Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
begrüße Sie herzlich zu unserer Plenarsitzung.
Es gibt einige Umstellungen in der Tagesordnung,
auf die ich Sie gerne aufmerksam machen möchte. Die
zusätzlich aufgesetzten Punkte sind in der Zusatzpunktliste aufgeführt:
ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen
der CDU/CSU und SPD:
BND und NSA - Notwendigkeit und Grenzen
der internationalen Zusammenarbeit
({0})
ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Omid
Nouripour, Marieluise Beck ({1}), Volker
Beck ({2}), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
50 Jahre deutsch-israelische diplomatische
Beziehungen - Einmaligkeit und Herausforderung
Drucksache 18/4818
ZP 3 Weitere Überweisung im vereinfachten Verfahren
({3})
Erste Beratung des von den Abgeordneten
Annette Groth, Inge Höger, Wolfgang Gehrcke,
weiteren Abgeordneten und der Fraktion DIE
LINKE sowie den Abgeordneten Tom Koenigs,
Annalena Baerbock, Marieluise Beck ({4}),
weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes über die Rechtsstellung und
Aufgaben des Deutschen Instituts für Menschenrechte ({5})
Drucksache 18/4798
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({6})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
ZP 4 Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
CSU und SPD
zum Grünbuch
Schaffung einer Kapitalmarktunion
KOM({7}) 63 endg.; Ratsdok. 6408/15
hier: Stellungnahme im Rahmen eines Konsultationsverfahrens der Europäischen Kommission
Drucksachen 18/4375 Nr. A.4, 18/4807
ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Steffi
Lemke, Peter Meiwald, Dr. Valerie Wilms, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Schutz der Meere weltweit verankern
Drucksache 18/4814
ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ralph
Lenkert, Birgit Menz, Caren Lay, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Meeresumweltschutz national und international stärken
Drucksache 18/4809
Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, soweit erforderlich, wie üblich abgewichen werden.
Der Tagesordnungspunkt 19 a - hier geht es um die
Beratung des Antrags mit dem Titel „Für eine faire
finanzielle Verantwortungsteilung bei der Aufnahme und
Versorgung von Flüchtlingen“ - soll zusammen mit dem
Tagesordnungspunkt 5 aufgerufen werden. Die Tagesordnungspunkte 19 b und 19 c - hier geht es um Anträge
Präsident Dr. Norbert Lammert
zur Seenotrettung von Flüchtlingen im Mittelmeer und
zu einer geforderten Umkehr in der Asylpolitik - werden
abgesetzt.
Die Tagesordnungspunkte 14 und 22 tauschen unter
Beibehaltung der vereinbarten Redezeiten ihre Plätze.
Schließlich mache ich noch auf eine nachträgliche
Ausschussüberweisung im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam:
Der am 24. April 2015 ({8}) überwiesene
nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz ({9})
zur Mitberatung überwiesen werden:
Erste Beratung des von den Fraktionen der
CDU/CSU und SPD eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Erneuerbare-Energien-Gesetzes
Drucksache 18/4683
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Energie ({10})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Finanzausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
Ich frage Sie, ob Sie mit diesen Veränderungen ein-
verstanden sind. - Das ist offensichtlich der Fall. Dann
haben wir das so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 3 a bis 3 d auf:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung wasser- und naturschutzrechtlicher
Vorschriften zur Untersagung und zur Risikominimierung bei den Verfahren der Fracking-Technologie
Drucksache 18/4713
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit ({11})
Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Gesundheit
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ausdehnung der Bergschadenshaftung auf den
Bohrlochbergbau und Kavernen
Drucksache 18/4714
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Energie ({12})
Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Hubertus Zdebel, Eva Bulling-Schröter, Caren
Lay, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Verbot von Fracking in Deutschland
Drucksache 18/4810
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit ({13})
Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft
Ausschuss für Gesundheit
d) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Energie ({14}) zu dem Antrag der Abgeordneten Annalena Baerbock, Dr. Julia Verlinden,
Oliver Krischer, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Urteil des Bundesverfassungsgerichts ernst
nehmen - Bundesberggesetz unverzüglich reformieren
Drucksachen 18/848, 18/1124
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 96 Minuten vorgesehen. - Auch dazu
höre ich keinen Widerspruch. Also können wir so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der
Bundesministerin Frau Dr. Hendricks.
({15})
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie mich abweichend von der Tagesordnung
kurz auf die erfolgreiche Trilog-Verabredung eingehen,
die vorgestern Abend in Brüssel zur Reform des europäischen Emissionshandels getroffen worden ist. Wenngleich es nicht unmittelbar zu unseren Tagesordnungspunkten gehört, so hängt es doch zusammen, nämlich in
der Frage der Energienutzung und unserer zukünftigen
Energiepolitik. Ich kann es nur als großen Erfolg der
Bundesregierung insgesamt bezeichnen, dass es uns gelungen ist, die entsprechenden Regelungen so auf die
Schiene zu setzen, dass sie, beginnend mit dem Jahr
2019, positiv wirken werden und wir damit den Emissionshandel wieder auf eine vernünftige Grundlage stellen, sodass er seine Wirkung erzielen kann.
({0})
Auch vor dem Hintergrund dieser Debatte kann man
in diesem Zusammenhang sagen: Wir brauchen keine
neuen fossilen Energiequellen.
({1})
Die Zukunft gehört den erneuerbaren Energien, meine
lieben Kolleginnen und Kollegen.
({2})
- Ja, genau, Herr Krischer.
({3})
Weil wir es uns nicht so leicht machen wie Sie, werde
ich Ihnen jetzt begründen, warum wir Ihnen gleichwohl
einen Gesetzesvorschlag vorlegen - genau genommen
ist es ein Gesetzespaket, also mehrere Vorschläge -, mit
dem das Fracking in Deutschland geregelt werden soll
und mit dem dem Fracking in Deutschland sehr enge
Grenzen gesetzt werden sollen. Das haben wir nämlich
bisher nicht. Wir nehmen die Sorgen der Bürgerinnen
und Bürger sehr ernst. Unsere erste Priorität ist selbstverständlich der Schutz des Trinkwassers und damit der
Gesundheit der Bürgerinnen und Bürger.
Es handelt sich hier um eine offene Debatte - das
werden wir heute in der Debatte mitbekommen -, in der
auch in den verschiedenen Fraktionen durchaus unterschiedliche Positionen deutlich werden. Ich will Ihnen
sagen - das ist sowieso das Recht des Deutschen Bundestages -: Ich bin sehr offen für weiter gehende Vorschläge, die meinen Intentionen noch mehr entsprechen
und die gleichwohl Rechtssicherheit nicht vermissen lassen. Deswegen bin ich gespannt auf die Debatte, mit der
wir es zu tun haben, die heute im Deutschen Bundestag
eingeleitet wird und die wir dann vor der Sommerpause
gemeinsam beenden werden.
({4})
Es ist selbstverständlich klar, dass das Parlament seinen Einfluss wahrnimmt. Das zeigt, dass wir alle gemeinsam die Sorgen der Bürgerinnen und Bürger ernst
nehmen. Deshalb bitte ich darum, dass wir im parlamentarischen Verfahren eine ehrliche Debatte führen, eine
Diskussion mit offenem Visier. Wie gesagt: Für weiter
gehende Vorschläge bin ich selbstverständlich offen.
Gestatten Sie mir, zur Einbringung des Gesetzentwurfs auf einige Punkte hinzuweisen.
Wir beenden nach vielen Jahren einen Zustand, in
dem das Fracking auf einer unzureichenden rechtlichen
Grundlage steht. Wir führen sehr strenge Regeln ein, wo
bislang keine klaren Regeln gegolten haben. Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, wir ermöglichen eben
nichts, was bislang verboten gewesen wäre, sondern im
Gegenteil: Wir verbieten vieles, was bislang nicht
rechtssicher verboten werden konnte.
({5})
Die heutige Rechtslage ist so, dass jedes Unternehmen, das einen Antrag bei der zuständigen Bergbehörde
eines Landes gestellt hätte, diesen Antrag im Zweifelsfall vor den Verwaltungsgerichten positiv hätte durchfechten können, weil wir praktisch keine Begrenzungen
haben. Das ist die Situation, von der wir ausgehen, und
das müssen wir uns bitte alle noch einmal vergegenwärtigen.
({6})
Deshalb: Es wird in Zukunft ein weitreichendes Verbot
in schützenswerten Gebieten geben, insbesondere in allen Trinkwassergewinnungsgebieten.
({7})
- Doch. Sie haben vielleicht den Entwurf noch nicht
richtig gelesen.
Es wird weiter gehende Möglichkeiten der Länder geben, weitere Schutzgebiete auszuweisen, und das unkonventionelle Fracking wird zunächst nur für Probebohrungen unter strengen Voraussetzungen zugelassen. Das ist
der Gegenstand dieses Gesetzes. Die Bergbau- und die
Wasserbehörden sind gemeinsam verantwortlich, müssen also diese Probebohrungen einvernehmlich genehmigen. Wenn es denn dann später einmal zu kommerziellen Bohrungen käme, müssten sie gemeinsam, also
einvernehmlich, genehmigen.
({8})
Wir führen erstmals eine verpflichtende Umweltverträglichkeitsprüfung ein, und zwar für das schon seit langem bestehende konventionelle Fracking genauso wie
für das unkonventionelle Fracking.
({9})
- Ja. Bestreiten Sie es bitte nicht! Lesen Sie doch einfach
den Gesetzentwurf!
({10})
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Union, ich bin
gerne bereit, auf weiter gehende Monita und Petita einzugehen. Versuchen Sie dann aber bitte, zunächst in Ihrer Fraktion zu klären, was Ihre Fraktion im Gesetzgebungsverfahren einvernehmlich noch einbringen will.
Wenn es da eine Verständigung gibt mit der anderen Koalitionsfraktion, werden Sie in mir sicherlich keine Gegnerin finden. Aber die erste Voraussetzung ist, dass sich
die Union unter sich klar darüber wird, was sie möchte.
({11})
Wir führen eine strenge Überwachung und ein intensives Grund- und Oberflächenwassermonitoring ein.
Verboten - lieber Kollege Mattfeldt, auch wenn Sie das
Gegenteil behaupten - wird die unterirdische Verpressung von Lagerstättenwasser beim konventionellen
Fracking, was es bisher gab. Es wird verboten, auch
wenn Sie bisher das Gegenteil gesagt haben.
({12})
Außerdem führen wir die Umkehr der Beweislast bei
Bergschäden ein. Auch das kommt den Bürgerinnen und
Bürgern, insbesondere in den Regionen, in denen es ja
schon lange das konventionelle Fracking gibt, entgegen;
denn das wird ja auf jeden Fall weiter stattfinden. Davon
gehen wir, wie ich annehme, gemeinsam aus.
Des Weiteren: Wir wollen, dass an dem gesetzlichen
Rahmen eben nicht juristisch gerüttelt werden kann. Wir
wollen möglichst Rechtssicherheit herbeiführen. Ganz
sicher kann man natürlich nie sein; das wissen wir alle.
Aber wir wollen möglichst Rechtssicherheit herbeiführen. Wir müssen uns fragen: Soll der Staat Technologien
pauschal verbieten, selbst wenn sie nicht ausreichend erforscht sind? Es ist doch so - wir alle sind daran gebunden -: Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit muss im
Auge behalten werden. Fracking findet zum Beispiel
auch - daran sind viele von Ihnen ja auch interessiert im Bereich der Geothermie statt; denn geothermische
Methoden ohne Fracking gibt es gar nicht. Man braucht
es auch zur Erschließung von Heilquellen. Da gibt es
auch wieder völlig auf der Hand liegende Interessen,
dass man das in diesem Zusammenhang nicht verbieten
will. Die Technologie als solche ist also nicht einfach
verbietungsfähig. Dann müssten Sie sich auch von Heilquellenerschließung und von Geothermie verabschieden.
Die Technologie als solche ist nicht verbietungsfähig.
({13})
- Das ist nicht unter meinem Niveau. Sie, liebe Frau
Göring-Eckardt, müssen sich klar werden, dass Geothermie nur mit Frack-Vorgängen überhaupt erschlossen
werden kann
({14})
und dass auch Heilquellenerschließung nur mit FrackVorgängen erfolgen kann. Mehr habe ich nicht gesagt.
Die Technologie als solche kann unter diesem Gesichtspunkt nicht vollständig verboten werden. Wir müssen sie
regeln, und genau das ist der Ansatz dieses Gesetzes.
({15})
Unser Vorschlag ist also, das in einem sehr engen
Rahmen, in Forschungsvorhaben, zu ermöglichen, damit
wir die Grundlage für politische Entscheidungen verbessern können. Es geht nicht darum, Technik zu verbieten,
weil Politiker oder der Staat meinten, sie seien die besseren Wissenschaftler.
({16})
Unsere Aufgabe ist es, feste Regeln, die einen größtmöglichen und zugleich rechtssicheren Schutz unserer Umwelt gewährleisten, hier miteinander zu verabreden. Dies
schlagen wir vor.
Als Klimaministerin darf ich durchaus noch ergänzen:
Ich habe große Zweifel daran, dass wir diese Technik
unter energiepolitischen Gesichtspunkten brauchen.
({17})
Wir werden sicherlich in absehbarer Zeit - vielleicht
werden wir das nicht alle erleben - das Zeitalter der fossilen Rohstoffe beenden. Ich bin auch nicht sicher, ob die
Fracking-Technologie im kommerziellen Sinn tatsächlich eine Zukunft in Deutschland hat, ob es ein kommerzielles Interesse daran gibt, sie überhaupt in dem unkonventionellen Bereich zur Anwendung zu bringen.
Gleichwohl: Wir haben jetzt einen unsicheren Rechtszustand, und mir liegt daran, die Bürgerinnen und Bürger
zu schützen und deswegen klare Regeln einzuziehen.
Herzlichen Dank.
({18})
Das Wort erhält nun der Kollege Hubertus Zdebel für
die Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren!
Auch ich freue mich auf eine ergebnisoffene Debatte
hier über das Thema Fracking. Wir werden im Laufe der
weiteren Beratungen sehen, inwieweit die Koalition tatsächlich bereit ist, die Debatte ergebnisoffen zu führen,
wie es auch Frau Ministerin Hendricks gerade einleitend
eingefordert hat.
Fracking ist eine Gefahr für Mensch und Natur.
Fracking verunreinigt das Grund- und Trinkwasser
durch Chemikalien, aufsteigendes Methan und Lagerstättenwasser. Fracking und die Verpressung von Lagerstättenwasser können Erdbeben hervorrufen, wie jüngst
in den USA wissenschaftlich nachgewiesen worden ist.
Die Entsorgung des mit radioaktiven Isotopen, Quecksilber und Benzol belasteten Flowbacks, der gefährlichen
Mischung aus Lagerstättenwasser und Frack-Flüssigkeiten, ist ungeklärt. Die Klimabilanz von gefracktem Erdgas ist miserabel, teilweise sogar miserabler als die von
Braunkohle.
Ähnlich wie bei der Atomenergie ist mit hohen Folgekosten zu rechnen, etwa für Erdbebenschäden, verseuchtes Grundwasser, zerstörte Ökosysteme und die Mondlandschaften durch Fracking-Bohrungen auf engstem
Raum, ganz zu schweigen von den gesundheitlichen Risiken, die von Fracking ausgehen. Das zeigen insbesondere die Erfahrungen in den USA, wo es tatsächlich, im
Gegensatz zu Deutschland, schon wissenschaftliche Forschung und Ergebnisse auf diesem Gebiet gibt.
Angesichts dieser Risiken wäre es unverantwortlich,
Fracking selbst unter Einsatz ungefährlicher Frack-Flüssigkeiten und unter verschärften Auflagen zu erlauben.
({0})
Daher fordert die Linke ein gesetzliches Fracking-Verbot
ohne Ausnahmen.
({1})
Wir stehen damit nicht allein. Nicht nur die Kommunen, in denen zahlreiche Bürgerinitiativen Entscheidungen gegen Fracking herbeigeführt haben - einige Kommunen haben dies sogar selber per Ratsbeschluss getan -,
sondern auch die Länder Nordrhein-Westfalen, Schleswig-Holstein und Bremen überzeugt der Regierungsentwurf nicht. Auf Initiative dieser Länder hat der Umweltausschuss des Bundesrates ebenfalls ein konsequentes
Fracking-Verbot beantragt. Das können wir nur unterstützen.
({2})
Anders als Sie, Frau Ministerin Hendricks, ständig
behaupten, ist ein gesetzliches Fracking-Verbot sehr
wohl möglich. In einer Ausarbeitung des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages aus dem Jahre 2011 war
bereits zu lesen - ich zitiere mit Genehmigung des Präsidenten -:
Ein Verbotsgesetz … könnte aber gerechtfertigt
sein, wenn der Gesetzgeber zur Eindämmung aus
seiner Sicht bestehender Risiken des Fracking ein
Verbot zum Schutz von Mensch und Umwelt für erforderlich hielte.
Ich denke, das ist klar genug: Es ist gesetzlich möglich,
Fracking ohne Ausnahmen zu verbieten. Die Frage ist:
Warum passiert es nicht?
({3})
Es sind ausgerechnet die beiden sozialdemokratischen Minister, Frau Umweltministerin Hendricks und
Herr Wirtschaftsminister Gabriel, die jetzt dieser Fracking-Lobby ein Geschenk machen wollen; auch das
muss deutlich werden.
({4})
Entgegen den Behauptungen der Minister hat die Bundesregierung jetzt einen Entwurf für ein reines Pro-Fracking-Gesetz vorgelegt. Durch dieses Gesetz soll Fracking auf drei Vierteln der Fläche Deutschlands möglich
sein, und zwar - das wird häufig gar nicht erwähnt - uneingeschränkt für die Erdöl- und Metallgewinnung.
Auch die Gasförderung im Sandgestein - es geht um
das sogenannte Tight Gas - wird ausdrücklich und in
jeder Tiefe erlaubt, obwohl es nie ein systematisches
Umweltmonitoring der bisher durchgeführten Vorhaben
- wie zum Beispiel in Niedersachsen, worauf ja immer
wieder abgehoben wird - gegeben hat. Warum machen
Sie nicht erst einmal dort die Forschung über Jahre?
Dann können wir sehen, wie es damit aussieht. Insofern
entlarvt sich auch das dauernde Fordern von Forschungsmaßnahmen als das, was es ist: Es soll davon ablenken, dass hier ein Fracking-Ermöglichungs-Gesetz
durch den Bundestag gebracht werden soll.
({5})
Außerdem, Frau Ministerin Hendricks, erfinden Sie
kurzerhand den Fantasiebegriff des „konventionellen
Frackings“, wohlwissend, dass Technik und Risiken des
Frackings unabhängig von Gesteinsformation und Tiefe
die gleichen sind. Tiefer als 3 000 Meter soll ohnehin
jegliches Fracking erlaubt werden. Dabei verschweigen
Sie, Frau Ministerin, öfter, manchmal systematisch, dass
es gerade unterhalb von 3 000 Metern jede Menge Erdgas zu fracken gibt. Oberhalb dieser willkürlich festgelegten 3 000-Meter-Grenze soll Fracking im Schiefergestein oder in Kohlenflözen angeblich untersagt werden.
Doch auch diese Behauptung der Bundesregierung zerplatzt bei genauerem Hinschauen wie eine Seifenblase;
denn mit der geplanten Durchführung angeblich wissenschaftlich begleitender Probebohrungen in diesen Bereichen wird die kommerzielle Nutzung vorbereitet. Bei
diesen „wissenschaftlichen“ Bohrungen dürfte es sich in
der Regel um gewöhnliche Aufsuchungsbohrungen handeln, den ersten Schritt zur kommerziellen Nutzung. Von
einem Fracking-Verbot kann also keine Rede sein.
Die kommerzielle Schiefer- und Kohlenflözgewinnung oberhalb von 3 000 Metern stellen Sie unter den
Vorbehalt einer sechsköpfigen Kommission, deren Zustimmung jedoch als sicher gilt. Viele von den Vertretern, die da benannt werden sollen, sind als industrienah
bekannt. Die Umweltverbände und andere Vertreter der
Zivilgesellschaft, welche die Interessen der Bürgerinnen
und Bürger vertreten, sind hier nicht vertreten. Ich finde,
das ist ein absoluter Skandal, und sage: Diese Kommission muss auf jeden Fall weg.
({6})
Wenn das so kommen sollte mit dieser Kommission,
könnten ab Ende 2018 sämtliche Arten von Erdgaslagerstätten in allen Tiefen durch Fracking kommerziell erschlossen werden.
Insofern darf es nicht wundern, dass der Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft und der Bundesverband der Deutschen Industrie die von der Bundesregierung vorgelegten Gesetz- und Verordnungsentwürfe
zum Fracking begrüßen,
({7})
und das aus gutem Grund: Mit dem Regelungspaket wird
für die Konzerne erst die Rechtssicherheit hergestellt,
um gegen den erklärten Willen der Bevölkerung fracken
zu können; denn was Sie auch gerne nicht erwähnen, ist,
dass die existierenden Ländermoratorien durch das geplante Recht ausgehebelt werden. Die Möglichkeit, dass
ein Unternehmen vor einem Verwaltungsgericht problemlos eine Genehmigung für Fracking erstreitet, wird
durch Ihre Pläne erst geschaffen, Frau Hendricks. Bisher
klagt ja keiner. Warum wohl? Wenn jetzt Rechtssicherheit hergestellt wird, kann geklagt werden.
Außerdem ist zu bemängeln und festzuhalten, dass
die Folgekosten wieder einmal sozialisiert werden sol9784
len; denn entgegen Ihrer Beteuerung, Frau Ministerin,
gibt es bei den Änderungen des Bergschadensrechts gerade keine wirksame Beweislastumkehr. Es kann nach
wie vor durchaus passieren, dass zum Beispiel Erdbeben
entstehen. Die Erdbebenregelung, die in den ursprünglichen Entwürfen noch vorgesehen war, ist im Laufe des
weiteren Verfahrens inzwischen wieder herausgestrichen
worden.
Man könnte über geostrategische Zusammenhänge
und Ähnliches noch viel sagen. Dafür wird in den Ausschussberatungen Zeit sein. Diese Fragen, auch der Niedergang des Frackings in den USA und Ähnliches, spielen eine Rolle.
({8})
Ich bin sehr gespannt auf die weiteren Diskussionen.
Viele von Ihnen, insbesondere diejenigen, die in ihren
Wahlkreisen versprochen haben, dass sie sich im Bundestag gegen Fracking einsetzen werden, stehen schon
unter genauerer Beobachtung der Bürgerinitiativen und
der Parteibasis. Das gilt für die Abgeordneten der CDU/
CSU genauso wie für die der SPD.
Herr Kollege.
Ich bin neugierig auf die von Ihnen angekündigten
Anträge, Herr Mattfeldt und Herr Schwabe. Bisher liegt
ja noch nichts vor.
Wir sagen zusammenfassend: Kein Fracking! Ohne
Ausnahmen! Wir stehen an der Seite der Bürgerinitiativen vor Ort, die sich gegen Fracking ausgesprochen haben, für ein Fracking-Verbot ohne Ausnahmen.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Joachim Pfeiffer ist der nächste Redner für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr geehrte Damen und Herren! Wenn man hier die
Linken und auch die Grünen hört
({0})
- die Zwischenrufe von Herrn Krischer waren nicht zu
überhören; Sie äußern sich ja auch im Vorfeld, außerhalb
des Hauses -, dann kann man den Eindruck gewinnen:
Fracking ist ein Selbstzweck. - Deshalb ist es vielleicht
ganz gut, einmal eine Einordnung vorzunehmen, um was
es eigentlich geht.
Auch wenn wir den Umbau der Energieversorgung in
Deutschland erreichen - mit Energieeffizienz, mit Energieeinsparung um 50 Prozent bis 2050; der Restbedarf
soll möglichst mit erneuerbaren Energien gedeckt werden -, werden konventionelle Energien sowohl im
Strom- als auch im Gebäudebereich, bei der Heizung,
und im Verkehrsbereich weiterhin eine Rolle spielen.
Wenn der Wind nicht weht oder die Sonne nicht scheint,
brauchen wir, um die Grundlast zu decken, auch weiterhin konventionelle Energien.
Schauen wir uns die Klimabilanz an: Es ist so, dass
Gas im Grundsatz eine deutlich bessere CO2-Bilanz hat
als andere konventionelle Energien. Wenn wir Gas in
Deutschland haben, dann sind wir, glaube ich, gut beraten, uns zu überlegen, ob wir diese Potenziale auch in
Zukunft nutzen.
Wie ist die Situation weltweit? Die USA wurden angesprochen. In der Tat hat dort eine Revolution stattgefunden, und zwar nicht in der konventionellen Gasförderung, sondern in der nichtkonventionellen, in der
unkonventionellen Schiefergasförderung. Die USA sind
vom größten Energieimporteur zum Selbstversorger und
jetzt zum Energieexporteur geworden. In diesem Jahr
werden die USA beginnen, Gas aus unkonventionellen
Lagerstätten in die Welt zu exportieren. Nach jetzigem
Stand ist es so, dass sie damit über Jahrzehnte, wenn
nicht über hundert Jahre - das zeigen neueste Untersuchungen - energieunabhängig werden.
Auch wir in Deutschland haben Potenziale. Anfang
der 90er-Jahre haben wir noch ein Viertel unseres Gasbedarfs von rund 100 Milliarden Kubikmeter aus heimischer Förderung gedeckt. Heute sind es nur noch 10 Prozent. Wenn wir uns jetzt anschauen, was wir an
konventionellen Reserven haben, dann erkennen wir: Es
sind gerade mal noch 150 Milliarden Kubikmeter. An
unkonventionellen Potenzialen gibt es in Deutschland
1 300 Milliarden Kubikmeter. Das heißt, wir könnten
13 Jahre eine Vollversorgung aus heimischen Quellen sicherstellen oder den jetzigen Bedarf oder die jetzige Eigenförderung für 130 Jahre gewährleisten. Deshalb sind
wir, glaube ich, gut beraten, nicht von vornherein Technologien und Potenziale auszuschließen, sondern uns die
ganz genau anzuschauen.
({1})
Wie ist die Situation? Es wird davon gesprochen, dass
wir Rechtsunsicherheit hätten. Wir haben im Moment
keine Rechtsunsicherheit. Wir haben ein Bergrecht - das
ist die heutige Rechtslage -, das Fracking sowohl im
konventionellen Bereich als auch im nichtkonventionellen Bereich ermöglicht. Das ist die Situation.
({2})
Alles andere, was behauptet wird, etwa, dass dies ein
Fracking-Ermöglichungs-Gesetz wäre, ist falsch, ist eine
bewusste Falschbehauptung der Linken und der Grünen,
die sie in den Raum stellen, um die Leute in die Irre zu
führen.
({3})
Das Gegenteil ist der Fall.
Mit dem, was jetzt auf dem Tisch liegt, verschärfen
wir massiv die Anforderungen gegenüber dem, was bisherige Rechtslage ist. Was wird entsprechend unternommen? Im konventionellen Bereich, bei der Gewinnung
von Tight Gas, gab es übrigens seit Anfang der 60erJahre - das Fracking in Niedersachsen ist erwähnt worden; der zuständige niedersächsische Wirtschaftsminister ist hier - über 300 Fälle von Fracking. Im Moment ist
festzustellen, dass die Förderung in Niedersachsen zurückgeht, weil auch im Bereich des Tight Gas im Moment keine neuen Vorhaben umgesetzt werden.
({4})
Wir schaffen jetzt Rechtssicherheit im konventionellen Bereich, verbleiben aber nicht beim Status quo. Auch
im konventionellen Bereich wird der Rechtsrahmen erheblich ausgeweitet: Die Ausschlussgebiete werden ausgeweitet. Zukünftig werden bergrechtliche Genehmigungen nur im Einvernehmen mit der Wasserbehörde
erfolgen; die Ministerin hat es angesprochen. Der Wasserschutz ist für uns nicht verhandelbar und hat oberste
Priorität. Deshalb verschärfen wir auch im konventionellen Bereich die geltende Rechtslage, auch was den Umgang mit Lagerstättenwasser, Bergschadensrecht und anderem anbelangt.
Was machen wir jetzt im unkonventionellen Bereich,
im Schiefergasbereich? Da wir, anders als in den USA,
wo nicht nur geforscht wird, sondern das entsprechende
Verfahren großtechnisch angewendet wird - Tausende,
Zehntausende von Fracking-Maßnahmen und -Projekten
sind dort im Gange, ohne dass dort größere Schäden eingetreten sind - ({5})
- Ja, ich war schon dort; es waren auch Grüne dabei. Vor
Ort wollen Sie es dann nicht wahrhaben. Aber wie auch
immer! - Trotzdem sagen wir: Wir wollen in der jetzigen
Situation nicht, dass in Deutschland konventionell gefrackt wird, sondern wir wollen jetzt in Deutschland erproben und die geologischen Formationen untersuchen,
um herauszufinden, ob hier Fracking unbedenklich ist.
Deshalb gibt es hier den Vorschlag, in den nächsten drei
Jahren entsprechende Erprobungsmaßnahmen durchzuführen. Wir als Unionsfraktion können uns vorstellen,
dass wir die Erprobungen in den weiteren Verhandlungen auf bestimmte geologische Schichten und auch auf
eine bestimmte Zahl begrenzen - da sind wir offen, darüber können wir sprechen -,
({6})
damit deutlich wird: Es geht um Erforschung, es geht um
Wissenschaft, es geht darum, im Land der Tüftler und
Denker keine Denkverbote zu erlassen, keine Technologieverbote zu erlassen, sondern mit Maß und Ziel in aller
Ruhe zu erproben, ob Fracking auch im nichtkonventionellen Bereich, also im Schiefergasbereich, in Deutschland unbedenklich und möglich ist.
({7})
Dafür nehmen wir uns die entsprechende Zeit.
Wir begleiten dies mit einer Expertenkommission.
Die Expertenkommission entscheidet aber nicht, ob zukünftig in Deutschland kommerziell Schiefergas gefördert wird oder nicht. Vielmehr begleitet die Expertenkommission den Forschungsprozess der nächsten Jahre.
({8})
Diese Expertenkommission ist, wie die Zusammensetzung zeigt, sicherlich nicht verdächtig, von vornherein
pro Fracking zu sein. Ganz im Gegenteil: Das Umweltbundesamt und andere, die darin vertreten sind, haben
sich schon anders eingelassen. Es sind selbstverständlich
auch die Wasserbehörden und diejenigen, die sich wissenschaftlich damit befassen, mit dabei. Es ist klar, dass
auch die Bergrechtskompetenz darin vertreten sein muss.
Diese Kommission gibt lediglich eine wissenschaftliche
Einschätzung ab, ob die Probebohrungen, ob das Fracking in bestimmten Gesteinsformationen - davon gibt
es in Deutschland verschiedene, deshalb muss man an
verschiedenen Stellen Probebohrungen durchführen unbedenklich sind oder nicht.
Wenn sich dann herausstellen sollte, dass sie unbedenklich sind - wenn sie bedenklich sind, dann wird es
keine kommerziellen Vorhaben geben -, dann treten die
rechtsstaatlichen Regelungen in Kraft. Dann erfolgt ein
normales Genehmigungsverfahren nach Bergrecht, in
Zukunft im Einvernehmen mit den Wasserbehörden, wie
in jedem anderen Planfeststellungsverfahren im Energie-, Rohstoff- oder Verkehrsbereich auch. Das ist kein
Skandal. Im Gegenteil: Das ist das Normalste der Welt.
({9})
Wir nehmen die Bedenken und die Ängste unserer
Bürger ernst.
({10})
Wir nehmen sie ernst, indem wir diesen Ängsten nachgehen, indem wir versuchen, diese Bedenken zu objektivieren. Wenn sich herausstellt, dass Fracking unbedenklich ist, dann kann man mit sachlichen Argumenten
überzeugen.
Ich erwarte von allen hier im Haus, auch von den
Grünen und von den Linken, dass sie sich dem Abwägungsprozess objektiv stellen
({11})
und es akzeptieren, wenn das Ergebnis positiv ausfällt.
Es geht nicht, dass Sie von vornherein, ohne das Ergebnis zu kennen, ohne zu wissen, was erprobt werden soll
und wo erprobt werden soll, sagen: Wir machen das
nicht. - Das machen wir von der Union nicht mit. Wir
nehmen die Befürchtungen der Bürger ernst, aber wir
kanalisieren sie, wir gehen ihnen objektiv nach.
({12})
Erst nachdem die Abwägungen vorgenommen wurden,
kann das normale Genehmigungsverfahren durchgeführt
werden. Deshalb gibt es überhaupt keinen Grund, beim
Thema Fracking so emotional und so unsachlich zu agieren.
Wir freuen uns auf eine konstruktive Beratung in den
Ausschüssen und auf die weitere Diskussion. Wir wollen
Deutschland, auch aus Gründen der Versorgungssicherheit, fit machen.
({13})
Fracking und die unkonventionelle Gasförderung sind
hier eine Möglichkeit, die man mit den erneuerbaren
Energien durchaus sinnvoll kombinieren kann.
Herr Kollege, das hatten Sie schon einmal vorgetragen.
Ob kommerzielles Fracking zugelassen wird - die
Ministerin hat es angesprochen -, hängt neben der Prüfung der Unbedenklichkeit davon ab, ob es sich wirtschaftlich rechnet. Aber dies wissen wir noch nicht, und
deshalb wollen wir es erproben.
Vielen Dank.
({0})
Oliver Krischer ist der nächste Redner für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Pfeiffer, Sie haben zwar immer Grüne und Linke
angesprochen, aber ich habe den Eindruck: Das war eine
Rede an Ihre eigene Fraktion. Denn der Widerstand gegen das Fracking kommt doch aus Wahlkreisen Ihrer
Fraktion.
({0})
Wenn ich in unserem Land unterwegs bin, dann erlebe
ich, dass schwarze Bürgermeister bei ihrem Widerstand
gegen Fracking sogar kritischer als die Greenpeace-Aktivisten sind und diese links überholen.
({1})
Sie müssen in Ihre eigenen Reihen gucken. Tun Sie nicht
so, als sei das ein Problem der Opposition!
Fracking ist eine Risikotechnologie, die eine unserer
wichtigsten natürlichen Ressourcen, unser Trinkwasser,
in unverantwortlicher Weise gefährdet.
({2})
In den USA - das ist schon mehrfach angesprochen worden - kann sich jeder und jede ansehen, zu welchen Umweltzerstörungen Fracking führt. Man muss kein Prophet sein, um festzustellen, dass die USA diesen
kurzfristigen Gasboom noch teuer bezahlen werden,
dass sie im wörtlichen Sinne den Giftmix ausbaden oder
im schlimmsten Falle sogar austrinken müssen. Das geht
zulasten der nachfolgenden Generationen. Das wollen
wir in Deutschland und in Europa nicht.
({3})
Fracking ist die neue Eskalationsstufe der fossilen
Energiegewinnung.
({4})
Auch wegen der miesen Klimabilanz ist es keine Option
für eine nachhaltige Energieversorgung. Das ist die
Rolle rückwärts ins fossile Zeitalter. Wir brauchen keine
Investitionen in Fracking, wir brauchen Investitionen in
erneuerbare Energien und Energieeffizienz.
({5})
Nun könnte man denken, dass im Energiewendeland
Deutschland diese Entscheidung klar ausfällt und dass
man, wie es die Umweltministerin selber sagt, keine Investitionen mehr in fossile Energiegewinnung braucht,
die nicht zukunftsfähig ist. Aber was passiert? Sigmar
Gabriel und Frau Hendricks legen hier einen Entwurf für
ein Fracking-Ermöglichungs-Gesetz vor, durch das auf
mindestens zwei Drittel der Landesfläche Fracking zugelassen wird, durch das sogar erlaubt wird, unter Nationalparks und Naturschutzgebieten zu fracken. Das ist
kein Fracking-Verbot, Frau Hendricks, sondern das exakte Gegenteil.
({6})
Ich sage Ihnen: Es ist doch ein Treppenwitz, dass
Sigmar Gabriel und die Bundesregierung die Biogasbranche aus dem Land treiben, aber dem Giftcocktail
von Exxon Mobil die Tür öffnen, sodass er zur Gasgewinnung in den Untergrund gepresst werden kann. Das
ist nicht nachhaltig. Das ist nicht zukunftsfähig.
({7})
Wenn hier immer auf das Ausland verwiesen wird,
dann muss man einmal in das europäische Ausland
schauen. Seit Jahren versucht Polen, Fracking zu ermöglichen. Was ist das Ergebnis? In Polen gibt es bis heute
keine einzige kommerzielle Fracking-Bohrung. Nirgendwo in Europa wird bisher Fracking durchgeführt.
Die Mehrzahl der Staaten hat entschieden, dass das
keine Zukunftsoption ist, auch deshalb, weil die geologischen Verhältnisse in Europa andere sind als in den
USA. Auch die Ansichten der Bevölkerung und die naturräumlichen Gegebenheiten sind anders. Das Vorgehen
in den USA kann für uns daher kein Modell sein.
({8})
Der allergrößte Witz war ja, was wir eben von Frau
Hendricks gehört haben. Sie haben das tatsächlich wiederholt. Ich hatte ja gedacht, Sie hätten sich da einmal
versprochen, aber Sie haben hier jetzt wieder gesagt:
Fracking ist energiepolitisch bedeutungslos.
({9})
Warum beschäftigen Sie uns dann mit diesem Unsinn?
Warum machen Sie das dann?
({10})
Sagen Sie als Umweltministerin doch einfach Nein zum
Fracking.
Ehrlich gesagt, eine Aussage - auch diese haben Sie
jetzt wiederholt - haut mich wirklich vom Stuhl. Sie als
Umweltministerin sagen: Wir müssen das Fracking-Ermöglichungs-Gesetz machen, weil Konzerne sonst klagen können. - Dass sich eine Umweltministerin in
Deutschland danach richtet und die Gesetze so gemacht
werden, dass die Konzerne nicht dagegen klagen können, ist doch ein Skandal. Das ist der Vorgriff auf die
Konzernjustiz von TTIP und CETA, die Sie im vorauseilenden Gehorsam einführen wollen.
({11})
Wenn Fracking keine Bedeutung hat und die Menschen im Land es nicht wollen - in den Kommunen haben wir überall dort, wo es ein Thema ist, einstimmige
ablehnende Resolutionen über alle Parteigrenzen hinweg -,
dann frage ich mich: Warum tragen Sie mit diesem Gesetz die Konflikte in die Regionen? Warum tun Sie das?
Ist Deutschland so arm an energiepolitischen Konflikten,
dass wir Kapazitäten und Langeweile haben, um uns in
den Regionen auch noch damit auseinanderzusetzen, ob
Fracking zugelassen wird? Wir haben viel Wichtigeres
zu tun und viel größere Probleme zu lösen.
({12})
Ich sage Ihnen: Die Bundesländer - darauf ist schon
hingewiesen worden - haben mit großer Mehrheit begriffen, worum es an dieser Stelle geht. Das sieht man,
wenn man die Anträge im Bundesrat betrachtet.
Hannelore Kraft, Horst Seehofer, Winfried Kretschmann
und Bodo Ramelow sind nun wirklich Ministerpräsidenten unterschiedlichsten Typs, aber in einem sind sie sich
völlig einig. Sie sagen klipp und klar: Wir wollen kein
Fracking. Ich sage Ihnen: Wenn diese Ministerpräsidenten unterschiedlichsten Typs dies so klar sagen, dann folgen Sie dem. Lassen Sie sich nicht auf diesen unsinnigen
und blödsinnigen Konflikt ein, mit dem Sie Fracking ins
Land tragen. Das kann doch nicht sein.
({13})
Eines will ich Ihnen auch sagen - gleich wird ja Herr
Mattfeldt reden -: Wenn ich vor Ort unterwegs bin, erlebe ich immer wieder, dass CDU-Abgeordnete die
größten Kritiker auf den Podien sind; die überholen
Greenpeace noch links auf der ökologischen Seite. Es
geht nicht an, dass man in den Wahlkreisen vor Ort sagt,
dass man Fracking ablehnt, hier aber am Ende die Position von Herrn Pfeiffer - er hat hier eine Fracking-Jubelrede gehalten - beschlossen wird. Wir werden sehr genau darauf schauen, was Sie an dieser Stelle machen. Es
kann nicht sein, dass Sie sich in den Wahlkreisen dagegen aussprechen, aber hier in Berlin ein Fracking-Ermöglichungs-Gesetz machen.
({14})
Sie haben jetzt die Aufgabe, Ihren Ankündigungen
hier in Berlin und vor Ort Taten folgen zu lassen und aus
diesem Fracking-Ermöglichungs-Gesetz von Sigmar
Gabriel und Barbara Hendricks ein Fracking-Verbot zu
machen. Das ist Ihr Job. Da müssen Sie liefern. Wenn
Sie diesen Weg gehen - das kann ich Ihnen sagen -,
dann werden wir uns konstruktiv daran beteiligen. Da
werden wir Sie unterstützen.
Herr Kollege.
Wenn Sie das aber nur einfach so durchwinken, wie
Herr Pfeiffer es hier ankündigt, dann können Sie mit unserem härtesten Widerstand rechnen.
Danke schön.
({0})
Nächster Redner ist der Landesminister Olaf Lies. Bitte schön.
({0})
Olaf Lies, Minister ({1}):
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Heute steht ein Thema mit großer öffentlicher
Diskussion auf der Tagesordnung. Lassen Sie mich da9788
Minister Olaf Lies ({2})
her in fünf Punkten die Position des Landes Niedersachsen dazu deutlich machen.
Erstens. Die kritische öffentliche Debatte, die wir haben, ist gut, weil sie Öffentlichkeit und Politik natürlich
zwingt, genau hinzusehen, welche Technologien in
Deutschland angewendet werden können, welche Risiken bestehen und wie man verhindert, dass Gefahren für
Mensch und Umwelt, insbesondere natürlich für das
Trinkwasser, entstehen. Aber, meine Damen und Herren,
es geht auch um die Verantwortung für den Technologieund Industriestandort Deutschland, über den wir hier
heute reden. Themen wie Trink- und Grundwasserschutz, Natur- und Landschaftsschutz und Erhalt der Lebensqualität der Bürgerinnen und Bürger stehen für uns
als Landesregierung in Niedersachsen auf einer Stufe
mit den Interessen der Rohstoffgewinnung aus heimischen Lagerstätten.
({3})
Vor diesem Hintergrund ist es unverzichtbar, die rechtlichen Rahmenbedingungen weiterzuentwickeln und die
Bürgerinnen und Bürger auch von der Beherrschbarkeit
der Risiken bei der Erdöl- und Erdgasgewinnung zu
überzeugen.
({4})
Niedersachsen ist nicht nur mit Blick auf die Windenergie das Energieland Nummer eins. 95 Prozent des
Erdgases aus deutscher Förderung kommen aus Niedersachsen, und rund ein Drittel der deutschen Erdölförderung findet in Niedersachsen statt. Das Erdgas aus
Niedersachsen deckt immerhin rund 10 Prozent des bundesdeutschen Gesamtbedarfs. Niedersachsen ist also
auch Erdgasland Nummer eins. Deswegen, meine Damen und Herren: Wir haben seit drei Jahren ein freiwilliges Moratorium der Förderunternehmen. Das ist keine
Grundlage für die Zukunft. Wir brauchen jetzt eine
rechtliche Absicherung im Hinblick auf die Verlässlichkeit des Schutzes von Umwelt und Natur, aber auch im
Hinblick auf die Verlässlichkeit für die Industrie in
Deutschland.
({5})
Übrigens, meine Damen und Herren: Das hat auch etwas mit Beschäftigung zu tun. Heute haben wir gehört:
Es droht die Entlassung von 200 Fachkräften in diesem
Bereich in Celle. Da geht es nicht nur um Arbeitsplätze,
sondern auch um Know-how in unserem Land,
({6})
um die technologische Weiterentwicklung in Deutschland voranzutreiben.
({7})
Wichtig ist für uns, auch und gerade in Niedersachsen, die Unterscheidung zwischen der Förderung aus
konventionellen Lagerstätten und aus unkonventionellen
Lagerstätten. „Konventionelle Lagerstätte“ heißt jahrzehntelange Erfahrung in Niedersachsen. „Unkonventionelle Lagerstätte“ heißt, es gibt keine Erfahrungen, die
eine Grundlage sind, um an diesem Thema in Niedersachsen weiterzuarbeiten. Es ist wichtig, auch an einer
anderen Stelle zu unterscheiden: Für das eine - davon
sind wir überzeugt - können wir eine Akzeptanz schaffen, weil man es kennt und weil es in der Frage der konventionellen Erdgasförderung Verlässlichkeit gibt, während es bei dem anderen große Vorbehalte gibt. Die
Trennung der beiden Themen sorgt dafür, dass wir in
Niedersachsen eine gute Grundlage haben, die Förderung von Erdgas aus konventionellen Lagerstätten fortzusetzen.
({8})
Ich komme zum zweiten Punkt, nämlich: Warum wird
Erdgasförderung in Deutschland gebraucht? Die Energiewende ist das Ziel in Deutschland, die Energiewende
ist das Ziel in Niedersachsen. Aber ohne fossile Energieträger wird uns dieser Übergang nicht gelingen.
({9})
Daher ist auch Erdgas eine ganz wichtige Brücke zur Erreichung der Ziele, die wir uns für 2050 vorgenommen
haben.
({10})
Angesichts dieser Ausgangslage stellt sich aber unweigerlich die Frage: Wie können wir die Erdgasversorgung in Deutschland langfristig sicherstellen? Geopolitische Stresstests, die Ukraine- und die Russland-Krise
zeigen uns die aktuelle Situation. Die Erdgasimporte aus
den Förderländern Norwegen und Niederlande gehen zurück. Meine sehr verehrten Damen und Herren, der Import von Gas befreit uns nicht von der Debatte, auf welchen Grundlagen, auch hinsichtlich des Schutzes von
Natur und Mensch, dort Erdgas gefördert wird. Auch da
stehen wir in der Verantwortung. Wir können dies nicht
einfach abspeisen und sagen: Wir importieren nur das
notwendige Erdgas.
({11})
Diese Umweltstandards können wir hier in Deutschland erarbeiten. Wir können Vorreiter im Bereich der
Umweltstandards bei der Förderung von Erdgas sein.
Diese können wir dann auf andere Länder übertragen.
Damit schaffen wir es, die Erdgasförderung insgesamt
sicherer zu machen und einen anderen Standard zu
schaffen.
Ein Weiter-so - das ist Punkt drei - kann es nicht geben. Die Kernforderungen unserer Landesregierung sind
deutlich. Wir haben an verschiedenen Stellen über Bundesratsinitiativen, aber, wie ich glaube, auch mit viel Zuarbeit berg-, wasser- und naturschutzrechtliche Bestimmungen auf den Weg gebracht. Es steckt also ganz viel
Erfahrung aus Niedersachsen - 95 Prozent der Erdgasförderung finden in Niedersachsen statt - in den aus meiner Sicht ausgewogenen Gesetzentwürfen.
Ein paar wichtige Eckpunkte: Technisch und wirtschaftlich gewinnbare Erdgaspotenziale liegen in Niedersachsen in tief liegenden geologischen SandsteinlaMinister Olaf Lies ({12})
gerschichten. Genau darum geht es: Dort ist der Einsatz
der Frack-Technologie in den letzten 30 Jahren 300-mal
durchgeführt und auch ausgewertet worden. Es liegt also
Erfahrung vor. Die Aussage, es gebe keine Erfahrung
und es komme zu einer Verunreinigung des Trinkwassers, stimmt an dieser Stelle nicht. Insofern müssen wir
zumindest eine offene und ehrliche Debatte darüber führen.
({13})
Deswegen, meine Damen und Herren, muss Erdgasförderung aus diesen konventionellen Lagerstätten weiter möglich sein, aber - anders als bisher - unter der Berücksichtigung sehr viel strengerer Umweltauflagen und
unter Durchführung maximaler transparenter Genehmigungsverfahren, also von Planfeststellungsverfahren mit
Umweltverträglichkeitsprüfung, wie wir es auch von anderen Verfahren kennen. Das ist auch hier dringend notwendig.
Klar ist dabei auch: Zurückgeförderte Frack-Flüssigkeiten sind aufzubereiten, sie dürfen nicht versenkt
werden. Die Versenkung von Lagerstättenwasser darf
nur in den ehemaligen Förderhorizonten und auch da
erst nach Planfeststellungsverfahren und Umweltverträglichkeitsprüfung unter Einbindung der zuständigen
Wasserbehörden - all das spielt eine Rolle - erfolgen.
Wasserschutzgebiete, Heilquellenschutzgebiete, Trinkund Mineralwassergewinnungsgebiete stehen für eine
bergbauliche Nutzung, also Fracking- oder Lagerstättenwasserverpressung, nicht zur Verfügung; dies als klare
Aussage.
Abschließend: Das Bergschadensrecht ist zu novellieren. Die Umkehr der Beweislast ist unabdingbar. Das
schafft auch wieder ein Stück weit mehr Vertrauen in die
heimische Erdgasförderung. Das ist wichtig für eine Akzeptanz in Deutschland.
Deswegen der Punkt vier: Die Entscheidungen sind
jetzt notwendig, und ich bin dankbar für die intensive
Diskussion. Wenn wir nicht handeln, läuft das Moratorium aus. Dann gelten die alten Bedingungen, das heißt:
ein Anspruch auf Erdgasförderung, ein Anspruch auf
Fracking. Das muss allen Beteiligten klar sein, die sich
hier kritisch zu diesem Gesetzentwurf äußern.
({14})
Allein in Niedersachsen sind es 20 000 Fachkräfte,
die wir brauchen, die wir dringend erhalten müssen, damit wir neue Technologien entwickeln können. Deswegen dürfen wir kein generelles Technologieverbot haben.
Die weitreichende Ausweitung von Ausschlussgebieten
sowie die Einführung von unverhältnismäßigen Prüfmaßstäben wie dem Besorgnisgrundsatz erhöhen nicht
das Schutzniveau, sondern führen dazu, dass es ein kurzfristiges Ende der Erdgasproduktion in Deutschland innerhalb der nächsten fünf Jahre gibt. Damit geht ein
Wegbrechen der Fachkräfte und der Fachkompetenz in
unserem Land einher.
Deswegen komme ich abschließend zum Punkt fünf:
Es ist keine einfache, aber eine dringend notwendige
Entscheidung. Es ist, glaube ich, für die öffentliche Diskussion wichtig. Daher sage ich es noch einmal: Mit
dem vorliegenden Gesetzentwurf ermöglichen wir nicht
neue Wege der Erdgasförderung oder des Frackings,
({15})
sondern wir sorgen mit diesem Gesetzentwurf dafür,
dass wir es begrenzen, dass wir es auf die Bereiche reduzieren, bei denen wir es für umweltverträglich und auch
für zulässig halten.
({16})
Das ist der entscheidende Grundsatz dieses Gesetzentwurfs, den wir an dieser Stelle dringend brauchen.
Lassen Sie uns deswegen diesen Weg gemeinsam gehen: Sicherung einer verantwortungsvollen Energieversorgung, umfassender Umwelt- und Trinkwasserschutz,
transparente Bürgerbeteiligung genauso wie die Sicherung des Technologiestandorts Deutschland und der Arbeitsplätze, Chancen für die Industrie zur Entwicklung
umweltschonender Verfahren.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die heutige
Diskussion ist keine Diskussion allein über die Frage
von Erdgasförderung oder Fracking, sondern es geht
auch um die Frage, ob wir in Deutschland bereit sind,
Technologien anzuwenden und weiterzuentwickeln, oder
ob es in Deutschland in Zukunft die Entwicklung neuer
Technologien nicht mehr gibt.
Ich bin mir sicher: Mit dem Gesetzentwurf schaffen
wir es, den Schutz von Mensch und Natur mit einer sicheren Erdgasgewinnung in Einklang zu bringen.
Herzlichen Dank.
({17})
Eva Bulling-Schröter ist die nächste Rednerin für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Fähigkeit, das Wort „nein“ auszusprechen, ist
der erste Schritt zur Freiheit.
Das Zitat stammt aus der Zeit der Aufklärung in Frankreich.
({0})
Was hat Fracking mit Freiheit und Frankreich zu tun?
Die Linke ist so frei und aufgeklärt, zum Fracking-Ermöglichungs-Gesetz Nein zu sagen,
({1})
aus vernünftigen Gründen im Sinne des Allgemeinwohls, nicht im Sonderinteresse von US-Fracking-Firmen wie Chevron und Exxon, für die die Bundesregierung ein Türöffnergesetz plant, sondern im Interesse der
Bürgerinnen und Bürger.
Ihr Genosse in Paris, Frau Hendricks und Herr
Gabriel, Frankreichs Präsident Hollande, war im Übrigen auch so frei: Hollande hat Nein gesagt zu Fracking,
und Frankreichs Verfassungsgericht hat das Verbot
jüngst bestätigt.
({2})
Wir brauchen auch in Deutschland kein Fracking. Es
macht keinen Sinn, weder energie- noch klima- oder umweltpolitisch. Wir setzen wirklich auf die Energiewende,
auf Wind und Sonne, nicht auf neue Öl- und Gasförderung mit riesigen Methanemissionen und zerstörter Umwelt.
Wenn wir heute über Fracking-Technologie sprechen,
dann auch über die Freiheit des Marktes, die Natur aufzureißen - das bedeutet nämlich Fracking. Wir sprechen
darüber, wie unfrei die Gesellschaft geworden ist, Nein
zu Gas, Kohle und Öl sagen zu können. Der Widerstand
gegen die Klimaabgabe für alte Braunkohlekraftwerke
zeigt das in aller Klarheit.
Natürlich geht es um Interessen großer Energieunternehmen. Fünf der sechs umsatzstärksten Unternehmen
der Welt sind schließlich Energieunternehmen.
({3})
Jetzt sprechen wir einmal über Demokratie und darüber, wie Politik gemacht wird.
({4})
Viele Bürgerinnen und Bürger können die Fracking-Debatte wegen des hohen fachlichen Niveaus nur schwer
nachvollziehen. Die Skepsis gegenüber dem Expertentum ist groß, und das Vertrauen in Gutachten von Forschungsinstituten, die oft Verbindungen in die Wirtschaft
haben, schwindet - und damit das Vertrauen in die Demokratie, die auf verlässliches Wissen angewiesen ist.
Das wissen Sie ja auch.
Schauen Sie sich die Expertenkommission an, die
über Fracking-Vorhaben entscheiden soll. Diese Expertenkommission hat eine personelle Schlagseite. Fast alle
Mitglieder sind Fracking-Befürworter; nicht ein Mitglied kommt aus der Zivilgesellschaft. In einem Gremium, das keiner von uns gewählt hat, gilt das Mehrheitsprinzip. Wir brauchen aber die direkte Entscheidung
der Betroffenen vor Ort.
({5})
Wenn Tausende Nein sagen, dann muss das auch gelten.
So funktioniert nämlich Demokratie.
Auch die Art und Weise, wie die Bundesregierung
Gesetzentwürfe in die Öffentlichkeit bringt, schadet dem
Vertrauen in die Demokratie. Fracking soll durch die
Täuschung, man wolle ihm einen Riegel vorschieben,
eingeführt werden. Öl und Gas werden gegenüber dem
geltenden Recht aber neue Privilegien verschafft.
Jetzt komme ich zu den Beispielen.
Trinkwasser und Gesundheit haben für uns absoluten Vorrang.
So steht es im Koalitionsvertrag auf Seite 44 zum Fracking. Es gelte der „Besorgnisgrundsatz des Wasserhaushaltsgesetzes“. Das klingt super.
({6})
Wir haben aber nicht nur Trinkwasser, sondern auch
Grundwasser. Wasser wird nicht nur als Trinkwasser genutzt, sondern auch für Lebensmittel, für Tiere und für
Getränke entnommen. Auch dieses Wasser ist vom Fracking bedroht. Das gilt auch für das Wasser für das bayerische Bier, liebe Kolleginnen und Kollegen von der
CSU,
({7})
und natürlich brauchen wir auch anständige Heilquellen auch in Bayern. Das wissen Sie doch.
Der Besorgnisgrundsatz gilt zwar uneingeschränkt,
die Große Koalition spricht aber nur vom Trinkwasser,
weicht den Besorgnisgrundsatz hinterrücks auf und
schaufelt Fracking den Weg frei. Auch das Bergrecht
bleibt fracking-freundlich. Die Unternehmen haben einen
Rechtsanspruch auf Aufsuchung und Betriebszulassung.
Die Rohstoffsicherungsklausel bleibt, womit ganze Dörfer dem Bergbau weichen müssen.
Darum frage ich: Wollen wir einer Fördermethode,
die wir als Risikotechnologie identifiziert haben, die Tür
öffnen? Ja oder nein?
({8})
Ein Nein zur rechten Zeit erspart viel Widerwärtigkeit.
({9})
Das hat übrigens auch Exxon-Chef Rex Tillerson erkannt. Jetzt hört gut zu: Der Millionär hat 2014 zur Fracking-Wasserentnahme in der Nähe seiner Villa Nein gesagt - zusammen mit dem Republikanerführer Armey,
der plötzlich selbst betroffen war. Wenn man selbst betroffen ist, wird es plötzlich ganz anders.
Wir alle wissen es doch: Einmal genehmigt, ist ein
Zurück schwierig. Das wissen auch die Wählerinnen und
Wähler - Stichworte: TTIP und Investitionsschutzklagen.
Wir Linken sagen Nein. Darum haben wir einen Antrag für ein ausnahmsloses gesetzliches Verbot von Fracking vorgelegt - ohne Hintertürchen. Also: Nein!
({10})
Ich erlaube mir den Hinweis, dass wir uns aus guten
Gründen darauf verständigt haben, dass im Plenum möglichst argumentiert und nicht demonstriert wird. Mein
persönlicher Eindruck ist auch, dass das, was vorgetragen wurde, durch anschließend hochgehaltene Plakate
nicht an Wirkung gewinnt.
({0})
Nächster Redner ist der Kollege Georg Nüßlein für
die CDU/CSU-Fraktion.
({1})
Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Für die
Union hat der Schutz von Mensch, Trinkwasser und Umwelt oberste Priorität. Ich nehme mir heraus, zu sagen,
dass das genauso für die Kolleginnen und Kollegen der
SPD gilt. Es ist natürlich das gute Recht der Opposition,
das in Zweifel zu ziehen. Nur, Frau Bulling-Schröter,
was gar nicht geht, ist, die Tatsachen so zu verdrehen,
wie ich es gerade bei Ihnen erlebt habe. Sie tun so, als ob
Fracking in Deutschland bislang verboten wäre und wir
es nun erlauben wollten. Das ist falsch; das sage ich Ihnen ganz offen. Das lassen wir Ihnen auch nicht durchgehen.
({0})
Sie müssen doch konstatieren, dass in Deutschland seit
Jahren bzw. sogar seit Jahrzehnten gefrackt wird. Das zu
regeln, das in geordnete, umweltschutzgerechte Bahnen
zu lenken, ist das Anliegen der Gesetze, über deren Entwürfe wir heute in erster Lesung beraten, und nichts anderes.
({1})
Seit Jahrzehnten wird in Deutschland, wie gesagt, gefrackt. Es wird zwischen konventionellem Fracking und
unkonventionellem Fracking unterschieden. Ich will das
mit Blick darauf, dass viele diese Debatte verfolgen, erklären. Das konventionelle Fracking findet dort statt, wo
sich Gasblasen unter festem Gestein angesammelt haben. Diese Blasen werden angebohrt, und das Gas steigt
aufgrund des eigenen Drucks auf. Wenn dieser Druck
nachlässt, wird gefrackt, um weiteres Gas zu fördern.
Das ist seit den 60er-Jahren gängige Praxis in Deutschland.
Nun kommt eine Technologie hinzu, über die zu
Recht heftig diskutiert wird. Beim unkonventionellen
Fracking wird versucht, das im Muttergestein oberflächennah gebundene Gas durch Sprengen des Gesteins
und hydraulischen Druck zu fördern. Über dieses Thema
reden wir nun. Ich will deutlich unterstreichen: Die Diskussion über das unkonventionelle Fracking hat bei uns
allen den Blick auf Probleme des konventionellen Frackings geschärft. Ich danke ausdrücklich all den Kolleginnen und Kollegen - auch in meiner Fraktion -, die
über dieses Thema kontrovers diskutieren, die sich mit
eigenen Erfahrungen aus den Wahlkreisen einbringen
und die sich konstruktiv, aber auch kritisch beteiligen.
Ihnen sage ich: Sie haben viel erreicht für eine umweltschonende Rohstoffförderung, die, wie Staatsminister
Lies beschrieben hat, immerhin 12 Prozent des Erdgasverbrauchs in Deutschland deckt. Tatsächlich erreichen
wir aber nur dann viel, wenn es uns nun gelingt, die vorliegenden Gesetzentwürfe durch die parlamentarischen
Beratungen zu bringen. Dann kommen die UVP und die
geforderten Ausschlussgebiete.
Eine Anmerkung am Rande: Selbst die ganz kritischen Geister in Bayern haben inmitten der Diskussion
plötzlich bemerkt, dass dann, wenn man Fracking komplett verbietet, beispielsweise die Heilquellen vor Ort
versiegen werden; denn auch in diesen Fällen ist man auf
Fracking angewiesen, um wieder an Wasser zu kommen.
({2})
Dass wir bei den Wasserthemen auch die Brauereien berücksichtigt haben, zeigt, wie umfassend und weitgehend wir das alles regeln. Wir behalten in diesem Zusammenhang alle Themen im Blick.
Wir werden zudem das Bergschadensrecht und die
Regelungen betreffend das Lagerstättenwasser verschärfen. Sicherlich wird es noch manche Diskussion - auch
in meiner Fraktion - über die Frage geben, wie das ausgestaltet werden soll. Aber das ist legitim. Solche Diskussionen werden im Rahmen des parlamentarischen
Verfahrens geführt werden. Das ist auch gut so.
({3})
Wir werden hier zu guten Lösungen kommen.
Ich möchte unterstreichen: Für das unkonventionelle
Fracking gilt das von allen geforderte klare Verbot, allerdings unter Erlaubnisvorbehalt.
({4})
- Zuhören hilft Ihnen! Ob es etwas verändert, ob Sie es
nachvollziehen können, ist eine andere Frage.
Wir verbieten - wie von Ihnen gefordert - das, weil es
keinerlei Erfahrungen und möglicherweise Risiken gibt.
Wenn man diese Begründung ernst nimmt, dann bedeutet das: Sobald man Erfahrungen gemacht hat und zu
dem Ergebnis gekommen ist, dass Risiken auszuschließen oder zumindest beherrschbar sind, muss es möglich
sein, eine solche Technologie anzuwenden. Deshalb besteht der erwähnte Erlaubnisvorbehalt.
Ich möchte hier den beiden SPD-geführten Häusern
für diesen klugen Vorschlag ausdrücklich danken.
({5})
Eine Expertenkommission einzusetzen, die gut und mit
dies durchaus kritisch sehenden Persönlichkeiten besetzt
ist, das Who’s who der Geo- und Wasserwissenschaft, ist
sachlogisch. Ich möchte noch einmal deutlich unterstreichen: Sie genehmigen nichts, sondern begutachten nur
die Versuchsbohrungen. Sie liefern die Eintrittskarte für
ein weiteres Verfahren. Sie ersetzen kein Genehmigungsverfahren. Wenn sie zu einem Ergebnis kommen, dann
sind die Berg- und Wasserbehörden der Länder gefragt.
Das ist ein ganz normales Verfahren.
Lassen Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Bülow
zu?
Ja, gern.
({0})
Geschätzter Herr Nüßlein, ich freue mich sehr, dass
wir jetzt über den Entwurf diskutieren, der von den Häusern gekommen ist, und dass Sie die Problematik des Lagerstättenwassers als diskutabel eingeordnet haben.
Herr Pfeiffer hat die Bedeutung der Expertenkommission so hervorgehoben. Mich würde interessieren, ob wir
damit rechnen können, mit der Union auch noch einmal
über die Expertenkommission zu reden. Ich glaube immer noch, dass wir im Bundestag am besten über diese
Dinge entscheiden können und keine Expertenkommission brauchen.
({0})
Es ist in Ordnung, dass die Experten uns beraten, aber
nicht, dass sie letztendlich entscheiden. Ich würde mich
freuen, wenn Sie die Position der Union diesbezüglich
darlegen würden. Wahrscheinlich gibt es auch dazu wieder zwei oder drei Positionen. Trauen Sie sich zu, diese
Expertise selber darzustellen?
Danke schön.
Ich bin der Überzeugung, dass wir im Deutschen
Bundestag nicht die besseren Experten sind, sondern
dass es sinnvoll ist, sich wissenschaftliche Expertise zu
holen. Die Experten können wir im Bundestag schwer
ersetzen. Was wollen Sie denn dann ersetzen? Das anschließende Genehmigungsverfahren?
({0})
Soll am Schluss der Deutsche Bundestag genehmigen
und die Landesbehörden, die Fachbehörden ersetzen und
vor Ort im Wahlkreis X oder Y Maßnahmen genehmigen? Ich glaube nicht, dass wir uns dazu degradieren
sollten. Wir machen den gesetzlichen Rahmen, meine
Damen und Herren.
({1})
Dann wird er so, wie es sich gehört, ausgefüllt. Das sieht
dieses Gesetz an dieser Stelle vor. Deshalb habe ich gesagt: Es ist ein kluger Vorbehalt, der nicht wieder zu den
angstgeleiteten Diskussionen führt: Soll man oder soll
man nicht? Auch die Industrie kann sich dann darauf
verlassen, dass dann, wenn die Experten zu dem Ergebnis kommen, dass es keine Bedenken gibt,
({2})
ein Rechtsweg beschritten wird, der in die Richtung
geht, dass wir die Technologie anwenden.
Ich sage auch denen, meine Damen und Herren, die
kritisch sind und sagen, dass die Risiken zu groß und unbeherrschbar sind: Wenn das so ist, dann wird doch niemals eine so besetzte Expertenkommission, wie es das
Umweltministerium vorschlägt,
({3})
zu dem Ergebnis kommen, dass man das in Deutschland
anwenden kann. Dann ist das ausgeschlossen. Dann ist
dieses Verbot so absolut, wie es die einen oder anderen
auch aus unseren Reihen wollen.
({4})
Deshalb glaube ich schon, dass es richtig ist, dass wir
konzentriert an diesem Gesetz weiterarbeiten und dafür
Sorge tragen, dass insbesondere die Verbesserungen, die
im Bereich des konventionellen Fracking angedacht
sind, am Schluss auch so kommen. Das ist ganz entscheidend. Wir erreichen nichts, wenn wir wieder an der
gleichen Stelle steckenbleiben wie in der letzten Legislatur, wo die Verdrehung der Tatsachen - man hat uns auch
da schon angehängt, wir würden ein Fracking-Ermöglichungs-Gesetz machen -, genau dazu geführt hat, dass
es diese Verbesserungen nicht gegeben hat.
Die Mehrheit der kritischen Geister in unseren Reihen
beschäftigt sich im Übrigen mit Themen, die mit dem
konventionellen, dem praktizierten Fracking zusammenhängen.
Herr Kollege Nüßlein, auch Frau Höhn möchte gerne
Ihre Redezeit verlängern. Sind Sie damit einverstanden?
Okay, herzlich gern.
Herr Kollege Nüßlein, können Sie bestätigen, dass die
Experten hinsichtlich der Wasserfrage bei der Asse gesagt haben, die Asse sei absolut sicher und Radioaktivität würde nicht ins Wasser gelangen, und zwar für 1 Million Jahre nicht, dies aber trotzdem nach 20 Jahren
passiert ist? Können Sie genauso bestätigen, dass die
Experten gesagt haben, dass das PCB-belastete HydrauBärbel Höhn
liköl ruhig in den Bergwerken bleiben könne, weil das
nie und nimmer ins Wasser gelange, wir jetzt aber, nach
10, 15 Jahren, PCB im Wasser finden? Können Sie das
bestätigen? Können Sie bestätigen, dass Experten zu genau diesen Auffassungen gelangt sind?
({0})
Frau Kollegin Höhn, was wollen Sie mir mit dieser
Frage mitteilen? Dass man sich auf den Rat von Experten nicht verlassen kann,
({0})
dass wir ersatzweise lieber alles selbst regeln sollten und
man vorsichtshalber alles verbieten sollte, was man verbieten kann?
({1})
Das entspräche nicht der sinnvollen Politik, die diese
Koalition in Verantwortung für die Umwelt in Deutschland auf der einen Seite und für die Wirtschaft in
Deutschland auf der anderen Seite macht.
({2})
Ich will ganz deutlich sagen, dass die Expertenkommission und das Verbot unter Erlaubnisvorbehalt der
Kern dieses Gesetzentwurfs sind. Ich glaube, wir sollten
stolz darauf sein, dass wir mit diesem Gesetz einen Weg
finden, der von Angst und Populismus wegführt
({3})
und dafür sorgt, dass in Deutschland auch in Zukunft
neue technische Möglichkeiten ernsthaft erforscht werden können und sich die Industrie daran verlässlich beteiligen kann.
Ich will deutlich machen, dass der heimische Beitrag
zur Rohstoffversorgung durchaus beachtlich ist: 12 Prozent unseres Gasbedarfs. Wenn hier jemand sagt, Fracking sei im Zusammenhang mit der Energiewende unnötig, sage ich dazu - zumindest stelle ich das fest -, dass
die Konzepte aus dem Bundeswirtschaftsministerium,
die ich bisher zur Kenntnis genommen habe, zeigen,
dass man ganz massiv auf Gas setzt, und zwar als Ersatzund Regelenergie. Die Behauptung, man brauche für die
Umstellung, für die Energiewende kein Gas, ist aus meiner Sicht komplett falsch. Das ist zu kurz gedacht.
Wer nicht will, dass in Deutschland geforscht wird,
den nenne ich schon immer einen Ökokolonialisten. Er
sagt: Bei uns nicht; sollen das doch andere bei sich zu
Hause machen; die haben nicht so eine Umwelt, nicht so
eine Natur. - Deutschland muss doch Vorbild sein und
einen anderen Weg gehen. Wir müssen Techniken und
Wege finden, um solche Vorkommen zu erschließen,
ohne die Umwelt dabei zu beschädigen, ohne dass solche Schwierigkeiten entstehen, die wir in anderen Ländern sehen.
Man kann in Deutschland nicht einfach eine Technologie pauschal verbieten.
({4})
Es geht um den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Das sage nicht ich, sondern das sagte Bundesumweltministerin Hendricks laut einer dpa-Meldung vom 1. April
2015.
({5})
Damit hat sie absolut recht. Wir können das nicht pauschal verbieten. Deshalb gehen wir sehr klug vor. Wir
stellen sicher, dass Umwelt und Natur geschützt sind,
aber auch, dass weltweit Rohstoffvorkommen in Zukunft verantwortungsbewusst erschlossen werden können.
Ich bitte Sie herzlich um eine sachliche Diskussion
und um Unterstützung des bisher Erreichten.
Vielen herzlichen Dank.
({6})
Julia Verlinden erhält nun das Wort für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Fracking ist riskant für Umwelt und
Gesundheit, und es ist nicht nötig, wie wir hier heute
schon mehrfach gehört haben.
({0})
Trotzdem will die Bundesregierung es erlauben. Fracking bedeutet Gift in den Böden, Gift im Wasser und
Gift für die Atmosphäre. Sie kennen die Berichte aus
den USA über Erdbeben, entweichendes Methan und
verdrecktes Wasser. Das sind Probleme des fossilen Zeitalters. Diese Epoche müssen wir schnellstmöglich beenden.
({1})
Das können wir, weil die Alternativen zur Verfügung
stehen. Fracking verstärkt die Klimakrise, anstatt sie aufzuhalten. Das zuzulassen, ist grob fahrlässig von der
Bundesregierung. Ja, wir brauchen schärfere Regeln für
die Rohstoffförderung. Ja, wir brauchen auch endlich
Regelungen bezüglich Fracking. Die bisherige Rechtsunsicherheit muss beendet werden - darüber sind wir
uns ja alle einig -; aber da endet auch schon die Einigkeit mit der Bundesregierung. Denn wir brauchen ein
Fracking-Verbot und kein Fracking-Erlaubnis-Paket.
({2})
Genau das ist es aber, was Sie, Frau Hendricks, gemeinsam mit Ihrem Kollegen Gabriel, der heute in der Debatte leider nicht reden möchte, planen. Selbst Sie, Frau
Hendricks, geben zu: Fracking ist kein Beitrag zur Energiewende. Wir brauchen es nicht. Für den Klimaschutz
bringt es uns nichts. Es ist riskant und hat in einer zukunftsfähigen, enkeltauglichen Energieversorgung nichts
verloren!
Anstatt Vorreiter für die Fracking-Technik in Europa
zu sein - eine Technik, die in eine Sackgasse führt -,
müssen wir in Deutschland überlegen, wie wir mittelfristig ohne Erdgas auskommen und in Innovationen für die
Energiewende investieren. Und darauf haben wir Grüne
sehr gute Antworten.
({3})
Dieses Jahr ist ganz entscheidend für den Klimaschutz weltweit. Es wäre ein fatales Signal, wenn
Deutschland ausgerechnet jetzt wieder einen Schritt
rückwärts macht, anstatt auf die Zukunft zu setzen. Denn
die Zukunft heißt: zuverlässige und umweltfreundliche
Energie.
({4})
Und der Weg dahin geht über erneuerbare Energien,
Energieeffizienz und Energiesparen.
Einige von Ihnen behaupten, Fracking würde in Zukunft nur noch in ganz wenigen Fällen möglich sein. Die
Satzkonstruktionen, die wir heute dazu schon hören
mussten, sind echt abenteuerlich. Sie sagen, der Gesetzentwurf sei doch quasi fast ein Verbot. Die Menschen
lassen sich aber nicht für dumm verkaufen!
({5})
Lediglich in ganz wenigen Gebieten wird Fracking zukünftig wirklich rechtssicher verboten sein. Wenn ich
ganz großzügig rechne, dann wird es in maximal einem
Drittel der Landesfläche verboten sein. Das heißt, Sie legen uns hier kein umfassendes Fracking-Verbots-Gesetz
vor, sondern höchstens ein Drittelverbotsgesetz.
({6})
In Ihrem Gesetzentwurf stehen Regeln, die nicht nur
gefährlich, sondern auch total absurd sind.
({7})
- Gerne! Nehmen wir zum Beispiel die 3 000-MeterGrenze. Warum soll Fracking in einer Tiefe von
2 999 Metern gefährlich sein - deswegen lieber nur Probebohrungen -, in einer Tiefe von 3 001 Metern aber
harmlos? Das ist doch total unlogisch!
({8})
Sogar den Einsatz von wassergefährdenden Chemikalien
erlauben Sie dort! Und warum gilt die 3 000-MeterGrenze eigentlich nicht für Erdöl-Fracking? Bisher hat
mir noch niemand eine überzeugende Antwort liefern
können. Ich weiß auch, warum. Es gibt nämlich keine logische Begründung für dieses Kuddelmuddel an Ausnahmen in Ihrem Gesetzentwurf, meine Damen und Herren!
({9})
Ein echtes Verbot dieser Technik wäre konsequent. Das
würde dem Vorsorgeprinzip entsprechen.
Die Landesumwelt- und -energieminister haben im
Bundesrat deutlich gemacht, dass Fracking im Bergrecht
und im Wasserrecht verboten werden muss. Das ist die
richtige Regulierung für diese Technik - und nicht ein
vermurkstes Fracking-Erlaubnis-Gesetz voll mit Schlupflöchern!
({10})
Ich erwarte von Ihnen, dass Sie die Beschlüsse der
Landesumweltminister aus dem Bundesrat aufnehmen.
Ich will, dass Sie wenigstens die Umweltanforderungen
an die Förderung von Erdgas und Erdöl auch bei der
frackfreien Rohstoffförderung verschärfen. Denn was
viele hier in der Debatte unterschlagen: Man kann Erdgas auch ohne Fracking-Technik fördern. Jawohl!
({11})
Das Fracking-Verbot wäre kein automatisches Ende der
Erdgasförderung in Deutschland. Es geht nur um die
eine Form der Erdgasförderung, um eine Form der Technik.
Wir sehen doch jetzt schon, wie viel bei der Erdgasförderung insgesamt schiefgehen kann: unkartierte Bohrschlammgruben, beschädigte Gebäude, undichte Rohrleitungen und eine ungeklärte Steigerung von Krebsfällen
in Niedersachsen. Ich sage Ihnen: Es reicht!
({12})
Und damit bin ich in bester Gesellschaft. Jawohl!
Denn mehr als 2 000 Kommunen in Deutschland sagen
Nein zum Fracking. Auch Gewerkschaften und Wirtschaftsverbände kritisieren diesen Gesetzentwurf der
Bundesregierung. Über zwei Drittel der Bürgerinnen und
Bürger dieses Landes meinen, dass Fracking von der
Bundesregierung verboten werden sollte. Kanzlerin
Merkel - heute leider nicht anwesend - regiert doch
sonst so gerne nach Meinungsumfragen.
({13})
Warum tut sie das an dieser Stelle nicht? Sie hätte die
Mehrheit der Bevölkerung Deutschlands sicher hinter
sich. Ich sage Ihnen, warum sie das nicht tut: weil ihr die
Interessen der Erdgaslobby viel wichtiger sind. Und das
ist unverantwortlich!
({14})
Wir Grüne werden uns nicht damit abfinden, dass Sie
mit Ihrer Großen Koalition gegen die Mehrheit der Bevölkerung und gegen die Vernunft blind dem Willen der
Konzerne folgen. Ich erwarte von Ihnen, von den Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD, dass Sie jetzt endlich Farbe bekennen! Man kann nicht durch die Lande
ziehen und den Menschen im Wahlkreis erzählen, man
fände Fracking ja auch irgendwie nicht so gut, und dann
hier so ein Fracking-Erlaubnis-Gesetz durchwinken!
({15})
Seien Sie ehrlich! Machen Sie Ihre Entscheidung
transparent! Nehmen Sie das nicht auf die leichte Schulter! Erklären Sie den Wählerinnen und Wählern, wofür
Sie wirklich stehen! Handeln Sie! Machen Sie mit uns
aus diesem Fracking-Erlaubnis-Paket ein echtes Fracking-Verbot!
Vielen Dank.
({16})
Nächster Redner ist der Kollege Matthias Miersch für
die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bei
diesem Thema geht viel durcheinander, und man muss es
sortieren. Aber bei einem, glaube ich, sind wir uns doch
alle einig: Die Regelungen, die wir zurzeit im Bergrecht
und auch im Wasserhaushaltsrecht haben, sind antiquiert, und mit Blick auf Erdgasfördermaßnahmen und
auch auf die Ölförderung ist dieser Gesetzentwurf für
alle erst einmal ein Fortschritt, weil die Umweltverträglichkeitsprüfung zur Pflicht wird und eine Beweislastumkehr im Bergschadensrecht stattfindet. Das muss man
hier ganz deutlich sagen.
({0})
Die Bundesregierung hat etwas geschafft, was vor
zwei Jahren gescheitert ist; Herr Nüßlein hat darauf hingewiesen. Ich finde, wir Parlamentarier haben, wenn wir
Regelungsbedarf feststellen, die Aufgabe, uns den großen Fragen zu stellen. Deswegen bin ich den Kolleginnen und Kollegen - Christina Jantz und Lars Klingbeil
für die SPD -, die in ihren Wahlkreisen feststellen, dass
Handlungsbedarf besteht, dankbar, dass sie sich in die
Beratung einbringen und mit uns gemeinsam prüfen
werden, ob das, was vorgelegt wurde, ausreicht, beispielsweise was den Umgang mit Lagerstättenwasser angeht. Wir werden uns das anschauen; die parlamentarische Beratung steht jetzt bevor.
({1})
Ebenso müssen wir uns noch einmal mit dem Thema
Probebohrung beschäftigen, mit dem grundsätzlichen
Verbot des Fracking, das wir aus Amerika kennen, mit
der Frage, ob wir an wissenschaftliche Erkenntnisse gelangen können. Ja, Herr Pfeiffer, es ist richtig, sich das
noch einmal genau anzuschauen: die Gesteinsformationen, die Frage, wie man Probebohrungen durchführt, die
entsprechenden Zahlen. All das müssen wir auch im parlamentarischen Verfahren sehr sorgfältig betrachten.
Der entscheidende Punkt ist nach meiner Einschätzung die Frage, ob das grundsätzliche Verbot von Fracking dadurch umgangen werden kann, dass eine Expertenkommission grünes Licht gibt und dann eine
Landesbehörde genehmigt.
({2})
Ich finde, der Deutsche Bundestag muss die Instanz sein
und bleiben, die letztlich über den kommerziellen Einsatz von Fracking entscheidet.
({3})
- Sven Kindler, da fangen wir dann an, miteinander zu
diskutieren. Es wird jetzt im parlamentarischen Verfahren darum gehen, das zu prüfen.
Ich glaube auch, dass man, wenn man die Eckpunkte
von Barbara Hendricks und Sigmar Gabriel mit dem vergleicht, was jetzt vorliegt, feststellen kann, dass die Expertenkommission ursprünglich nicht vorgesehen war.
Dass sie jetzt im Gesetzentwurf steht, hängt, glaube ich,
durchaus auch mit dem Kanzleramt zusammen; aber das
können wir aufklären.
({4})
Herr Mattfeldt, Sie haben gerade gesagt, in den Koalitionsverhandlungen zum Thema Fracking werde es knallen. Nun weiß ich nicht, was Sie meinen. Sie sagen, hinter Ihnen stehen 80 Abgeordnete. Ich schaue Ihren
Fraktionsvorsitzenden an: Sie haben ja über 200 Abgeordnete. Das heißt, es scheint in der Fraktion zu knallen,
mit Herrn Fuchs oder mit Herrn Pfeiffer.
({5})
Aber um eins bitte ich Sie: Klären Sie Ihre Haltung, bevor Sie uns attackieren. Denn ich glaube, vieles, was Sie
wollen, wollen wir auch.
({6})
Aber das ist augenblicklich noch nicht mehrheitsfähig in
dieser Großen Koalition. Deswegen lassen Sie uns
kämpfen.
Was wir Ihnen nicht durchgehen lassen werden, ist:
links blinken und rechts abbiegen. Das darf nicht passieren.
Vielen Dank.
({7})
Die Kollegin Herlind Gundelach erhält nun für die
CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
denke, es ist heute zwar schon mehrfach betont worden,
aber auch ich möchte es eingangs betonen: Das Gesetzespaket, das uns heute vorliegt, ist eben kein FrackingErmöglichungs-Gesetz - ganz im Gegenteil. Auch das
ist schon mehrfach gesagt worden: Nach geltender
Rechtslage ist Fracking nach entsprechender Genehmigung, natürlich immer durch die zuständige Behörde, in
Deutschland möglich, auch wenn es gegenwärtig ein
Moratorium gibt; aber von der Rechtslage her ist es
möglich. Wir nutzen diese Technologie schon seit mehr
als 50 Jahren, und wir haben sie bisher auch relativ erfolgreich genutzt.
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf schaffen wir
eine revisionsoffene Regelung. Das bedeutet, dass wir
das Fracking in Schiefergestein zunächst nur für forschungsbezogene Vorhaben zulassen und auch diese nur
unter strengsten Auflagen. Ansonsten gilt ein grundsätzliches Fracking-Verbot für Maßnahmen oberhalb von
3 000 Metern. Darin, dass diese Grenze in der Tat etwas
willkürlich ist, sind wir uns einig; darüber werden wir im
Ausschuss sorgfältig beraten. Der Wissenschaftliche
Dienst bezeichnet das aktuelle Gesetzesvorhaben daher
als Fracking-Verbot mit Forschungsprivileg.
Dieses Gesetzespaket reguliert aber nicht nur das Fracking. Es legt auch - das halte ich für mindestens genauso wichtig - neue Auflagen für die Erdgasförderung
in diesem Lande fest. Um den Sorgen der Bürger Rechnung zu tragen, wurden seit 2011 keine Anträge auf konventionelle Gasförderung mit Anwendung der FrackingTechnologie mehr positiv beschieden. Deswegen haben
die Unternehmen keine Anträge mehr gestellt.
Diese Bundesregierung setzt jetzt erstmals einen klaren ordnungsrechtlichen Rahmen, bei dem der Schutz
des Menschen, seiner Gesundheit und der Umwelt im
Vordergrund steht.
({0})
Wir setzen einen ordnungsrechtlichen Rahmen - auch
das sage ich -, der aber in einem klaren ordnungspolitischen Denken wurzelt; denn unsere Gesellschafts- und
Wirtschaftsordnung beruht auf dem Gedanken der Freiheit, der Freiheit des Einzelnen wie der Gesellschaft insgesamt. Dazu gehört in unserem marktwirtschaftlichen
System auch die Freiheit des Unternehmers.
({1})
Die ökologische und soziale Marktwirtschaft - ich
betone ganz bewusst beides - setzt hierfür in unserem
Land den Rahmen. Das heißt, neben den Belangen der
Wirtschaft stehen gleichberechtigt die Belange der Gesellschaft und des Umweltschutzes. Nur ein solches
Konzept ist nachhaltig. Damit unterscheiden wir uns diametral von den Oppositionsparteien, die am liebsten entweder aus dem Diktat des Sozialen oder des Ökologischen alles verbieten oder zumindest ganz detailliert
vorschreiben wollen, was zu tun und was zu unterlassen
ist. Mit dem Handeln in Freiheit und Verantwortung ist
Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg das geworden,
was es heute ist: eine der erfolgreichsten Industrienationen der Welt, in die zu gelangen viele Menschen dieser
Tage sogar ihr Leben aufs Spiel setzen. Wir sollten uns
überlegen, ob wir von diesen Grundsätzen wirklich abweichen wollen.
Das ab heute im Bundestag zu debattierende Gesetzespaket Fracking hat eine Vorgeschichte, die noch in
die letzte Legislaturperiode reicht. Damals ist der Versuch gescheitert - auch das wurde schon betont; über die
Gründe möchte ich mich hier gar nicht auslassen -, Fracking in Deutschland verbindlich zu regeln. Dabei
könnte man meinen, dass das eigentlich gar nicht so
schwierig ist, da diese Technologie ja bei uns bekannt
ist; denn zwischen 1961 und 2011 fanden in Deutschland
im Rahmen der konventionellen Erdgasförderung über
300 sogenannte Fracks statt.
