Lebensgrundlagen von Millionen von Menschen.
Frau Merkel, „nach bestem Wissen und Gewissen“,
das ist die verbale Krücke für Ihr Regierungsprinzip.
Wenn Politik allerdings nicht liefert, was sie verspricht,
wenn sie nicht sagt, was sie wirklich will, wenn sie nur
Fassade ist, dann nimmt unsere Demokratie Schaden.
Niedrige Wahlbeteiligungen und Politikverdrossenheit
sind Folgen davon. Das ist mit Ihr Verdienst, Frau
Merkel. Eine träge und politisch sedierte Bundesrepublik ist die Folge von zehn Jahren Kanzlerschaft Merkel.
Ihre asymmetrische Demobilisierung, mit der Sie erfolgreich Wahlkämpfe geführt haben, ist längst zu einer flächendeckenden Entpolitisierung geworden.
„Nach bestem Wissen und Gewissen“ - an diese
Worte kann ich mich gut erinnern. Die habe ich von einem anderen Politiker schon einmal gehört. Dieser andere Politiker war auch einmal der beliebteste Politiker
in ganz Deutschland. Können Sie sich noch an ihn erinDr. Anton Hofreiter
nern, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union? Es
war Karl-Theodor Guttenberg. Mit denselben Worten
verteidigte er einst seine Promotionsarbeit. So substanzlos wie seine Promotionsarbeit, so zusammengeschustert, ideenlos und inhaltsleer ist inzwischen Ihre Politik
geworden. Auch Sie werden nicht länger mit Ihrem Einlullen, Täuschen und Vortäuschen davonkommen. Die
„Methode Merkel“ kommt inzwischen an ihr Ende, und
das ist auch gut so.
({26})
Für die CDU/CSU-Fraktion erhält nun Volker Kauder
das Wort.
({0})
Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Bundeskanzlerin hat in ihrer Regierungserklärung zu zwei, drei wichtigen globalen Themen und
Herausforderungen gesprochen. Bei den Treffen in den
nächsten Tagen wird darüber entschieden, wie es bei
zentralen Aufgaben, die nicht mehr national gelöst werden können, weitergeht. Da kann ich mich, Herr
Hofreiter, nur wundern, mit welch kleinem Karo Sie
heute hier angetreten sind.
({0})
Da geht es zunächst einmal um die Vertiefung und
den Ausbau der Partnerschaft der EU mit den östlichen
Ländern. Es ist tatsächlich so, wie es die Bundeskanzlerin und der Bundesaußenminister mehrfach gesagt haben: Dabei geht es nicht darum, dass die EU und dass
wir aus Deutschland unseren Willen durchsetzen wollen
- überhaupt nicht! -, sondern darum - darauf hat
Thomas Oppermann auch hingewiesen -, dass Länder in
freier Selbstbestimmung entscheiden, was sie gern
möchten, und damit auf ein Angebot der EU zukommen.
Es war in vielen Festreden hier im Deutschen Bundestag
die Rede davon: Das Selbstbestimmungsrecht der Völker darf durch niemanden eingeengt und bedroht werden, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({1})
Genau dies setzen wir jetzt um.
Herr Gysi, dass Sie sich noch immer nicht entscheiden können, Unrecht vonseiten Russlands als Unrecht zu
bezeichnen,
({2})
weil Sie offenbar noch immer nicht richtig wissen, wo
Sie hingehören, ist Ihr Problem. Aber schade ist es auf
jeden Fall.
({3})
Liebe Kollegen, ich halte es auch für richtig, dass die
EU deutlich macht, dass wir in der Vertiefung von Nachbarschaftsbeziehungen keinen Alleinvertretungsanspruch
für uns behaupten, sondern dass wir natürlich sagen: Wir
wollen eine Vertiefung der Beziehungen, haben aber
auch Verständnis dafür, wenn es darüber hinaus noch
weitere Organisationseinheiten gibt, zu denen man gehören möchte, wie beispielsweise im Fall Armeniens. So
können wir einen Beitrag leisten, um auch in diesem Teil
Europas und in europanahen Regionen für Entwicklung
zu sorgen.
Wir sollten mit diesen Nachbarn aber auch darüber reden, dass auch sie einen Beitrag dazu leisten können,
Flüchtlingsbewegungen zu unterbinden, und damit zu
der Frage, wie wir mit Flüchtlingen umgehen. Es gibt
nämlich nicht nur die Flüchtlinge, die über das Mittelmeer kommen, sondern auch Tausende von Flüchtlingen, die auf dem Landweg über osteuropäische Staaten
zu uns kommen. Deswegen gehört das Thema Flüchtlinge nicht nur in diesen Bereich hinein, sondern auch in
den Rahmen des G-7-Treffens.
Ich bin froh, dass wir hier bei uns in Deutschland
klare Positionen gefunden haben, was wir tun wollen,
und dass wir uns dieser Herausforderung stellen und dafür im Nachtragshaushalt, den wir in dieser Woche beschließen, Mittel zur Verfügung stellen. Ich finde, dass
auch dies ein Thema ist, das man in Elmau besprechen
kann: Was müssen wir tun, um Flüchtlingsbewegungen
nicht zu stoppen, sondern immer weniger notwendig zu
machen, damit die Menschen eine Perspektive in ihren
Ländern haben? Da ist es völlig richtig, dass wir uns die
Frage stellen: War die bisherige Entwicklungshilfepolitik tatsächlich überall richtig und erfolgreich? Da müssen wir natürlich mit Ländern sprechen, die zu den G 7
gehören, und mit Ländern, die nicht zu den G 7 gehören.
Da muss man auch mit China einmal darüber reden, dass
das, was China in Afrika macht, mit Entwicklungshilfepolitik an vielen Stellen relativ wenig zu tun hat.
({4})
Wenn wir über Sicherheit reden, dann müssen wir
auch darüber reden, dass die Sicherheit gefährdet ist:
durch ausbleibende wirtschaftliche Entwicklung, beispielsweise in den ärmsten Ländern der Welt, aber auch
dort, wo es überhaupt keine staatliche Gewalt mehr gibt.
Ich kann nur sagen: Was in Libyen passiert, hat mit einem funktionierenden Staat überhaupt nichts mehr zu
tun. Wir sehen ja, dass es für uns fast unmöglich ist, das
Thema der Flüchtlinge, die aus Libyen kommen, mit irgendjemandem in Libyen zu besprechen. Deswegen ist
es eine zentrale Aufgabe der internationalen politischen
Arbeit, dass wir dafür sorgen, dass es funktionstüchtige
Staaten gibt. Ich sehe in weiten Teilen Afrikas eine immer stärkere Auflösung. Dort, wo keine ordnende staatliche Gewalt mehr da ist, wo terroristische Gruppen mit
den Leuten machen können, was sie wollen, sind die
Menschen am meisten betroffen und verfolgt. Das müssen wir unterbinden.
({5})
Frau Bundeskanzlerin, ich glaube, die Bedeutung eines anderen Themas, das bei den Vereinten Nationen
nicht so richtig aufgenommen wird, sollte in den Gesprächen sowohl im Rahmen der Östlichen Partnerschaft als
auch in Elmau deutlich gemacht werden: Eine zentrale
Ursache für terroristische Bewegungen und die Verfolgung von Menschen ist die zunehmende Bereitschaft,
Religionsfreiheit nicht mehr als einen zentralen Bestandteil der politischen Arbeit zu betrachten. Ich meine damit
nicht nur die besondere Situation verfolgter Christen.
Vielmehr sehe ich, dass Religion im Nahen Osten teilweise missbraucht wird, um Macht und Gewalt ausüben
zu können. Davon sind Muslime genauso betroffen wie
Angehörige anderer Religionen. Ich kann aufgrund meiner jahrelangen Erfahrung und Arbeit nur sagen: Wir
müssen deutlicher machen, dass es, wenn das Recht jedes Einzelnen, sich zu einer Religion zu bekennen oder
nicht und dies auch zu leben, nicht durchgesetzt wird,
keine Ruhe in den betreffenden Regionen geben wird.
({6})
Deswegen muss die Religionsfreiheit ein zentrales
Thema sein. Es wird nicht immer einfach sein, das deutlich zu machen.
Ich habe vor wenigen Wochen ein Gespräch mit dem
Großscheich der Al-Azhar-Universität in Kairo geführt.
Er hat mir gesagt - da sieht man, wo die Auseinandersetzungslinie verläuft -: Ihre westliche Vorstellung von
Menschenrechten teilen wir nicht. - Er hat also nicht gesagt: „Das akzeptieren wir“, sondern: „Das teilen wir
nicht“. Und weiter hat er gesagt, dass im Islam der
Grundsatz gelte - diesen lasse man sich auch von niemandem nehmen -, dass die Religion über dem Einzelnen steht und nicht der Einzelne mit seinen Rechten über
der Religion. Solange es Religionen gebe, die genau das
Gegenteil behaupten, könne er dies nicht hinnehmen. Deshalb kann ich denjenigen, die anderer Meinung sind,
nur sagen: Sie können ihre Position für sich und ihre Religion vertreten. Wenn aber jemand glaubt, seine Auffassung, was religiös richtig ist und was nicht, unbedingt
und absolut durchsetzen zu müssen, dem kann ich nur
sagen: Dann wird es keinen Frieden in den betreffenden
Regionen geben.
Religionsfreiheit bedeutet, dass jeder das Recht hat,
seinen Glauben zu leben. Das müssen wir in den Diskussionen mit vielen Ländern dieser Welt so klar und deutlich sagen und auch einfordern. Es geht nicht - wie der
eine oder andere in der Türkei meint - um den Vorrang
der christlichen Religion. Vielmehr hat jede Religion das
Recht, ihren Glauben überall auf der Welt frei zu leben.
Das muss durchgesetzt werden. Nur so sorgen wir für
eine wirkliche Bekämpfung radikalisierter Gruppen in
den entsprechenden Regionen.
({7})
Zum Klimaziel. Die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen haben auch in diesen Tagen immer wieder betont, dass es beim Klimaziel bleibt, dass es also
keine Abstriche gibt. Aber, Herr Hofreiter, Sie haben
heute an diesem Rednerpult so getan, als ob Sie in ganz
Deutschland in der Opposition wären. Das wäre zwar
kein Problem, wenn dem so wäre. Aber dem ist nicht so.
({8})
Sie sind in Nordrhein-Westfalen, einem Kohleland, in
der Regierung. Da kann ich nur sagen: Bestimmte Dinge
gehen redlich nicht.
({9})
Man kann nicht aus Nordrhein-Westfalen rufen: „Wir
lassen nicht zu, dass der Kohle irgendetwas geschieht“,
({10})
aber dann, wenn es darum geht, etwas für das Klima zu
tun, damit es bei der Kohle weitergehen kann, nämlich
Maßnahmen zur energetischen Gebäudesanierung zu beschließen, nicht mitmachen.
({11})
Haben Sie sich eigentlich einmal überlegt, ob das, was
Sie heute hier gesagt haben, nicht logischerweise zum
Austritt aus der Regierung in Nordrhein-Westfalen führen müsste? Die Frage müssen Sie sich einmal stellen,
Herr Hofreiter, statt hier solche Sprüche zu machen.
({12})
Ich kann nur sagen: Wir bleiben bei unserem Ziel.
Wir werden mit dem Wirtschafts- und Energieminister
Gabriel eine Lösung dieses Problems finden. Aber ich
sage auch: NRW muss endlich bereit sein, bei der energetischen Gebäudesanierung mitzumachen, zumal jetzt
die finanziellen Möglichkeiten dazu bestehen. Es hat
nicht nur der Bundesfinanzminister mehr Steuereinnahmen in die Bundeskasse bekommen, sondern in gleicher
Höhe sind auch die Einnahmen in den Ländern gestiegen. Dann wird es doch möglich sein, dass Sie hier für
das Klima etwas machen. Da helfen die Reden hier
nichts! Dort, wo Sie in der Regierung sind, müssen Sie
einmal handeln, Herr Hofreiter, statt hier große Reden zu
führen!
({13})
Wir werden das Thema wieder bringen. Sie werden
Gelegenheit haben, zu zeigen, ob das, was Sie hier vollVolker Kauder
mundig verkünden, dann nachher wenigstens in einer
kleinen Tat gelingt.
({14})
Franz Thönnes ist der nächste Redner für die SPDFraktion.
({0})
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Der
heutige Gipfel der Östlichen Partnerschaft in Riga findet
vor einem Hintergrund statt, in dem der Frieden nicht
gesichert und die Gefahr einer neuen Spaltung in Europa
nicht gänzlich gebannt ist. Es ist gleichzeitig ein Hintergrund, verbunden mit einer Hoffnung - mit der Hoffnung, dass es drei Monate nach der Erklärung der Präsidenten von Frankreich, Russland, der Ukraine und der
Bundeskanzlerin trotz einzelner Waffenstillstandsverletzungen nun zur Umsetzung der Minsker Vereinbarungen
und der dazugehörigen Maßnahmen, also zu einem
friedlichen Prozess der Lösung des Konflikts, kommt.
Das ist von zentraler Bedeutung für die Menschen,
das ist von zentraler Bedeutung für die notwendigen Reformen und die Stabilität in der Ukraine, und es ist auch
eine wesentliche Voraussetzung für die Weiterentwicklung der Östlichen Partnerschaft und der Entstehung eines neuen Vertrauens. Es geht letztlich darum, das friedliche Zusammenleben in unserem gemeinsamen
europäischen Haus zu sichern.
({0})
So wird der heutige Gipfel kein Jubelgipfel sein können, aber er wird auch nicht der Gipfel einer gescheiterten Politik in den letzten Jahren sein. Er muss ein Gipfel
der nüchternen Analyse sein, ein Gipfel, der die gemachten Erfahrungen mit den Partnerländern Armenien,
Aserbaidschan, Belarus, Georgien, Moldau und der
Ukraine aufarbeitet und der zeigt, dass man gelernt hat,
dass - salopp gesagt - eine Kleidergröße allein nicht
passt, sondern dass es notwendig ist, Bedingungen zu
entwickeln, die auf die Partnerländer zugeschnitten sind,
und mit länderspezifischen Angeboten zu arbeiten. Und
es gilt, noch deutlicher zu machen, dass die Kooperationspolitik nicht gegen einen Nachbarn gerichtet ist,
sondern spürbar auf gute Nachbarschaft ausgerichtet ist.
({1})
Dafür gibt es gute Gründe. Georgien, Moldau und die
Ukraine haben inzwischen ein Assoziierungsabkommen
mit der EU unterzeichnet. Aserbaidschan, Armenien und
Belarus streben das nicht an. Die letzten beiden wurden
Mitglied der Eurasischen Wirtschaftsunion gemeinsam
mit Russland, Kasachstan und Kirgisistan. Genau damit
könnten sie wichtige Bindeglieder bei einer Verbesserung des Verhältnisses zwischen Russland und der EU
sein.
Alle Länder haben das Recht, ihre Wege und Formen
der Zusammenarbeit mit anderen Ländern oder von Zusammenschlüssen frei und selbst zu bestimmen.
Genauso gehört zur guten Nachbarschaft, mit den
Nachbarn über die damit verbundenen Entwicklungen zu
reden. Die jetzigen Gespräche zwischen der EU und
Russland über die Wirkungen des mit der Ukraine abgeschlossenen Assoziierungsabkommens gilt es von beiden Seiten konstruktiv zu nutzen. Es gilt, zu realisieren,
wie bestimmte Beziehungen der Partnerländer zum großen Nachbarn Russland ausgeprägt sind. Trotz der sehr
kritischen Lage gehen noch immer 25 Prozent des ukrainischen Exports nach Russland, 33 Prozent in die EU.
Da bestehen Verbindungen und Verflechtungen im Energiebereich, im gesellschaftlichen, sprachlichen und medialen Bereich.
700 000 Beschäftigte aus Moldau arbeiten in Russland. Die Russische Föderation ist Moldaus größter bilateraler Handelspartner. Die europaorientierte und von
den Kommunisten gestützte Regierung befindet sich angesichts eines Bankskandals im Moment in einer sehr
schwierigen Situation. Aber man spürt in der Bevölkerung, dass ein Teil die Kooperation mit Russland und
dass ein anderer Teil eine enge Kooperation mit der
Europäischen Union will. Tausende Moldauer machen
inzwischen Gebrauch von der Visaliberalisierung.
Die georgische Regierung hat gerade erst wieder eine
Umbildung hinter sich und ist bemüht, ihren europäischen Kurs zu halten. Gleichzeitig bangen die Menschen
um die Sicherheit ihrer Arbeitsplätze und sehen auch die
engen wirtschaftlichen Verflechtungen mit Russland.
Nicht zu unterschätzen sind auch die Verbindungen der
Kirchen untereinander.
In Armenien kommen 60 Prozent der Direktinvestitionen aus Russland, 2 Millionen armenische Gastarbeiter sind dort tätig. Durch den ungelösten Berg-KarabachKonflikt wahrt Russland seine Einflüsse auf Armenien
und auf Aserbaidschan. Die Menschenrechtslage in
Aserbaidschan ist schwierig, und das Land ist derzeit
wohl eher selektiv an einer Zusammenarbeit im energieund wirtschaftspolitischen Bereich interessiert.
Schließlich ist Belarus, Gründungsmitglied der Eurasischen Wirtschaftsunion, einer der engsten und von
Russland abhängigsten Partner. Gleichwohl hat das Land
im Konflikt zwischen der Ukraine und Russland eine
sehr konstruktive Rolle gespielt. Von erheblicher Bedeutung sind hier aber Verbesserungen der innenpolitischen
und menschenrechtlichen Lage sowie die dringend notwendige Freilassung der politischen Gefangenen, unter
denen auch der ehemalige sozialdemokratische Präsidentschaftskandidat Nikolai Statkevich ist.
({2})
Dieser Ausschnitt aus der gesamten Vielfalt der Situation in den Ländern der Östlichen Partnerschaft und
ihren Verhältnissen zeigt deutlich, wie wichtig die Einbeziehung Russlands in die Gestaltung dieser Nachbarschaftspolitik ist. Ich teile die Einschätzung, die hierzu
gerade im April dieses Jahres in einem Papier der Stiftung für Wissenschaft und Politik geäußert wurde:
Die EU muss sich außerdem bemühen, in dem Gesamtgeflecht ihrer Beziehungen dafür zu sorgen,
dass in dem Verhältnis zwischen Russland und dessen Nachbarn sowie zwischen den Nachbarn untereinander Verträglichkeit, Transparenz und Stabilität
herrscht.
Einen guten Rahmen hierfür bietet das Bekenntnis der
Staats- und Regierungschefs aus der Minsker Erklärung
vom 12. Februar 2015 zur Version eines gemeinsamen
humanitären und wirtschaftlichen Raums vom Atlantik
bis zum Pazifik auf der Grundlage der uneingeschränkten Achtung des Völkerrechts und der Prinzipien der
OSZE. Diese Verantwortung gilt es, einzulösen, für alle,
auch für Russland, um neues Vertrauen zu schaffen.
Herr Kollege Thönnes.
Aber es gilt auch, Perspektiven für die Partnerländer
aufzuzeigen, den Weg in die Europäische Union zu gehen. Dazu bedarf es konsequenter Arbeit. Polen hat
dafür 15 Jahre gebraucht. Schneller können wir gute
Voraussetzungen für die Visaliberalisierung mit den
Partnerschaftsländern und auch mit Russland schaffen,
damit der humanitäre Raum mit der Begegnung von
Menschen im friedlichen Miteinander ausgefüllt werden
kann. Deswegen ist der Erfolg von Minsk für uns alle so
wichtig.
({0})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Manfred Grund für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Anfang
der 2000er-Jahre, also vor ungefähr 15 Jahren, habe ich
an einer Konferenz im Rahmen des Programms „Partnerschaft für den Frieden“ teilgenommen. Auf dieser
Konferenz waren Botschafter nahezu aller europäischen
Staaten, also auch aus den Transformationsländern Ostund Mitteleuropas vertreten, und auch verschiedene Militärs. Während der Konferenz ergriff ein russischer General das Wort und stellte die Frage, ob denn nicht jedermann klar sehe, dass sich mit der Osterweiterung der
Europäischen Union und der NATO diese nach Osten, an
die Grenzen Russlands verschieben und damit die Interessen Russlands verletzt würden.
Es war spannend, zu erleben, wer dem russischen General antwortete. Kein EU- oder NATO-Botschafter ergriff das Wort. Es stand ein polnischer General auf, und
er sagte, nicht die Europäische Union und die NATO
würden nach Osten verschoben, um Russland zu beeinträchtigen, sondern Europa finde nach dem Ende des
Kalten Kriegs und dem Fall des Eisernen Vorhangs seine
Mitte wieder. - Meine Damen und Herren, was für ein
Bild! Nach dem Ende der Teilung Europas findet dieses
Europa seine Mitte wieder. Und selbstverständlich gehören Warschau, Krakau, Riga und Budapest zu Europas
Mitte - wie schon vor der Teilung Europas, wie schon
vor dem Kalten Krieg. Im Kalten Krieg war Europa geteilt in Interessenssphären und Machtblöcke: hier EWG,
dort RGW, hier NATO, dort Staaten des Warschauer
Paktes. In den Jahren nach 1990 schien diese Teilung
aufgehoben. Europa konnte zusammenfinden. Interessenssphären und Machtpolitik hat niemand von uns, niemand in Europa, wirklich vermisst. Doch spätestens mit
der Annexion der Krim und dem militärischen Eingreifen Russlands in der Ukraine ist die Machtpolitik, ist die
Hegemonialpolitik wieder auf die europäische Tagesordnung zurückgekehrt. Auch der bevorstehende Gipfel der
Östlichen Partnerschaft in Riga bleibt davon nicht verschont. Die Deutsche Presse-Agentur, dpa, vermeldete
gestern:
Vor dem Gipfel der Östlichen Partnerschaft in Riga
hat der russische Außenminister Sergej Lawrow die
EU mit Nachdruck davor gewarnt, Russlands Interessen zu schaden.
Was aber sind Russlands Interessen, und warum sind es
- offensichtlich - nicht die gemeinsamen europäischen
Interessen, und wie könnte ein Ausgleich dieser Interessen aussehen?
Meine Damen und Herren, beim heute Abend in der
lettischen Hauptstadt Riga beginnenden Treffen der
Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union
mit den Vertretern sechs östlicher Nachbarländer geht es
um die Bilanz, die Verbesserung und Vertiefung der
2009 beschlossenen Östlichen Partnerschaft. Zur Östlichen Partnerschaft gehören die Ukraine, Weißrussland,
Moldau, Georgien, Armenien und Aserbaidschan. Diese
Staaten gehören zu Europa oder verorten sich selbst zu
Europa und orientieren sich an der europäischen Entwicklung. Sie haben aber auf absehbare Zeit keine Beitrittsperspektive zur Europäischen Union.
Mit der Östlichen Partnerschaft macht die Europäische Union diesen Staaten ein Modernisierungsangebot,
ein Modernisierungsangebot durch Stärkung der Rechtsstaatlichkeit, zur Bekämpfung der Korruption, für gute
Regierungsführung, ein Angebot zur gesellschaftlichen
Modernisierung durch Stärkung der Zivilgesellschaft,
ein Angebot zur wirtschaftlichen Modernisierung durch
weitgehende Integration in den EU-Markt. Es geht also
um Stabilität, und es geht um wirtschaftliche Entwicklung. Wieso innere Stabilität und wirtschaftliche Prosperität in den Ländern der Östlichen Partnerschaft russischen Interessen zuwiderlaufen sollten, ist für uns nicht
so leicht nachzuvollziehen. Könnte es sein, dass Moskau
die Westorientierung seiner Nachbarn deshalb ablehnt,
weil deren rechtsstaatliche und demokratische Modernisierung eine Herausforderung für das eigene politische
System ist?
({0})
Macht Putin die erfolgreiche politische, wirtschaftliche
und soziale Entwicklung Polens Angst, weil er hier in
seinem eigenen Land die größten Defizite aufzuweisen
hat?
Meine Damen und Herren, mit Georgien, der Republik Moldau und der Ukraine hat die EU Assoziierungsabkommen abgeschlossen. Dies sind ambitionierte Programme für Reformen. Daran gilt es ohne Abstriche
festzuhalten. Es bleiben Belarus, Armenien und Aserbaidschan. Mit Armenien hatte die Europäische Union
ebenso ein Assoziierungsabkommen ausgehandelt, doch
hat sich Armenien wegen innen- und außenpolitischer
Zwänge der von Russland dominierten Eurasischen
Wirtschaftsunion angeschlossen. Auch Belarus ist Mitglied in dieser Eurasischen Wirtschaftsunion. Aserbaidschan - auch das wurde erwähnt - sucht noch einen
eigenen Weg. Auf diese unterschiedlichen Positionierungen wird die Europäische Union bei der im Herbst anstehenden Neuausrichtung der Europäischen Nachbarschaftspolitik akzentuiert antworten müssen.
Ich sehe zwei zentrale Herausforderungen: zum einen
den Konflikt mit Russland, zum anderen die Schwierigkeit einer nachhaltigen Modernisierung dieser Partnerländer. Beides wird kurzfristig nicht zu bewältigen sein.
Es wird Jahre in Anspruch nehmen. Wir brauchen dazu
strategische Geduld, insbesondere im Umgang mit Russland. Wir müssen mit Russland in einen Dialog treten
mit dem ambitionierten Ziel, die Gegensätze zwischen
Europäischer Freihandelszone und Eurasischer Zollunion zu überwinden. Falls sich Lawrows Vorbehalte
durch einen solchen Interessenausgleich erübrigen, wäre
das ein Gewinn für alle Beteiligten, auch für Armenien,
welches sich nach dem Beitritt zur Eurasischen Wirtschaftsunion viel von einer weiteren wirtschaftlichen
Annäherung an die Europäische Union verspricht.
Hierzu ist es aber nunmehr auf einen Dialog zwischen
Eurasischer Wirtschaftsunion und EU angewiesen, weil
es nicht mehr frei für sich selbst verhandeln kann. Ein
solcher Dialog wird auch einen Hinweis darauf geben,
ob die Eurasische Zollunion die Situation in ihren Mitgliedstaaten verbessern will oder lediglich dazu dient,
die von Russland beanspruchte Einflusssphäre wirtschaftlich und politisch von der Europäischen Union abzuschotten.
Aus all dem folgt, dass sich eine Weiterentwicklung
der Östlichen Partnerschaft an zwei Prinzipien ausrichten sollte. Erstens: Differenzierung. Wir brauchen eine
starke Differenzierung zwischen den einzelnen Ländern,
und wir brauchen eine stärkere Differenzierung unserer
Angebote. Zweitens: Flexibilität. Wir brauchen größere
Flexibilität hinsichtlich unserer Fähigkeit, schnell und
zielgerichtet auf neue Herausforderungen und Entwicklungen zu reagieren.
An einem Punkt ist allerdings klare Kante angesagt,
nämlich beim Kampf gegen Korruption und Oligarchenwirtschaft. Dieser Kampf muss in den Ländern Osteuropas selbst bestritten und gewonnen werden. Denn in den
vergangenen zwei Jahrzehnten haben vor allem in der
Ukraine und in Moldau oligarchische Strukturen die
Politik dominiert. Eine systemische Korruption hat staatliche Institutionen praktisch weitgehend privatisiert. Das
oligarchische System hat eine moderne Form des Feudalismus etabliert. Oligarchen verzichten nicht freiwillig
auf Einfluss und Pfründe. Der Rechtsstaat muss gegen
Oligarchen erzwungen werden, auch und gerade mit unserer Hilfe.
({1})
Gelingt diese Systemwende in der Ukraine und in Moldau nicht - also Stärke des Rechts und nicht: Recht des
Stärkeren -, dann wird das oligarchische System früher
oder später zu einem staatlichen Zerfall führen, und dieser staatliche Zerfall der Ukraine und der Republik Moldau wird größere Sicherheitsrisiken in sich bergen als
der heutige Konflikt mit Russland.
Unser Signal muss klar sein: Europa bedeutet politische und wirtschaftliche Reformen, gesellschaftliche
Modernisierung, sozialer Zusammenhalt. Es sind Demokratie und wirtschaftliche Perspektiven, was die Menschen in diesen Ländern von der Östlichen Partnerschaft
erwarten. Wir wollen diese mit den Assoziierungsabkommen und den Instrumenten der Östlichen Partnerschaft ermöglichen, und wir halten einen Interessenausgleich mit Russland für möglich und notwendig, eben
weil die Östliche Partnerschaft und die Europäische
Nachbarschaftspolitik nicht gegen Russland gerichtet
sind.
Es gibt berechtigte Hoffnung, dass sich Russland dem
für Anfang 2016 geplanten Inkrafttreten des Freihandelsabkommens der EU mit der Ukraine nicht widersetzen wird. Ein Interessenausgleich mit Russland sollte
auch deshalb möglich sein, weil Sankt Petersburg und
Moskau gar nicht so weit von der Mitte Europas entfernt
sind.
Der Bundeskanzlerin viel Erfolg für die Gespräche in
Riga und Ihnen vielen Dank.
({2})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, auf der Ehrentribüne haben der soeben aus Prag eingetroffene Präsident
des Abgeordnetenhauses des Parlaments der Tschechischen Republik, Herr Jan Hamáček, und seine Delegation Platz genommen, die ich im Namen des ganzen
Hauses herzlich bei uns begrüße.
({0})
Lieber Kollege Hamáček, wir freuen uns über Ihren Besuch, wünschen Ihnen einen interessanten Aufenthalt in
Berlin, und wir freuen uns auf die immer enger werdende Zusammenarbeit zwischen unseren beiden Parlamenten.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Bärbel Kofler für
die SPD-Fraktion.
({1})
Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen
und Kollegen! Vom Gipfel in Elmau müssen entwick10052
lungspolitische Signale für die künftigen Konferenzen,
die in diesem Jahr anstehen, ausgehen. Es sind drei
wichtige Konferenzen, die bereits von einigen Kollegen
angesprochen wurden.
Eine ist die Konferenz in Addis Abeba zum Thema
der Entwicklungsfinanzierung. Hier kann der G-7-Gipfel
in Elmau einige Signale aussenden, positive Signale aussenden, nicht nur, was das Erreichen der 0,7-ProzentODA-Quote anbelangt, sondern insbesondere auch, was
die Bekämpfung von Steuerhinterziehung und Steuervermeidung anbelangt sowie im Hinblick auf das Ausdünnen von Steueroasen. Ich erwarte mir von einem
Gipfel wie dem G-7-Gipfel in Elmau, wo Vertreter der
führenden Industrienationen zusammentreffen, positive
Signale in diesen Bereichen, damit Entwicklungsländer
auch die Chance haben, mit Steuereinnahmen, mit eigenen Einnahmen und eigenen Mitteln, systemisch in Gesundheitssysteme, Bildung und Armutsbekämpfung zu
investieren.
({0})
Ich erwarte mir von diesem Gipfel auch, dass im Bereich der Vorbereitung der sogenannten Nachhaltigkeitskonferenz zu den SDG-Zielen in New York deutliche Signale ausgehen, in zwei Richtungen. Neu bei dieser
Konferenz ist das sogenannte Prinzip der Universalität;
das heißt, alle Staaten müssen ihr Handeln so ausrichten,
dass es entwicklungsförderlich und armutsbekämpfend
ist. Alle Staaten, auch die Teilnehmerstaaten des G-7Gipfels, auch die führenden Industrienationen, müssen
das tun, müssen ihr Handeln sowohl bei Handelsverträgen als auch beim Klimaschutz und bei Klimaabkommen dementsprechend ausrichten.
({1})
Ich erwarte, dass in zwei Bereichen, die neu sind im sogenannten Nachhaltigkeitsprozess - neu im Gegensatz
zu den früheren Zielen, den Millenniumsentwicklungszielen -, hier entscheidende Impulse ausgehen. Es geht
um die Frage der Ungleichheit zwischen den Ländern
- wie man Ungleichheit zwischen den Menschen und
zwischen den Ländern bekämpfen kann -, und es geht
um die Frage der menschenwürdigen Arbeit. Ich möchte
hier explizit noch einmal unterstreichen: Es muss von
diesem Gipfel, wenn ein wichtiger Schwerpunkt das
Thema „Standards in Handels- und Lieferketten“ ist, ein
Signal für verbindliche Standards im sozialen und ökologischen Bereich ausgehen, um Menschen vor Ausbeutung in Arbeit zu schützen.
({2})
Diese Woche hat die Internationale Arbeitsorganisation in Genf einen Bericht vorgelegt, der sich mit den
unsicheren, den prekären Arbeitsbedingungen weltweit
auseinandersetzt. Wenn wir es ernst meinen damit, dass
wir die Arbeitsbedingungen der Menschen in Entwicklungsländern verbessern und die Menschen aus der Armut herausholen wollen, dann müssen wir zur Kenntnis
nehmen, was in dem Bericht steht: dass in Afrika und
Südasien nur zwei von zehn Arbeitnehmern angestellt
sind. Das heißt, alle anderen sind im informellen Sektor
- der Bericht spricht von „auf eigene Rechnung“ - beschäftigt und haben damit keine soziale Absicherung,
keinen Zugang zu irgendeinem Gesundheitsschutz und
keinen Hintergrund, der es ihnen ermöglicht, aus eigener
Kraft die Armut zu verlassen. Mehr als 10 Prozent der
Arbeitnehmer verdienen unter 1,25 Dollar am Tag - 1,25
Dollar am Tag und darunter, bei Vollzeitbeschäftigung.
Das sind die Probleme, zu denen ich vom Gipfel in
Elmau, bei dem es um verbindliche Standards in Lieferketten geht, wirkliche Signale erwarte. Die ILO sagt
dazu: Mittlerweile sind 453 Millionen Menschen in
40 Ländern in globale Lieferketten eingebunden. Wenn das so ist, dann tragen wir aufgrund unserer industriellen Produktion, die in viele Länder dieser Erde ausgelagert ist, eine Mitverantwortung für die Standards
und für das Leben und für das Arbeiten dieser Menschen. Diesen Standards müssen wir gerecht werden.
({3})
Über die Frage des Fonds, wenn es um Arbeitsschutz
geht, ist gesprochen worden heute. Das ist ein ganz
wichtiges Instrumentarium. Ich bin den beteiligten
Ministerien da explizit dankbar.
Frau Kollegin.
Ich komme zum Schluss. - Aber es muss auch darum
gehen, das Thema der ILO-Kernarbeitsnormen und damit insbesondere des gewerkschaftlichen Rechts und der
gewerkschaftlichen Beteiligung voranzubringen. Auch
da hätten einige der G-7-Staaten noch Nachholbedarf.
Danke.
({0})
Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege
Florian Hahn das Wort.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Die Östliche Partnerschaft ist von herausragender Bedeutung - wir haben das schon mehrfach heute
gehört -, zu Recht. Es geht dabei um mehr als nur um
die Außenpolitik der EU oder Handelserleichterungen;
denn wir sind mit unseren Partnerländern nicht nur
räumlich verbunden, sondern auch kulturhistorisch.
Diese Partnerschaft hat auch eine geopolitische Dimension; das haben die Entwicklungen um die Assoziierungsabkommen mit der Ukraine, mit Georgien und mit
Moldau gezeigt.
Russland lässt gegenwärtig leider nichts unversucht,
die Annäherung der östlichen EU-Nachbarstaaten zu
verhindern. Unsere Botschaft ist klar: Wir wollen gute
Nachbarn sein, und wir wollen gute Nachbarn haben.
Deshalb sind die Stabilisierung und die Demokratisierung unserer Nachbarländer in unserem ureigenen europäischen Interesse.
Die Östliche Partnerschaft ist aber nicht gegen Russland gerichtet. Es geht nicht um Entweder-oder, sondern
um Sowohl-als-auch, und ich bin der festen Überzeugung: Am Ende des Tages wird auch Russland verstehen, dass die Östliche Partnerschaft eine Chance für alle
ist: für uns, Europa, für die Partnerländer und für Russland selbst.
({0})
Heute, fast auf den Tag genau sechs Jahre nach der
Gründung der Östlichen Partnerschaft, ist es Zeit für
eine Bestandsaufnahme. Lassen Sie mich deswegen drei
zentrale Punkte benennen:
Erstens. Bei der Östlichen Partnerschaft geht es nicht
um die Missionierung unserer Nachbarn. Sie hat mit
Zwangsbeglückung nichts zu tun und ist kein europäischer Imperialismus, sondern sie ist die natürliche Folge
unserer Werte. Sie entspringt der Bereitschaft, Frieden
und Freiheit, Sicherheit und Wohlstand zu teilen und gemeinsam zu mehren.
Das sehen auch die Menschen in der Ukraine so. Sie
finden Europa so attraktiv, weil wir eben nicht in Einflusssphären denken, sondern die Menschen-, Bürgerund Freiheitsrechte garantieren, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit leben und das Recht der Staaten auf territoriale Integrität und Selbstbestimmung achten.
Das heißt aber auch: Wir dürfen es 25 Jahre nach dem
Fall des Eisernen Vorhangs nichts zulassen, dass das Rad
der Zeit zurückgedreht und die Freiheit zurückgedrängt
wird. Das wäre nicht nur ein Rückschritt für die betroffenen Länder, sondern auch für uns in Europa. Deshalb
möchte ich Ihnen, Frau Bundeskanzlerin, für Ihren unermüdlichen Einsatz für den Frieden in der Ukraine danken.
Es ist richtig, dass wir nun die Sanktionen an Fortschritte bei der Umsetzung der Minsker Vereinbarungen
knüpfen. Aber auch die Ukraine muss ihre Probleme entschlossener angehen. Das Land braucht Wirtschafts- und
Regierungsreformen. Klar ist aber auch: Eine Lösung
der aktuellen Krise kann es nur mit Russland geben. Das
gilt sowohl für die Ukraine als auch für den Nahen Osten
und für den Norden Afrikas.
Wir dürfen den Gesprächsfaden nicht abreißen lassen.
Gemeinsam an der europäischen Friedensordnung zu arbeiten, ist auch eine Chance für Russland. Es ist gut und
richtig, dass die Bundesregierung klare Kante zeigt und
gleichzeitig im Gespräch bleibt. Das ist die Marschroute
der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik in der
EU.
Zweitens. Sechs Jahre Östliche Partnerschaft haben
unmissverständlich klargemacht: Es gibt nicht die eine
Strategie für alle Partnerländer. Dafür sind sie einfach zu
unterschiedlich. Wir brauchen deshalb ein differenziertes und auf die einzelnen Länder fokussiertes Vorgehen.
Es ist an der Zeit, dass Europa konkrete Perspektiven für
verschiedene Arten der Partnerschaften entwickelt.
Die EU-Vollmitgliedschaft kann nicht das einzige
Ziel sein. Das überfordert die Länder der Östlichen Partnerschaft und vor allem auch uns. Wir brauchen in
Europa jetzt eine Vertiefung und nicht eine Erweiterung.
Im Übrigen zeigt sich auch hier, dass unser Weg zu einer privilegierten Partnerschaft mit der Türkei der richtige war. Ich kann nur sagen: Ich bin froh, dass wir keinen Autokraten Erdogan in der EU haben, der das Land
islamisiert, Frauen- und Presserechte mit Füßen tritt, die
Gewaltenteilung untergräbt und die in Deutschland lebenden Türken gegen ihre neue Heimat und unsere gemeinsame Gesellschaftsordnung aufwiegelt.
({1})
Prinzipiell darf es keinen Aufnahmeautomatismus geben - für kein Land. Deswegen ist es richtig, dass wir
die Fortschritte bei der Östlichen Partnerschaft an konkrete Reformen binden und die Dokumentation durch
die Fortschrittsberichte der EU-Kommission einfordern.
Wir dürfen dabei natürlich keine falschen Erwartungen
wecken, und wir dürfen uns auch nicht auseinanderdividieren lassen; denn Europas Trumpf ist Geschlossenheit.
Umso unerträglicher ist das Verhalten der griechischen
Regierung. Wir müssen deswegen klarmachen: Wer die
Solidarität Europas will, muss sich zu Europa bekennen.
Wir lassen uns nicht erpressen.
({2})
Drittens. Was derzeit auf dem Mittelmeer passiert, ist
eine humanitäre Katstrophe und mit unseren Werten unvereinbar.
({3})
Wir werden das Elend der Flüchtlinge nur dann lindern können, wenn wir die Nachbarschaftspolitik mit
den nordafrikanischen Staaten intensivieren. Wir unterstützen deshalb die Bemühungen der Europäischen
Kommission zur Neuausrichtung der Europäischen
Nachbarschaftspolitik - gerade auch hin zu unseren südlichen Partnern.
Aber: Wir alleine können die Probleme Afrikas nicht
lösen, schon gar nicht, indem wir eine Massenzuwanderung nach Europa zulassen. Wir dürfen deshalb keine
weiteren Anreize schaffen, sondern müssen unseren Dreiklang beherzt umsetzen. Der heißt: Seenotrettung verstärken, Schlepperbanden das mörderische Handwerk
legen und Fluchtursachen durch Hilfe in den Herkunftsländern bekämpfen.
An dieser Stelle möchte ich einen besonderen Dank
an unseren Minister Müller richten, der mit der Sonderinitiative „Fluchtursachen bekämpfen“ bereits über
100 Projekte auf den Weg gebracht hat. Ich denke da beispielsweise an die Beschulung von insgesamt 80 000 Kindern im Libanon. Das sind genau die richtigen Maßnahmen, die wir brauchen. Deswegen ist es richtig, dass der
entsprechende Etat einen Aufwuchs erfahren hat.
({4})
Zur Wahrheit gehört auch: Die meisten Asylsuchenden kommen nicht aus Syrien oder Nordafrika, sondern
vom Balkan und damit aus sicheren Herkunftsstaaten
mit Anerkennungsquoten von unter 1 Prozent. Das sind
eben keine Flüchtlinge, die um Leib und Leben fürchten
müssen. Wir alle sind aufgefordert - auch die EU-Kommission -, das abzustellen - allein schon im Interesse
derer, die unserer Hilfe wirklich bedürfen.
Ebenso entscheidend ist dabei, dass wir zu einer gerechteren Verteilung der Flüchtlinge kommen. Das vereinbarte Quotenmodell ist ein richtiger Schritt. Aber es
kann nicht sein, dass Länder, die in den vergangenen
Jahren immens von der europäischen Solidarität profitiert haben, sich jetzt einen schlanken Fuß machen. Solidarität ist keine Einbahnstraße, sondern eine gemeinsame
Aufgabe für ganz Europa.
In einer so vernetzten Welt wie der heutigen müssen die
entscheidenden Akteure natürlich zusammenarbeiten.
Deshalb ist es gut, dass sich die führenden Industriestaaten am 7. und 8. Juni zum G-7-Gipfel im bayerischen
Elmau treffen. Denn Frieden und Freiheit, Sicherheit
und Wohlstand - das schaffen wir nur gemeinsam. Das
gilt auch für die Bekämpfung der Geißel der offenen Gesellschaft, den internationalen Terrorismus. Wenn sich
der Terrorismus global vernetzt, müssen auch die Nachrichtendienste und die Sicherheitsbehörden eng zusammenarbeiten; das war die Erkenntnis nach 9/11. Deshalb
war es folgerichtig, dass die damalige Regierung die Zusammenarbeit des BND mit der NSA vereinbart hat.
Ohne diese Zusammenarbeit hätten wir unsere Soldaten
in den Auslandseinsätzen nicht ausreichend schützen
können.
({5})
Ohne diese Zusammenarbeit hätten wir auch keinen Anschlag vereiteln können, nicht den des Kofferbombers
von Köln und auch nicht den der Sauerland-Gruppe.
Diese Zusammenarbeit der Nachrichtendienste hat in
den letzten Jahren unzählige Leben gerettet. Deshalb
brauchen wir sie auch in Zukunft.
({6})
Aber klar ist auch, dass es offene Fragen gibt, die abgearbeitet werden müssen, aber bitte nicht über die Bild
am Sonntag, sondern in den demokratisch legitimierten
Gremien. Alles andere hat nichts mit staatsbürgerlicher
Verantwortung zu tun. Auf Verantwortung kommt es
jetzt an, für unsere Freiheit und für unsere Sicherheit.
Das eine ist ohne das andere nicht möglich. Das dürfen
wir nie vergessen.
Meine Damen und Herren, zum Abschluss: Wir haben vorhin von Toni Hofreiter gehört, dass die Bundeskanzlerin so ungefähr an allem schuld ist,
({7})
wohl auch daran, dass der Weltfrieden noch nicht eingetreten ist. Aber an der Schwäche der Opposition, lieber
Herr Hofreiter, sind Sie schon selber mit schuld.
({8})
Für die SPD-Fraktion hat der Kollege Klaus Barthel
das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Von uns hier in diesem Hohen Hause bin ich derjenige, der am nächsten am
Schloss Elmau lebt.
({0})
Deswegen erlebe ich ganz aus der Nähe die Aufregung
und den Aufwand in der Bevölkerung, die es dort in einem großen Umkreis gibt. Ich will aber nicht über diesen
Aufwand reden, sondern darüber, dass viele Menschen
am Sinn solcher Veranstaltungen erhebliche Zweifel haben. Wir können diesen Sorgen und dieser Kritik nur begegnen, wenn auf diesen Gipfeln richtige Antworten auf
die weltweiten Entwicklungen gefunden und diese auch
umgesetzt werden.
Insofern sind wir froh, dass die Bundeskanzlerin
heute zum Beispiel - ich zitiere - „menschenwürdige
Arbeitsbedingungen weltweit“ als Ziel der Veranstaltung
in Elmau genannt hat und sie wörtlich gesagt hat, dass
die „Stärkung des Freihandels … eine bessere Umsetzung sozialer und ökologischer Standards“ erfordert. In
der Tat - Frau Kofler hat es ja auch erwähnt -: Die Ungerechtigkeiten und Ungleichheiten auf der Welt nehmen trotz allen Freihandels immer mehr zu, und die Arbeit gerät immer mehr unter Druck. Flexibilisierung
bedeutet eben im weltweiten Maßstab immer mehr Prekarisierung. Der ILO-Report zeigt, dass diese Prekarisierung auch vor den Industrieländern nicht haltmacht und
sie sich in der Europäischen Union besonders stark auswirkt. Hier könnte die G 7 eine ganz wichtige Rolle spielen, weil die weltweiten Wertschöpfungsketten - wir
reden ja immer von Wertschöpfungssystemen - hier zusammenlaufen. Das heißt, wir hätten die Chance, mit
verbindlichen Regeln Standards durchzusetzen, wie es
immer so schön heißt.
({1})
Faire Wettbewerbsbedingungen hieße Verlässlichkeit
für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie Verbraucherinnen und Verbraucher.
({2})
Verbindlichkeit und Fairness müssen bedeuten, dass sich
nicht derjenige auf dem Markt durchsetzt, der sich mithilfe teurer Imagekampagnen eine weiße Weste umhängt, ohne für Transparenz zu sorgen, und dass sich in
diesen Wertschöpfungsketten niemand aus der Verantwortung stehlen kann. Deswegen bin ich sehr froh, dass
das Europäische Parlament gestern - auf Druck der Sozialdemokraten - beschlossen hat, dafür zu sorgen, dass
bei den Konfliktmineralien vom Anfang bis zum Ende
der Wertschöpfungskette verbindliche Standards eingehalten werden.
({3})
Herr Minister Müller, die Bundesregierung ist aufgefordert, diesen Prozess in dem jetzt stattfindenden Trilogverfahren zu unterstützen.
({4})
Wenn wir aus der Sackgasse WTO herauskommen
wollen, müssen wir in Zukunft weg vom reinen Liberalisierungsansatz, hin zu Gerechtigkeit, zu sicherer Arbeit,
zu sicherer Arbeit und Ökologie, eben vom freien zum
fairen Handel. In diesem Zusammenhang trägt die G 7
eine besondere Verantwortung, im Übrigen auch bezüglich all der Freihandelsabkommen - das wird die Nagelprobe sein -, die wir bilateral jetzt mit Kanada, den USA
usw. abschließen.
({5})
Lassen Sie mich noch etwas zu Lateinamerika sagen
- dieses Thema hat heute kaum eine Rolle gespielt, was
ich bedauere - und zu dem Gipfel, der mit CELAC in
ungefähr 14 Tagen in Brüssel stattfindet. Wir müssen zur
Kenntnis nehmen, dass die europäische Politik durch die
Entwicklung der diplomatischen Beziehungen zwischen
den USA und Kuba ein bisschen blamiert worden ist.
Wir wurden davon völlig überrascht und müssen jetzt
besondere Anstrengungen unternehmen, um mit Lateinamerika in einen Dialog zu kommen. Vor allen Dingen
müssen wir begreifen, dass Lateinamerika nicht länger
eine Region ist, in der man sich seine Partner aussuchen
kann, in der man Lieblinge haben kann und in der es andere gibt, die man weniger mag. Die Linke macht genau
das übrigens auch, nur spiegelverkehrt. Man muss diese
Region als das verstehen, wozu sie immer mehr wird,
nämlich als politischen Zusammenschluss, der aufgrund
starker Gemeinsamkeiten keine Ausgrenzung von weniger geliebten Ländern wie Kuba zulässt. Das ist der eine
Aspekt, den wir begreifen müssen.
Kollege Barthel, über weitere können wir jetzt nicht
mehr sprechen.
Der letzte ist, dass wir doch noch begrüßen müssen,
dass sich Frank-Walter Steinmeier jetzt insbesondere um
Kolumbien kümmert. Herr Kauder hat mit Blick auf die
Failed States heute etwas zu Afrika gesagt. Ich glaube,
es ist ganz wichtig, dass wir ein Signal gesetzt haben,
das zeigt, dass die Bundesregierung sich zu dem Friedensprozess bekennt und ihn unterstützt.
Vielen Dank, Frau Präsidentin.
({0})
Für die CDU/CSU-Fraktion hat die Kollegin Sibylle
Pfeiffer das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Was bewegt uns zurzeit? Was bewegt jeden Einzelnen
von uns, die Medien und die Öffentlichkeit? Es ist das
Flüchtlingsproblem. Es sind die unzähligen Menschen,
die sich mit der Aussicht auf eine ungewisse Zukunft ins
Mittelmeer stürzen, die unter fürchterlichen Umständen
versuchen, nach Europa zu kommen, und zum großen
Teil umkommen. Das ist etwas, was uns sehr beschäftigt.
Das wird uns auch in Zukunft noch beschäftigen; denn
das Thema ist noch nicht zu Ende.
Schnell gerät dabei ein Politikfeld in die Schlagzeilen,
das bei den Medien und der Öffentlichkeit sonst nicht
unbedingt so viel Beachtung findet, nämlich die Entwicklungspolitik. Plötzlich heißt es: Die haben versagt.
Die Öffentlichkeit, sogar die eigenen Kollegen sagen:
Ihr habt versagt. Was macht ihr eigentlich? - Ich glaube,
es wäre gut, einmal darüber zu reden, was wir machen.
Ich glaube, jetzt ist auch der Zeitpunkt, dass uns endlich
einmal jemand zuhört, was wir machen.
({0})
Jemand hat erkannt - es war die Frau Bundeskanzlerin schon im Jahr 2007 in Heiligendamm -, dass Frieden, Stabilität und Sicherheit nicht nur mit Außen- und
Wirtschaftspolitik, sondern auch mit nachhaltiger, erfolgreicher Entwicklungspolitik zu erzielen sind. Deshalb haben wir auch dieses Mal in Elmau wieder entwicklungspolitische Themen auf der Tagesordnung.
({1})
Wenn es heißt: „Was macht ihr Entwicklungspolitiker
eigentlich?“, dann muss ich sagen: Wir machen sogar
sehr viel, ohne dass Sie es vielleicht alle merken. Wir haben einen Entwicklungsminister, der vor anderthalb Jahren - ich weiß gar nicht, mit welcher Vorausschau er dies
getan hat - eine Sonderinitiative „Fluchtursachen bekämpfen!“ im Haushalt installiert hat. Das ist das, was
Sie permanent fordern. Wir machen es bereits.
({2})
Wie machen wir es? Wir versuchen, vor Ort mithilfe
von NGOs, vor allem aber mithilfe funktionierender, stabiler Regierungssysteme wirtschaftlichen Erfolg aufzubauen und zu unterstützen. Wir versuchen, rechtsstaatliche Strukturen aufzubauen, damit sich die Menschen in
ihrem Lande sicher fühlen können. Wir versuchen mit
dem Aufbau von Gesundheitssystemen, die Menschen
überhaupt arbeitsfähig zu machen oder auch zu erhalten.
All dies sind präventive Maßnahmen - ich könnte Ihnen
noch sehr viele weitere nennen, wenn ich nicht schon
wieder auf die Uhr schauen müsste -, die wir in diesem
Bereich bereits haben und bei denen wir schon seit Jahren tätig sind - zugegebenermaßen mit mehr oder weniger Erfolg.
Wir haben hervorragend arbeitende Länder in Afrika,
die wirtschaftlich sehr erfolgreich sind. Von dort kommen die Flüchtlinge aber nicht. Woher kommen sie? Sie
kommen von dort, wo wir aufgrund der staatlichen
Strukturen, der Bürgerkriegszustände, der Menschenrechtsverletzungen und des Fehlens von Staatlichkeit
überhaupt nicht in der Lage sind, Entwicklungszusammenarbeit durchzuführen. Insofern ist es in diesen Ländern schwierig. Es ist nicht nur die Entwicklungspolitik,
die dort teilweise nicht weiß, wie man mit diesen Ländern umgeht, sondern es ist auch die Außen- und die Sicherheitspolitik. Was machen wir mit sogenannten
Failed States, mit Staaten, in denen wir keinerlei Ansprechpartner haben und keine Regierungen finden, mit
denen wir zusammenarbeiten können? In Zukunft müssen wir uns gemeinsam darüber noch mehr Gedanken
machen, und genau dort müssen wir nochmals eindeutig
über das Thema „vernetzte Sicherheit“ nachdenken und
uns überlegen: Was kann Außenpolitik leisten, was kann
Verteidigungspolitik leisten, was kann Entwicklungspolitik leisten? Können wir gerade in diesen Staaten, in
denen wir diese Katastrophen feststellen und in denen es
Bürgerkriege und keine staatlichen Strukturen gibt, in
der Summe mit vernetztem Ansatz erfolgreicher arbeiten, als wir es, selbstkritisch genug, zurzeit tun?
({3})
Ziel des Ganzen muss sein, dass wir uns als Entwicklungspolitiker eigentlich irgendwann einmal selbst abgeschafft haben, weil die Länder in der Lage sind, mit
rechtsstaatlichen Strukturen, mit guter Wirtschaft, mit
kleinen und mittleren Unternehmen, mit guter Ausbildung und Bildung sowie mit gestärkten Frauen, wie Frau
Bundeskanzlerin eben sagte, zum Erfolg geführt zu werden, und wir Partner haben, mit denen wir auf Augenhöhe wirtschaftliche Verhältnisse im gegenseitigen Nutzen haben.
Lassen Sie mich einen Aspekt aufgreifen, da ich
glaube, G 7 ist in diesem Zusammenhang eine gute Basis, auf der man diskutieren kann, weil sie fernab irgendwelcher Strukturen ist. Es hat den informellen Charakter,
den es eigentlich braucht und der notwendig ist, lieber
Herr Gysi. Wir finden auch, dass die UN sicherlich
wichtig sind. Aber das eine tun und das andere nicht lassen, ist das eine Thema. Das andere ist, dass wir feststellen müssen: Auch die UN sind nicht allmächtig. Ich erinnere an Syrien oder die Ukraine: Auch dabei sind wir in
der UN nicht vorwärtsgekommen.
Etwas fand ich jedoch bemerkenswert, Herr Gysi,
wenn ich das zum Abschluss noch sagen darf. Zu Ihrer
Einlassung zu G 7 und zu der Veranstaltung an sich sowie letztlich zu der Frage, was dort eigentlich passiert:
„Und wir gehen dorthin und demonstrieren“: Ich finde,
Sie sollten das tun. Ja, wir können demonstrieren. Sie
können demonstrieren. Ich bezweifle, dass Sie persönlich dorthin gehen; aber ich weiß, dass sehr viele Ihrer
Kollegen dorthin gehen.
Ich komme aus Hessen, aus der Nähe von Frankfurt.
Ich habe erlebt, was in Frankfurt anlässlich der Eröffnung der EZB passiert ist.
({4})
Ich weiß noch, wie die - ich möchte nicht „zwielichtig“
sagen - durchaus zu diskutierende Rolle der Linken in
diesem Zusammenhang war.
({5})
Wenn Sie schon jetzt ankündigen, dass Sie dort demonstrieren gehen, dann erwarte ich von Ihnen, dass Sie
sich als demokratisch gewählte Mitglieder sowohl des
Bundestages als auch der Landesparlamente, also als
Vertreter des Rechtsstaates, genau dem entgegenstellen,
({6})
was wir jetzt zu erwarten haben: Chaoten und Randalierer. Ich erwarte von Ihnen, dass Sie sich erstens von denen distanzieren und dass Sie sich zweitens denen entgegenstellen, damit all das, was wir zurzeit befürchten und
was unglaubliche zusätzliche Kosten verursacht, nicht
passiert. Das erwarte ich von Ihnen. Ich hoffe, dass ich
das in der Zeitung lesen darf.
({7})
Der Kollege Dr. Andreas Nick hat für die CDU/CSUFraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Was 1975 als Weltwirtschaftsgipfel zum informellen
Austausch unter den Staats- und Regierungschefs begann, ist inzwischen als G 7 ein zentrales Format auch
zur Koordination von Fragen der Außen-, Sicherheitsund Entwicklungspolitik geworden. Es ist auch ein
wichtiges Instrument zur Steuerung und politischen Gestaltung der Globalisierung.
Deutschland richtet zum sechsten Mal den G-7-Gipfel
aus. Wir wollen und werden in der einmaligen Atmosphäre von Schloss Elmau gute Gastgeber sein, und wir
wollen der Welt ein positives Bild unseres Landes vermitteln. Davon werden wir uns auch von Protesten und
Krawallmachern nicht abbringen lassen; die Kollegin
Pfeiffer hat das Nötige dazu gesagt.
({0})
Eine zentrale Antriebskraft für globales Wachstum
und internationale Verflechtungen ist der Welthandel.
Zwei zentrale Ziele wollen wir gleichgewichtig verfolgen. Zum einen wollen wir weiterhin Handelshemmnisse abbauen und damit zur Öffnung der Märkte beitragen, weil dies weltweit zu Wohlstand und Vielfalt
beiträgt. Zum anderen wollen wir für diese globalen
Märkte weltweit verlässliche Standards für Arbeitssicherheit, Verbraucher- und Umweltschutz im Sinne eiDr. Andreas Nick
nes fairen Wettbewerbs und einer wahrhaft auch internationalen sozialen Marktwirtschaft.
Die Globalisierung macht weitere Formate der internationalen Zusammenarbeit notwendig. So ist unter dem
Eindruck der Finanzkrise das Format der G 20 entstanden. Der kommende G-20-Gipfel im Herbst 2015 im türkischen Antalya wird sich wiederum schwerpunktmäßig
mit Fragen der globalen Finanzmarktregulierung und der
Steuerharmonisierung befassen.
2015 dient der G-7-Gipfel natürlich auch besonders
der Vorbereitung der beiden im Jahresverlauf anstehenden Konferenzen der Vereinten Nationen zu zentralen
globalen Fragen: zum einen der Verabschiedung der
Ziele zur nachhaltigen Entwicklung im Rahmen der
Post-2015-Agenda in New York, zum anderen der internationalen Klimaschutzkonferenz am Jahresende in Paris.
Die Herausforderungen der Globalisierung machen
eine immer intensivere Zusammenarbeit zwischen den
großen Weltregionen notwendig. Der Gipfel der EU mit
der Gemeinschaft der Lateinamerikanischen und Karibischen Staaten, CELAC, rückt erfreulicherweise Lateinamerika wieder stärker in den Fokus der internationalen
Aufmerksamkeit. Denn auch wenn die Krisen- und Bedrohungslagen in Osteuropa, im Mittleren Osten und in
Nordafrika, aber nicht zuletzt auch die dynamische wirtschaftliche Entwicklung Asiens viel Aufmerksamkeit
auf sich ziehen: Lateinamerika ist und bleibt für uns in
Deutschland und Europa eine wichtige - wenn auch leider manchmal etwas aus dem Blick geratene - Partnerregion.
Ich will in Erinnerung rufen: Beim EU-CELAC-Treffen kommen 61 Staaten zusammen. Das ist ein Drittel
der Mitglieder der Vereinten Nationen, darunter fast die
Hälfte der G-20-Staaten. Gemeinsam haben die EU und
Lateinamerika eine Bevölkerung von über 1 Milliarde
Menschen, und sie produzieren zusammen 40 Prozent
des Weltsozialproduktes. Die EU ist der größte ausländische Investor in der Region und der zweitgrößte Handelspartner der lateinamerikanischen und karibischen
Staaten. Mit kaum einer anderen Region der Welt sind
wir Europäer historisch enger verflochten und kulturell
stärker verbunden. Das bildet die Grundlage für gemeinsame Werte und eine dauerhafte Zusammenarbeit. Daran
gilt es immer wieder anzuknüpfen - zum beiderseitigen
Vorteil, aber auch in gemeinsamer Verantwortung.
Deshalb wollen wir Bemühungen zu einer vertieften
regionalen Zusammenarbeit in Lateinamerika ermutigen
und unterstützen. Denn der Kontinent weist immer noch
sehr unterschiedliche wirtschaftliche und politische Entwicklungen auf. Immer noch leben in Lateinamerika 180
Millionen Menschen in Armut, vor allem die indigene
Bevölkerung. Der Zugang zu zentralen öffentlichen Gütern wie Bildung und Gesundheit ist für große Teile der
Bevölkerung nicht gesichert. Leider bestimmen negative
Schlagzeilen zu Armut und Inflation, Drogenkriminalität
und Bürgerkrieg auch in unseren Medien noch viel zu
häufig die Wahrnehmung der Region.
Deshalb ist es so wichtig und richtig, dass die Bundesregierung den Aussöhnungsprozess in Kolumbien
nachhaltig unterstützt. Wir begrüßen es, dass aus den
Reihen des Bundestages der Kollege Tom Koenigs dabei
eine wichtige Aufgabe übernommen hat, für die wir ihm
gutes Gelingen und viel Erfolg wünschen.
({1})
Die katastrophale wirtschaftliche und humanitäre
Entwicklung etwa in Venezuela kann eigentlich niemanden wirklich überraschen. Denn der Sozialismus des
21. Jahrhunderts der Herren Chávez und Maduro ist genauso gescheitert wie der des 20. Jahrhunderts. Eine
Ausnahme sind vielleicht die Kollegen der Linken:
Wenn man Ihren Antrag liest, in dem Sie noch einmal
die sozialen Errungenschaften des Chavismus bejubeln,
wird deutlich, dass Sie auch dort noch nicht in der Realität angekommen sind.
({2})
Leider ist in Venezuela eine friedliche und demokratische Veränderung nicht absehbar. In Kuba können wir
zumindest ein hoffnungsvolles Signal der Öffnung
sehen. Argentinien bleibt weiterhin von Inflation und
Abschottung gebeutelt, und ob die Präsidentschaftswahlen im November zu einem dringend notwendigen Neuanfang in diesem so sehr unter seinen Möglichkeiten
bleibenden Land führen werden, bleibt abzuwarten.
Demgegenüber setzen insbesondere die Länder der
Pazifik-Allianz - Chile, Kolumbien, Mexiko und Peru erfolgreich auf wirtschaftliche Öffnung und Marktwirtschaft. Sie wenden sich dabei auch verstärkt den besonders dynamischen Wachstumsmärkten Asiens zu.
Das gilt übrigens auch umgekehrt: China plant in
den kommenden zehn Jahren Investitionen von über
250 Milliarden Dollar in Lateinamerika. Dieses chinesische Engagement in der Region sollten wir aufmerksam
verfolgen. Es sollte uns ein Ansporn sein, Lateinamerika
unsererseits ebenfalls die notwendige Aufmerksamkeit
zu widmen, um keine einseitigen Abhängigkeiten als reiner Rohstoffexporteur oder von einzelnen Handelspartnern entstehen zu lassen.
Als größtes Land Lateinamerikas und als einer der
BRIC-Staaten nimmt Brasilien wirtschaftlich und politisch eine Schlüsselstellung ein. Im Juli werden im Rahmen unserer strategischen Partnerschaft erstmals auch
umfassende deutsch-brasilianische Regierungskonsultationen in Brasilia stattfinden.
Wir können unsere Partner in Lateinamerika nur ermutigen, wirtschaftlich wie politisch auf verstärkte Zusammenarbeit und regionale Integration zu setzen. So
wäre auch eine stärkere Annäherung von Pazifik-Allianz
und Mercosur zweifelsohne wünschenswert, nicht nur,
was die Größe und Relevanz des gemeinsamen Marktes
angeht, sondern auch die grundsätzliche wirtschaftspolitische Ausrichtung. Dies könnte auch der Diskussion für
ein Freihandelsabkommen zwischen dem Mercosur und
der EU neue Impulse geben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, gerade auch für die
Menschen in Lateinamerika bietet das klare Bekenntnis
zu menschenwürdiger Arbeit, nachhaltigem Wachstum
und offenen Märkten große Chancen. Von Zusammenhalt geprägte und nachhaltige Gesellschaften müssen
unser gemeinsames Ziel sein: in Europa, in Lateinamerika und weltweit.
Vielen Dank.
({3})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Entschließungsanträge. Entschließungsantrag der Fraktion Die
Linke auf Drucksache 18/4934. Wer stimmt für diesen
Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich? - Der Entschließungsantrag ist mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der Fraktion
Die Linke abgelehnt.
Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf
Drucksache 18/4935. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält
sich? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen
der CDU/CSU-Fraktion, der SPD-Fraktion und der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der
Fraktion Die Linke abgelehnt.
Wir kommen zum Entschließungsantrag der Fraktion
Die Linke auf Drucksache 18/4936. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen?
- Wer enthält sich? - Der Entschließungsantrag ist mit
den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Fraktion Die Linke bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen abgelehnt.
Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen auf Drucksache 18/4937. Wer stimmt für diesen
Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich? - Der Entschließungsantrag ist mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Fraktion Die
Linke gegen die Stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen abgelehnt.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Jutta
Krellmann, Klaus Ernst, Susanna Karawanskij,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Leiharbeit und Werkverträge eingrenzen und
umfassend regulieren
Drucksache 18/4839
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({0})
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 96 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort für die Fraktion
Die Linke hat der Kollege Klaus Ernst.
({1})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Im Koalitionsvertrag steht - lassen Sie mich das
zitieren -:
Die Koalition will die Leiharbeit auf ihre Kernfunktionen hin orientieren.
Was wären die Kernfunktionen bei Leiharbeit? Zum Beispiel Auftragsspitzen abbauen, zum Beispiel Personalengpässe ausgleichen. Wir sind weit von dieser Praxis
entfernt, und ich kann bis jetzt noch keine Anstrengung
der Koalition erkennen, das, was sie in den Koalitionsvertrag geschrieben hat, auch umzusetzen.
Wie ist die Praxis? Leiharbeitnehmer und Leiharbeitnehmerinnen verdienen bis zu 30 Prozent weniger als
die, die sonst im Betrieb fest beschäftigt sind. Leiharbeit
wird eingesetzt, um den Kündigungsschutz zu umgehen.
Dem Leiharbeitnehmer muss nämlich nicht gekündigt
werden, wenn er aus dem Betrieb entfernt wird. Leiharbeit dient zur Disziplinierung der Stammbelegschaften,
und Leiharbeit dient auch zur Durchlöcherung des Tarifsystems.
Meine Damen und Herren, Sie betreiben zurzeit einen
großen Aufwand, um möglichst schnell ein Gesetz zur
Tarifeinheit herbeizuführen, über das wir morgen diskutieren. Wenn Sie wirklich etwas für die Tarifeinheit tun
wollen - denn jeder Leiharbeitnehmer und jede Leiharbeitnehmerin steht außerhalb des Tarifvertragssystems
der anderen -, dann schaffen Sie endlich klare Verhältnisse auf dem Arbeitsmarkt und regulieren Sie Leiharbeit.
({0})
Verhindern Sie, dass dort Menschen, die dieselbe Tätigkeit wie die anderen ausführen, entweder in einem anderen Tarifvertrag oder - wie meistens - in gar keinem
beschäftigt sind. Da machen Sie nichts, sondern Sie
schauen zu. Wenn Sie nur halb so schnell wie bei der
Tarifeinheit wären, die Sie gesetzlich regeln wollen,
dann hätten wir für viele Hunderttausende von Menschen bessere Arbeitsbedingungen und nicht das, was
wir gegenwärtig erleben.
({1})
Leiharbeit dient auch dazu, Streikbruch zu organisieren. Gegenwärtig ist das bei der Deutschen Post der Fall,
die sich in einem Arbeitskampf befindet. Die Deutsche
Post ist zum Teil im Eigentum des Bundes. Wir haben
Anfragen gestellt, wie Sie dort die Tarifflucht verhindern
wollen. Sie tun so, als würde Ihnen der Betrieb gar nicht
gehören und als hätten Sie als Eigentümer null Einfluss
auf den Aufsichtsrat. Das ist unerträglich. Auch dort
sage ich Ihnen: Wenn Sie wirklich etwas regeln wollen
und Einfluss auf Leiharbeit nehmen wollen, dann verKlaus Ernst
hindern Sie, dass bei der Post, deren Eigentümer Sie
sind, Leiharbeiter als Streikbrecher eingesetzt werden.
Das wäre einmal eine gute Idee.
({2})
Ich komme zu Ihren Vorschlägen im Koalitionsvertrag. Sie sagen, die Überlassungsdauer solle bei Leiharbeitnehmerinnen und Leiharbeitnehmern auf 18 Monate
begrenzt werden. Gleichzeitig wollen Sie regeln, dass
nach neun Monaten das gleiche Geld wie in der Stammbelegschaft zu zahlen ist. Warum eigentlich erst nach
neun Monaten?
({3})
- Einarbeitung. Da merkt man, dass Sie von der Praxis
genauso viel Ahnung haben wie eine Kuh vom Fußballspielen.
({4})
Wenn Sie Ahnung hätten, würden Sie wissen, dass jeder,
der neu im Betrieb anfängt, egal ob er Leiharbeitnehmer
ist oder nicht, natürlich nicht dasselbe Geld bekommt
wie einer, der schon zehn Jahre beschäftigt ist. Es gibt in
jedem Betrieb so etwas wie Einarbeitung. Dass aber der
Leiharbeitnehmer noch einmal schlechtergestellt werden
soll als der, der normal im Betrieb neu anfängt, ist nicht
hinzunehmen.
({5})
Das ist auch deshalb nicht hinzunehmen, weil Sie genau wissen, dass in der Regel ein Leiharbeitnehmer im
Schnitt gerade einmal drei Monate beschäftigt ist. Was
würde es ihm nützen, wenn die Überlassungsdauer auf
18 Monate festgelegt wird, wenn er nur drei Monate beschäftigt ist? Was würde es ihm nützen, wenn er nach
neun Monaten gleichen Lohn für gleiche Arbeit kriegt,
wenn er dann gar nicht mehr im Betrieb ist? Es ist doch
nichts anderes als ein Placebo, was Sie hier in Ihrem
Koalitionsvertrag vereinbart haben.
({6})
Meine Damen und Herren, wir haben inzwischen ein
Riesenproblem. Ein Drittel der Beschäftigten in der
Metallindustrie sind als Leiharbeitnehmer oder als
Werkvertragsbeschäftigte eingestellt. In der Automobilindustrie kommen auf 736 000 Stammbelegschaftsleute
inzwischen 100 000 Leiharbeitnehmer und 250 000
Werkvertragsbeschäftigte. Da wäre Handeln dringend
geboten. Sie aber sitzen dieses Problem einfach aus. Die
Lage der Arbeitnehmer ist dramatisch: Zwei Drittel sind
unter dem Niedriglohnsockel; sie sind oft Aufstocker
und landen in Altersarmut.
Meine Damen und Herren, was tun? Unsere Forderungen sind ganz einfach: Gleicher Lohn bei gleicher
Arbeit ab der ersten Stunde plus 10 Prozent wie in
Frankreich! Warum soll der Arbeitnehmer in Deutschland schlechtergestellt werden als der Franzose? Warum?
({7})
Es würde genügen, Leiharbeit für drei Monate zu akzeptieren. Dann müsste das in einen Vollzeitjob umgewandelt werden. Verbot von Streikbruch - ganz wichtig!
Und: Synchronisationsverbot! Das heißt, der Leiharbeiter darf nicht nur für die Dauer, für die er verliehen wird,
beim Verleiher eingestellt werden, sondern die Beschäftigung bei seinem Verleiher muss unbefristet sein. Das
wären Regelungen, die dringend notwendig wären,
meine Damen und Herren.
({8})
Ich sage Ihnen zum Schluss: Die Linke ist eigentlich
prinzipiell gegen Leiharbeit. Ich kann Ihnen sagen,
warum. Ein Arbeitgeber stellt einen Arbeitnehmer nur
dann ein, wenn er weiß, dass dieser ihn weniger kostet,
als er ihm bringt; sonst macht es für ihn keinen Sinn. Ein
Arbeitnehmer in einem normalen Arbeitsverhältnis muss
einem Arbeitgeber die Kohle bringen. Bei einem Verleiher ist noch einer da. Da muss der Arbeitnehmer praktisch zwei Arbeitgeber bedienen. Er muss sozusagen für
zwei Arbeitgeber gewinnbringend sein. Deshalb wird er
auch schlechter bezahlt als woanders. Deshalb sagen
wir: Leiharbeit brauchen wir nicht! Machen wir Ordnung auf dem Arbeitsmarkt! Schauen wir, dass jeder anständig beschäftigt wird - Vollzeit, unter Geltung von
Tarifverträgen - und nicht verliehen wird wie eine Kuh!
Danke für das Zuhören.
({9})
Der Kollege Karl Schiewerling hat für die CDU/
CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Herr Kollege Ernst, wir kennen die Reden, die Sie
halten, mittlerweile nahezu auswendig; sie werden dadurch nicht besser. Sie sind hier mit Abstand einer der
Lustigsten unter der Sonne. Sie bringen permanent ein
Beispiel mit der Kuh - und das auch noch bei dem Kollegen Stegemann, einem Milchlandwirt. Wenn Sie hier
sagen, der habe keine Ahnung von Kühen,
({0})
dann muss ich Ihnen sagen: Sie müssen das schon gut
überlegen. Es geht übrigens auch nicht um das Verleihen
von Kühen.
({1})
Weil Sie gerade mit der Deutschen Post unterwegs
sind, weil da gestreikt wird, will ich Ihnen am Anfang
nur sagen - ich finde auch nicht alles toll, was da stattfindet -: Der Bund ist nicht Eigentümer der Post. Er hat
gerade mal ein Aufsichtsratsmitglied. Er hat niemanden
im Vorstand.
({2})
Der Vorstand handelt. Der Aufsichtsrat führt Aufsicht,
und da ist der Bund nur mit einer Person vertreten.
Deswegen gibt es Grenzen.
Da Sie von Leiharbeit offensichtlich genauso viel
Ahnung haben wie von Unternehmensrecht, wissen Sie
nicht, dass die Einflussnahme nicht gegeben ist. Im
Klartext: Da Sie das offensichtlich nicht wissen, will ich
Ihnen einige Minuten Nachhilfe zum Thema Zeit- und
Leiharbeit geben.
({3})
Meine Damen und Herren, wir haben in Deutschland
über 42 Millionen erwerbstätige Menschen, davon über
30 Millionen in sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnissen. Es gibt 7,2 Millionen Minijobs.
1,5 Millionen Schülerinnen und Schüler und Studenten
haben Minijobs, 1,5 Millionen Rentnerinnen und Rentner, 2 Millionen Menschen, die obendrauf Geld verdienen, neben ihrem normalen Einkommen, und 2 Millionen Menschen, die ausschließlich aus einem solchen Job
Einkünfte haben. Daneben gibt es etwa 250 000 Menschen, die im haushaltsnahen Bereich tätig sind; eine besondere Situation. - Das sind die Rahmenbedingungen.
Die Arbeitslosigkeit liegt bei 2,8 Millionen. Davon
sind allerdings - das stimmt - 1,9 Millionen langzeitarbeitslos. Es kommt darauf an, diese Menschen wieder
in Beschäftigung zu bringen. Was der Zusammenhang
mit der Zeitarbeit ist, will ich Ihnen sagen: Zurzeit sind
etwa 900 000 Menschen in der Zeitarbeit tätig. Das sind
gerade einmal 2,6 Prozent aller sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in Deutschland. Ich rate Ihnen,
Herr Ernst, hier nicht wiederum den Eindruck zu vermitteln, als sei ganz Deutschland in Zeit- und Leiharbeit angestellt. Das sind gerade einmal 2,6 Prozent.
({4})
Und da Sie auf die Entwicklung eingegangen sind: Ja,
es geht darum - das steht im Koalitionsvertrag -, über
die Frage der Kernfunktion von Zeitarbeit nachzudenken. Aber die Kernfunktion von Zeitarbeit hat sich im
Laufe der Zeit, seitdem es Zeitarbeit gibt, gewandelt.
Die gesetzlichen Regelungen wurden aus gutem Grunde,
weil man auf Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt zeitnah und vernünftig reagieren musste, immer wieder vom
Gesetzgeber entsprechend angepasst.
Richtig ist auch, dass angesichts der Verwerfungen,
die wir seit dem Jahr 2004 aufgrund der hohen Arbeitslosigkeit in Deutschland hatten, manche meinten, alles
und jedes müsste bis zur Unkenntlichkeit dereguliert
werden. Deshalb haben einige - ja, das ist richtig - in
der Zeit- und Leiharbeit Grenzen überschritten und geglaubt, sie könnten machen, was sie wollten. Aber das ist
reguliert worden. Das haben wir in der letzten Koalition
bereits gemacht. Das Problem, dass Leute einfach ausgegliedert wurden in einen Zeitbetrieb desselben Unternehmers, wie es bei der sogenannten Schlecker-Drehtür der
Fall war, haben wir bereits angepackt und unterbunden.
Wir haben mittlerweile 98 Prozent aller Zeit- und Leiharbeiter in Tarifverträgen, und wir haben mittlerweile einen allgemein verbindlichen, anerkannten Mindestlohn,
der im Westen bei 8,80 Euro und im Osten bei 8,50 Euro
liegt und der in weiteren Schritten bis 2016 angepasst
und um 10 bis 13,4 Prozent erhöht wird. Deswegen gibt
es in der Zeit- und Leiharbeit kein blankes Elend und
keine Verelendung. Vielmehr haben wir dort eine ganze
Menge reguliert und nach vorne gebracht.
({5})
Insofern rate ich Ihnen, sich mit Ihrem Antrag zurückzuhalten, insbesondere was so eine verrückte Forderung
nach einem Mindestlohn in Höhe von 10 Euro angeht.
Das bestätigt meine schlimmsten Befürchtungen,
({6})
dass es zu einem Überbietungswettbewerb käme, wenn
wir hier im Deutschen Bundestag die Höhe des Mindestlohns festlegen würden. Deswegen bin ich froh, dass wir
eine Mindestlohnkommission haben, die sachgerecht die
entsprechenden Entscheidungen trifft.
({7})
Ich will Ihnen noch einmal einige wenige Zahlen zur
Zeit- und Leiharbeit nennen: 55 Prozent aller neuen
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die seit 2014 in Zeitarbeitsunternehmen tätig werden, waren zuvor arbeitslos. 10 Prozent aller Zeitarbeitnehmer, die dort tätig
sind, waren zuvor noch nie beschäftigt. 29 Prozent aller
Zeitarbeitnehmer haben keinen Berufsabschluss. Ich
sage Ihnen: Zeitarbeit und Leiharbeit sind von ihrer
Kernfunktion immer noch das, und zwar in verstärktem
Maße, was sie ursprünglich waren, nämlich neben dem
Abfangen von Auftragsspitzen auch für viele, ob uns das
passt oder nicht, eine Brücke in den ersten Arbeitsmarkt.
Das Instrument wirkt also.
({8})
Das ist nicht umsonst 2004 in entsprechender Weise organisiert worden
({9})
und entfaltet nicht umsonst jetzt seine entsprechende
Wirkung.
Ich will Ihnen in aller Deutlichkeit sagen, dass wir
natürlich auch Verwerfungen sehen. Aber Verwerfungen
gibt es in jeder Branche. Ich habe gestern auf Einladung
der Präsidentin der Handwerkskammer OstwestfalenLippe zu Bielefeld, unserer Kollegin Lena Strothmann,
ein Gespräch mit Wirtschaftsjunioren aus dem deutschen
Handwerk geführt. Wenn mir in der Diskussion ein
Malermeister aus dem Rhein-Main-Gebiet erzählt, dass
er mit Zeitarbeits- und Leiharbeitsunternehmen zu tun
hatte, die sich offensichtlich nicht an Recht und Ordnung
halten, und er als Malermeister schon nicht bezahlte
Sozialabgaben nachzahlen musste, weil der Betrieb, der
entliehen hat, das nicht getan hat, dann sage ich Ihnen:
Das sind Situationen, die wir nicht gutheißen können.
Aber das, was diese Unternehmen machen, ist illegal,
verstößt gegen Recht und bestehende Gesetze.
({10})
Wir können nicht permanent noch weitere Gesetze machen. Wenn gegen bestehende Gesetze verstoßen wird,
dann müssen die Dinge vernünftig kontrolliert und auch
angepackt werden. Deswegen sind die Zeit- und Leiharbeitsbranche und die entsprechenden Unternehmerverbände aufgefordert, die Spreu vom Weizen zu trennen
und dafür zu sorgen, dass es Ordnung in ihrer Branche
gibt.
({11})
Zu Ihrem Hinweis betreffend die Werkverträge: Die
Werkverträge sind ein uraltes Instrument, geregelt im
BGB seit über 100 Jahren. Zu Problemfällen, die wir in
letzter Zeit hatten, gibt es Richterrecht. Außerdem gibt
es klare Abgrenzungen, Kriterien und Definitionen gegenüber der Zeit- und Leiharbeit sowie anderen Beschäftigungsformen. Wenn es Missbrauch gibt, ist auch dort
Kontrolle auszuüben. Wir können uns hier bei der Finanzkontrolle Schwarzarbeit informieren.
({12})
Diese Stelle hat mittlerweile viel Erfahrung in diesem
Bereich gesammelt und kann uns sagen, wie wir Kontrolle ausüben können. Wir sollten uns aber wirklich gut
überlegen, ob wir zusätzliche Gesetze brauchen. Wenn
die bestehenden Gesetze und Regelungen, die durch
Richterrecht geschaffen worden sind, offensichtlich in
der Praxis nicht richtig angewandt werden, dann muss
man bei der Kontrolle ansetzen.
({13})
Herr Ernst, was Sie wollen, ist in Wirklichkeit nichts
anderes als die Abschaffung der Zeit- und Leiharbeit;
({14})
das haben Sie deutlich gesagt. Es ist ehrlich, dass Sie das
so gesagt haben. Aber dann sagen Sie es auch so;
({15})
dann können Sie Ihre Rede auf einen Satz reduzieren.
Herzlichen Dank.
({16})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat die Kollegin Beate Müller-Gemmeke das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Zersplitterung der Tariflandschaft ist ja gerade das große Thema der Koalitionsfraktionen. Verantwortlich machen Sie dafür die
Tarifpluralität, also die Konkurrenz zwischen den Gewerkschaften. Tatsächlich zersplittert die Tariflandschaft
aber durch Scheinwerkverträge, Leiharbeit und Scheinselbstständigkeit. Also lassen Sie das, was Sie mit dem
Gesetz zur Tarifeinheit vorhaben, und kümmern Sie sich
endlich um die echten Probleme!
({0})
Mit Werkverträgen und Leiharbeit unterlaufen die
Arbeitgeber den Kündigungsschutz, die betriebliche
Mitbestimmung, die Bezahlung nach Tarif und somit
den sozialen Schutz der Beschäftigten. Gewerkschaftliche Errungenschaften stehen damit nur noch auf dem
Papier. So wird der gesellschaftliche Konsens der Sozialpartnerschaft aufgekündigt. So zersplittern die Belegschaften. Das ist nicht akzeptabel.
({1})
Es ist also gut, dass die Linken heute dieses Thema auf
die Tagesordnung gesetzt haben. Die Debatte ist notwendig. Inhaltlich sind wir uns an manchen Stellen einig,
aber nicht in jedem Punkt. Darüber werden wir aber im
Ausschuss noch ausführlich diskutieren.
Zum Thema Leiharbeit: Für uns Grüne ist und bleibt
die Leiharbeit ein Instrument für mehr Flexibilität.
Heute profitieren die Unternehmen von der Leiharbeit
aber doppelt. Sie erhalten Flexibilität und billigere Arbeitskräfte. Diese Fehlentwicklung wollen wir korrigieren.
({2})
Diese Korrektur geht nur über den Preis. Deshalb wollen
auch wir Equal Pay ab dem ersten Tag. Auch wir wollen
einen Flexibilitätsbonus von 10 Prozent. Für die Betriebe lohnt sich Leiharbeit dann nur vorübergehend, und
die Beschäftigten erhalten dann endlich einen fairen
Lohn und somit Anerkennung und Wertschätzung.
({3})
Die Koalitionsfraktionen planen hingegen, Equal Pay
erst nach neun Monaten vorzuschreiben. Das macht
überhaupt keinen Sinn; denn die wenigsten Leiharbeits10062
kräfte werden davon profitieren. Wir alle wissen - das
wurde schon angesprochen -, dass die Leiharbeitskräfte
in der Mehrzahl schon nach drei Monaten wieder arbeitslos sind.
Liebe SPD, ich finde, das ist schon hart: Die Wartezeit von neun Monaten, das war ein Vorschlag von der
FDP. Das wurde von Ihnen in der letzten Legislaturperiode heftigst kritisiert. Ich höre noch immer die permanenten Zurufe aus Ihrer Fraktion in der damaligen
Debatte. Das heißt, Sie sind an diesem Punkt heftig eingeknickt. Daran werden wir Sie immer wieder erinnern.
({4})
Wir wollen übrigens keine Höchstüberlassungsdauer.
Auftragsspitzen sind unterschiedlich je nach Branche.
„Vorübergehend“ bedeutet nun einmal „nur auf Zeit“, je
nach besonderen Auftragslagen. Diese Definition ist
ausreichend, damit Betriebsräte oder eben auch Gerichte
tätig werden können. Die geplante Höchstüberlassungsdauer von 18 Monaten - aber auch eine Höchstüberlassungsdauer von drei Monaten - lehnen wir ab; denn
dadurch entstehen nur Drehtüreffekte. Entleihbetriebe,
die die Beschäftigten nicht übernehmen wollen, sondern
weiterhin auf billigere Arbeitskräfte setzen, geben doch
ganz einfach die Leiharbeitskräfte nach neun Monaten
oder spätestens nach 18 Monaten zurück. Und das geht
nur zulasten der betroffenen Leiharbeitskräfte. Deshalb
lehnen wir diese Regelungen ab. Sie sind nicht gerecht
und auch nicht fair.
({5})
Jetzt zu den Werkverträgen - die Entwicklung dort ist
eigentlich das größere Problem -: Die menschenunwürdigen Bedingungen durch Werkverträge in der Fleischbranche sind bekannt; die kennen wir alle. Im Einzelhandel gibt es die Regaleinräumerinnen und -einräumer, und
mittlerweile wird der gesamte Kassenbereich über Werkverträge organisiert. Im Druckbereich werden Schichten,
aber auch der Betrieb von ganzen Rotationsmaschinen
per Werkvertrag vergeben. Fündig werden wir auch in
Hotels, im Transportbereich, natürlich in der Metallbranche. Bei den Werkverträgen sind der Fantasie keine
Grenzen gesetzt.
Häufig leisten die Beschäftigten mit Werkvertrag die
gleiche Arbeit auf demselben Betriebsgelände wie die
Kolleginnen und Kollegen mit einem regulären Arbeitsvertrag, allerdings oft für deutlich weniger Lohn. Und
wenn irgendetwas am Arbeitsplatz nicht stimmt, dann
können sie sich nicht einmal beim Betriebsrat beschweren. Denn der ist für sie nicht zuständig. Das alles geht
gar nicht. Für uns hört die unternehmerische Freiheit bei
Lohndumping auf.
({6})
Denn bei solchen Werkverträgen geht es darum, Lohnkosten einzusparen. Es geht um Tarifflucht von einem
guten in einen schlechteren Tarifvertrag. Und häufig besteht überhaupt keine Tarifbindung mehr.
Vor kurzem ist ja die Studie der Bertelsmann Stiftung
veröffentlicht worden; darin sind die Folgen beschrieben. Heute sind nur noch 35 Prozent der Betriebe tarifgebunden. Der Lohnunterschied zwischen den Betrieben
mit und ohne Tarifbindung ist gestiegen, und zwar auf
19 Prozent. Wenn der Anstand in Teilen der Wirtschaft
verloren geht, dann müssen die Rahmenbedingungen
verändert werden zum Schutz der Beschäftigten, aber
auch zum Schutz der verantwortungsvollen Betriebe.
Notwendig sind eindeutige Kriterien. Wenn Werkverträge für fachfremde Arbeiten mit gelegentlichem
Charakter oder für spezialisierte Tätigkeiten eingesetzt
werden, dann ist das unbedenklich. Das entspricht einer
modernen Arbeitswelt. Problematisch wird es aber,
wenn Werkvertragsbeschäftigte die gleichen Tätigkeiten
verrichten wie das Stammpersonal oder bisherige Tätigkeiten, die dem Wesen des Betriebs entsprechen, per
Werkvertrag vergeben werden. Dann ist das kein
„Werk“, sondern dann handelt es sich schlichtweg um
nichts anderes als Scheinwerkverträge und Tarifflucht.
Die Arbeitswelt ist schon heute gespalten, und die
Fehlentwicklungen durch Scheinselbstständigkeit und
Scheinwerkverträge werden das noch verschärfen. Diese
Entwicklung muss endlich gestoppt werden.
({7})
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen aus der Regierungskoalition, Sie haben wegen des verfassungswidrigen Tarifeinheitsgesetzes wertvolle Zeit verloren. Ich
sage es noch einmal: Die Tariflandschaft und die Belegschaften zersplittern nicht wegen der Tarifpluralität, sondern aufgrund von Scheinwerkverträgen, Leiharbeit und
Tarifflucht. Nehmen Sie diese Entwicklung endlich
ernst! Ankündigungen sind aber zu wenig. Legen Sie
endlich etwas auf den Tisch!
Vielen Dank.
({8})
Das Wort hat die Kollegin Katja Mast für die SPDFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Wir reden über die Regulierung von Leiharbeit und
Werkverträgen, aber ich will am Anfang meiner Rede
doch noch einmal klarstellen: Für uns in der Regierungskoalition ist die Frage der Stärkung der Tarifautonomie
eine ganz zentrale.
({0})
Deshalb haben wir den flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn eingeführt, die Möglichkeit für Allgemeinverbindlichkeitserklärungen verbessert und das
Arbeitnehmer-Entsendegesetz für alle Branchen geöffKatja Mast
net. Ursprünglich wollten wir all das gemeinsam mit
dem Gesetz zur Tarifeinheit verabschieden, haben dann
aber wegen der heiklen verfassungsrechtlichen Fragen
gesagt: Da müssen wir noch etwas mehr Gehirnschmalz
hineinlegen als in die genannten Punkte, die in der Tat
einfacher zu regeln waren. Sich hier nun hinzustellen
und uns zu sagen: „Sie beschäftigen sich mit Tarifeinheit
und kümmern sich nicht um Tarifautonomie“, halte ich
an der Stelle für eine Unverschämtheit.
({1})
Bezüglich Leiharbeit und Werkverträgen ist für uns
Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten klar, dass
im Betrieb gelten muss: gemeinsam arbeiten, gleich verdienen und gleich behandelt werden.
({2})
Das ist für uns Recht und Ordnung auf dem Arbeitsmarkt.
({3})
Dass das nicht immer der Fall ist, haben einige meiner
Vorredner ja schon gesagt. Es gibt in den Betrieben eine
Zwei- und Dreiklassenbelegschaft. Es ist beispielsweise
so, dass es in der Automobilindustrie in der Montage
eine Stammbelegschaft, Leiharbeitnehmerinnen und -arbeitnehmer und Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit
einem Werkvertrag gibt. Die Leiharbeitnehmerinnen und
-arbeitnehmer verdienen ungefähr 30 Prozent weniger
als ihre Kolleginnen und Kollegen, Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter mit einem Werkvertrag ungefähr 70 Prozent
weniger als ihre Kolleginnen und Kollegen. Klar ist: Zu
einer sozialen Marktwirtschaft gehört, dass diejenigen,
die das Gleiche tun, das Gleiche verdienen müssen. Deshalb ist es richtig, dass Leiharbeit und Werkverträge reguliert werden.
({4})
Die IG Metall hat eine Umfrage zu diesem Thema
durchgeführt - der Kollege Ernst hat es vorhin schon erwähnt - und festgestellt: In der Automobilindustrie stellen ungefähr 760 000 Kolleginnen und Kollegen die
Stammbelegschaft, 100 000 Kolleginnen und Kollegen
sind Leiharbeiter und 250 000 in Werkvertragskonstellationen. Es besteht dort also ein Verhältnis von 2 : 1. In
der Luftfahrt stellen 73 000 Kolleginnen und Kollegen
die Stammbelegschaft, 10 000 Kolleginnen und Kollegen sind Leiharbeiter und 10 000 Kolleginnen und Kollegen in Werkvertragskonstellationen.
Zum Dienstleistungsbereich: In Krankenhäusern
- dazu liegen zurzeit mehrere Petitionen im Petitionsausschuss vor - gibt es beispielsweise die Tendenzen,
ganze Krankenhauseinheiten auszugliedern und Aufträge über Werkvertragskonstellationen zu vergeben. Zu
sagen: „Es gibt kein Problem“, negiert diese Realität in
den Betrieben in unserem Land.
({5})
Wenn wir sagen: „Wir in der Regierungskoalition aus
CDU/CSU und SPD wollen Leiharbeit und Werkverträge regulieren“, dann geht es uns nicht nur darum, zu
erklären: Das ist für die Kolleginnen und Kollegen im
Betrieb nicht in Ordnung. Vielmehr ist das auch für die
ehrlichen Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber nicht in
Ordnung; denn am Schluss sind sie die Dummen. Sie
werden dann durch den Konkurrenzdruck dazu gezwungen, ähnliche Betriebspraktiken einzuführen. Wer
glaubt, dass das nicht der Fall sei, sollte sich einmal die
aktuellen Debatten bei DHL und Post sowie in den Krankenhäusern ansehen. Da sehen wir sehr genau, was passiert. Es gibt Unternehmen mit einer guten Mitbestimmung und gut ausgestatteten Arbeitssituationen, die in
weniger stark tarifgebundene und mitbestimmte Strukturen gehen, eben in Richtung Werkvertragskonstellationen. Genau deshalb muss das Parlament handeln. Wir
können nicht zuschauen; denn an dieser Stelle ist die soziale Marktwirtschaft in Gefahr.
({6})
Im Betrieb sieht das dann oft so aus, dass die Kolleginnen und Kollegen in Leiharbeit oder mit Werkverträgen unterschiedliche Arbeitskleidung haben, unterschiedliche Preise in der Kantine bezahlen und nicht auf
den gleichen Parkplätzen parken dürfen etc., weil sie
eben keine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Stammbelegschaft sind. Deshalb haben wir im Koalitionsvertrag vereinbart, dass wir Leiharbeit regulieren. Alle, die
diese Debatte schon länger verfolgen, wissen: Die SPD
hätte sich ein bisschen mehr vorstellen können als das,
was im Koalitionsvertrag steht. Aber wer glaubt, da sei
keine Musik drin, irrt. Denn wir bekommen laufend Anfragen von Verbänden, Unternehmen und Arbeitnehmerorganisationen, die mit uns über dieses Thema reden
wollen, und zwar sehr intensiv. Also, da ist ordentlich
Musik drin.
Bei der Leiharbeit wollen wir definieren, was der Gesetzgeber unter „vorübergehend“ versteht. Nachdem wir
uns da lange Zeit gelassen haben, bin ich froh, dass wir
jetzt eine Regelung gefunden haben und unter „vorübergehend“ grundsätzlich 18 Monate verstehen. Wir wollen
Leiharbeit auf ihre Kernfunktion zurückführen. Wir wollen sie also nicht abschaffen, sondern auf ihre Kernfunktion zurückführen. Wir wollen, dass sie ein Instrument
ist, um bei Auftragsspitzen und zu Urlaubszeiten schnell
zusätzliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu bekommen. Wir wollen aber nicht ganze Produktionszyklen
oder sogar mehrere Produktionszyklen über Leiharbeit
organisieren.
Wir wollen, dass spätestens nach neun Monaten gilt:
gleiches Geld für gleiche Arbeit. Liebe Beate MüllerGemmeke, natürlich hätten wir es gerne gesehen, wenn
das noch früher gelten würde. Aber Koalitionen sind
Bündnisse auf Zeit. Wir können uns im nächsten Bundestagswahlkampf darüber streiten, was wir uns vornehmen. Aber die Regelung mit den neun Monaten ist an
der Stelle immerhin besser als nichts.