Heute legen wir ein Gesetzespaket vor, an dem sicher
noch das eine oder andere zu verbessern sein wird - auch
das haben wir schon gehört -, das aber aus meiner Sicht
insgesamt ausgewogen ist. Es sieht ein Fracking-Verbot
mit Forschungsoption vor und außerdem deutlich strengere Auflagen für die Förderung von Erdgas aus konventionellen Lagerstätten, das heißt aus dem sogenannten
offenporigen Gestein.
Ich weiß, es gibt Menschen, die fordern, dass wir in
Deutschland grundsätzlich kein Erdgas mehr mithilfe
von Fracking fördern sollten. Diesen Menschen möchte
ich einige Informationen und einige wichtige Punkte
zum Nachdenken mit auf den Weg geben, und bei dieser
Gelegenheit möchte ich auch mit der einen oder anderen
Falschinformation aufräumen.
Erdgas ist - das ist uns allen bekannt - der CO2ärmste fossile Energieträger und damit der ideale Begleiter für die Erneuerbaren. Ich denke, da stimmen sogar
die Grünen zu. Wir wenden diese Technologie, wie bereits erwähnt, seit 1961 ohne größere Zwischenfälle an.
In Deutschland nutzen wir Erdgas aber nicht nur für die
Stromerzeugung, sondern insbesondere auch für die Erzeugung von Wärme. Knapp 50 Prozent unserer Heizungsanlagen in Deutschland werden mit Gas befeuert.
Derzeit fördern wir nur noch rund 10 Prozent unseres
Bedarfs selbst. Dieser Anteil war einmal höher. Wir haben für die Zukunft deutlich größere Potenziale. Wenn
wir hier allerdings weiter drosseln, werden wir noch abhängiger von ausländischen Gasversorgern.
Wenn im Zusammenhang mit der Fracking-Technologie von Frack-Fluiden und den darin enthaltenen Chemikalien gesprochen wird, setzen viele Menschen diese sofort mit giftigen Chemikalien gleich. Dabei ist es
wichtig, zu wissen, dass schon allein der Begriff „Chemikalie“ sehr unscharf ist. Wasser, Luft, Stärke und
Backpulver sind auch Chemikalien. Inhaltsstoffe wie
zum Beispiel Guarkernmehl, was vermutlich keiner von
uns kennt, wird sowohl in Frack-Fluiden als auch in Lebensmitteln verwandt.
Der Gesetzentwurf sieht übrigens vor, dass Frack-Fluide nur noch schwach wassergefährdend sein dürfen.
Das heißt, sie dürfen nur die Wassergefährdungsklasse 1
haben. Zum Vergleich - ich gehe einmal davon aus, dass
sich jeder von uns von Zeit zu Zeit seine Haare wäscht -:
Shampoo hat die Wassergefährdungsklasse 2.
In Bezug auf das Grundwasser sollte man übrigens
auch wissen: Nicht jedes Grundwasser ist Trinkwasser.
Trinkbares Wasser befindet sich in circa 200 bis 300 Metern Tiefe. Das Wasser darunter ist definitiv nicht trinkbar.
Salz und natürliche Vorkommen von Quecksilber und
Benzol machen es zum Teil sogar giftig. Insofern diese
Flüssigkeiten bei der Gewinnung von Erdgas anfallen,
werden sie künftig in geschlossenen Behältnissen aufgefangen. Anschließend dürfen sie nur noch in kohlenstoffhaltige, druckabgesenkte Gesteinsformationen eingebracht
werden. Das heißt, sie werden dorthin zurückgeführt, wo
sie herkommen. Auch dieser Vorgang unterliegt einer UVPPflicht mit all dem, was dazugehört, inklusive Beteiligung
der Wasserbehörden, aber auch der Öffentlichkeit. Das
heißt, es muss vorher eine sorgfältige Umweltverträglichkeitsprüfung durchgeführt werden. Die UVP-Pflichten
weiten wir ohnehin massiv aus; denn in Deutschland wird
in Zukunft bei jeder Gewinnung und sogar schon bei der
Aufsuchung von Erdöl und Erdgas mithilfe der FrackingTechnologie eine UVP durchgeführt werden müssen.
Ich will an dieser Stelle gar nicht auf weitere Einzelheiten des Entwurfs eingehen. Ich gehe davon aus, dass
wir das im Ausschuss noch sehr gründlich diskutieren
werden.
({2})
Zu dieser Diskussion werden wir sicher auch den Sachverstand von Wissenschaft und Praxis einfordern.
Für mich - das möchte ich zum Schluss betonen - ist
das Gesetzespaket aus zweierlei Gründen von Bedeutung:
Erstens. Es schafft die Möglichkeit, unter ökologisch
verantwortbaren und wirtschaftlich vertretbaren Voraussetzungen den heimischen Energieträger Erdgas zu fördern. Das macht uns unabhängiger und auch weniger erpressbar; denn ganz ohne fossile Energie - auch das ist
heute schon deutlich geworden - werden wir vermutlich
in dem vor uns liegenden Jahrhundert gar nicht auskommen. Dabei kommt es nicht darauf an, ob das Gas, dessen Vorräte ja durchaus beachtlich sind, dann am Schluss
auch tatsächlich gefördert wird. Es kommt darauf an, zu
zeigen, dass wir prinzipiell bereit sind, es zu fördern,
({3})
und dass es auch verantwortungsvoll zu fördern ist. Ob
es tatsächlich gefördert wird - Herr Krischer, ob Sie es
glauben oder nicht -, entscheiden letztendlich die Unternehmer dadurch, ob sie einen Antrag stellen. Ob sie es
fördern dürfen, entscheiden letztendlich die Behörden.
Das ökonomische Risiko wollen wir den Unternehmern
im Übrigen gar nicht abnehmen. Manchmal würde ich
mich allerdings auch über ein bisschen mehr Risikobereitschaft bei den Förderern der erneuerbaren Energien
freuen; denn die beanspruchen in der Regel ein Rundumsorglos-Paket. Das ist aber ein ganz anderes Thema.
({4})
Unsere Aufgabe ist es, in diesem Gesetz rechtlich einwandfrei die Voraussetzungen festzulegen, unter denen
eine Gewinnung von Erdgas in Deutschland zukünftig
möglich ist.
Der zweite Punkt, warum meines Erachtens die Verabschiedung dieses Gesetzentwurfs wichtig ist, hängt
damit zusammen, dass wir auch ein Signal nach draußen
setzen: dass sich Deutschland auch in schwierigen Feldern bewegen kann, dass wir uns nach wie vor technologieoffen zeigen und dass wir nicht ausschließlich an Verteilungsprozessen interessiert sind.
({5})
Wir zeigen damit, dass wir noch immer in der Lage sind,
Innovationen anzustoßen und diese auch umzusetzen.
({6})
Das europäische Ausland, aber auch die Vereinigten
Staaten und Kanada blicken gegenwärtig mit großem Interesse nach Deutschland, auf unsere Vorschläge und auf
unsere Regelungen, wie wir mit der Fracking-Technologie umgehen wollen. Ich bin sicher: Wenn wir dies erfolgreich machen, werden unsere Regelungen früher
oder später auch in die dortige Gesetzgebung Eingang
finden. Im Übrigen freue ich mich auf eine intensive
und, ich denke, sicherlich auch sehr strittige Diskussion
in den Ausschüssen.
Herzlichen Dank.
({7})
Das Wort erhält nun der Kollege Bernd Westphal für
die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das
ist sicherlich eine schwierige und wichtige Debatte, die
wir hier heute führen. Ich denke - viele meiner Vorredner haben das vorangestellt -, es geht hier auf der einen
Seite darum, mit dieser Vorlage der Absicherung der
Trinkwasserqualität in Deutschland gerecht zu werden.
Das sind berechtigte Interessen, was unser Lebensmittel
Nummer eins angeht. Aber auf der anderen Seite geht es
auch darum, eine Rohstoffförderung in Deutschland zu
gewährleisten. Ich finde es unredlich, wenn in Bezug auf
diesen vorliegenden Gesetzentwurf gesagt wird, wir
würden ähnliche Bedingungen wie in den USA schaffen.
Eben das ist nicht der Fall. Der hier von der Bundesregierung beschlossene Gesetzentwurf legt die weltweit
höchsten Standards fest, zu denen Erdgasförderung in
Deutschland in Zukunft stattfinden wird, und das ist ein
Fortschritt.
({0})
Erdgas ist ein wichtiger Energieträger, nicht nur für
die Wärme- und Stromerzeugung, sondern auch für die
chemische Industrie. Das sieht man, wenn man die großen Investitionen der chemischen Industrie beobachtet,
die nicht mehr in Europa getätigt werden, sondern in den
USA, weil dort das Erdgas, das durch die Anwendung
dieser Technologie gefördert wird, sehr günstig ist. Deshalb gibt es auch für uns einen Grund, diese Technologie
anzuwenden und sie nicht leichtfertig aufzugeben.
Die Importabhängigkeit beträgt bei Erdöl 98 Prozent,
bei Erdgas fast 90 Prozent - das wurde genannt -, bei
Steinkohle, wenn wir das letzte Bergwerk 2018 schließen, 100 Prozent. Die Braunkohle ist der einzige heimische, ohne Subventionen auskommende Energieträger,
der für Preisstabilität sorgt. Deshalb müssen wir auch,
was die Versorgung mit Energie angeht - Energie ist
Wohlstand -, schauen, was national zur Verfügung steht,
und dementsprechend Rahmenbedingungen schaffen.
Seit den 50er-Jahren wird in Deutschland Erdgas gefördert. Der Wirtschaftsminister von Niedersachsen hat
dazu hier einiges gesagt. Ich denke, die Horrorlandschaften, die hier beschrieben werden, findet man in Niedersachsen eben nicht. Es gibt dort keine Mondlandschaften.
Herr Kollege Westphal, darf die Kollegin Verlinden
Ihnen eine Zwischenfrage stellen?
Bitte sehr.
Vielen Dank, Herr Westphal, dass Sie die Frage zulassen. - Sie haben gerade gesagt, wir müssten aufgrund
der Versorgungssicherheit die Importabhängigkeit, zum
Beispiel von Erdgas, verringern und aufgrund dieser
Thematik auch über Fracking in Deutschland reden. Ich
bin etwas verwundert, weil Ihre Parteikollegin Frau
Bundesumweltministerin Hendricks sowohl heute in ihrer Rede als auch öffentlich in Statements etwas anderes
verkündet. So heißt es zum Beispiel in einem Pressebriefing des Ministeriums vom November 2014 wörtlich:
Erdgas-Fracking kann … in Deutschland keinen
substanziellen Beitrag zu unserer Energieversorgung leisten. Weder die Reduzierung unserer Abhängigkeit von Energieimporten noch unsere Klimaziele werden wir durch den Aufbau einer
kostenintensiven Fracking-Infrastruktur erreichen.
Ich sehe einen gewissen Widerspruch zwischen dem,
was die Umweltministerin sagt, und dem, was Sie gerade
hier verkündet haben, nämlich dass wir aufgrund der Importabhängigkeit und Versorgungssicherheit auch über
Fracking ernsthaft nachdenken müssten. Ich sehe das anders, aber das habe ich schon in meiner Rede gesagt.
Mich würde interessieren, wie Sie zu diesem Widerspruch stehen.
Wir haben in Deutschland eine untergeordnete Behörde des Wirtschaftsministeriums, die Bundesanstalt
für Geowissenschaften und Rohstoffe, BGR, ansässig in
Hannover. Deren Präsident hat aufgrund geologischer
Erkenntnisse, die die Bundesanstalt bisher hat, prognostiziert, dass wir 1,3 Billionen Kubikmeter Erdgas im
Kohle- und Schiefergasvorkommen in Deutschland haben könnten. Das weiß man natürlich nicht. Im Bergbau
sagt man: Vor der Hacke ist es duster. - Das heißt, wir
müssen erst einmal Probebohrungen ermöglichen und
Erkenntnisse sammeln, die uns auf der einen Seite dazu
verhelfen, diese Technologie sicher anzuwenden, und
die uns auf der anderen Seite Klarheit darüber verschaffen, wie viel Vorkommen wir in Deutschland überhaupt
haben und welchen Beitrag Erdgas leisten kann. Dann
werden wir auch sicher Klarheit darüber haben, ob das
ein substanzieller Beitrag sein kann oder nicht.
({0})
Wie gesagt, seit den 50er-Jahren wenden wir diese
Technologie an. Weil wir Befürchtungen haben, dass wir
mit der Technologie in Kohle- und Schiefergasvorkommen durchaus Risiken eingehen, wollen wir diese Technologie wissenschaftlich begleitet anwenden. Ich glaube,
dass wir auch in Deutschland eine Offenheit für solche
innovativen Dinge brauchen, für Investitionen, die Unternehmen tätigen wollen, wobei wir gleichzeitig den
Schutz von Umwelt und Natur gewährleisten müssen.
Wir haben mehrere Gutachten vorliegen, die sich bereits mit diesem Thema beschäftigt haben, übrigens auch
erstellt im Auftrag des Umweltbundesamtes. Keines dieser Gutachten kommt zum Ergebnis, dass wir, wie hier
teilweise gefordert, Fracking verbieten sollten; es wird
vielmehr ausgeführt, dass es Risiken gibt, die man aber
durchaus beherrschen kann. Deshalb kommen auch Verbände wie der Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft - der BDEW ist also mit dabei - zu dem
Ergebnis, dass wir bei der unkonventionellen Erdgasförderung in Deutschland weiterhin zusätzliche Probebohrungen zulassen sollten.
Wir haben nun strengere Regelungen, von denen einige genannt worden sind, zum Beispiel für den Umgang
mit der Frack-Flüssigkeit oder das Verbot wassergefährdender Stoffe. Wir haben eine Reihe von Gebieten in
Deutschland ausgewiesen, wo die Anwendung dieser
Technologie ausgeschlossen wird, wir haben Umweltverträglichkeitsprüfungen in vielen Bereichen vorgesehen, die es heute noch nicht gibt. Wir werden mit der
unabhängigen Expertenkommission sicherlich Erkenntnisse zusammentragen können, die auch uns als Bundestagsabgeordneten eine Entscheidungsgrundlage bieten
können.
Deshalb glaube ich schon - das hat auch Matthias
Miersch gesagt -, dass wir das Thema, vielleicht auch
mit einem Parlamentsvorbehalt, dann noch einmal neu
bewerten können, wenn diese Erkenntnisse vorliegen.
Auch im Bereich Lagerstättenwasser gibt es in dem Gesetzentwurf erste Anzeichen, wie wir von den heutigen
durchaus risikoreichen Anwendungen in kohlenwasserstoffentspannten geologischen Formationen zu neuen
Entsorgungswegen kommen können.
Mein Fazit ist: Wenn der Grundwasserschutz gewährleistet ist, wenn wir schwierige Gebiete ausnehmen,
kann konventionelle Erdgasförderung wieder an den
Start gehen; wenn wir hohe Standards festlegen, wissenschaftlich begleitete Probebohrungen vornehmen, haben
wir die Chance, auf dieser Basis noch einmal neu zu entscheiden.
Seneca hat einmal gesagt:
Nicht weil die Dinge schwierig sind, wagen wir sie
nicht, sondern weil wir sie nicht wagen, sind sie
schwierig.
({1})
Die Sozialdemokratie steht für Fortschritt und für Innovation; deshalb sollten wir - unter strengen Auflagen auch dieser Technologie nicht entsagen.
Vielen Dank und Glück auf.
({2})
Andreas Mattfeldt ist der nächste Redner für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! In der Tat, die
Gesetzentwürfe weisen in die richtige Richtung;
({0})
sie sind aber - das sage ich auch - noch weit davon entfernt, ich sage mal, perfekt zu sein.
({1})
Deshalb bin ich Ihnen dankbar, Frau Ministerin
Hendricks, dass Sie angekündigt haben, dass Sie sehr offen sind für Verbesserungen.
Leider wird die Debatte - das hören wir auch heute um die Erdgasförderung nicht nur in der Öffentlichkeit,
sondern auch hier bei uns, in diesem Hause, nahezu ausnahmslos mit dem fast schon missbrauchten Begriff
„Fracking“ geführt. Als jemand, der von der Erdgasförderung ganz persönlich betroffen ist, kommt mir bei dieser ganzen Diskussion die seit Jahrzehnten praktizierte
konventionelle Erdgasförderung viel zu kurz. Ich
komme aus einer Gemeinde, in der das wohl größte Erdgasfördergebiet Deutschlands liegt. Ich sage ganz offen:
Ich bin immer ein großer Verfechter des Bergens heimischen Erdgases gewesen. Ich sage auch: Bei uns in der
Region gab es immer eine riesige Akzeptanz für die Erdgasförderung. Leider ist diese Akzeptanz durch negative
Erfahrungen, die wir mit der Erdgasförderung gerade in
der jüngeren Vergangenheit gemacht haben, verloren gegangen. Deshalb sage ich ganz deutlich: Ja, wir brauchen
für die Erdgasförderung dringend verschärfte, gute Gesetze, die sich an den heutigen Stand der Technik anpassen, damit großflächige Umweltverschmutzungen, wie
ich sie in meiner Heimat, direkt vor meiner Haustür erleben musste, zukünftig vermieden werden.
Ich sage aber auch: Wir dürfen nicht nur dem Begriff
„Fracking“ hinterherjagen - das wäre viel zu kurzsichtig
und löst langfristig die Probleme nicht. Weil wir die Probleme langfristig lösen wollen, das Vertrauen in die heimische Erdgasförderung wiederherstellen wollen, engagieren sich zahlreiche Unionskollegen für erhebliche
Verschärfungen im Bereich der Erdgasförderung.
({2})
Erst diese Woche hat die NRW-Landesgruppe die Forderungen unserer, ich sage mal, CDU-Erdgasgruppe zur
Verschärfung der vorliegenden Gesetzentwürfe einstimmig unterstützt. Was fordern wir als CDU-Erdgasgruppe
konkret? Wir fordern eine oberirdische Aufbereitung des
Lagerstättenwassers durch die Technik der Ultrafiltration. Wir fordern eine echte Beweislastumkehr, damit
Erdgas-Erdbeben-Geschädigte nicht wie bisher auf ihrem finanziellen Schaden sitzen bleiben. Wir fordern,
dass die willkürlich gegriffene 3 000-Meter-Grenze, die
zwischen Schiefergas- und Tight-Gas-Förderung unterscheiden soll, gestrichen wird. Wir fordern, dass auch im
Bereich der konventionellen Erdgasförderung eine stärkere und vor allen Dingen eine frühere Bürgerinformation stattfindet und auch eine Bürgerbeteiligung stattfindet. Außerdem fordern wir eine Begrenzung der
Erprobungsmaßnahmen im Bereich der Schiefergasförderung auf maximal acht Forschungsbohrungen. Ich
sage hier auch, dass es nach Abschluss der Erprobungen
keinen Genehmigungsautomatismus geben darf,
({3})
sondern dass das ganz normale Genehmigungsverfahren
zu durchlaufen ist. Ich verrate auch kein Geheimnis,
wenn ich sage, dass es bei uns viele Kollegen gibt,
({4})
die nach Abschluss dieser Erprobungsmaßnahmen einen
Parlamentsvorbehalt erwarten, bevor man überhaupt
über eine kommerzielle Förderung nachdenkt.
({5})
Ich könnte jetzt noch zahlreiche weitere Details aufführen, die wir als Union, übrigens auch gemeinsam, Herr
Kollege Miersch,
({6})
besprochen und verhandelt haben.
({7})
Aber ich habe leider nur fünf Minuten Redezeit. Insofern
müssen Sie auf dieses Schmankerl verzichten.
Unsere Gruppe hätte es für sinnvoll gehalten, liebe
Frau Hendricks - Herr Gabriel ist leider nicht mehr da -,
wenn Sie unsere Vorschläge, etwa zur Aufbereitung des
Lagerstättenwassers, schon vor der Kabinettsbefassung
aufgegriffen hätten, gerade auch deshalb, weil ich weiß,
dass es hierfür auch bei den Kollegen der SPD zahlreiche Fürsprecher gibt.
({8})
Wenn ich schon von Lagerstättenwasser spreche,
dann komme ich zu Ihnen, zu den Grünen. Meine lieben
Kollegen, Sie fordern ein Verpressverbot von nicht aufbereitetem Lagerstättenwasser. Sie wissen, dass ich diese
Forderung voll und ganz unterstütze. Aber wer die Grünen kennt, der weiß auch, wie die Grünen agieren, wenn
sie in Regierungsverantwortung wie zum Beispiel in
Niedersachsen sind
({9})
und wenn 700 Millionen Euro Förderzins vielleicht sehr
verlockend sind.
({10})
Anders als Sie von den Grünen hier im Bundestag uns
das glauben machen wollen, haben Sie in Regierungsverantwortung keine Probleme mit der Verpressung.
({11})
Wenn ich Ihre Verbalakrobatik aus dem von Ihnen mit
initiierten niedersächsischen Bundesratsantrag einmal
ausblende, sagen Sie in diesem Papier im Klartext, dass
Sie befürworten, das giftige Lagerstättenwasser weiterhin wie bisher zu verpressen,
({12})
weil - jetzt kommt es - dies für die Industrie am günstigsten ist. Dies ist grüne Politik in Regierungsverantwortung, und das hört sich ganz anders an als die Töne,
die Sie hier heute angeschlagen haben.
({13})
Lieber Kollege Lies, mir ist noch in Erinnerung, wie
Ihre Töne bei der Landtagswahl in Niedersachsen waren.
Da hatten Sie ganz anders gesprochen. Hier war die
Rede davon: links reden, rechts abbiegen. - Das war bei
Ihnen auch anders. Hören Sie sich einfach mal an, was
Herr Weil davor gesagt hat!
({14})
Herr Kollege.
Herr Präsident, ich komme zum Schluss. - Meine Damen und Herren, ich halte es für ganz wichtig, dass wir
jetzt verschärfte Bedingungen für die Erdgasförderung
bekommen. Die gültigen Gesetze reichen bei weitem
nicht aus. Lassen Sie uns deshalb alle gemeinsam die anstehenden parlamentarischen Beratungen nutzen, die
Gesetzeslage weiter zu verschärfen, damit wir in Zukunft mit einer sicheren heimischen Erdgasförderung die
verloren gegangene Akzeptanz und das Vertrauen der
Bevölkerung wiederherstellen.
Herzlichen Dank.
({0})
Nächster Redner ist der Kollege Frank Schwabe für
die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Mattfeldt, um das gleich am Anfang zu sagen: Es
tut mir ganz schrecklich leid, aber in dem Papier, von
dem Sie immer reden - wir kennen es -, steht leider
nicht so sehr viel.
({0})
Wir könnten uns jetzt hier einigen. Sie könnten jetzt hier
zusagen, dass wir die Expertenkommission streichen, jedenfalls klarmachen: Experten sind gut, super - sie müssen uns beraten -, aber am Ende kann uns als Deutscher
Bundestag niemand abnehmen, die endgültige Entscheidung zu treffen. Ob Fracking in Deutschland kommerziell genutzt wird, ja oder nein, das muss dieser Deutsche Bundestag entscheiden.
({1})
Wir könnten hier im Deutschen Bundestag sofort eine
Einigung darüber erzielen, dass wir das Erdgas genauso
behandeln wie das Erdöl. Sie könnten sofort einschlagen
und sagen: Da machen wir mit.
({2})
Wir könnten zum Beispiel sofort eine Einigung darüber erzielen, dass die Übergangsfrist von fünf Jahren,
die jetzt im Gesetzentwurf beim Umgang mit Lagerstättenwasser vorgesehen ist, verkürzt wird, zum Beispiel
auf drei Jahre. Wenn Sie alle hier die Hand heben oder
wenn alle nicken, könnten wir das in der Großen Koalition sofort so vereinbaren.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, klipp und klar: Ich
weiß heute nicht, ob Fracking für Deutschland eine
Option sein kann oder nicht. Ich sage allerdings auch
klipp und klar: Ökonomische Chancen sind damit verbunden, aber sie sind meines Erachtens nicht so groß,
dass ich jetzt alle Zweifel beiseitelasse und sage: Wir
müssen ein Gesetz machen, um Fracking in Deutschland
sofort zu ermöglichen.
({3})
Deswegen ist es gut, dass die beiden Ministerien einen
Gesetzentwurf erarbeitet haben - Herr Nüßlein ist darauf
zu Recht eingegangen - und wir das geschafft haben,
was Sie in der Koalition mit der FDP leider nie geschafft
haben, nämlich zumindest ein beratungsfähiges Gesetzespaket auf den Tisch zu legen.
Noch einmal: Wir können heute nicht sicher sein, wie
es mit der Belastung von Mensch und Umwelt ist.
({4})
Es gibt ganz aktuell in den USA die Diskussion über Radonbelastungen und Ähnliches. Herr Pfeiffer, wenn Sie
es einmal googeln, finden Sie zuhauf Probleme für die
Umwelt in den Vereinigten Staaten. Wir wissen es also
heute nicht genau. Deswegen können wir heute nicht
endgültig sagen, ob es Fracking im Schiefergestein in
Deutschland geben soll oder nicht.
({5})
Absolutes Lob - da schließe ich mich Herrn Nüßlein
an - für das Umweltministerium und für das Wirtschaftsministerium, weil wir eine Regelung vorgelegt
bekommen haben, wie wir sie im Deutschen Bundestag
bisher noch nie vorgelegt bekommen haben. Allerdings,
Herr Nüßlein, war ein Lob vergiftet: Sie haben die
Ministerien für die Idee der Expertenkommission gelobt.
Sie wissen doch ganz genau, dass die Idee der Expertenkommission im Bundeskanzleramt entstanden ist.
({6})
Sie können die Sozialdemokratie nicht für die Kommission in Haftung nehmen.
Ich will es klipp und klar sagen: Ich halte eine solche
Kommission für eine aberwitzige Konstruktion. Experten sind dafür da, uns zu beraten. Aber wir Abgeordnete
können doch nicht unsere Verantwortung an der Garderobe des Deutschen Bundestages abgeben.
({7})
Am Ende müssen wir doch vor die Wählerinnen und
Wähler, vor die Bürger in diesem Land treten und sagen,
ob es Fracking in einer kommerziellen Art und Weise
geben wird - ja oder nein.
Was wir erreicht haben - ich muss aufpassen, wie ich
das formuliere -, ist, dass wir uns in einer Diskussion
über deutliche Verbesserungen im Bereich der konventionellen Erdgasförderung befinden. Darum hat sich in
der Tat kaum jemand gekümmert. Sie, Frau Jantz, Herr
Möring und andere in diesem Hause, haben sich in Ihren
Wahlkreisen darum gekümmert, aber den Deutschen
Bundestag hat dieses Thema bisher nicht richtig erreicht.
Jetzt hat es den Deutschen Bundestag erreicht. Es ist gut,
dass es dazu so weitgehende Regelungen geben soll, wie
es sie noch nie gab. Da wollen wir ran. Ich habe es gerade schon gesagt: Wir wollen mit Ihnen gemeinsam in
den Gesetzentwürfen Verbesserungen im Bereich der
Haftung für Erdbeben verabreden. Wir wollen im Bereich des Lagerstättenwassers Verbesserungen verabreden. Wir wollen auch, dass das Erdöl in das Gesetzespaket miteinbezogen wird.
({8})
Insofern haben wir hier eine gute Grundlage. Ich sage
für die SPD: Wir wollen, dass das Struck’sche Gesetz
zur Anwendung kommt und wir eine gute Vorlage im
parlamentarischen Verfahren noch besser machen. Wir
bauen darauf, dass das in der Großen Koalition sehr konstruktiv gelingt.
Vielen Dank.
({9})
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der
Kollege Karsten Möring für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wenn ich die Debatte, die wir gerade geführt haben, jetzt
mal Revue passieren lasse, dann wundert mich das eine
oder andere ganz erheblich. Herr Zdebel, mich beeindruckt schon Ihre Unterstützung für den Import von Gas
aus Russland, die Sie hier zum Ausdruck gebracht haben. Sie arbeiten mit Formulierungen, von denen Sie eigentlich wissen müssten, dass sie unzutreffend sind.
Wenn Sie in Ihren Antrag schauen, dann sehen Sie, dass
am Ende des ersten Absatzes steht - Stichwort „FrackFluid“ -:
Dabei wird eine mit gefährlichen Chemikalien versetzte Flüssigkeit mit hohem Druck in die Tiefe gepumpt …
({0})
- Nein. Im Gesetzentwurf steht: nicht wassergefährdende Gemische oberhalb von 3 000 Metern Tiefe,
schwach wassergefährdende Gemische unterhalb von
3 000 Metern Tiefe.
({1})
- Ach, liebe Frau Verlinden, worauf kommt es denn an?
Wenn Sie sich zu Hause ein Glas Wasser nehmen und
zwei Teelöffel Salz hineintun, dann ist das giftig,
({2})
und wenn Sie zwei Krümel hineintun, dann haben Sie
eine Geschmacksverbesserung. Es kommt darauf an,
dass die Stoffe, die wir einbringen, nicht wassergefährdend oder nur schwach wassergefährdend sind. Das ist
der entscheidende Punkt.
({3})
Das, was Sie betreiben, nenne ich Volksverdummung.
({4})
- Herr Krischer, wer schreit, vertraut seinen Argumenten
nicht - ganz einfach.
({5})
Ich gehe nur auf einen Aspekt ein, den Sie in Ihrer
Rede vorgetragen haben. Wie kommen Sie als jemand,
der sich für weltweiten Klimaschutz engagiert, eigentlich dazu, einen so verengten Blick auf Deutschland allein zu fassen? Sie wissen doch ganz genau: Wir importieren 37 Prozent unseres Gases aus Russland. Ich will
das Thema Versorgungssicherheit überhaupt nicht ansprechen; aber Sie wissen doch, unter welchen Bedingungen in Russland Gas gefördert wird. Sie wissen
auch, wie viel Gas in den Pipelines auf einer Strecke von
5 000 Kilometern verloren geht. Das, was dort an Methan in die Atmosphäre entweicht, ist ein Mehrfaches
von dem, was bei einer Förderung hier bei uns, mit unseren Umweltstandards, entweichen würde.
({6})
Das nenne ich eine verengte Sichtweise, die Ihrem Anspruch im Bereich des Klimaschutzes nicht gerecht wird.
Das sollten Sie sich wirklich noch mal überlegen.
Frau Bulling-Schröter, Sie haben gesagt, ein Nein sei
der erste Schritt zur Freiheit; das habe ich noch nie gehört. Sie sagen: Nein, wir bauen keine Autobahnen, nein,
wir bauen keine Infrastruktur, nein, wir bauen keine Industrieanlagen, nein, die Grundlagen für unseren Volkswohlstand wollen wir nicht. Das ist kein erster Schritt
zur Freiheit, sondern ein Schritt in eine Sackgasse. Solche Formulierungen reichen nicht, Sie müssen schon mit
Argumenten kommen.
({7})
Sie werfen der Koalition und den entsprechenden
Ministerien vor, dass im vorliegenden Gesetzentwurf nur
von Trinkwasser die Rede ist, und haben als Beispiel die
Brauereien genannt; Herr Nüßlein hat bereits auf die
bayerischen Brauereien hingewiesen. Vielleicht haben
Sie den Gesetzentwurf nicht gelesen; denn im Gesetzentwurf steht ausdrücklich, dass Länder die Möglichkeit bekommen, Trinkwasserbrunnen, Mineralbrunnen
und Heilquellen zu schützen.
({8})
Am Rande bemerkt: Das meiste Wasser, das zum Brauen
von Bier verwendet wird, kommt nicht aus Brunnen,
sondern aus der Wasserleitung. Alles andere ist Marketing.
(Lachen der Abg. Steffi Lemke ({9})
Gestern hat Herr Müller, Co-Vorsitzender der Endlager-Kommission, den wichtigen Satz gesagt: Die Politiker müssen mehr in Zusammenhängen denken.
({10})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, Ihr
Problem im Umgang mit diesem Thema besteht darin,
dass Sie nur in Schwarz-Weiß, nur in Entweder-Oder
denken. Sie machen es sich zu leicht, wenn Sie ein Fracking-Verbot fordern.
({11})
Weder die SPD noch die CDU/CSU haben versprochen:
Wir verbieten Fracking in Deutschland. Wir haben in unserem Koalitionsvertrag wichtige Vereinbarungen getroffen, an die wir uns halten. Die wichtigste lautet:
„Trinkwasser und Gesundheit haben für uns absoluten
Vorrang“. Wir wollen einen Wandel: weg von den derzeit riskanten Förderverfahren - wenngleich es in den
letzten 50 Jahren zu keinen größeren Unfällen gekommen ist -, hin zu erheblich sichereren Verfahren. Denn es
gilt nach wie vor: Die Sicherheit hat Vorrang vor wirtschaftlichen Interessen.
Ich habe eben schon darauf hingewiesen, dass wir
beim Frack-Fluid nur nicht wassergefährdende oder
schwach wassergefährdende Gemische zulassen, aber
Sie sprechen immer noch von giftigen Gemischen. Das
ist irreführend. Wir haben aber nicht nur im Bereich
Fluid einiges getan. Wir haben eine ganze Reihe zusätzlicher Maßnahmen getroffen. Wir ermöglichen es den
Ländern beispielsweise, die Ausschlussgebiete unter bestimmten Umständen auszuweiten. Außerdem gilt nach
wie vor der Besorgnisgrundsatz gemäß Wasserhaushaltsgesetz.
Man sieht: Wir haben an dem vorliegenden Gesetzentwurf mit Hosenträger und Gürtel gearbeitet. Dem Besorgnisgrundsatz wird Rechnung getragen, es werden
zusätzliche Ausschlussgebiete in einem erheblichen Umfang vorsehen. Das ist eine doppelte Sicherung, gerade
weil wir die Bedenken aus der Bevölkerung ernst nehmen. Dazu gehört auch die Einführung der UVP-Pflicht
für die Form von Förderung, die wir seit zig Jahren betreiben, zum Beispiel für das konventionelle Fracking.
({12})
- Streiten wir uns nicht über Worte; wir wissen doch
alle, was gemeint ist.
(Lachen der Abg. Dr. Julia Verlinden [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]
Das ist die Form, die wir bisher über viele Jahre erprobt
und praktiziert haben, und zwar ohne größere Probleme.
Zur Expertenkommission. Es ist eine Schimäre, wenn
man argumentiert: Wir überlassen der Expertenkommission eine Aufgabe, die nur der Bundestag zu erfüllen hat.
Wir werden uns sicher noch einmal intensiv über diese
Frage unterhalten, aber wir wollen unserer Verantwortung bei der Behandlung des vorliegenden Gesetzentwurfs gerecht werden. Im vorliegenden Gesetzentwurf
definieren wir, was nach unserer Meinung zulässig oder
auch nicht zulässig sein soll. Auch dann, wenn wir das in
einem späteren Gesetz regeln würden, wären wir von einem Votum von Experten abhängig; daran würde sich
nichts ändern. Es ändert sich aber sehr wohl etwas, wenn
wir eine solche Erprobung ohne Begleitung durch eine
Expertengruppe machen würden. Denn korrekt ist: Wir
haben mit bestimmten Arten der Förderung bisher keine
Erfahrungen. Wir müssen aber wissen, wie die Förderung funktioniert. Wir müssen wissen, ob das Fluid, das
im Labor erforscht wurde, auch in der Realität funktioniert. Wir müssen wissen, ob es möglich ist, Fracks in
Horizonten, die vielleicht nur 20 Meter mächtig sind, zu
beherrschen, wo ein bis zwei Kilometer horizontal gebohrt werden muss, um diese Gebiete zu erschließen.
Wir müssen wissen, wie hoch die Ausbeutungsquote ist,
die wir bei diesen Vorkommen haben werden.
Es ist nicht unsere Aufgabe, zu sagen: Unternehmen
haben ein Geschäftsmodell, mit dem sie Geld verdienen
können. Unsere Aufgabe als Politiker ist es, die Grundlagen für unseren Wohlstand, für unsere Arbeitsplätze und
für unsere Wirtschaftskraft weiter zu stärken und zu entwickeln. Unsere Verantwortung als Politiker ist es, das
mit einer gesunden Umwelt zu verknüpfen. Unsere Aufgabe ist es, bei diesem Gesetzespaket mit all den Änderungen, über die wir noch reden werden, von der Lagerstättenwasserversenkung bis zu all den anderen Punkten,
die angestrebt werden, zu einem Ergebnis zu kommen.
Ich bin sicher, wir werden es erreichen.
Die hier manchmal etwas hämisch angesprochene
Diskussion innerhalb der Fraktionen ist ein Bestandteil
dieses Prozesses. Es ist völlig legitim, hier einen Ausgleich zu suchen und eine intensive Diskussion zu führen. Das tun wir innerhalb unserer Fraktion. Das tut die
SPD in ihrer Fraktion, und das werden wir gemeinsam
tun, um zu einem Gesetzentwurf zu kommen, sodass die
zurzeit unhaltbare Situation verbessert wird. Ich bin sicher, wir werden zu einem guten Ergebnis kommen und
am Ende des Prozesses sagen können: Unser Wasser
wird weiterhin trinkbar sein und von uns geschützt werden.
Zum Wohl.
({13})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 18/4713, 18/4714 und 18/4810 an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist offensichtlich der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Wir haben jetzt noch unter Tagesordnungspunkt 3 d
über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für
Wirtschaft und Energie zum Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Urteil des Bundesverfassungsgerichts ernst nehmen - Bundesberggesetz unverzüglich reformieren“ zu entscheiden. Der Ausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/1124, diesen Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Hallo? Es wäre ganz gut, wenn sich der
eine oder andere an der Abstimmung beteiligte.
({0})
- Auf besonderen Wunsch meines Fraktionsvorsitzenden rufe ich jetzt noch einmal die Abstimmung über die
Beschlussempfehlung des Wirtschaftsausschusses auf,
den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 18/848 abzulehnen. Wer stimmt dieser Beschlussempfehlung zu? - Wer ist dagegen? - Wer enthält
sich? - Die Mehrheitsverhältnisse waren übersichtlich.
Damit ist diese Beschlussempfehlung angenommen.
Wir kommen jetzt zu unserem Tagesordnungspunkt 4
sowie dem Zusatzpunkt 2:
4 Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
CSU und SPD
50 Jahre diplomatische Beziehungen zwischen
Deutschland und Israel: Eingedenk der Vergangenheit die gemeinsame Zukunft gestalten
Drucksache 18/4803
Präsident Dr. Norbert Lammert
ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Omid
Nouripour, Marieluise Beck ({1}), Volker
Beck ({2}), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
50 Jahre deutsch-israelische diplomatische
Beziehungen - Einmaligkeit und Herausforderung
Drucksache 18/4818
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind auch
für diese Aussprache 96 Minuten vorgesehen. - Das ist
offenkundig einvernehmlich. Also können wir so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort
dem Bundesminister des Auswärtigen, Frank-Walter
Steinmeier.
({3})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ganz besonders dürfen wir heute Gäste aus Israel begrüßen. Herzlich willkommen hier in Berlin!
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, viele werden sich
erinnern: An diesem Pult stand vor fünf Jahren Präsident
Schimon Peres. Er erzählte die Geschichte seines geliebten Großvaters Rabbi Meltzer. Er berichtete von dem
Tag, als die Nationalsozialisten in die Stadt Wiszniewo,
heute in Weißrussland gelegen, eingedrungen waren und
alle Juden gezwungen hatten, in die Synagoge zu gehen.
Der Rabbi ging seiner Gemeinde voran. Er trug denselben Gebetsmantel, in den sich der kleine Schimon an
kalten Tagen eingehüllt hatte. Angekommen in der Synagoge verriegelten die Nazis die Türen. Die Synagoge
wurde angezündet. Und von der gesamten Gemeinde
blieb nur glühende Asche.
Schimon Peres hielt vor fünf Jahren, am HolocaustGedenktag, hier in diesem Plenarsaal ein, wie ich es in
Erinnerung habe, berührendes Plädoyer gegen das Vergessen. Zugleich sprach er von der - so seine Worte damals - „einzigartigen Freundschaft“ zwischen Deutschland und Israel. Über dem Abgrund der Vergangenheit
hat Israel, das Land der Opfer, dem Land der Täter die
Hand gereicht, und gemeinsam haben wir, Deutschland
und Israel, eine Brücke der Freundschaft gebaut. Dass
diese Freundschaft gelingen konnte, ist, wie ich finde,
nicht weniger als ein Wunder. Dafür dürfen insbesondere
wir Deutsche glücklich und dankbar sein, und das nicht
nur an Gedenktagen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({1})
Wenn wir nächste Woche das 50-jährige Bestehen unserer diplomatischen Beziehungen feiern, dann feiern
wir eine Freundschaft, die sich zu Kriegsende vor 70
Jahren wohl niemand hätte vorstellen können. Heute
aber, drei Generationen später, leben unsere Kinder diese
Freundschaft ganz selbstverständlich mit Freude und mit
Neugier. Deshalb ist dieses Jubiläum viel mehr als ein
politischer Meilenstein. Deutsche und Israelis sind einander im wahrsten Sinne des Wortes ans Herz gewachsen. Nicht alle Geschichten dieser Freundschaft kann ich
heute würdigen. Lassen Sie mich deshalb stellvertretend
nur drei persönliche Schlaglichter auf die Geschichte
werfen, um deutlich zu machen, wie kostbar das ist, was
wir heute feiern.
Meine Mutter wurde in Breslau geboren - damals ein
Zentrum des jüdischen Lebens, die Stadt von Fritz Stern
und Ignatz Bubis etwa. Beide mussten - viele Tausende
mit ihnen - als Kinder mit ihren Familien vor dem Hass
und Rassenwahn der Nationalsozialisten fliehen. Zehn
Jahre später musste auch meine Mutter mit denen, die
von der Familie übrig geblieben waren, fliehen, nunmehr
vor dem Krieg, den die Nazis über die Welt gebracht hatten und der sich gegen diejenigen gewendet hatte, die
ihn ausgelöst haben. Vor einem halben Jahr war ich in
Breslau zu Gast in der renovierten Synagoge. Dort durfte
ich die erste Ordinierung junger Rabbiner seit dem Krieg
miterleben - Rabbiner, die hier in Berlin und in Potsdam
ausgebildet worden waren. Diese vier jungen Geistlichen standen dort, wie ich finde, als lebendiges Zeugnis,
dass heute jüdisches Leben wieder aufblüht - in Europa
und bei uns in Deutschland. Darüber sollten nicht nur Juden sich freuen. Das bereichert uns alle, liebe Kolleginnen und Kollegen, weit über den Gedenktag hinaus.
({2})
Das zweite Schlaglicht, an das ich mich erinnere, fällt
in mein 18. Lebensjahr: der erste Besuch eines deutschen Bundeskanzlers in Israel. Damals, als Willy
Brandt nach Jerusalem ging, knirschte noch der Boden
unter jedem Schritt. Man beäugte sich vorsichtig. Jeder
Schritt wollte behutsam gesetzt sein. Es gab großes
Misstrauen gegenüber einem Neubeginn mit dem Tätervolk. Heute gehören deutsch-israelische Besuche zu unserem festen politischen Alltag. Wir sitzen sogar mit beiden vollständigen Regierungsmannschaften einmal im
Jahr um einen großen Tisch herum, planen Projekte, debattieren, es wird gelacht, auch gestritten - ernsthaft und
ehrlich, so wie gute Freunde das eben tun. Die mutige
politische Saat von Ben-Gurion und später Konrad
Adenauer - sie ist aufgeblüht, und sie trägt Früchte, auch
über unsere eigenen Grenzen hinaus, wenn wir uns zum
Beispiel in den internationalen Foren gemeinsam gegen
Antisemitismus und Rassismus einsetzen.
Das dritte Schlaglicht, liebe Kolleginnen und Kollegen, fällt auf die Generation unserer Kinder. Ich denke
an mein eigenes, aber auch an die Kinder meiner israelischen Kollegen. Für unsere Kinder ist die deutsch-israelische Begegnung ein ganz selbstverständlicher Teil ihrer Welterkundung geworden. Tel Aviv und Berlin
ziehen junge Leute an als Magneten der Moderne. Junge
Deutsche steigen in Tel Avivs boomende Start-up-Szene
ein. Sie studieren in Jerusalem oder leisten ein Freiwilliges Soziales Jahr. Umgekehrt kommen junge Israelis
nach Berlin. Sie tauchen ins Kunstleben ein, sie eröffnen
Restaurants, starten neue Businessideen. Sie erkunden
auch die Spuren ihrer Großeltern und Urgroßeltern, all
jener, denen unter den Nazis unsägliches Leid geschah.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, in diesen Geschichten zeigt sich das menschliche Wunder der deutsch-israelischen Beziehungen. Die Freundschaft ist eben
längst keine diplomatische Eliteveranstaltung mehr.
Diese Freundschaft ist getragen von Menschen. Sie ist in
tausend Facetten des Alltags lebendig, und genau das
macht sie so stark, genau das macht sie so unverzichtbar.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, lasst uns bewahren,
was da in den letzten 50 Jahren gewachsen ist!
({3})
Der Blick zurück über diese 50 Jahre schärft zugleich
den Blick nach vorn, eröffnet uns einen „Horizont der
Hoffnung“; denn, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass
Deutschland und Israel nach dem unsagbaren Grauen der
Vergangenheit der Weg zur Freundschaft gelungen ist,
das sendet, wie ich finde, auch eine ganz kraftvolle Botschaft, eine Botschaft von Verständigung und Versöhnung, die leuchten kann in dieser Welt, die nach wie vor
voller Gegensätze, voller Hass und leider ohne Frieden
ist. Präsident Peres sprach hier im Deutschen Bundestag
vor fünf Jahren von diesem „Horizont der Hoffnung“
und sagte:
Während mein Herz zerreißt, wenn ich an die Gräueltaten der Vergangenheit denke, blicken meine Augen in die gemeinsame Zukunft einer Welt von jungen Menschen, in der es keinen Platz für Hass
gibt …
Wer heute auf den Zustand der Welt blickt, gerade auf
die so unfriedliche Nachbarschaft von Israel, der mag
diese Hoffnung naiv nennen. Wer aber auf die deutschisraelische Freundschaft blickt und sich erinnert, aus
welch finsterem Tal sie emporgewachsen ist, der sieht,
dass Hoffnung nicht Ausdruck von Naivität sein muss ganz im Gegenteil! Wer das einsieht, der muss sich die
Botschaft von Verständigung und Versöhnung, die in
dieser Freundschaft steckt, auch zu Herzen nehmen, sie
nicht nur mit Worten feiern, sondern sie, wo immer möglich, in die Tat umsetzen. Das heißt eben, dass wir hier
bei uns zu Hause aufstehen müssen gegen jegliche Form
von Antisemitismus, Rassismus und Fremdenhass. All
das darf keinen Platz in dieser Gesellschaft finden - nie
wieder!
({4})
Das heißt eben auch, dass wir uns für Frieden für Israel und seine Nachbarn einsetzen. Israels Sicherheit ist
für Deutschland historisches Gebot und unverbrüchlicher Teil unserer Freundschaft. Und wir glauben: Nachhaltige Sicherheit für das jüdische und demokratische Israel wird es nicht ohne einen lebensfähigen und
demokratischen palästinensischen Staat geben. Und deshalb: So beschwerlich der Weg zu einer Zwei-StaatenLösung auch sein mag, wir werden ihn weiter unterstützen. Dabei gilt für mich, liebe Kolleginnen und Kollegen: Meinungsunterschiede und die dazugehörende Ehrlichkeit hält eine gute Freundschaft aus. Umso mehr aber
wehre ich mich dagegen, wenn unsere Freundschaft in
manchen öffentlichen Debatten einzig auf diese Meinungsunterschiede im Nahostkonflikt reduziert wird.
Darum geht es nicht.
({5})
Israels Sicherheitsbedürfnis haben wir auch im Blick,
wenn die Partner der E3+3 mit dem Iran über den Nuklearkonflikt verhandeln. Klar ist: Am Ende wird nur eine
Vereinbarung unterschrieben, die mehr Sicherheit für Israel bedeutet - und nicht weniger. Zugleich steckt auch
in diesen Verhandlungen, wie ich finde, die Botschaft
der Verständigung. Wenn es uns gelingt, Mitte dieses
Jahres das Abkommen zu schließen, dann setzen wir wenigstens ein Hoffnungszeichen, das auf die vielen anderen Konfliktherde im Mittleren Osten ausstrahlen
könnte. Auch für diese könnte man vielleicht ähnliche
Lösungen suchen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch unsere Generation, die das deutsch-israelische Wunder hat wachsen
sehen, wird den von Schimon Peres gezeichneten „Horizont der Hoffnung“ nicht erreichen können. Die Welt
ohne Hass, die Schimon Peres entworfen hat, ist leider
noch weit weg. Aber wir geben seine Vision weiter an
eine starke, optimistische Generation von jungen Israelis
und Deutschen, eine Generation, die in allen Gesellschaftsbereichen, von Wirtschaft bis Kultur, miteinander
verbunden ist, eine Generation, die kritische Fragen
stellt - an die Politik der eigenen und der jeweils anderen Regierung; auch das gehört dazu -, vor allem aber
eine Generation, die neugierig aufeinander und auf die
Welt ist, die international denkt und international lebt.
Wenn ich auf diese Generation schaue, dann weiß ich:
So unfriedlich die Welt heute auch sein mag, unsere
deutsch-israelische Hoffnung auf Versöhnung und Verständigung war nicht naiv, und sie wird es auch morgen
nicht sein.
Vielen Dank.
({6})
Vielen Dank, Frank-Walter Steinmeier. - Nächster
Redner in der Debatte: Dr. Gregor Gysi für die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die jüdische Diaspora begann in der Folge gescheiterter Aufstände vor fast 2 000 Jahren. Über diesen langen Zeitraum hinweg hat sich diese Volksgruppe erhalten.
Häufig werden Bevölkerungen, wenn sie vertrieben werden, in andere Bevölkerungen anderer Länder so integriert, dass sie als eigene ethnische Gruppe mit eigener
Kultur nicht bestehen bleiben. Dass die Jüdinnen und Juden über 2 000 Jahre, im Unterschied zu vielen anderen
aus der Antike bekannten Völkern, ihre Identität bewahren konnten, liegt auch und gerade an der jüdischen Religion.
In christlich und muslimisch geprägten Staaten bildeten Jüdinnen und Juden immer eine besondere Gruppe,
die entweder genutzt oder verfolgt wurde. Ich konzentriere mich hier auf Europa.
Bestimmte Dinge waren für die Jüdinnen und Juden
verboten, zum Beispiel der Kauf von Grund und Boden
und anderen landwirtschaftlichen Produktionsmitteln, das
Ergreifen vieler bürgerlicher Berufe. Da sie lange Zeit weder Richter noch Staatsanwälte werden durften, wurden
sie halt clevere Rechtsanwälte. Anderes war ihnen im Unterschied zu den Christinnen und Christen erlaubt. So
durften zu bestimmten Zeiten nur sie Geld verleihen und
Zinsen einnehmen. In der im Frühkapitalismus ausgebildeten Finanzsphäre konnten zunächst nur Juden Banken
gründen; die anderen wurden ihre Schuldner. Alles Unbehagen am aufkommenden Kapitalismus ließ sich auf die
sogenannten jüdischen Bankiers projizieren. Natürlich haben die christlichen Kirchen irgendwann nachgezogen
und auch den Christinnen und Christen Finanzgeschäfte
erlaubt, aber ein wesentliches weiteres Element des Antisemitismus war schon in der Welt.
Interessant ist, dass es unter den herausragenden
Künstlerinnen und Künstlern, Wissenschaftlerinnen und
Wissenschaftlern und Schriftstellerinnen und Schriftstellern wirklich viele Menschen jüdischer Herkunft gab
und bis heute gibt. Vielleicht besteht auch hier ein Zusammenhang zur Sonderstellung und Ausgrenzung. Jüdinnen und Juden hatten nur dann eine Chance, wenn sie
doppelt so viel leisteten. Auch nicht unterschlagen
möchte ich ihre Kultur der Auslegung traditioneller
Texte und die Tatsache, dass sie bis in die Frühmoderne
hinein islamische Universitäten besuchen durften, die
Christen dagegen nicht. Die Juden hatten so einen Anschluss an die Vermittlung des damals fortschrittlichen
Wissens. Heute sind die kulturellen, künstlerischen und
wissenschaftlichen Leistungen in Israel gut, aber nicht
mehr einzigartig. Ich werte das als Ausdruck einer Normalisierung des jüdischen Lebens in Israel.
Die in vielerlei Hinsicht bestehende Sonderstellung
der Jüdinnen und Juden in Europa und in Deutschland in
früherer Zeit hat auch dazu beigetragen, sie zu Sündenböcken für alles Mögliche zu deklarieren. Man musste
nicht einmal Antisemit sein, um eine Minderheit zur
Projektionsfläche für Schuld, Versagen und gesellschaftliche Fehlentwicklung zu machen, um von eigener Verantwortung abzulenken und bzw. oder Konkurrenten
auszuschalten.
Die Erfahrungen, die Jüdinnen und Juden bis heute
prägen, sind die Möglichkeiten des Aufstiegs und der Integration und gleichzeitig die jederzeit mögliche Diskriminierung, schwere Verleumdung und Verfolgung. Im
zaristischen Russland kam es immer wieder zu schweren
Pogromen. Fälschungen wie die Protokolle der Weisen
von Zion wurden in Umlauf gebracht. Aber auch in den
anderen Ländern Europas kam es zu gravierenden antisemitischen Vorfällen wie zum Beispiel bei der DreyfusAffäre. Das bildet auch den Hintergrund für die Entstehung der zionistischen Bewegung unter Theodor Herzl.
Der Grundgedanke dieser Bewegung war, dass die bürgerlichen Emanzipationsversprechen für Jüdinnen und
Juden in gesicherter Weise nur dann erfüllbar sein werden, wenn es gelingt, einen eigenen Nationalstaat zu bilden.
Für viele osteuropäische Jüdinnen und Juden war gerade Deutschland ein Einwanderungsland. Seit 1819 gab
es keine pogromartigen Unruhen mehr in Deutschland.
Deshalb galt dieses Land als eines der am wenigsten antisemitischen Länder Europas. Umso bestürzender erscheint daher die Machtergreifung der Nazis, die aus ihrem extremen Antisemitismus keinen Hehl machten. Der
von den Nationalsozialisten organisierte Völkermord an
den Jüdinnen und Juden weist einen Doppelcharakter
auf. Zum ersten Mal in der Geschichte wurde auf den
rationalen Verwaltungsstaat und die rationalen Organisationsformen der Industrie zurückgegriffen, um ein grausames Vernichtungswerk zu verrichten. Dabei war jedoch andererseits ein ideologischer Fanatismus
wirksam, der irrational war. Und was für eine Vernunft
soll auch einem reinen Vernichtungsziel zugrunde liegen? - Diesem Ziel waren sogar sowohl die ökonomische als auch die militärische Rationalität untergeordnet.
Es ist beispielsweise überliefert, dass ein für die Kriegführung in Griechenland benötigtes deutsches Schiff
stattdessen für die Deportation von 200 Jüdinnen und Juden nach Auschwitz genutzt wurde.
Freilich war der Vernichtungswille des NS-Regimes
nicht von Anbeginn in seiner vollen Brutalität ausgeprägt. Lange versuchten die Nazis, Jüdinnen und Juden
zur Auswanderung zu nötigen und deren Eigentum zu
stehlen. Nach der Reichspogromnacht markierte dann
aber die Wannseekonferenz den Übergang zum Holocaust, zum industriellen Massenmord. Auch die mit dem
Holocaust verbundenen beispiellosen Verbrechen an den
Jüdinnen und Juden haben die UNO dazu motiviert, die
Staatsgründung Israels zu beschließen. Nicht weniges
lässt sich am Zionismus auch kritisieren. Aber zu seiner
Entstehung hat der Jahrhunderte anhaltende Antisemitismus deutlich beigetragen.
Unmittelbar nach der Ausrufung des Staates Israel erklärten mehrere arabische Staaten Israel den Krieg. Militärhilfe erhielten die Israelis damals nur von der Sowjetunion und der Tschechoslowakei. Erst später änderte
sich dies, und die USA wurden zum engsten Verbündeten Israels. Man muss wissen: Nur ein jüdischer Staat,
erst recht einer mit einflussreichen Verbündeten, kann
den Jüdinnen und Juden einen wirksamen internationalen Schutz vor Diskriminierung und Verfolgung bieten.
({0})
Es ist ein großer Unterschied, ob ein Vertreter einer Interessenorganisation eine Beschwerde vorträgt oder ob ein
Staat dies tut. Deshalb sage ich gerade heute und deutlich allen israelischen Bürgerinnen und Bürgern: Auch
die Palästinenserinnen und Palästinenser haben das
Recht auf einen eigenen Staat, auf ihren internationalen
Schutz.
({1})
Die Besetzung der palästinensischen Gebiete muss
aufgegeben werden. Ein lebensfähiger Staat Palästina
muss in den Grenzen von 1967 gebildet werden. Das
kann die Basis für Gebietsaustauschverhandlungen sein.
Der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu
verhält sich leider nicht sonderlich hilfreich. Mal heißt
es, mit ihm werde es keinen palästinensischen Staat geben; dann jedoch sagt er das Gegenteil. Das ist nicht vertrauensbildend, auch nicht der Siedlungsbau und die absichtsvollen Demütigungen von Palästinenserinnen und
Palästinensern in den besetzten Gebieten.
Es gibt Ziele und Methoden der palästinensischen Hamas, die wir selbstverständlich eindeutig ablehnen.
Dass die Bundesrepublik Deutschland vor 50 Jahren
diplomatische Beziehungen zum Staat Israel aufnahm,
war richtig und wichtig.
({2})
Das trug auch dazu bei, die Bundesrepublik innerhalb
der internationalen Staatengemeinschaft zu etablieren.
Die DDR hatte zu keinem Zeitpunkt versucht, diplomatische Beziehungen zu Israel aufzubauen. Das war angesichts des Erbes der deutschen Vergangenheit falsch.
({3})
Auf dem Sonderparteitag der SED 1989 habe ich erklärt,
dass die DDR diplomatische Beziehungen zu Israel herstellen solle. Das wurde mit großem Applaus aufgenommen. Es hatte sich in der DDR auch diesbezüglich etwas
verändert, ein schlechtes Gewissen ausgeprägt.
Wir müssen für enge und gute politische, wirtschaftliche, wissenschaftliche und kulturelle Beziehungen zu Israel eintreten. Wichtig ist der wachsende Jugendaustausch über ConAct.
Es gibt für Deutschland jedoch nicht nur eine besondere Verantwortung gegenüber den Jüdinnen und Juden,
sondern auch gegenüber den Palästinenserinnen und Palästinensern; denn sie bezahlen auch für die von Deutschen begangenen Verbrechen. Wir alle wollen Sicherheit für Israel. Aber diese Sicherheit wird es nicht geben,
wenn der Konflikt mit den Palästinenserinnen und Palästinensern nicht dauerhaft beendet wird. Deshalb wünsche ich mir mehr Leidenschaft meiner Regierung im
Kampf um einen palästinensischen Staat.
({4})
Zur Lösung des Nahostkonflikts zwischen Israel und
Palästina gibt es nur drei Möglichkeiten:
Bei der ersten Möglichkeit bildeten Jüdinnen und Juden sowie Palästinenserinnen und Palästinenser einen
gemeinsamen demokratischen Staat. Dann gäbe es eine
palästinensische Mehrheit. Es wäre also kein jüdischer
Staat mehr. Die Möglichkeit zum internationalen Schutz
von Jüdinnen und Juden wäre deutlich eingeschränkt.
Die zweite Möglichkeit bestünde in einem gemeinsamen Staat, der aber, um jüdischer Staat zu bleiben, ein
Apartheidregime schüfe, in dem die Palästinenserinnen
und Palästinenser deutlich weniger Rechte hätten. Ein
solcher Staat wäre höchst undemokratisch und muss verhindert werden.
Es kann daher - dritte Möglichkeit - nur eine anzustrebende demokratische Lösung geben: die Zwei-Staaten-Lösung.
Meine Generation wurde geprägt durch die Erinnerung an die Verbrechen gegen die Jüdinnen und Juden.
Es gibt eine schwer zu fassende Vorsicht, Hemmungen
im Umgang mit Jüdinnen und Juden, auch schlechtes
Gewissen. Vielleicht vermag die heutige Jugend wesentlich gleichberechtigtere Haltungen zu entwickeln. Schon
deshalb sollte meine Generation ihre Beklemmungen
nicht auf die Jugend übertragen. Es wäre gut, wenn die
heutige Jugend weiter ist, als meine Generation sein
kann. Menschenrechte müssen gleichermaßen für Jüdinnen und Juden, Palästinenserinnen und Palästinenser,
Deutsche und alle anderen gelten.
({5})
Die Auseinandersetzung mit der Geschichte des eigenen Landes muss es gerade bei uns immer geben. Diese
Verantwortung hat jede Generation. Deshalb wünsche
ich mir, dass jede und jeder Deutsche, wenn es irgendwie
möglich ist, einmal im Leben Auschwitz, einmal im Leben Israel und einmal im Leben Palästina, das heißt das
Westjordanland und den Gazastreifen, besucht. Antisemitismus müssen wir in jeder Form immer wieder und
entschieden zurückweisen. Das gilt ebenso für jede
Form des Rassismus.
50 Jahre diplomatische Beziehungen zu Israel sind
mehr als erfreulich. 20 000 Israelis leben inzwischen in
Berlin, eine nach den Naziverbrechen kaum vorstellbare
und deshalb besonders zu begrüßende Entwicklung.
Aber es wird höchste Zeit, auch zu Palästina diplomatische Beziehungen auf höchster Ebene und darüber hinaus auch auf allen anderen Gebieten aufzunehmen. Das
schwächt nicht unsere Beziehungen zu Israel - im Gegenteil!
({6})
Vielen Dank, Gregor Gysi. - Nächster Redner in der
Debatte: Volker Kauder für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Wenn man heute über das Verhältnis von
Deutschland und Israel spricht, scheint alles ganz normal
zu sein. Aber man kann auch heute, 50 Jahre nach Aufnahme diplomatischer Beziehungen, gar nicht genug ermessen, was vor 50 Jahren tatsächlich geschehen ist.
Richtig ist, dass das Nachkriegsdeutschland, das sich in
eine moderne Demokratie hinein entwickelnde Deutschland, Beiträge dazu geleistet hat - Konrad Adenauer und
andere - und auf Israel zugegangen ist. Diese Beiträge
waren aber nicht entscheidend dafür, dass wir zu einem
neuen Verhältnis mit Israel gekommen sind. Entscheidend war etwas Unglaubliches, etwas Unfassbares und
aus unserer Sicht Wunderbares, nämlich dass die Juden
und der Staat Israel uns die Hand ausgestreckt haben und
uns gesagt haben: Wir wollen mit euch einen neuen Anfang wagen.
({0})
Der Dank gilt daher heute, an diesem Tag, da wir dieses
Jubiläum feiern, dem Staat Israel und den Juden, die auf
das Tätervolk zugegangen sind. Das dürfen wir nicht
vergessen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, es war vor
50 Jahren auch nicht einfach. Wenn man sich die Diskussionen, die damals stattgefunden haben, anschaut,
stellt man fest, dass das Näherzusammenrücken von
Deutschland und Israel höchst umstritten war - in Israel
und in Deutschland. Es bedurfte mehr mutiger Menschen in Israel, um den Weg so zu ebnen, dass gesagt
werden konnte: Wir wollen es versuchen. - Für uns war
das vergleichsweise leichter. Auch deshalb sind wir denjenigen dankbar, die sich trotz der Geschehnisse im Dritten Reich wieder in Deutschland angesiedelt haben und
hier, in diesem Land, Heimat gesucht und gefunden haben. Daraus resultiert eine ganz besondere Verantwortung.
Es ist etwas Großartiges, dass wir wieder jüdisches
Leben in Deutschland haben, aber es ist beklemmend,
wenn Juden uns erzählen, dass sie Angst haben, sich in
bestimmten Regionen, in bestimmten Gebieten als Juden
zu erkennen zu geben. Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, so etwas darf es in diesem Land nicht
geben! Dagegen müssen wir uns entschieden wehren!
({1})
Für mich ist es beklemmend und schlimm genug, dass
die Synagoge in der Oranienburger Straße, das Jüdische
Museum und verschiedene andere Einrichtungen in unserem Land durch die Polizei geschützt werden müssen.
Aber es ist noch viel beklemmender, wenn wir erleben
müssen, dass Juden, die sich als Juden zu erkennen geben, in unserer Hauptstadt das Risiko eingehen, überfallen und verprügelt zu werden, wie es in der Oranienburger Straße immer wieder geschehen ist. Das darf einfach
nicht passieren.
Ich kann auch verstehen, dass Juden fassungslos darüber sind, dass die israelische Flagge, die bei einem
Fußballspiel hier in Berlin für einen israelischen Fußballer ausgerollt wurde, zusammengerollt werden musste,
und zwar nicht auf Veranlassung des Vereins, sondern
auf Veranlassung der Polizei. Das geht einfach nicht!
({2})
Wir tragen also Verantwortung dafür, dass jüdisches
Leben in unserem Land wie selbstverständlich stattfinden kann. Wir tragen auch Verantwortung dafür, dass die
Erinnerung an das, was im Dritten Reich passiert ist,
wach bleibt. Das wird nicht einfacher, wenn die Zahl der
Angehörigen der Erlebnisgeneration immer weniger
wird und wenn wir uns Gedanken machen müssen, wie
wir das an junge Menschen herantragen.
Diese Erinnerung an das, was geschehen ist, ist zwingend notwendig. Da darf es keine Schlussstrichdiskussion geben; denn für uns selber, für uns Deutsche ist es
existenziell wichtig, dass wir uns immer daran erinnern.
Da müssen die Dinge auch klar angesprochen werden.
Ja, es gibt in unserem Land Antisemitismus bei Menschen, die schon lange hier leben und vielleicht auch hier
geboren wurden. Es gibt aber genauso eingewanderten
Antisemitismus. Beides darf in unserem Lande nicht
stattfinden, liebe Kolleginnen und Kollegen!
({3})
Es hat mich fassungslos gemacht und tief berührt, als
in meiner Heimatstadt, einer Stadt mit 30 000 Einwohnern, im letzten Jahr eine Demonstration von vielen
Menschen mit Migrationshintergrund stattgefunden hat,
auf welcher der Satz „Juden raus“ gerufen wurde. Das
dürfen wir nicht zulassen! Dieser Satz darf in Deutschland nie mehr unwidersprochen fallen. Am besten fällt er
überhaupt nicht mehr!
({4})
Wir sind natürlich auch fest an der Seite Israels, wenn
es um ganz wichtige politische Fragen geht. Die Bundeskanzlerin hat in ihrer viel beachteten Rede in der Knesset
gesagt, dass das Existenzrecht Israels Teil der deutschen
Staatsräson ist. Das ist ein Satz, der eben nicht nur in
Sonntagsreden gilt, sondern der Konsequenzen in der
Politik hat. Ich bin unserem Außenminister dafür dankbar, dass er gesagt hat: Dieses Existenzrecht Israels gilt
es natürlich auch in unseren politischen Verhandlungen
zu beachten, die wir mit dem Iran führen.
In Israel ist man voller Sorge, dass Entscheidungen
fallen könnten, die die Sicherheitsinteressen Israels verschlechtern. Deswegen müssen wir schon klar und deutlich sagen: Es kann keinen Abschluss mit dem Iran geben, der die Sicherheit Israels nicht verbessert, und
keinen Abschluss, der die Sicherheit verschlechtert. Da
dürfen wir auch nicht aus politischer Opportunität wegschauen, sondern da müssen wir klar sagen: Die Verhandlungen mit dem Iran dürfen das Existenzrecht Israels in keiner Weise gefährden, liebe Kolleginnen und
Kollegen!
({5})
Die Freundschaft mit Israel bedeutet allerdings auch,
dass wir unserem Freund Israel helfen, in wichtigen politischen Fragen richtige Entscheidungen zu treffen nicht indem wir hier bevormundend auftreten, sondern
indem wir im Dialog mit der israelischen Regierung
auch auf Sorgen aufmerksam machen, die wir haben,
und indem wir auf mögliche Entwicklungen hinweisen,
die wir uns wünschen. Dazu gehört aber auch, dass wir
als Freund Israels immer Folgendes zu bedenken haben:
Wir können in diesem Jahr 70 Jahre Frieden und Freiheit
feiern, während Israel in den vergangenen 70 Jahren
nicht einmal einen Bruchteil von dem Frieden und der
Sicherheit hatte, die wir hier gehabt haben. Israel war
ständig in Sorge, ständig im Abwehrkampf, ständig von
Terrorismus überzogen. Deshalb ist es ein Unterschied,
ob man aus Sicht Israels oder aus Sicht unseres Landes,
eines sicheren Hafens, spricht. Das bitte ich immer wieder zu berücksichtigen, wenn man mit Israel über Zukunftsfragen redet.
({6})
Natürlich wissen wir aus unserer eigenen Geschichte,
wie wichtig es ist, dass man in einem Staat leben kann,
dass man seine Interessen entsprechend formulieren
kann. Deswegen muss eine Lösung im Nahen Osten gefunden werden. Natürlich gibt es auch das Recht der Palästinenser, in einem Staat zu leben. Darüber werden wir
mit Israel immer wieder sprechen müssen. Aber eines ist
auch klar: Es gibt kein Recht - schon gar nicht angesichts dessen, was im Zweiten Weltkrieg geschehen ist,
und mit Blick auf unsere politische Ausrichtung nach
dem Zweiten Weltkrieg -, sein Recht mit Gewalt und
Terror zu erzwingen. Das müssen wir den Palästinensern
auch klar und deutlich sagen.
({7})
Da haben wir also einen wichtigen Beitrag zu leisten. Diesen Beitrag können wir vielleicht besser leisten, weil wir definitiv wissen, dass der Staat Israel und
die Juden - für mich immer noch unfassbar nach dem,
was es an Brutalität gab und was an gemeinen Verbrechen geschehen ist - uns in besonderer Weise vertrauen. Es ist ein besonderer Vertrauensbeweis, dass
der Staat Israel die Vertretung seiner diplomatischen
Interessen und die Vertretung der Interessen seiner Bürger in den Ländern, in denen er keine eigenen diplomatischen Vertretungen hat, auf die Bundesrepublik
Deutschland übertragen hat - nicht auf Amerika oder
auf ein anderes europäisches Land, sondern auf
Deutschland. Das ist ein weiterer großartiger Beweis
dafür, dass man uns vertraut.
Ich kann nur sagen - ich glaube, das kann man für den
ganzen Deutschen Bundestag sagen -: Wir werden alles
daransetzen, uns dieses Vertrauens würdig zu erweisen.
({8})
Vielen Dank, Volker Kauder. - Nächste Rednerin in
der Debatte: Katrin Göring-Eckardt für Bündnis 90/Die
Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und liebe Kollegen! Wer 50 Jahre zurückblickt, kommt nicht umhin,
sich zu wundern. Mit diesem Deutschland hat Israel
1965 diplomatische Beziehungen aufgenommen: 20
Jahre nach dem Ende des Nationalsozialismus war
Deutschland weder frei von Schuld noch frei von Schuldigen. Ganz im Gegenteil: Es war eine Gesellschaft, deren Kriegsgeneration sich den Fragen ihrer Kinder nach
kollektiver und individueller Schuld noch gar nicht gestellt hatte und auch nicht stellen wollte. Die in der deutschen Bevölkerung seinerzeit verbreitete Einstellung
wurde vier Jahre später, im Jahr 1969, von Franz Josef
Strauß so ausgedrückt - ich zitiere -:
Ein Volk, das diese wirtschaftlichen Leistungen
vollbracht hat, hat ein Recht darauf, von Auschwitz
nichts mehr hören zu wollen.
Wie unglaublich, wie absurd, wie anmaßend - damals
wie heute.
Übrigens: Die DDR hat nicht nur keine diplomatischen Beziehungen zu Israel aufnehmen wollen; sie hat
weder eine Debatte über Aufarbeitung noch über Schuld
geführt. Ein antifaschistischer Schutzwall sollte dazu
führen, dass die Täter auf der anderen Seite sind; eine
Hypothek bis heute.
Die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen
Israel und Deutschland war übrigens auch nicht das Resultat sorgfältiger Vorbereitung. Es war das Ergebnis einer Folge von Skandalen und Enthüllungen im Kontext
des Kalten Krieges: deutsche Raketentechniker in Ägypten, geheime Waffenlieferungen von Deutschland nach
Israel, die Hallstein-Doktrin, der Besuch von Walter
Ulbricht in Ägypten.
In den folgenden Jahren und Jahrzehnten entstanden
einerseits sehr enge und tragfähige Beziehungen in den
Bereichen von Politik, Kultur, Zivilgesellschaft, Bildung
und Wissenschaft. Andererseits gab es aber auch immer
wieder Anlässe zu spürbaren Verstörungen in dem Verhältnis beider Länder. Das reichte von der antiisraelischen Wendung vieler Gruppen der westdeutschen Linken nach 1965, dem Terroranschlag auf die israelische
Olympiamannschaft im Jahr 1972 über die sogenannte
Schmidt-Begin-Kontroverse 1981 und den Israel-Besuch
von Helmut Kohl 1984 bis hin zu dem umstrittenen Gedicht des gerade verstorbenen Autors Günter Grass aus
dem Jahr 2014.
Dass die deutsch-israelischen Beziehungen intensiv
und tragfähig wurden, ist auch, aber nicht nur das Verdienst vieler Regierungs- und Parlamentsvertreter und
-vertreterinnen beider Staaten. Es ist ebenso ein Verdienst vieler Bürgerinnen und Bürger, Kirchen und
Kirchgemeinden, Städtepartnerschaften, Kulturprojekte,
die diese Beziehung mit Leben gefüllt haben und sie tragen, die einander auch in politisch schwierigen Zeiten
vertrauensvoll verbunden geblieben sind.
Eine wichtige Arbeit hat bereits vor 54 Jahren begonnen. Ich will sie erwähnen, weil ich ihr persönlich verbunden bin. 1961 kamen die ersten Freiwilligen der Aktion Sühnezeichen Friedensdienste aus Deutschland
nach Israel. Seit 20 Jahren kommen auch junge Israelis
zu Freiwilligendiensten nach Deutschland. Die Geschichten, die die jungen Leute erzählen, sind und bleiben beeindruckend: wenn Hilfe im Haushalt plötzlich zu
einer tiefen Freundschaft über mehrere Generationen
hinweg wird und wenn ein alter Mann einem Helfer
Dinge erzählt, die er seinen eigenen Kindern nie anvertrauen wollte. Diese Arbeit ist von unschätzbarem Wert.
Je mehr die Generation der Zeitzeugen schwindet, umso
wichtiger wird die Generation, die Zeugnis für die Zukunft ablegt.
({0})
Ich persönlich bin sehr dankbar dafür, dass wir über
unsere gemeinsame Geschichte reden können. Als ich
Gabriel Bach, den Ankläger im Eichmann-Prozess, in
Jerusalem traf, haben wir über diese Geschichte sprechen können. Ich bin sehr froh, dass er das mit vielen Jugendlichen getan hat. Aber noch viel mehr bleibt mir
sein Besuch in Berlin in Erinnerung. Im Gespräch stellten wir fest, dass meine Berliner Wohnung unweit der
Straße war, in der er aufgewachsen ist. Es war Frühjahr,
und er war dort. Überall sah man Geranien an den Balkonen, rote Geranien. Gabriel Bach aber hat keine Geranien gesehen. Er sah nur das Rote und dachte an die Fahnen der Nazis, die damals auf einmal aus allen Fenstern
hingen.
Aktuelle Umfragen zeigen, dass eine erschreckend
hohe Zahl von Bürgerinnen und Bürgern in unserem
Land einen Schlussstrich unter die Aufarbeitung der Vergangenheit ziehen möchte. Ihnen müssen wir widersprechen.
({1})
Geschichte zu kennen, bedeutet, Verantwortung zu leben, ganz unabhängig vom eigenen Alter und von der
Frage persönlicher Schuld. Nie vergessen ist keine Hypothek, sondern es ist das wichtigste Erbe, das wir weiterzugeben haben.
Es muss uns umtreiben, dass im vergangenen Jahr die
Zahl antisemitischer Straftaten in Deutschland um
25 Prozent angestiegen ist. Das ist für unser Land beschämend. Ich hoffe trotzdem umso mehr, dass die Menschen jüdischen Glaubens, die hier zu Hause sind, es
auch bleiben. Es ist unser gemeinsames Land. Es ist unsere gemeinsame Hoffnung.
({2})
Herr Kauder hat eben zu Recht darauf hingewiesen,
wie absurd es ist, dass eine israelische Flagge im Fußballstadion eingerollt werden musste. Natürlich hat sich
der Polizeipräsident entschuldigt, und wahrscheinlich
sind wir uns auch alle einig darüber, wie falsch diese Aktion war. Das Gefährliche daran ist aber die Gedankenlosigkeit, mit der das passiert ist.
({3})
50 Jahre diplomatische Beziehungen zwischen Israel
und Deutschland, das ist kein gegenseitiges Verteilen
von Streicheleinheiten. Es ist ein gewachsenes Verständnis füreinander, das auch Kritik aushalten kann und
muss, genauso wie Enttäuschungen. Die von Benjamin
Netanjahu im Wahlkampf geäußerte Aussage, an der
Perspektive der Zwei-Staaten-Lösung nicht mehr arbeiten zu wollen, war eine solche Enttäuschung. Darum
muss man nicht herumreden. Aber auch wenn es im Gebälk knirscht: Das Fundament ist stabil. Die Beziehungen sind nicht nur von Geschichte, sondern auch von
Gegenwart geprägt.
Es gibt auch weiterhin viel zu besprechen in und zwischen unseren Gesellschaften. Was wir nicht brauchen,
ist eine gern beschworene Normalisierung des einzigartigen Verhältnisses zwischen Israel und Deutschland. Eine
Normalisierung würde nämlich die Besonderheit unseres
Verhältnisses zu und unsere Verantwortung für Israel negieren. Wir feiern 50 Jahre diplomatische Beziehungen
im selben Jahr, in dem wir an den 70. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz erinnern. Beides ist untrennbar
miteinander verknüpft. Diese Erinnerung ist kein konservierendes Geschichtsbild, sondern sie ist Auftrag.
Der Blick auf die Geranien am Balkon in Charlottenburg und der Strandspaziergang unserer Kinder und Enkel in Tel Aviv: Es wird Momente geben, die eben nicht
unbeschwert sind. Von daher zu den 50 Jahren beides:
Schalom und Mazel tov.
({4})
Vielen Dank, Katrin Göring-Eckardt. - Nächster Redner: Achim Post für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich darf anfangen mit einem Dank an alle Rednerinnen
und Redner vor mir, die alle auf ihre Art eindrucksvoll
beschrieben haben, wie sich das Verhältnis zwischen
Deutschland und Israel in den letzten Jahren und Jahrzehnten entwickelt hat.
In zehn Wochen, am 27. Juli 2015, ist ein richtig guter
Tag. Da beginnen nämlich in Berlin die 14. European
Maccabi Games, das größte jüdische Sportereignis Europas, eine Art Olympiade für jüdische Sportlerinnen und
Sportler. Dann treffen sich 2 300 Frauen und Männer
und messen sich im Schwimmen, im Laufen, im Schachspielen, beim Basketball, und das alles auf dem Gelände
des ehemaligen Reichssportfeldes, das für die Olympiade 1936 erbaut worden ist. 70 Jahre nach dem Holocaust findet das größte jüdische Sportereignis in Berlin
statt, unterstützt vom Regierenden Bürgermeister und
vom ganzen Senat. Ich finde, auch das ist ein Sieg über
Hitler und Nazi-Deutschland.
Achim Post ({0})
({1})
Dazu kommt das vielfältige jüdische Leben in
Deutschland: in jüdischen Gemeinden und außerhalb
von jüdischen Gemeinden. Dazu kommen Tausende und
Abertausende Israelis, die für ein Wochenende, für eine
Woche, für ein Jahr oder für immer nach Berlin und
Deutschland kommen. Das alles sind Hinweise, ja Beweise, wie eng die Bande zwischen den Menschen in Israel und Deutschland geworden sind.
Volker Kauder hat gefragt: Ist jetzt also alles wieder
gut? Ist Normalität eingekehrt wie - sagen wir - zwischen Dänemark und Schweden? Ist es Zeit, den sogenannten Schlussstrich zu ziehen? Wie alle Vorrednerinnen und Vorredner sage ich eindeutig: Nein.
({2})
Buchstaben und Geist dieses Koalitionsantrags unterstreichen dieses Nein, wenn vom einmaligen Charakter
der deutsch-israelischen Beziehungen gesprochen wird.
Zugegeben: Die Überschrift des Antrags kommt etwas
holprig daher - „Eingedenk der Vergangenheit die
gemeinsame Zukunft gestalten“ -, aber sie trifft den
Kern.
Als seine Lehrerin den neunjährigen, uns allen bekannten Marcel Reich-Ranicki Ende der 20er-Jahre vor
dessen Umzug nach Berlin verabschiedete, tat sie das
mit den Worten: „Du fährst, mein Sohn, in das Land der
Kultur.“
Der kleine Marcel kam stattdessen und schlussendlich
in das Land von Auschwitz und Treblinka, von Buchenwald und Sachsenhausen. In das Land, in dem Millionen
von Menschen umgebracht wurden, nicht von einigen,
schon gar nicht von einem, sondern von vielen. In das
Land, in dem Millionen von Juden umgebracht wurden,
nicht nur im deutschen Namen, sondern von Deutschen.
Deshalb grenzt all das - Frank-Walter Steinmeier hat
es beschrieben -, was in den letzten 50 Jahren erreicht
wurde, in der Tat an ein Wunder. Aber auch Wunder
werden gemacht, von den Bürgerinnen und Bürgern der
beiden Länder, von weitsichtigen Politikern wie BenGurion und Konrad Adenauer, wie Golda Meïr und
Willy Brandt, wie Schimon Peres und Johannes Rau,
aber auch von 700 000 Israelis und Deutschen, die mittlerweile an einem Jugendaustausch teilgenommen haben.
({3})
All das geschah nach dem Tiefpunkt der menschlichen
Zivilisation.
Im Übrigen auch nach vielen Jahren, in denen Schuld
und Verantwortung in Deutschland verdrängt wurden.
Sonst hätten SS-Männer wie Oskar Gröning in Lüneburg
wohl nicht erst mit 93 Jahren vor Gericht gestanden,
sondern mit 33 oder 43 Jahren.
Wie soll es jetzt weitergehen mit unseren beiden Ländern, mit Deutschland und Israel, deren Beziehung so
eng und so einzigartig ist, die auf so freundschaftliche
und so schwierige Art und Weise verbunden sind, mit
diesen beiden stabilen Demokratien? Es wird gelegentlich unterbewertet, dass wir in beiden Ländern in offenen Gesellschaften leben. Wir sollten das zu schätzen
wissen. Ich jedenfalls habe bei meinen Besuchen in Israel nicht immer politische Zustimmung erhalten, aber
nie persönliche Ablehnung, auch und gerade wenn ich
dafür werbe, dass Verhandlungen mit dem Iran die Sicherheitslage Israels verbessern, auch und gerade wenn
ich den fortgesetzten Siedlungsbau ablehne oder die humanitäre Lage in Gaza kritisiere.
Drei Dinge liegen mir besonders am Herzen. Erstens.
Wir sollten uns in diesen Tagen einfach einmal darüber
freuen, was zwischen den Ländern gelungen ist,
({4})
in Wirtschaft und Wissenschaft, bei Städtepartnerschaften, im Kulturaustausch, im Sport, in sozialen Fragen
und beim Austausch von Auszubildenden. 50 Jahre diplomatische Beziehungen zwischen Israel und Deutschland sind vor allem auch eine Erfolgsgeschichte.
({5})
Zweitens. Wir sollten den Schwung aus 2015 in die
kommenden Jahre mitnehmen. Das hat der deutsche
Botschafter in Israel vor acht Wochen gesagt. Ich stimme
ihm ausdrücklich zu. Der Botschafter hat recht. Am besten sollten wir den Schwung in die nächsten 50 Jahre mit
der Vertiefung und der Erweiterung der Zusammenarbeit
und des Dialogs mitnehmen.
({6})
Mit der gemeinsamen Erklärung der letztjährigen Regierungskonsultationen gibt es dafür fast so etwas wie
ein Arbeitsprogramm, mit den neun Punkten des Koalitionsantrages gibt es elementare Forderungen des Deutschen Bundestages an die Bundesregierung: für das
Existenzrecht Israels, gegen Antisemitismus, für eine
Zwei-Staaten-Lösung, für Erinnerung und Verantwortung in Deutschland.
Damit bin ich beim dritten und letzten Punkt. Zwei
Dinge gilt es zu bekämpfen: Desinteresse und Gleichgültigkeit. Das gilt für das Miteinander, aber auch für jedes
Land allein. Der große Philosoph Edmund Burke hat den
Satz aufgeschrieben: „Für den Sieg des Bösen reicht die
Untätigkeit des Guten“. Wenn ich mich so umschaue,
liebe Kolleginnen und Kollegen, muss ich sagen: Wir
hier im Deutschen Bundestag sind zweifelsohne die Guten, und zwar in allen Fraktionen.
({7})
Das gilt im Übrigen vor allem für die übergroße
Mehrheit der Deutschen; aber wir dürfen nie die Untäti9812
Achim Post ({8})
gen sein oder werden. Deshalb dürfen wir nicht nachlassen in unserem Engagement gegen Antisemiten, gegen
Rechtsradikale, gegen Nazis.