({7})
Wir wollen nicht, dass Leiharbeitnehmer als Streikbrecher eingesetzt werden. Und wir wollen eine gesetzli10064
che Klarstellung, dass die Zahl der Leiharbeitnehmer bei
der Berechnung der Schwellenwerte für Mitbestimmung
einbezogen wird, sodass die Firmengröße bei den Betriebsratswahlen tatsächlich abgebildet wird.
Wir stellen aber eines fest: In der Leiharbeit stagnieren seit 2011, als wir durchgesetzt haben, dass es dort einen Mindestlohn gibt, die Beschäftigtenzahlen, während
Werkvertragskonstellationen zunehmen. Deshalb ist es
wichtig, dass wir nicht das eine regulieren, ohne das andere im Auge zu behalten. Deshalb wollen wir auch
Werkverträge regulieren, rechtswidrige Vertragskonstruktionen zulasten der Arbeitnehmer verhindern, die
Kontroll- und Prüftätigkeiten bei der Finanzkontrolle
Schwarzarbeit konzentrieren. Wir wollen die Informations- und Unterrichtungsrechte der Betriebsräte sicherstellen und Abgrenzungskriterien, die durch Rechtsprechung geschaffen wurden - das hat mein Kollege
Schiewerling auch schon gesagt -, gesetzlich niederlegen. All das steht im Koalitionsvertrag. Wir werden da
ab Herbst ganz gut zu tun haben.
Zur Frage der Abschaffung von Werkverträgen - ja
oder nein - zitiere ich kurz mit Zustimmung der Präsidentin den IG-Metall-Vorsitzenden Detlef Wetzel
Mit Blick auf die Uhr.
({0})
- ja, ganz kurz -:
„Ich habe nichts gegen Werkverträge generell“,
sagte Wetzel im SPIEGEL. „Ich habe aber entschieden etwas dagegen, wenn sie genutzt werden, das
Lohnniveau massiv zu drücken.“ Die von der IG
Metall erhobenen Zahlen zeigten, dass
- davon habe ich gerade schon gesprochen „weite Teile der deutschen Wirtschaft den Gesellschaftsvertrag des Landes aufkündigen wollen“, so
Wetzel. „Das ist ein Anschlag auf die soziale
Marktwirtschaft.“
Da hat er recht. Deshalb diskutieren wir ab Herbst über
die Regulierung von Leiharbeit und Werkverträgen in
der Koalition.
Vielen Dank.
({0})
Das Wort hat der Kollege Albert Stegemann für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Und täglich grüßt das Murmeltier, ein weiterer Antrag Ihrer Partei, ein weiteres Schreckensszenario auf
dem Arbeitsmarkt und ein weiterer Ruf nach staatlichen
Eingriffen. Wenn ich Ihre Begründung lese, werde ich
das Gefühl nicht los, dass auf dem deutschen Arbeitsmarkt vorindustrielle Zustände grassieren müssen. Ich
lese von einem „Klima der Angst“ bei den Arbeitnehmern. Arbeitgeber würden jedwede Möglichkeit nutzen,
um geltende Regelungen zu umgehen und ihre Mitarbeiter unter Druck zu setzen. Sie schmeißen Werkverträge
und Zeitarbeit lustig in einen Topf und negieren, dass
solche Formen der Beschäftigung ihren festen Platz auf
dem Arbeitsmarkt haben. Hierbei blenden Sie drei
Punkte aus.
Punkt eins. Sie erwähnen mit kaum einem Wort, dass
sich in der Zeitarbeit die Situation grundlegend verbessert hat.
({0})
Die vielen gesetzlichen und tariflichen Änderungen sparen Sie aus: Zeitarbeit ist ein gut regulierter und spezieller Teil des Arbeitsmarktes, der Menschen auch Chancen
bietet.
Punkt zwei. Werkverträge sind selbstverständlicher
Bestandteil des Wirtschaftslebens. Sie sind Grundpfeiler
einer arbeitsteiligen Wirtschaft, deren Kriterien in der
Rechtsprechung vollumfänglich behandelt wurden.
Punkt drei - schließlich als Letztes. Sie streuen den
Menschen leichtfertig Sand in die Augen.
({1})
Sie fordern Einschnitte mit dem Vorschlaghammer, sagen aber nichts über deren gravierende Auswirkungen.
Sie schaden damit nicht nur den Unternehmen, sondern
Sie verschließen Menschen auch eine Zukunft für sich
und ihre Familien. Eine Beschäftigung bietet immer
auch eine Perspektive, Selbstbestätigung und Chancen
auf ein besseres Leben.
So möchte ich im Folgenden diese drei Punkte weiter
ausführen und beginne mit Punkt eins, der Zeitarbeit. In
keinem anderen Wirtschaftsbereich ist die Tarifbindung
heute so hoch wie in der Arbeitnehmerüberlassung.
({2})
Und wir reden hier nicht über irgendwelche Tarifverträge. In ganz intensiven - und sicherlich nicht immer
einfachen - Verhandlungen haben Arbeitgeber und der
Deutsche Gewerkschaftsbund diese gemeinsam unterzeichnet. Seit 2011 gibt es einen allgemeinverbindlichen
Mindestlohn in der Zeitarbeit. Das, was wir uns seitens
der Politik wünschen und mit den Gesetzen, wie zum
Beispiel dem Tarifautonomiestärkungsgesetz, fördern
wollen, hat hier in der Praxis funktioniert. Die Tarifpartner haben sich zusammengesetzt und haben ihre Hausaufgaben gemacht.
Darüber hinaus hat die Bundesregierung umfassende
gesetzliche Änderungen auf den Weg gebracht: zum Ersten die Abschaffung der Drehtürklausel, zum Zweiten
Verbot der konzerninternen Überlassung und schließlich
die Einführung von Equal Pay ab dem ersten Tag, zumindest dann, wenn ein Tarifvertrag vorliegt.
Kollege Stegemann, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung des Kollegen Ernst?
Von mir aus.
({0})
Herzlichen Dank für die Freundlichkeit. - Ich habe
folgende Fragen an Sie. Meine erste Frage lautet: Mit
welcher Begründung sollen Ihrer Ansicht nach Menschen, die exakt dieselbe Tätigkeit im selben Unternehmen machen, in den ersten neun Monaten unterschiedliche Löhne bekommen? Warum nicht sofort gleiche
Löhne? Warum werden die, die über eine Leiharbeitsfirma ins Unternehmen kommen, nicht genauso behandelt wie neu im Betrieb eingestellte Beschäftigte?
Meine zweite Frage lautet: Warum akzeptieren Sie,
dass bei vollkommen gleicher Tätigkeit für Leiharbeitnehmer und Festangestellte in einem Betrieb unterschiedliche Tarife gelten - Sie haben gerade von hoher
Tarifbindung bei Leiharbeit gesprochen -, wenn Sie
gleichzeitig offiziell als Regierung die Position vertreten, dass Tarifeinheit gelten soll, dass also die Beschäftigten in einem Betrieb bitte schön dem gleichen Tarifvertrag unterliegen sollen?
Zu Ihrer ersten Frage: Wir brauchen ganz klar eine
Einarbeitungszeit für die Mitarbeiter.
({0})
Wir haben es hier teilweise mit einer speziellen Klientel
zu tun,
({1})
die eine gewisse längere Einarbeitungszeit braucht.
Sie müssen den Zeitarbeitsfirmen auch zugestehen,
dass sie Schulungen und Bildungsmaßnahmen fördern.
Sie müssen das anerkennen. Ich habe das selbst miterlebt. Ich war zum Beispiel bei einem Bewerbungsgespräch bei einer Zeitarbeitsfirma dabei und habe erlebt,
mit welchem Engagement und mit welchem Fingerspitzengefühl die Personaldisponenten hier vorgehen. Teilweise bringen sie sehr individuelle Maßnahmen und spezielle Unterstützung für ihre Klientel auf den Weg. Es
war für mich ein beeindruckendes Erlebnis, mit wie viel,
auch sozialem, Engagement hier vorgegangen wird.
({2})
Sie werden das lächerlich finden, aber ich habe selbst erlebt, wie man Menschen eine Chance gibt, die vorher
keine Chance hatten. Ohne entsprechende Maßnahmen
hätten sie sicherlich keinen Job auf dem ersten Arbeitsmarkt gefunden. Das ist der entscheidende Grund. Wenn
unterstützende, begleitende Maßnahmen für eine gute
Einarbeitung notwendig sind,
({3})
dann muss ermöglicht werden, dass in der Einarbeitungszeit der Lohn flexibel ist, bevor Equal Pay gilt.
({4})
- Dazu komme ich später. Ich fahre jetzt in meiner Rede
fort.
Das Instrument der Arbeitnehmerüberlassung - das
habe ich gerade ausgeführt - stellt eine hervorragende
Möglichkeit für den Einstieg in den ersten Arbeitsmarkt
dar. Das gilt insbesondere, wie auch schon gesagt, für
Menschen mit geringer Qualifikation, die sonst nur ganz
wenige Chancen auf dem Arbeitsmarkt haben. Zahlen
belegen dies - sie wurden auch schon angeführt -:
60 Prozent waren vor ihrer Beschäftigung arbeitslos, und
50 Prozent arbeiten im Helferbereich. Und machen wir
uns nichts vor: Eine Studie des IAB aus dem vergangenen Jahr belegt, es gibt immer weniger Jobs mit sogenannter Helfertätigkeit in unserem Land, die Geringqualifizierte für ihren Einstieg ins Berufsleben so dringend
benötigen. Unser aller Ziel ist es, dass Langzeitarbeitslose in das Arbeitsleben zurückkehren können. Wir dürfen diese Menschen nicht aufgeben. Niemals!
Die Bundesregierung legt viele Programme auf, die
viel Geld kosten, um die Betroffenen zu erreichen. Aber
viel zu häufig fehlt in der Praxis der direkte Bezug zum
Arbeitsmarkt. Zeitarbeitsfirmen schaffen das jedoch. Vor
diesem Hintergrund sollten wir diese Tür nicht leichtfertig verschließen. Sicherlich: Die Unternehmen verdienen
auch Geld damit. Aber warum nicht? Gerade deshalb
sind viele mit viel Kreativität und Energie unterwegs.
Sie fahren Mitarbeiter zum Arbeitsplatz und vermitteln
in ungewohnte Tätigkeiten.
({5})
Nicht immer klappt dies, und das hält auch nicht immer
für längere Zeit, aber eine gute Chance ist es allemal.
({6})
Kollege Stegemann, es gibt von der Kollegin
Zimmermann einen weiteren Wunsch nach einer Frage
oder Bemerkung.
Ich würde jetzt gerne meine Rede zu Ende führen.
Punkt zwei, Werkverträge. Auch hier wäre es zur Abwechslung schön, von Ihrer Seite einmal eine andere
Platte als die des Missbrauchs der Werkverträge vorgespielt zu bekommen. Mehr als 95 Prozent der Werkverträge in unserem Land sind nicht zu beanstanden. Der
Gang zum Friseur: ein Werkvertrag! Oder bringen Sie
Ihre eigene Schere mit zum Friseur? Nein, Sie kaufen
ein fertiges Produkt.
({0})
Die neue TÜV-Plakette in der Autowerkstatt: ein Werkvertrag!
({1})
Aber auch der Auftrag eines Unternehmens an eine andere Firma, um die Fenster oder Büroräume zu einem
festen Preis zu reinigen: ein Werkvertrag! Und wenn ein
Autokonzern die Entwicklung eines speziellen Bauteils
an eine Fremdfirma auslagert, ist das auch ein Werkvertrag. Damit geht aber doch nicht automatisch Lohndumping einher. Ein Produkt ohne eigenen Aufwand und Risiko zu kaufen, das ist Teil der unternehmerischen
Freiheit.
Sicherlich müssen wir sehen, dass es in den vergangenen Jahren auch hier schwarze Schafe gegeben hat. Nun
aber direkt mit der Schrotflinte das Problem aus der Welt
schaffen zu wollen,
({2})
da sage ich Ihnen: Sie treffen mit Sicherheit vor allem
die Falschen.
Abschließend möchte ich zu Punkt drei kommen und
damit zu meiner Bewertung Ihres Antrags. Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen von der Linken, Zeitarbeit und
Werkverträge sind konstruktive Elemente auf dem
Arbeitsmarkt. Sie sind notwendig für das Funktionieren
einer arbeitsteiligen Wirtschaft in einer globalen Welt.
Die Zeitarbeit ist heute weitgehend reguliert und kein
Massenphänomen.
Da, wo sich die Anforderungen zulasten einer Gruppe
verschieben und wo Tarifparteien nicht gestalten können, gibt es allerdings Handlungsbedarf seitens der Politik. Diesem sind wir in der Vergangenheit nachgekommen, und wir werden dies auch weiterhin tun. So haben
die Regierungsparteien klug entschieden, Missbrauch
anzugehen. In den nun anstehenden Verhandlungen wird
noch zu klären sein, wie wir den Realitäten des modernen Arbeitens und den Chancen der Zeitarbeit Rechnung
tragen können.
Ich möchte Ihnen keineswegs die guten Absichten absprechen. Der Schutz des Einzelnen in der Arbeitswelt
ist ein hohes Gut.
({3})
Die Maßgabe kann aber nicht lauten: Viel hilft viel.
Schaffen Sie keine Branche ab, nur weil einige Dinge
nicht funktionieren! Lieber Herr Ernst, Sie würden doch
auch nicht Ihren Porsche verschrotten, nur weil der
Aschenbecher voll ist.
({4})
Wir sollten die guten Seiten dieser Beschäftigungsform
bewahren und an den Defiziten schrauben. Zu diesem
konstruktiven Gespräch lade ich Sie herzlich ein.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({5})
Das Wort hat die Kollegin Jutta Krellmann für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ausbeutung hat auf dem Arbeitsmarkt viele
Namen. Ein Name davon: Werkverträge. Das Problem
ist: Die Zahl der Missbräuche steigt. Mittlerweile stehen
Werkverträge für Lohnbetrug, für ungerechte Bezahlung, für unwürdige Behandlung von Beschäftigten und
für die Spaltung ganzer Belegschaften. Das hat nichts
damit zu tun, was Werkverträge einmal waren, Herr
Schiewerling. Es geht nicht mehr darum, dass Spezialaufgaben in den Betrieben von externen Dienstleistern
übernommen werden, zum Beispiel die Elektrik im
Krankenhaus oder das Fliesenlegen im Metallbetrieb.
Werkvertragsbeschäftigte übernehmen heute ganz reguläre Arbeiten in Betrieben,
({0})
sie ersetzen Stammbeschäftigte, und das zu Bedingungen weit unter Tarifstandards. Das geht doch alles gar
nicht!
({1})
Beispiele wie die Wareneinräumer im Einzelhandel
gibt es genug. Über die Baubranche und die Fleischindustrie haben wir hier auch schon geredet. Der Missbrauch von Werkverträgen ist mittlerweile ein Flächenbrand.
({2})
Dagegen muss unbedingt etwas unternommen werden!
Was aber macht die Regierung? Sie begnügt sich mit
Ankündigungen und lässt sich Zeit. Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist ein Aussitzen von Problemen. Das
möchten wir nicht.
({3})
Fantasielos ist auch die Ankündigung selbst: Die
Bundesarbeitsministerin stellt in Aussicht, dass der Zoll
kontrollieren soll, ob in den Unternehmen illegale
Werkverträge zur Anwendung kommen. Was sollen die
Kolleginnen und Kollegen vom Zoll denn noch alles
kontrollieren? Schwarzarbeit, Mindestlohn, Arbeitnehmerüberlassung - die sind doch heute schon völlig überlastet. Das geht doch auch alles gar nicht!
({4})
Anstatt sich engagiert mit dem Problem zu beschäftigen,
will die Bundesregierung dieses Problem nur mit der
Kneifzange anpacken. Ein bisschen Frieden reicht uns
nicht, ein bisschen Regulieren von Werkverträgen auch
nicht.
({5})
Zwei Punkte aus unserem Antrag möchte ich gerne
herausgreifen, die für eine konsequente Regulierung von
Werkverträgen entscheidend sind.
Punkt eins: Stichwort „Mitbestimmung“. Betriebsund Personalräte müssen ein erzwingbares Mitbestimmungsrecht beim Einsatz von Fremdfirmen in Unternehmen erhalten.
({6})
Informationsrechte, wie sie die Regierung im Koalitionsvertrag angekündigt hat und die teilweise auch
schon vorhanden sind, reichen nicht aus. Betriebsräte
müssen den Einsatz von Fremdfirmen verhindern können. Nutzen wir den Sachverstand dieser Kolleginnen
und Kollegen! Die wissen sofort, ob mit Werkverträgen
Tarifstandards unterlaufen werden sollen oder nicht.
Punkt zwei. Auch legale Werkverträge werden genutzt, um Lohndumping zu betreiben. Selbst wenn
Werkverträge rechtskonform angewandt werden, wenn
also die Arbeit von Werkvertragsunternehmen völlig in
Eigenregie erbracht wird, kann es sich um Tarifflucht
handeln. Tarifflucht liegt eindeutig immer dann vor,
wenn diese Arbeiten von dem Betrieb vorher selbst erledigt wurden. Eine gesetzliche Regulierung muss auch
diesem Sachverhalt Rechnung tragen. Die Regierung
scheint das völlig zu ignorieren.
({7})
Wir Linke sagen: Bei der Auftragsvergabe an Fremdfirmen, die die gleiche Arbeit verrichten, muss auch für
deren Beschäftigte ein Gleichbehandlungsgebot festgeschrieben werden. Mit anderen Worten: gleicher Lohn
für Stammbeschäftigte und Werkvertragsbeschäftigte in
einem Betrieb! Nur so kann Tarifflucht schon im Ansatz
ausgetrocknet werden.
Ich möchte zum Schluss auf ein Problem aufmerksam
machen, das uns auch hier im Bundestag unmittelbar betrifft bzw. das wir erlebt haben. Es geht um das Thema
Scheinselbstständigkeit. Es ist beschämend, dass der
Bundestag als Arbeitgeber über Jahre hinweg Besucherführer als Scheinselbstständige beschäftigt hat. Die
nachträglich erhobenen Sozialversicherungsbeiträge
wurden nun nachgezahlt. Die Quittung dafür kassiert der
Beschäftigte, der das Ganze öffentlichgemacht hat. Er
hat zwar nach wie vor einen Rahmenarbeitsvertrag,
bekommt jetzt aber keine Aufträge mehr von der Bundestagsverwaltung. Nun lebt er von Hartz IV und muss
sehen, dass er über diesen Weg Geld bekommt. Was ist
das im Grunde für ein Signal, das wir als Bundestag an
der Stelle aussenden! Ich finde, das, was da passiert, ist
unmöglich.
({8})
Wir wollen, dass eine gerechte Arbeitswelt entsteht
und dass sich auch die Bundestagsverwaltung beim Umgang mit den Kollegen anders verhält; denn das, was wir
da erlebt haben, ist absolut nicht akzeptabel.
({9})
Meine Damen und Herren, die Regulierung von Leiharbeit und Werkverträgen muss jetzt in Angriff genommen werden. Unsere Vorschläge liegen vor. Jetzt warten
wir noch auf Ihre, und dann schauen wir einmal, was am
Ende dabei herauskommt.
Vielen Dank.
({10})
Der Kollege Markus Paschke hat für die SPD-Fraktion das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir
alle kennen die Berichte über die systematische Ausbeutung osteuropäischer Arbeitnehmer in der Fleischindustrie und über Beschäftigungsverhältnisse, die unter dem
Deckmantel von Werkverträgen nichts anderes sind als
moderne Sklaverei.
In der letzten Woche war ich in der Beratungsstelle
für mobile Beschäftigte in Oldenburg. Kurz zuvor war
dort ein rumänischer Arbeiter, der um Hilfe gebeten hat.
Seinen Fall will ich einmal kurz schildern:
({0})
Er hat drei Monate auf einem Schlachthof gearbeitet und
musste Tierdärme auswaschen. Nach diesen drei Monaten erhielt er einen Lohn von 1 300 Euro ausgezahlt. Das
war das erste Mal, dass er Geld gesehen hat.
({1})
Aber beim ersten Aufbegehren und Einfordern des in
Rumänien versprochenen Lohnes wurde er fristlos entlassen und aus seiner Unterkunft geworfen.
({2})
In Rumänien hatte man ihm 10 Euro pro Stunde, freie
Unterkunft und freie Fahrten zur Arbeit versprochen.
Dafür musste er sogar eine Vermittlungsgebühr von
knapp 800 Euro zahlen; aber er hatte sich ja ausgerechnet, dass sich das lohnt. Nach der Ankunft im Oldenburger Land war es allerdings anders als versprochen: Er
wurde in einer Massenunterkunft mit 1 500 anderen
Arbeitern untergebracht. In dem Raum, der ihm zugewiesen wurde, standen 16 Betten, die alle belegt waren.
({3})
Dafür wurden ihm 240 Euro monatlich vom Lohn abgezogen.
({4})
Auch die Kosten der Fahrt zum Schlachthof wurden vom
Lohn abgezogen.
({5})
In einem fremden Land, der Sprache nicht mächtig,
ausgebeutet und betrogen - das nenne ich moderne Sklaverei.
({6})
- Hört mir zu, dann komme ich zu dem Punkt.
({7})
Unter dem Deckmantel der Werkverträge passiert viel
Missbrauch. Was meine ich, wenn ich von Missbrauch
spreche? Bleiben wir bei dem beschriebenen Fall des rumänischen Schlachters. In der Beratungsstelle wurde
dann festgestellt, dass er gar nicht als Arbeitnehmer,
sondern als Selbstständiger gearbeitet haben soll.
({8})
Das bedeutet: keine Sozialversicherung, Steuerpflicht
usw. Ich nenne das Missbrauch.
({9})
Oder im Bereich der Landwirtschaft: Da gibt es konkrete Fälle, gerade in der Saison, wo Menschen zehn, elf,
zwölf Stunden körperlich hart arbeiten,
({10})
Spargel ernten und Erdbeeren pflücken. Aufgeschrieben
und bezahlt werden aber nur sieben oder acht Stunden.
Auch das ist Missbrauch.
({11})
Die krassesten Fälle von Missbrauch kennen wir aus
der Fleischindustrie, aber es gibt sie ebenso im Stahlbau,
auf Werften, im Baugewerbe, im Hotel- und Gaststättengewerbe und in vielen anderen Wirtschaftsbereichen.
({12})
Da gibt es den Spüler im Nobelhotel - auch das ist illegal -, der angeblich als Selbstständiger arbeitet,
({13})
Arbeiter auf der Baustelle des Einkaufstempels Mall of
Berlin, die um ihren Lohn geprellt wurden. Auch aus der
Leiharbeit sind uns solche Fälle bekannt: der Kommissionierer, der seit zehn Jahren als Leiharbeiter in einem
Betrieb arbeitet und nur 60 Prozent dessen bekommt,
was sein Kollege neben ihm verdient.
Diese Liste ließe sich beliebig fortführen. Deshalb
sage ich ganz klar - ich komme zum Fazit -: Es muss
gehandelt werden.
({14})
Das sind wir den Menschen in unserem Lande schuldig.
Wir sind es ihnen schuldig, dass sie einen anständigen
Lohn für anständige Arbeit bekommen.
({15})
Wir sind es ihnen schuldig, dass sie ein menschenwürdiges Leben führen können.
Ich frage Sie: In was für einem Land wollen wir leben? In einem, das tatenlos den Auswüchsen moderner
Sklaverei zusieht? Da sage ich Nein.
({16})
Wir müssen mit aller Kraft diese Not und Ungerechtigkeit bekämpfen.
({17})
Erinnern wir uns an die christlichen Werte wie Recht
und Gerechtigkeit, an soziales Handeln und soziale
Normen! Wenn es nicht gelingt, menschenwürdige
Arbeits- und Lebensbedingungen zu garantieren, dann
verfaulen unsere Werte von innen.
({18})
Wenn es uns nicht gelingt, Recht und Gerechtigkeit allen
zugänglich zu machen, dann höhlen wir unsere Gemeinschaft und unsere Werte aus. Zu Recht und Gerechtigkeit
gehört für mich zum Beispiel auch die Einrichtung einer
Anlaufstelle für Werkarbeiter, wo man sie in ihrer Sprache über ihre Rechte aufklärt,
({19})
wo sie jederzeit Hilfe erhalten, an die sie sich mit Fragen
und Problemen wenden können.
Zu Recht und Gerechtigkeit gehört für mich aber auch
endlich eine härtere und nachhaltige Bestrafung des
Missbrauchs.
({20})
Zart auf die Finger zu klopfen, finde ich da nicht ausreichend. Missbrauch ist Missbrauch und muss auch endlich als solcher bezeichnet werden.
({21})
Soziale Standards und Tarife zu unterlaufen, ist weder
rechtens noch gerecht. Ich denke es ist unstrittig, dass
wir in diesem Bereich Handlungsbedarf haben.
Jetzt komme ich zum Antrag der Linken.
({22})
- Nein, das ist ganz einfach. - Ich muss sagen: Ihr
Antrag ist in keiner Weise dazu geeignet, die Ordnung
auf dem Arbeitsmarkt wiederherzustellen und die Werte
unserer Gesellschaft hervorzuheben.
({23})
Da wird das Kind mit dem Bade ausgeschüttet. Auch
wenn einzelne Spiegelstriche bei den Forderungen ihre
Berechtigung haben
({24})
- schön zuhören! -, folgt die Gesamtschau doch eher
dem Motto: Wir beseitigen nicht die Ungerechtigkeiten
auf dem Arbeitsmarkt, sondern wir schaffen die Arbeit
gleich ganz ab.
({25})
Bezüglich der Leiharbeit haben Sie das entsprechend
formuliert.
Ich sage es einmal so: Unter seriöser Politik verstehe
ich etwas anderes. Seriöse Politik ist das, was wir in der
Koalition bisher geleistet haben.
({26})
Mit der Einführung des Mindestlohns haben wir begonnen; das war der erste wichtige Schritt.
({27})
Mit unseren Vorhaben, den Missbrauch bei Leiharbeit
und Werkverträgen zu verhindern, werden wir auf diesem Weg weitergehen. Sie sind herzlich eingeladen, uns
auf diesem Weg zu begleiten.
({28})
Danke schön.
({29})
Der Kollege Dr. Thomas Gambke hat für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Herr Paschke, wo sind denn Ihre Spiegelstriche mit den
Maßnahmen gewesen? Wo war denn der Zeitplan, bei
dem die Herrschaften von der Union hätten klatschen
können?
({0})
Sie hätten uns etwas vorlegen sollen, das uns gezeigt
hätte, dass Ihre Analyse - Sie haben die Situation schön
und treffend formuliert - auch zu Aktionen führt.
({1})
Genau das ist doch der Punkt. Die Leute da draußen wollen, dass Sie handeln, und nicht, dass Sie reden.
({2})
Es wurde schon viel über das Für und Wider geredet.
Ich darf dieses Thema einmal aus Unternehmersicht beleuchten. Leiharbeit und auch Werkverträge können im
Einzelfall eine wichtige Funktion haben. Daran gibt es
gar keinen Zweifel. Ich nenne zwei Beispiele aus eigener
Erfahrung:
Erstes Beispiel. Als wir bei uns im Betrieb einen
Brand hatten, Automaten ausgefallen waren und durch
Handarbeit ersetzt werden mussten - kurzfristig kam es
also zu außergewöhnlichem Arbeitsaufwand -, war es
absolut korrekt und richtig, zu sagen: Wir müssen kurzfristig die Belegschaft in diesem Betriebsteil um 25 Prozent erhöhen. Das können wir aus eigener Kraft nicht
schultern. - So haben wir Leiharbeiter in den Betrieb geholt.
Das zweite Beispiel, auch aus eigener Erfahrung:
Wenn Unternehmen in einer außergewöhnlichen Situation sind - zum Beispiel beim Aufbau eines neuen Werkes oder aufgrund von Umstrukturierungen und Nachfolgeregelungen -, haben sie gerade im Fach- und
Führungskreis einen außergewöhnlichen Bedarf. In solchen Fällen besteht die Notwendigkeit, über Werkverträge - Stichworte: „Nutzung des Arbeitsmaterials“ und
„Weisungsbefugnis“ - zusätzliche Kräfte in den Betrieb
zu holen.
Aber, Herr Kollege Stegemann, die missbräuchlichen
Anwendungen nehmen zu. Das ist von Ihrem Kollegen
aus der Regierungskoalition gerade sehr eindrucksvoll
beschrieben worden. Wir müssen etwas dagegen tun.
Wir können doch nicht einfach weiter zuschauen und sagen: „Das ist in Ordnung“, wie Sie uns suggeriert haben.
({3})
Setzen Unternehmen dauerhaft Leiharbeit ein, dann tun
sie das im Wesentlichen aus folgenden Gründen: Sie
wollen den Mindestlohn umgehen,
({4})
sie wollen den Kündigungsschutz umgehen, sie haben
Geschäftsmodelle, die nicht nachhaltig sind.
Das heißt, wir müssen etwas tun, um diese nicht tragbaren sozialen Zustände zu eliminieren. Dafür müssen
wir arbeiten, und wir müssen - das sage ich als Unternehmer - Wettbewerbsverzerrungen verhindern; denn
der Mittelstand - Sie haben das Beispiel des Malers angebracht - braucht gute Wettbewerbsbedingungen,
braucht ein Level Playing Field, braucht eine Gleichbehandlung.
({5})
Dafür müssen Sie sorgen.
({6})
Sie können sich also nicht zurücklehnen und sagen,
dass das nur Einzelfälle sind. Die Regulierung von Leiharbeit scheint Konsens zu sein. Die Vorschläge, die ich
gehört habe - eigentlich habe ich fast gar keine gehört -,
sind bisher aber nicht sehr überzeugend.
({7})
Equal Pay ist einfach ein Muss. Ich bemühe noch einmal mein am Anfang genanntes Beispiel: Die Einhaltung
des Liefertermins war für uns damals ein überaus wichtiges Ziel. Die Erreichung dieses Ziels war uns das Extrageld, das wir dafür gezahlt haben, wert. Es wurde uns
sozusagen dreimal zurückgezahlt. Gerade bei Auftragsspitzen zahlt sich das aus.
({8})
Es ist doch Blödsinn, anzunehmen, dass in einer solchen
Situation eine Einarbeitung notwendig ist. Gerade bei
Auftragsspitzen ist der Betrieb in der Lage, zusätzliches
Geld zu verdienen. Da ist es fair und richtig, dies auch
zum Teil weiterzugeben.
({9})
Bei den Werkverträgen sehe ich die Sache noch etwas
kritischer; denn sie werden in der Tat von den Unternehmen zunehmend missbraucht. Sie nannten das Beispiel
von den Lkw-Fahrern. Diese sollen auf einmal selbst unternehmerische Verantwortung tragen, obwohl sie vollkommen abhängig sind. Das ist schlichtweg unanständig, und wir müssen dem einen Riegel vorschieben.
({10})
Da warte ich auf Ihre Vorschläge. Im Bundesrat gab
es 2013 einen guten Vorschlag für stärkere Mitbestimmungsrechte des Betriebsrates beim Einsatz von Fremdpersonal. Man hat gesagt, man wolle zusätzliche Kontrollen durchführen. Auch dies wäre notwendig. Ich
denke, Sie müssten endlich etwas vorlegen, damit wir
dort eine gute Regelung haben. Wir müssen Leiharbeit
und Werkverträge strenger regulieren. Beide Instrumente
sind sinnvoll; das habe ich gesagt. Aber es gibt zunehmend schwarze Schafe.
Wir sollten dabei allerdings aufpassen - dies sagte ich
ebenfalls bereits -, die Situation von Fach- und Führungskräften und die Fälle, die ich genannt habe, nicht
zu vermischen. Wenn Fach- und Führungskräfte über
Werkverträge eingestellt werden, in denen die vereinbarte Entlohnung über einem bestimmten Satz liegt,
dann ist eine Regelung nicht notwendig. Wenn es jedoch
um den Lkw-Fahrer oder den Regaleinräumer geht, dann
müssen wir dringend tätig werden.
({11})
Für die Unternehmen ist eine bessere Regulierung
wichtig; damit möchte ich schließen. Für den Mittelstand ist sie wichtig; denn die Schaffung gleicher Wettbewerbsbedingungen ist eine der Grundvoraussetzungen
für das Funktionieren der Wirtschaft. Dafür müssen gerade Sie Sorge tragen. Deshalb sind Ihre Verweigerungshaltung und die Art, in der Sie argumentiert haben, wirklich nicht zielführend.
Vielen Dank.
({12})
Für die CDU/CSU-Fraktion hat der Kollege Stephan
Stracke das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Herr Gambke, Sie zeichnen wie so viele Ihrer
Vorredner von der Opposition ein Zerrbild, was die Zeitarbeit und die Werkverträge betrifft, und suggerieren
Handlungsbedarf
({0})
- Herr Kurth, Sie sollten lieber mal zuhören -, wo keiner
besteht. Das zeigen auch die Beispiele, die Sie genannt
haben. Dort, wo Werkverträge und Zeitarbeit missbräuchlich eingesetzt werden, handelt es sich schon jetzt
um ein rechtswidriges Verhalten.
({1})
Deshalb besteht hierbei kein gesetzgeberischer Handlungsbedarf, sondern es ist eher eine Frage der Kontrolle
und des Vollzugs.
({2})
Insofern gaukeln Sie hier etwas vor, was ein Zerrbild unserer Arbeitswelt in unserem Land ist und nicht der Realität entspricht.
({3})
Zeitarbeit ist ein wichtiges arbeitsmarktpolitisches Instrument. Es bietet den Unternehmen Flexibilität für
Auftragsspitzen und arbeitslosen Menschen die Chance
auf eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung.
Sie ist ein Sprungbrett aus der Arbeitslosigkeit hinaus.
({4})
- Doch, es ist tatsächlich so. Sie ignorieren die Fakten in
diesem Bereich.
({5})
Knapp zwei Drittel der Zeitarbeitsverhältnisse werden mit Personen geschlossen, die direkt zuvor keine
Beschäftigung ausübten oder vorher noch nie beschäftigt
waren.
({6})
Das heißt, Zeitarbeit stellt gerade für von Arbeitslosigkeit bedrohte Arbeitnehmer eine stabile Brücke in den
ersten Arbeitsmarkt dar, und Sie wollen im Grunde diese
Brücke zerstören.
({7})
Herr Ernst, Sie haben sich gemeldet; bitte schön.
Das Wort erteile immer noch ich; aber ich habe schon
einmal die Uhr für Sie angehalten. - Bitte.
Danke für das Zulassen der Frage. - Wir haben vorhin
gehört, dass es zum Beispiel in der Automobilindustrie
über 100 000 Leiharbeiter und 200 000 Werkverträge
gibt. Das Missverhältnis ist doch sehr gravierend. Wir
haben hier einen Abbau von normaler Beschäftigung hin
zu Leiharbeit und Befristung.
Vertreten Sie tatsächlich die Auffassung, dass über
ein Viertel der Beschäftigten in der Automobilindustrie
nicht beschäftigt wäre, wenn es keine Leiharbeit und
keine Befristung gäbe?
Ich will noch eine zweite Frage nachschieben. Glauben Sie wirklich ernsthaft, dass die deutsche Automobilindustrie auf über ein Viertel der Belegschaft verzichten
müsste, wenn sie die ordentlich bezahlen und ordentlich
beschäftigen würde?
({0})
Lieber Herr Kollege Ernst, ich glaube, Kollege
Schiewerling hatte schon zu Beginn der Debatte darauf
hingewiesen, dass es in Relation zu den sozialversicherungspflichtig Beschäftigten rund 2,6 Prozent Zeitarbeit
gibt. Das ist also ein sehr geringer Prozentsatz.
({0})
Sie suggerieren hier die ganze Zeit, dass dies ein Massenphänomen wäre und landauf, landab die Zeitarbeit
dazu genutzt würde, andere Arbeitsverhältnisse zu verdrängen. Genau das Gegenteil ist in diesem Bereich der
Fall. Es findet keine Verdrängung anderer Erwerbsformen statt.
({1})
Insofern ist die Zeitarbeit ein durchaus legitimes Instrument des Arbeitseinsatzes in unseren Betrieben.
({2})
Es entspricht auch der unternehmerischen Freiheit, dies
so zu tun. Insofern ist es durchaus sinnvoll, dass wir die
Zeitarbeit in dieser Form weiterhin einsetzen.
({3})
- Lieber Kollege Ernst, ich würde vorschlagen: Ich antworte Ihnen, und wenn Sie wollen, können Sie mir eine
weitere Frage stellen. Darauf gehe ich dann entsprechend ein.
({4})
Sie blenden hier komplett die Verbesserungen bei der
Zeitarbeit aus. Sie sagen, die Zeitarbeitnehmer wären
Arbeitnehmer zweiter Klasse. Auch dies trifft nicht zu.
Sie haben ein sozialversicherungspflichtiges Arbeitsverhältnis. Für sie gelten sämtliche Regeln des Arbeits- und
Tarifrechts. Auch das Mitbestimmungsrecht gilt für die
Zeitarbeiter.
({5})
Mit einer Lohnuntergrenze, die wir 2012 mit tarifvertraglichen Branchenzuschlägen erreicht haben, gibt es
auch eine sachgerechte Annäherung an Equal Pay. Auch
dies blenden Sie vollkommen aus. Das zeigt: Sie haben
eine ganz andere Auffassung. Hier geht es ausschließlich
um die Frage des Klassenkampfes
({6})
und nicht um die Fragen, wie wir den arbeitsmarktpolitischen Themen in diesem Land gerecht werden.
({7})
Wir haben uns jetzt vorgenommen, die vorübergehende Überlassung in der Zeitarbeit zu konkretisieren.
Die Kollegin Müller-Gemmeke hatte hier schon auf die
möglichen Folgewirkungen hingewiesen. Ich halte diese
für in der Tat bedenklich und bedenkenswert.
({8})
Insofern brauchen wir Öffnungsklauseln auf tarifvertraglicher und Betriebsebene, die praktikabel und interessensgerecht sind. Auch in der Zeitarbeit gibt es Hochqualifizierte. Gerade bei Hochqualifizierten liegt der
Einsatzzeitrahmen bei zum Teil deutlich mehr als
18 Monaten. Wenn Sie beispielsweise daran denken,
dass wir die Pflegezeit auf 24 Monate verlängert haben
und dass die Elternzeit bei drei Jahren liegt, dann wissen
Sie, dass wir notwendige Vertretungsmöglichkeiten für
die Betriebe brauchen.
({9})
Deswegen brauchen wir tatsächlich solche Öffnungsklauseln, wie Sie sie angesprochen haben. Das macht
Sinn. Dass diese arbeitnehmerbezogen sein sollten, ist
selbstverständlich.
Ich komme zu den Werkverträgen. Werkverträge sind
seit Jahrzehnten Bestandteil unserer arbeitsteiligen Gesellschaft. Es besteht überhaupt kein Grund, klassische
Werkverträge gesetzlich einzuschränken. Für uns gilt der
Grundsatz: Wo Werkvertrag draufsteht, muss auch
Werkvertrag drin sein.
({10})
Die Rechtsprechung hat die Kriterien bei der Abgrenzung zwischen Werkverträgen und Zeitarbeit bereits klar
konturiert, auch was die Rechtsfolgen insgesamt angeht.
Maßgebend sind dabei immer die Umstände des Einzelfalls. Vermutungstatbestände oder Beweislastregeln haben hier überhaupt keinen Platz.
({11})
Bezüglich der Mitbestimmungsrechte bei der Vergabe
von Werkverträgen ist noch einmal daran zu erinnern:
Der Unternehmer hat die Gestaltungsfreiheit, zu entscheiden, wie er seine unternehmerischen Ziele umsetzen will und mit welchen Arbeitnehmern. In diese Gestaltungsfreiheit wollen und werden wir auch nicht
eingreifen. Deswegen gibt es überhaupt keinen Anspruch darauf, dass tarifvertragliche Regelungen die gesamte Produktionskette erfassen. Hier von Missbrauch
zu reden, ist voll neben der Sache.
Insofern ist der Antrag der Linken abzulehnen. Er
geht an der Sache vorbei.
Ich bedanke mich ganz herzlich für die Aufmerksamkeit.
({12})
Das Wort hat die Kollegin Daniela Kolbe für die
SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen
und Kollegen! Erst einmal Danke an die Linke, wenn
auch nicht für den vorliegenden Antrag
({0})
- daran hätte ich einiges zu bekritteln -, wohl aber dafür,
dass wir über das wichtige Thema Leiharbeit und die
große Frage der Ordnung auf dem Arbeitsmarkt sprechen können. Das ist eines der Herzensanliegen der
Sozialdemokratie: Gleicher Lohn für gleiche Arbeit und
Ordnung auf dem Arbeitsmarkt. Dafür setzen wir uns
ein.
({1})
Leih- und Zeitarbeit war im eigentlichen Sinne dafür
gedacht, Unternehmen zu ermöglichen, Spitzen abzufedern und flexibler zu agieren, um am Markt wettbewerbsfähig zu sein. Bei Werkverträgen handelt es sich
um ein uraltes Instrument - Karl Schiewerling hat es
schon erwähnt -: Seit 1900, also seit über 100 Jahren, ist
es im BGB verankert.
Selbstverständlich hat niemand außer manchen bei
den Linken etwas gegen Zeitarbeit, wenn sie Auftragsspitzen abfedert, wenn zum Beispiel kurzfristig viele Beschäftige krank werden und ein Unternehmen einen Auftrag sonst nicht erledigen kann.
({2})
Es ist ein äußerst sinnvolles Instrument unter der Voraussetzung, dass diese Menschen sehr gut bezahlt und sehr
gut behandelt werden. Gleicher Lohn für gleiche Arbeit
muss eben auch in diesem Bereich gelten. Das ist ein
SPD-Grundprinzip.
Werkverträge sind ein tolles Instrument - ich hatte
selber schon einen Werkvertrag -, wenn der Werkvertragsnehmer gerne selbstständig arbeitet und weisungsungebunden ein Werk vollbringen kann. Die Realität der
letzten Jahre und auch des Jahres 2015 sieht aber anders
aus.
Ich habe einige Beispiele aus meinem Leipziger
Wahlkreis mitgebracht, die ich alle aus eigener Anschauung kenne. Dort gibt es ein Unternehmen mit einem sehr
guten und sehr bekannten Namen, das sehr teure und
wichtige Teile für den Automobilsektor herstellt. Das hat
es im produktiven Bereich - nein - nicht mit 30 Prozent
Leiharbeit, nein - nicht mit 50 Prozent Leiharbeit, sondern zu fast 100 Prozent mit Leiharbeitern aus unterschiedlichen Leiharbeitsunternehmen gemacht.
({3})
Das ist sozusagen eine immerwährende Just-in-time/
Just-in-sequence-Auftragsspitze gewesen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, so haben wir das mit dem Abfedern-Können von Auftragsspitzen nicht gemeint.
({4})
Als Sozialdemokraten können und wollen wir so etwas
nicht hinnehmen.
Ich habe große OEMs in meinem Wahlkreis, worüber
ich mich sehr freue - das sind sehr gute Arbeitgeber -,
aber auch dort werden seit der Ansiedlung der Unternehmen Leiharbeit und Werkverträge genutzt. Bei den
OEMs, den Automobilherstellern, wurden Leiharbeit
und Werkverträge von Anfang an genutzt - das ist eingepreist -, und zwar nicht nur, um Auftragsspitzen abzufedern oder durch bessere Organisation Gewinn aus
selbstständig organisierter Arbeit anderer zu erzielen,
sondern um geringere Löhne zahlen zu können. Das ist
sowohl durch Leiharbeit möglich als auch dadurch, dass
in Werkvertragsunternehmen andere Tarifverträge als die
der IG Metall gelten. Als die Ansiedlung der Unternehmen erfolgte, gab es in manchen dieser Werkvertragsunternehmen überhaupt keine Tarifverträge.
Daraus ergibt sich, dass in diesen großen Unternehmen mindestens vier unterschiedliche Gruppen in einer
Werkhalle am Band arbeiten: die Festangestellten, die
Leiharbeiter des OEM, die Werkvertragsunternehmer
zahlreicher Werkvertragsunternehmen und die Leiharbeiter, die in den Werkvertragsunternehmen angestellt
sind - alle mit deutlich unterschiedlichen Nettoeinkommen und Arbeitsbedingungen wie auch mit einem deutlich unterschiedlichen Sicherheitsgefühl.
Ich habe mit sehr vielen Leiharbeitern und Angestellten in Werkvertragsunternehmen in meinem Wahlkreis
gesprochen. Es mag einige wenige geben, die sich das
gezielt ausgesucht haben, zum Beispiel IT-Freaks, die
selbstständig arbeiten und es vorziehen, mal hier und
mal da zu arbeiten. Die meisten, mit denen ich gesprochen habe, haben aber klar gesagt: Ich arbeite in diesem
Werkvertragsunternehmen bzw. als Leiharbeiter, weil
mein Ziel eine Festanstellung in einem der großen Unternehmen ist. Das ist der Grund, warum ich das tue.
({5})
Ich habe schon Leiharbeitnehmer in meinem Wahlkreis getroffen, die seit zehn Jahren beim selben Leihunternehmen angestellt sind und auf ihre Übernahme
warten. Ich sage Ihnen: Es ist eine der ganz großen Lücken dieses Gesetzes, dass wir keine Höchstüberlassungsdauer haben.
({6})
Die Betroffenen wissen sehr wohl, warum sie in dieser Form angestellt sind, nämlich weil sie preiswerter als
die Festangestellten sind. Sie wissen auch, dass sie das
Risiko tragen. Wenn sich nämlich die wirtschaftliche
Lage verschlechtert, sind sie die Ersten, obwohl sie beim
Leihunternehmen fest angestellt sind, denen gekündigt
wird. Ich will aber auch sagen: In den letzten Jahren hat
sich bei den Automobilherstellern eine ganze Menge bewegt, vor allen Dingen durch sehr starke Gewerkschaften und sehr mutige Betriebsräte.
({7})
Da sind Tarifverträge ausgehandelt worden, und Leiharbeiter bekommen Zuschläge.
({8})
Sie bekommen zumindest nach einiger Zeit das gleiche
Grundgehalt. Über Zuschläge und andere Arbeitsbedingungen müsste man noch reden. Mittlerweile haben
BMW und Porsche zugesichert, dass sie nur noch Werkvertragsunternehmen verpflichten wollen, die nach IGMetall-Tarifen bezahlen.
({9})
Ich muss sagen: Das hätte man wohl mit keinem Gesetz
der Welt geschafft. Das waren die Betriebsräte.
({10})
BMW hat zudem eine Quote für Leiharbeiter eingeführt und will nicht mehr als einen gewissen Prozentsatz
von Leiharbeitern beschäftigen.
Trotzdem gibt es jede Menge zu tun, auch weil wir
nicht überall die tollen Betriebsräte haben. Equal Pay
und Höchstverleihdauer für die Leih- und Zeitarbeit sind
für uns ganz zentrale Punkte. Wenn wir sehen, dass
schon die Debatte über die Re-Regulierung der Zeitarbeit dazu führt, dass in Werkverträge ausgewichen wird,
dann sage ich: Wir müssen gerade in diesem Bereich
stark draufgucken und regulieren. Markus Paschke hat
die Auswüchse beschrieben. Wir brauchen eine Abgrenzung zu Scheinwerkverträgen und zur Scheinselbstständigkeit ebenso wie zur verdeckten Arbeitnehmerüberlassung, und natürlich brauchen wir eine viel, viel stärkere
Kontrolle.
({11})
Als Sozialdemokraten haben wir gesagt: Ordnung auf
dem Arbeitsmarkt ist unser wichtigstes Thema. Dafür
haben wir gekämpft. Dazu gehört auch die Regulierung
von Leiharbeit und Werkverträgen. Wir sind stolz, dass
wir das im Koalitionsvertrag auch so festgeschrieben haben.
({12})
Wir werden das umsetzen. Dass die betriebliche Mitbestimmung in diesem Zusammenhang ein ganz wichtiger Punkt ist, habe ich mit meinen Beispielen deutlich
gemacht. Die betriebliche Realität ist sehr vielfältig.
Deswegen werden wir gemeinsam mit den betrieblichen
Akteuren darüber sprechen, wie wir das wirklich sehr
komplexe Feld gesetzlich regeln. Dann werden wir einen
sehr guten Gesetzentwurf hier vorlegen und auch gemeinsam beschließen. Darauf freue ich mich.
({13})
Das Wort hat der Kollege Wilfried Oellers für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Vorweg will ich deutlich betonen, dass bei Zeitarbeit und
Werkverträgen natürlich Missbrauch entgegengewirkt
werden muss. Das steht außer Frage. Das gilt aber nicht
nur für Zeitarbeit und Werkverträge, sondern das gilt für
alle Fallgestaltungen, für alle rechtlichen Konstellationen. Da sind wir uns hier auch einig, denke ich.
({0})
Nur, mit dem Antrag, den Sie hier vorlegen, beabsichtigen Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken,
jedoch nicht, Missbrauch entgegenzuwirken, sondern
Sie beabsichtigen, fundamentale Änderungen an der
wirtschaftlichen Struktur vorzunehmen, die wir heute
haben. Dabei muss hervorgehoben werden, dass die
Zeitarbeit als ein wichtiges Flexibilisierungselement und
die Werkverträge auch als ein wichtiges Instrument für
eine ökonomische Arbeitsteilung mittlerweile unverzichtbar für die heutige Arbeitswelt geworden sind.
({1})
Wer dies in Abrede stellt, verschließt die Augen vor
der Wirklichkeit und will sie offensichtlich nicht wahrnehmen. Genau dies belegt Ihr Antrag, meine Damen
und Herren der Linken, vor allen Dingen dann, wenn Sie
Formulierungen wie „Klima der Angst“, „degradiert Beschäftigte zu Arbeitnehmern zweiter Klasse“ oder „ein
höheres Arbeitslosigkeitsrisiko“ wählen.
({2})
Der Eindruck, den Sie damit erwecken, ist reine Panikmache, und das ist dieser Debatte hier nicht dienlich. Es
ist auch keine sachliche Debatte, die insoweit geführt
wird.
({3})
Skandalfälle, die selbstverständlich im Ergebnis
Missbrauchsfälle sind, können Sie nicht heranziehen, um
weitere oder schärfere gesetzliche Regelungen zu schaffen. Das hätte nämlich zur Folge, dass Unternehmen, die
sich redlich verhalten,
({4})
der Einsatz dieses Instrumentes, das sie wirklich benötigen, erschwert würde. So können wir hier im Haus nicht
arbeiten.
({5})
Da meine Vorredner bereits einiges zur Zeitarbeit gesagt haben, möchte ich mich etwas mehr auf die Werkverträge konzentrieren. Damit komme ich insbesondere
auf Ihren Antrag, meine Kollegen der Linken, zu sprechen. Sie formulieren in Ihrem Antrag - ernsthaft -, dass
Sie legale und illegale Werkverträge verhindern wollen.
Allein schon die Wahl dieser Formulierung ist für mich
wieder ein Beispiel für reine Panikmache und unsachliche Diskussion.
Wir haben es beim Werkvertrag mit einer Vertragskonstellation zu tun, die bereits seit mehr als 100 Jahren,
seit seiner Einführung, im BGB verankert ist. Dieses
Instrument hat auch eine ausgeprägte Rechtsprechung
erfahren, mit der in der jetzigen Zeit und nach der jetzigen Rechtslage Missbrauch bereits verhindert werden
kann und verhindert wird. Nur, die Fälle müssen auch
zur Entscheidung gebracht werden. Wie gesagt, wenn es
Fälle gibt, wenn es Missbrauch gibt, dann muss das abgestellt werden. Aber das können wir auch schon mit
den heutigen Instrumenten und mit der heutigen rechtlichen Situation.
({6})
Sie müssen, wenn Sie die Diskussion führen, deutlich
machen, was Sie unter „Missbrauch“ genau verstehen.
({7})
- Das haben Sie an Beispielen festgemacht. Von Missbrauch kann man in meinen Augen nur dann sprechen,
wenn man einen Vertrag anders handhabt, als es der
Bezeichnung entspricht. Das heißt, wenn da „Werkvertrag“ draufsteht, muss im Ergebnis auch „Werkvertrag“
drin sein. Es darf kein Dienstvertrag sein. Da sind wir
uns natürlich einig.
({8})
Aber es kann nicht sein, dass Sie sagen: Es ist schon
dann ein Missbrauch, wenn ein Werkvertragsbeschäftigter für längere Zeit in einem beauftragenden Unternehmen arbeitet. - Es sind viele Beispiele für Missbrauch
gebracht worden. Ich will einmal Beispiele nennen, die
zeigen, dass es notwendig ist, auf Werkverträge zurückzugreifen.
Es gibt eine Firma, die sich darauf spezialisiert hat,
IT-Software zu installieren. Diese Firma hat mit weniger
als 20 Mitarbeitern angefangen. Sie hat mittlerweile
mehrere Hundert Mitarbeiter. Ihr Konzept ist darauf ausgelegt, dass die Software in den Firmen installiert wird.
Die Beschäftigten müssen dazu natürlich mit den Beschäftigten in diesen Firmen zusammenarbeiten, sind für
eine gewisse Zeit dort.
Wenn ich Ihre Kriterien aus dem Antrag zugrunde
lege, dann komme ich zu dem Schluss: Ein solches
Modell wäre schon gar nicht mehr möglich. Wenn Sie
das nicht beabsichtigen, dann müssen Sie das anders
formulieren; dann können Sie es nicht so schreiben, wie
Sie es in Ihrem Antrag gemacht haben. Vor allen Dingen
dürfen Sie nicht sagen: Wir wollen auch legale Werkverträge bekämpfen. - So steht es ausdrücklich in Ihrem
Antrag.
Kommen wir zum Bereich Forschung und Entwicklung. Sie haben auch das Beispiel der Autoindustrie
genannt. Da wird natürlich viel Forschung und Entwicklung betrieben. Die Unternehmen kommen ohne die
hochqualifizierten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer aus spezialisierten Betrieben gar nicht zurecht; ohne
diese können sie die Forschung und Entwicklung gar
nicht betreiben, können sie Projekte im Ergebnis nicht
zum Erfolg bringen. Deswegen muss diese Konstellation
auch weiterhin möglich sein.
({9})
- Sie sollen einstellen, sagen Sie. Aber vielleicht wollen
die Betroffenen das gar nicht. Sie wollen vielleicht speziell in den Unternehmen eingesetzt werden, wo gerade
die Musik spielt, wo gerade die neuen Dinge entwickelt
werden. Da wollen diese Personen sein. Sie müssen,
denke ich, da ein bisschen differenzierter herangehen.
({10})
Ein letzter Punkt, den ich noch erwähnen möchte,
sind die sogenannten Solo-Selbstständigen. Wir müssen
akzeptieren, dass es auch Leute gibt, die alleine selbstständig sein und vielleicht nur für einen Auftraggeber arbeiten wollen oder die einen großen Auftraggeber und
nur ein paar kleine haben.
({11})
Wenn Sie denen diese Möglichkeit nehmen, dann nehmen Sie ihnen auch einen großen Teil ihrer unternehmerischen Freiheit. Ich denke, diese Menschen bringen uns,
vor allen Dingen was die Spezialisierung, Entwicklung
und Forschung hier in Deutschland betrifft, weiter. Deswegen brauchen wir diese Modelle.
Wenn es darum geht, hier einen konkreten Kriterienkatalog festzulegen, muss ich Ihnen als Jurist sagen: Das
ist äußerst schwierig. Wir haben es hier mit einem Sachverhalt zu tun, der viele Einzelfälle beinhaltet. Man wird
Einzelfällen mit einem starren Kriterienkatalog nicht gerecht werden können. Man wird der Realität nicht gerecht. Vor allen Dingen würde dieser auch Fälle umfassen, bei denen wir bei weitem nicht von Missbrauch
sprechen. Ich denke, das ist das Schlimmste, was uns
hier an dieser Stelle passieren könnte. Allein die Diskussion, die wir führen, sorgt bereits jetzt in der Wirtschaftswelt für große Verunsicherung.
({12})
Dem sollten wir als Gesetzgeber entgegenwirken. Wie
gesagt, die heutige Rechtslage ist nach meiner Auffassung schon so, dass wir den Missbrauch verhindern können und keine schärferen Regelungen brauchen. Man
müsste es dann eher kontrollieren.
Ich möchte noch einen letzten Satz sagen, dann
komme ich auch wirklich zum Ende.
Gut.
Was die Forderung nach mehr Mitbestimmungs- und
Zustimmungsrechten für den Betriebsrat angeht, müssen
wir attestieren, dass es in der jetzigen rechtlichen Situation im Betriebsverfassungsgesetz ausreichende
Möglichkeiten gibt. Das sind Informations- und Unterrichtungsrechte. Wenn Sie jetzt weitere Mitbestimmungsrechte und Zustimmungsrechte fordern, dann
müssen Sie mir schon mal erklären, was Sie unter unternehmerischer Freiheit verstehen.
({0})
Das war ein sehr langer Satz. Bitte kommen Sie zum
Punkt.
Ich komme sofort zum Ende. - Ich will nur noch einmal appellieren, dass wir die Flexibilisierungsinstrumente, die wir haben, nicht leichtfertig aufgeben dürfen,
insbesondere angesichts der aktuellen Wirtschaftswelt.
({0})
Für die SPD-Fraktion hat der Kollege Hans-Joachim
Schabedoth das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Eine Erfahrung wiederholt sich heute zum x-ten Mal:
Während die Koalitionsfraktionen noch mitten im Arbeitsprozess stecken, ruft die Linkspartei: Wir sind
schon fertig und legen euch unseren Antrag vor.
({0})
Lehnen wir den Antrag ab, Kollege Ernst, dann wird einmal mehr über die zögerliche SPD und ihren sperrigen
Koalitionspartner lamentiert.
({1})
Was soll das? Mich erinnert das ein wenig an meine
Schulzeit: Man hat zwei Stunden Zeit für die Klassenarbeit. Schon nach einer Stunde springt einer auf, der erste
Übereifrige, und signalisiert: Ätsch, ich bin schon fertig,
die anderen aber noch nicht.
({2})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir wissen: Die
Schnellsten waren am Ende nicht immer unter den Besseren.
({3})
Auch im Parlamentsbetrieb geht es nach dem Prinzip
„Sorgfalt vor Eile“.
({4})
Die Koalition verfolgt hier einen Sorgfaltsfahrplan. Zuerst wird mit den Sozialpartnern geredet. Erfahrungen,
Erwartungen - auch Befürchtungen - werden systematisiert und abgeglichen.
({5})
Erst dann kann gehandelt werden,
({6})
und zwar in der üblichen parlamentarischen Schrittfolge,
die ich Ihnen hier gar nicht erläutern muss.
({7})
Dabei legen wir Wert darauf, dass die im Koalitionsvertrag getroffenen Absprachen zuerst mit unserem Koalitionspartner konkretisiert werden. Haben Sie bitte Verständnis dafür.
({8})
Doch ich will gerne die Gelegenheit, die Sie geschaffen haben, nutzen, um ein paar Missverständnisse auszuräumen und vielleicht schon ein bisschen aus sozialdemokratischer Sicht zu resümieren. Eine Klarstellung
haben wir alle, glaube ich, mittlerweile herausgearbeitet,
nämlich die, dass wir Leiharbeit und Werkverträge nicht
verbieten wollen, auch nicht „in the long term“. Zielsetzung ist - auch das haben viele Redner gesagt -, den
Missbrauch dieser Arbeitsform als Lohn- und Sozialdumpinginstrument zu unterbinden.
({9})
Der Missbrauch ergibt sich - darauf will ich besonders hinweisen - in der Grauzone mangelnder Abgrenzung zwischen Werkvertrag, Scheinselbstständigkeit und
Leiharbeit. Da muss was passieren.
({10})
Der Missbrauch wird dadurch erleichtert, dass ein Statuswechsel heute nahezu problemlos möglich ist. Das
wollen wir korrigieren. Es gibt immer wieder gute
Gründe, statt auf Festanstellung temporär auf Leiharbeit
zu setzen. D’accord! Und es gibt auch betriebliche
Gründe, Arbeiten auf Werkvertragsbasis ausführen zu
lassen. Allerdings gibt es keinen einzigen akzeptablen
Grund, Leiharbeit und Werkverträge zum Zwecke des
Umgehens von Tarifbindungen zu nutzen.
({11})
Für die meisten Arbeitgeber mag das - das will ich einräumen - eine Selbstverständlichkeit sein. Kollege
Stegemann, es sind aber leider nicht nur einige schwarze
Schafe. Mit denen könnten wir fertigwerden. Hier trabt
eine ganze Herde schwarzer Schafe vorbei. Wir werden
mit ihnen reden. Wir wollen das einhegen.
({12})
Es gibt also einen Regelungsbedarf.
({13})
- Habe ich einen Scherz nicht mitgekriegt?
({14})
Unser Anliegen hat eine doppelte Stoßrichtung. Zum
einen geht es darum, das Etablieren eines Apartheidsystems im Arbeitsleben zu verhindern.
({15})
Ein solches System bestünde dann, wenn Festangestellte
weiterhin tariflich angemessen bezahlt würden, während
Leiharbeitnehmer und Werkvertragsbeschäftigte sich mit
einer zweiten, geringeren Lohnlinie abfinden müssten.
({16})
Zwar gibt es hier durch den Mindestlohn eine Haltelinie,
ja. Aber trotzdem würde das Prinzip „Gleicher Lohn für
gleiche Arbeit“ erheblich verletzt. Auch Leiharbeiter haben Anspruch auf sichere, tariflich geregelte Arbeitsbedingungen bei ihrem Leiharbeitgeber in und zwischen
den Phasen, in denen sie verliehen werden;
({17})
auch das müssen wir beachten.
In anderer Hinsicht geht es um faire Konkurrenzbedingungen in der Wirtschaft. Alle Unternehmen einer
Branche müssen darauf vertrauen dürfen, dass es bei den
Arbeitskosten eine vergleichbare Ausgangslage gibt;
„level playing field“ würde wohl der Holländer sagen.
Wer durch Tricksereien über Leiharbeit und Werkverträge seine Arbeitskosten drückt, betrügt alle Mitbewerber, die das nicht wollen oder tarifvertraglich gebunden
sind.
Der Gesetzgeber ist deshalb gefordert, Leiharbeit
wieder auf ein Instrument der Flexibilität und eines vorübergehenden Ausgleichs von Auftragsspitzen zurückzuführen und der Prekarisierung der Arbeitswelt entgegenzuwirken.
({18})
Ich sage es noch einmal: Wir wollen faire Arbeits- und
Konkurrenzbedingungen.
Verhindern wollen wir, dass der Monteur der rechten
Autotür weniger verdient als der Zuständige für den Einbau der linken Autotür, nur weil er Leiharbeitnehmer ist.
Equal Pay heißt das. Uns geht es auch darum, Equal
Treatment nicht aus dem Blick zu verlieren.
({19})
Das ist nicht zuletzt - das ist ein sozialdemokratisches
Grundanliegen - ein Gebot des Respekts vor der Würde
der Arbeit. Betriebspolitik und Tarifpolitik haben hinsichtlich der notwendigen Regulierung die Grenze ihrer
tarifautonomen Gestaltungsmöglichkeiten erreicht. Deshalb muss die Politik jetzt handeln, aber darf auch nicht
durch jeden Reifen springen, den uns die Linkspartei
hinhält.
({20})
Ich will noch auf einen letzten Aspekt eingehen. Aus
der Wirtschaft wird das Bedenken signalisiert, eine gesetzliche Regulierung werde das unternehmerische Dispositionsrecht negativ tangieren. Ja, da ist was dran. Das
sollte man ernst nehmen. Aber deshalb muss auch sorgfältig geklärt werden, welche Grenzziehungen sachgerecht und deshalb unvermeidlich sind. Konkret: Es muss
zweifelsfrei unterscheidbar sein, was legitime Leiharbeits- und Werkvertragsaufgabe ist und was als trojanisches Pferd des Lohndumpings und der Tarifflucht dahertrabt.
Wer könnte bei der Klärung dieser komplizierten
Frage besser und kompetenter urteilen als die Betriebsräte und die Personalräte? Deshalb sollten Unternehmen
und Personalmanagement die Mitsprache dieser betrieblichen Intimkenner und Experten nicht fürchten, sondern
wünschen und nutzen.
Die SPD wird jedenfalls im Gesetzgebungsvorgang
darauf achten,
Herr Kollege, achten Sie bitte auf die Zeit.
- dass bei Leiharbeit und Werkverträgen Mitbestimmungsregeln eingeführt bzw. effektiv genutzt werden
können.
Wir behalten im Auge - damit komme ich zum
Schluss -, dass eine gesetzliche Neuregelung Anreize
für die Arbeitgeber bietet, bestehende Tarifverträge beizubehalten bzw. auf besserer rechtlicher Basis neue Tarifverträge abzuschließen. Ich setze dabei
Kollege Schabedoth, bitte!
- auf die Bereitschaft unseres Koalitionspartners, an
einer problemgerechten Lösung mitzuarbeiten. Und alle
Oppositionsparteien bleiben zur konstruktiven Begleitung unserer Arbeit ausdrücklich eingeladen.
({0})
Ich weiß ja, dass es ein weitverbreiteter Irrtum ist,
dass das Minus vor der Zeitangabe die noch verbleibende Redezeit anzeigt. Aber ich bitte wirklich, auch im
Interesse aller anderen Kolleginnen und Kollegen, sich
an die Verabredungen zu halten.
Das Wort hat der Kollege Peter Weiß für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Verehrte Damen und Herren! Zum Schluss dieser ausführlichen Debatte stellt sich die Frage: Was bleibt denn
von dieser Debatte?
({0})
Da will ich als Erstes feststellen: Leih- oder Zeitarbeit, Werkverträge - das ist anständige Arbeit.
({1})
Und selbstverständlich verdienen die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bzw. die Selbstständigen,
({2})
Peter Weiß ({3})
die Arbeit im Rahmen eines Werkvertrags erledigen oder
die als Leih- oder Zeitarbeiter arbeiten, unseren hohen
Respekt und unsere Anerkennung. Das, was wir aber allesamt vermeiden wollen, ist, dass Werkverträge, Zeitund Leiharbeit missbräuchlich eingesetzt werden. Darum geht es.
({4})
Deswegen haben wir uns in den Koalitionsverhandlungen zwischen CDU/CSU und SPD zu diesen beiden
Themenbereichen auch sehr viel Zeit genommen und
sind uns in Folgendem einig: Wir wollen, dass Zeit- und
Leiharbeit, die den Betrieben vor allem ermöglichen
soll, Auftragsspitzen, Auftragsschwankungen auszugleichen, besonderen Anforderungen, die sich plötzlich stellen, gerecht zu werden, auch in Zukunft als ein Flexibilisierungsinstrument erhalten bleibt. Wir wollen genauso,
dass der Werkvertrag - es ist erwähnt worden -, der seit
über 100 Jahren im BGB steht und vielfach sinnvoll eingesetzt wird, erhalten bleibt. Da haben wir bei der Linken Zweifel, ob sie dies nicht alles abschaffen will.
({5})
Wir wollen aber vor allem eines klarstellen: Zeit- und
Leiharbeit und genauso Werkverträge sind kein Instrument für Lohndumping. Vielmehr haben die Beschäftigten Anspruch auf eine anständige und angemessene Bezahlung.
({6})
Das haben wir bereits in der letzten Legislaturperiode
deutlich gemacht, indem wir für Zeit- und Leiharbeit einen allgemeinverbindlichen eigenen Mindestlohn eingeführt haben, der im Westen bereits über 8,50 Euro liegt.
({7})
Also: In der Zeit- und Leiharbeit ist der Mindestlohn höher als der allgemeine gesetzliche Mindestlohn. Wir haben deutlich gemacht: Zeit- und Leiharbeit ist kein Instrument für Lohndumping; vielmehr gibt es da eine
klare Grenze.
({8})
In der Koalitionsvereinbarung haben wir miteinander
festgelegt, dass wir eine Höchstverleihdauer definieren
wollen und dass wir auch die Frage, ab wann jemand,
der in einem Leiharbeitsverhältnis steht, die gleiche Bezahlung wie die Festangestellten - Stichwort „Equal
Pay“ - bekommen soll, beantworten. Aber dabei geht es
nicht darum, dass diese Regelung erst nach neun Monaten greifen soll. Vielmehr haben wir schon in der letzten
Legislaturperiode politisch unterstützt, dass Tarifverträge mit einer stufenweisen Heranführung an das EqualPay-Prinzip abgeschlossen werden,
({9})
dass also bereits nach wenigen Wochen Zuschläge für
diejenigen gezahlt werden, die in einem Leiharbeitsverhältnis stehen.
Besonders ist dafür der Tarifvertrag für die Metallund Elektroindustrie bekannt, nach dem in Stufe 1 bereits nach sechs Wochen ein Zuschlag von 15 Prozent,
nach drei Monaten ein Branchenzuschlag von 20 Prozent, nach einer Einsatzzeit von fünf Monaten ein Branchenzuschlag von 30 Prozent,
({10})
in Stufe 4 dann 45 Prozent und nach neun Monaten ein
Branchenzuschlag von 50 Prozent gezahlt wird. Ich
finde, genau das ist das Richtige: eine stufenweise Anhebung der Entlohnung in der Leih- und Zeitarbeit.
({11})
Ich wiederhole es: Zum Werkvertrag, einem bewährten Instrument, gibt es eine ausdifferenzierte Rechtsprechung mit klaren Kriterien, an die man sich zu halten
hat, um deutlich zu unterscheiden: Was ist ein Werkvertrag und was nicht? Wir wollen, dass diese Kriterien eingehalten und überprüft werden. Ich glaube, wenn wir die
Informationsrechte der Betriebsräte stärken, erreichen
wir Folgendes: Mehr Transparenz verhindert Missbrauch. Das sollte in Zukunft unser Motto bei der Gestaltung der Werkverträge sein.
({12})
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, ich will noch
einmal an das, was Karl Schiewerling eingangs gesagt
hat, erinnern. Richtig ist: Wir müssen Missbrauch verhindern. Aber zu dem, was hier von den Oppositionsfraktionen suggeriert wird, dass wir in einer Situation
wären, in der die Zahl an Zeit- und Leiharbeitsverhältnissen dramatisch zunehmen würde, kann ich nur sagen:
Das Gegenteil ist der Fall. Zurzeit beträgt der Anteil der
sozialversicherungspflichtig Beschäftigten, die in einem
Leih- und Zeitarbeitsverhältnis stehen, 2,6 Prozent.
Diese Zahl lag schon einmal bei 2,9 Prozent. Das zeigt:
Es gibt hier eher eine Stagnation oder Abnahme als eine
Zunahme. Das zeigt: Die Dramatik, die die Opposition
bei diesem Thema heraufbeschwört, ist von der Sachlage
her überhaupt nicht begründet.
({13})
Peter Weiß ({14})
Diese Debatte, nehme ich an, ist heute auch deswegen
aufgesetzt worden, um das eigentliche Ziel, das wir als
Koalition verfolgen, ein Stück weit zu vernebeln. Ja, wir
wollen Probleme, die es auf dem Arbeitsmarkt gibt,
nicht negieren. Aber das eigentliche Ziel muss doch das
sein, was sich die allergrößte Mehrheit der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in der Tat wünscht, nämlich
in ein normales sozialversicherungspflichtiges Arbeitsverhältnis zu kommen. Das ist das Ziel.
({15})
Deswegen muss die Politik die Frage beantworten: Wie
setzen wir die Rahmenbedingungen dafür, dass dieses
Ziel für möglichst viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer erreichbar ist? Wir sollten einfach zur Kenntnis
nehmen, dass das vergangene Jahr, also 2014, das Jahr
mit der geringsten Arbeitslosigkeit seit 25 Jahren war
und mit circa 42,5 Millionen beschäftigten Menschen
das Jahr mit dem höchsten Beschäftigungsstand in der
deutschen Geschichte darstellt, und zwar auch dem
höchsten Stand an sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung. Das ist das Entscheidende.
({16})
Für mich ist der entscheidende Punkt: Die Zahl der
sozialversicherungspflichtig Beschäftigten ist dabei proportional stärker angestiegen als die Zahl der Beschäftigungsverhältnisse insgesamt. Die Botschaft ist also: Die
positive wirtschaftliche Entwicklung führt im Gegensatz
zu dem, was wir in früheren Jahren und Jahrzehnten erlebt haben, mittlerweile dazu, dass die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten, die anständig verdienen sowie Steuern und Sozialabgaben zahlen, stärker
als der Beschäftigungszuwachs insgesamt steigt. Das ist
die eigentliche positive Botschaft. Die Zahl der normalen Arbeitsverhältnisse in Deutschland nimmt wieder zu.
Das ist auch die Botschaft für die Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer in unserem Land.
({17})
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, weil wir heute
Morgen mit der Regierungserklärung der Frau Bundeskanzlerin begonnen haben und einen Blick auf die internationale Entwicklung geworfen haben, will ich zum
Schluss anmerken, dass die Internationale Arbeitsorganisation vorgestern einen dramatischen Bericht vorgelegt
hat. Sie hat festgestellt, dass weltweit immer weniger
Menschen einen Job haben und dass von den Menschen,
die einen Job haben, weltweit nur noch 42 Prozent einen
unbefristeten Arbeitsvertrag haben. Das ist eine dramatische Veränderung der Arbeitswelt weltweit. Dagegen
heben wir uns in hervorragender Weise ab, weil wir in
Deutschland genau den gegenteiligen Trend haben, und
zwar zugunsten der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und
({18})
zugunsten guter Arbeit. Ich finde, es ist der eigentliche
Arbeitsauftrag der Koalition, diesen guten Trend für
mehr Arbeit, für mehr Beschäftigung und für gute Bezahlung fortzusetzen.
({19})
Das ist unser Ziel.
Vielen Dank.
({20})
Vielen Dank. - Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/4839 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. - Ich sehe, Sie sind
damit einverstanden. Dann ist die Überweisung so be-
schlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 7 a bis 7 d auf:
a) Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
CSU und SPD
Prinzipien des deutschen Bildungswesens
stärken - Gleichwertigkeit und Durchlässigkeit der beruflichen und der akademischen
Bildung durchsetzen
Drucksache 18/4928
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({0})
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss Digitale Agenda
Haushaltsausschuss
b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Berufsbildungsbericht 2015
Drucksache 18/4680
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({1})
Sportausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Rosemarie Hein, Sigrid Hupach, Sabine
Zimmermann ({2}), weiterer Abgeordneter
und der Fraktion DIE LINKE
Ausbildungsqualität sichern - Gute Ausbildung für alle schaffen
Drucksache 18/4931
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({3})
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Vizepräsidentin Ulla Schmidt
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Beate
Walter-Rosenheimer, Brigitte Pothmer, Kai
Gehring, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Mit einer echten Ausbildungsgarantie das
Recht auf Ausbildung umsetzen
Drucksache 18/4938
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({4})
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 60 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. - Ich darf Sie
bitten, Ihre Plätze einzunehmen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort für die Bundesregierung hat Frau Bundesministerin Professor
Dr. Johanna Wanka.
({5})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Das duale System ist die wesentliche Säule für
die Fachkräftesicherung der Zukunft in Deutschland
auch in den nächsten Jahrzehnten. Das zeigt und demonstriert der uns vorliegende Berufsbildungsbericht 2015
ganz deutlich. Er zeigt aber auch, dass die berufliche
Ausbildung in Deutschland vor sehr großen Herausforderungen steht.
Was sind die Hauptbotschaften, die man diesem Bericht entnehmen kann? Aus Sicht der Jugendlichen hat
sich die Situation weiter verbessert. Jetzt haben wir die Situation, dass für 100 Jugendliche, die einen Ausbildungsplatz suchen, 103 Ausbildungsplätze vorhanden sind.
Wenn ich mir die Zahlen der BA von März und April anschaue, dann setzt sich dieser Trend fort. Es ist ganz anders als in den 90er-Jahren. Wir haben also die Situation,
dass mehr Plätze unbesetzt bleiben, es sind 37 000. Das
ist Höchststand. Dagegen gibt es nur 21 000 Bewerber,
die gar nichts haben und einen Ausbildungsplatz suchen.
Die Frage ist: Wie bekommt man diese Jugendlichen auf
die für sie geeigneten Ausbildungsplätze? Dieses Passungsproblem ist nicht trivial zu lösen. Es ist außerordentlich schwierig. Es ist sehr komplex.
Wenn wir uns die Ausbildungsbetriebe anschauen,
dann hat sich die Zahl derer, die Ausbildung anbieten,
weiter verringert. Das ist außerordentlich bedenklich.
Die großen und mittleren Betriebe haben ihre Ausbildungsbetriebsquote erhöht, aber bei den kleinen und
kleinsten Betrieben geht diese Zahl stark zurück. Wir
müssen die kleinen Betriebe motivieren, Ausbildungsplätze anzubieten, gerade in den neuen Bundesländern,
wo sie jahrelang niemanden gefunden haben. Im Juni,
Juli starten wir eine Ausschreibung, in der wir ein spezielles Programm anbieten, um die Ausbildungsbereitschaft der kleinen und mittleren Betriebe zu erhöhen.
({0})
Wenn man das Geflecht sieht, dann ist ganz klar: Es
sind ganz viele Akteure in dem Geschäft. Dieser Bereich
ist außerordentlich komplex. Man kann nicht an einer
Stellschraube drehen und erwarten, dass sich dann alles
grundlegend ändert. Deswegen bin ich den Koalitionsfraktionen sehr dankbar für diesen sehr umfassenden
Antrag, der alle Aspekte einbezieht und viele Anregungen enthält, über die wir diskutieren und die wir umsetzen.
Der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen hat eigentlich dieselbe Zielrichtung, es gibt auch in Bezug auf die
Instrumente viel Übereinstimmung. Aber in der Einschätzung dessen, was die Regierung ordentlich gemacht
hat, was die Regierung schon erreicht hat, gibt es natürliche wesentliche Unterschiede.
({1})
- Ja, es ist normal für eine Opposition.
Es gibt viele Chancen, die wir ergreifen können - lassen Sie mich zwei, drei nennen, zum Beispiel den Übergangsbereich. In diesen Übergangsbereich mussten
Bund und Länder in den 90er-Jahren richtig viel Geld
stecken, um dafür zu sorgen, dass die jungen Menschen,
die keinen Ausbildungsplatz bekommen haben, wenigstens irgendetwas haben. Früher sind rund 400 000 junge
Menschen pro Jahr in den Übergangsbereich eingetreten,
heute sind es rund 250 000. Das sind immer noch sehr
viele. Aber es ist ein absoluter Fehlschluss - auch das
habe ich in den Anträgen der Opposition gelesen -, zu
glauben, das seien 250 000 Leute, die auf der Suche
nach einem Ausbildungsplatz sind. Mindestens ein Drittel der jungen Menschen in diesem Übergangsbereich
nutzt ihn, um einen schulischen Abschluss nachzuholen
oder um einen höheren schulischen Abschluss zu erreichen, um ihre Chancen auf einen Ausbildungsplatz zu
erhöhen. Dann gibt es in diesem Bereich die Jugendlichen, für die er gedacht ist und für die er auch in Zukunft
immer notwendig sein wird. Das sind diejenigen, die die
Schule verlassen und nicht ausbildungsfähig sind. Sie erfahren in den Maßnahmen des Übergangsbereichs besondere Unterstützung und Weiterbildung, was vielleicht
noch besser und effektiver ausgestaltet werden kann.
Dann gibt es die Gruppe junger Menschen, die in dem
System sozusagen versorgt sind, aber in Wirklichkeit etwas anderes wollen, nämlich einen Ausbildungsplatz.
Das ist die Klientel, auf die die Wirtschaft sofort zugreifen kann. Sie kann nicht sagen: Es gibt zu wenige, die
eine Ausbildung machen wollen.
Zu den Potenzialen zählen die Jugendlichen mit
Migrationshintergrund.
({2})
Die Ausbildungsanfängerquote bei den Jugendlichen mit
Migrationshintergrund liegt bei 32 Prozent, bei den deutschen Jugendlichen bei 57 Prozent; es gibt also eine Riesenlücke. Fest steht: Die Jugendlichen mit Migrationshintergrund haben sich in den letzten Jahren schulisch
verbessert. Nun müssen wir vor allem um sie werben.
Wir müssen die Jugendlichen, ihre Eltern, aber auch die
Betriebe, die von Menschen mit Migrationshintergrund
geleitet werden, informieren. Deshalb haben wir in diesem Jahr die Zahl der KAUSA-Servicestellen, die genau
diese Funktion haben, mehr als verdoppelt. Aber es sind
noch weitere Anstrengungen notwendig.
({3})
Viele Jugendliche - die Zahlen finden Sie im vorliegenden Bericht - zwischen 20 und 29 Jahren haben keinen beruflichen Abschluss. Sie haben eine zweite Chance
verdient. Das kostet richtig viel Geld, aber hier muss etwas getan werden. Aber viel entscheidender ist es, dass
wir verhindern, dass wir es auch in Zukunft mit solchen
Größenordnungen zu tun haben. Das heißt, wir müssen
präventiv tätig sein und individuell fördern. Prävention
statt Reparatur, das muss unsere Zielstellung sein.
Bildungsketten - wir haben darüber gesprochen sind eine sehr gute Möglichkeit, um Jugendlichen Vorstellungen über geeignete Berufe zu vermitteln, um sie
zu ermuntern, eine Ausbildung zu beginnen. Wir sind in
Deutschland immer stark, wenn es darum geht, Projekte
auf den Weg zu bringen. Das Feedback in allen Projekten, die ich besucht habe, war: Es gibt eine große Akzeptanz dieser Bildungsketten vonseiten der Lehrer, aber
auch vonseiten der Auszubildenden und der Ausbilder.
Die Bildungsketten sind wirklich ein gutes Instrument.
Aber wichtig ist, dass man etwas, das funktioniert, in einer anderen Größenordnung und flächendeckend macht.
Die Arbeitsministerin und ich haben uns zusammengetan. Ich kann Ihnen sagen, dass wir 500 000 jungen
Menschen - das ist eine halbe Million - eine Potenzialanalyse anbieten können, dass wir in den nächsten Jahren für über 100 000 junge Menschen eine Berufseinstiegsbegleitung anbieten. Nun könnte man sagen: Das
könnte noch mehr sein. Aber in dieser Dimension gab es
das bisher noch nie. Bei der Berufseinstiegsbegleitung
sind praktisch alle Schulen, die infrage kommen, eingebunden.
({4})
Nun ist es so, dass sich viele um dieses Thema bemühen. Es gibt eine Menge von Maßnahmen, die nebenher
und unkoordiniert verlaufen. Frau Nahles und ich haben
die politische Initiative ergriffen. Wir regen an, dass in
den einzelnen Bundesländern Gesamtkonzepte auf den
Weg gebracht werden, damit keiner verloren geht. Wir
müssen natürlich auf die Bundesländer zugehen; denn
die Bedingungen, unter denen dies in Baden-Württemberg umgesetzt wird, sind andere als in Hamburg. Ich
hoffe auf große Resonanz der Landesminister. Einige haben Ihre Bereitschaft schon signalisiert.
Verwundert hat mich in den Oppositionsanträgen - da
war ich wirklich verblüfft -, dass so viel über die Ausbildungsplatzgarantie geschimpft und andere Vorschläge
gemacht wurden. Haben Sie nicht gelesen, was wir gemacht haben?
({5})
In der Allianz für Aus- und Weiterbildung ist das ein
ganz zentraler Punkt. Wir haben dort zum Beispiel die
Selbstverpflichtung der Wirtschaft. Wenn ein Jugendlicher bis zum 30. September - also konkret, nicht nur irgendwie - eines Jahres keinen Ausbildungsplatz hat,
dann bekommt er bei der Nachvermittlung der BA drei
Angebote, und wenn sie bewirken, dass er sich räumlich
verändern muss oder auch beruflich, dann wird das entsprechend finanziell unterstützt, auch zum Teil von den
Arbeitsagenturen in den Ländern.
({6})
Auch das Thema Ausbildungsqualität ist in der Allianz für Aus- und Weiterbildung ein ganz zentrales
Thema. Wir sollten wissen: Die Ausbildungsqualität
muss verbessert werden, an vielen Stellen. Da sind viele
Maßnahmen, viele Dinge vorgesehen, aber keine
Schreckgespenster. Selbst der DGB - der DGB! - sagt,
dass der Großteil der Auszubildenden zufrieden ist mit
der Ausbildungsqualität.
Ein Punkt, den ich besonders wichtig finde und noch
kurz benenne, meine Damen und Herren, ist die Durchlässigkeit. Wissen Sie, in der Kultusministerkonferenz
haben wir über Jahre diskutiert: Das Abitur in Deutschland ist die Hochschulzugangsberechtigung, die generelle Zugangsberechtigung, und alles andere geht nicht,
vermatscht das Abitur. Man konnte es nachholen über
den zweiten Bildungsweg. Mittlerweile ist es eine Tatsache - die wichtig ist -, dass man mit beruflicher Qualifikation studieren kann. Die Allererste, die das im Gesetz
vorgesehen hat, war ich 2008 in Brandenburg. 2009 gab
es den KMK-Beschluss. Jetzt ist es bundesweit in allen
Gesetzen verankert. Aber es funktioniert noch nicht. Die
Zahlen sind minimal. Wir müssen mehr machen, wir
müssen die Hürden, die in den Gesetzen sind, noch einmal diskutieren.
({7})
Die rechtliche Basis ist gegeben; aber dazu gehört sehr
viel mehr. Wenn wir wollen, dass akademische und
duale Ausbildung nicht gegeneinander ausgespielt werden, sondern dass Durchlässigkeit in beide Richtungen
vorhanden ist, dann müssen wir an dieser Stelle intensiv
arbeiten. Das ist ein Punkt, den ich in unterschiedlichen
Anträgen wiedergefunden habe.
Meine Damen und Herren, der Berufsbildungsbericht
ist Analyse, aber auch Ermunterung und Auftrag, und
den nehmen wir an.
Danke.
({8})
Vielen Dank. - Nächste Rednerin ist Dr. Rosemarie
Hein, Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Bundesregierung, die Bundesministerin spricht von
leichten Verbesserungen auf dem Ausbildungsmarkt für
Jugendliche, obwohl sie wieder einen Rückgang bei der
Zahl der abgeschlossenen Ausbildungsverträge konstatieren muss. Es scheint heute schon ein Erfolg zu sein,
dass sich der Rückgang der Zahl der abgeschlossenen
Ausbildungsverträge gegenüber dem Vorjahr verringert
hat. Ich finde, das ist eine komische Logik.
({0})
Gleichzeitig beschwört sie seit Monaten, die Attraktivität der dualen beruflichen Bildung zu erhöhen und ihre
Gleichwertigkeit zur akademischen Bildung herzustellen, und bastelt Programme für Studienabbrecher, um sie
für die duale Ausbildung zu begeistern.
({1})
- Das ist nicht schlecht; das stimmt. - Die Zunahme der
Zahl der unbesetzten Lehrstellen erklärt sie wieder mit
sogenannten Passungsproblemen.
Wir finden, dass die Probleme anders liegen. Die
duale Berufsausbildung hat kein Attraktivitätsproblem,
sondern es mangelt an guten Ausbildungsplätzen, und
sie hat zumindest in einigen Branchen und Unternehmen
ein Qualitätsproblem. Darum haben wir heute einen Antrag zur Verbesserung der Ausbildungsqualität vorgelegt.
({2})
Doch zu einigen Zahlen: Die Bundesregierung, die
Ministerin eben auch, spricht immer nur von den etwa
21 000 unversorgten Bewerberinnen und Bewerbern,
also jenen Jugendlichen, die überhaupt kein Angebot erhalten haben. Ich finde, das ist Schönfärberei. Ich muss
Ihnen eine andere Zahlenreihe anbieten: Tatsächlich haben sich mehr als 600 000 junge Menschen über die
Bundesagentur für Arbeit um einen Ausbildungsplatz
beworben. Es wurden aber nur 560 000 Stellen angeboten. Etwa 522 000 Ausbildungsverträge wurden tatsächlich abgeschlossen, einige davon sogar außerbetrieblich.
Insgesamt haben sich also nicht nur 21 000, sondern
81 000 junge Menschen erfolglos um einen Ausbildungsplatz beworben; das ist schon eine andere Größenordnung. Ihr Wunsch, eine Berufsausbildung zu machen,
ist immer noch da, auch wenn sie sich zurzeit in einer
anderen Bildungsmaßnahme befinden. Es ist eine Katastrophe, dass insgesamt über eine Viertelmillion junge
Menschen sich in schulischen Ausbildungsangeboten
befinden - dort geparkt werden -, die zu keinem Berufsabschluss führen. Das darf man nicht schönreden!
({3})
Ich finde, diese Warteschleifenpolitik des sogenannten Übergangssystems muss ein Ende haben, auch wenn
es richtig ist, dass der eine oder die andere über diesen
Weg einen höheren Schulabschluss erreichen kann. Das
ist aber eine ganz andere Ebene. Das alles kann man
auch anders machen.
Nachdem in den Jahren seit 2005 die Zahlen des
Übergangssystems sehr deutlich geschrumpft sind,
scheint es nun irgendwie nicht weiterzugehen. Wenn es
gelänge, nur diejenigen der im Übergangssystem Verbliebenen, die über einen Schulabschluss verfügen, also
über einen Haupt- oder einen Realschulabschluss - das
sind etwa drei Viertel der dort befindlichen jungen
Menschen -, in eine vollwertige Berufsausbildung zu
bringen, wäre ein Großteil des Problems gelöst. Dazu
brauchte man allerdings etwa 190 000 zusätzliche Ausbildungsplätze.
Die zum Jahresende 2014 geschlossene Allianz für
Aus- und Weiterbildung hat aber gerade einmal beschlossen, 20 000 Stellen mehr an die Bundesagentur für
Arbeit zu melden. Man beachte die sprachliche Feinheit:
zu melden, nicht zu schaffen! Frau Ministerin, Selbstverpflichtungen der Wirtschaft hatten wir in den letzten Jahren wahrlich genug. Sie haben nichts geholfen.
({4})
Darum ist das ewige Gejammer um die angeblich sinkende Attraktivität der beruflichen Bildung im Vergleich
zur akademischen völlig überflüssig. Der Ball liegt bei
den Unternehmen. Die müssen liefern.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es gibt tatsächlich
etwa 37 000 unbesetzte Ausbildungsstellen, und zwar
vornehmlich in den Wirtschaftsbereichen und kleinen
Unternehmen, die eine sehr schwierige Ausbildungslage
und Probleme mit der Ausbildungsqualität haben. Dort
gibt es die höchste Zahl an Vertragsauflösungen. Das
weist darauf hin, dass wir uns mehr um die Ausbildungsqualität kümmern müssen.
Das kann man auch sehr gut im Ausbildungsreport
der DGB-Jugend nachlesen, aber leider nicht so ausführlich im Berufsbildungsbericht. Ich will nur ein paar
Fakten daraus nennen: 34 Prozent der Jugendlichen haben keinen betrieblichen Ausbildungsplan, 11 Prozent
sehen ihre Ausbilder selten oder nie, 36 Prozent müssen
regelmäßig Überstunden machen, 13 Prozent der unter
18-Jährigen müssen mehr als 40 Stunden in der Woche
arbeiten. Ich höre damit auf. Es gibt aber noch eine
ganze Latte mehr solcher Befunde.
Zu den Branchen, in denen das am häufigsten beklagt
wird, gehören genau jene, in denen die meisten offenen
Stellen sind und die die höchste Zahl der Ausbildungsabbrüche haben.
({5})
Die Sicherung der Ausbildungsqualität ist eine der wichtigsten Aufgaben für die Erhöhung der Attraktivität beruflicher Bildung geworden. Das müssen wir über die
quantitativen Dinge hinaus endlich auch annehmen.
({6})
Darum haben wir in unserem Antrag Forderungen
formuliert, die nach unserer Auffassung auf Bundes- und
auf Landesebene dringend in Angriff genommen werden
müssen. Wir haben uns diesmal auf die duale Berufsausbildung, also auf die nach dem Berufsbildungsgesetz
und der Handwerksordnung, beschränkt, wissen aber,
dass es auch in anderen Bereichen offene Fragen dazu
gibt.
Die Ausbildungsqualität wird sich jedoch nur verbessern lassen, wenn auch die rechtlichen Rahmen dafür geschärft werden, und das kann und muss im Zuge einer
Novellierung des Berufsbildungsgesetzes geschehen.
Dazu gehört zum Beispiel auch die Aufwertung der Berufsschulbildung. Dual ist eine Ausbildung nämlich nur
dann, wenn sie beide Seiten hat: die betriebliche und die
schulische. Wenn das eine fehlt, ist sie nicht mehr dual.
Deswegen müssen schulische Lernleistungen tatsächlich auch bei den Kammerprüfungen berücksichtigt werden, müssen die rechtlichen Regelungen für den Besuch
einer Berufsschule zwischen den Ländern - sie sind
nämlich sehr unterschiedlich - vereinheitlicht werden
und müssen die Rechte von Auszubildenden, die älter als
18 Jahre sind, neu gesetzlich geregelt werden. Der
Berufsbildungsbericht muss künftig auch die Ausbildungsqualität berücksichtigen, und die Kompetenzen der
Berufsbildungsausschüsse müssen gestärkt werden.
Wir gehen nicht davon aus, dass wir schon alle Forderungen aufgeschrieben haben. Für Ergänzungen und Erweiterungen sind wir sehr dankbar.
Ich möchte noch ganz kurz auf den Antrag der Koalition eingehen. Das Anliegen, die Durchlässigkeit zwischen beruflicher und akademischer Bildung zu verbessern, teilen wir durchaus, aber Bekenntnisse werden hier
nicht ausreichen. Lassen Sie mich drei Anmerkungen zu
Ihrem Antrag machen.
Erstens. Sie fordern von den Unternehmen, dass die
Absolventen der beruflichen Bildung, wie staatlich geprüfte Techniker und Fachwirte, Entwicklungsmöglichkeiten erhalten, wie sie auch Hochschulabsolventen
haben. Das ist richtig; denn sie haben ein Qualifikationsniveau, das dem Bachelor-Abschluss gleichgestellt ist.
Aber, meine Damen und Herren, das gilt auch für Erzieherinnen und Erzieher. Warum ist es dann so schwer,
ihre Arbeit im Bereich der frühkindlichen Bildung in den
Kindertagesstätten genauso zu würdigen und sie entsprechend einzugruppieren?
({7})
Senden Sie hier doch einmal ein solches Signal aus; das
würde vielleicht sogar in den derzeitigen Tarifverhandlungen helfen. Ihre Arbeit ist nämlich nicht weniger wert
als die eines Fachwirtes, Meisters oder Technikers.
Zweitens. Wir teilen die Forderung, Berufsschullehrer
im Rahmen der Qualitätsoffensive Lehrerbildung stärker
in die Lehrerausbildung einzubinden; wir fordern das
auch. Die Lage an den Berufsschulen könnten wir allein
schon dadurch verbessern, dass wir das Übergangssystem entsprechend abbauen. Dann könnten die frei
werdenden Lehrerstunden nämlich in den Berufsschulen
genutzt werden.
Einen dritten, letzten Punkt möchte ich benennen und
die Koalition auf einen kleinen Fehler hinweisen.
({8})
Unter Punkt 8 Ihrer Forderungen steht, die regionalen
beruflichen Bildungszentren sollten zu Kompetenzzentren ausgebaut werden. Meine Damen und Herren von
der Koalition, das dürfen Sie nicht; die Bundesregierung
darf das nicht finanzieren, weil das Aufgabe der Länder
ist. Ich frage mich ernsthaft, was Sie dazu bewogen hat,
diesen Punkt aufzunehmen. Möglicherweise unterliegen
Sie einem Irrtum, oder Sie wollen auf ganz listige Weise
die Länderhoheit umgehen.
({9})
- Es tut mir leid. Es geht nicht um überbetriebliche Ausbildungsstätten.
({10})
Es geht um die regionalen Berufsbildungszentren.
Frau Dr. Hein.
Googeln Sie einfach einmal! Dann finden Sie heraus,
dass das Schulen sind. Das ist Länderhoheit. Tut mir
leid. - Das Kooperationsverbot ist nicht unsere Erfindung. Heben Sie es auf, dann kriegen wir das auch hin.
Vielen Dank.
({0})
Danke schön. - Für die SPD-Fraktion erhält jetzt
Willi Brase das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich freue mich auf die
Debatte im federführenden Ausschuss; denn das, was
Sie hier dargestellt haben, stimmt in Teilbereichen nicht
ganz mit der Realität überein.
({0})
Ich finde, die Ministerin hat auf der Grundlage des Berufsbildungsberichtes schon sehr genau auf die unterschiedlichen Strukturen, Bedingungen und Verhältnisse
hingewiesen. Das werden wir im Ausschuss noch einmal
gebührend zu diskutieren haben.
Wir konnten heute in der Presse lesen, dass laut einer
Studie von Prognos bis zum Jahre 2020 1,2 Millionen
junge Leute mit Berufsabschluss und 500 000 junge
Leute mit Hochschulabschluss benötigt werden. Das ist
nicht mehr lange hin; das sind nur noch ein paar Jahre.
Vor diesem Hintergrund möchte ich darauf hinweisen,
dass die Debatte um einen angeblichen Akademisierungswahn in diesem Lande ein bisschen schiefläuft.
({1})
Ich kann für meine Fraktion nur sagen: Für uns ist der
Aufstieg für alle, egal woher sie kommen und was sie
mitbringen, ein absolutes Muss. Davon weichen wir
nicht einen Millimeter ab.
({2})
Wir wollen allen Menschen - denen aus schwierigen
materiellen und sozialen Verhältnissen genauso wie
denen aus guten oder bildungsnahen Verhältnissen - die
Chance geben, den Weg zu gehen, den sie gehen wollen.
({3})
Daher empfehle ich, diese Debatte ein Stück weit zurückzufahren. Sie bringt uns nicht weiter.
Was ich gut finde - man findet es teilweise in den
Anträgen, aber auch in der Realität -, ist die Debatte
über die Gleichwertigkeit von allgemeiner und beruflicher Bildung. Nach meinem Eindruck scheint mittlerweile klar zu sein, dass es nichts mehr bringt, die duale
berufliche Ausbildung nur als Einstieg für Leute mit
mittlerem Abschluss, Hauptschulabschluss und darunter
zu verstehen. Das, was wir mit dem Berufsbildungsgesetz anbieten - Aufstiegsfortbildungen, Umschulungsmöglichkeiten, vor allem der Durchstieg zur Fachhochschule, auf den ich noch zu sprechen komme -, ist
absolut richtig, um die Stärke des Industriestandortes
Deutschland zu erhalten und gleichzeitig gute Perspektiven für die jungen Leute auf den Weg zu bringen.
({4})
Zur Gleichwertigkeit gehört für mich auch - wir können es im Berufsbildungsbericht gut nachlesen -: Wir
haben über 200 000 junge Leute, die eine schulische
Ausbildung mit Abschluss im Gesundheits- und Erziehungsbereich absolvieren. Nicht all diese jungen
Menschen haben eine Hochschulzugangsberechtigung.
Vielfach sind es junge Menschen mit einem mittleren
Bildungsabschluss. An dieser Stelle gebe ich Frau Hein
durchaus recht: Die Gesellschaft sollte und muss begreifen, dass die Wertigkeit der Erziehungs-, der Pflege- und
der Gesundheitsberufe - vor allen Dingen, was den
Pflegebereich angeht -, wesentlich höher eingeschätzt
werden muss.
({5})
Das halte ich für absolut richtig und notwendig; das
muss noch einmal deutlich gesagt werden.
Ich komme zur Qualität der dualen Berufsausbildung.
Wir haben, auch außerhalb des Parlamentes, mehrere
Debatten darüber geführt, an welchen Stellen das Berufsbildungsgesetz möglicherweise novelliert werden
muss. Ich bin ein bisschen nachdenklich geworden, als
von Vertretern des Bundesinstituts für Berufsbildung,
der Wirtschaft und der Wirtschaftsverbände der Begriff
„Berufslaufbahnkonzept“ benutzt wurde. Diesem Berufslaufbahnkonzept liegt die Auffassung zugrunde: Wir
brauchen in bestimmten Branchen nur noch Teilqualifikationen. - Dazu kann ich für meine Fraktion klar und
deutlich sagen: Wir wollen, dass das duale Ausbildungssystem das Berufsprinzip beibehält und dass ein Ergebnis der Prüfung die Zuerkennung der Berufsfähigkeit ist.
Wir sind gegen eine weitere Aufgliederung von Ausbildungsgängen.
({6})
Deshalb ist ein solches Konzept, auch wenn es mit dem
Deutschen und dem Europäischen Qualifikationsrahmen
ein Stück weit in Einklang steht, aber auf Teilqualifikationen und auf Teilzertifizierungen setzt, von uns abzulehnen. Ich kann nur sagen: Mit der SPD wird es eine
solche Modularisierung der dualen Berufsausbildung
nicht geben.
({7})
Es ist über die Warteschleifen diskutiert worden. Ja,
man muss sich das genauer anschauen. Man muss sich
dieses Problem auch unter regionalen Gesichtspunkten
anschauen. Die bundesweiten Zahlen sind das eine, die
Realitäten vor Ort das andere. Ich finde es bedauerlich,
dass es offensichtlich noch nicht gelungen ist, das Instrument der Einstiegsqualifizierung - im Rahmen der Allianz für Aus- und Weiterbildung werden dafür ja noch
einmal zusätzliche Plätze angeboten - bei den Unternehmen vor Ort und den jungen Leuten, die möglicherweise
erst einmal in diesen Bereich gehen müssen, positiv zu
verankern. Wenn man es schafft, ein Jahr lang eine Einstiegsqualifizierung in einem Betrieb zu absolvieren und
gut arbeitet, wird diese Leistung zum Teil auf die duale
Ausbildung anerkannt. Diesen Weg müssen wir deutlicher aufzeigen. Er muss besser verankert werden.
({8})
Ich bin Frau Wanka dafür dankbar, dass sie sich mit
Frau Nahles und den Bundesländern auf den Weg macht,
das gesamte Paket, das für den Übergangsbereich zur
Verfügung steht, zu untersuchen - es geht um etwa
250 000 Jugendliche in Warteschleifen - und zu überlegen, wie wir die Vielzahl der Maßnahmen reduzieren
können. Ich glaube, dass ich das hier in den letzten Jahren 20- oder 25-mal angesprochen habe. Ich werde nicht
müde, das erneut anzusprechen. Die Vielfalt bringt uns
nicht weiter. Wir müssen das Ganze vernünftig begrenzen, um auf einen vernünftigen Weg zu kommen.
({9})
Wir wollen und müssen die Attraktivität des beruflichen Bildungssystems erhöhen. Zur Attraktivität der Berufe gehört natürlich auch die Antwort auf die Frage: Wie
verhält es sich später mit den Löhnen und Gehältern? In
diesem Zusammenhang möchte ich aus einem Artikel in
der Rheinischen Post vom 27. Januar dieses Jahres zitieren, der anhand einer Studie des DIW deutlich gemacht
hat, wie die Gehälter in einzelnen Ausbildungsberufen
aussehen. Ich zitiere: Demnach bekommen Männer nach
einer Lehre zum Versicherungskaufmann, Finanzberater,
Logistiker oder Buchhalter die besten Stundenlöhne. Sie
lassen beim Gehalt unter anderem Lehrer, Geistes- und
Politikwissenschaftler, Architekten, Bauingenieure, Fachhochschulabsolventen, Erzieher und Sozialarbeiter hinter
sich. - Ich meine, wer für die duale Ausbildung steht, der
sollte auch mit Selbstbewusstsein sagen, dass wir sehr
viele Berufe haben, in denen sehr gutes Geld verdient
werden kann. Diese Berufe kann man mit akademischen
Berufen vergleichen.
({10})
Wir haben klare Erwartungen an die Allianz für Ausund Weiterbildung. Das kann ich, glaube ich, für meine
Fraktion, aber auch für die Koalition deutlich sagen. Alles, was diesbezüglich vereinbart wurde - 10 000 Plätze
für die assistierte Ausbildung, 20 000 zusätzliche Ausbildungsplätze, Qualität der Ausbildung -, erwarten wir
Ende des Jahres. Nach der Nachvermittlungszeit, die wir
aus den berufsbildungspolitischen Debatten ja kennen,
erwarten wir die entsprechenden Ergebnisse. Es muss
vorangehen, auch vor dem Hintergrund der Tatsache,
dass wir zukünftig ein hohes Maß an jungen Leuten
brauchen, die gut und ordentlich ausgebildet sind.
({11})
Ich möchte einen letzten Punkt ansprechen. Im Juli
2013 haben wir über die Jugendgarantie in Europa gesprochen. Die Bundesregierung und wir im Parlament
haben bei den Haushaltsberatungen mittlerweile eine
Menge Geld zur Verfügung gestellt, um einen Austausch
zu ermöglichen, um jungen Leuten aus anderen Ländern
die Chance zu bieten, in Deutschland eine Ausbildung
oder Ähnliches zu beginnen.
Vor wenigen Tagen hat Jacques Delors, den viele von
Ihnen kennen, gesagt, wir brauchten einen neuen Anlauf
bei der Ausbildung der Jugendlichen in Europa. Ich
glaube, er hat recht.
({12})
Es geht nicht mehr um 30 000 oder 40 000 Jugendliche,
sondern um mehr als 200 000 junge Menschen. Die Jugendgarantie umfasst insgesamt Mittel in Höhe von etwa
6 Milliarden Euro. Ich habe ein bisschen in die Szene hineingehört und bin der Frage nachgegangen, was bei all
dem herumgekommen ist. Ich denke, dass der von Jacques
Delors eingeschlagene Weg - ich kann ihn aufgrund
meiner begrenzten Redezeit nicht mehr genau darstellen;
man kann es nachlesen - richtig ist: 100 000 und mehr
Jugendlichen in Europa wurde die Chance gegeben, in
ein Nachbarland zu gehen und eine zwei- oder dreijährige Ausbildung zu machen. Das stärkt Europa, und es
gibt allen jungen Leuten Zukunftsaussichten. Dafür sollten wir uns starkmachen.
Ich danke fürs Zuhören.
Vielen Dank. - Nächste Rednerin ist Beate WalterRosenheimer, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Liebe Kollegen und Kolleginnen! Liebe Zuhörer und
Zuhörerinnen! Sehr geehrte Frau Ministerin Wanka!
Lassen Sie mich mit einem Zitat aus diesem April beginnen, das von Ihnen, Frau Wanka, stammt. Sie sagten damals: Wir haben jetzt im Gegensatz zu vor zehn Jahren
mehr unbesetzte Plätze im beruflichen Bereich als unversorgte Bewerber. - Das haben Sie eben wiederholt.
Ich finde schon, dass man sich diesen Satz einmal auf
der Zunge zergehen lassen muss. Es ist, verzeihen Sie
bitte, Unsinn, das einfach so zu behaupten. So, wie Sie
es sagen, stimmt es nicht; so können Sie uns das nicht
weismachen. Über eine Viertelmillion junger Menschen
in diesem Land ist im vergangenen Jahr bei der Suche
nach einem Ausbildungsplatz leer ausgegangen. Das ist
keine kleine Randgruppe, sondern es ist eine Anzahl von
Menschen, die der Einwohnerzahl einer Großstadt wie
Augsburg entspricht. Diese jungen Menschen landeten
im sogenannten Übergangssystem. Es waren fast
260 000 junge Menschen in teuren Warteschleifen ohne
Anschluss, ohne Abschluss und ohne berufliche Zukunft. Gleichzeitig klagt die Wirtschaft über Fachkräftemangel. Da läuft irgendetwas falsch. Das ist wirtschaftlicher Unsinn und bildungspolitischer Irrsinn.
({0})
Im Berufsbildungsbericht steht genau das schwarz auf
weiß. Frau Ministerin Wanka, es tut mir leid, aber ich
finde, als Mathematikprofessorin interpretieren Sie da
wirklich Ihre eigene Statistik falsch. Wer all diese Jugendlichen als versorgt bezeichnet - das tun Sie immer
noch -, der ist entweder ahnungslos oder verantwortungslos. Ich weiß nicht, was ich schlimmer finde.
({1})
Hören Sie endlich auf, mit Zahlen zu jonglieren. Es geht
um junge Menschen. Krempeln Sie lieber die Ärmel
hoch, packen Sie etwas an, und schauen Sie, dass Sie die
berufliche Bildung in Deutschland vom Kopf auf die
Füße stellen.
({2})
Im Koalitionsvertrag haben Sie noch vollmundig eine
Ausbildungsgarantie angekündigt. Ich frage Sie: Wo ist
sie denn, die Ausbildungsgarantie? Wir haben sie nicht
gefunden. Wir haben uns auf die Suche begeben. Im Text
der neuen Allianz für Aus- und Weiterbildung schreiben
Sie, dass Sie allen Jugendlichen einen Pfad bereiten
möchten. Meine Damen und Herren, ein schmaler Pfad,
auf dem man sich irgendwie durchwurschteln kann, ist
nicht das, was junge Menschen brauchen.
({3})
Sie brauchen breite Wege und Brücken in den Beruf.
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Großen Koalition, Ihr Antrag zeigt schon im Titel, dass Sie den Kern
des Problems überhaupt nicht begriffen haben.
({4})
Dort lesen wir, dass Sie die Gleichwertigkeit und Durchlässigkeit der beruflichen und der akademischen Bildung
- wir haben es gerade gehört - durchsetzen wollen. Ich
kann Ihnen versichern: Das schaffen Sie nicht, solange
Sie das Ganze wie ein Mantra vor sich her tragen.
Schwadronieren Sie nicht so lange über den vermeintlichen Akademisierungswahn - das tun Sie nämlich -,
sondern hören Sie auf, die akademische Bildung gegen
die berufliche auszuspielen.
({5})
- Doch. Da können Sie ruhig lachen. Es ist in unseren
Augen so.
Es geht um die zentrale Frage, wie wir die Jugendlichen, die es selbst nicht schaffen und die schlechtere
Startchancen in diesem Land haben, fit für die Ausbildung machen. Diese Jugendlichen gibt es.
({6})
- Ich finde es, ehrlich gesagt, nicht so wahnsinnig lustig. Es gibt sie, und sie brauchen mehr Unterstützung. Diese
Jugendlichen haben wir bis jetzt nicht erreicht.
({7})
Deshalb fordern wir eine echte Ausbildungsgarantie,
die diesen Namen auch verdient. Wir wollen die assistierte Ausbildung endlich für all jene Jugendlichen öffnen, die eben mehr Unterstützung brauchen, damit sie an
ihr Ziel kommen.
({8})
- Ich sage ja gerade, was wir machen wollen. Hören Sie
bitte noch kurz zu.
({9})
Wir wollen den Ausbau der Jugendberufsagenturen
stärken, damit junge Menschen - etwa solche, die keine
Eltern haben, die sie auf den richtigen Weg schubsen die notwendige Unterstützung bekommen und nicht auf
dem Weg von der Schule in den Beruf verloren gehen.
Da gehen noch viel zu viele verloren.
Wir misten den Dschungel an Maßnahmen im Übergangsbereich aus und bündeln die sinnvollen Programme so, dass sie in einer betriebsnahen Ausbildung
vom ersten Tag an zu einem anerkannten Berufsabschluss führen.
Da Ihnen anscheinend die Ideen ausgegangen sind,
wie es noch besser geht und wie man das erreichen kann,
rate ich Ihnen: Schauen Sie ruhig einmal in unsere grüne
Ausbildungsgarantie. Übernehmen Sie Verantwortung
für die jungen Menschen und für die Wirtschaft in diesem Land.
Danke.
({10})
Vielen Dank. - Nächster Redner ist Michael
Kretschmer, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Der Berufsbildungsbericht, über den wir heute
sprechen, ist eine wichtige Handlungsgrundlage, eine
gute Analyse, manchmal auch mit unangenehmen Wahrheiten, aber auf jeden Fall ein wichtiger Hinweisgeber
für die Bildungspolitik in unserem Land. Ich vertraue
diesem Bericht, der vom Bundesministerium für Bildung
und Forschung erarbeitet wird, viel mehr als so manchem Ratschlag, der von außen kommt.
Unlängst hat uns der Präsident der Wirtschaftskammer in Wien erzählt: Wissen Sie, wenn wir der OECD
glauben würden, müssten wir davon ausgehen, dass in
unserem Land alles desaströs ist. Wir haben in Österreich viel zu wenige Leute, die Abitur machen. Wir haben viel zu wenige junge Menschen, die studieren. Das
Einzige, das in Österreich besser ist als in anderen Ländern, das Einzige, wo die OECD zu guten Ergebnissen
kommt, ist, dass wir eine niedrige Jugendarbeitslosigkeit
haben - die niedrigste -, dass wir höhere Löhne haben,
dass wir überhaupt ein ordentliches Gehaltsgefüge haben. - Deswegen ist die Frage: Wem vertrauen wir? Ich
glaube, es ist richtig, dass wir an dem, was Deutschland
stark gemacht hat, dass wir an unserem Erfolgskonzept
festhalten und es weiter ausbauen.
({0})
Wir haben versprochen - wir halten dieses Versprechen auch -, bis zu 10 Prozent des Bruttoinlandsproduktes für Bildung und Forschung auszugeben. Denn wir sagen: Es ist wichtig, dass in diesem Bereich viel passiert,
dass wir uns um Inklusion kümmern, dass wir uns um
junge Menschen kümmern, die es nicht so leicht haben.
Insofern gilt dieses Versprechen. Wir werden hier weiter
investieren.
Unser Grundsatz lautet: kein Abschluss ohne Anschluss. Wir haben, was die Durchlässigkeit der Berufe
angeht - der zweijährigen Berufe, theoriegemindert im
Vergleich zu den richtigen Facharbeiterberufen - viel bewegt. Wir haben den Zugang zur Hochschule für diejenigen, die einen Meisterabschluss, aber kein Abitur, keine
Fachhochschulreife haben, wirklich erleichtert. Das hat
viel geholfen.
Die große Herausforderung für die Zukunft ist die
Kombination aus der demografischen Entwicklung - es
gibt viel weniger junge Menschen - auf der einen Seite
und dem Studierverhalten, das heute ganz anders ist, als
es in der Vergangenheit war, auf der anderen Seite. Deswegen müssen wir alles daransetzen, dass das, was
Deutschland als Industrieland stark gemacht hat, das dafür gesorgt hat, dass die Jugendarbeitslosigkeit so niedrig ist wie in kaum einem anderen Land der Europäischen Union, auch in Zukunft gilt. Das heißt, die
Kombination aus Praxis und Theorie im dualen System
ist die Stärke dieses Landes. Alle Energie, die wir in der
Bildungspolitik, in der Berufsbildungspolitik einsetzen,
muss sich auf diesen Punkt konzentrieren, damit wir diesen Vorteil auch in Zukunft erhalten.
({1})
Deswegen werden wir die Modularisierung nicht so
weit vorantreiben - auch wenn manche eine größere Modularisierung wünschen -, dass dieses Berufskonzept am
Ende nicht mehr vorhanden ist. Das wäre in der Tat ein
großer Fehler. Es geht darum, dass Teilqualifikationen
zertifiziert werden, dass sie auch in die Gesellenprüfung
einbezogen werden. Aber im Grundsatz muss es bei diesem Berufskonzept bleiben.
({2})
Wir müssen gemeinsam mit den Ländern - wir müssen das auch von den Ländern einfordern - viel mehr
Energie für die Berufsorientierung aufwenden, und zwar
auch in den Gymnasien.
({3})
Überall an den Gymnasien in Deutschland müssen Berufsorientierungsmaßnahmen stattfinden, und zwar nicht
als Alibi in der elften oder zwölften Klasse, sondern beginnend ab der achten, neunten Klasse, sodass die jungen Leute tatsächlich eine gute Vorstellung davon bekommen, was für sie das Richtige ist, und sodass
hinsichtlich der Gehaltsvorstellungen - dazu haben wir
gerade Beispiele gehört - ein realistisches Bild entsteht.
Wir haben sehr viele Beispiele von jungen Leuten, die
ein Studium abbrechen, weil sie auf einmal merken, dass
es doch nicht das Richtige ist. Wir sehen, dass in einigen
Berufen in der dualen Ausbildung besser gezahlt wird
als in manchen Studienberufen. Deswegen gilt es, hier
ein Bild zurechtzurücken. Das kann nur durch eine qualitativ sehr hochwertige Berufsorientierung gelingen.
({4})
Wir wollen und müssen auch mit der Wirtschaft darüber reden, dass sie durch Gehaltsmaßnahmen und eine
ordentliche Betreuung der Auszubildenden die Attraktivität der dualen Ausbildung verbessert; das ist überhaupt
keine Frage. Wir müssen über neue Modelle sprechen.
Es geht um die hybride Ausbildung, also die Kombination von Berufsausbildung und Studium, und um das duale Studium, und zwar in einer qualitativ wirklich hochwertigen Weise, wie es damals in Baden-Württemberg
von der Union erfunden wurde, nämlich Studium und
Praxisanteil statt irgendeines Praktikums.
({5})
Genau dieser Beitrag ist notwendig, damit der große
Vorteil, von dem wir am Anfang gesprochen haben, die
Kombination von Praxis und Theorie, erhalten bleibt.
Das ist ein Gebot der Stunde.
({6})
Ich erinnere mich noch gut: Als ich 1991/1992 meine
Ausbildung begonnen habe, bot sich ein trostloses und
trauriges Bild. Der überwiegende Teil der jungen Menschen in den neuen Ländern ist entweder zur Ausbildung
in die alten Bundesländer gegangen oder hat sich für
eine überbetriebliche Ausbildungsmaßnahme entschieden.
2002, als ich zusammen mit vielen heutigen Kollegen
in den Bundestag gekommen bin, war die Situation unverändert. Junge Leute in einer Oberschule haben uns erzählt, dass sie 20 oder 30 Bewerbungen geschrieben und
nicht einmal eine Absage bekommen haben.
Was haben wir seitdem erreicht, meine Damen und
Herren?
({7})
Heute gibt es mehr Ausbildungsplätze als Bewerber.
({8})
Heute kann man sich den Ausbildungsplatz aussuchen.
({9})
Das ist das Ergebnis einer wirklich guten Politik. Denn
Ausbildung ist eine Investition in die Zukunft, und zwar
für die jungen Menschen, aber auch für den Betrieb.
Wir brauchen ein vernünftiges wirtschaftliches Umfeld und eine Wirtschaftspolitik, die auf Wachstum setzt
und Vertrauen hat. Ansonsten wird es auch keine Ausbildungsplätze geben. Das hat Angela Merkel seit 2005 geschafft, und das wird ihr auch niemand wegnehmen. Das
ist ein ganz großer Erfolg, meine Damen und Herren.
({10})
Was wir in den vergangenen Jahren gemeinsam erreicht haben, kann uns stolz machen. Die Zahl der Jugendlichen im Übergangssystem ist von über 400 000
auf 256 000 zurückgegangen. Das ist keine Maßnahme,
die man kritisch und abwertend sehen muss. Es ist vielmehr eine Maßnahme für Jugendliche, die es zum Teil
nicht leicht haben und viele Hemmnisse mitbringen. Um
sie kümmert sich dieses Land ganz verantwortungsvoll
und mit einem hohen Einsatz, weil wir sagen: Wir wollen kein Talent verloren geben. - Das ist eine tolle Sache, und es ist nicht in Ordnung, wie Sie das gerade heruntergeredet haben.
({11})
Wir haben neue Modelle wie die assistierte Ausbildung und die Bildungsketten entwickelt, die sich bewährt haben und die wir in Zukunft ausbauen wollen.
Ich glaube, wir sind auf einem guten Weg. Wenn wir dabeibleiben und das Prinzip „Praxis und Theorie“ weiter
stärken, dann wird es auch wieder mehr Ausbildungsplätze und bessere Chancen geben.
Wir sollten nicht von einem Akademisierungswahn
reden. Ich halte das in der Tat für einen Kampfbegriff.
Aber wir müssen das Bild zurechtrücken, dass nur das
Studium einen vernünftigen Job und ein vernünftiges
Einkommen erzeugt. Das ist nicht so. Dieses Land
braucht die duale Ausbildung. Dafür müssen wir kämpfen.
({12})
Vielen Dank. - Nächste Rednerin ist Brigitte
Pothmer, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen von der Koalitionsfraktion,
ich habe Ihren Antrag genau gelesen. Er wird der Überschrift, die Sie gewählt haben, in der Tat gerecht: Es geht
um die Gleichwertigkeit und Durchlässigkeit beruflicher
und akademischer Bildung.
Ich habe nicht den geringsten Zweifel, dass es da einen großen Handlungsbedarf und noch sehr viel zu tun
gibt. Aber ich frage Sie: Was ist mit denen, bei denen es
nicht um Gleichwertigkeit und Durchlässigkeit geht,
sondern vor allen Dingen erst einmal um einen Zugang
zur beruflichen Bildung? Sie finden in Ihrem Antrag bestenfalls am Rande - man kann fast sagen: als Fußnote statt.
Dabei haben wir - Frau Wanka, jetzt hören Sie bitte
einmal zu! ({0})
1,5 Millionen Menschen unter 35 Jahren, die keine Berufsausbildung haben. Sie sind wahnsinnig stolz darauf,
dass Sie die Anzahl derjenigen, die sich im Übergangssystem befinden, von 400 000 auf 256 000 abgesenkt haben.
({1})
Was hat das mit politischem Erfolg zu tun? Das ist das
Ergebnis der demografischen Entwicklung und des
Fachkräftemangels.
({2})
Hier werden die Leistungen von Frau Merkel hervorgehoben. Frau Wanka schlägt sich auf die Schultern. Das
ist keine politische Leistung. Die Wahrheit ist, dass sich
die Anzahl an abgeschlossenen Ausbildungsverträgen
auf einem Rekordtief befindet. Die Wahrheit ist, dass nur
noch jeder fünfte Betrieb sich überhaupt an der Ausbildung beteiligt. Da liegt Ihr Handlungsauftrag. Da sollten
Sie etwas tun.
({3})
Sie schreiben in Ihrem Antrag - wie ich finde, zu
Recht -: „Berufliche oder akademische Ausbildung …
sind ein Garant für Beschäftigung und sichern gute Verdienstchancen.“ Aber was heißt das im Umkehrschluss?
Das heißt im Umkehrschluss: Diejenigen, die keine Ausbildung haben - ich zitiere: 1,5 Millionen -, sind häufiger arbeitslos, sind öfter prekär beschäftigt und arbeiten
nicht selten zu Armutslöhnen. Im Laufe ihrer beruflichen Biografie verdienen sie über 240 000 Euro weniger
als die, die eine Ausbildung haben. Kümmern Sie sich
wirklich einmal um diese Menschen.
({4})
Wenn Sie jetzt sagen, dass Ihre Allianz für Aus- und
Weiterbildung die Antwort darauf ist, dann kann ich Sie
nur fragen: Wie kann das eigentlich funktionieren? Sie
sagen, Sie wollten 20 000 zusätzliche Ausbildungsplätze
durch diese Allianz schaffen. Sie sagen, Sie wollten jedem Jugendlichen, der bis Ende September keinen Ausbildungsplatz hat, drei Angebote machen. Jetzt frage ich
Sie einmal: Wie geht das nach Adam Riese? Wir haben
250 000 Jugendliche, die derzeit in der Warteschleife
sind. Da zähle ich die Altbewerberinnen und Altbewerber in Höhe von 160 000 noch gar nicht mit. Frau
Wanka, selbst wenn nicht alle in die betriebliche Ausbildung wollen - das behauptet doch auch keiner -, so bleiben doch immer noch so viele übrig, die nichts bekommen. Sonst hätten wir diese 1,5 Millionen Menschen
nicht. Die haben sich doch im Laufe der Jahre aus dieser
Warteschleife angehäuft. Also: 20 000 zusätzliche Ausbildungsplätze für 250 000 Jugendliche, und die sollen
jeweils drei Angebote bekommen. Das ist echt PISAverdächtig.
({5})
Ich glaube wirklich, Sie haben vor diesem Problem kapituliert. Die Warteschleifen werden eben nicht abgeschafft; sie werden jetzt gesundgebetet.
Ich kann Ihnen nur sagen: Wir sind der Auffassung,
dass es richtig ist, assistierte Ausbildung zu fördern, dass
es richtig ist, ausbildungsbegleitende Hilfen zur Verfügung zu stellen.
({6})
Aber assistierte Ausbildung für 10 000 Jugendliche ist
doch weniger als der Tropfen auf den heißen Stein. Sagen Sie doch einfach an dieser Stelle: Wir machen das
Angebot allen, die es brauchen. - Das wäre ein Schritt
nach vorne.
({7})
Selbst wenn wir diese Hilfen für alle zur Verfügung
stellen, müssen wir doch endlich auch einmal anerkennen, dass wir nicht alle Jugendlichen in die betriebliche
Ausbildung bekommen. Trotzdem haben sie ein Anrecht
auf eine Berufsausbildung. Diesen Vorschlag machen
wir Ihnen mit unserer Ausbildungsgarantie. Liebe Kolleginnen und Kollegen, stimmen Sie zu. Dann würden Sie
auch Ihren Koalitionsvertrag, in dem Sie das versprochen haben, nicht brechen.
Ich danke Ihnen.
({8})
Danke schön. - Nächster Redner ist Dr. Karamba
Diaby, SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir
wollen Aufstieg durch Bildung. Diese Leitidee teilen wir
alle in diesem Hohen Haus. Als Sozialdemokrat bewegen mich aber insbesondere zwei Fragen: Lösen wir das
Versprechen auf Bildungsaufstieg tatsächlich ein? Besteht echte Chancengleichheit in unserem Bildungswesen? Ich möchte daher die heutige Debatte nutzen, um
Ihren Blick auf den Ausbildungsmarkt und die Lage der
Jugendlichen mit Migrationsbiografie zu lenken.
Schülerinnen und Schüler mit Migrationsbiografie
sind längst auf der Aufholjagd um Bildungsabschlüsse.
Dennoch, trotz aller Fortschritte, die auch von der Frau
Ministerin erwähnt wurden: Unser Bildungssystem
macht sie immer noch zu Bildungsverlierern, und das
muss uns nachdenklich stimmen.
({0})
Meine Damen und Herren, Herkunft darf kein Schicksal
sein, weder der Geldbeutel noch die Herkunft der Familie.
Unsere duale Ausbildung ist bekanntlich ein Erfolgsmodell und stillt den Fachkräftebedarf unserer Wirtschaft. Leider gibt es immer weniger betriebliche Ausbildungsstellen, und viele Jugendliche gehen leer aus.
Dabei wird die Herkunft für Jugendliche mit Migrationsbiografie zum Klotz am Bein.
Ein Berufsabschluss ist die Eintrittskarte in den
Arbeitsmarkt. Er eröffnet Lebenschancen und bietet
Perspektiven. Diese Chancen und Perspektiven sind aber
leider nicht allen Kindern in Deutschland in die Wiege
gelegt.
Alle Zahlen belegen: Jugendliche mit Migrationsbiografie bekommen Diskriminierung auf dem Ausbildungsmarkt zu spüren. Ihr türkischer oder arabischer
Name wird zum Stigma. Das darf nicht so bleiben,
meine Damen und Herren.
({1})
Egal wie gut ihre Leistungen sind, sie müssen sich mehr
anstrengen, um gleiche Chancen auf einen Ausbildungsplatz zu bekommen. Ihr Ausbildungsweg ist mit mehr
Stolpersteinen gepflastert. Trotz statistisch nachgewiesener großer Bemühungen erhalten Mahmoud und Aischa
seltener Antworten auf ihre Bewerbungen als Anna und
Michael. Trotz gleicher Leistungen werden Mahmouds
und Aischas Bewerbungen aussortiert. Sie werden viel
seltener zum Bewerbungsgespräch eingeladen. Das besagen auch Statistiken. Sie ergattern also seltener einen
begehrten dualen Ausbildungsplatz. Meine Damen und
Herren, das dürfen wir nicht hinnehmen.
({2})
In diesem Land brauchen wir jedes Talent; denn jeder
und jede einzelne Jugendliche ist unsere so dringend gebrauchte Fachkraft von morgen. Nur sage und schreibe
etwa 15 Prozent der Unternehmen in Deutschland bilden
Jugendliche mit Migrationsbiografie aus. Ich meine, die
Wirtschaft ist in der Pflicht, gute Ausbildungsplätze für
alle Jugendlichen zu schaffen.
Zum Schluss sind mir drei Aspekte besonders wichtig:
Erstens ist mir wichtig, dass wir die betriebliche
Diversity-Kompetenz stärken, um Vorurteile abzubauen.
({3})
Ich selber glaube an die Erfolge von Schulungen zum
Erwerb interkultureller Kompetenzen, und ich kenne
solche Erfolge auch.
Zweitens müssen wir neue Wege gehen. Warum nicht
auch anonymisierte Bewerbungsverfahren auf dem Ausbildungsmarkt?
({4})
Drittens müssen wir die Jugendlichen stärken: Wir
müssen ihre fehlenden Netzwerke ausgleichen. Patenmodelle und die engere Zusammenarbeit von Schulen
und örtlichen Ausbildern sind sehr wichtig.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, Herkunft
darf kein Schicksal sein. Lassen Sie uns dafür arbeiten,
dass wir keinen Jugendlichen zurücklassen.
Danke schön.
({5})
Vielen Dank. - Dr. Thomas Feist ist der nächste Redner für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine verehrten Kolleginnen und
Kollegen! Der nationale Berufsbildungsbericht hat es
deutlich gezeigt: Der Patient atmet noch. - Das ist die
gute Nachricht.
({0})
Aber es gibt einiges, wo man vom ärztlichen Standpunkt
her Bedenken anmelden müsste. Das ist zum Beispiel
hier der Fall: Wir haben einen großen Rückgang bei der
Zahl neu abgeschlossener Ausbildungsverhältnisse, der
regional aber sehr unterschiedlich ist. Unser Rezept ist
der Antrag, den wir als Koalitionsfraktionen zur Gleichwertigkeit der beruflichen und der akademischen Bildung vorgelegt haben.
Worum geht es im Einzelnen? Es geht darum - das
hat die Ministerin auch schon gesagt -, dass die berufliche Bildung an Attraktivität verliert. Sie haben einmal in
einer Rede gesagt, Frau Ministerin: Gegen mangelnde
Attraktivität hilft auch kein Ministerprogramm, aber wir
sollten es nicht unterlassen, alles zu tun, um die berufliche Bildung hier in Deutschland zu stärken.
({1})
Die Stärkung der beruflichen Bildung fängt bei einer
guten Berufsorientierung an. Ich füge hinzu: Berufs- und
Studienorientierung. Angesichts von 330 Ausbildungsberufen und annähernd 20 000 Bachelor-Abschlüssen
kommt man ohne eine gute Orientierung nicht weiter.
Wir müssen erreichen, dass durch diese Berufs- und Studienorientierung zum einen alle Schüler angesprochen
werden, zum anderen über die Schüler hinaus aber auch
die Lehrer und die Eltern. Dazu müssen wir durch
Staatsverträge mit den Bundesländern eine gleichbleibende und hohe Qualität der Berufs- und Studienorientierung gewährleisten; denn nur dort, wo Berufs- und
Studienorientierung drin ist, darf sie auch draufstehen.
({2})
Das heißt auch: Wenn wir um Gymnasiasten werben,
zeugt das von der Erkenntnis, dass in einer Industriegesellschaft - wir reden über Industrie 4.0 -, in einer sich
verändernden Wirtschafts- und Technologielandschaft
mittlerweile viele Ausbildungsberufe ein Abitur erfordern. Dabei kann eine Berufsausbildung mit einem
„Abitur Plus“, wie sie vom Zentralverband des Deutschen Handwerks vorgeschlagen wird, für die Fachkräfte
sorgen, die wir morgen in diesem Lande brauchen.
Wir haben in unserem Antrag nicht nur die Ausbildungsbetriebe adressiert, sondern auch die Berufsschulen, die Berufsschullehrer. Hier sind die Länder in der
Pflicht, eine Struktur vorzuhalten, mit der wir den Innovationsvorsprung bei der Ausbildung, für den die Berufsschulen sorgen, erhalten und möglicherweise noch
verstärken können.
({3})
Es fehlt in der ganzen Ausbildungskette nur noch eine
Spezies: die Meister. Auch hier stellt sich die Frage der
Gleichwertigkeit akademischer und beruflicher Bildung. Wenn wir über prekäre akademische Arbeitsverhältnisse reden, dann müssen wir auch über die prekären
Arbeitsverhältnisse reden, die dort entstanden sind, wo
die Meisterpflicht weggefallen ist. Das betrifft nicht nur
kleine und Kleinstbetriebe. Wenn wir fragen: „Wie können wir mehr für Ausbildung tun? Wie können wir mehr
Unternehmen erreichen, die ausbilden?“, dann ist es
vielleicht ein mutiger Schritt, zu sagen: Wir haben in
diesem Punkt einen Fehler gemacht und sollten überlegen, wie wir ihn korrigieren.
({4})
Wenn wir über Gleichwertigkeit reden, möchte ich
zwei Zahlen anfügen. Wir investieren in den normalen
Bildungsweg, also Schule und berufliche Ausbildung,
ungefähr 100 000 Euro. Wir investieren in den Bildungsweg Gymnasium und akademische Ausbildung
170 000 Euro. Aus meiner Sicht ist das ein Missverhältnis. Wir müssen sehen, dass wir in der nächsten Zeit
dazu kommen, dass wir auch im Bereich der beruflichen
Bildung mehr investieren und diejenigen Unternehmen,
die ausbildungsbereit und ausbildungsfähig sind, unterstützen, damit sie auch in Deutschland ausbilden.
({5})
Wir haben in der letzten Zeit darüber geredet, wie wir
etwas mehr für den akademischen Nachwuchs tun können. Das ist gut. Unsere Koalitionsspitzen haben sich
darauf geeinigt, für den akademischen Nachwuchs in
den nächsten Jahren 1 Milliarde Euro bereitzustellen,
eine hervorragende Entscheidung. Noch besser wäre es
gewesen, wenn wir im Zusammenhang mit der akademischen Ausbildung vielleicht auch etwas zur beruflichen
Bildung gesagt hätten; denn beide Säulen sind wichtig,
und beide Säulen stehen in unserem Land gleichberechtigt nebeneinander. Da sollten wir auch noch etwas tun.
({6})
Wenn wir darüber reden, wie wir die Gleichwertigkeit
von dualer, beruflicher und akademischer Bildung weiter
erhöhen können, dann ist die Frage, wie wir etwas für
die Aufstiegsfortbildung, sozusagen für das MeisterBAföG, tun können, auch ein wichtiges Thema. Wir sind
gerade dabei, zu überlegen, welche Anreize wir denjenigen geben können, die sich für ein Meisterstudium entscheiden, wie wir finanzielle Anreize für das Bestehen
dieser Meisterprüfung geben können und wie wir es
eventuell auch schaffen, weitere Adressatenkreise für
das Meisterstudium zu erschließen, die bisher noch nicht
erfasst wurden. Ich denke da zum Beispiel an diejenigen,
die einen Beruf gelernt haben, einen Bachelor haben und
damit jetzt auch einen Anspruch auf Meister-BAföG bekommen sollen.
Wir haben dem Berufsbildungsbericht entnommen,
dass Handlungsbedarf besteht. Wir haben in dieser
Koalition schon die richtigen Zeichen gesetzt, auch im
letzten Jahr. Es gilt jetzt, auf diesem Weg weiterzugehen
und für eine gute und zukunftsfähige Finanzierung des
beruflichen Sektors zu sorgen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({7})
Vielen Dank. - Nächste Rednerin ist Gabriele
Katzmarek, SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Berufliche Bildung made in Germany ist ein Markenzeichen und ein Erfolgsfaktor der Wirtschaft. Sie ist Garant
für gut ausgebildete Facharbeiter und Facharbeiterinnen
und für Akademiker und Akademikerinnen. Deutschland
hat - und manchmal scheint man, wenn man die Reden
heute hier gehört hat, zu glauben oder es vergessen zu
haben - die geringste Jugendarbeitslosigkeit in der EU.
Mehr als 520 000 Ausbildungsverträge wurden 2014 abgeschlossen.
({0})
Ich denke, es ist richtig, dies zu erwähnen.
Ja, richtig ist auch - das müssen wir ebenfalls erwähnen; wir müssen darüber nachdenken, wie wir hier weiGabriele Katzmarek
ter vorgehen wollen -, dass 20 000 Jugendliche - dies
konnten wir dem Bericht entnehmen - unversorgt sind.
50 000 Jugendliche verlassen Jahr für Jahr die Schule
ohne Schulabschluss. 1,3 Millionen junge Menschen
zwischen 20 und 29 Jahren haben keine abgeschlossene
Berufsausbildung; auch das ist richtig. Das verheimlichen wir nicht. Das ist erkennbar und ist dem Berufsbildungsbericht zu entnehmen. Das ist der Iststand.
Meine Damen und Herren, und wir stehen heute hier
und das nicht nur heute, sondern wir haben dazu schon
verschiedene Beschlüsse gefasst und Maßnahmen verabredet, die dazu dienen, dies zu verändern im Interesse
der jungen Menschen, um ihnen eine Perspektive für ihr
weiteres Leben zu geben, und um dem Fachkräftemangel entgegenzuwirken.
({1})
Denn die Zukunft des Wirtschaftsstandortes Deutschland wird entscheidend davon abhängen, inwieweit es
uns gerade auch vor dem Hintergrund des demografischen Wandels gelingt, Bildung, Weiterbildung und
Qualifikation der Fachkräfte zu sichern und auszubauen.
({2})
Wir müssen uns mit den Folgen des dramatischen Geburtenrückgangs auseinandersetzen; denn entsprechend
wird das Fachkräfteangebot zurückgehen. Wenn wir
nicht rechtzeitig und entschieden reagieren, werden
Wachstumseinbußen unvermeidbar sein. Aber wir sind
in der Lage, diesem Trend entgegenzusteuern.
({3})
Im ersten Schritt müssen wir die vorhandenen Potenziale
besser nutzen, die wir im Inland haben. Aber klar ist
auch: Alleine aus dem eigenen Arbeitsmarkt heraus werden wir die Folgen des demografischen Wandels nicht
abfedern. Wir müssen uns dazu bekennen, ein Einwanderungsland zu sein, nicht nur rhetorisch, sondern durch
die Schaffung eines modernen Einwanderungsrechts.
({4})
Wir reden heute über Gleichwertigkeit und Durchlässigkeit der beruflichen und der akademischen Bildung
sowie über den Berufsbildungsbericht der Bundesregierung. Wie die im Berufsbildungsbericht dargelegten
Zahlen zeigen - Frau Pothmer, da haben Sie recht -, sind
weitere Anstrengungen notwendig. Unser Ziel ist und
bleibt, keinen Jugendlichen nach der Schule zurückzulassen. Aber Sie müssen auch zur Kenntnis nehmen, dass
wir, seitdem wir in der Regierung sind, verschiedenste
Maßnahmen auf den Weg gebracht haben und heute
nicht zum ersten Mal darüber reden. Ein Teil der Maßnahmen wurde schon genannt. Da Sie aber noch immer
mäkeln, dass es nicht genug ist, will ich sie gerne noch
einmal erwähnen - vielleicht merken Sie sich das dann -:
20. Mai 2014, was haben wir dort gemacht? Das
Modellprojekt „Jobstarter plus“, dann das Programm
„Aufstieg durch Bildung“, die Initiative „Abschluss und
Anschluss“, Ausbau der Berufsorientierung und am
26. Januar dieses Jahres die assistierte Ausbildung sowie
die Ausweitung der ausbildungsbegleitenden Hilfen. Dieses, meine Damen und Herren, muss man nun einmal
zur Kenntnis nehmen, wenn man hier redet.
({5})
Unser Ziel wird es weiterhin bleiben - deshalb führen
wir diese Maßnahmen ein -, keinen Jugendlichen zurückzulassen.
({6})
- Gut, wenn es Ihnen hilft, können Sie das gern ausdiskutieren. Es ist nur ärgerlich, dass es dann, wenn ich
Ihnen zuhören will, von meiner Redezeit abgeht. Deshalb verzeihen Sie es mir. - Aber ich will Ihnen gern
noch einmal sagen, warum wir angetreten sind, was wir
getan haben und was wir mit dem Antrag, der jetzt vorliegt, machen: Wir stärken die duale Berufsausbildung.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, zum Schluss
lassen Sie mich eines noch einmal ganz klar sagen: Wir
stehen für akademische Bildung, wir stehen für die duale
Bildung. Wir verschließen jedoch die Augen nicht, wir
sehen die Herausforderungen und arbeiten an Lösungen.
Wir haben dies in den letzten anderthalb Jahren mit vielen, vielen Maßnahmen, die erwähnt worden sind, getan.
Sie können gewiss sein, meine sehr geehrten Damen und
Herren der Opposition, wir werden weiter daran arbeiten. Denn unser Ziel ist es, junge Menschen in Ausbildung zu bringen, dem Fachkräftemangel aktiv entgegenzutreten und dieses nicht aus den Augen zu verlieren.
Herzlichen Dank.
({7})
Vielen Dank. - Letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt ist die Kollegin Uda Heller, CDU/CSUFraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Es ist schön, wiederholt zu einem Thema zu
sprechen, das viele Bürger interessiert - ob jung, ob alt und mit dem jeder seine eigenen Erfahrungen gemacht
hat. Für uns gehört das zu den wichtigsten Aufgaben der
nächsten Jahre: die Stärkung der beruflichen Bildung.
Meine Damen und Herren von den Grünen, eigentlich
hatte auch ich vor, einige Passagen in Ihrem Antrag zu
loben, aber angesichts Ihrer Schwarz-Weiß-Malerei
heute kann ich das leider nicht tun.
({0})
Von den Linken hatte ich nichts anderes als Kritik erwartet. Aber ich denke, an der Qualität können wir ja gemeinsam arbeiten.
Fakt ist: Für mehr als 500 000 Jugendliche bedeutete
im Jahr 2014 eine duale Ausbildung den Einstieg in eine
qualifizierte berufliche Zukunft. Dennoch steht das deutsche Bildungssystem - wie es viele schon gesagt haben vor großen Herausforderungen, die wir natürlich nicht
allein durch die Politik lösen können. Hier bedarf es der
Zusammenarbeit aller Partner der beruflichen Bildung.
Ich bin der Meinung, der Ausbildungsmarkt ist in erster Linie ein regionaler Markt. Das bedeutet: Eine
rechtskreisübergreifende Zusammenarbeit aller Partner
vor Ort ist ganz entscheidend, besonders beim Übergang
von der Schule zum Beruf.
({1})
Hier denke ich beispielsweise an die Jugendberufsagenturen; auch die wurden schon erwähnt. In meinem
Heimatkreis Mansfeld-Südharz konnte ich den Aufbau
eines solchen Bildungsbüros mit unterstützen.
Für einen fließenden Übergang bedarf es neben einer
zentralen Anlaufstelle - das habe ich auch schon mehrfach betont - einer frühen, gleichwertigen und praxisnahen Berufs- und Studienorientierung. Diese sollte als
Querschnittsthema in den Lehrplänen verankert werden.
Gute Ansätze für eine systematische Berufsorientierung
gibt das BMBF-Programm „Bildungsketten“.
Ganz entscheidende Partner in der Berufsberatung
sind nach wie vor die Eltern. Sie haben noch immer den
größten Einfluss auf die Berufswahl unserer Jugendlichen und sollten daher bei allen Berufsorientierungsmaßnahmen mitgenommen werden.
Auch der Bund ist sich seiner Verantwortung mehr als
bewusst. Mit einem 1,3 Milliarden Euro teuren Berufseinstiegs- und Berufsberatungsprogramm wollen wir zu
einer stärkeren betrieblichen Ausbildung beitragen. Es
ist wichtig, die Chancen, die eine Ausbildung bietet, sowie die sich daran anknüpfenden Aufstiegsperspektiven
in der beruflichen Bildung deutlich zu machen.
Gerade an Gymnasien gibt es in Sachen Berufsorientierung noch Nachholbedarf. Es ist wichtig, dass die
Schüler gleichwertig über die Möglichkeiten einer akademischen und einer beruflichen Laufbahn beraten werden. Es kann nicht sein, dass sich Abiturienten aus reiner
Unwissenheit über betriebliche Karrierechancen für ein
Studium entscheiden, wobei dann jeder Vierte abbricht
bzw. das Studienfach wechselt.
({2})
Weiterhin gehören qualitativ hochwertige Orientierungspraktika sowie eine Übersicht der regionalen Angebote des Ausbildungsmarktes und ausreichend - ich
betone: ausreichend - geschulte Ansprechpartner zu den
entscheidenden Instrumenten der Berufsorientierung.
Wie schon mehrfach erwähnt, sinkt die Zahl der Ausbildungsbetriebe. Besonders kleinen Betrieben fehlt oftmals die Ausbildereignung. In Halle wurde 2009 beispielsweise von Unternehmen eine Initiative zum
vernetzten Engagement für gute Bildung und Ausbildung ins Leben gerufen. Hier werden Projekte initiiert,
Lehrer weitergebildet sowie Messen, wie beispielsweise
die MINT-Messe, organisiert. Die Kooperation zwischen
Unternehmen und Schulen ist umso erfolgreicher, je
praxisnäher sie angelegt und je offener ein Schulleiter
für diese Zusammenarbeit ist.
Dennoch können Betriebe die Ausbildungsplätze häufig nicht besetzen. Daher ist es wichtig, auch schwächeren Jugendlichen mit einem niedrigen oder sogar ohne
Schulabschluss eine Chance zu geben.
({3})
Verschiedene Instrumente und Maßnahmen, wie beispielsweise die 10 000 assistierten Ausbildungsplätze
oder die ausbildungsbegleitenden Hilfen, unterstützen
die Unternehmen und die Jugendlichen auf diesem gemeinsamen Weg.
Seit Jahren steigt die Zahl der Ausbildungsplätze, bei
denen ein Abitur vorausgesetzt wird. Auf zwei von drei
Ausbildungsplätzen braucht sich ein Hauptschüler gar
nicht erst zu bewerben; denn bei 62 Prozent aller Lehrstellen wird mindestens ein Realschulabschluss erwartet.
Eine weitere wichtige Zielgruppe sind Jugendliche
mit Migrationshintergrund. Deutschland hat mit 7,4 Prozent die niedrigste Jugendarbeitslosigkeit innerhalb der
Europäischen Union. Wir sind eine Industrienation, die
durch ihren demografischen Wandel vor einem steigenden Fachkräftemangel steht. Deshalb sollten wir mit einer dualen Aus- und Weiterbildung allen Menschen, die
es möchten - ich betone: die es möchten -, eine Chance
geben. Der Kollege Brase und andere haben hier die
Zahlen genannt. Insbesondere können wir so motivierten
und leistungsbereiten Flüchtlingen aus akuten Krisengebieten eine neue Lebensperspektive bieten.
Der jährlich erstellte Berufsbildungsbericht zeigt uns
die Herausforderungen für die Zukunft auf. Er ist eine
hilfreiche Arbeitsgrundlage für uns Bildungspolitiker,
den die Bundesregierung in unserem Auftrag erstellt hat.
Ich möchte als letzte Rednerin die Gelegenheit nutzen,
mich für diese detaillierte Ausarbeitung auf knapp
130 Seiten bei den Fachleuten recht herzlich zu bedanken.
({4})
Das gilt auch für unsere Ministerin. Sie hat auf diesen
Bericht nicht mit Selbstzufriedenheit geschaut, sondern
die künftigen Herausforderungen benannt. Dafür danke
ich ihr ganz herzlich.
({5})
Vielen Dank, Frau Kollegin. - Damit sind wir am
Ende der Aussprache angelangt.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 18/4928, 18/4680, 18/4931 und 18/4938
an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse
vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist
der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Vizepräsidentin Ulla Schmidt
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 33 a bis 33 f und
33 h sowie Zusatzpunkt 2 auf. Es handelt sich um Über-
weisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte.
Dabei kommen wir zunächst zu den unstrittigen Über-
weisungen.
Tagesordnungspunkte 33 a bis 33 f:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Fischetikettierungsgesetzes und des
Tiergesundheitsgesetzes
Drucksache 18/4892
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft ({0})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die
Rechtsstellung und Aufgaben des Deutschen
Instituts für Menschenrechte ({1})
Drucksache 18/4893
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({2})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über die internationale
Rechtshilfe in Strafsachen
Drucksache 18/4894
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz ({3})
Innenausschuss
d) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu der Vereinbarung vom 1. April 2015 über die Beteiligung Islands an der gemeinsamen Erfüllung
der Verpflichtungen der Europäischen Union,
ihrer Mitgliedstaaten und Islands im zweiten
Verpflichtungszeitraum des Protokolls von
Kyoto zum Rahmenübereinkommen der Vereinten Nationen über Klimaänderungen ({4})
Drucksache 18/4895
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit
e) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 17. September 2012 zwischen
der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Vereinigten Republik Tansania über den Fluglinienverkehr
Drucksache 18/4896
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur ({5})
Ausschuss für Tourismus
f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Luise
Amtsberg, Maria Klein-Schmeink, Beate WalterRosenheimer, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Für eine menschenrechtsorientierte Umsetzung der Flüchtlingsaufnahmerichtlinie der
EU
Drucksache 18/4691
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({6})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe,
das ist der Fall. Dann ist so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 33 h:
h) Beratung des Antrags der Abgeordneten Omid
Nouripour, Dr. Franziska Brantner, Agnieszka
Brugger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Richtlinien zum Schutz von Schulen und
Hochschulen vor militärischer Nutzung in einem bewaffneten Konflikt umsetzen
Drucksache 18/4939
Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen wünscht Abstimmung über ihren Antrag in der Sache, die Fraktionen
der CDU/CSU und SPD wünschen Überweisung.
Wir stimmen nach ständiger Übung zuerst über den
Antrag auf Ausschussüberweisung ab. Die Fraktionen
der CDU/CSU und SPD wünschen Überweisung zur federführenden Beratung an den Auswärtigen Ausschuss
und zur Mitberatung an den Verteidigungsausschuss, an
den Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre
Hilfe, an den Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung sowie an den Ausschuss für
wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung.
Ich lasse nun abstimmen über den Überweisungsvorschlag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD. Wer
stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist der
Überweisungsvorschlag mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposition angenommen. Die Überweisung ist beschlossen. Damit stimmen wir heute über den Antrag auf Drucksache 18/4939
nicht in der Sache ab.
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Cornelia Möhring, Sigrid Hupach, Matthias W.
Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Entgeltgleichheit gesetzlich durchsetzen
Drucksache 18/4933
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({0})
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({1})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Federführung strittig
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/4933 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Federführung ist
jedoch strittig. Die Fraktionen der CDU/CSU und SPD
wünschen Federführung beim Ausschuss für Familie,
Senioren, Frauen und Jugend. Die Fraktion Die Linke
wünscht Federführung beim Ausschuss für Arbeit und
Soziales.
Ich lasse zuerst abstimmen über den Überweisungsvorschlag der Fraktion Die Linke, dass die Federführung
beim Ausschuss für Arbeit und Soziales liegen soll. Wer
stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Überweisungsvorschlag ist mit den Stimmen von CDU/CSUund SPD-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktionen
Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen abgelehnt.
Ich lasse nun abstimmen über den Überweisungsvorschlag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD: Federführung beim Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen
und Jugend. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der
Überweisungsvorschlag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposition angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 34 a bis 34 j sowie
Zusatzpunkt 3 auf. Es handelt sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Tagesordnungspunkt 34 a:
Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz
({2})
Übersicht 5
über die dem Deutschen Bundestag zugeleiteten Streitsachen vor dem Bundesverfassungsgericht
Drucksache 18/4962
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen.
Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses.
Tagesordnungspunkt 34 b:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({3})
Sammelübersicht 181 zu Petitionen
Drucksache 18/4827
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 181 ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 34 c:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({4})
Sammelübersicht 182 zu Petitionen
Drucksache 18/4828
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 182 ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 34 d:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({5})
Sammelübersicht 183 zu Petitionen
Drucksache 18/4829
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 183 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der
Fraktion Die Linke bei Enthaltung von Bündnis 90/Die
Grünen angenommen.
Tagesordnungspunkt 34 e:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({6})
Sammelübersicht 184 zu Petitionen
Drucksache 18/4830
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 184 ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 34 f:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({7})
Sammelübersicht 185 zu Petitionen
Drucksache 18/4831
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 185 ist mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und der Fraktion Die Linke
gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Tagesordnungspunkt 34 g:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({8})
Sammelübersicht 186 zu Petitionen
Drucksache 18/4832
Vizepräsidentin Ulla Schmidt
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 186 ist mit den Stimmen der Fraktionen CDU/CSU, SPD und Bündnis 90/
Die Grünen gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke
angenommen.
Tagesordnungspunkt 34 h:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({9})
Sammelübersicht 187 zu Petitionen
Drucksache 18/4833
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Sammelübersicht 187 ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposition angenommen.
Tagesordnungspunkt 34 i:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({10})
Sammelübersicht 188 zu Petitionen
Drucksache 18/4834
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 188 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der
Fraktion Die Linke bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Tagesordnungspunkt 34 j:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({11})
Sammelübersicht 189 zu Petitionen
Drucksache 18/4835
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich? - Sammelübersicht 189 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der
Opposition angenommen.
Zusatzpunkt 3:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Energie ({12}) zu dem Antrag der Abgeordneten Christian Kühn ({13}), Dr. Julia
Verlinden, Oliver Krischer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Heizkosten sparen - Energiewende im Gebäudebereich und im Quartier voranbringen
Drucksachen 18/575, 18/2715
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/2715, den Antrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/575 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposition angenommen. Danke schön für die Aufmerksamkeit.
Ich rufe Zusatzpunkt 4 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion DIE LINKE
Haltung der Koalitionsfraktionen zur Freigabe der NSA-Selektorenliste im Hinblick auf
mögliche Ausspähungen von Wirtschaft und
Politik
Ich bitte Sie, die Plätze einzunehmen. - Wenn alle
Kolleginnen und Kollegen Platz nehmen und die, die
noch Gespräche führen möchten, dies bitte außerhalb
des Saales tun, dann kann ich die Aussprache eröffnen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält Jan
Korte, Fraktion Die Linke.
({14})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Am 11. Mai sagte Bundeskanzlerin Merkel in Bremen
- ich darf zitieren -:
Alle Materialien aus dem Kanzleramt und, zum Teil
ist das ja noch im Prozess, auch vom BND werden
diesem Untersuchungsausschuss zugeleitet, das ist
für uns eine Selbstverständlichkeit.
Zitat Ende.
Erstens. Natürlich stimmt das nicht, was sie gesagt
hat. Es wird weiter vertuscht, behindert, geschwiegen
und im Übrigen auch gelogen. Ich will die Dimension
noch einmal deutlich machen: Es geht hier nicht um irgendetwas, sondern es geht offenbar um tausendfache
Grundrechtsverletzung, und Bundeskanzlerin Merkel
sitzt und schweigt wie in den bleiernen Helmut-KohlZeiten. Das ist der Sache doch nicht wirklich angemessen nach so vielen Wochen der Debatte.
({0})
Zweitens. Genosse Sigmar Gabriel hatte rund drei
helle Tage,
({1})
in denen er markige Ansagen machte. Im Kern sagte er:
Das Kanzleramt ist gefragt und verantwortlich. - Das ist
richtig. Deswegen müssen wir uns jetzt die Reaktionen
in dieser Spitzenkoalition darauf anschauen. Volker
Kauder sagte - Zitat -: „So geht man nicht miteinander
um in einer Koalition.“ Ausgerechnet in dieser Affäre
will also die CDU/CSU Benimmregeln aufstellen.
({2})
Aber das Ausspähen von EU-Partnern, der Wirtschaft
und der Bevölkerung, das wird akzeptiert, das ist okay. Da stimmt doch irgendetwas nicht bei Ihnen.
({3})
- Ich habe noch mehr, es wird noch besser. Horst Seehofer
mit Blick auf Sigmar Gabriel - ich darf zitieren -:
Das entspricht nicht der Staatsverantwortung, die
eine Regierungspartei hat. Das geht nicht.
Abgesehen davon, dass zurzeit der sogenannten
Staatsverantwortung in diesem Haus lediglich die Opposition gerecht wird,
({4})
zeigt dieser Satz natürlich das ganze Elend in diesem
Denken, nämlich das völlige Desinteresse für die Grundund Freiheitsrechte, die im Übrigen unter großen Mühen
und Opfern erkämpft worden sind.
({5})
Das ist der eigentliche Skandal.
({6})
Angemessen wäre ja nun wirklich, wenn aufseiten der
Bundesregierung irgendjemand mal Staatsverantwortung übernehmen würde.
({7})
Aber das macht keiner. Das wäre doch wohl angemessen
und nicht so ein Geschwätz aus Bayern.
({8})
Das Ganze hat nun wirklich eine sehr grundsätzliche,
demokratietheoretische Dimension. Deswegen will ich
zum Dritten etwas zum Umgang mit dem Parlament und
der Öffentlichkeit sagen. Sie beantworten Anfragen
- das ist übrigens in dieser Legislaturperiode von Ihnen
wirklich auf die Spitze getrieben worden - entweder gar
nicht oder wissentlich falsch. Beides geht natürlich
nicht.
({9})
Das No-Spy-Abkommen war ein reiner Wahlkampfgag - und Sie verkaufen das hier als eine große Tat! Ich
will noch einmal darauf aufmerksam machen: Es gibt
mittlerweile, zumindest unter den Innenpolitikern, wenn
sie miteinander, mit dem Ausschusssekretariat oder mit
Journalisten telefonieren,
({10})
die Redewendung: nicht am Telefon. Das ist mittlerweile
eine Standardaussage bei Telefonaten. Es kann doch
nicht allen Ernstes von Ihnen für normal befunden werden, dass man nicht mehr frei am Telefon kommunizieren kann! Das muss aufhören, liebe Kolleginnen und
Kollegen, egal in welcher Fraktion man ist! Das ist doch
wirklich unfassbar.
({11})
Die Krönung des Ganzen bei dem Spiel der Entmachtung des Bundestages ist nun die Idee, einen Sonderermittler einzusetzen. Das ist in diesem Bereich nun wirklich die völlige Entmachtung des Parlaments. Da will ich
auch sagen: Das hat nichts mit Oppositions- oder Regierungsfraktion zu tun. Es sollte doch allen Abgeordneten
hier im Hause, egal wie sie politisch stehen, ein Anliegen sein, die Rechte der Abgeordneten nicht freiwillig
aufzugeben. Wofür sitzen Sie denn eigentlich hier! Das
kann doch nicht wahr sein, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({12})
Im Übrigen will ich Ihnen auch sagen: Auch die
CDU/CSU kann wieder in der Opposition landen - das
sollten Sie mal mit bedenken! -, wenn die SPD aus dem
Quark kommt.
({13})
Noch eine Anmerkung: Wenn Sie dem Vorschlag
wirklich folgen, sollten zumindest die PKGr- und Untersuchungsausschussmitglieder der SPD und der CDU/
CSU ihre Jobs im PKGr gleich freiwillig aufgeben; sie
haben dann ja nichts mehr zu tun an relevanter Stelle. So
konsequent sollten Sie sein! Dann können Sie gleich
noch konsequenter sein - das wäre etwas Neues - und
am besten gleich Ronald Pofalla zum Sonderermittler
machen.
({14})
Dann wird diesem Irrsinn nämlich zur Kenntlichkeit verholfen.
Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss.
Ich hatte ja bei der SPD gedacht: Okay, das sozialdemokratische Gewissen regt sich jetzt doch noch ganz kurz;
Gabriel redete vom Rückgratzeigen. Dieses Rückgratzeigen gab er allerdings noch schneller auf als Heiko
Maas seinen Widerstand gegen die Vorratsdatenspeicherung. Es war alles Theater, Taktik. Vor allem war es
rückgratlos von der SPD. Wie können Sie das nach dem
Affentheater, das Sie hier aufgeführt haben, mitmachen?
({15})
Vielen Dank, Herr Kollege. Das war das Ende der
fünf Minuten.
Wir müssen das jede Woche hier machen, bei dem,
was hier abläuft.
({0})
Nur noch einen Punkt will ich sagen.
Ich bin schon immer großzügig.
Ein Satz wirklich noch: Es gibt die Gesetzeslage der
Geheimhaltung, zum Beispiel aus Gründen des Staatswohls. Das kann man kritisch sehen, es kann aber auch
einmal sinnvoll sein. Geheimhaltung ist allerdings nicht
dafür da, das Regierungswohl zu wahren und Fehler der
Regierung zu vertuschen. Das ist Ihr Verständnis, aber
nicht unseres. Machen Sie endlich Ihren Job! Und, Frau
Bundeskanzlerin, erfüllen Sie vor allem endlich Ihren
Amtseid!
Vielen Dank.
Vielen Dank.
Die zukünftigen Rednerinnen und Redner halten dann
bitte die Redezeit ein. Wir haben uns darauf geeinigt,
dass wir fünf Minuten Redezeit für jeden in der Aktuellen Stunde haben. Wenn jeder eine Minute überzieht wie
der Herr Kollege Korte, dann wird das unseren ganzen
Zeitplan ins Wanken bringen.
Jetzt hat das Wort der Kollege Thomas Strobl, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Korte, jetzt haben Sie so viel von
Staatsverantwortung geredet.
({0})
Manchmal habe ich den Eindruck, dass Ihr Verständnis
von Staatsverantwortung vor allem darin besteht, dass
die von Parlamentariern selbst gesetzten Regeln, etwa
bezogen auf die Vertraulichkeit von Sitzungen, ständig
durchbrochen und Dinge durchgestochen werden,
({1})
die besser in den Gremien blieben. Das ist Ihr Verständnis von Staatsverantwortung!
({2})
Sie haben sich hier ereifert, weil der Vorschlag für einen Sonderbeauftragten gemacht worden ist. Im PKGr
ist dazu noch nichts beschlossen.
({3})
Sie schlagen seit Tagen und Wochen die Trommeln, dass
einem die Ohren dröhnen.
({4})
Ganz zu Beginn - da lag noch gar nichts vor - haben Sie
„Verrat“ und dann „Landesverrat“ gerufen. Jetzt können
Sie nur noch Hochverrat, Lüge und Rücktritt rufen.
({5})
Bei all diesem - Sie haben sich aufgeblasen und sind
lauter und lauter geworden ({6})
gibt es eine seltsame Disproportionalität zwischen der
Lautstärke der Vorwürfe und den Fakten, die Sie tatsächlich in der Hand haben. Das ist nämlich nichts.
({7})
Vielleicht nutzen Sie ja die Pfingstfeiertage,
({8})
um sich ein bisschen abzukühlen; denn Sie verkennen eines: Das sind komplexe Sachverhalte, die die innere und
die äußere Sicherheit unseres Staates und die Sicherheit
unserer Bürgerinnen und Bürger berühren,
({9})
und es ist besser, mit solchen Themen nicht zu spielen,
sondern sich ernsthaft und seriös damit zu beschäftigen,
wie das diese Bundesregierung und die Koalition aus
SPD und CDU/CSU auch tun.
Wenn Sie sich etwas beruhigt haben, dann können wir
uns auch ganz gerne darüber unterhalten: Was dürfen unsere Dienste? Welche gesetzlichen Grundlagen für unsere Dienste müssen wir ändern?
({10})
- Das ist gar nichts Neues; das haben wir schon oft getan. ({11})
Wo müssen wir das Recht anpassen? Wir können auch
eine Debatte darüber führen: Müssen wir unserer Polizei
und unseren Diensten die Möglichkeit geben, mit weiterer Technik zu arbeiten? Was für Regeln gelten?
Thomas Strobl ({12})
Ich erneuere mein Angebot und sage: Lassen Sie uns
darüber reden, ob wir eine klare Rechtsgrundlage für die
strategische Fernmeldeüberwachung des BND brauchen.
Sie sind hier eingeladen, mitzudiskutieren,
({13})
sodass wir gemeinsam vernünftige Regeln finden.
Das gilt auch für die parlamentarische Kontrolle. Die
parlamentarische Kontrolle, das PKGr, haben wir in der
Vergangenheit durch mehr Personal und eine neue Geschäftsordnung durchaus optimiert.
({14})
Hier gibt es weitere Vorschläge, zum Beispiel den Vorschlag zur Einsetzung eines Nachrichtendienstbeauftragten, der sich hauptamtlich, ständig und mit weitreichenden Kompetenzen im Auftrag des PKGr mit diesen
Dingen beschäftigt. Ich finde, über all diese Verbesserungen können wir doch in aller Ruhe reden.
Im Übrigen können wir vielleicht auch einmal darüber reden, was eigentlich alles geheim ist. Ich habe
manchmal den Eindruck, dass in manchen Behörden
alles geheim ist. Selbst die Essensmarken kommen in
einer Mappe an, die mit „VS-Vertraulich“ gestempelt ist.
Dabei tritt die seltsame Kuriosität auf, dass alles, was geheim ist, am Ende des Tages öffentlich wird.
Vielleicht sprechen wir auch einmal darüber, wie wir
zu mehr Transparenz in unseren Diensten kommen.
({15})
Eine hundertprozentige Transparenz kann es bei Nachrichtendiensten selbstverständlich nie geben. Vielleicht
kann es aber mehr Transparenz geben.
({16})
- Frau Kollegin Göring-Eckardt, es wäre indessen schon
gut, wenn die Dinge, die wirklich geheim sein müssen,
dann auch geheim bleiben, und wenn sie auch in den
parlamentarischen Gremien geheim bleiben, wenn die
Parlamentarier vereinbaren, dass sie geheim bleiben
müssen.
({17})
Meine Damen und Herren von der Opposition, Sie
sind eingeladen, mit uns eine Debatte darüber zu führen:
Brauchen wir unsere Dienste? Brauchen wir die Polizei?
({18})
Wie sind die Aufgaben?
({19})
Da möchte ich für die Unionsfraktion eine sehr klare
Antwort geben:
({20})
Angesichts der Bedrohungen durch die Terrororganisation „Islamischer Staat“, angesichts der Lagen in Syrien,
im Irak, in der Ukraine und im Nahen Osten, angesichts
der Gefahren durch den internationalen Terrorismus
({21})
brauchen wir die Arbeit unserer Polizistinnen und Polizisten. Wir brauchen auch die Arbeit unserer Dienste,
auch die internationale Zusammenarbeit unserer Dienste
mit anderen Diensten.
({22})
Herr Kollege Strobl.
Wir, die CDU/CSU-Bundestagsfraktion, stehen insofern hinter der Arbeit unserer Polizistinnen und Polizisten und unserer Dienste,
({0})
dass wir sie nicht fortwährend von Leuten diskreditieren
lassen, die vergangenheitsbedingt ein Problem mit Polizei und Diensten haben.
({1})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Konstantin von
Notz, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wenn ich Sie so höre, Herr Strobl, möchte ich
doch mal zum Thema reden. Ich fange mit einem Zitat
aus dem Staatsrechtskommentar von Maunz/Dürig an,
der auf das Bundesverfassungsgericht verweist - das interessiert offensichtlich auch den Kollegen Mayer -:
({0})
Untersuchungsverfahren ermöglichen es dem Parlament,
… unabhängig von Regierung, Behörden und Gerichten mit hoheitlichen Mitteln, wie sie sonst nur
Gerichten und besonderen Behörden zur Verfügung
stehen, selbständig die Sachverhalte zu prüfen, die
sie in Erfüllung ihres Verfassungsauftrags als Vertretung des Volkes für aufklärungsbedürftig halten.
({1})
So sehen wir das, meine Damen und Herren.
({2})
Uns geht es nicht um Diffamierung, nicht um Skandalisierung, nicht um schrille Töne, wie wir sie in den letzten Wochen von Union und SPD hören; Sie hören sie
von uns nicht. Wir klären auf und suchen die Verantwortlichen, meine Damen und Herren.
({3})
Eines können wir allerdings heute mit Sicherheit sagen, Herr Kollege Strobl - wenn Sie mal im Ausschuss
vorbeischauen, werden Sie es auch mitbekommen -:
Zehn Jahre wurde bei der Fach- und Rechtsaufsicht des
Bundeskanzleramtes über den Auslandsgeheimdienst
geschlampt. Die rechtswidrige Übergriffigkeit der NSA
in der Kooperation ist seit 2005 bekannt. Man kannte die
Probleme mit Selektoren wie „Eurocopter“ und
„EADS“, bei Inhalts- und Metadaten, die mangelnde
Rechtssicherheit im Hinblick auf G 10 und den völlig
unzureichenden Schutz deutscher und europäischer Interessen. Aber allerspätestens seit den Snowden-Veröffentlichungen im Sommer 2013 unterließen Sie vorsätzlich
notwendige Korrekturen bei der Kooperation, und das
fällt voll in die Verantwortung der Bundeskanzlerin,
meine Damen und Herren.
({4})
Die Manipulation der Wahrheit - wir nennen es einmal so - im Wahlkampf durch Herrn Pofalla, Herrn
Seibert und eben auch Frau Merkel bezüglich des NoSpy-Abkommens fällt jetzt völlig zu Recht auf sie zurück und kratzt an ihrer Glaubwürdigkeit. Aber die
Irreführung hat System: Am 24. Oktober 2013, nachdem
es um ihr eigenes Handy ging, sagte Frau Merkel den inzwischen sehr bekannten Satz: „Ausspähen unter Freunden, das geht gar nicht.“ Erst danach, nachdem sie das in
die Kamera gesagt hat, gab man im BND die Parole aus:
Ausspähen von europäischen Freunden, das lassen wir
zukünftig mal lieber. - Das muss man sich einmal vorstellen! Das war keine Aufklärung; das dokumentiert
schlicht die mangelnde Führung und Aufsicht der
Bundeskanzlerin in Bezug auf den Geheimdienst, meine
Damen und Herren.
({5})
Trotz der eindeutigen Erkenntnisse dank Edward
Snowden unterließ sie es nach der Bundestagswahl und
nach der Leistung des Amtseids, die deutschen und europäischen Interessen vor rechtswidriger Spionage zu
schützen. Darum geht es, Herr Strobl: nicht um Terrorismusbekämpfung, sondern um rechtswidrige Spionage. Sie haben sich nicht gekümmert, es wurde nicht nachgefragt, Sie haben nicht nachgehakt, es wurde nichts geprüft. Dieses Durchwurschteln ist der erklärte Politikstil
der Bundeskanzlerin. Das fällt Ihnen nun voll auf die
Füße, und das schadet dem Ansehen Deutschlands in der
Welt. Das ist das Versagen von Frau Merkel, und das
macht diese Affäre auch zu ihrer Affäre.
({6})
All dies klärt der Untersuchungsausschuss sehr erfolgreich auf. Deswegen brauchen wir auch keinen Sonderermittler. Wir brauchen die Liste, die hier das Thema
ist, Herr Strobl. Sowohl die Kanzlerin als auch der Vizekanzler - der Kollege Korte hat es gesagt - haben öffentlich zugesichert, dass wir diese Liste bekommen. Es geht
um die Rechte des Parlaments, und die sind für uns nicht
verhandelbar.
({7})
Diese verfassungsrechtlich verbrieften Rechte kann man
auch nicht durch Diffamierungen und Unterstellungen,
Herr Strobl, kleinreden oder kleinmachen. Geheimhaltung ist in bestimmten Fällen total angezeigt - Sie werden hier niemanden finden, der dem widerspricht -;
({8})
aber Transparenz ist auch ein hohes Gut. Die Geheimhaltung ist die Ausnahme, nicht die Regel. Wenn hier
über WikiLeaks geredet wird, muss man sagen: Der Vorgang war nicht in Ordnung. Aber war es ein Skandal,
wie Herr Kauder es gesagt hat? Ist es ein Skandal, wenn
Protokolle eines öffentlichen Teils einer Sitzung eines
dem Öffentlichkeitsgrundsatz verpflichteten Gremiums
öffentlich werden? Oder versuchen Sie einfach, auf
Kosten des Parlaments abzulenken, wenn Sie mit dieser
hintertriebenen Art argumentieren?
({9})
Das ist mein starker Verdacht. Sie reden nicht zur Sache.
Sie lenken ab. Wo sind Ihre Aussagen zur Nichtinformation und Umgehung des zuständigen Parlamentarischen
Kontrollgremiums, zum Zugriff auf die Glasfaserkabel
in Frankfurt ohne ausreichende Gesetzesgrundlage, zu
Zehntausenden von illegalen Suchbegriffen, mit denen
offenbar Verbündete und Freunde in Europa mittels
BND ausgespäht wurden?
Herr Kollege, denken Sie an die Zeit.
Ich komme zum Ende, Frau Präsidentin. - Dazu sagen Sie nichts. Das sind die Dinge, um die wir uns hier
als Parlamentarier kümmern müssen.
Ich sage Ihnen: Überwachung ist ein schleichendes
Gift für eine Demokratie und für einen Rechtsstaat, wie
Deutschland es ist. Wir müssen sie als Parlamentarier
gemeinsam bekämpfen.
Ganz herzlichen Dank.
({0})
Vielen Dank. - Nächster Redner ist Christian Flisek,
SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Kolleginnen und Kollegen! Die Arbeit des Untersuchungsausschusses genießt seit einigen Wochen wieder erhöhte
Aufmerksamkeit. Das zeigt sich auch daran, dass wir
jetzt in fast jeder Sitzungswoche eine Aktuelle Stunde
dazu haben. Ich denke, das ist gut so, weil wir hier öffentlich debattieren. Man kann eine solche Aktuelle
Stunde aber auch für die üblichen Reflexe und Rituale
nutzen. Dazu sagen ich, Herr Korte und Herr von Notz:
Damit wird man der Sache nicht gerecht,
({0})
weil sie in Wahrheit viel komplexer ist. Das wissen Sie
auch. Es ist eine Abwägungsentscheidung zu treffen
zwischen dem elementaren Aufklärungsinteresse dieses
Hauses, seiner Abgeordneten, des Untersuchungsausschusses und des PKGr einerseits und dem Staatswohlinteresse der Bundesrepublik Deutschland, dem Interesse an einer funktionierenden Partnerschaft mit den
Vereinigten Staaten und einer funktionierenden nachrichtendienstlichen Kooperation mit amerikanischen Geheimdiensten andererseits.
({1})
Wir sind darauf angewiesen in Zeiten internationaler terroristischer Bedrohung. Der Unterschied ist der: Wir
wollen diese Kooperation auf den Boden der Verfassung
holen - dafür gibt es diesen Ausschuss -, wir wollen
Missstände, die es vielleicht gegeben hat, aufklären, und
wir wollen gemeinsam dafür sorgen, dass das in Zukunft
auch abgestellt wird.
({2})
Der Untersuchungsausschuss befragt seit zwei Wochen Zeugen aus den Reihen des Bundesnachrichtendienstes zu dem Komplex Selektoren. Wir reagieren damit auf die sehr schwerwiegenden, massiven Vorwürfe,
die derzeit in der Öffentlichkeit diskutiert werden. Es
heißt, dass eventuell mithilfe des BND NSA-Selektoren
eingespeist worden sind, dass Suchbegriffe verwendet
worden sind, um beispielsweise Wirtschaftsspionage zu
betreiben oder europäische Partner, Institutionen und
Persönlichkeiten auszuspionieren. Das sind schwerwiegende Vorwürfe. Darauf reagieren wir.
Wir haben uns heute in der Beratungssitzung des
Ausschusses über alle Fraktionen hinweg auf ein gemeinsames Zeugenprogramm bis zur Sommerpause verständigt. Ich sage sehr deutlich: Es ist sehr unbefriedigend, wenn wir die Zeugen befragen müssen, ohne
eigentlich zu wissen, was in dieser Selektorenliste genau
steht.
({3})
Deswegen sagt meine Fraktion sehr deutlich: Wir brauchen unverzüglich in geeigneter Weise Einblick in diese
Listen. Wir brauchen diesen Einblick, damit wir mit
Substanz unsere Arbeit machen können. Das ist wichtig.
Ich glaube, mittlerweile wurden ausreichend Signale gesetzt. Ich denke, auch das Kanzleramt hat dies verstanden.
Ich sage auch: Wenn man das erst einmal akzeptiert,
dann wäre es auch schön, wenn man einen zweiten
Schritt akzeptierte: dass es dafür eben nicht nur ein, sondern mehrere Verfahren gibt, die in Betracht kommen.
({4})
Ein Beispiel ist das Treptow-Verfahren, bei dem die
Obleute Einblick nehmen können; aber, Herr Kollege
Korte, es könnte auch ein Ermittlungsbeauftragter sein.
Das ist keine Erfindung, die wir jetzt machen, sondern
ein bewährtes Aufklärungsmittel aus der Vergangenheit,
mehrfach im Parlamentarischen Kontrollgremium praktiziert.
({5})
Sie haben in diesem Zusammenhang von einer Entmachtung des Parlaments gesprochen. Dadurch werden
die Erfolge der vergangenen Zeit, in der ein solches Instrument eingesetzt worden ist, mit Füßen getreten.
({6})
Ich sage noch eines dazu: Wenn wir uns auf die Einsetzung eines solchen Ermittlungsbeauftragten einigen
- ich sehe sehr deutlich, dass das Kanzleramt zusammen
mit dem Parlament das Signal setzt, an einer Lösung zu
arbeiten, und begrüße das ausdrücklich -, dann muss das
nicht der letzte Schritt sein; aber es ist wichtig, dass wir
zügig einen ersten Schritt machen.
({7})
Es muss nicht der letzte Schritt sein, weil wir uns abhängig vom Ausgang des Ermittlungsergebnisses dieses
Beauftragten selbstverständlich als Parlamentarier alles
Weitere vorbehalten. Insofern sage ich: Überlegen Sie
sich bitte noch einmal Ihre Position, Ihren Standpunkt
und die Äußerungen, die in diesem Zusammenhang gefallen sind. Ich denke, uns ist daran gelegen, dass wir
hierbei insgesamt sehr zügig weiterkommen.
Lassen Sie mich noch einen Satz zum Schluss sagen.
Wir als SPD sind bereits jetzt davon überzeugt, dass unabhängig davon, wie es mit den Selektoren weitergeht,
dringender Regelungsbedarf beim BND-Gesetz und
beim G 10-Gesetz besteht. Wir sind der Überzeugung,
dass hier zum Teil mit Mitteln des 21. Jahrhunderts gearbeitet wird, diese Regelungen jedoch oft noch aus dem
letzten Jahrhundert stammen - ich sage es einmal überspitzt -, aus Zeiten des Kalten Krieges.
Das Denken zwischen Freund und Feind, zwischen
Inländern und Ausländern macht keinen Sinn mehr; dieser festen Überzeugung bin ich. Wir müssen zwischen
gefährlichen und ungefährlichen Personen unterscheiden; diese gibt es sowohl im Inland als auch im Ausland.
Das muss der Ansatz des Denkens und Arbeitens unserer
Nachrichtendienste sein. Ich denke, wir müssen uns gemeinsam an die Arbeit machen, verfassungskonforme
rechtsstaatliche Rechtsgrundlagen für die Routineüberwachung zu schaffen und dafür zu sorgen, dass sie nicht
im Schmuddelbereich, im Graubereich weiterexistiert.
Wir müssen sie einer effizienten parlamentarischen Kontrolle zuführen. Das ist es, worauf wir uns konzentrieren
sollten, und ich bin jederzeit gern bereit, mit Ihnen zu
diskutieren.
Eine Schlussbemerkung noch: Wir sollten uns - egal,
auf welcher Seite des Hauses wir sitzen - nicht gegenseitig absprechen, dass wir für das Staatswohl eintreten.
({8})
Wir arbeiten hier, wenn auch manchmal im Dissens, intensiv in den Debatten. Ich finde es sehr wichtig, dass
wir die Arbeit des anderen achten; denn wir tragen zusammen mit der Bundesregierung zum Staatswohl bei.
In diesem Sinne herzlichen Dank.
({9})
Vielen Dank. - Nächster Redner ist Stephan Mayer
von der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen und sehr geehrte Kollegen! Wie in dem schönen
Spielfilm Und täglich grüßt das Murmeltier beschäftigen wir uns auch in dieser Sitzungswoche wieder mit unseren Nachrichtendiensten.
({0})
Herr Kollege von Notz, ich dachte, ich höre nicht
recht, als ich vernahm, dass Sie so tun, als ob Sie in
keiner Weise zur Skandalisierung dieser Angelegenheit
beitragen, sondern Ihnen allein an objektiver, nüchterner
Aufklärung gelegen ist und Sie in keiner Weise hier vollkommen überziehen und übertreiben.
({1})
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen von der
Opposition, Sie sind es doch, die hier mit Unterstellungen, Mutmaßungen und Verdächtigungen, die überhaupt
nicht belegt und bewiesen sind, arbeiten.
({2})
Ich bin nach wie vor der festen Überzeugung, dass wir
den folgenden Dreiklang einhalten sollten: Erst einmal
aufklären,
({3})
dann bewerten und danach die erforderlichen Schlussfolgerungen ziehen. Aber was machen Sie?
({4})
Sie stellen sofort die Bewertungen auf und fordern irgendwelche Konsequenzen, ohne zuerst einmal eine objektive, lückenlose und vollständige Aufklärung stattfinden zu lassen.
({5})
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, wir
sind momentan in den entscheidenden Gremien, sowohl
im Untersuchungsausschuss als auch im Parlamentarischen Kontrollgremium, intensiv dabei, diese Angelegenheit aufzuklären. Ich stehe hier auch gar nicht hintan,
zuzugestehen: Natürlich sind beim BND Fehler gemacht
worden. Aber - ich habe dies auch schon das letzte Mal
gesagt - nicht jeder Fehler ist automatisch ein Skandal.
Deswegen geht es jetzt zunächst einmal darum, komplett, umfassend und vollständig aufzuklären.
({6})
Diesbezüglich bin ich auch der Überzeugung, dass es
hilfreich wäre, wenn wir sowohl im Parlamentarischen
Kontrollgremium als auch im Untersuchungsausschuss
Einblick in die Selektorenliste bekommen.
Jetzt wurde der konkrete Vorschlag zur Einsetzung eines Ermittlungsbeauftragten oder eines Sachverständigen gemacht. Es gibt aktuell ein hervorragendes Beispiel
dafür, wie sich das Instrument des Sachverständigen im
Parlamentarischen Kontrollgremium bewährt hat. Einige
Kollegen, die davon wissen, sind heute unter uns. Wir
haben gestern den Bericht des Sachverständigen, des
früheren Kollegen Jerzy Montag, zum Fall „Corelli“ bekommen.
({7})
Stephan Mayer ({8})
Ich sage jetzt nichts zur Sache, weil wir uns zu einem
späteren Zeitpunkt dazu einlassen werden. Aber - ich
glaube, so viel kann man schon sagen - dieses Instrument des Sachverständigen hat sich in diesem konkreten
Fall absolut bewährt. Ich glaube, da sind wir uns über
Fraktionsgrenzen hinweg einig.
({9})
Denn keiner von uns, egal welcher Fraktion er angehört,
hätte in den vergangenen sechs Monaten so viel Zeit und
Muße gehabt, sich so intensiv, akribisch und akkurat mit
dem Fall des ehemaligen V-Manns „Corelli“ zu beschäftigen, wie es der frühere Kollege Montag getan hat.
({10})
Es gibt also positive Beispiele eines Sachverständigen
im Parlamentarischen Kontrollgremium. Ich könnte mir
dies durchaus auch in diesem Fall hinsichtlich der Einsichtnahme in die Selektorenliste vorstellen.
Wir tun, glaube ich, wirklich gut daran, uns an Recht
und Gesetz zu halten und die Bundesregierung hier jetzt
ihre Arbeit machen zu lassen. Derzeit läuft, wie in dem
Abkommen von 1968 vorgesehen, das Konsultationsverfahren zwischen der Bundesregierung und der USRegierung, bei dem es darum geht, die Zustimmung der
US-Regierung hinsichtlich der Weitergabe der Selektorenliste einzuholen. Bevor diese Antwort der USA nicht
da ist, ist es vollkommen verfehlt und populistisch, hier
irgendwelche Forderungen aufzustellen. Jetzt lassen Sie
uns doch erst einmal sehen, wie die US-Amerikaner antworten,
({11})
und, wenn ja, in welcher Form. Dann kann man entsprechend weitersehen.
({12})
Sowohl von Herrn von Notz als auch vom Kollegen
Korte wurde jetzt wieder die Vermutung in den Raum
gestellt, die Bundesregierung hätte Wahlbetrug begangen; man geht ja mittlerweile inflationär mit derartigen
Begriffen um.
({13})
- Oder Sie sprechen von Manipulation. - Sie sagen, dass
vor der Bundestagswahl 2013 der Eindruck erweckt
wurde, es gäbe ein konkretes Angebot der USA, über ein
sogenanntes No-Spy-Abkommen zu verhandeln. Ich
möchte hier ausdrücklich betonen: Es gab ganz konkrete
Verhandlungen zwischen der NSA und dem BND auf
höchster Ebene zwischen General Alexander und dem
BND-Präsidenten Schindler.
({14})
Diese Verhandlungen haben sich bis weit in das Jahr
2014 gezogen. Deswegen stimmt das, was Sie behaupten, einfach nicht. Sie versuchen, hier den Eindruck zu
vermitteln, als hätte es Wahlmanipulation gegeben und
seitens der Bundesregierung, egal von wem, wären hier
falsche Aussagen getroffen worden. Das ist schlichtweg
unzutreffend.
({15})
Ich habe zwar schon zu Beginn gesagt, dass wir diese
Debatten mittlerweile inflationär führen, aber ich habe
trotzdem die Hoffnung noch nicht verloren oder aufgegeben, dass derartige Aktuelle Stunden wie die heutige
vielleicht mit dazu beitragen, das Bewusstsein sowohl
hier im Parlament als auch in der Öffentlichkeit zu
schärfen, dass wir eine effektive parlamentarische Kontrolle unserer Nachrichtendienste benötigen, dass es aber
auch wichtig ist, dass wir internationale Kooperationen
haben, und dass dies im Sinne der Sicherheit Deutschlands und deutscher Bürger im Inland und im Ausland
ist. Vielleicht wird dadurch auch ein stärkeres Bewusstsein in der Bevölkerung geschaffen, dass wir effektive
und gut aufgestellte Nachrichtendienste benötigen.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({16})
Vielen Dank. - Nächster Redner ist Dr. André Hahn,
Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Eigentlich ist es eine Schande und auch ein Armutszeugnis für
die Bundesregierung, dass diese Aktuelle Stunde überhaupt nötig ist. Im BND-NSA-Skandal kommen fast
täglich neue Fakten ans Licht. Die ganze Dimension der
Vorgänge ist noch immer nicht absehbar. Bundesregierung und Koalition betonen seit Wochen, wie nötig Aufklärung sei, auch heute wieder.
Die Realität sieht leider völlig anders aus. Was wir erleben, ist Mauern, Hinhalten, die Schwärzung von Akten, das Verhindern von Sondersitzungen des NSAUntersuchungsausschusses zur Vernehmung der verantwortlichen Kanzleramtsminister und jetzt sogar die komplette Verweigerung der Herausgabe ganz zentraler
Beweismittel für Rechts- und Vertragsbrüche der USGeheimdienste.
Dieser Rechtsbruch, der inzwischen von niemandem
mehr bestritten wird - ich hoffe, auch von Ihnen nicht,
Herr Sensburg -, muss Konsequenzen haben. Wir können aber nur dann vollständig aufklären, wenn wir die
Akten haben. Deshalb müssen sie auf den Tisch.
({0})
Es ist die Aufgabe der Bundesregierung, die Interessen der Bürgerinnen und Bürger dieses Landes zu wahren und zu schützen. Die Bundesregierung behauptet, sie
habe von den amerikanischen Ausspähaktivitäten nichts
gewusst, oder aber, wenn sie doch Kenntnis darüber
hatte, wurde nichts dagegen unternommen. Ich will gar
nicht wichten, was schlimmer wäre. Ich sage nur für die
Linke ganz klar: Beides ist gleichermaßen unverantwortlich und muss Konsequenzen nach sich ziehen.
({1})
Denn der im Raum stehende Vorwurf ist schier unglaublich, meine Damen und Herren, und nach allem, was wir
wissen, stimmt er. Im Kern ist er zutreffend.
Der BND hat dem amerikanischen Geheimdienst
NSA Zugang zu deutschen Satelliten wie auch Telekommunikationskabelpunkten in Deutschland verschafft, dabei auch offenkundig die G 10-Kommission des Bundestages, die Abhörmaßnahmen genehmigen muss, bewusst
getäuscht, und dann auch noch von den Amerikanern gewünschte Suchkriterien, die sogenannten Selektoren,
über Jahre hinweg ohne wirkungsvolle Kontrolle in die
Überwachungsmaschinerie eingespeist. Das führte dazu,
dass Monat für Monat millionenfach Telefonate, SMSund Mail-Verkehre ausgeforscht und auch sogenannte
Metadaten über erfolgte Kommunikationskontakte gesammelt und ohne genaue Prüfung an die NSA weitergeleitet wurden.
Auch wenn es noch zahlreiche ungeklärte Fragen
gibt, ist es vielleicht ein kleiner Lichtblick gewesen, dass
es beim BND dann doch einmal irgendjemandem aufgefallen ist, dass bei dieser angeblich unverzichtbaren Kooperation etwas schiefläuft. Man hat mit Suchbegriffen
festgestellt, wie viele unzulässige illegale Selektoren
eingespeist wurden, und man hat dann sogar eine Ablehnungsdatei eingerichtet. Spätestens ab dem Jahr 2008
sind die Sperrungen also festgehalten worden. Um genau
diese Listen geht es jetzt. Es handelt sich ganz klar um
Unterlagen des BND. Deshalb unterliegen sie auch der
parlamentarischen Kontrolle. Wir brauchen die Amerikaner nicht um Erlaubnis zu fragen. Es ist Vertuschung
und Verzögerung, was Sie hier betreiben.
({2})
Deshalb sage ich ganz klar: Wir werden uns nicht mit
halbseidenen Informationen abspeisen lassen. Wir wollen im Kontrollgremium wie im Untersuchungsausschuss die Vorlage der vollständigen Listen. Es geht dabei nicht nur um Grundrechtsträger, sondern wohl auch
und vor allem um europäische Politiker, Regierungen,
Institutionen sowie Wirtschaftsunternehmen, die über
Jahre hinweg ausgespäht worden sind.
Wenn die Bundesregierung wirklich die Einsicht in
diese Liste verweigert, dann unterläuft sie den Einsetzungsbeschluss des Untersuchungsausschusses, der in
diesem Haus einstimmig gefasst worden ist. Deshalb haben wir auch alle eine Verantwortung, die Bundesregierung dazu zu bringen, die Listen endlich vorzulegen.
({3})
In den letzten Tagen hat sich vor allem die SPD immer wieder als Vorreiter der Aufklärung geriert. Nicht
nur die Generalsekretärin, sondern auch der Parteivorsitzende und Vizekanzler haben wiederholt die Herausgabe
der Listen mit den Suchbegriffen gefordert. Herr Gabriel
sprach sogar von einer möglichen Staatsaffäre und davon, dass es keine Unterwürfigkeit gegenüber den USA
geben dürfe und man gerade auch in dieser Angelegenheit Rückgrat zeigen muss. Der Mann hat absolut recht.
Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD,
dann hören Sie doch endlich auf mit der Unterwürfigkeit! Zeigen Sie Rückgrat, und sorgen Sie in der Koalition dafür, dass die Listen herausgegeben werden!
({4})
Gestatten Sie mir eine letzte Bemerkung. Ein Ermittlungsbeauftragter kann weder die Arbeit des Untersuchungsausschusses noch des Kontrollgremiums ersetzen. Es sind die gewählten Volksvertreter, die die
Bundesregierung zu kontrollieren haben. Ein Sonderermittler kann bestenfalls ergänzend bzw. unterstützend
tätig werden, aber nicht die Rechte der Abgeordneten
aushebeln.
Herr Mayer, Sie haben auf das Kontrollgremium hingewiesen. Sie haben aber eines vergessen zu sagen: Dort
hatten die Abgeordneten den Zugang zu den kompletten
Unterlagen, also zu den Akten des Bundesamtes für Verfassungsschutz. Wir haben den Sonderermittler Jerzy
Montag dafür eingesetzt, dass er uns systematisch zuarbeitet. Aber wir hatten den Zugang zu den Akten, und
das muss auch für die Unterlagen des Bundesnachrichtendienstes gelten.
({5})
Ein allerletzter Satz: Herr Strobl, der Vorwurf an uns,
geheime Unterlagen weitergegeben zu haben, ist absurd.
Wir lassen uns von Ihnen keine Straftaten unterstellen damit das ganz klar ist.
({6})
Vielen Dank, Kollege Hahn. - Einen schönen Nachmittag von mir, liebe Kolleginnen und Kollegen und
liebe Gäste auf den Tribünen!
Nächster Redner in der Debatte: Dr. Jens
Zimmermann für die SPD.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Lieber Herr Hahn, Sie haben eben meinen Parteivorsitzenden angesprochen. Dazu will ich eines klar10104
stellen: Als Parteivorsitzender der SPD braucht man
permanent so ein Rückgrat, und das hat unser Parteivorsitzender auch.
({0})
Es gibt doch ein Problem in dieser ganzen Debatte. Es
wird ein Bohei gemacht, und es wird die Behauptung in
den Raum gestellt, es wäre irgendetwas passiert. Es ist
aber überhaupt nichts passiert.
({1})
Sie haben es so dargestellt, als würden wir die Listen
und die Inhalte nicht zur Kenntnis bekommen. Eines ist
doch klar: Auch wir, die SPD - das hat mein Kollege
Christian Flisek doch eben auch klargemacht -, wollen
wissen, was darin steht. Sie sitzen doch auch im Untersuchungsausschuss. Wir sitzen da doch nicht 15 Stunden
nur so zum Spaß herum. Dass überhaupt die Existenz
dieser Selektorenlisten dem Parlament zur Kenntnis gekommen ist, liegt doch an unserer gemeinsamen Arbeit
in diesem Ausschuss. Deswegen haben wir ein Interesse
daran, zu wissen, was in diesen Listen steht.