({9})
Diese Nazis haben seit der deutschen Einheit über
150 Menschen umgebracht, und sie werden sich weitere
Opfer suchen, wenn wir sie nicht stoppen - mit allen
Mitteln des Rechtsstaates, energisch und nachhaltig. Das
sind wir uns selbst schuldig, das sind wir unseren Freunden in Israel schuldig, das sind wir allen Bürgerinnen
und Bürgern in Deutschland schuldig.
Wir haben in den letzten 50 Jahren so viel erreicht.
Arbeiten wir weiter für eine gute Zukunft unserer beiden
Länder, arbeiten wir weiter für eine gemeinsame Zukunft unserer beiden Länder.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({10})
Vielen Dank, Achim Post. - Nächste Rednerin: Gerda
Hasselfeldt für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Unsere Beziehung, die Beziehung zwischen Deutschland und Israel, wird immer eine ganz besondere Beziehung bleiben. Sie ist in den letzten Jahrzehnten gewachsen. Sie ist vor allem eine Beziehung nicht allein
zwischen den Staaten, sondern sie ist auch eine Beziehung zwischen den Menschen geworden; das ist auch in
den Beiträgen vorhin deutlich zum Ausdruck gebracht
worden.
In meinem Wahlkreis liegt das ehemalige Konzentrationslager Dachau. Dort habe ich immer wieder Gelegenheit, Überlebende kennenzulernen. Einer davon ist
Abba Naor, der heute in Israel lebt. Wenn er vor 60 Jahren in seinen Pass geschaut hat - in den israelischen
Pass -, dann stand da: Gilt in allen Ländern der Welt außer Deutschland. - Er konnte in alle Teile der Erde reisen, aber nicht zu uns nach Deutschland. Heute steht derselbe Mann in hohem Alter immer wieder vor Schülern
in ganz Deutschland. Er erzählt von seinen Erfahrungen,
von seinem Leiden. Er erzählt das nicht, um anzuklagen,
er erzählt das nicht, um den jungen Leuten ein schlechtes
Gewissen zu machen, sondern er erzählt das, um für
Toleranz zu werben, um für Nächstenliebe zu werben,
für Menschenwürde zu werben. Seine Botschaft ist nicht
Anklage, sondern seine Botschaft ist Versöhnung und
Mahnung, meine Damen und Herren.
({0})
Ich bin überzeugt davon, dass viele von uns solche
Geschichten erzählen können von Begegnungen mit
Zeitzeugen aus der Zeit des Nationalsozialismus. Diese
Geschichten zeigen, was in den Jahrzehnten seit dem
Krieg in unserem Land geschehen ist, was die Menschen
hier geleistet haben im Bereich Versöhnung und Mahnung.
Wenn wir heute, in diesen Tagen, an 50 Jahre diplomatische Beziehungen zwischen Deutschland und Israel
denken, dann müssen wir auch noch ein bisschen weiter
zurückdenken; denn das Ganze begann im Jahr 1960, als
die beiden großen Staatsmänner Konrad Adenauer und
David Ben-Gurion sich die Hand reichten. Das Foto ging
damals um die Welt, und es ging zu Recht um die Welt;
denn das war alles andere als selbstverständlich nach
dem, was in deutschem Namen den Juden in der Zeit des
Nationalsozialismus angetan wurde.
Es war sicher für jeden der beiden schwierig - für
David Ben-Gurion wahrscheinlich noch viel schwieriger -, bei seiner Bevölkerung dafür Verständnis zu bekommen. David Ben-Gurion sagte schon bald nach dem
Krieg: Ihr müsst wissen, dass da ein anderes Deutschland entsteht. - Ja, liebe Kolleginnen und Kollegen, es
entstand ein anderes Deutschland: Es entstand ein
Deutschland, das sich zu seiner Geschichte und zu seiner
Verantwortung aus der Geschichte bekennt, ein Deutschland, das zu Werten wie Freiheit, Demokratie und Menschenwürde steht, ein Deutschland, das nicht vergisst,
was in der Vergangenheit war, ein Deutschland, das das
Geschehene, die Schoah, immer im Gedächtnis haben
wird - auch das gehört zu diesem Deutschland.
Meine Damen und Herren, warum ist das alles geschehen? Es ist vorhin schon gesagt worden: Es ist ein
großes Wunder, dass wir dieses erleben dürfen - nach all
dem, was wir in der Geschichte zu verzeichnen hatten
und haben. Heute arbeiten die beiden Staaten intensiv
zusammen: im politischen Bereich, im wirtschaftlichen
Bereich, im Forschungsbereich, im kulturellen Bereich.
Es gibt viele Städtepartnerschaften. Das Internationale
Parlaments-Stipendium des Deutschen Bundestages
trägt dazu bei, dass Jugendliche aus Israel nach Deutschland kommen und dass deutsche Jugendliche die Möglichkeit haben, einige Monate in der Knesset zu verbringen.
Das alles ist wirklich ein Wunder. Es ist möglich geworden, weil zunächst einmal Israel bereit war, die Hand
zu reichen. Es ist möglich geworden, weil Konrad
Adenauer, selbst unbelastet, sich eindeutig zu der Vergangenheit bekannt hat, zur Verantwortung der Vergangenheit bekannt hat und weil er glaubwürdig für das neu
entstandene Deutschland stand. Meine Damen und Herren, es ist möglich geworden, diese 50 Jahre wirklich als
Erfolgsgeschichte, wie es mein Vorredner bezeichnet
hat, zu sehen, weil jede Bundesregierung in den vergangenen Jahrzehnten sich der Bedeutung der besonderen
Beziehungen bewusst war, weil jede Bundesregierung
die Beziehungen intensiviert und noch verbessert hat sowie das schon vorhandene Vertrauen immer wieder gestärkt hat. Auch das gilt es in dieser Stunde zu erwähnen.
({1})
Aus der Erinnerungskultur der ersten Jahre ist eine
Verantwortungskultur geworden. Was heißt „Verantwortungskultur“ jetzt für uns?
Es bedeutet meines Erachtens erstens, dass wir nicht
schweigen dürfen, wenn die fürchterlichen Gräueltaten
des Nationalsozialismus relativiert werden, dass wir
nicht schweigen dürfen, wenn wir in Deutschland, in Europa oder sonst wo auf der Welt wieder antisemitische
Tendenzen erkennen. Für uns muss gelten: Antisemitismus, Rassismus, Abgrenzung, Ausgrenzung, Diskriminierung - all das darf in Deutschland, darf in Europa,
darf in der Welt keinen Platz haben.
({2})
Zweitens bedeutet Verantwortungskultur, das Erinnern wachzuhalten, auch in einer Zeit, in der die Zeitzeugen immer weniger werden und vielleicht eines Tages
gar nicht mehr vorhanden sind. Diese Arbeit leisten meines Erachtens in hervorragender Weise die Gedenkstätten. Sie wird aber auch geleistet - das will ich nicht unerwähnt lassen - von Schriftstellern in Büchern, aber
auch in einer ganzen Reihe von Filmen. Auch wir sind
gefordert, dieses wachzuhalten: mit Diskussionen und
mit Förderung der Menschen, die diese Arbeit professionell für uns leisten. Auch das gehört dazu.
({3})
Drittens bedeutet Verantwortungskultur, einen offenen Dialog mit Israel über all die aktuellen Fragen zu
führen; es wurde vorhin schon angesprochen. Das Ganze
bedeutet auch, gemeinsam dafür Sorge zu tragen, dass in
der Region, wo die Menschen immer wieder mit Ängsten und Schrecken zu tun haben, Frieden einkehrt. Da
gibt es keine Patentlösung. Für uns ist aber klar und für
mich gilt ganz wesentlich: Das Existenzrecht, die Sicherheit Israels, das ist für uns nicht verhandelbar, so
wie es die Bundeskanzlerin und die bisherigen Bundesregierungen immer wieder zum Ausdruck gebracht haben.
({4})
Viertens bedeutet diese Verantwortungskultur aber
auch, dass wir jüdisches Leben in Deutschland nicht nur
zulassen, sondern dass wir es, wo immer es möglich ist,
auch fördern. Jüdisches Leben gehört zu unserer kulturellen Identität, und es bereichert unser Leben. Auch das
gehört zur Verantwortungskultur.
Das alles, meine Damen und Herren, ist möglich, weil
wir ein gemeinsames Wertefundament haben, ein Wertefundament, das da lautet: für Freiheit, für Demokratie,
für die Wahrung der Menschenrechte und Menschenwürde, und zwar egal woher die Menschen kommen,
egal welches Geschlecht sie haben, welchen Glauben sie
haben. Jeder und jede hat das Recht auf eine Menschenwürde, wie wir sie verstehen.
Meine Damen und Herren, 50 Jahre diplomatische
Beziehungen zwischen Deutschland und Israel, das ist
ein Glücksfall; es ist in der Entwicklung der Jahrzehnte
für uns eine Erfolgsgeschichte. Geprägt sind diese Beziehungen von der Verantwortung für die Vergangenheit,
von einer gelebten Solidarität und einem gegenseitigen
Vertrauen, von unseren gemeinsamen Werten. Ich denke,
wir sind aufgefordert, diese einzigartigen Beziehungen
in diesem Geist auch künftig zu pflegen.
({5})
Vielen Dank, Frau Hasselfeldt. - Nächster Redner in
der Debatte: Omid Nouripour für Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Verehrte
Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, Sie
schreiben in Ihrem Antrag, 50 Jahre diplomatische Beziehungen zwischen Deutschland und Israel seien ein
„Wunder“. Richtig ist, dass es alles andere als selbstverständlich war, dass Ben-Gurion die Hand von Konrad
Adenauer ergriffen hat. Es ist sicher nicht nur richtig,
dass wir sehr besondere bilaterale Beziehungen haben,
sondern auch, dass diese Beziehungen einzigartig sind.
Richtig ist auch, dass wir, Israel und Deutschland, bilaterale Beziehungen haben, die es sonst zwischen keinen
zwei anderen Ländern der Welt gibt. Dafür können wir
einfach nur dankbar sein.
Allerdings ist die Rede vom „Wunder“ nicht besonders akkurat, weil diese Beziehungen eben nicht vom
Himmel gefallen sind, weil es unglaublich viele Klippen
gegeben hat - meine Fraktionsvorsitzende hat darauf
hingewiesen -, weil wir noch sehr viel daran arbeiten
müssen und weil wir uns bei denjenigen in Deutschland
bedanken müssen, die aus der Zivilgesellschaft heraus
- die Kirchen, die Gewerkschaften und viele andere teilweise gegen Widerstände in der Politik, im Übrigen
aus allen Fraktionen, dafür gekämpft haben und durchgesetzt haben, dass es diese bilateralen Beziehungen
gibt. Dafür einen herzlichen Dank!
({0})
Gleichzeitig glauben wir, dass wir viel tun müssen,
damit die bilateralen Beziehungen nicht rituell werden.
Dazu gehört Ehrlichkeit. Dazu gehört, dass wir ehrlich
sagen, woran es gehapert hat, gerade auf der deutschen
Seite; wir müssen selbstkritisch sein.
Wir werden Ihrem Antrag selbstverständlich zustimmen. Das ist nun wirklich der falsche Anlass, um sich
parteipolitisch zu zerlegen. Ich erinnere mich, dass man
sich vor zehn Jahren, als es um den 40. Jahrestag der diplomatischen Beziehungen ging, sehr bemüht hat und es
am Ende gelungen ist, einen gemeinsamen Antrag in den
Bundestag einzubringen. Ich hätte mir gewünscht, dass
es auch dieses Mal möglich gewesen wäre.
({1})
Nichtsdestotrotz stimmen wir Ihrem Antrag zu und hoffen, dass auch Sie nicht mit den üblichen Reflexen auf
unseren Antrag reagieren.
Meine Damen und Herren, Israel und Deutschland
sind nicht mehr dieselben Länder wie vor 50 Jahren.
Beide Gesellschaften sind im Wandel. Damit verändert
sich auch die Erinnerung in beiden Ländern an historische Ereignisse. Wer die Beziehung in ihrer heutigen Intensität erhalten und vor allem ausbauen will, der muss
die neuen gesellschaftlichen Realitäten ernst nehmen.
Deutschland und Israel sind Einwanderungsgesellschaften. In beiden Ländern gibt es viele Menschen, die
keine biografischen Bezüge zur Schoah haben. Mein
Großvater war während der NS-Herrschaft Nusshändler
im Westen Irans. Dass es den Zweiten Weltkrieg überhaupt gibt, das hat er wahrscheinlich erst mitbekommen,
als 1941 erstmals russische Soldaten in seiner Stadt aufgetaucht sind. Nichtsdestotrotz trage ich als Deutscher,
als Demokrat und als Mensch die Verantwortung für die
Folgen der deutschen Geschichte und damit selbstverständlich auch für die deutsch-israelischen Beziehungen.
Wer sich zu Deutschland bekennt, bekennt sich zur historischen Verantwortung Deutschlands und damit zur
Verantwortung für das Nie-wieder.
({2})
Manche sagen, dass Antisemitismus in Deutschland
heute vor allem unter Muslimen verbreitet sei. Das ist in
Zeiten, in denen Neonazis leider Gottes immer noch
ganze Stadtviertel zu No-go-Areas für Juden erklären
können,
({3})
eine sehr gewagte These.
Dennoch gibt es ein Problem, wie die Demonstrationen gegen den Gaza-Krieg im letzten Jahr gezeigt haben.
Es ist legitim, israelische Politik zu kritisieren und dagegen zu demonstrieren - das Demonstrationsrecht gilt
nicht nur für diejenigen, die politisch ausgewogen demonstrieren; das sehen wir Montag für Montag in manchen deutschen Städten -; aber Gewaltanwendung ist
nicht legitim. Es ist nicht legitim, antisemitische Parolen
zu dreschen. Es ist erst recht nicht legitim, Hoheitszeichen eines anderen Staates zu zerstören oder das Existenzrecht Israels infrage zu stellen. Es ist unsere Aufgabe als Demokratinnen und Demokraten, dagegen
aufzustehen.
({4})
Aus der deutschen Geschichte erwächst eine Verantwortung für die Sicherheit Israels und die Sicherheit der
Jüdinnen und Juden in Deutschland. Unsere Verantwortung ist es, für die Sicherheit aller, die hier in Deutschland leben, zu sorgen, und zwar unbenommen davon,
welcher Religion sie angehören. Der Graben verläuft
nicht zwischen Juden und Muslimen, der Graben verläuft zwischen Demokraten auf der einen Seite und Antisemiten auf der anderen Seite.
({5})
Die Sicherheit des Staates Israel zu garantieren, ist
und bleibt ein Grundsatz deutscher Außenpolitik, auch
wenn wir über das Wie immer wieder streiten. Diese
Streitereien gibt es unter uns, innerhalb Israels und zwischen Deutschland und Israel.
Das Verhältnis Deutschlands zu Israel ist eng mit dem
Nahostkonflikt verbunden. Gerade in einer Zeit, in der
eine Zwei-Staaten-Lösung in weite Ferne rückt, gerade
in einer Zeit, in der es immer weniger Hoffnung gibt,
müssen wir uns für eine Zwei-Staaten-Lösung einsetzen.
Denn klar ist: Es wird keine Sicherheit für die Israelis
und keine Selbstbestimmung für die Palästinenser ohne
eine Zwei-Staaten-Lösung geben. Es gibt keinen Zaun,
der hoch genug ist, dass er Frieden ersetzen kann.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({6})
Vielen Dank, Omid Nouripour. - Nächste Rednerin:
Kerstin Griese für die SPD.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Viele in meiner Generation, die sich politisch
engagieren, tun dies, weil nie wieder passieren darf, was
1933 von Deutschland ausging. In der Schoah wurden
6 Millionen europäische Juden ermordet. In dieser einmaligen Menschheitstragödie haben die Deutschen unfassbare Schuld auf sich geladen.
Als 16-Jährige habe ich im Rahmen der Jugendarbeit
zum ersten Mal die Gedenkstätte des KZ Auschwitz besucht. Das hat mich für mein ganzes Leben geprägt. Die
Täter waren aus der Generation meiner Großeltern. Es
waren Deutsche, die im südpolnischen Ort Oswiecim
das größte Grauen der Menschheitsgeschichte angerichtet haben, indem sie die Juden Europas dorthin deportiert
haben, misshandelt, gequält und ermordet haben.
Man muss bedenken, dass es nach 1945 viele Akteure
in der jungen deutschen Bundesrepublik gab, die in den
Nationalsozialismus verstrickt waren oder selbst schuldig geworden waren. Mir haben Holocaustüberlebende
oft erzählt, wie schwer es für sie in der Nachkriegszeit
war, Deutschen zu begegnen, weil sie immer gedacht haben: Was hat derjenige wohl von 1933 bis 1945 gemacht? Vor diesem Hintergrund war es für den jungen
Staat Israel besonders schwer, mit dem Land der Täter in
einen diplomatischen Austausch zu treten. Es dauerte
20 Jahre, bis 1965 - wir feiern erst 50 Jahre diplomatische Beziehungen -, bis das offiziell möglich wurde.
Aber es gab viele - darauf will ich heute besonders
eingehen -, die sich vor 1965 für die deutsch-israelischen Beziehungen engagiert haben. Der Prozess dorthin
hatte viele Wegbereiterinnen und Wegbereiter. Wir sind
den Menschen, die schon in den 1950er-Jahren begonnen haben, erste Kontakte nach Israel zu knüpfen, sehr
dankbar. Es waren Gewerkschaften, es waren Jugendund Studentenorganisationen, es war die evangelische
Kirche, die weit vor Aufnahme der offiziellen diplomatischen Beziehungen, teilweise auch unter abenteuerlichen Bedingungen und mit großem persönlichen Einsatz, eigene Beziehungen zu den Menschen im
jüdischen Staat geknüpft haben. Darauf können wir
sehr stolz sein.
Kurt Schumacher, der SPD-Vorsitzende, hat schon
1947 auf dem SPD-Parteitag gesagt, dass das deutsche
Volk zur Wiedergutmachung und zur Entschädigung verpflichtet ist. Das war 1947 ein bedeutender Satz. Carlo
Schmid hat 1951, damals Bundestagsvizepräsident, darauf gedrungen, den jungen Staat Israel als Rechtsnachfolger für Rückerstattung und Wiedergutmachungsansprüche anzuerkennen. Auch das war wegweisend, bis es
dann 1952 zum Luxemburger Abkommen kam.
Es waren junge Menschen, die sich schon früh für die
Beziehungen zu Israel eingesetzt haben. Die Falken waren dabei; und der SDS, die damalige SPD-Hochschulorganisation, hat 1951 die Kampagne „Frieden mit Israel“
gestartet und deutsch-israelische Studierendengruppen
gegründet. Es waren evangelische Jugendgruppen, aus
denen 1958 die Aktion Sühnezeichen entstand. Auch die
Gewerkschaftsjugend war dabei.
Wenn wir uns vor Augen halten, wie Ende der
1950er-, Anfang der 1960er-Jahre die ersten Jugendgruppen nach Israel reisten, dann wissen wir, dass das
schwierig war. Sie waren nach dem Holocaust natürlich
oft nicht willkommen. Es war für die deutschen Jugendlichen nicht einfach; aber es war auch für diejenigen Israelis, die deutsche Gäste willkommen heißen
wollten und mit ihnen einen Austausch suchten, nicht
einfach. Sie mussten sich Anfeindungen erwehren.
Frau Hasselfeldt hat es schon erwähnt: Im israelischen
Pass stand bis 1956 noch auf Hebräisch und Französisch die Bemerkung: Gültig für alle Länder - mit Ausnahme Deutschlands. Es war also auch ganz schwierig,
zueinander zu reisen. Dafür, dass in dieser Zeit schon
Menschen begonnen haben, Partnerschaften und auch
Freundschaften zu knüpfen, sind wir dankbar.
({0})
Ich will an ein wenig bekanntes, aber wichtiges Ereignis erinnern. Am 26. März 1957 hat der damalige SPDParteivorsitzende Erich Ollenhauer als erster deutscher
offizieller Gast des Staates Israel dort eine öffentliche
Rede gehalten. Er hat sich in dieser Rede für den Botschafteraustausch eingesetzt. Dies hat übrigens zu Protesten der arabischen Länder im Sinne der HallsteinDoktrin geführt. Es war in diesen Zeiten also wirklich
noch sehr schwierig, dafür zu plädieren. 1957 fuhr die
erste offizielle Delegation des Deutschen Gewerkschaftsbundes nach Israel. Seitdem gibt es eine lange
und intensive Partnerschaft mit der Histadrut, dem israelischen gewerkschaftlichen Dachverband.
1965 war es dann so weit - dies feiern wir in diesen
Wochen -: Die offiziellen diplomatischen Beziehungen
haben begonnen. Sie konnten aber nur beginnen, weil in
den Jahren davor von Menschen, die sich engagiert haben und Wegbereiter dieser Kontakte waren, ein Netz
geknüpft wurde. Dazu passt auch, dass es Johannes Rau
war, der im Jahr 2000 als erstes deutsches Staatsoberhaupt vor der Knesset gesprochen hat und auch als Erster
dort eine Rede auf Deutsch gehalten hat, worüber in Israel damals heftig diskutiert wurde. Es war eine wegweisende und bewegende Rede, in der er um Vergebung bat.
Ende der 1960er-Jahre wurde der deutsch-israelische
Jugendaustausch auch offiziell etabliert. Er ist bis heute
sehr lebendig. Mein Kollege Achim Post hat schon darauf hingewiesen: 700 000 Menschen haben bisher teilgenommen. Etwa 300 Austauschprojekte gibt es pro
Jahr. Seit 2001 wird dies von ConAct organisiert, dem
Koordinierungszentrum für den deutsch-israelischen Jugendaustausch in Wittenberg. Ich danke allen, die sich
dort engagieren, sehr herzlich für diese Begegnungsarbeit.
({1})
Ich selbst hatte 1996 das Glück, gemeinsam mit unserer heutigen Ministerin Andrea Nahles, sie war damals
noch Juso-Bundesvorsitzende, dabei zu sein, als das
Willy-Brandt-Zentrum in Jerusalem gegründet wurde.
Das ist eine einmalige trilaterale Initiative, die es bis
heute gibt, die gemeinsam von Deutschen, Israelis und
Palästinensern getragen wird und die trotz aller Krisen,
Terroranschläge und Kriege, die seither stattgefunden
haben, weiter existiert, weil es junge Menschen gibt, die
immer wieder beharrlich und unverdrossen daran arbeiten, dass die zwischen Deutschen, Israelis und Palästinensern geknüpften Fäden nicht zerreißen.
Mir geht es immer wieder so: Wenn man dort ist - ich
bin oft in Israel -, wenn man über die Lage im Nahen
Osten verzweifelt ist und wenn man so gar keine Fortschritte, sondern eher Rückschritte wahrnimmt, dann ist
es ein Hoffnungszeichen, dass es dort diese Menschen
gibt, dass dort Begegnung und Verständigung möglich
sind. Ich bin mir ganz sicher: Wenn Menschen die
Chance haben, zueinanderzukommen, sich kennenzulernen, miteinander zu reden, dann ist das schon ein Friedensprozess im Kleinen. Davon brauchen wir noch viel
mehr.
({2})
Damit kann in der Tradition all der Kontakte, die ich aufgezählt habe, ein kleiner Beitrag dafür geleistet werden,
dass Israel eine friedliche Zukunft hat.
Ich will genau wie meine Vorredner betonen: Wir
müssen gerade in Deutschland besonders sensibel sein,
wenn es um antisemitische Tendenzen in der Gesellschaft geht. Wir verzeichnen in diesem Jahr eine Zunahme antisemitischer Straftaten um 25 Prozent. Das ist
ein unhaltbarer Zustand. Dagegen müssen wir uns alle
gemeinsam engagieren.
({3})
Der Nahostkonflikt wurde im letzten Jahr instrumentalisiert, und wir haben offen antisemitische Demonstrationen erlebt. Ich sage ganz deutlich zu Gregor Gysi: Ich
bin Ihnen dankbar, dass Sie hier und heute klare Kante
gezeigt haben. Denn in meiner Nachbarstadt Essen gab
es eine Demonstration, bei der wirklich erschreckende
antisemitische Parolen geäußert wurden und die von Teilen der nordrhein-westfälischen Linkspartei unterstützt
wurde. Deshalb: Vielen Dank! Ich glaube, wir müssen
uns gemeinsam gegen jeden Antisemitismus wehren und
ihm entgegenstehen.
({4})
Kritik an der israelischen Regierungspolitik ist selbstverständlich immer möglich. Es gibt auch niemanden,
der sie unterbinden will, wenn sie demokratisch geäußert
wird. Was wir aber erlebt haben, ist, dass diese Kritik in
eine Kritik an den Juden insgesamt und an Israel insgesamt übergesprungen ist und ein Gleichsetzen der Juden
in Deutschland mit der israelischen Regierungspolitik
stattgefunden hat. Gegen diesen Antisemitismus stellen
wir uns mit aller Deutlichkeit.
({5})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Israel und Deutschland sind Verbündete, Partner und Freunde. Viele Abgeordnete aus allen Fraktionen bemühen sich in der
Deutsch-Israelischen Parlamentariergruppe und weit darüber hinaus ganz besonders um diese Beziehungen;
denn sie sind für uns elementarer Bestandteil unseres
politischen Selbstverständnisses. Der freundschaftliche
und kritische Austausch bleibt eine wichtige Grundlage
für die Beziehungen unserer beiden Staaten.
Mir geht es so wie sicherlich vielen von Ihnen - ich
hoffe, allen hier -: Ich werde mich immer dafür einsetzen, dass der demokratische und jüdische Staat Israel
existieren kann. Ich wünsche den Menschen in Israel,
dass sie in einem Staat mit dauerhaft anerkannten und sicheren Grenzen leben können - neben einem unabhängigen, demokratischen und lebensfähigen palästinensischen Staat, Seite an Seite, in Frieden und Sicherheit.
Vielen Dank.
({6})
Vielen Dank, Kerstin Griese. - Nächster Redner:
Philipp Mißfelder für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Auch ich möchte im Namen unserer Fraktion deutlich hervorheben, wie wichtig uns diese Debatte ist und
wie wichtig auch das Andenken an das 50-jährige Jubiläum der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen Deutschland und Israel ist.
Kerstin Griese hat aus meiner Sicht gerade sehr schön
beschrieben, dass sich die Sozialisation jüngerer Politiker
über mehrere Jahrzehnte erstreckt und dass das eigene
Verständnis - das gilt über die Parteigrenzen hinweg - natürlich vor allem durch die politischen Stiftungen geprägt
wird. Man wächst in Deutschland in dem Bewusstsein
auf, dass die Beziehungen zwischen Deutschland und Israel nicht irgendwelche, sondern besondere Beziehungen
sind. Diese besonderen Beziehungen leiten sich vor allem
aus den schrecklichen Ereignissen des Holocausts ab.
Unsere Fraktion hat diese Woche eine Veranstaltung
durchgeführt und versucht, in diesem Rahmen die junge
Generation, junge Vertreter aus Israel, zu Wort kommen
zu lassen. Mich hat besonders beeindruckt, dass eine
junge Deutsche namens Melody Sucharewicz, die in Israel lebt, sich in München sehr stark für das jüdische Leben eingesetzt hat und bei unserer Veranstaltung aus Israel zugeschaltet war, deutlich hervorgehoben hat, dass
es mit Worten allein nicht getan ist, sondern dass sich
ganz besonders an Taten bemisst, was diese Freundschaft wirklich ausmacht.
Da muss ich natürlich sagen: Wir haben in sehr vielen
Diskussionen, auch über die Parteigrenzen hinweg, immer alles getan, um die Existenz des jüdischen und demokratischen Staates Israel zu garantieren. In diesem
Geist sollten wir auch diese Debatte führen. Wir sollten
über die Parteigrenzen hinweg alles tun, was notwendig
ist, um die Existenz des jüdischen Staates dauerhaft zu
garantieren.
({0})
Aus dem Holocaust leitet sich nicht nur die Verantwortung ab, sich seiner Geschichte bewusst zu sein. Es
ist richtigerweise gesagt worden, dass es auch darum
geht, entschlossen gegen Antisemitismus vorzugehen. Er
ist in vielen gesellschaftlichen Schichten vorhanden. Dabei geht es nicht nur um den externen Antisemitismus,
der zu uns gekommen ist - zum Beispiel durch aggressive arabische Jugendliche oder in Form von Debatten,
die eigentlich im Nahen Osten geführt wurden, mittlerweile aber auch in großen Städten und in Ballungsräumen bei uns geführt werden; diese Debatten sind über
das Internet zu uns geschwemmt worden -, sondern natürlich auch um Vorurteile und Stereotype, die bedient
werden.
Antisemitismus geht - das besagt auch eine Studie
des American Jewish Committee - quer durch alle Gesellschaftsschichten. Insofern stellt sich nicht nur die
Frage, ob man sich Neonazis entgegenstellt - das ist eine
Selbstverständlichkeit - oder versucht, Widerstand in irgendeiner Form an Demonstrationen und spektakulären
Ereignissen festzumachen; vielmehr spielen auch der alltägliche Antisemitismus und die Doppelstandards, die
gegenüber Israel angewandt werden, eine Rolle. Hier
muss man sehr wachsam sein und sagen: Wehret den
Anfängen!
Wenn wir die Forderung „Nie wieder!“ ernst nehmen,
dann geht so etwas wie das, was unser Fraktionsvorsitzender Volker Kauder vorhin am Beispiel der IsraelFahne beschrieben hat, überhaupt nicht. Es ist nicht akzeptabel, dass wir uns verstecken und unser Bekenntnis
zum Staate Israel so passiv zum Ausdruck bringen, dass
ein Einsatzleiter bei einem Fußballspiel der Meinung ist,
man dürfe keine Israel-Fahne zeigen. Ich glaube, er wäre
bei der Flagge eines anderen Landes nie auf die Idee gekommen, so etwas zu tun. Das war wirklich beschämend
und ist nur ein kleines Beispiel dafür, wo wir den Weg
für Antisemitismus bereiten. Denn wenn man so wie die
Staatsgewalt an dieser Stelle zurückschreckt, darf man
sich nicht wundern, dass andere das als Einladung wahrnehmen, noch viel weiter zu gehen. Deshalb war es
wichtig, dass Volker Kauder das angesprochen hat.
({1})
Ich möchte diese Debatte aber auch nutzen, um auf
die aktuelle Situation in Israel einzugehen. In fast allen
Reden ist gesagt worden, dass wir froh sind, dass Israel
ein demokratisches Land ist. Es ist das einzige demokratische - auch mit einem sehr breiten, pluralistischen Parteienspektrum ausgestattete - Land in der Region, das
sich im Grunde zu jedem Thema unterschiedliche Meinungen bildet. Jeder von uns könnte zu jeder politischen
Diskussion in Israel, in der ganz kontroverse Meinungen
vertreten werden, einen Vertreter benennen.
Gerade weil Israel das einzige Land ist, in dem die
Gleichberechtigung von Mann und Frau, überhaupt die
Herkunft der Menschen keine Rolle spielt, ist es ganz
bemerkenswert, dass Israel diesen demokratischen,
streitbaren Prozess auch bei sich - anders als alle anderen Nachbarn - organisiert und konsequent durchhält.
Mit Blick auf unsere Geschichte, aber auch wegen der
bisherigen Erfolgsgeschichte Israels steht es uns nicht
an, Israels Politik in Oberlehrermanier per se zu kritisieren.
Manche haben sich heute zur Regierungsbildung in
Israel geäußert. Ich bin froh, dass Israel eine Regierung
gefunden hat. Sie ist demokratisch legitimiert. Es ist an
den Israelis, zu entscheiden, welchen Weg sie demokratisch wählen, und es ist nicht an uns, das zu beurteilen.
Deshalb hat die Regierung Netanjahu - auch die neue
Regierung unter ihm - genau dieselben fairen Chancen
wie jede andere demokratische Regierung in der westlichen Welt verdient. Insofern sollten wir auch weiterhin
eng und vertrauensvoll mit Netanjahu zusammenarbeiten und vielleicht das eine oder andere, was im Wahlkampf gewesen ist, hinter uns lassen.
({2})
Ich bin über die aktuelle außenpolitische Situation
Israels sehr besorgt. Die Freude über das Abkommen mit
dem Iran teile ich dezidiert nicht. Ich nehme die Sorgen
Israels sehr ernst und glaube, der Iran ist nach wie vor
ein großer Unruheherd, eine Gefahr, ein Sponsor des internationalen Terrorismus. Der Iran versucht, der Hegemon des Nahen Ostens zu werden, und mit traumwandlerischer Treffsicherheit gehen manche auf das Werben
des Irans ein und unterschätzen aus meiner Sicht die von
ihm ausgehenden Gefahren.
Ich glaube, dass die in der Rede von Netanjahu in
Washington geäußerten Sorgen berechtigt sind. Auch
wenn ich nicht mit allen in diesem Hause übereinstimme, glaube ich, dass das ein Punkt ist, der definitiv
zur Betrachtung der deutschen Außenpolitik gehören
muss.
Gerade in diesen Tagen, in denen man sagt, man
wolle das Existenzrecht des jüdischen Staates weiterhin
garantieren - das ist nicht nur Staatsräson, sondern auch
Verpflichtung für uns alle -, muss man daraus verschiedene außenpolitische Ableitungen vornehmen und im
Nahen Osten, wo es nie nur Schwarz oder Weiß, sondern
auch sehr viele Grautöne gibt, Konzessionen machen,
die, obwohl man sich vielleicht etwas anderes gewünscht hätte, notwendig sind.
Insofern begrüße ich es ausdrücklich, dass unser Außenminister diese Woche in Ägypten war und Gespräche
geführt hat. Ich möchte an dieser Stelle aber auch unseren Fraktionsvorsitzenden, Volker Kauder, hervorheben.
Volker Kauder war der erste Politiker in Europa, der Präsident el-Sisi besucht, ihm die Hand gereicht und gesagt
hat: Bei allen Schwierigkeiten, die Ägypten gerade hat,
brauchen wir Ägypten, brauchen wir eine stabile Regierung in Ägypten. Die jetzige, bedauerlicherweise - das
hätten wir uns anders gewünscht - nicht demokratisch
legitimierte Regierung Ägyptens ist bei weitem besser
als die vorherige unter Mursi, die zwar demokratisch gewählt, aber extremistisch war.
({3})
Das war ein mutiger Schritt, Volker Kauder. Ich
glaube, es ist auch richtig, dass Frank-Walter Steinmeier
diesem Schritt jetzt gefolgt ist und dass auch die Bundeskanzlerin Präsident el-Sisi hier in Berlin treffen wird.
Ein letzter Gedanke. Selbstverständlich ist das Verhältnis zu Saudi-Arabien nicht einfach, sondern bringt
große Schwierigkeiten mit sich. Es tut sich wohl niemand leicht mit dem Verhältnis zwischen Saudi-Arabien
und Westeuropa. Trotzdem ist Saudi-Arabien ein wichtiger Partner für Israel. Wir sollten diese Beziehung deshalb nicht leichtfertig aufs Spiel setzen, sondern immer
mit Bedacht abwägen, welche Folgen es mit sich
brächte, wenn wir gegenüber dem Iran zu gutgläubig
aufträten.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({4})
Danke, Philipp Mißfelder. - Nächster Redner in der
Debatte: Dr. Johann Wadephul für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Redner aller Fraktionen haben die große Bedeutung der diplomatischen Beziehungen zwischen
Deutschland und Israel hervorgehoben. Herr Kollege
Nouripour, Sie haben Bezug genommen auf den Antrag
der Koalitionsfraktionen, den Sie unterstützen wollen,
wofür wir jetzt schon „Herzlichen Dank“ sagen, und
haben bedauert, dass es kein gemeinsamer Antrag mit
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen geworden ist. Herr
Kollege Nouripour, es war nicht beabsichtigt, die
Grünen dort auszuschließen, und wir sollten uns für die
nächste Beratung vornehmen, so etwas gemeinsam zu
formulieren.
({0})
Ich habe festgestellt, dass es eine große Übereinstimmung zwischen dem, was seitens Ihrer Fraktion hier gesagt worden ist, und den Erklärungen von Volker
Kauder, Gerda Hasselfeldt und der sozialdemokratischen
Fraktion gegeben hat. Insofern: Wenn wir in diesem
Punkt gemeinsam an einem Strang ziehen, dann ist das,
glaube ich, insgesamt gut für das Hohe Haus und auch
für die deutsch-israelischen Beziehungen, und darum
geht es uns ja vor allen Dingen.
({1})
Frau Kollegin Sitte, ich komme jetzt zu Ihrem Zwischenruf und auch zu der in der Tat bemerkenswerten
Rede Ihres Fraktionsvorsitzenden, die gute Ansätze enthalten und auch eine große Annäherung an Positionen
der Koalitionsfraktionen gebracht hat. Sie haben aber
- aus meiner Sicht: untertreibend - bedauert, Herr
Kollege Dr. Gysi, dass es zwischen der DDR und Israel
keine diplomatischen Beziehungen gegeben hat. Es war
schon noch weniger: Die DDR hatte geradezu ein NichtVerhältnis zu Israel.
Während sie ihre politische Legitimation immer darin
zu finden meinte, ein antifaschistischer Staat und auch
irgendwie das bessere Deutschland zu sein, war gerade
die Ansicht der SED und der DDR zu Israel und zum
Völkermord, der durch deutsche Hand an den Juden in
Europa verübt worden ist, eine ganz große Lebenslüge
des Kommunismus. Ich glaube, das muss man heutzutage feststellen.
({2})
Die SED-Führung hat im Grunde jede moralische
Schuld und jegliches Bemühen um Wiedergutmachung
für den Völkermord an den Juden abgelehnt. Gerda
Hasselfeldt hat vorhin betont, wie wichtig es als Voraussetzung natürlich war, dass Israel ein anderes, ein neues
Deutschland, vertreten durch Konrad Adenauer, Willy
Brandt und viele andere - auf Ollenhauer ist ja auch zu
Recht hingewiesen worden -, gegenüberstand, welches
in großer Dankbarkeit die Offenheit von David BenGurion und vielen anderen erfahren konnte. Hier muss
man sagen und feststellen: Auch an dieser Stelle hat die
SED-Führung vor der Geschichte Deutschlands vollständig versagt.
({3})
Ich finde, wenn wir hier 50 Jahre diplomatische Beziehungen zwischen Deutschland und Israel miteinander
feiern und uns darüber freuen, dann gehört es schon zur
Ehrlichkeit, dies auch zu sagen.
({4})
- Na gut. Herr Kollege Dr. Gysi, Sie versuchen hier jetzt
in dieser Art und Weise, mit kleiner Münze aufzurechnen. Ich will schon festhalten, dass das völlige Missverhältnis der DDR zu dem, was in der Zeit zwischen 1939
und 1945 geschehen ist, in der Debatte aus meiner Sicht
zu wenig gewürdigt wurde.
Herr Nouripour hat sich hier hingestellt, auf seine iranische Herkunft hingewiesen und gesagt - ich versuche,
Sie sinngemäß zu zitieren; ich habe es mitgeschrieben -:
Wer sich zu Deutschland bekennt, der bekennt sich auch
zur deutschen Verantwortung. - Dazu kann ich nur sagen: Das imponiert mir, und so muss es sein. Das kann
man nur als das Ideal hinstellen. Das ist in der DDR eben
völlig gescheitert. Deswegen bleibe ich dabei: Das, was
Sie dazu gesagt haben, war bestenfalls eine Untertreibung.
({5})
- Das trifft Sie an einem empfindlichen Punkt. Wir können den Antizionismus in der kommunistischen Bewegung an anderer Stelle gerne noch einmal vertieft aufarbeiten. Das ist ein wichtiger Punkt, und ich wäre schon
froh, wenn Herr Dr. Gysi in der Zukunft innerhalb seiner
Fraktion die notwendige Kraft hätte, alle Veranstaltungen zu untersagen, die auch nur den Anschein eines antiisraelischen Zungenschlages haben. So war das kürzlich
bei dem sogenannten Fachgespräch, bei dem sich die
unwürdige Verfolgung des Herrn Vorsitzenden der
Linksfraktion in die Toilettenräume des Deutschen
Bundestages ereignete. Ich wünsche mir im Deutschen
Bundestag keine einzige antiisraelische Veranstaltung,
auch bei den Linken nicht.
({6})
Kollege Nouripour hat richtigerweise gesagt, dass wir
das Ganze nicht ritualisieren dürfen. Eine wichtige
Aufgabe in der Zukunft ist, dass wir - neben den
Beschlüssen und all dem Guten, das es gegeben hat - darauf achten, dass die Veranstaltungen und die Austauschprogramme und das, was es an kulturellem und gesellschaftspolitischem Austausch gibt, nicht irgendwie
rituell ablaufen, sondern in die Tiefe gehen und die Menschen erreichen. Das ist sicherlich leichter gesagt als getan.
Ich sage israelischen Politikern immer wieder - auch
in aktuellen Debatten -, wenn sie sich beklagen und vollkommen zu Recht - auf die geopolitische Situation
hinweisen, in der sie sich befinden, dass es in verschiedenen Parlamenten in Europa Beschlüsse gibt, die eine
einseitige Anerkennung Palästinas vorsehen - das wird
im Deutschen Bundestag auf Initiative der Linksfraktion
wieder diskutiert; das ist ja politisch legitim -: Es ist
auch eine Aufgabe israelischer Politik, in Europa präsent
zu sein und dafür zu sorgen, dass Deutschland - aufgrund seiner besonderen Situation - nicht sozusagen
zum letzten Verteidiger israelischer Positionen in Europa
wird. Wir müssen mehr Verständnis für die Situation erreichen, in der sich Israel befindet. Das ist auch - das
kann man unter Freunden, glaube ich, durchaus formulieren - eine Bringschuld der israelischen Politik. Israelische Politiker müssen spätestens jetzt das gesamte Wahlkampfgetöse hinter sich lassen und aktiver in Europa
auftreten, um ihre Position und Situation zu erläutern.
Das Zweite ist - das wurde in dieser Debatte schon erwähnt; auch das ist leichter gesagt als getan -: Die Besuche vor Ort sind - da folge ich Ihnen, Herr Gysi - durch
nichts zu ersetzen, sowohl in Israel als auch in der Westbank und im Gazastreifen. Da sollte man gewesen sein,
um das einmal selber zu erleben. Aber man muss die besondere geopolitische Situation Israels im Unterschied
zur deutschen sehen. Es ist unser Glück, dass wir nach
dem Fall des Eisernen Vorhangs von Freunden umzingelt
sind, wie man so schön sagt. Israels geopolitische Situation ist, dass es, wenn auch nicht überall, ein kleines
Staatsgebiet in einer sehr feindlichen Umgebung zu verteidigen hat. Die Situation auf dem Sinai und in Ägypten
wurde von Philipp Mißfelder schon angesprochen; sie
ist außerordentlich schwierig. Dort gibt es Al-QaidaVerbände. Bedrohungen gehen aber auch vom libanesischen und vom syrischen Staatsgebiet aus. Daher gilt in
der Tat das, was praktisch alle Redner dazu gesagt haben:
Das israelische, das jüdische Volk hat nur diesen Staat
bzw. das Staatsgebiet, auf dem es in Frieden und Freiheit
leben kann. Es ist unsere besondere Verantwortung, dafür
zu sorgen, dass das auch in Zukunft möglich ist.
Vielen Dank.
({7})
Vielen Dank, Johann Wadephul. - Letzte Rednerin in
der Debatte ist Gitta Connemann für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! 50 Jahre
deutsch-israelische Beziehungen, das ist eine einzigartige Geschichte - von Leid, Trauer, Schuld, Versöhnung,
Partnerschaft und Freundschaft. Dazu gehört natürlich
der Blick auf die Wurzeln unserer Beziehungen. Die
Schoah ist zu Recht in jedem Beitrag angesprochen
worden: Die Vernichtung, die Verfolgung und die Entwurzelung sind Teil der Geschichte vieler Familien in Israel, ebenso wie übrigens die Sehnsucht nach Heimat.
Ja, es grenzt an ein Wunder, dass inzwischen mehr als
100 000 Juden diese Heimat wieder in Deutschland
gefunden haben. Ja, es grenzt an ein Wunder, wie die
Beziehungen zwischen Deutschland und Israel sich entwickelt haben: eng, stark, vertraut. Aus meiner Sicht ist
ein aktuelles Abkommen ein besonderer Beleg dafür:
Seit kurzem nehmen wir als Deutschland konsularische
Aufgaben für israelische Staatsangehörige in den Ländern wahr, in denen Israel keine Vertretung hat. Das
zeigt, welches Vertrauen mit Blick auf das Wohlergehen
seiner Bürger Israel uns entgegenbringt. Das grenzt auch
an ein Wunder. Aber Wunder müssen behütet werden,
wie übrigens auch Beziehungen gepflegt werden müssen. Sie gestatten mir sicherlich an dieser Stelle, auch
auf Gefahren hinzuweisen.
Erstens: die Gefahr der Oberflächlichkeit. Bei einer
Veranstaltung in dieser Woche wurde ein Witz erzählt,
der diese Gefahr sehr anschaulich beschreibt. Ich erzähle
ihn hier: In einem Café in Tel Aviv treffen sich zwei
Deutsche. Der eine schreibt gerade einen langen Text in
seinen Laptop. Der andere fragt ihn: „Du bist hier, wie
schön. Wann bist Du gekommen?“ - „Gestern.“ „Wann fährst Du wieder?“ - „Morgen.“ - „Und was
machst Du hier?“ - „Ich schreibe ein Buch.“ - „Wie ist
der Titel?“ - „Israel - gestern, heute und morgen.“
Leider begegnet man in Deutschland diesem Typus
des Nahostverstehers häufig. Viele haben ein Bild,
geprägt durch die Medien. Israel wird reduziert auf
Begriffe wie Wüste, Krieg, Unterdrückung. Einem werden diese Bilder übrigens nicht gerecht: der Realität.
Wer sich die Mühe macht, genau hinzusehen, entdeckt
ein unglaublich faszinierendes Land: eine lebendige
Demokratie, in der Juden wie Araber wählen dürfen,
eine Vielzahl von Parteien, eine unabhängige Justiz,
freie Medien, eine innovative Wirtschaft, ein unglaublich lebendiges Land. Aber es ist eben auch ein kleines
Land, das seit seiner Gründung mit dem Rücken an der
Wand steht. Ich wünsche uns deshalb zu diesem besonderen Geburtstag: Offenheit, die Bereitschaft, sich ein
eigenes Bild zu machen.
Zweitens: die Gefahr der Entfremdung. Neueste Umfragen zeigen einen ganz klaren Trend. Viele Menschen
in unserem Land interessieren sich außerhalb des Konflikts mit den Palästinensern nicht mehr für Israel. Sie
sind der steten Erinnerung an die Schoah überdrüssig,
ebenso der Gedenkveranstaltungen, die zum Teil zu Ritualen geworden sind. Sie entfernen sich von Israel, aber
übrigens auch von uns, der politischen Elite mit ihrem
deutlichen Bekenntnis zu und für Israel.
Wie lassen sich Interesse und Zuneigung wieder entfachen? Dazu gehört erst einmal, den anderen zu verstehen. Das heutige Deutschland und Israel sind zwar zu
nahezu gleicher Zeit entstanden, aber zu vollkommen
unterschiedlichen Bedingungen. Wir sagen: Nie wieder
Krieg. - Die Israelis sagen: Nie wieder Opfer. - Beide
haben dafür Argumente; denn beide haben aus ihrer Geschichte gelernt. Aber es sind eben auch zwei Züge, die
in unterschiedliche Richtungen fahren. Das zeigen auch
die Umfragen: Je jünger die Befragten, desto skeptischer
stehen sie dem jeweils anderen Partner gegenüber. Der
Brückenschlag kann nur über die Menschen gelingen.
Ich wünsche mir deshalb, als zweiten Wunsch zu diesem
besonderen Geburtstag, dass sich vor allem junge Israelis und junge Deutsche begegnen: über Schüleraustausche, Städtepartnerschaften, Studienaufenthalte. Am
Ende ist das Wichtigste: die Begegnung.
Drittens: der Antisemitismus. 20 Prozent der Menschen in unserem Land sind der Ansicht: Die Juden sind
doch selber schuld. - Die Folgen erleben wir wöchentlich. Menschen werden bei uns angepöbelt, bedroht oder
sogar angegriffen, wenn sie sich als Juden zu erkennen
geben oder für den Staat Israel Partei ergreifen. „Jude,
Jude, feiges Schwein, komm’ heraus und kämpf allein!“ Dieser Satz war im vergangenen Jahr auf deutschen Straßen zu hören. Von Nazis - ja -, aber auch von Islamisten, von rechts wie von links. Ich schäme mich dafür. Ich
frage mich: Wie sollen unsere jüdischen Mitbürger in einem solchen Umfeld leben? Deshalb wünsche ich mir zu
diesem besonderen Geburtstag ein klares Bekenntnis:
Jüdisches Leben gehört zu uns. Jüdisches Leben ist Teil
unserer Identität und unserer Kultur.
({0})
Ein solches Bekenntnis ist die Debatte heute, hier an diesem Ort, das Bekenntnis aller Abgeordneten, über Partei- und Fraktionsgrenzen hinweg. Das gibt mir Hoffnung. Die größte Hoffnung geben mir aber die jungen
Menschen, wie unsere internationalen Parlamentsstipendiaten. Auch ich darf einen von ihnen begleiten. Er heißt
Tomer. Ich habe Tomer gefragt, was er sich als junger Israeli zu diesem besonderen Geburtstag wünscht. Er
sagte: Ich wünsche mir Offenheit, Ehrlichkeit, Vertrauen. - Ich persönlich glaube, das sind die besten Wünsche, um das Wunder, von dem wir sprachen, zu bewahren.
Masel tov!
({1})
Vielen Dank, Gitta Connemann. - Damit schließe ich
eine sehr würdige Debatte.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen der CDU/CSU und SPD auf Drucksache
18/4803 mit dem Titel „50 Jahre diplomatische Beziehungen zwischen Deutschland und Israel: Eingedenk der
Vergangenheit die gemeinsame Zukunft gestalten“. Wer
stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist der Antrag bei Zustimmung von
allen Fraktionen des Hauses einstimmig angenommen.
Abstimmung über den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/4818 mit dem
Titel „50 Jahre deutsch-israelische diplomatische Beziehungen - Einmaligkeit und Herausforderung“. Wer
stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich? - Der Antrag ist gegen die Stimmen von
Bündnis 90/Die Grünen mit den Stimmen von CDU/
CSU und SPD bei Enthaltung der Linken abgelehnt.
Ich bitte Sie, die Plätze zu wechseln, falls Sie die
nächste Debatte nicht verfolgen wollen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 und 19 a auf:
5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla
Jelpke, Jan Korte, Sigrid Hupach, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Flüchtlinge willkommen heißen - Für einen
grundlegenden Wandel in der Asylpolitik
Drucksache 18/3839
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({0})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
19 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Luise Amtsberg, Ekin Deligöz, Britta
Haßelmann, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Für eine faire finanzielle Verantwortungsteilung bei der Aufnahme und Versorgung
von Flüchtlingen
Drucksache 18/4694
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({1})
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 60 Minuten vorgesehen. - Ich höre dazu
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Debatte und gebe das Wort als erster
Rednerin Ulla Jelpke für die Linke.
({2})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der
Zeitpunkt für diese Debatte könnte nicht günstiger sein;
denn morgen findet bekanntlich im Kanzleramt der
Flüchtlingsgipfel statt. Die Linke diskutiert seit langem
mit Flüchtlingsinitiativen, Menschenrechtsorganisationen und Wohlfahrtsverbänden, aber auch mit den Fraktionen in Ländern und Kommunen über einen Wandel in
der Flüchtlingspolitik. Heute stellen wir dieses umfassende Konzept vor. Wir brauchen einen grundlegenden
Paradigmenwechsel in der Asylpolitik: weg von der geUlla Jelpke
scheiterten Politik der Abschreckung hin zur Integration
von Flüchtlingen von Anfang an.
({0})
Wir gehen von der Realität aus: Die Mehrheit der
Asylsuchenden - das zeigen auch die Zahlen - erhält gegenwärtig einen Schutzstatus in Deutschland. Beispielsweise Flüchtlinge aus Ländern, in denen Krieg herrscht,
also aus Syrien, Irak, aber auch Afghanistan, werden
langfristig und dauerhaft hier leben. Deswegen muss das
Leitbild bei ihrer Aufnahme eine schnelle Integration
sein.
({1})
Die Zeit ihres Asylverfahrens sollte nicht ungenutzt bleiben. Selbst der Bundesinnenminister fordert inzwischen,
noch nicht anerkannte Flüchtlinge zu Integrationskursen
zuzulassen - allerdings nur, wenn sie gute Chancen auf
Asyl haben. Das ist zwar ein richtiger Schritt in die richtige Richtung, doch nach unserer Auffassung sollten alle
Asylsuchenden Zugang zu Sprachkursen erhalten.
({2})
Flüchtlinge unterliegen integrationshemmenden Sondergesetzen. Statt der Anwendung des Asylbewerberleistungsgesetzes fordern wir ihre Einbeziehung in das
allgemeine System der sozialen Sicherung, vor allen
Dingen auch der Gesundheitsversorgung.
({3})
Die Residenzpflicht muss endlich vollständig aufgehoben werden. Asylsuchende sind keine Kriminellen.
Sie müssen das Recht haben, sich frei im Land zu bewegen. Flüchtlinge müssen uneingeschränkt Zugang zum
Arbeitsmarkt haben. Dafür plädiert übrigens auch die
Bundesagentur für Arbeit.
({4})
Flüchtlinge sollen die Möglichkeit haben, selbst zu ihrem Lebensunterhalt beizutragen. Wir wollen die Ideen
und die Tatkraft der Neuankömmlinge nutzen und sie
nicht gegen ihren Willen zu abhängigen Leistungsempfängern machen.
Meine Damen und Herren, wir wollen eine Aufnahmepolitik in maßgeblicher Verantwortung des Bundes.
Flüchtlingsschutz ist eine internationale Verpflichtung. Da
dürfen wir nicht die Verantwortung auf die Schwächsten,
und zwar auf die Kommunen, abwälzen. Die Folgen dieser Politik sind bekannt: Die Kommunen sind überfordert und bringen Asylbewerberinnen und Asylbewerber
in menschenunwürdigen Unterkünften unter. Oft sind es
Liegenschaften, die in der Pampa, im Wald oder sonst
wo liegen. Die Flüchtlinge sind dann von öffentlichen
Verkehrsmitteln abgeschnitten. Das geht so nicht.
({5})
Dieser Willkür wollen wir durch eine bundesgesetzliche
Regelung zur Schaffung einheitlicher und guter Mindeststandards für die Flüchtlingsaufnahme und -unterbringung einen Riegel vorschieben.
Wir sagen auch ganz klar: Flüchtlingsunterbringung
darf nicht zulasten anderer öffentlicher Aufgaben gehen.
Denn wenn deswegen erst einmal ein Schwimmbad oder
ein Jugendklub geschlossen wird, ist die Ablehnung in
der Bevölkerung groß. Damit werden wiederum Rechte
mobilisiert. Auch hierzu müssen wir klar sagen: Wir
wollen dort keinen Pegidas und keinen Neonazis in die
Hände spielen.
({6})
Wir brauchen eine dauerhafte strukturelle Neuregelung zur Entlastung der Kommunen und keine einmaligen Geldüberweisungen durch den Bund. Bislang gibt es
nur die Zusage des Bundes für zwei Einmalzahlungen in
Höhe von 500 Millionen Euro für die Jahre 2015 und
2016. Und das reicht hinten und vorne nicht, wie wir
wissen.
Die Linke tritt für ein Flüchtlingsaufnahmegesetz ein,
um eine dauerhafte Übernahme der Kosten für Aufnahme und Unterbringung der Asylbewerber während
ihres Verfahrens durch den Bund zu regeln. Durch finanzielle Entlastungen könnten Länder und Kommunen ihren eigentlichen Kompetenzen nachkommen, wie beispielsweise Integration, Einbindung in die städtische
Infrastruktur, rechtliche und soziale Betreuung sowie
Bildung und Arbeit. Das wäre genau das, was sicher
leistbar ist.
Meine Damen und Herren, wir wollen nicht allein
eine Umverteilung der Gelder zugunsten von Ländern
und Kommunen - hier hat sich das SPD-Präsidium inzwischen unseren Vorschlägen deutlich angenähert -, es
geht uns zugleich um einen inhaltlichen Wandel in der
Aufnahmepolitik. Dazu will die Linke das bisherige
Zwangssystem der Flüchtlingsunterbringung aufbrechen.
Schutzsuchende werden derzeit nach einer bürokratischen Quote über die Länder verteilt und in große Aufnahmelager gesteckt, auch dann, wenn sie Verwandte
oder Freunde in Deutschland haben, bei denen sie kostengünstiger und sozial eingebunden unterkommen
könnten. Das wollen wir ändern. Flüchtlinge sollten die
Möglichkeit haben, dezentral und in normalen Wohnungen zu leben. Die zwangsweise Unterbringung in Massenunterkünften ist nicht nur in vielen Fällen unmenschlich,
sie ist aufgrund des Bürokratie- und Kontrollaufwandes
sogar mit Mehrkosten verbunden. Das gilt übrigens auch
für die Versorgung mit Sachmitteln anstelle von Geldleistungen. Wir sagen daher: Lasst uns in die Integration
investieren, nicht in Abschreckungspolitik!
({7})
Meine Damen und Herren, die langen Verfahrensdauern beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge von
durchschnittlich mehr als sieben Monaten sind inakzeptabel. Zur Erinnerung: Im Koalitionsvertrag waren drei
Monate angedacht. Doch dafür braucht das BAMF deutlich mehr Stellen. Zugleich müssen sinnlose Aufgaben
gestrichen werden, zum Beispiel die nach drei Jahren
obligatorisch durchgeführten Asylwiderrufsprüfungen,
die in 95 Prozent der Fälle ohnehin zu nichts führen, da
das Asyl bestätigt wird. Damit werden Kapazitäten gebunden und bereits anerkannte Flüchtlinge unnötiger
psychischer Belastung ausgesetzt.
Wir schlagen zudem eine einmalige Altfallregelung
durch Erteilung eines Flüchtlingsstatus bei überlanger
Verfahrensdauer vor. So könnte man beispielsweise den
Bearbeitungsstau bei rund 200 000 Anträgen abbauen.
Bei meinen Besuchen in Flüchtlingsunterkünften und
auf Veranstaltungen im ganzen Land lerne ich immer
wieder Menschen kennen, die sich ehrenamtlich, auch in
Willkommensteams, für die Aufnahme und Unterstützung von Flüchtlingen engagieren. Sie bieten Lernhilfen
für Flüchtlingskinder an, spielen mit ihnen Fußball oder
Theater, sie begleiten Flüchtlinge zu den Behörden oder
bieten ihnen Kirchenasyl. Ich erinnere auch an die vielen
Aktivisten hier in Berlin und in Hamburg, die seit Monaten, zum Teil zwei Jahre lang, für ein Bleiberecht der
Lampedusa-Flüchtlinge kämpfen - bisher leider ohne
Erfolg. Sie alle verdienen unsere Unterstützung in ihrem
Engagement.
({8})
Sie tragen übrigens nicht nur zu einer besseren Integration bei, sondern helfen auch, Vorurteile in der Bevölkerung abzubauen.
Doch leider setzt diese Regierungskoalition in der
Flüchtlingspolitik weiter auf Abschreckung statt auf Integration. Das zeigt zum Beispiel die Neuregelung des
Aufenthaltsbeendigungsgesetzes, über dessen Entwurf
wir demnächst hier abstimmen werden. Verbesserungen
bietet er zweifellos für Geduldete, die gute Sprachkenntnisse haben und einen eigenständigen Lebensunterhalt
vorweisen können. Allen anderen Flüchtlingen droht er
damit, dass sie inhaftiert werden können. Die abschreckende Botschaft, die hinter diesem Gesetzentwurf steht,
ist nicht hinzunehmen. Deswegen lehnen wir ihn ab.
Um es noch einmal deutlich zu sagen: Die Linke lehnt
eine Unterteilung in gute und schlechte Flüchtlinge ab.
Jeder Mensch, der flieht, hat einen Grund; er flieht nicht
einfach mal eben so und verlässt sein Land und seine Familie. Deswegen sagen wir: Menschenwürde ist für uns
nicht verhandelbar. Die Türen müssen weiter offen bleiben für Menschen in Not.
Ich danke Ihnen.
({9})
Vielen Dank, Ulla Jelpke. - Nächste Rednerin in der
Debatte: Andrea Lindholz für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Zunächst sind wir uns, liebe Ulla Jelpke, offensichtlich
in einem Punkt einig: dass nämlich die vielen ehrenamtlichen Helfer, die unser Asylsystem mittragen, deutlich
machen, wie groß das Verantwortungsbewusstsein für
Flüchtlinge in ganz Deutschland ist. Bei ihnen sollten
wir uns heute wieder einmal ganz besonders bedanken.
({0})
Eine Allensbach-Studie im Auftrag der Robert Bosch
Stiftung von 2014 zeigt, dass die deutliche Mehrheit der
Bevölkerung in Deutschland für die Aufnahme von
Menschen ist, die persönlich verfolgt werden. Gleichzeitig spricht sich aber eine klare Mehrheit für strenge
Asylregeln aus. In der Studie wird diese Forderung folgendermaßen erläutert - ich darf sie zitieren -:
Die Bevölkerung möchte offenbar unterschieden
wissen zwischen Asylbewerbern, die aufgrund persönlicher Verfolgung oder akuter existenzieller Bedrohung bei uns - legitimerweise - um Asyl nachsuchen, und solchen, die „nur“ aus wirtschaftlichen
Gründen kommen oder gar das vermeintlich laxe
deutsche Asylrecht ausnutzen.
Ich halte diese Forderung grundsätzlich für berechtigt. Es ist daher sehr wohl gerechtfertigt, zwischen unterschiedlichen Asylbewerbern zu unterscheiden.
({1})
Die vorliegenden Anträge unterstellen wieder einmal,
dass Deutschland seiner Verantwortung gegenüber
Flüchtlingen nicht gerecht werde. Es wird wieder einmal
davon gesprochen, wir würden Flüchtlinge nicht willkommen heißen. Dieser Vorwurf ist komplett absurd.
Wenn die Bedingungen für Flüchtlinge in Deutschland
so schlecht wären, wenn wir keine Willkommenskultur
hätten, dann würde wohl nicht jeder dritte Asylantrag in
Europa in Deutschland gestellt werden.
({2})
In beiden Anträgen wird davon gesprochen, dass die
Bewältigung der Flüchtlingskrise eine gesamtstaatliche
Aufgabe sei. Dem kann man uneingeschränkt zustimmen. Gleichzeitig wird aber gefordert, der Bund alleine
solle sämtliche Kosten für die Verfahren, für die Unterbringung und für die Versorgung der Asylbewerber übernehmen. Das, meine sehr geehrten Damen und Herren,
ist ein Widerspruch in sich. Die Verantwortung einseitig
auf den Bund abzuwälzen, ist gerade keine Verteilung
der gesamtstaatlichen Aufgabe, sondern das ist ein Wegschieben von Verantwortung auf den Bund. Unser föderaler Staat besteht aus Bund, Ländern und Kommunen.
Sie tragen gemeinsam Verantwortung, und das ist auch
gut so.
Die Bundesregierung engagiert sich längst massiv in
der Flüchtlingshilfe. Allein für Syrien haben wir
1,5 Milliarden Euro bereitgestellt und leisten damit einen wichtigen Beitrag, um die Flüchtlingskrise vor Ort
einzudämmen; denn 3,8 Millionen Syrer befinden sich
außerhalb ihres Landes auf der Flucht und 7,5 Millionen
in Syrien. Da frage ich mich, wo diese Menschen in Ihren Anträgen berücksichtigt werden.
Der Bund unterstützt aber auch die Länder und Kommunen bei ihren Aufgaben. In Bundesimmobilien wurden bis heute weit über 22 000 Unterbringungsplätze geschaffen. Der Bund stellt den Kommunen seine
Immobilien mietzinsfrei zur Verfügung und entlastet sie
damit um etwa 25 Millionen Euro pro Jahr. Über das novellierte Asylbewerberleistungsgesetz übernimmt der
Bund jährlich Kosten von 43 Millionen Euro. Weitere
10 Millionen Euro nimmt der Bund den Kommunen
dauerhaft bei den Impfkosten ab. Für dieses und nächstes Jahr wird 1 Milliarde Euro als zusätzliche Unterstützung bei der Flüchtlingsversorgung bereitgestellt. Wir
haben auch das Baurecht geändert und Flüchtlingsunterkünfte in Gewerbegebieten ermöglicht, um die Unterbringung vor Ort zu erleichtern.
Auch die Bundesländer könnten ihre Kommunen entlasten. Der Freistaat Bayern zum Beispiel übernimmt
vollständig die Kosten für die Unterbringung und Versorgung von Asylbewerbern. Die meisten Bundesländer
speisen ihre Kommunen aber mit viel zu niedrigen Pauschalen ab und rufen stattdessen nach neuem Geld vom
Bund. Beim Flüchtlingsgipfel Ende April in Erfurt war
eine der Hauptforderungen an die rot-rot-grüne Landesregierung, die 13,5 Millionen Euro, die der Bund für die
Flüchtlinge in Thüringen bereitgestellt hat, doch bitte
vollständig an die Kommunen weiterzureichen. Das
zeigt mir, dass mehr Geld vom Bund alleine keine Lösung ist.
({3})
- Na, dann ist es noch schlimmer, wenn es in Sachsen
noch schlimmer ist. - Niemand bestreitet, dass die Bewältigung der Flüchtlingskrise eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe ist. Sie kann aber nicht mit immer neuen
Forderungen nach mehr Geld oder dem Verschieben von
Verantwortung auf den Bund gelöst werden.
Das zeigt uns auch die aktuelle Asylstatistik - diese
Zahlen müsste man einmal zur Kenntnis nehmen -: Im
ersten Quartal dieses Jahres wurden über 85 000 Asylanträge in Deutschland gestellt. Mehr als die Hälfte der
Antragsteller stammt aus den Balkanstaaten, obwohl
ihre Anträge seit Jahren zu fast 100 Prozent abgelehnt
werden. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge
hat in diesem Jahr bei 8 324 geprüften Asylanträgen von
Serben in keinem einzigen Fall einen Schutzgrund festgestellt. Bei 11 250 Entscheidungen über Asylanträge
von Kosovaren wurde in nur einem einzigen Fall ein
subsidiärer Schutzgrund festgestellt. Hier müssen wir
gegensteuern; denn diese vielen offensichtlich unbegründeten Asylanträge binden wichtige Ressourcen. Nur
wenn wir auch in den Herkunftsländern Fluchtursachen
bekämpfen und wenn wir Fehlanreize in Deutschland
beseitigen, dann werden wir unsere Kommunen dauerhaft und nachhaltig entlasten.
Ein wesentlicher Fehlanreiz ist die Vermischung von
Asyl- und Arbeitsmigration. Das belegen auch die Anhörungen der Menschen vom Westbalkan, die ganz offen
sagen, sie wollen zum Arbeiten zu uns kommen. Das ist
auch gut so. Aber wir haben andere Instrumentarien, um
dafür nach Deutschland in zulässiger Weise einreisen zu
können. Asyl dient ausschließlich dem Schutz verfolgter
Menschen und nicht der Fachkräfteanwerbung.
({4})
Die Union will anerkannten Flüchtlingen zügig helfen
und sie integrieren. Natürlich haben wir im letzten Jahr
auch den Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtert. Aber,
liebe Ulla Jelpke, wir sind natürlich dagegen, dass jeder
Flüchtling ab dem ersten Tag bei uns arbeiten kann; das
ist so. Angesichts der steigenden Gesamtschutzquote,
die aktuell bei 37 Prozent liegt, und der immer noch zu
langen Verfahrensdauer müssen wir die Asylbewerber,
bei denen Schutzgründe offensichtlich sind, schneller integrieren und ihnen schneller Integrations- und Sprachkurse zur Verfügung stellen. Insofern begrüße auch ich,
dass der Bundesinnenminister jetzt angekündigt hat,
dass dies erfolgen soll. Aber - auch das gehört dazu bei aussichtslosen Asylanträgen müssen wir für eine
schnelle und zügige Rückführung und dem vorgeschaltet
auch für schnelle Verfahren Sorge tragen. Um die Asylverfahren zu beschleunigen, hat das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge im letzten Jahr 650 zusätzliche
Stellen bekommen. Die Besetzung dieser Stellen braucht
seine Zeit. Angesichts der steigenden Antragszahlen ({5})
- ich weiß es - und auch angesichts des Rückstandes
müssen wir sicherlich über eine weitere Stellenausweisung nachdenken. Das wird auch erfolgen. Ich hoffe,
dass der morgige Flüchtlingsgipfel hier Ergebnisse
bringt.
({6})
Ich will an dieser Stelle aber sagen: Wenn wir mehr Bescheide haben, müssen wir auch dafür sorgen, dass diese
Bescheide entsprechend vollzogen werden, egal in welche Richtung sie gehen.
Wir haben im letzten Jahr drei Westbalkanstaaten zu
sicheren Herkunftsstaaten erklärt, und die entsprechenden Anträge können jetzt schneller bearbeitet werden.
Bayern hat im Bundesrat ein Gesetz vorgelegt, um drei
weitere Balkanstaaten ebenfalls als sicher einzustufen.
Leider verweigern sich hier die rot- und grüngeführten
Länder, dieser Erleichterung zuzustimmen, obwohl auch
der Präsident des Bundesamtes für Migration und
Flüchtlinge dies erst kürzlich ausdrücklich empfohlen
hat. Mit diesen Maßnahmen und auch mit den Schnellverfahren bei den Kosovo-Anträgen konnten wir trotz
steigender Antragszahlen die durchschnittliche Verfahrensdauer von sieben auf fünfeinhalb Monate reduzieren. Unser Ziel bleibt eine Verfahrensdauer von drei Monaten.
Aber Personal und Geld alleine lösen die Krise nicht.
Die globale Flüchtlingskrise - ich will daran erinnern:
über 50 Millionen Menschen befinden sich auf der
Flucht - kann man nicht mit kleinteiligen Maßnahmen
auf nationaler Ebene lösen. Deutschland schottet sich
auch nicht ab. 420 Millionen Europäer können bei uns
problemlos einreisen. Der Flüchtlingsschutz genießt bei
uns Verfassungsrang. Die Menschen in Deutschland
übernehmen Verantwortung für die Flüchtlinge, und
auch die Bundesregierung tut dies. Wir versuchen nicht
mit Polemik, sondern mit rechtsstaatlichen Mitteln, den
vielfältigen Anforderungen gerecht zu werden und die
Flüchtlingsproblematik zu lösen, obgleich uns das nie
vollständig gelingen kann. Die Flüchtlingsproblematik
wird uns auch in diesem Jahr noch intensiv beschäftigen.
Wir sollten gemeinsam auf allen Ebenen dafür Sorge tragen, dass wir nicht nur die Symptome bekämpfen, dass
wir nicht nur mehr Geld fordern, dass wir uns nicht auf
Sprachkurse beschränken, sondern dass wir auch das
Globale im Auge behalten, dass wir auch Europa noch
mehr mit in die Verantwortung nehmen und die vielfältigen Ursachen anpacken.
Vielen Dank.
({7})
Vielen Dank. - Das Wort hat jetzt die Kollegin Britta
Haßelmann, Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren Kolleginnen und Kollegen! Liebe Bürgerinnen
und Bürger auf der Zuschauertribüne! Lassen Sie mich
eingangs kurz sagen: Ich bin immer wieder erschrocken
darüber, wie Kolleginnen und Kollegen Abgeordnete,
die ja alle auch aus irgendwelchen Wahlkreisen vor Ort
kommen, technokratisch und kalt ein solches Thema, mit
dem wir alle so verbunden sind, besetzen.
({0})
Ich möchte das jetzt nicht noch aufwerten. Deshalb
gehe ich nicht auf einzelne Fragen ein. Aber ich spreche
Sie, die Bürgerinnen und Bürger, die heute zuhören oder
hier im Saal sind, auch ganz gezielt an. Es gibt so viel
Zustimmung. Es gibt so viel Unterstützung. Es gibt so
viel Verständnis dafür, dass wir in einer so unglaublich
privilegierten Situation in unserem Land leben, weil wir
in Frieden leben und weil wir nicht wie Millionen von
Kindern, Frauen und Männern vor Krieg, vor Gewalt,
vor Terror, vor Diskriminierung fliehen und die Heimat
verlassen müssen. Das tun Menschen nicht einfach nur
so, aus Lust und Laune, sondern sie fliehen aus Not und
Verzweiflung.
({1})
Verdammt noch einmal, Frau Lindholz, verbinden Sie
doch so etwas einmal mit einem solchen Thema! Was
glauben Sie denn, was Bürgerinnen und Bürger in den
Kirchengemeinden tun? Haben Sie sich den Beschluss
der evangelischen Kirche in Deutschland einmal angesehen? Wissen Sie, worüber Menschen vor Ort diskutieren? Es gibt eine breite Zustimmung in der Bevölkerung,
dass wir Menschen, die vor Krieg und Terror fliehen,
hier aufnehmen und unterstützen.
({2})
Das ist der Punkt, um den es heute geht.
({3})
Das ist der Punkt, um den es auch uns in dieser Debatte
geht.
Hören Sie auf, die Menschen, die fliehen, in Fliehende erster und zweiter Klasse einzuteilen! Das steht
Ihnen nicht zu.
({4})
Sie sind nicht die Asylprüfungsverfahrensinstanz. Menschen fliehen, und es gibt hier rechtsstaatliche Prinzipien, nach denen geprüft wird, ob jemand asylberechtigt
ist oder nicht. Diese Prüfung steht nicht Ihnen zu.
({5})
Frau Kollegin Haßelmann, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Huber?
Ja, natürlich.
Bitte schön, Herr Kollege.
Liebe Kollegin, es ist leider Gottes wieder so, dass
wir in dieser Diskussion gewisse Fakten unterschlagen.
Das hat meine Kollegin vorher schon anklingen lassen.
Es gibt wohl einen Unterschied zwischen Flüchtlingen
aus Krisengebieten. Ich möchte jetzt nicht von Wirtschaftsflüchtlingen reden; denn Wirtschaftsflucht klingt
so, als ob man seine ohnehin akzeptable Lebenssituation
verbessern möchte. Ich rede von Armutsflucht.
Ich wollte Sie fragen, ob Sie sich dessen bewusst
sind, welche Zeichen Sie hier in Ihrer emotionalen Rede
in Richtung jener Verantwortlichen setzen, aus deren
Ländern die Armutsflüchtlinge kommen. Ich möchte
auch auf das Bezug nehmen, was Ihre Vorrednerin Frau
Jelpke gesagt hat.
({0})
- Es wäre sehr nett, wenn Sie mich ausreden ließen.
Herr Kollege Huber, Sie fragen jetzt die Kollegin
Haßelmann.
Gut. - Meine Frage ist, ob Sie sich bewusst sind, welche Signale Sie senden; denn Sie werden diesen Flüchtlingsstrom vergrößern.
({0})
- Lassen Sie mich ausreden! - Wir reden hier nicht nur
von Menschen, die es geschafft haben, hierherzukommen, sondern wir reden darüber, dass Sie hier die Armutssituation von Menschen politisch ausschlachten,
unsere Gesellschaft emotionalisieren
({1})
und ihr Fakten vorenthalten, was mit Menschen auf dem
Weg zur Ablegestelle über das Meer geschieht.
({2})
Haben Sie sich Gedanken gemacht, wie viele Leute in
der Wüste enden? Haben Sie sich Gedanken gemacht,
wie viele Leute sterben, bevor sie das Ufer erreichen?
Sind Sie sich Ihrer Verantwortung bewusst, wenn Sie
hier sagen, wir könnten uneingeschränkt Leute in unserer Gesellschaft aufnehmen? Wissen Sie, was Sie damit
verursachen?
Vielen Dank.
({3})
Können wir uns darauf verständigen, dass jetzt Frau
Haßelmann das Wort hat?
Meine Damen und Herren, noch habe überwiegend
ich das Wort. Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Herr
Huber, seien Sie sich gewiss, dass ich mir meiner Verantwortung, der Verantwortung des Parlamentes und der
Verantwortung für dieses Thema sehr bewusst bin. Deshalb kann ich Ihren unfassbaren Beitrag im Hinblick auf
die Einschätzung, was Menschen auf der Flucht angeht,
nur zurückweisen und Ihnen sagen: Ich teile Ihre Auffassung nicht.
({0})
Meine Damen und Herren, morgen findet im Kanzleramt ein Treffen statt, zu dem die Kanzlerin eingeladen
hat. Es sind acht von sechzehn Ländern eingeladen. Es
gibt keine Begründung, keine Erklärung der Bundesregierung, warum nur acht Länder eingeladen sind. Wir
haben mehrere Versuche unternommen, herauszufinden,
warum acht von sechzehn Ländern eingeladen worden
sind. Liegt es an der Farbenlehre, liegt es daran, welcher
Ministerpräsident oder welche Ministerpräsidentin interessant ist? Es gibt keinen Sachgrund dafür. Acht sind
eingeladen, sechzehn Länder haben wir.
Die Kommunen sind gar nicht mit am Tisch,
({1})
obwohl sie die Hauptakteure sind, meine Damen und
Herren. Vor Ort in den Städten und Gemeinden werden
Menschen, die auf der Flucht sind, aufgenommen, vor
Ort wissen die Leute ganz genau, welche Unterstützung
gebraucht wird. Es gibt bis heute keine Erklärung dafür,
warum die Kommunen zu diesem Treffen im Kanzleramt nicht eingeladen wurden.
({2})
Die Kommunen gehören aber mit an den Tisch; das
ist so selbstverständlich wie das Amen in der Kirche.
({3})
Die Leute vor Ort könnten nämlich genau das einfordern, was auch wir einfordern, was die evangelische Kirche einfordert: Wo ist die Gesundheitsversorgung für
Flüchtlinge, die Sie den Ländern längst zugesagt haben?
Vor einem halben Jahr ist das zugesagt worden; doch es
gibt sie bis heute nicht. Wo ist die Initiative in Ihrem
Haushalt oder in Ihrem Nachtragshaushalt zur Erhöhung
der Sprachfördermittel, damit endlich alle Menschen
Zugang zu Sprachförderung haben? Wo ist die Initiative
zur Ausbildung junger Flüchtlinge, minderjähriger
Flüchtlinge, die nach Deutschland kommen? Wo sind die
Unterstützungsleistungen für Integration, für Traumaberatung der vielen Fliehenden, die traumatisiert sind?
All das kommt im Haushalt der Bundesregierung, auch
im Nachtragshaushalt, nicht vor. Da ducken Sie sich hier
auf Bundesebene, im Parlament einfach weg und machen jetzt eine Besprechung mit acht Ländern, aber auf
keinen Fall mit den Hauptakteuren vor Ort; denn die
würden von Ihnen einfordern, dass Sie endlich handeln
und konkrete Unterstützung bieten bei dieser Aufgabe,
die schließlich eine nationale Aufgabe ist. Das dürfen
Sie nicht auf dem Rücken der Kommunen austragen!
({4})
Vielen Dank, Frau Kollegin. - Jetzt hat das Wort der
Kollege Dr. Lars Castellucci, SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich will jetzt
einfach versuchen, wieder sachlich in diese Debatte einzusteigen.
({0})
Ich glaube auch, die Tonalität macht noch nicht eine gute
Politik aus; das kann sich an unterschiedliche Stellen in
diesem Saal richten.
Wir führen diese Debatte heute nicht nur vor dem
morgigen Tag, an dem ein Flüchtlingsgipfel stattfindet,
sondern wir führen diese Debatte auch zu einem
Zeitpunkt, wo wir die Prognose bekommen haben, dass
sich die Zahl der Flüchtlinge in Deutschland in diesem
Jahr absehbar verdoppeln wird. Das zeigt den Ernst der
Lage. Das zeigt, dass es nicht nur um deutsche Asylpolitik geht. Das zeigt auch, dass es nicht nur um Asylpolitik
geht. Die Herausforderung ist komplex, und einfache
Antworten gibt es nicht. Das Allerwichtigste ist, dass
mehr Menschen in ihren Heimatländern bleiben können;
dazu müssen wir unseren Beitrag leisten.
({1})
Wir alle wissen, dass das leichter gesagt ist als getan.
({2})
Viele Entwicklungen, die wir in den letzten Monaten
und Jahren hier auch begleiten, laufen in die völlig
andere Richtung. In den Medien und auch in den Sitzungswochen löst eine Krisenregion die andere als
Thema ab. Aber das ist eben unsere Zeit. Wir müssen
uns den Herausforderungen stellen, die sie uns bietet,
und dürfen nicht nachlassen in unserem Bemühen.
Die zweite Ebene - das muss heute auch noch einmal
kurz Thema sein - ist Europa. Wir können ja nicht,
jedenfalls nicht sinnvoll, isoliert über Asylpolitik sprechen, denn unsere Grenzen sind in Wahrheit die Außengrenzen der Europäischen Union; Europa ist der Zufluchtsort. Vor zwei Wochen haben wir uns hier
anlässlich der Flüchtlingskatastrophe auf dem Mittelmeer zu einer Schweigeminute von den Plätzen erhoben.
In unser Schweigen dringen die Hilfeschreie der Ertrinkenden. Mit Blick auf den Ratsbeschluss, der einen Tag
später getroffen wurde, kann man nur sagen: Sie hätten
besser geschwiegen;
({3})
denn die Ergebnisse sind unter allen Erwartungen geblieben, die man haben konnte.
({4})
Dass sich Europa nicht einmal auf eine konkrete Zahl
von Flüchtlingen verständigen konnte, denen man ein
Resettlement anbietet, ist aus meiner Sicht schändlich.
({5})
Ich wiederhole: Wir brauchen neben Grenzschutz und
Bekämpfung von Schleusern eine akut wirksame Seenotrettung. Es ist gut, dass jetzt zwei weitere deutsche
Schiffe im Mittelmeer sind und dort auch Unterstützung
leisten; aber es ist doch absurd, dass sie die Menschen
einsammeln und man nicht einmal weiß, wohin mit
ihnen. Wir brauchen einen Verteilungsschlüssel für
Flüchtlinge in Europa. Wir müssen in Kontingenten, die
uns fordern, aber nicht überfordern - es geht immer um
das rechte Maß -, legale Zugangswege nach Europa eröffnen. Wenn es also irgendwo ein Umdenken geben
muss, meine Damen und Herren, dann in allererster
Linie in der europäischen Flüchtlingspolitik. Wir sehen:
Die Menschen kommen ohnehin. Wir können das nur
gestalten; wir können es nicht verhindern.
({6})
Damit zu Deutschland. Auch ich bin überzeugt, dass
wir zu großen humanitären Anstrengungen in der Lage
sind - das zeigen wir auch - und dass wir die Hilfsbereitschaft der Menschen sichern können. Das ist aber an
Voraussetzungen gebunden.
Die erste Voraussetzung ist: Es muss klar sein, dass
unsere Hilfe auf Menschen trifft, die vor politischer
Verfolgung, Krieg und Terror fliehen. Jetzt können wir
beklagen, dass in unseren Asylverfahren auch Menschen
landen, auf die das gar nicht zutrifft; aber wir müssen
uns gleichzeitig fragen: Welche Alternativen haben diese
Menschen? Ich will an dieser Stelle für die SPDFraktion klar sagen: Die Einstufung dreier Staaten als sichere Herkunftsstaaten haben wir im Koalitionsvertrag
vereinbart. - Für mehr sind wir nicht zu haben.
({7})
Das Beispiel Kosovo zeigt uns eindeutig, dass wir
auch ohne das Konzept von sicheren Herkunftsstaaten
Erfolge haben können. Von dort sind in der Spitze über
1 000 Menschen am Tag zu uns gekommen. Jetzt liegt
das nur noch im zweistelligen Bereich, und das ohne die
Ausweisung als sicherer Herkunftsstaat. Man macht ein
Grundrecht nicht besser, indem man es einschränkt.
({8})
Die zweite Voraussetzung ist, dass die Menschen in
Deutschland das Gefühl haben müssen, dass wir uns mit
aller Kraft auch um ihre Alltags- und ihre Zukunftssorgen kümmern. Es muss sichergestellt sein, dass das,
was wir für Flüchtlinge tun, nicht gegen Kinderbetreuung, nicht gegen Schwimmbäder, nicht gegen Kultur
und nicht gegen soziale Infrastruktur vor Ort geht.
({9})
Wir müssen - das ist der dritte Punkt, ein sehr wichtiger Punkt - die Herausforderung organisatorisch gut
bewältigen, und zwar in einer Verantwortungsteilung
zwischen Bund, Ländern und Kommunen. Vonseiten der
SPD liegen vor dem morgigen Flüchtlingsgipfel hierzu
Vorschläge vor. Wir wollen die Kommunen von den
Kosten der Flüchtlingsunterbringung und Integration
entlasten. Ich sage: Es macht keinen Sinn, dass wir die
Menschen ins flache Land verteilen, wenn ihr Aufenthaltsstatus noch völlig ungeklärt ist; da müssen wir
gegensteuern. Die Menschen engagieren sich für Integration - alle Redner haben das völlig zu Recht mit Lob
versehen -, aber man weiß gar nicht: Trifft das auf Menschen, die auf Dauer bei uns bleiben können? Da werden
auch Ressourcen vergeudet.
Wenn wir als Bund stärker in die Verantwortung gehen, dann ist es auch unsere Aufgabe, für Standards zu
sorgen, also zu sagen, was wir dafür haben wollen. Wie
sehen die Unterkünfte aus? Wie sieht es mit der Sozialbetreuung aus? Welche Anstrengungen werden in
Richtung Arbeitsmarkt unternommen? Schließlich: Wir
treten für die Übernahme der Gesundheitskosten nach einem bundeseinheitlichen Verfahren ein. Das haben wir
vorgelegt.
Damit sind wir insgesamt wieder bei der Frage des
Geldes. Es ist richtig: Es geht darum, Lasten zu teilen, es
geht darum, Verantwortung zu teilen, und es geht um
Ressourcenteilung. Man kann das Ganze als einen
Kuchen sehen. Wenn mehr Menschen ein Stück haben
wollen, dann bleibt für jeden weniger übrig. Aber es gibt
auch die andere Perspektive, und diese andere Perspektive ist ebenfalls richtig, nämlich: Wer teilt, wird reicher.
Genau das ist es, was die vielen tausend Helferinnen und
Helfer vor Ort spüren, wenn sie sich um Flüchtlinge oder
ganz einfach um andere kümmern. Es gilt der alte Satz
von Goethe: Wer nichts für andere tut, tut nichts für sich.
({10})
Diese Sicht, dass das Teilen uns auch reicher machen
kann, gibt uns die Kraft, die vor uns liegenden Herausforderungen nicht nur anzupacken, sondern auch zu
meistern.
Vielen Dank.
({11})
Vielen Dank. - Für die CDU/CSU-Fraktion spricht
jetzt die Kollegin Barbara Woltmann.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Jeder, der politisch verfolgt ist und in Deutschland nach
Schutz sucht, soll und muss ihn auch bekommen. Artikel 16 a unseres Grundgesetzes zum Asylrecht ist schon
einzigartig in dieser Welt, in unserer Welt. Daran möchte
hier bei uns auch niemand rütteln.
Wir wissen, wie viele Menschen weltweit auf der
Flucht sind. Viele machen sich nach Europa auf, auch
nach Deutschland. Deutschland verschließt sich diesen
Entwicklungen auch gar nicht. Bei allem Verständnis für
die Emotionalität, Frau Haßelmann oder Frau Jelpke
- ich habe Verständnis dafür; es geht schließlich um
Menschen -: Wir müssen immer zu einer Ausgewogenheit kommen.
Was können wir hier in Deutschland leisten? Wir können eine Menge leisten. Wir sind ein wohlhabendes
Land. Aber wir müssen hier maßvoll sein, damit die
Menschen in unserem Land, unsere Kommunen - ich
komme noch dazu - das letzten Endes bewältigen können.
({0})
- Ja, Sie haben Vorschläge gemacht. Einiges davon ist
schon umgesetzt, anderes ist vielleicht nicht so praktikabel. - Die Zahlen hat Kollegin Lindholz schon genannt:
Wir rechnen in diesem Jahr mit 400 000 Asylbewerbern.
Das wird eine große Herausforderung werden.
Wenn ich Ihre Anträge lese, dann habe ich manchmal
das Gefühl, als hätten wir hier in Deutschland noch gar
nichts für diese Menschen getan. Das ist falsch. Wir
haben schon eine ganze Menge getan. Ich möchte an
dieser Stelle den Kommunen einen großen Dank aussprechen. Die Hilfs- und Aufnahmebereitschaft der
Kommunen gegenüber Flüchtlingen ist groß; es ist von
den Vorrednern schon angesprochen worden. Überall
gibt es jetzt schon bürgerschaftliches Engagement in
vielfältigster Weise. Die Kommunen, die Kirchen unterstützen das. Mein Landkreis stellt Geld für Integrationskurse, Sprachkurse zur Verfügung. Integrationslotsen
werden ausgebildet. All das sind sehr positive Beispiele,
die es zu Hunderten gibt.
({1})
Dazu entnehme ich Ihren Anträgen nicht so viel.
Wir können - auch das muss ich an dieser Stelle
sagen - nicht immer nur mit der Forderung nach mehr
Geld vom Bund kommen. Damit machen wir es uns
wirklich zu einfach.
({2})
In einem Punkt bin ich ganz bei Ihnen - Vorredner haben
es auch schon gesagt -: Wenn der Bund wirklich mehr
Geld in die Hand nimmt - ich weiß nicht, was morgen
beim Gipfel herauskommen wird -,
({3})
dann müssen wir aber auch über die Strukturen insgesamt sprechen, dann müssen wir überlegen: Was können
wir ändern? Was muss besser gemacht werden?
Auch ich möchte zunächst einmal auf ein Grundproblem bei der Aufnahme und der Unterbringung von
Flüchtlingen und Asylbewerbern zu sprechen kommen
- auch das findet in Ihrem Antrag keine Erwähnung -,
nämlich die Frage der Schutzbedürftigkeit. Die Zahlen,
auch die Zahl der Anträge, die es in diesem Jahr schon
gab, will ich gar nicht mehr erwähnen; aber immerhin
kommen 50 Prozent der Antragsteller aus dem Westbalkan. Die Anerkennungsquote liegt bei ihnen bei weit
unter 1 Prozent. Ich bin der festen Überzeugung: Wir
müssen weitere sichere Herkunftsländer festlegen - das,
was wir da haben, reicht noch nicht - oder andere Strukturen schaffen, die so gut und sicher sind, dass dies nicht nötig ist, um zu gewährleisten, dass Menschen, die nicht
politisch verfolgt sind - ich beziehe mich auf Artikel 16 a
des Grundgesetzes -, nicht mit der Begründung, hier
Asyl zu beantragen, zu uns kommen können. Hier geht
es um ganz andere Fluchtgründe.
({4})
Wir müssen natürlich insbesondere an die Kommunen
denken, weil sie das letzte Glied in der Kette sind und
die Last zu tragen haben: die Last der Unterbringung und
den dadurch entstehenden Kostendruck. Eines muss ich
an dieser Stelle aber auch einmal sagen: Wir haben einen
Dreiklang der Verantwortung. Das ist unserem föderalen
System geschuldet, und es ist auch richtig so. Trotz aller
gesamtstaatlichen Verpflichtungen, die angesprochen
worden sind, würde ich nicht von diesem Dreiklang
abweichen wollen. Da muss man auch die Länder ganz
stark in die Pflicht nehmen. Wir müssen leider feststellen, dass viele Länder ihren Verpflichtungen nicht nachkommen. Sie sind für die Unterbringung in einer Erstaufnahmeeinrichtung zuständig. Da von „Lagerhaltung“
zu sprechen, Frau Jelpke, finde ich ganz schlimm.
({5})
- Oder „Lagerunterbringung“. Das finde ich von der Begrifflichkeit her schon sehr bedenklich;
({6})
denn da reden wir von Menschen.
Die Länder müssen dafür sorgen, dass die Flüchtlinge, die dort untergebracht werden, wenigstens diejenigen, deren Anträge offensichtlich unbegründet sind, gar
nicht erst auf die Kommunen verteilt werden. Das
Gleiche gilt aus meiner Sicht auch für die Menschen, die
unter die Dublin-Verordnung fallen. Es ist auch richtig,
dass die Menschen erst einmal in eine Erstaufnahmeeinrichtung kommen, weil es dort Außenstellen des
BAMF gibt, in denen die Anträge gestellt werden
können. Da kann sofort die Bearbeitung stattfinden.
Offensichtlich unbegründete Anträge könnten gleich bei
der Erstaufnahme bearbeitet werden; das ist meine Idealvorstellung. Die Antragsteller würden erst dann auf die
Kommunen verteilt werden, wenn wir wissen, dass sie
wahrscheinlich anerkannt und dauerhaft bei uns bleiben
werden. Das würde schon etliche Probleme lösen.
Für die Abschiebung sind die Länder zuständig. Wir
dürfen es nicht so weit kommen lassen, dass die bisher
wirklich positive Grundstimmung in der Bevölkerung
kippt. Die Menschen haben ein ganz feines Gespür für
Gerechtigkeit, und Sie sprechen doch immer von Gerechtigkeit. Wir haben Gesetze, und diese sollten wir
einhalten und nicht brechen. Die Menschen, die kein
Bleiberecht haben, weil kein Asylgrund vorliegt und deren Antrag daher abgelehnt wurde, müssen konsequent
in ihre Herkunftsländer zurückkehren, und dafür sind die
Länder verantwortlich.
({7})
Ich kann nicht immer nur vom Bund fordern: Gib mir
mehr Geld! Ich will die vielen Milliarden, die der Bund
bereits zur Unterstützung der Länder und Kommunen
in die Hand genommen hat, gar nicht erwähnen. Die
Opposition sagt: 1 Milliarde, das ist nichts. 1 Milliarde
- 500 Millionen Euro in diesem Jahr und 500 Millionen
Euro im nächsten Jahr - ist nichts? Das ist doch eine
ganze Menge! Die vielen anderen Maßnahmen, die wir
bereits ergriffen haben, will ich auch nicht erwähnen.
Frau Kollegin Lindholz hat die neu geschaffenen Stellen
schon angesprochen.
Ein Wort zum Antrag der Linken. Er enthält viele
Punkte, die bereits umgesetzt sind: die Lockerung der
Residenzpflicht nach 3 Monaten,
({8})
die Erleichterung bei der Arbeitsaufnahme: nach 3 Monaten mit Vorrangprüfung, nach 15 Monaten ohne Vorrangprüfung. Das sind doch alles positive Regelungen.
Ich weiß gar nicht, warum Sie das alles immer so
schlechtreden oder überhaupt nicht anerkennen, dass wir
diese guten positiven Regelungen haben.
({9})
Für eine gesamtstaatliche Lösung, für die wir alle offen sind, brauchen wir letzten Endes den bereits angesprochenen Dreiklang der Verantwortung. Hier sind der
Bund, die Länder und die Kommunen in der Pflicht. Der
morgige Flüchtlingsgipfel mit Vertretern von Bund und
Ländern wurde schon angesprochen. Frau Haßelmann,
Sie haben in diesem Zusammenhang bemängelt, dass die
Kommunen nicht dabei sind. Ja, das stimmt, aber für
eine Beschwerde sind wir, der Bund, nicht der richtige
Ansprechpartner.
({10})
- Nein, da müssen Sie die Länder ansprechen. Die Länder können die Kommunen mitnehmen. Die Länder sind
für die Kommunen zuständig. Sie wollen doch nicht in
Abrede stellen, dass die Länder für die Kommunen verantwortlich sind? Das ist ein wichtiger Punkt; wir können nachher gerne noch einmal darüber sprechen. Unsere Fraktion führt ständig Gespräche mit Vertretern der
kommunalen Spitzenverbände.
({11})
Ich bin froh - damit komme ich zum Schluss -, dass
in der nächsten Woche auf europäischer Ebene über dieses Thema gesprochen wird. Ich bin der Meinung, dass
wir auf europäischer Ebene ein Quotensystem brauchen.
In Europa muss die Last auf mehrere Schultern verteilt
werden. Wir in Deutschland können die Probleme allein
nicht lösen. Vielmehr ist das eine europäische Herausforderung, der wir uns alle stellen müssen.
Herzlichen Dank.
({12})
Das Wort zu einer Kurzintervention hat jetzt die Kollegin Haßelmann.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Da Frau Woltmann
mich angesprochen hat, möchte ich die Gelegenheit nutzen, darauf zu erwidern. Ich verstehe wirklich nicht, dass
sich die Große Koalition, also sowohl die Union als auch
die SPD, bei der Frage, warum sie die Kommunen nicht
einlädt, auf billige Art und Weise herausredet, indem sie
argumentiert, das sei eine verfassungspolitische Frage;
denn die Kommunen seien eine abgeleitete Ebene der
Länder.
Alle kommunalen Spitzenverbände fordern, eingeladen zu werden. Niemand bestreitet, dass sie die Hauptakteure sind. In der Vergangenheit wurden die Kommunen zu sehr vielen solcher Gipfel, Termine oder Treffen
eingeladen. Da hat es Sie überhaupt nicht interessiert,
welche staatlichen föderalen Ebenen wir im Sinne des
Verfassungsrechtes haben. Das sind doch wirklich an
den Haaren herbeigezogene Argumente,
({0})
um sich mit den inhaltlichen und sehr präzisen Forderungen der Kommunen nicht auseinanderzusetzen.
Im Übrigen möchte ich Sie darauf hinweisen, dass der
Bundestag in der letzten Legislaturperiode im Rahmen
der Gemeindefinanzreform beschlossen hat, umfangreiche Anhörungs- und Beteiligungsrechte für die Kommunen überall da, wo Themen die Kommunen berühren, zu
verankern. Möchte jemand von Ihnen hier im Saal bestreiten, dass die Kommunen mit den Themen Flüchtlinge, Begleitung, Betreuung und Erstaufnahme etwas zu
tun haben? Sie können diese Ablehnung und dieses
Fernhalten der Kommunen von diesem Treffen doch gar
nicht begründen.
({1})
Frau Kollegin Woltmann.
Vielen Dank. Das gibt mir noch einmal die Gelegenheit, darauf einzugehen. - Erst einmal möchte ich festhalten, dass diese Bundesregierung, glaube ich, eine der
kommunalfreundlichsten Regierungen ist, auch in Bezug
auf Leistungen in direkter Form an die Kommunen, was
eigentlich gar nicht Aufgabe des Bundes ist.
({0})
- Moment, Moment, nicht so aufregen.
({1})
- Sie können sich ruhig aufregen, aber das hilft auch
nicht.
Die Länder - es tut mir leid, jetzt müssen wir doch
einmal auf die verfassungsrechtlichen Dinge zu sprechen
kommen - sind für die Kommunen zuständig. Eigentlich
könnte sich der Bund auch darauf zurückziehen und sagen: Wir regeln das in den Bund-Länder-Finanzbeziehungen. Die Länder müssen dann die entsprechenden
Gelder weitergeben.
({2})
- Ich komme gleich dazu, Frau Göring-Eckardt. - Wir
haben deswegen auch gesagt: Wenn die Länder die
Kommunen mitbringen möchten, können sie das natürlich gerne machen. Sie scheinen das aber nicht gewollt
zu haben. Insofern sind morgen aller Voraussicht nach
die Kommunen nicht mit am Tisch. Dennoch sind wir
ständig mit den kommunalen Spitzenverbänden im Gespräch. Das möchte ich hier festhalten. Es ist ja nicht so,
dass keine Gespräche stattfinden.
({3})
Vielen Dank. - Nächste Rednerin ist die Kollegin
Claudia Roth, Bündnis 90/Die Grünen.
Liebe Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor zwei Wochen haben wir hier im Plenum um
die über tausend Toten, die zuvor im Mittelmeer auf der
Suche nach Schutz und Zuflucht hier bei uns ertrunken
waren, getrauert. Aber das Sterben, der Flüchtlingsexodus geht weiter. Seither sind weitere 50 Menschen ertrunken, Frauen, Kinder, Männer. In den letzten Tagen
erreichten etwa 7 000 Menschen die italienische Küste.
Ich bin am Wochenende dort gewesen. Ich bin nach Sizilien gefahren und konnte erleben, wie Bürgermeister,
wie Präfekten, wie Priester, wie Nonnen, wie Ärzte, wie
Polizisten, wie die italienische Caritas, wie das Rote
Kreuz, wie NGOs wirklich alles tun, um den Flüchtlin9830
Claudia Roth ({0})
gen zu helfen und ihnen ihre Menschenwürde wiederzugeben. Ich war in Mazara del Vallo und habe mit den Fischern getrauert, die Menschenleben retten und in ihren
Netzen Leichen bergen. Ich habe Solidarität, Humanität
und vor allem Empathie für die Menschen in Not erlebt,
für Menschen wie du und ich, die in einer der ärmsten
Regionen Italiens und Europas angekommen sind und
dort menschlich behandelt werden. Immer wieder habe
ich die Frage gehört: Wo ist eigentlich Europa?
({1})
Das Mittelmeer ist doch kein italienisches Meer. Es
ist unser Meer. Warum ist Europa von dieser Tragödie so
unendlich weit weg? Was sind denn die Werte eigentlich
wert, auf die man sich in Sonntagsreden so gerne beruft,
wenn die Zahl der Toten bei etwa 27 000 liegt und jeden
Tag etwa 500 Menschen neu ankommen? Liebe Kolleginnen und Kollegen, da habe ich mich für dieses Europa geschämt, das sich so gerne mit dem Friedensnobelpreis schmückt, den doch die Sizilianer viel eher
verdient hätten.
({2})
Ich werde sie nicht vergessen können: die Gesichter
der traumatisierten Überlebenden, die vor wenigen Tagen angekommen sind, die nigerianische Christin, starr
vor Schreck und zitternd vor Angst. Ich werde auch den
jungen Mann aus Eritrea nie vergessen können, der seine
Schwester im Meer verloren hat und jetzt keine Tränen
zum Weinen mehr hat. Sie alle sind der Hölle entkommen, auch der entgrenzten Gewalt in Libyen, und hoffen
auf das, was für uns so selbstverständlich ist: Sie hoffen
auf Leben, sie hoffen auf Zukunft, sie hoffen auf ein klitzekleines bisschen Glück - nach all dem Elend.
Und wo ist Europa? Am Tag nach der Debatte hier bei
uns im Parlament hat der EU-Sondergipfel der Regierungschefs getagt. Was hat er beschlossen? Die Verstärkung der Grenzschutzmaßnahmen, die Bekämpfung der
Schleuserkriminalität, die Zerstörung von Schleuserschiffen, die Eindämmung von sogenannten Migrantenströmen, die freiwillige Erklärung von EU-Mitgliedstaaten, Italien und Malta ein paar Flüchtlinge abzunehmen.
Bekämpfung, Zerstörung, Abschottung, Zurückweisung,
Eindämmung - das ist der eiskalte Sprech, der sich der
Schutzverantwortung verweigert.
({3})
So, liebe Kolleginnen und Kollegen, stirbt jeden Tag
auch unsere Idee von Europa, die die Menschenwürde in
den Mittelpunkt stellt.
Das Europäische Parlament, Ban Ki-moon, António
Guterres, Papst Franziskus, die EKD, der Bundespräsident, Pro Asyl, Amnesty und nicht zuletzt eine klare
Mehrheit der Menschen in Deutschland wissen, dass es
doch zuallererst um das Leben und die Rettung von
Menschen gehen muss, dass es aber auch um die Verteidigung unserer Werte geht. Sie alle fordern eine umfassende Seenotrettung im ganzen Mittelmeer. Sie fordern
sichere, legale Fluchtwege nach Europa - und nicht einen neuen, 100 Kilometer langen Zaun in Bulgarien. Sie
fordern humanitäre Visa. Sie fordern eine deutliche
Aufstockung des Resettlement-Programms und eine
unbürokratische Familienzusammenführung. Sie fordern
europäische Solidarität bei der Aufnahme von mehr
Flüchtlingen. Sie fordern eine Entlastung der Nachbarregionen Syriens. Sie fordern eine nachhaltige Entwicklungspolitik. Das bedeutet nicht, dass man Waffen an die
Saudis schickt, die heute und in diesem Moment im Jemen Zivilisten bombardieren.
({4})
Nie, so scheint es, waren sich Regierende und große
Teile der Zivilgesellschaft fremder.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, morgen ist der
8. Mai 2015. Vor 70 Jahren haben 12 Millionen Menschen, die ihre Heimat verloren haben, in den Besatzungszonen Unterkunft, Schutz und eine neue Heimat
gefunden. Auch daran sollten wir morgen, am 8. Mai, erinnern.
({5})
Vielen Dank. - Nächster Redner ist Matthias
Schmidt, SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren auf den Zuschauertribünen! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Ich habe kürzlich auf der Straße Herrn
Kollegen Frank Tempel von den Linken getroffen. Wir
sind dann gemeinsam zum Büro gegangen und haben dabei festgestellt: Im Innenausschuss brummt es ganz
schön. Es gibt viele politisch wichtige Themen, die momentan bei uns im Innenausschuss landen, und jeden
Tag kommen neue hinzu. Dabei ist die Flüchtlingspolitik
ein Thema, das unsere volle Konzentration und auch unseren gemeinsamen Einsatz erfordert. Was unseren gemeinsamen Einsatz betrifft, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, spreche ich Sie ausdrücklich
mit an. Ich finde, wir können durchaus versuchen, hier
gemeinsam zu agieren.
Aus meiner Sicht stehen wir vor folgenden Herausforderungen:
Erstens. Das Problem der Unterbringung vor Ort, in
den Kommunen, muss gelöst werden. Hier brauchen wir
Akzeptanz und Verständnis in der Bevölkerung. Darauf,
wie wir Akzeptanz und Verständnis erzielen, will ich
später zurückkommen.
Zweite Herausforderung. Das Massensterben im Mittelmeer muss sofort beendet werden. Was das Massensterben im Mittelmeer angeht, vergessen wir, die geMatthias Schmidt ({0})
samte Fluchtroute, auf der ebenfalls sehr viele Menschen
sterben, zu berücksichtigen. Wir sehen im Fernsehen immer nur Bilder vom Mittelmeer und betrachten das andere nicht mehr.
Herr Kollege Huber - er ist nicht mehr da -, ich teile
Ihre These, die Sie in Frageform gekleidet haben, ausdrücklich nicht: dass wir Menschen zur Flucht animieren, wenn wir sie retten.
({1})
Ich finde, wir sollten aus unserer christlichen Tradition
heraus durchaus zu anderen Schlüssen kommen.
({2})
Eine dritte wichtige Herausforderung ist die weltweite Bekämpfung der Fluchtursachen. Das lässt sich
nur mittel- oder langfristig bewältigen. Wir sind uns hier
im Parlament sehr schnell einig: Wir werden aus verschiedenen Gründen im Mittelmeer keine Mauer bauen
können. Wir brauchen legale Möglichkeiten, nach Europa zu gelangen. Und - Kollege Castellucci hat schon
darauf hingewiesen - wir müssen dafür sorgen, dass
mehr Menschen in ihren Heimatländern bleiben können.
Ihre beiden Anträge, liebe Kolleginnen und Kollegen
von der Opposition, betreffen meinen ersten Punkt. Ich
möchte mich hauptsächlich mit dem Antrag der Linken
auseinandersetzen.
Es ist sicherlich Ihr gutes Recht, vielleicht sogar Ihre
Pflicht, die Regierung mit breit angelegten Anträgen vor
sich herzutreiben, und dabei darf es durchaus auch einmal eine provokante Sprache geben. Meines Erachtens
schießen Sie an dieser Stelle aber weit über das Ziel hinaus. Wenn ich mir Ihren Antrag anschaue, so finde ich,
dass darin abwegig von einer bisherigen Politik der Abschreckung gegenüber Flüchtlingen die Rede ist, von
Zwangsunterbringung, Lagerzwang, Zwangsverteilung
- im Angesicht der deutschen Geschichte sollte man da
auch noch einmal über die Wortwahl nachdenken -,
({3})
von jahrelangen Versäumnissen, einer unzureichenden
und halbherzigen Regierungspolitik und von Planungsmängeln.
Regierung und Koalition müssen so etwas aushalten.
Aber Sie übersehen dabei, dass Sie mit Ihrem Antrag
auch den Menschen in unserem Land, die sich engagieren, die in Flüchtlingsinitiativen vor Ort oder an runden
Tischen aktiv sind, eine Ohrfeige versetzen.
({4})
Was unterstellen Sie diesen Menschen, die so gut helfen, wenn Sie fordern, dass eine antirassistische Präventionsarbeit selbstverständlicher Teil des bürgerschaftlichen Engagements sein müsse? Das sind doch die Leute,
die mit uns zusammen - mit den Demokraten - auch auf
die Straße gehen, gegen die NPD zum Beispiel in meinem Wahlkreis, gegen die AfD, gegen Pegida, und die
auch mit Menschen reden, die einfach nur verängstigt
sind.
({5})
Im Kanonenfeuer Ihres Antrags geht dann unter, dass
Sie auch auf richtige Aspekte hinweisen. Stichworte
hierfür sind die menschenwürdige Aufnahme, die schnelle
Integration - Frau Jelpke, Sie haben das eben noch einmal ausführlich erwähnt - und die Hilfen beim Spracherwerb.
Hinzu kommt, dass Ihr Antrag schlecht recherchiert
ist. Sie sprechen von 173 000 Asylsuchenden im Jahre
2014. Es waren bekanntlich über 200 000. Die Anzahl
der Altfälle - von Ihnen mit 169 000 beziffert - beträgt
tatsächlich rund 200 000. Allerdings gibt es „nur“ rund
50 000 Altfälle, die seit mehr als einem Jahr auf Bearbeitung warten. Das BAMF, das Bundesamt für Migration
und Flüchtlinge, ist mit intelligenten Lösungen dabei,
genau diese Fälle zurückzufahren.
Ihre Schlussfolgerung, die ein bisschen als Allheilmittel daherkommt, das BAMF mit neuen Stellen zu versorgen, birgt Tücken. Deswegen sollten wir darüber parlamentarisch noch einmal sehr gut nachdenken; denn
von den 650 neuen Stellen, die wir im Parlament bewilligt haben, sind momentan 575 besetzt bzw. werden
demnächst besetzt. Wenn wir jetzt weitere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter einstellen wollten, müssten diese irgendwoher kommen und würden eine längere Einarbeitungsphase benötigen. Ein entscheidender Punkt, den
noch niemand erwähnt hat: Wenn das BAMF entsprechend schnell ist, müssen die Ausländerbehörden in den
Ländern und Kommunen das auch umsetzen. Hier würde
sich sofort ein neuer Flaschenhals ergeben.
Ich finde, dass wir im Sinne einer effizienten und
sinnvollen Flüchtlingspolitik ruhig gemeinsam versuchen sollten, die Koalition zu unterstützen. Seit 2014 ist
der Arbeitsmarktzugang für Flüchtlinge und Asylbewerber deutlich erleichtert, und die Residenzpflicht ist gelockert. Der Bund muss verstärkt finanzielle Verantwortung übernehmen und Kommunen bei den durch die
Aufnahme von Flüchtlingen entstehenden Kosten entlasten.
Die Politik allgemein ist auf allen drei Ebenen - Bund,
Länder und Gemeinden - in der Pflicht, zu informieren;
denn nur so gewinnen wir Akzeptanz. Aber die Zivilgesellschaft, die wir auch alle unterstützen sollten, muss
Begegnungsmöglichkeiten schaffen; denn nur dadurch
wächst das Verständnis.
In meinem Wahlkreis gibt es inzwischen sechs Unterkünfte für Flüchtlinge, und alle werden positiv und engagiert von einer Vielzahl von Menschen begleitet und
unterstützt. Das Engagement dieser vielen Menschen
verdient Anerkennung, Respekt und unseren Dank. Das
hilft nicht nur den ankommenden Flüchtlingen vor Ort,
Matthias Schmidt ({6})
sondern bringt auch eines wohltuend zum Vorschein:
Die Unbelehrbaren sind in der Minderheit.
({7})
Ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin. - Lassen
Sie uns die runden Tische vor Ort stärken und unsere
politischen Aufgaben ruhig und sachlich angehen. Ich
glaube, unsere Vorstellungen sind gar nicht so weit voneinander entfernt. Ich freue mich auf die Diskussionen
mit Ihnen allen.
Vielen herzlichen Dank.
({8})
Vielen Dank. - Das Wort hat jetzt die Kollegin
Dagmar Wöhrl, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich bin nun auch schon seit einigen Jahren im Entwicklungsbereich tätig und somit durchgehend mit dem
Thema „Flüchtlinge und Migration“ verbunden. Ich
habe viele Flüchtlingslager auf der Welt gesehen und erkannt, dass es immer mehr zu einer Ghettoisierung
kommt und dass die Lager immer mehr auf Jahre hinaus
angelegt werden. Wie viele andere Kolleginnen und Kollegen auch, habe ich die Hoffnungslosigkeit und das
Elend in den Gesichtern dieser Menschen gesehen.
Ein sehr einschneidender Moment war für mich, als
im Herbst letzten Jahres in meinem Wahlkreis, in Nürnberg, auf einem Sportplatz das erste Flüchtlingszelt für
über 200 Flüchtlinge errichtet worden ist. Ich habe mir
das nie vorstellen können. Im Rahmen meiner Aufgaben
als Entwicklungspolitikerin konnte ich mir das weit entfernt in der Welt vorstellen, aber auf einmal gab es in
meinem Wahlkreis Hunderte Flüchtlinge.
Bei meinem ersten Besuch in einem der Flüchtlingslager - es war der erste von vielen, die ich im Laufe der
Wochen danach gemacht habe -, habe ich gemerkt, dass
die Vorgänge am Anfang total unkoordiniert abliefen.
Die Behörden waren völlig überfordert. Die minderjährigen unbegleiteten Flüchtlinge hatten keine Betreuung weder medizinisch noch psychosozial noch physisch. Es
gab viele Ehrenamtliche, die sich dieser Aufgaben dann
angenommen haben, und inzwischen sind Gott sei Dank
auch die Behörden so weit. Ich glaube, wir sind hier in
einem guten Fluss und haben alles gut in die Wege geleitet.
Aber ich habe auch etwas anderes bemerkt: die unwahrscheinliche Hilfsbereitschaft der Bevölkerung vor
Ort, der ehrenamtlich Tätigen. Ich glaube, wir wissen,
dass die Zahl der Flüchtlinge nicht geringer wird.
630 000 Flüchtlinge gab es im letzten Jahr in Europa. In
Deutschland haben sich insgesamt 238 000 aufgehalten.
Man schätzt, dass es in diesem Jahr über 400 000 werden. Wir werden das Verständnis der Bevölkerung nur
aufrechterhalten können, wenn wir vermitteln, dass unser System gerecht ist.
Diejenigen, die Schutz brauchen, erhalten natürlich
Schutz. Für politische Flüchtlinge gibt es keine Obergrenze. Das ist durch unser Grundgesetz geregelt. Es
muss aber auch klar sein, dass unser Asylverfahren nicht
für diejenigen gedacht ist, die keinen Schutz brauchen
und eigentlich nur hierherkommen, um ihre Lebensperspektive zu verändern. Dafür gibt es andere Wege. Der
Asylmissbrauch muss hier wirklich massiv bekämpft
werden.
Wir haben das Elend vor der syrischen Küste gesehen, die Tausenden Toten, darunter auch Kinder und
Frauen. Diese Bilder prägen sich ins Gedächtnis ein, und
es gibt große Diskussionen über folgende Fragen: Wie
können wir verhindern, dass zukünftig weitere Menschen auf quälende Art und Weise vor unserer Haustüre
sterben? Wie können wir die Schleuser besser bekämpfen? Wie können wir es schaffen, dass die Menschen
ihre Herkunftsländer nicht verlassen?
Wir sehen: Das Thema Flüchtlinge hat etwas Grenzüberschreitendes. Es betrifft nicht nur Deutschland - den
Bund und die Kommunen -, sondern die Europäische
Union, die Mitgliedstaaten, die Herkunftsländer und die
Transitländer. Es gibt hier nicht nur die eine Lösung. Das
müssen wir wissen, und das müssen wir auch eingestehen. Dafür ist das Thema viel zu komplex, zu vielschichtig und zu ideologisiert. Das heißt, wir müssen uns zu einer Gesamtbetrachtung dieses Themas zwingen.
Wir wissen: Der Großteil der Flüchtlinge kommt aus
Krisen- bzw. Kriegsgebieten, zum Beispiel aus dem Irak
oder aus Syrien, wo es ums Überleben geht. Es kommen
Hebräer, Somalier, Nigerianer, die durch Boko Haram
oder die Taliban bedroht werden. Das sind nur einige
Beispiele, die ich in die Diskussion hier einbringen
möchte.
Wir wissen aber auch, dass der Schlüssel zur Eindämmung der Flüchtlingsströme in den Herkunftsländern
liegt. Es ist aber so einfach gesagt, dass Fluchtursachen
bekämpft werden müssen.
({0})
Im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit tun wir
hier unser Möglichstes. Wir versuchen, dort rechtsstaatliche Strukturen aufzubauen und die Lebensperspektiven
zu verbessern. Aber alles, was wir machen können, ist
im Grunde genommen nur ein Tropfen auf den heißen
Stein. Es ist sicherlich richtig, dass wir helfen, ein duales
Ausbildungssystem aufzubauen. Aber wir müssen zukünftig viel mehr Krisenprävention betreiben.
Wir wissen, dass in Konfliktgebieten eine dauerhafte
Stabilisierung nicht von außen erreicht werden kann.
Wir sind hier nicht die hauptsächlichen Akteure, die gefragt sind. Vielmehr müssen die betreffenden Länder
eine eigene Dynamik entfalten. Sie müssen selbst rechtsstaatliche Institutionen aufbauen, um eine Rechtsordnung zu gewährleisten. In diesem Zusammenhang frage
ich mich: Was ist mit der Afrikanischen Union, dem
Pendant zur Europäischen Union? Warum schweigt sie
zu diesen Themen? Warum zeigt sie nur mit dem Finger
auf Europa und stellt die Frage, warum wir Flüchtlinge
ertrinken lassen? Was macht die Afrikanische Union
selbst? Wie wirkt sie auf die Herrschenden und Regierenden in den Herkunftsländern der Flüchtlinge ein?
Was tut sie, damit die Eliten in den afrikanischen Ländern in die Pflicht genommen werden? Afrika ist ein ressourcenreiches Land. Aber die Ressourcen sind falsch
verteilt. Gegen die Gleichgültigkeit der Eliten in den
afrikanischen Ländern gegenüber dem armen Bevölkerungsteil muss etwas getan werden.
({1})
Im Rahmen unserer Außenpolitik dürfen wir den Dialog
mit den Eliten und den Regierenden in den betreffenden
Ländern nicht abbrechen. Vielmehr müssen wir den Dialog zwischen der Europäischen Union und der Afrikanischen Union noch intensivieren.
Es ist wichtig, Asylanlaufstellen in den betreffenden
Herkunfts- und Transitländern zu schaffen. Ich spreche
nicht von Asylbewerberaufnahmezentren, sondern von
Asylanlaufstellen, bei denen sich Menschen, die beabsichtigen, ihr Heimatland zu verlassen, Informationen
holen können: Habe ich überhaupt eine Chance auf Asyl,
wenn ich mein Leben aufs Spiel setze, wenn ich meine
Familie, wenn ich meine Kinder verlasse? Solche Anlaufstellen können natürlich nur in stabilen Rechtsstaaten eingerichtet werden. In Libyen oder in Syrien ist das
auf absehbare Zeit nicht möglich. Aber wir sollten zusammen mit dem UNHCR solche Asylanlaufstellen auf
den Weg bringen.
Zu Recht wurde angesprochen: Ein großes Problem
sind die Asylsuchenden vom Balkan. Wenn wir sehen,
dass allein in den ersten drei Monaten von insgesamt
88 000 Asylanträgen 44 000 von Menschen aus den
Westbalkanländern gestellt wurden - die Anerkennungsquote bei diesen Menschen liegt bei gerade einmal
0,1 Prozent -, dann wissen wir, dass es richtig war, Serbien, Mazedonien und Bosnien-Herzegowina zu sicheren Herkunftsstaaten zu erklären. Aber kaum nimmt die
Anzahl der Anträge von Menschen aus diesen Ländern
ab, steigt die Zahl der Anträge von Menschen aus dem
Kosovo und aus Albanien. Innerhalb von acht Wochen
wurden allein 28 000 Asylanträge von Menschen aus
dem Kosovo gestellt. Viele dieser Menschen sagen ganz
offen, dass sie hier bei uns Arbeit suchen. Das heißt, sie
sind keine politisch Verfolgten. Wir müssen diesen Menschen sagen, dass es dann falsch ist, hier einen Asylantrag zu stellen. Wir müssen Informationskampagnen in
den Balkanländern durchführen, um die Menschen aufzuklären: Du wirst keine Chance haben, in Deutschland
Asyl zu bekommen. Du hast vielleicht eine Chance, eine
Arbeitsgenehmigung zu bekommen. Aber das solltest du
erst erfragen, bevor du dich auf den Weg machst.
Es ist bekannt, dass ich die Abschottungspolitik der
Europäischen Union als nicht zielführend und erfolgreich ansehe. Wir sollten aufgrund unserer Geschichte
wissen: Mauern zu errichten, hat noch nie langfristig
tragbare Lösungen gebracht. - Wir brauchen einen anderen Verteilungsschlüssel in Europa. Ich glaube, darüber
besteht im ganzen Haus Konsens. Wir müssen auch die
gesamte Flüchtlingshilfe überdenken. Mit den jetzigen
Gegebenheiten haben wir in der Vergangenheit nicht gerechnet. Wir brauchen neue Strukturen. Leider sieht es
momentan nicht so aus, dass wir zu einem neuen Verteilungssystem in Europa kommen; das müssen wir ehrlich
zugeben. Zwar wird am 13. Mai der neue Migrationsbericht vorgelegt. Aber solange sich Großbritannien weigert, zuzugestehen, dass es sich hier nicht um eine nationale, sondern um eine europäische Aufgabe handelt,
werden wir hier zu keiner Lösung kommen.
({2})
Ich hoffe, dass in dem Zusammenhang irgendwann ein
Konsens und auch die Solidarität aller Mitgliedstaaten
gegeben sein werden.
Ich wünsche dem Asylgipfel morgen viel Erfolg. Es
wird um Geld gehen - das ist ganz klar -, aber Geld ist
nicht alles. Wie gesagt, wir müssen in diesem Zusammenhang die Strukturen angehen. Wir müssen auch sehen, wie wir mit den vielen jungen, minderjährigen
Flüchtlingen umgehen. Es sind inzwischen 70 000, die
sich hier in Deutschland aufhalten. In Bayern sind es allein 4 000 neue unbegleitete Flüchtlinge. Bei ihnen hat
die Flucht andere Ursachen.
Frau Kollegin Wöhrl, kommen Sie bitte zum Schluss.
Sie haben andere Fluchtgründe als Erwachsene. Deswegen brauchen wir auch Richtlinien für Kinder im
Asylverfahren, damit sie nicht wie Erwachsene behandelt werden. Sie sind traumatisiert, sie sind vergewaltigt
worden, sie waren Kindersoldaten und vieles mehr. In
diesem Sinne haben wir noch große Aufgaben vor uns.
Es sind viele Herausforderungen. Ich hoffe, dass wir sie
gemeinsam im ganzen Hause im Sinne der vielen Flüchtlinge und der vielen Hilfsbedürftigen lösen werden.
Vielen Dank.
({0})
Vielen Dank. - Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Rüdiger Veit, SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Auch ich habe meine eigene Meinung zu der Frage, ob
es zweckmäßig und sinnvoll gewesen wäre, zu dem morgigen Gipfel im Kanzleramt Vertreter der Kommunen
einzuladen. Ich fasse das einmal in die Worte des Präsidenten des Deutschen Städtetages, Ulrich Maly, der
heute in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und auch
zu uns gesagt hat: Ich weiß nicht, was dabei herauskommt. Ich bin nicht dabei. Die Kommunen sitzen nicht
mit am Tisch. Das ist der Hit.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, vielleicht kommt
trotzdem etwas dabei heraus. Vielleicht unterscheidet
sich dieser Gipfel dann von manch anderem, der in der
Vergangenheit stattgefunden hat. Schon aus Rücksicht
auf die Koalition ist mir eine weitere Würdigung der
Vergangenheit nicht erlaubt.
({1})
Aber meine Hoffnung richtet sich auf die Zukunft.
Hier reden wir in der Tat nicht nur von Geld. So ist beispielsweise die Frage der sicheren Drittstaaten angesprochen worden. Ich will versuchen, dies noch ein bisschen
deutlicher zu zeichnen. Wir haben - das müssen wir Sozialdemokraten zugestehen - drei Westbalkanstaaten als
sichere Herkunftsstaaten eingestuft. Was ist in der Zwischenzeit geschehen, nachdem dies Gesetz geworden
ist?
({2})
Die Anzahl der Flüchtlinge von dort hat sich um 27 Prozent reduziert. Das ist nicht wenig. Das ist aber auch
nicht so dramatisch viel, wie es diejenigen, die das gefordert haben, gedacht haben mögen.
({3})
Dagegen setze ich die Entwicklung der Anzahl der
Flüchtlinge aus dem Kosovo. Die Zahl ist von Lars
Castellucci genannt worden: Wir hatten mehr als 1 000,
fast 1 500 Flüchtlinge am Tag. Jetzt haben wir vielleicht
noch 40 oder 60, ohne dass es sich um einen sicheren
Herkunftsstaat gehandelt hat.
({4})
Warum? Weil die Verfahren intensiviert und beschleunigt worden sind, weil vor allen Dingen durch eine intensive Aufklärungsarbeit, auch im Kosovo selbst, den
Menschen die Illusion genommen worden ist, alles sei
ganz wunderbar und man müsse sich nur nach Deutschland auf den Weg machen. Von daher ist das ein ganz
wichtiger Fingerzeig, wie man auch in Zukunft solche
Migrationsbewegungen steuern bzw. ein bisschen beeinflussen kann, ohne deswegen etwas am Gesetz zu ändern;
({5})
ganz abgesehen davon, dass es dafür wahrscheinlich
noch weniger eine Mehrheit im Bundesrat zu erwarten
gibt, als es bei dem anderen Vorgang der Fall war.
Lassen Sie mich zu den Gemeinsamkeiten der Anträge der Linken und von Bündnis 90/Die Grünen kommen. Dort sind einige Elemente, über die man reden
muss. Darüber werden wir auch mit unserem Koalitionspartner sprechen. Dazu gehört etwa das Abschneiden des
alten Zopfes der Widerrufsverfahren bei bereits gewährtem Asyl. Das wirft die Frage auf, wozu das Ganze noch
gut ist. Dazu gehört im Übrigen auch - es steht auf der
Tagesordnung - die Frage eines gesicherten Aufenthaltes für die Zeit einer Berufsausbildung. Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, der Vorstoß der drei Ministerpräsidenten Winfried
Kretschmann, Malu Dreyer und Volker Bouffier ging
noch ein bisschen weiter. Sie haben gesagt, es wäre wünschenswert und notwendig, wenn die dann Ausgebildeten auch in der Lage wären, in Deutschland für die
Dauer von zwei Jahren eine ihrer Ausbildung entsprechende Tätigkeit auszuüben.
({6})
Darüber reden wir zurzeit mit unserem Koalitionspartner. Wir sind dabei, Überzeugungsarbeit zu leisten.
In der Koalitionsvereinbarung steht, dass wir gemeinsam mit den Ländern dafür sorgen wollen, dass auch den
Asylbewerbern frühestmöglich Sprachangebote unterbreitet werden. Wir hoffen, dass wir in der Koalition
diesbezüglich zu Ergebnissen kommen und demnächst
- ich denke an eine Perspektive von vier bis acht Wochen - einen entsprechenden Vorschlag unterbreiten
können.
Lassen Sie mich zum Schluss auf die Frage nach dem
Geld zu sprechen kommen. Diesbezüglich gibt es Differenzen zwischen uns und unserem Koalitionspartner. Ich
hoffe, sagen zu können, dass es diese Differenz jetzt
zwar noch gibt, sie aber überwunden werden kann. Vielleicht kommt man auf dem Gipfel ja zu anderen Ergebnissen. Ich persönlich und der Großteil der SPD-Fraktion - um das klar zu sagen: nicht nur das Präsidium der
SPD - stehen auf dem Standpunkt, dass die Übernahme
der Kosten für die Unterbringung und Versorgung von
Flüchtlingen und Asylbewerbern eine staatliche Aufgabe
ist. Die konkreten Leistungen - Integration, Aufnahme,
Betreuung - sind Sache der Kommunen; wir dürfen sie
mit den Belastungen, die sich daraus ergeben, aber nicht
im Regen stehen lassen.
({7})
Bei dieser Gelegenheit möchte ich Ihnen etwas aus
meiner kommunalen Vergangenheit erzählen. Zu Beginn
der 90er-Jahre, als die Flüchtlingszahlen besonders hoch
waren, war ich Landrat in Gießen. Wir haben, jedenfalls
in meiner Amtszeit, immer, soweit als möglich, auf eine
dezentrale Unterbringung gesetzt. Das Land Hessen hat
uns damals nach Spitzabrechnung die entstandenen Kosten zu 100 Prozent erstattet. Das wurde dem Land Hessen aber zu teuer. Das Land Hessen hat gesagt: Wir geben jetzt nur noch eine Pauschale. Im ersten Jahr nach
Einführung der Pauschale, nach Einführung dieser Art
der Erstattung und Abrechnung stand meine Kreiskasse
um 900 000 D-Mark - damals waren es noch D-Mark besser da, weil die dezentrale Unterbringung, vorwiegend in Wohnungen, wesentlich billiger war als die teure
Unterbringung in großen Gemeinschaftsunterkünften.
Das muss man einmal sagen.
Der Unterschied zu damals ist folgender - deswegen
erwähne ich dieses Beispiel -: Damals hatten wir in der
Bevölkerung eine geringe Akzeptanz für die Aufnahme
von Flüchtlingen und Zuwanderern generell. Als Kommunen hatten wir aber wenigstens das Geld dafür. Heute
haben wir, was erfreulich ist und wofür wir dankbar
sind, in unserer gesamten Bevölkerung eine weitgehende
Akzeptanz für die Aufnahme von Flüchtlingen in
Deutschland, aber die Kommunen haben kein Geld mehr
dafür. Es gibt einige Bundesländer, die den Kommunen
100 Prozent der Kosten erstatten. Es gibt aber auch andere, die nur 30 Prozent oder knapp unter oder knapp
über 50 Prozent der Kosten erstatten. Das muss sich ändern.
({8})
Ich sage es noch einmal: Die Übernahme dieser Kosten
ist eine staatliche Aufgabe. Der Bund ist gefordert. Ich
hoffe, dass wir auf dem Gipfel morgen zu entsprechenden Ergebnissen kommen.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
({9})
Vielen Dank. - Damit sind wir am Ende der Ausspra-
che angelangt.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 18/3839 und 18/4694 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe, das ist der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 23 a und 23 b so-
wie Zusatzpunkt 3 auf:
23 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Annette Groth, Inge Höger, Azize Tank, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE sowie der Abgeordneten Tom
Koenigs, Omid Nouripour, Dr. Wolfgang
Strengmann-Kuhn, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Doppelstandards beenden - Fakultativprotokoll zum UN-Sozialpakt zeichnen
und ratifizieren
Drucksache 18/4332
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({0})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Annette Groth, Inge Höger, Wolfgang
Gehrcke, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion DIE LINKE
Freiheit für Mumia Abu-Jamal
Drucksache 18/4722
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({1})
Auswärtiger Ausschuss
ZP 3 Erste Beratung des von den Abgeordneten
Annette Groth, Inge Höger, Wolfgang Gehrcke,
weiteren Abgeordneten und der Fraktion DIE
LINKE sowie den Abgeordneten Tom Koenigs,
Annalena Baerbock, Marieluise Beck ({2}),
weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes über die Rechtsstellung und
Aufgaben des Deutschen Instituts für Menschenrechte ({3})
Drucksache 18/4798
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({4})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe,
das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 24 a bis 24 g auf.
Es handelt sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen,
zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Tagesordnungspunkt 24 a:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr und digitale
Infrastruktur ({5}) zu dem Antrag der
Abgeordneten Matthias Gastel, Sven-Christian
Kindler, Dr. Valerie Wilms, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Leistungs- und Finanzierungsvereinbarung
zur Erhaltung der Schienenwege jetzt neu
verhandeln
Drucksachen 18/3153, 18/3938
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/3938, den Antrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/3153 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? 9836
Vizepräsidentin Ulla Schmidt
Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposition angenommen.
Tagesordnungspunkt 24 b:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Tourismus ({6}) zu dem Antrag der Abgeordneten
Daniela Ludwig, Barbara Lanzinger, Klaus
Brähmig, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten
Gabriele Hiller-Ohm, Hiltrud Lotze, Burkhard
Blienert, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD
Kulturtourismus in den Regionen weiterentwickeln
Drucksachen 18/3914, 18/4731
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/4731, den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD auf Drucksache 18/3914
anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die
Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Enthaltung der Opposition angenommen.
Wir kommen nun zu den Beschlussempfehlungen des
Petitionsausschusses.
Tagesordnungspunkt 24 c:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({7})
Sammelübersicht 176 zu Petitionen
Drucksache 18/4696
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 176 ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 24 d:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({8})
Sammelübersicht 177 zu Petitionen
Drucksache 18/4697
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 177 ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 24 e:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({9})
Sammelübersicht 178 zu Petitionen
Drucksache 18/4698
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 178 ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 24 f:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({10})
Sammelübersicht 179 zu Petitionen
Drucksache 18/4699
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 179 ist mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und Bündnis 90/Die Grünen
gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke angenommen.
Tagesordnungspunkt 24 g:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({11})
Sammelübersicht 180 zu Petitionen
Drucksache 18/4700
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthal-
tungen? - Die Sammelübersicht 180 ist mit den Stim-
men der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der
Opposition angenommen.
Ich rufe auf die Tagesordnungspunkte 6 a bis 6 d:
a) Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
CSU und SPD
Qualität von Studium und Lehre im interna-
tionalen Wettbewerb sichern - Den Europäi-
schen Hochschulraum erfolgreich gestalten
Drucksache 18/4801
b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht der Bundesregierung über die Umsetzung des Bologna-Prozesses 2012 bis 2015 in
Deutschland
Drucksache 18/4385
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({12})
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Nicole
Gohlke, Sigrid Hupach, Dr. Rosemarie Hein,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Bologna-Prozess grundlegend reformieren
Drucksache 18/4802
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({13})
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kai
Gehring, Özcan Mutlu, Beate WalterRosenheimer, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Bologna 2015 stärken - Den europäischen
Hochschulraum konsequent verwirklichen
Drucksache 18/4815
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({0})
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Ich sehe, Sie
sind damit einverstanden. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort für die Bundesregierung hat der Parlamentarische Staatssekretär
Thomas Rachel.
({1})
Liebe Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegen! Die
Umsetzung der Bologna-Reformen hat sich in Deutschland positiv entwickelt. Wir erleben an unseren Hochschulen eine dynamische Entwicklung. Seit 2012 ist die
Studierendenzahl in Deutschland weiter gestiegen. Mit
2,7 Millionen Studierenden haben wir an unseren Hochschulen eine halbe Million Studierende mehr als noch
vor vier Jahren. Die Bundesregierung und die Länder
flankieren diese Entwicklung mit dem Hochschulpakt.
Zwischen 2007 und 2023 stellen wir rund 38 Milliarden Euro für die Aufnahme der Studierenden durch Einrichtung zusätzlicher Studienmöglichkeiten zur Verfügung.
Die Einführung der zweistufigen Studienstruktur war
eines der zentralen Kernziele der europäischen Hochschulreform zur Förderung von Transparenz und zur
Vergleichbarkeit der Studienabschlüsse. Dies ist weitgehend umgesetzt. Im Wintersemester 2013/14 führten
mehr als 87 Prozent aller Studiengänge zu Bachelor- und
Masterabschlüssen.
Die Steigerung der Mobilität ist ein weiteres Kernziel
der Bologna-Reform. Dabei ist für die Studierenden
wichtig, dass ihre im Ausland erbrachten Studienleistungen anerkannt werden. Ich freue mich über die positive
Entwicklung dieser Anerkennungsrate in Deutschland in
den vergangenen Jahren. Sie ist von 41 Prozent im Jahr
2007 auf knapp 70 Prozent im Jahr 2013 angestiegen.
Mit Blick auf die Auslandsaufenthalte von Studierenden und Wissenschaftlern zeigt sich, dass im Zuge der
Bologna-Reformen die Auslandsmobilität ganz entscheidend gestiegen ist. Rund 140 000 Deutsche studierten
2012 an ausländischen Hochschulen. Das ist fast dreimal
so viel wie vor der Bologna-Reform.
({0})
Ein Drittel der deutschen Studierenden hat mindestens einen studienbezogenen Auslandsaufenthalt absolviert. Damit liegen wir deutlich über dem Mobilitätsziel
der Bologna-Staaten. Rund 16 000 deutsche Wissenschaftler waren im Jahr 2012 im Ausland, vor allem in
den USA, Großbritannien, Frankreich und China.
Ich denke, diese reinen Zahlen können nicht hinreichend vermitteln, wie wichtig diese Auslandsmobilität
ist; denn sie verschafft unseren Studierenden auch ein
Stück Weltoffenheit, einen Blick für das, was in der
Welt los ist. Gleichzeitig bietet die große Anziehungskraft der Bundesrepublik Deutschland als Gastland für
ausländische Studierende und Wissenschaftler eine
große Chance. Laut OECD steht Deutschland unter den
nichtenglischen Gastländern an erster Stelle;
({1})
nur in den USA und in Großbritannien gibt es mehr ausländische Studierende.
Ich denke, das ist ein großer Erfolg unserer jahrelangen Bemühungen, den Studienstandort Deutschland
international zu präsentieren. Mittlerweile stellen ausländische Wissenschaftler 10 Prozent der Mitarbeiter an
unseren wissenschaftlichen Einrichtungen und in den
Hochschulen. Mehr als 300 000 ausländische Studierende kamen zum Studium nach Deutschland. Das ist
eine Verdoppelung im Verhältnis zu 1998, und das zeigt
die enorme Bewegung in dieser Zeit; zwei Drittel davon
sind Bildungsausländer.
Bund und Länder verfolgen mit ihrer Internationalisierungsstrategie das Ziel, die strategische Internationalisierung unserer Hochschulen zu befördern, eine
Willkommenskultur zu etablieren - ich nenne nur das
Stichwort „Welcome Center an den Hochschulen“ -,
internationale Campusse zu entwickeln und grenzüberschreitende Hochschulkooperationen zu ermöglichen.
Wir im Bundesbildungs- und -forschungsministerium
unterstützen die Internationalisierung beispielsweise
durch Beratungsmaßnahmen wie das Audit der Hochschulrektorenkonferenz oder Programme des DAAD zu
strategischen Partnerschaften und durch Aktivitäten unserer Alexander-von-Humboldt-Stiftung.
Zu den Bologna-Zielen gehört auch die Stärkung der
sozialen Dimension.
({2})
Wir möchten gerne den Hochschulzugang auch für diejenigen aus bildungsfernen Schichten öffnen.
({3})
Das BAföG spielt dabei eine ganz entscheidende Rolle.
({4})
Mit dem 25. BAföG-Änderungsgesetz passen wir die
Ausbildungsförderung an die aktuellen Lebensverhältnisse an.
({5})
Gleichzeitig schließen wir die Förderlücke bei der zweistufigen Bachelor- und Masterstudienstruktur. Dies ist
ein richtiger und wichtiger Schritt.
({6})
Beim Thema „Lebenslanges Lernen“ zielt die
Bologna-Reform darauf, die Hochschulen für neue Studierendengruppen zu öffnen. Hier hat die gestufte Studienstruktur mit Bachelor- und Masterabschlüssen eine
Vielzahl von Einstiegs- und Übergangsoptionen zwischen dem Arbeitsmarkt und den Hochschulen eröffnet.
Die Zahl der beruflich Qualifizierten ohne schulische
Hochschulzugangsberechtigung konnte seit 2002 auf
über 12 000 Studierende verzehnfacht werden.
({7})
Das ist schon etwas; aber es ist natürlich noch sehr viel
zu tun.
({8})
Der neue Bund-Länder-Wettbewerb „Aufstieg durch
Bildung: offene Hochschulen“ wird einen wichtigen
Beitrag dazu leisten, die Hochschulsysteme insgesamt
zu verändern und zu öffnen.
In diesen Tagen konnten wir lesen, dass die Studie des
Stifterverbandes für die Deutsche Wissenschaft und des
Instituts der deutschen Wirtschaft in Köln gezeigt hat,
dass der Bachelor als Abschluss in der Wirtschaft gut ankommt und gute Karrierechancen eröffnet. Es werden
fast identische Einstiegsgehälter gezahlt, und es werden
gute Karriereperspektiven angeboten.
({9})
Bei der Umsetzung der europäischen Hochschulreform können wir natürlich nicht nur national agieren,
sondern wir machen das im Verbund mit 46 anderen
Staaten des Europäischen Hochschulraums. Auf der Bologna-Konferenz in Eriwan am 14./15. Mai gibt es nach
unserer Auffassung einiges zu tun. Ich will einige Stichworte nennen:
Wir werden einbringen, dass die Anerkennung akademischer Qualifikationen und Abschlüsse zum Weiterstudium, aber auch zur Berufsausübung verständlicher und
handhabbarer gemacht werden muss.
({10})
Wir werden die Förderung der Mobilität von Lehramtsstudierenden zum Thema machen;
({11})
eine sehr wichtige Aufgabe, um die Erfahrung auch in
anderen Ländern einbringen zu können.
Wir möchten gerne den europäischen Ansatz zur
Akkreditierung gemeinsamer Studiengänge, das heißt
die einfachere Handhabung der Qualitätssicherung von
internationalen Studiengängen, den sogenannten European Approach, nach vorne bringen. Das ist keine einfache Aufgabe, aber eine notwendige. Wir sind auch bereit, Staaten, die sich bei der Umsetzung der Reformen
noch schwertun, zu helfen und sie aufgrund unserer nationalen Erfahrung bei diesem Prozess zu unterstützen.
Meine Damen und Herren, Sie sehen, es gibt mit 46
anderen Ländern einiges zu besprechen; 46 Länder, die
ganz andere Strukturen und Ausgangssituationen haben.
({12})
Vielleicht erkennt man daran - das ist mein abschließender Gedanke -: Dieser Bologna-Prozess mit 46 anderen
Ländern ist ein einmaliges Forum, das Brücken
zwischen ganz unterschiedlichen Ländern bauen kann.
Lassen Sie uns diese Brücken gemeinsam bauen, damit
die Hochschulen aus diesen ganz unterschiedlichen Ländern zusammenarbeiten. Wenn das im Bereich der Hochschulen gelingt, dann besteht auch die Chance, dass die
Gesellschaften in diesen Ländern das insgesamt schaffen. Wir wollen diese Zusammenarbeit. Dafür kann die
Konferenz in Eriwan stehen.
Herzlichen Dank.
({13})
Vielen Dank. - Das Wort hat jetzt Nicole Gohlke,
Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Die
Bologna-Reform war wohl die tiefgreifendste Strukturreform, die die Hochschulen bisher erlebt haben. Insbesondere die Wirtschaft hatte Druck gemacht mit der
Forderung, dass sie jüngere und auch effizienter ausgebildete Hochschulabsolventinnen und -absolventen
wollte. 1999 wurde die Hochschulreform in Bologna
von den europäischen Bildungsministern und -ministerinnen unterzeichnet.
Die Reform wurde von massiven Protesten der Studierenden begleitet. Bis heute wird sie heftig kritisiert.
Studierende wenden sich gegen den hohen Prüfungsdruck. Sie wenden sich dagegen, dass es zu wenige Masterstudienplätze gibt. Sie prangern die fehlende kritische
Auseinandersetzung mit Inhalten an. Dieter Lenzen, Präsident der Universität Hamburg, spricht sogar davon,
dass sich Bildung und Bologna gegenseitig ausschließen
würden. Die Chefs der Hochschulrektorenkonferenz
sagen, dass die Bildung der Persönlichkeit in den
Schmalspurstudiengängen auf der Strecke geblieben sei.
Nun muss man sich nicht jede Kritik zu eigen machen. Es gibt auch die Haltung - dessen bin ich mir sehr
wohl bewusst -, die darin besteht, von der Exklusivität
der Universität zu träumen und die Abgeschiedenheit
des Elfenbeinturms zu bevorzugen. Darum geht es uns
natürlich nicht.
({0})
Aber keine Haltung ist es, den öffentlichen Diskurs und
die Kritik einfach zu negieren.
({1})
Die Bundesregierung schweigt ausnahmslos zu allen
kritischen Punkten. Das geht nicht, meine Damen und
Herren.
({2})
Sie meinen wohl, es reiche, Erfolge herbeizureden
und den Rest einfach auszusitzen. Das Bildungsministerium beschränkt sich darauf, zu verkünden, dass der Bachelorstudiengang eine Erfolgsstory sei. Aber das sehen
nicht einmal die Unternehmen so. Ihnen müsste auch bekannt sein, dass Bachelorabsolventinnen und -absolventen von Universitäten beim Berufseinstieg immer noch
26 Prozent weniger Lohn bekommen als diejenigen mit
traditionellen Abschlüssen. Das kann so nicht bleiben.
({3})
Fakt ist doch: Gerade einmal 17 Prozent der Bachelorstudierenden gehen ins Ausland, obwohl doch Mobilität das große Ziel der Reform war. Nicht einmal jeder
Zweite schafft das Studium in der vorgegebenen Regelstudienzeit, jeder vierte Studienanfänger bricht das
Studium ab. Das ist im Jahr 16 nach der Reform einfach
eine schlechte Bilanz und auch nicht mit Umsetzungsproblemen zu erklären.
({4})
Zynisch ist es, dass Frau Wanka es Ende letzten
Jahres bedauerte, dass sich die Studierenden heutzutage
so wenig für Politik interessieren. Zynisch ist das deswegen, weil es immer die Unionsparteien waren, die die
Studierendenproteste und die sich einmischenden Studierenden klein- und schlechtgeredet haben,
({5})
und weil diese Entpolitisierung, die heute diskutiert
wird, schlicht eine Folge Ihrer Politik ist. Das sollten Sie
einmal zur Kenntnis nehmen.
({6})
Der dauernde Druck, den der Bologna-Prozess produziert hat, nimmt den Studierenden die Luft zum Atmen.
Es sind natürlich die Unterfinanzierung und die einseitige Ausrichtung an Wirtschaftsinteressen, die die Hochschulen als Ort der Kritik, als Ort der Reflexion zunehmend austrocknen.
({7})
Daran will diese Regierung doch nichts ändern.
({8})
An all dem halten wir fest, weil Sie die Bologna-Reform
offenbar genau so wollten. Also vergießen Sie keine
Krokodilstränen um mangelndes politisches Engagement, sondern seien Sie an dieser Stelle lieber ehrlich
und sagen Sie, dass es Ihnen so ganz recht ist.
({9})
Die Kollegen Rossmann von der SPD und Kai
Gehring von den Grünen haben vor etwa einem Jahr in
einem gemeinsamen Artikel davon gesprochen, dass das
gestufte Bachelor-/Mastersystem eine Chance für die
Kultur des lebenslangen Lernens sei.
({10})
Ich sage Ihnen: Auch ich wünsche mir das. Aber ich
finde, die Realität gibt das bisher überhaupt nicht her.
Bislang schafft dieses System keine neuen Zugänge,
sondern es schafft leider neue Hürden. Bisher selektiert
es und schließt aus. Und genau davon haben wir mehr
als genug. Wir brauchen wirklich keine neuen Schranken
im Bildungssystem.
({11})
Ich muss Ihnen auch sagen: Die Forderungen, die
Wirtschaftsvertreter wie zum Beispiel die Deutsche Industrie- und Handelskammer jetzt aufstellen, setzen dem
Ganzen doch wirklich noch die Krone auf. Sie fordern
noch mehr Praxisbezug und meinen in Wahrheit einen
noch passgenaueren Zuschnitt auf die eigenen Ansprüche. Dafür - so schlagen sie dann zum Beispiel vor kann man ja das Auslandssemester auch ganz streichen.
Das bräuchten die meisten doch eh nicht, weil sie ja am
Ende in deutschsprachigen Unternehmen arbeiten.
Kolleginnen und Kollegen, ich glaube, genau das ist
der Kern der Auseinandersetzung. Genau hier teilen sich
auch die Positionen: Geht es um eine Bildung, verstanden als Menschenrecht, verstanden als Horizonterweiterung und als Persönlichkeitsbildung, oder geht es um einen Bildungsbegriff, der nur noch das kurzfristige
Fitmachen für den Arbeitsmarkt im Blick hat? Die Antwort der Linken ist da eindeutig. Wir sagen: Entschleunigung statt Verkürzung und Prüfungsstress. Wir sagen:
Öffnung und Durchlässigkeit statt neuer und alter Hürden. Wir wollen nachhaltiges und kritisches Wissen statt
marktkonformes Know-how. Dieses Bildungsverständnis brauchen wir im Übrigen in allen Bildungsbereichen,
nicht nur in der akademischen Bildung.
({12})
Wir brauchen endlich auch einmal Reformprozesse, die
von unten entstehen, an denen Studierende, Lehrende sowie Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler beteiligt
sind und beteiligt werden. Damit würde es dann vielleicht auch einmal etwas mit dem Europäischen Hochschulraum werden.
Vielen Dank.
({13})
Vielen Dank. - Für die SPD-Fraktion spricht jetzt
Dr. Daniela De Ridder.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Liebe Studierende! 1786 reiste Johann
Wolfgang von Goethe von Weimar nach Italien. Für den
damals 37-Jährigen waren es beschwerliche 956 Kilometer, bis er endlich Bologna erreichte. Was trieb den
Juristen und Schriftsteller Goethe um, dass er diese Strapazen auf sich nahm?
({0})
- Richtig, Herr Kollege, es waren in der Tat Studien. Er interessierte sich für Flora und Fauna; Kunstgeschichte und Architektur gehörten auch dazu. Dies alles
kann man im Übrigen in seinen Tagebuchaufzeichnungen nachlesen, die er später unter dem Titel Italienische
Reise veröffentlicht hat.
Hatten die europäischen Wissenschaftsministerinnen
und -minister, die vor 16 Jahren den Bologna-Prozess
angestoßen haben, Goethe gelesen? Ich weiß es nicht.
Überliefert ist es nicht. Wohl aber ist die Idee überliefert,
die sie seinerzeit hatten. Es ging und geht um die Öffnung des Europäischen Hochschulraumes. Das umfasst
die Stärkung der Mobilität von Studierenden, von Lehrenden und von Forschenden, aber auch von Beschäftigten im Hochschulwesen. Zu dieser Idee gehören das
Voneinander- und das Miteinander-Lernen, das Anerkennen von Studienleistungen sowie die Stärkung der
Berufsbefähigung. Darum geht es, um die sogenannte
Employability. Reisen bildet, und Auslandsaufenthalte
helfen, Fremdheit zu überwinden. Das ist doch immer
ein inspirierender Lernprozess.
({1})
Heute gehören - man höre und staune - 47 Länder
zum Bologna-Hochschulraum. Dazu gehören neben den
bekannten und erwarteten vor allem auch solche Länder
wie Albanien, Aserbaidschan, der Vatikanstaat, Kasachstan und die Ukraine. Weißrussland - darüber, finde ich,
könnten wir auch noch einmal nachdenken - führt gerade Beitrittsverhandlungen.
Zunächst - das will ich gerne zugeben, Frau Gohlke war der Bologna-Prozess sehr sperrig. Magister- und
Diplomstudiengänge wurden auf Bachelor und Master
umgestellt. Kritisiert wurde der Prozess auch aufgrund
der Verdichtung der Studieninhalte. Man sprach von
Bulimielernen. Aber das ist eine Diskreditierung des
Bologna-Prozesses; denn Probleme an den Hochschulen
gab es auch schon vor dem Bologna-Prozess. Die gilt es
und galt es, zu verringern.
({2})
In den vergangenen 16 Jahren haben wir deshalb
- lassen Sie mich das noch einmal betonen - viel
erreicht und noch mehr getan, um diesen Prozess zu unterstützen und zum Erfolg zu machen. Wir haben Studienleistungen anerkannt. Ich erinnere an das ECTS-System. Wir haben das Stipendienprogramm Erasmus+
ausgebaut. Wir haben das Aktionsprogramm „Bologna
macht mobil“ beim DAAD angesiedelt, mit dem Hochschulkooperationen zwischen deutschen und europäischen Hochschulen ausgebaut werden. Wir haben - darauf bin ich besonders stolz - das Auslands-BAföG
ausgebaut. Hier kann man nämlich die Übernahme von
Reisekosten und eine flankierende Finanzierung der
besonders teuren Studiengebühren beantragen. Wir haben Gott sei Dank keine mehr in der Bundesrepublik.
({3})
Wir haben aber noch mehr gemacht. Ich bin ganz
dankbar, dass wir über den europäischen Raum hinausgegangen sind. Jungen Menschen aus Drittstaaten, die
bei uns studiert haben, haben wir jetzt ermöglicht, dass
sie noch 18 Monate nach ihrem Studienabschluss hierbleiben können, um einen Job zu finden. Das zeigt doch,
dass wir die Internationalisierung deutlich ausgebaut haben und uns sicher sein dürfen, dass es auch noch weitergehen kann.
({4})
Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, ich bin SPD-Bundestagsabgeordnete. Ich glaube,
meine Partei steht keineswegs in dem Verdacht, sich mit
dem Erreichten zufriedenzugeben, im Gegenteil.
({5})
Daher nehmen wir die Herausforderungen, die sich
auch in der Zukunft stellen, gerne an. Ich will einige wenige Beispiele nennen. Der Hochschulpakt ist schon genannt worden. 10 Prozent der Landes- und Bundesmittel
sollen für die Stärkung des Studienerfolgs zur Verfügung
gestellt werden.
({6})
Allein die Bundesfinanzierung - ich habe etwas andere
Zahlen als Herr Rachel - bis 2023 beträgt 20,3 Milliarden Euro. Hiermit flankieren wir die Universitäten und
vor allem die Fachhochschulen sehr deutlich.
({7})
Wir stärken die Qualität von Lehre durch den entsprechenden Pakt und verbessern noch einmal deutlich die
Betreuung von Studierenden; denn um die geht es. Da
haben Sie recht, aber das machen wir schon. Wir wollen
Studienabbrüche vermeiden und den Studienerfolg ausbauen. Im Bund-Länder-Programm sind dafür bis 2020
weitere 2 Milliarden Euro veranschlagt. Sagen Sie doch
bitte nicht, das sei nichts.
({8})
Wir werden auch die Doppelabschlüsse von deutschen und europäischen Hochschulen fördern und dabei
- da dürfen Sie sicher sein - auch auf die Qualitätssicherung der Dual Degrees achten. Wir fördern einerseits Berufsorientierung und andererseits Berufsbefähigung
durch Kompetenzlernen. Auch mit dem Projekt „nexus“
- Herr Rachel hat es nicht erwähnt - sowie der Programmlinie „Aufstieg durch Bildung: offene Hochschulen“ unterstützen wir die vielfältigen Studierendengruppen
und ihre Lernerverschiedenheit. Diversity Management
heißt hier das Gebot der Stunde.
Die Qualitätsoffensive Lehrerbildung fördert dezidiert
solche Konzepte, die einen Auslandsaufenthalt von Lehramtsstudierenden, Lehrenden und Forschenden ermöglichen. Unser Ziel ist es - auch darauf bin ich stolz -, dass
jeder zweite Studierende während des Studiums im Ausland war. Bisher sind es 30 Prozent; wir wollen, dass es
50 Prozent werden. Das ist ein ehrgeiziges Ziel, aber das,
liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, haben wir
im Koalitionsvertrag vereinbart, und darauf dürfen wir
stolz sein.
Mit dem Bologna-Prozess unterstützen wir auch das
Demokratielernen; denn durch den Blick über den Tellerrand können Erkenntnisse gewonnen werden, die für
mehr Offenheit und Toleranz stehen, gerade durch den
Vergleich mit dem Ausland.
({9})
Reisen bildet - das wusste nicht nur Goethe. Lieber
Herr Rachel, bitte richten Sie eine kleine Botschaft an
Frau Ministerin Wanka aus: Ich würde mir wünschen,
dass Frau Wanka in der Tat nach Eriwan in Armenien
fährt und persönlich an der Bologna-Konferenz teilnimmt. Bitte machen Sie auch deutlich, dass es eine
Mission gibt, die sie dort vertreten sollte, nämlich dass
Bildung insbesondere für junge Menschen, aber auch für
den Bereich des lebenslangen Lernens immer auch Zukunftschancen beinhaltet.
Es ist wichtig, dass wir Armenien nicht nur mit dem
Genozid in Verbindung bringen, sondern auch mit Klugheit, Innovation und Wissensdurst. Anders als Goethe
kann Frau Wanka die Distanz von Berlin nach Eriwan
leicht überwinden, auch wenn es 3 306 Kilometer sind.
Mehr als die Überwindung von geografischen Distanzen
gilt es, die Distanzen zwischen Menschen zu überwinden und abzubauen. Seien wir also optimistisch und zukunftsorientiert, und stecken wir damit bitte, lieber Herr
Rachel, auch unsere europäischen Nachbarn an.
Vielen Dank.
({10})
Vielen Dank. - Das Wort hat jetzt Kai Gehring, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Studierende!
Der Bologna-Prozess hat die Perspektive auf einen Europäischen Hochschulraum eröffnet und das Studium
grundlegend verändert. Die Ziele: ambivalent bis ambitioniert; die Umsetzung: lange umstritten und mehrmals
korrigiert, heute auf halbwegs vernünftigen Gleisen,
aber unvollendet - so blicken wir Grüne auf 16 Jahre
Studienreform in Deutschland.
({0})
Zwei Aspekte sind mir für die nationale Umsetzung
besonders wichtig: erstens die Chancen der Studierenden, die sich aus der Bachelor-Master-Struktur ergeben,
und zweitens die soziale Öffnung unserer Hochschulen.
Ich denke, zu beiden Aspekten gibt es noch viel zu tun,
auch für diese Bundesregierung.
({1})
Wissenschaftsministerin Wanka - wenn sie denn wirklich selber fährt - macht sich mit einer durchwachsenen
Bologna-Bilanz auf den Weg zur Ministerkonferenz nach
Eriwan. Bachelor und Master sind als Abschlüsse weitestgehend etabliert; erstklassige Studienbedingungen, höhere
Qualität und mehr Mobilität für alle Studierenden lassen
aber weiter auf sich warten. Ein erfolgreiches Studium gehört endlich in den Mittelpunkt der Bologna-Reform,
hierzulande und europaweit. Erfolgreiches Studieren heißt
für mich: persönliches Wachstum, breite Bildung und Perspektiven als Absolvent; darum geht’s.
({2})
Zentrales Ziel der Bologna-Reform, lieber Herr
Rachel, ist die Öffnung der Hochschulen, vor allem für
Studierende der ersten Generation. Auf diesem Feld ist
der Fortschritt in Deutschland leider eine Schnecke: Ob
jemand studiert - oder, wenn er oder sie studiert, ob er
oder sie dann wirklich auch mobil ist -, hängt sehr stark
von der sozialen Herkunft und dem Konto der Eltern ab.
Es ist nicht leicht, diese Muster zu durchbrechen; aber es
ist einfach völlig unbefriedigend, wie wenig die Große
Koalition dafür tut. Warum kommt die BAföG-Erhöhung erst im Herbst 2016, und warum fällt sie so zaghaft
aus? Die Studierenden brauchen jetzt eine höhere und
eine bessere Studienfinanzierung.
({3})
Meine Damen und Herren, freuen wir uns gemeinsam
über 2,7 Millionen Studierende in Deutschland! Das ist
gut für Bildungschancen und unser Hochtechnologieland. Das Herbeireden eines angeblichen Akademisierungswahns ist deplatziert und fahrlässig.
({4})
Anstatt diese Phantomdebatte weiter zu befeuern und
das Studieren zu attackieren, wäre es dringend notwendig, dass CDU/CSU und SPD den Vorschlägen der grünen Opposition folgen.
({5})
Wir wollen sowohl die duale Ausbildung stärken als
auch die Hochschulen sozial öffnen. Durchlässigkeit und
Ausbildungsgarantie, um beides geht es.
({6})
Ein sozialeres und wissensbasiertes Europa muss Hürden abbauen und Mobilität für alle gleichermaßen ermöglichen. Dafür muss die Koalition mehr tun!
Die Gesamtverantwortung des Bundes für das Hochschulsystem lässt sich nicht einfach an die Länder und an
die Hochschulen delegieren, so wie Sie das in Ihrem Antrag machen.
Mit reiner Lobhudelei und Nichtstun riskiert man die
Akzeptanz der Reform, liebe Koalition; denn für Reformgegner gilt Bologna wahlweise als neoliberales Ungeheuer oder als Ruhestörung im exklusiven Elfenbeinturm. Liebstes Feindbild ist der Bachelor: Glaubt man
manchen Wirtschaftsvertretern, hat ein Bachelorabsolvent zwei linke Hände. Glaubt man manchem Konservativen oder der Linksfraktion, hat ein Bachelor den geistigen Horizont eines Maulwurfs,
({7})
und erst der Master macht einen zur intellektuellen
Lichtgestalt. All das ist selektive Wahrnehmung und
Schwarz-Weiß-Denken. Die Realität ist differenzierter.
Schönbeten wie schlechtreden, beides wäre verkehrt.
({8})
In einzelnen Fächern ist erst der Master oder gar die
Promotion Eintrittskarte in den Arbeitsmarkt - das war
aber auch schon zu Diplomzeiten so.
({9})
In der Mehrzahl der Fächer gibt es auch mit Bachelor in
der Tasche sehr gute Einstiegsbedingungen. Darum: Wir
brauchen keinen Masterzwang, sondern Masterplätze für
alle, die Master studieren wollen.
({10})
Die Linke sagt aber, der Master müsse Regelabschluss
sein. Ich finde, das muss nicht immer sein. Die zweistufige Struktur - erst der Bachelor, dann der Master macht Sinn. Überquellende Curricula und permanenter
Prüfungsstress sind Unsinn. Das Entfrachten von Studiengängen ist keine Mission Impossible, da muss einfach
mehr passieren.
({11})
Wem im Ausland erworbene Studienleistungen nach
der Rückkehr nicht anerkannt werden, der ist natürlich
zu Recht sauer und demotiviert. Deshalb fordern wir als
Grüne seit Jahren eine echte Anerkennungsgarantie, damit Mobilität persönliches Wachstum bringt.
({12})
Also: Der Druck muss raus, die Zahl der Studienabbrüche muss runter, Zeitfenster und ein förderliches
Lern- und Arbeitsumfeld müssen her. Allein dafür müssen Bund, Länder und Hochschulen ihre Zusammenarbeit ausbauen. Ein weltoffenes und modernes Deutschland muss den freizügigen Europäischen Hochschulraum
konsequent verwirklichen, für die junge Generation
mehr Mobilität wagen und Hochschulzugänge öffnen,
unabhängig von der Herkunft. Damit würde das Studieren besser und Europa sozialer und erfahrbar; darum
muss es uns allen gehen.
({13})
Vielen Dank. - Nächste Rednerin ist Katrin
Albsteiger, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Fast
16 Jahre ist es her, da haben sich 29 Bildungsminister
getroffen, um Studiengänge und Studienabschlüsse zu
harmonisieren. Das war der Anfang, der Beginn, der
Grundstein des Europäischen Hochschulraums. Genau
dieser ist inzwischen kein abstraktes, nicht greifbares
rein politisches Gebilde mehr, sondern es ist Normalität
geworden - Normalität für Studenten in insgesamt
47 Staaten, die inzwischen Teil dieses Europäischen
Hochschulraums geworden sind.
Im Rahmen dieser Entwicklung sind nationale Abschlüsse wie der Magister und das Diplom bei uns - das
Diplom war heiß geliebt; wir alle wissen, dass es heftige
Diskussion darüber gab; auch ich habe als Abschluss ein
Diplom, und tatsächlich schlägt auch mein Herz ab und
zu noch dafür; das gebe ich offen zu - zu europäischen
Abschlüssen geworden: zu Bachelor und Master. Das
war vor 20 Jahren noch Science-Fiction. Inzwischen ist
es Realität geworden.
Ebenso Realität ist geworden, dass schwedische, britische und deutsche Absolventen vergleichbare Studienleistungen erbringen und vergleichbare Abschlüsse machen können. Auch das war vor 20 Jahren noch absolut
undenkbar. An dieser Stelle zeigt sich, dass Europa dann
am allerbesten ist, wenn es konkrete, greifbare Ergebnisse und Verbesserungen für den Alltag der einzelnen
Menschen hervorbringt.
({0})
Ich würde es sogar als gelebte europäische Integration
bezeichnen - und das über die Grenzen der Europäischen Union hinaus. Deswegen finde ich, dass die Debatte heute durchaus Anlass gibt zu Lob und Freude darüber, was sich in den letzten Jahren alles entwickelt hat.
Selbstverständlich kann man an dieser Stelle auch auf
die Punkte hinweisen, wo noch Entwicklungspotenziale
schlummern, wo es noch Verbesserungspotenziale gibt,
({1})
aber man kann nicht nur Kritik üben um der Kritik willen.
({2})
Stichwort „Auslandserfahrung“. Auslandserfahrungen sind für Studenten enorm wichtig. Ich habe die
Möglichkeit gehabt, im Ausland zu studieren, und ich
kann sagen, dass ein Auslandsstudium nicht nur eine
Entwicklung bedeutet, eine Erweiterung der persönlichen Erfahrung und des Wissens in dem jeweiligen Studiengang, sondern dass es einen persönlich unfassbar
weiterbringt. Das ist für die Persönlichkeitsstruktur,
glaube ich, eine ganz wichtige Sache.
Deswegen ist es auch ein Glück, dass inzwischen immer mehr Studenten die Möglichkeit haben, ins Ausland
zu gehen, und diese Chance auch nutzen. Seit 2009 liegt
die Auslandsmobilitätsquote zwar konstant bei 30 Prozent, aber bei immer mehr Studenten in Deutschland ist
die Anzahl derjenigen, die ins Ausland gehen, massiv
gestiegen, und das ist auch gut so.
({3})
Da werden wir mit der Internationalisierungsstrategie
noch einen ganz schönen Weg vor uns haben - hin zu
positiven Entwicklungen.
„Vergleichbarkeit der Abschlüsse“ ist ein ganz wichtiges Thema. Aber die Vorteile beim Harmonisierungsprozess fangen schon früher an, und zwar da, wo es um die
einzelne Studienleistung geht. Da ist sicherlich noch viel
zu tun; denn es ist ein Motivationsfaktor für einen Studenten, ins Ausland zu gehen, wenn er weiß, dass das,
was er dort an Studienleistung erbringt, hier tatsächlich
anerkannt wird. Das ist nicht ganz einfach - trotz der guten Entwicklung; die Anerkennungsquote ist von 41 Prozent auf inzwischen fast 70 Prozent gestiegen. Die Realität mag an den Hochschulen unterschiedlich sein. Ganz
problemlos läuft das nicht. Da müssen die Hochschulen
auf jeden Fall ran. Sie müssen ihre Spielräume nutzen,
um schnell zu Verbesserungen bei der Verlässlichkeit der
Anerkennung zu kommen; da ist auch mehr Transparenz
notwendig. Dafür wollen wir uns einsetzen.
Es gilt das, was bei dem Prozess ganz wichtig ist: Wo
„Bachelor“ draufsteht, ist auch „Bachelor“ drin, und
zwar völlig egal, ob man diesen Abschluss in Athen oder
in München erwirbt.
Die Bundesregierung wird auf der Bologna-Konferenz in der nächsten Woche in Eriwan auf viele Punkte
hinweisen, die angesprochen wurden, und sich auch
dafür einsetzen. Es ist ganz wichtig, an dieser Stelle zu
sagen: Wir Deutschen sind in vielen Dingen, was die
Bologna-Reform angeht, Vorbild. Wir haben einige
tolle Projekte und Programme; auch die Kollegin Frau
De Ridder hat sie schon angesprochen. Aber andere
Staaten müssen noch nachziehen. Dafür muss man sich
einsetzen. Darauf verlassen wir uns. Da sind wir auch
guter Dinge.
({4})
Zum Schluss noch einen herzlichen Dank an die Kollegen Schipanski und De Ridder! Es hat Spaß gemacht,
den Antrag mit Ihnen zusammen zu erarbeiten.
Mein persönliches Fazit ist: Bei so manchem europäischen Projekt stehen wir vielleicht erst im Halbfinale; da
muss noch das eine oder andere Spiel gewonnen werden.
Manchmal reichen auch drei Tore nicht aus. Beim Europäischen Hochschulraum aber sind wir auf jeden Fall
schon im Finale angekommen.
Herzlichen Dank.
({5})
Danke schön. - Als Nächstes hat Dr. Ernst Dieter
Rossmann, SPD-Fraktion, das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Es ist schon gute Tradition, dass wir vor den BolognaKonferenzen, auf denen uns die Regierung vertritt, im
Parlament darüber diskutieren, wie wir den BolognaProzess unterstützen können und in welchem Geiste das
geschehen soll. Ich will drei Punkte herausgreifen, die
sich nur im Antrag der Koalitionsfraktionen und nicht in
den Anträgen der Linken und der Grünen finden.
Der erste Punkt. Sie erinnern sich, dass 2001 eine
erste Bologna-Konferenz in Prag stattfand, 2010 eine
weitere in Budapest, 2012 in Bukarest, jetzt in Eriwan.
Wir sagen in unserem Antrag: Ja, wir möchten, dass in
Eriwan die osteuropäische Orientierung praktisch dokumentiert wird und dass auch Weißrussland eine Chance
bekommt, sich dem Bologna-Prozess anzuschließen.
({0})
Denn es ist nicht zu erklären, dass die Russische Föderation, ein so „demokratischer“ Staat wie Kasachstan,
wenn ich das ironisch sagen darf, sowie Moldau dabei
sein sollten, aber Weißrussland 70 Jahre nach dem Ende
des Zweiten Weltkriegs nicht. Ich kann es auch anders
ausdrücken: Nichts ist hinsichtlich der Schaffung von
Demokratie subversiver als ein aufgeklärter Student, der
in einem anderen europäischen Land studiert hat.
({1})
Das darf man nicht offiziell sagen, aber wir alle dürfen
daran denken. Deshalb werben wir dafür, dass die Bundesregierung an dieser Stelle ihr Gewicht einbringt und
dazu beiträgt, dass es einen 48. Staat gibt, der sich der
europäischen Bildungsidee anschließen kann.
({2})
Der zweite Punkt. Herr Rachel, wir begrüßen es seitens der SPD, aber auch der gesamten Koalition aus9844
drücklich, dass Sie die Lehrerbildung mit in den Mittelpunkt stellen,
({3})
wofür andere mit überzeugt werden sollen. Wenn man
sich die Zahlen vor Augen führt, weiß man, dass nur 25
Prozent der Lehramtsstudierenden - das Lehramt ist eine
Königsdisziplin an den Hochschulen - ein Auslandsstudium aufnehmen; bei den übrigen Studierenden sind es
schon 35 Prozent. Diese Differenz ist nicht zu erklären
und auch nicht zu begründen. Wenn wir tatsächlich Internationalität erreichen und die Selbstverständlichkeit
vermitteln wollen, dass man seinen Geist auch im Ausland erweitern und so Weltoffenheit entwickeln kann,
dann doch über den Bildungsträger Lehrer, über die Persönlichkeit des Lehrers. Eigentlich müssten wir, wenn es
nicht arrogant wäre, sagen: 100 Prozent derjenigen, die
ein Lehramtsstudium absolvieren, müssen Auslandserfahrungen sammeln.