Aber wir machen uns jetzt - das ist doch der Punkt Gedanken über ein geeignetes Verfahren, wie wir einerseits die Inhalte erfahren können, um damit arbeiten zu
können, andererseits aber nicht irgendwelche Informationen nach außen tragen, die vielleicht auch unsere Interessen in Deutschland schädigen könnten. Wir sind mitten in diesem Prozess. Deshalb sage ich: Es ist überhaupt
noch nichts passiert.
Wenn es dazu kommen sollte, dass die Amerikaner
komplett Nein sagen, dann müssen wir weiter diskutieren. Wir haben heute im Ausschuss gesagt: Wir geben
dem Kanzleramt die zwei Wochen über Pfingsten Zeit,
und dann werden wir sehen, wie es weitergeht. Mir ist
aber ein Punkt ganz wichtig: In der Öffentlichkeit wird
doch nur der Streit wahrgenommen. Eine Fraktion versucht, schriller als die andere aufzutreten. Aber um was
es eigentlich geht, weiß so gut wie keiner.
({2})
Die Menschen draußen müssen doch denken, dass es
diese Selektorenliste gibt und jegliche Kommunikation
in Deutschland davon betroffen ist. Dass wir über Bad
Aibling reden, dass wir über Satellitenkommunikation
aus Krisenregionen reden, wird doch in der Diskussion
völlig unter den Tisch gekehrt.
({3})
Denn das würde nicht zur Skandalisierung passen.
({4})
Das ist doch die Problematik, die wir haben.
Schauen wir uns doch einmal an, wie erfolgreiche
Untersuchungsausschüsse in der Vergangenheit gearbeitet haben. Das erinnert mich sehr an die Arbeit, wie sie
in unserem Ausschuss erfolgt. Sie ist nämlich meistens
sehr kollegial und von dem Interesse geleitet, am Ende
wirklich herauszubekommen, was hier eigentlich schiefläuft. Wir müssen versuchen, daran zu arbeiten, und sollten schauen, dass wir uns nicht von diesen Aktuellen
Stunden aus dem Konzept bringen lassen, in denen viele
Leute reden, die allenfalls sporadisch in diesem Ausschuss sind, die aber hier große Worte machen.
Wir müssen schauen, dass unsere Arbeit peu à peu
weitergeht; denn dieser Ausschuss ist bisher unglaublich
erfolgreich. Wir haben sehr viel aufgedeckt; wir wissen,
in welche Richtung es bei unseren eigenen Diensten
geht; wir wissen, dass wir Verbesserungen und Veränderungen bei den rechtlichen Grundlagen brauchen. Das
alles sind Erkenntnisse, die bei der Arbeit unseres Ausschusses herausgekommen sind.
Ich kann verstehen, dass die Opposition auf der einen
Seite versucht, die Regierung und die sie unterstützenden Fraktionen zu piksen, wo es nur geht. Das ist ihr
Recht, das ist ihre Aufgabe. Es ist auf der anderen Seite
aber auch klar, dass die Große Koalition und die Regierung, die von ihr unterstützt wird, versuchen, nach Möglichkeit in dieser Situation keine Fehler zu machen.
({5})
Ich finde, beide Ansinnen sind vollkommen nachvollziehbar. Nur, wir müssen schauen, dass wir unsere gute
Sacharbeit im Ausschuss nicht dieser öffentlichen Auseinandersetzung opfern. Das wäre der Sache vollkommen unangemessen.
({6})
Lassen Sie mich zum Abschluss noch eine Sache sagen, weil sie uns alle betrifft. Wir leben nicht in einem
luftleeren Raum, wo die Diskussion, die wir gerade führen, eine rein akademische Diskussion wäre. Wir erleben
es doch gerade selbst als Deutscher Bundestag. Wir wurden einem massiven Cyberangriff ausgesetzt. Das zeigt
eindeutig, dass wir uns mit der Sicherheit und vor allem
mit der Sicherheit im Internet auseinandersetzen müssen.
({7})
Da gibt es keine einfachen Lösungen. Es wird häufig so
dargestellt, als wären Geheimdienste per se erst mal
schlecht oder als würden sie nicht im Interesse unseres
Landes arbeiten.
({8})
Man muss doch einmal klarstellen, dass wir an dieser
Stelle auch ein Interesse haben. Ich sage nicht, dass diese
Abwägung einfach ist.
({9})
Aber es ist falsch, so zu tun, als könnte man einfach alle
Geheimdienste abschaffen, und alles wäre gut.
({10})
In diesem Sinne kann ich für meine Fraktion nur das
Angebot zu einer weiteren ordentlichen Arbeit in unserem Ausschuss aufrechterhalten. Ich glaube, eine solche
Arbeit leisten wir auch die meiste Zeit. In einer Viertelstunde geht es, glaube ich, weiter.
Vielen Dank.
({11})
Danke, Herr Kollege Zimmermann. - Nächster Redner in der Debatte: Hans-Christian Ströbele für die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Lieber Herr Kollege Flisek und Herr Kollege
Zimmermann, es stimmt ja, dass es eine schwierige Abwägungsentscheidung ist: Kriegen wir die Selektoren?
Kriegen wir sie nicht? Nur, Ihr Parteivorsitzender
Gabriel, der Vizekanzler, und Herr Oppermann, der gerade noch hier saß - jetzt ist er abgehauen -,
({0})
und Ihre Generalsekretärin haben diese schwierige Entscheidung bereits gefällt.
({1})
Sie haben nämlich in der Öffentlichkeit verkündet - das
ganze Wochenende ging es durch alle Medien -, dass die
Liste selbstverständlich herausgegeben werden muss,
auch ohne die Zustimmung der USA und der NSA.
({2})
Dann lassen Sie diesen Beschwörungen, diesen Auffassungen doch Taten folgen, und legen Sie uns endlich
diese Liste vor!
({3})
Herr Kollege Strobl, wir diskutieren an anderer Stelle
und bei anderer Gelegenheit über die Frage: Brauchen
wir die Arbeit unserer Geheimdienste? Brauchen wir die
Arbeit von Geheimdiensten in Deutschland? Aber eines
brauchen wir mit Sicherheit nicht: Wir brauchen nicht
diese Arbeit der Geheimdienste mit diesen Selektoren,
weil diese Selektoren gegen deutsches Recht und Gesetz
und gegen die Vereinbarung mit der NSA und den USA
verstoßen. Deshalb brauchen wir diese Arbeit nicht.
({4})
- Wir haben bereits ein Ergebnis der Untersuchung, Herr
Kollege Strobl. Allein die Existenz dieser Selektoren beweist, dass der Bundesnachrichtendienst in Zusammenarbeit mit der NSA zu Unrecht Selektoren eingestellt
hat, Überprüfungen vorgenommen hat, Suchen vorgenommen hat, die er nicht vornehmen durfte. Sie haben
das immer noch nicht kapiert. Bei jeder Rede hier versuche ich, Ihnen das klarzumachen.
({5})
Es handelt sich um Selektoren, die auch nach Auffassung des Bundesnachrichtendienstes und des Kanzleramtes nicht benutzt werden durften, aber trotzdem benutzt wurden.
({6})
Deshalb sind sie illegal und rechtswidrig. Das müssen
Sie doch irgendwann mal verstehen.
Das Parlament versucht, diese Selektoren jetzt zu bekommen, um durch die Lektüre dieser Selektoren, durch
die Lektüre im Einzelnen, herauszubekommen: Warum
hat der Bundesnachrichtendienst die herausgenommen?
Ging es da um europäische Unternehmen? Ging es um
europäische Politiker? Ging es um EU-Institutionen?
Ging es um beides? Ging es vielleicht auch um Unternehmen, die sowohl in Deutschland als auch in anderen
Ländern sind? Das ist jetzt die ganz wichtige Frage, weil
wir daraus entnehmen können, dass diese Art der Zusammenarbeit mit der NSA so nicht sein darf. Wenn es
nämlich um diese Begriffe geht, die ich jetzt angesprochen habe, dann ist ganz klar, dass diese Begehrlichkeit
der NSA nicht erfüllt werden kann.
Durch diese Selektoren ist nicht nur bewiesen, dass
Edward Snowden in seinen Dokumenten recht gehabt
hat. Durch die Existenz dieser Selektoren ist auch bewiesen, dass der Untersuchungsausschuss notwendig ist und
inzwischen auch wesentliche Erkenntnisse hat, die er
vorzeigen kann.
({7})
Daran weiterzuarbeiten, verhindern Sie, verhindert die
Kanzlerin und verhindert Herr Altmaier, weil er uns die
Selektoren nicht gibt. Wir setzen gleich die Vernehmung
eines Zeugen fort und vernehmen heute Nachmittag
möglicherweise noch Herrn Schindler, den Chef des
Bundesnachrichtendienstes. Wir müssten ihm aus dieser
Liste Vorhaltungen machen können.
({8})
Wir müssten fragen können: Wie konnten Sie dulden,
wie konnten Sie hinnehmen, dass diese oder jene Selektoren benutzt worden sind, obwohl sie doch ganz offensichtlich nicht hätten benutzt werden dürfen? Es geht darum, dass wir das nicht können. Unsere Arbeit wird
unmöglich gemacht, wenn wir diese Selektoren nicht bekommen.
({9})
Insofern kann ich im Interesse des Parlaments, im Interesse der Aufklärungsarbeit, sowohl des Parlamentarischen Untersuchungsausschusses als auch des Parlamentarischen Kontrollgremiums, nur an Sie appellieren:
Setzen Sie sich dafür ein, dass wir die Selektoren möglichst bald bekommen.
Lieber Kollege Flisek, von Ihnen wünsche ich mir eines: Verkaufen Sie nicht für das Linsengericht eines Ermittlungsbeauftragten die Rechte der Abgeordneten des
Deutschen Bundestages.
({10})
Sie sind gemeinsam mit dem Kollegen Oppermann nach
draußen gegangen und haben gesagt: Vielleicht können
wir ja durch einen Ermittlungsbeauftragten das Problem
lösen.
({11})
Dann haben die Abgeordneten die eine oder andere
Möglichkeit, durch Nachfrage bei diesem Ermittlungsbeauftragten herauszubekommen, was in der Selektorenliste steht. - Nein, wir müssen und wir wollen selber sehen, was da drinsteht. Wir wollen die Verantwortung
übernehmen, auch dafür, dass hier ordnungsgemäß aufgeklärt wird,
({12})
so wie es das Grundgesetz befiehlt.
({13})
Vielen Dank, Hans-Christian Ströbele. - Der nächste
Redner in der Debatte ist Armin Schuster für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Um gleich mit der Tür ins Haus zu fallen und
die Frage zu beantworten: Nein, ich bin nicht dafür, dass
die Selektorenliste gegen den Willen der Amerikaner
freigegeben wird.
({0})
Ich bin nicht dafür, dass sie für die Obleute von wem
auch immer freigegeben wird. Ich halte auch das Treptow-Verfahren für ungeeignet.
({1})
- Ich wusste, dass Sie jetzt ein Sauerstoffgerät brauchen,
lieber Herr von Notz; aber das wollte ich Ihnen doch
noch mitgeben.
Meine Damen und Herren, ich glaube aber - ich bin
Mitglied des Parlamentarischen Kontrollgremiums -,
({2})
dass es trotzdem möglich ist, sowohl im Untersuchungsausschuss als auch im PKGr die Aufklärung zu betreiben, die notwendig ist; denn dass es zu Fehlern gekommen ist, hat die Regierung konsequent so benannt, hat
der BND konsequent so zugegeben.
Nur, lieber Herr Ströbele und liebe Grünen, macht
euch doch nicht so klein. Das ist ja fast ein kindliches
Jammern nach einer Selektorenliste nach dem Motto
„Wenn wir die nicht kriegen, um Gottes willen!“ Das
Thema ist verdammt noch mal größer als eine Selektorenliste.
({3})
Lassen Sie uns doch das Thema ordentlich bearbeiten.
Sprechen wir einmal über die Fehler, zu denen es tatsächlich gekommen ist: Verstößt der BND gegen deutsches Recht? Nein.
({4})
Der BND darf Telekommunikation überwachen und aufzeichnen. Er darf Daten an ausländische Nachrichtendienste übermitteln.
({5})
Der BND darf und soll mit ausländischen Partnern
kooperieren.
Armin Schuster ({6})
({7})
Dabei geht es nie um Kommunikation von Deutschen in
Deutschland, nicht um deutsche Staatsangehörige, nicht
um deutsche Firmen.
({8})
Es geht um Terrorismus. Es geht um Proliferation, Drogenhandel etc.
({9})
Meine Damen und Herren, es geht auch nicht um unkontrollierte Dienste, nicht um Wirtschaftsspionage
({10})
und ausdrücklich nicht um die Ausspähung deutscher
Bürger.
({11})
All das, was der BND macht, wollten wir in diesem ehrenwerten Haus so, weil wir es ins BND-Gesetz geschrieben haben und weil wir es ins G 10-Gesetz geschrieben haben. Genau das wollten wir so. Der BND
arbeitet rechtmäßig, schützt dieses Land, schützt zum
Beispiel die Bundeswehr tagtäglich durch hervorragende
Arbeit. Dass dabei Fehler vorkommen, passiert übrigens
auch in Ihrer Fraktion. Darauf will ich nicht weiter eingehen. Daraus machen wir auch keinen Skandal. Man
darf in diesem Land Fehler machen. Wir klären sie auf
und stellen sie ab.
({12})
Zweitens. Meine Damen und Herren, war und ist das
Abkommen aus dem Jahr 2002, von Frank-Walter
Steinmeier und Joschka Fischer verhandelt, richtig, und
handelt der BND nach diesem Abkommen?
({13})
Es war und ist richtig. Wer will heute bestreiten, dass wir
ein Terrorproblem auf der Welt haben? Wer will bestreiten, dass wir OK und Drogenhandel bekämpfen müssen?
Meine Damen und Herren, über 3 000 Terrorgefährder
exportiert Europa in die Welt. Es war absolut richtig,
dass in dem betreffenden Memorandum Europa nicht
ausgeschlossen war.
({14})
Deswegen ist es ein Skandal, dass Sie so tun, als ob die
Existenz europäischer Ziele per se falsch wäre. Nein,
3 600 Terrorgefährder sind ein eindeutiger Beleg dafür,
warum Europa in diese Überwachung einbezogen werden muss.
({15})
Und jetzt noch - ich habe nicht mehr viel Zeit - zur
Dimension des Problems, insbesondere für die Damen
und Herren, die uns hier zuhören. Weniger als 1 Prozent
der Suchbegriffe, die wir heute gesperrt haben, entsprechen potenziell und unter gewissen Umständen nicht
dem Abkommen.
({16})
- Weil ich rechnen kann, Herr von Notz. Ich hatte Mathematik als Leistungskurs auf dem Wirtschaftsgymnasium in Kehl am Rhein belegt; das ist eine sehr ehrenwerte Schule.
({17})
Herr Dr. von Notz, von diesen weniger als 1 Prozent
Selektoren wissen wir nicht - weil wir die nachrichtendienstlichen Hintergründe nicht kennen -,
({18})
ob sie zu Recht oder zu Unrecht eingestellt werden sollten.
({19})
Ich kann mir eine ganze Reihe von Gründen vorstellen,
warum eine europäische Adresse beispielsweise zu
Recht auf dieser Liste auftaucht.
({20})
Wenn wir aber die Amerikaner dazu bewegen wollen,
uns zu erklären - das ist der Kern des Themas -, welche
nachrichtendienstlichen Hintergründe hinter einem Selektor stehen, dann müssen die Amerikaner die Tresortüren des Allergeheimsten öffnen. Wenn die Amerikaner
das tun wollen und sollen, brauchen wir ein Verfahren,
von dem die Amerikaner sagen: Dem vertraue ich; da ist
Geheimhaltung weiterhin gewährleistet. - Eine öffentliche Freigabe, lieber Herr Ströbele, wissen Sie, was das
ist, also wenn das komplett freisteht? Das ist nichts anderes als Boulevardparlamentarismus.
({21})
Damit bewegt man keinen Amerikaner dazu, zusammen
mit uns das Problem zu lösen. Ich möchte aber das Problem lösen. Deswegen finde ich die Idee eines Beauftragten charmant. Ich bin optimistisch, dass auch die
Obama-Administration die Nachrichtendienste reformie10108
Armin Schuster ({22})
ren möchte. Da gibt es eine gemeinsame Schnittmenge.
Ich glaube ganz sicher, dass wir Geheimhaltung üben
können, dass wir trotzdem politisch bewerten können
und dass wir dann zu Konsequenzen kommen - diese
sehe ich übrigens nicht -, wenn es notwendig ist. Die
Idee eines Beauftragten ist sicherlich reizvoll. Informieren Sie sich bei Herrn Montag.
Herr Schuster.
Ich darf den Kollegen Lischka zitieren - er ist nicht
mehr anwesend -: „Das hätten wir so gut nicht gekonnt.“
Das sagte er gestern Abend im PKGr. So viel zu der Bedeutung eines solchen Mannes.
Herr Schuster, darf ich Sie nun bitten, endlich zum
Schluss zu kommen?
Ich mache nur noch einen christlichen Spruch.
Christlicher Spruch hin oder her, die Redezeit ist
deutlich überschritten.
Der Kollege Strobl hat eben darum gebeten, dass der
Heilige Geist über Pfingsten über die Opposition
kommt. Sorgen Sie doch bitte dafür, dass er auch eine
Landefläche erhält, auf der er sich niederlassen kann.
Danke schön.
({0})
Das war jetzt christlich? - Nächste Rednerin in der
Debatte: Susanne Mittag für die SPD.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wir haben gerade die öffentliche Sitzung des
NSA-Untersuchungsausschusses für diese Aktuelle
Stunde unterbrochen. Ich finde es natürlich gut, wenn
wir öffentlich darstellen können, was wir in diesem Ausschuss machen. Ich hoffe, dass das in der nächsten Zeit
immer wieder einmal der Fall sein wird. Das Interesse in
der Öffentlichkeit kann nur gestärkt werden.
Wir haben auch gestern bis Mitternacht getagt, und
ich ahne, dass das heute auch so sein wird und wir unsere Zeugen vernehmen werden. Deswegen möchte ich
an dieser Stelle noch einmal allen Damen und Herren
des Stenografischen Dienstes, die hier und in unserem
Ausschuss sitzen und bis in die tiefe Nacht hinein mitschreiben und alles das, was wir da erzählen, auflisten,
einen herzlichen Dank für ihre Arbeit sagen. Das ist
nicht selbstverständlich.
({0})
Der Titel der Aktuellen Stunde lautet „Haltung der
Koalitionsfraktionen zur Freigabe der NSA-Selektorenliste im Hinblick auf mögliche Ausspähungen von Wirtschaft und Politik“. Das ist ja ein ganz schöner Titel. Um
ehrlich zu sein, für mich wären noch einige andere Fragen ziemlich relevant und gehörten dazu, etwa: Wie gewährleisten wir den Schutz von deutschen Interessen bei
Kooperation mit ausländischen Nachrichtendiensten? Wir stellen im Ausschuss fest, dass das irgendwie alles
ein bisschen unklar ist. Dann - noch wichtiger -: Welches Verständnis von deutschen Interessen hat der BND,
und wer definiert eigentlich die Interessen, und wer hinterfragt das Verständnis des BND? Und: Wie eng wird
der BND kontrolliert? - Das alles sind Fragen, die wir
schon gestellt haben, die auch Inhalt der Ausschussarbeit
sind bzw. die wir noch stellen werden.
Im Laufe der Arbeit des Untersuchungsausschusses
habe ich das Gefühl gewonnen, dass der BND so ein
ganz klein bisschen die Übersicht und die gebotene Vorsicht bei der Kooperation verloren hat. Er hat sie verloren, um nämlich genau diese Zusammenarbeit mit der attraktiv erscheinenden NSA, mit den Möglichkeiten, die
die haben, eingehen zu können. Hier scheint der Schutz
der deutschen Interessen in den Hintergrund getreten zu
sein, und zwar von nachrichtendienstlichen Interessen.
Und das ist ein Problem.
Über die Selektorenliste setzen wir uns mit der Bundesregierung nun schon seit bald vier Wochen auseinander.
({1})
Uns alle im Ausschuss eint der Wunsch, endlich Klarheit
über die eingesetzten Selektoren zu erhalten. Da kursieren ja sehr unterschiedliche Zahlen in der Öffentlichkeit;
das geht los bei 2 000 und geht bis 8 Millionen. Wenn
ich hier einmal fragen würde, welche Zahl wohin gehört,
dann würden wir wahrscheinlich auch überraschende Ergebnisse haben. Das müssen wir erst einmal klären.
Um die infrage stehenden Selektoren hat sich der
BND anscheinend - so muss man sagen - seit zehn Jahren nicht so richtig gekümmert.
({2})
In den Jahren wurden es immer mehr und mehr, und da
sind Maß und Übersicht so ein bisschen verloren gegangen. Dafür haben wir den Untersuchungsausschuss. Das
muss jetzt nachgeholt werden. Wir müssen uns eine
Übersicht darüber verschaffen, in welchem Rahmen
Politik und Wirtschaft betroffen sind - das wissen wir
noch nicht, auch wenn es sich hier manchmal anders anhört -: Sind Wirtschaftsunternehmen abgehört worden,
sind welche als Selektoren benannt worden und, wenn
ja, aus welchem Grund? Es wird sicherlich auch BegrünSusanne Mittag
dungen geben, und wenn nicht, dann kommen wir auch
dahinter. Sind sie vielleicht für die NSA wirtschaftlich
interessant gewesen? Es gibt dazu unterschiedliche Meinungen. Auch das wollen wir klären. Und wir müssen
klären, ob und in welchem Rahmen die europäische
Politik auf die Selektorenliste gekommen ist und mit
welcher Intention. Auch da gibt es Konkurrenten und
unterschiedliche Interessen.
Das, was mich neben den Selektoren in den vergangenen vier Wochen beschäftigt hat, ist: Was lief da eigentlich beim Bundesnachrichtendienst schief? Wie konnte
es sein, dass offensichtlich kritische Selektoren der NSA
ungeprüft übernommen oder eingesetzt wurden? - Dafür
machen wir diese ganzen Zeugenbefragungen, und zwar
sehr systematisch. Es geht vor allem um die Frage: Warum wurden Vorgesetzte, die dortige Hausleitung und
das Bundeskanzleramt damals nicht oder nur teilweise
über solche gravierenden Vorgänge in Kenntnis gesetzt?
Wer wusste wann wie wo was? - Das müssen wir auch
noch klären.
Ich nenne hier einmal Dr. T. - der ist ja mittlerweile
berühmt in unserem Ausschuss -, einen Referenten aus
dem BND, der die kritischen Selektoren in wochenlanger Kleinarbeit gefunden und völlig richtig reagiert hat.
Er meldete den Fund an seinen Vorgesetzten. Gut. Und
was passierte dann? - Die Selektoren wurden quasi auf
dem kleinen Dienstweg gelöscht, das heißt, außer Funktion gesetzt. - Unglücklich.
({3})
So, als hätte sich damit auch das Problem aufgelöst.
Das macht uns alle so ein bisschen fassungslos.
({4})
Wie kann es vor dem Hintergrund der Snowden-Veröffentlichungen und der Einrichtung eines Untersuchungsausschusses sein, dass solche Prüf- und Löschvorgänge
der Leitungsebene im BND oder im Bundeskanzleramt
vorenthalten wurden - und auch dem Parlament?
Das sind für uns alle im Ausschuss die drängendsten
Fragen, die sich stellen; und ich gebe zu, ich hätte mir
gewünscht, dass wir uns in dieser Woche auf ein Verfahren im Umgang mit den Selektoren geeinigt hätten. Das
war auch letzte Woche mein Wunsch. Da ist die Bundesregierung in einer Bringschuld, obwohl wir anerkennen,
dass die völkerrechtliche und verfassungsrechtliche Prüfung aufwendiger ist als gedacht. Das Konsultationsverfahren mit den Amerikanern läuft auch schon recht
lange, eigentlich ziemlich lange. Da hoffen wir, dass die
Bundesregierung jetzt endlich zu einer kurzfristigen Entscheidung kommt. Wir hoffen auf eine Entscheidung
nach Pfingsten und darauf, dass uns als erster, nicht als
letzter Schritt ein Vorschlag zur Überprüfung der Listen
vorgelegt wird.
In dieser Woche haben wir genug zu tun. Wir haben
die Aufgabe, organisatorische Fehler und strukturelle
Fehler, aber eben auch eine ganz bestimmte spezielle
Behördenmentalität im BND zu erkennen und hoffentlich auch irgendwann zu ändern. Wir sind gerade dabei.
Die Zeugen am gestrigen und heutigen Tag bringen uns
da weiter; heute Nachmittag wird es ganz interessant.
Deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie uns
gleich wieder in den Ausschusssaal gehen und die Arbeit
fortsetzen.
Herzlichen Dank.
({5})
Danke, Frau Kollegin Mittag. Zwei Kolleginnen sind
in dieser Debatte aber noch vorgesehen. - Nächste Rednerin ist Nina Warken für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Es freut mich zwar, dass wir hier innerhalb kürzester
Zeit zum zweiten Mal über die Arbeit des NSA-Untersuchungsausschusses sprechen können. Angesichts des
Spektakels, das etwa der Kollege Korte hier veranstaltet
hat,
({0})
wäre ich aber doch lieber drüben geblieben und hätte mit
der Ausschussarbeit weitergemacht.
({1})
Grundsätzlich kann man aber sagen: Der Ausschuss
macht seine Arbeit, und er macht sie gut. Wir sind im
Moment inmitten eines Prozesses, nämlich im Prozess
der Aufklärung. Und da wir eben noch mitten in der
Aufklärung sind, verstehe ich so manch schrillen Ton,
der derzeit angeschlagen wird, nicht. Wenn man wirkliche Aufklärung will, ist so etwas unseriös und bestenfalls effekthascherisch.
({2})
Meine Damen und Herren, ich möchte die Gelegenheit auch nutzen, um einige grundsätzliche Dinge festzustellen. Beginnen möchte ich mit der Diskussion um das
Thema No-Spy-Abkommen, die ein wahres Musterbeispiel für die in den letzten Tagen überhitzte Debatte ist.
Von einer „Nebelkerze im Wahlkampf 2013“ wurde da
gesprochen oder gar von „Lüge“ oder „absichtlicher
Täuschung“.
({3})
Dementgegen hat allerdings der heutige Bundesaußenminister noch im Februar 2014 das No-Spy-Abkommen
zu einem Thema seiner Gespräche in den USA gemacht.
({4})
Dies geschah sicherlich nicht, um der Union im Wahlkampf nachträglich zu helfen. Das muss wohl auch die
Opposition einsehen.
({5})
Fakt ist: Bereits 2013 sind konkrete Entwürfe mit den
Amerikanern ausgetauscht worden. Es gab ernsthafte
Verhandlungen über eine Vereinbarung zwischen den
Diensten. Das will in der derzeitigen Stimmung aber offensichtlich niemand wissen.
({6})
Ich kann den Kolleginnen und Kollegen jedoch das Aktenstudium sehr empfehlen.
({7})
Stattdessen betreibt man Legendenbildung und versucht,
die Reputation einzelner Personen zu beschädigen. So
etwas halte ich für unredlich. Die Art und Weise, wie
dieses Thema diskutiert wird, ist für die Debatte insgesamt symptomatisch. Sie ist von Vorwürfen, voreiligen
Schlussfolgerungen und tendenziösen Wertungen geprägt.
Meine Damen und Herren, Nachrichtendienste bewegen sich naturgemäß in einem sehr sensiblen Bereich.
Weil es hierbei um existenzielle Sicherheitsinteressen
der Bundesrepublik und ihrer Bürgerinnen und Bürger
geht, heißt es bei vielen Entscheidungen, sorgfältig abzuwägen - mit Augenmaß und ohne Hysterie.
({8})
Abzuwägen ist etwa zwischen dem Interesse der parlamentarischen Gremien, die Selektoren einzusehen, auf
der einen Seite und dem Sicherheitsinteresse der Bundesrepublik andererseits.
Die Bundesregierung ist einerseits völkerrechtlich
verpflichtet, den Partner vor Offenlegung von geheimen
Unterlagen um Zustimmung zu ersuchen. Dieses Vorgehen erwarten wir umgekehrt ja auch von unseren Partnern. Zum anderen ist die Bundesregierung auch verpflichtet, den grundrechtlich garantierten Auftrag des
Untersuchungsausschusses zu unterstützen. Diese Aspekte muss die Bundesregierung abwägen und schließlich eine verantwortungsvolle Entscheidung am Maßstab
des deutschen Verfassungsrechts treffen. Laut und populistisch zu sein, das ist einfach. Politische Verantwortung
zu tragen, das ist schwerer.
({9})
Meines Erachtens sind bei der Entscheidungsfindung
mehrere Aspekte zu berücksichtigen:
Erstens. Deutschland ist nicht isoliert in der Welt, und
wir sollten es tunlichst vermeiden, uns im Bereich nachrichtendienstlicher Zusammenarbeit zu isolieren. Wir
brauchen die Zusammenarbeit mit befreundeten Diensten, auch zum Schutz unserer Bürgerinnen und Bürger.
Im Rahmen dieser Zusammenarbeit müssen auch wir ein
verlässlicher Partner sein und uns an Vereinbarungen
und völkerrechtliche Verpflichtungen halten.
({10})
Zweitens. Unsere Nachrichtendienste müssen arbeitsfähig sein. Dafür brauchen sie innerhalb von Recht und
Gesetz gewisse Möglichkeiten. Nur so können sie ihren
Aufgaben gut und effektiv nachkommen.
({11})
Dazu gehört auch, dass gewisse Vorgänge im Rahmen
der Arbeit der Nachrichtendienste vertraulich sind. Die
Bundesregierung, aber auch wir als Parlament müssen
gewährleisten, dass Dinge, die der Geheimhaltung unterliegen,
({12})
auch vertraulich behandelt werden.
({13})
Das Staatswohl ist der Bundesregierung und dem Parlament gleichermaßen anvertraut.
({14})
Ich sage an dieser Stelle ganz deutlich, dass es mir
wirklich Sorgen bereitet, wie unverantwortlich zurzeit
mit eigentlich geheimen Akten umgegangen wird.
({15})
Es steht doch außer Frage: Wenn weiterhin immer wieder Dokumente aus nichtöffentlichen Sitzungen an die
Öffentlichkeit gelangen, dann wird das dazu führen, dass
unsere Verbündeten künftig die für unsere Sicherheit so
wichtige Zulieferung von Informationen einschränken.
Was hier gerade geschieht, ist grob fahrlässig und unverantwortlich. So beschädigt man Vertrauen.
({16})
Drittens. Wir als Untersuchungsausschuss haben den
Anspruch, unserem Antrag vollumfänglich nachzukommen und gründlich aufzuklären. Dabei wollen wir uns
natürlich auch ein Bild über die unzulässigen Selektoren,
die die NSA dem BND übermittelt hat, machen können.
Unsere Aufgabe dabei ist es, zu bewerten, inwieweit
Suchbegriffe deutschen Interessen zuwiderlaufen oder
gar gegen deutsches Recht verstoßen. Bei der Frage, wie
wir das hinbekommen, gibt es für uns als CDU/CSU
nicht entweder Schwarz oder Weiß.
({17})
Wir können uns durchaus Wege vorstellen, die allen Belangen gerecht werden und uns als Untersuchungsausschuss schließlich die Möglichkeit einer Bewertung der
Listen geben. Ein Weg könnte zum Beispiel das Treptow-Verfahren sein, ein anderer die Benennung eines Ermittlungsbeauftragten.
Meine Damen und Herren, ich bin mir sicher, dass die
Bundesregierung all diese Aspekte in ihrer Entscheidungsfindung berücksichtigt und zeitnah gemeinsam mit
uns als Parlament einen gangbaren Weg finden wird, der
gleichermaßen den Sicherheitsinteressen unseres Landes
und unserer Partner und unserem Aufklärungsinteresse
als Parlament gerecht wird.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, zum Ende möchte
ich an unser aller Verantwortungsbewusstsein appellieren. Lassen Sie uns vom parteipolitischen Gezänk wegkommen. Wir sollten uns weiterhin der seriösen Sachaufklärung widmen. Die CDU/CSU-Fraktion wird dies
tun.
Vielen Dank.
({18})
Danke, Frau Kollegin Warken. - Die letzte Rednerin
in dieser Debatte: Andrea Lindholz für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren Kollegen! Im Untersuchungsausschuss sind
wir uns offensichtlich - das hört man hier heute auch einig, dass die Selektorenliste geprüft werden muss. Einsicht in die Liste ist zur Aufklärung des aktuellen Falls
unerlässlich.
({0})
Unsere parlamentarische Kontrolle findet aber nicht
im luftleeren Raum statt.
({1})
Natürlich muss das Parlament aufklären, und das tun wir
auch. Auf der anderen Seite dürfen wir aber auch die Sicherheitsarchitektur unseres Landes nicht vergessen. Die
deutschen Nachrichtendienste sind wichtige Garanten
für unsere Sicherheit. Damit sie ihre Aufgaben in einer
globalisierten und digitalisierten Welt erfüllen können,
brauchen sie auch Partner. Wer diese internationale Kooperation grundsätzlich infrage stellt - und das tun Sie -,
spielt mit der Sicherheit dieses Landes.
Wir müssen unbedingt die Balance halten zwischen
Methodenschutz und Aufklärung. Wenn geheime Informationen, die dem Ausschuss anvertraut wurden, umgehend veröffentlicht werden, dann braucht man sich nicht
zu wundern, wenn Partnerdienste am Ende drohen, die
Kooperation einzuschränken.
({2})
Die Bundesregierung versucht, im laufenden und
auch vereinbarten Konsultationsverfahren mit den USA
einen Ausgleich zwischen Aufklärung und Methodenschutz zu finden. Wenn das nicht zügig gelingt, müssen
wir einen anderen Weg gehen. Das Treptow-Verfahren
wäre einer dieser Wege. Der Ausschuss hat aber - in
§ 10 PUAG gesetzlich verankert - die Möglichkeit, einen Ermittlungsbeauftragten als eigenes Aufklärungsinstrument zu bestimmen. Wenn ich heute immer höre, dass
das ein Sonderfall wäre, dann frage ich mich, warum das
Gesetz das ausdrücklich vorsieht.
({3})
Wenn wir wirklich zügig und zeitnah unter Abwägung
aller Umstände wissen wollen, was in dieser Selektorenliste steht, dann kann man dieses Instrument nicht von
vornherein ablehnen und für nicht zulässig ansehen.
({4})
Man sollte heute auch einmal festhalten, dass der Untersuchungsausschuss bisher in mehr als 200 Sitzungsstunden mit mehr als 50 Zeugen und in über 2 140 Ordnern Beweismaterial keinen Nachweis für eine
anlasslose Massenüberwachung durch den BND gefunden hat.
({5})
Der Ausschuss sollte auch Vorschläge zur Verbesserung des Datenschutzes und anderer Regelungen erarbeiten, die wir für erforderlich halten. Diese Aufgabe hat in
meinen Augen besondere Relevanz. Vorher müssen wir
aber erst einmal alle Vorwürfe aufklären. Mit vorschnellen Behauptungen oder mit Vorverurteilungen von Personen oder Behörden sollte man dabei vorsichtig sein.
({6})
Diese bringen in der Sache gar nichts.
({7})
Im Parlamentarischen Kontrollgremium haben die
vorliegenden Vermerke des BND an das Bundeskanzleramt gezeigt, dass die Vorwürfe gegen den Bundesinnenminister völlig unberechtigt waren.
({8})
Ich möchte auch an den haltlosen Vorwurf aus dem Jahr
2013 erinnern. Damals wurde behauptet, die NSA würde
monatlich 500 Millionen Verbindungen deutscher Bürger überwachen.
({9})
Heute wissen wir, dass diese Metadaten nicht aus
Deutschland, sondern vor allem aus Afghanistan stammen, wo sie halfen, die Leben unserer Soldaten zu schützen. Dank der internationalen Kooperation des BND
konnten in Afghanistan 19 Attentate verhindert werden.
Diese Arbeit rettet Leben. In die Schlagzeilen schafft sie
es aber leider nur sehr selten.
({10})
Im Übrigen hat der Untersuchungsausschuss schon
im Mai 2014 beschlossen, alle relevanten Regierungsvertreter als Zeugen zu laden. Ihre Aussagen machen
aber erst dann Sinn, wenn wir vorher den Sachverhalt
auf der Arbeitsebene aufklären; das ist noch nicht vollkommen abgeschlossen.
({11})
Für mich gibt es daher auch keinen Grund, plötzlich in
Hysterie zu verfallen
({12})
und von unserem Aufklärungssystem abzurücken.
({13})
Die aktuelle parteitaktische Skandalisierung der Arbeit des Untersuchungsausschusses, so wie wir sie auch
heute erleben, gerade durch Sie, Herr Kollege Korte
- wobei ich mich frage, wann Sie eigentlich zum Thema
dieser Aktuellen Stunde gesprochen haben -,
({14})
zeugt weder von Sachkenntnis, noch dient sie der Aufklärung.
({15})
Anstatt hier im Plenum über ungeklärte Sachverhalte zu
spekulieren, sollten wir lieber im Ausschuss unsere Arbeit machen und Fakten erarbeiten. Sie sollten vielleicht
einmal anwesend sein, bevor Sie hier reden.
Vielen Dank.
({16})
- Auch wenn Sie kein Mitglied sind - ich habe noch
17 Sekunden Redezeit -, können Sie natürlich beantragen, an den Ausschusssitzungen teilzunehmen, so wie
das andere Kollegen auch schon gemacht haben.
({17})
Ich frage mich, wann Sie von dieser Möglichkeit bis
dato einmal Gebrauch gemacht haben.
Danke schön.
({18})
Danke schön, Frau Kollegin. - Die lebhafte Aktuelle
Stunde ist damit beendet. Ich wünsche weiterhin gute
Ausschussberatungen.
({0})
- Genauso lebendig.
Nachdem der Wechsel auf den Sitzen stattgefunden
hat, rufe ich die Tagesordnungspunkte 8 a bis 8 d auf:
a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Feststellung eines Nachtrags zum
Bundeshaushaltsplan für das Haushaltsjahr
2015 ({1})
Drucksache 18/4600
Beschlussempfehlung und Bericht des Haushaltsausschusses ({2})
Drucksachen 18/4950, 18/4951
b) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Förderung von Investitionen finanzschwacher Kommunen und zur Entlastung
von Ländern und Kommunen bei der Aufnahme und Unterbringung von Asylbewerbern
Drucksache 18/4653 ({3})
Beschlussempfehlung und Bericht des Haushaltsausschusses ({4})
Drucksache 18/4975
Vizepräsidentin Claudia Roth
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Haushaltsausschusses ({5})
zu dem Antrag der Abgeordneten Susanna
Karawanskij, Kerstin Kassner, Klaus Ernst, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Bundesverantwortung wahrnehmen - Kom-
munen bei Unterbringung von Flüchtlingen
und Asylbewerbern sofort helfen und Kosten
der Unterkunft für Hartz-IV-Leistungsbe-
rechtigte schrittweise übernehmen
Drucksachen 18/3573, 18/4118
d) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Haushaltsausschusses ({6})
zu dem Antrag der Abgeordneten Kerstin
Andreae, Katja Dörner, Oliver Krischer, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Heute für morgen investieren - Damit unsere
Zukunft nachhaltig und gerechter wird
Drucksachen 18/4689, 18/4974
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Ich höre, ich
sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Wenn Herr Kampeter ausgequatscht hat, rufe ich ihn
auf. Offensichtlich noch nicht.
({7})
Herr Kampeter, ich hatte Sie aufgerufen, aber Sie unterhielten sich noch.
Ich eröffne also jetzt die Aussprache. Das Wort hat
der sehr geschätzte Parlamentarische Staatssekretär
Steffen Kampeter.
({8})
Charmante Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Wenn auf der Tagesordnung eines
Parlamentes „Nachtragshaushalt“ steht, dann ist üblicherweise irgendwo Land unter, weil irgendetwas nicht
passt: Die Einnahmen sind zusammengebrochen, die
Ausgaben explodieren. Das ist historisch die Erfahrung
von Haushaltspolitik. Heute ist das anders.
Der Nachtragshaushalt, den wir in zweiter und dritter
Lesung im Deutschen Bundestag beschließen, ist ein
Zeichen unserer soliden Haushaltspolitik.
({0})
Wir haben in den vergangenen Jahren Maß gehalten in
der Großen Koalition. Wolfgang Schäuble hat die Nettokreditaufnahme gemeinsam mit der Koalition zurückführen können. Wir haben günstige wirtschaftliche Rahmenbedingungen. Deutschland wächst. Jetzt nutzen wir
diesen Spielraum, um mehr zu tun für das mittelfristige
Wachstumspotenzial, für Arbeitsplätze in Deutschland
durch die Stärkung von Investitionen. Zugleich tun wir
etwas für das föderale Miteinander, indem wir mit diesem Nachtragshaushalt Maßnahmen beschließen für
mehr Investitionen in den Kommunen und für mehr Solidarität bei der Bewältigung von Flüchtlingsherausforderungen. Das ist doch mal eine Botschaft für einen Nachtragshaushalt, meine sehr verehrten Damen und Herren.
({1})
Die Wirtschaftsleistung der Bundesrepublik Deutschland wächst in diesem Jahr um voraussichtlich 1,8 Prozent, die Beschäftigung ist auf Rekordniveau, die Steuereinnahmen steigen, und im Übrigen hat sich demnächst
auch der Deutsche Bundestag damit zu befassen, ob wir
die kalte Progression entschärfen; das Wort darf man
nicht sagen, aber man könnte das auch als Steuersenkung interpretieren. All dies zeigt, dass Haushalts- und
Finanzpolitik, die solide ist, dazu beiträgt, dass der Staat
handlungsfähig bleibt, und macht eines deutlich: Es ist
falsch, zu sagen, dass Schulden irgendein Problem bei
staatlichen Herausforderungen lösen könnten. Schulden
sind in der Regel das Problem. Wer keine hat, ist handlungsfähig, und wer zu viele hat, der geht unter. Deswegen bleibt die schwarze Null der Maßstab, und wir nutzen Spielräume aus als Konsolidierungsrendite. Das ist
Verlässlichkeit in der Haushaltspolitik.
({2})
Wenn wir heute beschließen, mehr zu investieren,
nämlich öffentliche Investitionen des Bundes auf den
Weg zu bringen, dann geht es nicht darum, kurzfristig
ein Strohfeuer anzuzünden, sondern darum, das mittelfristige Wachstumspotenzial der deutschen Volkswirtschaft zu erweitern. Von 2014 bis 2018 belaufen sich die
zusätzlichen Maßnahmen auf über 40 Milliarden Euro,
knapp 1,5 Prozent unserer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit. Wir tun damit mehr für digitale Infrastruktur,
mehr für die Verkehrsinfrastruktur. Wir sagen Ja zur
Steigerung der Energieeffizienz. Wir finden, dass der
Klimaschutz nach vorne gebracht werden muss. Wir vergessen den Hochwasserschutz nicht und leisten etwas für
die Städtebauförderung. Deutschland soll wachsen. Wir
schaffen dafür die Voraussetzungen. Das ist das Angebot
dieses Nachtragshaushalts.
({3})
Ein weiteres Feld ist die Stärkung der kommunalen
Investitionskraft. Wir glauben nicht, dass alles von
Berlin aus geregelt werden kann. Wir wissen aus den Erfahrungen der vergangenen Jahre, dass in den Kommunen sehr viel brachliegen kann und dass Investitionen,
die man da anstößt, besonders schnell wirken. Deswegen
wollen wir mit dem vorliegenden Nachtragshaushaltsgesetz ein Sondervermögen schaffen, mit dem wir in finanziell besonders gestressten Kommunen Investitionen
fördern wollen. Das ist unser Beitrag zu mehr Solidarität
im föderalen Miteinander. Aber ich verbinde dies mit der
klaren Aussage, dass zusätzliches Bundesgeld jetzt
komplementär mit Maßnahmen von der Seite der Länder
begleitet werden muss; denn es macht überhaupt keinen
Sinn, dass der Bund eine Schippe drauflegt, wenn sich
die Länder aus der Verantwortung zurückziehen.
({4})
Deswegen: Kommunale Solidarität endet nicht beim
Bundeshaushalt, sondern muss gemeinsam von Bund
und Ländern getragen werden. Unser Angebot hierzu
steht.
Eine weitere wichtige Frage ist die folgende: Wie begegnen wir als Bund bestimmten kommunalen Herausforderungen, die wir beim Beschluss des Bundeshaushalts noch nicht in dieser Dimension gesehen haben? Es
geht um die Aufnahme, Unterbringung, Versorgung und
auch die Gesundheitsversorgung von Asylbewerbern.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Lage an
Europas Grenzen ist dramatisch. Unsere Kommunen
sind herausgefordert. Da kann der Bund nicht abseitsstehen. Nicht abseitsstehen heißt, dass wir uns finanziell
stärker engagieren, dass wir dafür sorgen, dass Mittel
eingesetzt werden, dass wir die Verfahren schneller
machen. Der Bund ist bereit, hier mehr zu leisten; aber
auch da gilt: Wir müssen diese Herausforderungen gemeinsam mit den Ländern angehen. - Wir machen ein
faires Angebot. Wir erwarten, dass auch die Länder bei
der Aufnahme, Unterbringung und möglicherweise,
notwendiger Abschiebung von Menschen ganz klare
Schwerpunkte setzen. Bund und Länder gemeinsam für
Kommunen, so lautet die Botschaft dieses Nachtragshaushalts.
({5})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir werden
in wenigen Wochen den Haushalt für das Jahr 2016 vorlegen. Er wird die Maßnahmen dieses Nachtragshaushalts fortführen, er wird deutlich machen, dass unsere
Solidarität im föderalen Miteinander nicht geringer, sondern stärker wird. Er wird aber auch weitere notwendige
Investitionsimpulse setzen.
Eine Grundlinie ist jedoch klar: Wir wollen mit dem
Geld auskommen, das die Bürgerinnen und Bürger uns
zur Verfügung stellen. Wir wollen keine neuen Schulden. Jeder private Haushalt kann über kurz oder lang nur
mit dem auskommen, was er verdient. Das auf den öffentlichen Bereich zu übertragen, das ist nichts weniger
als Respekt vor der Leistung der Menschen in diesem
Land. Das ist unsere Haushaltspolitik.
({6})
Vielen herzlichen Dank, Steffen Kampeter. - Nächster Redner in der Debatte: Roland Claus für die Linke.
({0})
Frau Präsidentin, die Sie auf mich nicht warten mussten! Meine Damen und Herren! Wie mein Vorredner will
ich mich zunächst mit der Frage beschäftigen: Wozu
braucht es einen Nachtragshaushalt? Ein Nachtragshaushalt ist immer dann erforderlich, wenn sich die gesellschaftlichen Verhältnisse im Vergleich zum Zeitpunkt
der Haushaltsaufstellung erheblich verändert haben.
Gelegentlich könnte ein Nachtragshaushalt auch dazu
benutzt werden, gewonnene neue Erkenntnisse zu verarbeiten. Wenn der geistige Horizont einer Regierung aber
die schwarze Null ist, haben neue Erkenntnisse natürlich
nur geringe Chancen.
({0})
Die gravierendsten und bedrückendsten gesellschaftlichen Veränderungen erleben wir zweifelsohne aufgrund des Elends der Flüchtlinge. Die Flüchtlingsfrage
stellt sich in völlig neuer Dimension, und es ist richtig,
dass wir darauf reagieren. Es gehört aber auch zur Wahrheit, zu sagen: An der Verschärfung dieses Elends tragen
die Europäische Union, Deutschland und die USA eine
Mitverantwortung und auch eine Mitschuld.
Man muss doch auch folgende Fragen beantworten:
Wer fand es denn richtig, alle staatlichen Strukturen in
Libyen wegzubomben?
({1})
Wie ist die Terrormiliz „Islamischer Staat“ denn entstanden? Das geschah doch durch die Schlachtfelder des
Irakkrieges.
({2})
Und schließlich: Wer dem Fischer die Fische wegfischt,
macht doch den Fischer erst zum Schlepper. Und wenn
Herr Kauder - das hat er heute Morgen getan - an die
Adresse der Länder, denen wir helfen, sagt: „Wir erwarten aber auch, dass die Flüchtlingsbewegungen unterbunden werden“, grenzt das, wie ich finde, schon an
Zynismus.
({3})
Eine Willkommenskultur verdient den Namen erst,
wenn sie von der Betroffenheitskultur zu einer wirklichen politischen Verantwortungskultur geworden ist.
Davon sind wir leider weit entfernt. 500 Millionen Euro
fließen für die Aufnahme von Flüchtlingen und für eine
bessere Integration und Betreuung an die Kommunen.
Das hat im Haushaltsausschuss auch unsere Zustimmung
gefunden. Aber das ist natürlich noch weit weg von dem,
was ich Verantwortungskultur nenne. Erstens wissen wir
alle, dass die Mittel zu gering sind, und zweitens machen
wir mit dieser Art der Finanzmittelausreichung die Landkreise und Städte regelmäßig zu Bittstellern bei uns - und
das kann nicht der Weg sein, um sich ehrlich zu begegnen.
({4})
Wir haben es im Nachtragshaushalt auch mit einer Investitionsförderung für finanzschwache Kommunen zu
tun. Das geht in Ordnung. Wir haben ja auch gesagt: Wir
werden uns nicht daran beteiligen, finanzschwache
Kommunen etwa in Nordrhein-Westfalen gegen finanzschwache Kommunen in Thüringen auszuspielen. - Das
Problem ist nur, dass Sie mit dem Zwang der Länder, finanzschwache Kommunen auswählen zu müssen, die
ostdeutschen Länder benachteiligen, weil die Finanzschwäche von Kommunen in den ostdeutschen Ländern
nicht die Ausnahme, sondern die Regel ist, und die Länder jetzt gezwungen sind, Menschen und Kommunen
von der Unterstützung auszunehmen. Das finden wir
nicht in Ordnung und kritisieren wir.
({5})
Dieser Nachtragshaushalt enthält eine ganze Reihe
von Infrastrukturmaßnahmen des Bundes. Davon geht
vieles in Ordnung. Aber auch hier stimmen die Verhältnisse nicht. Erneut wird Straßenbau gegenüber Schiene
und Wasserstraßen erheblich begünstigt, geht Neubau
vor Erhalt. Insgesamt reicht es - das wissen Sie auch nicht aus. Deshalb spekulieren Sie öffentlich über die
Beteiligung privaten Kapitals an öffentlicher Infrastruktur.
({6})
Die Beteiligung privaten Kapitals an öffentlicher Infrastruktur will die Linke auch. Nur: Sie wollen bei denen
betteln und mit denen Geschäfte machen, und wir wollen
sie gerecht besteuern. Das ist der kleine Unterschied,
meine Damen und Herren.
({7})
Im Nachtragshaushalt steckt dann auch noch ein echter Skandal, und zwar im Kleingedruckten: Ein Konferenzzentrum in Bonn soll auf Bundeskosten fertiggestellt
werden. Dieses Konferenzzentrum ist aber Eigentum der
Stadt Bonn. Es handelt sich also faktisch um eine Schenkung in Höhe von 34 Millionen Euro. Nach meinem
Empfinden und meinen bisherigen Kenntnissen geht das
am Haushaltsrecht vorbei, und ich denke, das sollte ein
parlamentarisches Nachspiel haben.
({8})
Schließlich gibt es noch eine Überraschung: Gestern
wurde im Haushaltsausschuss die finanzielle Entschädigung sowjetischer Kriegsgefangener des Zweiten Weltkrieges beschlossen.
({9})
Das ist gut so, und das haben wir ausdrücklich unterstützt.
({10})
Die Linke gehört bekanntlich zu den Initiatoren dieser
Idee.
Schäbig und diskriminierend fanden wir allerdings,
dass der Linken die Mitautorenschaft bei diesem Antrag
verweigert wurde, dass Sie uns verweigert haben, diesen
Antrag mitzuzeichnen, und wir damit ausgeschlossen
wurden. Ich will an die Initiativen von Frau Jelpke und
Herrn Korte erinnern. Das grenzt an Diebstahl geistigen
Eigentums, meine Damen und Herren.
({11})
Das alles geht auf einen Unvereinbarkeitsbeschluss
der Unionsfraktion zurück: nicht mit uns auf einer
Drucksache. Er ist allerdings aus dem Jahre 1998. Ich
möchte Sie nur einmal an eines erinnern: 1998 war
meine Partei noch die PDS. Nun werde ich wahrscheinlich der Letzte sein, der den Anteil der PDS am Zustandekommen der neuen Linken irgendwie gering schätzt.
Aber seit 2005 gibt es keine PDS-Fraktion, keine PDSAnträge mehr im Bundestag. Nun mag „konservativ“
auch bedeuten, dass man in seiner Wahrnehmung etwas
langsam ist; aber zehn Jahre müssten eigentlich genügen, um zu begreifen, dass dieser Beschluss ein Anachronismus ist.
Frau Merkel hat heute Morgen eine Rede gegen den
Kalten Krieg geführt. Ich sage Ihnen eines: Das muss
auch im Bundestag endlich der Fall sein. Hören Sie auf,
den Kalten Krieg, den Sie sonst nicht haben wollen, im
Bundestag fortzusetzen!
({12})
Danke, Roland Claus. - Nächster Redner: Johannes
Kahrs für die SPD.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich glaube, dass der heute vorliegende Nachtragshaushalt etwas ist, über das man sich in diesem
Land freuen kann. Als die Große Koalition ihren Koalitionsvertrag schloss, legten wir auch fest, dass wir
23 Milliarden Euro mehr investieren wollen, und wir alle
haben gedacht, das wäre es dann für diese Legislaturperiode.
Jetzt ist es aber so, dass aufgrund der guten Politik in
den letzten Jahren, insbesondere aufgrund der Reformen,
die unter Rot-Grün und Gerhard Schröder vorangetrieben worden sind, die Wirtschaft in diesem Lande hervorragend funktioniert, mehr Menschen in Arbeit sind als je
zuvor und wir auch noch das Glück haben, dass die Benzin- und Ölpreise niedrig sind, dass das Währungsrisiko
geringer ist und die Zinsen niedriger sind. Rundum läuft
es derzeit gut. Das führt dazu, dass der Bund mehr Geld
einnimmt, als man am Anfang gedacht hat.
Auf alle Fälle ist es gut und richtig, dass wir daran
festhalten, keine neuen Schulden zu machen. Ich glaube,
das ist etwas, wo sich CDU/CSU und SPD einig sind.
Wir haben die Schuldenbremse in der letzten Großen
Koalition gemeinsam vereinbart. Wir haben vereinbart,
dass wir in dieser Legislaturperiode keine neuen Schulden machen wollen. Ich glaube auch, dass das gut ist.
Wenn wir das eine, das gut und notwendig ist, mit
etwas anderem Guten, nämlich mehr Investitionen, verbinden, dann erreichen wir etwas, was dem Land im
Hinblick auf seine Wirtschaft, seinen Arbeitsmarkt und
seine zukünftige Entwicklung generell guttut.
({0})
Deshalb planen wir 10 Milliarden Euro mehr reine
Investitionen. Das heißt, wir investieren in die Verkehrsinfrastruktur, in den Bereich Umwelt, in den Bereich
Bau, in alle Bereiche, von denen wir glauben, dass
Deutschland hier einen Nachholbedarf hat.
Zu den 10 Milliarden Euro, die wir investieren, kommen 5 Milliarden Euro hinzu, die wir den Kommunen
geben, damit sie aus dem Investitionsloch, in dem sie
stecken, herauskommen. Da möchte ich insbesondere
Bernhard Daldrup aus meiner Fraktion danken, der uns
damit seit Jahr und Tag kujoniert und quält. In der Sache
ist es so, dass die Kommunen unterstützt werden müssen. Es ist aber auch so, dass das Geld, das wir für die
Kommunen vorsehen, auch bei den Kommunen ankommen muss. Da gibt es ein schwieriges Verhältnis zwischen Ländern, Kommunen und Bund. Wir hoffen, dass
wir es mit der jetzt vorgesehenen Konstruktion im Einvernehmen mit den Ländern hinkriegen, dass dieses
Geld wirklich an die Kommunen geht. Das ist ja in unser
aller Interesse, weil es die Kommunen sind, die Investitionen vor Ort tätigen. Es kann nicht sein, dass Investitionen nur auf Bundesebene stattfinden. Sie müssen auch
in den Stadtteilen stattfinden, in denen die Menschen
wohnen. Sie müssen in der Infrastruktur vor Ort ankommen. Deswegen richte ich einen ganz herzlichen Dank
an all diejenigen, die das vorangebracht haben. Mehr
Geld für Investitionen, mehr Geld für die Kommunen das war ein wesentlicher Teil unseres Wahlkampfs. Ich
freue mich, dass wir das in der Großen Koalition so hinbekommen haben.
({1})
Heute werden auch die Ergebnisse des Flüchtlingsgipfels umgesetzt: Wir stellen 750 neue Stellen für das
Bundesamt für Migration und Flüchtlinge zur Verfügung, das Auswärtige Amt bekommt ebenfalls neue
Stellen, und im Etat des Innenministeriums stellen wir
25 Millionen Euro mehr für Sprachkurse zur Verfügung.
Ich glaube, dass das wichtige Bausteine sind, die wir
brauchen, um beim Thema Flüchtlinge voranzukommen.
Ein anderer wichtiger Baustein ist die Unterstützung
der Kommunen. Ich glaube, dass das wesentlich und gut
ist.
In diesem Nachtragshaushalt sind auch wichtige
kleine Maßnahmen verborgen: 8 Millionen Euro fließen
in die Unterstützung von Jugendmigrationsdiensten, und
weitere 4 Millionen Euro werden in Sprachkurse für
ganz besonders qualifizierte Migranten investiert, die
studieren wollen. Das sind sogenannte C1-Sprachkurse.
Für diese Sprachkurse haben wir schon seit März kein
Geld mehr. Dank dieser zusätzlichen Mittel können die
hochqualifizierten Leute, die in dieses Land kommen
und hier dringend gebraucht werden, die deutsche Sprache erlernen, damit sie relativ schnell auf dem deutschen
Arbeitsmarkt ankommen. Dies ist eine richtige, gute und
zukunftsweisende Investition. An dieser Stelle kann man
der Otto-Benecke-Stiftung für ihre gute Arbeit nur danken.
({2})
Es freut mich auch, dass wir uns in der Großen Koalition darauf geeinigt haben, 10 Millionen Euro für die
Entschädigung ehemaliger sowjetischer Kriegsgefangener auf den Weg zu bringen. Wir haben dazu extra eine
Anhörung durchgeführt. Man kann sich fragen: Warum
entschädigt man diese eine Gruppe und andere nicht? Es
ist eben so, dass sowjetische Kriegsgefangene zu über
50 Prozent zu Tode gekommen sind. Diese Gruppe
wurde anders behandelt als alle anderen. Daher ist es nur
richtig und gut - alle Gutachter in unserer Anhörung
sind zu diesem Ergebnis gekommen -, diese Gruppe zu
entschädigen. Alle Fraktionen tragen dies mit. Ich
glaube daher nicht, dass eine Fraktion die Urheberschaft
dafür beanspruchen kann. Dass wir gemeinsam zugestimmt haben, ist ein gutes Zeichen. Das ist für die
Glaubwürdigkeit Deutschlands in der Welt wichtig und
kann angesichts des im Moment angespannten deutschrussischen Verhältnisses vielleicht helfen.
({3})
Man erlaube mir noch einige Bemerkungen zu anderen Etatverbesserungen, die wir hinbekommen haben:
Im Bereich des Ministeriums für Arbeit und Soziales
gibt es mehr Geld für die Grundsicherung im Alter und
für das Programm „Soziale Teilhabe am Arbeitsmarkt“.
Im Verteidigungsministerium haben wir mehr Geld für
ziviles Personal zur Verfügung gestellt. Als Hamburger
freue ich mich, dass es uns gelungen ist, 30 Millionen
Euro für die Bewerbung für die Olympischen Spiele zur
Verfügung zu stellen. Das ist inzwischen keine Bewerbung Hamburgs mehr, sondern eine Bewerbung
Deutschlands. Hier steht ganz Deutschland und bewirbt
sich international. Deshalb ist es gut und wichtig, dass
der Bund sich daran beteiligt. Vielen Dank, dass alle das
unterstützt haben.
Glück auf!
({4})
Vielen Dank, Johannes Kahrs. - Nächste Rednerin in
der Debatte: Anja Hajduk für Bündnis 90/Die Grünen
aus Hamburg.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Wir beraten heute den Nachtragshaushalt 2015 und ein
Unterstützungspaket für die Kommunen. Wenn man sich
jetzt die Frage stellt: „Worüber reden wir hier eigentlich?“, dann möchte ich sagen, sehr geehrter Herr
Kampeter: Dies ist ein aufgrund der Verfehlungen bei
den letzten Haushaltsberatungen notwendiges Nachbesserungsprogramm.
({0})
Dies ist im Wesentlichen ein Programm zur Steigerung
der öffentlichen Investitionen. Insofern ist dies ein Versuch, die Probleme, die Sie im Dezember zu korrigieren
nicht in der Lage waren, jetzt, ein halbes Jahr später, wegen der günstigen Rahmenbedingungen wenigstens ein
bisschen anzugehen. Ich möchte Ihnen deutlich machen,
wie schnell man erkennen kann, dass dies leider nur ein
Versuch ist:
3,5 Milliarden Euro als Investitionsförderung für die
Kommunen. Das ist nicht falsch,
({1})
aber es muss im Verhältnis zu einem Investitionsstau von
156 Milliarden Euro bei den Kommunen gesehen werden; das ist die aktuelle Schätzung des Bundeswirtschaftsministeriums. Wenn man sagt, dass das Programm 3,5 Milliarden Euro in den nächsten drei Jahren
umfasst und dass 156 Milliarden Euro der Bedarf sind,
dann sieht man, dass das keine grundsätzliche Lösung
für ein unglaublich veritables Problem sein kann, das die
Menschen vor Ort erfahren.
({2})
Ich betone ganz deutlich, was in der Expertenanhörung klar geworden ist.
({3})
Es wurde der Versuch der Bundesregierung, die Kommunen zu unterstützen, zwar nicht geringgeschätzt. Aber
es wurde deutlich, dass dies ein viel zu zaghafter Versuch ist und eine grundsätzliche Lösung, zu der sich gerade eine Große Koalition aufraffen sollte, nicht abzusehen ist.
Ich kann dasselbe noch einmal illustrieren, indem ich
nicht nur auf die Kommunen schaue, sondern auf die Investitionen insgesamt. Herr Schäuble sagte, es solle noch
einmal 10 Milliarden Euro mehr in der Finanzplanperiode geben, um die öffentlichen Investitionen zu steigern.
10 Milliarden Euro zusätzlich für öffentliche Investitionen in der Finanzplanperiode - in welchem Verhältnis
stehen diese 10 Milliarden Euro zu den Steuermehreinnahmen?
Schauen wir uns doch einmal die Steuerschätzung an,
die gerade veröffentlicht wurde. Die aktuelle Mai-Steuerschätzung sagt für 2014 bis 2019 Steuermehreinnahmen in Höhe von 163 Milliarden Euro voraus. Ich
möchte das noch konkretisieren: Welche Zinsersparnis
haben wir in der Finanzplanperiode? Ganz aktuell sind
in Ihrem Nachtrag diesbezüglich 32 Milliarden Euro
ausgewiesen. Das heißt, es gibt aktuell knapp 200 Milliarden Euro Haushaltsverbesserugen in der Finanzplanperiode, und von diesen 200 Milliarden stecken Sie
10 Milliarden in zusätzliche Investitionen. Das sind nur
5 Prozent, und das angesichts der Lücke, die ich vorhin
beschrieben habe. Das ist nichts, das ist schwach, das ist
unwürdig.
({4})
Deshalb haben wir einen Antrag vorgelegt - und Sie
haben uns dafür kritisiert -,
({5})
in dem gefordert wird, in den nächsten Jahren 45 Milliarden Euro - nicht hektisch, aber entschlossen -,
({6})
also ein Viertel der neuen Spielräume, für eine Investitionssteigerung bereitzustellen. Das braucht man, wenn
man das Wachstumspotenzial des Landes fördern und
stärken will.
({7})
Es geht uns Grünen nicht darum, dies mit Schulden zu
machen. Deshalb habe ich mir erlaubt, Sie noch einmal
über die Spielräume aufzuklären, die es gibt. Wir fordern
Sie auf, diese Spielräume als Gestaltungsspielräume zu
nutzen. Seien Sie an dieser Stelle nicht so verzagt.
Wir haben, was die Konjunktur angeht, ein bisschen
Glück, Herr Kahrs.
({8})
Glück zu haben, ist ja nichts Falsches. Auch die Große
Koalition kann mal Fortune haben. Es gibt fleißige Menschen in unserem Land, die das erarbeiten; aber es gibt
auch strukturell gute Bedingungen. Wir haben, demografisch bedingt, mit 43 Millionen Beschäftigten eine extrem hohe Beschäftigtenquote. Wir haben deshalb eine
gut gefüllte Rentenkasse und niedrige Zinszahlungen;
Sie haben dies alles erwähnt. Angesichts der guten Bedingungen ist es Zeit, Vorsorge für das nächste Jahrzehnt
zu treffen, und das muss man mit Zukunftsinvestitionen
ganz anders tun, als Sie es tun.
({9})
Meine letzte Bemerkung: Im Grundsatz ist das ein
schlechter Nachbesserungsversuch. Das, was an diesem
Nachtrag richtig und wichtig ist, ist die bessere Unterstützung der Kommunen bei der Aufnahme von Flüchtlingen; das möchte ich nicht vergessen zu erwähnen.
Aber was noch besser gewesen wäre, Herr Kahrs, wäre,
wenn Sie als Große Koalition im Hinblick auf die späte,
aber immerhin vorgesehene Entschädigung für sowjetische Kriegsgefangene die Kraft gehabt hätten, die Linken mitzunehmen. Dazu hat mein Kollege Claus das Nötige gesagt. Auch an dieser Stelle sollten Sie sich im
Haushaltsausschuss einen Schubs geben.
Herzlichen Dank.
({10})
Danke, Anja Hajduk. - Nächster Redner in der Debatte: Norbert Brackmann für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Das, was wir hier heute machen, hat nichts,
aber auch wirklich gar nichts damit zu tun, Frau Hajduk,
dass wir Verfehlungen korrigieren wollen, oder damit,
dass wir auf gesellschaftliche Veränderungen, lieber
Kollege Claus, reagieren wollen. Vielmehr geht es darum, dass wir zur rechten Zeit das, was wir mit guter
Politik an Freiräumen geschaffen haben, den Menschen
zurückgeben, es zur Lösung der Probleme in diesem
Land einsetzen und heute damit eine wesentliche Grundlage für die Zukunft legen.
({0})
Deswegen ist die schwarze Null kein Kampfbegriff,
auch wenn Sie das vielleicht so sehen. Geld nicht auszugeben und keine Schulden zu machen, sondern über
Geld erst zu verfügen, wenn man es hat, ist ein wesentlicher Grund dafür, dass wir heute an dem Punkt sind, an
dem wir sind. Ich hatte vorhin bei einigen Rednern der
Opposition ein bisschen den Eindruck, als würde es Zufall sein, dass wir heute dort sind, wo wir sind. Aber wie
ist es denn dazu gekommen, dass wir weniger Zinsen
zahlen? Bekanntlich zahlt man Zinsen, wenn man Schulden aufgenommen hat. Wenn wir aber keine neuen
Schulden aufnehmen, zahlen wir auch keine neuen Zinsen. Wenn die Investoren Vertrauen darin haben, dass
wir mit ihrem Geld sorgsam umgehen, dann geben sie
uns auch Geld zu niedrigen Zinsen, was dazu führt, dass
wir mehr Einnahmen zu verteilen haben.
Exakt dies machen wir heute. Wir machen es in erheblichem Umfang. Wir investieren zusätzlich 10 Milliarden Euro in die Zukunft des Bundes, aber - da verstehe ich die Kritik, die hier geäußert wurde, nun
überhaupt nicht - in den nächsten Jahren gehen auch
6 Milliarden Euro in die Kommunen. Das ist bemerkenswert; denn wenn man sich die Finanzverfassung unseres
Grundgesetzes anschaut, sieht man, dass wir als Bund eigentlich keine Verantwortung für die Kommunen haben,
sondern die Länder in der Verantwortung für die Kommunen sind. Deswegen wäre es naheliegend, dass jeder
auf seinem Gebiet die Politik macht, für die er zuständig
ist, und dafür sorgt, dass er mit dem Geld auskommt, das
er einnimmt, das er von den Menschen bekommt. Das
wäre schon eine grundsolide Haltung.
({1})
Insofern ist es, glaube ich, nicht hoch genug zu würdigen, dass wir als Bund ein Investitionspaket für die
Kommunen auflegen. Auch hier sehen wir wieder, dass
von den Ländern vielleicht etwas mehr Bereitschaft, hier
Verantwortung zu übernehmen, gefordert werden
könnte.
Was waren die Schwerpunkte unserer Beratungen im
Haushaltsausschuss? Wir haben das Grundgesetz genommen, gewürgt, geknetet, weil in der Föderalismuskommission II insbesondere auf Wunsch der Länder die
Bedingungen, unter denen der Bund überhaupt Förderung für die Kommunen machen kann, so eng gefasst
wurden, dass wir kaum eine Möglichkeit haben, die
Kommunen unmittelbar zu fördern. Dennoch machen
wir das. Wir hätten uns auch aus dem Staub machen und
auf die Verantwortung der Länder hinweisen können.
Dies machen wir nicht. Wir stehen zu den Aufgaben, die
die Kommunen haben. Wir stehen zu dieser Solidarität
zwischen Bund und Ländern. Das ist gerade in dieser
Zeit besonders wichtig.
({2})
Ein Teil dieser Verantwortung ist auch, dass wir trotz
dieser Aufgabenteilung, die ja von unseren Urvätern bewusst gewählt wurde, sagen: Wenn es besondere Belastungen für den Staat gibt, dann muss man diese nach
Möglichkeit auf alle Ebenen verteilen, damit der gesamte Staat diese Belastung tragen kann. Es ist richtig,
bei der Flüchtlingsproblematik zu sagen, dass für das
Anerkennungsverfahren der Bund zuständig ist, die Länder für die Erstunterbringung und die Kommunen für die
dauerhafte Unterbringung. Aber bei der Bewältigung
dieser Aufgaben sind wir aufgrund der guten finanziellen Situation jetzt in der Lage, bei der Unterbringung der
Flüchtlinge zu helfen. Die 1 Milliarde Euro, die wir zusätzlich für die Flüchtlingsunterbringung in 2015 und
2016 zur Verfügung stellen, und die Entlastung der
Kommunen in 2017 über das Investitionspaket in Höhe
von 1,5 Milliarden Euro sind unter dem Eindruck der
vielen Flüchtlinge ein Zeichen der Menschlichkeit und
eine wichtige Hilfe.
Aber dann können und müssen wir auch erwarten,
dass die Länder ihrerseits nicht den Versuch machen, an
dieser Aufgabe zu verdienen, sondern das Geld an die
Kommunen durchreichen. Wenn nur drei Länder die
Bundesmittel für die Flüchtlinge komplett an die Kommunen weiterleiten, dann finde ich, dass wir das nicht
akzeptieren können und dürfen.
({3})
Das alles sind Investitionen in die Zukunft und in die
Menschen. Deswegen ist der heutige Tag ein guter Tag
für die Menschen, für die Kommunen, für die Flüchtlinge und für Deutschland.
Danke schön.
({4})
Danke, Herr Kollege Brackmann. - Frau Gottschalck,
bevor ich Ihnen das Wort erteile, hat der Kollege Jan
Korte das Wort zu einer Kurzintervention.
Frau Präsidentin, schönen Dank, dass Sie das zulassen. - Ich will kurz auf einen Punkt eingehen. Ich finde
es in der Tat gut, dass - für die Verhältnisse in diesem
Hause relativ unbürokratisch - 10 Millionen Euro zur
Entschädigung der wenigen noch lebenden ehemaligen
sowjetischen Kriegsgefangenen bereitgestellt werden.
Ich finde, das ist eine gute Sache, und das ist kurz nach
dem 70. Jahrestag der Befreiung eine gute Nachricht für
die ganz wenigen Überlebenden. Schließlich sind über
3,5 Millionen Menschen in deutschen Lagern elendig
verhungert.
Ich weise aber darauf hin, dass wir, meine Kollegin
Jelpke und übrigens auch viele Grüne schon seit vielen
Jahren und auch ich persönlich in den letzten Monaten,
uns sehr für eine Entschädigung engagiert haben. Weil
mir das, was jetzt erreicht wurde, sehr wichtig ist, will
ich aber eines anmerken: Dass Sie von der CDU/CSU,
wohl wissend, dass damals das Gesetz zur Zwangsarbeiterentschädigung von allen Fraktionen gemeinsam eingebracht wurde - damals übrigens noch von der PDS,
um das in Erinnerung zu rufen -, bei so einer Frage und
an einem solchen Jahrestag ausgerechnet die Fraktion,
die mit den Grünen, mit vielen Initiativen und Wissenschaftlern und anderen seit so vielen Jahren dafür gestritten hat, aus dem Antrag herauskegeln müssen, finde ich
der Sache nicht angemessen. Dass Sie bei einer so elementaren historischen Frage so kleingeistig vorgehen,
hätte ich Ihnen nicht zugetraut. Das wollte ich loswerden.
({0})
Herr Brackmann, Sie haben die Möglichkeit, zu antworten.
({0})
- Sie möchten nicht antworten. - Dann hat Ulrike
Gottschalck für die SPD das Wort.
({1})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die GroKo
macht nicht immer nur Spaß. Das werden mir meine
Kolleginnen und Kollegen der Regierungsfraktionen bestätigen. Aber die Ergebnisse der GroKo machen Spaß,
und vor allen Dingen sind sie gut für die Menschen in
unserem Land.
({0})
Wenn ein Nachtragshaushalt wie der heutige vorliegt,
dann sollte man sich nicht - je nach Naturell - beschweren, ereifern, aufregen oder gar echauffieren, Frau
Hajduk, sondern man sollte ihm zustimmen und dadurch
mithelfen, die Lebenssituation der Menschen zu verbessern.
({1})
XXL-Forderungen waren wir bisher von den Linken
gewöhnt. Jetzt kommen sie auch von den Grünen. Ich
frage mich, wie Sie sich die Umsetzung vorstellen. Die
Bautechniker werden schon aufgrund der 3,5 Milliarden
Euro für die Kommunen und der 10 Milliarden Euro auf
Bundesebene, die bereits als Investitionsprogramm vorgesehen sind, genug zu tun haben. Was über Jahrzehnte
aufgelaufen ist, wird man garantiert nicht in einem einzigen Jahr oder in einer Legislaturperiode abbauen können.
Meine sehr geehrten Damen und Herren von den Grünen und Linken, wenn Sie heute nicht zustimmen oder,
wie angedeutet, sich kraftvoll enthalten, dann werden
Sie damit auch der Entlastung der Kommunen nicht zugestimmt haben. Daran werden wir Sie auch immer wieder erinnern.
({2})
Für uns hat die Entlastung der Städte und Gemeinden
höchste Priorität. Das haben wir versprochen, und das
halten wir. Das zeigen wir heute, indem wir die Kommunen bis zum Jahr 2018 um insgesamt 25 Milliarden Euro
entlasten werden. Noch einmal zum Mitschreiben:
25 Milliarden Euro bis zum Jahr 2018.
Heute haben wir das massive Entlastungs- und Investitionspaket, insbesondere für finanzschwache Kommunen, aber auch die bereits angekündigten 10 Milliarden
Euro für Investitionen in Deutschland.
Ich will zu dem kommunalen Paket etwas sagen. Wir
stocken die bereits für 2017 beschlossene Entlastung von
1 Milliarde Euro auf insgesamt 2,5 Milliarden Euro auf.
Das eröffnet Spielräume für die Kommunen. Noch in
diesem Jahr stellen wir 3,5 Milliarden Euro für das Sondervermögen mit dem schwierigen Namen „Kommunalinvestitionsförderungsfonds“ bereit. Aus diesem Fonds
werden wir in den Jahren 2015 bis 2018 insbesondere finanzschwache Kommunen fördern, und zwar bis zu
90 Prozent. Ganz bewusst haben wir geringe Zielvorgaben gewählt, damit die Kommunen wirklich flexibel
handeln können und auch bereits geplante Maßnahmen
gefördert werden können. Entgegen Ihrer Aussage, Frau
Hajduk, wurden wir in der Anhörung ausdrücklich von
den Vertretern der Kommunen - Städtetag, Landkreistag - gelobt. Das ist bei weitem keine Nothilfe.
({3})
Die Länder können festlegen, welche Kommunen sie
als finanzschwach definieren. Sie können auch den
10-prozentigen Anteil der Kommunen übernehmen.
Jetzt bin ich einmal gespannt, wie die Länder agieren.
Ich bin vor allen Dingen darauf gespannt, wie sich mein
Land, Hessen, aus der Affäre ziehen will, um um die
10 Prozent herumzukommen.
Im Haushaltsausschuss haben wir einen Maßgabebeschluss gefasst, der insbesondere festhält, dass wir erwarten, dass die zur Verfügung gestellten Mittel unvermindert und zusätzlich an die Kommunen weitergegeben
werden. Das ist, denke ich, ein kluger Beschluss.
({4})
Ich hatte jetzt noch eine Aufzählung vorgesehen, was
wir alles gemacht haben; aber die lasse ich aus Zeitgründen weg.
Unbestritten stehen unsere Gemeinden vor großen
Herausforderungen. Wir wollen den Städten, Gemeinden
und den Landkreisen ganz konkret dabei helfen, diese
Zukunftsaufgaben zu schultern. Das gilt eben auch für
die aktuellen Flüchtlingsströme. Deshalb ist es gut, dass
sich im Nachtrag auch die Ergebnisse des Flüchtlingsgipfels widerspiegeln.
({5})
Denn die Fluchtursachen - Bürgerkriege, Terror, Armut werden sich nicht von heute auf morgen in Luft auflösen. Ja, wir brauchen tragfähige europäische Lösungen,
aber wir brauchen auch Lösungen vor Ort; denn die
Flüchtlinge stehen bei uns vor Ort in den Kommunen
und müssen dort versorgt werden.
Ich bin deshalb auch unseren Haushältern sehr dankbar, dass wir es gestern in unserer kleinen Bereinigungssitzung zum Nachtrag erreicht haben, noch weitere Mittel für die wichtige Flüchtlingsarbeit zu akquirieren.
Außer den 25 Millionen Euro für Integrationskurse wird
es jetzt noch 8 Millionen Euro für die Jugendmigration
geben und 4 Millionen Euro für Sprachkurse; Kollege
Kahrs hat es schon angesprochen. Auch das hilft den
Kommunen ganz konkret weiter.
Der Nachtrag trägt also eine eindeutige Handschrift,
es handelt sich um einen Haushalt zur Unterstützung der
Kommunen. Ich kann nur noch einmal an die Opposition
appellieren: Stimmen Sie einfach mit. Dann helfen Sie
auch, dass es den Menschen in den Kommunen besser
geht.
Danke schön.
({6})
Vielen Dank, Ulrike Gottschalck. - Der letzte Redner
in dieser Debatte: Stephan Mayer für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen! Sehr geehrte Kollegen! Wenn ein einfacher Innenpolitiker wie ich in einer Haushaltsdebatte sprechen
darf, dann muss schon etwas Besonderes passiert sein.
Das ist auch der Fall. Dieser Nachtragshaushalt 2015
weist einen klaren innenpolitischen Schwerpunkt auf.
Ich sage hier in aller Form: Danke an die Kolleginnen
und Kollegen im Haushaltsausschuss, die dies ermöglicht haben. Ich sage auch ein herzliches Dankeschön an
das Bundesfinanzministerium und das Bundesinnenministerium; denn dieser Nachtragshaushalt kann sich
gerade angesichts der großen innenpolitischen Herausforderungen, die wir derzeit haben, wirklich sehen lassen.
Führen wir uns noch einmal vor Augen: Wir hatten im
Jahr 2008 etwa 28 000 Asylbewerber in Deutschland.
Wir hatten dann vor zwei Jahren 127 000, im letzten Jahr
202 000 Erstanträge, und die für dieses Jahr aktualisierte
Prognose des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge lautet sage und schreibe 400 000, also noch einmal
eine Verdoppelung der Zahlen vom letzten Jahr. Deswegen ist es sachgerecht und auch wichtig, dass die Stellenzahl im Bundesamt für Migration und Flüchtlinge erhöht
wird.
Ich bin den Haushaltskollegen schon sehr dankbar dafür, dass für die Haushaltsjahre 2014 und 2015 insgesamt 650 zusätzliche Stellen geschaffen wurden. Ich
finde es auch sehr erfreulich, dass mit diesem Nachtragshaushalt beschlossen wird, dass noch einmal zusätzliche
750 Stellen im BAMF geschaffen werden. Das ist wirklich ein klares Signal dafür, dass der Bund sich seiner
Verantwortung im vollen Umfang bewusst ist und dass
er dieser Verantwortung gerecht wird.
({0})
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, im
Koalitionsvertrag steht, dass wir die durchschnittliche
Dauer von Asylverfahren auf drei Monate bringen wollen. Wir sind da schon auf einem sehr guten Weg. Die
derzeitige Verfahrensdauer liegt bei etwa sechs Monaten. Aber da gibt es - um dies offen zu sagen - noch Luft
nach oben oder, besser gesagt, nach unten.
({1})
Deswegen ist es richtig, dass diese 750 Stellen geschaffen werden.
Es ist dann aber auch wichtig - das möchte ich mit
diesem Dank verbinden -,
({2})
dass diese Stellen schnell besetzt werden. Man hört, dass
die 350 Stellen, die in diesem Jahr zusätzlich zur Verfügung stehen, noch nicht komplett besetzt worden sind.
Da glaube ich schon, dass von der Debatte heute der
starke Wunsch in Richtung BAMF ausgehen sollte: Bitte
sorgen Sie dafür, dass diese Stellen schnell mit Personal
unterfüttert werden!
({3})
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, es
ist ebenso gut und erfreulich, dass 25 Millionen Euro zusätzlich für Sprach- und Integrationskurse zur Verfügung
gestellt werden. Auch hier, glaube ich, kann sich das,
was der Bund macht, wirklich sehen lassen. Der Bund
stellt in diesem Jahr über 270 Millionen Euro für Sprachund Integrationskurse zur Verfügung. Das ist, glaube ich,
durchaus honorig. Darauf können wir auch stolz sein.
Stephan Mayer ({4})
Ebenso werden 4,3 Millionen Euro zusätzlich für
Dolmetscher zur Verfügung gestellt und 5 Millionen
Euro zusätzlich für die Bundespolizei, um die erforderlichen Rückführungen bzw. Abschiebungen durchführen
zu können.
Ich sage hier eines ganz offen: Der Bund wird mit
diesem Nachtragshaushalt in Sachen Asyl- und Flüchtlingspolitik seiner Verantwortung gerecht. Ich erwarte
jetzt aber auch von den Ländern, dass sie das Ihre tun.
Die Länder müssen jetzt auch tätig werden, wenn es darum geht, mehr Stellen bei den Ausländerbehörden und
mehr Stellen bei den Verwaltungsgerichten zu schaffen;
denn es reicht nicht, dass die Verfahren kürzer werden
und schneller durchgeführt werden. Wenn der Verfahrensbescheid des BAMF vorliegt, dann muss auch der
Ausweisungsbescheid schnell erstellt werden. Es darf
hier nicht ein Flaschenhals entstehen dergestalt, dass
zwar die Verfahren beschleunigt durchgeführt werden
und das BAMF beschleunigt tätig wird, dass sich aber
der Stau bei den Ausländerbehörden und bei den Verwaltungsgerichten vergrößert. Klarer Appell in Richtung
Länder: Mehr Stellen für die Ausländerbehörden und
mehr Stellen für die Verwaltungsgerichte!
({5})
Es ist wichtig - ein Großteil der Asylbewerber wird ja
abgelehnt -, dass dann auch die Abschiebungen zeitnah
erfolgen. Hierfür sind die Länder ebenso in der Verantwortung wie für die Erweiterung der Kapazitäten bei den
Erstaufnahmeeinrichtungen.
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, ich
möchte in aller Kürze noch einen zweiten innenpolitischen Schwerpunkt dieses Nachtragshaushalts ansprechen, der sich wirklich sehen lassen kann. Das ist die
Entscheidung, dass in den nächsten Jahren vom Bund
insgesamt 30 Millionen Euro zusätzlich zur Verfügung
gestellt werden zur Bekämpfung der Wohnungseinbruchskriminalität. Wohnungseinbruch ist ein Phänomen, das die Bürgerinnen und Bürger in Deutschland in
höchster Weise erschüttert. Im Durchschnitt wird in
Deutschland alle dreieinhalb Minuten in eine Wohnung
eingebrochen. Im letzten Jahr gab es die Rekordzahl von
152 000 Einbrüchen. Ich finde es gut - auch hierfür bin
ich den Kolleginnen und Kollegen im Haushaltsausschuss dankbar -, dass für dieses Jahr 10 Millionen Euro
und für die nächsten beiden Jahre jeweils noch einmal
10 Millionen Euro zur Verfügung gestellt werden. Damit
wird die KfW in die Lage versetzt, ein Sonderprogramm
zu starten, um sowohl Vermietern als auch Mietern zu
ermöglichen, mechanische oder elektronische Sicherungsmaßnahmen vorzunehmen. Ein herzliches Dankeschön für diese Maßnahme!
Ich glaube, man kann wirklich mit Fug und Recht behaupten: Der Bund und die Regierungskoalition machen
mit diesem Nachtragshaushalt deutlich, dass sie nicht
nur Sprüche klopfen, sondern auf die innenpolitischen
Herausforderungen effektiv und zeitnah reagieren.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({6})
Vielen Dank, Herr Mayer. - Damit schließe ich die
Aussprache.
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den von der
Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes
über die Feststellung eines Nachtrags zum Bundeshaushaltsplan für das Haushaltsjahr 2015. Der Haushaltsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksachen 18/4950 und 18/4951, den Gesetzentwurf
der Bundesregierung auf Drucksache 18/4600 in der
Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen
wollen, jetzt um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist damit
in zweiter Beratung angenommen bei Zustimmung von
CDU/CSU und SPD und Ablehnung von der Linken und
Bündnis 90/Die Grünen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich jetzt zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist angenommen bei Zustimmung von CDU/CSU
und SPD und Ablehnung von der Linken und Bündnis 90/Die Grünen.
Tagesordnungspunkt 8 b. Abstimmung über den von
der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur
Förderung von Investitionen finanzschwacher Kommunen und zur Entlastung von Ländern und Kommunen bei
der Aufnahme und Unterbringung von Asylbewerbern.
Der Haushaltsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/4975, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 18/4653
({0}) in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte
diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. Wer
stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält
sich? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung
angenommen bei Zustimmung von CDU/CSU und SPD
und Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen und der
Linken.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen - Sie wissen es -, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich
jetzt zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält
sich? - Der Gesetzentwurf ist angenommen bei Zustimmung von CDU/CSU und SPD und Enthaltung von der
Linken und Bündnis 90/Die Grünen.
Tagesordnungspunkt 8 c. Beschlussempfehlung des
Haushaltsausschusses zum Antrag der Fraktion Die
Linke mit dem Titel „Bundesverantwortung wahrnehmen - Kommunen bei Unterbringung von Flüchtlingen
und Asylbewerbern sofort helfen und Kosten der Unterkunft für Hartz-IV-Leistungsberechtigte schrittweise
übernehmen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/4118, den Antrag
der Fraktion Die Linke auf Drucksache 18/3573 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist die
Beschlussempfehlung angenommen bei Zustimmung
Vizepräsidentin Claudia Roth
von CDU/CSU, SPD und Bündnis 90/Die Grünen und
bei Ablehnung der Linken.
Tagesordnungspunkt 8 d. Beschlussempfehlung des
Haushaltsausschusses zum Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Heute für morgen investieren - Damit unsere Zukunft nachhaltig und gerechter wird“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/4974, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/4689 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen bei Zustimmung von CDU/CSU und SPD, Ablehnung von Bündnis 90/Die Grünen und Enthaltung der
Linken.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Kai
Gehring, Ekin Deligöz, Luise Amtsberg, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Deutschlandstipendium abschaffen - Stipendienförderung und Studienfinanzierung stärken
Drucksache 18/4692
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({1})
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Ich sehe keinen Widerspruch, ich höre keinen Widerspruch. Ich höre
vieles andere. Ich bitte Sie, sich nun auf die Debatte zu
konzentrieren. Dann ist das so beschlossen, dass Sie sich
konzentrieren.
Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort dem
Kollegen Kai Gehring von Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin, vielen Dank für die Konzentration. Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bildungschancen und der Zugang
zur Hochschule dürfen nicht von der sozialen Herkunft
oder vom Konto der Eltern abhängen.
({0})
Dieses Ziel ist längst noch nicht erreicht. Das zu ändern,
muss endlich politische Priorität werden. Wir brauchen
eine Hochschulpolitik und eine Studienfinanzierung, die
kein Talent zurücklassen.
({1})
Wir Grüne beantragen hier und heute, die Bundesmittel des erfolglosen Deutschlandstipendiums umzuwidmen; denn diese Mittel wären in BAföG und in Stipendien für Flüchtlinge viel, viel besser investiert.
({2})
Ich sage Ihnen auch, warum. Das Deutschlandstipendium trägt nichts dazu bei, dass unser Bildungssystem
durchlässiger wird. Kein Jugendlicher lässt sich dadurch
zu einem Studium motivieren; denn nahezu alle Geförderten studieren bereits länger als ein Semester. Eine sichere Studienfinanzierung wie durch das BAföG mit seinem klaren Rechtsanspruch motiviert zum Studieren.
Eine unsichere Stipendienlotterie tut das jedenfalls nicht.
({3})
Wir Grüne wollen, dass sich die Vielfalt der Gesellschaft auf dem Campus widerspiegelt und dass sich unsere Hochschulen sozial öffnen.
({4})
Dazu hat das Deutschlandstipendium aber ganz klar
nichts beigetragen. Auch deswegen brauchen wir es
nicht.
({5})
Es gibt nicht nur wahnsinnig wenige Deutschlandstipendien. Sie verteilen sich auch extrem ungleich auf die
Studienfächer. Mehr als die Hälfte ging an angehende
Ingenieure, Wirtschaftswissenschaftler und Informatiker.
Geisteswissenschaftler dagegen gingen fast leer aus. Für
Historiker standen bundesweit putzige 169 Deutschlandstipendien bereit. Eine solch einseitige Förderpraxis ist
weder chancengerecht noch leistungsgerecht.
({6})
Kritikwürdig sind auch die horrenden Verwaltungskosten. 2013 ist jeder fünfte Stipendien-Euro für Bürokratie draufgegangen. Die überbordende Bürokratie kritisiert auch der Bundesrechnungshof glasklar. Er
verlangt, die Durchführungskosten des Deutschlandstipendiums auf 10 Prozent zu reduzieren. Dem darf sich
die Koalition doch nicht länger verweigern.
({7})
Die Steuergelder für das Deutschlandstipendium sollten auslaufen, weil es vor allem ein absoluter Ladenhüter
ist. Von 2,7 Millionen Studierenden erhalten nicht einmal 0,8 Prozent ein Deutschlandstipendium. Dabei hatte
gerade die Union damals 8 Prozent als Ziel ausgegeben.
Da ist Ihnen nicht nur einfach ein Komma verrutscht.
Das ist vielmehr ein klarer Misserfolg.
({8})
Diese unrealistischen Regierungsziele führen dazu,
dass Jahr für Jahr Abermillionen Euro durch das
Deutschlandstipendium blockiert, aber am Ende nicht
verbraucht werden. Das ist ein Unding; denn an anderer
Stelle fehlt das Geld doch eindeutig, zum Beispiel bei
Stipendien an Flüchtlinge aus Kriegs- und Krisengebieten. Flüchtlinge brauchen hierzulande endlich einen
schnelleren Zugang zum BAföG; das haben wir Grüne
beantragt. Die Flüchtlinge brauchen aber auch dringend
mehr Stipendien. Allein 5 000 syrische Studierende haben sich im letzten Jahr beim DAAD um ein Stipendium
beworben. Dafür hat das Auswärtige Amt nur 200 Plätze
finanziert. Der Bedarf ist also weitaus höher als das Angebot. Bund und Länder müssen Stipendienprogramme
für Flüchtlinge dringend ausbauen. Das ist unbürokratische Hilfe. Das tut not, und das kommt an.
({9})
Dafür können Sie das Geld für das Deutschlandstipendium gewinnbringend einsetzen.
({10})
Für den einzelnen Geförderten ist das Deutschlandstipendium eine gute Sache; das werden Sie sicherlich
gleich erklären.
({11})
Eine Förderung mindestens im selben Umfang, dafür
aber dauerhaft, ermöglichen die bewährten Begabtenförderungswerke. Wir brauchen also keine staatlich finanzierte Doppelstruktur bei der Stipendienvergabe. Im
Übrigen haben sich Wirtschaftsverbände im letzten Jahrzehnt immer wieder dazu bereit erklärt, eine Stipendienkultur in Deutschland zu initiieren. Da kann ich nur sagen: Nur zu! Bieten Sie doch Stipendien an! Dazu bedarf
es keiner Extrasteuergelder, sondern nur der Eigeninitiative der Wirtschaft.
({12})
In die soziale Öffnung der Hochschulen zu investieren, das ist richtig gut angelegtes Geld. Daher war es gut,
dass wir Grünen in den Ländern mit wechselnden Partnern die unsozialen Studiengebühren abgeschafft haben.
Um mehr Studierenden der ersten Generation tatsächlich
den Weg auf den Campus zu ebnen, ist eine sichere Studienfinanzierung das A und O. Aber das BAföG ist seit
fünf Jahren nicht erhöht worden. Die Koalition stellt
Studierende bis ins Wintersemester 2016/2017 in die
Warteschleife.
Wir Grünen sagen: Das BAföG muss rauf, und zwar
sofort! Fördersätze und Freibeträge müssen unverzüglich um 10 Prozent steigen! Und: Geben Sie endlich Ihren Widerstand auf, die BAföG-Sätze regelmäßig anzupassen! Das muss jetzt kommen.
({13})
Unsere Anliegen sind eine verlässliche Studienfinanzierung und eine effektive Stipendienvergabe. Wechselnde CDU-Bildungsministerinnen haben eine Stipendiensuppe angerührt, die keiner auslöffeln will. Sie von
der SPD können ja seit zwei Jahren die Speisekarte mitbestimmen. Dann machen Sie das auch!
({14})
Nehmen Sie Ihren Koalitionspartner an die Hand, und
schaffen Sie mit uns Grünen und den Linken dieses unsinnige, ungerechte Pinkwart-Schavan-Gedächtnisstipendium ab, und stärken Sie mit uns die Studienfinanzierung für alle! Das wäre ein starker Beitrag zu
Chancengerechtigkeit für alle in unserem Land.
({15})
Vielen Dank, Herr Kollege Gehring, auch dafür, dass
die Redezeit vorbildlich eingehalten worden ist.
({0})
Ich weiß nicht, ob er ein Stipendium hatte, aber gelernt
hat er es.
({1})
Nächste Rednerin in der Debatte: Sybille Benning für
die CDU/CSU-Fraktion.
({2})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten
Damen und Herren auch auf der Tribüne! Aber ganz besonders: Meine lieben Kollegen von der Grünenfraktion!
({0})
Was soll dieser Antrag eigentlich? Sie wollen das
Deutschlandstipendium abschaffen?
({1})
Ist das Ihre Botschaft an etwa 22 000 Stipendiaten? Für
sie gibt es kein Stipendium mehr? Ist das Ihre Botschaft
an die vielen Förderer, die allein im letzten Jahr 24 Millionen Euro für das Stipendium gegeben haben: „Euer
Geld brauchen wir nicht mehr, wir wirtschaften wieder
ohne euch“?
({2})
Das kann doch wohl nicht wahr sein.
({3})
Es ist offenkundig, dass das Deutschlandstipendium
ein Erfolg ist. Dass es Kraft kostet, auch in Form von
Verwaltungskosten, ein neues, so nie dagewesenes Programm anzuschieben, das ist doch wohl klar.
({4})
Es ist wie mit neuen Schuhen: Zuerst drücken sie ein
bisschen, und dann müssen sie eingelaufen werden, damit man mit ihnen einen langen Weg laufen kann.
({5})
- Das ist auch nachhaltig.
Jetzt haben die Hochschulen die Strukturen aufgebaut, jetzt läuft es, und jetzt kommen Sie und sagen:
„Alles umsonst, zurück auf null“?
Wissen Sie eigentlich, dass der Bund mit dem
Deutschlandstipendium jetzt etwa doppelt so viele Studierende fördern kann wie vorher über die Begabtenstipendien? Dadurch, dass private Förderer wie Unternehmen, Stiftungen oder auch Privatpersonen die eine
Hälfte der Stipendien tragen, hat sich in der Tat eine
ganz neue Stipendienkultur in Deutschland etabliert,
({6})
eine privat-öffentliche Bildungspartnerschaft, etwas
ganz Neues. Gewöhnen Sie sich einmal daran!