({4})
Das ist ein großes Ziel; aber man darf mit dem BolognaProzess auch große Ziele verbinden. Wir finden es gut,
dass sich auch der DAAD damit auseinandergesetzt hat,
dass er 2013 eine Tagung veranstaltet hat und sieben
konkrete Punkte entwickelt hat. Wir fühlen uns jetzt bei
der Bundesregierung bestens aufgehoben und sind uns
sicher, dass sie diese Punkte mit nach Eriwan und zu den
Folgekonferenzen trägt.
Der dritte Punkt, der sich auch nur im Antrag von
CDU/CSU und SPD findet, ist der Begriff der europäischen Bildungsidee. Es gibt welche, die sagen, dass der
ganze Bologna-Prozess ein technokratischer Prozess ist.
Es ist aber auch gut, wenn es saubere Strukturen gibt;
man darf die Technokratie nicht diffamieren. Aber was
ist die europäische Bildungsidee? Ist die europäische
Bildungsidee nicht die Idee der Freiheit des Geistes?
Geht es nicht darum, die Menschen so zu bilden, dass sie
Selbstständigkeit, Kritikfähigkeit, die Fähigkeit zur Kritik an Ideologien, entwickeln? Ist es nicht auch die
Ganzheitlichkeit der Bildung, eine europäische Bildungsidee? Ist die europäische Bildungsidee nicht von
Weltoffenheit geprägt? Wenn der Bologna-Prozess jetzt
hinsichtlich der Strukturen auf Internationalität, Vergleichbarkeit, Mobilität und anderes zielt und darüber
hinaus angestoßen wird, dass wir uns zukünftig um die
Qualität der gemeinsamen universitären hochschulischen Bildung in diesem großen europäischen Bildungsraum bemühen, dann wird es Streit geben; aber schon
die Qualität des Streites kann zu einer Qualität des europäischen Bildungsraumes werden.
Ich möchte anerkennen, dass die Grünen und die Linken den Bologna-Prozess technokratisch-strukturell mit
optimieren wollen. Nur, das reicht uns nicht.
Wir werben darüber hinaus dafür, die Bundesregierung mit drei klaren Botschaften zur Konferenz zu entsenden: erstens die Osteuropaorientierung komplett machen, sodass auch Weißrussland seine Chance bekommt,
zweitens die Lehrerbildung zukünftig in den Mittelpunkt
stellen, weil dies ein Treibriemen auf dem Weg zur Vision des Europalehrers ist, und drittens an der europäischen Bildungsidee mitarbeiten. Das hat der BolognaProzess verdient. Im Jahr 1119 hat es mit der Gründung
der ersten Universität in Europa überhaupt begonnen,
2090 müsste es gut abgeschlossen sein.
Danke.
({5})
Vielen Dank. - Nächster Redner ist Tankred
Schipanski, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Rossmann hat es gesagt: Es ist eine gute Tradition,
dass wir begleitend zu den internationalen BolognaKonferenzen hier im Bundestag eine Debatte führen. Es
ist auch Tradition, dass Koalition und Opposition unterschiedliche Sichtweisen haben, aber, lieber Kollege
Gehring, noch nie haben wir hier in Bezug auf Bologna
von einem Akademisierungswahn gesprochen.
({0})
Traditionell ist es auch so, dass der Antrag, den die
Linke alle zwei Jahre erneut einbringt, weit an der Realität vorbeigeht. Sie haben sich leider nichts Neues einfallen lassen. Schon seit Jahren lesen wir: keine Luft, zu
viel Arbeitsdruck, zu viel Anwesenheitspflichten an den
Universitäten.
({1})
- Frau Gohlke, ich verweise auf die vielen Reden, die zu
diesem Thema schon im Bundestag gehalten wurden.
Schauen Sie sich die Argumente einmal genau an, bevor
Sie in zwei Jahren wieder einen Antrag einbringen.
({2})
Die Unionsfraktion begleitet den Bologna-Prozess
seit vielen Jahren sehr erfolgreich. Wir haben unsere Erfolge in dem vorliegenden gemeinsamen Antrag von
CDU/CSU und SPD formuliert: der kontinuierliche Aufwuchs beim Hochschulpakt, der Pakt für gute Lehre, den
wir auf den Weg gebracht haben, oder die Exzellenzinitiative, die vor allen Dingen die Attraktivität, an deutschen Hochschulen zu studieren, für ausländische Studierende, aber auch für ausländische Lehrende ein
ganzes Stück erhöht hat, die Aktivitäten des DAAD
- Frau De Ridder hat darauf hingewiesen: Der DAAD
wird von uns sehr gut finanziell unterstützt, allen voran
vom BMBF -, und natürlich auch der kontinuierliche
Ausbau der Berufs- und Studienorientierung.
Wir haben in dieser Legislaturperiode die große
BAföG-Reform auf den Weg gebracht. Es gibt keine
Förderungslücken zwischen Bachelor und Master, der
BAföG-Zugang für Angehörige von Drittstaaten wurde
erweitert, und die Länder werden finanziell erheblich
entlastet, und zwar um 1,17 Milliarden Euro pro Jahr.
Das ist ein substanzieller Beitrag zur Grundfinanzierung
unserer deutschen Hochschulen.
({3})
Das Geld können die Länder jetzt einsetzen, um die Studienbedingungen zu verbessern, und insbesondere auch,
um die soziale Dimension von Bologna voll zu finanzieren.
({4})
Der Bund hat eine ganze Menge getan. Dennoch bleiben einige Fragen offen. Es gibt einige Probleme vor
Ort.
({5})
- Ja, das betrifft drei Punkte, lieber Herr Gehring. - Das
ist zum einen die Überspezialisierung der Studiengänge.
Wir haben 9 837 grundständige Studiengänge und 8 120
weiterführende Studiengänge. Die Zahlen zeigen: Die
Spezialisierung ist zu extrem. Man kann insbesondere
die HRK nur auffordern, sie auf ein Normalmaß zurückzufahren.
({6})
Ein weiteres Problem - Herr Gehring hat es angesprochen - ist die gegenseitige Anerkennungspraxis innerhalb der deutschen Hochschulen. Das Problem betrifft
aber auch Studierende, die ihre Abschlüsse im Ausland
erworben haben. Das können wir gesetzgeberisch und
auch fiskalisch nicht lösen. Das ist der Autonomie der
Hochschulen geschuldet. Wir appellieren in unserem
vorliegenden Antrag ausdrücklich an die Hochschulrektorenkonferenz, hier gemeinsame Standards zu entwickeln und entsprechende Verabredungen zu treffen.
({7})
Lieber Herr Gehring, über die Idee einer Anerkennungsgarantie muss man nachdenken.
({8})
Das ist ein interessanter Ansatz. Aber wir können nicht
festlegen, wann eine Klausur korrigiert wird, wann man
sich in ein Seminar einzuschreiben hat. Das unterliegt
der Hochschulautonomie. Das müssen wir anerkennen.
Was den Master betrifft - darüber wird regelmäßig
diskutiert -: Wir haben einen festen Standpunkt, den wir
in dieser Legislaturperiode nicht geändert haben. Jeder,
der die entsprechende Leistung erbringt, soll einen Masterstudienplatz erhalten.
({9})
Beim Master geht es um eine wissenschaftliche Vertiefung. Der Regelstudienabschluss ist der Bachelor.
({10})
Die Frage, wie die Masterstudienplätze vergeben werden, muss fachspezifisch beantwortet werden. Natürlich
gibt es Studiengänge, in denen der Master als Regelabschluss zählt. Aber unsere differenzierte Hochschullandschaft macht ein entsprechend differenziertes Angebot.
Abschließend möchte ich darauf verweisen - Kollege
Rossmann hat darauf hingewiesen -, dass in unserem
Antrag der Blick nach Osteuropa wichtig ist. Die Mobilität nach Osteuropa muss erhöht werden. Aus Osteuropa
kommen schon viele Studierende nach Deutschland.
Aber neben Frankreich und Großbritannien haben natürlich auch Estland, Polen und Armenien sehr gute Hochschulen. In diesem Sinne sollte der Passus zu Belarus
verstanden werden.
Noch ein Wort zu den Chancen der Bachelorabsolventen auf dem Arbeitsmarkt. Es wurden dazu zwei Studien vorgelegt, eine vom DIHK, eine andere vom Institut
der deutschen Wirtschaft in Köln. Ich empfehle, einen
Artikel aus der Welt vom 2. Mai zu lesen, der die Verwirrung über die Erkenntnisse der Studie aufklärt. Für mich
steht fest: Die Zahlen sprechen für die Akzeptanz des
Bachelors in der Wirtschaft. Wir sind da auf dem richtigen Weg. Ich wünsche der Bundesregierung und dem
BMBF viel Erfolg auf der Bologna-Konferenz in Eriwan
und bitte Sie herzlich, unserem Koalitionsantrag zuzustimmen.
({11})
Vielen Dank. - Damit sind wir am Ende der Aussprache angelangt.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen der CDU/CSU und SPD auf Drucksache
18/4801 mit dem Titel „Qualität von Studium und Lehre
im internationalen Wettbewerb sichern - Den Europäischen Hochschulraum erfolgreich gestalten“. Wer
stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich? - Der Antrag ist mit den Stimmen von
CDU/CSU- und SPD-Fraktion gegen die Stimmen der
Opposition angenommen.
Tagesordnungspunkte 6 b bis 6 d. Interfraktionell
wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen
18/4385, 18/4802 und 18/4815 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie
damit einverstanden? - Ich sehe, das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten
Gesetzes zur Änderung des Informationsweiterverwendungsgesetzes
Drucksache 18/4614
Vizepräsidentin Ulla Schmidt
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Energie ({0})
Drucksache 18/4844
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Ich höre dazu
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. - Ich bitte
Sie, die Plätze einzunehmen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort für die Bundesregierung hat die Parlamentarische Staatssekretärin
Brigitte Zypries.
({1})
Vielen Dank. - Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Schade, dass sich die Reihen hier so
leeren; denn das Thema, über das wir reden wollen, ist
ein Zukunftsthema. Damit sollte man sich befassen.
({0})
Sie wissen es: Jede und jeder von uns nutzt Apps auf
Smartphones, mit denen wir Navigationshilfen finden,
mit denen wir uns über das Wetter informieren und manche von uns auch über die Pollenbelastung. Wir erkundigen uns über die Fahrpläne öffentlicher Verkehrsmittel.
Wir buchen unsere Tickets darüber. Wir checken uns ins
Flugzeug ein. Wir informieren uns über Rechtsvorschriften und Gerichtsurteile, und wir erkundigen uns über
Statistiken und Unternehmen.
Ein großer Teil dieser Anwendungen beruht auf Informationen, die von staatlichen Stellen generiert wurden
und auf diese Art und Weise, also über diese Anwendungen, für alle zugänglich gemacht werden. Staatliche Informationen, deren Zugänglichkeit und Weiterverarbeitung, sozusagen Open Data, sind der Motor der digitalen
Wirtschaft. Die Europäische Kommission schätzt, dass
der direkte und indirekte wirtschaftliche Nutzen von
Open Data europaweit in einer Größenordnung von jährlich 140 Milliarden Euro liegt. Für uns steht völlig außer
Frage, dass wir das Potenzial, das in der Wirtschaftskraft
der Verarbeitung dieser Daten liegt, nutzen wollen.
Um dieses Ziel besser zu erreichen, haben wir die europäische Public-Sector-Information-Richtlinie angepasst. Die neuen Vorgaben der Richtlinie setzen wir nun
mit den Änderungen des Informationsweiterverwendungsgesetzes um. Dieses Informationsweiterverwendungsgesetz ist der Rechtsrahmen für die Weiterverwendung von Informationen öffentlicher Stellen, soweit es
nicht um spezielle Regelungen geht wie beispielsweise
bei Geodaten oder bei Umweltinformationen.
Nach diesem Gesetz wird geregelt, welche Informationen weiter verwendet werden können. Die Entscheidung darüber, ob das geht oder nicht, lag bisher im Ermessen der jeweiligen öffentlichen Stelle. Das gilt jetzt
nicht mehr. Die Daten sind jetzt weiterzuverwenden. Das
ist der eine wesentliche Punkt der Änderung. Der zweite
Punkt ist, dass wir jetzt auch den Anwendungsbereich
erweitern und Museen, Bibliotheken und Archive miteinbeziehen. All dies erleichtert die Nutzung staatlicher
Informationen und ist damit ein erster Schritt hin zu einer umfassenderen Open-Data-Regelung, die wir uns ja
im Koalitionsvertrag vorgenommen haben und bei der
der Bundesinnenminister federführend ist.
Zugleich wollen wir dafür sorgen, dass über die Register Informationen für interessierte Unternehmen
leichter auffindbar sind. Dafür haben wir das Datenportal GovData geschaffen. In dieses Portal sollen alle öffentlichen Unternehmen einstellen. Wenn Sie dieses Portal im Internet aufrufen und es sich anschauen, dann
sehen Sie: Es stehen schon jetzt erstaunlich viele Informationen drin. Aber das wird noch sehr viel besser werden.
Wir wollen für die Wirtschaft Anreize setzen, die Daten, die erhoben werden, auch tatsächlich zu verwenden.
Ich will Ihnen ein Beispiel aus meinem anderen Zuständigkeitsbereich, der Luft- und Raumfahrt, nennen: die
Sentinel-Satelliten, von denen wir den ersten letztes Jahr
ins All geschossen haben. Dieser Satellit hat ein Radarsystem, und dieses Radarsystem vermisst alle sechs Tage
die komplette Erdoberfläche. Einmal in sechs Tagen ist
also die komplette Erde abgescannt. Damit können wir
jetzt zum Beispiel erkennen, ob Eis auf dem Ozean ist
oder wie das Land genutzt wird, und können alle möglichen Schlüsse daraus ziehen. Das gilt vor allen Dingen
dann, wenn man bedenkt, dass es inzwischen viele junge
Unternehmen gibt, die weitere Luftaufnahmen machen,
indem sie unbemannte Flugobjekte wie kleine Drohnen
nutzen, oder eben Luftaufnahmen aus Flugzeugen machen. All diese Daten aus der Erdbeobachtung können in
unterschiedlichen Datenbanken zusammengefasst werden. Aus diesem Material können sich dann neue Geschäftsmodelle ergeben.
Es gibt beispielsweise ein junges Unternehmen in
Hessen, das es sich zur Aufgabe gemacht hat, mithilfe
dieser Daten auszurechnen, wie viel Erde man braucht,
um große Löcher, zum Beispiel in einem Steinbruch, mit
Erde zu verfüllen. Man kann anhand der Daten von oben
zum Beispiel sagen: Es fehlen noch 25 Lastwagen voll
Erde, bis das Loch gefüllt ist.
Sie sehen also: Hier gibt es viele Möglichkeiten. Dazu
gehören auch Apps. Diese können etwa aufzeigen, wo es
nach einer Katastrophe noch Zugangsmöglichkeiten
gibt. Wir konnten beispielsweise mit den Daten des DLR
auch bei dem schweren Erdbeben in Nepal helfen, weil
wir speziellere Daten hatten. Sie können aber auch eine
App nutzen, um zu erfahren, wie Sie mit einem Rollstuhl
durch die Stadt kommen; auch das beruht auf Daten, die
aus der Luft aufgenommen wurden.
Das waren jetzt Beispiele aus dem Bereich der Erdbeobachtung. Es gibt natürlich viele andere Beispiele, etwa
Portale, die den Zugang zu Entscheidungen der unterschiedlichsten Gerichte ermöglichen, oder in Kürze solche, die Ihnen die Inhalte von Museen in 3-D darstellen,
und vieles andere mehr. Den Geschäftsmodellen und der
Fantasie sind da keine Grenzen gesetzt. Ich freue mich,
dass es gelungen ist, das im Rahmen dieser Gesetzesänderung zu regeln.
({1})
Vielen Dank, Frau Staatssekretärin. - Für die Fraktion
Die Linke spricht jetzt der Kollege Herbert Behrens.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Frau Zypries hat darauf hingewiesen, welche Möglichkeiten sich durch öffentlich erhobene und auf den entsprechenden Servern gespeicherte Daten ergeben oder
ergeben könnten. In der Tat: Jeder von uns - auch die ältere Generation, zu der ich schon gehöre - nutzt Informationen, die über ein Smartphone abgerufen werden
können. Wir haben, wie schon gesagt, die Möglichkeit,
Fahrpläne des öffentlichen Personennahverkehrs abzurufen. Das ist ein tatsächlicher Nutzen, der eine große
Hilfe darstellt.
Wir haben auch die Möglichkeit, Bürgerinnen und
Bürger stärker zu beteiligen, beispielsweise an der Planung ihrer Städte. Auf der Grundlage entsprechender
Planungen der Stadtverwaltung oder bestimmter Daten
kann man überlegen: Was können und müssen wir in unserer Stadt tun? Andere Kommunen sind so weit, dass
ihre Bürgerinnen und Bürger anhand der zur Verfügung
gestellten Daten bei der Planung der Bürgerhaushalte aktiv werden und sich in den demokratischen Prozess innerhalb der Stadtverwaltung direkt einbringen können.
Das ist ein echter Zuwachs an Demokratie, der die entsprechende Technologie voraussetzt.
Das alles ist möglich, weil die Daten öffentlicher Institutionen veröffentlicht und zur Verfügung gestellt
werden und weil diese Daten nach dem Zurverfügungstellen von Unternehmen aufgenommen worden sind
und dann zur Darstellung beispielsweise auf einem
Smartphone aufbereitet wurden. Hier werden die Möglichkeiten sichtbar, die die neuen Technologien eröffnen.
Sie machen das Leben leichter, und kreative Köpfe in
Start-ups oder auch in etablierten Unternehmen sind in
der Lage, diese Chancen der Digitalisierung auch ökonomisch zu nutzen. Die Linke unterstützt diese Weiterverwendung von Daten, die sich sozusagen im öffentlichen
Besitz befinden.
Der Gesetzentwurf regelt jetzt die Umsetzung einer
EU-Richtlinie aus dem Jahr 2013. Es wird Zeit, dass wir
sie umsetzen. Damit soll das Informationsweiterverwendungsgesetz aus dem Jahr 2006 den neuen technologischen Möglichkeiten angepasst werden; Frau Zypries hat
darauf hingewiesen. Aber es geht auch nicht einen
Hauch über das hinaus, was erforderlich ist.
Es wäre angesichts der weitergehenden Möglichkeiten der Digitalisierung denkbar, mehr zu machen, zum
Beispiel die Entwicklung von Standards voranzutreiben,
die es Kommunen, aber auch Bürgerinnen und Bürgern
möglich machen, die Daten intensiver zu nutzen und zu
verbreiten. Es wäre auch denkbar, die Novelle zum Informationsweiterverwendungsgesetz dazu zu nutzen, in
der Form initiativ zu werden, dass Kommunen und andere öffentliche Stellen mehr Informationen - sprich:
Daten - zur Verfügung stellen, die dann weiteren Verwendungen zugeführt werden können. Stattdessen klebt
die Bundesregierung, wie schon gesagt, an einer 1:1Umsetzung der Richtlinie. Es handelt sich eigentlich
nicht um mehr als um eine bürokratisch notwendige Umsetzung der EU-Richtlinie. Das ist keine angemessene
Politik in Zeiten der Digitalisierung. Das ist einfach nur
digitaler Stillstand.
({0})
Aber vielleicht traut man sich aktuell nicht weiter,
weil unter dem Begriff der Informationsweiterverwendung inzwischen etwas ganz anderes verstanden wird.
Der Skandal, dass öffentlich nicht verfügbare Daten
- sprich: Geheimnisse - an die NSA weitergegeben werden, hat das Vertrauen in die digitale Wirtschaft massiv
zerstört, und es wird noch einige Zeit brauchen, an dieser
Stelle wieder Vertrauen aufzubauen. Dieses Vertrauen ist
einfach erforderlich, um sagen zu können: Ja, wir wollen, dass öffentliche Daten weiterverwendet werden, damit entsprechende Services angeboten werden können.
Dass es jetzt zulässig sei, weitere Daten zur Verfügung zu stellen, wie Frau Zypries eben angedeutet hat,
ist auch nicht ganz so, wie sie es dargestellt hat. § 1 Absatz 2 a soll nämlich folgendermaßen lauten:
Ein Anspruch auf Zugang zu Informationen wird
durch dieses Gesetz nicht begründet.
Das heißt, auch da stehen öffentliche Einrichtungen
wieder vor der Frage: Was darf ich, und was darf ich
nicht? Die Länderkammer hat bei der Anhörung zu diesem Gesetz darauf hingewiesen, dass sie an der einen
oder anderen Stelle Unterstützung braucht, um dieses
Gesetz anwenden zu können. Beispielsweise fordert sie,
dass mit Verabschiedung des Gesetzes eine Handreichung ausgegeben wird, die die Kommunen wirklich genau darüber informiert, wie sie mit diesem Gesetz umgehen sollen. Die Bundesregierung antwortet an dieser
Stelle recht schnöde, das sei alles nicht nötig, außerdem
könne man auf die Erfahrungen der vergangenen Jahre
zurückgreifen.
Der Gesetzentwurf ist ein bisschen zu kurz gegriffen,
um wirklich den großen Sprung, den Sie angekündigt
haben, in Richtung Open Data - das hat ja originär noch
nichts damit zu tun - zu schaffen. Von daher ist zwar gut
gemeint, was dort mit der 1:1-Umsetzung niedergelegt
worden ist, aber es reicht bei weitem nicht aus. Wir werden uns hier auf jeden Fall enthalten.
({1})
Für die CDU/CSU spricht jetzt der Kollege Hansjörg
Durz.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Mir
ist vor allem nach der Rede des Kollegen Behrens noch
einmal wichtig, die Abgrenzung, welches Gesetz eigentlich wofür Regelungen schafft, vorzunehmen.
Wenn ein Bürger in Deutschland Informationen von
einer Bundesbehörde einfordert, muss die Verwaltung
darauf reagieren, muss die Daten zur Verfügung stellen,
wenn keine übergeordneten Gründe dagegen sprechen.
Dass jede Person einen Rechtsanspruch auf Zugang zu
amtlichen Informationen von den Bundesbehörden hat,
regelt das Informationsfreiheitsgesetz. Während die ursprüngliche Intention dieses Gesetzes mehr Transparenz
war, kommt durch die voranschreitende Digitalisierung
eine weitere Dimension hinzu: Ämter und Behörden
speichern zunehmend mehr Informationen digital. Die
verfügbaren Datenmengen nehmen tagtäglich zu, und
auch die Technologien zur Analyse, Nutzung und Verarbeitung von Daten werden kontinuierlich weiterentwickelt.
Durch Verwenden, Aggregieren und Kombinieren
von Daten entsteht die Chance, ständig neue Dienste zu
entwickeln, und gerade Daten aus dem öffentlichen Sektor bergen enorme Potenziale für neue Geschäftsmodelle
und auch dafür, Menschen den Alltag zu erleichtern. Die
sicherlich bekannteste Form der Nutzung öffentlicher
Daten findet durch Navigationsgeräte statt; dafür werden
sie jedenfalls am häufigsten verwendet. Welche weiteren
Möglichkeiten in offenen Daten stecken, möchte ich anhand dreier Beispiele - einige andere wurden schon angeführt - kurz erläutern:
Erstes Beispiel. Auf der Basis öffentlicher Daten entstand die Anwendung „Parken Wien“. Mithilfe dieser
App lässt sich anhand der Position des Nutzers feststellen, ob dieser sich in einer Kurzparkzone befindet und
ob diese aktiv ist. Zudem werden kostenpflichtige und
kostenfreie Zonen in unterschiedlichen Farben angezeigt. Über die mobile Anwendung können direkt Parkscheine gelöst werden. Es werden aktuelle Daten der
Stadt Wien genutzt und ständig aktualisiert. Diese Anwendung zählte bereits bei Einführung zu den meistgekauften Apps in ganz Österreich.
Ein zweites Beispiel. Die App „Bayernnetz für Radler“ ist durch die Zusammenarbeit bayerischer Ministerien entstanden und beinhaltet mittlerweile 120 Fahrradtouren mit einer Länge von insgesamt 8 800 Kilometern.
Diese App verfügt über Radroutenplaner, Karten, Höhenprofile, Verknüpfungen zu Bahntransportmöglichkeiten, Veranstaltungsinformationen usw. usf. Entstanden
aus Daten, die öffentlich zur Verfügung gestellt wurden,
schafft die App einen Mehrwert für die Nutzer und stärkt
den Radtourismus.
Das dritte Beispiel kommt aus der Landwirtschaft. Im
Ackerbau kommt dem Pflanzenschutz eine hohe Bedeutung zu. Gleichzeitig ist Pflanzenschutz eine sehr informationsintensive Aufgabe. Seit längerem existieren mobile Anwendungen für Landwirte, mit deren Hilfe die
Landwirte bei ihren Entscheidungen im Bereich Pflanzenschutz unterstützt werden. So können beispielsweise
die täglichen Infektionsbedingungen für die wichtigsten
Blattkrankheiten bei Getreide oder Zuckerrüben an einem bestimmten Standort über das Smartphone abgerufen werden. Auf diese Weise wird durch die Vernetzung
verschiedener öffentlicher und privater Datenquellen
wie Geo- oder Wetterdaten zusammen mit herstellerspezifischen Daten zu Pflanzenschutzmitteln die Möglichkeit geschaffen, die landwirtschaftliche Betriebsführung
zu unterstützen.
Diese Beispiele zeigen: Offene Daten bergen ein großes Potenzial für Innovationen. Liegen Behördendaten
als offene Daten vor, können sie von Bürgern und Wissenschaftlern, aber eben auch von Verwaltung und Wirtschaft weiterverarbeitet werden. Auf diese Weise können
neue Anwendungen, Produkte, Dienstleistungen und Geschäftsmodelle entstehen.
Der öffentliche Sektor erfasst, erstellt und reproduziert ein breites Spektrum an Informationen: Geodaten,
Energieverbrauchsdaten, Emissionsdaten, Verkehrsdaten
oder Bevölkerungsdaten. Die EU-Kommission prognostiziert - wir haben es vorhin bereits gehört - den volkswirtschaftlichen Nutzen für die 27 Mitgliedstaaten auf
circa 140 Milliarden Euro pro Jahr. Dass die Nutzung
von Informationen des öffentlichen Sektors ein enormes
wirtschaftliches Potenzial birgt, hat die EU-Kommission
bereits mit der ersten „Public Sector Information“-Richtlinie aus dem Jahr 2003 aufgegriffen. Diese Richtlinie
sollte die Weiterverwendung dieser Daten erleichtern
und allgemeinverbindliche Grundlagen schaffen. Deutschland hat diese Richtlinie im Informationsweiterverwendungsgesetz von 2006 umgesetzt.
Übrigens: Als das Gesetz in Kraft trat, gab es quasi
noch gar keine Smartphones. Allein das zeigt schon die
enorme Dynamik der Digitalisierung und gibt einen Hinweis darauf, dass eine Anpassung des Rechtsrahmens
notwendig geworden ist.
Also noch einmal kurz zur Einordnung: Dass Bürger
einen Anspruch auf Zugang zu Informationen und Daten
des Bundes haben, regelt das Informationsfreiheitsgesetz. Dass diese Daten auch genutzt und weiterverwendet werden dürfen, regelt das Informationsweiterverwendungsgesetz.
Mit dem neuen IWG setzen wir nun die neue Richtlinie der EU aus dem Jahr 2013 in deutsches Recht um.
Die entscheidende Neuerung besteht darin - wir haben
es gehört -, dass Informationen öffentlicher Stellen
grundsätzlich weiterverwendet werden können. Bisher
musste ein Antrag auf Weiterverwendung öffentlicher
Daten gestellt werden, und die öffentliche Stelle musste
dann entscheiden, ob die entsprechenden Daten genutzt
werden dürfen oder nicht. Jetzt gilt grundsätzlich: Was
frei zugänglich ist und beispielsweise nicht durch
Urheberrechte geschützt ist, darf auch weiterverwendet
werden. Damit sind öffentliche Stellen nunmehr dazu
verpflichtet, Informationen für kommerzielle und nichtkommerzielle Zwecke freizugeben. Wir schaffen dadurch für die Nutzer von Informationen des öffentlichen
Sektors eine deutliche Erleichterung. Übrigens reduziert
das Gesetz auch den Aufwand in der Verwaltung, die
Weitergabe zu prüfen und einen entsprechenden
Bescheid auszustellen. Wir schaffen also etwas ganz Besonderes: weniger Bürokratie für alle.
Dass es notwendig ist, Bewegung in den Bereich
Open Data zu bringen, zeigt ein Blick auf den kürzlich
veröffentlichten Open Government Index 2015. Hier belegt Deutschland bei der Qualität und Anzahl der zur
Verfügung gestellten Informationen unter 102 Ländern
nur den 18. Rang. Das bedeutet: Hier können und hier
müssen wir besser werden. Mit der Veröffentlichung des
„Nationalen Aktionsplans der Bundesregierung zur
Umsetzung der Open-Data-Charta der G 8“ im vergangenen November wurde von der Bundesregierung ein
Weg aufgezeigt, wie es gelingen kann, mehr Verwaltungsdaten im Sinne von Open Data zu veröffentlichen.
Das ebenenübergreifende Datenportal GovData ist dabei
hervorzuheben; denn im besten Fall stellen die öffentlichen Stellen die Daten freiwillig und automatisch auf
dieser zentralen Plattform zur Weiterverwendung zur
Verfügung.
Doch nicht nur der Bund ist bei der Bereitstellung
offener Daten aktiv. Auch bestehen auf Ebene der Länder sowie der Kommunen zahlreiche Open-Data-Plattformen. Daher ist ausdrücklich zu begrüßen, dass sich
die Bundesregierung dafür einsetzt, die Nutzung des
Portals GovData auch durch Länder und Kommunen zu
befördern, um den Anwendern einen möglichst umfassenden Datenkatalog anbieten zu können. Gleiches gilt
für den Aufbau einer europäischen Open-DataInfrastruktur und die Bemühungen der Bundesregierung,
dass sich GovData mit seinen Schnittstellen darin einfügen lässt. Der Bedeutung von GovData wird das neue
IWG auch gerecht, indem es in dem neuen § 8 hervorhebt, dass Daten, die von Behörden online zur Verfügung gestellt werden, auch im nationalen Datenportal
zur Verfügung gestellt werden sollen, wobei klar ist, dass
dieses Portal mit Sicherheit noch etwas attraktiver für
den Anwender gestaltet werden kann.
Die Novelle zum IWG heute zu verabschieden, ist ein
notwendiger und absolut richtiger Schritt. Insgesamt
müssen wir aber feststellen, dass wir bei Open Data noch
in den Kinderschuhen stecken. Wir müssen von daher
noch viele weitere Schritte gehen, um all die vorhandenen Potenziale, die in der Bereitstellung offener Daten
liegen, zu nutzen. So müssen wir unter anderem Antworten auf folgende Fragen finden:
Erstens. Wie schaffen wir es, dass Daten künftig nicht
nur auf Nachfrage, sondern generell vom öffentlichen
Sektor auf einer Open-Data-Plattform zur Weiterverwendung bereitgestellt werden?
({0})
Zweitens. Wie erreichen wir, dass alle öffentlichen
Stellen ihre Daten in einem einheitlichen maschinenlesbaren Format zur Verfügung stellten?
Oder drittens. Wie begegnen wir der Tatsache, dass
der Verwaltung ein erheblicher Aufwand entsteht, wenn
Daten bereitgestellt werden? Kann hier über eine Gebührenrichtlinie ein Lösungsansatz gefunden werden?
Auf diese Fragen müssen wir Antworten finden. Sie
belegen, dass wir weiter an diesem Thema arbeiten müssen. Die Novellierung des IWG ist ein erster Schritt.
Weitere müssen folgen. Auf jeden Fall wollen wir mit
öffentlichen Daten digitale Geschäftsmodelle ermöglichen, die Wirtschaft stärken und somit Innovation und
Wachstum fördern.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({1})
Vielen Dank. - Nächster Redner ist der Kollege
Dieter Janecek für Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Offene Daten sind ein Schatz - das haben
viele festgestellt -, ein Schatz, der uns allen gemeinsam
gehört, aber nicht allen so zugänglich ist, wie es sein
könnte. Sie, lieber Herr Durz, haben gesagt: weniger
Bürokratie für alle. - Das ist in der Tat wünschenswert.
Allerdings ist es sowohl beim E-Government als auch
bei Open Data mühsam, die Verwaltungen davon zu
überzeugen, entsprechende Schritte zu gehen. An diesem
Punkt äußern wir auch Kritik: Das ist zwar mühsam,
man könnte das aber auch mit mehr Verve und Engagement vorbringen, als Sie das in den letzten Jahren getan
haben.
({0})
Die volkswirtschaftlichen Potenziale sind groß:
140 Milliarden Euro direkter oder indirekter Nutzen, je
nachdem, wie man es sieht. Das heißt Kreative, Selbstständige, Start-ups, aber auch die einfachen Bürgerinnen
und Bürger, NGOs, die Bildungseinrichtungen - jeder
kann diese Potenziale nutzen und mit den Möglichkeiten
von Apps oder von hochskalierten Geschäftsmodellen,
wie man sie in der Digitalwirtschaft vorfindet, abschöpfen.
Ich war vor kurzem im Zentrum für Telematik in
Würzburg. Dort beschäftigt man sich mit dem Potenzial
von Kleinsatelliten. Frau Zypries hat auf deren Potenziale bei der Wetterbeobachtung hingewiesen, sowohl
für die Agrarwirtschaft als auch hinsichtlich der Prognosefähigkeit. Ab circa 2017 wissen wir sehr genau, wie in
den nächsten vier Tagen das Wetter ist. Mit diesen Daten
können wir sehr viel anfangen, egal ob Sie ein Event in
der Freifläche planen oder als Landwirt ihre Saat ausbringen möchten.
Der freie Zugang zu und die Verwendung von
öffentlichen Daten bieten aber nicht nur wirtschaftliche
Chancen, sondern es geht hier auch um Fragen, die die
Demokratie und das Gemeinwesen betreffen. Es geht
also um mehr Transparenz, mehr Standards, mehr Chancen für uns alle. Es ist ein Ansatz für mehr Demokratie.
Auch das muss man in dieser Debatte betonen.
({1})
Das Gesetz mit dem durchaus sperrigen Titel „Informationsweiterverwendungsgesetz“ wird nicht zu einer
Debatte anregen, die die Zuschauer auf der Tribüne von
den Stühlen reißt. Es ist aber trotzdem eine wichtige
Debatte, weil Sie, Herr Lämmel - das möchte ich betonen; da ist jetzt auch das Lob -, einen Schritt in die richtige Richtung gehen. Das tun Sie; Sie tun es aber nicht
entschlossen genug. Sie sind aus unserer Sicht zu mutlos. Ich bin ja mit dem BMI im Digitalausschuss bezüglich E-Goverment und Open Data in Kontakt; da lautet
immer die Prognose, dass wir in den nächsten zehn
Jahren auch noch viel Papier haben werden. Aber
Österreich und Estland machen es besser. Fragen wir uns
einmal, warum sie es besser als wir können! Also, wir
können es auch noch besser, und wir möchten Sie da
heute schon ein wenig anschieben.
({2})
Es geht ja nicht nur um die ökonomischen Potenziale
- diese habe ich angesprochen -, es geht auch um soziale
und gesellschaftliche Potenziale. Es gibt hierfür sehr
viele gute Beispiele, auch im sozialen Bereich. Es gibt
zum Beispiel sehr engagierte Initiativen, die den Wert
von öffentlich zugänglichen Informationen erkannt haben und für ihr soziales Engagement bereits nutzen.
Die Initiative Wheelmap.org hat sich so zum Ziel
gesetzt, über eine App barrierefreie Orte sichtbar zu
machen, damit Rollstuhlfahrerinnen und Rollstuhlfahrer
vorab einschätzen können, ob Gebäude für sie zugänglich sind. Damit wird bereits heute konkret zu einem
besseren gesellschaftlichen Zusammenleben beigetragen. Das Problem ist aber: Sie müssen sich bisher die öffentlichen Informationen in mühevoller Arbeit einzeln
zusammentragen und sind auf viele freiwillige Unterstützer angewiesen. Technologisch könnten wir das
heute schon längst anders machen - auch Herr Behrens
hat das betont -, aber wir sind noch nicht so weit. Warum sind wir noch nicht so weit? Weil wir es noch nicht
geschafft haben, den Druck auszuüben, den wir brauchen.
Ein weiteres Beispiel ist die Initiative Code for
Germany, die die Entwicklung von Open Data und damit
eine transparente Verwaltung aktiv vorantreibt. Das kann
ich für meine Heimatstadt München sagen. Dort ist viel
getan worden, um - übrigens auch mit offener Software zu agieren und Zugänglichkeit zu schaffen. Es ist ein
mühsamer Prozess, bei dem man die Verwaltung mitnehmen muss. Das ist uns sehr bewusst. Man muss es aber
tun. Auch hier wieder die Ermahnung: Tun Sie das entschlossener, als Sie es bisher getan haben!
({3})
Abschließend: Wenn man sich die internationalen
Daten anschaut, so stellt man fest, dass wir nicht vorne
liegen; da sind wir nicht in der Champions League. Als
FC-Bayern-Fan bin ich seit gestern etwas gebrandmarkt,
({4})
aber Doro Bär sitzt hier im Bayern-Shirt, wie ich sehe.
Trotzdem darf ich diesen Vergleich machen. In diesem
Fall ist es so, dass wir beim Open-Data-Index, also der
Champions League der Open-Data-Bewegung, weit
hinter Ländern wie Großbritannien, Italien oder Polen
zurückliegen. In Großbritannien - das finde ich hochattraktiv - werden zum Beispiel die Fahrpläne für öffentliche Verkehrsmittel zentral gebündelt und sind für jeden
zur Nutzung auf einer Internetseite frei zugänglich.
({5})
Also: Lassen Sie uns dies wirklich in Angriff nehmen,
lassen Sie uns die Chancen nutzen! Deutschland sollte
zu einem Open-Data-Land werden. Eine Open-DataGesellschaft ist in demokratischer, ökologischer und
auch wirtschaftlicher Hinsicht erstrebenswert. Wenn
dann noch ein bisschen gutes E-Government hinzukommt, wo wir Einsparpotenziale von bis zu 45 Milliarden Euro haben, wird das etwas.
Danke schön.
({6})
Vielen Dank. - Nächster Redner ist der Kollege
Matthias Ilgen, SPD.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn man
den Rednern von Linken und Grünen zuhört, kann man
das Gefühl haben, dass bald die schöne neue Welt
kommt. Was soll in Zukunft nicht alles open sein! Auch
wir nehmen zur Kenntnis, dass der Datenmarkt durch
Big Data, Linked Data und Open Data derzeit im Umbruch, in Bewegung ist.
({0})
Nicht zuletzt die Regierungen der USA und Großbritanniens - Herr Janecek, Sie haben das gerade angesprochen -, aber auch die Europäische Kommission tragen
derzeit viel dazu bei. Wir haben eine spürbare Dynamik
im Markt, die den Lebenszyklus von Datenprodukten
völlig neu definiert.
Sowohl in der öffentlichen Verwaltung und in privaten Unternehmen als auch beim Verbraucher ergeben
sich neue Verortungen entlang dieser Wertschöpfungsketten. Wir stellen das alleine an den vielen Apps - dieMatthias Ilgen
ses Wort ist ja allein in den vorangegangenen vier Reden
etwa 30-mal gefallen - und neuen Anwendungen für
Smartphones und andere Geräte fest, die wir im Internet
finden und die uns das Leben erleichtern sollen. Ich
glaube, dieser Prozess wird weitergehen, und wir müssen uns überlegen, welche weiteren Erfolge durch Open
Data in Deutschland noch möglich sind.
Insbesondere die Kombination aus Open Data und
mobilen Anwendungen wird dadurch erleichtert, dass
wir öffentliche Daten, die von den Verwaltungen des
Bundes, der Länder, der Gemeinden und vielen anderen
staatlichen Stellen zur Verfügung gestellt werden, jetzt
zur Weiterverwendung freigeben. Das ist Ziel und Kern
dieses Gesetzes, und das ist auch richtig.
({1})
Der Markt für mobile Apps hängt zugleich aber wesentlich vom eigentlichen Kundenpotenzial ab. In den
sogenannten App-Stores werden, wie wir alle wissen,
die entsprechenden Produkte gehandelt, und eine App
wird im Durchschnitt für 1,80 Euro, glaube ich, verkauft.
Schauen wir uns einmal die Segmente an: Eben wurde
eine App für Rollstuhlfahrer angesprochen. In meiner
Heimatstadt, die 22 000 Einwohner hat, ist das Kundenpotenzial für diese App, glaube ich, relativ klein, selbst
wenn eine staatliche Internetseite wie www.meinestadt.de diese App öffentlich machen würde.
Wir müssen also für einheitliche Regelungen in
Deutschland sorgen. Dafür ist die Plattform GovData der
Bundesregierung der erste Ansatz. Nehmen wir als
Beispiel die Rollstuhlfahrer-App, bei der es um Barrierefreiheit geht: Alle staatlichen Stellen müssen einen
Markt schaffen, der groß genug ist, damit eine solche
App auch wirtschaftlich funktionieren kann; denn ansonsten bleibt das Programmierspielkram für den einen
oder anderen. Das mag im Einzelfall vor Ort sinnvoll
sein. Die Frage ist aber, wie wir die wirtschaftlichen Potenziale nutzen können. Deswegen müssen wir dafür
sorgen, dass hier in Deutschland ein einheitlicher Weg
beschritten wird.
Ich möchte ein Beispiel vorbringen, das über die
Anwendungen, von denen wir schon gehört haben, hinausgeht und deutlich macht, dass man über den Tellerrand schauen muss. Es geht um eine App aus Israel, die
mir besonders ins Auge gesprungen ist. Der Entwickler
Ari Sprung hat die App „Red Alert“ entwickelt. Das
klingt ein bisschen martialisch, und so ist es in diesem
Fall auch. Diese App warnt Nutzer in Israel vor Raketeneinschlägen. Diese App schlug im letzten Jahr aufgrund
des Konflikts zwischen Palästinensern und Israelis in
dieser Region Tausende Male Alarm. Diese App ist in
der Lage, in Echtzeit, sozusagen im Zwei-SekundenTakt, jede einzelne Rakete, die aus Gaza auf Israel abgeschossen wird, zu erfassen und zu melden. Sogar während eines Live-Interviews mit dem israelischen Botschafter in Washington war der Ton dieser App in der
Fernsehübertragung zu hören, weil der Diplomat vergessen hatte, sie stumm zu schalten. 1 Million Israelis haben
„Red Alert“ mittlerweile heruntergeladen. Das heißt, jeder achte Israeli besitzt diese Anwendung. Sie könnte
aber auch für andere Länder interessant werden.
({2})
Ich hoffe, dass wir für eine solche App - das ist natürlich
ein Extrembeispiel - in Deutschland künftig keine Verwendung haben werden, weil es hier friedlicher zugeht.
Die Frage ist aber, meine Damen und Herren, woher
diese Daten kamen. Auf die Frage: „Wo hast du die
Daten her?“, hat der Programmierer gesagt: Ich habe sie
von einer Webseite; die Daten sind im Internet zugänglich. - Die Daten sind dort tatsächlich öffentlich zugänglich; die eigentliche Frage war aber, wo der Ersteller der
Webseite die Daten herhatte. Diese Daten kommen natürlich von einer staatlichen Stelle, aber bisher hat keiner
die Frage beantwortet, woher die Daten genau kommen.
Wir bewegen uns hier also - ich würde es freundlich
ausdrücken - in einem rechtlichen Graubereich. Das
Land Israel hat sicherlich ein Interesse daran, dass diese
App funktioniert. Die Daten werden aber vermutlich
kaum von einer Behörde frei zugänglich eingestellt.
An diesem Extrembeispiel sieht man, in welchen Bereichen wir uns in Zukunft mit diesem Gesetz bewegen
könnten. Wir müssen also auch über Einzelfälle nachdenken. Deswegen finde ich es gut, dass man beim Melderegister und bei anderen Dingen Ausnahmen macht.
Die Frage ist also: Wozu sind Daten verwendbar? Was
bringen Sie uns zum Beispiel in der Sicherheitstechnik?
Was bringen sie uns in der Medizintechnik? Was bringen
sie uns künftig in anderen Bereichen der Wirtschaft?
Ich stimme allen bisherigen Rednern zu - das haben
nämlich wirklich alle gesagt -, dass die Novellierung des
IWG ein erster Schritt ist und wir noch weitere Schritte
auf dem Weg zu Open Data gehen müssen, damit künftig
weitere kommerzielle und nichtkommerzielle Anwendungen entwickelt werden können.
Wir wollen sehen, wie wir diese Open-Data-Strategie
weiterführen. Auch müssen wir fragen: Wie steht es am
Ende um die Rechtsansprüche? Denn die Frage ist natürlich, welchen Erfüllungsaufwand wir unseren Behörden
aufgeben, wenn sie jetzt sozusagen alle Informationen,
die sie für veröffentlichungswert halten, einstellen sollen. Auf der anderen Seite ist zu überlegen: Welche Interaktion gibt es dabei mit Blick auf Bürger und Unternehmen, die diese Daten nutzen wollen und können?
Ich glaube - das sage ich abschließend -, dass wir ein
riesiges Marktpotenzial in der Bundesrepublik Deutschland, aber auch in Europa haben werden. Ich würde mich
freuen, wenn alle Fraktionen das Vorhaben weiterhin unterstützen würden.
Danke schön.
({3})
Zum Schluss dieser Beratung hat der Kollege
Andreas Lämmel, CDU/CSU, das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Es kommt eigentlich relativ selten vor, dass
sich alle Fraktionen im Prinzip mehr oder weniger für
einen Gesetzentwurf aussprechen. Was das Abstimmungsverhalten angeht, bin ich gespannt: Wir müssten
diesen Gesetzentwurf heute eigentlich einstimmig verabschieden.
({0})
- Na ja, gut, bei der Linken muss man ja immer ein bisschen vorsichtig sein. Das stimmt schon. Zumindest bei
den Grünen war aber schon eine große Übereinstimmung erkennbar.
Ich will nur ganz kurz auf drei Punkte eingehen. Es
geht bei der wirtschaftlichen Nutzung von Informationen aus der öffentlichen Verwaltung nicht nur darum,
neuen wirtschaftlichen Nutzen zu generieren, sondern
auch darum, Waffengleichheit herzustellen. In den
90er-Jahren - daran kann ich mich genau erinnern gab es einen Kampf um die Geodaten. Die öffentliche
Verwaltung - auch die bei uns in Sachsen - wollte Geodaten nie zur freien Nutzung durch die Unternehmen
herausrücken. Damit war natürlich keine Chancengleichheit mehr gegeben. Das Nachsehen hatten im
Allgemeinen die kleinen und mittleren Unternehmen,
die keinen Zugriff auf solche Daten hatten. Ich denke,
dass dieses Gesetz heute wirklich ein großer Fortschritt
ist.
In den USA geschah das Gegenteil. Da hat Google
ganz einfach die Welt neu vermessen und mit
Google Maps letztendlich den Standard gesetzt. Alle
greifen nun auf diese Daten zu.
Kommen wir aber nun noch einmal auf die Plattform
GovData zurück. Auch Frau Zypries hatte sie erwähnt.
Ich habe mir das einmal angeguckt. Da steckt - um das
einmal vorsichtig auszudrücken - noch viel Verbesserungspotenzial drin. Es ist sehr kompliziert, in diesem
GovData-Portal überhaupt zu navigieren. Man hat keine
guten Suchmasken, um wirklich schnell dahin zu kommen, wohin man will.
Zum anderen bin ich auch überzeugt, dass wir - natürlich auch politisch - versuchen müssen, entsprechenden Druck auf die Behörden auszuüben, dass sie ihre
Daten auf die Plattform bringen. Wir haben schon viele
dementsprechende Versuche gemacht. Sie sind aber eines schönen Todes gestorben, weil sie, was die darin enthaltene Information anbelangt, nicht mehr gepflegt wurden. Daraufhin sind sie in Vergessenheit geraten.
Ich denke, dass wir hier gemeinsam - aufgrund des
Föderalismus sind auch die Länder gefragt - vorgehen
müssen. Wir verabschieden jetzt ein Gesetz, aber die
Länder und Kommunen müssen ihre Daten dort einstellen. Hier muss man noch einmal an das Bundesinnenministerium appellieren, die gesamte Plattform handhabbarer bzw. nutzerfreundlicher zu machen. Weiter muss
an die Behörden in Bund, Ländern und Kommunen appelliert werden, daran zu denken, ihre Daten dort einzustellen, weil das ein großer Vorteil ist.
Ich komme zum letzten Punkt, nämlich zur Gebührenordnung; er ist hier auch schon verschiedentlich angesprochen worden. Meine persönliche Meinung dazu
ist folgende: Die Daten in der öffentlichen Verwaltung
werden mit Steuergeldern erhoben; denn die öffentliche
Verwaltung wird aus den Steuereinnahmen finanziert.
Deswegen kann aus meiner Sicht diese Plattform kein
Modell sein, um Geld für die öffentliche Verwaltung zu
akquirieren. Man kann sicherlich Schutzgebühren einführen, um den einfachen Missbrauch zu verhindern. Es
darf aber nicht versucht werden, damit die Stadtkasse,
die Landeskasse oder die Bundeskasse aufzufüllen. Das
würde ich für völlig verfehlt halten; denn die gesamten
Daten sind schon bezahlt. Sie sind schon auf Kosten der
Allgemeinheit erhoben worden. Deswegen kann man
nur sagen: Bei den Gebührenordnungen muss Maß gehalten werden.
Zusammenfassend will ich sagen: Ich freue mich,
dass wir hier heute ein Stück weiterkommen. Es wurde
aber von allen Rednern gesagt, dass das lediglich der
Anfang ist. Deswegen sollten wir sehen, dass wir schnell
die nächsten Schritte folgen lassen und dass wir vor allen
Dingen die Länder und die Kommunen in die öffentliche
Diskussion einbeziehen, damit dieses Modell in
Deutschland zum Erfolg geführt werden kann. Ich
denke, das wird unseren kleinen und mittelständischen
Unternehmen sehr helfen, wettbewerbsfähig zu bleiben.
Ich hoffe auf große Zustimmung. Unsere Fraktion
wird diesem Gesetzentwurf auf jeden Fall zustimmen.
Danke schön.
({1})
Damit schließe ich die Aussprache.
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den von der
Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung des Informationsweiterverwendungsgesetzes.
Der Ausschuss für Wirtschaft und Energie empfiehlt in
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/4844,
den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache
18/4614 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen.
Wer ist dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält
sich? - Damit ist dieser Gesetzentwurf in zweiter Beratung mit den Stimmen von CDU/CSU und SPD bei Enthaltung der Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die
Grünen angenommen.
Wir kommen jetzt zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist damit angenommen, und zwar mit den Stimmen von CDU/CSU und SPD bei Enthaltung der Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen.
Vizepräsident Johannes Singhammer
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 8 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Kordula
Schulz-Asche, Tom Koenigs, Peter Meiwald,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abgeordneten
Stefan Liebich, Wolfgang Gehrcke, Dr. Dietmar
Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Der Völkermord in Ruanda und die deutsche
Politik 1990 bis 1994 - Unabhängige historische Aufarbeitung
Drucksache 18/4811
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({0})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
diese Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Widerspruch erhebt sich keiner. Dann ist diese vereinbarte Zeit
so beschlossen.
Damit eröffne ich die Aussprache und erteile als erster Rednerin der Kollegin Kordula Schulz-Asche für
Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben
in diesem Hause vor rund einem Jahr eine Debatte zum
20. Gedenktag des Völkermordes in Ruanda, 1994, geführt, die unser Bundestagspräsident, Herr Lammert, als
„denkwürdig“ bezeichnete. Am Ende sagte er, es bliebe
„das bittere Fazit, dass uns die selbstkritische Auseinandersetzung mit der eigenen Verantwortung … überzeugender gelingt als die konkrete Wahrnehmung unserer
Verpflichtungen und Möglichkeiten zu dem Zeitpunkt,
als die Ereignisse stattgefunden haben“. Leider ist es bis
heute nicht gelungen, diesen Worten Taten folgen zu lassen.
Der Völkermord in Ruanda war der schreckliche Höhepunkt einer jahrzehntelangen Entwicklung. Aber spätestens ab 1992 wurde klar, dass die ruandische Regierung
und die ihr nahe stehenden Extremisten Menschenrechtsverletzungen vorantrieben mit dem Ziel, die Bevölkerungsgruppe der Tutsi auszulöschen. Am Ende stand der
Völkermord, die Ermordung von über 800 000 Menschen
in weniger als 100 Tagen. Die Opfer waren Tutsi, aber
auch gegen die Regierung opponierende Hutu oder Menschen, die sich vor die Tutsi stellten. Die Überlebenden
leiden bis heute. Sie haben unser aller Solidarität und unsere Unterstützung verdient.
({0})
In der Debatte in diesem Hause vor einem Jahr
herrschte große Einigkeit darüber, dass die internationale
Gemeinschaft in Ruanda in ihrer Schutzverpflichtung
gegenüber einer von der Ausrottung bedrohten Bevölkerungsgruppe versagt hatte. Inzwischen haben sowohl die
Vereinten Nationen als auch eine ganze Reihe von Ländern, die enge Partnerschaften mit Ruanda eingegangen
waren und auch heute wieder eingegangen sind, versucht, aus den gemachten Fehlern zu lernen. Sie haben
ihre eigene Verantwortung aufgearbeitet und Berichte
vorgelegt. Dazu gehören zum Beispiel die Schweiz und
Australien. Auch Frankreich und Belgien, die beide eine
besondere Rolle in Ruanda spielten, haben Berichte vorgelegt. Aber auch dort werden immer wieder Rufe laut,
die weitere Aufarbeitung von Fehlern, die damals in diesen Ländern gemacht worden sind, voranzutreiben.
Es liegt jetzt nahe - auch hierüber herrschte im letzten
Jahr in allen Fraktionen Einigkeit -, dass auch Deutschland als Teil der internationalen Gemeinschaft Verantwortung trägt, gerade als sehr guter und langjähriger
Partner Ruandas.
({1})
Deutschland war nach dem Völkermord das erste Land,
das wieder diplomatische Beziehungen zu Ruanda aufgenommen hat und dort wieder eine Botschaft eröffnet
hat. Ich glaube, das war ein gutes und deutliches Zeichen
an die Überlebenden, dass sie nach dem Völkermord
nicht erneut im Stich gelassen werden.
({2})
Aber wenn wir aus gemachten Fehlern lernen wollen
und, wie ich finde, auch müssen, sollten wir uns nicht
scheuen, uns unserer Verpflichtung einer sachlichen und
fundierten Aufarbeitung zu stellen. Über ein Jahr lang
haben einige Abgeordnete aller Fraktionen dieses Hauses versucht, einen gemeinsamen Antrag zustande zu
bringen. Das ist bisher leider gescheitert, sodass wir
heute als Grüne zusammen mit der Linken diesen Antrag
allein einbringen. Ich möchte mich an dieser Stelle bei
Stefan Liebich für die gute Zusammenarbeit ausdrücklich bedanken.
({3})
In diesem Antrag wird die Einsetzung einer unabhängigen interdisziplinären historischen Kommission gefordert, die das Handeln von deutscher Seite in den Jahren
zwischen 1990 und 1994 untersucht und dafür den Zugang zu notwendigen Akten erhält. Nach wie vor sind
sehr viele Fragen offen. Dazu gehören die diplomatischen Bemühungen, die in diesem Zeitraum stattgefunden haben. Dazu gehört der Umgang mit den Vereinten
Nationen und den Blauhelmen. Dazu gehört das Versagen von Frühwarnsystemen, zum Beispiel in der Entwicklungszusammenarbeit. Dazu gehört sicher auch die
Ablehnung von 47 Visaanträgen von Ruandern, die im
Rahmen einer engen Partnerschaft mit Rheinland-Pfalz
um Asyl gebeten hatten; um nur einige wenige Punkte zu
nennen.
Wir sind uns doch alle einig, dass in sich zuspitzenden Krisen die Zusammenarbeit zwischen verschiedenen
Ministerien und die Zusammenarbeit mit der Zivilgesell9854
schaft, die Zusammenarbeit auf nationaler und internationaler Ebene für den Schutz der Zivilbevölkerung entscheidend sind. Warum also nicht Fragen zulassen, was
schiefgelaufen ist und in Zukunft besser gemacht werden
könnte?
({4})
Gerade angesichts der Vielzahl von Krisen, die auch
heute die Welt, insbesondere die Region der Großen
Seen in Afrika, betrifft, ist das von besonderer Bedeutung. Ich glaube, wir alle beobachten gerade mit sehr
großer Sorge die Entwicklung in Burundi. Auch da haben wir natürlich Verantwortung und Verpflichtung, genau hinzuschauen.
({5})
Es wäre auch vor diesem Hintergrund sicher ein gutes
Zeichen, wenn es doch noch gelingen sollte, sich der eigenen Verantwortung und den eigenen Fehlern in Ruanda in den Jahren von 1990 bis 1994 zu stellen.
Der Antrag enthält eine weitere Forderung, die mir
sehr am Herzen liegt, nämlich die Einrichtung eines
Rechtsfonds für die Zeugen, die in Völkermordprozessen aussagen. Überlebende von Völkermorden haben
eine Vielzahl von Traumatisierungen erfahren. Sie sind
körperlich und seelisch verletzt worden. Sie sind manchmal die einzigen Überlebenden in ihren Familien. Wenn
wir als internationale Gemeinschaft wollen, dass die Täter von Völkermorden vor Gericht gestellt werden, dann
brauchen diese Zeugen unsere Unterstützung.
Diese Menschen werden oft in verschiedenen Prozessen vor verschiedenen Gerichten in verschiedenen Ländern als Zeugen angehört. Wir brauchen ihre Unterstützung, und sie brauchen unsere Unterstützung. Ich kann
beim besten Willen nicht verstehen, warum wir die Initiierung eines solchen internationalen Rechtsfonds nicht
fraktionsübergreifend zustande bringen sollten.
({6})
Außenminister Steinmeier sagte am 4. April 2014,
also vor etwas über einem Jahr, an dieser Stelle:
Die eine Lehre, die an einem Gedenktag wie heute
zu ziehen ist, die wir ziehen müssen, heißt: Niemals
wieder!
Und er fuhr fort:
Wir schulden ihnen,
- damit meinte er die Opfer dass wir uns nicht dem Gefühl der Ohnmacht und
schon gar nicht der Gleichgültigkeit hingeben, dass
wir nicht nur anprangern, sondern das uns Mögliche tun, das in unserer Macht steht, um Völkermord
zu verhindern. Das ist unsere Verpflichtung, und
dieser Verpflichtung müssen wir gerecht werden.
Das ist richtig und gut gesagt.
Frau Kollegin, denken Sie an die vereinbarte Redezeit?
Ja, ich komme zum Ende. - Wir werden uns als Deutscher Bundestag jeden April die Frage stellen müssen,
ob wir das Mögliche getan haben und ob wir unserer
Verpflichtung gerecht geworden sind. Wir haben im letzten Jahr eine denkwürdige Debatte geführt. Lassen Sie
uns gemeinsam dafür sorgen, dass den Worten auch Taten folgen.
Danke schön.
({0})
Für die CDU/CSU spricht jetzt der Kollege Frank
Heinrich.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer! Völkermord, Genozid: ein Thema, das uns in diesen Tagen mit
einer ganz aktuellen Wucht erreicht. Wir haben in der
vergangenen Sitzungswoche, also vor zwei Wochen, des
100. Jahrestages des Völkermordes an den Armeniern
mit seinen 300 000 bis 1,5 Millionen Opfern gedacht.
Brutal wurden von den Osmanen ebenso Angehörige der
christlichen Minderheiten der Aramäer, der Assyrer und
der Chaldäer ermordet. Zwischen 100 000 und 250 000
dieser Menschen kamen ums Leben.
Zynisch an dieser Debatte vor 14 Tagen mutete an,
das Geschehen nicht als Völkermord zu bezeichnen
- Sie alle können sich erinnern, wie das auch durch die
Medien ging -, weil es den Begriff damals noch nicht
gegeben hätte. Natürlich gab es erst 1948 die verbindliche Definition durch die Vereinten Nationen - ich zitiere die Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes -, doch der Tatbestand an sich,
die Absicht, „eine nationale, ethnische, rassische oder
religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören“, lag schon 1915 ohne Frage vor, auch wenn die
Türkei - das ist ein Skandal - das bis heute so nicht anerkennen will.
Doch kehren wir noch zusätzlich vor der eigenen
Haustür. Morgen, am 8. Mai 2015, jährt sich zum
70. Mal der - so hat ihn Richard von Weizsäcker bezeichnet - Tag der Befreiung, der Befreiung vom größten Genozid der Historie. 6 Millionen Juden, darunter
1,5 Millionen Kinder, wurden von den Nazis erniedrigt,
entwürdigt, vernichtet. Niemals zuvor gab es eine solche
Maschinerie zur Vernichtung eines Volkes. Das begann
bei der Sprache, der Nutzung von Wörtern, die Menschen
mit Tieren verglichen, und ging über die Pseudowissenschaft eines Alfred Rosenberg mit seiner Rassentheorie
Frank Heinrich ({0})
bis zur akribischen Vorbereitung und systematischen tech-
nischen Umsetzung der sogenannten Endlösung, der Ver-
nichtung der Juden. Dazu kam der Völkermord der Nazis
an den Sinti und Roma. Über 100 000 dieser Menschen
verloren ihr Leben.
1948 waren die Vereinten Nationen zum einen scho-
ckiert, zum anderen optimistisch. Mit der Konvention
über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes
wurde ein Straftatbestand - meine Kollegin hat das eben
auch erwähnt - geschaffen in der Hoffnung, Völker-
morde verhindern zu können. Und doch kam es wieder
zu Genoziden.
Bereits der Völkermord im Nachbarland Burundi
- die Vorgeschichte in der Region wurde schon ange-
sprochen - durch die Tutsi an den Hutu forderte 100 000
bis 300 000 Tote. Manche nennen es auch die Wurzel für
das, was dann 1990/1992 sichtbarer wurde, was erkenn-
bar vorbereitet wurde und was 1994 in Ruanda geschah.
In 100 Tagen - wir haben die Zahlen gerade gehört - tö-
teten Angehörige der Hutu-Mehrheit 800 000 Menschen,
also etwa 75 Prozent aller in Ruanda lebenden Tutsi, so-
wie moderate Hutu, die sich nicht am Völkermord betei-
ligen wollten oder sich aktiv dagegen eingesetzt haben.
Die internationale Gemeinschaft - das will ich wie-
derholen - hat damals vollkommen versagt. Das steht
außer Frage. Das kam in der Debatte, die wir vor einem
Jahr geführt haben, eindrucksvoll zum Ausdruck. Auch
bei dem Massaker in Srebrenica, mitten in Europa, hat
die Weltgemeinschaft mehr oder weniger zugeschaut.
1995 wurden 8 000 Bosnier getötet. So weit der Blick
zurück, weil wir heute über Völkermord reden.
Nun geht es in dem Antrag um die Rolle Deutsch-
lands und vor allem um die Frage, welche Instrumenta-
rien - das ist der Kern des Antrags - zur Prävention seit-
her entwickelt wurden. Sie fordern unter anderem, zur
Aufarbeitung in Deutschland eine unabhängige interdis-
ziplinäre historische Kommission einzurichten. Dazu
muss man aber auch wissen, dass ein Großteil der Aufar-
beitung a) schon stattgefunden hat und b) in die Schaffung neuer Instrumentarien gemündet hat.
Zwei unabhängige Gutachten zu Ruanda, 1998 und
1999 im Auftrag des BMZ gefertigt, haben dazu geführt,
dass Empfehlungen umgesetzt wurden. Zudem erschien
letztes Jahr, 2014, eine Studie der Heinrich-Böll-Stiftung
mit dem Titel „Deutschland und der Völkermord in Ruanda“. Das Bild zu zeichnen, wir würden keine Aufarbeitung betreiben, führt uns in die Irre. Wenn das die Intention war, dann muss ich Ihnen sagen, dass wir uns
Ihnen nicht anschließen können. Zu den Instrumentarien
schreiben Sie selbst in dem Antrag - ich zitiere -:
Die Vereinten Nationen und einige Länder, die bilateral mit Ruanda zusammenarbeiteten, haben inzwischen ihre eigene Rolle in den Jahren vor und während des Völkermords vor 20 Jahren aufgearbeitet.
Ich glaube, wir haben dabei nicht die schlechteste Rolle
gespielt.
Dies hat erheblich dazu beigetragen, internationale
Instrumente der Frühwarnung und Prävention zu
entwickeln. Besonders die Responsibility to Protect
geht auf die Erfahrungen in Ruanda zurück.
Das ist genau richtig, diese Meinung teilen wir.
Deshalb gestatten Sie mir einen kurzen Blick auf die
Instrumentarien, die seitdem entstanden sind, teilweise
vor dem Hintergrund dieser Geschichte. Das Konzept
der gerade genannten Schutzverantwortung, Responsibility to Protect, beinhaltet folgende drei Prinzipien: Erstens. Jeder Staat hat die Verantwortung, seine Bevölkerung vor Völkermord, Kriegsverbrechen, ethnischen
Säuberungen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit
zu schützen. Zweitens. Die internationale Gemeinschaft
hat die Aufgabe, Staaten in dieser Verantwortung zu unterstützen. Da kommen wir mit ins Spiel. Drittens. Die
internationale Gemeinschaft muss angemessene diplomatische, humanitäre und friedliche Mittel anwenden,
um Bevölkerungen vor diesen Massenverbrechen zu
schützen.
Wenn ein Staat zum Schutz seiner Bevölkerung nicht
fähig ist oder selbst die genannten Verbrechen begeht,
muss die internationale Gemeinschaft - wir - bereit sein,
noch stärkere Mittel einzusetzen, inklusive der durch
den Sicherheitsrat beschlossenen kollektiven militärischen Mittel. In diesem Fall geht die Schutzverantwortung auf die internationale Gemeinschaft über. Deutschland ist Mitglied der sogenannten Freundesgruppe
Responsibility to Protect und setzt sich für diese Umsetzung ein.
Ich möchte noch einige weitere Instrumentarien kurz
nennen. Mit dem Krisenfrühwarnsystem des BMZ werden Entwicklungen beobachtet und Veränderungen von
der Bundesregierung aufmerksam registriert. Weiterhin
gibt es das EU-Early-Warning-System, das Sie in Ihrer
Rede vorhin zitiert haben. Schließlich gibt es die seit
2012 geltenden ressortübergreifenden Leitlinien für eine
kohärente Politik der Bundesregierung gegenüber fragilen Staaten. Meine Kollegin Frau Schäfer wird kurz darauf eingehen.
Deutschland unterstützt die Vereinten Nationen an
vorderster Front, was dies angeht. So wurde im Jahr
2004 der Posten des Sonderberaters zur Verhinderung
von Völkermord eingerichtet, 2008 der Posten des Sonderberaters für Schutzverantwortung. Es sind also Dinge
passiert.
({1})
- Ich weiß; das will ich nicht in Abrede stellen. - 2010
formulierte Kofi Annan fünf Grundsätze: Informieren
über bewaffnete Konflikte, Zivilbevölkerung schützen,
Straflosigkeit beenden, klare und frühzeitige Warnungen
aussprechen und schnell und entschlossen handeln. Auf
die klaren und frühzeitigen Warnungen komme ich am
Ende zurück; denn wir haben auch jetzt wieder Warnungen auszusprechen. Was das schnelle und entschlossene
Handeln angeht, so ist das am meisten gescheitert.
Hinzu kommt der UN-Aktionsplan vom Juli 2013.
Darin stehen sechs Empfehlungen, die ebenfalls als
Konsequenz der Ereignisse zu verstehen sind, die wir
Frank Heinrich ({2})
miterleben mussten. Unter anderem wird ein Menschenrechtstraining für alle Mitarbeiter und das gesamte Personal der Vereinten Nationen und eine Unterrichtung des
Sicherheitsrates durch den UN-Generalsekretär über
schwere Menschenrechtsverstöße empfohlen.
Was leiten wir daraus als Forderungen oder Folgerungen ab? Wir stimmen da nicht genau überein; deshalb
werden wir nicht zustimmen. Ich möchte meine Kollegin
Sabine Weiss zitieren. Sie sagte: Eine der zentralen Lektionen des Völkermords in Ruanda ist es, wachsam zu
sein und frühzeitig auf Fehlentwicklungen zu reagieren.
- Das ist die Intention. So haben Sie auch am Schluss Ihrer Rede gesagt: Wir müssen hinschauen. - Deshalb
müssen wir auch jetzt hinschauen. Es sind mindestens
vier Regionen, auf die wir aufmerksam gemacht werden
und in denen jetzt das Risiko besteht, dass wir wieder
versagen, wenn wir nicht Verantwortung übernehmen:
Ich nenne da die Zentralafrikanische Republik. In den
Jahren 2013 und 2014 kam es dort zu ethnischen Säuberungen, Vertreibungen der muslimischen Minderheit.
Ich rede vom Südsudan, wo Morde an Angehörigen
der Zivilgesellschaft stattfinden. John Kerry hat letztes
Jahr gewarnt, es gebe dort „verstörende Anzeichen“ ethnisch motivierter und gezielt nationalistischer Tötungen.
Kerry weiter:
Wenn diese andauern, stellt das die internationale
Gemeinschaft vor ernste Herausforderungen hinsichtlich eines Völkermordes.
Aktion - jetzt aktuell.
Der Nordirak ist das dritte Beispiel: Morde, Massaker
an den Jesiden durch den IS, Vertreibung ins Gebirge,
Verschleppung von circa 3 000 Mädchen und Frauen.
Ich nenne nicht zuletzt - da schließt sich der Kreis ein
bisschen - Burundi. Die Lage in Burundi eskaliert. Am
Dienstag dieser Woche hat dort das oberste Gericht nach
erheblichen Einschüchterungen die verfassungswidrige
dritte Kandidatur von Präsident Nkurunziza bei den
Wahlen im Juni gebilligt. Gewalt macht sich inzwischen
breit zwischen Sicherheitskräften und Demonstranten.
Circa 25 000 Menschen sind geflohen, die meisten davon nach Ruanda. Die internationale Gemeinschaft muss
sich stärker engagieren, für faire und freie Wahlen eintreten und auf eine Deeskalation drängen!
Danke für den Antrag, danke für das erneute Thematisieren auch ein Jahr nach dieser wirklich guten Debatte!
Im Ziel stimmen wir überein, in der Form so nicht. Jetzt
gilt es aber, Dinge umzusetzen und nicht wieder falsch
oder zu spät zu reagieren, nicht zuletzt in den vier Fällen,
die ich gerade genannt habe; denn die Instrumente dafür
haben wir inzwischen in der Hand.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
({3})
Für die Fraktion Die Linke spricht jetzt der Kollege
Stefan Liebich.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Im
Februar dieses Jahres ist Außenminister Frank-Walter
Steinmeier nach Ruanda geflogen. Eine kleine Delegation des Bundestages hat ihn begleitet: Der Herr Kollege
Diaby war dabei, Frau Schulz-Asche war dabei, Frau
Pfeiffer von der CDU/CSU-Fraktion und ich selbst auch.
Wir haben dort in Kigali im Hôtel des Mille Collines
übernachtet. Wahrscheinlich haben einige von Ihnen den
Film Hotel Ruanda gesehen, einen Film, der sehr ergreifend ist in seiner ganzen Schrecklichkeit. Wenn man in
diesem Hotel übernachtet, wo über tausend Menschen
Zuflucht gesucht haben, dann hat man die Bilder immer
wieder im Kopf und sie lassen einen nicht los. Das ist ein
sehr seltsames Gefühl.
Wir waren dann gemeinsam im Kigali Genocide Memorial Centre und haben dort einen Kranz niedergelegt,
und wir haben uns vor den Überresten von über 250 000
Opfern verneigt. Das Gefühl, zu welchen Grausamkeiten
Menschen fähig sind, lässt einen nicht mehr los.
Herr Heinrich, in ebendiesem Museum wird an unterschiedliche Völkermorde erinnert. Sie haben einige davon erwähnt, aber einen nicht, an den dort auch erinnert
wird - das ist mir in der Debatte zu dem Völkermord an
den Armeniern aufgefallen -: den Völkermord, der an
den Herero und Nama begangen wurde. Ich finde, dass
die Bundesregierung mit der gleichen Konsequenz, mit
der sie von den Türken die Anerkennung des Völkermords an den Armeniern einfordert, hier auch zur eigenen Verantwortung stehen sollte. Davor schreckt die
Bundesregierung bisher zurück.
({0})
Die Frage nach dem Warum des Völkermords in Ruanda müssen wir uns heute, 21 Jahre danach, stellen. Natürlich: Die Hauptverantwortung tragen die Täter in Ruanda und diejenigen, die diesen Völkermord geplant und
organisiert haben. Mitverantwortung tragen - darüber
haben wir hier gesprochen vor einem Jahr - jedoch auch
die europäischen Kolonialmächte, die die Unterscheidung zwischen Hutu und Tutsi festgeschrieben haben,
um besser in ihren Kolonien regieren und diese ausbeuten zu können. Mitverantwortung tragen auch jene, die
in Berlin, gar nicht weit von hier, Afrikas Grenzen mit
dem Lineal gezogen haben, ohne jene zu fragen, die in
diesen Ländern damals dort lebten. Mitverantwortung
trägt Frankreich. Frau Schulz-Asche hat darauf hingewiesen: Frankreich hat die Genozidregierung unterstützt,
als das Morden lief, und Frankreich leugnet bis heute
seine Verantwortung. Verantwortung trägt die Weltgemeinschaft, die Ruanda in seiner dunkelsten Stunde alleingelassen hat. In Gesprächen mit ruandischen Abgeordneten habe ich gesagt, dass ich mich dafür schäme.
Was hat das Ganze mit Deutschland zu tun? Wie
konnte es geschehen, dass unser Land 1994 alle Signale,
was passieren wird, nicht gesehen und nicht gehört hat?
Die Beziehungen waren außerordentlich eng. Die Deutsche Welle war in Ruanda. Ebenso waren die Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit, die politischen
Stiftungen, die Kirchen, NGOs dort. Sogar Bundeswehrberater hatte Deutschland nach Ruanda entsandt. Warum
haben das Kanzleramt, das Außenministerium, das
Verteidigungsministerium, das Innenministerium, das
Entwicklungsministerium nichts von alldem gesehen?
Wir fordern in unserem Antrag, dass alle dafür notwendigen Akten jetzt offengelegt werden.
Warum ist nichts geschehen, obwohl es eine unwahrscheinlich enge Zusammenarbeit zwischen RheinlandPfalz und Ruanda gegeben hat und gibt? 650 Projekte
haben beide Länder verbunden. Wie konnte es geschehen - Frau Schulz-Asche hat darauf hingewiesen -, dass
damals die Visaanträge von 47 Ruandern abgelehnt wurden, obwohl Rheinland-Pfalz versprochen hatte, die
Kosten zu übernehmen?
Herr Heinrich, es ist noch nicht alles geschehen, was
möglich ist. Das Auswärtige Amt sagt selbst, dass
eine unabhängige wissenschaftliche Aufarbeitung in
Deutschland bis heute aussteht. Deshalb schlagen Grüne
und Linke genau diese vor. Es geht hier nicht darum,
irgendwem Schuld zuzuweisen, sondern es geht tatsächlich darum, aus Fehlern zu lernen.
({1})
Wir wollen eine unabhängige historische Kommission.
Sie haben hier das Thema „Responsibility to Protect“
erwähnt. Darüber könnte man jetzt länger diskutieren.
Aber eines ist mir an der Stelle sehr wichtig - das gilt für
alle Konflikte, über die wir im Moment reden -: Vor
dem Einsatz von Militär steht die Responsibility to Prevent, also die Verantwortung, zu vermeiden, dass es
überhaupt so weit kommt. Da haben wir in Ruanda
versagt, und da versagen wir leider bis heute in vielen
Konflikten.
({2})
Wir hätten uns gewünscht, dass es hier einen Antrag
aller Fraktionen gibt. Einen solchen haben wir bisher
noch nicht. Aber der Antrag wird jetzt in die Ausschüsse
überwiesen. Vielleicht können Sie von der Union und
von der SPD noch über Ihren Schatten springen. Vielleicht ist es möglich, dass wir hier zu einem Konsens
kommen. Wir sind dazu bereit.
Sehr geehrte Damen und Herren, wir müssen aus unseren Fehlern lernen, damit so ein Verbrechen nie wieder
geschieht. Ich denke, das sind wir den Hunderttausenden
von Opfern schuldig.
Vielen Dank.
({3})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Gabriela Heinrich,
SPD.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine Damen und Herren! Der Genozid in
Ruanda ist noch nicht lange her. Opfer, Täter, Zeugen,
auch die Deutschen, die damals das Land schnellstmöglich verlassen mussten, erinnern sich an die Gräueltaten
von 1994. Sie erinnern sich an die Menschen, die sie
kannten und die sie nicht beschützen konnten. Sie fragen
sich, wie natürlich auch viele andere, wie all das geschehen konnte und warum die internationale Gemeinschaft
so versagt hat.
Tatsächlich sind ja noch lange nicht alle Hintergründe
dieses Versagens geklärt. UNAMIR, die Mission der
Vereinten Nationen, wurde verkleinert, als der Völkermord schon in vollem Gange war. Im Vorfeld versagten
internationale Organisationen, und die Berichterstattung
tat den Krieg und die Massenmorde als Stammeskonflikt
ab. Dieses Versagen der internationalen Staatengemeinschaft darf sich niemals wiederholen.
({0})
Ich halte eine systematische historische Aufarbeitung
von Konflikten und der deutschen Verantwortung und
Reaktion auf diese Konflikte grundsätzlich für richtig.
Zum Teil geschieht das bereits. Wie im Antrag zu lesen
ist - auch Sie haben bereits darauf hingewiesen -, sind
gerade in jüngster Zeit Wissenschaftler und Medien
damit beschäftigt, die Verbindungen Ruandas und
Deutschlands in den 1990er-Jahren zu erforschen.
Auf internationaler Ebene wurden aus dem Völkermord in Ruanda und aus dem Versagen der internationalen Gemeinschaft Konsequenzen und Lehren gezogen.
Neuere UNO-Missionen erhalten oft robuste Mandate
und legen den Schutz der Zivilbevölkerung als strategisches Ziel fest. Die Responsibility to Protect als internationale Norm der Vereinten Nationen ist eine weitere
Lehre aus dem Völkermord in Ruanda. Wir haben gelernt, dass wir nicht wegsehen dürfen, wenn ein Land
seine Bevölkerung nicht mehr schützen kann oder will.
Wir tragen auch Verantwortung in der Prävention. Die
Bedeutung der Krisenprävention als Aufgabe der deutschen Politik kann gar nicht genug betont werden. In der
Großen Koalition haben wir die Mittel für den Zivilen
Friedensdienst bisher stetig erhöht, zuletzt auf 39 Millionen Euro im Jahr. Die Vermeidung von Konflikten, die
Versöhnungsarbeit, die Deeskalation - all das sind Bereiche, die wir weiter ausbauen müssen. Auch das ist
eine Lehre aus dem ruandischen Völkermord.
Meine Damen und Herren, es bleibt trotzdem unbefriedigend. Wir erinnern uns an den Völkermord in
Ruanda; wir haben heute schon eine Idee davon, wie der
Genozid zu verhindern gewesen wäre. Wir müssen aber
trotz der ganzen Erkenntnisse bei jedem Konflikt von
neuem damit anfangen, zu analysieren, und uns entscheiden, was wir tun wollen.
Die zentrale Frage ist hierbei: Wie übernehmen wir
Verantwortung in einem bestimmten Konflikt? Ihr Antrag lässt das noch offen. Sie hoffen, dass neue Erkenntnisse der Kommission Antworten auf diese zentrale
Frage hervorbringen. Ich bezweifle, dass die wissenschaftliche Aufarbeitung zu solchen Antworten führt.
Eine Kommission kann Schuldfragen klären; sie kann
sogar individuelle Schuld klären, wenn die Archive geöffnet werden. Aber kann sie uns tatsächlich Handlungsanweisungen für aktuelle Krisen, Konflikte und Völkermorde liefern?
Die Diskussionen über unsere Verantwortung, die
auch wir Abgeordnete angesichts aktueller Krisen führen
müssen, kann uns keiner abnehmen. Dafür gibt es kein
Konzept. Spätestens dann, wenn wir über Waffenlieferungen und Blauhelmeinsätze, eingebettet in unsere
internationalen Verpflichtungen, entscheiden müssen,
muss sich jeder und jede von uns fragen, welche Maßnahmen im Sinne der Responsibility to Protect Massenmorde und schwere Menschenrechtsverletzungen verhindern; denn die Responsibility to Protect endet eben
nicht immer bei der Prävention. Da kommen wir nicht
raus, wie viel wir auch immer historisch aufarbeiten mögen.
Deutschland und Ruanda pflegen eine enge Partnerschaft mit sehr positiven Entwicklungen. Ruanda hat
schon in der Vergangenheit sehr aktiv und völlig zu
Recht seine eigenen Vorstellungen von der Entwicklungszusammenarbeit und der Arbeitsteilung benannt.
Zuletzt ging es dabei zum Beispiel um Dezentralisierung, gute Regierungsführung und die Reform des öffentlichen Finanzwesens.
Deutschland hat letztes Jahr insgesamt rund 70 Millionen Euro für die Zusammenarbeit in den nächsten drei
Jahren zugesagt. Wir sollten die Frage der Aufklärung
- vielleicht auch die unserer eigenen Verantwortung da, wo dies noch nicht geschieht, stärker mit der Aufklärung in Ruanda verbinden. Wir dürfen nicht nur fragen:
„Was hätten wir tun müssen?“, sondern wir müssen auch
fragen: „Was hätte Ruanda gebraucht, und zwar aus der
Perspektive der Menschen in Ruanda?“
Ruanda selbst ist längst dabei, den Genozid aufzuarbeiten. Vielleicht brauchen wir eine stärkere Verknüpfung, um weitere Erkenntnisse zu gewinnen. Wir müssen
auch abklären, ob und in welcher Weise eine stärkere
Unterstützung Deutschlands bei der Aufarbeitung des
Genozids und weitere Hilfe für die Überlebenden gewünscht ist, auch im Hinblick auf die Zeitzeugen. Wir
sollten ergebnisoffen in Erfahrung bringen, in welcher
Weise Deutschland hierbei weiter unterstützen kann.
Dies ist mit Sicherheit unsere Aufgabe.
Vielen Dank.
({1})
Vielen Dank. - Nächste Rednerin ist die Kollegin
Anita Schäfer für die CDU/CSU.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nachdem bereits
so viel über die deutsche Politik zur Zeit des Völkermords in Ruanda gesprochen wurde, möchte ich die heutige Debatte um einen Blickwinkel aus diesem Land
selbst ergänzen. Kürzlich hatte ich als Vorsitzende der
Parlamentariergruppe Östliches Afrika die Gelegenheit,
im Rahmen einer Delegationsreise in die Region auch
Ruanda zu besuchen. Ein besonderer Schwerpunkt waren dabei natürlich die Lehren, die aus dem Völkermord
gezogen wurden. Am beeindruckendsten war der Besuch
der Genozidhauptgedenkstätte in Gisozi bei Kigali, wo
ich stellvertretend für die gesamte Delegation einen
Kranz am Grab von über 250 000 Opfern des Völkermordes niederlegte. Die Ereignisse von 1990 bis 1994
spielen aber bis heute in jedem gesellschaftlichen Bereich, in jeder politischen Facette des Landes eine Rolle.
Bei diesem Aufarbeitungsprozess hat Ruanda bewundernswerte Erfolge erzielt, ganz besonders, wenn man
bedenkt, dass bis heute Gefahren aus dem benachbarten
Kongo drohen, wohin sich Teile der damaligen HutuMilizen zurückgezogen haben.
Bei unserem Besuch hatten wir auch die Möglichkeit,
ein Demobilisierungslager für ehemalige Kämpfer zu
besuchen, eines der weltweit wenigen Beispiele für ein
erfolgreiches Demobilisierungsprogramm, finanziert
durch die Weltbank. Dort werden ehemalige Angehörige
der Rebellengruppe FDLR, der sogenannten Demokratischen Kräfte zur Befreiung Ruandas, demobilisiert und
auf ihre Reintegration in das Zivilleben vorbereitet,
ebenso wie Exkämpfer anderer Gruppen und ehemalige
Kindersoldaten, insgesamt etwa 12 000 seit Dezember
2001. Die Erfolgsquote liegt bisher bei insgesamt
86 Prozent.
Bei diesem und allen anderen Programmpunkten ist
unsere Delegation von hochrangigen Vertretern von
Staat und Gesellschaft sehr herzlich aufgenommen worden. Sie haben uns den Versöhnungsprozess vor dem
Hintergrund der ruandischen Geschichte erläutert. Erfolge in diesem Prozess sind demnach keinesfalls Selbstläufer gewesen. Im Gegenteil: Alle Beobachter hätten
1994 eine fortgesetzte Spaltung und Instabilität des
Landes vorhergesagt. Ruanda sei aber erfreulicherweise
der seltene Fall, in dem sich die Realität besser entwickelt habe als die Prognose. Aufbauend auf einem politischen Konsens zwischen den Tutsi und den gemäßigten
Hutu-Eliten habe man eine gewollte Politik des Ausgleichs, der Versöhnung, der Inklusivität, der Machtteilhabe und der Gerechtigkeit durchgesetzt. Ziel sei eine
gemeinsame nationale Identität aller Ruander, bei der die
Zugehörigkeit zur Gruppe der Hutu oder der Tutsi keine
Rolle mehr spielt. So weit die ruandische Selbstbetrachtung.
Anita Schäfer ({0})
Zugleich wurden die Beziehungen zu Deutschland
und die deutschen Bemühungen um eine Aufarbeitung
der Vorgänge aus den 1990er-Jahren sehr gelobt. So hat
Senatspräsident Bernard Makuza uns gegenüber vor
allem den Wunsch nach einer Verstärkung des Austausches und der Zusammenarbeit unserer beiden Parlamente geäußert. Als sehr junge Demokratie, deren Verfassung erst 2003 beschlossen wurde, wolle man
ausdrücklich von den deutschen Erfahrungen im Versöhnungs- und Aufbauprozess nach Krieg und Wiedervereinigung lernen. Besondere Anerkennung fanden auch die
Bewertung der FDLR als terroristische Organisation und
das Vorgehen der deutschen Justiz gegen ihre Führungskader. So hatten die Verhaftung und das Gerichtsverfahren gegen die zwei FDLR-Anführer in Deutschland 2009
erhebliche Auswirkungen auf die Kampfmoral der Rebellen, von denen sich anschließend viele ergaben.
Als Rheinland-Pfälzerin hat mich zudem das große
Lob für die langjährige Entwicklungszusammenarbeit
mit dem Partnerland Rheinland-Pfalz auf deutscher Seite
sehr gefreut. Ich denke, alle Delegationsmitglieder können bestätigen, dass von ruandischer Seite uns gegenüber keinerlei Kritik an der Politik Deutschlands, damals
oder heute, geäußert wurde. Wenn man den Antrag der
Opposition liest, könnte man allerdings meinen, dass
hier große Versäumnisse aufzuarbeiten wären. Dieser
Bewertung kann ich mich nicht anschließen.
Deutschland hat aus dem Völkermord in Ruanda und
aus anderen Ereignissen der vergangenen beiden Jahrzehnte Konsequenzen gezogen. Zusätzlich zu dem, was
der Kollege Heinrich vorhin schon erwähnt hat, gelten
seit 2012 ressortübergreifende Leitlinien für eine kohärente Politik der Bundesregierung gegenüber fragilen
Staaten. Ein Austausch erfolgt nicht nur zwischen den
zuständigen Ministerien, sondern auch mit Nichtregierungsorganisationen, etwa im Rahmen länderbezogener
runder Tische. Auch in der Frage militärischer Einsätze
zur Konfliktverhütung haben die Lehren aus den Gräueltaten in Ruanda und anderswo Folgen für die deutsche
Politik gehabt.
Vor fast genau einem Jahr haben wir hier im Bundestag über die Beteiligung der Bundeswehr an der EUÜbergangsmission in der Zentralafrikanischen Republik
abgestimmt. Das Beispiel Ruanda, dessen Wiederholung
es zu verhindern gelte, wurde damals von vielen Rednern genannt. Auch ich habe damals darauf hingewiesen,
dass uns die Gefahr eines neuen Genozids in Afrika
nicht egal sein könne. Mancher hat trotzdem gegen einen
Militäreinsatz argumentiert, aber letztlich haben wir im
Bewusstsein der Geschichte mit übergroßer Mehrheit
zugestimmt. Daneben hat es natürlich auch eine wissenschaftliche Befassung mit der deutschen Ruanda-Politik
der 1990er-Jahre gegeben, ohne dass die Wissenschaft
dazu Vorgaben der Bundesregierung oder Anträge der
Opposition gebraucht hätte.
Bis heute drückt sich die enge Verbindung zwischen
Deutschland und Ruanda in der bilateralen Beziehung
und der wirtschaftlichen Zusammenarbeit aus. Die Lehren, die es aus der Zeit des Völkermordes zu ziehen galt,
sind in beiden Ländern gezogen worden und werden angewandt. Unser Blick muss nun nach vorne, auf die Gegenwart und die Zukunft, gerichtet sein, um Ruanda weiterhin auf seinem Weg zu Frieden, Versöhnung und
Stabilität zu unterstützen.
Herzlichen Dank.
({1})
Vielen Dank. - Abschließender Redner in dieser Aussprache ist der Kollege Dr. Karamba Diaby, SPD.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herero, Nama, Damara und San 1904 bis 1908 im
heutigen Namibia, Armenier ab 1915, Srebrenica 1995 dies sind nur Beispiele einiger vergessener Völkermorde, ethnischer Säuberungen, Verbrechen gegen die
Menschlichkeit. Ich zitiere:
Wer sich dazu herbeilässt, die Erinnerung an die
Opfer zu verdunkeln, der tötet sie ein zweites Mal.
Das sagte Elie Wiesel am Holocaust-Gedenktag vor
15 Jahren hier vor dem Deutschen Bundestag.
Ich danke den Fraktionen der Linken und der Grünen
für die Einbringung des heutigen Antrags zum Völkermord in Ruanda und zur deutschen Politik.
({0})
Dieser Antrag lenkt den Fokus auf unsere eigene deutsche Verantwortung. Er regt uns zur gewissenhaften
Aufarbeitung an.
Historikerinnen und Historiker sind sich darüber einig: Der erste Völkermord des vergangenen Jahrhunderts wurde an den Herero und Nama in Deutsch-Südwestafrika verübt.
({1})
Von wem? Von der deutschen Kolonialmacht, von deutschen Truppen. Ich meine, Deutschland hat eine besondere historische und moralische Verantwortung für Namibia. Sie wirkt bis heute nach. Deshalb müssen wir die
deutsche Schuld und Verantwortung klar bekennen.
({2})
Vor zwei Wochen haben wir gemeinsam in der Armenien-Frage zu Recht von der Türkei erwartet, dass sie
den Völkermord anerkennt, damit eine Aufarbeitung vorankommen kann. Das sollten wir eindeutig auch für die
Herero und Nama tun.
({3})
Denn die Anerkennung ist ein Ausdruck des Respekts.
Ich möchte daran erinnern, dass Willy Brandts Kniefall
vor dem Ehrenmahl im ehemaligen Warschauer Ghetto
ein Akt der Demut und ein Symbol für die Bitte um Vergebung für die deutschen Verbrechen war. Noch heute ist
es unsere Aufgabe, Haltung einzunehmen und vor allem
Verantwortung zu übernehmen.
({4})
Als Menschenrechts- und Bildungspolitiker ist mir
unsere Erinnerungskultur besonders wichtig. Vor einigen
Monaten - das wurde von Herrn Liebich schon angedeutet - haben wir gemeinsam mit unserem Außenminister
Frank-Walter Steinmeier die Genozidgedenkstätte in Kigali besucht. Dort werden alle Völkermorde in einer
Ausstellung nebeneinander abgebildet. Das ist ein gutes
Beispiel.
({5})
Leider ist die deutsche Kolonialgeschichte nicht im
öffentlichen Bewusstsein. Die deutsche Rolle in der Kolonialzeit ist Teil unserer Geschichte und muss bewusst
Eingang in unsere Erinnerungskultur finden. Als deutsche Einwanderungsgesellschaft wollen wir eine lebendige und verantwortungsvolle Erinnerungskultur.
Meine Damen und Herren, die Schule der Nation ist
bekanntlich die Schule. Unser deutsches Geschichtsbuch
muss auch die deutsche Rolle und die Auswirkungen der
Kolonialzeit erzählen. Und: Wir sprechen heute über
vielfältige deutsche Identitäten. Unsere Klassenzimmer
sind bekanntlich vielfältig. Unsere Kinder müssen deshalb ihre eigene Geschichte in unserem deutschen Geschichtsbuch wiederfinden.
({6})
Das verstehe ich unter lebendiger Erinnerungskultur.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ja, Sie haben recht:
Wir müssen uns der deutschen Verantwortung stellen.
Kein Völkermord darf im Erinnerungsschatten bleiben.
Das sagte vor kurzem auch unser Bundespräsident.
Ich danke Ihnen.
({7})
Damit schließe ich diese Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/4811 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist das
so beschlossen.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 9 auf:
Beratung des Antrags der Bundesregierung
Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter
deutscher Streitkräfte an der EU-geführten
Operation Atalanta zur Bekämpfung der
Piraterie vor der Küste Somalias auf Grundlage des Seerechtsübereinkommens der Vereinten Nationen ({0}) von 1982 und der Resolutionen 1814 ({1}) vom 15. Mai 2008, 1816
({2}) vom 2. Juni 2008, 1838 ({3}) vom
7. Oktober 2008, 1846 ({4}) vom 2. Dezember 2008, 1851 ({5}) vom 16. Dezember
2008, 1897 ({6}) vom 30. November 2009,
1950 ({7}) vom 23. November 2010, 2020
({8}) vom 22. November 2011, 2077 ({9})
vom 21. November 2012, 2125 ({10}) vom
18. November 2013, 2184 ({11}) vom 12. November 2014 und nachfolgender Resolutionen
des Sicherheitsrates der VN in Verbindung
mit der Gemeinsamen Aktion 2008/851/GASP
des Rates der Europäischen Union ({12}) vom
10. November 2008, dem Beschluss 2009/907/
GASP des Rates der EU vom 8. Dezember
2009, dem Beschluss 2010/437/GASP des Rates der EU vom 30. Juli 2010, dem Beschluss
2010/766/GASP des Rates der EU vom 7. Dezember 2010, dem Beschluss 2012/174/GASP
des Rates der EU vom 23. März 2012 und dem
Beschluss 2014/827/GASP vom 21. November
Drucksache 18/4769
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({13})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss gemäß § 96 der GO
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
diese Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Weil ich
keinen Widerspruch sehe, ist auch das hiermit so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen Niels Annen für die SPD das Wort.
({14})
Sehr herzlichen Dank. - Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Deutsche Bundestag berät heute in
erster Lesung die Verlängerung der EU-Anti-PiraterieOperation Atalanta an der Küste Somalias und am Horn
von Afrika, an der sich Deutschland seit 2008 durchgehend mit Schiffen und zeitweise auch mit Aufklärungsflugzeugen beteiligt. Aktuell beteiligen sich 20 EU-Mitgliedstaaten und zwei Drittstaaten an der Operation, die
auf dem Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen sowie - das ist bekannt - auf mehreren Resolutionen
des UN-Sicherheitsrates fußt. Hauptaufgabe von Atalanta bleibt der Schutz der Seewege und vor allem des
Seetransports der Schiffe des Welternährungsprogramms
und der Friedensmission der Afrikanischen Union sowie
die Bekämpfung von Piraterie und bewaffneter Seeräuberei vor der Küste Somalias und am Golf von Aden.
Das alles klingt einigermaßen abstrakt. Aber wenn
man sich einmal vergegenwärtigt, dass das Mandatsgebiet, das wir festgelegt haben, in etwa 24-mal die Fläche
der Bundesrepublik Deutschland umfasst, bekommt man
eine Ahnung von der Größe und der Komplexität der
Aufgabe, die unsere Soldatinnen und Soldaten dort erfüllen. Dafür möchte ich mich an dieser Stelle recht
herzlich bedanken.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Lage in Somalia
- das gehört zu einer solchen Debatte natürlich dazu; es
würde auch gar keinen Sinn ergeben, darum herumzureden - hat sich nicht zu unserer Zufriedenheit entwickelt.
Man kann auch sagen, dass sich die Sicherheitslage trotz
des internationalen Engagements, der fortgesetzten Beteiligung auch deutscher Streitkräfte an der Überwachung im Rahmen der Operation Atalanta, aber auch
trotz der beträchtlichen Friedensmission der Afrikanischen Union bisher nicht entscheidend verbessert hat.
Ich muss Sie, glaube ich, nicht an die schrecklichen Bilder von fortgesetzten Anschlägen in Somalia erinnern.
Al-Schabab, die größte und stärkste Terrormiliz, ist weiterhin in weiten Teilen des Landes aktiv. Sie ist zu Operationen fähig und führt sie auch aus.
Wir haben auch gesehen, dass es längst nicht mehr
nur Somalia ist, sondern dass auch die Nachbarländer
Opfer dieses Terrors werden. Wir alle haben die Bilder
von dem schrecklichen Angriff auf die Universität sicherlich noch im Kopf.
Die Rahmenbedingungen für die Bekämpfung des
Terrors und die Stabilisierung von Somalia bleiben ausgesprochen schwierig. Ich will einige Zahlen erwähnen:
Im Jahre 2011 sind 250 000 Menschen in Somalia an
Hunger gestorben. Rund 1 Million Menschen benötigen
aktuell humanitäre Hilfe, davon allein 350 000 in der
Hauptstadt. Hinzu kommen 1 Million Binnenvertriebene
und schätzungsweise 1 Million somalische Flüchtlinge
in den Nachbarländern.
Meine Damen und Herren, für die Versorgung der somalischen Bevölkerung mit Lebensmitteln bleibt die
Operation Atalanta zentral; denn die Versorgung erfolgt
überwiegend auf dem Seeweg. Deswegen muss man an
dieser Stelle darauf hinweisen: Seit Beginn der Operation Atalanta sind alle Schiffe des Welternährungsprogramms sicher nach Somalia eskortiert worden. Auch
die Transporte der EU-Mission AMISOM werden geschützt. Das ist bei aller Sorge über die Lage in Somalia,
die wir, glaube ich, teilen, ein wichtiger Erfolg.
({1})
Auch in dem anderen Kernbereich der Mission sind
Erfolge zu verzeichnen. Im Jahre 2009 mussten wir noch
117 Piratenangriffe und 46 Entführungen von Handelsschiffen registrieren. Die Zahl ist auf 4 versuchte Angriffe im Jahr 2014 gesunken. Entführungen konnten seit
2012 komplett verhindert werden. Aktuell befindet sich
kein Schiff mehr in der Hand somalischer Piraten. Die
Zurückdrängung der Piraterie ist nicht zuletzt auf das
effektive Zusammenspiel von Schiffseignern und maritimer Präsenz von Atalanta zurückzuführen.
Trotzdem, liebe Kolleginnen und Kollegen, muss uns
klar sein: Natürlich kann sich die Lage wieder ändern,
kann Piraterie am Horn von Afrika wieder aufflammen.
Auch deswegen ist die weitere Präsenz unserer Schiffe
dort notwendig. Dass dies so ist, dass Piraterie aufflackern kann und dass es eine fragile Stabilität ist, die wir
erreicht haben, hat nicht nur mit dem bewaffneten Terrorismus, sondern auch mit den Rahmenbedingungen - mit
Armut, mit Verzweiflung, mit der Destabilisierung der
staatlichen Strukturen, mit der Abwesenheit von Staatlichkeit in Somalia - zu tun. Ohne eine langfristige Verbesserung der Lebens- und Einkommensverhältnisse vor
Ort wird Somalia auch weiterhin Rekrutierungsgebiet
und Basis für Terrorismus und Piraterie bleiben.
Auch vor diesem Hintergrund, meine Kolleginnen
und Kollegen, hat Deutschland allein zwischen 2008 und
2013 313 Millionen Euro an Hilfsgeldern für Somalia
zur Verfügung gestellt. Trotz dieser Hilfe wird man - das
wissen wir, glaube ich, alle - nicht nur in den Gebieten,
die jetzt von der al-Schabab befreit worden sind, sondern
auch in den Nachbarstaaten, die unter der Last der
Flüchtlinge leiden, mehr leisten müssen. Wir sind nicht
so naiv, zu glauben, dass mit der Verlängerung der Operation Atalanta das Problem gelöst wäre. Aber ohne die
Operation Atalanta würden uns die Rahmenbedingungen
fehlen. Deswegen glaube ich, auch mit Blick auf die
Krise in der gesamten Region - Stichwort „Jemen“; auch
das muss man in der Debatte erwähnen - sagen zu können: Wir leisten einen Beitrag - nur einen, aber einen unverzichtbaren - zur Stabilisierung dieser Region, zur
Versorgung der Menschen, die auf unsere Hilfe angewiesen sind. Deswegen bitte ich um Zustimmung.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({2})
Kollege Dr. Alexander Neu spricht jetzt für die Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrte Damen und Herren! Sehr geehrter Herr
Präsident! Ja, die Operation Atalanta läuft seit 2008, also
seit sieben Jahren. Ja, die Zahl der Piratenüberfälle geht
seit einigen Jahren gegen null. Das ist richtig. Die Ursache aber, die sozioökonomische Not, ist bis heute nicht
wirklich effektiv bekämpft worden.
Würde man heute die Operation Atalanta einstellen,
dann gäbe es morgen wieder Piraterie. Wie viele Jahre
- vielleicht Jahrzehnte - soll die Operation Atalanta
denn weiterlaufen? Darauf haben Sie keine Antwort. Es
laufen ja sogar drei Missionen: Atalanta, EUCAP
NESTOR und EUTM Somalia. Alle drei Missionen haben den gleichen Grundcharakter: Sie sind militärisch
ausgeprägt und wollen einen staatlichen Repressionsapparat aufbauen. Wollen! Geschafft haben sie das noch
lange nicht.
Erst seit 2013 gibt es ein UN-Projekt für den zivilen
Aufbau, nämlich „Peace and Statebuilding Goal“, um
den Staatszerfall in irgendeiner Art und Weise anzugehen. Allerdings ist dieses Projekt noch ausbaufähig, und
ein Ausbau ist auch nötig.
Auffällig ist in diesem Fall, aber auch generell das
massive Ungleichgewicht zwischen zivilen Projekten
und militärischen Abenteuern - immer wieder zugunsten
der militärischen Abenteuer. Genau das ist der Haken
westlicher Sicherheitskonzeptionen: das Primat des Militärischen plus Parteinahme zugunsten einer Konfliktpartei, einer Konfliktpartei, die den Interessen des Westens am besten dient.
Der Nahostexperte Michael Lüders hat in seinem neuesten Buch mit dem Titel Wer den Wind sät vor kurzem
die Frage gestellt, was westliche Politik im Orient anrichtet. Dort fragt Lüders - ich zitiere -:
Gibt es eine einzige Intervention des Westens, die
nicht Chaos, die nicht Diktatur und neue Gewalt zur
Folge gehabt hätte?
({0})
Lüders nennt Afghanistan, er nennt Irak, er nennt Somalia, er nennt Jemen, Pakistan, Libyen, Syrien. Ich glaube,
man könnte diese Liste noch etwas verlängern.
In der Tat: Keines der genannten Länder ist stabiler
geworden. Im Gegenteil: Manche sind auch in die Steinzeit zurückgebombt worden. Das gilt nicht nur für die
staatliche Infrastruktur; sondern auch für das Aufkommen einer Steinzeitideologie, des Islamismus. Der IS ist
ein Produkt auch westlicher Interventionen.
({1})
Lüders schreibt weiter - ich zitiere ihn -:
Die westliche Politik glaubt an das Allheilmittel direkter oder indirekter militärischer Intervention ohne Rücksicht auf Verluste. Westliche Politik verkündet Demokratie, verbündet Freiheit und Menschenrechte, akzeptiert aber Wahlergebnisse nur,
wenn der Gewinner genehm ist.
Ich glaube, das sagt eine ganze Menge über die westliche Politik gegenüber der südlichen Hemisphäre aus.
Die wachsenden Flüchtlingszahlen und die wachsende Zahl von Toten im Mittelmeer sind der traurige
Beweis für das Versagen der westlichen Sicherheitspolitik,
({2})
ein Versagen, dem Hunderttausende, mittlerweile sogar
Millionen Menschen zum Opfer gefallen sind - und das
sind keine Europäer.
({3})
Der Glaube an das Militärische plus Doppelstandards
in der Politik führen zur Verelendung und zum Tod in
der dortigen Region. Und der Glaube an das Militärische
plus Doppelstandards in der Politik erhöhen auch die
Gefahr für die innere Sicherheit in Deutschland und in
Europa.
({4})
Die deutsche Beteiligung am US-Drohnenterror via
Ramstein gegenüber Nordafrika und dem Nahen und
Mittleren Osten stellt eine wachsende Gefahr für die innere Sicherheit dar. Die Bundesregierung schließt bis
heute die Augen. Ja, sie leugnet sogar die Bedeutung der
Ramstein Air Base der USA für den US-Drohnenterror.
Nur: Wer mitmacht - und sei es nur die Duldung -,
macht sich auch mitschuldig.
({5})
Die Bundesregierung macht sich mitschuldig - politisch, rechtlich und auch moralisch. Daher fordern wir:
Beenden Sie den Missbrauch des deutschen Territoriums
für den US-Drohnenterror! Schluss mit der Kumpanei
mit den USA! Schluss damit! Beenden Sie es!
({6})
Im Übrigen ist der mit deutscher Unterstützung geführte Drohnenterror auch in Somalia aktiv. Der USDrohnenterror torpediert den zarten Ansatz eines zivilen
Aufbaus.
Ich fasse zusammen:
({7})
Das westliche Sicherheitskonzept ist ein Konzept für
wachsende Unsicherheit und Chaos - global, aber auch
für den Westen. Atalanta ist ein Bestandteil dieses Unsicherheitskonzeptes. Würde heute Atalanta beendet,
würde morgen die Piraterie wieder beginnen. Wie viele
Jahre und Jahrzehnte wollen Sie diese Operation auf
Kosten der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler - allein
im kommenden Jahr werden 61 Millionen Euro dafür
bereitgestellt; diese 61 Millionen Euro, die Sie zahlen
und für solche Abenteuer ausgeben, fehlen woanders und auf Kosten der Soldatinnen und Soldaten weiterlaufen lassen?
Ich danke Ihnen.
({8})
Für die Bundesregierung hat jetzt der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Ralf Brauksiepe das Wort.
({0})
Herzlichen Dank, Herr Präsident. - Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich denke, es macht Sinn, nach diesem letzten irrlichternden Vortrag zur Sache zurückzukommen. Zur Sache ist zu sagen: Vor fünf Jahren lagen
vor der somalischen Küste 47 Schiffe, entführt und festgehalten von somalischen Piraten. Mehr als 600 Seeleute
befanden sich - diese hätten Ihren Vortrag hören sollen,
Herr Kollege Neu - in Geiselhaft auf diesen Schiffen
oder an Land und haben Wochen, nicht selten Monate
unter menschenunwürdigsten Verhältnissen auf ihre
Freilassung gewartet. Heute befindet sich kein Schiff
mehr in der Hand von Piraten. In den Jahren 2014 und
2015 gab es bis zum heutigen Tag insgesamt vier versuchte Piratenüberfälle. Kein einziger war erfolgreich.
Damit wurde der niedrigste Stand seit Beginn der Operation Atalanta erreicht. Was, wenn nicht dies, ist denn
dann eine Erfolgsgeschichte eines friedenschaffenden
Einsatzes der Europäischen Union und der Bundeswehr?
({0})
Seit Beginn dieser Operation wurden insgesamt
179 Schiffe des Welternährungsprogramms und 121 Schiffe
der internationalen Mission der Afrikanischen Union in
Somalia ohne Zwischenfälle durch Einheiten von Atalanta nach Mogadischu begleitet. Auf 121 Schiffen des
Welternährungsprogramms wurde bei ihrer Passage ein
Sicherungsteam von Atalanta an Bord eingeschifft. Die
Operation ist ein Erfolg und nicht die einzige, wohl aber
die bei weitem sichtbarste Mission im Rahmen der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik der
Europäischen Union.
Der vor der Küste von Somalia liegende Golf von
Aden ist die Haupthandelsroute zwischen Europa, der
Arabischen Halbinsel und Asien. Diesen Seeverbindungsweg sicher und offen zu halten, bleibt unverändert
eine wichtige Aufgabe internationaler Sicherheitspolitik
und liegt in unmittelbarem deutschen Interesse wie auch
im Interesse aller über See Handel treibenden Nationen.
Die Marinen der EU-Staaten und der NATO-Staaten koordinieren gemeinsam mit den Marinen vieler anderer
Länder, auch denen Chinas, Russlands, Indiens, Neuseelands oder Südkoreas, ihre Präsenz, um die Passage
durch dieses Seegebiet sicherer zu machen. Allein an der
EU-Mission Atalanta haben sich nicht nur EU-Staaten
beteiligt, sondern unter anderem auch Norwegen, Montenegro, Serbien, Neuseeland und die Ukraine mit eigenen Beiträgen. Mit der geplanten Beteiligung Kolumbiens würde erstmals ein Partner aus Lateinamerika an
Atalanta teilnehmen.
Die immer noch schwach ausgeprägten staatlichen
Strukturen in Somalia sind bislang nicht in der Lage, die
Kontrolle über das Staatsgebiet, das angrenzende Küstenmeer und ebenso über den Golf von Aden effektiv
auszuüben. Der Kollege Annen hat, wie ich finde, auf
sehr anschauliche Weise die Probleme geschildert. Das
hat ja nichts mit „Repressionsapparat“ zu tun, was wir
eben gehört haben. Es geht darum, elementarste Grundformen von Staatlichkeit zu etablieren und daran zu arbeiten, dass sich Menschen ihres Lebens und ihres Eigentums sicher fühlen und langsam einen zivilen
Wiederaufbau in diesem Land starten können. Repression wird nicht von den schwachen staatlichen Strukturen ausgeübt; Repression wird von kriminellen Banden,
wird von Piraten, wird von Mördern ausgeübt, die versuchen, die rechtschaffene Mehrheit der Menschen in
diesem Land zu terrorisieren. Das sind diejenigen, die
Repression ausüben, und nicht die internationale Gemeinschaft.
({1})
Die zuletzt zum Glück niedrige Zahl versuchter Übergriffe auf Handelsschiffe darf in der Tat nicht darüber
hinwegtäuschen, dass die für Überfälle auf See in der
Vergangenheit verantwortlichen kriminellen Netzwerke
an Land weiterhin intakt und in der Lage sind, die Sicherheit der Schifffahrtswege am Horn von Afrika zu
bedrohen. Wenn man an diese Sache intellektuell redlich
herangehen will, dann darf man Ursache und Wirkung
nicht verwechseln. Wir Europäer sind nicht an jedem
Problem schuld, das irgendwo auf der Welt besteht. Wir
tragen in vielen Fällen zur Lösung bei und sind nicht die
Ursache der Probleme.
({2})
Solange der Rückgang der Piraterie nicht unumkehrbar
ist - genau darauf weisen wir ja hin - und die Erfolge
auf See noch nicht durch handlungsfähige staatliche
Strukturen an Land gesichert werden können, bleibt die
Präsenz internationaler Seestreitkräfte nach übereinstimmender Bewertung der EU und des VN-Sicherheitsrats
weiterhin erforderlich.
Vor diesem Hintergrund hält die EU an ihrem Engagement zur Bekämpfung der Piraterie am Horn von
Afrika weiterhin fest und hat ihr Mandat der Operation
Atalanta bis Dezember 2016 verlängert.
Obwohl der Schwerpunkt von Atalanta weiterhin der
Schutz der Schiffe des Welternährungsprogramms, der
AU-Mission AMISOM auf See sowie die Pirateriebekämpfung bleibt, erwähnt das Mandat auch ausdrücklich
die Unterstützung für andere EU-Instrumente am Horn
von Afrika als weitere Aufgabe im Rahmen freier Kapazitäten. Gerade darin kommt die Einbindung Atalantas
in den umfassenden Ansatz der EU am Horn von Afrika
sichtbar zum Ausdruck.
Für die nachhaltige Stabilisierung und Entwicklung
Somalias wird es aber in erster Linie auf die Instrumente
der zivilen Konfliktnachsorge und der Entwicklungszusammenarbeit ankommen. Genau darin ist Atalanta eingebunden.
Unsere Beteiligung an der Operation soll bis zum
31. Mai 2016 mit einer Reduzierung der personellen
Obergrenze von 1 200 auf 950 Soldatinnen und Soldaten
fortgesetzt werden. Mit dieser Reduzierung tragen wir
den erreichten Erfolgen Rechnung, genauso wie der weiterhin vorhandenen Notwendigkeit, die Piraterie einzudämmen. Diese Reduzierung ist von daher auch aus militärischer Sicht folgerichtig.
Das vorliegende Mandat bleibt im Wesenskern bei
dem, was wir mit unseren Partnern schon für das letzte
Mandat der EU vereinbart und in unser Mandat eingebracht haben. Wir wollen im Einklang mit unseren
Partnern die Präsenz auf See aufrechterhalten, um den
augenblicklich anhaltenden Abschreckungseffekt zu verstetigen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind dabei nicht auf der Seite irgendeiner Partei dort, sondern es
gibt dort autorisierte staatliche Strukturen, die es zu stärken gilt. Es gibt einen Partner in der Regierung, der auf
uns Hoffnung setzt, der auf Kooperation mit den Nachbarn, auf Kooperation mit der internationalen Gemeinschaft setzt. Das ist nicht irgendein Partner, den wir unterstützen. Er ist für stetige staatliche Strukturen. Wir
unterstützen ihn deswegen, weil wir letztlich bei unseren
Einsätzen auf der Seite der Opfer und der Seite der
Wehrlosen stehen, die geschützt werden müssen vor den
Übergriffen von Mördern, von gewissenlosen Verbrechern, die die Menschen als Geiseln nehmen wollen, die
nicht nur im politischen, nicht nur im übertragenen
Sinne, sondern im wahrsten Sinne des Wortes die Menschen zu Geiseln machen wollen. Das dürfen wir in keiner Weise akzeptieren. Deswegen sind wir dort. So sollten wir es in Zukunft weiter halten. Dafür bittet die
Bundesregierung um Ihre Unterstützung.
Danke.
({3})
Die Aussprache wird jetzt fortgeführt durch den Kollegen Omid Nouripour für Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr
Staatssekretär, Sie haben völlig recht: Nicht die Europäer sind an allem schuld, was auf der Welt passiert.
Aber wenn europäische Trawler die Küstengewässer
auch vor Somalia leerfischen und damit den Fischern das
Überleben erschweren, dann hat das selbstverständlich
etwas mit unserer Verantwortung zu tun. Das sollten wir
auch sagen.
({0})
Natürlich sind die Raubfischerei und das Leerfischen der
Meere in diesen Regionen der Welt ein Riesenproblem
und eine Ursache für die Verelendung der Menschen.
Deswegen muss man zugeben, dass Atalanta eine Symptombekämpfung ist, aber eine notwendige und, wie ich
finde, auch eine erfolgreiche.
Es ist völlig zu Recht gesagt worden, dass es seit
längerem schon Gott sei Dank keine erfolgreichen Piratenangriffe mehr gegeben hat. Das erspart unglaublich
vielen Seeleuten Leid. Es ist notwendig, dass die internationalen Seewege frei sind. Für uns und meine Fraktion ist es das Wichtigste, dass gerade in einem so armen
Land, in dem sich eine so unglaublich große humanitäre
Katastrophe abspielt, die humanitäre Hilfe weiter ungestört durchgeführt werden kann.
({1})
Herr Kollege Dr. Neu, bei der Ursachenanalyse sind
wir uns einig. Ich habe meinen Marx auch gelesen.
({2})
Aber Sie müssen erst einmal erklären, wie Sie die
200 000 mangelernährten Kinder in diesem Land versorgen wollen. Erst dann können Sie sich um die Produktionsmittel weltweit kümmern.
({3})
Es gibt bei Atalanta auch Fortschritte. Es gibt Veränderungen im Mandat. Es gibt eine Absenkung der Mandatsobergrenze. Es ist richtig, dass bei Raubfischerei
endlich Daten gesammelt werden, mit denen man arbeiten kann, sodass man eine Grundlage hat. Das alles ist zu
begrüßen.
Wir haben uns vor zwei Jahren und auch im letzten
Jahr enthalten, weil eine Landkomponente hinzugekommen ist, die aus unserer Sicht eine immense Eskalationsgefahr birgt. Auch wenn diese Komponente im letzten
Jahr nicht zum Einsatz gekommen ist, wissen wir, dass
sie eingesetzt werden kann. Das hat Potenziale für eine
militärische Eskalation der Situation. 2013 fanden die
Sozialdemokraten, dass wir damit recht haben. Wir
enthielten uns, Sie haben abgelehnt. 2014 haben Sie gesagt: Ja, die Grünen haben recht; deshalb werden wir im
nächsten Jahr dafür sorgen, dass die Landkomponente
aus dem Mandat gestrichen wird. - Sie ist nicht herausgestrichen worden. Ich bin gespannt, wie Sie abstimmen
werden. Wir werden uns weiterhin enthalten. Es ist einfach fragwürdig, wenn eine Option in das Mandat hineingeschrieben wird, aber nicht gesagt werden kann,
warum, und wenn vor allen Dingen potenzielle Eskalationsmechanismen nicht ausgeklammert werden.
In Somalia gibt es selbstverständlich auch Erfolge:
Al-Schabab ist ein Stück weit zurückgedrängt worden.
Es gibt aber auch sehr verheerende Rückschläge: Immer
wieder gab es Anschläge auf internationale Einrichtungen. Wir wissen, dass die Vereinten Nationen vor gar
nicht allzu langer Zeit einige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter verloren haben. Wir sind mit unseren Gedanken
bei den Familien dieser Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter
und gedenken der Verstorbenen. Wir haben in diesen Debatten ein, wie ich finde, berechtigtes Ritual: dass wir
immer den deutschen Soldatinnen und Soldaten für ihren
Dienst danken. Weil wir sie entsenden, finde ich das
richtig. Ich möchte diese Gelegenheit nutzen, gerade
weil die Zeiten so schwierig sind und Somalia nicht das
einzige Land ist, in dem das passiert ist, um darauf hinzuweisen, dass wir sehr dankbar sind für die unglaublich
aufopferungsvolle Arbeit, die die Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter der Vereinten Nationen in Ländern wie Somalia leisten. Das ist eine unglaublich große Leistung.
Wir sind diesen Menschen zu Dank verpflichtet.
({4})
Wenn man Somalia stabilisieren will - bis dahin ist es
noch ein ganz weiter Weg -, muss man fragen, welche
Prioritäten man setzt. Die Priorität der Bundesregierung
liegt zurzeit darin, dass sie sagt: 2016 wird gewählt. Das kann man machen. Aber man muss auch wissen,
dass von den für die humanitäre Hilfe in Somalia notwendigen Mitteln - das haben die UN berechnet - gerade einmal 11 Prozent zusammengekommen sind. Das
beißt sich, und es ist angesichts dessen relativ wohlfeil,
zu sagen: Nächstes Jahr müsst ihr gefälligst wählen, und
wir werden schauen, ob wir bis dahin die notwendigen
Mittel für die humanitäre Hilfe zusammenbekommen
oder nicht. - Ich finde, es ist Aufgabe der Bundesregierung, einen Beitrag dazu zu leisten und bei den internationalen Partnern zu trommeln, damit die Gelder endlich
zusammenkommen, damit dieses Land eine Chance hat,
auf die Beine zu kommen.
Zu Libyen fällt mir ein: Atalanta gilt ja als Modell für
Libyen, als Beispiel, wie man in Libyen mit den Schleuserbooten umgehen könnte. Ich glaube, dass das in
mehrfacher Hinsicht falsch ist. Zum einen wäre es
falsch, weil die Flüchtlingsfrage nicht dadurch beantwortet werden kann, dass man Schleuserboote versenkt.
Wir brauchen keine militärische Antwort, sondern politische Antworten. Ein solches Vorgehen wäre zum anderen auch deswegen falsch, weil niemand erklären kann,
wie das militärisch funktionieren soll: Wie will man
denn beurteilen, welches Boot ein Fischerboot ist, welches Boot ein Schleuserboot ist und welches Boot tagsüber ein Fischerboot und abends ein Schleuserboot ist?
Vor allem aber wäre das vor dem Hintergrund dessen
- so haben Sie es ja beschrieben -, was Atalanta bisher
geleistet hat, nicht das richtige Signal.
Ich möchte noch einen letzten Punkt bezüglich Somalia erwähnen. In den letzten Wochen sind - das wäre vor
einem Jahr undenkbar gewesen - 5 000 Menschen nach
Somalia geflüchtet. Somalia ist ein fürchterlich armes
Land mit chaotischen Verhältnissen; aber die Menschen
flüchten trotzdem aus dem Jemen nach Somalia, um zu
überleben. Da kann man sich vorstellen, wie die Situation im Jemen sein muss. An dieser Stelle möchte ich
Folgendes hinzufügen, wenn ich darf, Herr Präsident:
Die Bundesregierung sollte diese ohrenbetäubende Stille
endlich beenden und ihre Stimme erheben. Wenigstens
sollte sie die Forderung des UN-Generalsekretärs nach
einem sofortigen Waffenstillstand im Jemen und einem
Stopp der Bombardements, mit denen das Land gerade
in die Steinzeit zurückgebombt wird, unterstützen.
({5})
Auf diese Art und Weise hilft man dem Jemen nicht. Auf
diese Art und Weise stabilisiert man die Region nicht.
Erst recht hilft man auf diese Art und Weise nicht Somalia.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({6})
Der Kollege Philipp Mißfelder spricht jetzt für die
CDU/CSU.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
({0})
- Liebe Kolleginnen und Kollegen, verehrte Kollegin
Roth, ich habe am Dienstag mit Herrn Nouripour an einer Besprechung teilgenommen. Alle dort waren sich einig: Es gibt auf internationaler Ebene natürlich große
Zweifel am Erfolg der saudischen Operation im Jemen,
gar keine Frage. Aber wenn man so tut, als wäre das,
was Saudi-Arabien gerade im Jemen macht, ganz falsch,
dann möchte ich das zumindest richtigstellen.
({1})
- Jetzt warten Sie doch erst einmal ab, was ich zu sagen
habe, Herr Kollege Nouripour, bevor Sie anfangen, hier
herumzukrakeelen. Ich antworte erst. Dann können Sie
immer noch etwas sagen.
({2})
Ich sage Ihnen ganz klar: Die Alternative war doch
nicht, nichts zu tun. Die Frage beim Jemen war, ob man
das vollständige Abgleiten dieses Landes in den islamistischen Terrorismus zulässt oder nicht. Das ist keine
Mission, die wir in irgendeiner Form unterstützen oder
wo wir operationell tätig sind. Vielmehr hat sich SaudiArabien entschlossen, dort, vor seiner Haustür, tätig zu
werden. Das ist der Hintergrund dieser Diskussion. Das
war die Alternative. Die Alternative war nicht, dass
Deutschland in Saudi-Arabien anruft und sagt: Bitte,
lasst das mal. - Die Entscheidung war schon getroffen
worden, es zu tun.
Sie wissen selber genauso gut wie ich, wie der außenpolitische Kontext dieser Entscheidung war, gar keine
Frage. Dass das mit Atalanta gar nichts zu tun hat, liegt
doch auch auf der Hand.
({3})
- Das hat nichts damit zu tun, überhaupt nichts!
({4})
Im Übrigen hat von uns hier nie jemand den Anspruch erhoben, mit Atalanta die Probleme Afrikas zu
lösen; Staatssekretär Brauksiepe hat das dankenswerterweise gesagt. Das machen wir auch nicht mit militärischen Maßnahmen. Das Gegenteil hat auch nie jemand
von uns behauptet. Es ging bei Atalanta - deshalb finde
ich es ziemlich wohlfeil, Atalanta in einen Zusammenhang mit den Problemen Afrikas insgesamt zu stellen 9866
darum, die Handelswege und damit auch die vitalen Interessen Deutschlands als Exportnation zu sichern.
({5})
Das wird mit Atalanta sehr erfolgreich getan. Deshalb
setzen wir dieses Mandat auch fort und werben für die
Verlängerung.
({6})
Dass wir uns mehr um Afrika kümmern müssen, dass
wir die Probleme im Zusammenhang mit Krieg, Vertreibung und Flüchtlingswellen besser in den Griff bekommen müssen, liegt auf der Hand. Dass man da viel zu
lange weggeschaut hat, ist doch auch klar. Es war aber
auch in der rot-grünen Zeit so - das möchte ich hier einmal erwähnen -, dass man Deals mit nordafrikanischen
Regierungen abgeschlossen hat. Das geschah in der gesamten Geschichte der Bundesrepublik Deutschland,
aber insbesondere während der rot-grünen Regierung:
Otto Schily ist zu Gaddafi gefahren und hat - auch mit
Zustimmung der Grünen - Deals mit ihm gemacht, um
das Problem einfach abzuschotten und das Thema zu
ignorieren. Jetzt, wo Gaddafi weg ist, kommen das Problem und die Schwemme zu uns.
({7})
Das ist der tiefere Grund dafür, warum wir in der Vergangenheit damit nicht so häufig befasst waren. Deshalb
müssen wir uns natürlich stärker um das Problem kümmern.
Niemand von uns hat gesagt, dass man es militärisch
lösen kann, sondern wir sind der festen Überzeugung,
dass das nur über bessere Entwicklungskooperation bzw.
wirtschaftliche Entwicklung geht. Das wurde hier klar
gesagt. Dafür war die Bundeskanzlerin beim Sondergipfel der Europäischen Union. Wir sind dafür tätig. Es gibt
da kein dröhnendes Schweigen, sondern da ist ganz viel
Aktivität: seitens unseres Bundesaußenministers, seitens
Gerd Müllers, unseres Entwicklungsministers, sowie auch
vonseiten der Spitzenposition, also Angela Merkels. Ich
finde, dass das auch richtig ist. Wir sollten die Regierung
dabei unterstützen.
({8})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Atalanta ist eine erfolgreiche Mission. Wir haben oft die Schwierigkeit,
dass viele Menschen in Deutschland - aus meiner Sicht
sicher zu Recht - kritische Fragen stellen, die wir als
Parlament hier auch diskutieren; denn viele Menschen in
Deutschland sind grundsätzlich gegenüber Auslandseinsätzen der Bundeswehr sehr kritisch. Viele fragen: Warum soll Deutschland eigentlich eine so aktive Rolle
spielen?
Wir wollen nicht, dass Auslandseinsätze der Bundeswehr ein reines Elitenprojekt sind, bei denen der Bundestag, abgekoppelt von der Stimmungslage in der Bevölkerung, über die Köpfe der Menschen hinweg
entscheidet. Atalanta ist deshalb ein so gutes Beispiel,
weil die Menschen dieses Mandat unterstützen, weil es
in der Bundeswehr anerkannt ist, weil Aufwand und
Nutzen in einem klaren Verhältnis zueinander stehen,
weil man es gut begründen kann und weil wir in der Vergangenheit enorme Erfolge - nämlich das Zurückdrängen der Piraterie - erzielt haben. Das ist ein erfolgreiches Mandat. Deshalb werben wir für die Fortsetzung.
Herzlichen Dank.
({9})
Die Debatte wird durch den Kollegen Dirk Vöpel von
der SPD fortgesetzt.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Der Beitrag der deutschen Marine zur EU-geführten Operation NAVFOR bzw. Atalanta gehört neben
„Resolute Support“ und KFOR zu den großen Auslandseinsätzen der Bundeswehr. Das gilt für die Iststärke von
knapp über 300 Soldatinnen und Soldaten. Es gilt trotz
Reduzierung weiterhin für die Mandatsobergrenze, die
künftig immer noch bei 950 Bundeswehrangehörigen
liegen wird. Und das gilt auch für die Kosten: 61,1 Millionen Euro für ein weiteres Jahr Anti-Piraterie-Einsatz
am Horn von Afrika. Das ist viel Geld. Aber es ist gut
angelegtes Geld, weil diese Mission außerordentlich erfolgreich ist und einen hohen sicherheitspolitischen Ertrag liefert.
Im Unterschied zu manch anderem Auslandseinsatz
lässt sich der Grad der Zielerfüllung bei dieser Operation
sehr leicht ermitteln. Noch vor wenigen Jahren galten
die Gewässer vor den somalischen Küsten als die gefährlichsten der Welt. Angriffe von quasi soldatisch gedrillten und sehr professionell organisierten Piratenbanden
auf die Zivilschifffahrt waren an der Tagesordnung.
Diese Piraten hatten es dabei nicht nur auf die Schiffe
und ihre Fracht abgesehen, sondern sie entführten häufig
auch Besatzungsmitglieder, um Lösegelder zu erpressen.
Die Situation eskalierte schließlich so weit, dass selbst
die über die See transportierten Hilfslieferungen von
UNO und Afrikanischer Union nach Somalia akut gefährdet waren.
Heute können wir feststellen: Multinationale Operationen wie Atalanta und die NATO-Mission „Ocean
Shield“ haben im Zusammenwirken mit den Seestreitkräften vieler anderer Nationen dafür gesorgt, dass die
Piraterie rund um das Horn von Afrika drastisch zurückgegangen ist. Nach Angaben des Maritimen Büros der
Internationalen Handelskammer, die seit 1992 ein rund
um die Uhr besetztes Meldezentrum für Piraterie unterhält, ist die Zahl der registrierten Angriffsversuche von
237 im Jahr 2011 auf weniger als 10 im Jahr 2014 gesunken. Seit 2012 konnten die Piraten kein einziges Schiff
dauerhaft unter ihre Kontrolle bringen. Der Hauptauftrag
der Mission, der Schutz der Schiffe des Welternährungsprogramms der Vereinten Nationen, konnte bisher zu
100 Prozent erfüllt werden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, trotz dieser unbestreitbaren Erfolge: Entwarnung kann nicht gegeben
werden. Es wäre reichlich verfrüht, wenn nicht gar naiv,
anzunehmen, das Geschäftsmodell der somalischen Piratennetzwerke sei bereits endgültig zerstört. Die Piraten
sind nicht weg, sie warten ab. Sie spekulieren darauf,
dass die Intensität der Seeraumüberwachung und der
Fahndungsdruck durch die internationale Gemeinschaft
in absehbarer Zeit nachlassen. Mit anderen Worten: Die
Situation ist unter Kontrolle, aber sie ist keineswegs unumkehrbar. Die Kluft zwischen der himmelschreienden
Armut an Land und dem Waren- und Rohstoffreichtum,
der Tag für Tag an der Küste vorbeischwimmt, ist einfach zu groß.
Selbstverständlich dürfen wir die erfolgreiche Bekämpfung eines Symptoms nicht mit einer gelungenen
Therapie der Ursachen verwechseln. Eine wirklich nachhaltige Lösung des Problems kann nicht mit militärischen Mitteln und auch nicht auf See erreicht werden.
Das geht nur mit einer tiefgreifenden Verbesserung der
humanitären Lage und der Lebensbedingungen der Menschen an Land.
Das wussten übrigens schon die alten Römer. Bei der
Bekämpfung der großen Seeräuberplage im Mittelmeer
im Jahre 67 vor Christus setzte der römische Feldherr
Pompeius zwar eine große Flotte ein und ließ auch einige Piratenführer ans Kreuz schlagen. Die viel wirksamere Maßnahme bestand aber in der Ansiedlung von
120 000 Seeräubern auf fruchtbaren Böden entlang der
Südküste der heutigen Türkei - auf dass sie ein besseres
Leben hätten, wie ein römischer Historiker schreibt.
Man kann das durchaus als antike Variante eines umfassenden Ansatzes betrachten.
Die Operation Atalanta ist Teil des umfassenden Ansatzes der EU. In diesem Sinne werden wir den Antrag
der Bundesregierung auf Verlängerung des Mandats in
den Ausschüssen beraten.
Vielen Dank.
({0})
Vielen Dank, Herr Kollege Vöpel. - Abschließender
Redner in dieser Aussprache ist der Kollege Florian
Hahn für die CDU/CSU.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Die Operation Atalanta ist eine Erfolgsgeschichte; das kann man gar nicht oft genug sagen. Die
Zahlen sind eindrücklich. Während wir in der Hochphase der Piraterie, 2011, insgesamt 251 Piratenangriffe
hatten und allein 30 Schiffe und 900 Menschen in der
Gewalt der Piraten waren, gab es 2014 keinen einzigen
erfolgreichen Piratenangriff mehr. Kein Besatzungsmitglied der verschiedenen Handelsschiffe war der Folter,
den Quälereien der Piraten mehr ausgesetzt. Im Gegenteil: Alle Schiffe des Welternährungsprogramms haben
ihre Bestimmungshäfen erreichen können.
Atalanta trägt aber nicht nur zur Eindämmung der
Piraterie bei, sondern es stabilisiert eben auch ein krisengeschütteltes Somalia. Atalanta ist ein Leuchtturm, um
zu veranschaulichen, wie europäische und internationale
Zusammenarbeit funktionieren kann und wie wir in einem umfassenden vernetzten Ansatz eine fragile Region
unterstützen können.
Erfolge wie bei Atalanta sind keine Selbstverständlichkeit. Umso wichtiger ist es, dass wir diese erfolgreiche Mission nun nachhaltig fortsetzen. Ein vorzeitiges
Ende, wie von den Linken gefordert, wäre fatal. Die kriminellen Strukturen an Land sind bei weitem noch nicht
zerstört. Wenn wir jetzt gehen, werden die Piraten mühelos alte Muster wieder aufnehmen, die Zahl der Überfälle wird rapide steigen, und wir stehen wieder am Anfang unseres Engagements. Erst dann, wenn die Piraterie
über einen längeren Zeitraum verschwunden ist, das
heißt, wenn die organisierte Kriminalität darin kein attraktives Geschäftsmodell mehr sieht, kann sich die Region um das Horn von Afrika entwickeln.
Wir wissen, was es bedeuten kann, militärisches, humanitäres Engagement zu früh zu beenden und ein instabiles Land sich selbst zu überlassen. Wir sollten diesen
Fehler in Somalia nicht machen.
({0})
Auch die Handelsschifffahrer fordern, obwohl sie mittlerweile bewaffnete Sicherheitsteams an Bord haben,
eine Verlängerung der Mission. Ich kann nur sagen: Bei
einem derart großen Seegebiet von 3,7 Millionen Quadratkilometern ist der zusätzliche Schutz durch Atalanta
unerlässlich.
Aufgrund der Erfolge bei der Reduzierung von Piratenübergriffen ist jedoch eine erneute Reduzierung der
Personalobergrenze auf 950 Soldatinnen und Soldaten
möglich. Für den kommenden Zeitraum wird allein die
Fregatte „Bayern“ den deutschen Beitrag übernehmen.
Als Redner der CSU und bayerischer Abgeordneter
möchte ich die Gelegenheit nicht ungenutzt lassen, einen
besonderen Gruß an die Fregatte „Bayern“ zu senden.
Wie Sie wissen, hat der Freistaat Bayern seit der Schiffstaufe 1994 die Patenschaft für die „Bayern“ übernommen, die uns daher in ganz besonderer Weise am Herzen
liegt.
({1})
Die „Bayern“ ist im Rahmen des Einsatzes zurzeit
dem Kommando eines schwedischen Konteradmirals
unterstellt, der den Verband vom niederländischen Führungsschiff „Johan de Witt“ leitet.
({2})
Zum Verband gehören sechs Schiffe aus Frankreich, Italien, den Niederlanden, Spanien und Deutschland.
({3})
- Und Bayern, ganz genau.
({4})
Die Operation Atalanta zeigt somit auf eindrucksvolle
Weise, dass eine erfolgreiche Zusammenarbeit der wichtigsten Handelsnationen der Erde möglich ist. Der
Schutz freier Seewege ist gerade für die etablierten wie
auch für die aufstrebenden Wirtschaftsnationen in Europa, Asien und Amerika essenziell. Das liegt in unserem ureigenen Interesse.
Die Operation Atalanta ist nicht nur ein gutes Beispiel
für den Erfolg eines nationenübergreifenden Einsatzes,
sondern auch für einen ressortumfassenden Ansatz. Unser Engagement am Horn von Afrika, ja für den ganzen
Kontinent Afrika, kann nur erfolgreich sein, wenn unser
gesamtes außenpolitisches Instrumentarium abgestimmt
zum Einsatz kommt.
In dieser Frage sind wir uns übrigens mit unseren europäischen Partnern einig. Mit ihrem umfassenden Ansatz für Somalia verfolgt die Europäische Union ebenfalls die Idee des integrierten Handelns. Dabei steht die
Förderung afrikanischer Fähigkeiten und Verantwortungsübernahme im Mittelpunkt. Das militärische Engagement dient als Rückversicherung zur See, die es der
EU ermöglicht, verschiedene Instrumente komplementär
zum Einsatz zu bringen.
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, es darf eben
nicht sein, dass die Menschen in Somalia immer nur sehen, wie der Wohlstand der Welt an ihnen vorbeifährt
und das eigene Land in Armut und Hoffnungslosigkeit
versinkt. Kriminalität und Piraterie können nur mit vereinten und umfassenden Kräften bekämpft werden. Wir
sollten dazu weiterhin unseren Beitrag leisten. Atalanta
ist ein Teil davon.
Herzlichen Dank.
({5})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/4769 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Nicole
Gohlke, Sigrid Hupach, Sabine Zimmermann
({0}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Gute Arbeit in der Wissenschaft - Stabile
Ausfinanzierung statt Unsicherheiten auf
Kosten der Beschäftigten und Wissenschaftszeitvertragsgesetz grunderneuern
Drucksache 18/4804
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Nicole Gohlke für die Fraktion Die Linke.
({1})
Danke, Frau Präsidentin! - Kolleginnen und Kollegen! Die Linke hat das Thema „Gute Arbeit in der Wissenschaft“ heute auf die Tagesordnung gebracht, weil
wir die neue Betriebsamkeit, die die Bundesregierung
nach doch recht langer Zeit des Stillstandes jetzt endlich
entfaltet, gerne mit ein paar guten Anregungen begleiten
wollen, nicht dass wir am Ende wieder mit ähnlichen
Halbherzigkeiten und Flickschusterei dastehen, wie wir
es leider schon beim BAföG und auch beim Kooperationsverbot erlebt haben.
({0})
Tatsächlich sind die Missstände im Wissenschaftssystem so groß, dass man sie nicht länger vom Tisch wischen kann: befristete Beschäftigung bei weit über
80 Prozent der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, Vertragslaufzeiten von unter einem Jahr bei 50 Prozent der Beschäftigten, Teilzeit auf halben, Viertel- und
Achtelstellen oder die Gefahr, den Arbeitsplatz zu verlieren, weil man ein Kind bekommen hat und auf einer
drittmittelfinanzierten Stelle ist. All das, Kolleginnen
und Kollegen, macht Lebensperspektiven zunichte, und
es erschwert gutes wissenschaftliches Arbeiten.
({1})
Das muss man verändern.
Wenn es schon so weit ist, dass sich sogar die
Seehofer-Regierung in Bayern dazu genötigt fühlt, neue
Grundsätze zum Umgang mit Befristungen vorzulegen,
und das Präsidium der Max-Planck-Gesellschaft eine
neue Richtlinie mit Nachbesserungen für Promovierende
beschließt, dann müssen die Zustände wirklich schlimm
und der politische Druck wirklich groß sein. Aber all
diese neuen Richtlinien und Grundsätze lösen nicht das
grundsätzliche Problem. Sie gelten nicht für alle Beschäftigtengruppen, es gibt rechtliche Lücken, und es
sind wieder einmal nur freiwillige Selbstverpflichtungen. Nichts ist rechtlich verbindlich geregelt. Jetzt ist es
an der Bundesregierung, endlich die Grundlagen für gute
Arbeit in der Wissenschaft zu schaffen. Bringen Sie dabei endlich beide Aspekte zusammen, die dafür nötig
sind, nämlich stabile Finanzen für die Hochschulen und
die wissenschaftlichen Einrichtungen einerseits und die
rechtlichen Voraussetzungen für gute Arbeitsbedingungen andererseits.
({2})
Die letzten Jahre haben bewiesen, dass auf freiwilliger Basis nichts passiert. Im Gegenteil: Das Wissenschaftszeitvertragsgesetz von 2007 ist sogar dazu benutzt worden, selbst das wissenschaftsunterstützende
Personal zu befristen. Das muss man sich einmal vorstellen und auf der Zunge zergehen lassen: dass mittlerweile
von der Hausmeisterei über die Verwaltung und die ITAbteilung bis hin zur promovierten Wissenschaftlerin
kaum jemand mehr eine unbefristete Stelle hat, weil die
Leitungen sagen, das System müsse flexibel sein. Kolleginnen und Kollegen, was die einen flexibel nennen, ist
für die anderen ein prekäres Leben und eine unsichere
Zukunft, und es ist schlicht und ergreifend Ausbeutung.
Das muss sich dringend ändern.
({3})
Das Wissenschaftszeitvertragsgesetz muss Mindeststandards für gute Arbeit definieren, mit Mindestvertragslaufzeiten von Arbeitsverträgen, mit einer Verhinderung von Kettenbefristung, mit finanziell
abgesicherten Qualifizierungsphasen und einer echten
familienpolitischen Komponente. Wenn sich Ministerin
Wanka dann mit Sätzen wie: „Befristete Beschäftigungsverhältnisse liegen in der Natur der Wissenschaft“,
({4})
oder der Ansicht, dass die Einschränkungen von Befristungsmöglichkeiten mehr Schaden anrichteten, als dass
sie Nutzen stifteten, in die Debatte einbringt, dann kann
ich nur sagen: Das Gegenteil ist der Fall. Nicht Flexibilisierung und Deregulierung, sondern hervorragende Arbeitsbedingungen ermöglichen wissenschaftliches Arbeiten auf hohem Niveau, und darauf muss eine Reform
des Gesetzes abzielen.
({5})
Wir brauchen eine verlässliche und nachhaltige Finanzierung, gerade an den Hochschulen.
({6})
Aber statt endlich die Unterfinanzierung zu beenden,
gibt es wieder nur befristete Pakte. Nicht nur der Hochschulpakt 2020 ist wieder befristet und - man muss es
sagen - leider unterdimensioniert. Auch sonst bleibt alles beim Alten, zum Beispiel bei der Exzellenzinitiative.
Jetzt streitet die Große Koalition, was unter Exzellenz
eigentlich zu verstehen ist. Während man bei der Union
anscheinend gar nicht genug bekommt von Elite und die
bisherige Spitzenförderung auf noch weniger Leuchttürme verengen will, sagt die SPD dann wirklich nett
klingende Sätze wie: Man soll Spitze und Breite nicht
gegeneinander ausspielen.
({7})
Das klingt sehr gut, ist aber nicht ehrlich; denn eines ist
doch wohl klar: Wenn Sie die Breite nur unzureichend
finanzieren, geht eine Entscheidung für Spitzenförderung natürlich zulasten der Breite. So viel Ehrlichkeit
gehört dann schon dazu.
({8})
Kommen wir zum Thema Planungssicherheit. Bis Dezember vergangenen Jahres war es unklar, ob es überhaupt mit dem Exzellenzprogramm weitergeht. Frühestens im nächsten Jahr wird dann der Rahmen klar sein.
Dann müssen die Hochschulen 2017 wieder in einen Bewerbungs- und Wettbewerbsaktionismus verfallen, um
an dringend benötigtes Geld zu kommen. Der entscheidende Punkt ist doch: Eine Finanzierung, die auf Pakte
und auf leistungsorientierte Mittelvergabe setzt, verhindert Planungssicherheit.
({9})
Wir brauchen endlich eine öffentliche Grundfinanzierung.
({10})
- Wenn Sie glauben, dass diese BAföG-Millionen unendlich vermehrbar sind, dann haben Sie ein Problem
mit dem Rechnen.
({11})
- Was wollen Sie damit noch alles finanzieren? Unbefristete Stellen in der Wissenschaft, soziale Infrastruktur,
studentischen Wohnraum, Kitaplätze? Das alles wollen
Sie damit finanzieren? Entschuldigung, das ist wirklich
nicht solide.
({12})
Jetzt soll es noch einen Pakt für den wissenschaftlichen Nachwuchs geben. Es ist auf jeden Fall sehr ehrenhaft - das muss man erst einmal sagen -,
({13})
dass die SPD dem Koalitionspartner etwas abtrotzen
will. Ich nehme an, das hat er nicht ganz freiwillig gemacht. Aber wenn man das einmal umrechnet, dann
stellt man fest, dass mit den dafür geplanten Mitteln maximal 2 000 neue Stellen geschaffen und ausfinanziert
werden können. Wenn wir nun sehr optimistisch annehmen, die geschaffenen Stellen würden wirklich unbefristet weiterlaufen, wären das dennoch weniger als 1 Prozent mehr unbefristet Beschäftigte an den Hochschulen.
Das bedeutet schlicht: Es bleibt bei über 80 Prozent befristet Beschäftigten.
({14})
Um es ganz klar zu sagen: Eine Offensive für den
wissenschaftlichen Nachwuchs darf nicht am Ende zur
Ausweitung befristeter Beschäftigung führen. Wir brauchen langfristige Stabilität, wir brauchen sie sofort und
nicht erst in zwei oder drei Jahren.
Vielen Dank.
({15})
Das Wort hat die Kollegin Alexandra Dinges-Dierig
für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Frau Gohlke, ich versuche jetzt einmal, das Thema
mehr in Gänze zu erfassen. Erst einmal vielen Dank,
dass Sie den Antrag gestellt haben; denn er gibt uns die
Möglichkeit, hier und heute dieses für den Standort
Deutschland so wichtige Thema anzudebattieren. Es
wird nicht die letzte Debatte sein, das wissen wir; denn
wir stehen, wenn es darum geht, etwas mehr zu tun, erst
am Anfang unserer Überlegungen.
({0})
Deshalb finde ich es gut, dass wir das jetzt hier am Anfang debattieren.
({1})
Was mich in Ihrem Antrag ein bisschen erschreckt
hat, war Folgendes: Wenn wir alles, was Sie in Ihrem
Antrag geschrieben haben, morgen umsetzen würden,
dann würde sich das gesamte Wissenschaftssystem auf
einen Schlag verändern, aber leider nicht zum Guten,
sondern zum Schlechten.
({2})
Ich würde das ganz gerne an einigen Beispielen
- neun Minuten sind zwar lange, aber doch wiederum
nicht so lange - erklären. Zunächst zum Wissenschaftszeitvertragsgesetz. Sie fordern in Ihrem Antrag eine Vertragslaufzeit von 24 Monaten für Wissenschaftlerinnen
und Wissenschaftler in der Qualifizierungsphase ohne
unbürokratische Ausnahmen. Sie fordern weiterhin - das
hat mich dann doch ein bisschen zum Durchschnaufen
gebracht - tatsächlich die Abschaffung der sachgrundlosen Befristung, die wir jetzt in einem Zeitraum von
12 oder auch 15 Jahren haben, aber eingeschränkt nach
bestimmten Kriterien. Wissen Sie eigentlich, was das bedeutet, wenn Sie das in der Gesamtheit betrachten?
({3})
Wenn ein junger Wissenschaftler oder eine junge
Wissenschaftlerin seine bzw. ihre Promotion nicht in der
Regelzeit abschließt und der Vertrag ausläuft, dann
dürfte er bzw. sie in Zukunft nicht so einfach eine Verlängerung bekommen. Nur weil sich die Promotion verzögert, aus welchen Gründen auch immer, befinden sich
diese jungen Wissenschaftler in einer völlig unsicheren
Position. Und dann könnte es ja auch noch sein, dass irgendwann eine Anschlussbeschäftigung - sogar eine unbefristete - in Aussicht steht, zwischen der Promotionszeit und dem Beginn der unbefristeten Beschäftigung
aber ein Loch entsteht. Für diesen Fall gibt es jetzt Überbrückungsverträge. Die wären nach Ihrem Modell nicht
mehr möglich, die wären dann alle obsolet. Das geht
nicht.
({4})
Der nächste Punkt, den Sie fordern - immer noch in
Verbindung mit dem Wissenschaftszeitvertragsgesetz -:
Sie wollen, dass mit ein und demselben Arbeitgeber nur
noch zwei aufeinanderfolgende Verträge abgeschlossen
werden dürfen. Das heißt also: Wenn jemand als Postdoc
einen Vertrag hat und schon eine Verlängerung bekommen hat, wäre es für ihn nicht mehr möglich, für seine
Universität Drittmittel einzuwerben, weil er selber keine
Chance mehr hätte, einen Anschlussvertrag zu bekommen; denn das wäre der dritte Vertrag, und das wollen
Sie verhindern.
Jetzt frage ich Sie: Wir wollen doch, dass die jungen
Wissenschaftler aus eigenem Antrieb heraus, mit eigenen Perspektiven ihre eigenen Forschungsprojekte
umsetzen. Das würden Sie mit den Regelungen, die Sie
vorschlagen, verhindern. Das lassen wir nicht zu.
({5})
Diese jungen Wissenschaftler, diese jungen Wissenschaftlerinnen müssten sich einen neuen Arbeitgeber
suchen, müssten vielleicht den Ort wechseln, vielleicht
haben sie inzwischen Familie; alles müsste umgemodelt
werden. Ich denke, das ist kein Qualitätskriterium für
gute Wissenschaft, sondern vernichtet Innovation und
Wissenschaft.
Die von Ihnen vorgeschlagenen Änderungen sind
strikt. Sie sagen ja ganz deutlich, dass Sie Flexibilität
vermeiden wollen. Das bedeutet aber auch einen Abbau
der Zuverlässigkeit, weil Starrheit keine Zuverlässigkeit
bedeutet, sondern genau das Gegenteil.
({6})
Unser Ziel, das Ziel der CDU/CSU - ich bin ganz sicher, den Koalitionspartner hier an meiner Seite zu wissen -, ist dagegen, mit der Novelle des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes die Qualifizierung des jungen
Wissenschaftlers oder der jungen Wissenschaftlerin in
den Mittelpunkt unserer Überlegungen zu stellen und
den hierfür erforderlichen Zeitbedarf mit einem zeitlich
passenden Arbeitsvertrag zusammenzubinden. Das sind
unbürokratische und vertrauensvolle Verfahren, auf die
jeder aufbauen kann, weil jeder genau weiß, was es zu
erfüllen gilt.
({7})
So entsteht in meinen Augen Verlässlichkeit und Zuverlässigkeit.
Meine Damen und Herren, als wenn das nicht genug
wäre, haben Sie, abgesehen von diesen Änderungen am
Wissenschaftszeitvertragsgesetz, auch noch andere „Anregungen“ - das war Ihr Wort vorhin - gebracht.
({8})
- Sie hatten gesagt: „gute Anregungen“, richtig.
({9})
Über diese „guten Anregungen“ und „gute Arbeit“
würde ich jetzt gerne mit Ihnen streiten. In meinen
Augen legen Sie die Axt an das gesamte System unserer
Wissenschaft. Sie wollen die Spitzenforschung abschaffen; das sagen Sie wörtlich.
({10})
- Lassen Sie doch einmal das Geld weg; wir sprechen
hier von Qualität.
({11})
Sie wollen die Spitzenforschung abschaffen, Forschungseinrichtungen gängeln, Sie wollen das Grundgesetz uminterpretieren - man könnte auch sagen: aushöhlen -, indem Sie Verantwortlichkeiten von den Ländern
zum Bund verschieben. Sie sägen damit an der Zukunftsfähigkeit Deutschlands. Ist Ihnen das eigentlich
bewusst? Ich glaube, nicht.
({12})
Sie fordern eine gemeinsame Finanzierung. Ich bin ja
bei Ihnen, dass wir als Bund auch etwas tun können. Sie
könnten bei dieser Gelegenheit aber auch ruhig einmal
ansprechen, dass für diesen Bereich die Länder die
Hauptverantwortung tragen. In der Frage, wer was zu
tun hat, haben wir eine ganz klare Zuordnung, und bei
der sollte es auch bleiben. Unser Föderalismus hat sich
bewährt: Wir stehen an der Wissenschaftsspitze, wir sind
unter den Top Five der Wissenschaft auf der gesamten
Welt. Die Arbeitsteilung, die wir bei uns haben, kann
also so schlecht nicht sein. Deshalb sollten wir daran
auch festhalten.
Dennoch muss - das ist überhaupt keine Frage - der
Bund auch steuern können. Die Frage ist nur, wie.
Darüber können wir streiten. Auf jeden Fall sollte er
steuern können in den Dingen, wo es um die gesamte
Gesellschaft oder um ein überregionales Interesse geht.
Ich denke jetzt einmal an etwas, was uns letztes Jahr
doch sehr beschäftigt hat. Es gab eine große Herausforderung für die gesamte Welt: Wir waren plötzlich
konfrontiert mit einem großen Ausbruch von Ebola.
Ebola ist keine neue Krankheit - wir kannten sie -, aber
in diesem Maße wohl kaum. Jetzt war die Frage: Wie gehen wir vor? Welche Rolle spielt hier die Wissenschaft?
Da muss ich Ihnen ganz ehrlich sagen: Im Moment hat
der Bund die Fähigkeit, zu lenken. Wir haben die
Möglichkeit, kurzfristig - über die Projektförderung des
Bundes - Gelder für die Bewältigung solcher Herausforderungen einzusetzen. Die Projektförderung wollen Sie
aber abschaffen. Gleichzeitig wollen Sie auch noch die
Förderung exzellenter Forschung abschaffen. Das heißt,
wir hätten in Zukunft gar keine Wissenschaftscluster zur
Verfügung, die sich schon mit solchen Erkrankungen
weltweit beschäftigt haben und denen wir sagen könnten: Im Rahmen einer Projektförderung bekommt ihr zusätzliches Geld. Seht einmal zu, ob ihr in kurzer Zeit
Impfstoffe und Ähnliches entwickeln könnt! - Wenn die
gesamte Grundlage wegbricht, so wie Sie es in Ihrem
Antrag beschrieben haben, werden wir auf die Herausforderungen in unserer Gesellschaft nicht mehr reagieren
können. Deshalb ist das für mich keine gute Anregung,
sondern eine schlechte Anregung.
Meine Damen und Herren, wir haben einen Antrag
vorliegen, in dem ich an verschiedenen Stellen inhaltliche Widersprüche finde; ich will das nicht noch einmal
aufmachen. Wir finden Gleichmacherei statt Spitzenforschung und Innovation. Die Rolle der Wissenschaft in
Ihrem Antrag ist mir nicht klar. Die qualitativen Verbesserungen, die uns wirklich weiterhelfen, habe ich bei
Ihnen vergeblich gesucht. Ich habe den Antrag von
vorne bis hinten und noch einmal von hinten bis vorne
gelesen. Es gibt überhaupt keine Ansatzpunkte für qualitative Verbesserungen, und das ist schlecht.
({13})
Wir wollen die Förderung des wissenschaftlichen
Nachwuchses breiter aufstellen. Bundesministerin
Johanna Wanka hat mit ihrem Programm eines früheren
Einstiegs in unbefristete Beschäftigung einen wichtigen
Schritt getan. Wir werden das umsetzen. Wir werden unser Wissenschaftssystem dazu nicht auf den Kopf stellen; denn wir wissen, dass qualitätsfördernde Konzepte
uns weiterbringen.
Wissenschaft verändert sich von innen heraus. Wissenschaft verändert sich vor allem nur dann nachhaltig,
wenn sie Impulse und verbesserte Rahmenbedingungen
bekommt und mit ihren eigenen Mitarbeiterinnen und
Mitarbeitern neue Karrierewege umsetzen kann. Die
Wissenschaft wird jedoch verkümmern, wenn Sie all
das, was erfolgreich ist, beseitigen. Das gefährdet unseren Wissenschaftsstandort Deutschland, und das werden
wir vonseiten der CDU/CSU nicht zulassen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({14})
Der Kollege Kai Gehring hat für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Mich freut, dass wir im Bundestag wiederholt über die
Arbeitsbedingungen in der Wissenschaft sprechen. Mich
ärgert aber richtig, dass wir wieder keinen Koalitionsantrag debattieren können
({0})
und Sie immer noch keine Novelle zum Wissenschaftszeitvertragsgesetz vorlegen. Sie kündigen eine Novelle
schon lange an, verschieben sie aber doch immer weiter
nach hinten.
({1})
Unser grüner Gesetzentwurf für eine Novelle zum Wissenschaftszeitvertragsgesetz liegt seit einem Jahr vor.
Worauf warten Sie eigentlich?
({2})
Die Rede der CDU-Kollegin Dinges-Dierig eben machte
doch deutlich, wie uneinig die Koalition ist und warum
Sie nicht zu Potte kommen. Da muss sich endlich etwas
ändern.
({3})
Wir haben als Grüne im Bundestag in der letzten und
in der vorletzten Wahlperiode Nachwuchspakte eingefordert. Die Forderungen wurden abgeschmettert. Seit
wenigen Wochen gibt es jetzt nach vielen GroKo-Pirouetten zu Nachwuchskräften in der Wissenschaft endlich
sogar Interviews von Frau Wanka und Koalitionsankündigungen.
({4})
Mit dem Handeln warten Sie aber weiter. Ich sage Ihnen:
Wahlgeschenke im Jahr 2017
({5})
kommen für Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler von heute zu spät. Die Zeit, zu handeln, ist
jetzt.
({6})
Junge Wissenschaftler sind wichtige Ideengeber. Ihre
Ideen entfachen soziale, ökologische und technologische
Innovationen, und das sind die Quellen zukünftigen
Wohlstands. Anstatt diesen Oasen wissenschaftlicher
Kreativität endlich Sicherheit und Perspektiven zu verschaffen, schicken Sie einen Großteil des Nachwuchses
in die Wüste, in die Wüste aus strukturellen Blockaden,
Existenzsorgen und Zukunftsangst.
({7})
Die Koalitionskarawane zieht jetzt langsam los. Aber ob
und wo sie ankommt, wissen wir nicht. Wir werden weiter Druck machen, damit sich endlich etwas tut.
({8})
Die Probleme an den Hochschulen sind seit Jahren
bekannt. Unkulturen zwischen Jugendwahn und Senioritätsprinzip, massenhafte Stückelverträge, wachsende
Flaschenhalsproblematik, zu wenig Dauerstellen, das
alles steht zukunftsgerechten Karrierepfaden und konkurrenzfähigen Personalstrukturen im Weg, und das
muss sich ändern.
({9})
- An Baden-Württemberg könnten Sie sich ein super
Beispiel nehmen.
({10})
Was da mit Theresia Bauer in der Hochschulpolitik passiert, sucht seinesgleichen.
({11})
Frau Wanka ist dagegen blass.
Nutzen Sie endlich die Gunst der Stunde! Sie haben
sich hier vor Wochen wegen der Änderung von Artikel
91 b des Grundgesetzes abgefeiert, mit der Bund und
Länder die Möglichkeit geschaffen haben, dauerhaft und
institutionell in der Wissenschaftsfinanzierung zusammenzuwirken. Ja, dann machen Sie das doch!
({12})
Eine Verfassungsänderung ohne Konsequenzen ist keine
Reform und bringt niemandem etwas.
Es kann doch einfach nicht wahr sein, dass fast
90 Prozent der Verträge an den Hochschulen befristet
sind, noch dazu teilweise unter einem Jahr. Faire Bedingungen, verlässliche Verträge und Planbarkeit sind wichtig für das eigene wissenschaftliche Arbeiten und auch
für die Vereinbarkeit von Familie und Wissenschaft. Ich
dachte, die Union wäre für die Familie. Ja, dann tun Sie
da doch etwas!
({13})
Hire and Fire in der Wissenschaft geht gar nicht. Dieses
monströse Befristungsunwesen, das wir haben, muss gestoppt werden.
({14})
Ich sage auch sehr klar: Das Paket der Wissenschaftspakte hat das wissenschaftliche Personal allenfalls am
Rande adressiert. Durch zu kurze Paktlaufzeiten wurden
vor allem Lehrkräfte eingestellt und nicht Lebenszeitprofessuren geschaffen. Hier stehen Bund und Länder
als größte Geldgeber von Grund-, Zweit- und Drittmitteln ganz klar in der Verantwortung. Von den Hochschulen und von den außeruniversitären ForschungseinrichKai Gehring
tungen erwarten wir alle hier gemeinsam eine
vorausschauende und eine aktive Personalentwicklung.
({15})
Gute Arbeit muss zum Selbstverständnis jeder Wissenschaftseinrichtung gehören. Unser Wissenschaftssystem
benötigt jetzt dringend eine Dekade für den wissenschaftlichen Nachwuchs und einen Mentalitätswechsel.
({16})
Wir Grüne fordern einen neuen Vertrag mit dem wissenschaftlichen Nachwuchs. Die erste Vertragssäule ist
ein neues Nachwuchsprogramm. Wir wollen ein
Programm für mindestens 10 000 Nachwuchsstellen an
den Hochschulen. Dazu gehören feste Stellen im Mittelbau, ab der Postdoc-Phase II und Juniorprofessoren mit
Tenure Track - das ist ganz wichtig -, das heißt überwiegend zusätzliche und dauerhafte Stellen: für Professoren
und neben der Professur. Unser Nachwuchsprogramm ist
auf ein Jahrzehnt angelegt und sieht einen Aufwuchs
vor. Damit geht es nicht an aktuellen Nachwuchsgenerationen vorbei. Und es verbarrikadiert keine Karrieren
für künftige Nachwuchsgenerationen. Beides ist dabei
wichtig.
Die zweite Säule unseres Vertrages mit dem wissenschaftlichen Nachwuchs ist unsere Novelle zum Wissenschaftszeitvertragsgesetz, die bekanntlich längst vorliegt - seit einem Jahr -, unter anderem mit generell
zweijährigen Vertragsmindestlaufzeiten, mit einer Streichung der Tarifsperre, damit es bessere Verabredungen
der Tarifpartner vor Ort geben kann, mit Familienkomponente. Es ist doch demotivierend, für die gleiche Aufgabe ständig das Personal auszutauschen. Daher muss es
endlich mehr Dauerstellen für Daueraufgaben geben!
({17})
Ich appelliere an Ministerin Wanka, die dieser hochschulpolitischen Debatte - es ist heute unsere zweite wiederum nicht beiwohnt, was ich wirklich als ein Armutszeugnis für eine Ministerin empfinde;
({18})
ich appelliere an die Regierung und die Koalition: Es ist
jetzt Zeit für substanzielle und lebensnahe Verbesserungen, damit keine Potenziale von Wissenschaftlerinnen
und Wissenschaftlern mehr ausgenutzt oder verspielt
werden. Legen Sie jetzt endlich konkrete Novellen vor!
Kollege Gehring, Sie müssen Ihren Appell bitte in einen Satz fassen und einen Punkt setzen.
In meinem letzten Satz sage ich: Es braucht endlich
einen Vertrag mit dem wissenschaftlichen Nachwuchs,
damit dieser mit Sicherheit gut forschen kann; denn wir
wollen es im Wissenschaftssystem fair statt prekär!
({0})
Für die SPD-Fraktion hat die Kollegin Dr. Simone
Raatz das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Herr Gehring, Sie haben recht: Es ist nun fast
ein Jahr her, dass die SPD-Bundestagsfraktion ein
Eckpunktepapier mit Forderungen zur Novellierung des
Wissenschaftszeitvertragsgesetzes vorgelegt hat. Aber
wie hat die Opposition - abgesehen von heute, mit Falten auf der Stirn und mit Nörgeln - darauf reagiert?
({0})
Die Antwort der Grünen war ein von der SPD-Fraktion
abgeschriebener Gesetzentwurf aus der vergangenen
Legislatur.
({1})
Wir haben hier vor ein paar Monaten darüber debattiert.
Nun, fast ein Jahr später, liegt ein Antrag der Linken
zum Thema „Gute Arbeit in der Wissenschaft“ vor.
Prima! Sehr schön, dass auch Sie jetzt die große Relevanz des Themas für sich entdeckt haben. Daher freue
ich mich, dass wir heute einen Antrag beraten, über den
wir in der Sache parteiübergreifend - unserem Koalitionspartner müssen wir noch ein bisschen unter die
Arme greifen - nahezu einer Meinung sind. Ich denke,
das Thema ist es wert.
({2})
- Ich bin am Anfang meiner Rede. Das wird schon alles
noch.
({3})
Wir sind uns darin einig, dass unsere Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler planbare und verlässliche
Karriereperspektiven sowie attraktive Arbeitsbedingungen benötigen; das wurde heute schon von mehreren
Rednern betont. Nur so gelingt es, dass wir die besten
Köpfe in unserem Land halten und auch wettbewerbsfähig bleiben.
Wir sind uns sicher darin einig, dass es nicht sein
kann, dass über 80 Prozent der wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter an unseren Hochschulen
befristete Verträge haben, Frau Gohlke, noch dazu mit
einer Laufzeit von unter einem Jahr bei über der Hälfte
der Verträge. Das ist keine gute Situation.
({4})
Wir sind uns auch darin einig, dass es nicht zielführend ist, dass selbst in unseren außeruniversitären Forschungseinrichtungen - das verstehe ich noch weniger
als bei den Hochschulen - noch 2012 fast 60 Prozent aller Wissenschaftler befristet beschäftigt waren, davon
viele sogar über Stipendien.
Es ist gut und wichtig, dass sich diese Große Koalition endlich des Problems der prekären Arbeitsbedingungen in unserem Wissenschaftssystem annimmt und
dies noch in dieser Legislatur mit entsprechenden Ergebnissen untermauern wird. Es freut mich, dass wir, die
SPD-Bundestagsfraktion, mit unserem Eckpunktepapier
die Debatte über den Umgang mit unserem wissenschaftlichen Nachwuchs maßgeblich angestoßen haben.
({5})
Was steht nun in unserem Eckpunktepapier? Für uns
sind insbesondere drei Punkte bei der Novellierung des
Wissenschaftszeitvertragsgesetzes wesentlich. Das ist
erstens die Befristungsdauer eines Arbeitsvertrages, die
sich am Qualifizierungsziel orientieren muss.
({6})
Das heißt, wenn für eine Promotion üblicherweise drei
Jahre benötigt werden, dann erwarten wir, dass der Vertrag eine Laufzeit von drei Jahren hat.
({7})
Das betrifft zweitens die Drittmittelbefristungen, die an
die Dauer der Drittmittelförderung bzw. der Projektlaufzeit zu koppeln sind.
({8})
Drittens sind wir der Auffassung - Frau Gohlke, hören
Sie bitte genau hin -, dass das nicht wissenschaftliche
bzw. das wissenschaftsunterstützende Personal, welches
in der Regel Daueraufgaben übernimmt, im Wissenschaftszeitvertragsgesetz fehl am Platz ist.
({9})
Hier sollten üblicherweise unbefristete Verträge abgeschlossen werden. Herr Gehring hat es schon gesagt: Zu
Daueraufgaben gehören Dauerstellen. Ich denke, da sind
wir uns einig.
({10})
Wir können als Koalition stolz sein, dass seit der Veröffentlichung des SPD-Eckpunktepapiers in unseren
wissenschaftlichen Einrichtungen viel in Bewegung geraten ist. Ich freue mich, dass das auch den Grünen und
der Linken aufgefallen ist.
({11})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linken, ich
hoffe, Sie merken, dass die Novellierung des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes bei der Großen Koalition
ganz oben auf der Agenda steht,
({12})
und das nicht erst seit heute, auch nicht erst seit der Vorlage des abgeschriebenen Antrags bzw. des vorgelegten
Antrags, über den wir heute debattieren. An den Details
wird derzeit gearbeitet. Ich gehe davon aus, dass das geänderte Wissenschaftszeitvertragsgesetz zum 1. Januar
2016 in Kraft tritt.
({13})
- Ich spüre viel Zustimmung, auch von meinem Koalitionspartner; das freut mich.
({14})
Im vorliegenden Antrag heißt es treffend: Das Wissenschaftszeitvertragsgesetz ist nicht die alleinige Ursache für die prekären Beschäftigungsverhältnisse in unserem Wissenschaftssystem. Ja, das stimmt. Mit der
Novellierung stellen wir insbesondere die Befristungspraxis wieder vom Kopf auf die Füße. Das alleine kann
es aber nicht sein. Das ist nur ein Baustein, wenn es um
das übergreifende Thema „Gute Arbeit in der Wissenschaft“ geht.
({15})
Ein zweiter Baustein ist zum Beispiel der vierte Pakt
für den wissenschaftlichen Nachwuchs und akademischen Mittelbau - meine Kollegin Frau Dinges-Dierig ist
schon kurz darauf eingegangen -, den wir bereits im
Herbst vergangenen Jahres thematisiert und gefordert
haben. Das äußerst Erfreuliche ist doch - und darauf
sind Sie, Herr Gehring und Frau Gohlke, überhaupt nicht
eingegangen; das hätte mich aber gefreut -, dass unsere
Forderung erhört wurde. So konnten wir unsere geschäftsführenden Fraktionsvorstände davon überzeugen, über einen Zeitraum von zehn Jahren zusätzlich
- ich betone: zusätzlich - 1 Milliarde Euro für unseren
wissenschaftlichen Nachwuchs und akademischen Mittelbau zur Verfügung zu stellen.
({16})
- Dass Sie sich nicht freuen! 1 Milliarde Euro für unseren wissenschaftlichen Nachwuchs, das ist doch toll. Das
ist doch was.
({17})
Dafür auch von dieser Stelle noch einmal einen ganz
herzlichen Dank, insbesondere an Hubertus Heil und
Michael Kretschmer, die sich ganz intensiv dafür eingesetzt haben. Ich finde, das ist ein tolles Ergebnis.
({18})
Unsere Vorstellungen zur Ausgestaltung des vierten
Paktes haben wir vor zwei Wochen präsentiert. Im Wesentlichen geht es darum, dass sich unsere Hochschulen
und außeruniversitären Forschungseinrichtungen endlich
als gute Arbeitgeber verstehen, das Potenzial ihrer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler frühzeitig erkennen und fördern sowie klare Perspektiven aufzeigen. Ich
denke, Personalentwicklungskonzepte und attraktive
Personalkategorien mit Tenure-Track-Option auch unterhalb der Professur sollten zukünftig selbstverständlich
sein.
Ich komme zum Schluss. Sie sehen, das Ergebnis von
anderthalb Jahren Großer Koalition im Bereich „guter
Arbeit in der Wissenschaft“ ist erstens eine anstehende
Novellierung des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes und
zweitens 1 Milliarde Euro zusätzlich für den wissenschaftlichen Nachwuchs und akademischen Mittelbau.
In den nächsten Monaten geht es nun um die konkrete
Ausgestaltung des Paktes und um die Abstimmung zwischen Bund und Ländern. Sie alle sind herzlich eingeladen, sich an der Diskussion zu beteiligen.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({19})
Für die CDU/CSU-Fraktion spricht nun die Kollegin
Dr. Claudia Lücking-Michel.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Tatsächlich, wir diskutieren
heute schon zum zweiten Mal im Plenum über ein ganz
wichtiges Thema der aktuellen Wissenschaftspolitik.
({0})
Es geht um die Zukunftsperspektiven für Nachwuchswissenschaftler und - das haben wir schon gehört - auch
um die Zukunft Deutschlands als Forschungsstandort.