({7})
Das ist sozusagen eine Stipendienkulturrevolution.
({8})
So ist es. Sie können ja mitmachen.
So vielfältig wie heute war die Geberseite noch nie.
Die Möglichkeit, mit überschaubaren Beiträgen ein
überschaubares Engagement zu leisten, lockt auch viele
Privatpersonen. Einige Universitäten bieten zum Beispiel auch Crowdfunding an, bei dem mehrere Spender
mit kleinen Beiträgen
({9})
einen Stipendiaten finanzieren. So werden Menschen erreicht, die zuvor kaum Kontakt oder gar keinen Kontakt
zur örtlichen Hochschule hatten.
({10})
Gerade diese Förderer sind oft besonders begeistert
von diesen engagierten Menschen, die sie sonst nie getroffen hätten. Und so wird auch die Hochschule ein
deutlich lebendigerer Teil der Zivilgesellschaft.
Bei den Veranstaltungen zum Deutschlandstipendium, zum Beispiel bei den Vergabefeiern, entstehen
jetzt neue Kontakte zwischen Studierenden, Universitäten und Spendern,
({11})
von denen alle Seiten profitieren. Hier heißt mitmachen:
gemeinsam gewinnen - ganz nach dem Motto des
Deutschlandstipendiums „Voneinander lernen, miteinander fördern“.
Viele Unternehmen bieten ihren Stipendiaten zusätzlich zu den finanziellen Mitteln Einblicke in ihre Betriebe. Es entwickeln sich Netzwerke, die in die Region
und darüber hinaus auch global wirken. Studierende verschiedener Fächer finden über Projektarbeit zueinander,
und durch Verknüpfungen zwischen Wissenschaft und
Wirtschaft sowie Privatleuten bilden sich völlig neue
Synergieeffekte.
Aber wer bekommt eigentlich ein Deutschlandstipendium? Jemand, der überdurchschnittliche Leistungen erbringt, und zwar nicht nur in seinem Studienfach.
({12})
Die Stipendiaten sind ehrenamtlich engagiert oder in
vielen Fällen der erste Studierende in der Familie oder
familiär stark eingebunden oder erst kürzlich nach
Deutschland gekommen, mussten dazu möglicherweise
sogar Hindernisse überwinden und die deutsche Sprache
lernen. Das sind alles Leistungen, die nicht mit Noten zu
bewerten sind.
Diese Leistungen einmal anzuerkennen, ist auch eine
Frage der Gerechtigkeit. Hier werden nämlich Menschen
mit Talenten erkannt, die noch andere Kompetenzen haben, die ebenso elementar wichtig sind wie fachspezifische Begabung.
({13})
Unser Land, wir brauchen Menschen mit Persönlichkeit
und einem Sinn für das, was unsere Gesellschaft voranbringt.
({14})
Gerade die Anerkennung durch das Stipendium - so
haben mir viele erzählt - stärkt ihr Selbstbewusstsein
und ihre Motivation, diese hohe Leistung weiterhin zu
bringen. Auch wenn 300 Euro niemanden voll finanzieren, so machen sie doch oft den entscheidenden Unterschied aus, ob ein Nebenjob nötig ist, ein Auslandssemester drin ist oder die Belegung von Kursen über den
normalen Lehrplan hinaus möglich ist. All das wollen
Sie den Deutschlandstipendiaten, den Förderern und den
Hochschulen wieder nehmen.
({15})
Meine Damen und Herren, die Westfälische
Wilhelms-Universität in meinem Wahlkreis Münster
verzeichnet in diesem Jahr mit 223 Stipendiaten, die von
84 Förderern unterstützt werden, einen neuen aktuellen
Rekord. Hier erfolgt die verantwortungsbewusste Auswahl der Stipendiaten zentral unter Beteiligung aller
Fachbereiche. Für die Uni Münster ist dieses Verfahren
ein Stück gelebte demokratische Kultur.
({16})
Gerne weise ich darauf hin, dass die erste Initiative
für ein paritätisch gefördertes universitäres Stipendium
aus Nordrhein-Westfalen kam.
({17})
Weil das NRW-Stipendium so ein großer Erfolg war,
wurde es vom Bund übernommen. Mittlerweile - das
wissen Sie auch - beteiligen sich drei Viertel aller Hochschulen an diesem Programm. Rund 90 Prozent aller
Studierenden können sich an ihrer Hochschule um ein
Stipendium bewerben.
({18})
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, die Evaluation zum Deutschlandstipendium läuft;
das wissen Sie. Das Stipendium ist jetzt gerade einmal
im fünften Jahr.
({19})
Eine Evaluation zu einem früheren Zeitpunkt hätte doch
wenig Sinn gemacht.
Aber jetzt komme ich gerne zu Ihrem Antrag. Das Stipendium sei bürokratisch? Die Verwendung öffentlicher
Mittel verlangt Transparenz, und dazu gehört eben auch
ein wenig Bürokratie.
({20})
Die Uni Münster macht hier übrigens die Erfahrung einer sehr konstruktiven Zusammenarbeit - hören Sie
doch einfach einmal zu! - mit dem zuständigen Landesministerium in Düsseldorf. Frau Ministerin Löhrmann
ist, wie Sie wissen, bei den Grünen. Vielleicht könnten
Sie sich einmal intern austauschen, was das Deutschlandstipendium Gutes mit sich bringt.
Ist das Stipendium ungerecht - wenn sich alle bewerben können, gleich welcher Herkunft, gleich welchen
Einkommens und gleich welchen Studienfaches? Die
Zahl der BAföG-Empfänger ist unter den Deutschlandstipendiaten übrigens etwa genauso hoch wie im allgemeinen Durchschnitt aller Studierenden.
Ich komme zu dem Punkt, dass Sie sagen, das Stipendium bringe keine Motivation für ein Studium. Also, die
Motivation für ein Studium muss der Student doch erst
einmal selbst mitbringen.
({21})
Das Deutschlandstipendium ist darauf ausgerichtet,
junge Menschen, die sich bereits für ein Studium entschieden haben, zu unterstützen. Und hier erweist sich
das Deutschlandstipendium, anders als Sie es sagen, als
äußerst tauglich.
Sie fordern, die für das Deutschlandstipendium verwendeten Gelder zusätzlich in die BAföG-Mittel zu stecken. Das ist aber meiner Ansicht nach Gießkannenprinzip mit dem monokausalen Auswahlprinzip der
Einkommensgrenzen.
({22})
Das Deutschlandstipendium berücksichtigt verschiedene
Kriterien bei der Vergabe und belebt dadurch auch die
Diversität der Stipendiaten.
Sie fordern - das haben Sie eben auch in Ihrer Rede
gemacht -, die Mittel für geflüchtete Studierende aus
Kriegs- und Krisengebieten zu verwenden
({23})
und dabei die soziale Situation der Flüchtlinge zu berücksichtigen. Vielleicht ist Ihnen aufgefallen, dass genau diese - im Hinblick auf ein Studium biografischen Hürden bei der Auswahl zum Deutschlandstipendium
insbesondere Berücksichtigung finden.
({24})
Liebe Zuhörer, vor zwei Tagen war hier in Berlin die
Jahrestagung zum Deutschlandstipendium. Ich habe niemanden von Ihnen da gesehen. Wie schade.
({25})
Sie hätten Dinge erfahren können, die Sie vielleicht gar
nicht erfahren wollen.
({26})
Sie hätten zum Beispiel erfahren können, dass die Hochschulen über diese neue Aufgabe auch einen neuen Blick
auf die vielen Menschen gewinnen, die mit all ihren Facetten zu ihnen kommen, und dass sich die Hochschulen
bei der Auswahl der Stipendiaten nicht reinreden lassen
- das haben sie mehrfach gesagt -, auch nicht von den
Förderern.
({27})
Und den Stipendiaten respektive den Wissenschaftlern
liegt das auch fern.
({28})
Mehrfach habe ich den Satz gehört: Wissenschaftler ticken gar nicht so. - Ich habe zum Beispiel auch erlebt,
dass Stipendiaten eigene Projekte entwickeln, um, wie
sie sagen, etwas zurückzugeben. Sie wollen nicht nur
Empfänger des Geldes sein, sondern dafür etwas tun.
Der Stifterverband hatte dazu einen Wettbewerb ausgelobt unter dem Motto: Macht was draus! Und das haben
sie alle gemacht. Die Sieger wurden ausgezeichnet. Zum
Beispiel dafür, dass sie in Brennpunktschulen gehen und
Schülern die Schwellenangst vor der Uni nehmen; dass
sie für Menschen in Ruanda dafür sorgen, dass im Krankenhaus nicht nur Medikamente, sondern auch Essen
verteilt wird, und dass Flüchtlingskinder dabei unterstützt werden, Musik- und Sportangebote wahrzunehmen.
Frau Benning, denken Sie an die Redezeit.
Das ist ehrenamtliches Engagement, das wir alle nicht
hoch genug schätzen können. Unsere Gesellschaft
braucht nicht noch mehr Selbstoptimierer, sondern Menschen, die über den Tellerrand schauen und sich für andere einsetzen, hier und anderswo. Genau solche Menschen erreicht das Deutschlandstipendium. Was Sie als
Ladenhüter bezeichnen, ist unter Studierenden höchst
begehrt.
({0})
Es gibt weit mehr Bewerber als Stipendien, weswegen
die Quote noch deutlich steigerungsfähig ist. Was wir
jetzt brauchen, sind mehr Stipendiengeber aus Wirtschaft und Gesellschaft.
({1})
Und die brauchen vor allem die Sicherheit, dass ihr Einsatz auch in Zukunft gefragt ist. „Perspektive für alle“ ist
hier das Stichwort.
({2})
Deshalb ist Ihr Antrag in jeder Hinsicht kontraproduktiv.
Aber er hat uns diese Debatte beschert.
Frau Kollegin.
Vielleicht, nein, hoffentlich trägt sie dazu bei, dass
das Stipendium deutlich bekannter wird und mehr potenzielle Förderer überzeugt werden,
({0})
bei dieser Chance für alle - eine echte Win-win-Möglichkeit - mitzumachen. Dann hätte sich die Mühe gelohnt.
Vielen Dank.
({1})
Danke, Frau Kollegin Benning. - Nächste Rednerin:
Nicole Gohlke für die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Vor fünf
Jahren wurde das Deutschlandstipendium von der damaligen schwarz-gelben Bundesregierung aus der Taufe
gehoben. Es hieß, man wolle die Studienfinanzierung
endlich zukunftstauglich machen und die 10 Prozent
leistungsstärksten Studierenden zusätzlich und einkommensunabhängig mit 300 Euro monatlich fördern.
150 Euro sollte ein privater Stipendiengeber oder ein
Unternehmen geben, 150 Euro sollte der Bund dazulegen.
Kolleginnen und Kollegen, ich finde es wichtig, sich
noch einmal in Erinnerung zu rufen, worum es 2010
ging. Es ging um nichts Geringeres als darum, dass die
FDP im Schlepptau mit der Union den Einstieg in eine
andere Form der Studienfinanzierung durchdrücken
wollte,
({0})
und zwar in eine - um es ganz klar zu sagen - Elitenförderung auf Kosten der Breite. Und deswegen hat die
Linke dazu von Anfang an Nein gesagt.
({1})
- Und die Grünen auch.
({2})
- Und die SPD auch. Darauf kommen wir gleich noch
einmal zu sprechen.
Fünf Jahre später müssen wir feststellen: Die ganzen
Pläne von damals erweisen sich als kolossaler Reinfall.
Im Grunde ist das alles grandios gescheitert, die FDP
übrigens gleich als ganze Partei, die für ihre elitäre Politik abgestraft wurde,
({3})
und das Deutschlandstipendium gleich mit ihr; denn jedes Jahr stellen wir fest, dass es weit hinter den Erwartungen zurückbleibt und eine völlige Fehlkonstruktion
ist. Gerade einmal 0,8 Prozent der Studierenden - um
genau zu sein: 0,76 Prozent - wurden im Jahr 2013 damit gefördert. Die Hochschulen finden kaum Stipendiengeber und müssen mühsam und mit massivem bürokratischem Aufwand Bittbriefe an Unternehmen in der
Region verschicken. Der Bundesrechnungshof kritisiert
das Deutschlandstipendium regelmäßig für die ausufernden Verwaltungskosten und für die Verschwendung von
Steuergeldern. Da fragt man sich: Warum hält die jetzige
Regierung, an der auch die SPD beteiligt ist, an diesem
Projekt fest?
({4})
Wenn wir auf eine Sache gut verzichten können, dann ist
es doch wohl noch mehr Elitenförderung in der Bildung!
Denn hinter dem Deutschlandstipendium, das von
Schwarz-Gelb seinerzeit als „zukunftstauglich“ etikettiert wurde, verbirgt sich doch in Wahrheit ein völlig antiquiertes Politik- und Bildungsverständnis. Dahinter
steht die Idee, dass reiche Gönner und Mäzene wenigen
von ihnen auserkorenen Begünstigten Unterstützung auf
ihrem Bildungsweg zukommen lassen. Kolleginnen und
Kollegen, das ist das Gegenteil von Chancengleichheit.
Das ist das Gegenteil von Rechtsanspruch auf Bildung.
Deswegen gehört dieser Blödsinn abgeschafft!
({5})
Es gibt noch einen weiteren Aspekt. Um überhaupt
Geldgeber zu finden, werden den Stiftern immer wieder
erhebliche Mitspracherechte bei der Auswahl der Stipendiatinnen und Stipendiaten zugestanden. Das erklärt
auch, warum die meisten Geförderten in MINT-Fächern,
in den Ingenieurs- und Naturwissenschaften, oder in der
BWL zu finden sind.
({6})
Von einer gleichen Behandlung der Studierenden und
davon, dass nur Leistung und Engagement zählen, kann
offensichtlich nicht die Rede sein.
({7})
Die Laufzeit einer Förderperiode beim Deutschlandstipendium beträgt nur ein Jahr; das heißt: Nach einem
Jahr wird geprüft, ob die Stipendiatinnen und Stipendiaten immer noch „leistungsstark“ und „förderungswürdig“ genug sind. Der Stipendiengeber entscheidet erneut,
ob die Förderung überhaupt aufrechterhalten werden
soll. Für die Studierenden bedeutet das Unsicherheit und
Abhängigkeit statt Planungssicherheit. Dann haben die
Stipendiengeber und Unternehmen auch noch die Möglichkeit, ihren Anteil von 150 Euro steuerlich abzusetzen, geben also de facto nur 100 Euro.
Ich finde es, ehrlich gesagt, unerträglich, trotz der genannten Rahmenbedingungen ständig die großartige
Spendenbereitschaft der Stifter zu loben, wie das vor allem die Union tut. Wenn Sie Unternehmen und Reiche
an der Finanzierung von Bildung beteiligen wollen, dann
erhöhen Sie doch einfach den Spitzensteuersatz.
({8})
Besteuern Sie große Vermögen, statt aus dem Rechtsanspruch auf Bildung in Wahrheit eine Charity-Veranstaltung zu machen.
({9})
Halten wir also fest: Das Deutschlandstipendium ist
weder bedarfsdeckend noch planungssicher für die Studierenden. Für die Hochschulen ist es teuer und ein unverhältnismäßig hoher Verwaltungsaufwand. Der Staat
verpulvert Steuergelder. Von der Förderquote her ist das
Deutschlandstipendium weit davon entfernt, einen substanziellen Beitrag zur Studienfinanzierung in der Bundesrepublik zu leisten.
Kolleginnen und Kollegen von der Regierung, ich
kann mir nicht vorstellen, dass Sie noch Argumente haben, die diese traurige Bilanz wettmachen könnten.
Trennen Sie sich von Ihrem misslungenen Eliteprojekt!
Machen Sie den Weg frei für sinnvolle Projekte und für
eine echte und substanzielle BAföG-Reform, die wir seit
Jahren anmahnen!
Vielen Dank.
({10})
Vielen Dank, Frau Kollegin Gohlke. - Nächste Rednerin in der Debatte: Marianne Schieder für die SPDFraktion.
({0})
Liebe Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe
Kollegen! Ja, es ist so: Das Deutschlandstipendium war
und ist kein Lieblingsprojekt der SPD-Bundestagsfraktion.
({0})
Von Anfang an standen wir diesem neuen Förderinstrument absolut kritisch gegenüber. Wir haben unsere Argumente in die parlamentarischen Beratungen eingebracht. Wir haben uns dafür ausgesprochen, die hierfür
eingeplanten Mittel lieber dem BAföG zuzuschreiben;
das leugnen wir ja gar nicht.
({1})
Wenn ich Bilanz ziehe, stelle ich fest: Unsere Bedenken sind keineswegs ausgeräumt. Im Gegenteil: Sie haben sich leider vielfach bestätigt. Denn es ist wahr: Der
Erfolg bleibt weit hinter den Erwartungen zurück.
({2})
Von 2010 bis 2012 wurden 56,7 Millionen Euro für
das Deutschlandstipendium eingeplant, aber nur
25,3 Millionen Euro wurden abgerufen, also nicht einmal die Hälfte der Mittel. In den Jahren 2013 und 2014
wurde wiederum nur gut die Hälfte der Mittel abgerufen.
Für 2015 sind 47,4 Millionen Euro eingestellt, aber mit
Stand vom 10. Mai dieses Jahres waren erst 11,8 Millionen Euro davon verplant.
({3})
Zur Erinnerung: Das ursprüngliche Ziel von SchwarzGelb war, im Jahr 2011 0,45 Prozent der Studierenden zu
erreichen und 2012 1 Prozent der Studierenden. 2011
waren es aber nur 0,25 Prozent und 2012 0,6 Prozent.
2013 stieg der Anteil immerhin auf 0,75 Prozent.
({4})
Zurzeit, so sagt man uns, liegt der Anteil bei ungefähr
1 Prozent.
({5})
In absoluten Zahlen sind dies etwa 20 000 Studierende
von rund 2,7 Millionen. Da kann man sich wirklich fragen: Für so wenige? Ich sage: All diejenigen, die Kritik
üben, haben recht.
({6})
Deswegen
({7})
war es, lieber Herr Kollege Gehring, doch auch folgerichtig - zuhören ist auch gut -, dass wir im Koalitionsvertrag die ursprüngliche Zielmarke von 8 Prozent auf
2 Prozent korrigiert haben.
({8})
Natürlich sagen auch wir: Der Durchführungsaufwand ist zu hoch.
({9})
Man sagt uns aus dem Ministerium, 2014 sei er immerhin auf 20 Prozent reduziert worden. Aber das ist immer
noch zu viel, weil man normalerweise von 5 Prozent
Durchführungsaufwand ausgehen kann. Zu Recht kritisiert dies natürlich auch der Bundesrechnungshof.
Auch unsere Befürchtungen, dass es in strukturschwachen Regionen schwieriger sein dürfte, die nötigen Mittel einzuwerben, haben sich bestätigt. Ich sage
einmal die Zahlen aus Bayern: Von all den in Bayern
vergebenen Stipendien konzentrieren sich 44,6 Prozent
auf drei Universitäten, nämlich auf die LMU München,
auf die TU München und auf die Universität ErlangenNürnberg.
({10})
An diesen Universitäten studieren aber nur 36,7 Prozent
der Studentinnen und Studenten.
Es ist auch richtig, was der Kollege Gehring angesprochen hat: Es gibt eine total einseitige Konzentration
auf die MINT-Fächer. Man lässt ein bisschen noch mitlaufen die Rechts- und Betriebswissenschaften; aber die
Geisteswissenschaften bleiben weit zurück. Also, das
gefällt uns nicht.
({11})
Aber in den Koalitionsverhandlungen war es halt so,
dass wir vereinbart haben, beim Deutschlandstipendium
zu bleiben und zu schauen, ob wir auf dem Weg, den wir
mit dem Deutschlandstipendium beschritten haben, nicht
die dringend erforderlichen Verbesserungen erreichen
können. Ich glaube nicht, dass es großen Sinn macht,
wie Sie von Bündnis 90/Die Grünen es fordern, jetzt
mittendrin einfach umzukehren.
({12})
Sie müssen, wenn Sie über Studienförderung und Studienfinanzierung sprechen, auch anerkennen, dass wir in
der Großen Koalition nicht nur vereinbart haben, dass
Hochschulen bis zu 2 Prozent ihrer Studierenden mit einem Deutschlandstipendium fördern können, sondern
auch, dass wir eine erhebliche, wirklich merkliche Verbesserung im Bereich des BAföGs auf den Weg bringen.
({13})
Die Freibeträge und die Bedarfssätze werden angehoben, der Wohnungszuschlag, die Kinderbetreuungszuschläge, die Hinzuverdienstgrenze, der Förderungshöchstsatz steigen, die Förderungslücke zwischen
Bachelor- und Masterstudium wurde geschlossen, und
die Antragstellung ist verbessert worden. Also: Sie
können versichert sein, dass für uns Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten das BAföG ein Erfolgsmodell ist und bleibt und dass das BAföG auch das
Kernstück sozialdemokratischer Bildungspolitik bleiben
wird,
({14})
weil auch wir natürlich erkennen, dass das BAföG einen
Rechtsanspruch schafft
({15})
und eine verlässliche, berechenbare Angelegenheit ist
für junge Menschen, die aus sozial schwächeren und
bildungsferneren Elternhäusern kommen. Denn für uns
Sozialdemokraten steht nach wie vor fest, dass Bildung
nicht vom Geldbeutel der Eltern abhängig sein darf,
({16})
und wir erkennen doch alle miteinander, dass wir von
diesem Ziel noch weit, weit entfernt sind, dass diese Abhängigkeit vom Geldbeutel der Eltern im gesamten BilMarianne Schieder
dungssystem und auch an den Universitäten natürlich
nach wie vor zu erkennen ist.
({17})
Aber zurück zum Deutschlandstipendium. Mir fällt da
nur Konfuzius ein, der einmal gesagt hat: Der Weg ist
das Ziel. - Ich räume ein: Es ist ein steiniger Weg, den
wir da gehen müssen, um auch beim Deutschlandstipendium die nötigen Verbesserungen noch zu erreichen,
diesen Weg begehbarer zu machen. Aber ich hoffe, wir
schaffen es und kommen dann doch zu einem guten Ziel.
Vielen Dank.
({18})
Für die Unionsfraktion spricht jetzt die Kollegin
Cemile Giousouf.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Nicht das Deutschlandstipendium ist der Ladenhüter, sondern Ihre immer gleiche, öde Forderung,
dieses Stipendium abzuschaffen.
({0})
Mein freundschaftlicher Appell an Sie lautet deshalb:
Lassen Sie sich mal was Neues einfallen,
({1})
erweitern Sie Ihr Sortiment, und schmeißen Sie den alten
Antragsramsch einfach raus. Geben Sie sich doch einfach mal einen Ruck.
({2})
Vor allem aber: Sprechen Sie mit den Studenten, reden
Sie mit den Stipendiatinnen und Stipendiaten. Fast
20 000 Deutschlandstipendien
({3})
wurden im Jahr 2013 vergeben; gegenüber dem Vorjahr
ist das ein Plus von 42 Prozent. Da müssen Sie noch
nicht einmal Stipendiat sein, um zu erkennen, dass das
ein enormer Anstieg ist, Herr Gehring.
({4})
Bundesweit beteiligen sich etwa drei Viertel aller
Hochschulen an dem Programm. Allein an privaten Fördermitteln sind 2013 weitere 21 Millionen Euro für das
Deutschlandstipendium hinzugekommen. Das heißt, hier
haben sich Menschen freiwillig bereit erklärt, aus ihren
privaten Mitteln Geld in die Hand zu nehmen, um junge
Studierende zu unterstützen.
({5})
Diese Zahlen zeigen deutlich: Das Deutschlandstipendium ist in Wahrheit ein Bestseller.
({6})
Es gehört heute genauso an die Universitäten und Fachhochschulen wie ihre vegetarischen Gerichte in der
Mensa oder die Subventionierung von Projekten durch
den AStA.
({7})
Sehen Sie, ich versuche sogar, einen Schritt auf Sie
zuzugehen, indem ich Ihren Lebensweltbezug herstelle.
Aber Sie protestieren, und genau deshalb wäre die Begabtenförderung bei Ihnen schlecht aufgehoben, weil bei
Ihnen die Politik nicht mit der Betrachtung der Realität
beginnt, sondern weil bei Ihnen nur Ihre eigene Klientel
bedient wird.
({8})
Ich will jetzt zu Ihrem Antrag Stellung nehmen. Sie
fordern darin die Bundesregierung auf, die Bundesmittel
aus dem Deutschlandstipendium zu nutzen, um das
BAföG zu finanzieren. Liebe Grüne, noch einmal zum
Mitschreiben: Die Bundesregierung hat in einem großen
Kraftakt die gesamten Kosten für das BAföG ab diesem
Jahr übernommen. Sie waren doch gestern auch bei dem
Fachgespräch dabei, bei dem nochmals das offensichtliche Versagen einiger Bundesländer deutlich wurde.
({9})
Allein Nordrhein-Westfalen spart durch die Kostenübernahme jedes Jahr knapp 280 Millionen Euro.
({10})
Wir warten noch heute auf eine sinnvolle Antwort auf
die Anfrage unseres AG-Vorsitzenden Albert Rupprecht,
was NRW mit den Geldern denn machen will.
({11})
Sorgen Sie als Koalitionspartner in Düsseldorf doch dafür, dass diese Gelder in den Hochschulbereich investiert
werden.
({12})
Bei Rot-Grün versickern die Millionen im Schuldenloch.
Da können Sie doch aktiv werden.
Nun weiter zu Ihrem Antrag. Sie schreiben, Ihnen
fehlten verlässliche Zahlen zur sozialen Herkunft der
Stipendiaten. Alle Experten sagen: Das Deutschlandstipendium ist von allen Stipendien das mit der größten sozialen Streuung.
({13})
Bei der Bewertung spielen nicht nur die Leistung, sondern auch die persönlichen und familiären Lebensumstände eine entscheidende Rolle. Hierzu zählen etwa
Krankheiten, Behinderungen, die Betreuung eigener
Kinder oder pflegebedürftiger Angehöriger und eben ein
sogenannter Migrationshintergrund.
({14})
Außerdem haben Studierende, die sich gesellschaftlich
engagieren, gute Chancen, ein Stipendium zu erlangen.
Die Studierenden machen übrigens großartige Projekte
für Flüchtlinge. Schauen Sie sich das einmal an. Das
wird Ihnen sicher sehr gefallen.
({15})
Am Dienstag fand die Jahresveranstaltung zum
Deutschlandstipendium statt. Dort hat die Präsidentin
der Goethe-Universität, Frau Professorin Wolff, gesagt,
dass an ihrer Hochschule 40 Prozent der Stipendiaten
keinen akademischen Hintergrund haben, also sogenannte Erstakademiker sind, und dass 25 Prozent aus
Migrantenfamilien stammen. Der Anteil der BAföGEmpfänger unter den Stipendiaten beträgt ein Viertel,
und das Stipendium wird eben nicht auf das BAföG angerechnet. So viel zum Thema „soziale Durchlässigkeit“.
Vor allem aber wird das Deutschlandstipendium auch
an den Fachhochschulen angeboten, die in der Begabtenförderung bisher unterrepräsentiert sind. An Fachhochschulen studieren nämlich viele junge Leute aus nichtakademischen Elternhäusern. Daher ist der Antrag der
Grünen auch ein Stück unsoziale Klientelpolitik.
({16})
Gehen Sie doch einmal an die Universitäten und
Fachhochschulen.
({17})
In Ihrem Wahlkreis, Herr Gehring - ich habe mir sogar
die Mühe gemacht, das herauszusuchen -, bekommen
489 Studierende ein Deutschlandstipendium. Deshalb
hat die Uni den Ruf einer Kümmer-Uni erworben.
({18})
Millionärssöhne und -töchter: Fehlanzeige! Das ist doch
eine gute Sache. Freuen Sie sich doch darüber. Oder
wollen Sie diesen jungen Menschen erzählen, dass sie
das Stipendium eigentlich nicht verdient haben?
({19})
Eine Stipendiatin aus meinem Wahlkreis ist Mutter
von drei Kindern. Sie hat zehn Jahre als Sozialpädagogin
gearbeitet und studiert jetzt an der Fernuniversität Hagen
Jura. Ich zitiere die dreifache Mutter:
Mich macht das Stipendium stolz. Es motiviert
mich. Es ist mir ein großes Bedürfnis, Ihrem Vertrauen gerecht zu werden. Es hilft mir über manche
Hindernisse. Es fordert mich auch heraus.
Wir von der CDU/CSU vertrauen dieser Leistungsträgerin. Wir unterstützen ebendiesen Weg.
Sie monieren dann, es würden zu wenige Geisteswissenschaftler unterstützt, es gebe nur 169 Historiker unter
den Stipendiaten, dafür gebe es zu viele aus technischen
Berufen. Davon abgesehen, dass es bei den Begabtenförderwerken eben genau anders aussieht,
({20})
braucht unser Land Physiker, Informatiker und Ingenieure. Der Strom kommt nicht aus der Steckdose, liebe
Kolleginnen und Kollegen von den Grünen. Sorgen Sie
lieber dafür, dass der Geschichtsunterricht in den Ländern, in denen Sie regieren, überhaupt noch stattfindet,
Stichwort: „Unterrichtsausfall“, Stichwort: „linke Experimente“ bei den Lehrplänen. Da haben Sie doch wirklich genug zu tun.
({21})
Natürlich sind konkrete Projekte, die für die Wirtschaft interessant sind, vorwiegend in den MINTFächern zu finden, und wir wollen auch, dass Universitäten und die Wirtschaft noch enger kooperieren. Gerade
in strukturschwachen Regionen, wo die jungen Leute
scharenweise abwandern, kann die frühe Anbindung an
die Wirtschaft helfen, dass die Fachkräfte dort bleiben,
wo sie ausgebildet werden. Das bietet Perspektiven für
die Studenten, aber auch für die Regionen.
Der letzte Punkt in Ihrem Antrag hat mich richtig geärgert. Als Integrationsbeauftragte meiner Fraktion finde
ich es schon sehr kritikwürdig, dass Sie die Stipendienförderung für geflüchtete Studierende in Ihren Antrag
auch noch mit hineinpacken.
({22})
Ich sage Ihnen auch, warum: Wir sollten nicht auf so
vordergründige Weise über dieses Thema sprechen.
Dafür ist dieses Thema wirklich viel zu wichtig. In Anträgen, die in Wahrheit Ladenhüter sind, hat es nichts
verloren.
Lassen Sie mich zusammenfassen: Wir von der Union
kümmern uns seit 2005 darum, die Dinge besser zu machen. Wir danken den privaten Geldgebern, den Hochschulen und natürlich dem Bildungsministerium für den
Einsatz, und wir beglückwünschen die Stipendiaten zu
ihren hervorragenden Leistungen. Eins sagen wir aber
auch deutlich: Nur die CDU/CSU ist Garant für das
Deutschlandstipendium.
Vielen Dank.
({23})
Abschließender Redner in dieser Aussprache ist der
Kollege Martin Rabanus für die SPD.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
will mit zwei Vorbemerkungen einsteigen. Wir haben
jetzt viel über das Deutschlandstipendium gehört. Meine
Kollegin Schieder hat die kritische Position der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion dazu deutlich gemacht; das brauche ich nicht zu wiederholen. Ich habe
mir auch notiert, dass ich eigentlich nichts über Kompromissfindungen in Koalitionsverhandlungen erzählen
muss. Nach dem Beitrag von Frau Gohlke kommt mir
das anders vor. Jetzt muss ich doch noch etwas zu der
Frage sagen, wie Koalitionsverhandlungen laufen und
wie Koalitionsverträge zustande kommen. Wenn es daran liegt, dass die Linke so selten Koalitionsverhandlungen führt, dann soll mir das auch recht sein. Denn jede
Koalition, an der die Linke nicht beteiligt ist, ist für mich
eine gute Koalition.
({0})
Das war die erste Vorbemerkung.
Die zweite Vorbemerkung ist: Wir sollten nicht so
tun, als würde eine Abschaffung des Deutschlandstipendiums die Finanzierung des Hochschulwesens insgesamt
retten, lieber Kollege Gehring. Wir stellen völlig zu
Recht fest, dass das Deutschlandstipendium vielleicht
nicht ganz so viele PS auf die Straße gebracht hat, wie es
Schwarz-Gelb irgendwann einmal dachte,
({1})
und dass der Mittelabfluss, wie auch Kollegin Schieder
deutlich gemacht hat, ausgesprochen bescheiden ist.
Wir müssen allerdings auch feststellen, dass eine anderweitige Verwendung der bescheidenen Summe die
Hochschulfinanzierung in dieser Republik am Ende des
Tages nicht rettet ({2})
genauso wenig, wie das Deutschlandstipendium die
Qualität des deutschen Hochschulsystems an sich sicherstellen kann. Da würde ich dazu raten, ein bisschen abzurüsten.
({3})
Denn es ist doch zu deutlich, was der Antrag bringen
soll.
({4})
Er kommt jetzt, in der Woche, in der die Jahrestagung
zum Deutschlandstipendium stattgefunden hat. Es ist
also der Versuch der Opposition, den Windschatten zu
nutzen und irgendwie in der Berichterstattung darüber
vorzukommen. Das ist ja legitim.
({5})
- Das mag auch gelungen sein; aber mehr ist es auch
nicht. ({6})
Dennoch finde ich das Vorgehen der Opposition eigentlich schade; denn ich halte eine profundere Debatte über
das Stipendienwesen, das wir in Deutschland haben, für
durchaus angemessen.
({7})
Klar, das Deutschlandstipendium ist jetzt der Aufhänger; aber wir haben ja mehrere Instrumente. Das
Aufstiegsstipendium wird im Antrag wenigstens genannt. Irgendwo, unter Punkt 3, kommt auch die Begabtenförderung vor. Aber zu meinem Bedauern habe ich
von einem Weiterbildungsstipendium beispielsweise gar
nichts gelesen. Dabei geht es doch gerade um dieses Instrument. Wir diskutieren so viel über die Gleichwertigkeit von beruflicher und akademischer Bildung, wir diskutieren so viel über gleiche Förderbedingungen, und
dann wird das zentrale Stipendieninstrument, das wir im
Bereich Weiterbildung haben, das seit fast 25 Jahren in
Deutschland erfolgreich ist und inzwischen über
100 000 Menschen erreicht hat, in einem solchen Antrag
noch nicht einmal erwähnt.
({8})
Daran sieht man, was Sinn und Zweck dieses Antrages
ist: Das ist eben nicht der Versuch, eine strukturierte Debatte anzustoßen, sondern das ist der Versuch, mit einer
alten Wurst sozusagen noch ein bisschen grünen Duft zu
verbreiten. Das finde ich ein bisschen bedauerlich.
({9})
Nach unserer Auffassung ist es durchaus lohnenswert,
auf unser Stipendienwesen insgesamt zu schauen: Da ist
das Weiterbildungsstipendium, da ist das Aufstiegsstipendium, da sind die Begabtenförderungswerke inklusive unserer Studienstiftung, aber eben auch das
Deutschlandstipendium.
({10})
Das ist unser Stipendienwesen.
Die Breitenförderung - ich glaube, das hat die Koalition in der Tat unter Beweis gestellt - wird im Rahmen
des BAföG verbessert.
({11})
Das BAföG ist das passgenaue Instrument für eine sozial
orientierte Förderung. Das ändert aber nichts daran, dass
es in Sachen Förderung auch einen zweiten Teil gibt,
nämlich das Stipendienwesen.
Meine Fraktion und ich möchten uns das in den kommenden Wochen und Monaten ein bisschen genauer anschauen, auch vor dem Hintergrund der Sicherstellung
gleicher Förderbedingungen in den Bereichen „berufliche Bildung“ und „allgemeine und akademische Bildung
und Weiterbildung“. Der Antrag der Grünen greift zu
kurz, da er beim Aufstiegsstipendium nur auf das Büchergeld rekurriert. Auch da muss man ein bisschen
genauer hinschauen. Wenn wir das dann gemeinsam vernünftig umgesetzt haben, wie wir von der sozialdemokratischen Fraktion es uns vorstellen - das wird unser
Koalitionspartner sicherlich mitmachen -, dann haben
wir der Sache einen Dienst erwiesen. Ihr Antrag erweist
der Sache leider keinen Dienst.
({12})
Herr Kollege Rabanus, gestatten Sie zum Schluss Ihrer Redezeit noch eine Zwischenfrage des Kollegen
Gehring?
Eine Redezeitverlängerung? - Bitte schön, Herr
Gehring. Gern.
Vielen Dank. - Ich bin sehr gespannt. Die Redner der
Koalitionsfraktionen haben in den letzten Debattenbeiträgen gesagt, man solle einmal über unser Stipendiensystem insgesamt sprechen. Das finde ich bemerkenswert. Wir haben in unserem Antrag und unserem
Redebeitrag die Aufstiegsstipendien und die Begabtenförderungswerke erwähnt. Wir haben deutlich gemacht,
dass die nicht abfließenden Mittel aus dem Deutschlandstipendium in Stipendien für Flüchtlinge fließen sollen.
Sie kennen auch unsere anderen Anträge zum Thema
Weiterbildungs-BAföG. Wir Grüne wollen die Förderung verschiedener Gruppen mit einer breiten Palette an
Maßnahmen ausweiten.
Ich würde gerne den Sinneswandel der SPD verstehen. Herr Rossmann hat 2010 gesagt: Wir sagen Nein
zum Stipendiensystem. Ulla Burchardt - das war immerhin die Vorsitzende des Bildungsausschusses in der letzten Legislatur - hat gesagt: Vor allen Dingen ist das ein
Programm zum Bürokratieaufbau an den Hochschulen.
({0})
Ich könnte Ihnen jetzt reihenweise Zitate aus der SPDBundestagsfraktion nennen, die belegen, dass das
Deutschlandstipendium aus Ihrer Sicht genauso ein Ladenhüter ist wie aus Sicht der Grünen. Ich würde gerne
einmal verstehen, warum Sie das inzwischen offensichtlich anders sehen.
({1})
Vielen Dank für diese ausgesprochen freundliche
Frage. Ich will darauf zweiteilig antworten.
Erstens. Herr Kollege, Sie haben gezeigt, dass die
Grünen programmatisch eigentlich mehr auf der Pfanne
haben als dieser Antrag, über den wir heute debattieren,
uns erahnen lässt.
({0})
Ich finde das bedauerlich, weil ich glaube - darauf habe
ich hingewiesen -, dass Sie mehr auf der Pfanne haben.
Das ist der eine Teil.
({1})
Zweitens. Ich habe darauf hingewiesen, dass ich der
irrigen Annahme war, auf die Logik von Koalitionsverhandlungen, darauf, wie Koalitionsverträge zustande
kommen und Kompromissfindungen ablaufen, nicht hinweisen zu müssen. Aber das ist natürlich ein sehr wichtiger Punkt.
Ich möchte einmal an einem Beispiel aus meinem
Heimatland Hessen deutlich machen, wie Koalitionsbildungen möglicherweise funktionieren: Im nächsten
Frühjahr steht der Spatenstich für den Beginn des Baus
von Terminal 3 am Frankfurter Flughafen an. Den Spatenstich wird vermutlich der Wirtschaftsminister des
Landes Hessen, Tarek Al-Wazir, Bündnis 90/Die Grünen, mit durchführen, obwohl sich, wenn ich das nicht
ganz falsch erinnere, ein Gutteil der Grünen in den
1980er-Jahren sozusagen im Umfeld der Baustelle der
Startbahn 18 West gegründet hat.
Der Punkt ist, dass wir an bestimmten Stellen, die,
glaube ich, jedenfalls für uns Sozialdemokraten weit weniger fundamental sind als die Frage eines Flughafens
für die Grünen, bereit sind, Kompromisse zu schließen,
und bereit sind, zu sagen: Wir müssen Korrekturen vornehmen. - Wir erwarten auch, dass wir in der Diskussion
um die Weiterentwicklung des Stipendienwesens die
Unwuchten aus diesem Programm herausbekommen.
Ich bin da ganz guter Dinge. Das ist ein Weg, den man
gemeinsam beschreiten kann.
Vielen Dank.
({2})
Der Kollege Rossmann ist mit einem Zitat erwähnt
worden und hat deshalb um eine Kurzintervention gebeten, zu der ich ihm jetzt auch das Wort erteile.
Herr Präsident, vielen Dank dafür. - Ich kann mich
erinnern, dass ich gesagt habe, dass die Sozialdemokratie gegen das Deutschlandstipendium ist. Die Sozialdemokraten waren aber nie gegen das Stipendiensystem. In
welcher Logik würden wir uns denn da bewegen, wenn
doch eine Edelgard Bulmahn und eine Annette Schavan
entscheidend mit dafür gesorgt haben, dass das gesamte
Stipendiensystem mit all seinen Stiftungen und all dem,
was auch der Kollege Rabanus eben angesprochen hat,
aufgebaut wird?
Nach einer Wahl muss man erst einmal schauen, wie
die Gewichte verteilt sind und wie bestimmte Konditionen eingehalten werden. Auch wenn es im Rahmen der
ersten Koalitionsverhandlungen keinen Abschluss gegeben hat, wussten wir, dass wir über 500 Millionen Euro
substanziell positiv für das BAföG bewegen können. Vor
diesem Hintergrund fällt es einem leichter, zu sagen:
Dann ist es auch ein ordentlicher Kompromiss, wenn
20 Millionen Euro für das Deutschlandstipendium bewegt werden; dies wollte der größere Koalitionspartner.
Jeder soll darüber richten - die Grünen an erster Stelle -,
ob die Relation zwischen 500 Millionen Euro und
20 Millionen Euro gerecht und zukunftsorientiert ist
oder ob das Ganze ein Irrweg ist. Wir sagen selbstbewusst: Das ist kein Irrweg.
({0})
Es wäre vielmehr ein Irrweg gewesen, wenn wir den
Weg der 500 Millionen Euro für das BAföG nicht gegangen wären, weil wir uns bei den 20 Millionen Euro nicht
durchsetzen konnten.
({1})
Insofern zeigen wir die breite Brust für das gute Gewissen, das wir haben.
Der Kollege Rabanus hat eben deutlich gemacht, dass
man zwei Wege gehen kann, wenn man für seine Forderungen im Bildungsbereich Unterstützung finden will:
Man kann das BAföG weiterentwickeln - das MeisterBAföG gehört dazu; schließlich wollen wir Gleichwertigkeit erreichen -, und gleichzeitig kann man schauen,
wo bestimmte Gedanken in Bezug auf das Stipendienwesen aufzugreifen sind.
Sie haben das Büchergeld angesprochen. Wie ist es
beim Aufstiegsstipendium? Wie ist es beim Deutschlandstipendium? Über solche Fragen denken wir nach.
Am Ende sind Sie eingeladen, mit uns darüber nachzudenken. Am Ende werden gegebenenfalls auch Sie einmal in einer politischen Verantwortung respektieren
müssen, dass das Deutschlandstipendium da ist und dass
es weiterentwickelt wird. Aber das Deutschlandstipendium wird nie das größte Gewicht bei den Stipendien bekommen. Das werden hoffentlich weiterhin die Stiftungen bekommen, die wir in der Tradition des deutschen
Stiftungswesens bereits haben.
Ich möchte an dieser Stelle noch einmal sagen: Die
Grünen sind ein bisschen langsamer, wenn es darum
geht, sich vernünftigen Realitäten anzupassen. Wir glauben, dass unsere Prioritätensetzung sehr gut ist.
Danke schön.
({2})
Herr Kollege Gehring, möchten Sie darauf erwidern,
oder ist alles gesagt?
({0})
- Gut.
Ich schließe somit die Aussprache zu diesem Tagesordnungspunkt.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/4692 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Es erhebt sich kein Widerspruch. Dann ist
die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 10 sowie den
Zusatzpunkt 5 auf:
10 Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
CSU und SPD
zu dem Vorschlag für eine Verordnung des
Europäischen Parlaments und des Rates über
den Europäischen Fonds für strategische
Investitionen und zur Änderung der Verordnungen ({1}) Nr. 1291/2013 und ({2})
Nr. 1316/2013
KOM({3}) 10 endg.; Ratsdok. 5112/15
hier: Stellungnahme gegenüber der Bundesregierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 des
Grundgesetzes
Dem Europäischen Fonds für strategische Investitionen zum Erfolg verhelfen
Drucksache 18/4929
ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Sahra Wagenknecht, Dr. Diether Dehm,
Andrej Hunko, Alexander Ulrich und der Fraktion DIE LINKE
Für ein öffentliches sozial-ökologisches Zukunftsinvestitionsprogramm in Europa
Drucksache 18/4932
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist das somit beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner das Wort dem Kollegen Joachim Poß für die SPD.
({4})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
brauchen mehr Investitionen in Europa. Diese Einsicht
eint inzwischen 28 Mitgliedstaaten, das Europäische
Parlament und die Kommission. Die von meiner Partei
auch im Deutschen Bundestag seit dem ersten Rettungspaket für Griechenland im Frühjahr 2010 geforderte Verstärkung der öffentlichen und privaten Investitionen ist
heute nicht mehr umstritten. Umstritten sind teilweise
die Finanzierung und die Ausgestaltung des EFSI, des
Europäischen Fonds für Strategische Investitionen. Im
jetzt laufenden Trilog zwischen dem Europäischen Parlament, dem Rat und der Kommission wird hoffentlich
bis Ende nächster Woche eine Lösung gefunden werden.
Das Investitionsniveau in Europa liegt immer noch
15 Prozent unter dem Niveau von 2007. So sagt es jedenfalls die Kommission. Die Linkspartei operiert mit
anderen Zahlen und Annahmen. Es gibt unterschiedliche
Schätzungen. Aber ich orientiere mich hier an der Kommission. Sie sagt immer noch: 15 Prozent unter dem Niveau von 2007. Ein Jahr nach der Europawahl müssen
wir jetzt, finde ich, in Europa vom Reden und Verhandeln zum Handeln kommen.
({0})
Die geplanten Investitionen müssen auf den Weg gebracht werden. Das ist im Interesse einer zukunftsfähigen Infrastruktur, allerdings auch der Lebensaussichten
der Arbeitslosen und vor allem der jungen Arbeitslosen.
Europa muss sich jetzt als handlungsfähig erweisen, insbesondere beim Kampf gegen die Arbeitslosigkeit, aber
eben auch beim Kampf gegen skandalöses Steuerdumping
von internationalen Konzernen und Multimillionären.
Auch die Finanzindustrie muss mit der Finanztransaktionsteuer endlich an der Finanzierung des Gemeinwesens
beteiligt werden.
({1})
Die europäischen Bürgerinnen und Bürger wollen und
müssen jetzt auch bei der Stabilisierung der Euro-Zone
- Griechenland hin oder her - messbare Erfolge sehen,
wenn wir Europa wieder mit Hoffnung in Verbindung
bringen wollen. Bei den europäischen Bürgerinnen und
Bürgern muss uns das gelingen, und zwar nicht irgendwann, sondern wir müssen jetzt, ein Jahr nach der Europawahl, damit starten.
({2})
Die Akzeptanz Europas ist ja gerade in den Krisenländern im Süden - das sehen Sie, wenn Sie sich die
Zahlen bei den Umfragen anschauen - katastrophal eingebrochen. Deswegen sollten wir auch Missverständnissen und überzogenen Erwartungen, was die Ausrichtung
und Aufgaben des Investitionsfonds angeht, vorbeugen.
Der Fonds ist kein öffentliches Investitionsprogramm.
Der Fonds soll vor allem privates Kapital anziehen, um
Investitionen in den Zukunftsfeldern Infrastruktur, Bildung, Gesundheit, Energie und Stadtentwicklung voranzubringen, und er soll kleinen und mittleren Unternehmen Finanzierungsmöglichkeiten für Innovationen
geben. In den Südländern spielt der Credit Crunch eine
Rolle. Diesen müssen wir auch mithilfe dieser Maßnahme überwinden. Ob es private oder öffentliche Investitionen sind, spielt dabei keine Rolle. Entscheidend ist,
dass sie zusätzliche, rentable und damit auch nachhaltige
Investitionen auslösen.
Richtigerweise sieht der Verordnungsvorschlag deshalb auch keine sektoralen oder regionalen Kriterien vor.
Denn die Investitionen sollen dort getätigt werden, wo
sie sinnvoll sind. Wir wollen keine Luftschlösser finanzieren, sondern einen Investitionsschub in Europa auslösen. Es ist deswegen nur konsequent, dass die Europäische Investitionsbank eine so prominente Rolle
einnimmt. Sie besitzt bei der Projektauswahl und -finanzierung durch ihre jahrzehntelange Tätigkeit in Europa
das notwendige Know-how. Sie leistet auch einen eigenen finanziellen Beitrag in Höhe von 5 Milliarden Euro
und hat bereits begonnen, erste Projekte zu finanzieren.
Auch die Bundesrepublik wird - davon war vorhin in
der Debatte um den Nachtragsetat bereits die Rede - einen eigenen Beitrag für mehr Investitionen in Europa
leisten. Das ist auch dringend notwendig. Deswegen haben wir bereits 10 Milliarden Euro bis 2017 für den Ausbau der Infrastruktur bereitgestellt und weitere 5 Milliarden Euro für die deutschen Kommunen zugesagt. Die
Unterstützung der Kommunen ist besonders wichtig;
denn eine solche regionale Zielgenauigkeit ist von dem
Europäischen Investitionsfonds EFSI nicht zu erwarten.
Für den EFSI werden wir weitere 8 Milliarden Euro
über die Kreditanstalt für Wiederaufbau bereitstellen.
Wir fördern damit einerseits gezielt die regionale Investitionstätigkeit durch die von mir genannten Investitionen und durch den EFSI andererseits die Investitionstätigkeit in der ganzen Breite Europas. Hierin liegt die
Stärke des Fonds, große und vor allem langfristige Investitionen auch über Ländergrenzen hinweg anzustoßen. Hoffentlich profitieren davon insbesondere die sogenannten Südländer. Das ebnet den Weg zu mehr
Investitionen und Wachstum.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, jetzt geht es darum,
den Wachstumspfad in Europa zu befestigen. Das Wichtigste ist: Wir müssen verhindern, dass es in Europa zu
einer verlorenen Generation kommt. In Gesprächen oder
bei Besuchen vor Ort, vor allem in den Ländern mit einer hohen Jugendarbeitslosigkeit, wird uns anschaulich
vor Augen geführt, worum es dort geht.
Uns geht es, wie gesagt, nicht um Technokratie, und
ich weiß, man kann auch um ein öffentliches Investitionsprogramm werben. Uns geht es darum, dass wir
jetzt endlich in Europa handeln und anfangen, Investitionen auf den Weg zu bringen, um unseren Bürgerinnen
und Bürgern damit eine Perspektive zu bieten,
({3})
die auf der einen Seite Arbeitsplätze und Wohlstand beinhaltet und auf der anderen Seite die Gerechtigkeit generiert, die die Menschen in Europa wollen.
Vielen Dank.
({4})
Nächster Redner ist für die Fraktion Die Linke der
Kollege Alexander Ulrich.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Natürlich muss in Europa viel mehr investiert werden. Wir
haben das als Linke schon im Bundestagswahlprogramm
2009 gefordert. Wir haben es im Europawahlprogramm
gefordert. Damals sind Sie von der SPD noch in der Großen Koalition gemeinsam mit der CDU/CSU durch
Europa gezogen und haben für die Einhaltung von
Schuldenbremsen und Ähnlichem geworben.
({0})
Deshalb sind Sie mit schuld an dem riesigen Ausmaß
der Arbeitslosigkeit in Europa. Jetzt fordern Sie mehr Investitionen. Dabei haben Sie jahrelang versagt. Der Juncker-Plan ist nur ein Tropfen auf den heißen Stein.
({1})
Was Investitionen angeht, müsste die größte Volkswirtschaft in Europa viel mehr tun. Jetzt klopfen Sie sich
mit Hinweis auf die 10 Milliarden Euro für Investitionen
und die 5 Milliarden Euro für die Kommunen auf die
Schulter und meinen, damit wäre ausreichend geholfen.
Würde man nur die Schuldenbremse einhalten, die wir
aber ablehnen, könnte man allein in Deutschland 18 Milliarden Euro mehr investieren. Deshalb müsste man
gerade jetzt in Deutschland viel mehr Investitionen anschieben. Dann wäre man auch in Europa glaubwürdiger, wenn man für Investitionen in anderen Ländern
wirbt. Das, was die deutsche Bundesregierung in Europa
tut, ist viel zu wenig.
({2})
Das schreibt Ihnen mittlerweile jeder ins Stammbuch, ob
IWF oder EU-Kommission. Diese Woche war Moscovici
bei uns im Europaausschuss. Er hat deutlich gesagt, dass
in Deutschland viel mehr investiert werden müsste. Aber
die Bundesregierung glaubt, mit 10 Milliarden Euro plus
5 Milliarden Euro hätte sie genug getan.
Im Vergleich zu 2007 haben wir eine Investitionslücke von 430 Milliarden Euro pro Jahr, Herr Poß. Der Investitionsbedarf ist aber eigentlich noch viel höher.
Jetzt kommt der Juncker-Plan. Herr Juncker vertritt
die grundsätzlich richtige Idee, dass wir mehr tun müssen, um Beschäftigung zu schaffen und die Jugendarbeitslosigkeit zu bekämpfen, und wirbt für den JunckerPlan mit 315 Milliarden Euro.
({3})
Wie aber kommen diese 315 Milliarden Euro zustande? Es werden gerade einmal 21 Milliarden Euro bereitgestellt. Dafür werden auch noch Gelder aus den EUTöpfen für Forschung und Entwicklung abgezwackt.
Das heißt, Bereiche, in die dringend investiert werden
müsste, leiden unter dem Juncker-Finanzierungsplan.
Man glaubt, mit einem komischen Hebelmechanismus
auf 315 Milliarden Euro zu kommen. Das ist VoodooÖkonomie und hat mit wirtschaftlicher Vernunft nichts
zu tun.
({4})
Viel schlimmer ist aber: Diese 315 Milliarden Euro
erstrecken sich über drei Jahre. Wir reden also über etwas mehr als 100 Milliarden Euro pro Jahr. Mit etwas
mehr als 100 Milliarden Euro für ganz Europa kann man
aber bei weitem nicht der Probleme Herr werden, über
die wir reden.
Sie haben Südeuropa angesprochen, Herr Poß. Wir als
Linke sagen schon seit Jahren: Wir brauchen einen
Marshallplan für Europa. Dafür reichen die 315 Milliarden Euro in drei Jahren nicht aus. Wir brauchen 500 Milliarden Euro pro Jahr an öffentlichen Investitionen.
Deshalb können wir als Linke dem Juncker-Plan nicht
zustimmen; denn er ist tatsächlich keine Lösung. Es werden wieder Luftschlösser gebaut, die Probleme werden
nur vergrößert, und bei den Menschen werden Hoffnungen geweckt, die nicht erfüllt werden können. Dann
kommt auch noch hinzu, dass mit dem Juncker-Plan
ÖPP-Projekte unterstützt werden sollen.
({5})
Ich sage Ihnen ganz ehrlich: Es kann doch wohl nicht
sein, dass wir gerade die Projekte wieder einmal unterstützen, bei denen am Schluss Gewinne, die erwirtschaftet werden, bei den Privaten ankommen, aber bei Verlusten der Steuerzahler wieder herhalten muss. Haben wir
nicht aus der Finanz- und Wirtschaftskrise gelernt, dass
es nicht sein kann, die Verluste dem Staat aufzubürden?
Wenn es lukrative Geschäfte gibt, dann soll sie der Staat
finanzieren. Die Zinsen der Europäischen Zentralbank
sind so niedrig, dass das auch ohne Weiteres gehen
würde.
({6})
Ich habe erwähnt - das ist der Vorschlag der Linken -,
dass wir 500 Milliarden Euro im Jahr investieren sollten.
Mit diesem Geld sollte aber ein sozial-ökologisches
Wachstum finanziert werden. Es kann nicht sein, dass
zusätzliche Flughäfen oder neue Kernkraftwerke finanziert werden. Wir brauchen tatsächlich sinnvolle Investitionen in die Zukunft. Wir glauben auch, dass das durch
die öffentlichen Haushalte finanziert werden kann. Dazu
brauchen wir auch mehr Steuergerechtigkeit. Wir glauben, dass wir die Konzerne in Europa und auch die Superreichen zur Finanzierung der Projekte stärker besteuern müssen.
({7})
Wir brauchen eine Vermögensabgabe, ein gerechteres
Steuersystem, wir brauchen den Kampf gegen Steuer10136
oasen, wir brauchen eine Abkehr von der Politik der
Niedriglöhne und eine Abkehr vom Stabilitäts- und
Wachstumspakt. Diese Dinge gehören eigentlich auf den
Müllhaufen der Geschichte. Wir brauchen endlich eine
vernünftige Investitionspolitik, deren Vorreiter Deutschland sein müsste. Alleine in Deutschland bräuchten wir
Mehrinvestitionen in Höhe von 100 Milliarden Euro im
Jahr. Diese 10 Milliarden Euro plus 5 Milliarden Euro
sind deutlich zu wenig.
Ich wiederhole gerne, was ich gestern gesagt habe:
Reden Sie mit den Ländern, reden Sie mit den Kommunen. Schauen Sie sich die Infrastruktur in diesem Land
an. Schauen Sie sich den Zustand der Brücken und Schulen an. Da besteht ein riesiger Investitionsbedarf. Wenn
man da nichts tut, dann wird es sehr teuer für zukünftige
Generationen. Deshalb wäre es klug, bei der jetzigen
Niedrigzinspolitik zu investieren; das wäre für den Steuerzahler billiger, als jahrelang zu warten und dieses Land
auf Verschleiß zu fahren.
Europas Jugend braucht mehr Chancen. Gerade die
Südländer hoffen auf Europa. Aber der Juncker-Plan gibt
darauf leider keine Antwort. Unser Antrag ist sinnvoller.
Deshalb stimmen Sie unserem Antrag zu, und lehnen Sie
den Juncker-Plan ab!
Vielen Dank.
({8})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Ursula GrodenKranich für die CDU/CSU.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Mit dem von den Koalitionsfraktionen vorgelegten Antrag kommt der Deutsche Bundestag einmal
mehr seiner Verantwortung zur Mitgestaltung der europäischen Politik nach. Der Europäische Fonds für strategische Investitionen, kurz EFSI, schließt eine Finanzierungslücke in Europa, die nachhaltige und tragfähige
Investitionen bisher behindert. Zwar werden in der EU
mehr Patente angemeldet und Fachpublikationen veröffentlicht als beispielsweise in den USA, für die Umsetzung und Realisierung dieser Ideen steht jedoch nur ein
Zehntel des Kapitals zur Verfügung. Dies ist ein Ergebnis der Expertenanhörung des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union von Ende April.
Dieses Defizit gehen wir mit dem EFSI an.
Dazu nutzen wir das bei der Europäischen Investitionsbank, EIB, bereits vorhandene Know-how. Ich bin
dem Präsidenten der EIB, Herrn Dr. Werner Hoyer, und
den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Bank für ihr
Engagement bei diesem Projekt sehr dankbar; denn beim
EFSI handelt es sich nicht um einen Fonds im klassischen Sinne, sondern quasi um ein Konto bei der EIB,
das einen eigenkapitalersetzenden Charakter hat. Über
den EFSI werden eben keine Subventionen ausgereicht,
sondern es handelt sich um ein Kapitalmarktinstrument,
mit dem Geld privater Anleger gesammelt und in Projekte mit erhöhtem und hohem Risiko investiert werden
kann. Daher ist es zwingend, dass die GovernanceStruktur des EFSI der besonderen Verantwortung der
EIB Rechnung trägt. Es ist nicht nur sinnvoll, sondern
auch notwendig, dass die Entscheidungen über Investitionen von den Expertinnen und Experten der EIB und
nicht von einem anderen Gremium getroffen werden;
({0})
denn auch hier gilt der Grundsatz: Wer das Risiko trägt,
entscheidet auch.
Ich bin überzeugt, dass sich in der gesamten EU innovative und förderfähige Projekte finden lassen. Die ersten wurden bereits gefunden, und die Finanzierung beginnt.
Aus diesem Grund ist es auch unabdingbar, dass Investitionsentscheidungen losgelöst von regionalen Quoten oder ähnlichen Vorgaben getroffen werden. Alleinige
Kriterien müssen Tragfähigkeit, Nachhaltigkeit und Zusätzlichkeit sein.
Der EFSI ist ein Vehikel, mit dem wir eine kurzfristige Finanzierungslücke in Europa angehen wollen. Daher ist es auch ordnungspolitisch richtig, dass der Fonds
befristet ist. Die vorgesehene Mid-Term Review beim
mehrjährigen Finanzrahmen wird uns Gelegenheit geben, das bis dahin Erreichte zu bewerten und eine Neueinschätzung vorzunehmen. Der Staat ist eben nicht der
bessere Unternehmer, und er ist auch nicht die bessere
Bank.
({1})
Mit der Befristung verfolgen wir eine sehr klare und
nachhaltige ordnungspolitische Linie. An diesem Punkt
dürfen wir meiner Ansicht nach jedoch nicht stehen bleiben. Die Expertenanhörung im EU-Ausschuss hat auch
sehr deutlich gemacht, dass wir uns des Themas Wagniskapitalfinanzierung zeitnah annehmen müssen.
Während vor einiger Zeit das Thema Venture Capital
von vielen noch sehr kritisch betrachtet wurde, ist dieses
Finanzierungsinstrument heute deutlich positiver besetzt.
Langfristig sollte die effektivere Nutzung von Wagniskapital europaweit gestärkt werden, um mittels geänderter Anlagerichtlinien für Kapitalsammelstellen wie zum
Beispiel Lebensversicherungen und Pensionsfonds die
Finanzierungslücke in Europa dauerhaft privatwirtschaftlich zu schließen.
({2})
Lassen Sie mich noch auf drei Punkte eingehen:
Erstens. Die Effektivität des EFSI wird in großem
Maße davon abhängen, wie kleine und mittelständische
innovative Unternehmen ihren Zugang zum Fonds finden. Wir brauchen folglich nicht nur einen einfachen, direkten und niederschwelligen Zugang zu dieser neuen
Finanzierungsquelle; wir müssen auch aktiv für den
EFSI und die Investitionsoffensive werben. Das beginnt
in unseren Wahlkreisen und sollte auch Thema bei anstehenden Delegationsreisen von Mitgliedern des Hauses
sein.
Zweitens. Durch die Einrichtung des EFSI werden die
Obergrenzen des mehrjährigen Finanzrahmens der EU
nicht erhöht. Wir schaffen es also - so der Plan -, mit
dem gleichen Mittelansatz, ergänzt um privates Kapital,
zusätzliche Wachstumsimpulse in Zukunftsbranchen zu
setzen. Um mit dem EFSI einen positiven Effekt zu erzielen, dürfen nur die Projekte kofinanziert werden, die
es aufgrund ihrer Risikostruktur ohne den EFSI nicht gegeben hätte.
Dritter und letzter Punkt. Die deutsche KfW - das hat
Herr Poß schon gesagt - wird sich mit mindestens 8 Milliarden Euro beteiligen. Weitere nationale Förderbanken
haben zwischenzeitlich Finanzierungszusagen im Umfang von über 33 Milliarden Euro gemacht. Dieses zusätzliche Engagement stärkt den Effekt des EFSI, stärkt
Wachstum und Arbeitsplätze, stärkt den Wirtschaftsund Wissensstandort Europa.
Abschließend noch ein Wort zum Antrag der Fraktion
Die Linke.
({3})
Es gibt keinen besseren Beweis dafür, dass Sie weder die
Wirkungsweise noch die Systematik des EFSI auch nur
ansatzweise verstanden haben, als Ihren heute vorliegenden Antrag.
({4})
Schon allein Ihre Forderung nach einem staatlichen
500-Milliarden-Euro-Programm, finanziert durch Kredite - ausgerechnet der EZB - und durch Steuererhöhungen, zeigt, dass Ihnen weder das Europarecht noch eine
echte Investitionstätigkeit sonderlich naheliegen.
({5})
Mit dem Antrag der Koalitionsfraktionen unterstützen
wir die gute, richtige und zukunftsweisende Position der
Bundesregierung auf europäischer Ebene. Er ist auch
eine wichtige Positionsbestimmung gegenüber unseren
Kolleginnen und Kollegen im Europäischen Parlament gerade im Hinblick auf die Trilogverhandlungen. Die
EU-Kommission ist aufgerufen, alle noch ausstehenden
Arbeiten, die für einen baldigen Start des EFSI notwendig sind, zügig abzuschließen. Dazu gehört für mich insbesondere die Erarbeitung von Grundsätzen zur beihilferechtskonformen Projektauswahl.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, nur mit einer klaren
ordnungspolitischen Ausgestaltung des EFSI, wie sie der
Antrag von CDU/CSU und SPD vorsieht, können wir
diese Vorhaben zum Erfolg führen. Ich werbe daher um
Zustimmung für unseren Antrag.
Vielen Dank.
({6})
Als Nächster spricht der Kollege Manuel Sarrazin,
Bündnis 90/Die Grünen.
Verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben eine riesengroße Koalition mit kleinem
Mut. Das zeigt dieser Antrag, mit dem Sie sich nun endlich doch trauen, sich grundsätzlich hinter den Europäischen Fonds für strategische Investitionen zu stellen.
Aber den Mut für die wirklich wichtigen Schritte, die
von Europa verlangt werden, um die Krise anzugehen,
um den Mut und die Hoffnung der Menschen wieder zu
steigern, um gegen die Krise in den Ländern des Südens
etwas zu machen, um den Zusammenhalt zu stärken,
bringen Sie selber nicht auf. Mutig wäre es, zu sagen:
Wir gehen voran.
({0})
Stattdessen sagt Deutschland als Allererstes, Geld
gebe man nicht. Bei den wirklich wichtigen strittigen
Fragen, die im Trilog thematisiert werden, stellen Sie
sich auf die Seite des Rates, der diesem Instrument skeptisch gegenübersteht und es eigentlich so schnell wie
möglich wieder in der Versenkung verschwinden sehen
möchte. Das wird sehr schön deutlich anhand der Befristung. Ich habe nichts dagegen, nach drei Jahren - vielleicht auch nach fünf Jahren; aber nach einer sinnvollen
Zeit - zu schauen: Hat alles geklappt? Macht das noch
Sinn? Aber die Befristung, die ja von Deutschland erst
auf die Tagesordnung gebracht wurde, hat das Ziel, das
Ganze nach drei Jahren abzuschließen und alles wieder
in die Ecke zu packen. Bei der EFSF haben wir gesehen,
wie gut das funktioniert hat.
Die große integrationspolitische Chance, die hinter
diesem Fonds steckt, nämlich ein Instrument zu schaffen, um in die richtigen Maßnahmen - in erneuerbare
Energien, in Energieeffizienz, in Netze, in Hilfen für
mittelständische Unternehmen - in Europa zu investieren, außerhalb der bisherigen Logik, die in Europa immer galt, dass ein Staat wieder so viel herausbekommen
möchte, wie er eingezahlt hat - da gibt es ja immer die
Brüsseler Nächte der langen Messer, in denen sich die
Regierungen gegenseitig die Zahlenwerke an den Kopf
werfen -, und mit der Idee, Instrumente zu entwickeln,
mit denen Projekte von europäischem Mehrwert in diesen strategischen Feldern angegangen werden, wollen
Sie in drei Jahren am besten wieder beerdigt sehen, weil
es Ihnen nicht passt, was Ihr Parteikollege, Herr Juncker,
geschaffen hat.
Das andere, was so interessant und wirklich wichtig
ist: Wir müssen doch versuchen, die Maßnahmen dieses
Fonds zu binden, sowohl an die Ziele der Strategie „Europa 2020“ wie auch an so etwas wie Nachhaltigkeit.
Das müsste doch auch im Sinne der Großen Koalition
sein. Deswegen schlägt das EP vor, ein NachhaltigkeitsScoreboard für die Projekte einzuführen. Kein Wort dazu
in Ihrem Antrag, auch nicht zu der Frage, inwieweit eigentlich die Strukturen des EFSI so ausgestaltet sein sollen, dass der, der zahlt, auch die Kontrolle hat. Ich
glaube, ich würde im Wahlkreis von Gunther Krichbaum
100 Prozent der Stimmen bekommen, wenn ich in dem
wunderschönen Dialekt, der dort gesprochen wird, sage:
Wir haben bezahlt, also wollen wir auch die Kontrolle
haben.
({1})
Dies ist eines der wichtigsten Anliegen des Europäischen Parlaments: Wenn schon auf unseren Haushalt zugegriffen wird, dann wollen wir auch die Kontrolle darüber haben, wie mit dem Geld umgegangen wird. Was
aber sagt die Koalition zu diesem Thema? Nichts.
({2})
Das ist doch eigentlich etwas, wo es sich lohnen
würde, gemeinsam parlamentarisch - EP und Bundestag
Seite an Seite - den Rat davon zu überzeugen, hier auf
die Verhandlungsposition des Europäischen Parlaments
einzugehen. Leider findet das nicht statt. Deswegen ist
es aus unserer Sicht eine wirklich gute Idee, dass man
sagt: Die Mitglieder des Investitionsausschusses werden
vom Europäischen Parlament bestätigt, damit Transparenz und Kontrolle gegeben sind.
({3})
Wir Grüne meinen, dass nun in Europa wirklich investiert werden muss. Es hilft nichts, wenn ein konkreter
Vorschlag für Investitionen gemacht wird, zu sagen: Der
Vorschlag ist blöd. - Wenn man will, dass investiert
wird, dann muss man auch liefern, wo das geschehen
soll, wenn man einen Investitionsvorschlag ablehnt.
Deswegen machen wir Vorschläge, wie man es richtig
ausgestalten kann, anstatt uns in die Ecke zu stellen und
zu sagen: Wir wollen diese oder jene Investition nicht
und warten lieber so lange, bis andere kommen, was
wahrscheinlich nicht der Fall sein wird. - Daher halte
ich die Position der Linksfraktion an dieser Stelle für
nicht konsistent.
Wir Grüne meinen, dass das Europäische Parlament
in den Verhandlungen im Trilog seine Position stark vertreten soll. Wir erkennen an, dass sich die Koalition endlich grundsätzlich dazu durchgerungen hat, den EFSI zu
unterstützen. Wir kritisieren, dass Sie nicht bereit sind,
dafür zu sorgen, dass sich Deutschland an der ersten
Stufe des EFSI mit einem starken Signal beteiligt. Deshalb kommen wir am Ende zu dem Schluss, dass wir uns
enthalten. Wir wünschen dem EFSI trotzdem guten Erfolg.
Danke sehr.
({4})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Ronja Schmitt für
die CDU/CSU.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich freue
mich, meine erste Rede in diesem Hohen Hause zu einem so wichtigen europäischen Kernprojekt für den
wirtschaftlichen Wiederaufschwung in Europa halten zu
dürfen. Konrad Adenauer wusste bereits vor fast 70 Jahren:
Europa ist nur möglich, wenn eine Gemeinschaft
der europäischen Völker wiederhergestellt wird, in
der jedes Volk seinen unersetzlichen, unvertretbaren Beitrag zur europäischen Wirtschaft und Kultur,
zum abendländischen Denken, Dichten und Gestalten liefert.
Dies ist keinesfalls durch die Schaffung der Europäischen Union bereits erledigt. Es bedarf einer permanenten und intensiven Anstrengung in allen europäischen
Ländern, um dieses Ziel wirklich zu erreichen und auch
zu erhalten.
({0})
Nach dem Vorschlag der EU-Kommission sollen
durch den Europäischen Investitionsfonds in den nächsten Jahren zusätzliche Mittel in Höhe von mindestens
315 Milliarden Euro mobilisiert werden. Die wirtschaftlichen Investitionen in Europa haben infolge der Finanzund Wirtschaftskrise stark gelitten. Aufgrund dieses Investitionsdefizits ist das Wachstum deutlich zurückgegangen. Dies belastet insbesondere die Volkswirtschaften und Regionen, die ohnehin von der Krise stark
betroffen sind.
Die Große Koalition begrüßt daher die europäische
Offensive ausdrücklich; denn sie schafft eben die Rahmenbedingungen dafür, dass in den Mitgliedstaaten risikoreichere und ebenso wirtschaftlich tragfähige Projekte
finanziert werden können.
({1})
Das Paket schafft damit die Voraussetzung für eine
Steigerung der Investitionstätigkeit, für ein stärkeres und
nachhaltiges Wirtschaftswachstum und somit auch für
Beschäftigung und Wohlstand. Wichtig ist - das wurde
bereits gesagt -, dass die wirtschaftliche Rentabilität ein
zentraler Faktor der Projektauswahl bleibt, um Fehlallokationen und Subventionsprogramme für nicht zukunftsträchtige Industriezweige zu vermeiden.
({2})
Die zu fördernden Projekte müssen daher unabhängig
und transparent identifiziert werden. Das Investitionspaket muss sicherstellen, dass solche Wirtschaftssektoren
gefördert werden, die die Grundlage für nachhaltigen
Wohlstand bilden. Schwerpunkte setzt die EU-Kommission daher richtigerweise bei Forschung und Innovation,
bei der Verkehrsinfrastruktur, im Bereich der Breitbandund Energienetze sowie bei erneuerbaren Energien und
Energieeffizienz.
Um den Rückstand in der Wettbewerbsfähigkeit bis
zum Jahr 2020 aufholen zu können, veranschlagt die
Europäische Investitionsbank etwa 600 Milliarden Euro
pro Jahr. Davon entfallen auf den Ausbau im EnergiebeRonja Schmitt ({3})
reich etwa 100 Milliarden bis 200 Milliarden Euro. Neue
Investitionen müssen aber auch getätigt werden, um
langfristige Risiken in Europa abzufedern, wie zum Beispiel die Importabhängigkeit von knappen Rohstoffen.
Gerade aus deutscher Sicht soll das Paket daher finanzielle Mittel für eine europäische Energiewende mobilisieren. Lassen Sie mich das ganz klar sagen: Die Energiewende ist ein wichtiges und zentrales Ziel für uns alle
und für die kommenden Generationen.
({4})
Die Integration des europäischen Binnenmarktes
macht zudem einen forcierten Ausbau transeuropäischer
Infrastruktur nötig. Das gilt nicht nur im Verkehr, sondern auch mit Blick auf den digitalen Binnenmarkt und
die europäischen Energienetze. Die grenzüberschreitenden Verbindungen im Rahmen der Energieunion sind
von enormer, zentraler Wichtigkeit für Versorgungssicherheit und für Preisstabilität.
({5})
Der Strom muss jetzt endlich auch dorthin fließen können, wo er gebraucht wird.
({6})
Als Baden-Württembergerin sehe ich hier gerade im
Grenzbereich zu Frankreich noch einen Nachhol- und
Ausbaubedarf, zum Beispiel beim Ausbau der Grenzkuppelstellen. Dies wäre hilfreich für Deutschland als
Exportnation, für meine Heimat Baden-Württemberg als
zentrale Industrieregion in Europa und für meinen Wahlkreis Alb-Donau/Ulm mit einer ganzen Reihe herausragender Industriebetriebe.
Der österreichische Kabarettist Werner Schneyder
sagte einmal:
Europa besteht aus Staaten, die sich nicht vorschreiben lassen wollen, was sie selbst beschlossen haben.
({7})
Auch wenn man hin und wieder einmal den Eindruck haben könnte, dass er damit so ganz falsch nicht liegt,
glaube ich doch, dass er im Kern unrecht hat. Wir haben
es in der Hand, zu beweisen, dass die Europäische Union
eine Rechtsgemeinschaft ist, die ihre Ziele und Beschlüsse ernst nimmt und den Bürgerinnen und Bürgern
nicht nur Wohlstand und Sicherheit bietet, sondern auch
Vertrauen in das uns verbindende Recht schafft. Von daher bitte ich um Unterstützung unseres Antrags.
Herzlichen Dank.
({8})
Liebe Kollegin Schmitt, Sie gehören erst seit einigen
Monaten dem Deutschen Bundestag an. Das war Ihre
erste Rede im Hohen Haus. Ich gratuliere Ihnen im Namen der Kolleginnen und Kollegen dazu herzlich und
wünsche Ihnen viele weitere Reden im Deutschen Bundestag.
({0})
Für die SPD spricht jetzt der Kollege Christian Petry.
({1})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Heute ist eigentlich ein wichtiger Tag für die
Europäische Union. Denn wir hier unterstützen letztlich
das, was die Europäische Union an Investitionsoffensive
an den Tag legt. Das war nicht immer so. Die schwarze
Null stand oftmals auch in Europa über allem, was wir
als Sozialdemokraten in diesem Punkt eigentlich anders
machen wollten, nämlich weg von der Austerität hin zu
mehr Investitionen, zu Beschäftigung und Wachstum.
Beschäftigung und Wachstum sind doch die Ziele, die
wir in Europa verfolgen müssen, damit die Menschen
Europa akzeptieren. Nicht die Fiskalpolitik, nicht die
Haushaltsstabilität - sie ist wichtig - sind es, über die
sich die Menschen mit Europa identifizieren. Beschäftigung und Wachstum, Vermeidung der Jugendarbeitslosigkeit, Abbau der Jugendarbeitslosigkeit, Teilhabe an
Wohlstand in Europa, das sind die Ziele, und das wollen
wir auch mit dem Investitionsfonds erreichen. Deshalb
unterstützen wir ihn.
({0})
Herr Kollege Ulrich, mein Gedächtnis bezüglich 2008
funktioniert. Der Sozialdemokratie vorzuwerfen, sie sei
Investitionsbremser, hat ja Joachim Poß wirklich fast aus
den Socken gehoben.
({1})
Das ist ja wirklich eine Verdrehung der Tatsachen. Das
ist so ähnlich, als würde ich behaupten, die Linken wären nur für die Superreichen da. In Ihrem Antrag steht es
jedoch umgekehrt. Aber wenn man sich die griechische
Politik anschaut, stellt man fest: Dort macht Syriza ein
gigantisches Steuerentlastungsprojekt für die Superreichen, indem sie die Steuerschuldstundungen verlängert
hat.
({2})
Das ist linke Politik, das ist das, woran man die Realität
messen kann - nicht an dem, was im Antrag steht.
({3})
Der europäische Mehrwert, die schnelle Realisierbarkeit, vorliegendes Marktversagen im Startschuss, keine
regionalen und sektoralen Vorgaben, das sind die Dinge,
die wir in diesem Fonds eigentlich verwirklicht haben
wollen. Und ich bin eigentlich ganz froh, Herr Kollege
Sarrazin - da sind wir unterschiedlicher Auffassung -,
dass eine weitgehend unabhängige Kommission die Projektauswahl mitgestaltet, aufarbeitet und letztlich trifft.
Ich glaube, das ist auch sehr gut so, und dann kann es
funktionieren.
Kritisch zu sehen sind natürlich die entsprechenden
Finanzinstrumentarien, die wir dort haben: das ehrgeizige Ziel einer Hebelung im Verhältnis von 1 : 15.
21 Milliarden Euro - 16 Milliarden Euro aus den Fonds,
aus dem Haushalt und 5 Milliarden Euro über die Investitionsbank - sollen 315 Milliarden Euro stemmen - und
dies mit privatem Kapital.
Selbstverständlich ersetzt dies nicht öffentliche Mittel. Aber angesichts der Alternative, jetzt etwas zu tun,
ist es doch mit Blick auf die Möglichkeit, nichts zu tun,
ganz klar, dass wir diese Instrumentarien ausnutzen müssen.
({4})
Es ist natürlich klar, dass wir die Dinge kritisch begleiten wollen. Der Risikotransfer soll abgesichert werden. Anschubfinanzierung oder die Übernahme von
Zinsrisiken sind Modelle, bei denen wir sagen: Hier können wir privates Kapital sinnvoll einbinden. Es macht
keinen Sinn, dass dieses Kapital außerhalb von Europa
eingebunden wird. Vielmehr müssen wir in Europa zur
Einbindung dieses Kapitals Projekte anbieten.
Diese Instrumentarien müssen ausführlich diskutiert
und dann angeboten werden. Die EIB, die Europäische
Investitionsbank, ist hierfür ein guter Partner und hat darin Erfahrung. Auch die Kreditanstalt für Wiederaufbau
hat mit diesen Instrumenten sehr große Erfahrung. Wir
können darauf vertrauen, dass diese Institutionen ordentlich arbeiten werden; denn die Risiken - da gebe ich Ihnen recht - sind hoch. Man muss aufpassen, dass die öffentliche Hand dabei nicht über den Tisch gezogen wird.
({5})
Alles in allem haben wir hiermit eine gute Maßnahme
zur Stärkung von Investitionen in Europa. Sie ist in die
geänderte Geldpolitik eingebunden. Sie ist in die Schaffung einer Kapitalmarktunion eingebunden und damit
ein großer Wurf. Sie ist in die neue Ausrichtung des Europäischen Semesters eingebunden. Sie ist ein Schritt
weg von der Austerität und von der reinen Fiskal- und
Stabilitätspolitik hin zu einer ordentlichen Politik für
mehr Beschäftigung und Wachstum, für ein Europa der
Bürger, so wie wir uns dies wünschen und so wie es auch
akzeptiert wird. In diesem Sinne werbe ich um Zustimmung.
Glück auf!
({6})
Abschließende Rednerin in dieser Aussprache ist die
Kollegin Katrin Albsteiger, CDU/CSU.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Finanz- und Wirtschaftskrise hat die Investitionstätigkeit
in Europa stark geschwächt. Der derzeitige Mangel an
Investitionen behindert das europäische Wachstum und
trifft vor allem die Länder, die durch die Krise sowieso
schon - wir haben es gehört - stark angeschlagen sind.
Die Gründe für die fehlenden Investitionen können
vielschichtig sein: ein unsicheres Umfeld in dem einen
oder anderen Land, eine mangelnde Wettbewerbsfähigkeit, schlechte wirtschaftliche Rahmenbedingungen oder
einfach ein schwerer oder gar kein Zugang zu Investoren
und damit zu Kapital. Das liegt hauptsächlich daran,
dass diese Investitionen teilweise mit sehr hohen Risiken
verbunden sind. Hohe Risiken sind vor allem da gegeben, wo es sich um langfristige Investitionen handelt.
Genau an dieser Stelle setzt der EFSI an.
Das klingt jetzt alles relativ technisch und vielleicht
für den einen oder anderen, der das möglicherweise zum
ersten Mal hört, etwas kompliziert und unverständlich.
Aber Fakt ist doch, dass ein Ausbleiben von Investitionen dazu führt, dass der europäische Wirtschaftsraum
weiter geschwächt wird. Das Fehlen eines guten wirtschaftlichen Klimas führt zum Schluss wieder dazu, dass
es weniger Arbeitsplätze gibt.
Die geringe Zahl von Arbeitsplätzen und damit auch
eine hohe Arbeitslosenquote, die wir jetzt schon in einigen Ländern haben, sind natürlich ein Albtraum. Stellen
Sie sich vor: Die durchschnittliche Jugendarbeitslosigkeit liegt bei 22 Prozent, und das ist nur der Durchschnittswert. Dabei ist noch gar nicht die Spitze berücksichtigt. Davon betroffen sind Länder wie Spanien oder
Griechenland, in denen die Arbeitslosenquote bei Jugendlichen bei über 50 Prozent liegt.
({0})
Ja, diese Quote hat sich zugegebenermaßen schon verbessert. Es hat in diesem Bereich eine positive Entwicklung gegeben, aber die Quote ist immer noch unverhältnismäßig hoch, so hoch, wie es für eine junge
Generation nicht sein darf. Wir ziehen - Kollege Poß hat
es gesagt - eine verlorene Generation in Europa groß.
Hier muss die Europäische Union reagieren. Das sind
große Herausforderungen, die hier zu stemmen sind. Der
Europäische Fonds für strategische Investitionen kann,
sofern er sich in der Realität tatsächlich bewährt, ein Anfang auf dem Weg sein, die Investitionstätigkeit und damit den Wirtschaftsraum zu stärken.
({1})
Wir haben uns die Frage gestellt: Was soll dieser
Fonds bewirken? Klar, es geht um die Mobilisierung von
privaten Geldern. Er soll aber vor allem über die Ländergrenzen hinweg in den Schlüsselbereichen, die für ganz
Europa enorm wichtig sind, Kapital bereitstellen. Er soll
für die Beseitigung von sektorspezifischen und sonstigen
nichtfinanziellen und finanziellen Investitionshindernissen sorgen.
Ja, es geht dabei um die Generierung von insgesamt
315 Milliarden Euro. Das ist ein Riesenbatzen Geld; das
kann man nicht wegdiskutieren. Es ist sicherlich auch
nicht genug für die gesamte Investitionstätigkeit in Europa, aber es ist ein Anfang. Wir brauchen es jetzt. So
viel im Übrigen zum Thema „Befristung des EFSI“. Ich
sehe es schon kommen. Wenn wir ihn nicht befristen
würden, würde es dazu führen, dass wir wahrscheinlich
noch in vier oder fünf Jahren darüber diskutieren, wie
wir es genau machen. Wir brauchen die Investitionen
aber jetzt. Eine Befristung mobilisiert auch eine schnelle
Investitionstätigkeit, die wir so dringend brauchen.
({2})
Zu begrüßen ist ebenfalls, dass der EFSI hauptsächlich für kleine und mittelständische Unternehmen gedacht ist, für den wichtigen Mittelstand, der in anderen
Ländern Europas noch viel wichtiger ist als bei uns. Wir
haben schon einen relativ stabilen Mittelstand, den wir
selbstverständlich weiter fördern müssen, aber gerade im
Süden Europas ist noch einiges zu tun.
Ebenfalls zu begrüßen ist, dass der EFSI nicht, wie so
viele andere EU-Maßnahmen, auf Zuschüsse setzt, sondern auf ein risikoabgesichertes Darlehen. Das heißt, die
Gelder sollen auch wieder zurückgezahlt werden. Trotzdem ist es so - das kann ich mir zum Schluss nicht verkneifen -: Es gibt bei allem Guten auch einen kleinen
Wermutstropfen, über den wir schon so oft gesprochen
haben. Einige Gelder werden aus dem erfolgreichen Forschungsprogramm der Europäischen Union „Horizon
2020“ genommen. Ich glaube, man kann es lang und
breit beklagen. Sicher an dieser Stelle ist: Wenn die
2,7 Milliarden Euro herausgenommen werden und in
den Fonds gehen sollen, dann sollte doch bitte schön bei
der Auswahl der Projekte darauf geachtet werden, dass
dieses Geld zum Schluss wieder in der Forschung landet,
wohin es nämlich gehört.
Vielen herzlichen Dank.
({3})
Vielen Dank, Frau Kollegin Albsteiger. - Ich schließe
damit die Aussprache.
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Antrag
der Fraktionen der CDU/CSU und SPD auf Drucksache 18/4929 mit dem Titel „Dem Europäischen Fonds
für strategische Investitionen zum Erfolg verhelfen“,
und zwar zur Stellungnahme gegenüber der Bundesregierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 des Grundgesetzes.
Wer für diesen Antrag stimmt, den bitte ich um ein
Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält
sich? - Dieser Antrag ist angenommen mit den Stimmen
von CDU/CSU und SPD gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke bei Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen.
Wir kommen jetzt zum Zusatzpunkt 5. Abstimmung
über den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache
18/4932 mit dem Titel „Für ein öffentliches sozial-ökologisches Zukunftsinvestitionsprogramm in Europa“.
Wer für diesen Antrag stimmt, den bitte ich um ein
Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält
sich? - Dieser Antrag ist mit den Stimmen von CDU/
CSU, SPD und Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke abgelehnt.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 11 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten
Norbert Müller ({0}), Thomas Nord, Caren
Lay, weiteren Abgeordneten und der Fraktion
DIE LINKE eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Finanzierung der Beseitigung
von Rüstungsaltlasten in der Bundesrepublik
Deutschland ({1})
Drucksache 18/4841
Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss ({2})
Finanzausschuss
Verteidigungsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
diese Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Ich sehe
keinerlei Widerspruch. Dann ist das somit beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen Norbert Müller für die Fraktion Die
Linke das Wort.
({3})
Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und
Kollegen! Liebe Besucherinnen und Besucher auf den
Tribünen! Krieg verursacht unermessliches Leid für
Menschen, und Krieg hinterlässt eine riesige Menge an
gefährlichem Müll. Seit dem 9. Mai 1945 stellt sich in
Deutschland folgende Frage: Was soll mit den ganzen
Weltkriegswaffen, Bomben und Granaten, passieren,
und wer ist für deren Entsorgung verantwortlich?
Die Bundesrepublik trägt aufgrund der Subjektidentität mit dem Deutschen Reich die Kosten der Entsorgung
sogenannter reichseigener Munition, also Wehrmachtsmunition, die im heutigen Territorium der Bundesrepublik Deutschland verblieben ist. Der Bund muss pro Jahr
etwa 30 Millionen Euro für deren Beseitigung aufbringen. Nun gibt es aufgrund des Verlaufs des Zweiten
Weltkrieges aber nicht nur reichseigene, sondern auch
eine ganze Menge alliierter Rüstungsaltlasten auf deutschem Staatsgebiet.
Ich komme aus Ostbrandenburg. Als ich ein kleines
Kind war, gab es immer die Belehrung, wenn wir im
Wald spazieren gegangen sind: Hebe nichts auf, was
nach Metall aussieht, es könnte explodieren. - Ostbrandenburg, das ist einer der Landstriche in Deutschland,
der im April 1945 durch die dortigen unnötigen Kampfhandlungen der Wehrmacht am meisten verwüstet worden ist. Häufig sind es Fliegerbomben, die zu unser aller
Leidwesen undetoniert in deutschem Boden liegen. Insgesamt haben die Alliierten etwa 1,3 Millionen Tonnen
Fliegerbomben eingesetzt, um das Deutsche Reich zur
Norbert Müller ({0})
Kapitulation zu bewegen. Davon sollen circa 250 000
nicht explodiert sein.
Wir wissen nicht genau, wie viele Bomben noch in
deutschem Boden liegen. Besonders betroffen sind die
Bundesländer Berlin, Hamburg, Brandenburg und Niedersachsen. Wer die Medien aufmerksam verfolgt hat,
hat mitbekommen, dass in Hannover erst Anfang der
Woche aufgrund der Entschärfung einer 250-Kilo-Weltkriegsbombe 31 000 Menschen ihre Wohnquartiere verlassen mussten - eine der größten Evakuierungen seit
1945.
Die anfallenden Kosten für die Entsorgung alliierter
Munition müssen die betroffenen Länder und die Kommunen seit nunmehr 70 Jahren selbst tragen. Seit 1990
hat die Erkundung, Entschärfung und Entsorgung alliierter Rüstungsaltlasten, insbesondere von Fliegerbomben,
alleine mein Land Brandenburg etwa 220 Millionen
Euro gekostet, die anderswo dringender gebraucht werden. Die anderen betroffenen Bundesländer stehen vor
ähnlichen Herausforderungen. Für die Betroffenen ist
völlig klar: Es gilt das Verursacherprinzip, und Verursacher des Zweiten Weltkriegs sind nicht die Alliierten,
auch nicht die Kommunen oder die Länder, sondern das
Deutsche Reich und in Folge und Verantwortung die
Bundesrepublik Deutschland, die dieses Erbe nicht ausschlagen kann, sondern annehmen muss.
Mit der Beschlussfassung über den Entwurf eines Gesetzes über die Finanzierung der Beseitigung von Rüstungsaltlasten in der Bundesrepublik Deutschland hat
der Bundesrat zuletzt am 11. Juli 2014, und damit insgesamt zum sechsten Mal nach 1992, 1997, 2001, 2003
und 2011, die Bundesrepublik Deutschland in die Pflicht
nehmen wollen. Was ist seit 1992 mit diesem inzwischen
nahezu einstimmig getroffenen Beschluss des Bundesrates passiert? Nichts! Es ist jedes Mal gar nichts passiert.
Jede Bundesregierung seit Helmut Kohl hat dieses
Thema abgewürgt, ausgesessen oder schlichtweg ignoriert. Daran sind nahezu alle Parteien in diesem Haus beteiligt. Die Sozialdemokraten waren bei Abstimmungen
im Bundestag 1993 und 1998 als Oppositionsfraktionen
dafür. Jürgen Trittin - er war grüner Minister für Bundes- und Europaangelegenheiten in Niedersachsen, er
war sogar Beauftragter des Bundesrates für die Rüstungsaltlastenfinanzierung - hat als Minister im Kabinett
Gerhard Schröder gegen sein eigenes Gesetz gestimmt.
Die CDU war zeitversetzt adäquat verwirrt: Sie war
1993 und 1998 im Bund unter Bundeskanzler Kohl dagegen, dass sich der Bund an der Kostenfinanzierung beteiligt, in der Opposition 2004 dann aber dafür.
Seit der Großen Koalition unter Kanzlerin Merkel
war man sich einig, dass man am besten gar nicht mehr
über das Thema spricht. Seit dem letzten großen Anlauf
2011 warten die Bundesländer nun darauf, dass die
Große Koalition das Gesetz in den Bundestag einbringt.
Die Rechnung der Bundesregierung scheint klar - das ist
Ihrem Bericht zu entnehmen -: Je mehr Zeit vergeht,
umso mehr Munition wird in der Zwischenzeit auf Kosten der Kommunen und der Länder entsorgt. Wo die
schwarze Null den Haushalt regiert, müssen die berechtigten Interessen der eigenen Landesregierung hintanstehen. Es waren Landesregierungen aus CDU, aus SPD,
häufig auch aus FDP, Grünen und Linken, die dem Gesetz zugestimmt oder es in den Bundesrat eingebracht
haben.
Das Aussitzen hier im Bund ist verdammt gefährlich.
Nach über 70 Jahren verwittern langsam die Kunststoffund Zellulosesicherungen der chemischen Langzeitzünder von Fliegerbomben. Hierdurch wird eine Entschärfung massiv erschwert und lebensgefährlich. Selbst sogenannte Spontandetonationen ohne jeglichen äußeren
Einfluss in besiedelten Gebieten sind nicht auszuschließen. Dass es in der Vergangenheit Spontandetonationen
nur in unbesiedelten Gebieten gegeben hat, dass kaum
jemand zu Schaden gekommen ist, dass es nur Sachschäden gab, das grenzt - und ich bin nicht besonders gläubig - fast an ein Wunder. Wir können nur hoffen, dass es
auch in Zukunft so ist; aber man darf eben nicht nur hoffen, sondern muss die Beseitigung von Rüstungsaltlasten
aus dem Zweiten Weltkrieg, insbesondere die systematische Suche nach Fliegerbomben und deren Entschärfung, auch vorantreiben.
({1})
Dabei kann man die Länder nicht mehr im Regen stehen
lassen. Da muss der Bund in die Finanzierung mit eintreten; er ist hier auch in der Pflicht. Die Bundesregierung
gefährdet das Leben der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Kampfmittelbeseitigungsdienste sowie von Bürgerinnen und Bürgern, die über Blindgängern wohnen
oder arbeiten.
Kollege Uwe Feiler - Sie sind anwesend -, ich habe
Ihr Interview im Rundfunk Berlin-Brandenburg gesehen.
Ich finde es, ehrlich gesagt, der Sache völlig unangemessen, zu argumentieren, man könne ja im Rahmen der
Neuregelung der Bund-Länder-Finanzbeziehungen dann
irgendwann mal darüber reden, 2018/2019. Nein, wir
brauchen keine Regelung 2018/2019, wir brauchen jetzt
eine Regelung. Die Länder warten seit 25 Jahren darauf
und haben sechsmal im Bundesrat dafür gestimmt.
({2})
Wir haben uns als Linksfraktion des vom Bundesrat
erteilten Auftrags an die Bundesregierung angenommen.
Wir haben lange genug gewartet, dass die Bundesregierung, die Koalition selbst aktiv wird aufgrund des Beschlusses des Bundesrates, und bringen einen entsprechenden Gesetzentwurf nun selbst in den Deutschen
Bundestag ein. Damit haben Sie, liebe Kolleginnen und
Kollegen Abgeordneten der SPD und der Union - eingeladen sind auch die Kolleginnen und Kollegen der Grünen -, die Möglichkeit, den auch von Ihren Landesregierungen getragenen Beschluss zum Gesetz zu erheben
und den Bund endlich in die Verantwortung zu nehmen
und an der Finanzierung der Beseitigung von Rüstungsaltlasten zu beteiligen. Zeit wird es.
Vielen Dank.
({3})
Nächster Redner ist für die CDU/CSU der Kollege
Klaus-Dieter Gröhler.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Seit Mai
1945, also in den 70 Jahren seit Kriegsende, sind in Berlin circa 1,8 Millionen Sprengkörper aufgefunden und
unschädlich gemacht worden. Nach Schätzungen der
Berliner Landesregierung sind etwa noch 3 000 Blindgänger im Boden der Bundeshauptstadt vorhanden. Allein im letzten Jahr wurden in Berlin 54 Tonnen Bomben, Granaten und Munition aufgefunden und entschärft.
In Niedersachsen sind es jährlich zwischen 50 und
90 Tonnen, und in dem Bundesland mit der größten Munitionsbelastung, nämlich Brandenburg, sind im vorletzten Jahr 270 Tonnen Altmunition geborgen worden. - So
weit die Darstellung der Istsituation, die hier im Haus sicherlich von keiner Fraktion bestritten wird.
Ich gebe gerne zu: Das ist eine große Herausforderung. Da, Herr Kollege Müller, sind wir uns einig. Wir
kommen nur zu völlig unterschiedlichen Bewertungen in
der Frage, welche Schlussfolgerungen wir daraus ziehen
müssen. Sie kommen zu falschen; denn Sie haben hier
eben den Eindruck vermittelt, dass eine große Gefahr für
die Bevölkerung dadurch entstehen würde, dass der
Bund in dieser Frage völlig untätig sei, und haben das
mit einem Rundumschlag im Hinblick auf zahlreiche
Bundesregierungen verbunden. Genau das ist falsch;
denn die Zahlen, die ich Ihnen eben geschildert habe, zur
Munitionsbergung in den unterschiedlichen Bundesländern, zeigen ja, dass Munition aufgefunden, geborgen
und unschädlich gemacht wird. Bitte vermitteln Sie doch
nicht gegenüber der Bevölkerung den Eindruck: Hier besteht eine ganz große Gefahr, nur weil die Bundesregierung untätig ist. - Das ist so nicht richtig.
Sie schreiben in Ihrem Gesetzesentwurf - ich darf zitieren -:
… eine angemessene Lastenteilung zwischen Bund
und Ländern bei der Finanzierung von Maßnahmen
zur Beseitigung von Rüstungsaltlasten … zu regeln.
Dabei übersehen Sie zum einen, dass es eine solche
Lastenteilung bereits gibt. Zum anderen machen Sie den
Fehler, in Ihrem Gesetzentwurf zu fordern, dass der
Bund in Zukunft allein die Kosten übernehmen soll. Die
Lastenteilung existiert: Allein 2013 hat der Bund den
Ländern 26,3 Millionen Euro für die Beseitigung von
Kampfmitteln erstattet. Im aktuellen Haushaltsplan, für
2015, sind erneut 25 Millionen Euro vorgesehen, und ich
bin sicher, dass es auch im Haushaltsplan 2016 wieder so
sein wird. Es gibt eine ganz klare Teilung in der Finanzverantwortung zwischen Bund und Ländern, die auch
völlig logisch ist: Der Bund als Rechtsnachfolger des
Deutschen Reiches kommt für die Finanzierung der Beseitigung deutscher Kampfmittel auf und für die Munitionsbergung auf bundeseigenen Grundstücken. Die
Länder wiederum zahlen die Beseitigung von Munition
der ehemaligen Alliierten auf den übrigen Flächen im
Rahmen ihrer Zuständigkeit für die Abwehr von Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung.
Ein brandenburgischer Innenminister, meine Damen
und Herren, hat in diesem Zusammenhang einmal richtig
bemerkt - ich darf zitieren -:
Die Folgen des Zweiten Weltkrieges sind ein gemeinsames Erbe. Ihre Beseitigung ist damit eine
gesamtstaatliche Aufgabe und nicht die Sache einzelner Länder.
Genau das stimmt: eine gesamtstaatliche Aufgabe, von
Bund und Ländern; übrigens wird das seit Jahrzehnten
so gehandhabt. Dieser Satz stammt nicht vom heutigen
brandenburgischen Innenminister, sondern ist elf Jahre
alt und stammt von Jörg Schönbohm. Er wehrte sich damals dagegen, dass der frühere Bundesfinanzminister
Hans Eichel jegliche Bundesbeteiligung ab 2006 streichen und diese Aufgabe komplett den Bundesländern
aufbürden wollte. Dazu ist es nicht gekommen, und dafür besteht auch keine Veranlassung. Ich plädiere daher
dafür, dass wir die über Jahrzehnte geübte Praxis der
Lastenteilung der Verantwortung auch weiterhin beibehalten.
Die Bundesrepublik Deutschland besteht aus 16 sehr
selbstbewussten Bundesländern, die selbst auch eine
Staatsqualität haben. Diese Staatsqualität bedeutet nicht
nur Rechte, sondern auch Pflichten - auch finanzielle
Pflichten. Die Bundesländer sind ja keine nachgeordneten Verwaltungseinrichtungen des Bundes, die einfach
sagen können, dass sie zusätzliches Geld brauchen, sondern sie haben eine eigene Verantwortung. Ich kann inzwischen nicht mehr hören, dass es ständig heißt: Das
schaffen die Länder nicht, hier sind die Länder überfordert, sie brauchen hier vom Bund mehr Geld, da könnte
der Bund noch eine Aufgabe übernehmen. - So funktioniert die Argumentation nicht, weil auch die Länder unserer Bundesrepublik von der sehr guten wirtschaftlichen Lage profitieren. Sie nehmen jährlich 10 Milliarden
Euro Steuern mehr ein, und deshalb kann man nicht immer neue Forderungen an den Bund stellen.
Darüber hinaus gibt es eine beispiellose Mittelumverteilung vom Bund an die Länder. Gerade heute, am Tag
des Nachtragshaushalts, darf ich das noch einmal in Erinnerung rufen: 125 Milliarden Euro gehen im Zeitraum
von 2010 bis 2018 zusätzlich vom Bund an die Länder,
und ich glaube, ich darf einmal sagen: Noch nie hat eine
Bundesrepublik Deutschland so kommunal- und länderfreundlich gehandelt wie unter der Kanzlerschaft von
Angela Merkel und ihrem Finanzminister Wolfgang
Schäuble.
({0})
Manchmal habe ich den Eindruck, dass wir dafür ein
Stückweit bestraft werden, nach der Devise: Der Bund
gibt so viel, jetzt kann er noch mehr geben. Ich glaube
aber, diese Argumentation ist falsch, und wir sollten sie
auch dringend unterlassen, weil der Bund nicht die Kuh
ist, die man ständig melken kann.
Lassen Sie mich Ihnen noch eine letzte Zahl nennen:
Das Land Brandenburg hat seit seiner Wiederherstellung
als Bundesland vor 25 Jahren 117 Millionen Euro vom
Bund für die Beseitigung von Munition und Bomben erhalten.
({1})
Es gibt also eine ganz klare Lastenteilung, und an der
gibt es nichts zu rütteln.
Ich stimme mit meinem Kollegen Feiler darin überein, dass man im Rahmen von Bund-Länder-Reformbestrebungen im Bereich der Finanzen über diese Frage
nachdenken kann. Heute gibt es in diesem Punkt aber
nichts zu entscheiden - und schon gar nicht auf der
Grundlage Ihres Gesetzentwurfs.
Herzlichen Dank.
({2})
Der Kollege Dr. Tobias Lindner vom Bündnis 90/Die
Grünen spricht als Nächster.
({0})
Vielen Dank. - Herr Präsident! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren!
Lieber Kollege Gröhler, ich glaube, wenn sich ein
Thema wenig eignet, um über die Frage, ob Anträge
oder Gesetzentwürfe der Linksfraktion in diesem Haus
immer sinnvoll sind oder nicht, und über die Reform der
Bund-Länder-Finanzbeziehungen zu streiten, die ja notwendig ist - wir alle in diesem Haus sehen ja die Notwendigkeit -, dann sind es die Hinterlassenschaften des
Zweiten Weltkrieges, die immer noch in unserer Erde
schlummern und tagtäglich eine Gefahr in sich bergen.
({0})
Wir haben vor wenigen Wochen den 70. Jahrestag des
Endes des Zweiten Weltkrieges begangen und der Opfer
gedacht. Wir haben es heute immer noch mit Blindgängern zu tun, die im Boden liegen, und immer noch
kommt es in Deutschland nahezu jährlich zu Todesopfern, wenn bei Bauarbeiten ein Blindgänger nicht
rechtzeitig entdeckt wird. Lassen Sie mich eines sagen:
Die Situation wird nicht dadurch besser, dass man abwartet. Der Kollege Müller hat zu Recht den Zustand
vieler Zünder erwähnt. Ich will hier jetzt gar nicht zu
technisch werden, aber ich will Ihnen ausdrücklich zustimmen, Herr Kollege: Die Gefahr wird nicht dadurch
geringer, dass wir hier zuwarten.
Es ist auch schon daran erinnert worden, dass es sechs
Bundesratsinitiativen mit unterschiedlichen Mehrheiten
in diesem Hohen Hause gab. Herr Kollege Müller, ich
sehe es Ihnen nach, dass Sie von Ihren Fraktionskollegen
im Haushaltsausschuss noch nicht darüber informiert
wurden: Auch meine Fraktion hat in den letzten Jahren
die Notwendigkeit gesehen, dass der Bund tätig wird.
Bei den Haushaltsberatungen haben wir in den letzten
Jahren immer 10 Millionen Euro in den Bundeshaushalt
einstellen wollen, um einen Anfang zu machen, damit
die Länder eine größere Unterstützung durch den Bund
haben als bisher, wenn es darum geht, Munition zu beseitigen und Gefahren zu vermeiden.
({1})
- Herr Kollege, wir können über eine gesetzliche Regelung sehr gerne reden. Aber Sie werden mir, glaube ich,
nicht widersprechen, dass es nicht nur um eine gesetzliche Regelung, sondern nun mal auch um finanzielle Mittel geht.
Ich will für meine Fraktion sagen: Es geht hier nicht
um ein Schwarz-Weiß-Denken in den Beratungen, die
wir vor uns haben, sondern um die Frage, wie wir zu einer gerechten Lastenverteilung kommen: Müssen wir da
nachjustieren? Kann man hier auch über ein Sonderprogramm des Bundes etwas erreichen? Ich will mich hier
gar nicht auf eine rechtliche Exegese einlassen, ob die
Lasten hundertprozentig bei den Ländern, hundertprozentig beim Bund liegen sollten oder - wie auch immer - geteilt werden sollten. Dafür, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist dieses Thema viel zu ernst.
Lassen Sie mich, wenn wir beim Thema Geld sind, eines sagen. Wir haben über sechs Bundesratsinitiativen
gesprochen. Die Finanzverhältnisse gerade des Bundes
haben sich seit 1992, als es die erste Initiative gab, deutlich zum Besseren verändert. Wir haben gerade erst vor
zwei Stunden hier in diesem Hohen Hause über einen
Nachtragshaushalt gesprochen. Die Große Koalition feiert sich regelmäßig für die schwarze Null.
({2})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, bei allem Feiern der
schwarzen Null und des Nachtragshaushalts: Wir reden
hier über überschaubare Beträge. Noch gestern haben
wir im Haushaltsausschuss in der Bereinigungssitzung
viel größere Beträge verändert. Wenn wir jetzt darüber
reden, ob wir zu den 25 Millionen Euro, die der Bund
jährlich für die Beseitigung reichseigener Munition bereitstellt, vielleicht die gleiche Summe oder eine Summe
ähnlicher Größenordnung dazulegen, sollte uns klar
sein: Das ist für den Bund leistbar und machbar, und es
mindert Gefahren in der Zukunft.
({3})
Nächster Punkt. Herr Kollege Gröhler, ich bin durchaus ein Anhänger der These, dass der Föderalismus in
Deutschland große Vorteile bringt: Die Länder können
und sollen eigene Verantwortung übernehmen und eigene Antworten geben. Aber was mir noch niemand in
diesem Hause erklären konnte, ist, wie man ein Bundesland dafür verantwortlich machen kann, dass es im
Zweiten Weltkrieg mehr oder weniger stark von Bomben
der Alliierten getroffen worden ist. Ich bin der Meinung,
wir können die Bundesländer nicht dafür verantwortlich
machen.
({4})
Wir können beispielsweise Brandenburg nicht dafür in
die Verantwortung ziehen, dass es im Zweiten Weltkrieg
besonders stark getroffen wurde. Deswegen, liebe Kolleginnen und Kollegen, möchte meine Fraktion, dass der
Bund hier mehr Verantwortung übernimmt als bisher.
Ich glaube - damit will ich zum Schluss kommen -,
der Gesetzentwurf der Linksfraktion ist ein guter Anlass,
in den Ausschüssen darüber nachzudenken, wie wir hier
zu Lösungen kommen können. Ich habe auch erwähnt:
Meine Fraktion war in der Vergangenheit offen für dieses Thema und hat eigene Vorschläge gemacht. Ich
würde mich sehr freuen, wenn wir hier über Partei- und
Fraktionsgrenzen hinweg eine pragmatische Lösung finden könnten, im Sinne der Menschen, die immer noch
unter den Gefahren dieser Munition leiden.
Ich danke Ihnen.
({5})
Für die SPD hat jetzt der Kollege Dr. Hans-Ulrich
Krüger das Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
70 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs gehört
die Beseitigung sogenannter Rüstungsaltlasten, zum
Beispiel Fliegerbomben - meine Kollegen haben es
schon angeführt -, nach wie vor zu den großen Problemen, die die Länder und der Bund zu bewältigen haben.
Gefahren für Mensch und Umwelt lauern überall. Sie
schlagen sich in Form von Bodenvergiftungen, Gewässerverschmutzungen und Explosionsgefahren nieder.
70 Jahre alte Fliegerbomben und Explosionsmaterialien
sind einem chemischen Veränderungsprozess ausgeliefert, der Grundwasserverunreinigungen und Schlimmeres befürchten lässt. Diese Rüstungsaltlasten sind Hinterlassenschaften zum einen aus Kriegen, zum anderen
von Rüstungsindustrie und alten Truppenübungsplätzen.
Gemeinsam ist beiden Ursachen jedoch der erhebliche
Aufwand, der mit der Beseitigung der Altlasten verbunden ist.
Es ist in der Tat kein Geheimnis, dass die Länder in
vielen Fällen finanziell überfordert sind und wichtige
Sanierungsaufgaben unerfüllt bleiben. Die Gefahren für
Umwelt und Mensch bleiben demgemäß bestehen. Ich
bin mir sicher, dass jeder von uns gut nachvollziehen
kann, dass diese Gefährdung bedrückend ist, insbesondere für Regionen, die zu den - ich sage das durchaus in
Gänsefüßchen - beliebten Zielen während der Zeit des
Zweiten Weltkrieges gehört haben. Ich bin mir auch darüber im Klaren, dass hieraus nicht nur gesundheitliche,
menschliche und soziale, sondern auch wirtschaftliche
Nachteile resultieren können, zum Beispiel, wenn Investoren sich zurückziehen, weil sie die finanziellen Bedingungen, unter denen sie arbeiten sollen, nicht kalkulieren
können.
Vor diesem Hintergrund sind die beiden letzten Bundesratsinitiativen der Länder Brandenburg und Niedersachsen - sie wurden eben schon angesprochen - aus
den Jahren 2011 und 2014 zu sehen, die sich die Fraktion
Die Linke zu eigen gemacht hat. Diese Bestrebungen der
beiden Bundesländer sind dem Grunde nach durchaus
nachvollziehbar.
({0})
Bereits seit 1992 wird nahezu in jeder Legislaturperiode
fast ein und derselbe Gesetzentwurf vorgelegt.
Ohne die Bedeutung zu verkennen - ich hoffe, das
habe ich deutlich gemacht -, ist meines Erachtens eine
Lösung in Form des von den Linken vorgelegten
Entwurfs kaum machbar. Mit dem Gesetzentwurf wird
beabsichtigt, die Finanzierung der Maßnahmen zur Beseitigung von Rüstungsaltlasten grundlegend und einseitig zulasten des Bundes zu verändern. Nach den §§ 1, 2,
3 und 5 des Entwurfs soll der Bund auch die Kosten für
nicht weltkriegsbezogene Lasten tragen. Dagegen sprechen meines Erachtens eindeutig verfassungsrechtliche
Aspekte.
In Artikel 104 a des Grundgesetzes ist das sogenannte
Konnexitätsprinzip verankert, das besagt: Die Ausgabenlast folgt der Aufgabenlast. Mit anderen Worten: Hat
das Land eine Aufgabe, muss es diese finanzieren; hat
der Bund eine Aufgabe, muss jener sie finanzieren. Das
Grundgesetz lässt Abweichungen nur dort zu, wo ausdrücklich etwas anderes geregelt ist. Der Gesetzentwurf
bezieht sich im Kern auf Aufgaben, die der Gefahrenabwehr zuzurechnen sind. Das sind Bodenschutzmaßnahmen und Sanierungsbestrebungen - alles Dinge, die
nach unserer verfassungsrechtlichen Zuständigkeitsordnung Länderaufgaben sind.
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf will man vom
Konnexitätsgrundsatz in Artikel 104 a Grundgesetz abweichen. Das wiederum ist aber nur zulässig, wenn es
dafür eine Norm gibt. Die Norm, um die es hier geht, ist
Artikel 120 Grundgesetz, wonach dem Bund die Befugnis eingeräumt wird, Regelungen über Aufwendungen
für innere und äußere Kriegsfolgelasten zu treffen. In
diesem Zusammenhang gibt es eine einschlägige, aus
Sicht von einigen von Ihnen leider immer noch einschlägige Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, wonach dem Gesetzgeber jede Befugnis in diesem Bereich
nur dann zukommt, wenn es um Kriegsfolgelasten geht,
die ausschließlich durch den Zweiten Weltkrieg verursacht worden sind. Dass der Krieg auch eine Ursache für
eine Last ist, reicht nach unserer aktuellen Verfassungsgrundlage nicht aus.
Das ist nun der Punkt in dem Gesetzentwurf: Rüstungsaltlasten sollen auch Grundstücke sein, auf denen
nach dem 30. Januar 1933 mit rüstungsspezifischen
Stoffen oder Kampfmitteln umgegangen worden ist.
Außerdem ist § 3 zu erwähnen, in dem auch Sanierungsmaßnahmen als in die Zukunft gerichtetes Handeln
allein dem Bund zur Last gelegt werden sollen. Die Kosten für diese Sanierungsmaßnahmen sollen dem Bund in
Rechnung gestellt werden. Das geht so leider nicht; denn
die im Gesetzentwurf genannten Zielsetzungen sind
größtenteils der Gefahrenabwehr zuzuordnen und damit
Aufgabe der Länder.
Im Übrigen trägt der Bund - der Kollege von der
CDU sprach das eben schon an - nach der Staats- und
Verwaltungspraxis, die wir aktuell haben, bereits einen
sehr hohen Anteil an der Finanzierung der Beseitigung
der Altlasten. Er finanziert die Maßnahmen der Gefahrenbeseitigung auf nicht bundeseigenen Grundstücken,
sofern sie durch reichseigene Kampfmittel verursacht
worden sind. Zudem übernimmt er auf seinen Grundstücken natürlich ebenso seit 50 Jahren die Kosten für die
Beseitigung der entsprechenden Kriegsfolgelasten. Er
wendet ferner - die Summe wurde eben schon angesprochen - circa 25 Millionen Euro pro Jahr auf, um auf
nicht bundeseigenen Grundstücken Gefahren zu beseitigen.
Sie sehen: Die finanziellen Mittel, die der Bund zur
Verfügung gestellt hat und stellt, sind nicht unerheblich.
Aber - das ist genau der Punkt, über den wir hier heute
zu diskutieren haben - welche Mittel benötigen die Länder, um den ihnen obliegenden Anteil an dieser - ich zitiere - gesamtstaatlichen Aufgabe endgültig erfüllen zu
können? Im Gesetzentwurf wird davon ausgegangen,
dass sich die Kosten mehr als verdoppeln; genauere Berechnungen fehlen. Da muss ich als Haushälter natürlich
sagen: Das ist keine Berechnungsgrundlage. Das ist kein
Punkt, den man ausgehend vom Grundsatz der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit zur Richtschnur seines
Handelns machen könnte. Denn - und das ist auch die
Erfahrung der Staatspraxis - Diskussionen bezüglich des
effizienten Mitteleinsatzes sind in der Regel immer da
die Folge, wo ich eine Alleinfinanzierung des einen und
die Durchführung des anderen habe.
Ich komme zu dem Ergebnis, dass der vorliegende
Gesetzentwurf in seiner bisherigen Form keine Chance
hat, die angesprochenen Probleme nachhaltig zu beseitigen. Nichtsdestotrotz besteht das Gesamtproblem. Wie
ich eingangs angesichts der Gefährdungslage für die betroffenen Regionen ausgeführt habe, gibt es heute erhebliche Aufgaben, bei denen mir bewusst ist, dass die Länder sie nicht oder nicht hinreichend immer werden
erfüllen können.
Von daher bleibt uns im Hinblick auf das aktuelle Gesetzgebungsvorhaben und die aktuelle Diskussion nur
die Frage: Gibt es nicht einen neuen Lösungsansatz beispielsweise in der Form eines Bundeskonversionsprogramms? Gibt es nicht andere Lösungsansätze? Darüber,
ob diese geeignet sind oder nicht, Herr Kollege Lindner,
können andere streiten. Darüber haben die Länder dann
im Rahmen der Bund-Länder-Finanzbeziehung zu beraten.
Leider muss ich ausführen: All diese wichtigen und
richtigen zukunftsorientierten Ansätze werden leider mit
der jetzigen Form des Gesetzentwurfs nicht zu erreichen
sein. Vielmehr wird es weiterer Argumente und weiterer
Auseinandersetzungen bedürfen. Vielleicht können sie
an dieser Stelle im weiteren Verlauf des Verfahrens geführt werden. Vielleicht müssen sie aber auch an anderer
Stelle geführt werden.
Ich danke Ihnen.
({1})
Nächster Redner für die CDU/CSU ist der Kollege
Alois Karl.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In
der Vorbereitung der heutigen Diskussion über den Antrag der Linken ist man durchaus geneigt, eine gewisse
Zeitspanne zurückzuschauen; Herr Dr. Lindner, Sie hatten das angesprochen. Es ist noch nicht lange her, dass
wir hier am 8. Mai 2015 in einer wirklich sehr bemerkenswerten Feststunde dem 70. Jahrestag der Beendung
des Zweiten Weltkrieges und der totalen Kapitulation
und Befreiung Deutschlands vom Nationalsozialismus
gedacht haben.
70 Jahre haben manches Leid nicht gelindert. Dies betrifft insbesondere den Tod von Angehörigen. Der persönliche Schmerz wirkt genauso nach wie das Thema,
das Sie ansprechen, nämlich dass Altlasten in der Tat
70 Jahre überdauert haben. In den Bundesländern ist das
ganz gewiss verschieden verteilt. Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg sind möglicherweise stärker
belastet als viele andere Regionen; das gilt insbesondere
für die Stadt Oranienburg.
Man geht davon aus, dass im Zweiten Weltkrieg Millionen Bomben über Deutschland abgeschmissen worden sind. Seriöse Berichterstattungen sagen, jede zehnte
Bombe sei nicht explodiert. Das hieße, dass Hunderttausende nicht explodiert sind und im Laufe der Jahre und
Jahrzehnte auch teilweise entschärft wurden. Wir gehen
davon aus, dass seit Ende des Zweiten Weltkrieges etwa
300 000 Bomben entschärft worden sind. Der Innenminister Bayerns hat mir mitgeteilt, 180 000 Tonnen an
Bomben und Munition seien im vorletzten Jahr in Bayern entschärft worden. Die anderen Bundesländer - wir
haben das gehört - haben entsprechende Zahlen vorzuweisen.
Ich weiß ein wenig, wovon ich spreche, da ich selber
kommunalpolitisch tätig war und meine Stadt zum Ende
des Zweiten Weltkrieges, 14 Tage vor dem 8. Mai, total
zerstört worden war. 92 Prozent der Innenstadt wurden
zerstört. 50 Jahre später gab es bei einem SchulhausneuAlois Karl
bau in der Tat die Probleme, von denen wir heute gehört
haben. Wir mussten damals Bombenkataster einsehen
und Unterlagen der amerikanischen Armee anfordern.
Der Kampfmittelräumdienst hat damals eine schwierige
Aufgabe gehabt.
Ich möchte an dieser Stelle auch einmal denen unseren herzlichen Dank aussprechen, die fast tagtäglich
- auch unter Einsatz ihres Lebens - diese schwierigsten
Aufgaben erfüllen, damit wir Stadtentwicklung und Entwicklung unseres Landes betreiben können.
({0})
Ich meine schon, dass das viel wert ist. Wir, die wir Verantwortung haben, müssen Vorsorge und Fürsorge betreiben, aber andere müssen die Arbeit machen.
Über den Gesetzentwurf der Linken
({1})
ist schon manches gesagt worden, sodass ich nicht noch
einmal auf jedes Detail eingehen muss. Dieser Gesetzentwurf hat ja in Wahrheit nur einen einzigen Inhalt und
einen Sinn, nämlich eine Kostenverlagerung weg von
den Bundesländern hin zum Bund.
({2})
Das ist ein Punkt, bei dem Sie sehr, sehr kurz greifen.
In diesen Tagen diskutieren wir darüber, dass wir ein
Programm in Höhe von 6 Milliarden Euro für die Bundesländer, die Kommunen, die Gemeinden und die
Landkreise zur Stärkung ihrer Investitionstätigkeit auf
den Weg bringen. Wenn Sie die Eingliederungshilfe dazunehmen, sehen sie: Zulasten des Bundes und zugunsten der Bundesländer geben wir 18 Milliarden Euro aus;
damit stärken wir unsere Kommunen, aber auch unsere
Länder. Wenn wir die Grundsicherung im Alter dazunehmen - diese haben wir übernommen -, sehen Sie: Wir
stellen den Bundesländern etwa 55 Milliarden Euro zur
Verfügung. Wir nehmen ihnen diese Last ab und schultern sie dem Bund auf. Bei den KdU, den Kosten der
Unterkunft, ist es das Gleiche.
Natürlich könnten wir bei all diesen Konglomeraten,
bei diesen hohen Zahlen die Bundesländer ein bisschen
weniger entlasten und 25 oder 30 Millionen Euro für die
Rüstungsaltlasten zur Verfügung stellen, aber das wäre
ein reines Nullsummenspiel. Damit wäre niemandem geholfen. Das wäre auch keine seriöse Politik. Damit würden wir in das Fahrwasser Ihres Gesetzentwurfs kommen.
({3})
Von Ihnen, lieber Dr. Krüger, wurde gesagt, dass es
eigentlich ein Problem der Finanzbeziehungen des Bundes und der Länder ist, dass wir diese Finanzbeziehungen tausendfach haben. Sie gehören möglicherweise neu
geregelt. Da greift der Gesetzentwurf aber in der Tat zu
kurz. Ich bin zuversichtlich, dass wir Lösungsansätze
finden, aber in einem anderen Konzept und nicht so singulär, nicht so pointiert auf die Rüstungsaltlasten bezogen. Jedes andere Land hat gewiss auch Nöte, die es vorbringen kann, und Argumente, da und dort vom Bund
mehr zu verlangen.
Nein, ich glaube, die Finanzausgleiche, die wir vom
Bund zu den Ländern augenblicklich herstellen, sind außerordentlich großzügig bemessen. Damit muss es auch
gerade in der verfassungsrechtlichen Situation, die Sie,
Dr. Krüger, beschrieben haben, heute so verbleiben. Damit kann Ihrem Antrag kein Erfolg beschieden sein.
Vielen Dank.
({4})
Als abschließendem Redner in dieser Aussprache erteile ich jetzt das Wort dem Kollegen Uwe Feiler für die
CDU/CSU.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wir beraten heute über ein Thema, das wiederholt Gegenstand der Diskussion unabhängig von der
politischen Farbenlehre in diesem Hause war, das für die
betroffenen Menschen vor Ort jedoch noch keine befriedigende Lösung bietet. Als direkt gewählter Abgeordneter für den Wahlkreis Oberhavel-Havelland vertrete ich
auch die Interessen der Einwohner Oranienburgs, einer
Stadt, die sich des Titels der Bundeshauptstadt der
Blindgängerbelastung leider nicht erwehren kann. Nirgendwo sonst werden bis heute so viele Blindgänger mit
chemischen Langzeitzündern gefunden und noch im
Boden vermutet wie in der Stadt Oranienburg.
Der Kampfmittelbeseitigungsdienst der brandenburgischen Polizei hat allein 2013 Rüstungsaltlasten mit
Kosten von circa 11 Millionen Euro beseitigt. Die Stadt
Oranienburg selbst trifft eine jährliche Vorsorge von
rund 2 Millionen Euro für die begleitenden Maßnahmen
als Ordnungsbehörde und für die städtischen Liegenschaften. Diese Summe stellt für eine Stadt mit etwa
40 000 Einwohnern eine große finanzielle Belastung dar,
die sich im brandenburgischen kommunalen Finanzausgleich leider nicht widerspiegelt.
Schon alleine vor diesem Hintergrund bildet der
Gesetzentwurf der Linksfraktion, die in Brandenburg
mitregiert und jetzt wortgleich den Gesetzentwurf des
Bundesrates aufwärmt, kein geeignetes Mittel, um diesem Missstand zu begegnen.
Das Gesetz nennt sich im vorliegenden Entwurf
„Rüstungsaltlastenfinanzierungsgesetz“. Der Name ist
treffend. Denn er beruft sich als Grundlage auf Artikel 120 Absatz 1 des Grundgesetzes, umfasst im Gegensatz zu diesem aber nicht nur die Kriegsfolgealtlasten
des Zweiten Weltkrieges, sondern ist gleichzeitig das
Bekenntnis, dass die Länder mit ihrer Aufgabe der Gefahrenabwehr überfordert zu sein scheinen.
Gerade aus Brandenburg war in den vergangenen Monaten mehr und mehr die Vokabel der „nationalen Aufgaben“ zu vernehmen. Hinter diesem Begriff, der nichts
anderes als eine finanzielle Mehrforderung verschleiern
soll, steckt zum einen der Versuch, ureigene Länderaufgaben durch das neue Etikett besonders wichtig erscheinen zu lassen und den Bund als Zahlmeister zu gewinnen. So wird die Bildungspolitik von Vertretern der
Landesregierung ebenso als nationale Aufgabe klassifiziert wie die innere Sicherheit, die Unterbringung von
Asylbewerbern, der Ausbau der Kinderbetreuung oder
eben auch die Kampfmittelbeseitigung.
Was die Ländervertreter bei dieser schiefen Argumentation verkennen, ist die Tatsache, dass sich die Länder
selber in ihrer Existenz infrage stellen, wenn sie sich nur
noch als bessere Regierungspräsidien für nationale Aufgaben des Bundes verstehen. Mein Verständnis ist das
zumindest nicht.
Herr Kollege Feiler, darf ich Sie fragen, ob Sie eine
Zwischenfrage des Kollegen Müller gestatten?
Ja.
Vielen Dank, Herr Kollege Feiler, dass Sie die Zwischenfrage zulassen. Ich frage Sie: Wissen Sie oder nehmen Sie zur Kenntnis, dass zu Zeiten der Großen Koalition im Land Brandenburg von 1999 bis 2009, als in
Brandenburg die Linke noch nicht regiert hat, sondern
in der Opposition war, die Union mit dem zitierten
Minister und stellvertretenden Ministerpräsidenten Jörg
Schönbohm zweimal in der Landesregierung eine Bundesratsinitiative mitgetragen hat, nämlich 2001 und
2003?
({0})
Sie liegt heute nahezu wortgleich als Entwurf eines Rüstungsaltlastenfinanzierungsgesetzes im Parlament vor.
Nehmen Sie zur Kenntnis, dass es diese Initiative
schon gab und dass das nicht unsere Erfindung war, sondern dass wir versuchen, berechtigte Interessen der Länder, die Sie als CDU in nahezu allen Landesregierungen
mitvertreten haben, im Bundesrat durchzusetzen? Warum haben Sie ein so großes Problem, sich darauf einzulassen und mit dem Bundesrat in die Debatte zu treten?
Warum sind Sie nicht selbst initiativ geworden? Warum
haben Sie den Gesetzentwurf nicht selbst eingebracht,
und warum haben Sie nicht die Möglichkeiten genutzt,
auch ohne dass wir die Initiative ins Plenum einbringen
mussten, mit den Ländern eine Vereinbarung zu treffen,
die berechtigten Interessen, die Ihre CDU-Landesverbände auch in Brandenburg schon seit Jahren so sehen,
zur Geltung bringen zu lassen?
Vielen Dank.
({1})
Ich gebe Ihnen recht - ich habe es vorhin schon erwähnt -: Es wurden mehrere Anträge unabhängig von
der Farbenlehre in diesem Haus eingebracht. Allesamt
sind sie negativ beschieden worden oder führten zu keiner Lösung. Ihr Gesetzentwurf ist wortgleich und wird
auch zu keiner Lösung führen. Wenn ich gleich mit meiner Rede fortfahre, werde ich einen Lösungsvorschlag
unterbreiten.
Zu Ihrem Vorwurf, was die CDU Brandenburg betrifft: Die CDU Brandenburg hat im Jahr 2010 für die
Erstellung eines Kampfmittelkatasters und die Aufstockung der Mittel geworben. Das haben die rot-rote Landesregierung bzw. die rot-rote Koalition abgelehnt. Jetzt
hat die CDU-Landtagsfraktion ihr Vorhaben wiederholt.
Der Antrag ist in einem Ausschuss des Landtages gelandet. Ich hoffe, dass das Kampfmittelkataster und ein
Konzept für die Kampfmittelbeseitigung in Brandenburg
erstellt werden. Denn Sie sprechen in Ihrem Antrag auch
von einem Fünfjahresfinanzplan. Ohne überhaupt ein
Konzept zu haben, legen Sie irgendwelche Zahlen dar,
die gar nicht nachweisbar sind. Schon deswegen ist Ihr
Antrag abzulehnen. - Das war meine Antwort auf Ihre
Zwischenfrage.
({0})
Es ist unbestritten, dass die Hinterlassenschaften des
Zweiten Weltkrieges, vor allem die vielen Blindgänger
der alliierten Luftangriffe, sehr gefährlich für die
Menschen sind und ihre Beseitigung eine aufwendige
Aufgabe für die betroffenen Länder darstellt. Der vorliegende Gesetzesvorschlag bietet dafür aber keine zufriedenstellende Lösung. Die Fraktion Die Linke möchte
sämtliche Kosten dem Bund auferlegen. Dafür soll die
bewährte und sinnvolle Staatspraxis aufgegeben werden.
Der Bund trägt nach dieser Staatspraxis die Kosten der
Kriegsfolgelasten auf bundeseigenen Liegenschaften
und der sogenannten reichseigenen Munition. Diese im
Grundgesetz gesicherte Staatspraxis wird seit über
20 Jahren immer wieder von den Ländern angegriffen.
Das ist verständlich; denn Kampfmittelbeseitigung ist
ein teures Geschäft. Die Beseitigung der Blindgänger ist
im Kern jedoch Gefahrenabwehr, ein im Kompetenzgefüge des Grundgesetzes den Ländern übertragenes Aufgabenfeld. Die hier aufgestellte Forderung, der Bund
solle alles zahlen, die Kompetenzen aber sollten bei den
Ländern bleiben, kann und darf so nicht funktionieren.
Der Arbeitskreis Steuerschätzung geht von einem
jährlichen Wachstum der Steuereinnahmen von 2 Prozent in den nächsten fünf Jahren aus. Das entspricht bis
2019 circa 4 Milliarden Euro. Brandenburg wird alleine
im laufenden und nächsten Jahr über 120 Millionen Euro
Mehreinnahmen haben, die nach meinem Verständnis
zunächst für Pflichtaufgaben wie auch die Bombenbeseitigung eingesetzt werden sollten. Für mich steht im Vordergrund, dass den Menschen in den betroffenen Städten, die es nicht nur in Brandenburg, sondern auch in
Niedersachsen, Sachsen und Nordrhein-Westfalen gibt,
geholfen und deren Sicherheit gewährleistet wird. Das
Fazit muss lauten: Die Bomben müssen weg.
Wir sollten deshalb nicht an Maximalforderungen
festhalten, sondern pragmatische Lösungen suchen, die
die Beteiligten in die Lage versetzen, die besonders gefährlichen Bomben mit chemischen Langzeitzündern
schneller als bisher sicher zu bergen. Ich kann mir gut
vorstellen, dass wir in gemeinsamen Gesprächen mit gutem Willen auf beiden Seiten zu einer Einigung finden.
Für unterstützenswert hielte ich die Auflage eines
Fonds - oder die Gründung einer Stiftung - für besonders belastete Regionen in Deutschland, der sich gleichermaßen aus Zuführungen der betroffenen Länder und
des Bundes speist und zu einer fairen Kostenverteilung
für alle führt. Eine komplette Kostenübernahme durch
den Bund ist aus meiner Sicht jedoch nicht geboten.
Ausschließlich die Rechnung nach Berlin zu schicken,
wird der Verantwortung der Länder für die Sicherheit
auch ihrer Bürgerinnen und Bürger nicht gerecht.
Danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({1})
Damit schließe ich die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 18/4841 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Dazu
sehe ich keinerlei andere Vorschläge. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 12 auf:
- Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({0}) zu dem Antrag der Bundesregierung
Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter
deutscher Streitkräfte an der EU-geführten
Operation Atalanta zur Bekämpfung der Piraterie vor der Küste Somalias auf Grundlage
des Seerechtsübereinkommens der Vereinten
Nationen ({1}) von 1982 und der Resolutionen 1814 ({2}) vom 15. Mai 2008, 1816
({3}) vom 2. Juni 2008, 1838 ({4}) vom
7. Oktober 2008, 1846 ({5}) vom 2. Dezember 2008, 1851 ({6}) vom 16. Dezember
2008, 1897 ({7}) vom 30. November 2009,
1950 ({8}) vom 23. November 2010, 2020
({9}) vom 22. November 2011, 2077 ({10})
vom 21. November 2012, 2125 ({11}) vom
18. November 2013, 2184 ({12}) vom 12. November 2014 und nachfolgender Resolutionen
des Sicherheitsrates der VN in Verbindung
mit der Gemeinsamen Aktion 2008/851/GASP
des Rates der Europäischen Union ({13}) vom
10. November 2008, dem Beschluss 2009/907/
GASP des Rates der EU vom 8. Dezember
2009, dem Beschluss 2010/437/GASP des Rates der EU vom 30. Juli 2010, dem Beschluss
2010/766/GASP des Rates der EU vom 7. Dezember 2010, dem Beschluss 2012/174/GASP
des Rates der EU vom 23. März 2012 und
dem Beschluss 2014/827/GASP vom 21. November 2014
Drucksachen 18/4769, 18/4964
- Bericht des Haushaltsausschusses ({14})
gemäß § 96 der Geschäftsordnung
Drucksache 18/4976
Über die Beschlussempfehlung werden wir später namentlich abstimmen.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind auch
für diese Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Dagegen erhebt sich keinerlei Widerspruch. Dann ist das so
beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin der Kollegin Dagmar Freitag für die SPD das
Wort.
({15})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als
die Operation Atalanta im Jahr 2008 vom Rat der Europäischen Union beschlossen wurde, sah sich die internationale Gemeinschaft mit einem erheblichen Piraterieproblem am Horn von Afrika konfrontiert. Wir wissen
alle, dass seeräuberische Überfälle und Entführungen
geradezu an der Tagesordnung waren.
Seit November 2013 ist die Zahl der versuchten bewaffneten Angriffe auf vier gesunken, und alle vier
konnten erfolgreich abgewehrt werden. Aktuell befindet
sich darüber hinaus kein Schiff in der Hand somalischer
Piraten. Ich denke, wir sind uns zumindest überwiegend
einig, dass dies ein unmittelbarer Erfolg der Antipiraterieoperation Atalanta und natürlich auch der Zusammenarbeit mit anderen nationalen wie auch multinationalen
Streitkräften am Horn von Afrika ist.
({0})
Der Dank hierfür geht auch an unsere Soldatinnen
und Soldaten, die durch ihren Einsatz zu diesem Erfolg
beigetragen haben.
({1})
Die Operation Atalanta trägt darüber hinaus zur Offenheit und Sicherheit der Seewege am Horn von Afrika
und vor der Küste Somalias bei. Diese Sicherheit ist essenziell für die Versorgung der somalischen Bevölkerung durch das Welternährungsprogramm; denn wir wissen alle: Somalia gehört nach wie vor zu den ärmsten
Ländern der Welt. Die Bevölkerung leidet seit Jahren unter den Folgen politischer Instabilität ebenso wie unter
Dürren und Ernteausfällen. Daher sind die Lebensmittellieferungen des Welternährungsprogramms für viele
Menschen in Somalia geradezu überlebenswichtig. Nur
ein Beispiel: Aktuell sind allein in Mogadischu rund
350 000 Menschen auf Nahrungsmittelhilfe angewie10150
sen. Seit Beginn der Operation Atalanta konnten sämtliche Schiffe des Welternährungsprogramms sicher nach
Somalia eskortiert werden.
Sichere Transportwege in der Region sind auch darüber hinaus von Bedeutung. Schließlich ist der vor der
Küste Somalias liegende Golf von Aden die wichtigste
Handelsroute zwischen Europa, Asien und der Arabischen Halbinsel.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, im Gegensatz zu
den gerade erwähnten Erfolgen bei der Bekämpfung der
Piraterie vor der Küste Somalias sind die Fortschritte
beim Aufbau funktionierender staatlicher Strukturen in
Somalia bislang allerdings keineswegs zufriedenstellend. Klar ist aber auch, dass ein funktionierendes staatliches Gewaltmonopol unverzichtbar ist, wenn die Rückzugsräume der Piraten erfolgreich bekämpft und die
geschilderten Erfolge auf See nachhaltig gefestigt werden sollen. Al-Schabab und andere fundamentalistische
Gruppierungen konnten zwar geschwächt werden, auch
dank des erfolgreichen Einsatzes der Afrikanischen
Union mit der Mission AMISOM, die von der EU maßgeblich mitfinanziert wird; aber nach wie vor ist der somalische Staat selbst zu schwach, um eroberte Gebiete
zu kontrollieren.
Diese Schwäche bedroht nicht nur Somalia, sondern
sie untergräbt auch die Stabilität in der gesamten Region
um das Horn von Afrika. Daher bleiben die Präsenz und
die Unterstützung der internationalen Gemeinschaft
nach unserer Meinung jedenfalls dringend geboten.
Deutschland leistet seinen Beitrag zur Stabilisierung
Somalias in erster Linie innerhalb des umfassenden Ansatzes der Europäischen Union. Wir beteiligen uns an
der Operation der europäischen Seestreitkräfte Atalanta,
an EUCAP NESTOR, der zivilen Mission zum Aufbau
maritimer Kapazitäten, und an EUTM Somalia, der militärischen Beratungs- und Ausbildungsmission, deren
Fortsetzung erst kürzlich vom Deutschen Bundestag beschlossen wurde.
Der Rat der Europäischen Union hat im November
2014 das Mandat für die Operation Atalanta verlängert.
Dabei hat er unterstrichen, wie wichtig das Zusammenwirken verschiedener Komponenten der Gemeinsamen
Sicherheits- und Verteidigungspolitik ist.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Probleme in Somalia und auch am Horn von Afrika sind vielfältig. Genauso vielfältig müssen daher die Strategie und die Ansätze der EU und der Bundesregierung für das Land und
die Region sein. Diese Strategie umfasst neben der militärischen Komponente und dem Aufbau der Sicherheitsstrukturen auch ein starkes wirtschaftliches und humanitäres Engagement; denn - das dürfte unbestritten sein Sicherheit und Entwicklung hängen untrennbar miteinander zusammen.
In 2016 sollen in Somalia Wahlen stattfinden. Gerade
mit Blick darauf gilt: In der Entwicklung des Landes
sind alle zivilen und militärischen Instrumente wichtig,
um die Ausgangssituation zu stabilisieren und die Lage
der Bevölkerung endlich zu verbessern; denn nur so
kann den kriminellen Netzwerken, die für die Piraterie
am Horn von Afrika die Verantwortung tragen, langfristig der Boden entzogen werden.
Deutschland muss und wird seiner Verantwortung für
die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik
der EU nachkommen und diese Operation weiterhin unterstützen. Dafür bitte ich um Ihre Zustimmung.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({2})
Vielen Dank. - Als nächste Rednerin hat Kathrin
Vogler von der Linken das Wort.
({0})
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Seit Jahren hören wir von jeweils wechselnden Bundesregierungen: Der EU-geführte Militäreinsatz Atalanta ist ein Erfolg.
({0})
Aber ich frage mich: Wie kommen Sie eigentlich darauf? Was ist eigentlich Ihr Maßstab? Als die Zahl der
Piratenangriffe vor der somalischen Küste anstieg, war
das ein Argument für Atalanta. Jetzt geht sie zurück.
Was ist es für Sie? Es ist auch wieder ein Argument für
Atalanta.
({1})
Dabei wissen Sie es doch alle: Keine noch so große
Kriegsflotte kann letzten Endes die Piraterie nachhaltig
bekämpfen.
({2})
Das sagen Sie sogar selbst. Das wissen Sie genau; denn
Piraterie ist ein Symptom, ist Ausdruck von Armut, von
Verelendung, von Rechtlosigkeit. Und all das machen
sich Geschäftemacher im Ausland auch noch zunutze.
Und noch jemand profitiert davon: Das sind die privaten
Sicherheitsunternehmen, die die Schiffe mit bewaffneten
Söldnern schützen und die Sie in Ihrem Antrag auch
noch lautstark loben.
Da muss man sich doch fragen: Worum geht es eigentlich wirklich? - Aber um das herauszufinden, muss
man sich nicht einmal irgendwelche geheimen Unterlagen besorgen. Es reicht völlig, sich den Antragstext der
Bundesregierung anzuschauen. Sie schreiben das in der
Begründung ja ganz offen. Im ersten Absatz der Mandatsbegründung etwa geht es um Rohstofflieferungen,
im zweiten Absatz um den Welthandel und die Absatzmärkte für europäische Produkte,
({3})
im dritten Absatz um die Zusammenarbeit mit anderen
Staaten im Rahmen dieses Militäreinsatzes.
Dabei kann man fast den Eindruck gewinnen, die
Truppen in Somalia wären in einem einzigen großen
Manöver, in dem die Abstimmung zwischen Europol
und Atalanta, zwischen der Afrikanischen und der Europäischen Union, mit Bündnispartnern und Nachbarländern geprobt wird. Aber, meine Damen und Herren, es
ist kein Manöver.
({4})
Es geht um das Leben von Millionen Menschen in einem
bettelarmen und kriegszerstörten Land.
({5})
- Lachen Sie ruhig. Ich finde es nicht witzig. Es ist überhaupt nicht witzig.
({6})
Erst im vierten Absatz setzt sich die Bundesregierung
dann endlich auch einmal mit der Situation in Somalia
auseinander. Da verbreiten Sie dann geschönte Erfolgsgeschichten, denen zufolge sich die Lage im Land deutlich stabilisiert habe. Sie kennen doch die bittere Wahrheit. Die Lage in Somalia hat sich weder politisch noch
ökonomisch verbessert. Wenn an den ganzen Erfolgsmeldungen, die uns hier Jahr für Jahr vorgetragen werden, etwas dran wäre, dann müsste Somalia doch inzwischen prosperierender Wohlstandsmotor für ganz
Ostafrika sein. Aber das Gegenteil ist bekanntlich der
Fall. Das liegt nicht zuletzt daran, dass die internationale
Politik seit der äthiopischen Militärintervention vor neun
Jahren immer wieder und immer weiter nur auf die militärische Karte setzt.
Lassen Sie sich gesagt sein: Einen Bürgerkrieg beendet man nicht, indem man mit Soldaten einmarschiert.
Man beendet ihn nicht mit hinterhältigen Drohnenangriffen, die die US-Streitkräfte von Deutschland aus, nämlich von Ramstein, auch in Somalia täglich durchführen.
({7})
Man beendet ihn nicht mit der Ausbildung von immer
mehr Soldaten, von denen immer wieder viele mitsamt
ihren Waffen und ihren Ausrüstungsgeräten desertieren
oder verschwinden und man nicht weiß, wo sie geblieben sind. Das, was Sie da treiben, ist eine völlig unverantwortliche Politik.
({8})
Wie viele Jahre wollen Sie denn noch versuchen, eine
gewaltsame Lösung im somalischen Bürgerkrieg herbeizuführen? - Der Bürgerkrieg in Somalia, der die Ursache für die Verelendung, die Verarmung und die Konflikte ist, kann nur beendet werden, wenn sich die
militärischen Akteure zurückziehen und man dafür sorgt,
dass endlich verhandelt wird. Damit Frieden einkehren
kann, müssen alle Konfliktparteien an einen Tisch.
({9})
Aber Sie rüsten eine Seite auf und hoffen, dass sie den
Krieg gewinnt. Dass das nicht gelingen kann, müssten
Sie doch aus den Erfahrungen in dieser Region und in
Afghanistan endlich einmal gelernt haben.
({10})
Dass Sie so lernunfähig sind, bezahlen leider viele
Menschen in Somalia mit unvorstellbarem Leid.
({11})
Somalia zählt nach den Berechnungen des UN-Flüchtlingshilfswerks zu den drei wichtigsten Herkunftsländern von Flüchtlingen weltweit.
({12})
Viele von denen, die im Augenblick an den Mittelmeerküsten verzweifelt darauf hoffen, ihr Leben durch Flucht
zu retten, kommen aus Somalia. Anstatt diesen Menschen, die um ihr Leben bangen und deshalb fliehen, legale Wege nach Europa anzubieten, halten Sie die Wege
nach Europa versperrt, und Sie zwingen die Menschen,
ihr Leben zu riskieren auf einem Meer, das längst zum
Massengrab geworden ist. Jetzt diskutiert man sogar in
der EU, auch die Flüchtlingsboote zu militärischen Zielen zu machen. Das ist fürchterlich. Fürchterlich!
({13})
Ihre Politik folgt einfach der perversen Logik: ausbeuten, aufrüsten, intervenieren und dann abschotten.
Aber eine solche Politik wird die Linke nie, nie, niemals
mitmachen. Deshalb werden wir auch zu diesem Mandat
wieder Nein sagen.
({14})
Als nächster Redner hat Thorsten Frei von der CDU/
CSU das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Frau Vogler, Atalanta ist wirklich ein voller Erfolg. Wenn Sie fragen, was der Maßstab ist, an dem wir
diesen Erfolg messen, dann könnte man sagen: Als die
Mission Atalanta im Jahr 2008 begonnen hat, waren jedes Jahr 200 Schiffe Ziel von Überfällen von Piraten.
Seit dem Jahr 2012 ist kein einziges Schiff mehr Ziel
solcher Überfälle. Im vergangenen Jahr und in diesem
Jahr sind nur wenige Schiffe erfolglosen Kaperversuchen ausgesetzt gewesen.
({0})
- Erfolglos, genau. - Das ist der Erfolg der Mission Atalanta.
({1})
Auch die Tatsache - Frau Kollegin Freitag ist vorhin darauf eingegangen -, dass seit 2008 immerhin 179 Schiffe
für das Welternährungsprogramm
({2})
und 121 Schiffe für AMISOM erfolgreich nach Mogadischu begleitet wurden, damit dort die Bevölkerung ernährt werden konnte, ist ein Erfolg dieser Mission.
({3})
Ich möchte von daher die Gelegenheit nutzen, den
Soldatinnen und Soldaten, die fernab der Heimat, getrennt von ihren Familien, lange Monate dort Dienst tun,
ganz herzlich für ihren erfolgreichen Einsatz zu danken.
({4})
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, Sie haben den Antrag der Bundesregierung zitiert. Ich will Ihnen eines sagen: Das, was wir dort tun, entspringt zum
einen einer humanitären Verpflichtung. Ich finde es zum
anderen überhaupt nicht verwerflich, sondern richtig,
dass wir am Horn von Afrika auch unsere Interessen
schützen und vertreten. Das sind deutsche Interessen,
das sind europäische Interessen. Wir haben als drittgrößte Exportnation der Welt ein Interesse an sicheren
See- und Handelswegen; darauf ist Frau Kollegin Freitag
ebenfalls eingegangen.
Durch diese Seepassage fahren jedes Jahr 4 000 Container- und Handelsschiffe mit einem Warenwert von
4 Billionen Euro. Wenn Sie sich vorstellen, welchen Anteil der Seehandel in Deutschland und auch in Europa
am gesamten Wirtschaftsvolumen hat, dann wissen Sie,
dass hier viele Zehntausende Arbeitsplätze davon abhängen. Dass wir uns um Sicherheit und Stabilität in der
Welt bemühen, auch bei den Seehandelswegen, das ist
konsequent, das ist richtig. Das kann man in einem Antrag wie diesem auch so schreiben, liebe Frau Kollegin
Vogler.
({5})
Es ist natürlich vollkommen klar, dass der Grund für
die Probleme Somalias und auch für die Probleme mit
der Piraterie am Horn von Afrika letztlich in Somalia
selbst zu suchen ist. Die Analyse ist durchaus zutreffend.
Seit 1991, seit dem Sturz von Siyad Barre, ist das Land
in Bürgerkrieg, Chaos und Anarchie versunken.
({6})
Traditionelle Strukturen gibt es dort nicht mehr. Die traditionellen Autoritäten wirken nicht mehr. Die Regierungen in Mogadischu haben einen Wirkungskreis, der auf
Mogadischu begrenzt ist und nicht in das Land hinausstrahlt. Das sind die Probleme, mit denen wir uns beschäftigen müssen.
Wir wissen natürlich auch, dass in den vergangenen
Jahren viel Geld der internationalen Staatengemeinschaft dorthin geflossen ist. Wir wissen um den Einsatz
von Soldaten, Polizisten, Entwicklungshelfern und zivilen Helfern. Und wir wissen, dass es durchaus - zugegebenermaßen - bescheidene Erfolge gibt, wenn man etwa
an die Regionalisierungsbemühungen bei der Verwaltungsreform denkt und an die neue Regierung, die im
Februar vereidigt wurde. Sie ist zwar ein Stück weit eine
junge und unerfahrene Regierung in absolut chaotischen
Umständen, aber spiegelt die Stammesrealitäten wider.
Ja, all das wissen wir. Trotz allem sind die Dschihadisten
stark, ist al-Schabab stark.
Trotz der Schläge gegen die Führung von al-Schabab
im vergangenen Herbst, trotz der Tatsache, dass sie
keine Gebiete mehr selbstständig hält und auf asymmetrisches Vorgehen übergegangen ist, trotz allem sind die
Gefahren im Land riesig und enorm. Das kann man sehen, wenn man sich die Anschläge in den vergangenen
Monaten in Somalia anschaut: auf Restaurants, Hotels,
Politiker, Bürgermeister.
Wenn man sich anschaut, dass die Gefahr droht, dass
aus einem lokalen Konflikt ein regionaler wird, wenn
man sich vor Augen führt, dass beispielsweise der Anschlag in Kenia auf die Universität in Garissa 140 Todesopfer gefordert hat, oder wenn man sich die Anschläge
in Dschibuti, in Äthiopien anschaut, dann wird deutlich,
dass hier die Gefahr besteht, dass sich ein Flächenbrand entwickelt. Welche Auswirkungen das hat - darauf sind Sie richtigerweise eingegangen -, können wir
an den Flüchtlingsströmen nach Europa und auch nach
Deutschland sehen.
Deshalb sind hier drei Dinge ganz wesentlich:
Das Erste: Natürlich muss gegen die Dschihadisten
weiter konsequent vorgegangen werden. Jetzt geht es
letztlich darum, dass man ihnen Nachschubwege abschneidet, dass man ihre Konsolidierung verhindert und
dass man auch die Finanzierungsquellen trockenlegt.
Bestandteile dieser sind auch die Piraterie, das Erpressen
von Lösegeldern, um Terrorismus zu finanzieren, sowie
der Schmuggel. Es müssen also auch Schmugglerrouten
unterbrochen werden. All das sind Dinge, die die Mission Atalanta erfolgreich leistet.
Das Zweite - darauf sind Sie eingegangen -: Es geht
natürlich auch darum, den Menschen Zukunftsperspektiven zu eröffnen. Das ist zugegebenermaßen schwierig in
einem Land, in dem 3 Millionen Menschen unmittelbar
an Hunger leiden, in dem 2011 250 000 Menschen verhungert sind, in dem nur ein Drittel der Kinder und
Jugendlichen Zugang zu Bildung hat und in dem 12 Millionen Menschen weniger als 2 Milliarden Dollar Jahresbruttoinlandsprodukt erwirtschaften. Das ist vergleichsweise wenig und viel zu wenig, damit sich das Land gut
entwickeln kann.
Das Dritte, worum es geht, ist, dass wir für Stabilität
im Land sorgen müssen. Deshalb geht es darum, die erThorsten Frei
folgreichen Missionen weiterzuführen. Das betrifft nicht
nur Atalanta, sondern auch die EU-Trainingsmission und
ist EUCAP NESTOR. Wir führen eben verschiedene
Mosaiksteine zusammen, um mitzuhelfen, das Land zu
stabilisieren und damit letztlich auch Zukunftsperspektiven zu eröffnen.
Der Weg ist lang, der Einsatz ist gut; er lohnt sich.
Deshalb werben wir für die Fortsetzung dieser Mission.
Herzlichen Dank.
({7})
Vielen Dank. - Als nächste Rednerin hat Doris
Wagner von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das
Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Frau Ministerin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wer unserer Debatte
zur Verlängerung des Atalanta-Mandats folgt, kann feststellen: So viel Einigkeit war nie. Wir sind uns einig,
dass Atalanta wichtig ist. Wir sind uns auch einig, dass
Atalanta ein Erfolg ist. Und wir sind uns einig, dass die
Soldatinnen und Soldaten für ihren Einsatz unseren
Dank verdienen. Diese Einschätzung teile ich völlig.
Gerade deswegen finde ich es ein Stück weit unverantwortlich, wie die Bundesregierung den Erfolg der
Atalanta-Mission aufs Spiel setzt, indem sie für Somalia
insgesamt eine widersinnige Politik betreibt. Wir schicken 950 Soldatinnen und Soldaten vor die Küste von
Somalia, damit sie für Sicherheit auf See sorgen. Gleichzeitig setzt sich die Bundesregierung in der EU für Maßnahmen ein, die dazu führen, dass die Sicherheit an
Land, in Somalia selbst, weiter abnimmt.
({0})
Für eine derart widersprüchliche Politik, werte Kolleginnen und Kollegen, sollten wir die Gesundheit und das
Leben unserer Soldatinnen und Soldaten nicht aufs Spiel
setzen.
Auch die Menschen in Somalia verdienen eine bessere Politik. Dort sind nämlich nach wie vor mehrere
Millionen Menschen auf humanitäre Hilfe angewiesen.
Dank Atalanta laufen die Schiffe mit den Hilfsgütern des
Welternährungsprogramms nun seit Jahren einigermaßen sicher in die somalischen Häfen ein. Doch damit
sind sie ja noch nicht am Ziel. Damit die Lebensmittel
und die Medikamente auch wirklich bei den notleidenden
Menschen ankommen, braucht es sichere Transportwege,
sichere Lagerstätten und sichere Verteilungspunkte im
Land. Genau daran mangelt es aber in Somalia.
Die Kämpfe zwischen offiziellen Armeeeinheiten und
der Al-Schabab-Miliz stürzen Teile des Landes immer
wieder ins Chaos. In Mogadischu sind Attentate und
Morde auf offener Straße an der Tagesordnung. Auch
zwischen einzelnen somalischen Clans kommt es immer
wieder zu blutigen Konflikten. All das macht doch die
sichere Versorgung der Bevölkerung in einigen Regionen fast unmöglich. Und was tut die Bundesregierung
angesichts dieser Situation? Erstens. Sie leistet Entwicklungshilfe. - Gut. Zweitens. Sie entsendet Soldatinnen
und Soldaten der Bundeswehr, um die somalische Armee auszubilden und zu beraten. - Das sehe ich schon
kritisch.
({1})
Drittens. Sie setzt sich auf EU-Ebene dafür ein, Länder
wie Somalia mit Waffen und Munition auszustatten. Das steht doch in krassem Widerspruch zu dem, was wir
mit der Mission Atalanta eigentlich erreichen wollen.
({2})
Mehr Waffen bedeutet doch mehr Gewalt. Mehr Waffen
bedeutet doch mehr Leid. Und mehr Waffen bedeutet
doch auch noch weniger Hoffnung auf einen funktionierenden und sicheren Staat.
({3})
Wirklich fassungslos bin ich darüber, welchen Kurs
die Bundesregierung auf EU-Ebene gegenüber Staaten
wie Somalia verfolgt. Die Bundesregierung hat die sogenannte Enable and Enhance Initiative in die EU eingebracht. Das Ziel dieser Initiative ist es, sogenannte
Partnerstaaten in die Lage zu versetzen, ihre Sicherheitsprobleme selbst zu lösen. Dazu sollen die Mitgliedstaaten die Sicherheitskräfte der Partnerstaaten mit Ausbildung und Ausrüstung unterstützen. Umstritten ist aber
innerhalb der EU offensichtlich, was genau unter „Ausrüstung“ zu verstehen ist. Sollen das auch letale Waffen
und Munition sein? - Die Haltung der Bundesregierung
ist da ganz klar. In seiner Antwort auf meine schriftliche
Frage hat mir Staatssekretär Steinlein mitgeteilt: Der Begriff Ausrüstung sollte Waffen und Munition nicht
grundsätzlich ausschließen. - Aber Waffen in schwache
Staaten wie Somalia zu liefern heißt doch, ein ganzes
Fass Öl ins Feuer zu gießen;
({4})
denn ein wesentlicher Grund für die anhaltende Gewalt
in Somalia liegt doch genau darin, dass es eben nicht gelingt, den Waffenhandel wirksam zu kontrollieren.
({5})
Waffen, die für die somalische Armee importiert wurden, verschwinden regelmäßig in dunklen Kanälen und
tauchen auf dem Schwarzmarkt wieder auf. Einzelne
Clans in der Armee haben einen privilegierten Zugang
zu Waffenarsenalen und zweigen nachweislich Waffen
ab, um ihre ganz eigenen Konflikte auszutragen. Außerdem verfügt die UN Monitoring Group für Somalia über
ernstzunehmende Hinweise darauf, dass ein Berater des
somalischen Präsidenten mitverantwortlich dafür war,
dass Waffen in die Hände der Al-Schabab-Milizen geraten sind. Dazu werden noch Waffen im großen Stil illegal ins Land geschmuggelt, übrigens auch übers Meer.
All das zeigt: Jede einzelne Waffe, jede Patrone, die
aus Europa an Sicherheitskräfte in Somalia oder andere
schwache Staaten geliefert wird, ist eine zu viel.
({6})
Völlig unbeteiligte Menschen und eben auch Angehörige der vermeintlich gestärkten Partnerstreitkräfte können damit getötet werden. An einem solchen Wahnsinn
darf sich die EU, darf sich auch die Bundesregierung auf
keinen Fall beteiligen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Die Mission Atalanta ist wichtig, ja. Unsere Soldatinnen und Soldaten erfüllen ihre Aufgabe wirklich erfolgreich. Aber wir müssen noch bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag Schiffe vor das Horn von Afrika schicken,
wenn es nicht gelingt, neben der Sicherheit auf See auch
Sicherheit an Land zu schaffen. Deshalb appelliere ich
an Sie, meine Damen und Herren auf der Regierungsbank: Überdenken Sie doch bitte Ihre Haltung zur Lieferung tödlicher Waffen an fragile Staaten, sonst reißen Sie
das, was Sie an Sicherheit mit der einen Hand aufgebaut
haben, mit der anderen wieder ein.
Vielen Dank.
({7})
Vielen Dank. - Als nächster Redner hat Dr. Johann
Wadephul von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Piraterie hat sich seit den 1990er-Jahren weltweit ausgeweitet. Neben einer sicher zu berücksichtigenden Dunkelziffer weist im Jahr 1992 die Statistik
74 Piratenüberfälle aus. Im Jahr 2010 waren es bereits
445 Überfälle.
Der Anstieg hat verschiedene Gründe: Die politische
Entspannung nach dem Ende des Kalten Krieges führte
zu einem Rückgang militärischer Präsenz auf See. Zugleich haben unter dem Begriff der Globalisierung der
Handel und die Vernetzung unserer Welt eine ungeahnte
Dynamik entfaltet. Piraterie ist nämlich schlicht eine
Einnahmequelle. Es geht um den Raub von Gütern und
auch um Lösegeld.
Opfer sind in erster Linie Regionen, in denen der
Staat sein Gewaltmonopol kaum oder gar nicht mehr
durchsetzen kann. Aus diesem Grund haben wir uns entschlossen, die EU-geführte Operation Atalanta vor der
Küste Somalias durchzuführen. Von den im Jahr 2010
weltweit registrierten 445 Piratenangriffen entfielen 266
auf das Seegebiet vor Somalia. Über 600 Seeleute mit
entsetzlichen menschlichen Dramen für sie und ihre Familien wurden Opfer.
Das muss ich den Kolleginnen und Kollegen der
Linksfraktion, die diese Operation ablehnen und jeden
militärischen Einsatz im Seegebiet verunglimpfen und
als nicht zu rechtfertigen ansehen, schon sagen:
({0})
Allein die Seeleute und ihre Familien, die unter diesen
Überfällen gelitten und Traumata davongetragen haben
- der finanzielle Schaden ist vielleicht nicht das
Schlimmste -, sind den Einsatz unserer Soldatinnen und
Soldaten in diesem Seegebiet wert. Das allein ist ein
Beitrag zu mehr Humanität, meine sehr verehrten Damen und Herren.
({1})
Ich kann Ihre Position überhaupt nicht verstehen.
Außerdem gibt es eine zweite wichtige Aufgabe, die
in der Debatte schon erwähnt worden ist, auf die Sie aber
bisher auch keine Antwort gegeben haben. In Somalia
findet in der Tat eine der schwersten humanitären Katastrophen auf der Erde statt. Neben Gewalt - das ist von
der Kollegin aus der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
gerade angesprochen worden - prägt Hunger den Alltag
der Menschen in Somalia. Ich habe mich ein bisschen
darüber gewundert, dass Sie versuchen, irgendwie zu
konstruieren, die Bundesregierung würde eine Art Doppelstrategie verfolgen: Sie meinen, dass wir einerseits
auf See etwas Gutes machen - das wird Sie hoffentlich
dazu veranlassen, gleich dem Antrag zuzustimmen; dazu
haben Sie sich leider nicht geäußert -, andererseits aber
einen Anteil daran hätten, dass es an Land diese schlimmen Auseinandersetzungen gibt. Ich muss Ihnen sagen:
Das kann ich nicht nachvollziehen. Das ist auch falsch.
Das weise ich zurück. Wenn Sie hier solche Vorwürfe erheben, dann sollten Sie klipp und klar belegen, welche
Waffen von Deutschland nach Somalia geliefert worden
sind. Dass es dazu gekommen wäre, ist falsch. Das hat
die Bundesregierung nicht erlaubt. Das würden wir auch
in keinem Fall unterstützen. Aber wir können doch das
Leid in Somalia nicht dadurch verbessern, dass wir jetzt
auch noch die Seeoperation beenden.
({2})
Nein, die Seeoperation ist eine wichtige Voraussetzung,
dass sich an Land auch etwas verbessern kann; und das
muss dringend geschehen. So wird ein Schuh aus der
ganzen Geschichte.
({3})
Sie kommen auch nicht an der Tatsache vorbei, dass
der Chef des Welternährungsprogramms - das ist nicht
der Regierungssprecher der deutschen Bundesregierung den Atalanta-Einsatz als Säule der Stabilität bezeichnet
hat. Das zeigt, wie ich glaube, dass auch hier ein wichtiger Beitrag dazu geleistet wird, dass die Situation an
Land besser wird. Das ist unsere Aufgabe, die wir leisten
müssen. Wir müssen auf See anfangen. Dass wir das
später auf einen schmalen Küstenstreifen ausgedehnt haben, hat dazu beigetragen, dass die Piraterie aktiv bekämpft werden konnte. Mit der großen Unterstützung
des Welternährungsprogramms durch Deutschland zeigen wir auch, dass wir etwas machen wollen. Es ist eine
gute Sache, die man unterstützen sollte.
Kollege Frei hat zu Recht darauf hingewiesen, dass
Atalanta eine große Bedeutung für den Seehandel hat.
Wir sind die drittgrößte Schifffahrtsnation der Welt. Ich
möchte dazu sagen: Es geht bei Schifffahrt und Welthandel auf See nicht darum, andere auszubeuten, wie es Ihrer Vorstellung entspringt. Möglicherweise prägt Karl
Marx heute noch Ihr Denken. In einer globalisierten
Welt ist Seehandel jedoch eine wichtige Voraussetzung
dafür, dass es in Deutschland und in Europa wirtschaftliche Prosperität gibt. Auf internationalen Austausch sind
auch die Länder, aus denen wir etwas importieren, angewiesen. Und dass sie sicher an uns liefern können, ist ein
Beitrag zu freiem Welthandel und dazu, dass die Menschen, wo auch immer sie auf der Erde leben, einen gerechten Lohn bekommen können. Das sollten Sie nicht
von vornherein verunglimpfen. Deswegen ist auch ein
Einsatz der Bundeswehr zur Sicherstellung von Seehandelsbeziehungen in der zivilen Schifffahrt gut, richtig
und verantwortbar. Sie sollten dem zustimmen.
Herzlichen Dank.
({4})
Vielen Dank. - Als nächster Redner hat Wolfgang
Hellmich von der SPD-Fraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Manche Beiträge in
dieser Debatte machen mich - und das geschieht eigentlich selten - schlicht fassungslos. An dieser Stelle völlig
zu verkennen, dass wir uns in einer Situation befinden,
wo wir uns auf Grundlage eines UN-Mandates um die
Durchsetzung eines international geltenden Rechtes,
nämlich des freien Zugangs zum Meer, kümmern, und
zu verschweigen, dass wir uns im Rahmen eines solchen
Mandates bewegen, deutet, glaube ich, darauf hin, worum es bei dem einen oder anderen Debattenbeitrag
ging, nämlich schlichtweg darum, unseren Soldatinnen
und Soldaten zu unterstellen, dass sie mit ihrem Einsatz
daran beteiligt sind,
({0})
den Krieg, den es in Somalia gibt, zu befördern. Sie fordern eigentlich unsere eigenen Soldatinnen und Soldaten
auf: Fahrt nach Hause, lasst die Menschen in Somalia
doch verhungern! Was interessiert uns das Land eigentlich?
({1})
Das macht mich an dieser Stelle in der Tat fassungslos
angesichts des guten Beitrags, den wir dort leisten. Dass
die Ernährungslage in Somalia - das ist bereits beschrieben worden - nicht komplett durch internationale Programme gesichert werden kann, wissen wir. Wir wissen
auch, dass in Somalia eigentlich viel mehr passieren
muss. Deshalb ist es gut, dass die europäischen Regierungschefs miteinander vereinbart haben, alle Aktivitäten, Missionen und Mandate, die es in Somalia gibt, auf
dem Gipfel im Juni dieses Jahres besser abzustimmen,
zu überprüfen und an den Stellen zu arbeiten, an denen
man besser werden muss. Das ist die nötige Konsequenz,
die wir auch immer einfordern: Es geht darum, Mandate
und Missionen auszuwerten - lessons learned - und die
gewonnenen Erkenntnisse zur Anwendung zu bringen,
in diesem Fall in Somalia.
Wir lassen uns nicht davon abbringen, dass die Operation Atalanta im Kontext anderer EU-geführter Missionen ein Erfolg ist. Wenn es dieses Mandat nicht gäbe
und wenn mit ihm nicht erfolgreich Piraterie verhindert
und Piraterie bekämpft worden wäre, würden wir der alSchabab die Mittel in die Hände geben, um ihren asymmetrischen Krieg, den sie führt, um die Region zu destabilisieren, weiterführen zu können. Sie würde eben nicht
von den Quellen der Finanzierung ihrer Aktivitäten abgeschnitten werden. Es ist doch beschrieben worden:
Mit welchen Waffen kann man letztendlich eine Universität in Kenia kaputtbomben?
({2})
Wo kommen die Instrumente, die Mittel her? Wo kommen denn die Waffen her, mit denen AMISOM-Soldaten
umgebracht wurden, mit denen Anschläge in Mogadischu begangen wurden?
({3})
Unser Auftrag in dieser Situation ist nicht der Rückzug, sondern unser Auftrag ist, dazu beizutragen, dass
Staatlichkeit in Somalia aufgebaut wird, dass Sicherheit
hergestellt wird. Ohne die Sicherheit auf dem Meer werden wir keine Sicherheit an Land herstellen können.
({4})
Wir würden die somalische Regierung und diejenigen,
die sie unterstützen, der al-Schabab und anderen Terroristen ausliefern und alleine mit ihnen lassen.
({5})
Wir haben die Hilfen für Somalia ausgeweitet. Das ist
gut und richtig so. Wir haben angesichts der Sicherheitslage den Schutz derjenigen, die diese Arbeit leisten, erhöhen müssen; denn wir wissen, wie sich die Situation in
Somalia entwickelt hat. Ich sage aber an dieser Stelle
klar und deutlich: Es gibt keine Alternative zu Atalanta
und den anderen EU-geführten Missionen. Nur so können wir den Menschen in Somalia in ihrer Notlage helfen; denn die Ursachen für Terrorismus liegen auch in
Somalia. Das sind nämlich die Menschen, die hungern,
die Not leiden. Ihnen zu helfen, das ist unsere vornehmste und wichtigste Pflicht im Kontext all dieser
Mandate.
({6})
Ich möchte noch auf einen anderen Umstand hinweisen. In Somalia geht es auch um das Thema der Terrorismusbekämpfung. Nur ein kleiner Hinweis: Wenn es der
bayerischen Polizei gelingt, einen Somalier, der mit gefälschten italienischen Papieren nach Bayern einreisen
wollte, mithilfe von Erkenntnissen, die man bei einem
Angriff auf einen Tanker hat gewinnen können, zu detektieren und festzusetzen, dann bedeutet das: Es geht in
Somalia auch um die Bekämpfung des internationalen
Terrorismus mit den Instrumenten, die uns zur Verfügung stehen. Und diese müssen wir an der Stelle auch
zur Anwendung bringen.
Atalanta ist notwendig, genauso wie die anderen EUgeführten Missionen notwendig sind. Ich danke auch
Drittländern außerhalb Europas - Kolumbien und anderen südamerikanischen Ländern -, dass sie sich bereit erklärt haben, sich an Atalanta zu beteiligen. Das macht
deutlich: Es ist eine internationale Aufgabe. Wir und unsere bis zu 950 Soldatinnen und Soldaten leisten einen
wichtigen Beitrag. Deshalb bitte ich: Stimmen Sie diesem Mandat zu! Es ist für die Menschen in Somalia dringend notwendig.
Danke.
({7})
Vielen Dank. Als letzter Redner in der Debatte hat
Dr. Hans-Peter Uhl von der CDU/CSU-Fraktion das
Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine verehrten Kolleginnen und
Kollegen! Für den Wohlstand Deutschlands sind sichere
Exporte und Importe unabdingbar. Allein im Jahr 2014
hat Deutschland Güter und Waren im Wert von 1,2 Billionen Euro ausgeführt. Auch bei den Einfuhren sind wir
von weit entfernten Ländern abhängig: Deutsche Produkte sind auf zahlreiche Zulieferungen angewiesen.
Diese kommen aus Asien über die Handelsroute, über
die wir gerade reden, durch den Golf von Aden und den
Suezkanal zu uns.
Um den Status als Exportweltmeister zu verteidigen,
hat Deutschland deshalb ein vitales Interesse an freien
Transportwegen. Die deutsche Handelsflotte als drittgrößte Handelsflotte der Welt ist auf sichere Seewege
angewiesen.
({0})
Von 2007 auf 2008 stieg die Zahl der Piratenangriffe
am Horn von Afrika um das Zehnfache.
({1})
Die Sicherheit auf einer der wichtigsten Handelsrouten
war massiv gefährdet. Auf dem großen Versicherungsmarkt Lloyd’s of London wurde die Region als „war risk
region“ eingestuft; die Versicherungsprämien stiegen.
Manche, die damals schon im Bundestag waren, erinnern sich an das Geiseldrama auf der „Hansa Stavanger“; ich schaue den Kollege Jung an, er war damals
Verteidigungsminister. Monatelange Verhandlungen mit
den Piraten mit abschließender Zahlung eines Lösegeldes in Millionenhöhe machten dem Spektakel ein Ende.
Deutschland war unter Druck, Europa war unter Druck.
Es musste etwas geschehen. Zu Recht forderten die deutschen Reeder Schutz vom deutschen Staat für ihre
Schiffe.
Herr Kollege Uhl, ich muss Sie einmal kurz unterbrechen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist jetzt wirklich
deutlich zu laut geworden. Das ist einfach unfair gegenüber dem Kollegen Uhl. Ich bitte, auch ihm zuzuhören.
({0})
Wir werden heute eine wichtige Entscheidung treffen;
deshalb bitte ich um die entsprechende Aufmerksamkeit.
Ich bedanke mich, Frau Präsidentin. - Zurück zur
„Hansa Stavanger“. Damals hatten wir eine lange Diskussion über die Frage: Wer gewährleistet den Schutz
durch den Staat? - Auf der einen Seite hatten wir die
Polizei; die hatte zwar das Recht dazu, aber nicht die Fähigkeiten. Und dann hatten wir das Militär; die hatten
die Fähigkeiten, aber nicht das Recht dazu. Weil der eine
kann, aber nicht darf, der andere darf, aber nicht kann,
war das Ergebnis, dass wir uns überlegen mussten, was
wir tun.
Die Resolution des UN-Sicherheitsrates und die Gemeinsame Aktion des Europäischen Rates bildeten dann
die solide rechtliche Grundlage, um die Streitkräfte zum
Einsatz zu bringen. Die Operation Atalanta war geboren,
und das war auch gut so. Von den zahlreichen Attacken
auf Handelsschiffe, die es zuvor gegeben hatte, blieben
nach wenigen Jahren nur noch ganze vier Angriffe im
Jahre 2014. Die Operation Atalanta, meine Damen und
Herren von den Linken, ist für den sicheren Seeverkehr
in diesem Teil der Welt also zweifellos ein Erfolg. Die
generalpräventive Wirkung dieses Militäreinsatzes wird
sicher auch in Zukunft dazu beitragen, dass keine Angriffe mehr stattfinden oder nur noch wenige.
Auf der anderen Seite muss man bedenken: Ein Seegebiet anderthalbmal so groß wie Europa kann man mit
vier Schiffen und zwei Seefernaufklärern natürlich nicht
abdecken. Deswegen war es richtig, dass wir als zweite
Maßnahme ein Gesetz für private Sicherheitsunternehmen geschaffen haben. Wir haben die Reeder in die Lage
versetzt, auch selbst für Sicherheit zu sorgen, durch private Sicherheitsleute auf den Schiffen. Über 330 Schiffspassagen wurden seit dieser Zeit auf dieser Rechtsgrundlage gesichert. Soweit mir bekannt ist, ist noch kein
einziges Schiff angegriffen worden, das von privaten Sicherheitsunternehmen geschützt war. Das heißt, auch
diese zweite Maßnahme ist ein Erfolg.
({0})
Wir werden nicht feststellen können, was in der Kausalkette den größeren Ausschlag gegeben hat: die Operation Atalanta oder die privaten Sicherheitsleute. Beides
hat eine große Rolle gespielt. Aber allein der Umstand,
dass sich Europa zusammengefunden hat und gezeigt
hat, dass wir handlungsfähig sind, wenn es darum geht,
Risiken auf der Welt zu beseitigen oder zu schmälern,
war schon ein großer Erfolg.
Wir haben eine Gemeinsame Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik beschlossen, 1999 bereits. Wir haben bisher bereits 30 gemeinsame EU-geführte Zivil- und Militäroperationen durchgeführt. Aber
ich glaube - das scheint mir das Wichtigste zu sein, wenn
man die Operation Atalanta Revue passieren lässt -: In einer Welt, die aus den Fugen zu geraten scheint, brauchen
wir noch sehr viel mehr solcher gemeinsamen europäischen Maßnahmen wie die Operation Atalanta. Wir müssen gemeinsam in Europa noch mehr für Krisenprävention und für Krisennachsorge in der Welt tun. Hier haben
wir noch ein erhebliches Steigerungspotenzial.
Eine sichere und stabile Welt von morgen braucht ein
Europa, das mit einer Stimme spricht und geschlossen
handelt. Das Atalanta-Mandat ist ein solches Mandat.
Deswegen bitte ich um Ihre Zustimmung.
({1})
Vielen Dank. - Damit schließe ich die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Auswärti-
gen Ausschusses zu dem Antrag der Bundesregierung
zur Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher
Streitkräfte an der EU-geführten Operation Atalanta zur
Bekämpfung der Piraterie vor der Küste Somalias. Der
Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 18/4964, den Antrag der Bundesregierung
auf Drucksache 18/4769 anzunehmen. Wir stimmen nun
über die Beschlussempfehlung namentlich ab.
Ich weise darauf hin, dass mir mehrere persönliche
Erklärungen zur Abstimmung nach § 31 der Geschäfts-
ordnung des Deutschen Bundestages vorliegen.1)
Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die
Plätze einzunehmen. - Sind alle Plätze an den Urnen be-
setzt? - Das ist der Fall. Dann eröffne ich die namentli-
che Abstimmung über die Beschlussempfehlung.
Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine
Stimme nicht abgegeben hat? - Das ist nicht der Fall. Ich
schließe die Abstimmung und bitte die Schriftführerin-
nen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen.
Das Ergebnis der Abstimmung wird Ihnen später be-
kannt gegeben.2)
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte Sie jetzt,
Ihre Plätze wieder einzunehmen, damit wir in unserer
Tagesordnung fortfahren können. Sie wissen, dass wir
heute eine sehr lange Tagesordnung haben. Deshalb bitte
1) Anlage 2
2) Ergebnis Seite 10161 C
ich Sie, zügig Ihre Plätze einzunehmen und die Gespräche einzustellen.
Jetzt können wir in unserer Tagesordnung fortfahren.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Peter
Meiwald, Britta Haßelmann, Christian Kühn
({0}), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Wertstoffgesetz jetzt vorlegen
Drucksache 18/4648
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit ({1})
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. - Ich höre dazu
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner in dieser Debatte hat Peter Meiwald von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Liebe Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Warum bringen wir heute einen Antrag zum Wertstoffgesetz ein? Es sind sich doch alle einig, dass ein solches Gesetz dringend nötig ist, um der großen
Ressourcenverschwendung im Umgang mit unserem
Müll und dem ineffizient gewordenen System der Verpackungsordnung ein Ende zu bereiten.
({0})
Doch drei CDU/CSU-geführte Regierungen des letzten
Jahrzehnts verschleppen das Vorhaben Wertstoffgesetz
seit Jahren, zulasten von Umwelt und Verbraucherinnen
und Verbrauchern. Große Mengen kostbarer Wertstoffe
werden verbrannt, obwohl technisch sehr viel mehr Recycling möglich wäre.
Zehn konkurrierende duale Systeme finanzieren vor
allem ihre eigene Struktur, mit Systemkosten von mehr
als 100 Millionen Euro im Jahr. Die Kunden zahlen dafür. Die einstmals angedachten Innovationsanreize für
das Produktdesign im Rahmen des Konzepts der Produktverantwortung sind längst nicht mehr wahrnehmbar.
Das einstmals gut gedachte Konzept der geteilten Verantwortung in der Wertstoffsammlung ist nicht die Antwort auf die Herausforderungen des Ressourcenschutzes
in Gegenwart und Zukunft, weil es ineffizient ist und
sich an einer Vermeidung von Lizenzentgelten orientiert.
Daran haben auch die sieben Novellen zur Verpackungsverordnung im Kern nichts ändern können.
Duale Systeme sind kein schützenswertes Kulturgut.
({1})
Doch statt, wie seit mehr als einem Jahr immer wieder
angekündigt, ein Wertstoffgesetz vorzulegen, das diesen
Reformstau endlich beseitigt, will die Regierung jetzt in
Elmau - wir haben davon gehört - die Frage des Plastik10158
mülls mit einer Forschungsinitiative zur Rückholung
von Müll aus dem Meer medienwirksam abfrühstücken.
Das tut niemandem weh, klingt hübsch und ist auch
durchaus sinnvoll, löst aber das große Problem der Ressourcenverschwendung nicht.
({2})
Wir dagegen wollen substanziell etwas bei Produktdesign und Recyclingquoten verbessern. Seit der
Gründung unserer Partei setzen wir Grüne uns kritisch
mit der Wegwerfgesellschaft auseinander und ringen um
die besten Lösungen für die Umwelt. Abfälle wird es immer geben; aber es kommt darauf an, die Wertstoffe darin so gut wie möglich zu nutzen und nur das zu verbrennen, was gar nicht mehr nutzbar ist oder so stark mit
Umweltgiften verseucht ist, dass man es besser nicht
weiternutzt. Die Zielsetzung „weg von der Deponie“ durchaus auch angestoßen von Grünen - war ein erster
großer Meilenstein; die Zielsetzung „weg von zu viel
Verbrennung“ muss der nächste sein. Dies schreibt im
Übrigen die europäische Abfallhierarchie längst vor. Unseren Vorschlag dafür legen wir heute vor.
Erstens. Wir wollen, dass die Kunststoffe aus Hausmüll und Verpackungen in einem System, möglichst in
einer Wertstofftonne, in Verantwortung der Kommunen
gemeinsam eingesammelt werden. Es ist nicht mehr vermittelbar, dass, wie bisher, ein Plastikkleiderbügel, der
zur Verkaufsverpackung gehört - wir haben darüber
schon öfter gesprochen -, in den gelben Sack geworfen
werden darf, ein anderer Bügel aus dem gleichen Material aber in die schwarze Tonne gehört. Das ist heute
nicht mehr vermittelbar.
({3})
Die Kommunen werden dann regelmäßig die Menschen vor Ort über den Verbleib der Wertstoffe und die
Erfolge beim Recycling, bei der Verwertung unterrichten. Dann haben wir Transparenz, und alle, die fleißig
ihren Müll trennen, wissen endlich, wofür sie das eigentlich tun.
({4})
Zweitens. Die gesetzlichen Recyclingquoten müssen
dringend sehr deutlich angehoben werden. Diesbezüglich gibt es eigentlich einen Konsens. Wir brauchen
selbstlernende Quoten, die sich automatisch anpassen,
wenn sich die Recyclingtechnik verbessert. Dadurch
werden Innovationen in der Abfallwirtschaft unterstützt.
Vielleicht wird Deutschland dann auch mal wieder Vorreiter. Dabei kommt es natürlich nicht nur darauf an,
möglichst viel zu recyceln, sondern auch möglichst gut,
das heißt, qualitativ sinnvoll zu recyceln und nicht
downzucyceln.
({5})
Drittens. Wer in Zukunft Dinge und Verpackungen
auf den Markt bringt, die viele Ressourcen verbrauchen
oder schlecht zu recyceln sind, soll dafür mehr bezahlen
als derjenige, der sich das Prinzip der Kreislaufwirtschaft zu eigen macht. Wir nennen das ökologische
Ressourcenabgabe. Eine neue zentrale Stelle in öffentlich-rechtlicher Hand soll die bisherigen Lizenzentgelte
weiterentwickeln, hin zu Preisen, die die ökologische
Wahrheit der Produkte und Verpackungen wirklich abbilden.
Fachlich gibt es hierzu viel Konsens, doch das reicht
nicht aus. Die SPD stand, bevor sie an die Regierung
kam - ich spreche hier insbesondere Frau Hendricks an,
auch wenn sie nicht anwesend ist -, Schulter an Schulter
mit uns Grünen, gerade wenn es darum ging, dass die
Kommunen die Verantwortung für die Abfälle zurückgewinnen sollen. Doch die Koalition des kleinsten gemeinsamen Nenners kommt heute nicht zu einer Einigung.
Statt wenigstens schnell den ersten Schritt auf dem Weg
zu einem Wertstoffgesetz zu gehen, wie wir ihn jetzt als
Einstieg vorschlagen, bremsen Sie sogar kleine Einzelprojekte wie unseren Antrag zur Lösung des Mikroplastikproblems aus und versprechen stattdessen einen
großen Wurf, in dem alle Probleme des Mülluniversums
auf einmal gelöst werden sollen. Am Sankt-Nimmerleins-Tag?
Sie lassen sich wieder einmal zwischen den verschiedenen Machtinteressen zerreiben. Das geht zulasten
unserer Umwelt. Wir Grüne wollen ein neues System,
das ökologischer und transparenter ist, und wir wollen,
dass die Verantwortung dafür in einer Hand liegt, in der
kommunalen Hand. Wenn Sie auf diesem Weg auch die
durch Mikroplastik hervorgerufenen Probleme lösen
oder die Ökologisierung der Gewerbeabfälle in der Zukunft gleich mitregeln wollen, beteiligen wir Grüne uns
sehr gerne konstruktiv an diesem Verfahren. Aber fangen Sie bitte endlich an, zu handeln.
({6})
Folgen Sie unserem Vorschlag! Gehen Sie die wirklichen Probleme an, und legen Sie endlich ein Wertstoffgesetz vor! Ankündigungen haben wir nun wirklich genug gehört.
Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen, und
zwar dringend.
Ich bin schon am Ende angekommen. Vielen Dank,
Frau Präsidentin.
({0})
Als nächster Redner hat Dr. Thomas Gebhart von der
CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Die Grünen fordern in ihrem Antrag ein Wertstoffgesetz. Es ist überhaupt keine Frage: Wir alle wollen ein Wertstoffgesetz.
({0})
Darin sind wir uns einig. Aber es ist auch klar: Wir wollen nicht irgendein Wertstoffgesetz, sondern dieses Wertstoffgesetz muss ein Fortschritt sein. Auf den Inhalt
kommt es an.
({1})
Dieses Wertstoffgesetz muss die richtigen Antworten auf
die Herausforderungen geben. Das ist der entscheidende
Punkt.
Was sind diese Herausforderungen? Ich will nur einen
allgemeinen Punkt ansprechen. Wir haben weltweit eine
steigende Nachfrage nach Ressourcen. Wir verbrauchen
mehr Ressourcen, als wir langfristig zur Verfügung
haben. Die Weltbevölkerung wächst nach wie vor, und
Deutschland ist in hohem Maße abhängig von Rohstoffimporten. Allein deswegen ist es erforderlich, dass wir
die Kreisläufe in Zukunft noch besser als heute schließen, dass wir Abfälle vermeiden, dass wir aus Abfällen
wertvolle Ressourcen gewinnen, dass wir Ressourcen
eben nicht verbrauchen, sondern gebrauchen.
({2})
Wir wollen und wir werden weitergehen auf dem Weg
zu einer echten Kreislaufwirtschaft. Das ist gut für die
Umwelt. Das schont die Ressourcen. Das ist vor allem
auch wirtschaftlich sinnvoll. Das ist eine wirtschaftliche
Chance.
({3})
Das ist sogar eine pure Notwendigkeit.
Wenn wir heute über dieses Wertstoffgesetz debattieren, dann müssen wir zunächst einmal gedanklich an den
Ausgangspunkt der Diskussion gehen: Wo kommen wir
eigentlich her? Es war Anfang der 90er-Jahre in Deutschland. Wir hatten einen Müllnotstand und wussten nicht,
wohin mit dem Müll. Dann hat Klaus Töpfer als Umweltminister etwas auf den Weg gebracht, was zu einem
absoluten Erfolgsmodell wurde. Er hat die Verpackungsverordnung und damit das Prinzip der Produktverantwortung eingeführt. Diejenigen, die in Deutschland
Verpackungen an den Markt bringen, sind dafür verantwortlich, diese Verpackungen hinterher zurückzunehmen und möglichst wiederzuverwerten. Die Unternehmen übernehmen also Verantwortung auch für die
Entsorgung ihrer Produkte. Sie übernehmen damit Verantwortung für den gesamten Lebenszyklus. Das ist eine
marktwirtschaftliche Lösung, weil nämlich die Entsorgungskosten Teil des Preises und des Wettbewerbs werden. So entsteht von Anfang an ein Anreiz, Verpackungen möglichst zu vermeiden und Verpackungen und
Produkte so zu gestalten, dass sie einfach und günstig zu
recyceln sind.
({4})
Was war die Wirkung? Die Verpackungsmenge ging
zurück,
({5})
obwohl es zum Glück gleichzeitig ein Wirtschaftswachstum gab. Es wurden hochmoderne Recyclingtechnologien und Innovationen entwickelt, Müllberge wurden
kleiner, und die Kosten für die Verbraucher sind gesunken. Das war die Situation damals.
({6})
Heute, mehr als 20 Jahre später, stehen wir an dem
Punkt, dass wir einen entscheidenden Schritt weitergehen können und weitergehen müssen.
({7})
Wir wollen, dass Verpackungen und Nichtverpackungen,
die aber aus den gleichen Materialen bestehen, insbesondere Metalle und Kunststoffe, gemeinsam erfasst und
möglichst recycelt werden.
({8})
Kleiderbügel, die Quietscheente und der Locher aus Metall sollen künftig nicht mehr in den Restmüll und dann
verbrannt werden, sondern gemeinsam mit dem Joghurtbecher erfasst und verwertet werden.
({9})
Das ist die erste unserer fünf Kernforderungen, die
wir an ein Wertstoffgesetz haben.
Die zweite Kernforderung der Union lautet: Wir müssen das bewährte Prinzip der Produktverantwortung auf
diese stoffgleichen Nichtverpackungen ausdehnen.
({10})
Die Entsorgung wird also, wenn es nach uns geht, künftig nicht mehr über Müllgebühren laufen, sondern beim
Kauf gleich mitbezahlt. Für den Bürger entsteht dadurch
kein zusätzlicher Aufwand. Es wird nicht teurer.
({11})
Das Entscheidende ist aber: Die Hersteller erhalten Anreize, ihre Produkte so zu gestalten, dass wenig Abfälle
entstehen und sie einfach zu recyceln sind.
({12})
Dazu soll es auch differenzierte Lizenzentgelte geben,
sodass sich im Preis tatsächlich widerspiegelt, ob es sich
um leicht oder schwer recycelbare Produkte handelt.
Produktverantwortung stärken - dafür stehen wir in
der Union wie keine andere Fraktion hier im Deutschen
Bundestag.
(Widerspruch bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN - Lachen des Abg.
Oliver Krischer ({13})
Marktwirtschaft und Umweltschutz zusammenbringen das ist unser Erfolgsrezept. Ich habe von den Grünen in
der Vergangenheit wenig dazu gehört.
({14})
Wir wollen die Produktverantwortung ausdehnen.
Das wäre ein echter Quantensprung. Es freut mich, dass
diese Unionsforderung immer mehr Zustimmung erhält,
und zwar nicht nur hier im Parlament, sondern auch außerhalb des Parlaments bei denjenigen, die es am Ende
umsetzen müssen.
({15})
Wenn es uns gelingt, dies in einem Wertstoffgesetz zu
verankern und somit die Produktverantwortung zu stärken und auszudehnen, dann wird das Wertstoffgesetz zu
einem echten Fortschritt.
({16})
Unsere dritte Kernforderung ist die Forderung nach
einer zentralen Stelle. Diese ist notwendig. Wir haben
heute im System Organisationsprobleme, die gelöst werden müssen. Wir brauchen mehr Transparenz. Wir brauchen mehr Ordnung und mehr Kontrolle des Systems,
bessere Regeln und fairen Wettbewerb. Was wir aber
nicht wollen, ist das, was die Grünen gerne machen würden: weniger Wettbewerb und mehr Kommunalisierung.
Das wäre ein Schritt zurück.
({17})
Ich frage mich: Worin sollen denn die Vorteile dieses
grünen Vorschlages liegen? Ich kann es nicht verstehen.
Wie wollen Sie Ihr System eigentlich rechtlich sauber
finanzieren? Darauf geben Sie keine vernünftige Antwort. Ich frage mich schon - das frage ich vor allem die
Grünen -: Wo liegt denn der umweltpolitische Mehrwert
einer Kommunalisierung? Gerade in diesem Punkt ist
der grüne Vorschlag absolut schwach.
({18})
Wir setzen hingegen auf ein wettbewerblich organisiertes System. Natürlich muss die Zusammenarbeit zwischen den Kommunen und den Privaten verbessert werden - keine Frage. Aber hierzu gibt es sehr gute Ansätze.
({19})
Unsere vierte Kernforderung: Wir wollen anspruchsvolle Recyclingquoten. Sie müssen technisch machbar
sein, sie müssen ökonomisch und ökologisch sinnvoll
sein. Es sollen dynamische Quoten sein, die an den technischen Fortschritt angepasst werden. Wenn wir heute
die Situation, die Realität in Deutschland betrachten,
dann stellen wir fest: Wir hinken hinterher. In der Tat, es
ist deutlich mehr möglich als das, was heute gesetzlich
verankert ist.
({20})
Deswegen wollen wir, dass künftig weniger verbrannt
und mehr recycelt wird. Dies spart übrigens auch CO2;
es ist ein Beitrag zum Klimaschutz. Ambitionierte Recyclingquoten in einem Wertstoffgesetz - dann wird es
zu einem Fortschritt.
({21})
Ich komme zu unserer fünften Kernforderung. Wir
beschreiben dies als Vorabmaßnahme. Es geht um
Getränkeflaschen im Handel. Wir fordern, dass es im
Handel Hinweise gibt, ob es sich um Mehrweg- oder
Einwegflaschen handelt.