Ich möchte auf vier Punkte Ihres Antrags eingehen,
nachdem wir vieles bereits angesprochen haben:
Erstens. Das heikle und große Thema Befristungen.
Ich will einmal sagen: Befristete Arbeitsverträge in der
Wissenschaft sind für mich nicht per se Teufelszeug,
sondern bringen eine Dynamik in das Wissenschaftssystem, die notwendig ist. Da hat Frau Ministerin Wanka
recht.
({1})
Ein Wechsel von Personal und Veränderungen sind nötig, um Innovationen und einen kontinuierlichen Austausch von Ideen sicherzustellen. Diese Dynamik sollten
wir nicht mehr als nötig beschneiden.
({2})
Ein Zweites kommt hinzu; auch das unterscheidet
sich sehr von Ihrem Ansatz. Ich sehe die Arbeitgeber im
Wissenschaftsbetrieb eher als verantwortliche Vorgesetzte denn als moderne Sklaventreiber. Ich denke, dass
die Forderung im Antrag, feste Mindestvertragslaufzeiten per Gesetz zu definieren, in die falsche Richtung
geht. Frau Kollegin Dinges-Dierig hat gerade schon
viele Fälle dargestellt. Wir sollten uns nicht anmaßen,
für all die vielfältigen Wege, auf denen wissenschaftliche Qualifizierung verläuft, von Berlin aus arbeitsrechtliche Vorgaben zu machen. Es ist vielmehr die Aufgabe
jedes Arbeitgebers, optimale Arbeits- und Forschungsmöglichkeiten zu schaffen und auf die Vielfalt von Karrierewegen und Lebenssituationen flexibel zu reagieren.
Aber natürlich - ich bin ja nicht blauäugig - stimmt
es: Diese Verantwortung nehmen nicht alle Vorgesetzten
gleichermaßen wahr. Es stimmt: Die Befristung der Verträge von wissenschaftlichem Personal sollte nicht zu oft
hintereinander und zu kleinteilig über kurze Zeiträume
erfolgen.
({3})
In der Union setzen wir auf ein anderes Konzept statt auf
Regelungswahn. Wir setzen auf positive Anreize und auf
die Verantwortung der Vorgesetzten.
({4})
Das kann man unterstützen und fördern, zum Beispiel
durch ein Audit oder ein Siegel und durch positive Anreize. Solch ein Audit sollte festhalten, welche Auswahlprozesse und welche Aufstiegsmöglichkeiten gelten und
welche Anforderungen es an Dauerstellen gibt. Es sollte
auch transparente Pläne für eine Gesamtpersonalentwicklung einfordern.
({5})
Das Konzept kann man auch durch Anreize unterstützen, zum Beispiel durch die Milliarde Euro - sie wurde
schon genannt - für die Etablierung neuer Karrierewege,
für ein großes Tenure-Track-Programm, aber auch für
Karrierewege unterhalb der Professur, für unbefristete
Stellen im Mittelbau. Aber dafür muss auch von der
Länderseite Verantwortung übernommen werden.
Damit bin ich beim zweiten Punkt Ihres Antrages.
({6})
Die Fraktion Die Linke will wieder einmal das System
der Wissenschaftsfinanzierung grundlegend ändern und
fordert schon wieder eine verstetigte Finanzierung durch
den Bund. Wir haben es heute Nachmittag schon einmal
gehört, und wir haben es gerade gehört - aber anscheinend muss man es immer wieder betonen, damit es auch
bei den Letzten ankommt -: Der Bund hat mit der
BAföG-Entlastung dauerhaft rund 1,2 Milliarden Euro
pro Jahr zur Verfügung gestellt.
({7})
Das ist Geld, mit dem die Länder Stellen schaffen können.
({8})
Es ging darum, die Grundfinanzierung der Hochschulen
wirklich zu verbessern. Die Möglichkeiten dazu haben
sie jetzt. Ab 2016 kommt hinzu, dass der Bund auch den
Haushaltsaufwuchs der außeruniversitären Forschungseinrichtungen komplett übernehmen wird - noch mehr
Geld, mit dem die Länder dann neue finanzielle Spielräume haben, um die Hochschulen zu finanzieren.
Drittens. Ein ganz wichtiger Punkt kommt auch in Ihrem Antrag vor: Frauen sind in wissenschaftlichen Führungspositionen unterrepräsentiert. Ja, das darf nicht so
bleiben. Wir müssen Rahmenbedingungen schaffen, die
einer ausgewogenen Besetzung der Stellen mit Frauen
und Männern zuträglich sind.
({9})
Der Weg dahin liegt aber aus meiner Sicht nicht in einer festen Quote von 50 Prozent weiblicher Neubesetzungen all dieser Stellen, wie Sie es in Ihrem Antrag
vorschlagen haben.
({10})
Ich frage Sie, wie Sie sich das vorstellen: Was ist die Bezugsgröße für diese Quote?
({11})
Gilt sie hochschulweit oder nach Fachbereichen? Dabei
haben wir längst eine, wie ich finde, sehr sinnvolle Methode und Vorgabe für die Verbesserung des Verhältnisses von Männern und Frauen, und zwar sowohl in den
Forschungseinrichtungen als auch an den Universitäten.
Ich meine das Kaskadenmodell. Das ist etwas anderes
als eine feste Quote. Es trägt nämlich den Gegebenheiten
in den jeweiligen Institutionen bzw. den Fachkulturen
Rechnung. Es setzt das Prinzip der Bestenauslese gerade
nicht außer Kraft und nutzt die Potenziale aus, die die jeweils vorherige Karrierestufe bietet.
Ich bin mit den Veränderungen, die das Kaskadenmodell bisher gebracht hat, nicht zufrieden.
({12})
An vielen Stellen ist es zu langsam,
({13})
wenn es darum geht, mehr Frauen in Führungspositionen
zu etablieren.
({14})
Das heißt, wir sind nicht davon entbunden, die Ursachen
noch einmal genauer in den Blick zu nehmen.
({15})
Was die Ursachen angeht, sind mehrere zu nennen,
zum Beispiel nach wie vor das Thema „Vereinbarkeit
von Familie und Beruf“. Dafür braucht es bessere Lösungen; da stimme ich Ihnen zu. Familienfreundliche
Arbeitsbedingungen sind die Voraussetzung dafür, dass
junge Eltern gleiche Chancen auf Karriere haben. Das
würde Frauen entschieden helfen, aber auch jungen Vätern, den Männern.
({16})
Wer aber meint, damit sei die Frauenfrage schon angemessen adressiert, dem muss ich sagen: Wir müssen
darüber hinaus weiterhin die Berufungspolitik in den
einzelnen Einrichtungen in den Blick nehmen und
schauen, wie sie im Hinblick auf Frauen betrieben wird:
Welche Verfahrensstandards werden vorgegeben? Mentoringprogramme sind hilfreich. Es geht darum, die
Sichtbarkeit von Wissenschaftlerinnen insgesamt zu erhöhen und die Leistung zu verbessern.
Ich will einen vierten und letzten Punkt nennen, der in
Ihrem Antrag vorkommt. Seit es die Exzellenzinitiative
gibt, fordert die Linke deren Abschaffung. Damit zeigen
Sie, dass Sie aus Erfahrung offensichtlich nicht klug
werden wollen. Die Exzellenzinitiative hat wissenschaftliche Leistung aus Deutschland international verstärkt
sichtbar gemacht.
({17})
Sie hat es ermöglicht, Spitzenkräfte aus aller Welt nach
Deutschland zu holen. Sie finden hier attraktive Forschungs- und Arbeitsbedingungen. Die internationale
Seite kommt in Ihrem Antrag mit keinem Wort vor. Das
ist eine sträfliche Vernachlässigung;
({18})
denn Wissenschaft hört nicht an Ländergrenzen auf. Nur
durch die Honorierung exzellenter Forschungsleistungen
auf internationalem Niveau halten wir beim großen
Wettbewerb um beste Talente und innovative Ideen
wirklich mit.
Zum Schluss lege ich Ihnen Konrad Adenauer ans
Herz - nicht nur, weil ich aus seinem Wahlkreis komme -: Niemand hindert Sie daran, über Nacht klüger zu
werden. Machen Sie was draus!
({19})
Der Kollege Martin Rabanus hat für die SPD-Fraktion das Wort.
({0})
Vielen Dank. - Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Ich glaube, die Debatte hat deutlich gemacht, dass wir
anhand dieses Antrags ein grundsätzlich wichtiges und
richtiges Thema diskutieren. Der Antrag geht allerdings
in die völlig falsche Richtung; auch das ist an der einen
oder anderen Stelle der Debatte schon deutlich geworden. Ich will das an wenigen Punkten noch einmal pointieren:
Da liest man auf Seite 2 des Antrags unter anderem,
der Hochschulpakt 2020 und die Exzellenzinitiative
seien wesentliche Ursachen der prekären Situation im
Wissenschaftsbereich. Das muss man sich einmal auf der
Zunge zergehen lassen,
({0})
auch im Lichte der Diskussion, die wir heute Mittag geführt haben, und auch im Lichte der Tatsache, dass es
ohne den Hochschulpakt und ohne die Exzellenzinitiative überhaupt nicht möglich gewesen wäre, die Herausforderungen, vor denen wir in den letzten Jahren im Wissenschaftssystem und an den Hochschulen standen, zu
meistern.
({1})
Das ist ein Einstieg, den dieser mit der heißen Nadel
genähte, ein Sammelsurium beinhaltende Antrag liefert,
mit dem Ziel, sozusagen ein bisschen Anschluss an die
Diskussion zu finden, die in der SPD, die in der Koalition insgesamt zu diesem Thema längst läuft.
({2})
Ich kann auch gut verstehen, dass die Antragsteller die
Bedeutung der Exzellenzinitiative und vor allen Dingen
des Hochschulpakts für das Hochschulsystem nicht an
erster Stelle sehen; denn sie sind die einzige Fraktion,
die nicht in Regierungsverantwortung daran beteiligt
war.
Ich kann auch verstehen, dass die Antragsteller nicht
besonders laut über das Thema „Entlastung der Länder“,
auch über die BAföG-Millionen bzw. -Milliarden sprechen wollen. Aber Fakt ist, dass die Große Koalition wie
seit Jahren nicht die Länder entlastet, damit sie ihre Aufgaben - auch in der Finanzierung des Hochschul- und
Wissenschaftssystems - besser erfüllen können.
Der Antrag zeigt aber auch eines sehr klar - darauf
haben Frau Kollegin Dinges-Dierig und andere schon
hingewiesen -: Sie haben ein grundsätzlich anderes Verständnis, wie das Wissenschaftssystem organisiert werden soll, als es die SPD, als es die Koalition insgesamt
hat; ich glaube, auch da kann man die zweite Oppositionspartei einbeziehen.
Sie wollen Förderung von Exzellenz abschaffen. Gut.
Sie wollen themenspezifische Forschungsförderung abschaffen. Okay.
({3})
Sie wollen auch den Pakt für Forschung und Innovation
abschaffen. Auch okay. Danke, dass das in dieser Form
wieder einmal deutlich geworden ist; denn dann ist das
auch ganz klar. Ebenso klar kann ich sagen: Das wollen
wir eben nicht.
({4})
Wir wollen Spitzenleistungen und Exzellenz, die wir
übrigens vielerorts in unserem Hochschul- und Wissenschaftssystem haben, gezielt weiterentwickeln. Wir wollen themenspezifische Forschungsprogramme. Wir wollen damit auch Steuerungsfunktionen behalten und
Gestaltungsanspruch untermauern.
({5})
Wir wollen Forschung und Innovation sichern, weil wir
uns als Wissensnation - nur als Wissensnation - im globalen Wettbewerb behaupten können und dies am Ende
des Tages allen Menschen in Deutschland zugutekommt.
({6})
Ich komme zurück: Es ist grundsätzlich ein richtiges
und wichtiges Anliegen, das dieser Antrag thematisiert.
Wie er es thematisiert, hilft nicht weiter. Wir werden hingegen - wir haben das in sehr intensiven Gesprächen in
der Koalition begonnen - die Fehlentwicklungen, die
wir auch zu konstatieren haben, anpacken. Das ist benannt worden: Wir wollen den Befristungsanteil reduzieren. Wir wollen die Dauer von Befristungen verlängern,
die Vertragslaufzeiten den tatsächlichen Lebensbedingungen anpassen. Wir wollen dem wissenschaftlichen
Nachwuchs eine Perspektive geben und haben den Pakt
für den wissenschaftlichen Nachwuchs auf Koalitionsebene beschlossen.
Der herzlichen Einladung des Antrages, dass auch die
Länder ihre eigenen Finanzierungssysteme überprüfen
- es geht um den Grundfinanzierungsanteil und die
sogenannten erfolgsabhängigen Faktoren, die dort niedergelegt sind -, schließen wir uns sehr gerne an. Ich
persönlich könnte viel über diesbezügliche Fehlentwicklungen in meinem Heimatland Hessen und nur relativ
wenig über dortige Aktivitäten, dem gegenzusteuern, erzählen.
({7})
Ich komme zum Schluss: Die Koalition ist und bleibt
am Thema dran, und sie wird an den richtigen Stellschrauben drehen. In dem Antrag steht allerdings vieles,
was nicht in die richtige Richtung führt. Er erweist dem
Wissenschaftssystem insgesamt einen Bärendienst.
Herzlichen Dank.
({8})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/4804 an den Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz ({0})
zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des
Europäischen Parlaments und des Rates über
Gesellschaften mit beschränkter Haftung mit
einem einzigen Gesellschafter
KOM({1}) 212 endg.; Ratsdok. 8842/14
hier: Stellungnahme gegenüber der Bundesregierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 des
Grundgesetzes
Drucksachen 18/1524 Nr. A.4, 18/4843
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich bitte, die notwendigen Umgruppierungen in den
Fraktionen zügig durchzuführen, damit ich die Aussprache eröffnen kann.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Dr. Johannes Fechner für die SPD-Fraktion.
({2})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer! Wenn wir die
grenzüberschreitende Tätigkeit gerade von kleinen und
mittleren Unternehmen erleichtern und es für Unternehmen vereinfachen, Niederlassungen in anderen EU-Mitgliedstaaten ohne hohen Kosten- und Verwaltungsaufwand zu betreiben, dann sichern wir damit auch Jobs in
Deutschland.
Ein Problem dabei ist, dass es in Europa keine europaweit anerkannte Gesellschaft mit beschränkter Haftung gibt, eine GmbH, die in allen Staaten bekannt und
vor allem auch akzeptiert ist. Das führt dazu, dass Unternehmen, die in einem anderen Land eine Niederlassung
gegründet haben, erhebliche Schwierigkeiten haben, in
diesem anderen EU-Staat etwa ein Konto zu eröffnen
oder ein Grundstück zu kaufen, weil die Gesellschaftsform in diesem Land eben nicht bekannt und auch nicht
anerkannt ist. Deshalb brauchen wir eine europaweit anerkannte Gesellschaft mit beschränkter Haftung, eine
Europa-GmbH.
({0})
Wir sehen beim Kommissionvorschlag zur SUP aber
erhebliche Nachteile und Risiken, und zwar so große
Nachteile, dass wir als Koalition hier im Bundestag einen entsprechenden Entschließungsantrag verabschieden
wollen, in dem wir ganz klar Position beziehen, dass der
jetzige Vorschlag erhebliche Mängel enthält.
Nach dem jetzigen Richtlinienvorschlag der Kommission könnten 28 verschiedene Gesellschaftsformen einer GmbH in der Europäischen Union entstehen. Das
würde die grenzüberschreitende Geschäftstätigkeit natürlich ganz erheblich erschweren. Darüber hinaus sieht
der Vorschlag nur vor, dass es sich bei diesen GmbHs
um Einpersonengesellschaften handelt, und keinesfalls
wollen wir - das war ein ganz zentraler Kritikpunkt -,
dass Onlinegründungen ohne Identitätsnachweis möglich sind. Das wäre ein Einfallstor für Steuerhinterziehung, für Geldwäsche und wahrscheinlich auch für Terrorismusfinanzierung.
({1})
Deshalb sind wir froh und danken wir Minister Maas
und allen zuständigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern
an dieser Stelle ausdrücklich, dass hier erste Verhandlungserfolge erzielt und Verbesserungen erreicht werden
konnten. Der aktuelle Stand der Verhandlungen ist der,
dass die Onlinegründung zwar möglich ist, aber durch
die Videokonferenz ein erheblicher Sicherheitsstandard
eingeführt wurde. Das heißt, über eine Webcam ist der
Anmelder mit dem deutschen Notar verbunden. Dadurch
ist eine Identifizierung möglich. Ich glaube, das ist eine
ganz wichtige Maßnahme, durch die Transparenz geschaffen und der notwendige Identitätsnachweis erbracht
wird. Ein ganz herzliches Dankeschön für den Verhandlungserfolg des Ministeriums.
({2})
Hauptkritikpunkt ist und bleibt die Möglichkeit, die
deutschen Bestimmungsregeln zu umgehen. Die Mitbestimmung ist gerade für uns Sozialdemokraten einer der
zentralen Pfeiler unserer sozialen Marktwirtschaft. Wir
wollen auf jeden Fall verhindern, dass durch die EuropaGmbH Umgehungsmöglichkeiten geschaffen werden.
Genau diese Gefahr besteht, wenn Verwaltungssitz und
Satzungssitz getrennt werden können, wie es leider der
Vorschlag der Kommission vorsieht.
Eine Europa-GmbH zu schaffen, ist absolut sinnvoll
und würde gerade bei uns in Deutschland Jobs sichern.
Wir dürfen allerdings nicht die bewährten Grundsätze
der Mitbestimmung in Deutschland aufs Spiel setzen
und Umgehungsmöglichkeiten schaffen. Deshalb ist es
wichtig, dass der Deutsche Bundestag mit der Vorlage
klare Position zugunsten der Mitbestimmung bezieht.
Wir fordern die Bundesregierung ausdrücklich auf, den
Richtlinienvorschlag dann abzulehnen, wenn es in den
anstehenden Verhandlungen nicht gelingen sollte, ein
Verbot der Sitzaufspaltung zu erreichen. Mit einer so gestalteten Richtlinie eröffnen wir den Unternehmen neue
Chancen in Europa. Wir sichern Jobs bei uns, und das alles ohne die Mitbestimmung zu gefährden. Es handelt
sich also um eine sehr gute Vorlage, der man auch als
Opposition zustimmen kann.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({3})
Für die Fraktion Die Linke hat der Kollege Richard
Pitterle das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Sehr geehrte Zuhörer auf der Tribüne! Worüber sprechen wir heute? Es geht um eine Stellungnahme gegenüber der Bundesregierung gemäß Artikel
23 Absatz 3 Grundgesetz. Das klingt sehr mächtig, ist es
aber nicht. Das, was wir heute behandeln, ist aus meiner
Sicht der Höhepunkt eines parlamentarischen Trauerspiels. Aber von Beginn an.
Vor vielen Jahren hat die Europäische Kommission
angekündigt, kleine und mittlere Unternehmen zu fördern. Während es bei den großen Konzernen auf europäischer Ebene sehr schnell möglich war, die Europäische Aktiengesellschaft als Rechtsform zur Verfügung
zu stellen, gab es lange Diskussionen darüber, was dem
Mittelstand zur Verfügung gestellt werden soll. Es wäre
notwendig gewesen, dem Mittelstand etwas Ähnliches
wie eine europäische GmbH zur Verfügung zu stellen.
Sinnvoll wäre auch die Vereinheitlichung des GmbHRechts gewesen, damit es vergleichbare Strukturen bei
Gründung, bei den Kosten der Gründung und beim Mindestkapital gibt; denn Bedarf an solchen Rechtsformen
gibt es bei den mittelständischen Unternehmen, die in
den Nachbarländern in die Nähe der Märkte kommen
und beispielsweise als deutsche GmbH Angebote machen wollen. Ich habe als Rechtsanwalt mitgeholfen,
Tochtergesellschaften von mindestens 20 tschechischen
Unternehmen in der Bundesrepublik zu gründen. Ich
weiß deswegen ganz genau, worum es dabei geht.
Natürlich ist das, was auf europäischer Ebene herauskommt, das Ergebnis eines Abwägungsprozesses. Auf
der einen Seite will man möglichst geringe Bürokratiekosten verursachen. Auf der anderen Seite gilt es, bei einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu schützen. Aber auch die
Vertragspartner einer solchen Gesellschaft, die Gläubiger, müssen geschützt werden.
Was kam dabei heraus? 2014 hat die EU-Kommission
dem Bundestag den Vorschlag für eine Einpersonengesellschaft ohne Haftung zugeleitet. Was uns da vorgelegt
wurde, lief darauf hinaus, die Gründung von Briefkastenfirmen europaweit so einfach wie möglich zu machen: Onlineregistrierung vom heimischen Wohnzimmer
aus ohne Notar, ohne Mindestkapital, nach einem Mustervertrag, mit Sitz in einem Land freier Wahl und dann
noch die Möglichkeit, den satzungsmäßigen Sitz der Gesellschaft vom Sitz der Verwaltung zu trennen.
Da schrillten bei den Interessenverbänden die Glocken. Der DGB schrieb alle Abgeordneten an, weil er
befürchtete, dass das Konstrukt genutzt wird, um die
Mitbestimmung zu umgehen. Selbst der BDI meldete
sich mit Bedenken zu Wort. Befürchtet wurde, dass ohne
eindeutige Identifizierung des Inhabers einer solchen
Gesellschaft der Geldwäsche, der Betrugskriminalität
und der Steuerhinterziehung Tür und Tor geöffnet werden.
Meine Fraktion und ich haben 2014 die Bedenken der
Verbände ernst genommen, und wir haben das getan,
wozu DGB und BDI geraten haben, nämlich das parlamentarische Mittel zu nutzen, das für diese Verfahren
vorgesehen ist, um auf europäischer Ebene gehört zu
werden: die Rüge der Subsidiarität. Also haben wir im
Juni, kurz vor Fristablauf, im Parlament beantragt, das
Parlament möge diese Rüge erheben. Dies wurde aber
bei der Abstimmung im Hohen Haus abgelehnt: von der
CDU/CSU, von den Grünen und von der SPD.
Nachdem der Prozess auf europäischer Ebene fast abgeschlossen ist, kommen Sie mit der heutigen Stellungnahme, in der nichts Falsches steht, die aber völlig sinnlos ist.
({0})
Das, was Sie uns zumuten, ist eine unverbindliche
Bitte des Parlaments an die Bundesregierung, sich doch
auf Europaebene noch einmal gegen die von mir skizzierten Gefahren einzusetzen. Der Antrag kommt jetzt
auch noch von den Fraktionen, die die Regierung stellen.
Ich frage Sie: Trauen Sie Ihrer eigenen Regierung nicht
über den Weg, oder soll hier nur kaschiert werden, dass
Sie sich durch Ihr aktives Nichtstun die Suppe eingebrockt haben, die jetzt andere auszulöffeln haben?
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({1})
Für die CDU/CSU-Fraktion hat der Kollege
Dr. Stephan Harbarth das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir befassen uns heute im Hohen Haus wieder einmal mit dem
Thema Europa-GmbH. Wir haben in Europa folgende
Situation: Wir haben eine supranationale Rechtsform für
die großen Gesellschaften, die Europäische Aktiengesellschaft. Aber wir haben kein Pendant für die kleineren
Kapitalgesellschaften. Die Notwendigkeit dazu haben
wir gleichwohl.
GmbHs oder ähnliche Rechtsformen in anderen Ländern sind gerade die typischen Rechtsformen, auf die
mittelständische Unternehmen im europäischen Binnenmarkt zurückgreifen. Es ist für sie ein großes Problem,
wenn sie in 28 Mitgliedstaaten 28 verschiedene Rechtsformen mit 28 verschiedenen Rechtsvorschriften, mit 28
verschiedenen Rechtsregimen und all ihren Fallstricken
haben. Deshalb liegt es gerade im Interesse Deutschlands, dass wir beim Projekt der Europa-GmbH voranschreiten. Warum? Es liegt deshalb in unserem Interesse,
weil wir ein besonders exportorientiertes Land sind, weil
wir ein Land mit einer mittelständisch geprägten Wirtschaftsstruktur sind und weil wir deshalb in ganz besonderer Weise auf die entsprechende Rechtsform angewiesen sind.
Wir sind deshalb auch froh, dass die Europäische
Kommission über Jahre hinweg konsequent eine Strategie zur Förderung kleinerer und mittlerer Unternehmen
verfolgt hat. Wir haben deshalb auch in der Koalitionsvereinbarung wieder ein Bekenntnis für die EuropaGmbH niedergelegt.
Der Vortrag des Kollegen der Linksfraktion, man
hätte eine Subsidiaritätsrüge erheben sollen und sie hätten noch nicht erkannt, worin der Sinn der Stellungnahme bestehe, geht an der Wirklichkeit vorbei. Es ist
doch völlig klar, dass die Europäische Union befugt ist,
wenn es 28 verschiedene Rechtsordnungen im Bereich
des Wirtschaftsverkehrs gibt, das im Bereich des Gesellschaftsrechts genauso zu vereinheitlichen, zu harmonisieren, wie sie es beispielsweise im Bereich der Europäischen Aktiengesellschaft und an anderer Stelle getan hat.
Herr Kollege Pitterle, wenn Sie den Sinn der Stellungnahme nicht verstanden haben, dann kann ich es Ihnen
gerne erklären. Uns geht es darum, dass wir im Deutschen Bundestag ein kraftvolles Signal aussenden gegen
die SUP und zugleich ein kraftvolles Signal aussenden
für die SPE.
({0})
Wir sind überzeugt, dass das Modell der SPE, der Europäischen Privatgesellschaft, schon deshalb dem Vorschlag der Kommission für eine SUP überlegen ist, weil
die SUP auf Einpersonengesellschaften fokussiert ist.
Sie gilt nur für diejenigen Unternehmen, die zu 100 Prozent an einer Gesellschaft beteiligt sind. Wir brauchen
eine flexible Rechtsform, die der Vielgestaltigkeit des
Wirtschaftslebens Rechnung trägt. Wir brauchen auch
eine Rechtsform auf europäischer Ebene, die zum Beispiel für Joint Ventures, für grenzüberschreitende Gemeinschaftsunternehmen, eingesetzt werden kann. Dazu
eignet sich die SUP nicht, die SPE hingegen schon.
Die SUP hat darüber hinaus eine ganze Reihe von
handwerklichen Schwächen. Das gilt insbesondere im
Bereich der Onlinegründung, wenngleich die Kommission in den letzten Wochen signalisiert hat, dass sie möglicherweise etwas stärker auf den Pfad der Vernunft zurückkehren wird, als sie es zunächst einmal hat erkennen
lassen.
Darüber hinaus gibt es große Schwächen im Bereich
des Mitbestimmungsrechts; das ist in der Debatte bereits
angeklungen. Wir wollen nicht, dass mitbestimmungsfreie Rechtsformen geschaffen werden. Wir wollen, dass
vernünftige Mitbestimmungsregeln Anwendung finden.
Das haben wir in unserem Vorschlag entsprechend niedergelegt. Wir schließen die Sitzaufspaltung aus. Wir haben damit in etwa die gleiche Situation wie bei der Europäischen Aktiengesellschaft, bei der das ausgeschlossen
ist. Darüber hinaus haben wir geregelt - das ist ein besonderes Entgegenkommen an die Gewerkschaften -,
dass die Mitbestimmung, anders als das im nationalen
Recht aus guten Gründen der Fall ist, bereits ab 250 Arbeitnehmern greifen könnte.
Wir meinen, dass Deutschland - als Rechtspolitiker
der Unionsfraktion sage ich das sehr selbstkritisch -, obwohl es in besonderer Weise auf diese Rechtsform angewiesen ist, in den vergangenen Jahren viel zu lange auf
dem Bremspedal stand. Nun senden wir aus Deutschland
endlich ein kraftvolles Signal nach Europa: Wir wollen
die Europäische Privatgesellschaft. Wir sind auch bereit,
vernünftige Kompromisse auf europäischer Ebene zu
schließen. Die SUP ist ein solcher vernünftiger Kompromiss allerdings nicht. Deshalb bedarf es einer Ablehnung. Herr Kollege Pitterle, damit auch Sie das mitbekommen: Das ist der Sinn der heutigen Vorlage.
({1})
Ich möchte allen, die sich daran beteiligt haben, sehr
herzlich danken. Ich danke den Rechtspolitikern meiner
eigenen Fraktion, unserer Sprecherin, Elisabeth
Winkelmeier-Becker, insbesondere aber auch dem Kollegen Hirte. Ich danke den Kollegen aus den anderen betroffenen AGs.
({2})
Ich danke den Kollegen aus der sozialdemokratischen
Fraktion und dem Ministerium. Ich möchte mich auch
bei den Grünen dafür bedanken, dass sie im Rechtsausschuss zugestimmt haben, obwohl es in den vergangenen
Tagen leider, weil wir einen ganz intensiven, schwierigen und komplexen Abstimmungsprozess hatten, nicht
möglich war, sie ins Antragsrubrum aufzunehmen. Ich
möchte mich dafür bedanken, dass sie trotzdem im
Rechtsausschuss zugestimmt haben. Ich glaube, es ist
ein gutes Signal, wenn wir in diesem Parlament einen
breiten Konsens haben. So können wir in Europa mit
lauter Stimme sprechen.
Vielen Dank.
({3})
Kollege Harbarth, ich will niemanden um seinen
Dank bringen, bitte aber, in Zukunft auch Dankesworte
in der regulären Redezeit unterzubringen.
Das Wort hat die Kollegin Katja Keul für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine Vorredner haben umfangreiche Kritik
an dem EU-Vorschlag für eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung mit einem einzigen Gesellschafter
vorgebracht. Dieser Kritik kann ich mich weitgehend anschließen.
Auch wir Grünen begrüßen zunächst einmal das Ansinnen, die Rahmenbedingungen für eine grenzüberschreitende Geschäftstätigkeit kleiner und mittlerer Unternehmen zu verbessern. Für sie ist es nach wie vor
teuer und aufwendig, grenzüberschreitend tätig zu sein
oder eben eine Tochtergesellschaft im EU-Ausland zu
gründen. Da hier also durchaus ein Bedürfnis nach europäischer Harmonisierung besteht, kann ich nachvollziehen, dass die Bundesregierung keine Subsidiaritätsrüge
erhoben hat. Trotzdem sollten Sie den Vorschlag in dieser Form ablehnen.
Die Einpersonengesellschaft kann lediglich online gegründet werden. Das macht die Identifizierung der Person schwierig und kann dazu führen, dass nichtexistente
Personen oder Strohleute registriert werden. Im letzten
Moment ist jetzt wenigstens die Frist so verlängert worden, dass die Einbindung deutscher Notare - wir haben
es gerade gehört - mittels Webcam möglich ist. Notare
sind immerhin auch ein Mittel der Geldwäscheprävention, und die Bekämpfung von Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung sollte uns in Europa wichtig genug
sein.
Die Bundesregierung meint, mit dem jetzt gefundenen Kompromiss leben zu können. Ich kann ehrlich gesagt nicht nachvollziehen, warum es einem Unternehmer
so wichtig sein soll, in einem anderen EU-Land eine Gesellschaft zu gründen, ohne auch nur ein einziges Mal
dort persönlich anwesend zu sein. Wenn es so wichtig
ist, dort ein Tochterunternehmen zu gründen, dann ist
das doch Anlass genug, wenigstens einmal vor Ort gewesen zu sein, selbst wenn das Geschäftsmodell nur digitale Präsenz erfordert. Sicherlich gibt es viel zu viele
Reisen zu irgendwelchen Meetings weltweit, die man
durchaus reduzieren kann. Die Gründung eines Unternehmens als Reisegrund empfinde ich persönlich aber
nicht wirklich als übertriebene Bürokratie.
Ich komme zum nächsten Kritikpunkt. Das Mindeststammkapital der SUP - spricht man es englisch aus,
denkt man schon wieder an irgendwelche Fahrzeuge; das
Ganze heißt aber auf Latein „Societas Unius Personae“;
man spricht in Europa also wieder Latein - beträgt nur
1 Euro. Anders als bei einer GmbH nach deutschem
Recht gibt es bei der SUP auch keine Pflicht, finanzielle
Rücklagen zu bilden. Gleichwohl ist die Haftung auf das
Gesellschaftervermögen begrenzt. Das ist eine Schieflage, und man fragt sich, wo da Gläubigerschutz und
Verbraucherschutz bleiben.
({0})
Der Kompromissvorschlag des Rates vom 7. April sieht
jetzt die Möglichkeit vor, dass eine weiter gehende Regelung zum Stammkapital durch nationale Gesetze geschaffen werden kann. Das ist zwar ein Fortschritt, aber
dennoch wäre es wohl notwendig, dieses Erfordernis europaweit vorzusehen.
Der härteste Kritikpunkt allerdings ist, dass die SUPs
ihren Satzungssitz nicht am selben Ort haben müssen
wie ihren Verwaltungssitz. Eine GmbH, die nach deutschem Recht mitbestimmungspflichtig wäre, erhält so
die Möglichkeit, sich durch die Umwandlung ihres Unternehmens in eine SUP den in Deutschland geltenden
Mitbestimmungsregeln zu entziehen. Eine solche Aushöhlung der Mitbestimmung ginge zulasten der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Das dürfen wir nicht
zulassen. Und ich bin beruhigt, dass die Koalition das
auch so sieht.
({1})
- Da können Sie auch klatschen! Auch wir finden, dass
die Bundesregierung den jetzt vorliegenden Entwurf ablehnen sollte, und werden daher ihrer entsprechenden
Stellungnahme zustimmen.
Trotzdem noch ein Wort zum parlamentarischen Verfahren. Das kann ich Ihnen nicht ersparen, Herr Habarth.
Jeden Freitagmorgen sitzen wir gemeinsam in unserem
Unterausschuss Europarecht und beraten in aller Sachlichkeit europäische Vorhaben. Oft genug sind wir uns
dort bei der Bewertung der Sache über Kritikpunkte einig und haben auch in der Vergangenheit gemeinsame
interfraktionelle Stellungnahmen gegenüber der Bundesregierung verfasst und beschlossen. Dass Sie von der
Union die Linken bei Anträgen immer wieder ausschließen, ist ja schon peinlich genug. Diesmal aber haben Sie
die Opposition insgesamt - angeblich aus Zeitdruck nicht einmal ansatzweise mit eingebunden. Dafür habe
ich kein Verständnis. Sie hätten uns zu Beginn dieser
Woche noch kurzfristig fragen können, ob wir dabei sein
wollen. Sie hätten uns auch vorher in Ihre Überlegungen
einbinden können.
Hier mag es vielleicht niemanden interessieren, aber
international dürfte eine Stellungnahme des Gesamtparlamentes doch wohl mehr Eindruck machen als die einer
Regierungskoalition, auch wenn sie 80 Prozent ausmacht. Also nächstes Mal, bitte!
Vielen Dank.
({2})
Für die CDU/CSU-Fraktion spricht der Kollege
Dr. Volker Ullrich.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die EUWachstumsstrategie „Europa 2020“ sieht auch die Förderung von kleinen und mittelständischen Unternehmen
vor. In diesem Geiste ist auch die Richtlinie der Europäischen Union zur Einpersonengesellschaft zu sehen.
Die Mehrheit dieses Hohen Hauses sagt klar und
deutlich: Diese Richtlinie wird den Zielen der Förderung
von kleinen und mittelständischen Unternehmen nicht
gerecht. Deswegen lehnen wir sie in dieser Form ab.
({0})
Wir müssen uns fragen, ob es tatsächlich dem Rechtsund dem Geschäftsverkehr dienlich ist, wenn Unternehmen ohne Notartermin und ohne Haftungskapital auf einem simplen Onlineweg gegründet werden können. Ich
denke, Europa braucht keine Rechtsform, die anfällig für
Missbrauch - Geldwäsche, Steuerhinterziehung und
möglicherweise auch Terrorismusfinanzierung - ist, sondern eine Rechtsform, die sich letztendlich auf Rechtssicherheit und Rechtsklarheit stützt. Deswegen wäre die
bessere Alternative keine SUP, die der Idee der ursprünglich britischen Limited nachempfunden ist, sondern eine Europäische Privatrechtsgesellschaft, deren
Haftungssystem dem der deutschen GmbH entspricht.
Wenn Sie sich in den Innenstädten Deutschlands bewegen und ein Unwohlsein empfinden, wenn Sie einen
1-Euro-Shop sehen, dann müssen Sie auch im Rechtsverkehr Unbehagen empfinden, wenn Sie Gesellschaften
gegenüberstehen, die lediglich 1 Euro Haftungskapital
haben. Das bringt doch weder den Geschäftsverkehr
noch die Unternehmen voran.
Wir müssen uns auch fragen lassen, ob die Europäische Kommission bei der Wahl des Rechtskreises und
der Rechtstradition, in der gesellschaftsrechtliche Veränderungen vorgenommen werden, den richtigen Weg
einschlägt. Sicherlich sollten Rechtsinstitute, die auf
europäischer Ebene entstehen sollen und die von der Europäischen Union geschaffen werden, nicht auf den
Rechtsgrundsätzen eines einzigen Landes begründet
werden; das ist gar keine Frage. Auch Rechtsgrundsätze
aus Kontinentaleuropa, aus Deutschland sind nicht immer der Weisheit letzter Schluss. Aber ich glaube, bei
der Konstruktion von Gesellschaftsformen kommt es auf
Vertrauen und auf Rechtssicherheit an. Vertrauen und
Rechtssicherheit schaffen Sie mit Haftungskapital, einem Notartermin und letzten Endes auch durch die Publizität des Handelsregisters. Davon sollten wir nicht abweichen.
Die Europäische Union hat die sogenannte Europäische Aktiengesellschaft geschaffen. Diese ist der deutschen Aktiengesellschaft nachempfunden: mit Hauptversammlungen, mit Haftungskapital, mit Vorstand und
Aufsichtsrat, und sie hat sich bewährt. Gerade weil sich
die Europäische Aktiengesellschaft bewährt hat, sollte
man auch für kleine und mittlere Unternehmen eine Gesellschaftsform wählen, die ein solches Haftungsdach
hat und Vertrauen weckt.
Deswegen ist es richtig, dass der Bundestag sich mit
dieser Resolution dafür ausspricht, die SUP als nicht geeignet einzustufen, und gleichzeitig einen Lösungsweg
aufzeigt, nämlich eine europäische Privatrechtsgesellschaft, die die Lücke hinter der Aktiengesellschaft
schließt, die damit zur Rechtseinheit in Europa beiträgt
und für unsere Unternehmen, die exportieren und europaweit tätig sein wollen, einen geeigneten Rahmen
schafft. Deswegen plädiere ich für die Annahme dieser
Entschließung.
({1})
Für die SPD-Fraktion hat die Kollegin Waltraud
Wolff das Wort.
({0})
Vielen Dank. - Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren!
Zunächst ein Dankeschön an die Rechtspolitiker meiner
Fraktion dafür, dass ich als Sozialpolitikerin zu diesem
Thema reden darf. Die Mitbestimmung ist ja in weiten
Teilen damit befasst.
Nach deutschem Recht ist es so, dass Unternehmen
mit mehr als 500 Beschäftigten einen Aufsichtsrat bilden
müssen; darin müssen ein Drittel Arbeitnehmervertreter
sein. Damit stellen wir in Deutschland Mitbestimmung
sicher. Bei Betrieben mit über 2 000 Mitarbeiterinnen
und Mitarbeitern muss der Aufsichtsrat pari-pari besetzt
sein, also zur Hälfte mit Arbeitnehmervertretern.
Aber immer mehr Unternehmen entziehen sich dieser
Verpflichtung, indem sie ausländische Rechtsformen nutzen. Inzwischen sind in Deutschland circa 200 000 Beschäftigte davon betroffen. Absolut gesehen mag das ein
kleiner Teil sein; aber die Zahl wird immer größer. Sie
könnte auch noch deutlich ansteigen, nämlich wenn die
Einpersonengesellschaften so kommen, wie in der EURichtlinie vorgeschlagen.
Wir sind gegen Scheinfirmen, wir sind gegen Briefkastenfirmen, aber wollen auf europäischer Ebene einer
solchen Richtlinie zustimmen? Ich glaube, die heutige
Debatte hat gezeigt: Wir alle wollen das nicht.
Die Kommission will diesen Gesellschaften unbeschränkt die Möglichkeit geben, Satzungs- und Verwaltungssitz auf verschiedene Mitgliedstaaten aufzuspalten. Also: Ich nehme 1 Euro Einlage, melde im Internet
meine Firma an und wähle meinen Sitz in einem Mitgliedstaat, dessen Wirtschafts- und Sozialsystem die geringsten Anforderungen stellt, Mitbestimmung inbegriffen. Meine Damen und Herren, das wollen wir nicht!
({0})
Deshalb stärken wir der Bundesregierung den Rücken.
Als Parlament sagen wir, dass diese Richtlinie nur zustimmungswürdig ist, wenn in weiteren Verhandlungen
das Verbot der Sitzaufspaltung erreicht wird. Das ist
auch in diesem Haus Konsens.
Ich erwarte noch etwas mehr von der Bundesregierung. Ich erwarte, dass sie in den Verhandlungen auch
andere Länder davon überzeugt, zu dieser Richtlinie
Nein zu sagen; denn jetzt ist es noch möglich, nach alWaltraud Wolff ({1})
tem Recht abzustimmen und eine sogenannte Sperrminorität zu erreichen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir wollen keine
mitbestimmungsfreien Zonen für Unternehmen mit ausländischer Rechtsform. Ich sage das so deutlich, weil
Mitbestimmung in unserem Land ein sehr hohes Gut ist.
Das wollen wir nicht preisgeben.
Vielen Dank.
({2})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments
und des Rates über Gesellschaften mit beschränkter
Haftung mit einem einzigen Gesellschafter; hier: Stellungnahme gegenüber der Bundesregierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 des Grundgesetzes.
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/4843, in Kenntnis der Unterrichtung eine Entschließung gemäß Artikel 23 Absatz 3
des Grundgesetzes anzunehmen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion Die
Linke angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Nicole
Maisch, Friedrich Ostendorff, Harald Ebner,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Transparenz schaffen - Tierhaltungskennzeichnung für Fleisch einführen
Drucksache 18/4812
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft ({0})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Nicole Maisch für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Tierschutz bewegt die Menschen in unserem Land. Über
95 Prozent der Bürgerinnen und Bürger wünschen sich
mehr Tierschutz, wünschen sich, dass Tiere artgerecht
gehalten werden. Über 80 Prozent wünschen sich, dass
die Politik dafür klare und verbindliche Regelungen
schafft, und das ist gut so.
({0})
Vieles von dem, was in unseren Ställen und in den
Schlachthöfen passiert, können wir ethisch nicht mehr
vertreten: Hühnchen, die am Ende ihres kurzen Lebens
nicht mehr aufrecht stehen können; Schweine, die auf
Vollspaltenböden gehalten werden und die die Sonne nur
einmal kurz auf dem Weg zum Schlachthof sehen, oder
Qualzuchten wie die berüchtigten Big-6-Puten, von denen kaum ein ausgewachsenes Tier noch normal stehen
kann.
({1})
Dafür gibt es keine gesellschaftlichen Mehrheiten in diesem Land, und das ist gut so.
({2})
An dieser Stelle sind nicht die Verbraucherinnen und
Verbraucher gefragt, sondern an dieser Stelle sind wir
gefragt, da ist der Minister gefragt, klare Kante gegen
Tierquälerei zu zeigen.
Wir haben erst kürzlich den Bericht des Wissenschaftlichen Beirats für Agrarpolitik vorgelegt bekommen. Da
haben Ihnen die Gutachter auf 400 Seiten einiges aufgeschrieben. Ein Zitat gleich am Anfang möchte ich Ihnen
nicht vorenthalten: Die derzeitigen Haltungsbedingungen eines Großteils der Nutztiere sind nicht zukunftsfähig. - Das ist für uns in der Politik ein Handlungsauftrag. Aber wir wissen, dass die Verbraucherinnen und
Verbraucher uns hier unterstützen.
({3})
Die Verbraucherinnen und Verbraucher wollen und
können ihren Teil zu mehr Tierschutz beitragen. Sie wollen Bauern unterstützen, die mehr tun. Sie wollen Händler unterstützen, die mehr tun. Sie würden auch mehr
Platz, mehr Beschäftigte und eine artgerechtere Haltung
für Kühe, Schweine und Hühner finanziell honorieren.
Verbraucherinnen und Verbraucher sind aber von der
Vielzahl an Labeln, Siegeln und Werbeversprechungen
verwirrt. Da blickt doch kein Mensch mehr durch. Deshalb sagen wir: Wir brauchen eine klare gesetzliche
Kennzeichnung zum Thema Tierwohl.
({4})
Wir schlagen Ihnen in unserem Antrag eine Haltungskennzeichnung für Fleisch mit vier einfachen Stufen - 0,
1, 2 und 3 - vor, die klar darüber Auskunft gibt, wie das
Tier gehalten wurde, von dem das Fleisch stammt.
({5})
Die Erfolgsgeschichte der Eierkennzeichnung sollten
wir an diesem Punkt wiederholen. Bei den Frischeiern
kann doch jeder entscheiden, ob er Eier aus Bodenhal9884
tung, Freilandhaltung oder biologischer Haltung kaufen
will. Bei den Eiern haben wir doch klar gesehen: Die
Verbraucherinnen und Verbraucher haben die Käfigeier
in den Regalen liegen lassen. Die wollten keine Tierquälerei. Die haben sich mit dem Einkaufskorb für mehr
Tierschutz entschieden.
({6})
Wir möchten das ausweiten. Mit der Fleischkennzeichnung ist es den Verbraucherinnen und Verbrauchern
möglich, dem Schnitzel oder Steak aus industrieller
Massentierhaltung die Rote Karte zu zeigen. Das gefällt
vielen in der Union vielleicht nicht,
({7})
aber das ist das, was wir wollen: die Verbraucherinnen
und Verbraucher ermächtigen, an der Ladentheke mit
dem Einkaufskorb Politik für Tierschutz zu machen.
({8})
Wir sind mit unserer Idee nicht alleine. Die Bundesländer arbeiten seit Monaten an einem Modell. Da sind
auch CDU-mitregierte Länder dabei. Da sind alle der
hier vertretenen parteipolitischen Farben dabei. Wir
wünschen uns aber, dass der Bundeslandwirtschaftsminister Rückenwind für diese Idee gibt. Der muss sich
jetzt nämlich mal entscheiden, ob er Tierschützer sein
will oder der Schutzpatron der industriellen Massentierhaltung. Alles gleichzeitig geht nicht.
({9})
- Ja, er muss mal Farbe bekennen.
({10})
Wir sagen: Tierschutz ist eine Frage der Haltung. Haltung kann man nicht nur auf Broschüren zeigen, sondern
die muss man jetzt auch mal beweisen. Hier ist Christian
Schmidt gefragt.
({11})
Der Kollege Alois Rainer hat für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wir reden heute über den Antrag „Transparenz schaffen - Tierhaltungskennzeichnung für Fleisch
einführen“.
({0})
Das hört sich im Grunde genommen gar nicht so
schlecht an.
({1})
Wenn man aber genauer nachschaut, stellt man fest:
({2})
Das ist wieder ein Antrag, der vom Antragsteller ideologisch geprägt ist. Das zeigen Ihre Begründungen. Ich
komme zu einer völlig anderen Interpretation. Sie zitieren Studien, nennen Zahlen und sprechen dann von Irreführung des Verbrauchers.
({3})
Wenn Sie schon zitieren - ich komme hier gern auf die
von Ihnen genannte Umfrage von TNS Infratest zurück -,
dann nennen Sie bitte die gesamte Wahrheit und vergessen Sie nicht, zu erwähnen, dass gerade die Verbraucherinnen und Verbraucher, die Sie in Ihrem Antrag ansprechen, in der Umfrage bekannt gaben, dass sich ihr
Vertrauen in tierische Lebensmittel deutlich verbessert
hat,
({4})
und das komplett ohne ein neues, zusätzliches Label.
({5})
Wir machen die Landwirtschaft bzw. die Ernährungswirtschaft nicht interessanter, wenn wir ein zusätzliches
Label einführen. Wir haben derzeit bereits über 150 Siegel, Label oder Gütesiegel in Deutschland. Ich denke
nicht, dass ein weiteres Siegel zur jetzigen Zeit das geeignete Mittel ist, um den Verbraucher aktiv am Tierwohl zu beteiligen. Vielmehr sollten wir die Ergebnisse
der von Bundesminister Schmidt initiierten TierwohlOffensive abwarten und dann sehr gern konstruktiv darüber diskutieren.
({6})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich bin
nicht gegen Innovationen oder Veränderungen, aber ich
habe etwas gegen voreilige Entscheidungen und Entschlüsse. Vor allem bin ich gegen Panikmache und gegen Schwarzmalerei.
({7})
Denn das sorgt meistens nur für Verunsicherung und
Misstrauen. Wenn wir die gesellschaftliche Akzeptanz
für die Nutztierhaltung in Deutschland nachhaltig verändern wollen, dann müssen wir - das ist okay - über Tierwohl reden. Neben den ethischen dürfen wir aber auch
die wirtschaftlichen Aspekte nicht vergessen. Deshalb
brauchen wir eine praxistaugliche, ökonomische, aber
auch tragfähige Lösung. Wir brauchen eine gute Balance
zwischen Ökonomie und Ökologie und keine weitere
Einschränkung, die den Bürokratie- und Kontrollwahn
nur weiter verstärkt.
Die Verbraucher müssen über die landwirtschaftliche
Nutztierhaltung wahrheitsgemäß aufgeklärt werden. Die
ständigen Verunsicherungen und Verleumdungen bringen hier gar nichts; denn es ist schlichtweg falsch, zu sagen, dass Tiere in größeren Haltungen grundsätzlich weniger Platz haben als in kleinen. Es ist auch falsch, dass
es den Tieren in größeren Haltungen generell weniger
gut geht. Es ist ebenso falsch, Betriebe mit größeren
Tierzahlen als Massentierhaltung abzustempeln, zumal
der Begriff der Massentierhaltung weder definiert noch
zielführend ist.
({8})
Das Wohlbefinden von Nutztieren hängt in der Regel
nicht davon ab, ob jemand 100 oder 1 000 Tiere hält, es
hängt meines Erachtens davon ab, wie ein Betrieb geführt wird und wie es jedem einzelnen Tier geht. Es
hängt auch davon ab, wie die Tiere beobachtet und versorgt werden. Das müssen die Verbraucher erfahren. Eines noch dazu: So nachhaltig wie wir - und auch Sie mit unserem Kapital umgehen, so nachhaltig und fürsorglich - das können Sie mir glauben - geht ein Landwirt mit seinem Kapital um, und das sind bei einem
viehhaltenden Landwirt nun einmal die Nutztiere.
({9})
Noch eines sollten wir ehrlich sagen: Höhere Ansprüche an Erzeugungsbedingungen verursachen höhere
Kosten. Wenn die Bereitschaft der Verbraucher, für mehr
Qualität auch mehr Geld auszugeben, nicht vorhanden
ist, bleiben die Erzeuger auf den Mehrkosten sitzen. Das
ist mit uns so nicht möglich.
Lassen Sie mich zum Abschluss noch einen Satz zu
Ihrer geforderten Agrarwende sagen. Ja, die Landwirtschaft befindet sich in einem ständigen Wandel. Diesen
Wandel müssen und sollen wir auch aktiv begleiten,
ohne dabei die Produktionen durch noch größere bürokratische Hindernisse und eine übertriebene Regulierungs- und Kontrollwut einzuschränken. Ihre Ideen und
Ihre Vorschläge sind meines Erachtens immer noch reine
Polemik und dienen nur der Verunsicherung der Menschen in unserem Land.
Hören Sie deshalb endlich auf mit diesen ständigen
Vorwürfen, hören Sie endlich auf mit dieser SchwarzWeiß-Malerei! Das ist nicht gut, das ist keine vernünftige Politik, das ist Politik von gestern, und die brauchen
wir nicht.
({10})
Die Kollegin Karin Binder hat für die Fraktion Die
Linke das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren auf den Tribünen! Verbraucherschutz und Tierwohl sind nicht nur eine Frage der
Haltung. Ein Teil des Problems liegt auch in der Fleischindustrie und im Lebensmitteleinzelhandel, die beide
den Landwirten immer weniger Geld für Erzeugnisse
wie Fleisch, Milch oder Eier zugestehen. Rohprodukte
werden zu Dumpingpreisen weltweit eingekauft, und dabei werden viele Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen
systematisch ausgebeutet.
Dabei entscheidet gerade die Haltungsform von Tieren wesentlich über die Qualität des Fleischs oder der
tierischen Produkte, die auf unseren Teller kommen.
Massentierhaltung, Antibiotika, Pestizide, Gensoja oder
Nitrat im Trinkwasser - da könnte einem schon einmal
der Appetit vergehen. Immer mehr Verbraucherinnen
und Verbraucher haben das satt.
({0})
Sie sehen nicht nur auf den Preis, sondern auch darauf,
unter welchen Bedingungen Fleisch, Milch und Eier erzeugt werden, also unter welchen Bedingungen die Tiere
ihr Leben leben.
Dazu gehört nicht nur, dass der Werbetext und die
Bilder mit dem Inhalt des Produktes übereinstimmen
müssen. Darum ist das Verbraucherschutzportal www.
lebensmittelklarheit.de unverzichtbar, um Tricks und
Täuschungen bei Lebensmitteln zu unterbinden.
({1})
Gerade bei Fleisch gilt: Nur wer Informationen zur
Herkunft und zur Tierhaltung lückenlos offenlegt, nimmt
Verbraucherschutz wirklich ernst. Doch schon bei der
Frage nach der Herkunft des Fleisches legen sich Hersteller und Bundesregierung quer: Die Frage nach dem
Ursprungsland soll den Verbraucher bei Fleischsalat, Lasagne oder Döner nichts angehen. Angeblich seien die
Kosten für eine solche Verbraucherinformation zu hoch.
Ich sage: Wer seine Lieferkette kennt, muss weder
Kosten noch Verbraucher, noch Pferde- oder Gammelfleisch fürchten.
({2})
Das EU-Parlament fordert deshalb zu Recht eine verpflichtende Herkunftskennzeichnung für verarbeitetes
Fleisch. Nach zahlreichen Verstößen und Skandalen ist
dieser Schritt das Mindeste, um das Vertrauen der Verbraucherinnen und Verbraucher wiederherzustellen.
({3})
Eine vollständige Rückverfolgbarkeit bei der Fleischproduktion trägt maßgeblich dazu bei, Lebensmittelskandale zu verhindern oder zumindest aufzudecken. 90 Prozent der Verbraucherinnen und Verbraucher halten eine
Ursprungsangabe für notwendig, damit sie selbstbestimmte Kaufentscheidungen treffen können.
Der Vorschlag der Grünen zur Kennzeichnung der
Tierhaltungsform ist im Grundsatz zu begrüßen, allerdings bleiben noch viele Fragen offen:
Wie können die Haltungsformen für Rinder,
Schweine, Schafe, Ziegen, Hühner, Gänse, Enten im
Einzelnen unterschieden werden? Wir brauchen Definitionen.
Wie sollen bestehende Tierschutzlabel wie „Neuland“, „Biopark“, „Demeter“, das Tierschutzlabel des
Deutschen Tierschutzbundes oder auch die Tierwohl-Initiative des Ministers eingeordnet werden?
Warum soll nur Frischfleisch gekennzeichnet werden,
während bei der Ursprungskennzeichnung und bei Eiern
eine Ausweitung auf verarbeitete Produkte gefordert
wird?
Sollten nicht auch Milch bzw. Milchprodukte einbezogen werden, bei denen die Verbraucher ebenfalls mehr
Tierschutz fordern? Ich denke, die Milchviehhaltung ist
sicherlich auch eines unserer Themen.
Es reicht uns nicht, darauf zu hoffen, dass eine BundLänder-Kommission irgendwann einmal passende Ergebnisse liefert. Ich glaube, wir sind auch hier gefordert,
möglichst rasch für Veränderungen zu sorgen. Auch
müssen wir klären, wie sich die Verbraucherinnen und
Verbraucher im wachsenden Schilderwald der Lebensmittelkennzeichnungen zurechtfinden sollen. Mehr Klarheit ist wünschenswert und notwendig, damit Tierwohl
und Verbraucherschutz zu ihrem Recht kommen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({4})
Das Wort hat die Kollegin Christina Jantz für die
SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ja, es ist richtig: Wir müssen wirklich transparent machen, wie
Fleisch erzeugt wird, wie die Nutztiere tatsächlich gehalten werden. Da stammen Abbildungen auf den Wurstoder Fleischverpackungen doch eher aus einer Traumwelt als aus dem wirklichen Leben eines Schweins oder
eines Mastrindes. Teilweise sind sie gar absurd; man
denke nur an das Schwein aus der Werbung mit der
Grillzange in der Hand und der Schürze um den Bauch!
({0})
Hier wünsche ich mir deutlich mehr Ehrlichkeit von der
Fleischindustrie.
Aus diesem Grund begrüße ich den Antrag von Bündnis 90/Die Grünen.
({1})
Er greift ein wichtiges Thema auf: die Tierhaltungskennzeichnung. Wir als SPD-Bundestagsfraktion haben uns
bereits mehrfach für eine transparente, klare und verbindliche Kennzeichnung ausgesprochen, die zum einen
natürlich dem Tierschutz bzw. der artgerechten Haltung
Rechnung trägt und zum anderen die Landwirte bei ihren
Bemühungen um mehr Tierschutz im Stall auch adäquat
unterstützt.
Leider leistet die Branchenlösung, initiiert vom Bauernverband und vom Einzelhandel, dies genau nicht.
Hier vermisse ich die Verlässlichkeit für die Landwirte
und die Klarheit für die Konsumenten.
({2})
Die Landwirte müssen beispielsweise mit mehreren
Zehntausend Euro in Vorleistung gehen und ihre Ställe
umbauen. Vor Ort, in persönlichen Gesprächen in den
Landkreisen - bei mir zu Hause in Osterholz und Verden erzählen sie mir natürlich von ihren Sorgen, ihren Existenzängsten, von der Ungewissheit. Sie wissen nicht, ob
die Investitionen, die sie tätigen, tatsächlich gedeckt
werden, ob ihr Engagement aus dem Fonds gefördert
wird. Leider sieht die Realität zurzeit nicht gut aus.
Natürlich kann man sich funktionärsseitig freuen,
dass die Nachfrage so groß ist. Doch was hilft es, wenn
den Anträgen nicht Rechnung getragen werden kann?
({3})
Nach aktuellen Berichterstattungen wird nicht einmal
die Hälfte der Antragsteller berücksichtigt. Hier werden
wertvolles Vertrauen, so finde ich, und Engagement verspielt.
({4})
Zudem kann der Kunde an der Fleischtheke nicht erkennen, ob er nun Fleisch von Tieren aus artgerechter Haltung kauft oder nicht.
({5})
Aber genau dies fordert er, meine Damen und Herren.
Das Beispiel der erfolgreichen Kennzeichnung von
Eiern zeigt, dass eine klare, verbindliche Kennzeichnung
funktioniert. Sie entfaltet die gewünschte Wirkung, und
der Handel kann seiner Verantwortung tatsächlich gerecht werden. Leider ist diese Kennzeichnung nicht verbindlich bei Lebensmitteln und Produkten, die Eier als
Zutat enthalten. Ich finde, hier haben wir absolut noch
Nachbesserungsbedarf.
({6})
Meine Damen und Herren, in seinem Gutachten
„Wege zu einer gesellschaftlich akzeptierten Nutztierhaltung“ präsentiert der Wissenschaftliche Beirat für
Agrarpolitik beim Bundesministerium für Ernährung
und Landwirtschaft seine Ergebnisse, und sie sprechen
eine klare Sprache. Die Gesellschaft, die Bevölkerung
erwartet umfassende Verbesserungen der Haltungsbedingungen, mehr Transparenz bei der Lebensmittelkennzeichnung und die Einführung eines staatlichen Labels.
Ich bin davon überzeugt, dass nur eine verbindliche, unabhängige Kennzeichnung dazu führen kann, dass das
Vertrauen in Labels gestärkt wird und dass die Landwirte
wirtschaftlichen Erfolg und artgerechte Tierhaltung miteinander verbinden können.
({7})
Zurzeit sind die Erzeugerpreise leider so niedrig, dass
den Landwirten oftmals die Hände gebunden sind; sie
müssen die Tiere teilweise unter unsäglichen Bedingungen halten. Es bestehen keine Spielräume für eine tiergerechtere Haltung. Eine differenzierte Kennzeichnung
kann hier nur positive Effekte haben. Durch Label können Tierschutzmaßnahmen konkret entlohnt werden.
({8})
Als Sozialdemokratin ist mir zudem wichtig, dass wir
das Thema differenziert betrachten, dass wir Tierschutz
nicht ohne Landwirte und nicht ohne Konsumenten denken; denn nur dann, wenn wir die Interessen zusammenführen, kommen wir zu tragfähigen Lösungen und hin zu
mehr Tierschutz. Genau diese Betrachtung allerdings
vermisse ich in Ihrem Antrag; insbesondere vermisse ich
den sozialen Aspekt. Zwar sehe auch ich die erfreuliche
Bereitschaft in der Bevölkerung, für gute Lebensmittel
mehr zu zahlen; jedoch muss eine Balance in der Preisgestaltung gefunden werden. Tierschutz und der Kauf
von Fleischprodukten von Tieren aus artgerechter Haltung dürfen kein Luxusgut sein.
({9})
Gutes Essen aus artgerechter Tierhaltung darf nicht nur
den Besserverdienenden vorbehalten sein.
({10})
Wir brauchen ein System, das diese Aspekte berücksichtigt und den Standard insgesamt anhebt.
Das Nutztiergutachten skizziert einen Weg, den wir
aufgreifen und entwickeln müssen. Zudem sollten wir
auf die Erfahrungen des Deutschen Tierschutzbundes
mit seinem Label zurückgreifen. Ich erwarte die Unterstützung aus dem Landwirtschaftsministerium - ich
freue mich darauf -, wenn wir uns als Parlament, als
Fachpolitiker nun auf den Weg machen, das Nutztiergutachten konkret aufgreifen und versuchen, in die Umsetzung zu gehen.
({11})
Meine Damen und Herren, die SPD wird auch weiterhin daran arbeiten, ein verbindliches Label zur klaren,
transparenten Kennzeichnung von artgerecht produziertem Fleisch zu entwickeln. Von ihm müssen die Landwirte und selbstverständlich auch die Tiere profitieren,
und durch moderate Preise muss es den Rückhalt bei den
Verbraucherinnen und Verbrauchern genießen.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({12})
Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege
Johannes Röring das Wort.
({0})
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kollegen! Die Grünen stellen seit September 2014 zum vierten Mal den Antrag, eine Kennzeichnung für Fleisch einzuführen. Damit wird es nicht besser. In der Praxis
erkennt man, dass vieles so nicht möglich ist.
({0})
Aber, liebe Kollegen, Sie geben mir dadurch die Gelegenheit, über das Tierwohl zu sprechen. Schon deswegen bin ich Ihnen dankbar, dass Sie diesen Antrag eingebracht haben.
Ich kann berichten, mit welch großer Empathie sich
die Landwirte täglich um ihre Tiere kümmern, bei der
Pflege und Betreuung. Ich bin Herrn Minister Schmidt
dankbar. Er ist heute nicht hier, aber Frau Staatssekretärin Flachsbarth wird es ihm berichten. Minister Schmidt
hat in vorbildlicher Weise Prozesse angestoßen, die wegweisend sind.
({1})
Ich kann Ihnen berichten, dass die Wirtschaft diese Anstöße aufgenommen und ein neues System entwickelt
hat, bei dem eine enorme Zahl von Landwirten - das ist
keine Nische - an einer Verbesserung des jetzt schon hohen Niveaus der Tierhaltung in Deutschland mitwirken
kann.
({2})
Der grüne Ansatz, Labels einzuführen - Sie fordern
die Einführung eines weiteren Labels -, ist seit 30 Jahren
bekannt; aber er ist immer gescheitert. Verbraucher sind
verunsichert. Deswegen bin ich dafür, dass wir nicht in
gute und schlechte Bauern aufteilen, sondern das Niveau
insgesamt anheben.
({3})
Dann kommt es auch nicht mehr zu einer Stigmatisierung.
Ich kann Ihnen berichten, meine Damen und Herren:
Am 28. April ist die Frist für die Anmeldung zur ersten
Phase der Tierwohl-Initiative ausgelaufen, und es wurden sage und schreibe 25 Millionen Tiere angemeldet.
Zum Vergleich: Das Tierschutzlabel des Deutschen
Tierschutzbundes umfasst 10 000 Tiere. Die Landwirte
haben 25 Millionen Tiere angemeldet, obwohl nur ein
kleiner Anreiz gesetzt wird. Das ist wegweisend. Es geht
nicht nur um Geld,
({4})
sondern die Bauern haben wirklich verstanden, dass hier
etwas zu tun ist; sie gehen mit wirklich großem Engagement voran.
Die Tierwohl-Initiative ist auch von Kollegin Jantz
angesprochen worden. Ich möchte an alle Kollegen hier
im Deutschen Bundestag den Aufruf richten, politisch
mitzuhelfen und dafür zu sorgen, dass wir keinen Landwirt in Deutschland, der mitmachen will, vor der Tür stehen lassen; alle sollen die Möglichkeit zum Mitmachen
bekommen.
({5})
Ich glaube, das Engagement einer solch großen Zahl von
Landwirten ist wichtig. Das ist weltweit einzigartig; das
hat es noch nie gegeben.
({6})
Die Landwirte machen mit und verweigern sich nicht.
Wir können viel über Labels, über das Bewusstsein der
Verbraucher und darüber, was sie zu zahlen bereit sind,
sprechen. Aber hier haben wir die Chance, gemeinsam
auf den deutschen Lebensmittelhandel zuzugehen, ihn
erstens dafür zu loben, dass er mitmacht, und ihm
zweitens zu sagen: Da geht noch mehr. - Es könnten alle
Vertreter des deutschen Handels mitmachen; es sind
noch nicht alle dabei. Ich glaube, die Initiative ist ein guter Ansatz, um sich bei diesem wichtigen Thema nicht
zu entzweien, sondern mitzumachen.
Ich komme auf den Antrag der Grünen zurück. Darin
wird wieder von Labels gesprochen. Ich bin dafür, dass
wir das Thema auf breiter Ebene nach vorne bringen.
Die Initiative ist ein erster Ansatz.
Kollege Röring, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung?
Eine Frage? Ja, gerne.
Beides ist nach der Geschäftsordnung möglich.
({0})
Ich habe nicht das Problem, dass ich nicht reden darf.
Wir haben allerdings leider etwas weniger Redezeit, als
wir gerne hätten. - Kollege Röring, ich habe zwei Fragen. Es führte ein wenig zu Verwirrung, dass Sie die
Tierwohl-Initiative mit Minister Schmidt verbanden.
Uns ist nicht bekannt, dass Minister Schmidt Teil der
Tierwohl-Initiative gewesen ist. Können Sie uns darüber
aufklären, wo er aktiv eingewirkt hat und wann er das
getan hat?
Zweite Frage: Wäre es dann jetzt nicht an der Zeit,
dass Minister Schmidt die Akteure des Lebensmitteleinzelhandels an einen Tisch holt und gemeinsam mit uns
Agrarpolitikern versucht, hier etwas Schwung in die
Zahlungsbereitschaft des Handels zu bringen? Wäre das
nicht ein hohes Ziel, Herr Kollege Röring?
({0})
Ich darf feststellen, Herr Kollege Ostendorff: Sie
schalten sehr schnell. Ich habe gerade einen Aufruf gestartet, und Sie haben ihn, was die Frage angeht, ob wir
da gemeinsam die Initiative ergreifen können, jetzt
schon umgesetzt. Ich glaube, das sollten wir machen.
Ja, Minister Schmidt hat im Laufe des Prozesses deutlich dazu beigetragen, dass dieses Projekt, das in der Tat
seit über drei Jahren vorbereitet wird und ein wirkliches
Novum, einen Paradigmenwechsel darstellt - der Handel
spricht endlich mit den Bauern -, jetzt im Endspurt angekommen ist. Seit knapp einem Jahr hat der Minister
immer wieder erheblich dazu beigetragen, dass dieses
Projekt am Ende gelingen konnte. Ich sage es mit großer
Freude: Wir sind begeistert, dass so viele Landwirte bei
der Tierwohl-Initiative mitmachen wollen. Noch einmal
der Aufruf an Sie alle: Lasst uns das gemeinsam anpacken, damit alle Bauern mitmachen können.
({0})
Ich komme zum Schluss. Ich bin der Meinung: Tierwohl ist nicht teilbar. Es muss für alle Tiere auf allen
Bauernhöfen gelten. Wir müssen mit der Stigmatisierung
aufhören. Wir haben die große Chance, die Tierhaltung
in Deutschland merklich nach vorne zu bringen. Die
Landwirte bekommen diesen Mehraufwand zum ersten
Mal auch honoriert. Ich kann Sie alle nur noch einmal
aufrufen, mitzumachen. Der Antrag der Grünen sieht anderes vor. Deswegen lehnen wir ihn ab.
Herzlichen Dank.
({1})
Ich schließe die Aussprache.
Vizepräsidentin Petra Pau
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/4812 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit
einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 13 auf:
Beratung des Antrags der Bundesregierung
Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der durch die Vereinten Nationen
geführten Mission UNMIL in Liberia auf
Grundlage der Resolution 1509 ({0}) und
nachfolgender Verlängerungsresolutionen des
Sicherheitsrates der Vereinten Nationen, zuletzt Resolution 2190 ({1}) vom 15. Dezember 2014 und der Resolution 2215 ({2}) vom
2. April 2015
Drucksache 18/4768
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({3})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Haushaltsausschuss gemäß § 96 der GO
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. - Ich gehe davon aus, dass die lauten Debatten, die im Moment noch
stattfinden, keinen Widerspruch zu dieser Vereinbarung
bedeuten, und bitte, die notwendigen Umgruppierungen
zügig vorzunehmen und die notwendige Aufmerksamkeit für die folgende Debatte herzustellen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Gabi Weber für die SPD-Fraktion.
({4})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegen
und Kolleginnen! Zunächst eine Feststellung: Ich habe
sieben Minuten, um in der Debatte zur Einbringung des
Mandats - es wird noch eine abschließende Debatte geben - über ein Mandat zu sprechen, das maximal fünf
Soldatinnen und Soldaten umfassen wird.
Verstehen Sie mich nicht falsch: Unsere Rolle und die
Rolle des Parlamentes insgesamt sind beim Einsatz bewaffneter deutscher Streitkräfte im Ausland entscheidend, auch wenn es bloß um den Beschluss geht, einen
stellvertretenden Befehlshaber inklusive persönlichem
Mitarbeiterstab zu entsenden. Allerdings sieht das Parlamentsbeteiligungsgesetz für Fälle wie diesen andere
Möglichkeiten vor, nämlich das vereinfachte Zustimmungsverfahren. Das wissen Sie, liebe Kolleginnen und
Kollegen von der Linken, und trotzdem wollten Sie unbedingt über diesen Einsatz debattieren.
({0})
Als Unterstützerin unserer Parlamentsarmee bin ich
ausdrücklich für eine umfassende Beteiligung des Deutschen Bundestages beim Einsatz der Bundeswehr.
Debatten wie diese relativieren aber aus meiner Sicht andere, sehr viel größere Einsätze der Bundeswehr, was
Umfang und Auswirkung betrifft, zum Beispiel in Mali,
im Kosovo oder in Afghanistan. Andererseits gibt mir
das nun die Möglichkeit, verstärkt über nichtmilitärische
Maßnahmen zu sprechen, die Deutschland in Liberia
durchführt. Dafür dann doch vorab meinen herzlichen
Dank an die Damen und Herren der Linken.
({1})
- Danke!
Seit Ende des Bürgerkrieges 2003 unterstützen die
Vereinten Nationen Liberia beim Wiederaufbau. UNMIL
hat den Auftrag, Zivilpersonen zu schützen, humanitäre
Hilfsleistungen zu erleichtern und die Regierung bei der
Reform der Justiz- und Sicherheitsinstitutionen zu unterstützen. Die Zahl der UNO-Soldaten und -Soldatinnen
reduzierte sich in den vergangenen Jahren von 15 000
auf nun 4 400, dazu 1 400 Polizistinnen und Polizisten.
Ein Wermutstropfen an dieser Stelle: Bisher beteiligte
sich Deutschland mit immerhin 5 Polizisten. Da würde
ich mir eine stärkere Beteiligung unsererseits wünschen.
Denn gerade Polizeiarbeit ist in Nachbürgerkriegsländern ein unglaublich wichtiger Beitrag.
({2})
Eines der größten Hemmnisse bei der Entwicklung
des Landes ist die zerstörte Infrastruktur.
({3})
- Danke für die Unterstützung an dieser Stelle. Deutschland fördert besonders den Auf- und Ausbau von
Straßen und den Verkehrssektor insgesamt. Mit deutscher Technik und gefördert durch die KfW entsteht zurzeit ein Wasserkraftwerk, das Ende 2016 ans Netz gehen
soll und die Stromkosten für die Menschen in Liberia erheblich senken wird. Der nachhaltige und wirtschaftlich
günstige Betrieb wird in der Zukunft Mittel freisetzen,
die anderenorts für einen weiteren Ausbau der Infrastruktur verwendet werden können. Hier machen wir
sozusagen eine Entwicklungsförderung durch die Hintertür, die diesem Land tatsächlich helfen wird. Dies ist
eine gelungene Anschubfinanzierung zur Selbsthilfe.
Seit letztem Jahr richtet sich das Hauptaugenmerk der
deutschen Entwicklungszusammenarbeit auf die Bekämpfung der Ebolaepidemie in Liberia und den angrenzenden Staaten Westafrikas. Aufgrund dieser Epidemie
ging das Wirtschaftswachstum zurück. Die liberianische
Regierung rechnet mit Einnahmeausfällen in Höhe von
25 Prozent des Haushalts. Stellen Sie sich das einmal
hier bei uns in Deutschland vor. Ausländische Unternehmen zogen ihr Personal sowie Investitionen ab. 46 Prozent der arbeitenden Menschen in Liberia verloren ihre
Arbeit, insbesondere in der Landwirtschaft. Sie wissen
genau wie ich, dass die Aussaat auch aufgrund des Personalmangels nicht rechtzeitig erfolgen konnte und in
diesem Jahr erhebliche Ernteausfälle erwartet werden.
Das heißt, zwölf Jahre nach Ende des Bürgerkriegs ist
die Stabilität des Landes mehr durch die Folge der Epidemie als durch die Folgen des Bürgerkriegs gefährdet.
Das können wir so nicht zulassen.
({4})
Deshalb möchte ich an dieser Stelle etwas zu vorsorgender Gesundheitspolitik und internationaler Verantwortung sagen. Liberias Gesundheitssystem ist wie das
der meisten Staaten der Region bereits ohne Ebola strukturell unterfinanziert. Anfang vergangenen Jahres, also
vor dem Ausbruch der Ebolaepidemie, verlangte der
IWF von Liberia eine striktere Sparpolitik. Laut einem
Bericht der Welt vom Dezember letzten Jahres führte
dies zwangsläufig zu einer Reduzierung der Gesundheitsausgaben. Ärzte konnten nicht mehr in ausreichender Zahl eingestellt und Krankenhäuser nicht mehr mit
dem notwendigem Material ausgestattet werden. Das
Ergebnis auch davon war die Ausbreitung von Ebola in
dem jetzt bekannten Maß, die wir seither mit vereinten
Kräften zu bekämpfen versuchen. Der IWF musste für
seine strikten Anforderungen nachträglich erhebliche
Mittel aufwenden. Er stellte im September 130 Millionen Dollar zur Verfügung. So kann man nicht zielführend Entwicklungsarbeit machen, ein Land stabilisieren
und Aufbauarbeit leisten. An dieser Stelle müssen wir
wirklich überlegen, wie wir das zielführender und sauberer machen können.
Aufgrund der Bedingungen der Ebolaepidemie erfolgte der nun beschlossene Truppenabbau von UNMIL
ein Jahr später als geplant. Trotzdem soll Liberia bis Juni
2016 die gesamte Sicherheitsverantwortung im Land
übernehmen. Mein Fazit: Notfalls steht das Militär im
Hintergrund und sorgt für Sicherheit und Stabilität.
Besser und günstiger wären aber eine vorausschauende
Entwicklungszusammenarbeit, Wirtschaftspolitik sowie
faire europäische Handelspolitik, die an den richtigen
Stellen ansetzend erst gar keine Notwendigkeit für Militäreinsätze aufkommen lassen.
Unserem Soldaten und seinem Stab wünsche ich viel
Erfolg und eine glückliche Hand. Diese Mission ist seit
vielen Jahren sehr erfolgreich und wird es hoffentlich
mit unserer Beteiligung bis zu ihrem Ende im nächsten
Jahr auch bleiben. Noch mehr hoffe ich allerdings, dass
eine gute und verantwortungsvolle Entwicklungszusammenarbeit für die Menschen vor Ort mehr erreichen kann
als jedes Militär und damit nachhaltig faire und stabile
Zustände schafft. Daher - das ist mir wichtig - ist es
dringend geboten - so viel zum Schluss -, dass Deutschland seine ODA-Quote auf 0,7 Prozent erhöht.
Vielen Dank.
({5})
Vielen Dank. - Als nächster Redner hat Wolfgang
Gehrcke für die Linke das Wort.
({0})
Schönen Dank, Frau Präsidentin. - Ich bin ja froh,
dass ich zum Schluss Ihres Vortrags noch einen Punkt
gefunden habe, bei dem ich sagen kann: Ja, das sehe ich
ähnlich. - Auch ich will eine ODA-Quote von 0,7 Prozent; das ist schon längst fällig. Dazu könnten Regierung
und Opposition ja einen gemeinsamen Antrag einbringen.
({0})
Ich möchte nun aber ein paar Argumente vortragen
und Sie bitten, darüber nachzudenken. Die erste Frage
ist: Warum präsentiert uns die Bundesregierung, einige
Wochen bevor die Rühe-Kommission ihren Bericht, in
dessen Zentrum das vereinfachte Verfahren steht, vorlegt, hier einen Antrag, der im vereinfachten Verfahren
beschlossen werden soll? Das vereinfachte Verfahren bedeutet ja: Es gibt keine Debatte im Plenum, und wenn
keine Fraktion widerspricht, läuft das durch. Sie können
uns gerne vorwerfen, dass wir zu falschen Schlussfolgerungen kommen.
({1})
Aber werfen Sie uns nicht vor, dass wir blöd sind.
Dass wir Ihnen jetzt das Argument an die Hand geben, einem vereinfachten Verfahren zugestimmt zu haben, bevor der Bericht der Rühe-Kommission debattiert
worden ist, kann doch keiner ernsthaft von einer Oppositionspartei erwarten. Der Trick, im vereinfachten Verfahren das Mandat beschließen zu lassen - das haben Sie
in der Begründung selbst geschrieben -, zielt auf den
Bericht der Kommission und darauf, dass sich das Parlament festlegt. Mein Abwägungsprozess sieht so aus
- unabhängig davon, ob es nur um einen oder zwei Soldaten oder, wie in diesem Fall, um fünf Soldaten geht -:
Die Entsendung jedes Soldaten wird hier im Plenum erörtert und dann beschlossen oder abgelehnt. Das ist unser demokratisches Prinzip.
({2})
Damit werden wir uns auseinandersetzen müssen, wenn
das Parlamentsbeteiligungsgesetz hier auf den Tisch
kommt. Man weiß ja mittlerweile, was da alles gelaufen
ist und abgesprochen wurde.
Wir haben ganz andere Belange, über die man ja auch
einmal reden kann: Warum gibt es keine Bereitschaft,
das Quorum im Plenum auf zwei Drittel zu erhöhen? Es
wäre doch viel besser, wenn das Parlament Auslandseinsätzen mit zwei Dritteln zustimmen müsste; denn dann
hätte jeder eine größere persönliche Verantwortung. Wir
wollen die Hürde anheben und sie nicht einreißen. Deswegen lautet mein erster Punkt: Das vereinfachte Verfahren wird es in diesem Fall und in ähnlichen Fällen mit
uns nicht geben.
({3})
- Ja; ich weiß, dass es für Sie immer Blödsinn ist, wenn
es schwieriger werden soll, Soldaten ins Ausland zu
schicken.
({4})
- Ja, natürlich. Es geht alles, wenn man es will.
Mein zweites Argument ist: Warum fängt die Bundesregierung nicht an, in einer gewissen Logik bis zum
Ende zu denken? Ich finde diesen Antrag ausgesprochen
schlampig.
({5})
Die Begründung dafür, dass man das vereinfachte Verfahren anwenden möchte, beruht darauf, dass man sagt:
Es gibt geringe Gefährdung und geringen Personaleinsatz. - Gleichzeitig schreiben Sie aber, wie zerrüttet das
Land ist und dass dort 4 000 Soldaten im Einsatz sind,
die befohlen werden sollen; es geht hier ja um einen
hochrangigen Kommandeur. Beide Argumente stimmen
also nicht.
({6})
Die Gefährdungssituation ist hoch - es gibt keine Stabilität; sonst haut der Antrag nicht hin -, und der Umfang
wird ganz erheblich sein, da Sie hier einen hohen Kommandeur stellen wollen. Das hätten wir auch vorher miteinander klären können. Es ist ja mit Ihnen abgesprochen worden, dass sich der Kollege bewirbt; darüber
hätte man ja einmal reden können. Das alles hat aber
nicht stattgefunden.
Es stimmt also weder die Aussage, dass es nur eine
geringe Gefährdung gibt, noch die, dass der Personaleinsatz unerheblich ist. Somit dürfte man aber nicht mit
dem vereinfachten Verfahren operieren. Entweder
stimmt also das eine oder das andere nicht. Deshalb
finde ich den ganzen Antrag außerordentlich schlampig.
Ich würde hier gerne auch eine Debatte darüber führen, warum solche Einsätze immer auf Grundlage von
Kapitel VII der UN-Charta und nicht unter der Überschrift „Blauhelmeinsatz“ durchgeführt werden. Ich
hätte gern die Debatte geführt, ob nicht ein Blauhelmeinsatz in dieser Situation angemessen gewesen wäre; denn
angeblich gibt es ja keine oder nur eine geringe Gefährdung. Das wird aber nicht gemacht. Die Bundesregierung zieht durch. Es gibt in diesen Fragen keinen Widerspruch. Für sie war Kapitel VII der UN-Charta die
Grundlage. Dann hat sie auch noch einen Trick angewendet und gefordert, dass wir, bevor der Bericht der
Rühe-Kommission vorliegt, dem vereinfachten Verfahren zustimmen sollen. Sie können aber nicht ernsthaft erwarten, dass eine Oppositionspartei auf so etwas hereinfällt.
Herzlichen Dank.
({7})
Vielen Dank. - Als nächster Redner hat der Staatssekretär Dr. Ralf Brauksiepe für die Bundesregierung das
Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
In meiner schönen Heimatstadt Hattingen war in den
70er-/80er-Jahren die DKP zehn Jahre lang im Stadtrat.
Da waren wir Schwerpunktbezirk bei der Verteilung der
Parteizeitung.
({0})
- Ja, es war manchmal unterhaltsam, das zu lesen. Das
waren Berichte wie aus einer anderen Welt. Daran habe
ich mich erinnert gefühlt, als das Gründungsmitglied der
DKP Gehrcke hier Ausführungen gemacht hat.
({1})
Ich finde, das Thema ist zu ernst, als dass man es in
dieser Weise behandeln sollte.
({2})
Die Ebolakrise ist uns allen ja noch in lebhafter Erinnerung. Ihre verheerenden Folgen stellen Westafrika und
speziell Liberia auch heute noch vor große Herausforderungen. Es geht nicht mehr um einen Bürgerkrieg. Die
instabile Lage aufgrund des Bürgerkrieges ist auch dank
internationaler Hilfe überwunden. Aber die Ebolaepidemie ist laut Resolution 2177 des UN-Sicherheitsrates aus
dem letzten Jahr eine Epidemie, die zu einer Bedrohung
für den internationalen Frieden und die Sicherheit geworden ist. Erstmals hat die Völkergemeinschaft festgestellt, dass eine Krankheit auch eine sicherheitspolitische
Dimension haben kann.
Mir ist es deswegen ein ganz besonderes Anliegen,
mich bei allen Freiwilligen für ihr Engagement und ihre
Bereitschaft, in dieser Ebolakrise für die betroffenen
Menschen mit ihrem persönlichen Beitrag und auch für
unser Land einzustehen, ganz herzlich zu bedanken. Die
Menschen verdienen unseren Dank und unseren Respekt, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({3})
Gerade vor diesem Hintergrund verdient Liberia auch
weiterhin unverändert unsere besondere Aufmerksamkeit.
Das Land befindet sich nach Ende des Bürgerkriegs
2003 und nach über einem Jahrzehnt intensiver Wiederaufbau- und Stabilisierungsprozesse jetzt in einer wichtigen Übergangsphase. Die Sicherheitslage ist dank der
Friedensmission UNMIL der Vereinten Nationen in der
Tat seit Jahren relativ stabil.
({4})
Wichtige Erfolge wie die Durchführung demokratischer Wahlen in den Jahren 2005, 2011 und 2014 sind
nicht zuletzt auch dank der unterstützenden Rolle dieser
VN-Mission überhaupt möglich geworden.
Das Hauptaugenmerk dieser Mission liegt derzeit auf
der Unterstützung des Reformprozesses der Justiz- und
Sicherheitsinstitutionen, aber auch auf dem Schutz von
Zivilpersonen. Die Unterstützung der humanitären Hilfe
und Förderung bzw. Schutz der Menschenrechte nehmen
ebenfalls eine zentrale Rolle ein.
Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen hat darüber
hinaus das Aufgabengebiet von UNMIL im letzten Jahr
auf logistische Unterstützung im Ebolaeinsatz in Liberia
erweitert. Rund 4 500 Soldatinnen und Soldaten sowie
circa 1 500 Polizistinnen und Polizisten leisten durch
zielorientierte Beratung und Unterstützung der liberianischen Regierung einen wichtigen stabilisierenden Beitrag.