({22})
Warum? Weil die Mehrwegquote in den letzten Jahren
dramatisch gesunken ist. Sie lag im Jahr 2004 noch bei
über 70 Prozent. Sie ist heute auf unter 50 Prozent gesunken. Die letzte Bundesregierung hat noch 2013 unter
Federführung des damaligen Umweltministers Altmaier
beschlossen, dass es im Handel die Pflicht zu Hinweisen
geben soll, ob es sich um Mehrweg oder Einweg handelt.
Dieser Vorschlag liegt seitdem im Bundesrat auf Eis.
Dies ist nicht nachvollziehbar.
Uns geht es darum, mehr Klarheit zu schaffen. Wir
wollen den Verbraucher nicht bevormunden, aber wir
wollen mehr Klarheit beim Getränkekauf für die Verbraucherinnen und Verbraucher. Deswegen ist es unerträglich, dass der Bundesrat seine Zustimmung hierzu
nach wie vor verweigert. Er nimmt damit auch in Kauf,
dass diese Mehrwegquote immer weiter in den Keller
geht.
({23})
Deswegen fordere ich auch an dieser Stelle die Länder
auf, diesen Vorschlag nicht weiter zu blockieren. Das
sage ich insbesondere in Richtung der Grünen und der
grünen Umweltminister. Blockieren Sie diesen Vorschlag nicht länger. Geben Sie Ihre Blockade auf.
({24})
Wir wollen ein Wertstoffgesetz, das uns wirklich voranbringt, das Innovationen schafft, das mehr Umweltund Ressourcenschutz schafft, ein Wertstoffgesetz, das
aber auch ökonomisch Sinn macht
({25})
und einen echten Fortschritt bringt. Dafür stehen wir,
und dafür arbeiten wir.
Herzlichen Dank.
({26})
Vielen Dank. - Bevor ich dem nächsten Redner das
Wort erteile, möchte ich Sie über das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung über die Beschlussempfehlung
des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Bundesregierung „Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der EU-geführten Operation Atalanta“ auf den Drucksachen 18/4769 und 18/4964
informieren: abgegebene Stimmen 586. Mit Ja haben davon gestimmt 465, mit Nein haben gestimmt 72. 49 Kolleginnen und Kollegen haben sich enthalten. Damit ist
die Beschlussempfehlung angenommen.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 582;
davon
ja: 461
nein: 72
enthalten: 49
Ja
CDU/CSU
Stephan Albani
Peter Altmaier
Artur Auernhammer
Dorothee Bär
Thomas Bareiß
Norbert Barthle
Günter Baumann
Maik Beermann
Manfred Behrens ({0})
Veronika Bellmann
Dr. André Berghegger
Ute Bertram
Peter Beyer
Steffen Bilger
Clemens Binninger
Peter Bleser
Wolfgang Bosbach
Klaus Brähmig
Michael Brand
Helmut Brandt
Dr. Ralf Brauksiepe
Dr. Helge Braun
Heike Brehmer
Ralph Brinkhaus
Cajus Caesar
Gitta Connemann
Alexandra Dinges-Dierig
Alexander Dobrindt
Michael Donth
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Hansjörg Durz
Iris Eberl
Jutta Eckenbach
Hermann Färber
Dr. Thomas Feist
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Dirk Fischer ({1})
Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Dr. Astrid Freudenstein
Dr. Hans-Peter Friedrich
({2})
Michael Frieser
Dr. Michael Fuchs
Hans-Joachim Fuchtel
Alexander Funk
Ingo Gädechens
Alois Gerig
Eberhard Gienger
Josef Göppel
Reinhard Grindel
Hermann Gröhe
Michael Grosse-Brömer
Astrid Grotelüschen
Markus Grübel
Monika Grütters
Dr. Herlind Gundelach
Fritz Güntzler
Olav Gutting
Christian Haase
Jürgen Hardt
Gerda Hasselfeldt
Matthias Hauer
Mark Hauptmann
Dr. Stefan Heck
Dr. Matthias Heider
Helmut Heiderich
Mechthild Heil
Frank Heinrich ({3})
Mark Helfrich
Jörg Hellmuth
Rudolf Henke
Michael Hennrich
Ansgar Heveling
Christian Hirte
Dr. Heribert Hirte
Robert Hochbaum
Alexander Hoffmann
Thorsten Hoffmann
({4})
Karl Holmeier
Franz-Josef Holzenkamp
Dr. Hendrik Hoppenstedt
Margaret Horb
Bettina Hornhues
Charles M. Huber
Anette Hübinger
Hubert Hüppe
Erich Irlstorfer
Sylvia Jörrißen
Andreas Jung
Dr. Franz Josef Jung
Xaver Jung
Bartholomäus Kalb
Hans-Werner Kammer
Steffen Kanitz
Anja Karliczek
Bernhard Kaster
Dr. Stefan Kaufmann
Dr. Georg Kippels
Volkmar Klein
Jürgen Klimke
Axel Knoerig
Jens Koeppen
Markus Koob
Carsten Körber
Hartmut Koschyk
Kordula Kovac
Gunther Krichbaum
Dr. Günter Krings
Rüdiger Kruse
Bettina Kudla
Dr. Roy Kühne
Uwe Lagosky
Dr. Karl A. Lamers
Andreas G. Lämmel
Katharina Landgraf
Ulrich Lange
Barbara Lanzinger
Paul Lehrieder
Dr. Katja Leikert
Dr. Philipp Lengsfeld
Philipp Graf Lerchenfeld
Dr. Ursula von der Leyen
Antje Lezius
Ingbert Liebing
Matthias Lietz
Dr. Carsten Linnemann
Wilfried Lorenz
Dr. Claudia Lücking-Michel
Dr. Jan-Marco Luczak
Daniela Ludwig
Karin Maag
Yvonne Magwas
Thomas Mahlberg
Gisela Manderla
Matern von Marschall
Hans-Georg von der Marwitz
Andreas Mattfeldt
Stephan Mayer ({5})
Reiner Meier
Dr. Michael Meister
Jan Metzler
Maria Michalk
Dr. Mathias Middelberg
Dietrich Monstadt
Karsten Möring
Marlene Mortler
Dr. Gerd Müller
Carsten Müller
({6})
Stefan Müller ({7})
Dr. Philipp Murmann
Michaela Noll
Helmut Nowak
Dr. Georg Nüßlein
Julia Obermeier
Florian Oßner
Dr. Tim Ostermann
Henning Otte
Ingrid Pahlmann
Sylvia Pantel
Martin Patzelt
Dr. Martin Pätzold
Ulrich Petzold
Dr. Joachim Pfeiffer
Eckhard Pols
Thomas Rachel
Kerstin Radomski
Alexander Radwan
Alois Rainer
Dr. Peter Ramsauer
Eckhardt Rehberg
Katherina Reiche ({8})
Lothar Riebsamen
Josef Rief
Dr. Heinz Riesenhuber
Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn
Johannes Röring
Dr. Norbert Röttgen
Erwin Rüddel
Albert Rupprecht
Anita Schäfer ({9})
Dr. Wolfgang Schäuble
Andreas Scheuer
Jana Schimke
Norbert Schindler
Tankred Schipanski
Heiko Schmelzle
Christian Schmidt ({10})
Gabriele Schmidt ({11})
Ronja Schmitt ({12})
Patrick Schnieder
Nadine Schön ({13})
Dr. Ole Schröder
Dr. Kristina Schröder
({14})
Bernhard Schulte-Drüggelte
Dr. Klaus-Peter Schulze
Uwe Schummer
Armin Schuster ({15})
Christina Schwarzer
Detlef Seif
Reinhold Sendker
Dr. Patrick Sensburg
Bernd Siebert
Thomas Silberhorn
Tino Sorge
Jens Spahn
Carola Stauche
Dr. Frank Steffel
Dr. Wolfgang Stefinger
Peter Stein
Erika Steinbach
Sebastian Steineke
Johannes Steiniger
Christian Freiherr von Stetten
Dieter Stier
Rita Stockhofe
Gero Storjohann
Max Straubinger
Matthäus Strebl
Karin Strenz
Thomas Stritzl
Thomas Strobl ({16})
Lena Strothmann
Michael Stübgen
Dr. Sabine Sütterlin-Waack
Antje Tillmann
Astrid Timmermann-Fechter
Dr. Volker Ullrich
Arnold Vaatz
Thomas Viesehon
Michael Vietz
Volkmar Vogel ({17})
Sven Volmering
Christel Voßbeck-Kayser
Kees de Vries
Marco Wanderwitz
Kai Wegner
Albert Weiler
Marcus Weinberg ({18})
Dr. Anja Weisgerber
Peter Weiß ({19})
Sabine Weiss ({20})
Ingo Wellenreuther
Karl-Georg Wellmann
Marian Wendt
Waldemar Westermayer
Kai Whittaker
Peter Wichtel
Annette Widmann-Mauz
Heinz Wiese ({21})
Elisabeth WinkelmeierBecker
Oliver Wittke
Dagmar G. Wöhrl
Barbara Woltmann
Tobias Zech
Heinrich Zertik
Emmi Zeulner
Dr. Matthias Zimmer
Gudrun Zollner
SPD
Niels Annen
Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Heike Baehrens
Ulrike Bahr
Heinz-Joachim Barchmann
Doris Barnett
Sören Bartol
Bärbel Bas
Dirk Becker
Uwe Beckmeyer
Lothar Binding ({22})
Burkhard Blienert
Dr. Karl-Heinz Brunner
Martin Burkert
Dr. Lars Castellucci
Petra Crone
Bernhard Daldrup
Dr. Daniela De Ridder
Sabine Dittmar
Martin Dörmann
Elvira Drobinski-Weiß
Siegmund Ehrmann
Michaela Engelmeier
Dr. h. c. Gernot Erler
Petra Ernstberger
Saskia Esken
Karin Evers-Meyer
Dr. Johannes Fechner
Dr. Fritz Felgentreu
Gabriele Fograscher
Dr. Edgar Franke
Ulrich Freese
Michael Gerdes
Martin Gerster
Iris Gleicke
Ulrike Gottschalck
Kerstin Griese
Uli Grötsch
Wolfgang Gunkel
Bettina Hagedorn
Rita Hagl-Kehl
Metin Hakverdi
Ulrich Hampel
Dirk Heidenblut
Hubertus Heil ({23})
Marcus Held
Heidtrud Henn
Gustav Herzog
Gabriele Hiller-Ohm
Thomas Hitschler
Dr. Eva Högl
Matthias Ilgen
Christina Jantz
Frank Junge
Josip Juratovic
Thomas Jurk
Oliver Kaczmarek
Christina Kampmann
Ralf Kapschack
Ulrich Kelber
Marina Kermer
Arno Klare
Lars Klingbeil
Daniela Kolbe
Birgit Kömpel
Anette Kramme
Helga Kühn-Mengel
Christine Lambrecht
Christian Lange ({24})
Dr. Karl Lauterbach
Steffen-Claudio Lemme
Burkhard Lischka
Gabriele Lösekrug-Möller
Hiltrud Lotze
Kirsten Lühmann
Dr. Birgit Malecha-Nissen
Caren Marks
Dr. Matthias Miersch
Klaus Mindrup
Bettina Müller
Detlef Müller ({25})
Michelle Müntefering
Dr. Rolf Mützenich
Dietmar Nietan
Ulli Nissen
Mahmut Özdemir ({26})
Aydan Özoğuz
Christian Petry
Detlev Pilger
Sabine Poschmann
Florian Post
Achim Post ({27})
Dr. Wilhelm Priesmeier
Florian Pronold
Dr. Sascha Raabe
Dr. Simone Raatz
Mechthild Rawert
Stefan Rebmann
Gerold Reichenbach
Dr. Carola Reimann
Andreas Rimkus
Sönke Rix
Dennis Rohde
Dr. Martin Rosemann
Michael Roth ({28})
Susann Rüthrich
Annette Sawade
Dr. Hans-Joachim
Schabedoth
Axel Schäfer ({29})
Dr. Nina Scheer
Udo Schiefner
Dr. Dorothee Schlegel
Ulla Schmidt ({30})
Matthias Schmidt ({31})
Dagmar Schmidt ({32})
Carsten Schneider ({33})
Ursula Schulte
Swen Schulz ({34})
Ewald Schurer
Stefan Schwartze
Andreas Schwarz
Dr. Carsten Sieling
Norbert Spinrath
Svenja Stadler
Martina Stamm-Fibich
Sonja Steffen
Peer Steinbrück
Dr. Frank-Walter Steinmeier
Christoph Strässer
Kerstin Tack
Claudia Tausend
Dr. Karin Thissen
Carsten Träger
Ute Vogt
Dirk Vöpel
Gabi Weber
Bernd Westphal
Andrea Wicklein
Dirk Wiese
Gülistan Yüksel
Dagmar Ziegler
Stefan Zierke
Manfred Zöllmer
Nein
SPD
Dr. Ute Finckh-Krämer
Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn
Michael Groß
Cansel Kiziltepe
Hilde Mattheis
René Röspel
Rüdiger Veit
Waltraud Wolff
({35})
DIE LINKE
Jan van Aken
Dr. Dietmar Bartsch
Herbert Behrens
Karin Binder
Matthias W. Birkwald
Christine Buchholz
Roland Claus
Dr. Diether Dehm
Wolfgang Gehrcke
Annette Groth
Heike Hänsel
Inge Höger
Andrej Hunko
Sigrid Hupach
Ulla Jelpke
Susanna Karawanskij
Kerstin Kassner
Katja Kipping
Jutta Krellmann
Katrin Kunert
Caren Lay
Sabine Leidig
Stefan Liebich
Dr. Gesine Lötzsch
Thomas Lutze
Birgit Menz
Cornelia Möhring
Niema Movassat
Norbert Müller ({36})
Dr. Alexander S. Neu
Thomas Nord
Harald Petzold ({37})
Martina Renner
Dr. Petra Sitte
Kersten Steinke
Dr. Kirsten Tackmann
Azize Tank
Frank Tempel
Dr. Axel Troost
Kathrin Vogler
Halina Wawzyniak
Harald Weinberg
Katrin Werner
Birgit Wöllert
Hubertus Zdebel
Pia Zimmermann
Sabine Zimmermann
({38})
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Sylvia Kotting-Uhl
Christian Kühn ({39})
Monika Lazar
Lisa Paus
Corinna Rüffer
Enthalten
SPD
Petra Hinz ({40})
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Marieluise Beck ({41})
Volker Beck ({42})
Dr. Franziska Brantner
Ekin Deligöz
Katja Dörner
Harald Ebner
Matthias Gastel
Katrin Göring-Eckardt
Britta Haßelmann
Bärbel Höhn
Dieter Janecek
Uwe Kekeritz
Katja Keul
Maria Klein-Schmeink
Oliver Krischer
Stephan Kühn ({43})
Markus Kurth
Steffi Lemke
Nicole Maisch
Irene Mihalic
Özcan Mutlu
Friedrich Ostendorff
Cem Özdemir
Tabea Rößner
Claudia Roth ({44})
Elisabeth Scharfenberg
Dr. Gerhard Schick
Dr. Frithjof Schmidt
Kordula Schulz-Asche
Dr. Wolfgang StrengmannKuhn
Dr. Harald Terpe
Markus Tressel
Jürgen Trittin
Doris Wagner
Dr. Valerie Wilms
Jetzt hat Ralph Lenkert von der Fraktion Die Linke
das Wort.
({45})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Geehrte Kolleginnen
und Kollegen! Die Grünen fordern in ihrem Antrag, dass
die Bundesregierung endlich ein Wertstoffgesetz vorlegt.
({0})
Es ist aber weder der richtige Zeitpunkt noch die richtige
Koalition für diese Forderung.
({1})
Die Schwerpunkte sind richtig: weniger Verbrauch
von Rohstoffen und mehr Recycling für Umweltschutz,
die ökonomisch und ökologisch sinnvolle Abschaffung
der dualen Systeme und die Einführung einer Ressourcenverbrauchsabgabe, um unnötigen Konsum zu verhindern und die Wiederverwendung von Produkten zu
fördern. Diese Forderungen unterstützt die Linke seit
Jahren. Es sind gute und richtige Forderungen.
({2})
Aber mit dieser Koalition ist das nicht zu schaffen. Diese
Koalition würde ein Wertstoffgesetz konterkarieren, wie
das neue Elektrogesetz zeigt. Ich begründe das.
Erstens. Wertstoffe wie Papier und Glas werden bereits heute getrennt erfasst. Metalle werden vor oder
nach der Restmüllverbrennung zurückgewonnen. Diese
Wertstoffe werden heute von kommunalen Entsorgern
genutzt und verkauft. Damit bezahlen die kommunalen
Entsorger teilweise die teure Restmüllbeseitigung.
Die Gewinne aus diesem Geschäft mit Wertstoffen
stiegen seit 2007 so stark, dass die durchschnittlichen
Müllgebühren in Deutschland seit 2007 konstant blieben, trotz Tarifsteigerungen für Beschäftigte, die sehr
begrüßenswert sind, höherer Betriebs- und Anlagenkosten und strengerer Umweltnormen. Über 1 Milliarde
Euro Entlastung brachte dies für Sie, für mich und für
alle Gebührenzahlerinnen und Gebührenzahler pro Jahr
oder, anders gerechnet, rund 12 Euro pro Einwohner und
Jahr, und dies dank eines fehlenden Wertstoffgesetzes.
Diese Milliarde weckt seit Jahren Begehrlichkeiten bei
privaten Entsorgungskonzernen. 2012 wollten die Konzerne über die Neufassung des Kreislaufwirtschaftsgesetzes diese Milliarde kassieren. Das konnte verhindert
werden.
Jetzt folgt die Kritik: Mit einem Wertstoffgesetz machen wir dieses Fass, das bisher dicht war, wieder auf.
Deshalb ist es falsch, die Forderung nach einem Wertstoffgesetz heute auf die Tagesordnung zu setzen.
({3})
Zweitens. Ja, die Verpackungsverordnung mit dem
dualen System ist ein ineffektives Bürokratiemonster
voller Betrugsmöglichkeiten. Trotz der oder durch die
Verpackungsverordnung explodierte die Menge an produzierten Kunststoffverpackungen in Deutschland von
1,5 Millionen Tonnen 1997 auf über 3 Millionen Tonnen
2014. Die Menge von Papp- und Papierverpackungen
stieg im gleichen Zeitraum von 5,2 Millionen Tonnen
auf 7,2 Millionen Tonnen jährlich. Betrug hat System im
Bereich der Verpackungsverordnung. Trotzdem erklären
Umweltministerium und Koalition die dualen Systeme
zum Erfolg. Ich frage mich, wie man das bei diesen Fakten machen kann. Das geht nur, wenn man entweder eine
Gehirnwäsche durchlaufen hat oder von Lobbyisten vereinnahmt wurde.
({4})
Sorry, liebe Grüne: Diese Koalition würde bei der
Einführung des Wertstoffgesetzes genau das Falsche machen. Sie würde eine Wertstofftonne unter der Regie der
dualen Systeme einführen. Dann nehmen in weiteren
Bereichen Bürokratie und Betrug zu. Das wäre ein Horror für die Umwelt und die Verbraucherinnen und Verbraucher, die alles bezahlen müssen. Deshalb sage ich:
Es ist besser, kein Wertstoffgesetz einzuführen, zumal
sich die Wertstofferfassung derzeit rechnet und in der
Praxis auch umgesetzt wird. Bei dieser Großen Koalition
würde ein Wertstoffgesetz mehr Schaden als Nutzen verursachen.
({5})
Aber auch wir wollen die Koalition treiben. Lassen
Sie uns einen Schritt gehen. Mit Forderungen zugunsten
der Wiederverwendung von Produkten und nach langen,
garantierten Nutzungszeiten können wir die Koalition
treiben. Dies schont unser aller Geldbeutel und die Umwelt.
Der Einführung einer Ressourcenverbrauchsteuer
steht auch unabhängig von einem Wertstoffgesetz nichts
entgegen.
({6})
Diese Forderung ist wichtig; da sind wir uns einig.
Die Wertstofftonne vertagen wir, bis wir die SPD von
einer verbraucher-, kommunal- und umweltfreundlichen
Lösung überzeugt haben.
Vielen Dank.
({7})
Vielen Dank. - Als letzter Redner in dieser Debatte
hat Michael Thews von der SPD-Fraktion das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! „Die Politik bedeutet ein starkes, langsames
Bohren von harten Brettern mit Leidenschaft und Augenmaß zugleich.“ Dieses berühmte Zitat von Max
Weber bestätigt sich - das hat die Diskussion eben gezeigt - gerade im Falle des Wertstoffgesetzes wieder einmal. Die Geschichte des Wertstoffgesetzes reicht zugegebenermaßen schon etwas länger zurück, aber sie ist
nicht unendlich, und sie ist, wenn es nach mir geht, auch
nicht ohne Happy End.
({0})
Die Forderung der Grünen, jetzt den Entwurf eines
Wertstoffgesetzes vorzulegen, ist verständlich.
({1})
Aber das ist leicht gesagt.
({2})
Die Bestrebung, ein Wertstoffgesetz zu verabschieden,
gibt es schon seit Jahren. Umweltminister Norbert
Röttgen hat sich genauso vergeblich darum bemüht wie
sein Nachfolger Peter Altmaier. Alle Beteiligten wissen:
Es ist jetzt höchste Zeit, das Wertstoffgesetz auf den
Weg zu bringen.
Beispiele für unverständliche Regelungen - einige
wurden schon genannt - gibt es viele. Die Tatsache, dass
der kaputte Drahtkleiderbügel aus dem Kleiderschrank
in eine andere Mülltonne gehört als der Drahtkleiderbügel aus der Reinigung oder dass die Plastikente in eine
andere Tonne gehört als der Joghurtbecher, ist weder
ökologisch sinnvoll noch für die Verbraucher nachvollziehbar oder praktikabel. Deshalb brauchen wir eine
Mülltrennung, die sich nach dem Material des Gegenstandes richtet und nicht nach seinem Gebrauchszweck.
({3})
Wir brauchen die Wertstofftonne, und da sind wir uns
weitestgehend einig.
({4})
Genauso einig sind wir uns darüber, dass wir anspruchsvollere Recyclingquoten brauchen und dass wir
die Ressourceneffizienz steigern wollen. Einig sind wir
uns auch, dass die Fehlentwicklungen, die bei der Verpackungsverordnung in den letzten Jahren zum Beinahekollaps der dualen Systeme geführt haben, beseitigt werden. Wir wollen mehr Transparenz und mehr Kontrolle,
und die siebte Novelle, so finde ich jedenfalls, war ein
wichtiger Schritt in diese Richtung.
({5})
Trotzdem ist das mit dem Wertstoffgesetz nicht so
einfach. Das liegt wie so oft an den unterschiedlichen
und teilweise auch sehr gegensätzlichen Interessen der
Beteiligten. Die private Entsorgungsindustrie braucht
Planungssicherheit, um in neue Sortier- und Recyclingtechnik investieren zu können. Die Hersteller, die die
Sammlung und Verwertung finanzieren sollen, wollen
die Kosten möglichst gering halten. Die dualen Systeme
wollen die aufgebauten Strukturen und ihre Geschäftsfelder erhalten, und die Bürgerinnen und Bürger, was
wollen die? Die wollen eine verständliche, ökologische,
einfache und kostengünstige Lösung.
Die Kommunen, die für die meisten Bürgerinnen und
Bürger der erste Ansprechpartner für alle Probleme und
Fragen rund um die Müllentsorgung sind, weil diese
eben als Teil der kommunalen Daseinsvorsorge verstanden wird, wollen nicht für etwas verantwortlich gemacht
werden, was sie nicht beeinflussen können.
({6})
Sie brauchen daher unbedingt wirksame Steuerungsmöglichkeiten und, wenn es nach mir geht, die Sammlungshoheit, die allerdings von vielen infrage gestellt
wird. Wenn die gelbe Tonne oder der gelbe Sack nicht
oder nicht rechtzeitig abgeholt werden,
({7})
wenn die Säcke bei der Sammlung aufplatzen und die
Gehwege verschmutzen, wenn es nicht genug Säcke gibt
oder sie zu selten abgeholt werden, dann wenden sich
die Bürgerinnen und Bürger an die Kommune. Das ist
auch grundsätzlich in Ordnung; denn die Kommune ist
für viele Dinge der unmittelbare Ansprechpartner für die
Bürgerinnen und Bürger.
({8})
Gleichzeitig hat die Kommune so auch den unmittelbaren Zugang zum Bürger und kann für die Abfalltrennung die erforderliche Akzeptanz und das erforderliche
Wissen schaffen.
({9})
Es ist auch in Ordnung, wenn die Bürgerinnen und
Bürger erwarten, dass bestimmte Leistungen, auch unter
unwirtschaftlichen Bedingungen, zuverlässig erbracht
werden und „insolvenzfest“ sind.
({10})
Aber dann muss die Kommune auch Problemen bei
der Sammlung entgegensteuern können. Sie muss Einflussmöglichkeiten haben, und sie muss den Systembetreibern auch Vorgaben machen können.
({11})
Gerade hier hat es aber in den letzten Jahren unter
dem Regime der Verpackungsverordnung unzählige
Rechtsstreitigkeiten gegeben über Fragen wie: wer wann
und unter welchen Voraussetzungen eine Abstimmungsvereinbarung beenden oder Änderungen verlangen kann,
wessen Entsorgungssystem sich nun anpassen muss und
wer von wem eigentlich wie viel Geld bekommt.
Die Gesamtgemengelange der unterschiedlichen Interessen ist in Wahrheit noch wesentlich differenzierter
und schwieriger, als ich sie jetzt mit einigen Pinselstrichen gemalt habe; aber ich denke, es ist deutlich geworden, dass es hier viele berechtigte und gegenläufige
Interessen der Beteiligten gibt. Gerade weil wir uns in so
vielen wichtigen Punkten wie anspruchsvollere Recyclingquoten, Weiterentwicklung der Produktverantwortung oder auch Einrichtung einer zentralen Stelle einig
sind, hoffe ich sehr, dass wir es in dieser Legislaturperiode schaffen werden, ein Wertstoffgesetz zu verabschieden.
({12})
Was die Produktverantwortung angeht, müssen wir es
allerdings auch schaffen, diese zu einem ökologischen
Lenkungsinstrument zu entwickeln. Sie darf von den
Herstellern nicht nur als finanzielle Verantwortung verstanden werden,
({13})
zumal die finanzielle Verpflichtung zwar zu guten Einnahmen bei den dualen Systemen führt, aber auch viel zu
oft nur ein dünner Finanzfluss zum Beispiel bei den Recyclern ankommt. Gutes Recycling braucht gute Anlagen, und die kosten nun einmal Geld.
({14})
Die heute schon viel beschworene Produktverantwortung muss wieder als Verantwortung verstanden werden,
ressourcenschonende, besser verwertbare oder wiederverwendbare Produkte herzustellen; denn eins ist klar:
Wir wollen und wir müssen weitermachen auf unserem
Weg zu einer geschlossenen Kreislaufwirtschaft. Wir
können es uns auf Dauer nicht leisten, auf Sekundärrohstoffe zu verzichten. Die Kreislaufwirtschaft muss dazu
beitragen, die sozialen und ökologischen Folgen des zunehmenden Rohstoffabbaus einzugrenzen.
({15})
Vor dem Hintergrund der Endlichkeit natürlicher Ressourcen und stetig steigender Rohstoffpreise haben wir
nicht nur ökologisch, sondern auch ökonomisch auf die
Dauer keine andere Wahl.
Die Bundesregierung hat sich in ihrer Nachhaltigkeitsstrategie das Ziel gesetzt, bis 2020 im Vergleich zu
1994 für die gleiche Menge an Gütern nur halb so viele
Rohstoffe einzusetzen. Ich meine, das kann nur mit einer
funktionierenden Kreislaufwirtschaft gelingen.
({16})
Wir werden zur weiteren Vervollkommnung dieser
Kreislaufwirtschaft in diesem Jahr unter anderem noch
das Elektro- und Elektronikgerätegesetz, die Gewerbeabfallverordnung und die Novelle des Batteriegesetzes
auf den Weg bringen und so auch noch andere Stoffströme in den Fokus nehmen.
Aber wir dürfen uns nichts vormachen: Es ist nicht
damit getan, dass der Müll in die richtige Tonne kommt,
und es ist auch nicht damit getan, dass die Recyclingquoten erhöht werden; denn Recycling ist kein Wert
an sich. Es muss für die Recyclate auch einen Markt geben - ein weiteres hartes Brett, das wir mit Leidenschaft
und Augenmaß bohren werden.
Vielen Dank für Ihr Interesse.
({17})
Vielen Dank. - Damit schließe ich die Debatte.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/4648 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf:
- Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({0}) zu dem Antrag der Bundesregierung
Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der durch die Vereinten Nationen
geführten Mission UNMIL in Liberia auf
Grundlage der Resolution 1509 ({1}) und
nachfolgender Verlängerungsresolutionen des
Sicherheitsrates der Vereinten Nationen, zuletzt Resolution 2190 ({2}) vom 15. Dezember 2014 und der Resolution 2215 ({3}) vom
2. April 2015
Drucksachen 18/4768, 18/4965
- Bericht des Haushaltsausschusses ({4})
gemäß § 96 der Geschäftsordnung
Drucksache 18/4977
Über diese Beschlussempfehlung werden wir später
namentlich abstimmen.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. - Ich höre dazu
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin in dieser Debatte hat Dr. Bärbel Kofler von der SPD-Fraktion
das Wort.
({5})
Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wir diskutieren heute hier ein Mandat in Liberia, das bereits seit zwölf Jahren existiert und, wie ich
glaube, einen wichtigen Beitrag zur Sicherheit, aber
auch zum Aufbau von staatlichen Institutionen in Liberia
geleistet hat.
Wer die Situation in diesem westafrikanischen Land
vor zwölf Jahren noch vor Augen hat, weiß: Es war ein
wirklich gebeuteltes Land, das Jahre des Bürgerkriegs
hinter sich hatte, in dem 250 000 Menschen ihr Leben
verloren haben. Es gab mehr als 1 Million Vertriebene.
Das Land war tief gespalten, wirtschaftlich und sozial.
Die Infrastruktur war am Boden.
Das Mandat ist von einer Vorgängermission der westafrikanischen Staaten übernommen worden, die sich um
einen Friedensvertrag, um Friedensschluss bemüht haben. Mit dem Friedensvertrag von Accra sollte über die
UN-Mission ein Beitrag dazu geleistet werden, Liberia
zu stabilisieren und vor allem - das ist das Bedeutende,
das Wichtige daran - die Zivilbevölkerung in diesem
Land zu schützen. Ich glaube, es ist wichtig, ein solches
Mandat zu unterstützen. Es ist wichtig, dass wir es gemeinsam unterstützen, dass wir es als Völkergemeinschaft unterstützen.
({0})
Ursprünglich war diese Mission auf 15 000 Mann
ausgelegt, konnte aber - auch das ist ein Indiz dafür,
dass in die richtige Richtung gearbeitet wurde - in den
ersten drei Jahren bereits um zwei Drittel reduziert werden. Der Fokus konnte auf verschiedene Aspekte, auch
nichtmilitärische Aspekte, ausgeweitet werden.
Wichtig, glaube ich, ist, dass es mit diesem Mandat
gelungen ist, drei demokratische Wahlen in Liberia abzusichern: im Jahr 2005, im Jahr 2011 und im Jahr 2014.
Es ist wichtig, dass diese Wahlen frei, demokratisch und
vor allem sicher für die Zivilbevölkerung abgehalten
werden konnten.
({1})
Es geht aber um weit mehr als um den militärischen
Sektor, auch wenn er in diesem Fall wegen der Sicherung der Zivilbevölkerung sehr wichtig ist. Es geht um
den Aufbau von Institutionen in Liberia. Es geht um die
Arbeit, die auch von Polizisten in Liberia geleistet wird,
um die Ausbildung von Polizeikräften auch in ländlichen
Strukturen, um die Frage, wie man Dezentralisierung
auch im Bereich der Sicherheitskräfte voranbringen und
gerade auch auf dem Land Sicherheit herstellen kann. Es
geht ferner - das darf nicht vergessen werden - um das
zivile Personal, das im Rahmen dieser UN-Mission
Rechtsberatung leistet, Beratung beim Aufbau von Justiz- und Sicherheitssystemen leistet, Fragen der Rechtsstaatlichkeit, der Menschenrechte, aber auch Fragen des
Gesundheitswesens - ich erinnere insbesondere an HIV/
Aids - mit bearbeitet und hier wertvolle Beiträge leistet.
Das Mandat läuft am 30. Juni nächsten Jahres aus.
Dann soll Liberia die gesamte Sicherheitsverantwortung
übernehmen. Ich glaube, es war richtig, in den letzten
Wochen und Monaten die Truppenreduzierung wegen
der Ebolaepidemie in Liberia auszusetzen und erst jetzt
langsam damit fortzufahren. Nach Beschluss vom April
dieses Jahres wird derzeit über 3 590 Soldaten,
1 515 Polizisten, aber auch 390 zivile Experten diskutiert. Deutschland beteiligt sich seit dem Jahr 2004 vor
allem im Bereich der Polizei mit fünf Polizistinnen und
Polizisten, im Bereich des zivilen Personals mit sechs
Expertinnen und Experten und ab Sommer dieses Jahres
eben auch das erste Mal mit fünf Soldatinnen und Soldaten, auch in der führenden Position des stellvertretenden
Befehlshabers von UNMIL. Ich glaube, es ist richtig,
dass wir uns daran beteiligen, und ich glaube, es ist auch
wichtig, dass wir das an der Mission UNMIL insgesamt
tun.
({2})
Die Mission hatte in den letzten Wochen und Monaten schwierige Aufgaben zu übernehmen, insbesondere
als es um den Umgang mit der Ebolaepidemie ging. Ich
glaube, es ist ein positiver Beitrag, dass es hier neben der
anderen Mission der UN, UNMEER, bei der es explizit
um die Bekämpfung der Ebolaepidemie ging, gelungen
ist, logistische Unterstützung zu leisten und den Transport von Hilfsgütern in entlegene Landesteile zu begleiten. Es ist aber auch nicht zu unterschätzen, dass es gelungen ist, einen Beitrag zur gesundheitlichen
Aufklärung der Bevölkerung in Liberia, zum Beispiel
über einen missionseigenen Radiosender, zu leisten und
Erkenntnisse über Krisen, Ursachen und Vermeidungsstrategien im Zusammenhang mit der Ausbreitung von
Ebola zu sammeln und zu verbreiten.
({3})
Die Mission soll zu einem für Liberia sehr schwierigen Zeitpunkt enden. Ich glaube, es ist wichtig, sich über
die Mission hinaus Gedanken zu machen, wie wir Liberia weiter begleiten und unterstützen können. Das Land
hat, wie gesagt, Jahrzehnte des Bürgerkriegs hinter sich,
der Destabilisierung, auch des Vertrauensverlustes der
Bevölkerung im Hinblick auf alle staatlichen Institutionen, auf ihren Staat als Ganzes. Liberia hat im letzten
Jahr mit fast 4 700 Toten den größten Anteil aller westafrikanischen Länder an den Toten der Ebolaepidemie zu
verkraften gehabt. Auch das hatte natürlich ökonomische und humanitäre Folgen für das Land. Das Wirtschaftswachstum ist eingebrochen. Besonders schlimm
finde ich, dass in einem Land, in dem Arbeitslosigkeit
sowieso grassiert, noch einmal 46 Prozent der arbeitenden Menschen ihre Arbeit und damit ihre Existenzgrundlage verloren haben, dass das Haushaltsvolumen des
Staates Liberia noch einmal um prognostizierte 25 Prozent zurückgehen wird und dass natürlich auch die Ernährungssituation aufgrund der Ernteausfälle und der
nicht möglichen Arbeit in der Landwirtschaft das Land
vor entsprechend große humanitäre Herausforderungen
stellen wird.
Ich glaube, gerade in dieser Situation wird die Aufgabe sein, jenseits von UNMIL eine Antwort auf die
Frage zu geben: Wie können wir das staatliche Gesundheitssystem und die Strukturen in Liberia stärken, um
den nächsten Krisen und Epidemien vorzubeugen, um
den Menschen eine Basis zu geben, sich gesundheitlich
versorgen zu können und es ihnen zu ermöglichen, Vertrauen in den eigenen Staat wiederzugewinnen? Ich
glaube, es ist wichtig und richtig, dass wir über die humanitäre Hilfe des Auswärtigen Amtes, aber genauso
über die Entwicklungszusammenarbeit des BMZ entscheidende Beiträge geleistet haben. Es ist richtig, dass
wir beim Wiederaufbau im Transportsektor und bei der
Infrastruktur viel geleistet haben, bei der Rehabilitierung
von Wasserkraftwerken, aber auch dabei, im Rohstoffsektor Transparenz bei der Entnahme der Rohstoffe herzustellen, damit die eigenen Ressourcen auch für die Bevölkerung in Liberia genutzt werden können. Ich glaube
aber, dass wir als Völkergemeinschaft noch einen langen
Atem über die Mission UNMIL hinaus brauchen werden, dass wir hier humanitär und entwicklungspolitisch
arbeiten müssen, um dem Land eine Basis für eine friedliche Zukunft zu geben.
({4})
Vielen Dank. - Als nächste Rednerin hat Sevim
Dağdelen von der Fraktion Die Linke das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir beraten heute hier abschließend über diesen Bundeswehreinsatz. Einzig meine Fraktion, die Linksfraktion
im Deutschen Bundestag, war dagegen, keine Öffentlichkeit bei diesem Bundeswehreinsatz herzustellen. Wie
richtig es ist, Bundeswehreinsätze immer im Lichte der
Öffentlichkeit zu beraten - Sie werden sie dann leider
mit Ihrer Mehrheit beschließen -, hat noch einmal eine
Anhörung der Linksfraktion im Deutschen Bundestag
am Montag ergeben, in der der ehemalige Parlamentarische Staatssekretär beim Bundesminister der Verteidigung, Herr Willy Wimmer, Mitglied der CDU, als Sachverständiger anwesend war und unterstrichen hat: Man
muss alles gegen eine Aushöhlung des Parlamentsbeteiligungsgesetzes durch die sogenannte Parlamentskommission tun, die den Parlamentarierinnen und Parlamentariern noch nicht einmal Einsicht in ihre Unterlagen
gewährt. Es lässt Schlimmes vermuten, wenn man den
Parlamentariern noch nicht einmal Zugang zu den Unterlagen dieser Kommission gewährt.
({0})
Der Auslandseinsatz der Bundeswehr in Liberia wirft
viele Fragen auf. Zunächst einmal drängt sich der Eindruck auf, dass die Bundesregierung wieder einmal die
falschen Prioritäten setzt. Es ist in diesem Zusammenhang bezeichnend, dass sie den Einsatz auch mit dem
Kampf gegen Ebola begründet. Während die kleine Insel
Kuba Ärzte nach Westafrika schickte, schickt Deutschland Bundeswehrsoldaten.
({1})
Hier möchte ich die Arbeit der vielen Helferinnen und
Helfer gar nicht schmälern. Aber gerade jetzt, wo neue
Ebolafälle in den Nachbarländern Liberias auftauchen,
brauchen wir nicht nur eine neue Strategie der Weltgesundheitsorganisation, sondern ein ziviles, humanitäres
Hilfskorps. Es ist doch beschämend, dass eine kleine Insel wie Kuba mehr Ärzte nach Westafrika geschickt hat
als die großen NATO-Staaten zusammen.
({2})
Zweitens fällt auf, dass Sie die Afrika-Präsenz der
Bundeswehr immer weiter ausdehnen. Wohin soll das eigentlich führen? Ist dies der grundgesetzliche Auftrag
der Bundeswehr? Ich finde es jedenfalls bezeichnend,
dass Sie unter internationaler Verantwortung zuvörderst
die weltweite Entsendung von Bundeswehrsoldaten verstehen. Die Linke lehnt das ab.
({3})
In diesem Zusammenhang muss man auch sehen, dass
bei diesem Einsatz ein nicht zu unterschätzendes Konfliktpotenzial vorhanden ist. 2011 gab es eine militärische Beteiligung von UNMIL aufseiten Frankreichs an
der Côte d’Ivoire an UNOCI. Der Regime-Change an
der Côte d’Ivoire, im Nachbarland Liberias, wurde vorangetrieben. Das war schon damals ein Tabubruch. Im
Oktober dieses Jahres stehen dort fragwürdige Wahlen
an, für die noch nicht einmal ein Viertel der Bevölkerung
als Wähler registriert ist. Viele Anhänger und Kämpfer
des ehemaligen Präsidenten sind nach Liberia geflohen
und dort von UNMIL teilweise verfolgt worden oder
wurden wegen ihrer Absicht, an die Côte d’Ivoire zu
kommen und dort zu kämpfen, erst gar nicht über die
Grenze gelassen, weil UNMIL die Grenze dichtgemacht
hat. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass das deutsche
Führungspersonal, das auch in anderen Ländern wie
Mali, Nigeria und in der Zentralafrikanischen Republik
eng mit Frankreich zusammenarbeitet, wesentlich an der
Entscheidung mitwirken wird, ob Kampfhubschrauber
von UNMIL wieder UNOCI an der Côte d’Ivoire unterstellt werden, um dort die Wiederwahl des dortigen Präsidenten des Westens, Ouattara, abzusichern. Dieser Einsatz birgt also ein Konfliktpotenzial. Deshalb lehnt die
Linke diesen Einsatz ab.
({4})
Wir sind der Auffassung, dass man tatsächlich humanitäre, internationale Verantwortung übernehmen sollte.
Schicken wir deshalb Ärzte statt Soldaten nach Liberia!
Bauen wir dort ein Gesundheitssystem gegen Ebola auf!
Das wäre eine wirklich humanitäre Intervention, die ihrem Namen gerecht wird.
({5})
Vielen Dank. - Als nächster Redner in der Debatte hat
Roderich Kiesewetter von der CDU/CSU-Fraktion das
Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Frau Dağdelen,
glauben Sie ja nicht, dass mir Ihre Argumente die
Stimme verschlagen haben.
({0})
Dafür hätte es anderer Kaliber bedurft.
Ich kann Ihnen nur sagen: Sie grenzen sich in vielen
Punkten aus. Hätten Sie doch bei der Parlamentskommission mitgemacht
({1})
und hätten sich beteiligt bei der Erörterung der Fragen
der Verbesserung der Parlamentsrechte, der Stärkung der
Parlamentsrechte und der Erhöhung der Verlässlichkeit
unseres internationalen Engagements. - Fehlanzeige!
({2})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, heute, in
diesem Monat und im nächsten Monat, feiern wir
70 Jahre Vereinte Nationen. Wir werden dazu im Bundestag noch gesondert debattieren. In den letzten 20 Jahren haben sich die Vereinten Nationen in außergewöhnlichem Maße in der Krisenprävention und in der
Krisennachsorge engagiert.
({3})
In Liberia haben sich die Vereinten Nationen in einer der
größten Missionen in ihrer Geschichte von 2003 an engagiert.
Wir müssen einmal schauen, wo Liberia herkommt:
Seit Ende der 80er-Jahre bis 2003 hat eine Viertelmillion
Menschen in verheerenden Bürgerkriegen ihr Leben verloren. Mit der UN-Mission seit 2003 sind drei wesentliche Fortschritte für Liberia erreicht und damit auch
Leuchttürme für die Entwicklung anderer afrikanischer
Staaten gesetzt worden.
Erstens. Erstmals in der Geschichte der Vereinten Nationen ist es der UNO gelungen, einen amtierenden
Staatspräsidenten, einen Kriegsverbrecher, den Diktator
Taylor, vor den Internationalen Gerichtshof in Den Haag
zu bringen. Das hatte nichts mit militärischem Engagement zu tun, sondern mit Rechtsstaatlichkeit, Kollegen
von der Linken.
({4})
Zweitens. Liberia ist ein Land, das wie wenige andere
Transparenz auf dem Rohstoffsektor hergestellt hat. Dieses Land ist zertifiziert und damit auch Leuchtturm für
andere afrikanische Staaten. Das hat nichts mit Militarisierung zu tun.
({5})
Drittens ist Liberia ein Land, das über den Pariser
Prozess erfolgreich eine Entschuldung zu Ende gebracht
hat. Das ist doch das, was wir in der Entwicklungszusammenarbeit, in der Außenpolitik anstreben sollten,
nämlich dass diese Staaten von selber wieder auf die
Füße kommen.
({6})
Die wesentliche Leistung der Vereinten Nationen ist
es, sich für Demokratie eingesetzt zu haben, für
Rechtsstaatlichkeit, für Reformen im Sicherheitssektor
und - das ist das, was mir persönlich sehr am Herzen
liegt - eben auch für Perspektiven und marktgerechte
Möglichkeiten, sodass sich die Menschen in der Wirtschaft organisieren können.
Seit 2003 ist diese Mission, die einstmals fast
20 000 Soldatinnen und Soldaten sowie Polizistinnen
und Polizisten umfasst hat, auf gerade einmal
5 000 reduziert worden.
({7})
Wir steigen in eine Mission in einem geschundenen
Land ein, um zu zeigen, dass wir bereit sind, Verantwortung zu übernehmen. Wir haben das, glaube ich, mit einer sehr guten Vorleistung hinbekommen. Deutschland
hat dank des Engagements unseres Außenministers und
unserer Verteidigungsministerin die Ebolaseuche massiv
bekämpft: nicht nur mit 200 Millionen Euro Haushaltsmitteln - sie waren dort richtig eingesetzt -, sondern
auch mit Flügen der deutschen Luftwaffe, auf denen
700 Tonnen Hilfsgüter transportiert wurden.
Mein Dank gilt den Bundeswehrsoldaten vor Ort, den
Helferinnen und Helfern und insbesondere den Helferinnen und Helfern des Deutschen Roten Kreuzes, die jetzt
den Militäreinsatz in eine zivile Mission zur Bekämpfung von Ebola überführt haben.
({8})
Ich möchte abschließend noch drei Punkte ansprechen, die belegen, warum unser Engagement so wichtig
ist:
Erstens. Deutschland hat Verantwortung gezeigt und
hat gezeigt, dass es verlässlich ist. Unsere Kanzlerin hat
bei der Sicherheitskonferenz in München gesagt: Wenn
jemand gebraucht wird, dann sind wir da. Wir dienen
uns nicht an, aber wenn Not am Mann, Not an der Frau
ist, steht Deutschland der internationalen Gemeinschaft
verlässlich zur Seite.
({9})
Dem ist nichts hinzuzufügen.
Zweitens. Wir Deutschen müssen sehr darauf achten,
dass wir in Afrika ein europäisches Gesicht bekommen.
Es darf nicht eine Interessenaufteilung geben: Frankreich kümmert sich um Afrika, und wir kümmern uns
um Osteuropa und die Ukraine. Wir brauchen eine europäische Präsenz,
({10})
und unser Ziel einer europäischen Verteidigungsunion
kann nicht besser dargestellt werden als zum Beispiel
dadurch, dass wir uns beim Aufbau medizinischer Fähigkeiten in Afrika engagieren.
({11})
Drittens. Wir werden Führungsverantwortung übernehmen, indem wir den stellvertretenden Missionsleiter
stellen.
Wir hätten diese sehr kleine Mission gerne im vereinfachten Verfahren durch den Bundestag gebracht. Allerdings ist es Sache des Bundestages selbst, darüber zu
entscheiden, was er im vereinfachten Verfahren beschließt und was er der Regierung überlässt.
Entscheidend ist - gleich ob wir es im vereinfachten
Verfahren machen oder nicht -, dass wir als Bundestag
hinter diesem Einsatz stehen und mit ganzer Kraft Verantwortung zeigen und den Soldatinnen und Soldaten in
der Region und allen Helfern sagen: Wir stehen an eurer
Seite. Europa unterstützt diesen Einsatz. Wir wollen
Westafrika stabilisieren, um den Staaten, die im nördlichen Afrika vor dem Zerfall stehen, zu zeigen, dass wir
in der Region nachhaltig präsent sind. Das machen wir
mit dem Einsatz in Liberia.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({12})
Vielen Dank. - Damit hat jetzt Agnieszka Brugger
von Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In den
letzten 25 Jahren haben die Menschen in Liberia viel
Leid ertragen müssen. Aktuell leiden sie immer noch
unter dem Ausbruch der Ebolakrise. Aber in der Vergangenheit gab es auch zwei blutige Bürgerkriege. Einer davon war einer der schlimmsten auf dem afrikanischen
Kontinent.
2003 hat die Weltgemeinschaft, haben sich die Vereinten Nationen dazu entschlossen, sich dort für mehr
Frieden, Sicherheit und Stabilität zu engagieren und eine
Friedensmission der Vereinten Nationen auf den Weg zu
bringen, UNMIL. Am Anfang hatte die Mission die Aufgabe, den Waffenstillstand abzusichern, und sie hat auch
Staatsaufgaben in dem bürgerkriegszerrütteten Land
übernommen.
2003 waren 15 000 Männer und Frauen im Rahmen
von UNMIL eingesetzt. Heute sind es noch 6 000 Menschen. Dazu gehört die einzige weibliche VN-Polizeieinheit. Ich finde, wir brauchen mehr davon, weil es gerade
für Frauen in Krisenregionen wichtig ist, auf weibliche
Sicherheitskräfte als Ansprechpartner zu treffen.
({0})
In den letzten Jahren haben mehrfach Wahlen stattgefunden. In Liberia wurde die erste Präsidentin Afrikas gewählt; sie ist inzwischen auch Friedensnobelpreisträgerin. Auf all diese Erfolge sollte man zurückschauen.
Die aktuellen Aufgaben von UNMIL sind etwas anders. Es geht um den Schutz der Zivilbevölkerung, um
die Sicherung von humanitären Hilfsleistungen, um die
Reform des Sicherheits- und Justizsektors - das ist nach
wie vor eine sehr schwierige Aufgabe - oder eben auch
um die Sicherung der Menschenrechte. Ich finde, die
zahlenmäßige Reduktion dieser Mission, aber auch die
Veränderung des Auftrags zeigen deutlich, dass es sich
hier um eine erfolgreiche Mission handelt. Es wird aber
auch klar: Der Weg ist oft lang, und er ist auch noch
nicht ganz zu Ende gegangen.
Mit dem Mandat, das die Bundesregierung heute hier
vorlegt, sollen deutsche Soldatinnen und Soldaten entsandt werden, um die Führung der Mission zu unterstützen. Deutschland soll sogar den stellvertretenden Leiter
stellen. Das mag zahlenmäßig vielleicht ein geringer
Beitrag sein. Er ist aber richtig und ein sehr wertvoller
Beitrag, weil er großen Einfluss auf die Ausgestaltung
dieser Mission bietet. Ich wünsche den Soldatinnen und
Soldaten, die in diesen Einsatz gehen werden, viel Erfolg
bei ihren wichtigen Aufgaben.
({1})
Meine Damen und Herren, wir debattieren schon seit
längerem die neue deutsche Verantwortung in der Außen- und Sicherheitspolitik. Für uns Grüne bedeutet
mehr Verantwortung in der Außen- und Sicherheitspolitik mehr Einsatz für die Vereinten Nationen und für ihre
Bemühungen, weltweit für Frieden und Sicherheit zu
sorgen.
({2})
Für die VN-Friedensmission heißt das ganz konkret,
dass man vor allem die zivile Komponente stärkt und sie
schneller verfügbar macht. Es heißt aber auch, dass man
in solche Missionen mehr Polizeipersonal entsendet. Es
geht auch um den großen Bedarf an militärischen Fähigkeiten, gerade in den Bereichen Logistik, Transport und
Aufklärung.
Sie, Frau Ministerin von der Leyen, waren letztes Jahr
in New York bei den Vereinten Nationen. Sie haben dort
viel versprochen; aber bis auf dieses richtige Mandat
UNMIL ist seitdem sehr wenig passiert. Wir als Obleute
des Verteidigungsausschusses waren gemeinsam in New
York bei den Vereinten Nationen. Da wurde uns wirklich
noch einmal aufgezeigt, wie groß der Bedarf ist, damit
die Vereinten Nationen ihre Aufgaben in den Krisenregionen dieser Welt erfüllen können. Liebe Kolleginnen
und Kollegen von der Koalition, statt jetzt die Zeit
zurückzudrehen und die Bundeswehr nach einer Logik
des Kalten Krieges aufzustellen und mehr Panzer zu beschaffen, sollten wir gemeinsam dafür sorgen, dass die
Bundeswehr VN-fähiger wird.
({3})
Meine Damen und Herren, es ist leider nicht immer
wie bei UNMIL in Liberia. Nicht alle VN-Friedenmissionen sind in Bürgerkriegsstaaten Erfolgsgeschichten.
Das ist nicht in erster Linie ein Versagen der Vereinten
Nationen, sondern es hat sehr oft mit dem zu tun, was
die Mitgliedstaaten tun und vor allem auch damit, was
sie nicht tun. Wir müssen schauen, dass die Vereinten
Nationen ihrem Auftrag gerecht werden können.
Deutschland ist kein kleiner und unbedeutender Mitgliedstaat, gerade wenn es um mehr Personal für VNFriedensmissionen geht. Deutschland kann und Deutschland sollte hier mehr tun.
Vielen Dank.
({4})
Vielen Dank. - Als letzter Redner in der Debatte hat
Dr. Reinhard Brandl von der CDU/CSU-Fraktion das
Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich finde es gut, dass wir heute hier über Liberia
sprechen. Über den Anlass kann man sich aber streiten.
Wir reden hier über ein Mandat, bei dem es um ein bis
maximal drei Soldaten in einer 6 000 Mann starken VNMission geht. Eigentlich enthält unser Parlamentsbeteiligungsgesetz für genau solche Mandate eine Regel, die es
ermöglicht, dass man im vereinfachen Verfahren entscheidet.
Die Linke hat diese Debatte gewollt; sie hat sie bekommen. Aber, Frau Dağdelen, ich finde es bezeichnend, dass Sie in Ihrem Beitrag kein einziges stichhaltiges Argument gegen eine Beteiligung gebracht haben
({0})
und trotzdem dagegen stimmen.
({1})
Ich glaube, irgendwann nehmen Ihre Wähler Ihnen das
nicht mehr ab. Aber, meine Damen und Herren, wir
wollten über Liberia und nicht über die Linke reden.
Die Mission UNMIL gilt als eine der erfolgreichsten
Missionen der VN-Geschichte. 2003 war das Land nach
14 Jahren Bürgerkrieg am Boden. Dank UNMIL ist es
gelungen, dass es in den letzten Jahren wieder einigermaßen auf die Füße gekommen ist. UNMIL war deswegen so erfolgreich, weil die Mission Elemente
verschiedener Art in der Zusammenarbeit der internationalen Hilfe verknüpft hat. Es geht um den Schutz der
Zivilbevölkerung, den Aufbau von Infrastruktur, die
Durchführung demokratischer Wahlen, humanitäre
Hilfe, Entwicklungszusammenarbeit, Versöhnungsprozess. UNMIL hat alles kombiniert. Der deutsche Beitrag
lag bisher in der Entwicklungszusammenarbeit. An der
Mission selbst waren wir mit bis zu fünf Polizisten bisher nur wenig beteiligt.
({2})
Wir wurden jetzt gefragt, ob wir einen deutschen General als stellvertretenden Befehlshaber der UNMIL
überstellen sollten. Natürlich sollten wir das machen.
Wir zeigen damit zum einen unsere Verbundenheit zu
den Vereinten Nationen, zu den Friedensmissionen und
zu den Stabilisierungsmissionen der Vereinten Nationen.
Wir zeigen damit zum anderen auch, dass wir bereit
sind, bei den Missionen in Afrika Verantwortung und
Führung zu übernehmen.
({3})
Meine Damen und Herren, UNMIL kommt in eine
kritische Phase. Es steht der Übergang der Sicherheitsverantwortung auf die liberianischen Behörden bevor.
Wenn dieser wichtige Meilenstein gelingt, dann ist das
Land Liberia auch weiterhin auf einem guten Weg in
Richtung nachhaltiger Frieden und nachhaltige Stabilität. Wir sollten den Beitrag, den wir mit unserem einen
Soldaten leisten, nicht überhöhen. Es ist zwar ein wichtiger, ein symbolischer Beitrag, aber es ist nur ein kleiner
Beitrag in einem großen internationalen Gemeinschaftsprojekt.
Die Bundeswehr hat aber in den letzten Monaten einen sehr viel greifbareren Beitrag für die Menschen, für
die Bevölkerung in Liberia geleistet. Kein anderes Land
war so stark von Ebola betroffen wie Liberia; es gab dort
über 4 000 Tote. Wir alle erinnern uns noch an den dramatischen Hilferuf der Präsidentin Anfang September an
die Bundesrepublik Deutschland. Die deutsche Hilfe und
die internationale Hilfe kamen bei Ebola zu spät. Aber
als sie kam, war sie wirkungsvoll. Liberia ist seit dem
9. Mai nun ebolafrei. Die Bundeswehr hat von Oktober 2014 bis März 2015 345 Hilfsflüge in die Region
durchgeführt. Sie hat über 1 000 Tonnen Hilfsmaterial
an Liberia und seine Nachbarländer geliefert.
Bundesministerin von der Leyen hat vor kurzem die
freiwilligen Helfer, darunter auch viele Reservisten und
zivile Mitarbeiter der Bundeswehr, im Ministerium empfangen und sie für ihren Einsatz geehrt. Auch der Sonderbeauftragte der Bundesregierung Lindner hat in seiner Stellungnahme deutlich gemacht, wie wichtig die
zivil-militärische Zusammenarbeit war und dass sie gut
funktioniert hat.
Liberia braucht unsere Hilfe; denn Ebola war für die
Entwicklung Liberias ein Rückschlag. Die beiden
Bundesminister Gröhe und Müller haben mit ihrem Besuch Liberias vor einigen Wochen ein wichtiges Zeichen
gesetzt. Wir sollten heute mit unserer Zustimmung zu
UNMIL ein weiteres Zeichen setzen. Ich bitte Sie daher
um Ihre Zustimmung.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({4})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, damit sind wir am
Schluss dieser Debatte. Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Auswärti-
gen Ausschusses zu dem Antrag der Bundesregierung
zur Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der
durch die Vereinten Nationen geführten Mission UNMIL
in Liberia. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-
empfehlung auf Drucksache 18/4965, den Antrag der
Bundesregierung auf Drucksache 18/4768 anzunehmen.
Wir stimmen nun über die Beschlussempfehlung na-
mentlich ab. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schrift-
führer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. - Sind
alle Plätze an den Urnen durch die Schriftführerinnen
und Schriftführer besetzt? - Das ist der Fall. Dann er-
öffne ich die Abstimmung.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ist ein Mitglied des
Hauses anwesend, das seine Stimme noch nicht abgege-
ben hat? - Das ist nicht der Fall. Ich schließe die Ab-
stimmung und bitte die Schriftführerinnen und Schrift-
führer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis
der Abstimmung wird Ihnen später bekannt gegeben.1)
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 15 a und 15 b auf:
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Menschenrechte und
Humanitäre Hilfe ({0})
1) Ergebnis Seite 10173 C
Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn
- zu dem Antrag der Abgeordneten Heike
Hänsel, Michael Leutert, Wolfgang Gehrcke,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Menschenrechte in Mexiko schützen, Verhandlungen zum Sicherheitsabkommen
aussetzen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Tom
Koenigs, Uwe Kekeritz, Claudia Roth ({1}), weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Iguala ist kein Einzelfall - Zur Menschen-
rechtslage in Mexiko
Drucksachen 18/3548, 18/3552, 18/3952
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Innenausschusses ({2}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Hans-Christian
Ströbele, Irene Mihalic, Uwe Kekeritz, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Sicherheitsabkommen brauchen Standards
Drucksachen 18/3553, 18/3933
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. Gibt es dazu
Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das so
beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hat
Gabriela Heinrich von der SPD-Fraktion das Wort.
({3})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kollegen und
Kolleginnen! Meine Damen und Herren! Noch vor einem Jahr hätten wohl die wenigsten Menschen in Europa
Mexiko genannt, wenn man sie nach den Krisen auf dem
Globus gefragt hätte. Wenn sie überhaupt wahrgenommen wurden, bezeichnete man die Konflikte in Mexiko
als Kartellkriege, Bandenkriege oder Drogenkriege.
Seit den Ereignissen in Iguala hat sich das grundlegend geändert. Die 43 verschwundenen Studenten haben
die Menschenrechtslage in Mexiko ins Bewusstsein der
europäischen Öffentlichkeit gerufen. Seitdem lesen und
hören wir mehr über dieses Land, leider meist nichts Gutes. Zum Beispiel berichtete gestern die Süddeutsche
Zeitung online, dass erneut Menschen verschwunden
sind, wieder in der Provinz Guerrero, diesmal im Ort
Chilapa. Die Anzahl der verschwundenen Menschen
scheint noch nicht klar zu sein. Die Bewohner hätten von
30 Menschen gesprochen, die örtliche Menschenrechtskommission von 13. Verschwunden seien die Personen,
nachdem eine Bürgerwehr den Ort besetzt hatte.
Fakt ist: Viel zu viele Menschen verschwinden in
Mexiko. Regierungschef und Präsident Enrique Peña
Nieto bekennt sich zwar ebenso wie sein Vorgänger
Calderón zu den Menschenrechten. Mexiko ist ein verlässlicher Partner in den Vereinten Nationen. Mexiko hat
die allermeisten internationalen Menschenrechtsabkommen unterschrieben und ratifiziert. Dennoch sind Menschenrechtsverletzungen in mehreren Bundesstaaten an
der Tagesordnung. In den Bundesstaaten Michoacán und
Guerrero vergeht kaum ein Tag ohne gewalttätige Auseinandersetzung. Die jeweiligen Gegner sind heterogen,
die Lage ist unübersichtlich. Die Waffengewalt spielt
sich innerhalb des organisierten Verbrechens ab oder
zwischen Polizei und Banden oder zwischen selbsternannten Bürgerwehren und Banden. Die Konflikte gehen
also längst über einen Drogen- oder Kartellkrieg hinaus.
Es gibt viele Menschenrechtsverletzungen in Mexiko:
Gewalt an Frauen, Feminizide, also Morde an Frauen,
Kinderarbeit, Menschenhandel und Diskriminierung von
Minderheiten. Ein Teil des Problems sind die Sicherheitsbehörden. Menschenrechtsorganisationen berichten
von Übergriffen durch Polizei und Militär, von Willkür,
vom Verschwindenlassen und von Folter. Die Täter gehen in der Regel straffrei aus. Die Justiz ignoriert Straftaten ebenso wie schwere Menschenrechtsverletzungen.
Amnesty International beschreibt im Amnesty Report
2015 über Mexiko, dass dadurch das Klima der Straflosigkeit weiter verstärkt und das Vertrauen in das Rechtssystem geschwächt sei. Die Folge sind Selbstbewaffnung und Selbstjustiz durch Bürgerwehren, weil sich die
Menschen nicht mehr oder nicht genügend durch Staat,
Justiz und Polizei geschützt fühlen. Wenn solche Bürgerwehren wiederum Drogenkartelle oder -banden unterstützen, dann ist der Teufelskreis komplett.
Mexiko selbst will bis 2016 endlich die Strafprozessrechtsreform aus dem Jahr 2008 umsetzen. Diese
Reform modernisiert das mexikanische Justizwesen und
soll die Rechte der Angeklagten stärken. Zum Beispiel
soll endlich die Unschuldsvermutung gelten, und
erzwungene Geständnisse sollen verboten werden. Weiterhin sollen die Maßnahmen im Kampf gegen die organisierte Kriminalität, gegen Drogenkartelle und Menschenhändler verschärft werden.
Deutschland unterstützt Mexiko in der Entwicklungszusammenarbeit bisher vor allem im Bereich von Umweltprojekten. In Ihren Anträgen fordern Sie völlig zu
Recht, dass Deutschland die mexikanische Zivilgesellschaft stärken soll. Aus dem Entwicklungsministerium
habe ich die Information erhalten, dass die Entwicklungszusammenarbeit demnächst neben dem Umweltschwerpunkt neue Wege gehen soll. Anfang Juni werden
die deutsch-mexikanischen Regierungsverhandlungen
stattfinden. Geplant ist ein gemeinsam finanzierter
Fonds, der unter anderem Reformen im Bereich der
Rechtsstaatlichkeit und der sozialen Gerechtigkeit finanzieren soll. Ein weiterer Fonds ist zur Förderung der mexikanischen Zivilgesellschaft vorgesehen.
Das von Ihnen kritisierte Abkommen zielt darauf ab,
die organisierte Kriminalität zu bekämpfen und zu verhindern. Die Minderung schwerster Straftaten, der
Rauschgift- und Schleuserkriminalität, des Terrorismus
und des Menschenhandels sind die Unterziele. Die Polizei erhält dadurch keine weiteren Befugnisse, aber
Deutschland kann helfen, die Sicherheitsbehörden besGabriela Heinrich
ser auszubilden. Das wiederum kann helfen, Rechtsstaatlichkeit zu fördern.
({0})
Die Zusammenarbeit soll über die Generalstaatsanwaltschaft erfolgen. Auch die Internationale Kommission gegen Straflosigkeit in Guatemala arbeitet mit der
Generalstaatsanwaltschaft zusammen. Aus Guatemala
wissen wir, dass die Erfolge im Kampf gegen die organisierte Kriminalität auch von den dort handelnden Personen abhängig sind.
Ja, in Mexiko sind Korruption und Willkür ein Problem. Aber sollten wir die Zusammenarbeit deshalb einstellen? In der Entwicklungszusammenarbeit müssen wir
uns diese Frage häufig stellen. Versuchen wir, ein Land
beim Aufbau von mehr Rechtsstaatlichkeit zu unterstützen, oder kapitulieren wir aufgrund der zugegebenermaßen sehr schwierigen Situation?
Beide Anträge der Opposition fordern durchaus
Wichtiges und Richtiges, zum Beispiel, die Zivilgesellschaft bzw. Menschenrechtsverteidiger zu unterstützen.
Beide Anträge fordern aber auch, das Sicherheitsabkommen auszusetzen,
({1})
ohne Mexiko eine konkrete Alternative zu bieten.
Ich bin völlig einverstanden mit Ihrer Forderung nach
deutlich mehr Fortschrittskontrolle und weitaus größerer
Transparenz in Ihrem Antrag mit dem Titel „Sicherheitsabkommen brauchen Standards“. Das Parlament muss
über die Maßnahmen, die Fortschritte oder mögliche
Misserfolge informiert werden.
Sie schießen jedoch über das Ziel hinaus. Sie fordern
halbjährliche Berichte der Bundesregierung an den Bundestag. Die Berichte sollen Auftrag, Zweck, Gebiet,
rechtliche Grundlagen, Mitarbeiterzahl, Kosten und
Dauer enthalten. Wenn wir zu allen 24 Sicherheitsabkommen und zu den 12 derzeit verhandelten Abkommen
halbjährlich Berichte bekommen sollen, dann sind das
72 Berichte im Jahr. Ich halte dieses Ansinnen für überzogen und wenig zielführend.
Wir werden die drei Anträge ablehnen.
Vielen Dank.
({2})
Vielen Dank. - Liebe Kolleginnen und Kollegen, bevor ich der nächsten Rednerin das Wort erteile, möchte
ich Ihnen das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Auswärtigen
Ausschusses zu dem Antrag der Bundesregierung mit
dem Titel „Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der durch die Vereinten Nationen geführten
Mission UNMIL in Liberia auf Grundlage der Resolution 1509 ({0})“, Drucksachen 18/4768 und 18/4965,
bekannt geben: Abgegeben wurden 584 Stimmen. Mit Ja
haben gestimmt 522, mit Nein haben gestimmt 59.
3 Kolleginnen und Kollegen haben sich enthalten. Damit
ist die Beschlussempfehlung angenommen.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 584;
davon
ja: 522
nein: 59
enthalten: 3
Ja
CDU/CSU
Stephan Albani
Peter Altmaier
Artur Auernhammer
Dorothee Bär
Thomas Bareiß
Norbert Barthle
Günter Baumann
Maik Beermann
Manfred Behrens ({1})
Veronika Bellmann
Dr. André Berghegger
Ute Bertram
Peter Beyer
Steffen Bilger
Clemens Binninger
Peter Bleser
Wolfgang Bosbach
Klaus Brähmig
Michael Brand
Helmut Brandt
Dr. Ralf Brauksiepe
Dr. Helge Braun
Heike Brehmer
Ralph Brinkhaus
Cajus Caesar
Gitta Connemann
Alexandra Dinges-Dierig
Alexander Dobrindt
Michael Donth
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Hansjörg Durz
Iris Eberl
Jutta Eckenbach
Hermann Färber
Dr. Thomas Feist
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Dirk Fischer ({2})
Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Dr. Astrid Freudenstein
Dr. Hans-Peter Friedrich
({3})
Michael Frieser
Dr. Michael Fuchs
Hans-Joachim Fuchtel
Alexander Funk
Ingo Gädechens
Alois Gerig
Eberhard Gienger
Josef Göppel
Reinhard Grindel
Hermann Gröhe
Michael Grosse-Brömer
Astrid Grotelüschen
Markus Grübel
Monika Grütters
Dr. Herlind Gundelach
Fritz Güntzler
Olav Gutting
Christian Haase
Jürgen Hardt
Gerda Hasselfeldt
Matthias Hauer
Mark Hauptmann
Dr. Stefan Heck
Dr. Matthias Heider
Helmut Heiderich
Mechthild Heil
Frank Heinrich ({4})
Mark Helfrich
Jörg Hellmuth
Rudolf Henke
Michael Hennrich
Ansgar Heveling
Christian Hirte
Dr. Heribert Hirte
Robert Hochbaum
Alexander Hoffmann
Thorsten Hoffmann
({5})
Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn
Karl Holmeier
Franz-Josef Holzenkamp
Dr. Hendrik Hoppenstedt
Margaret Horb
Bettina Hornhues
Charles M. Huber
Anette Hübinger
Hubert Hüppe
Erich Irlstorfer
Sylvia Jörrißen
Andreas Jung
Dr. Franz Josef Jung
Xaver Jung
Bartholomäus Kalb
Hans-Werner Kammer
Steffen Kanitz
Anja Karliczek
Bernhard Kaster
Dr. Stefan Kaufmann
Dr. Georg Kippels
Volkmar Klein
Jürgen Klimke
Axel Knoerig
Jens Koeppen
Markus Koob
Carsten Körber
Hartmut Koschyk
Kordula Kovac
Gunther Krichbaum
Dr. Günter Krings
Rüdiger Kruse
Bettina Kudla
Dr. Roy Kühne
Uwe Lagosky
Dr. Karl A. Lamers
Andreas G. Lämmel
Katharina Landgraf
Ulrich Lange
Barbara Lanzinger
Dr. Silke Launert
Paul Lehrieder
Dr. Katja Leikert
Dr. Philipp Lengsfeld
Philipp Graf Lerchenfeld
Dr. Ursula von der Leyen
Antje Lezius
Ingbert Liebing
Matthias Lietz
Dr. Carsten Linnemann
Wilfried Lorenz
Dr. Claudia Lücking-Michel
Dr. Jan-Marco Luczak
Daniela Ludwig
Karin Maag
Yvonne Magwas
Thomas Mahlberg
Dr. Thomas de Maizière
Gisela Manderla
Matern von Marschall
Hans-Georg von der Marwitz
Andreas Mattfeldt
Stephan Mayer ({6})
Reiner Meier
Dr. Michael Meister
Jan Metzler
Maria Michalk
Dr. Mathias Middelberg
Dietrich Monstadt
Karsten Möring
Marlene Mortler
Dr. Gerd Müller
Carsten Müller
({7})
Stefan Müller ({8})
Dr. Philipp Murmann
Michaela Noll
Helmut Nowak
Dr. Georg Nüßlein
Julia Obermeier
Florian Oßner
Dr. Tim Ostermann
Henning Otte
Ingrid Pahlmann
Sylvia Pantel
Martin Patzelt
Dr. Martin Pätzold
Ulrich Petzold
Dr. Joachim Pfeiffer
Eckhard Pols
Thomas Rachel
Kerstin Radomski
Alexander Radwan
Alois Rainer
Dr. Peter Ramsauer
Eckhardt Rehberg
Katherina Reiche ({9})
Lothar Riebsamen
Josef Rief
Dr. Heinz Riesenhuber
Johannes Röring
Dr. Norbert Röttgen
Erwin Rüddel
Albert Rupprecht
Anita Schäfer ({10})
Dr. Wolfgang Schäuble
Andreas Scheuer
Jana Schimke
Norbert Schindler
Tankred Schipanski
Heiko Schmelzle
Christian Schmidt ({11})
Gabriele Schmidt ({12})
Ronja Schmitt ({13})
Patrick Schnieder
Nadine Schön ({14})
Dr. Ole Schröder
Dr. Kristina Schröder
({15})
Bernhard Schulte-Drüggelte
Dr. Klaus-Peter Schulze
Uwe Schummer
Armin Schuster ({16})
Christina Schwarzer
Detlef Seif
Reinhold Sendker
Dr. Patrick Sensburg
Bernd Siebert
Thomas Silberhorn
Tino Sorge
Jens Spahn
Carola Stauche
Dr. Frank Steffel
Dr. Wolfgang Stefinger
Peter Stein
Erika Steinbach
Sebastian Steineke
Johannes Steiniger
Christian Freiherr von Stetten
Dieter Stier
Rita Stockhofe
Gero Storjohann
Max Straubinger
Matthäus Strebl
Karin Strenz
Thomas Stritzl
Thomas Strobl ({17})
Lena Strothmann
Michael Stübgen
Dr. Sabine Sütterlin-Waack
Antje Tillmann
Astrid Timmermann-Fechter
Dr. Volker Ullrich
Arnold Vaatz
Thomas Viesehon
Michael Vietz
Volkmar Vogel ({18})
Sven Volmering
Christel Voßbeck-Kayser
Kees de Vries
Marco Wanderwitz
Albert Weiler
Marcus Weinberg ({19})
Dr. Anja Weisgerber
Peter Weiß ({20})
Sabine Weiss ({21})
Ingo Wellenreuther
Karl-Georg Wellmann
Marian Wendt
Waldemar Westermayer
Kai Whittaker
Peter Wichtel
Annette Widmann-Mauz
Heinz Wiese ({22})
Klaus-Peter Willsch
Elisabeth WinkelmeierBecker
Oliver Wittke
Dagmar G. Wöhrl
Barbara Woltmann
Tobias Zech
Heinrich Zertik
Emmi Zeulner
Dr. Matthias Zimmer
Gudrun Zollner
SPD
Niels Annen
Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Heike Baehrens
Ulrike Bahr
Heinz-Joachim Barchmann
Doris Barnett
Dr. Matthias Bartke
Sören Bartol
Bärbel Bas
Dirk Becker
Uwe Beckmeyer
Lothar Binding ({23})
Burkhard Blienert
Dr. Karl-Heinz Brunner
Martin Burkert
Dr. Lars Castellucci
Petra Crone
Bernhard Daldrup
Dr. Daniela De Ridder
Sabine Dittmar
Martin Dörmann
Elvira Drobinski-Weiß
Siegmund Ehrmann
Michaela Engelmeier
Dr. h. c. Gernot Erler
Petra Ernstberger
Saskia Esken
Karin Evers-Meyer
Dr. Johannes Fechner
Dr. Fritz Felgentreu
Gabriele Fograscher
Dr. Edgar Franke
Ulrich Freese
Michael Gerdes
Martin Gerster
Iris Gleicke
Ulrike Gottschalck
Kerstin Griese
Michael Groß
Uli Grötsch
Wolfgang Gunkel
Bettina Hagedorn
Rita Hagl-Kehl
Metin Hakverdi
Ulrich Hampel
Dirk Heidenblut
Hubertus Heil ({24})
Marcus Held
Heidtrud Henn
Gustav Herzog
Gabriele Hiller-Ohm
Thomas Hitschler
Dr. Eva Högl
Matthias Ilgen
Christina Jantz
Frank Junge
Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn
Josip Juratovic
Thomas Jurk
Oliver Kaczmarek
Christina Kampmann
Ralf Kapschack
Ulrich Kelber
Marina Kermer
Arno Klare
Lars Klingbeil
Daniela Kolbe
Birgit Kömpel
Anette Kramme
Helga Kühn-Mengel
Christine Lambrecht
Christian Lange ({25})
Dr. Karl Lauterbach
Steffen-Claudio Lemme
Burkhard Lischka
Gabriele Lösekrug-Möller
Hiltrud Lotze
Kirsten Lühmann
Dr. Birgit Malecha-Nissen
Caren Marks
Hilde Mattheis
Dr. Matthias Miersch
Klaus Mindrup
Bettina Müller
Detlef Müller ({26})
Michelle Müntefering
Dr. Rolf Mützenich
Andrea Nahles
Dietmar Nietan
Ulli Nissen
Mahmut Özdemir ({27})
Aydan Özoğuz
Detlev Pilger
Sabine Poschmann
Florian Post
Achim Post ({28})
Dr. Wilhelm Priesmeier
Florian Pronold
Dr. Sascha Raabe
Dr. Simone Raatz
Mechthild Rawert
Stefan Rebmann
Gerold Reichenbach
Dr. Carola Reimann
Andreas Rimkus
Sönke Rix
Dennis Rohde
Dr. Martin Rosemann
René Röspel
Michael Roth ({29})
Susann Rüthrich
Annette Sawade
Dr. Hans-Joachim
Schabedoth
Axel Schäfer ({30})
Dr. Nina Scheer
Udo Schiefner
Dr. Dorothee Schlegel
Ulla Schmidt ({31})
Matthias Schmidt ({32})
Dagmar Schmidt ({33})
Carsten Schneider ({34})
Ursula Schulte
Swen Schulz ({35})
Ewald Schurer
Stefan Schwartze
Andreas Schwarz
Dr. Carsten Sieling
Norbert Spinrath
Svenja Stadler
Martina Stamm-Fibich
Sonja Steffen
Dr. Frank-Walter Steinmeier
Kerstin Tack
Claudia Tausend
Dr. Karin Thissen
Carsten Träger
Rüdiger Veit
Ute Vogt
Dirk Vöpel
Gabi Weber
Bernd Westphal
Andrea Wicklein
Dirk Wiese
Waltraud Wolff
({36})
Gülistan Yüksel
Dagmar Ziegler
Stefan Zierke
Manfred Zöllmer
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Marieluise Beck ({37})
Volker Beck ({38})
Dr. Franziska Brantner
Ekin Deligöz
Katja Dörner
Harald Ebner
Matthias Gastel
Katrin Göring-Eckardt
Britta Haßelmann
Bärbel Höhn
Dieter Janecek
Uwe Kekeritz
Katja Keul
Maria Klein-Schmeink
Sylvia Kotting-Uhl
Oliver Krischer
Stephan Kühn ({39})
Christian Kühn ({40})
Markus Kurth
Monika Lazar
Steffi Lemke
Nicole Maisch
Irene Mihalic
Özcan Mutlu
Omid Nouripour
Friedrich Ostendorff
Cem Özdemir
Lisa Paus
Tabea Rößner
Claudia Roth ({41})
Corinna Rüffer
Elisabeth Scharfenberg
Dr. Gerhard Schick
Dr. Frithjof Schmidt
Kordula Schulz-Asche
Dr. Wolfgang StrengmannKuhn
Dr. Harald Terpe
Markus Tressel
Jürgen Trittin
Doris Wagner
Dr. Valerie Wilms
Nein
SPD
Cansel Kiziltepe
DIE LINKE
Jan van Aken
Dr. Dietmar Bartsch
Herbert Behrens
Karin Binder
Matthias W. Birkwald
Christine Buchholz
Roland Claus
Dr. Diether Dehm
Wolfgang Gehrcke
Annette Groth
Heike Hänsel
Inge Höger
Andrej Hunko
Sigrid Hupach
Ulla Jelpke
Susanna Karawanskij
Kerstin Kassner
Katja Kipping
Jutta Krellmann
Katrin Kunert
Caren Lay
Sabine Leidig
Stefan Liebich
Dr. Gesine Lötzsch
Thomas Lutze
Birgit Menz
Cornelia Möhring
Niema Movassat
Norbert Müller ({42})
Dr. Alexander S. Neu
Thomas Nord
Harald Petzold ({43})
Martina Renner
Dr. Petra Sitte
Kersten Steinke
Dr. Kirsten Tackmann
Azize Tank
Frank Tempel
Dr. Axel Troost
Halina Wawzyniak
Harald Weinberg
Katrin Werner
Birgit Wöllert
Hubertus Zdebel
Pia Zimmermann
Sabine Zimmermann
({44})
Enthalten
SPD
Dr. Ute Finckh-Krämer
Petra Hinz ({45})
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn
Ich rufe die nächste Rednerin auf: Heike Hänsel von
der Fraktion Die Linke.
({46})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! In diesem Land der Straffreiheit gibt es Morde
ohne Mörder, Folter ohne Folterer, sexuelle Gewalt ohne
Vergewaltiger. Ich spreche von Mexiko, einem Land, in
dem 98 Prozent Straflosigkeit herrscht.
Traurige Berühmtheit erlangte Mexiko letztes Jahr,
als 43 Lehramtsstudenten der Universität von Ayotzinapa durch die Polizei gewaltsam verschwanden. Bis
heute ist dieser Fall nicht richtig aufgeklärt, auch wenn
die mexikanische Regierung den Fall trotz großer
Widersprüche als abgeschlossen ansieht und jede Verantwortung zurückweist. Ich habe mich letztes Jahr mit
den Angehörigen der Verschwundenen in Ayotzinapa
getroffen. Sie sind verzweifelt und haben keinerlei Vertrauen in die staatlichen Strukturen. Sie fordern mittlerweile internationale Hilfe bei der Aufklärung und auch
persönlichen Schutz, weil sie vielen Anfeindungen ausgesetzt sind.
Die mexikanische Regierung und die Staatsanwaltschaft, mit der ich ebenfalls gesprochen habe, wollen
diesen Fall als rein lokales Problem korrupter Polizeieinheiten darstellen. Dabei sagen alle Menschenrechtsorganisationen in Mexiko, dass auch die nationale Ebene
verantwortlich ist. Denn auch die Bundespolizei und die
mexikanische Armee waren zum Zeitpunkt der Verhaftung der Studenten vor Ort und haben nicht eingegriffen.
Im Gegenteil: Sie haben sogar ebenfalls die Studenten
bedroht. Sie waren zu jeder Zeit vom Sicherheitsdienst
über die Lage vor Ort informiert.
Ayotzinapa ist aber nur die Spitze des Eisbergs
brutalster Menschenrechtsverletzungen in Mexiko: über
26 000 gewaltsam Verschwundene und fast
100 000 Menschen, die seit 2006 ermordet wurden.
Immer wieder sind alle Ebenen der Polizei und das
Militär in diese Verbrechen verwickelt.
Was macht nun die Bundesregierung? Wir haben Außenminister Steinmeier mehrfach zu Venezuela reden
gehört; da macht er sich große Sorgen. Zur Menschenrechtssituation in Mexiko sagte er nichts. Im Gegenteil,
gebetsmühlenartig sagt die Bundesregierung: Mexiko ist
unser strategischer Partner, und wir teilen die gleichen
Werte. - Ich muss sagen, ich finde das unerträglich.
({0})
So verhandelt die Bundesregierung bereits seit Jahren
über ein Sicherheitsabkommen ausgerechnet mit der mexikanischen Bundespolizei. Es sollte eigentlich selbstverständlich sein, dass eine Polizei die Grundwerte verinnerlicht und Entführungen, Folter und Überfälle nicht
durchführt.
({1})
Ich frage mich, wie Sie sagen können, sie brauchten ein
gutes Training und eine Ausbildung, um die Menschenrechtsstandards gewährleisten zu können. Es gibt doch
auch eine Mitverantwortung der Regierung, die diese
Polizei deckt.
({2})
Deswegen sagen viele Menschenrechtsorganisationen in
Mexiko, man müsse diese Verhandlungen aussetzen;
denn das Abkommen würde die korrupte Polizei nur
stärken und mehr Gefahren für die Bevölkerung bedeuten. Vor allem wollen die Menschenrechtsorganisationen
Zugang zum Text des Abkommens erhalten - das ist das
Entscheidende; wir fordern es auch -, damit sie sich anschauen können, was verhandelt wird. Es sollte nicht
über ihre Köpfe hinweg verhandelt werden. Dafür setzen
wir uns ein.
({3})
Die Bundesregierung hatte auch keine Skrupel, Waffen nach Mexiko zu liefern, zum Beispiel Gewehre der
Firma Heckler & Koch. Sie hat immer behauptet, es
gehe nur um einige Bundesstaaten. Aber: Als ich in
Ayotzinapa war, habe ich am Straßenrand dieses Foto von
einem Polizisten gemacht, der ein G36 von Heckler &
Koch in Händen hält,
({4})
und das in einem Bundesstaat, in dem eigentlich nie
G36-Gewehre auftauchen sollten. Das war bereits ein
Skandal. Die Bundesregierung muss auch für diese Exporte die Verantwortung übernehmen. Wenn man Exporte nach Mexiko genehmigt, dann ist man auch verantwortlich für das, was mit diesen Waffen passiert. Damit
sind Sie verantwortlich dafür, dass diese Gewehre auch
beim Verschwindenlassen der Studenten eingesetzt wurden.
({5})
Frau Kollegin, denken Sie an Ihre Redezeit?
Ja. - Zum Schluss möchte ich daran erinnern, dass
Mexiko das Land mit den meisten Freihandelsabkommen ist und die Europäische Union derzeit das Freihandelsabkommen mit Mexiko noch ausweiten will. Wir
lehnen das ab, weil die Freihandelspolitik in den letzten
20 Jahren in Mexiko zu enormen sozialen Verwerfungen
geführt hat. Sie ist eine Ursache für die Gewalt in diesem
Land. Freihandel tötet, und deswegen brauchen wir einen neuen Handel, auch mit Mexiko.
Danke.
({0})
Vielen Dank. - Nächster Redner ist Professor
Dr. Egon Jüttner, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Im Dezember des vergangenen Jahres wurden die nun zur Abstimmung stehenden Anträge bereits beraten. Heute wie
damals vertreten wir als CDU/CSU-Fraktion die Auffassung, dass die Verhandlungen über das geplante Sicherheitsabkommen zwischen Deutschland und Mexiko weitergeführt und zu einem positiven Abschluss gebracht
werden sollten.
Gerade die schleppende und mangelhafte Aufklärung
des unglaublichen Verbrechens in Iguala zeigt, dass Mexiko Hilfe benötigt bei der Bekämpfung von Unrecht,
Kriminalität, Straflosigkeit und Korruption. Diese Hilfe
können wir nicht gewähren, wenn wir uns zurückziehen
und den mexikanischen Behörden die Aufklärung dieses
und anderer Verbrechen sowie die Eindämmung der kriminellen Strukturen selbst überlassen. Die mexikanische
Polizei, das mexikanische Militär und die mexikanische
Verwaltung benötigen unsere Hilfe; gerade seit Iguala
benötigen sie diese Hilfe dringender denn je. Die Verquickung von Gewalt, Straflosigkeit, Kriminalität und organisiertem Verbrechen, die sich wie ein Krebsgeschwür
durch die mexikanische Gesellschaft zieht, kann von den
Institutionen des Landes alleine offensichtlich nicht aufgebrochen werden.
Meine Damen und Herren, Sicherheitsabkommen
zwischen zwei Ländern werden gerade deswegen abgeschlossen, damit ein Staat seine Erfahrungen, seine
Technologie und sein Know-how einem anderen Staat in
vertrauensvoller Zusammenarbeit zur Verfügung stellt.
({0})
Nach Auffassung der CDU/CSU-Fraktion wäre es ein
falsches Signal gegenüber den Opfern von Iguala und ihren Angehörigen, wenn Deutschland die ihm zur Verfügung stehenden Mittel nicht anbieten würde, sondern
sich vielmehr abwenden und der Bitte Mexikos um Zusammenarbeit nicht nachkommen würde. Außerdem ist
es Ziel eines Sicherheitsabkommens und im Interesse
beider Länder, also auch im Interesse Deutschlands, die
Zusammenarbeit bei der Bekämpfung grenzüberschreitender organisierter Kriminalität zu verbessern.
Die Bedenken der Opposition, dass die Mittel, die
Deutschland im Rahmen des Sicherheitsabkommens zur
Verfügung stellen würde, in die falschen Hände gelangen und damit eine kontraproduktive Wirkung erzeugen
könnten, müssen natürlich ernst genommen werden. Wir
verlangen deshalb von der mexikanischen Seite die Garantie, dass nur solche Personen Vertrauensträger des gemeinsamen Sicherheitsabkommens sein dürfen, die über
jeden Verdacht von Straffälligkeit oder Bestechlichkeit
erhaben sind. Ein gutes Zeichen ist, dass als Partner des
Sicherheitsabkommens auf mexikanischer Seite die Generalstaatsanwaltschaft vorgesehen ist, die als vergleichsweise zuverlässige Institution im Lande gilt.
Wir verlangen von der mexikanischen Seite, dass
Korruption und Straffälligkeit auf allen Ebenen bekämpft und Menschenrechtsverteidiger geschützt werden. Außerdem ist es so, dass das Bundesinnenministerium als Verhandlungsführer den Text der Vereinbarung
mit dem Justizministerium und dem Auswärtigen Amt
abstimmen muss. Schließlich ist für die Ratifikation
noch die Zustimmung des Deutschen Bundestages erforderlich.
Seit der ersten Beratung im Dezember 2014 hat es aus
Mexiko auch gute Nachrichten gegeben. So ging den
mexikanischen Fahndern erst jüngst, am 7. Mai 2015,
der flüchtige Vizepolizeichef von Iguala ins Netz. Die
Polizei- und Justizreform von Präsident Nieto wird inzwischen im Senat diskutiert. Wir sollten Mexiko dabei
unterstützen, künftig größere und schnellere Schritte bei
der Aufklärung und bei der Bekämpfung von organisiertem Verbrechen und Korruption zu machen.
Ich danke Ihnen.
({1})
Vielen Dank. - Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat jetzt der Kollege Hans-Christian Ströbele das
Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Kollege Jüttner, so einfach kommen Sie aus diesem
Widerspruch nicht heraus. Das fürchterliche Verbrechen
in Iguala zeigt, dass überhaupt nicht verhindert werden
kann, dass deutsche Waffen, die unter der Bedingung
nach Mexiko geliefert wurden, nicht an bestimmte Regionen ausgehändigt zu werden, sogar in Iguala Verwendung finden. Das wurde nicht verhindert.
Auch ich war in den Tagen nach Ostern vor Ort und
habe mit einem Studenten, der dem Massaker gerade
noch entkommen ist, weil er sich unter einem Bus verstecken konnte, und mit dem Vater von verschwundenen
Studenten geredet. Sie sagen auch: Das Schlimmste, was
man im Augenblick machen kann, ist, mit der Polizei
und den Sicherheitsbehörden zusammenzuarbeiten, denen Waffen zu geben und sie dadurch noch effektiver zu
machen. Man muss einfach zur Kenntnis nehmen, dass
Polizei, Justiz und Militär unzuverlässig sind. Es sind
vielleicht nicht alle unzuverlässig, aber man weiß eben
nicht, wer. So ist es unvermeidbar, dass Hilfen in die falschen Hände kommen; das haben Sie vorhin bereits gesagt.
G36-Gewehre gibt es nicht nur auf dem Foto, das Sie
gerade gezeigt haben, sondern G36-Gewehre wurden in
der Polizeistation gefunden, in die die Studenten, die
entführt wurden und jetzt verschwunden sind - wahrscheinlich wurden sie massakriert -, zunächst gebracht
wurden. Man konnte anhand der Nummern auf den Waf10178
fen feststellen, dass es sich um die G36-Gewehre handelte, die von der Bundesregierung unter der Bedingung
nach Mexiko geliefert worden sind, dass sie keinesfalls
nach Iguala bzw. in die dortige Provinz geliefert werden
dürfen. Das ist der falsche Weg.
Wenn wir die Aussage der Bundeskanzlerin von heute
Morgen, dass die G-7-Staaten für Grundwerte stehen
und sie das überall auf der Welt anhand ihrer Politik zeigen, ernst nehmen wollen, dann können wir nicht übersehen, dass in Mexiko auf allen Ebenen der Politik, von
der örtlichen über die staatliche bis hin zur zentralen
Ebene, Korruption vorherrschend ist.
Ich habe vor Ort mit Vertretern von zwölf Menschenrechtsorganisationen geredet. Darunter waren Anwaltsvertreter, Feministinnen und Menschenrechtler. Ich habe
mit Vertretern der interamerikanischen Menschenrechtskommission geredet, die die Menschenrechtssituation
und die Verbrechen in Iguala untersucht. Alle sind skeptisch. Sie sagen, sie weisen darauf hin - das ist schon gesagt worden -, dass 98 Prozent der Taten nicht aufgeklärt werden. Das heißt, aufgrund der Impunidad werden
nur 2 von 100 Taten aufgeklärt und führen zu einer Verurteilung. Das ist Straflosigkeit bei schwersten Verbrechen.
Als ich da war, gab es wieder eine Auseinandersetzung mit Schusswaffen in einer Stadt in der Nähe von
Mexiko-Stadt, bei der 20 Menschen getötet worden sind.
Die Polizei hat sich überhaupt nicht darum gekümmert.
Sie hat auch keine Untersuchung eingeleitet, weil sie gesagt hat: Das bringt sowieso nichts. - Das heißt, aufgrund der Impunidad darf man an ein solches Land in
der jetzigen Situation weder Waffen liefern noch Unterstützung für das Militär oder die Polizei geben.
({0})
Jetzt fragen Sie sich: Was wollen wir machen? Ich
habe nur noch wenige Sekunden Zeit. Da kann ich nur
Folgendes sagen: Sie müssen die Kreise stützen und unterstützen, die die Regierung auf den verschiedenen Ebenen kontrollieren. Es gibt wie in kaum einem anderen
Land Lateinamerikas eine sehr wache Zivilgesellschaft.
Es gibt sehr wache und sehr emsige Menschenrechtsorganisationen. Es gibt in Teilen noch eine Presse. Aber
auch die Pressefreiheit ist äußert bedroht. Gerade als ich
da war, wurde eine bekannte unabhängige Journalistin
entlassen und kann nicht mehr dort wirken.
Diese Institutionen, Presse, Parlament, die neu aufzubauende Justiz, Menschenrechtsorganisationen und Zivilgesellschaft, müssen wir unterstützen.
({1})
Denn nur sie können dort im Land kontrollieren, solche
Massaker öffentlich machen und um internationale Unterstützung bitten. Sie legen großen Wert darauf, dass
wir hier im Deutschen Bundestag darüber diskutieren,
weil ihnen die öffentliche Aufmerksamkeit in Europa
und gerade auch in Deutschland hilft, um für ihre Sache,
für die Menschenrechte und gegen die Impunidad, die
Straflosigkeit, sowie gegen die Massentötungen, die dort
in den Auseinandersetzungen jedes Jahr stattfinden, vorzugehen.
({2})
Vielen Dank. - Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt hat jetzt die Kollegin Anita Schäfer,
CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
({0})
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Nachdem wir bereits ausführlich über das Sicherheitsabkommen mit Mexiko gesprochen haben,
möchte ich noch eine etwas grundsätzlichere Frage behandeln, nämlich die, wie wir generell mit bilateralen Sicherheitsabkommen umgehen wollen. Die Grünen fordern dazu in ihrem Antrag, dass sich die Vertragspartner
bei derartigen Abkommen unter anderem zur Einhaltung
menschenrechtlicher Standards unter Beachtung rechtsstaatlicher Prinzipien verpflichten.
({0})
- Korrekt. - Geschehen soll dies durch Vertragsklauseln
mit Überprüfungscharakter.
Wie immer in internationalen Verhandlungen stellen
sich aber die Fragen, welches Ziel man erreichen will
und welche Forderungen man noch durchsetzen kann,
wie viele Bedingungen man an den Partner stellen kann,
wenn es um das Erreichen gemeinsamer Interessen geht.
Beide Seiten wollen ja von einer Vereinbarung profitieren. Sind die Bedingungen für eine Partei unannehmbar,
gibt es eben kein Abkommen. Nun könnte man sagen:
Wer unsere deutschen Standards nicht erfüllt und sich
nicht von uns überprüfen lässt, mit dem wollen wir auch
keine Sicherheitszusammenarbeit haben. Allerdings geht
das dann auch eventuell zulasten unserer eigenen Sicherheit. Zusätzlich berauben wir uns der Chance, durch eine
solche Zusammenarbeit tatsächlich auf die Verhältnisse
im Partnerland einwirken zu können.
Es ist ja nicht so, als ob beispielsweise Menschenrechtsfragen bei solchen Abkommen bislang keine Rolle
spielten. Schon heute verpflichtet sich die Bundesregierung nur nach der Maßgabe deutscher Gesetze zur Zusammenarbeit. Sicherheitsabkommen stellen stets ausdrücklich klar, dass sich diese Zusammenarbeit nach den
Vorschriften unseres innerstaatlichen Rechts richtet.
Dies umfasst auch Fragen des Datenschutzes. Demnach
ist eine Übermittlung von Daten an Abkommenspartner
ausgeschlossen, wenn die Verletzung von Menschenrechten droht, bzw. ist die Übermittlung an Bedingungen
geknüpft, die eine solche Gefahr ausräumen.