Im Rahmen seines eigenen Mandates arbeitet UNMIL
zudem mit der Mission der Vereinten Nationen in der Elfenbeinküste bei der Stabilisierung auch des gemeinsamen Grenzgebietes zusammen, eine Kooperation, die für
moderne, multidimensionale VN-Missionen steht und
als Blaupause auch für zukünftige Einsätze dienen
könnte.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Sicherheitsrat
erwartet, dass die Regierung Liberias spätestens Ende
Juni nächsten Jahres die Sicherheitsverantwortung vollständig von UNMIL übernehmen wird. Die Mission geht
jetzt also in ihre entscheidende Zielphase. Da ist es
schon eine Ehre für uns, dass unser Land am 2. September letzten Jahres vom Sekretariat der Vereinten Nationen gebeten wurde, die Nominierung eines geeigneten
Kandidaten für den Posten des stellvertretenden militärischen Befehlshabers der UNMIL zu prüfen. Der von der
Bundesregierung daraufhin nominierte Bewerber konnte
sich durchsetzen, wie uns die Vereinten Nationen am
15. April, also vor wenigen Wochen, offiziell mitgeteilt
haben. Es ist derzeit beabsichtigt, zu seiner Unterstützung zwei weitere Soldaten beizustellen. In der Tat:
Über diese drei Soldaten reden wir jetzt hier in dieser
Ausführlichkeit.
Lassen Sie mich an dieser Stelle hervorheben, dass
die Anfrage und die bewusste Entscheidung der Vereinten Nationen für den deutschen Bewerber allein bereits
eine Anerkennung unseres Engagements in VN-Friedensmissionen ist. Die geplante militärische Beteiligung
fügt sich ein in ein bereits bestehendes umfassendes Engagement der Bundesregierung zur Stabilisierung dieses
Landes. Von den Polizistinnen und Polizisten zum Aufbau liberianischer Sicherheitsstrukturen ist bereits die
Rede gewesen. Aber auch im Rahmen der deutschen
Entwicklungszusammenarbeit unterstützen wir Liberia
bereits seit dem Ende des Bürgerkrieges, also seit mehr
als zehn Jahren. Flankiert wird dieses Engagement durch
Sondermaßnahmen und humanitäre Hilfspakete im Zuge
der Ebolaepidemie und zur Linderung der Folgen. So
war es erst durch internationale Unterstützung möglich,
die Ebolakrise einzudämmen und die langfristige Kontrolle der Epidemie einzuleiten.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, zum vereinfachten
Verfahren hat die Kollegin von der SPD bereits das Notwendige gesagt. Dies ist in der Tat ein klassischer Fall
dafür. Wir haben eine vergleichsweise stabile Situation,
aber durch die Ebolaepidemie eben eine neue Herausforderung. Wir reden über drei Soldaten. Aber gut, das werden wir aushalten, und die Argumente können wir gerne
austauschen.
({5})
Andere, die dort im Einsatz sind, leisten eine wirklich
wichtige und ehrenwerte Arbeit. Gerade in Zeiten dieser
Krankheit ist sie manchmal auch schwierig. Deren Arbeit dort ist sehr anerkennenswert. Wir sind gerne bereit,
auch darüber zu debattieren. Ob vereinfachtes Verfahren
oder nicht: Sie verdienen den Rückhalt dieses Hohen
Hauses. Darum möchte ich Sie bitten.
Herzlichen Dank dafür.
({6})
Vielen Dank. - Als nächster Redner hat Herr
Dr. Frithjof Schmidt von der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Lieber Wolfgang Gehrcke, das vereinfachte Verfahren
gibt es ja nun schon seit Jahren. Das muss also nicht neu
eingeführt werden. Insofern sollte man einfach immer
von der Sache her beurteilen, ob das sinnvoll ist oder
nicht. Ich will einfach sagen: Da es im Kern darum geht,
dass ein deutscher Offizier die Leitung einer sehr wichtigen UN-Mission übernimmt und noch zwei bis vier Mitarbeiter mitbringen darf, hätte meine Fraktion einem
vereinfachten Verfahren zugestimmt, weil wir finden,
dass das in der Tat ein Fall ist, bei dem man das tun
kann.
({0})
Ich finde es aber überhaupt nicht schlimm, dass wir
jetzt einmal Gelegenheit haben, eine halbe Stunde über
die Situation in Liberia zu diskutieren. Insofern hat das
Ganze auch eine nützliche Seite; denn das Thema verdient dies schon.
({1})
Ich möchte deswegen auch noch einmal darauf hinweisen, warum wir diese Mission unterstützen wollen. Das
hat mir bei Ihrem Beitrag ein bisschen gefehlt. Ich habe
auch nicht ganz verstanden, ob die Linke die UNO und
ihre Arbeit in Liberia jetzt unterstützen will oder nicht.
({2})
Das ist ja eigentlich die politisch wichtige Frage.
In Liberia hat 14 Jahre lang einer der schlimmsten
Bürgerkriege auf dem afrikanischen Kontinent getobt.
Das war wirklich brutal. Und es war eine ganz große Herausforderung für die UNO, dort 2003 nicht nur den
Waffenstillstand zu stabilisieren - das war einer der wenigen Fälle, wo so etwas einmal erfolgreich war -, sonDr. Frithjof Schmidt
dern auch die Bürgerkriegsparteien zu entwaffnen. Deswegen machte es in diesem Fall auch Sinn, auf
Kapitel VII der Charta der Vereinten Nationen zurückzugreifen, weil man eine Entwaffnung nicht ohne Weiteres
hinbekommen hätte, wenn man nicht die entsprechenden
Möglichkeiten dazu hat.
Die UNO musste in diesem völlig zusammengebrochenen Land alle Staatsaufgaben übernehmen, weil fast
alle Strukturen zusammengebrochen waren. Das ging
weit über das klassische Peacekeeping hinaus. Jetzt sind
sie seit zwölf Jahren da, und nach diesen zwölf Jahren
gibt es in der Bilanz natürlich Licht und Schatten. Auch
UNMIL konnte die Korruption im Land nicht eindämmen, und noch immer funktioniert vieles in Liberia nicht
gut. Trotzdem muss man sagen: UNMIL war und ist eine
der erfolgreichsten Missionen der Vereinten Nationen.
({3})
Es konnte eine stabile Staatsstruktur aufgebaut werden. Es ist wirklich gelungen, einen politischen Versöhnungsprozess im Land anzustoßen; das ist eine große
Leistung. Das Ansehen der UN-Soldaten bei den Bürgerinnen und Bürgern Liberias ist sehr hoch. Die politische
Lage ist wieder stabil. 2005, 2011 und 2014 konnten
Wahlen durchgeführt werden, die das Wort „Wahlen“
wirklich verdient haben, und mit Ellen Johnson Sirleaf
wurde 2005 auch die erste afrikanische Präsidentin gewählt.
({4})
Man kann also sagen: Es gibt dort eine demokratische
Entwicklung. Das ist mehr, als man über viele andere
Krisenländer, in denen man interveniert hat, sagen kann.
Deshalb unterstützt meine Fraktion diese UN-Mission
wirklich nachdrücklich, und deshalb ist es auch richtig,
dass sich Deutschland dort etwas stärker - so viel ist es
ja nicht, aber das will ich gar nicht weiter kritisieren engagiert.
({5})
Man kann einfach festhalten: Liberia ist noch lange
nicht am Ziel. Justiz- und Sicherheitsreformen müssen
durchgeführt werden. Der Wiederaufbau einer funktionsfähigen Polizei muss vollendet werden. Humanitäre
Unterstützung ist weiterhin nötig. Wir haben bereits über
die Ebolakrise gesprochen. Dafür, dass man diese Epidemie überhaupt einigermaßen in den Griff bekommen
konnte, war die Tatsache ganz zentral, dass UNMIL
staatliche Strukturen wiederaufgebaut hatte und dort
auch aktiv Hilfe geleistet hat. Auch in diesem Zusammenhang ist diese Mission ungeheuer wichtig gewesen.
UNMIL ist jetzt in einer entscheidenden Phase. Bis
2016 soll die Sicherheitsverantwortung an die liberianische Regierung übergeben werden. Von ehemals 15 000
Soldaten sind jetzt noch etwa 4 500 im Land. Die Anzahl
soll weiter heruntergefahren werden. In dieser entscheidenden Phase hat die UNO einen deutschen Kandidaten
für die stellvertretende Leitung der Mission ausgewählt
und bittet nun Deutschland, diesen und bis zu vier weitere Soldatinnen und Soldaten für die Arbeit in UNMIL
freizustellen. Dazu kann ich nur sagen: Das ist gut; und
wenn wir der UN-Mission an zentraler Stelle helfen und
sie stärken können, dann sind wir dafür.
({6})
Letzte Bemerkung. Wenn wir die vielen internationalen Krisen sehen, dann ist für uns die Stärkung der Vereinten Nationen auf allen Ebenen das politische Gebot
der Stunde. Das gilt auch und gerade für den Peacekeeping-Bereich. Die UNO stellt immer wieder drängende Anfragen, und wir sollten unsere Fähigkeiten so
aus- und umbauen, dass wir verstärkt helfen können. Für
uns gehört das ins Zentrum der sicherheitspolitischen
Diskussion. Ich empfehle meiner Fraktion nachdrücklich, diesem Mandat zuzustimmen.
Danke für die Aufmerksamkeit.
({7})
Vielen Dank. - Als letzter Redner in dieser Debatte
spricht Philipp Mißfelder für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Den Worten meines Vorgängers möchte ich mich
gerne anschließen; denn Herr Schmidt hat aus meiner
Sicht sehr gut deutlich gemacht, dass UNMIL eine der
erfolgreichsten UNO-Missionen ist. Das zeigt, wie wichtig es ist - wir diskutieren hier ja immer wieder über
ganzheitliche bzw. nachhaltige Auslandseinsätze und
über Lösungsansätze für schwierige Regionen wie die in
Afrika -, dass man versucht, die Mittel zu kombinieren.
Das betrifft Entwicklungszusammenarbeit und wirtschaftliche Zusammenarbeit, aber auch finanzielle Instrumente, und letztendlich gehören dazu auch Polizeimaßnahmen - wir sind auch mit fünf Polizisten im Land
aktiv - und militärische Maßnahmen, auch wenn sie in
diesem Fall nur in sehr begrenztem Maße stattfinden.
Ich bin Staatssekretär Brauksiepe besonders dankbar,
dass er die Worte von Herrn Gehrcke, was den militärischen Charakter dieses Mandats angeht, richtig eingeordnet hat. Der humanitäre Beitrag, den UNMIL leistet,
ist nicht außer Acht zu lassen. Man sollte das aber nicht
mit einem Kampfeinsatz verwechseln und so tun, als ob
es darum ginge, in einen Krieg zu ziehen. Das ist nicht
der Fall. Diese Ihre Beschreibung, Herr Gehrcke, fand
ich genauso wenig passend wie die Tatsache, dass Sie
sich bei Verfahrensfragen aufgehalten haben. Aber darauf ist Herr Staatssekretär Brauksiepe bereits ausführlich eingegangen.
Wir haben über das hinaus, was wir im Rahmen von
UNMIL leisten, sehr viel für die Entwicklung des
Landes getan, und zwar nicht allein im Rahmen der bilateralen Entwicklungszusammenarbeit. So wurde im
Rahmen des Pariser Clubs die Entschuldung des Landes
herbeigeführt - ein Beispiel für finanzielle Maßnahmen,
die ich eben angesprochen habe. Man sollte nämlich
nicht glauben, dass es möglich ist, ein Land nur durch
Spenden oder einmalige Wohltaten auf den richtigen
Weg zu bringen. Vielmehr muss man versuchen, auch
die fiskalischen Probleme in den Griff zu bekommen.
Das ist mithilfe der internationalen Gemeinschaft geschehen.
Die Präsidentin ist mittlerweile wiedergewählt worden; Herr Schmidt hat das bereits angesprochen. Die
große Bewährungsprobe für afrikanische Länder ist - in
Ghana ist das sehr gut gelungen; Nigeria steht nun vor
dieser Herausforderung -, ob auch ein friedlicher Machtwechsel gelingt. Ich würde die Funktionsfähigkeit von
Demokratien in Afrika also nicht nur an einer Wiederwahl festmachen. Die Transition von der Opposition zur
Regierung ist eigentlich der entscheidende Lackmustest
dafür. Ich finde, dass Liberia auf einem guten Weg ist.
Aber die letztendliche Entwicklung lässt sich heute noch
nicht voraussehen.
Es wurde bereits von mehreren Rednern angesprochen: Zu Elend und Armut in diesem Land kam die
Ebolakatastrophe als großes Unglück hinzu. Vor diesem
Hintergrund ist es notwendig, das Land weiterhin zu unterstützen. Ich halte jeden für mutig, der bereit gewesen
ist, in die Ebolaregion zu gehen, seien es in diesem Fall
die Angehörigen der Bundeswehr, die Polizeiangehörigen, unsere Entwicklungshelfer, die Menschen, die dort
ehrenamtlich tätig sind, oder die Vertreter des Auswärtigen Amtes. Wir haben in dieser Region tatsächlich eine
Situation, die sehr viel persönlichen Mut abverlangt,
überhaupt dort hinzugehen. Deshalb möchte ich nicht
nur für das Mandat werben und um Zustimmung in der
weiteren Beratung bitten, sondern auch denjenigen danken, die sich auf diesen schwierigen und mutigen Weg
gemacht haben.
Herzlichen Dank.
({0})
Vielen Dank. - Damit schließe ich die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/4768 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Jan
Korte, Dr. André Hahn, Sigrid Hupach, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Unabhängige Historikerkommission zur Geschichte des Bundeskanzleramtes einsetzen
Drucksache 18/3049
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien ({0})
Innenausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Ich höre dazu
keinen Widerspruch. Dann ist es auch so beschlossen.
Ich kann die Aussprache eröffnen, sobald die Kolleginnen und Kollegen ihre Plätze eingenommen haben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat Jan Korte für die Fraktion
Die Linke das Wort.
({1})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Morgen, am 8. Mai, danken wir den Alliierten für die
Befreiung Europas von der Herrschaft des Hakenkreuzes. Wir gedenken der Opfer. Heute aber wollen wir
einen Blick auf die Täter richten; denn diese prägten
maßgeblich die Geschicke der frühen Bundesrepublik.
Die frühe Bundesrepublik war geprägt von der Rückkehr der alten Eliten in Staat, Wirtschaft, Militär und,
besonders verheerend, in die Justiz; denn sie kehrten
nicht nur zurück als Täter und Massenmörder, sondern
sie prägten die Rechtsprechung in der Bundesrepublik,
zum Beispiel bei der Gehilfenrechtsprechung. Selbst der
Adjutant von Auschwitz, der an Vergasungen selber beteiligt war, wurde nicht als Täter verurteilt, sondern als
Gehilfe.
In der Gesellschaft damals, bei der Masse der Bevölkerung dominierte Verdrängung. Die großen Sozialpsychologen Alexander und Magarete Mitscherlich
nannten es „die Unfähigkeit zu trauern“. Erst durch minoritäre Gegenpositionen bewegte sich etwas. Ich denke
dabei an Martin Niemöller und das Stuttgarter Schuldbekenntnis, an Eugen Kogon und natürlich an den großartigen Fritz Bauer. Noch in den 50er-Jahren galt Stauffenberg übrigens aufgrund seines Attentatsversuchs am
20. Juli als Landesverräter bei den Eliten und weiten
Teilen der Gesellschaft. Erst im Remer-Prozess führte
Fritz Bauer den brillanten Nachweis, dass ein Unrechtsregime wie der Nationalsozialismus gar nicht hochverratsfähig sein kann. Er brachte es auf die Formel: Unrecht kennt keinen Verrat.
({0})
Erst durch diese Gegenpositionen und viele andere
änderte sich etwas. Ich erinnere an den vom hessischen
Generalstaatsanwalt Fritz Bauer initiierten AuschwitzProzess. Ich erinnere an Emigranten wie Willy Brandt,
die damals übrigens in der Politik als Landesverräter
beschimpft wurden, und insbesondere Willy Brandts
großartige Geste, den Kniefall im Warschauer Ghetto.
Willy Brandt tat das als Opfer; er war kein Täter. Die
Täter haben sich nicht entschuldigt. Schließlich erinnere
ich an die 68er, die maßgeblich zur Aufarbeitung beigetragen haben durch unzählige Geschichts- und Gedenkinitiativen. So gab es vor 20 Jahren - auch das ein Jubiläum - die erste Wehrmachtsausstellung. Auch daran
sollten wir uns erinnern, und wir sollten den Machern
von damals noch einmal einen großen Dank für diese Tat
der Aufklärung zollen.
({1})
Die Kehrseite ist allerdings, dass die Deserteure erst
im Jahre 2002 rehabilitiert wurden, die Kriegsverräter
erst im Jahre 2009, und die sowjetischen Kriegsgefangenen bis dato immer noch eine vergessene Opfergruppe
sind und bis heute immer noch nicht entschädigt worden
sind. Auch das wird höchste Zeit. Es leben nur noch wenige.
({2})
All diese Gegenpositionen, all diese Initiativen und
das Insistieren von kritischer Wissenschaft, von engagierten Journalisten führten zu einem Umdenken. Die
Erfolge will ich auch benennen.
Die Studie Das Amt und die Vergangenheit über den
verbrecherischen Charakter des Auswärtigen Amtes innerhalb des NS-Regimes ist ein Meilenstein gewesen,
nicht nur weil dort sehr viel Neues stand - es stand auch
vieles drin, was schon bekannt gewesen ist -, sondern
vor allem deswegen, weil ein damaliger Außenminister
- in diesem Fall Joschka Fischer - eine solche Historikerkommission offiziell eingesetzt hat und diese von
Guido Westerwelle als weiterem Außenminister fortgesetzt wurde. Das ist gar nicht hoch genug anzurechnen.
({3})
Auch die unabhängige Historikerkommission zur Erforschung der Geschichte des BND hat entgegen meinen
Annahmen - ich hätte das gar nicht für möglich gehalten extrem viel Gutes, Neues und Kritisches über die braunen Wurzeln beim BND hervorgebracht. Auch das war
eine gute Sache.
({4})
Heute muss es um die damalige politisch-administrative Schaltzentrale gehen, nämlich um das Kanzleramt.
Wer die anderen aktuellen Projekte, auch das beim BMI,
für sinnvoll hält, kann nicht allen Ernstes gegen die Einsetzung einer unabhängigen Historikerkommission zur
Geschichte des Kanzleramts sein;
({5})
denn im Kanzleramt wurde politisch entschieden, dass
die alten Eliten zurückkommen, und von dort aus wurde
das kollektive Schweigen politisch organisiert und gesteuert. Hans Globke war ja nur die Spitze des Eisbergs.
Um es noch einmal in Erinnerung zu rufen: Globke war
von 1953 bis 1963 Chef des Kanzleramtes, und er war
zuvor Mitverfasser und Kommentator der Nürnberger
Gesetze; das sollte man nicht vergessen.
Adenauer, der nun gewiss kein Nazi war, nicht einmal
ansatzweise,
({6})
hat diese Politik willentlich in Kauf genommen; denn sie
hat bei Wahlen in der Bevölkerung Mehrheiten gebracht
- und das ist das eigentlich Traurige. Wer für lückenlose
Aufarbeitung ist, kann um diese exekutive Schaltzentrale keinen Bogen machen.
({7})
Das Beste wäre natürlich, wenn die Initiative dafür vom
Kanzleramt selbst ausgehen würde. Im Übrigen, Kollege
Lengsfeld, ist das auch eine Gelegenheit für die CDU,
über ihre Rolle bei der Politik der 50er- und 60er-Jahre
nachzudenken.
Zum Schluss. Ralph Giordano, der kürzlich verstorbene große Publizist, hat in seinem Buch Die zweite
Schuld oder Von der Last Deutscher zu sein zu dieser
Zeit Folgendes gesagt - ich zitiere -:
Als sei die Adenauerära bis hinein in die sechziger
Jahre so etwas gewesen wie eine gigantische
Korrumpierungsofferte der konservativen Herrschaft an ein mehrheitlich auseinandersetzungsunwilliges Wahlvolk, eine Art Stillhalteangebot, das
sich teils wortlos aus der allgemein konspirativen
Atmosphäre ergab, teils aber auch kräftig organisiert war. Diese Offerte lautete: Für die kollektiven
Wiedereinstellungen selbst schwerstbelasteter
Berufsgruppen, für Pensionskontinuität, für die Exkulpierungsagitation - für all das: demokratisches
Wohlverhalten! Diese Offerte ist akzeptiert worden
- der große Frieden mit den Tätern.
Politisch trägt dafür in besonderer Weise das Kanzleramt
von damals die Verantwortung. Daher sollte die Geschichte des Kanzleramtes jetzt aufgearbeitet werden.
Das wäre ein ganz kleiner Schritt zur Abtragung der
„zweiten Schuld“.
Vielen Dank.
({8})
Vielen Dank. - Als nächster Redner hat Herr
Dr. Lengsfeld das Wort für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Trotz Ihrer Rede, Herr
Kollege Korte, hat der Antrag der Linksfraktion auf den
ersten Blick eine gewisse seriöse Anmutung: „Unabhängige Historikerkommission zur Geschichte des Bundeskanzleramtes einsetzen“. Man könnte denken: Ja, wir
klären die NS-Geschichte der Fachministerien auf, also
könnten wir doch darüber diskutieren, diese Aufklärung
auf das Bundeskanzleramt auszuweiten.
({0})
Trotzdem hatte ich bei diesem Antrag von Anfang an ein
komisches Gefühl, und Ihre Rede hat dieses Gefühl
natürlich massiv verstärkt, Herr Kollege. Dies regte sich
schon angesichts des Zeitpunktes der Einbringung Ihres
Antrags. Der ursprüngliche Antragstext stammt vom
November 2014, eingebracht hat die Linksfraktion ihn
aber erst jetzt, in der Plenarwoche mit dem 8. Mai, dem
Tag der Befreiung vom nationalsozialistischen Terrorregime, den wir morgen begehen. Dieser Antrag ist ganz
offenbar Teil einer größeren PR-Kampagne.
({1})
Jetzt könnte man sagen: Okay, die Linkspartei ist aufgrund ihrer eigenen, schwer belasteten Vergangenheit
eben sehr geschichtsbewusst und möchte mithelfen, dass
diese Demokratie die Verbrechen und Fehlleistungen ihrer Geschichte nie vergisst; und ein bisschen PR machen
wir ja alle. Leider ist die Sachlage aber eine ganz andere.
Diesen Antrag in dieser Form zu diesem Zeitpunkt von
dieser Fraktion empfinde ich als Frechheit, meine Damen und Herren!
({2})
Die NS-Aufarbeitung der Fachressorts ist in vollem
Gange. Dies wird eindrücklich durch die ausführliche
Antwort auf die Kleine Anfrage der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/4238 vom März
dieses Jahres belegt.
Ich gehe gerne auch in die Details. Es ist klar, dass für
die Bundesfachressorts sehr intensive Arbeiten zur Aufarbeitung ihrer NS-Zeit laufen. Auch über die Nachwirkungen auf deren Wiederaufbau wird geforscht. Auslöser war, wie erwähnt, die Arbeit der Unabhängigen
Historikerkommission für das Auswärtige Amt, welches
als Pionier voranging. Jetzt laufen solche Arbeiten - um
nur einige wichtige Ministerien zu nennen - auch für das
Bundesministerium für Arbeit und Soziales, das Bundesministerium der Finanzen, das Bundesministerium der
Justiz und das Bundesministerium des Innern. Übrigens
wird auch die Vergangenheit des Fachressorts BKM
aufgearbeitet. Gleiches gilt - das wurde auch schon erwähnt - für den BND und das BKA.
Das ist aber noch nicht alles. Die Aufarbeitung findet
auch in nachgeordneten Bundesinstitutionen statt: in der
Bundesagentur für Arbeit, in der Deutschen Nationalbibliothek, im Bundesarchiv oder im Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe. Auch diese
Aufzählung ist nur exemplarisch.
Auf Seite 14 der Beantwortung der Kleinen Anfrage
finden Sie eine übersichtliche Tabelle mit der vollständigen Liste der Ministerien und Institutionen inklusive der
gar nicht so geringen Kosten und des Bearbeitungsstatus. Die NS-Vergangenheit und ihre Auswirkungen auf
die Nachkriegszeit werden für die Fachressorts der Bundesrepublik also sehr umfassend aufgearbeitet, meine
Damen und Herren. Das ist auch kein Zufall; denn diese
Koalition hat sich dazu im Koalitionsvertrag gemeinsam
verpflichtet.
({3})
Um ganz sicherzugehen, dass keine Lücken bestehen,
wurden von der Staatsministerin für Kultur und Medien
die zwei großen zeitgeschichtlichen Forschungsinstitute
mit einer Bestandsaufnahme beauftragt. Deren Ergebnisse werden sicherlich von den entsprechenden Ressorts berücksichtigt.
Die NS-Zeit der Fachressorts wird also umfassend
aufgearbeitet. Dem würde vermutlich - so habe ich Sie
auch verstanden, Herr Kollege Korte - nicht einmal die
Linkspartei widersprechen. Was also soll der Antrag der
Linksfraktion? Er möchte eine Aufarbeitung der demokratisch legitimierten Nachkriegszeit des Bundeskanzleramtes von 1949 bis 1984 bewirken. Die Stoßrichtung
des Antrags zielt auf den Umgang des Bundeskanzleramtes mit der Aufarbeitung der NS-Zeit in den Fachministerien und der Gesellschaft insgesamt. Herr Korte hat
dies ja gerade wortreich erläutert. Und wieder sage ich:
Es ist ja nicht so, dass dieses Anliegen der Linksfraktion
vollkommen abwegig wäre. Im Bundeskanzleramt wie
in Westdeutschland insgesamt ist sicherlich nicht alles
gleich richtig gemacht worden.
Ich sage es noch einmal: Wenn man unterstellt, dass
eine schwer gebrandmarkte Partei aufgrund der schonungslosen Aufarbeitung der eigenen Geschichte besonders sensibilisiert ist für mögliche Schwächen bei anderen und hier quasi helfen will, dann gäbe es - ich
wiederhole mich ausdrücklich - eine gewisse Legitimation für diese Diskussion heute. Leider ist dem aber nicht
so; denn im Antrag wird ein sehr, sehr wichtiger Aspekt
verschwiegen. Wenn wir über die Nachkriegszeit in
Westdeutschland nachdenken - gerade im Hinblick auf
den Umgang mit der NS-Vergangenheit -, dann müssen
wir auch über die Rolle der SED und der DDR-Staatsmacht reden. Denn die SED hat jahrzehntelang unter
ungeheurem Einsatz von Geld, Archivmaterialien, des
Staatsapparats, aber auch vieler informeller Mitarbeiter
in den Medien und der Wissenschaft in Ost und West
eine massive Kampagne gegen die demokratische BRD
gefahren, und zwar mit dem klaren Ziel, den demokratischen Staat zu denunzieren. Es wurde suggeriert, dass in
Westdeutschland die NS-Vergangenheit nicht nur nicht
aufgearbeitet wurde, sondern dass es eine personelle,
geistige und strukturelle Kontinuität gab. Im Visier dieser Propagandakampagnen waren immer zuerst die Repräsentanten der Demokratie, allen voran das Bundeskanzleramt.
Die Kampagnen waren übrigens gar nicht so erfolglos, auch deswegen, weil nicht alle Vorwürfe völlig
falsch waren. Das prominenteste Beispiel - es ist hier
auch schon erwähnt worden - ist natürlich die NS-Verstrickung des langjährigen Kanzleramtschefs Hans
Globke. Trotzdem waren die Mittel der SED im Kampf
gegen Bonn alles andere als rechtsstaatlich oder fair. Es
wurde auch nicht davor zurückgeschreckt, fehlendes belastendes Material selbst nachzufabrizieren oder existieDr. Philipp Lengsfeld
rendes Material stark anzuspitzen. Der Zweck heiligt die
Mittel; so haben es die Stalinisten immer gemacht. Es
war eine schmutzige, asymmetrische, antidemokratische
Propagandaschlacht.
({4})
Meine Damen und Herren, der Antrag der Linksfraktion blendet diesen Teil der gemeinsamen deutschen Geschichte völlig aus. Auch in Ihrer Rede, Herr Kollege
Korte, habe ich davon kein einziges Wort gehört.
({5})
- Darum geht es nur aus Ihrer Sicht nicht; aber natürlich
geht es darum. - Dabei wäre ein Verschweigen, wie Sie
es hier an den Tag gelegt haben, gar nicht nötig gewesen;
denn die massive Kampagne der SED hatte auf verquere
Art und Weise eine durchaus positive Wirkung, und
zwar für die Demokratie in Westdeutschland, da sie die
tatsächlich oft zu zögerliche Aufarbeitung massiv befeuerte. Trotzdem ist von den Propagandalügen der SED gegen das damalige Kanzleramt und seine demokratisch
gewählten Verantwortungsträger - Konrad Adenauer,
Ludwig Erhard, Kurt Georg Kiesinger, Willy Brandt,
Helmut Schmidt und Helmut Kohl; der von Ihnen vorgeschlagene Zeitraum geht ja bis 1984 - zu viel im kollektiven Gedächtnis dieses Landes verblieben, sodass man
das bewusste Verschweigen - das ist ja Ihr Thema - dieses Teils der Geschichte als weiteres Kapitel genau solcher Propaganda ansehen kann oder vielleicht sogar ansehen muss.
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linkspartei, der
vernünftige Teil Ihrer Fraktion - ich denke immer noch,
dass es den gibt; vielleicht täusche ich mich da auch ({6})
hat hier wieder einmal eine große Chance vertan. Diesen
Antrag in dieser Form und zu diesem Zeitpunkt einzubringen, war kein ernstgemeintes Gesprächsangebot,
sondern ein rein taktisches Manöver der Scharfmacher in
Ihren Reihen, und genauso werden wir Ihren Antrag
auch behandeln.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({7})
Vielen Dank. - Jetzt hat Jan Korte von der Linken das
Wort für eine Kurzintervention.
({0})
Es ist in der Tat die Frage, ob es sich lohnt, darauf
einzugehen. Aber das steht ja nun einmal im Raum, und
zumindest drei Anmerkungen will ich dazu machen.
Erstens. Kollege Lengsfeld, man muss im Kopf schon
wirklich sehr schräg drauf sein, um bei diesem Antrag zu
dieser Debatte darauf zu kommen, dass das eine Fortsetzung von SED-Propaganda aus dem Kalten Krieg wäre.
So schräg muss man erst einmal drauf sein.
Zweitens. Es interessiert mich ja schon: Was bitte
hatte die SED, über die wir zu Recht immer wieder kritisch diskutieren und deren Geschichte wir aufarbeiten
({0})
- ich war nicht in der SED; ich bin wie die Kollegin
Högl in Osnabrück geboren; also bitte, was soll das
denn? -, mit der Vergangenheit von Hans Globke zu
tun? Was hatte die SED damit zu tun, dass Hans Globke
an der Verfassung der Nürnberger Gesetze beteiligt war?
Das ist doch aberwitzig, was Sie hier erzählen.
({1})
Drittens. Das sei dann schon noch einmal gesagt: Wir
reden hier über schwerstbelastete NS-Täter, die maßgeblich durch das Kanzleramt, durch die politische Weichenstellung damals, wieder in Amt und Würden kamen.
Ich finde es nicht angemessen, das Thema so zu behandeln. Denn es geht hier um eine Vergangenheit als Einsatzgruppenleiter, die Zehntausende von Frauen, Kindern und Männern hingemetzelt haben. Es geht um
Auschwitz, um Treblinka und vieles andere mehr. Wie
kommen Sie eigentlich bei so einem Thema auf eine solche Argumentation?
Wenn hier irgendjemand im Kalten Krieg voll hängen
geblieben ist, dann sind es Sie.
({2})
Herr Lengsfeld.
Lieber Herr Kollege Korte, ich hatte mir vorher überlegt, was als Gegenreaktion von Ihnen kommen könnte.
Ich hatte nicht erwartet, dass Sie sich hier einfach hinstellen und so tun, als ob es das alles nicht gegeben hätte.
Ich könnte meinen gesamten Vortrag noch einmal halten.
Stattdessen frage ich Sie ganz klar: Wollen Sie etwa behaupten, dass es die massive Propagandakampagne der
SED und der DDR überhaupt nicht gegeben hat?
({0})
Ich habe hier überhaupt keine Taten relativiert. Aber
ist Ihnen klar, dass die DDR Schauprozesse vor der
Weltpresse inszeniert hat, mit Hans Globke, aber auch
mit anderen?
({1})
Ist Ihnen klar, dass Erich Mielke Materialien fabriziert
hat, ein eigenes Archiv geführt und eine große Abteilung
gegründet hat, die sich den lieben langen Tag nur mit
den von Ihnen hier dargestellten Themen beschäftigt
hat?
({2})
Ziel dieser Kampagnen war das Bundeskanzleramt.
({3})
Ich empfinde es schon als eine Frechheit - dass Sie
später geboren wurden und dass Sie aus dem Westen
sind, ist schön und gut -, dass Sie sich hier hinstellen
und Ihre eigene Geschichte oder vielmehr unsere gemeinsame Geschichte leugnen wollen.
({4})
Dass Sie hier so tun, als ob der zugegebenermaßen kleinere Staat gar keinen Einfluss auf die ganze Debatte
hatte und dass die ganze Art und Weise, wie gegen Westdeutschland, gegen die Kanzler und das Bundeskanzleramt gehetzt wurde, mit Ihrer Diskussion und mit der historischen Aufbereitung, die Sie hier machen, gar nichts
zu tun hat, finde ich ziemlich dreist.
({5})
Ich hätte nicht gedacht, dass Sie das versuchen.
Ich empfehle Ihnen gerne die Lektüre der verschiedenen Fachhistoriker. Sie können auch gerne einmal in Hohenschönhausen vorbeischauen. Hubertus Knabe ist auf
diesem Gebiet ein Experte. Sie haben da offensichtlich
ein Stück weit Nachholbedarf. Ich bin wirklich enttäuscht.
Ich bin ganz ehrlich: Ich glaube nicht, dass dieses
Verhalten für Ihre Fraktion repräsentativ ist. Herr
Gehrcke, den ich gerade anschaue, weiß genau, wovon
ich rede. Sie, Herr Korte, scheinen das nicht zu wissen.
Ich empfehle Ihnen ein gewisses Maß an historischer
Aufbereitung dieses Teils der Geschichte; denn er gehört
nun einmal dazu. Da können Sie sagen, was Sie wollen.
({6})
Als nächste Rednerin hat die Kollegin Ulle Schauws
von den Grünen das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Lieber Kollege Lengsfeld, ich finde schon,
dass das, was Sie gerade gesagt haben, ein wenig am
Thema vorbeigeht. Wenn Sie das, was Sie gerade ausgeführt haben, in Form eines Antrags hier einbringen wollen, können Sie das machen. Heute geht es aber um die
Aufarbeitung der NS-Vergangenheit des Bundeskanzleramtes. Darüber reden wir hier.
({0})
Morgen Vormittag kommen wir hier im Bundestag
zusammen, um gemeinsam des Endes des Zweiten Weltkriegs vor 70 Jahren und der Befreiung vom menschenverachtenden System der Nazigewaltherrschaft zu gedenken. Genau darum geht es: Wir tragen Verantwortung
für unsere Vergangenheit, und wir tragen Verantwortung
für die Erinnerung an die Verbrechen des Nationalsozialismus. Das bedeutet auch, dass wir uns mit unserer
deutschen Geschichte aktiv und kritisch auseinandersetzen und diese systematisch und schonungslos aufarbeiten müssen, Herr Lengsfeld. Das ist der Fokus, den wir
heute hierauf legen.
({1})
Das gilt neben privaten Institutionen und Unternehmen insbesondere auch für die NS-Vergangenheit der
Ministerien und der Behörden des Bundes. Ihre Aufarbeitung steckt auch 70 Jahre nach Kriegsende in den
Kinderschuhen. Weil wir in einer Kleinen Anfrage nachgefragt haben, liegen die Antworten hierzu heute auf
dem Tisch, aus denen Sie zitiert haben.
({2})
Sie haben nicht gesagt, dass das Bundeskanzleramt hier
etwas gemacht hat. Es hat nämlich noch nichts gemacht.
Das ist aus Ihren Worten ganz klar hervorgegangen.
Unter Rot-Grün hat 2005 der damalige Bundesaußenminister Joschka Fischer ein Forschungsprojekt zur
NS-Vergangenheit des Auswärtigen Amtes in Auftrag
gegeben. Damit wurde ein längst überfälliger Schritt in
Richtung Aufarbeitung gemacht. Fischer musste damals
gegen erheblichen Widerstand angehen. Wichtig war
aber, dass so eine gesellschaftliche Debatte in Gang
kam.
Der 2010 veröffentlichte Abschlussbericht „Das Amt
und die Vergangenheit“ entlarvte dabei eine lange aufrechterhaltene Legende. Das Auswärtige Amt war keinesfalls ein Hort des Widerstandes. Nein, es war tief in
die Verbrechen der Nationalsozialisten verstrickt. Es hat
NS-Verbrechen nach außen gedeckt und war aktiv an ihnen beteiligt. Nur wenige der Diplomaten und Mitarbeiter wurden zur Rechenschaft gezogen. Viele haben ihre
Karrieren nach dem Krieg fortgesetzt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das zeigt, wie
wichtig Untersuchungen zu personellen und sachlichen
Kontinuitäten in der Nachkriegszeit auch in anderen
Bundesministerien und Behörden sind. Sie leisten einen
entscheidenden Beitrag zur Klärung der Frage, warum
nationalsozialistische und rassistische Einstellungen
auch heute noch in unserer Gesellschaft bis weit in die
Mitte hinein verbreitet sind. Und genau deshalb haben
wir uns als grüne Bundestagsfraktion in den letzten JahUlle Schauws
ren mit zahlreichen Kleinen Anfragen und Anträgen dafür eingesetzt, dass die nach wie vor stockende Aufarbeitung vorangetrieben wird.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition,
es steht in Ihrem Koalitionsvertrag - die Bundesregierung hat es groß angekündigt -, die Aufarbeitung der
NS-Vergangenheit von Ministerien und Bundesbehörden
voranzutreiben. Die Frage ist: Wo stehen Sie damit? Bis
heute haben bei weitem nicht alle Bundesministerien
ihre Vergangenheit im Dritten Reich und in der Nachkriegszeit beleuchtet. Einige haben, wie gesagt, noch
nicht einmal damit begonnen.
Aber dass auch das Bundeskanzleramt sich bis heute
davor drückt, seine Geschichte von einer Historikerkommission aufarbeiten zu lassen, das, muss ich sagen, ist
wirklich skandalös.
({3})
Fadenscheinige Begründungen, historische Forschung
sei grundsätzlich Aufgabe der Wissenschaft oder Akteneinsicht beim Bundesarchiv könne zu Forschungszwecken ermöglicht werden, bedeuten doch keinen verantwortungsvollen Umgang mit der Aufarbeitung der
eigenen Geschichte.
({4})
Es reicht auch nicht aus, auf die Aufarbeitung der
Vergangenheit des BND zu verweisen. Ich sage ganz
klar: Das Kanzleramt darf sich nicht länger um eine ehrliche Antwort auf Fragen über seine Vergangenheit und
die eigene historische Verantwortung drücken.
Die Fraktion Die Linke verweist in ihrem Antrag zu
Recht darauf, dass eine ernstgemeinte wissenschaftliche
Aufarbeitung der NS-Verbrechen ohne eine Untersuchung der Rolle des Bundeskanzleramtes nicht sinnvoll
ist. Das ist richtig, aber das alleine reicht nicht aus. Da
muss mehr passieren. Statt eines Flickenteppichs von
einzelnen Untersuchungen brauchen wir eine koordinierte Aufarbeitung der Geschichte aller Bundesministerien und -behörden. Dort, wo es bereits Vorstudien gibt,
dürfen sie nicht länger unbearbeitet liegen bleiben. So
gibt es zum Beispiel im Landwirtschaftsministerium
Voruntersuchungen, die damals von Renate Künast in
Auftrag gegeben wurden und jetzt nicht weiter bearbeitet
werden. Da müssen weitere Forschungsarbeiten folgen,
auch über die Nachkriegszeit.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es muss vor allem
sichergestellt werden, dass die Öffentlichkeit bei der
Aufarbeitung der NS-Zeit aktiv einbezogen wird. Das
muss auch Teil politischer Bildungsarbeit werden. Deshalb sollten Untersuchungsergebnisse aufgearbeitet und
zugänglich gemacht werden, gerade auch für junge Menschen, beispielsweise in Form einer Dauerausstellung
oder in einem digitalen Format. Denn eine umfassende
Aufarbeitung der NS-Vergangenheit ist nicht nur wichtig
für das Verstehen von Kontinuitäten der Gegenwart, sondern vor allem auch für einen verantwortungsvollen Umgang mit der Zukunft unserer Demokratie.
Vielen Dank.
({5})
Vielen Dank. - Als nächster Redner hat Martin
Dörmann für die SPD-Fraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Morgen früh werden wir hier im Plenum in einer gemeinsamen Gedenkveranstaltung mit dem Bundesrat
den 70. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs
würdigen und damit auch die Befreiung von der NS-Diktatur.
Auf die Rede von Professor Heinrich August Winkler
bin ich schon sehr gespannt. In seinen Arbeiten hat er
sehr präzise und differenziert die Rolle Deutschlands vor
und nach 1945 betrachtet. Er hat sich dabei auch immer
dezidiert gegen jede Verharmlosung der nationalsozialistischen Verbrechen und Strukturen ausgesprochen. Ich
glaube, uns allen hier im Haus muss an einer umfassenden Aufarbeitung der NS-Geschichte und ihrer Folgewirkungen sehr gelegen sein. Dazu gehören auch und
gerade die deutsche Nachkriegsgeschichte und die Auseinandersetzung mit den personellen und institutionellen
Kontinuitäten, die es eben leider auch gegeben hat. Ja,
das ist eine schmerzhafte Erfahrung der deutschen Geschichte, und zwar sowohl der westdeutschen als auch
der ostdeutschen Geschichte, die es sorgfältig aufzuarbeiten gilt.
Ganz sicher hat sich die junge Bundesrepublik allzu
viele Jahre mit diesem Erbe sehr schwergetan. Es ist bereits erwähnt worden: Es war gut, dass dann unter rotgrüner Regierungsverantwortung eine Kommission die
Geschichte des Auswärtigen Amtes aufgearbeitet hat
und dass auch die Geschichte des BND in der Frühzeit
der Bundesrepublik aufgearbeitet wurde. Dabei können
wir aber nicht stehen bleiben.
Es sei aber auch darauf hingewiesen, dass sich die
ehemalige DDR, deren Funktionseliten sich übrigens
gerne als das bessere Deutschland bezeichnet haben, der
Aufarbeitung dieser Kontinuitäten, die es im Osten
Deutschlands eben auch gegeben hat, beinahe gänzlich
verweigert hat.
In dem vorliegenden Antrag der Fraktion Die Linke
wird nun die wissenschaftliche Aufarbeitung zu den NSBelastungen der frühen Bundesrepublik Deutschland,
aber auch nur dieser, thematisiert. Ein besonderer Fokus
wird auf die systematische Untersuchung der Rolle des
Bundeskanzleramts gerichtet. Zu diesem Zweck solle
eine Historikerkommission eingerichtet werden.
Nun ist es so, dass wir in Bezug auf die Rolle des
Bundeskanzleramtes, die wichtig ist, im Hinblick auf die
NS-Thematik nicht bei null anfangen müssen. Sie ist
zum Teil bereits in zahlreichen Untersuchungen und Publikationen dargestellt worden. Auch war sie gerade Teil
der Untersuchung zur Erforschung der Frühgeschichte
des Bundesnachrichtendienstes in den Jahren 1945 bis
1968. Das Bundeskanzleramt hat der damaligen Kommission Zugang zu allen Aktenbeständen gewährt, soweit diese Gegenstand des Forschungsauftrages waren.
Das wurde übrigens auch in großem Umfang in Anspruch genommen.
Dennoch müssen wir uns sehr ernsthaft mit der Frage
beschäftigen, wo es noch Defizite in der Aufklärung gibt
und welche Konsequenzen daraus zu ziehen sind. Genau
das macht die Große Koalition, und das macht die Bundesregierung. Wir sind nämlich gerade in einem Prozess,
in dem geklärt werden soll, wie der gegenwärtige Stand
der Forschung ist, ob es weitere Bedarfe gibt und, wenn
ja, wo.
Zu verweisen ist zunächst auf die Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vom März dieses Jahres. Darin wird
ein umfassender Überblick über bereits abgeschlossene
oder begonnene und laufende Forschungsprojekte von
Bundesministerien oder nachgeordneten Behörden zur
Aufarbeitung der NS-Vergangenheit in den Häusern gegeben.
Ich will zudem daran erinnern, dass in der vergangenen Wahlperiode ein überfraktioneller Antrag, wenn
auch nicht von allen Fraktionen getragen, zu dieser Thematik verabschiedet wurde. Nicht zuletzt auf das Bestreben der SPD-Bundestagsfraktion wurde damals die Forderung nach einer Bestandsaufnahme in den Antrag
aufgenommen, und zwar einer Bestandsaufnahme, in der
neben einem Status quo der bisherigen Forschung auch
die weiterhin bestehenden Forschungsdefizite im Hinblick auf die Geschichte der staatlichen Behörden und
Institutionen im frühen Nachkriegsdeutschland aufgezeigt werden sollen, also sowohl in der Bundesrepublik
als auch in der DDR. Dass dabei auch die DDR mit in
den Blick genommen wird, ist übrigens ein wesentlicher
Unterschied zu den Anträgen der Linksfraktion zu diesem Thema.
({0})
Herr Korte, Ihr Enthusiasmus wäre noch glaubwürdiger gewesen - es liegt jetzt immerhin ein Antrag vor -,
wenn Sie wenigstens mit einem Satz erwähnt hätten,
dass es diese Kontinuitäten auch in der DDR gegeben
hat.
({1})
Dem damaligen Auftrag des Bundestages an die Bundesregierung, den ich erwähnt habe, eine solche Bestandsaufnahme zu beauftragen, kommt die Koalition
nach. Sie ist bereits fest im Koalitionsvertrag verankert,
in dem wir uns verpflichtet haben, die Aufarbeitung der
NS-Vergangenheit von Ministerien und Bundesbehörden
voranzutreiben.
Wir lassen dieser Grundsatzposition auch Taten folgen. Die Beauftragte für Kultur und Medien hat diesen
Auftrag einer Bestandsaufnahme mittlerweile an das Institut für Zeitgeschichte und an das Zentrum für Zeithistorische Forschung erteilt. Bis zum Ende des Jahres sollen erste Ergebnisse der Studie vorgelegt werden. Es
sollen dabei sowohl Forschungsstand als auch Forschungsdefizite bei einzelnen Ressorts aufgezeigt werden, und zwar auch beim Bundeskanzleramt. Damit ist
diese Bestandsaufnahme die systematische Vorbereitung für mögliche weitere Untersuchungen über die NSBelastungen ebendort.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie sehen, es bedarf
nicht des vorliegenden Antrags, damit sich die Koalition
und die Bundesregierung mit einer vertieften Auseinandersetzung und Untersuchung der NS-Geschichte befassen. Welche Schlussfolgerungen dann zu ziehen sind und
welche konkrete Ausgestaltung weitere Forschungsaufträge haben sollten, das wird nach Abschluss der genannten Studie zu entscheiden sein, sei es im Hinblick
auf Ministerien oder auf das Bundeskanzleramt. Ich
denke, das ist der richtige Weg, um mit einem ernsten
und wichtigen Thema angemessen und verantwortungsvoll umzugehen.
Herzlichen Dank.
({2})
Vielen Dank. - Als nächste und letzte Rednerin in
dieser Debatte hat Dr. Freudenstein von der CDU/CSUFraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Es gibt Dinge, die dulden
keinen Aufschub, die muss man jetzt und sofort anpacken, es gibt Dinge, die für Gerechtigkeit sorgen oder
die revolutionär sind, und es gibt Dinge, die einfach die
Situation vieler Menschen in unserem Land verbessern.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linksfraktion,
ich muss Sie enttäuschen: Ihr Antrag gehört nicht zu all
diesen Dingen.
Verstehen Sie mich nicht falsch. Ihr Anliegen ist ja
grundsätzlich nicht unbedeutend: Eine Aufarbeitung der
deutschen Geschichte, auch der demokratischen Institutionen nach 1945, in besonderer Weise auch des Bundeskanzleramtes, kann in vielerlei Hinsicht wichtig sein,
und sie kann vor allem aus wissenschaftlicher Sicht
hochinteressant sein. Das haben die bisherigen Untersuchungen schon gezeigt; in allen Bundesministerien mit
Vorgängern in der NS-Zeit und in vielen nachgeordneten
Bundesbehörden fand ja oder findet eine historische
Aufarbeitung statt.
Vermutlich hat kein Land der Welt seine Geschichte
und die seiner Institutionen so intensiv wissenschaftlich
aufarbeiten lassen wie wir Deutsche. Das war und ist
nach den Verbrechen und Verirrungen des 20. Jahrhunderts auch unsere Pflicht. Ich meine deshalb, dass man
uns mangelndes Bewusstsein oder gar Untätigkeit nicht
vorwerfen kann.
Meine Damen und Herren von der Opposition, Sie haben eine Anfrage gestellt und erst kürzlich eine Antwort
erhalten. Sie wissen also sehr gut, dass die beiden größten und bedeutendsten deutschen Forschungsinstitute auf
diesem Gebiet bereits mit einer Bestandsaufnahme beauftragt worden sind; sie werden die Quellenlage, den
Forschungsstand und die Forschungsdesiderate bei den
einzelnen Ressorts benennen. Sie wissen, dass Ergebnisse bis Ende dieses Jahres vorliegen sollen. Trotzdem
stellen Sie heute diesen Antrag. Warum tun Sie das? Ich
will es Ihnen sagen: Es geht Ihnen vermutlich nicht
wirklich um die Aufarbeitung selbst, sondern es geht Ihnen vermutlich darum, sich selbst als etwas darzustellen,
nämlich als Speerspitze der historischen Aufklärung.
({0})
Sie haben zu diesem Zweck ja auch eine ganz eigene
„Historische Kommission“ in Ihrer Partei. Deren Ergebnisse habe ich mir einmal angeschaut. Die Historische
Kommission der Linkspartei schreibt zum Beispiel im
Jahre 2011 zum 50. Jahrestag des Mauerbaus - ich zitiere -:
Die sowjetische Führung und im Gefolge die DDR
entschieden sich 1961 auch zum Mauerbau, um einen Krieg zu verhindern. Dieser war angesichts der
fortschreitenden Destabilisierung der DDR und unter den Bedingungen der militärischen Konfrontation in Mitteleuropa nicht auszuschließen.
Die Mauer als ein Werk des Friedens - so dargestellt von
einer Historikerkommission im Jahre 2011.
Es gibt noch mehr zu lesen in dieser historischen Aufarbeitung, was mit ehrlichem Willen zur Aufklärung wenig zu tun hat. So hat Ihre Historische Kommission im
Jahre 2011 auch geschrieben - ich zitiere -: „Für Millionen Menschen in unserem Land“ - also in der Bundesrepublik - gibt es wegen des geringen Einkommens „die
Reisefreiheit nur auf dem Papier“. Ihre Historikerkommission schreckt also nicht davor zurück, eine Parallele
zu ziehen zwischen dem staatlichen Freiheitsentzug
durch den Unrechtsstaat DDR und dem heutigen Leben
in der freien Bundesrepublik. Das ist nicht nur Geschichtsklitterung, das ist Revisionismus.
({1})
Aber es geht noch weiter: Zum 60. Jahrestag des
17. Juni 1953, also im Jahre 2013, schreibt die Historische
Kommission der Linkspartei wörtlich - ich zitiere -:
Obwohl die Befunde der zeitgeschichtlichen Forschung den sowjetischen Truppen ein maßvolles
Vorgehen bescheinigen, hält sich das Narrativ, die
Unruhen seien „blutig niedergewalzt“ worden.
({2})
Das läuft bei Ihnen unter historischer Aufarbeitung!
Ich möchte daran erinnern: Es wurden am 17. Juni 1953
mindestens 40 Demonstranten erschossen. Die Rote Armee ist mit Panzern gegen die Menschen angefahren.
Meine Damen und Herren von der linken Aufarbeitungsfraktion, das ist ein „blutiges Niederwalzen“ und war
keineswegs „maßvoll“. Ich kann nur sagen: Sie haben da
eine ziemlich tolle Historische Kommission.
Warum erzähle ich das alles? Es hat ja wirklich nichts
mit dem Kanzleramt zu tun. Aber wenn Sie ehrlich sind,
hat Ihr Antrag mit dem Kanzleramt auch nicht viel zu
tun. Es geht Ihnen keineswegs um eine ordentliche wissenschaftliche Aufarbeitung; sonst würde Ihnen ja die
Antwort der Bundesregierung genügen, in der klar festgehalten ist, wie alles nun seinen Lauf nehmen wird und
dass es eine wissenschaftliche und eben keine politische
Frage ist.
Frau Dr. Freudenstein, lassen Sie eine Zwischenfrage
von Herrn Korte zu?
Nein, ich bin gleich fertig.
({0})
Der Antrag entlarvt nur Ihr Verständnis von Geschichtsschreibung. Sie fassen Geschichtsschreibung als
Instrument des Politischen auf, und das gehört eigentlich
ins 19. Jahrhundert. Wir sind da weiter. Die Bundesregierung geht den Weg, den die Geschichtsschreibung in
einer demokratischen und freien Gesellschaft im
21. Jahrhundert geht, und zwar wissenschaftlich fundiert
und nicht politisch motiviert.
Herzlichen Dank.
({1})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Antrags auf
Drucksache 18/3049 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen, wobei die Federführung beim Ausschuss für Kultur und Medien liegen soll.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
ist die Überweisung auch so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Vierten
Gesetzes zur Änderung des Rindfleischetikettierungsgesetzes
Drucksache 18/4615
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Ernährung und Landwirtschaft
({0})
Drucksache 18/4800
Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn
Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden.1) Ich sehe, Sie sind damit einverstanden.
Wir kommen deshalb gleich zur Abstimmung. Der
Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft empfiehlt
in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/4800,
den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache
18/4615 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte
jetzt diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen.
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält
sich? - Dann ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung
einstimmig angenommen worden.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer
stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? Damit ist der Gesetzentwurf einstimmig angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Corinna
Rüffer, Maria Klein-Schmeink, Markus Kurth,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Empfehlungen der Vereinten Nationen zur
Behindertenrechtskonvention zügig umsetzen
Drucksache 18/4813
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({1})
Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. - Ich höre dazu
keinen Widerspruch. Dann ist das auch so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin in dieser Debatte hat Corinna Rüffer von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Vielen Dank. - Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe
verbliebene - so muss man zu dieser Uhrzeit sagen -
Kolleginnen und Kollegen! Gut, dass Sie noch hier sind.
Oft debattieren wir viel weniger Bedeutsames zu deut-
lich früherer Stunde. Jetzt geht es aber um nicht weniger
als um die Menschenrechte, und die dürfen nicht nur zu
Protokoll gehen.
Woran denken Sie, wenn die Rede davon ist, dass die
Menschenrechtssituation in einem Land besorgniserre-
gend ist? An Syrien, Somalia, Eritrea? Jedenfalls nicht
an Deutschland, oder? Der Fachausschuss der Vereinten
Nationen, der gerade die Umsetzung der Behinderten-
rechtskonvention geprüft hat, sieht das anders. Der Ab-
schlussbericht der internationalen Fachleute ist ein ver-
1) Anlage 2
nichtendes Urteil. Von den insgesamt elf Seiten sind fast
zehn Seiten, also nahezu der gesamte Bericht, gefüllt mit
Verstößen gegen die Konvention und mit Maßnahmen,
wie diese beseitigt werden sollen.
({0})
Ein paar Beispiele daraus - Frau Tack, hören Sie zu -:
Jeder Mensch soll frei entscheiden können, wo er
wohnen will. - Vielen behinderten Menschen wird das
verwehrt, weil Sozialämter die notwendige Unterstützung nur im Rahmen von Wohnheimen bewilligen. Das
ist unerträglich.
({1})
Außerdem fehlen schon heute 2,5 Millionen barrierefreie Wohnungen. Geschäfte, Gaststätten und Kinos sind
für Menschen mit Behinderungen oftmals unbetretbar wegen ein paar anscheinend unüberwindlicher Stufen.
Politik darf sich nicht weiter davor drücken, auch den
Privaten verbindliche Vorgaben zur Barrierefreiheit zu
machen.
({2})
Jeder Mensch soll über Bildungsweg, Beruf und Arbeitsplatz selbstbestimmt entscheiden können. Für viele
Menschen mit Behinderungen ist das eine Illusion. Für
sie ist der Weg von der Förderschule in eine Werkstatt
für behinderte Menschen vorgezeichnet. Wer das nicht
will, muss sehr hart kämpfen, um die nötige Unterstützung zu erhalten. Hier ist die Politik gefragt, um den
Menschen zu ihrem Recht zu verhelfen.
Jeder Mensch soll frei über alle Fragen seines täglichen Lebens entscheiden können. ({3})
Das ist für manch einen nur ein schöner Traum; denn in
der Praxis entscheidet oft der rechtliche Betreuer stellvertretend für den Betreuten. Hier ist die Politik gefragt,
das Prinzip der unterstützten Entscheidungsfindung
durchzusetzen. Allzu oft werden Menschen mit einer
psychischen Behinderung gegen ihren Willen in Psychiatrien untergebracht und dort zwangsbehandelt. Das
muss sich ändern. Gemeinsam mit den Ländern, mit Betroffenen und Sachverständigen muss der Bund alle nötigen Anstrengungen unternehmen, um das Recht auf
Selbstbestimmung auch für psychisch beeinträchtigte
Menschen umzusetzen.
({4})
Und zuletzt: Jeder Mensch soll das Recht haben, zu
wählen. - Eine Selbstverständlichkeit? Behinderten
Menschen, die in allen Angelegenheiten unter rechtlicher Betreuung stehen, wird dieses Grundrecht verweigert. Anstatt dass wir, die Parlamentarier und Parlamentarierinnen, gemeinsam die Ausschlusstatbestände aus
den Gesetzen streichen, lässt die Bundesregierung derzeit prüfen, ob für bestimmte Personengruppen eine
Wahlfähigkeitsprüfung eingeführt werden sollte.
({5})
Allein, dass man darüber nachdenkt, den Wahlrechtsausschluss rechtssicher festzuzurren, ist nicht zu fassen.
Noch schlimmer ist aber, dass künftig noch mehr Menschen das Recht auf politische Teilhabe verlieren könnten. Das wäre ein Schlag gegen die Menschenrechte.
Deshalb muss Andrea Nahles dieses Verfahren umgehend stoppen. Darin sind wir alle uns hoffentlich tatsächlich einig.
({6})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von Union und SPD,
unser Antrag ist darauf gerichtet, die Empfehlungen der
Vereinten Nationen zügig umzusetzen und die Peinlichkeit eines so schlechten Zeugnisses schnellstmöglich zu
beenden. Zumindest dieses Interesse sollten hier alle teilen. Sie haben bisher darauf verzichtet, eigene Vorschläge in den parlamentarischen Prozess einzubringen.
Deshalb hoffe ich jetzt auch, dass Sie unserem Vorschlag
folgen werden.
Vielen Dank.
({7})
Vielen Dank. - Als nächster Redner hat Uwe
Schummer von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Kollegin Rüffer, ich schätze Sie ja, aber ich muss sagen:
({0})
Ich war auch an den beiden Tagen in Genf dabei. Das
Bild, das Sie gemalt haben, ist falsch. Der Vergleich der
Menschenrechtsverletzungen in Syrien und im Irak mit
dem, was in Deutschland passiert, ist völlig maßlos.
({1})
Im Gegensatz zu Ihrer Rede war die Staatenprüfung
sachlich. Es wurden Handlungserwartungen ausgearbeitet, mit denen wir differenziert arbeiten können.
({2})
Wir sollten differenziert argumentieren. Nur dann nehmen wir den Prüfungsausschuss in Genf wirklich ernst.
In den Schlussbemerkungen der meisten Redner im
Prüfungsausschuss wurde uns bescheinigt, dass wir in
Deutschland bei der Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention auf einem guten Weg sind, dass aber
die Wege und Verfahren insgesamt beschleunigt werden
müssen. Das war eine Kernbotschaft, die uns in der
Schlussaussprache des Prüfungsausschusses mitgeteilt
wurde. Das ist eine Botschaft, die wir politisch aufnehmen.
Es gab Licht, es gab Schatten. Schatten gibt es mit Sicherheit bei der Frage der psychiatrischen Einrichtungen, aber auch bei der Frage der noch nicht vorhandenen
Gleichstellung und Entschädigung behinderter Menschen, die in Heimen missbraucht oder misshandelt wurden. Wir setzen uns gemeinsam mit den Ländern mit dieser Frage auseinander und verhandeln darüber. Wir
müssen durchsetzen, dass es endlich zu einer Entschädigung kommt.
({3})
Es gibt aber auch Licht, beispielsweise beim Nationalen Aktionsplan zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention mit über 200 Maßnahmen im Bereich
der gelebten Inklusion in unserer Gesellschaft. Deutschland ist nicht die Sahelzone der Inklusion, in der alles
nur wüst und leer ist, so wie Sie, Frau Rüffer, es eben geschildert haben.
({4})
Wir sollten die Wirklichkeit anerkennen und die Leistungen und Fortschritte der letzten Dekade nicht unterschätzen.
Inklusion ist - das wissen Sie auch - kein Schalter,
den man umlegt, und schon ist alles so, wie man es sich
wünscht, sondern sie bedarf, wie es der Mainzer Arbeiterbischof von Ketteler einmal im 19. Jahrhundert formulierte, einer Zustände- und einer Gesinnungsreform.
Das heißt, die Inklusion wächst nach mehr als einem
Jahrhundert der Separierung behinderter Menschen allmählich auch in Deutschland, gerade durch den Druck,
der von der UN-Behindertenrechtskonvention ausgeht.
Die Inklusion beginnt, sie ist noch auf Kindesbeinen,
und sie beginnt auch mit den Kindesbeinen. Wir brauchen gute Erfahrungen mit Vielfalt in den Kitas, in den
Schulen, in den Hochschulen und in der betrieblichen
Wirklichkeit, damit Inklusionsstärke auch in Deutschland Normalität wird.
({5})
Bildung ist ein Schlüssel hierfür.
Bundesbildungsministerin Wanka hat ein 500-Millionen-Euro-Programm für die Lehrerausbildung aufgelegt.
Damit sollen schwerpunktmäßig innovative Konzepte
zur Inklusion in der Lehrerausbildung unterstützt und finanziert werden. Es ist notwendig und sinnvoll, dass die
Bundesländer diese Abschlüsse der Lehrerausbildungen
gegenseitig anerkennen. Projekte, die im Rahmen dieses
Bundesprogramms vom Bildungsministerium gefördert
werden, sind derzeit „Gemeinsam verschieden sein Lehrerbildung an der RWTH Aachen“ oder „Heterogenität und Inklusion gestalten - Zukunftsstrategie LehrerInnenbildung“ an der Uni Köln. Das sind Maßnahmen, die
die Voraussetzungen dafür schaffen, dass Inklusion über
die Lehrerausbildung an allen Schulen und Hochschulen
künftig verstärkt stattfindet.
Der UN-Menschenrechtsausschuss hat den Föderalismus in der Bildung kritisiert. Für uns ist der Föderalismus aber - gerade nach der Diskussion, die ich eben verfolgt habe - eine Konsequenz aus der leidvollen
Geschichte eines starken und verhängnisvollen Zentralstaates. Deshalb hat der Föderalismus für mich eine demokratiestärkende Funktion. Wer den Föderalismus sichern will, der muss gemeinsame, vergleichbare
Standards setzen, der braucht die Kooperation der Länder in der Bildung und der braucht auch eine Kooperation zwischen Bund und Ländern. Viele Aspekte der
Kritik des UN-Menschenrechtsausschusses am Föderalismus und an der mangelnden Inklusion in der Bildung
werden jetzt aufgearbeitet. In allen Bundesländern, ob in
Baden-Württemberg oder in Nordrhein-Westfalen, werden derzeit Inklusionsstärkungsgesetze verabschiedet.
Das sind alles Entwicklungen, die bei der Bewertung in
Genf überhaupt keine Rolle spielten, weil der Prozess
noch in vollem Gange ist.
Die Teilhabe in der Arbeitswelt wird ein Schwerpunktthema des Teilhabegesetzes und der Richtlinien
sein. Wir wollen beispielsweise die Weiterentwicklung
von Integrationsunternehmen zu Inklusionsunternehmen quantitativ, aber auch qualitativ fördern. 1,2 Millionen Menschen mit anerkannter Schwerbehinderung sind
auf dem ersten Arbeitsmarkt, 300 000 in Werkstätten.
Dabei ist ein starker Zugang psychisch kranker Arbeitnehmer zu verzeichnen. Was können wir in der betrieblichen Gesundheitsprävention tun? Wie können wir
Arbeitsplätze so organisieren, dass psychische Erkrankungen erst gar nicht entstehen?
Durchlässigkeit und Differenzierung, das war die
Botschaft aus Genf. Wir sind auf einem guten Weg. Das
war die Aussage des UN-Menschenrechtsausschusses.
Aber wir sollten unsere politischen Maßnahmen beschleunigen, und das werden wir auch tun.
({6})
Vielen Dank. - Als nächste Rednerin hat Katrin
Werner für die Fraktion Die Linke das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Am 5. Mai 2005 war der Europäische Protesttag
zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderung.
Viele Protestaktionen fanden in dieser Woche - genauso
wie in jedem Jahr - statt. Heute reden wir über die
Rechte von Menschen mit Behinderung, und das leider
nicht in der Kernzeit oder in einer Aktuellen Stunde,
sondern zu fortgeschrittener Stunde im Rahmen eines
der letzten Tagesordnungspunkte, bei dem es um einen
Antrag der Grünen geht.
Artikel 3 des Grundgesetzes garantiert die Gleichheit
vor dem Gesetz für alle Menschen und verbietet Diskriminierung. 1949 bestand Artikel 3 Absatz 2 des Grundgesetzes lediglich aus fünf Worten: „Männer und Frauen
sind gleichberechtigt“. Menschen mit Behinderung existierten im Grundgesetz damals noch nicht. Vor 21 Jahren
wurde im Grundgesetz klargestellt, dass es keine Benachteiligungen von Menschen mit Behinderung geben
darf.
Ich möchte es noch einmal sagen: Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden. Ich finde,
die Aufnahme des Benachteiligungsverbotes ins Grundgesetz ist eine Bürgerrechtserklärung. Die vollumfängliche Umsetzung der Behindertenrechtskonvention in
Deutschland muss diesen Ansatz konsequent verfolgen.
Menschen mit Behinderung werden immer noch massiv
an der gleichberechtigten Teilhabe am gesellschaftlichen
Leben gehindert. Wer zum Beispiel auf persönliche Assistenz angewiesen ist, darf nicht mehr als 2 600 Euro
ansparen. Menschen mit Behinderung leben teils in Sonderwelten. Ihr Umfeld ist in keiner Weise barrierefrei.
Vor gut sechs Wochen verabschiedete der UN-Ausschuss zum Schutz der Rechte von Menschen mit Behinderungen in Genf seine Empfehlungen zur Umsetzung
der Behindertenrechtskonvention in Deutschland. Wir
begrüßen diese Empfehlungen sehr; denn sie zeigen uns
für Deutschland eines ganz deutlich: Wir sind immer
noch meilenweit entfernt von einer inklusiven Gesellschaft, in der jeder Mensch selbstbestimmt und gleichberechtigt teilhaben kann, egal ob jung oder alt, egal ob mit
Beeinträchtigung oder ohne, egal ob mit Migrationshintergrund oder ohne. Der Bundesregierung fehlt nach wie
vor eine Menschenrechtsperspektive. In Genf waren die
Antworten der Bundesregierung meist unkonkret. Bei
Themen der Entwicklungszusammenarbeit wurde keine
einzige Frage konkret beantwortet. Würde die Regierung
aus einem Menschenrechtsbewusstsein heraus agieren,
würde sie die noch offenen Fragen des UN-Ausschusses
endlich konkret beantworten.
({0})
Die Linke sagt: Wir brauchen eine Neufassung der
gesetzlichen Definition von Behinderung als menschenrechtsbasiertes Modell. Wir brauchen bessere Maßnahmen, um Mehrfachdiskriminierung zu bekämpfen. Wir
brauchen einen besseren Gewaltschutz für Frauen mit
Behinderung. Wir brauchen für alle Kinder und Jugendlichen Leistungen aus einer Hand und nicht von verschiedenen Ämtern.
({1})
Wir brauchen ein inklusives Bildungssystem und einen
inklusiven Arbeitsmarkt und keine Abschiebung in Sonderwelten, wie zum Beispiel in Werkstätten oder Sonderschulen. Wir brauchen eine Reform des Betreuungsrechts. Wir meinen, Menschen, die unter Betreuung
stehen, brauchen unterstützende Entscheidungsfindung
und keine ersetzende. Wir brauchen nicht nur im öffentlichen, sondern auch im privaten Bereich eine gesetzliKatrin Werner
che Verpflichtung zur Barrierefreiheit. Wir brauchen die
Abschaffung des Ausschlusses vom Wahlrecht für Menschen mit Betreuung in allen Angelegenheiten. Das
Wahlrecht ist Bestandteil jeder Demokratie.
({2})
Menschen vom Wahlrecht auszuschließen, ist menschenrechtswidrig. Vielmehr brauchen wir hier ein barrierefreies Informationssystem.
In knapp zwölf Monaten muss die Bundesregierung
erneut darüber berichten, was sie zur Umsetzung der
Empfehlungen unternommen hat. Die Hausaufgaben
sind umfangreich. Die ersten sechs Wochen sind verstrichen. Geben Sie Ihr Bestes, und fangen Sie morgen an.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({3})
Vielen Dank. - Als nächste Rednerin hat Kerstin Tack
von der SPD-Fraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als wir 2009
in Deutschland die UN-Behindertenrechtskonvention ratifiziert haben und sie damit auch für Deutschland für
gültig erklärt haben, da war jedem klar - ganz unabhängig von der Ebene, auf der er sich bewegt, also unabhängig davon, ob er politisch aktiv ist, ob er ehrenamtlich
oder hauptberuflich in der Szenerie arbeitet -: Hier haben wir eine Mammutaufgabe vor uns, der wir uns mutig
annehmen wollen und müssen.
({0})
Im Jahre 2011 hat die damalige Bundesregierung den
ersten Staatenbericht vorgelegt. Dieser Bericht war
Grundlage der Staatenprüfung in Genf. Es muss auch
einmal gesagt werden, dass dieser Bericht zum Zeitpunkt der Staatenprüfung bereits vier Jahre alt war und
sich natürlich auf die entsprechenden Maßnahmen bezog.
Mittlerweile haben wir in Deutschland die Situation,
dass nicht nur der nationale Bildungsbericht der Bundesregierung vorgelegt wurde, sondern dass auch in fast
allen Bundesländern und in vielen Kommunen Aktionspläne zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention erstellt wurden oder auf dem Weg sind. Ich finde, da
kann man nicht sagen, dass die UN-Behindertenrechtskonvention auf den verschiedenen Ebenen in Deutschland noch keine Beachtung gefunden hat. Vielmehr haben sich viele auf den Weg gemacht und für ihre
jeweiligen Zuständigkeitsbereiche genau die erforderlichen Maßnahmen herausgearbeitet und entsprechende
Konzepte verfasst.
({1})
Allerdings fehlt noch eine Strategie, die über die verschiedenen Ebenen ein übergreifendes Gesamtumsetzungskonzept für die UN-BRK zum Ziel hat. Ich glaube,
dass es in den nächsten Jahren wichtig und nötig wird,
die Erstellung einer solchen Gesamtstrategie stärker in
den Fokus zu nehmen. Wir haben auch bei der Staatenprüfung gemerkt, dass die Empfehlungen, die sehr stark
und deutlich sind, ganz häufig nicht nur eine Ebene in
ihrer Zuständigkeit ansprechen, sondern genau diese gemeinsame Verantwortung für die UN-Behindertenrechtskonvention verlangen.
Das heißt für uns natürlich, dass wir auf der Bundesebene vieles regeln können. Aber im Sinne einer Verantwortungsgemeinschaft brauchen wir auch die Kommunen und die Länder. Gerade wenn es um ein inklusives
Bildungssystem, einen inklusiven Arbeitsmarkt und eine
inklusive Betreuung von Menschen mit Behinderungen
geht - ambulant und stationär, aber auch in der Altenhilfe -, ist eine gemeinsame Anstrengung erforderlich.
Hier haben wir uns in dieser Legislaturperiode eine
ganze Menge vorgenommen, um in Deutschland mit
Blick auf die UN-Behindertenrechtskonvention Stück
für Stück voranzukommen.
Erst vorgestern - das hat die Kollegin Werner angesprochen - haben wir beim Europäischen Protesttag zur
Gleichstellung von Menschen mit Behinderung den barrierefreien Ausbau von Wohnraum und Infrastruktur
zum Thema gehabt. Ich finde es hervorragend, dass die
Bundesregierung in ganz unterschiedlichen Programmen
zur Umsetzung der Anforderungen an barrierefreien
Wohnraum über 5 Milliarden Euro bereitgestellt hat.
Diese Mittel können unter anderem für den barrierefreien Ausbau genutzt werden. Das, meine Damen und
Herren, ist ein sehr ernst zu nehmender, sehr ehrlicher
Schritt und eine deutliche Unterstützung all derer, die
jetzt einen barrierefreien Umbau oder Ausbau in Angriff
nehmen müssen. Dieser Betrag ist fünfmal so hoch wie
der, den die Kolleginnen und Kollegen von der Linksfraktion in ihren bisherigen Anträgen von uns gefordert
haben; sie forderten nämlich immer 1 Milliarde Euro.
Wir sind deutlich weiter gegangen. Ich finde, das kann
sich richtig gut sehen lassen.
({2})
Auch bei unserem allergrößten Vorhaben, nämlich
eine große Sozialrechtsreform durchzuführen und ein
Bundesteilhabegesetz zu verabschieden, werden wir auf
dem Weg hin zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention sehr deutliche Fortschritte machen. Dadurch
werden wir für diese Personengruppe richtig gute Veränderungen auf den Weg bringen können.
Wir machen Schluss damit, dass es für Menschen mit
Behinderungen ein separierendes System gibt. Wir machen Schluss damit, dass ihnen nur ein separierender Arbeitsmarkt zur Verfügung steht. Wir wollen all diejenigen, deren Wunsch es ist und die ihr Wahlrecht gerne
dementsprechend ausüben möchten, den Weg auf den
ersten Arbeitsmarkt erleichtern. Wir möchten, dass diese
Menschen nicht in großen Wohnheimen untergebracht
sind, sondern dass sie im Sozialraum, also mitten unter
uns leben - da, wo sie hingehören und wo sie hinwollen.
Es ist Auftrag und Ziel der Bundesregierung, die Rahmenbedingungen so zu setzen, dass dies endlich möglich
wird.
({3})
Aber natürlich ist das nicht alles, was wir uns vorgenommen haben. Insbesondere wird es um die Frage gehen - dies wird eine ganz große Herausforderung -: Wie
schaffen wir es, den Arbeitsmarkt so zu gestalten, dass er
den Anforderungen an Inklusivität Rechnung trägt? Es
ist nicht unser Auftrag, für Menschen mit Behinderungen als ausschließliche Arbeitsform Werkstätten für
Menschen mit Behinderungen zur Verfügung zu stellen.
Wir möchten die Integrationsbetriebe viel stärker ausbauen und den Menschen die Gelegenheit geben, sozialversicherungspflichtig und mindestlohnrelevant auf dem
ersten Arbeitsmarkt tätig zu werden.
({4})
- Sie werden sehen: Bereits in Kürze wird Ihnen ein entsprechender Vorschlag von uns vorliegen.
({5})
Auch was die Teilhabe von Menschen mit Behinderungen angeht, sind wir ein großes Stück vorangekommen, insbesondere beim Zugang zur Demokratie. Damit
bin ich beim Petitionsrecht. Gerade bei dieser Möglichkeit der Beteiligung am Parlamentarismus gibt es noch
eine ganze Menge Barrieren. Der Bundestag hat sich
vorgenommen, diese abzubauen. Das ist auch sein Auftrag.
({6})
Die allergrößten Barrieren - daran kann kein Gesetz
etwas ändern - sind die Barrieren in den Köpfen. Manche Menschen glauben noch immer, dass man Menschen
mit Behinderungen am besten schützt, indem man sie
sehr individuell und abgeschottet in ein Fördersystem
steckt. Wir sagen dazu Nein. Wir haben den Auftrag, genau diese Hürden durch Bewusstseinsbildung zu überwinden. Das ist unser Auftrag.
Die UN-Behindertenrechtskonvention und die Staatenprüfung haben uns wichtige Hinweise mit auf den
Weg gegeben. Wir sind dankbar für diese Hinweise, weil
wir in der politischen Arbeit eine Menge Unterstützung
bekommen, wenn wir auch mit einem internationalen
Auftrag zur Umsetzung argumentieren können. Das nehmen wir mutig an. Auf geht‘s!
Danke schön.
({7})
Vielen Dank. - Als nächste Rednerin hat Frau
Dr. Freudenstein von der CDU/CSU das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Der UN-Fachausschuss für
die Rechte von Menschen mit Behinderungen hat Probleme in Deutschland benannt und Empfehlungen gegeben. Um ehrlich zu sein: Ich war schon überrascht von
der Radikalität des Papiers. Da folgen ganzen sechs Zeilen mit positiven Aspekten ganze zehn Seiten mit Missständen und Aufforderungen.
({0})
Wenn man das Papier liest, hat man den Eindruck, der
Prozess der Inklusion in Deutschland stehe ganz am Anfang und es sei bisher schlichtweg nichts passiert. Ich
meine, dass das auch den vielen Menschen nicht gerecht
wird, die sich jeden Tag beruflich oder auch ehrenamtlich für Behinderte einsetzen.
In vielen dieser Empfehlungen aus Genf schwingen
pauschale Urteile mit, die mit der heutigen Behindertenhilfe in Deutschland nicht mehr viel zu tun haben. Die
Abschaffung der Werkstätten für Menschen mit Behinderungen und von Förderschulen zu fordern, mag in ein
theoretisches Konzept von Inklusion gut passen. Praktisch passt es aber nicht, vor allem nicht für die Gesamtheit der betroffenen Menschen.
({1})
Wir sprechen hier über gewachsene Strukturen und
Einrichtungen in unserem Land. Ich bin sicher: Nicht
alle diese Strukturen und Einrichtungen sind auf einmal
schlecht.
Frau Freudenstein, lassen Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Rüffer zu?
Ja. - Bitte, Frau Rüffer.
Frau Freudenstein, das hört sich jetzt ein bisschen so
an, als wären Sie der Meinung, dass Werkstätten für behinderte Menschen inklusive Einrichtungen wären. Mich
würde jetzt schon interessieren, was Ihre Haltung dazu
ist.
Was sagen Sie dazu, dass 85 Prozent aller Mittel aus
der Eingliederungshilfe in stationäre Einrichtungen fließen? Was hat das mit Personenzentrierung zu tun? Was
hat das mit Inklusion zu tun? Sind Sie wirklich der Meinung, dass wir schon so weit sind, wie Sie suggerieren?
Ich kann mir das nicht vorstellen.
Ich meine tatsächlich, dass wir, wenn es um das Wohl
der Menschen mit Behinderungen geht, in allererster Linie nicht über das Geld reden sollten, wie Sie das tun,
({0})
sondern dass wir einmal schauen sollten, was die Menschen eigentlich wollen, wie sie leben wollen.
({1})
Im Übrigen sind die Zugänge zu den Werkstätten
rückläufig.
({2})
- Doch! Dass mehr Menschen in Behindertenwerkstätten arbeiten, liegt daran, dass die Lebenserwartung
steigt, und nicht daran, dass mehr behinderte Menschen
in Behindertenwerkstätten arbeiten wollen.
Ich meine in der Tat, dass Werkstätten für Menschen
mit Behinderungen die Teilhabe am Arbeitsleben gewährleisten. Ich meine nicht, dass alle 300 000 Männer
und Frauen, die dort beschäftigt sind, in Sonderwelten
leben. Ich glaube, damit täte man den Menschen Unrecht.
({3})
Es gab so viele Veränderungen im Denken und in der
Politik der vergangenen 60 Jahre, und es gab auch viele
Veränderungen in den Einrichtungen der Behindertenhilfe,
({4})
und dieser Prozess hat sehr lange vor der Verabschiedung der UN-Behindertenrechtskonvention begonnen Gott sei Dank!
Werkstatt bedeutet meiner Meinung nach tatsächlich,
nicht mehr in einer Sonderwelt zu arbeiten. Es gibt Außenarbeitsplätze. Das sind natürlich viel zu wenige;
keine Frage. Aber es werden mehr. Es gibt Integrationsfirmen, und es gibt das Budget für Arbeit, das in vielen
Bundesländern in Anspruch genommen werden kann.
({5})
Eine Öffnung der Einrichtungen hat bereits stattgefunden. Das gilt auch für die Förderschulen, Kollegin
Rüffer, die vielerorts längst zu mobilen Förderzentren
geworden sind und Partnerklassen oder einzelinkludierte
Kinder in Regelschulen betreuen.
Natürlich läuft vieles nicht optimal. Natürlich müssen
wir unser System immer und immer wieder verbessern.
Natürlich muss der Prozess der Inklusion politisch beschleunigt und unterstützt werden. Aber was ich meine,
ist: Wir sollten auf guten Strukturen aufbauen, statt sie
niederzureißen. Ich meine, wir sollten die Strukturen ergänzen, statt sie gegeneinander auszuspielen.
({6})
Die Vehemenz, mit der Deutschland in den Empfehlungen des UN-Ausschusses als rückständig dargestellt
wird, stört mich in der Tat. Selbst Sie von den Grünen
trauen sich in Ihrem Antrag nicht, die Forderungen des
Fachausschusses eins zu eins zu übernehmen, und das
völlig zu Recht; denn sie sind radikal und in weiten Teilen einseitig.
({7})
Der Antrag enthält einerseits Forderungen, die momentan im Rahmen der Erarbeitung des Bundesteilhabegesetzes behandelt werden. Wir werden zum Beispiel
Anreize schaffen, um mehr Beschäftigungsmöglichkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu schaffen. Wir
setzen also durchaus Forderungen des Fachausschusses
um. Wir wollen das aber mit den Betroffenen tun, und
deshalb geht das auch nicht von heute auf morgen.
Der Antrag enthält andererseits aber auch Forderungen, die reichlich wirklichkeitsfern und ideologienah
sind, etwa die Erhebung der Deinstitutionalisierung zum
Königsweg der Inklusion. Sie schreiben, dass der geschützte Raum für manche Menschen mit Behinderung
nicht der richtige Weg sei, und das stimmt. Es gibt viele
- gerade auch jüngere Menschen -, die ihr Leben mit
Handicap gut alleine organisieren können, wenn sie nur
hie und da Unterstützung bekommen.
Ich sage aber auch: Es gibt auch Menschen, für die
gerade dieser geschützte Raum einer Einrichtung wichtig ist. Sie wollen ihn, oder sie brauchen ihn. Ich habe
viele Werkstätten für Menschen mit Behinderungen besucht. Da war von den Menschen sehr viel Positives zu
hören. Selbst die beiden jungen Männer - die ich besucht habe -, die einen Außenarbeitsplatz bei einer Metallfirma haben, wollen weiterhin den Kontakt zu ihrer
Werkstatt der Lebenshilfe.
({8})
Es gibt also nicht den einen Königsweg, sondern für
jeden einzelnen Menschen gibt es einen eigenen Königsweg.
({9})
Meine Vorstellung von Inklusion hat nichts mit dem
Wegreden von Verschiedenheit zu tun, sondern sie hat
mit Individualisierung zu tun. Was zählt, ist der Mensch.
Danke schön.
({10})
Vielen Dank. - Damit schließe ich die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/4813 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, damit rufe ich Zusatzpunkt 4 auf:
Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
CSU und SPD
zum Grünbuch
Schaffung einer Kapitalmarktunion
KOM({0}) 63 endg.; Ratsdok. 6408/15
hier: Stellungnahme im Rahmen eines Kon-
sultationsverfahrens der Europäischen Kom-
mission
Drucksachen 18/4375 Nr. A.4, 18/4807
Die Reden sind zu Protokoll gegeben.1) - Ich sehe,
Sie sind damit einverstanden.
Wir kommen damit gleich zur Abstimmung über den
Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD auf der
Drucksache 18/4807. Wer stimmt für diesen Antrag? -
Die Koalition. Wer stimmt dagegen? - Die Linke. Wer
enthält sich? - Bündnis 90/Die Grünen. Dann ist der An-
trag mit den Stimmen der Koalition angenommen wor-
den.
1) Anlage 3
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Heike
Hänsel, Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
EU-Lateinamerika-Gipfel - Beziehungen auf
gegenseitigem Respekt begründen
Drucksache 18/4799
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung ({1})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Auch hier sollen die Reden zu Protokoll gegeben
werden.2) - Auch hier sehe ich, dass Sie damit einverstanden sind.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/4799 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist auch der Fall. Dann ist das so geschehen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Debatte.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 8. Mai 2015, ein, und
ich erinnere daran, dass die morgige Plenarsitzung aufgrund der hier im Plenarsaal stattfindenden Gedenkveranstaltung anlässlich des 70. Jahrestages des Endes des
Zweiten Weltkrieges erst um 10.30 Uhr beginnt.
Die Sitzung ist geschlossen, und ich wünsche Ihnen
einen schönen Abend.