({1})
Anita Schäfer ({2})
Es ist der Bundesregierung also durchaus bewusst, welche Konsequenzen Sicherheitsabkommen für Menschenrechte und Fragen des Datenschutzes in Partnerstaaten
haben können.
Ähnliches gilt für die Forderung im Antrag, bei der
Ausbildungsunterstützung Schwerpunkte auf Menschenrechts- und Rechtsstaatsausbildung zu legen. Diese
Punkte sind ohnehin regelmäßig Inhalt von Schulungen
im Rahmen der Partnerschaften. Dass die Ausbildung
von Polizeikräften in Partnerstaaten Ermittlungstechniken zur Aufklärung von Straftaten beinhalten sollte,
muss, glaube ich, nicht eigens in einem Antrag gefordert
werden.
Deutschland hat seit jeher Verhandlungen zu Sicherheitsabkommen mit Partnerstaaten im Lichte von Problemen geführt, die in diesen bestehen. Verhandlungen
aber durch unrealistische Forderungen zu gefährden,
würde den Menschen dort in keiner Weise helfen.
({3})
- Ja. - Sicherheitsabkommen sind vielmehr für unsere
eigene Sicherheit ebenso unverzichtbar wie für den Aufund Ausbau rechtsstaatlicher Strukturen im jeweiligen
Land.
Wir müssen auch zukünftig den Dialog mit Ländern
führen, die in dieser Hinsicht noch Verbesserungsbedarf
haben, um ihnen Hilfe bei der Entwicklung des Rechtsstaates zu leisten. Ein funktionierender Rechtsstaat ist
nämlich nicht nur eine Voraussetzung für die Einhaltung
menschenrechtlicher Standards, sondern auch die Basis
für die wirtschaftliche, zivilgesellschaftliche und soziale
Entwicklung eines Landes und wirkt damit nicht zuletzt
Flüchtlings- und Migrationsbewegungen entgegen.
Wie wichtig das ist, zeigt sich aktuell an der Flüchtlingskatastrophe im Mittelmeer. Daher sollten wir der
Bundesregierung beim Aushandeln derartiger Abkommen keine unnötigen Steine in den Weg legen, gerade
weil wir selbst in nicht unerheblichem Maße von diesen
Partnerschaften profitieren, etwa indem unsere Sicherheitsbehörden Hinweise im Zusammenhang mit internationaler Kriminalität erhalten, von der auch wir betroffen
sind.
Wenn Deutschland auf diesem Wege zudem dazu beitragen kann, dass sich auch andere Staaten demokratisch
und im Sinne der Menschenrechte entwickeln, sollten
wir auch mit kleinen Fortschritten zufrieden sein. Daraus
kann im Ergebnis dann mehr entstehen. Diese Chance
sollten wir nicht gefährden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, wir
werden daher Ihrem Antrag in dieser Form nicht zustimmen können.
Danke.
({4})
Vielen Dank. - Damit sind wir am Ende der Aussprache angelangt.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Menschenrechte und
Humanitäre Hilfe auf Drucksache 18/3952. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion Die
Linke auf Drucksache 18/3548 mit dem Titel „Menschenrechte in Mexiko schützen, Verhandlungen zum Sicherheitsabkommen aussetzen“. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen
der Opposition angenommen.
Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/3552 mit dem Titel „Iguala ist
kein Einzelfall - Zur Menschenrechtslage in Mexiko“.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von CDU/CSU- und
SPD-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion Die
Linke angenommen.
Beschlussempfehlung des Innenausschusses zu dem
Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Sicherheitsabkommen brauchen Standards“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 18/3933, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/3553 abzulehnen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen bei Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 sowie Zusatzpunkt 6 auf:
16 - Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und SPD eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur
Änderung des Erneuerbare-Energien-Gesetzes
Drucksache 18/4683
- Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines
Zweiten Gesetzes zur Änderung des Erneuerbare-Energien-Gesetzes
Drucksache 18/4891
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Energie ({0})
Drucksache 18/4968
ZP 6 Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und
Energie ({1}) zu dem Antrag der
Vizepräsidentin Ulla Schmidt
Abgeordneten Oliver Krischer, Dr. Julia
Verlinden, Annalena Baerbock, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Europarechtskonforme Regelung der Industrievergünstigungen auf stromintensive Unternehmen im internationalen
Wettbewerb begrenzen und das EEG als
kosteneffizientes Instrument fortführen
Drucksachen 18/291, 18/515
Zu dem Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU
und SPD liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Der erste Redner ist
Johann Saathoff, SPD-Fraktion.
({2})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Never change a running system, oder, wie
man in Ostfriesland auf gut Deutsch sagt: Nooit an klütern, wenn wat löppt. Es gilt normalerweise: Wenn etwas
gut funktioniert, dann soll man das eigentlich nicht verändern.
Das gilt allerdings nicht bei der Energiewende; denn
es liegt in der Natur der Sache, dass bei der Energiewende ständig nachjustiert werden muss, weil die verschiedenen Phasen in der Energiewende unterschiedliche Maßnahmen erfordern, die man eben jeweils wirken
lassen muss.
Was wird jetzt mit den Gesetzentwürfen neu geregelt?
Es werden zwei Branchen neu in die Besondere Ausgleichsregelung im EEG aufgenommen: einmal die
Branche „Herstellung von Schmiede-, Press-, Zieh- und
Stanzteilen“, zum Zweiten die Branche „Wärmebehandlung von Stahl“. Erstere ist wichtig für den Karosseriebau. Das ist überhaupt keine Frage. Die gesamte Automobilbranche hängt letzten Endes an dieser Branche.
Die zweite Branche ist beispielsweise für Armaturen
wichtig. Sollten Sie einmal einen Wasserhahn aufdrehen,
dann haben Sie es mit dieser Branche zu tun.
Ich gebe zu und kann an dieser Stelle berichten: Es
gab zwischenzeitlich noch weitere Begehrlichkeiten;
denn wenn man erst einmal eine solche Dose aufmacht,
dann gibt es weitere Begehrlichkeiten. Das System
orientiert sich nicht daran, um das ganz deutlich zu sagen, welches Produkt ich herstelle, und zwar egal wie;
das System orientiert sich an der Handelsintensität und
der Stromkostenintensität.
({0})
Jetzt gibt es in dieser Frage eine eindeutige Datenlage. Aus meiner Sicht ist es aufgrund der Datenlage, die
jetzt aktuell ist, nur gerecht, diese beiden Branchen mit
in die Besondere Ausgleichsregelung aufzunehmen.
({1})
An dieser Stelle würde ich gerne mit dem Gerücht
aufräumen, die Wirtschaft sei von der EEG-Umlage befreit und nur die Bürgerinnen und Bürger müssten diese
zahlen, weshalb die Befreiung bei der Besonderen Ausgleichsregelung ungerecht sei. 96 Prozent der Unternehmen, die in der Bundesrepublik Deutschland wirtschaften, zahlen die EEG-Umlage in voller Höhe. 4 Prozent
der Unternehmen zahlen den verringerten Satz durch die
besondere Ausnahmeregelung. Industrie, Handel, Gewerbe und Dienstleistungsbranche zahlen circa 50 Prozent der EEG-Umlage; das muss uns bewusst sein. Private Haushalte zahlen ungefähr ein Drittel der EEGUmlage. Auf jeden Fall kann man nicht sagen, nur die
Bürgerinnen und Bürger würden die EEG-Umlage tragen.
({2})
Der zweite Bereich, den wir regeln, ist die anteilige
Direktvermarktung. Die wollten wir eigentlich - das
muss man ehrlicherweise sagen - schon im letzten Jahr
bei der grundsätzlichen Novelle zum EEG regeln.
({3})
Aber das haben wir so nicht einrichten können. Jetzt ist
es also möglich, dass in mehreren Anlagen produzierter
Strom - zum Beispiel mehrere Windenergieanlagen in
einem Windpark - über eine gemeinsame Messeinheit
aufgeteilt werden kann, in mehrere Veräußerungsformen
überwandern kann. Es kann also der Verkauf an große
Direktkunden oder der Verkauf an unterschiedliche
Stromhändler organisiert werden. Das hilft - Stichwort
„Akteursvielfalt“, die wir erhalten möchten - den Produzenten von erneuerbaren Energien, bei der Vermarktung
ihrer Energie jeweils eigene Wege zu finden, und gibt
damit eine gewisse Evolution frei.
Ich sagte eingangs, dass bei der Energieklimapolitik
ständig nachjustiert werden muss. Das Verständnis dafür
ist nicht überall vorhanden, um das einmal ganz vorsichtig zu sagen. Deswegen möchte ich noch einige Worte zu
dem Vorschlag von Frau Aigner zum Energieleitungsbau
sagen.
({4})
Im Bundestag haben wir neulich eine Debatte über
die größtmögliche Erdverkabelung geführt, um Bürgerakzeptanz herzustellen. Jetzt haben wir den Vorschlag
aus Bayern vorliegen, Leitungen um Bayern herum zu
legen. Immerhin haben wir einen Fortschritt; denn vor
vier Wochen haben wir darüber debattiert - übrigens auf
breiter Basis -, ob die Leitung überhaupt erforderlich ist.
Nun sind wir nicht mehr auf der Ebene, dass wir die Erforderlichkeit der Leitung anzweifeln, sondern nur noch
die Art und Weise, wie wir das machen.
({5})
Wie ist dieser Vorschlag von Frau Aigner zu bewerten, wie ist er zu verstehen, wie soll ich das in die normale Welt der Bürgerinnen und Bürger übertragen und
umsetzen? Das will ich an dieser Stelle mit einem Beispiel illustrieren. Stellen Sie sich vor: Meine Tochter
Johanna, neun Jahre alt, hat eigentlich kein Einsehen in
die Notwendigkeit, ihr Zimmer aufzuräumen. Jeder, der
Familie hat, kennt diese Situation. Sie wäre aber bereit,
die Notwendigkeit des Aufräumens ihres Zimmers nicht
weiter anzuzweifeln, wenn ihr Bruder Jona die Arbeit
dafür übernehmen müsste. Nach ihrem Jurastudium wird
meine Tochter Johanna dann später den Begriff „Vertrag
zulasten Dritter“ damit verbinden. Die Reaktion ihres
Bruders ist allerdings so wie die Reaktion von Hessen
und Baden-Württemberg: verständlicherweise bestenfalls Kopfschütteln.
({6})
Einige Akteure bei der Energiewende sind überzeugt
von Ausschreibungen. Wir haben die ersten Ergebnisse
aus der Pilotausschreibung vorliegen. 150 Megawatt
sind ausgeschrieben worden. Angebotsseitig ist vierfach
überzeichnet worden. Ich bin mir aber nicht sicher - das
sage ich an dieser Stelle ganz klar -, ob der Beweis wirklich erbracht ist, dass mit der Ausschreibung die Ziele
erreicht wurden, die eigentlich erreicht werden sollen.
({7})
Die Ziele unserer Fraktion sind: Akteursvielfalt erhalten und Preise zumindest nicht steigen lassen, am besten
senken.
({8})
Eine Ausschreibung allein - das weiß ich auch - ist noch
nicht aussagekräftig genug. Wir behalten diese Ziele fest
im Auge.
({9})
Diskussionsbedarf gibt es weiterhin beim Klimabeitrag. Beim ersten Mal habe ich noch Alternativvorschläge vermisst. Mittlerweile ist klar, dass es einen
kompletten Alternativvorschlag nicht geben kann. Zu
den einzelnen Elementen muss es Alternativvorschläge
geben. Dafür haben wir mittlerweile durchaus eine große
Anzahl an alternativen Vorschlägen. Wir sind jetzt endlich Gott sei Dank - das war im Dezember letzten Jahres
nach dem Kabinettsbeschluss noch nicht der Fall - in
einer gesamtgesellschaftlichen Debatte, und in dieser
gesamtgesellschaftlichen Debatte werden wir auch Lösungen zum Erreichen der Klimaziele bekommen.
({10})
Für die Zukunft würde ich mir allerdings noch eine
weitere gesamtgesellschaftliche Debatte wünschen, die
die Energiebranche betrifft, nämlich eine Debatte mit
den Gewerkschaften und mit den Energieunternehmen
darüber, wie wir den Strukturwandel in der Energieproduktion so hinbekommen, dass die Bürgerinnen und
Bürger und vor allen Dingen die Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer in der Energiebranche sich mitgenommen
fühlen.
Sie sehen, meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen: Wir haben viele Zukunftsaufgaben.
Heute stimmt die SPD-Fraktion für den Gesetzentwurf
zur Änderung des EEG, weil das vom System her richtig
und vor allen Dingen gerecht ist.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({11})
Vielen Dank. - Nächste Rednerin ist die Kollegin Eva
Bulling-Schröter, Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Bald ist das EEG, das heute noch ein klein wenig verändert wird, in dieser Form ein Jahr in Kraft. Und ich muss
feststellen: Die Energiepolitik der Regierung ist ziellos,
strategielos
({0})
und schädlich für die erneuerbaren Energien, die eine
der Branchen mit den größten Potenzialen ist.
({1})
Die Erneuerbaren haben große Möglichkeiten, große
Potenziale für unseren Arbeitsmarkt. Das geht aus einer
Studie des Wirtschaftsministeriums hervor, die aber unter Verschluss gehalten wird.
({2})
Wir haben schriftlich nachgefragt: Warum veröffentlichen Sie diese Studie nicht? - Wollen Sie der Öffentlichkeit nicht sagen, welch großartiger Jobmotor die Erneuerbaren sein könnten? Ich sage „sein könnten“; denn
natürlich wird sich das nicht automatisch einstellen. Die
Bundesregierung müsste dann schon die richtige Politik
machen, die die Erneuerbaren auch voranbringt - so wie
sie es irgendwann einmal eigentlich in Aussicht gestellt
hat und in Sonntagsreden immer wieder behauptet.
Doch was bisher gelaufen ist, bringt den Jobmotor
„erneuerbare Energien“ nicht zum Laufen, sondern zum
Stottern. Diese Politik macht ihn vielleicht sogar kaputt so wie ein Motor ohne Öl: Kolbenfresser ist dann angesagt.
({3})
Was macht diese Bundesregierung mit den Erneuerbaren? Jetzt deklinieren wir es mal durch: Die Bioenergie wird komplett plattgemacht.
({4})
Die Photovoltaik erreicht ihr Ausbauziel nicht, bleibt um
ein Viertel unter der Zubaurate. Die PV-Ausschreibungen funktionieren nicht, weil sie mit durchschnittlich
9,17 Cent teurer sind als die Förderung bislang. Natürlich ist auch die Bürgerenergie draußen geblieben. Über
KWK reden wir sicher morgen. Die wollen Sie jetzt
auch noch plattmachen.
({5})
Und was macht diese Bundesregierung mit den Industrierabatten, die sie ursprünglich mal einschränken
wollte - das muss man immer wieder sagen: vor der
Bundestagswahl war das so -, um die Belastung für die
privaten Haushalte zu reduzieren?
({6})
Sie macht das Gegenteil dessen, was sie behauptet hat.
Die Industrierabatte wurden ausgeweitet und werden es
noch, auch mit dieser heutigen Gesetzesänderung.
Die 5 Milliarden Euro Industrierabatte kommen Unternehmen zugute, die vor allem glaubwürdig behaupten
können, im internationalen Wettbewerb zu stehen.
({7})
In einem Merkblatt des BAFA ist zu lesen:
Die Wettbewerbsfähigkeit in der Bundesrepublik
Deutschland ansässiger Unternehmen auf den internationalen Märkten wird durch eine Vielzahl von
zum Teil nur schwer objektiv messbaren Einflussfaktoren bestimmt.
Ich entnehme der verschwurbelten Formulierung:
Wer es schlau anstellt, wird natürlich immer nachweisen
können, dass sein Unternehmen im internationalen Wettbewerb steht. Die Industrierabatte sorgen außerdem dafür, dass sich Effizienz nicht lohnt. Das wird mir aus der
Praxis berichtet, zum Beispiel von einer Gießerei in
Bayern. Weil der Betrieb sonst zu wenig verbrauchen
würde, um als stromintensiv zu gelten - da nützt auch die
Pflicht zu einem Umweltmanagementsystem nichts -,
spart man eben keinen Strom mehr ein, da man sonst wesentlich mehr bezahlen würde. Das ist auch bestätigt. Ich
sage Ihnen: Hier wird Verschwendung belohnt. Ich halte
es für pervers; denn die Betriebe wollen eigentlich Strom
einsparen.
({8})
Der wesentliche Kern des Erfolgs des EEG war ja die
Investitionssicherheit. Das sagen uns alle möglichen
Betriebe immer wieder. Das wissen Sie auch. Die Bundesregierung hat es geschafft, eine wachstumswillige
und -fähige Branche tief zu verunsichern, und setzt damit die Tendenz der Vorgängerregierung fort. Ich halte
es einfach für traurig. Das ist eine Kolbenfresserpolitik.
Der Jobmotor „erneuerbare Energien“ stottert. Ich sage
Ihnen: Machen Sie da endlich etwas, bevor es zu spät ist.
({9})
Natürlich müssen wir auch über Arbeitsplätze reden,
über den Strukturwandel; der Kollege von der SPD hat
es angesprochen. Dann lassen Sie uns jetzt endlich diese
Debatte ernsthaft führen und nicht, wie es passiert, den
Vorschlag, den Herr Gabriel gemacht hat, immer weiter
verwässern.
({10})
Danke schön. - Nächster Redner ist Dr. Andreas
Lenz, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir hatten gestern ein Gespräch mit einer Schweizer Delegation
über die Energiewende. Ich kann gleich zu Beginn sagen: Ich habe die Herrschaften des Nationalrats sprachlich besser verstanden als das Platt von Herrn Saathoff.
({0})
Nach der heutigen Eingangsrede muss ich sagen: Ich
habe immer gedacht, dass wir uns wenigstens inhaltlich
verstehen, aber mittlerweile bin ich auch da nicht mehr
so sicher. Da kommt ein konstruktiver Vorschlag aus
Bayern,
({1})
und Ihnen, Herr Saathoff, fällt nichts Besseres ein, als
diesen konstruktiven und wirklich diskussionswürdigen
Vorschlag gleich zu Beginn zu zerreden.
({2})
Spaß beiseite:
({3})
Wenn Sie sich das Schreiben und auch die Stellungnahme zum Netzentwicklungsplan in Bayern anschauen,
dann stellen Sie fest, dass darin sehr sinnvolle Vorschläge enthalten sind,
({4})
die eben auch zur wirklichen Lösung dieses Problems
beitragen werden.
({5})
Wir werden gemeinschaftlich - davon gehe ich aus - bis
zum Sommer eine gute Lösung finden. Ich lade natürlich
auch alle ein, dazu beizutragen.
({6})
Wir beraten heute in zweiter und dritter Lesung den
Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Erneuerbare-Energien-Gesetzes der Koalitionsfraktionen.
Herr Saathoff hat es gesagt: Wir sorgen dafür, dass energieintensive Unternehmen aus den Bereichen Schmieden, Härtereien und Oberflächenveredelung die Besondere Ausgleichsregelung in Anspruch nehmen dürfen. Es
geht dabei um rund 80 Unternehmen einer Branche mit
rund 50 000 Arbeitsplätzen und rund 8 Milliarden Euro
Umsatz. Für diese schaffen wir Planungs- und Investitionssicherheit. Zudem nehmen wir eine klarstellende
Änderung bei der anteiligen Direktvermarktung vor.
Auch künftig wird es möglich sein, bei der anteiligen Direktvermarktung eine gemeinsame Messeinrichtung zu
verwenden. Mit der Reform des EEG im vergangenen
Jahr sind wir bei der Energiewende einen wichtigen
Schritt vorangekommen. Wir haben einen planbaren und
verlässlichen Ausbaupfad geschaffen. Wir werden den
Anteil der Erneuerbaren im Strombereich bis 2025 auf
40 bis 45 Prozent und bis 2035 auf 55 bis 60 Prozent
ausbauen. Das Sinken der EEG-Umlage auf 6,17 Cent
pro Kilowattstunde sowie der Rückgang der Strompreise
sind gute Signale. Millionen privater Haushalte profitieren davon.
Der Erfolg der Energiewende muss sich aber auch daran messen lassen, dass Deutschland ein wettbewerbsfähiger Wirtschafts- und Industriestandort bleibt. Dazu
sind Sonderregelungen für die stromintensiven Industrien schlichtweg erforderlich. Die europafeste Reformierung der Besonderen Ausgleichsregelung war deshalb ein Schwerpunkt bei der Novelle zum EEG im
letzten Jahr. Wir kümmern uns um den Industriestandort
Deutschland. Uns sind die Wettbewerbsfähigkeit und die
Arbeitsplätze im Industriebereich wichtig.
({7})
Die Grünen fordern in ihrem Entschließungsantrag,
den Kreis der privilegierten Unternehmen einzuschränken; die Industrie leiste keinen ausreichenden Beitrag.
Herr Saathoff, darin sind wir uns einig - um dies ein
weiteres Mal zu entkräften -: Die deutsche Industrie
zahlt 7,4 Milliarden Euro EEG-Umlage. Das ist nahezu
so viel, wie die privaten Haushalte insgesamt zahlen. Die
Industrie trägt somit knapp ein Drittel der Gesamtkosten
der EEG-Umlage. Zusammen zahlen Industrie, Handel
und Gewerbe über die Hälfte der EEG-Umlage. Zwar
lag die Zahl der antragsberechtigten Unternehmen 2014
mit 2 461 um etwa 5 Prozent höher als im Vorjahr. Dies
ist aber auch dadurch bedingt, dass die Schienenbahnen
im letzten Jahr noch privilegiert wurden, was auch Ihre
Zustimmung gefunden hat. Hingegen blieb die Anzahl
der antragsstellenden Industrieunternehmen in etwa
gleich. Das gesamte Entlastungsvolumen lag im letzten
Jahr bei rund 5,1 Milliarden Euro. Im Vergleich zu 2014
ist nun ein Rückgang zu verzeichnen. 2015 liegt die Entlastungswirkung voraussichtlich bei rund 4,8 Milliarden
Euro.
Wir haben klare Kriterien geschaffen, nach denen die
Branchen die Besondere Ausgleichsregelung nutzen
können. Das ist ein wichtiger Schritt für die deutsche
Wirtschaft. Die Kriterien werden nachweislich auch von
den Härtereien und Schmieden erfüllt. Es ist daher richtig, die Besondere Ausgleichsregelung auch bei diesen
Branchen anzuwenden. Die Mehrbelastung hinsichtlich
der EEG-Umlage beträgt lediglich 0,001 Cent, also ein
Tausendstel Cent pro Kilowattstunde. Der Nutzen für die
betroffenen Unternehmen und die damit verbundenen
Arbeitsplätze ist jedoch umso höher.
Auch zukünftig muss es möglich sein, Branchen in
die Besondere Ausgleichsregelung aufzunehmen, wenn
die Kriterien „internationale Wettbewerbstätigkeit“ und
„Stromintensität“ erfüllt werden. Das Bundeswirtschaftsministerium wird in solchen Fällen in Kooperation mit der Europäischen Kommission eine entsprechende Prüfung vornehmen. Uns war es wichtig, dies im
parlamentarischen Verfahren herauszustellen. Ohne die
Besondere Ausgleichsregelung würde ein privater Haushalt mit vier Personen zwar im Schnitt circa 60 Euro im
Jahr weniger an Strom zahlen. Wegen der zu erwartenden Wohlstandsverluste würde das real verfügbare Einkommen jedoch im Durchschnitt um rund 500 Euro sinken.
Gerne wird auch die Mär verbreitet, Deutschland
habe im Vergleich niedrige Industriestrompreise.
({8})
Lassen Sie mich hier kurz aus dem Fortschrittsbericht
zur Energiewende zitieren:
Die durchschnittlichen Strompreise für Industriekunden liegen in Deutschland in weiten Teilen über
dem EU-Durchschnitt und deutlich über den Strompreisen in den USA.
Es besteht die Gefahr, dass hohe Stromkosten zu einer
schleichenden Deindustrialisierung und zu Arbeitsplatzverlusten in Deutschland führen. Wenn die betreffenden
Branchen erst einmal weg sind, kommen sie auch nicht
wieder, wie man in Großbritannien sieht.
({9})
Da hilft auch der Ausbau von anderen Branchen wie des
Dienstleistungssektors nichts. So viele Haare kann man
gar nicht schneiden, um diesen Verlust auszugleichen.
({10})
Wie eine Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft
zeigt, wurde im vergangenen Jahrzehnt nicht einmal ausreichend investiert, um den Verschleiß der Produktionsstätten bei den energieintensiven Unternehmen auszugleichen.
Wir haben also im letzten Jahr einen klaren Rahmen
für Arbeitsplätze und für Investitionen geschaffen.
Die Grünen fordern in ihrem Entschließungsantrag,
die geltenden Importzölle für chinesische Photovoltaikmodule nicht fortzuführen; darüber kann man diskutieren, wenn auch nicht im Rahmen des EEG. Aber das geht
nur, wenn sich alle Beteiligten an die Regeln für fairen
Handel halten. Die Dumpingpolitik aus China, das Unterschlagen von Zöllen in Millionenhöhe,
({11})
muss zumindest als Problem erkannt werden.
Sie fordern eine Anhebung der jährlichen Zubaumenge bei der Photovoltaik auf 5 000 Megawatt. Die
Verdoppelung der Ausbauziele soll dann wohl am besten
mit chinesischen Paneelen erfolgen.
({12})
Ich denke, wir tun gut daran, die Ausbaupfade so zu lassen, wie sie sind.
({13})
Die erste Runde der Pilotausschreibungen bei den
Photovoltaik-Freiflächen ist zwischenzeitlich abgeschlossen. Wir werden die Ergebnisse nun auswerten.
Natürlich werden wir dabei auf die Sicherung der Akteursvielfalt achten. Das steht ja auch im Koalitionsvertrag. Es darf nicht zu einer Bevorzugung von großen
Projekten kommen.
({14})
Hier sollten in jedem Fall die Bagatellgrenzen der EUBeihilferichtlinien ausgenutzt werden. Das werden wir
auch machen.
({15})
Weiterhin fordern Sie ein Modell zur Vermarktung
von sogenanntem Grünstrom. Auch hier wird an der
Umsetzung gearbeitet. Wir müssen das Richtige aber
auch richtig machen. Wir schauen uns also zunächst die
erstellten Gutachten und unterschiedlichen Modelle an.
Auch hier brauchen wir eine europarechtskonforme Lösung. Aber Sie können hier gern mithelfen.
Zahlreiche weitere Schritte stehen an. Wir brauchen
mehr Systemdienlichkeit bei den erneuerbaren Energien.
Die Vorschläge für ein neues Strommarktdesign liegen
vor. Diese bieten eine gute Grundlage, sind allerdings
weiter zu diskutieren.
Es geht vor allem darum, auch künftig ein Höchstmaß
an Versorgungssicherheit zu gewährleisten. Gleichzeitig
gilt es, die damit verbundene Kapazitätsreserve so auszugestalten, dass die notwendigen Kapazitäten auch flächendeckend verteilt vorhanden sind. Wir brauchen Reservekraftwerke zur Netz- und Systemabsicherung.
Wir stehen zu den nationalen und europäischen Klimaschutzzielen. Dazu muss auch der Strombereich einen
Beitrag leisten. Dem Klima ist es allerdings egal, in welchem Bereich die CO2-Einsparungen erfolgen, und dem
Klima hilft es auch nichts, wenn die deutsche CO2-Bilanz aufgebessert wird und sich im Gegenzug die der europäischen Nachbarn verschlechtert.
({16})
Eng damit verknüpft - wir haben es vorhin ja schon
gehört - sind die Entscheidungen im Bereich der KraftWärme-Kopplung. Die hocheffiziente KWK muss auch
künftig eine wichtige Rolle spielen.
Jetzt vielleicht noch einen Satz zum bayerischen
Brief, zur bayerischen Stellungnahme.
({17})
Bayern fordert den Ausbau von Bestandstrassen, neue
Möglichkeiten bei der Erdverkabelung - das fordern Sie
ja auch -, neue Möglichkeiten, um Wechsel- und Gleichstromsysteme auf einem Mastgestänge zu führen. Das
alles ist auch sinnvoll.
Bei allen nationalen Anstrengungen ist zudem die
enge Koordinierung im europäischen Konzert notwendig.
Meine Damen, meine Herren, es gibt viel zu tun. Wir
stellen uns den Aufgaben und finden - wie jetzt bei den
Härtereien und der anteiligen Direktvermarktung - verantwortliche Lösungen.
Herzlichen Dank.
({18})
Vielen Dank. - Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat jetzt Dr. Julia Verlinden das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Heute wollen Sie ja mehrere Punkte
im Erneuerbare-Energien-Gesetz ändern. Zum einen
geht es da um diesen Fehler bei der sogenannten anteiligen Direktvermarktung. Es ist auch dringend nötig, dass
Sie diesen Fehler korrigieren. Aber das hätten Sie ja
auch schon im Dezember haben können, nicht? - Im Dezember haben wir Grünen einen inhaltlich gleichen GeDr. Julia Verlinden
setzentwurf eingebracht, und Sie haben diesen damals
abgelehnt.
({0})
Ich sage jetzt einmal: besser eine späte Einsicht als gar
keine Einsicht.
({1})
Außerdem wollen Sie heute noch mehr Branchen
beim Strompreis begünstigen, indem Sie die Industrieprivilegien erweitern.
({2})
Minister Gabriel hat vor einem Jahr angekündigt, die Industrieprivilegien zurückzufahren. Damals hatte er gemeint, dass die Bundesregierung gut sei, wenn sie die
anderen Stromkunden - also die privaten Verbraucher
und kleine Unternehmen - um 1 Milliarde Euro entlastet. Inzwischen wissen wir: Dieses Ziel hat die Bundesregierung klar verfehlt. Nach Auskünften des BAFA ist
es gerade mal ein Drittel, nämlich nur 300 Millionen
Euro. Herr Gabriel kann sich hier also nicht auf die
Schulter klopfen. Seine Entlastung um 1 Milliarde Euro
für die privaten Kunden hat er nicht erreicht.
Aber anstatt nun nachzubessern, begünstigen Sie
gleich noch zwei weitere Branchen bei der EEG-Umlage. Damit sind wir dann schon bei 221 befreiungsberechtigten Branchen angekommen.
({3})
Und wer zahlt dafür die Zeche? - Die bezahlen die Bürgerinnen und Bürger, der Handels- und Dienstleistungssektor und die vielen kleinen Unternehmen. Das hat
nichts mit einer gerechten Energiewende zu tun.
({4})
Wir Grüne haben in unserem Antrag einen praktikablen Vorschlag gemacht. Wir haben gesagt: Die Besondere Ausgleichsregelung könnte so ausgestaltet sein,
dass wirklich nur energieintensive Unternehmen, die
wirklich im internationalen Wettbewerb stehen, profitieren. Dafür gibt es bei der EU eine gute Vorlage, nämlich
die EU-Richtlinie zur Strompreiskompensation. Anhand
derer könnte man das hier definieren. Das wäre zweckmäßig und vernünftig.
({5})
Es ist wirklich hochinteressant, wie viel Tatkraft Sie
nun schon wieder in die Begünstigung von weiteren
Branchen stecken.
({6})
Dabei gibt es im EEG doch noch ganz viel wichtigen
Reformbedarf. Den benennen wir auch in unserem Antrag. Wir brauchen endlich einen Ersatz für das weggefallene Ökostromprivileg, damit der Ökostrom aus deutschen EEG-Anlagen auch als solcher verkauft werden
kann.
Wir brauchen endlich ein Mieterstrommodell, bei
dem auch Mieter, die sich keine eigene Solaranlage auf
das Dach setzen können, mehr von der Energiewende
profitieren. Das war doch für Sie von der SPD immer
eine Ihrer zentralen Forderungen gewesen.
({7})
Ich frage mich jetzt, liebe Kolleginnen und Kollegen von
der SPD: Warum setzen Sie sich hier nicht einmal
durch?
({8})
Ihnen war das Mieterstrommodell sehr wichtig. Die
CSU aber kann in der Koalition jede noch so blödsinnige
Forderung durchsetzen.
({9})
Jetzt fordert Frau Aigner auch noch, die Stromtrassen
um Bayern herumzulegen. Ich hoffe, dass Sie sich nicht
wieder über den Tisch ziehen lassen.
({10})
Es muss doch möglich sein, auch einmal etwas Vernünftiges zu beschließen.
Wir brauchen einen verlässlichen Ausbau aller erneuerbaren Energien, auch der Photovoltaik. Nachdem die
Politik in den letzten fünf Jahren schon die Modulhersteller aus Deutschland vertrieben hat - das waren übrigens 20 000 Arbeitsplätze, die Sie vernichtet haben;
20 000 -,
({11})
gehen jetzt viele kleine Handwerksunternehmen reihenweise pleite, die ihr Geld mit der Installation von Solaranlagen verdient haben. Da müssen Sie doch etwas unternehmen.
({12})
In unserem Antrag machen wir einen konkreten Vorschlag zur Erreichung der energie- und klimapolitischen
Ziele. Wir brauchen einen Ausbaupfad von 5 000 Megawatt Solarstrom pro Jahr. Wir brauchen keine „Atempause“, wie Frau Merkel die Sabotagepolitik der Bundesregierung gegen die Photovoltaik verharmlosend
nennt.
({13})
- Ja, es ist echt verharmlosend, hier von einer Atempause zu sprechen. - Außerdem müssen wir endlich die10186
sen unsäglichen Ausbaustopp bei 52 Gigawatt Photovoltaik streichen.
Bei der anteiligen Direktvermarktung haben Sie ein
halbes Jahr gebraucht, um unsere Forderungen als richtig zu erkennen. Machen Sie es doch beim Ausbau der
Photovoltaik, beim Grünstrom- und Mieterstrommodell
und bei den Industrieausnahmen besser, und stimmen
Sie unserem Entschließungsantrag gleich heute zu.
Vielen Dank.
({14})
Vielen Dank. - Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und SPD auf Drucksache 18/4683. Es geht um den Entwurf eines Gesetzes
zur Änderung des Erneuerbare-Energien-Gesetzes. Der
Ausschuss für Wirtschaft und Energie empfiehlt unter
Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/4968, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte
diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen,
um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen
die Stimmen der Fraktion Die Linke bei Enthaltung von
Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist mit dem gleichen Stimmenverhältnis angenommen.
Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/4979. Wer
stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt
dagegen? - Wer enthält sich? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen von CDU/CSU- und SPD-Fraktion gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen und
der Fraktion Die Linke abgelehnt.
Abstimmung über die Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Wirtschaft und Energie zu dem Entwurf
eines Gesetzes der Bundesregierung auf Drucksache
18/4891 zur Änderung des Erneuerbare-Energien-Gesetzes. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/4968, den Gesetzentwurf für erledigt zu erklären. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen des gesamten Hauses angenommen.
Wir kommen zu Zusatzpunkt 6. Beschlussempfehlung
des Ausschusses für Wirtschaft und Energie zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel
„Europarechtskonforme Regelung der Industrievergünstigungen auf stromintensive Unternehmen im internationalen Wettbewerb begrenzen und das EEG als kosteneffizientes Instrument fortführen“. Der Ausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/515, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen auf Drucksache 18/291 abzulehnen. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen von CDU/CSU- und SPD-Fraktion gegen die
Stimmen der Fraktion Die Linke und Bündnis 90/Die
Grünen angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Menschenrechte und
Humanitäre Hilfe ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Tom Koenigs, Cem
Özdemir, Annalena Baerbock, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Verfolgt, vertrieben, vergessen - Völkermord
an den Rohingya verhindern
Drucksachen 18/2615, 18/3951
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Angelika
Glöckner, SPD-Fraktion.
({1})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Der Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ist heute Anlass für die Debatte, in der wir uns mit
der Volksgruppe der Rohingya in Myanmar, dem ehemaligen Burma, beschäftigen. Welche Aktualität dieses
Thema heute hat, haben die Antragsteller zum Zeitpunkt
der Formulierung des Antrages nicht gewusst. Viele
Menschen in unserem Land dürften bis vor wenigen Tagen überhaupt nichts von der Existenz, geschweige denn
von der besorgniserregenden Situation dieser 1,4 Millionen Menschen in Südostasien gewusst haben.
Durch die tragischen Irrfahrten von Hunderten
Flüchtlingen aus der Gruppe der myanmarischen Rohingyamuslime im Golf von Bengalen und den umliegenden Gewässern, welche in den letzten Tagen zunehmend
mediale Beachtung fanden, hat sich das massiv geändert.
An dieser Stelle gilt es einmal mehr festzuhalten, dass
es, wie schon so oft, die Bilder von humanitären oder
menschenrechtlichen Katastrophen sind, die für diese
Art der Öffentlichkeit und Betroffenheit sorgen. Aber
neu, Kolleginnen und Kollegen, ist die Flüchtlingsproblematik der Rohingya in Südostasien nicht.
Seit vielen Jahren leiden sie unter extremen Menschenrechtsverletzungen, Verfolgung und Perspektivlosigkeit in ihrem Heimatland. Auf der Flucht vor diesen
Umständen werden sie durch Schleuser in die Nachbarländer Myanmars verbracht, wo sie als illegale Arbeitsmigranten unter Bedingungen, die an moderne Sklaverei
erinnern, in der Fischerei-, Agrar- und auch der Tourismusindustrie arbeiten oder - in den schlimmsten Fällen als Geiseln für Lösegeldforderungen missbraucht werden. Jetzt, da die Nachbarstaaten der Region massiv gegen die Schleuser vorgehen, wird das Ausmaß dieses
skrupellosen und verwerflichen Vorgehens deutlich.
Heute geht es aber vor allem um die Ursachen dieser
Flüchtlingswelle, und dies sind die Menschenrechtsverletzungen an der Volksgruppe der Rohingya in Myanmar. In bin den Antragstellern dankbar, dass sie dieses
wichtige Thema heute aufgegriffen haben und es somit
auf die Tagesordnung brachten.
Die Rohingya sind eine der am stärksten von Menschenrechtsverletzungen betroffenen Volksgruppe der
Welt. Das muss ohne Umschweife so festgestellt werden. Auch nach der beginnenden Liberalisierung Myanmars seit dem Ende der Militärdiktatur 2011, der Freilassung zahlreicher Oppositioneller, der Zulassung einer
politischen Opposition und der zu begrüßenden Verbesserung der allgemeinen menschenrechtlichen Situation
im Land hat sich daran nichts geändert. In vielen Fällen
hat sich die Situation der Rohingya in den letzten vier
Jahren sogar noch verschlechtert. Den Rohingya wird
noch immer die Staatsbürgerschaft Myanmars und damit
die Teilhabe an grundlegenden Rechten verwehrt. Aufgrund der daraus folgenden Staatenlosigkeit besteht für
sie zudem keine Möglichkeit, legal aus Myanmar auszureisen.
In ganz Myanmar sind derzeit noch immer ethnische
Konflikte und Vertreibungen an der Tagesordnung. Insgesamt zählen die Vereinten Nationen 240 000 Binnenflüchtlinge im Land, mehr als die Hälfte davon Rohingya in Rakhine, die dort in 40 Flüchtlingscamps unter
widrigsten Bedingungen leben. Ihre Bewegungsfreiheit,
der Zugang zu Wasser, zu Nahrung, zu Gesundheitsvorsorge sowie zu Bildung und Ausbildung werden seitens
der örtlichen Sicherheitsbehörden massiv eingeschränkt.
Immer wieder aufflammende ethnische Konflikte und
gewalttätige Übergriffe zwischen der muslimischen
Minderheit der Rohingya und der radikalen Gruppen der
buddhistischen Bevölkerungsmehrheit in Rakhine seit
2011 haben bisher mehrere Hundert Opfer aufseiten der
Rohingya gefordert. Die lokalen Sicherheitsbehörden sehen tatenlos zu. Die Politik duldet weder religiöse noch
ethnische Mischehen. Auch Überlegungen zu Vorgaben
einer Zwei-Kind-Politik und die Meldepflicht von Hochzeiten sind hier zu nennen. All dies sind Menschenrechtsverletzungen, die klar zu benennen sind. Hier muss
die internationale Staatengemeinschaft geschlossen und
eindringlich vorgehen und aufzeigen, dass dies keinesfalls hingenommen wird. Hier gilt ganz klar die Schutzverantwortung des Staates Myanmar gegenüber seinen
Bürgern, und diese schließt explizit die Rohingya mit
ein. Es ist Aufgabe der internationalen Staatengemeinschaft, auf die Umsetzung dieser Schutzverantwortung
hinzuwirken.
({0})
Im politischen System Myanmars wird die Dimension
der Menschenrechtsverletzungen noch immer kleingeredet. Deshalb gilt es, Druck durch die internationale Öffentlichkeit zu entwickeln. Hier möchte ich auch explizit
die Opposition in Myanmar in die Pflicht nehmen, welche während der Junta-Regierung durch die internationale Öffentlichkeit unterstützt wurde, die Lage der
Rohingya aber seit 2011 vernachlässigte. Ich bin davon
überzeugt, dass dies am besten auf multilateraler Ebene
funktioniert. Die vorgelegten Berichte der Sonderberichterstatterin der Vereinten Nationen für Menschenrechte in Myanmar, Frau Yanghee Lee, vom September
2014 und vom März 2015 sowie die am 19. Mai 2015
verlautbarte Forderung nach mehr Rechten für die
Rohingya durch Aung San Suu Kyi verdeutlichen dies.
Das Europäische Parlament hat sich der Situation bereits 2013 in einer Entschließung angenommen, in der es
die Menschenrechtsverletzungen an den Rohingya verurteilt und ihre Anerkennung als Staatsbürger fordert.
Wir als SPD setzen uns gemeinsam mit unseren europäischen Schwesterparteien in der S&D-Fraktion für eine
Resolution im Europäischen Parlament ein. Diese Resolution verurteilt die Situation der Rohingya. Sie fordert
ein Ende der Gewalt und ruft auf zu einer gemeinsamen
Lösung durch Myanmar, aber vor allem auch durch die
Gemeinschaft der ASEAN-Staaten. Denn das Problem
kann nur durch das gemeinsame Vorgehen aller beteiligten Staaten gelöst werden. Dieses gemeinsame Vorgehen
muss unser Weg sein.
Zuletzt muss auch ganz klar gesagt werden, dass die
Flüchtlingskatastrophe und auch die Menschenrechtsverletzungen an den Rohingya nur ein Symptom von
entwicklungspolitischen und wirtschaftlichen Problemen
vor Ort sind. Der Rakhine-Staat in Myanmar ist eine der
ärmsten Regionen eines Landes, das selbst von großer
Armut geprägt ist. Hier liegt die zugrunde liegende Ursache, die durch die gesamte Bevölkerung Myanmars
bekämpft werden muss. Es gilt, sie dabei zu unterstützen. Aber diesen Umstand vernachlässigt der vorliegende Antrag weitestgehend. Deshalb möchte ich an dieser Stelle dafür werben, die gesamteuropäische Initiative
der S&D-Fraktion im Europäischen Parlament zu unterstützen. Denn hier müssen wir als Europäer gemeinsam
agieren und mit gemeinsamer Stimme sprechen, um den
Menschenrechtsverletzungen an den Rohingya, aber
auch ganz besonders den ihnen zugrunde liegenden Ursachen erfolgreich entgegenzutreten. Meine Fraktion
wird daher den vorliegenden Antrag ablehnen.
Vielen Dank.
({1})
Vielen Dank. - Nächste Rednerin ist Annette Groth,
Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Wir sind derzeit Zeugen von drei Flüchtlingskatastrophen: die erste vor unserer Haustür im Mittelmeer, die
zweite im südostasiatischen Meer - das haben wir gerade gehört -, und die dritte Flüchtlingskatastrophe
spielt sich im Roten Meer ab, wo Tausende von Afrikanern auf Booten aus dem Jemen in ihre Heimatländer
flüchten. Darüber wird bei uns allerdings kaum berichtet.
Wir haben es gerade gehört: Ein Großteil der Bootsflüchtlinge im südostasiatischen Meer sind die Rohingya. Das ist eine muslimische Volksgruppe, die seit über
150 Jahren verfolgt und diskriminiert wird. Im burmesischen Staatsangehörigkeitsgesetz von 1982 werden sie
ausdrücklich nicht als nationale Minderheit anerkannt,
sondern als Bengalis bezeichnet, was „Einwanderer“ bedeutet. De facto sind sie staatenlos, weshalb die burmesische Regierung sich auch weigert, die Geflüchteten wieder einreisen zu lassen.
Seit gestern gibt es einen Hoffnungsschimmer für die
Bootsflüchtlinge: Die Regierungen von Malaysia und Indonesien haben angekündigt, die Geflüchteten an Land
zu lassen. Gleichzeitig machten beide Staaten aber deutlich, dass sie hierfür internationale Hilfe erwarten und
andere Länder die Flüchtlinge spätestens nach einem
Jahr aufnehmen müssen.
Zu betonen ist, dass indonesische Fischer bisher über
1 300 Flüchtlinge gerettet und gegen den Willen der Behörden an Land gebracht haben. Fischerfamilien haben
die erschöpften Flüchtlinge versorgt, bevor Behörden
und Hilfsorganisationen eingesprungen sind. Es waren
Fischer, die nach treibenden Booten suchten, um die
Flüchtlinge zu retten - und das, obwohl das indonesische
Militär darauf drängte, nur Menschen von gesunkenen
Booten aufzunehmen. Diese Fischer und ihre Familien
haben meinen höchsten Respekt.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, aufgrund der Gewalt und der strukturellen Diskriminierung sind allein in
den letzten drei Jahren etwa 100 000 Rohingya geflohen,
in diesem Jahr fast 30 000. In Thailand fallen sie skrupellosen Menschenhändlern in die Hände, die sie als Arbeitssklaven ausbeuten; viele Flüchtlinge bezahlen das
mit ihrem Leben.
Bis vor fünf Jahren wurde Myanmar von einer Militärdiktatur regiert. Die internationale Gemeinschaft hat
dies mit scharfen Sanktionen geahndet. Seit der Einsetzung einer Zivilregierung unter Präsident Thein Sein haben die westlichen Staaten die Sanktionen gelockert.
Seitdem gilt das Land als Eldorado für Investoren und
Topdestination für Touristen. An der langen Küste werden Hotels für internationale Touristen hochgezogen.
Die Vertreibung der lokalen Bevölkerung von ihrem
Land ist an der Tagesordnung. Davon ist in unseren Medien aber leider nichts zu lesen; auch das ist ein Skandal.
({1})
„Goldgräberstimmung in Rangun“ titelte die FAZ
Ende letzten Jahres und beschrieb den Boom in der ehemaligen Hauptstadt Burmas, die inzwischen zu den teuersten Städten der Welt gehört. So zahlen UNICEF und
die WHO 1 Million Dollar Jahresmiete für ihre Büros,
was für große Kritik sorgte. Da die meisten Bürohäuser
den Militärs gehören, wandert dieses Geld in deren Taschen, was auch ein Skandal ist, finde ich.
Gleichzeitig hat Myanmar in der Region die niedrigsten Löhne, sodass Textilunternehmen ihre Produktion
aus anderen Billiglohnländern nach Myanmar verlagern.
Die Investitionen von Textilunternehmen haben sich im
letzten Jahr verfünffacht. Myanmar wird zum zweiten
Bangladesch, allerdings auf noch niedrigerem Niveau.
Laut der Kampagne für Saubere Kleidung, die die menschenverachtenden Zustände in der Bekleidungsindustrie anprangert, liegt der Monatslohn für die Beschäftigten in Myanmar bei 35 Dollar, halb so viel wie in
Bangladesch. Davon kann kein Mensch leben.
Die Unterdrückung und Verfolgung der Rohingya
wird durch die bittere Armut im Land zusätzlich angefeuert. Soziale Mindeststandards, menschenwürdige
Löhne, das Recht auf Gesundheitsversorgung und Bildung sind die wichtigsten Voraussetzungen für eine Verbesserung der sozialen Situation in Myanmar.
Wir, die Fraktion Die Linke, werden dem Antrag von
Bündnis 90/Die Grünen zustimmen. Wir hoffen, dass die
dramatische Lage der Rohingya nicht in der medialen
Vergessenheit landet.
Vielen Dank.
({2})
Vielen Dank. - Für die CDU/CSU-Fraktion spricht
jetzt der Kollege Dr. Bernd Fabritius.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste! Wir
thematisieren zu später Stunde das Schicksal der Rohingya in Myanmar, auf Antrag der Grünen. Die im Südwesten Myanmars ansässige muslimische Volksgruppe
der Rohingya gilt laut einer Feststellung der Vereinten
Nationen als die am meisten verfolgte Minderheit der
Welt.
Auch wenn die öffentliche Wahrnehmung bei uns
größtenteils durch die abscheulichen Verbrechen der
Terrorgruppe „Islamischer Staat“, den weiterhin vor unserer Haustür schwelenden Ukraine-Konflikt und die
weltweite Flüchtlingskrise mit mehr als 50 Millionen
Schutzsuchenden und Vertriebenen beherrscht wird, dürfen wir die dramatische Situation der Rohingya auf keinen Fall aus den Augen verlieren. Das ist unstreitig.
Im Schatten des atemberaubenden politischen Wandels, der in dem noch bis vor kurzem von einer MilitärDr. Bernd Fabritius
diktatur beherrschten Myanmar stattfindet, werden die
Rohingya weiterhin ausgegrenzt und ihrer Bürgerrechte
beraubt. Deshalb gehören viele von ihnen inzwischen zu
den gerade erwähnten mehr als 50 Millionen Schutzsuchenden weltweit - sowohl als Binnenvertriebene in
Myanmar selbst als auch als Flüchtlinge in den Nachbarstaaten.
Man muss sich das einmal vorstellen: Im Vielvölkerstaat Myanmar gibt es 135 staatlich anerkannte Minderheiten, aber diese eine mit geschätzt immerhin 1 Million
Angehörigen im Land wird nicht anerkannt. Im Gegenteil: 1982 wurde den Rohingya durch eine Regelung im
Staatsangehörigkeitsrecht sogar allgemein die Staatsangehörigkeit entzogen. Die Folgen sind unerträglich:
Rohingya werden wie Rechtlose behandelt, sie erhalten
beispielsweise keine Ausweise, ihr Zugang zum Gesundheits- und Bildungssystem ist eingeschränkt, und
wenn sie heiraten wollen, dann brauchen sie eine Genehmigung, die oft erst nach Jahren erteilt wird.
Der Ursprung dieser Ausgrenzung liegt unter anderem in der Behauptung, die Rohingya seien nicht in Myanmar beheimatet, sondern - das wurde schon erwähnt aus Bengalen eingewandert. Als Konsequenz dieser
Sichtweise droht den Rohingya sogar die vollständige
Vertreibung aus Myanmar.
Leider hört der Albtraum damit nicht auf. Seit Juni
2012 kam es vermehrt zu gewalttätigen Übergriffen auf
die Rohingya. Es gab Misshandlungen und sogar Tote.
Ganze Dörfer und Siedlungen wurden niedergebrannt.
Weil fatalerweise auch die Polizei die Gewalt nicht
verhindert, bleibt den Rohingya meist nur die Flucht. So
leben weit über 100 000 von ihnen als Vertriebene im eigenen Land in Flüchtlingslagern. Die Zustände in diesen
Lagern sind katastrophal. Es fehlt an nahezu allem, was
zum Leben und zum Überleben notwendig ist.
Seit vielen Jahren suchen Rohingya auch Schutz in
den umliegenden Ländern. Schätzungen zufolge sind in
den letzten Jahrzehnten weit über 1 Million Mitglieder
der Volksgruppe vor Gewalt und Diskriminierung aus
Myanmar geflüchtet. Der Weg aus dem Land heraus
führt meist über das Meer und ist mit großen Risiken
verbunden.
In den vergangenen Tagen häuften sich Berichte über
verzweifelte Bootsflüchtlinge vor den Küsten der Anrainerstaaten, vor allem vor Indonesien, Malaysia und
Thailand. Auch unsere Nachrichtensender haben dieses
Thema in den letzten Tagen bereits aufgegriffen.
Die Praxis der genannten Staaten, die an ihren Küsten
anlandenden übervollen Flüchtlingsboote mit halbverhungerten und -verdursteten Menschen zurück auf das
offene Meer zu schicken, ist unglaublich und erschütternd.
({0})
Sie zeugt aber auch von der Überforderung dieser Länder angesichts des nicht abreißenden Flüchtlingsstroms
Abertausender Schutzsuchender, was die Situation
selbstverständlich nicht besser macht oder gar als Rechtfertigung missverstanden werden darf.
Meine Damen und Herren, auch die Nachbarländer
Myanmars müssen ihrer humanitären Verantwortung gerecht werden. Die gestrige Entscheidung der Außenminister Indonesiens und Malaysias, die circa 7 000 weiterhin auf hoher See ausharrenden Flüchtlinge nun doch
zumindest zeitweise aufzunehmen, ist ein Schritt in die
richtige Richtung.
({1})
Darüber hinaus sollten die Länder in der Region auch
gegen die kriminellen Schlepperbanden vorgehen. Wie
im Mittelmeer verdienen skrupellose Menschenschmuggler auch dort mit dem Leid der Flüchtlinge ein Vermögen. Die Internationale Organisation für Migration in
Asien geht davon aus, dass Schmuggler allein in dieser
Region an diesem menschlichen Desaster eine Viertelmilliarde Dollar jährlich verdienen.
Vor allem jedoch muss Myanmar - die dortige Regierung und die Gesellschaft - seine Haltung gegenüber den
Rohingya ändern; denn letztlich ist das Leid der Flüchtlinge ein Symptom der verfehlten Minderheitenpolitik in
diesem Land. Wirkliche Veränderungen und Verbesserungen kann dort nur die Regierung erreichen, und dabei
müssen wir sie in die Pflicht nehmen.
Selbstverständlich möchte ich die in den vergangenen
Jahren durchgeführten Reformen nicht verschweigen:
Auf dem Weg zur Demokratie wurden in Myanmar innerhalb kurzer Zeit auch Fortschritte gemacht, beispielsweise im Bereich der Pressefreiheit.
Solche positiven Entwicklungen dürfen nicht darüber
hinwegtäuschen, dass die Dinge an anderer Stelle, in der
Minderheitenpolitik, im Argen liegen und sogar weitere
Rückschritte drohen. Anstatt auf Betreiben radikaler
Gruppen ein neues diskriminierendes Gesetz zu erlassen,
welches Frauen in armen Regionen, damit natürlich den
Rohingya, etwa bei der Familienplanung enge Grenzen
setzt, sollte sich die Regierung vielmehr für die Beseitigung von Diskriminierungen einsetzen.
({2})
Sie muss darüber hinaus dafür Sorge tragen, dass die
Polizei bei stattfindenden Hetzjagden gegen Rohingya
tatsächlich eingreift,
({3})
die Opfer schützt und nicht etwa noch mitmacht. Letztlich müssen die Rohingya als Minderheit anerkannt werden, sie müssen ihre Staatsangehörigkeit und ihre weiteren Rechte wiedererlangen.
Bei alledem müssen wir berücksichtigen, dass sich
natürlich nicht ausschließlich die offiziellen Vertreter
des Landes der Diskriminierung und des Rassismus
schuldig machen. Zumeist religiöse Extremisten nutzen
vorhandene Vorurteile und schüren Hass und Misstrauen. Es ist klar, dass auch die Anfeindungen aus der
Bevölkerung aufhören müssen. Genau an dieser Stelle
ist auch die Friedensnobelpreisträgerin Aung San Suu
Kyi gefordert. Selbst wenn der Einsatz für die muslimische Minderheit der Rohingya offenbar keinen Stimmenvorteil in dem mehrheitlich buddhistischen Land
bringt, muss die Oppositionsführerin als Ikone des Wandels und der Demokratiebewegung in Myanmar klar
Stellung gegen Gewalt und Diskriminierung beziehen,
und das tut sie bisher leider nicht.
Zu Ihrem Antrag, liebe Kolleginnen und Kollegen
von den Grünen, muss ich allerdings sagen: Auch wenn
die Situation der Rohingya verheerend und durch nichts
zu entschuldigen ist, warne ich davor, solche Geschehen
vorschnell als Völkermord einzustufen. Völkermord ist
ein klar definierter Tatbestand, und den sehe ich hier
- das sage ich ausdrücklich - zum Glück nicht erfüllt.
Dieser Meinung sind übrigens auch Nichtregierungsorganisationen wie etwa Amnesty International, Human
Rights Watch oder die Gesellschaft für bedrohte Völker,
({4})
die in ihren teils sehr ausführlichen Berichten zur Situation der Rohingya in Myanmar das Geschehen minutiös
aufzeigen und dennoch nicht von Völkermord sprechen.
Die Leiden der Rohingya und die nicht hinnehmbare
Haltung der Regierung Myanmars werden in keiner
Weise beschönigt oder gar negiert, wenn wir Sorge dafür
tragen, dass tatsächliche Völkermorde durch eine abschwächende Verwendung des Begriffs auch für andere
Unrechtsgeschehen nicht relativiert werden.
Meine Damen und Herren, ich habe deutlich gemacht,
was wir von der Regierung Myanmars erwarten. Sie
muss künftig garantieren, dass die Menschenrechte der
Rohingya nicht weiter mit Füßen getreten werden. Ich
bin mir darüber hinaus sicher, dass unsere Bundesregierung in dieser Sache das Nötige unternimmt und auch
gegenüber Vertretern Myanmars den richtigen Ton trifft.
Unsere Regierung ist gerade international bekannt dafür,
Menschenrechte überall dort zu thematisieren, wo dies
notwendig ist, und das meist mit Erfolg. Anträge wie
diesen braucht sie dafür bestimmt nicht.
Danke.
({5})
Vielen Dank. - Für Bündnis 90/Die Grünen hat jetzt
Tom Koenigs das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir
diskutieren zu so später Stunde über diesen Antrag, weil
er im Ausschuss einfach ohne Begründung abgelehnt
wurde.
Heute sind wir uns bei der Schilderung des Desasters
der Rohingya, ihrer Unterdrückung und Verfolgung völlig einig. Alle Vorrednerinnen und Vorredner haben zu
dieser Schilderung etwas beigetragen. Das war alles
richtig. Darin sind wir uns einig. Aber die Mehrheit sagt:
Deshalb machen wir nichts. - Haben Sie uns gefragt, ob
wir gemeinsam einen Antrag vorlegen wollen? Frau
Glöckner sagt: Wir warten auf die SPD-Initiative. - Wo
ist sie? Wir unterstützen einen diesbezüglichen Entschließungsantrag im Europäischen Parlament, und hier
machen wir nichts? Nehmen wir uns so wenig ernst, dass
wir angesichts dieses schreienden Unrechts, dieser Katastrophen, dieses Desasters, über das wir täglich in den
Zeitungen lesen, einfach sagen: Nein. - Herr Fabritius
sagt: Die Bundesregierung wird es richten. - Prima. Und
wir? Wir verabschieden nicht einmal eine Resolution
dazu. Hätten wir diese Debatte nicht gefordert und darauf bestanden, dass sie nicht zu Protokoll geht, wären
Sie alle schon zu Hause.
({0})
Herr Kollege Koenigs, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Wunderlich?
Ich gestatte eine Zwischenfrage, auch zwei. Wer will
sie haben?
Bitte schön, Herr Kollege Wunderlich.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Herr Kollege
Koenigs, ich bin weder im Ausschuss für Menschenrechte noch in einem anderen mitberatenden Ausschuss
Mitglied, konnte die Debatten dort also nicht verfolgen.
Deswegen habe ich heute aufmerksam gelauscht und die
Forderungen in Ihrem Antrag gelesen. Angesichts der
Ablehnung im Ausschuss war ich erstaunt über die Ausführungen von Dr. Fabritius hier. Im Ausschuss ist der
Antrag abgelehnt worden, aber Dr. Fabritius hat hier eigentlich nur Argumente geliefert, warum man dem Antrag von Bündnis 90/Die Grünen zustimmen sollte.
Jetzt habe ich von Ihnen gehört, dass das Ganze im
Ausschuss ohne Begründung von den Koalitionsfraktionen abgelehnt wurde, obwohl sich alle darüber einig
sind, dass diese Situation schlimm ist. Alle sagen: Wir
müssen einschreiten; es sterben nicht nur Leute im Mittelmeer, sondern auch im Pazifik. Über diese Situation
ist hier ausgiebig debattiert worden. Jetzt erfahre ich,
dass man sich im Grunde nur an der Begrifflichkeit
„Völkermord“ stößt. Warum, frage ich mich dann, hat
die Koalition in den Beratungen im Ausschuss, die inhaltlich in die Tiefe gehen sollten, nicht einen Änderungsantrag gestellt, um diesen Begriff auszutauschen?
Warum hat man nicht versucht, diese komischen Befindlichkeiten - so sage ich es einmal - wegzuräumen, um
den Leuten dort zu helfen? Dass man sich an so etwas
hochzieht, um die Hilfe, die in diesem Antrag gefordert
wird, abzulehnen, ist für mich schier unerträglich. Können Sie mir da zustimmen?
({0})
Herr Kollege, diese Frage habe ich mir auch gestellt.
Der Menschenrechtsausschuss hat eine Information der
Bundesregierung erhalten über all die Tatsachen, die in
diesem Antrag stehen. Herr Fabritius, Frau Groth und
Frau Glöckner haben sie vorhin geschildert. Darüber ist
man sich völlig einig. Dann wurde der Antrag zur Abstimmung gestellt. Da hat keiner etwas gesagt. Die Koalitionsfraktionen waren dagegen, und die Opposition
war dafür. Ende. - Das ist zu wenig.
({0})
Herr Fabritius, jetzt zum Thema Völkermord. In dem
Antrag steht nicht, dass dort ein Völkermord passiert,
sondern dass man ihn verhindern muss. Vor einem Jahr
habe ich ein Gespräch mit dem Sonderberater des Generalsekretärs der Vereinten Nationen für die Verhütung
von Völkermord geführt. Diese Institution ist geschaffen
worden, um ein Instrument zur Durchsetzung der Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes zu haben, der wir vor 60 Jahren zugestimmt haben, die wir ratifiziert haben. Herr Adama Dieng hat auf
meine Frage: „Was glauben Sie denn, wo am ehesten die
Gefahr besteht, dass ein Völkermord begangen wird?“,
auf Myanmar hingewiesen. Das haben auch Sie, Herr
Fabritius, geschildert. Dort besteht die größte Gefahr,
weil die Repression, die Diskriminierung und die Verbrechen so zahlreich sind. Dabei geht es übrigens auch
um religiöse Fragen, um die Zerstörung von Moscheen
usw. Daher muss man befürchten, dass es in Myanmar
zu einem Völkermord kommt. Das ist die Fluchtursache:
Die Leute haben Angst vor einem Völkermord. Deshalb
trägt der Antrag den Titel „Verfolgt, vertrieben, vergessen - Völkermord an den Rohingya verhindern“.
Ja, wir können dort nicht sehr viel tun. Wir könnten
im Mittelmeer sehr viel mehr tun. Was wir aber tun können, das sollten wir auch tun.
({1})
Wir sollten nicht sagen, dass das Europaparlament oder
die SPD-Fraktion irgendwo etwas machen sollen. Deshalb haben wir diesen Vorschlag erarbeitet. Sie können
ihn gerne erweitern. Sie können auch sagen: Wir müssen
eine gemeinsame Resolution des Bundestages erreichen.
Das hat Gewicht.
Unsere Stimme hat in Myanmar Gewicht. Die Delegationen kommen hierher. Wir sind der wichtigste europäische Wirtschaftspartner. Die Europäische Gemeinschaft hat für die nächsten fünf Jahre 700 Millionen
Euro für die Förderung des Wiederaufbaus von Myanmar eingesetzt. Das war eine vergessene Krise. Jetzt ist
es ein Boomland. Da müssen und können wir eingreifen,
und zwar auch durch die Instrumente der Resolution und
des Appells.
Die Konferenz der Minister der Nachbarstaaten, die
Sie erwähnt haben, soll nächste Woche fortgesetzt werden. Myanmar ist eingeladen. Die Generäle dort haben
aber gesagt: Wenn auch nur das Wort „Rohingya“ erwähnt wird, dann kommen wir nicht. - Da können Sie
sehen, dass es mit dieser Diskriminierung weitergeht.
Das sind die Vorboten eines möglichen Völkermordes.
Das müssen wir mit allen Mitteln verhindern, egal ob
das Europaparlament da etwas macht.
({2})
Es ist gut, dass das Europäische Parlament etwas macht.
Wenn Sie sagen, dass die Bundesregierung es schon
richten wird, dann frage ich mich: Wo ist denn Ihre
Selbstachtung? Wir müssen selbst etwas machen. Wir
können nicht nur die Zeitung lesen und sagen: Hoffentlich ist das bald wieder - was es vor einem Jahr war eine vergessene Krise. - Wir machen uns schuldig. Wir
sehen das. Wir müssen den Bürgern deutlich sagen: Wir
beziehen Stellung. Wir unterstützen unsere Regierung
darin, dass sie da etwas macht. Wir unterstützen die
Kämpfer vor Ort, die für die gerechte Sache kämpfen.
Wir fordern die Nobelpreisträgerin auf, sich eindeutig zu
äußern.
So viel können Sie doch machen. Lassen Sie das nicht
einfach vorbeigehen, indem Sie sagen: „Jetzt sind wir es
endlich los und gehen nach Hause“, sondern formulieren
Sie - meinetwegen zusammen mit der SPD - eine Resolution. Wir werden mit Sicherheit daran mitarbeiten.
Wenn sie in diesem Tenor ist, dann werden wir sie unterstützen.
Vielen Dank.
({3})
Vielen Dank. - Damit ist die Aussprache beendet.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe zu
dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit
dem Titel „Verfolgt, vertrieben, vergessen - Völkermord
an den Rohingya verhindern“.
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/3951, den Antrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/2615 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposition angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf:
- Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuregelung der Unterhaltssicherung
sowie zur Änderung soldatenrechtlicher Vorschriften
Drucksache 18/4632
Beschlussempfehlung und Bericht des Verteidigungsausschusses ({0})
Drucksache 18/4851
Vizepräsidentin Ulla Schmidt
- Bericht des Haushaltsausschusses ({1})
gemäß § 96 der Geschäftsordnung
Drucksache 18/4852
Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden.1) Ich sehe keinen Widerspruch.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Verteidigungsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 18/4851, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 18/4632 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um
das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält
sich? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung
mit den Stimmen von CDU/CSU- und SPD-Fraktion und
Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der Fraktion
Die Linke angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit dem gleichen Stimmenverhältnis angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses ({2})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Niema
Movassat, Dr. Axel Troost, Wolfgang Gehrcke,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Für ein internationales Staateninsolvenz-
verfahren
- zu dem Antrag der Abgeordneten Uwe
Kekeritz, Dr. Gerhard Schick, Annalena
Baerbock, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Resolution der Vereinten Nationen für ein
multilaterales Rahmenwerk zur Restruk-
turierung von Staatsschulden umsetzen -
Jetzt aktiv den Arbeitsprozess der Verein-
ten Nationen mitgestalten
Drucksachen 18/3743, 18/3916, 18/4233
Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden.2) -
Ich sehe, Sie sind damit einverstanden.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Finanzausschusses auf Drucksache
18/4233. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a
seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags
der Fraktion Die Linke auf Drucksache 18/3743 mit dem
Titel „Für ein internationales Staateninsolvenzverfah-
ren“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschluss-
1) Anlage 3
2) Anlage 4
empfehlung ist mit den Stimmen von CDU/CSU- und
SPD-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion Die
Linke bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/3916 mit dem Titel „Resolution
der Vereinten Nationen für ein multilaterales Rahmenwerk zur Restrukturierung von Staatsschulden umsetzen Jetzt aktiv den Arbeitsprozess der Vereinten Nationen
mitgestalten“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die
Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposition angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
Neuordnung des Rechts über das Inverkehrbringen, die Rücknahme und die umweltverträgliche Entsorgung von Elektro- und Elektronikgeräten
Drucksache 18/4901
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit ({3})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden.3) Ich sehe, damit sind Sie einverstanden.
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 18/4901 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall.
Dann ist so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Stephan
Albani, Anette Hübinger, Albert Rupprecht, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/
CSU sowie der Abgeordneten René Röspel,
Dr. Ernst Dieter Rossmann, Hubertus Heil
({4}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD
Forschung und Entwicklung für die Bekämp-
fung von vernachlässigten armutsassoziierten
Erkrankungen stärken
Drucksache 18/4930
Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden.4) -
Ich sehe, Sie sind damit einverstanden.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen der CDU/CSU und SPD auf Drucksache
18/4930. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt
dagegen? - Wer enthält sich? - Der Antrag ist mit den
Stimmen von CDU/CSU- und SPD-Fraktion bei Enthal-
3) Anlage 5
4) Anlage 6
Vizepräsidentin Ulla Schmidt
tung der Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 23 auf:
Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen CDU/CSU, SPD, DIE LINKE und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs
eines Neunten Gesetzes zur Änderung des
Bundesverfassungsgerichtsgesetzes
({5})
Drucksache 18/2737
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz ({6})
Drucksache 18/4963
Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich bitte Sie, die Plätze einzunehmen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat
Dr. Matthias Bartke, SPD-Fraktion.
({7})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Stellen
Sie sich vor, Politiker würden sich des makellosen Rufes
erfreuen, den die Richter des Bundesverfassungsgerichts
haben. Ich glaube, jeder der hier versammelten Abgeordneten wäre begeistert.
({0})
Das hohe Ansehen des Bundesverfassungsgerichts ist
von unschätzbarem Wert, der nicht aufgewogen werden
kann. Unser Anspruch muss es daher sein, die hohe Legitimität des Bundesverfassungsgerichts zu erhalten. Die
Frage der Richterwahl trifft dabei den Kern des Ganzen.
Grundsätzlich geregelt ist sie in Artikel 94 Grundgesetz,
konkretisiert wird sie in § 6 des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes. Diese Konkretisierung im Bundesverfassungsgerichtsgesetz trat 1951, also vor fast 65 Jahren, in
Kraft; und sie ist seither hochstrittig. Selbst der amtierende Präsident des Bundesverfassungsgerichts Voßkuhle
hat die geltende Regelung der Richterwahl in seiner
Kommentierung von Artikel 94 Grundgesetz noch im
Jahr 2010 mit deutlichen Worten als verfassungswidrig
deklariert. Seltsamerweise hat er aber dann zwei Jahre
später den Beschluss mitunterzeichnet, nach dem das
Gericht die Regelung zur Richterwahl als verfassungskonform ansieht.
Die Kritiker der jetzigen Rechtslage bemängeln, dass
sich das Bundestagsplenum der zentralen Aufgabe der
Auswahl der eigenen Kontrolleure nicht entledigen
dürfe. So nämlich wird die Delegierung der Auswahl an
den Wahlausschuss gewertet.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich freue mich, dass
wir in einem fraktionsübergreifenden Gesetzentwurf dieser Kritik begegnen und Änderungen vornehmen. Es
bleibt zwar auch künftig bei dem zwölfköpfigen Wahlausschuss. Dieser wählt aber nicht mehr die Richter des
Bundesverfassungsgerichts; stattdessen beschließt er mit
mindestens acht Stimmen einen Wahlvorschlag. Die
Richter werden auf diesen Vorschlag hin im Plenum
ohne Aussprache gewählt und müssen dort eine Zweidrittelmehrheit erhalten.
Dennoch - der Änderungsantrag der Grünen macht es
deutlich - konnten wir trotz des fraktionsübergreifenden
Gesetzentwurfs nicht in allen Punkten Einigkeit erreichen. Die Grünen fordern zum Beispiel eine Frauenquote von 37,5 Prozent in jedem der beiden Gerichtssenate.
Meine Damen und Herren, die SPD ist die Partei der
Quote.
({1})
Wir haben das Gesetz zur Frauenquote in Führungspositionen durchgesetzt. Aber das Gesetz war auch sorgfältig
vorbereitet und wurde vorher intensiv und medial diskutiert. Genau das ist hier nicht der Fall. Hier soll quasi im
Vorbeigehen kurz vor Ende der zweiten Lesung ein
Schnellschuss abgefeuert werden, der mehr grundsätzliche Fragen als Antworten aufwirft: Warum eine 37,5-Prozent-Quote? Warum sollen nur die Senate des Bundesverfassungsgerichts quotiert werden? Warum sollen
nicht auch andere Gerichte quotiert werden? Warum soll
nicht zum Beispiel auch die Finanzgerichtsbarkeit, die
bislang den geringsten Frauenanteil aller Gerichtsbarkeiten aufweist, quotiert werden?
({2})
All das sind Fragen, die man lösen kann, aber nicht,
indem man kurz vor Ultimo eben einen kleinen Änderungsantrag mit gravierender Tragweite einbringt. Und
natürlich hätte man vorher eine umfängliche Anhörung
zur Thematik durchführen müssen. Nein, ein solcher
Schnellschuss entspricht keiner verantwortungsvollen
Politik.
({3})
Lassen Sie mich aber am Ende doch festhalten: Mit
dem heute zu beschließenden Gesetz werden wir ein
Wahlverfahren für das höchste deutsche Gericht korrigieren, das seit Jahrzehnten verfassungsrechtlich und
verfassungspolitisch hochstrittig war. Meine Damen und
Herren, daher gilt: Heute ist ein guter Tag für unseren
Rechtsstaat!
Ich danke Ihnen.
({4})
Vielen Dank. - Nächster Redner ist Richard Pitterle,
Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Mit meiner Zustimmung zu dem vorliegenden Gesetzentwurf schaffe ich mich ab, natürlich
nicht als Person, sondern als privilegiertes Mitglied dieses Bundestags, das bisher bereits an der Wahl der Richter am Bundesverfassungsgericht beteiligt war. Künftig
sollen, wie wir bereits gehört haben, die Richter vom
Plenum des Deutschen Bundestages gewählt werden.
Das ist richtig und wichtig. Damit brechen wir mit einer
34 Jahre alten Tradition. Das ist aus meiner Sicht keine
reine Formsache. Wenn wir die Richterinnen und Richter
im Plenum wählen, wird das vielmehr der Bedeutung
dieses Gerichts, das Entscheidungen mit Gesetzeskraft
trifft und das auch Entscheidungen des Bundestages revidieren kann, erst wirklich gerecht.
({0})
Ich finde es auch gut, dass dieser Weg über Fraktionsgrenzen hinweg bestritten wird, was sich in einem gemeinsamen Gesetzentwurf aller vier Fraktionen des
Bundestages widerspiegelt.
Bei der großen Freude über die Einigkeit, was diesen
Schritt angeht, bleibt ein Wermutstropfen. Angesichts
der Tatsache, dass nur 5 von 16 Mitgliedern des Bundesverfassungsgerichts weiblich sind, hätten wir uns schon
eine verbindliche Quotierung gewünscht, wie es auch im
Änderungsantrag der Grünen gefordert wird.
({1})
Warum ist mir dieser Punkt wichtig? Jedem Urteil des
Bundesverfassungsgerichts geht ein Abwägungsprozess
zwischen der Lebensrealität und den verfassungsrechtlichen Ansätzen voraus. In einen solchen Abwägungsprozess gehen unterschiedliche Sichtweisen ein. Wir wissen: Sichtweisen sind durch Lebenserfahrung geprägt.
Wir wissen auch, dass Männer und Frauen unterschiedliche Lebenserfahrungen haben. Ich hätte mir gewünscht,
dass diese unterschiedlichen Erfahrungsansätze in diesen
Abwägungsprozess Eingang finden.
Die Vertreter der Regierungskoalition müssen sich
schon fragen, warum eine Frauenquote, die wir vor einigen Wochen hier ja tatsächlich für DAX-Unternehmen
beschlossen haben, ausgerechnet für das höchste Organ
der Rechtsprechung nicht gelten soll.
({2})
Wir sollten auch darüber nachdenken, wie wir unserer
Verantwortung für die Richterinnen und Richter am
Bundesverfassungsgericht gerecht werden. Das Bundesverfassungsgericht ist in den letzten Monaten und Jahren
in die Rolle eines Ersatzgesetzgebers gedrängt worden.
Deswegen sollten wir uns als Ziel vornehmen, hier künftig mehr verfassungskonforme Gesetze zu verabschieden.
({3})
Hätten Sie in der Vergangenheit auf uns gehört, dann
wäre den Richtern des Bundesverfassungsgerichts viel
Arbeit erspart geblieben. Das sage ich jetzt aus aktuellem Anlass. Wenn das Bundesverfassungsgericht im
letzten Dezember entschieden hat, dass Teile des Erbschaftsteuergesetzes verfassungswidrig sind, weil eine
nicht zu rechtfertigende Privilegierung der deutschen
Oligarchen dadurch stattfindet,
({4})
dann sollten wir nicht im nächsten Schritt versuchen,
diese Privilegien zu erhalten.
({5})
So würde das Bundesverfassungsgericht von Arbeit entlastet.
Vielen Dank.
({6})
Vielen Dank. - Als Nächste spricht Elisabeth
Winkelmeier-Becker, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
„Die Mitglieder des Bundesverfassungsgerichtes werden
je zur Hälfte vom Bundestage und vom Bundesrate gewählt“, so besagt es Artikel 94 Absatz 1 Satz 2 unseres
Grundgesetzes. Der Bundesrat hat das für seine Hälfte
gleich von Anfang an so umgesetzt, wie man das erwartet. Wenn vom Bundesrat die Rede ist, dann denkt man
ans Plenum, und dort werden auch die vom Bundesrat zu
wählenden Richter ausgewählt.
Der Bundestag ist von Anfang an einen anderen Weg
gegangen - wir haben es gerade gehört -: Ein zwölfköpfiges Gremium übernimmt das für uns. Das ist nicht so
richtig transparent, nicht jeder bekommt mit, was da passiert. Es wird so gut wie keine öffentliche Notiz davon
genommen. Dabei ist es durchaus von Bedeutung, welche Persönlichkeiten diese Aufgabe beim BundesverfasElisabeth Winkelmeier-Becker
sungsgericht für uns alle wahrnehmen. Sie legen für uns
die Verfassung verbindlich aus, sie entscheiden auch
teilweise über unsere gesetzgeberischen Entscheidungen. Da macht es nicht nur einen Unterschied, welche
rechtliche Qualifikation man mit sich bringt, sondern
auch, welche Lebenserfahrung man mitbringt, welches
Geschlecht man mitbringt, vielleicht auch, aus welcher
Region des Landes man kommt. Deshalb hat das durchaus mehr Aufmerksamkeit verdient.
Es ist gut, dass wir heute dieses Verfahren ändern, es
aus diesem kleinen Gremium herausholen und ins
Plenum verlagern und dass wir hier demnächst mit
Zweidrittelmehrheit im gesamten Rund der Abgeordneten entscheiden. Mindestens die Hälfte der Mitglieder
des Bundestages muss sich dann für einen Richter aussprechen.
Was erreichen wir damit? Wir nähern uns vor allem
zunächst einmal dem Wortlaut von Artikel 94 des
Grundgesetzes. Es hat schon öfter Streit gegeben, ob das
bisherige Verfahren überhaupt diesem Artikel genügt.
Seinerzeit hat auch Herr Voßkuhle - das muss er sich
jetzt noch öfter anhören - eine andere Meinung dazu
vertreten als jetzt als Präsident des Bundesverfassungsgerichts.
Ich denke, es liegt auch auf der Linie des Bundesverfassungsgerichts, zu sagen, dass alle wesentlichen Entscheidungen im Plenum des Bundestages getroffen werden müssen und eben nicht auf die Regierung oder auf
kleinere Gremien übertragen werden können. Es liegt
aber vor allem auf der Linie, die Legitimation des Bundesverfassungsgerichts zu stärken. Wir haben den
Grundsatz, dass alle Staatsgewalt vom Volk ausgeht. Das
gilt für uns als Parlament ganz klar, aber es gilt eben
auch für das Bundesverfassungsgericht, im Übrigen genauso für den Bundesgerichtshof und die anderen Bundesgerichte; das sei hier auch noch einmal gesagt. Ich
denke, uns Abgeordneten ist das sehr bewusst, weil wir
uns dem alle vier Jahre wieder stellen müssen. Es ist
aber der Wahlakt, der uns legitimiert, von dem sich letztendlich auch die Staatsgewalt der Gerichte ableitet.
Diese Ableitung wird gestärkt und damit auch die Legitimation, wenn dieser überflüssige Zwischenschritt wegfällt, nicht mehr das Parlament einen kleinen Ausschuss
bestimmt, der die Richter wählt, sondern das Plenum
unmittelbar die Richter wählt. Das ist ein Mehr an Legitimation, ein Mehr an Transparenz, ein Mehr an Nähe,
die wir unserem gemeinsamen Souverän, denke ich,
schulden, dem gemeinsamen Souverän, der uns legitimiert und auch finanziert und der von unseren Entscheidungen auch betroffen ist.
Die Anforderungen, die an uns als Parlamentarier gestellt werden, auch in Bezug auf Transparenz, in Bezug
auf unsere Person, auf unsere Entscheidungen, sind
hoch. Sie sind nicht zuletzt auch durch die Anforderungen des Bundesverfassungsgerichts an uns sehr hoch.
Ich denke, es ist dann konsequent und liegt auch auf der
Linie dieser Entscheidungen, wenn wir heute in einem
behutsamen ersten Schritt auch mehr Transparenz in die
Wahl der Bundesverfassungsrichter bringen.
({0})
Ein Stück weit ist es auch dieser Transparenz geschuldet, dass wir heute Abend hier diese Debatte sozusagen
in Wort und Bild führen und die Reden nicht nur zu Protokoll geben. Ich denke, das ist eine kleine Reminiszenz
an die Bedeutung dessen, was in dieser Debatte beraten
wird.
Nun kann man im Rückblick sicher sagen, dass die
Entscheidungen, die der kleine Wahlausschuss bisher getroffen hat, im Ergebnis gut waren. Das Bundesverfassungsgericht hat ein hohes Renommee, und das liegt an
der Qualität der Entscheidungen, die dort getroffen
worden sind, und auch an dem hohen Renommee der
Richter, die dort tätig sind.
Stellen wir uns das Anforderungsprofil vor: Dazu gehören sehr gute rechtliche Kenntnisse, ein sehr gutes
Standing, eine sehr gute Überzeugungskraft und auch
die Bereitschaft, sich auf die Argumente der anderen,
auch der anderen Kollegen, einzulassen. Es gehört sicherlich nicht dazu, dass man immer die große Bühne
sucht. Das berücksichtigen wir in unserem Verfahren.
Wir schaffen das Mehr an Transparenz, ohne ins glatte
Gegenteil zu verfallen, ohne also amerikanische Verhältnisse herbeizuführen. Ich denke, dass wir so diesem
wichtigen Wahlvorgang mehr Aufmerksamkeit verschaffen, die er auch verdient, und zugleich einen sehr guten
Rahmen schaffen, sodass wir bei alldem auch in Zukunft
die richtigen Kandidaten und Kandidatinnen auswählen.
Ich danke Ihnen für das Zuhören.
({1})
Vielen Dank. - Als Nächstes hat Renate Künast,
Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ja, gut,
dass wir hier die Debatte echt führen. Ich glaube, es ist
dem Thema auch angemessen, dass die Reden nicht einfach zu Protokoll gegeben werden.
Ja, heute ist ein guter Tag insoweit, als wir einen gemeinsamen Gesetzentwurf haben, durch den § 6 Bundesverfassungsgerichtsgesetz geändert werden soll. Wenn
Meilensteine unterschiedliche Größenordnungen haben
könnten, handelte es sich immerhin um einen kleinen
Meilenstein, der auch eine Schieflage beseitigt.
Es wäre doch kurios, die höchsten Richterinnen und
Richter dieses Landes würden nur in einem Wahlausschuss gewählt, in dem, ich glaube, mehr Geheimhaltung war als an manch anderen Orten. Zumindest in den
Zeitungsartikeln, die ich immer gelesen habe, kamen
mehr die vereinigten Kaffeesenate zu Wort. Es taten mir
immer die leid, die da gehandelt wurden, es dann aber
doch nicht wurden. Das sprach auch ein bisschen für
diesen kleinen Wahlausschuss: die Wertschätzung gegenüber den Personen.
Heute schaffen wir natürlich eine bessere Vergleichssituation. Es wäre ja komisch, die höchsten Richterinnen
und Richter würden nicht im Plenum gewählt, aber der
Wehrbeauftragte zum Beispiel würde dort gewählt.
Nichts gegen selbigen, aber man muss ja irgendwie eine
ausgleichende Linie hinbekommen.
Wir als Grüne hätten uns mehr gewünscht. Herr
Bartke, wir hätten uns natürlich mehr gewünscht, schon
allein für das Bundesverfassungsgericht. Aber das ist ja
schon einmal etwas nach all der Kritik der letzten Jahre.
Ich meine, wir sind natürlich freie Bürgerinnen und Bürger und Abgeordnete in einem freien Land. Wir dürfen
auch Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts
kritisieren. Aber wenn dann zu oft gesagt wurde: „Da
sind die zu weit gegangen, das steht denen gar nicht zu“,
kriegte das doch manchmal einen Unterton, bei dem ich
dann dachte, obwohl auch ich frech losreden kann: Das
geht jetzt eigentlich zu weit. Da fehlt der Respekt vor der
dritten Gewalt.
Wir hätten noch mehr machen können. Ich hätte mir,
weil wir ja wollen, dass es ein selbstbewusstes und unabhängiges Gericht ist, was Deutschland ja auszeichnet
und worauf wir an der Stelle stolz sein können, natürlich
auch noch vorstellen können, dass es so geregelt worden
wäre, dass tatsächlich öffentliche Anhörungen, Anhörungen im Rechtsausschuss usw. hätten stattfinden müssen. Da gibt es noch manche Verbesserungsmöglichkeiten. Was wir Ihnen heute jedenfalls nicht ersparen
konnten, ist unser Änderungsantrag, der zwei Punkte
enthält. Ich will darauf kurz eingehen.
Der erste Punkt ist das Zählverfahren für die Besetzung der Sitze. Hier wird immer noch das Verfahren
nach d’Hondt angewandt. Wir wollen das Verfahren
nach Sainte-Laguë/Schepers. Ja, ich gebe zu, das ergibt
für die kleine Opposition - je kleiner, desto mehr - mehr
Plätze. Aber das ist ja wohl in heutigen Zeiten, in denen
wir über Minderheitenschutz und auch über die demokratische Legitimation der Bundesverfassungsrichter reden, keine falsche Überlegung. Da, glaube ich, ist es gut,
wenn am Ende alle Fraktionen, wie viele wir auch immer haben, daran beteiligt sind.
({0})
Herr Harbarth, der jetzt nicht hier ist, hat im Ausschuss gesagt: Jedes Sitzverteilungsverfahren hat seine
Vorzüge und Nachteile. Das mag stimmen. Er hat daraus
jedoch abgeleitet, dass er keine Notwendigkeit für eine
Änderung sieht. Ich sage Ihnen: Sie müssten begründen,
warum dieser Richterwahlausschuss für das Bundesverfassungsgericht das einzige Gremium ist, das noch nach
d’Hondt besetzt wird. So herum sollte es sein.
({1})
Der zweite Punkt ist die Frage nach einer Frauenquote. Lassen Sie mich Ihnen, Herr Bartke, sagen: Ich
war in der letzten Legislaturperiode dabei und habe dieses Geschäft sehr systematisch vier Jahre betrieben, auch
mit CDU-Frauen, zum Beispiel mit Rita Pawelski, die
leider jetzt nicht mehr dabei ist. Lassen Sie mich Ihnen
eine Lebensweisheit mit auf den Weg geben, weil ich ja
weiß, was die SPD in der letzten Legislaturperiode gemacht hat: Nicht jeder, der auf einen fahrenden Zug aufspringt, ist deshalb auch gleich Lokomotivführer.
({2})
Zu sagen: „Wir sind die Partei der Quote“, das geht dann
doch zu weit. Dass Sie am Ende im Ministerium die
Funktion hatten, das federführend vorlegen zu müssen,
gestehe ich Ihnen zu. So war es. Ich sage Ihnen: Ich
finde, eine Quote mit dem Inhalt: „Mindestens drei Männer oder Frauen müssen in einem Senat vertreten sein“,
ist nicht zu viel verlangt, nachdem wir eine Quote für
Aufsichtsräte börsennotierter mitbestimmungspflichtiger
Unternehmen beschlossen haben.
Ich weiß nicht, wen man zu dieser Frage noch hätte
anhören können. Sie hätten natürlich auch eine Anhörung beantragen können und sagen können, dass Ihnen
die Beratungen noch nicht reichen. Aber eins nehme ich
auf, Herr Bartke: Wir werden Sie beim Wort nehmen.
Hier und an vielen anderen Gerichtsstellen sind Sie jetzt
in der Pflicht, mit uns dafür zu sorgen, dass in dieser
Wahlperiode noch etwas passiert. Ich sage Ihnen: Ich
finde die Aktion des Deutschen Juristinnenbundes richtig, der gefordert hat: Mehr Frauen in die roten Roben! Das wäre ein weiterer kleiner Fortschritt. So ist es ein
kleiner Meilenstein, ein Schritt vorwärts.
Sie dürfen sicher sein: Wir stimmen zu, um dem Verfassungsgericht mehr Würde zu geben, aber wir werden
Sie ab morgen früh wieder fragen, was Sie, Herr Bartke,
dafür tun, dass mehr Frauen an den Gerichten in Führungspositionen und nicht nur in unteren Positionen
sind. Wenn das so ist, dann ist es ein guter Tag.
({3})
Vielen Dank, Frau Kollegin Künast. - Nächste Rednerin ist jetzt Dr. Katarina Barley, SPD-Fraktion.
({0})
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Liebe Gäste, die zu dieser späten Stunde
noch da sind! Ich muss zugeben, ich hätte mir gewünscht, dass wir diesen Tagesordnungspunkt an einer
etwas prominenteren Stelle der Tagesordnung diskutieren; denn es geht hier ein Stück weit um etwas sehr
Grundsätzliches. Es geht um die Balance der Gewalten
in unserem Staat. Das ist etwas, was enorm wichtig ist.
Die Väter und Mütter des Grundgesetzes haben sich einiges dabei gedacht, als sie die Struktur so geschaffen
haben, wie sie jetzt ist. Sie haben dem Bundesverfassungsgericht eine sehr starke Stellung gegeben. Das war
ja durchaus ein Risiko. Die Verantwortung liegt nunmehr in den Händen von 16 Einzelpersonen. Das hätte
auch schiefgehen können. Aber jetzt können wir konstatieren - ich glaube, da sind wir alle einer Meinung -,
dass sich - ich mag diesen Satz sonst überhaupt nicht diese Konstruktion wirklich sehr bewährt hat.
Doch auch das Verfahren, so wie wir es bisher in einem kleinen Ausschuss mit einer relativ späten Beteiligung der Öffentlichkeit betrieben haben, hat sich bewährt. Es ist schon gesagt worden: Anhand des
Wortlautes war es immer umstritten, ob die Entscheidung alleine durch den Wahlausschuss gefällt werden
kann. Auch ich bin froh, dass wir heute eine entsprechende Änderung hinbekommen.
Ich muss zugeben, Frau Künast, dass ich mit Ihnen
nicht ganz einer Meinung bin, was eine noch weitergehende Öffnung im Hinblick auf zum Beispiel öffentliche
Anhörungen angeht. Ich glaube, dass ein Verfahren, das
dem amerikanischen ähnelt, unserer Art, Verfassungsrechtsprechung zu betreiben, nicht gerecht wird.
Ich selbst hatte das Privileg, am Bundesverfassungsgericht zu arbeiten. Ich kann nur bestätigen, dass die Parteizugehörigkeit, wenn es denn überhaupt eine gibt, oder
die Partei, die den jeweiligen Richter oder die jeweilige
Richterin nominiert hat, keine Rolle bei der Entscheidungsfindung spielen. Es geht tatsächlich um die Persönlichkeiten und ihre Erfahrungen; das wurde schon
mehrfach angesprochen. Insofern möchte ich davor warnen, in zu großen Schritten in diese fragile Balance einzugreifen. Ich will das nicht für alle Zeiten ausschließen.
Aber ich halte es für sehr gut, wenn wir ganz behutsam
vorgehen. Ich glaube, dass wir jetzt einen vielleicht kleinen, aber wichtigen Schritt in die richtige Richtung gehen.
Vielen Dank.
({0})
Vielen Dank. - Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Dr. Volker Ullrich, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Artikel 94 unseres Grundgesetzes besagt, dass
die Richter des Bundesverfassungsgerichts in gleichen
Teilen durch den Bundesrat und den Bundestag zu wählen sind. Mit der heutigen Entscheidung gleichen wir die
Verfassungspraxis dem Verfassungswortlaut an. Mit dieser Entscheidung wird eine stärkere demokratische Legitimation der Richter des Bundesverfassungsgerichts herbeigeführt. Das ist wichtig und notwendig, weil das
Verfassungsgericht ein Verfassungsorgan ist und weil
seine Entscheidungen in bestimmten Bereichen selbst
Gesetzeskraft bekommen können.
Mit dieser Entscheidung ist aber kein Auftrag zu einer
stärkeren politischen Positionierung des Bundesverfassungsgerichts verbunden. Die Grenze verfassungsrechtlicher Rechtsprechung ist die grundrechtssensible gesetzgeberische Wertentscheidung des Parlaments. Das
gilt es nach wie vor zu beachten. Natürlich ist die Grenze
fließend. Sie muss und sollte aber bestimmbar sein im
Interesse beider Verfassungsorgane, nicht nur im Sinne
eines gegenseitigen Respekts, sondern im Interesse einer
funktionierenden Gewaltenteilung.
({0})
Sosehr das Gericht dem Gesetzgeber verfassungsrechtliche Schranken im Bereich der Grundrechtsinterpretation
aufzeigt, so sehr darf auch der Bundestag den Wunsch
äußern, dass die reinen politischen Wertentscheidungen
respektiert und berücksichtigt werden.
Meine Damen und Herren, der Änderungsantrag von
Bündnis 90/Die Grünen auf Einführung einer Frauenquote am Bundesverfassungsgericht ist nicht der richtige
Weg.
({1})
Natürlich gilt der Grundsatz - er hat zu allen Zeiten gegolten und gilt auch zukünftig -: Wir wollen die besten
Frauen und Männer an diesem Gericht haben.
({2})
Es gilt aber auch der Grundsatz: Verfassungsorgane quotiert man nicht, man respektiert sie.
({3})
Am kommenden Samstag feiert unser Grundgesetz
den 66. Geburtstag seiner Verabschiedung. Es hat sich
im Laufe der Jahre von einem Provisorium zu einer weltweit geachteten Verfassungsordnung entwickelt. Und
das Bundesverfassungsgericht hat mit richtungsweisenden Entscheidungen und großartigen Richtern einen sehr
entscheidenden Anteil daran, dass diese Verfassungsordnung weltweit respektiert und nachgeahmt wird. Deswegen gilt an dieser Stelle dem Bundesverfassungsgericht
auch der Dank für die Unterstützung und die Aufrechterhaltung unserer verfassungsgemäßen Ordnung.
({4})
Meine Damen und Herren, man sagt nach einem geflügelten Wort: Mit 66 Jahren fängt das Leben an.
({5})
Das Leben des Verfassungsgerichts fängt jetzt nicht an,
sondern es soll in den kommenden Jahren respektvoll
und durch Würde getragen weitergehen, damit wir gemeinsam, alle Verfassungsorgane, diese Verfassungsord10198
nung, in der die Würde des Menschen und die Freiheit
der Person festgeschrieben sind, respektieren und weiter
fortschreiben. Es handelt sich, glaube ich, um die beste
Verfassungsidee, die wir haben; wir sollten sie bewahren. In dem Sinne bitte ich um Zustimmung zu diesem
Gesetzentwurf.
({6})
Vielen Dank. - Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von den
Fraktionen CDU/CSU, SPD, Die Linke und Bündnis 90/
Die Grünen eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung
des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes. Der Ausschuss
für Recht und Verbraucherschutz empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/4963, den Gesetzentwurf auf Drucksache 18/2737 anzunehmen.
Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/4978 vor, über
den wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für diesen Änderungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Der Änderungsantrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposition abgelehnt.
Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen des gesamten
Hauses angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 24 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Internationalen Erbrecht und zur
Änderung von Vorschriften zum Erbschein
sowie zur Änderung sonstiger Vorschriften
Drucksache 18/4201
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz
({0})
Drucksache 18/4961
Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden.1) Ich sehe, Sie sind damit einverstanden.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für
Recht und Verbraucherschutz empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/4961, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 18/4201 in
der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen,
die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist damit
in zweiter Beratung einstimmig angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 25 auf.
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Protokollerklärung zum Gesetz zur
Anpassung der Abgabenordnung an den Zollkodex der Union und zur Änderung weiterer
steuerlicher Vorschriften
Drucksache 18/4902
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({1})
Innenausschuss
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 der GO
Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden.2) Ich sehe, Sie sind damit einverstanden.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 18/4902 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Ich
sehe, es gibt keine weiteren Vorschläge. Dann ist so beschlossen.
Damit sind wir am Schluss unserer heutigen Tagesordnung angekommen.
Ich bedanke mich bei Ihnen für die regen Debatten
und berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 22. Mai 2015, 9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.